Recht – Philosophie – Literatur: Festschrift für Reinhard Merkel zum 70. Geburtstag. Teilband I und II [1 ed.] 9783428555666, 9783428155668

Mit den Beiträgen zu dieser Festschrift ehren die Autoren den Strafrechtler und Rechtsphilosophen Reinhard Merkel anläss

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German Pages 1702 [1705] Year 2020

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Recht – Philosophie – Literatur: Festschrift für Reinhard Merkel zum 70. Geburtstag. Teilband I und II [1 ed.]
 9783428555666, 9783428155668

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Recht – Philosophie – Literatur Festschrift für Reinhard Merkel zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von

Jan Christoph Bublitz, Jochen Bung, Anette Grünewald, Dorothea Magnus, Holm Putzke und Jörg Scheinfeld

Duncker & Humblot . Berlin

Recht – Philosophie – Literatur Festschrift für Reinhard Merkel zum 70. Geburtstag

Schriften zum Strafrecht Band 355

Recht – Philosophie – Literatur Festschrift für Reinhard Merkel zum 70. Geburtstag

Teilband I

Herausgegeben von

Jan Christoph Bublitz, Jochen Bung, Anette Grünewald, Dorothea Magnus, Holm Putzke und Jörg Scheinfeld

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: Das Druckteam Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-15566-8 (Print) ISBN 978-3-428-55566-6 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Am 12. April 2020 wird Reinhard Merkel siebzig Jahre alt. Mit den Beiträgen zu dieser Festschrift ehren die Autoren einen Wissenschaftler von besonderem Rang. Dem Leser seiner Werke begegnet ein begnadeter Analytiker und Feuilletonist, der gleichermaßen in der Welt der Wissenschaft reüssiert wie er geschätzt wird als wortgewandter Autor. Es gibt kaum einen anderen Rechtswissenschaftler, der sich ähnlich häufig und mit frischer Sicht in öffentliche Debatten einmischt. Er ist, wie er selber sagt, ein „renitenter Denker“, der es dem Üblichen selten erlaubt, unwidersprochen das Feld zu behaupten. Geboren wurde Reinhard Merkel 1950 in Hof, wo er die Schulzeit durchlebte und 1969 das Abitur am Humanistischen Jean-Paul-Gymnasium ablegte. Obwohl sein geisteswissenschaftliches Wirken den weitaus größeren Teil seines Lebens betrifft, wird der Jubilar immer wieder auf ein bestimmtes Ereignis seines Lebens angesprochen, das nunmehr über ein halbes Jahrhundert zurückliegt: seine Teilnahme an den Olympischen Spielen in Mexiko City im Jahre 1968 – mit einem sechsten Platz im Finale des 400-Meter-Lagenschwimmens. Diese sportliche Höchstleistung hat im Leben von Reinhard Merkel Spuren hinterlassen. Als Sportler erhielt er nach dem Abitur ein Stipendium an der University of Southern California in Los Angeles, wo er in den Jahren 1970/71 die Fächer Englisch, Amerikanische Geschichte und Ökonomie belegte. Das Studium der Rechtswissenschaft nahm er 1971 an der Ruhr-Universität in Bochum auf und schloss es, nach einer Zwischenstation in Heidelberg, im Jahr 1977 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München ab. In den Jahren 1977 bis 1979 hatte Reinhard Merkel am Max-Planck-Institut für internationales und vergleichendes Sozialrecht bei Hans F. Zacher eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter inne. Gleichzeitig studierte er bis 1982 Philosophie und Literaturwissenschaft an der LMU, wo insbesondere die Vorlesungen von Wolfgang Stegmüller sein Bild der Philosophie prägten. Nach dem Rechtsreferendariat in München, das er 1980 mit dem zweiten juristischen Staatsexamen abschloss, arbeitete der Jubilar als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Arthur Kaufmann am Institut für Rechtsphilosophie der Universität München, wo er später als Akademischer Rat a. Z. beschäftigt wurde. Der German Marshall Fund ermöglichte ihm eine sechswöchige Gesprächsreise zu den Größen der amerikanischen Philosophie: unter anderem zu Hilary Putnam, Richard Rorty, Donald Davidson, Thomas Kuhn und John Searle. Diese teilweise vom Bayrischen Rundfunk ausgestrahlten Gespräche schärften sein Verständnis für die analytische Philosophie, insbesondere ihre Methodik der begrifflichen Klarheit und die Abneigung vor sweeping claims, was sein Denken nachhaltig prägte.

VI

Vorwort

Während seiner Zeit am Münchener Institut übersetzte der Jubilar Allen Janiks und Stephen Toulmins Studie „Wittgensteins Wien“, die als Klassiker der Kulturgeschichte gilt. Wien sollte ein fester Bezugspunkt im Merkel’schen Denken bleiben. Zugleich schrieb er Essays und Rezensionen für den „Merkur“ und auch den „Spiegel“. Seine Texte weckten die Aufmerksamkeit der Wochenzeitung „Die Zeit“, die ihm 1981 unvermittelt das Angebot einer Stelle als Redakteur unterbreitete. Für sie zog Merkel nach Hamburg. Zwei seiner Dossiers fanden große Resonanz. Die ausgewogen-wohlwollende Besprechung der Thesen des Bioethikers Peter Singer, dessen Auftritte aufgrund von Gegenprotesten mehrfach abgebrochen werden mussten („Singer-Affäre“), rief Kritik hervor. Einen Coup hingegen landete der Jubilar mit einem Dossier zum hundertsten Geburtstag Wittgensteins, für das er gemeinsam mit dem Brenner-Archiv der Universität Innsbruck bis dato unbekannte Briefwechsel Wittgensteins erschloss. Für seine Schriften wurde Reinhard Merkel 1991 mit dem Jean-Améry-Preis für Essayistik ausgezeichnet. Als ihm „Die Zeit“ die zuvor erwünschte dauerhafte Stelle im Feuilleton anbot, lehnte Merkel ab. Er wollte Texte anderer Art schreiben. So beendete er die Arbeiten an seiner Dissertation, die seine Interessen paradigmatisch spiegelt: „Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus“. In ihr behandelt der Jubilar eine Fülle von Streitfragen rund um das liberale Strafrecht und den liberalen Strafprozess – unter vollständiger Auswertung der Kraus’schen Schriften und sämtlicher Bände der von ihm herausgegebenen satirischen Zeitschrift „Die Fackel“ (1899 – 1936). Merkels herausragende Schrift wurde 1993 von der LMU als Dissertation angenommen, von Suhrkamp verlegt und 1996 als eines der juristischen Bücher des Jahres ausgezeichnet. Die Auseinandersetzung mit Kraus – auch in stilistischer Hinsicht – beschäftigt ihn bis heute. Habilitiert worden ist Merkel bei Klaus Lüderssen an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main (1997) mit seiner Habilitationsschrift „Früheuthanasie – Rechtsethische und strafrechtliche Grundlagen ärztlicher Entscheidungen über Leben und Tod in der Neonatalmedizin“. Der Verleihung der Venia Legendi für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Kriminologie folgten bis 1999 Rufe auf Strafrechtsprofessuren der Universitäten Bielefeld und Rostock, ferner Erstplatzierungen auf Berufungslisten in Köln und Regensburg. Schon lange Wahl-Hamburger, entschied Merkel sich für die Annahme des Rufes der Universität Hamburg, wo er ab April 2000 Strafrecht und Rechtsphilosophie lehrte und von 2011 bis 2015 Geschäftsführender Direktor des Instituts für Rechtsphilosophie war. Merkels Habilitationsschrift steht als eindrucksvolles Beispiel für die Neigung des Jubilars, normative Dilemmata unter Anwendung rechtsprinzipieller Erwägungen neu zu durchdenken – neben der Früheuthanasie etwa: Sterbehilfe im Allgemeinen, Schwangerschaftsabbruch, embryonale Stammzellenforschung, Klonen, Notwehrfolter, „Kopftransplantation“, Rationierung in der Medizin, klinische Interventionen ins Gehirn sowie militärische Interventionen, von Jugoslawien bis Libyen. All diese Themen hat der Jubilar in Aufsätzen, Kommentaren, Monographien und Zei-

Vorwort

VII

tungsartikeln behandelt. Gemein ist diesen Texten, dass Merkel seine Thesen verteidigt gegen Argumentationen, die „Gewissheiten … aus wohlfeilen Weltanschauungen beziehen“, und dass er stets beharrt auf einer rationalen und ideologiefreien Argumentation. Dem aufgeklärten Geist mag das selbstverständlich erscheinen, zumal es sowohl das Grundgesetz als auch die Wissenschaftlichkeit ohnehin gebieten. Deshalb wird zwar vorderhand niemand eine andere Herangehensweise propagieren, was aber am Ende die Dinge verkompliziert, weil es nicht selten zu einer verschleiernden Argumentation führt, die sich bloß den Mantel der Rationalität überstreift. Dass Merkel vielfach die Inkonsistenzen solcher Argumentationen entlarvt und ihren Kern – ideologisch-parteiisch motivierte Haltungen – offengelegt hat, ist nicht sein geringstes Verdienst als Strafrechtler und Rechtsphilosoph. Erinnert sei an das Luftsicherheitsgesetz, dessen Erlaubnis zum Töten Unschuldiger der Jubilar als einer der ersten in einem Beitrag in der „Zeit“ als „Jenseits des Rechts“ verortete. Oder an die Debatte um die Knabenbeschneidung, über die es 2012 erst auf das argumentative Intervenieren Merkels hin überhaupt zu einer eingehenderen Diskussion im Ethikrat gekommen ist. Überzeugungskraft und Unabhängigkeit seines Denkens mögen sich auch an dem eher ungewöhnlichen Umstand erweisen, dass Merkel von verschiedenen Parteien – erst der FDP, dann der SPD – als Mitglied für den Deutschen Ethikrat nominiert wurde. Von 2003 bis 2005 war er Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags („Recht und Ethik der modernen Medizin“), von 2012 bis 2020 dann Mitglied des Deutschen Ethikrats. Gerade dort war Merkels freiheitliches Denken gefordert. Zeugnis davon geben einige eloquent ausbuchstabierte Minderheitsvoten, in denen er die Stellungnahme der Mehrheit beleuchtet, durchaus erneut im Stile zeitkritischer, aufklärerischer Essays. Es war dann nur folgerichtig, dass er sich seit 2017 institutionell engagiert für eine säkulare Rechtspolitik, und zwar als Beirat sowohl in der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) als auch in deren Ableger, dem Institut für Weltanschauungsrecht (ifw). Aus den Publikationen des Jubilars hervorgehoben seien nur die folgenden Schriften: „Reinhard Merkels Abhandlung zur Willensfreiheit“, schreibt Rolf Herzberg, „ragt aus dem einschlägigen Schrifttum weit heraus. Sie beleuchtet die Problematik scharfsinnig und kenntnisreich von allen Seiten.“ Die Schrift „Willensfreiheit und rechtliche Schuld – Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung“ wurde 2008 als eines der „Juristischen Bücher des Jahres“ ausgezeichnet. – Merkels Erläuterungen im Nomos Kommentar zu den Vorschriften des Schwangerschaftsabbruchs bieten eine tiefschürfende Aufarbeitung der rechtsethischen, verfassungsrechtlichen und strafrechtlichen Aspekte dieser besonders umstrittenen Rechtsmaterie. Der Kommentator spürt darin Fragen nach, die vielen, auch Kennern der Materie, zuvor noch nicht untergekommen sein dürften. Mit der Kommentierung in einem gewissen Zusammenhang steht die Schrift „Forschungsobjekt Embryo – Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen“ (2002). Die drei genannten Schriften weisen das Charakteristische des Merkel’schen Denkens aus: In Anwendung einer verfassungstreuen Methodik, die auf

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Vorwort

dem Boden einer freiheitlichen, nicht ideologischen Philosophie steht, entfaltet er die Probleme und findet durch eine nicht selten zuspitzende, aber gleichwohl austarierte Dogmatik zu Lösungen, die insbesondere auf dem Gebiet der Bioethik und des Medizinrechts beklemmende Unbarmherzigkeiten vermeiden. Die Wertschätzung seines Schaffens drückt sich darin aus, dass Reinhard Merkel in einige renommierte Forschergemeinschaften aufgenommen wurde: Er war 2008 und 2009 Fellow am Wissenschaftskolleg (Institute for Advanced Study) zu Berlin; seit Januar 2011 ist der Jubilar Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften – Leopoldina, Sektion Wissenschaftstheorie; von 2013 bis 2014 war er Fellow am Wissenschaftskolleg Greifswald; 2016 wurde er Fellow an der Kolleg-Forschergruppe „Theoretische Grundfragen der Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik“ in Münster. Auch im Ausland wird Merkel wahrgenommen, etwa im Rahmen internationaler Gremien und think tanks, von der „Hinxton Group“ zur Stammzellforschung zu Fachgesellschaften für Leitlinien zum medizinischen Einsatz der Tiefenhirnstimulation. 2016 hielt er die Max Weber Lecture an der New York University. Mit der Emeritierung im Jahr 2015 hat die Universität Hamburg einen hochkarätigen Rechtslehrer verloren. Merkels Vorlesungen, so erfuhr man 2012 bei SpiegelOnline, sind „ein erlesener Denksport“, „rasant, elegant, kraftvoll“, „nichts für Lerner, was für Denker“: „Für Merkel ist jeder Fall eine Ansammlung hochinteressanter Probleme, für die es ebenso faszinierende Lösungen gibt.“ Dies wird unumwunden bestätigen, wer schon einmal einen Vortrag des Jubilars gehört hat: Ein sezierender analytischer Blick verbindet sich mit der Kunst, noch die vertracktesten Dinge der Rechtsphilosophie und der Rechtsdogmatik hochanschaulich zu transportieren. Wer nur einige der Merkel’schen Schriften oder Vorträge kennt, weiß zudem um seine Vorliebe, Argumentationen mit Gedankenexperimenten zu illustrieren und zu garnieren. Sind gewisse Gegenstände seines Denkens schon phantastisch genug und muten – jedenfalls aus der Ferne – an wie Science Fiction-Szenarien, etwa klinische Interventionen ins menschliche Gehirn (wiewohl derlei Eingriffe längst Realität sind), so fordert Merkel seinen Leser und Zuhörer auf, sich auch (derzeit) Unrealisierbares vorzustellen, etwa den Einsatz eines Teletransporters zu erwägen, um Fragen zur personalen Identität des Menschen zu klären. Im persönlichen Gespräch hat der Jubilar einmal den Mangel an Bereitschaft der Juristen beklagt, Gedankenexperimente ernsthaft zu erwägen: Bei den Philosophen, so Merkel augenzwinkernd, könne man sagen: „Stellen wir uns vor, der Mond sei aus gelbem Käse!“ Dann komme als Reaktion ein: „Gut – bitte!“ Bei manchen Juristen stoße schon auf Ablehnung, wer einen nicht alltäglichen Fall zur Erprobung unterbreite. Dass diese Haltung eher eine Immunisierungsstrategie des Meinungsgegners ist, wird man nicht allein deshalb annehmen dürfen, weil die Rechtswirklichkeit zum Teil bizarre Sachverhalte zu beurteilen einfordert. Denn unabhängig vom Realitätsgehalt vermögen Gedankenexperimente, auch im Juristischen, normative Probleme auf ihre Essentialia zuzuspitzen. Verwickelte Strukturen auf diese Weise aufzuhellen, das gelingt

Vorwort

IX

Reinhard Merkel immer wieder besonders ideenreich. Wir möchten es daher – was Gedankenexperimente angeht – mit Aristoteles halten, der bekanntlich für Metaphern und gute Philosophie reklamiert hat, dass, in weit Auseinanderliegendem das Gemeinsame zu erkennen, besonderen Scharfsinn verrät. Die Herausgeber der Festschrift bedanken sich für vielfältige Unterstützung: zunächst beim Verlag Duncker & Humblot, insbesondere bei Regine Schädlich für die exzellente verlegerische Betreuung. Für das Gewähren großzügiger Druckkostenzuschüsse gilt unser Dank der Giordano-Bruno-Stiftung sowie der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Die Autoren der Festschrift haben ihr Mitwirken durchweg unverzüglich zugesagt. Dafür und für ihre Beiträge danken wir ihnen ganz besonders. Viele haben an das Werk Reinhard Merkels angeknüpft und dürfen einem weiteren Austausch mit dem Jubilar freudig entgegensehen. Zu nennen ist ferner Barbara Fisz. Als Sekretärin am Lehrstuhl von Reinhard Merkel hat sie den Jubilar über viele Jahre unterstützt; mittlerweile tätig bei seinem Nachfolger, Jochen Bung, hat sie das Entstehen der Festschrift in jeder Phase umsichtig betreut. Dafür danken wir ihr sehr. – Von Herzen danken wir schließlich Reinhard Merkel selbst, dem Lehrer, Vorbild, Förderer und Freund. Hamburg, im April 2020

Die Herausgeber

Inhaltsverzeichnis

TEILBAND I I. Literarisches Jochen Bung Vom Recht, sich betasten zu lassen, von wem man will. Bemerkungen zu Kraus und Adorno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Sigurd Paul Scheichl Prozesse als Bestandteil des Werks von Karl Kraus – Prozessakten als Quellen zu seinem Wirken. Am Beispiel des Prozesses Pisk gegen Kraus (1929 – 1931)

13

Jan Philipp Reemtsma Das Vergleichen als eigenartige intellektuelle Tätigkeit betrachtet. Ein Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Birgit Recki Eine Poetik der Menschenwürde. Stil als weiche Normativität bei Ferdinand von Schirach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

Heinz Müller-Dietz Warum schreiben Schriftsteller über Recht und Justiz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Alfred Nordmann Die rechten Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

II. Politische Philosophie und Rechtsphilosophie Michael Pauen Eine kontraktualistische Rechtfertigung von Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

Julian Nida-Rümelin Zur Legitimität von Staatlichkeit. Eine kosmopolitische Kritik offener Grenzen

87

Daniela Demko Demokratie im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus. Philosophische Reflexionen zur Begründung und zum Wesen einer Weltgemeinschaft als einer freiheitlichen Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

Anton Leist Gleichheit und/oder Verdienst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

XII

Inhaltsverzeichnis

Jan C. Joerden Kant und Hegel zur Gewaltenteilung im Staat – Skizze eines Vergleichs . . . . .

153

Kurt Bayertz und Thomas Gutmann Thomas Dunson und Ethan Edwards im Lichte von Immanuel Kant und Carl Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167

Matthias Mahlmann Politische Verbrechen und europäische Kultur – Joseph Conrads „Heart of Darkness“ und die Gegenwelten der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

Eric Hilgendorf Kritischer Rationalismus und das Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

213

Martin Hein Dogmatik und Hermeneutik als Leitbegriffe in Rechtswissenschaft und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

235

Christian Becker Rechtswissenschaft, positives Recht und politischer Protest. Überlegungen anlässlich der Campus as Safe Space-Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

257

Benno Zabel Handeln, Entscheiden, Zurechnen. Wie der Einsatz intelligenter Technik die deontologische Deutung des Rechts verändert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

271

Till Zimmermann Vom Leid und Eigeninteresse künstlicher Rechtsträger: Juristische Personen als moralische Subjekte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

295

III. Grundlagen des Strafrechts Bettina Walde Zum normativen Charakter menschlicher Freiheit und der Frage nach dem objektiven Fundament des Schuldprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

317

Christian Fahl Das schlechte Gewissen des Strafrechtlers und die Willensfreiheit . . . . . . . . . .

335

Urs Kindhäuser Setzt Unrecht Schuld voraus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

351

Rolf Dietrich Herzberg Das Anderskönnen in der strafrechtlichen Schuldlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

371

Thomas Fischer Zur Feststellung schwerer seelischer Abartigkeit, oder: Wieviel Selbstreferentialität verträgt die Schuld? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

395

Volker Haas Schuldfähigkeit als Fertigkeit. Zu denkbaren Konsequenzen im Erwachsenenstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

413

Inhaltsverzeichnis

XIII

Wolfgang Wohlers Das tradierte Schuldstrafrecht – ein Auslaufmodell? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

423

Luís Greco Identität, Authentizität und Schuld – Reflexionen anlässlich der jüngsten Prozesse gegen „alte Nazis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

443

Jan Christoph Bublitz Die Genealogie der Vergeltung, oder warum retributiven Überzeugungen nicht zu trauen ist. Ein Beitrag zu einer neuropsychologisch informierten Strafrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

459

Gerhard Seher Wert und Grenzen der expressiven Theorie der Strafe. Zugleich eine Skizze über Begriff und Zweck staatlicher Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

493

Tatjana Hörnle Das Ideal des Bürgerstrafrechts vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Fragmentierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

511

Michael Kubiciel Das Strafrecht einer fragmentierten Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

529

Tonio Walter Zur Demokratisierung des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

545

Kai Ambos Strafrecht und Verfassung: Gibt es einen Anspruch auf Strafgesetze, Strafverfolgung, Strafverhängung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

565

Martin Böse Der EuGH und die Strafrechtsdogmatik. Grund und Grenzen einer Harmonisierung des Allgemeinen Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

589

IV. Strafrecht Allgemeiner Teil Peter Mankowski Auslandsrechtsanwendung, Auslandsrechtsprüfung, Auslandsrechtsberücksichtigung und Auslandsrechtsermittlung im deutschen Strafverfahren . . . . . .

609

Hans Kudlich Die Expansion des Strafens durch § 9 II 2 StGB. Drohende Friktionen und vorsichtige Einhegungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

625

Günther Jakobs Garantenstellung bei tätiger Verletzung negativer Pflichten . . . . . . . . . . . . . . .

639

Ralf Stoecker Der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen und die Bedeutung von Handlungssphären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

649

Sebastian Simmert und Joachim Renzikowski Causa efficiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

667

XIV

Inhaltsverzeichnis

Ingeborg Puppe Über einige Probleme des Kausalitätsbegriffs im Strafrecht und Merkels Lehren dazu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

681

Kurt Seelmann Zurechnung zu künstlicher Intelligenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

695

Lorenz Schulz Der Irrtum als Seismograph des Strafrechts. Ein Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . .

707

Heinz Koriath Was für ein Irrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

717

Uwe Murmann Tatentschluss und Legitimation der Versuchsstrafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

727

Horst Schlehofer Strafbarkeitseinschränkende Alternativen zur hypothetischen Einwilligung im Arztstrafrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

745

Susanne Beck Fiktion vs. Realität. Warum nicht alle Fälle der „hypothetischen Einwilligung“ gleich zu behandeln sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

761

Rainer Keller Nothilfe für Tiere als Anthropozentrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

779

Ulfrid Neumann Rechtspositionen, Rechtsgüter und Rettungsinteressen in der aktuellen Diskussion zu Problemen des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) . . . . . . . . .

791

Andreas Hoyer Das Grundrecht auf Leben als Tötungsverbot für den Staat und als Schutzanspruch gegen den Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

813

Wolfgang Mitsch Die Weigerung ein menschlicher Schutzschild zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

827

Volker Erb Der Lebensnotstand bei siamesischen Zwillingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

845

Elisa Hoven Tötung im Notstand? – Überlegungen zur Reichweite des Notstandsrechts insbesondere im Völkerstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

857

Milan Kuhli Roboterprogrammierung im Dilemma. Neue Verhaltensnormen für tödliche Notstandssituationen mit Unbeteiligten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

887

Thomas Rönnau Die Haftungsfreistellung des „Whistleblowers“ nach § 5 Nr. 2 GeschGehG – eine gelungene Regelung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

909

Inhaltsverzeichnis

XV

TEILBAND II V. Strafrecht Besonderer Teil Carl-Friedrich Stuckenberg Digitaler Hausfriedensbruch? Von trügerischen Analogien zur analogen Welt

931

Gereon Wolters Das gesetzliche Merkmal „gegen den erkennbaren Willen“ in der Neufassung des § 177 Abs. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

951

Claus Roxin § 184 j StGB im Streit der Meinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

973

Armin Engländer Politische Tötungsmotive als niedrige Beweggründe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

983

Peter Singer The Challenge of Brain Death for the Sanctity of Life Ethic . . . . . . . . . . . . . . 1001 Dieter Birnbacher „Hirntod und kein Ende“ – nach zwanzig Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1015 Dietmar von der Pfordten Menschenwürde und Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1031 Carl Friedrich Gethmann Ethische Fragen der Selbsttötung angesichts der aktuellen deutschen Diskussion um ärztliche Sterbehilfe und um Sterbehilfevereine . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1045 Frank Saliger Zur prozeduralen Regelung der Freitodhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1063 Friedhelm Hufen Weiterleben als Schaden? – Weiterleiden als Schaden! Grundrechtsschutz gegen Übertherapie vor dem Tode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1079 Thomas Hillenkamp Abgestufte Anforderungen an selbstbestimmtes Sterben? . . . . . . . . . . . . . . . . . 1091 Christoph Sowada Die Tatherrschaft als Zurechnungsinstrument im Spannungsfeld von Selbstund Fremdtötung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1109 Thomas Weigend Teilnahme am nicht freiverantwortlichen Suizid? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1129 Véronique Zanetti Verhältnismäßigkeit und Kompromisse am Beispiel des deutschen Abtreibungsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1141 Thomas Rotsch Zur Täterschaft der Schwangeren beim Schwangerschaftsabbruch . . . . . . . . . . 1163

XVI

Inhaltsverzeichnis

Klaus Rogall § 219a StGB in neuer Gestalt. Anmerkungen zu einem Lehrstück zeitgenössischer Rechtspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1181 Anette Grünewald Intersexualität und Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1203 Detlev Sternberg-Lieben Verletzungen beim Fußballsport – strafbare Körperverletzung? . . . . . . . . . . . . 1223 Martin Heger Strafrechtliche Grenzen von Enhancements im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1245

VI. Strafverfahrensrecht Matthias Jahn und Sascha Ziemann Frankfurter Strafprozessunordnung. Der Kaufhausbrandstifterprozess von 1968 als epochemachender Schauplatz politischer Inszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . 1265 Karsten Gaede § 81g StPO – Musterbeispiel für die schöne neue Welt der Strafverfolgungsvorsorge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1283 Henning Rosenau und Carina Dorneck Die Rolle der forensischen Molekulargenetik im Strafprozess . . . . . . . . . . . . . 1301 Guido Britz Die „formlose Einziehung“: Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen . . . 1321

VII. Völkerrecht Claus Kreß Die Anfänge des Völkerstrafrechts im Spiegel von Reinhard Merkels Völkerstrafrechtsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1345 Bernd Schünemann Von den trüben Quellen und seichten Mündungen des Völkerstrafrechts . . . . . 1361 Dorothea Magnus Verfolgung und Anklage von Völkerrechtsverbrechen nach deutschem Recht: wie weit zulässig und geboten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1375 Ulrich Steinvorth Kollateraltötungen und Optimierungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1395 Albin Eser Tödliche „Kollateralschäden“ durch militärische Aktionen: zu deutscher Mitverantwortung für ausländische Drohneneinsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1409

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Stefanie Bock Individuelle Verantwortlichkeit für staatliche Angriffshandlungen. Überlegungen zum Verbrechen der Aggression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1433 Georg Meggle Zum „Terrorismus“ im Sicherheitsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1453

VIII. Recht und Ethik der Medizin und Biowissenschaften John Harris Gene Editing in Humans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1463 Gunnar Duttge Moderne Pränataldiagnostik: Legitimer Freiheitsgebrauch fern von „Diskriminierung“ und „Selektion“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1473 Thomas Schramme Manipulation und mentale Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1489 Ingmar Persson and Julian Savulescu No Matter, Never Mind: The Bodily Basis of Mental Integrity . . . . . . . . . . . . . 1501 Neil Levy Nudge, Nudge, Wink, Wink: Nudging is Giving Reasons . . . . . . . . . . . . . . . . . 1507 Jonathan Glover Privacy, Neuroscience and the Inner Life . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1531 Bettina Schöne-Seifert und Marco Stier Zur Autorität von Demenzverfügungen: Merkels Vorschlag einer notstandsanalogen Interessenabwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1545 Ulrich Schroth Zur Legitimation der gesetzlichen Regelungen der Nierenlebendspende . . . . . 1565 Holm Putzke und Jörg Scheinfeld Zur Widerspruchsregelung bei der Leichenorganspende. Gedanken zur Diskussion im Ethikrat und im aktuellen Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1579 Nikolaus Knoepffler Die Widerspruchsregel bei der Organspende – Überlegungen zu Reinhard Merkels Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1603

IX. Varia Wolfram Höfling „Eine Zensur findet … statt“. Schlaglichter auf die Filmkontrolle in der frühen Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1619

XVIII

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Jacqueline Neumann Von der Formung des Rechts auf Weltanschauungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . 1633 Publikationen Reinhard Merkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1651 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1669

I. Literarisches

Vom Recht, sich betasten zu lassen, von wem man will Bemerkungen zu Kraus und Adorno Von Jochen Bung 1964 schreibt Adorno einen Aufsatz über Karl Kraus. Der seiner Freundin Lotte Tobisch gewidmete Text erscheint nicht selbständig, sondern ein Jahr später im Zusammenhang der Sammlung Noten zur Literatur III bei Suhrkamp. Anlass des Aufsatzes ist die Neuedition der Schrift Sittlichkeit und Kriminalität als elfter Band der Kraus-Werkausgabe des Münchener Kösel-Verlags. Adorno greift die Bemerkung des Herausgebers Heinrich Fischer auf, „kein Buch von Karl Kraus sei aktueller als dies vor bald sechzig Jahren publizierte“1 und bekräftigt, dies sei „die pure Wahrheit“2. Es war in der Tat die Wahrheit. Die radikale Kritik an einem moralisierenden Sexualstrafrecht, welche die Texte des Bandes wesentlich bestimmt, traf den Nerv einer rechtspolitischen Diskussion, die acht Jahre nach dem Erscheinen von Adornos Text in das 4. Strafrechtsreformgesetz mündete, das als augenfälligsten Reformschritt die Abschaffung der Überschrift des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuches, Straftaten gegen die Sittlichkeit, und dessen Umbenennung in Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung bewirkte. Dieser Schritt und die damit verbundenen Umgestaltungen des Sexualstrafrechts lassen sich bruchlos mit den Überlegungen von Kraus in Verbindung bringen, dessen Schrift nichts Geringeres als eine Theorie legitimer und illegitimer Rechtsgüter im Strafrecht liefert und vehement die Restriktion des Sexualstrafrechts auf das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung fordert.3 Wie sieht es heute aus? Heute firmiert Sittlichkeit und Kriminalität in der von Christian Wagenknecht herausgegebenen Werkausgabe bei Suhrkamp als Band 1. Das Sexualstrafrecht hat sich als Dauerbaustelle erwiesen, die zeigt, dass das Interesse am Zusammenhang von „Sexualität und Wahrheit“4 ungebrochen ist, indem die 1

Theodor W. Adorno, Sittlichkeit und Kriminalität. Zum elften Band der Werke von Karl Kraus, in: ders., Noten zur Literatur, Frankfurt am Main 1981, S. 367. 2 Ebd. 3 Zum Begriff der sexuellen Selbstbestimmung Karl Kraus, Sittlichkeit und Kriminalität, hrsg. v. Christian Wagenknecht, Frankfurt am Main 1987, S. 326. Kraus nennt daneben noch den Minderjährigen- und den Gesundheitsschutz als legitime Aufgaben des Sexualstrafrechts, ebd., S. 15, 69, 182. 4 Zu diesem Zusammenhang Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, Sexualität und Wahrheit Bd. 1, Frankfurt am Main 1983.

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psychologisch vielschichtige und nicht selten ambivalente sexuell motivierte Interaktion zwischen Menschen am Muster veritativer Diskurse, ganz konkret am Muster von Ja/Nein-Stellungnahmen, ausgerichtet und verrechtlicht werden soll.5 Die im 19. Jahrhundert vom Erfinder der Kriminologie, Cesare Lombroso, ausgesprochene Prophezeiung, dass die Strafgesellschaften der Zukunft sich hauptsächlich mit Wirtschafts- und Sexualdelinquenz beschäftigen werden6, hat sich als zutreffend erwiesen. Das Interesse der bürgerlichen Gesellschaft an einer Juridifizierung des Sexuellen hat alle historischen Formationen des Bürgertums überdauert. Kann man also auch heute noch sagen, dass kein Buch von Kraus aktueller ist als dieses vor nun mehr als hundert Jahren publizierte? Ich zögere ein wenig mit der Antwort und sehe mich nicht in der Lage, Adornos Diktum, das sei die „pure Wahrheit“, heute einfach zu wiederholen. Ganz zweifellos gibt es in Kraus’ Werk Anmerkungen zur Sexualität und zum Sexualstrafrecht auf der Höhe der Zeit, Passagen für die gilt, was Reinhard Merkel, einer der profundesten Kraus-Kenner in seiner Untersuchung Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus in Anknüpfung an die Bemerkung Adornos gesagt hat, dass sie „eine bis in die Gegenwart reichende Aktualität [demonstrieren]“7. Andererseits gibt es Passagen, über die die Zeit hinweggegangen ist, in denen Kraus sich in den Geschlechterstereotypen seiner Zeit verheddert und schließlich sogar in eine Art von „Sexualmetaphysik“8 verfällt. Dieser merkwürdigen Ambivalenz möchte ich eine Weile nachgehen und zwar nicht in erster Linie aus Interesse an einem Beitrag zur Literaturwissenschaft, sondern weil sie uns über den Autor (Kraus) und seinen Interpreten (Adorno) hinaus etwas über das spannungsvolle Verhältnis von Sexualität und Strafrecht vermittelt. Und natürlich tue ich es in diesem Zusammenhang auch in der Absicht, Reinhard 5 Vgl. BT-Drs. 18/9097 (sog. Nein-heißt-Nein-Gesetz), die Diskussionen dazu und zur Reform des Sexualstrafrechts sind kaum mehr zu überblicken, sie sollen auch nicht Gegenstand dieses Beitrags sein. Nur als Anhaltspunkte: Fünfzigstes Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung (BGBl I 2016, 2460). Als ambivalent bewertet von Joachim Renzikowski, Nein! – Das Neue Sexualstrafrecht, NJW 2016, S. 3353 ff.; s. auch Tatjana Hörnle, Das Gesetz zur Verbesserung des Schutzes sexueller Selbstbestimmung, NStZ 2018, S. 13 ff., die das Gesetz zwar für grundsätzlich überzeugend hält, aber die Fassung für „schlecht durchdachte, zu schnell auf öffentliche Empörung reagierende Gesetzesänderung“ in den Einzelheiten kritisiert. Kritisch zum Entstehungsprozess des Gesetzes und mit dem Aufruf an die Strafrechtswissenschaft, sich stärker an der öffentlichen Diskussion zu beteiligen Elisa Hoven, Das neue Sexualstrafrecht – Der Prozess einer Reform, KriPoZ 2018, S. 2 ff. (mit Kommentar von Tatjana Hörnle, ebd., S. 12 ff.). Zum Muster von Ja/Nein-Stellungnahmen im Sexualstrafrecht Jochen Bung, Das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung, in: Philipp Thiee (Hg.), Menschen Handel. Wie der Sexmarkt strafrechtlich reguliert wird, Berlin 2008, S. 49 ff. 6 Cesare Lombroso, Criminal Man, hrsg. von Mary Gibson und Nicole Hahn Rafter, Duke University Press (Durham und London) 2006, S. 332 f. 7 Reinhard Merkel, Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus, Frankfurt am Main 1998, S. 398. 8 So zutreffend Merkel (Fn. 7), S. 360, der freilich richtigerweise hervorhebt, „dass sie [diese Metaphysik] für die Kritik des Satirikers am Sexualstrafrecht keine entscheidende logische Rolle spielt“, ebd., S. 361.

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Merkel zu ehren, dessen Untersuchungen zu Karl Kraus nicht nur zu den unverzichtbaren Beiträgen zur Kraus-Forschung, sondern auch zu den bemerkenswertesten Hervorbringungen einer methodisch aufgeschlossenen, interdisziplinären Strafrechtswissenschaft gehören, die gerade auch Impulse aus der Literatur aufnimmt und produktiv verarbeitet.

I. Geschlecht und sexuelles Selbstbestimmungsrecht In Sittlichkeit und Kriminalität, das Artikel aus der von Karl Kraus herausgegebenen Zeitschrift Die Fackel versammelt, führt Kraus einen Angriff auf das geltende Sexualstrafrecht seiner Zeit. Vor allem ist es eine Kritik der Strafjustiz in Sittlichkeitsprozessen. Die Texte sind zwischen 1902 und 1907 verfasst. Neben der Justizkritik geht es Kraus darum, die legitimen Grenzen des Sexualstrafrechts zu bestimmen. Kraus formuliert, seiner Zeit weit voraus, das Thema „Geschlecht und Selbstbestimmungsrecht“9, er spricht vom „Selbstverfügungsrecht der Frauen“10, der Ausdruck „sexuelles Selbstbestimmungsrecht“ findet sich explizit11, und dieses Recht wird – ganz modern und in erstaunlicher Vorwegnahme heutiger Verständnisse – bestimmt als „das Recht des Individuums, sich betasten zu lassen, von wem es selbst betastet sein will“12. Diese Bestimmung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts entwickelt Kraus in der Darstellung einer historischen Episode, die am 16. November 1906 in einem Zoologischen Garten in New York spielt. Hier soll der weltberühmte Tenor Caruso eine Frau durch unerwünschte Berührungen bedrängt haben, woraufhin er festgenommen und ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet wurde.13 Kraus geht mit der heimischen kritischen Berichterstattung über diesen Vorgang hart ins Gericht: „Nur die Flachköpfe unserer liberalen Presse halten es für Prüderie, wenn die amerikanischen Frauen einen Angriff auf ihr sexuelles Selbstbestimmungsrecht zurückweisen. Ich weiß nicht, nach welchem Gesetz Herr Caruso verurteilt wurde, aber ich vermute, dass nicht die öffentliche Schamhaftigkeit, sondern das Recht des Individuums, sich betasten zu lassen, von wem es selbst betastet sein

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Kraus (Fn. 3), S. 36. Ebd., S. 37. 11 Ebd., S. 151, 326. Ob Kraus diesen Begriff als erster geprägt hat, wäre eine Untersuchung wert. Dass er einer der ersten war, halte ich nach – freilich unvollständigen – Recherchen für einigermaßen sicher. Ich danke Thomas Jänicke für empirisch fundierte Hinweise auf die Richtigkeit dieser Vermutung. Sensibilisiert war Kraus womöglich durch den Sprachgebrauch bei Franz von Liszt, der von der „freie[n] Selbstbestimmung über den geschlechtlichen Verkehr“ spricht, vgl. Franz von Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 10. Aufl., Berlin 1900, S. 347. 12 Kraus (Fn. 3), S. 326. 13 S. ebd., S. 325 f. 10

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will, gegen die Zärtlichkeit des großen Mannes geschützt werden sollte.“14 Tatsächlich lautete der Vorwurf auf disorderly conduct15, was aber auch individuelle und nicht-öffentliche Beeinträchtigungen erfasste. Gegen alteuropäische Selbstüberhebungen gegenüber der neuen Welt vermerkt Kraus scharf: „In Amerika wahrt man den sexuellen Anspruch der Frau, indem man sie vor sexueller Ansprache schützt. Bei uns dürfen bloß die Herren der Schöpfung ihre Geilheit auf der Straße spazieren führen, dürfen Frauen anpöbeln, die von ihnen nicht beglückt sein wollen, und ein unbeteiligtes Publikum an den Exhibitionen ihrer Luchsaugen teilnehmen lassen.“16 Er hält es für „Idiotie“, wie die mitteleuropäische Betrachtung des transatlantischen Vorgangs, „eine Frage der Freiheit als eine Frage der Moral auffasst“17.

II. Pathos und Beobachtung Liest man heute Kraus, trifft man, wie aus den vorstehenden Passagen ersichtlich, auf eine unserer Zeit nicht mehr ganz geläufige Leidenschaftlichkeit des Ausdrucks. Bereits Adorno thematisiert diese Leidenschaft bei Kraus, er vermerkt über Sittlichkeit und Kriminalität: „Die aufsteigende Kurve des Buches fällt zusammen mit dem Fortschritt seines Pathos.“18 Adorno sympathisiert mit dem Pathos, greift sogar dem Einwand vor, es sei altmodisch19, zu behaupten, „die Passagen, in denen seine [Kraus’] Stimme donnert, [seien] so frisch, wie am ersten Tag“20. Adorno hat in seiner Wiener Zeit Lesungen von Kraus besucht, und er war, wie er in dem Aufsatz selbst andeutet21, tief beeindruckt von Kraus’ Dramaturgie. Ob wir das heute noch so erleben könnten, möchte ich bezweifeln. Allerdings muss man, was Kraus betrifft, sehen, dass Dramatisierung und Eruption nur eine (wenn auch häufig gewählte) rhetorische Variante darstellen. Das Buch enthält auch ganz unpathetische und sachliche Teile, Analysen und Beobachtungen. Sie gehören zum Besten in dem Werk. Die wirkungsvollsten Passagen sind nicht jene, in denen Kraus donnert, sondern die, in denen er beobachtet und dokumentiert und allenfalls knapp kommentiert oder das Ganze kommentarlos stehen lässt: „Bezirksgericht. Der Richter redet einer des Diebstahls angeklagten Frau ins Gewissen: Hab’n S’ was g’stohl’n? – Angekl.: I hab’ nix g’stohl’n. – Richter: Wie kommen denn dann die fremden Sachen in Ihren Koffer? – Die Angeklagte erwidert, sie besitze einen Teil dieser Sachen schon seit zwei Jahren. Sie habe sie angeschafft, als sie mit einem Kinde niederkam. – Richter: Sie sind ja gar net verheiratet, wie kann ma denn da a Kind 14

Ebd., S. 326. www.blog.insidetheapple.net/2010/11/enrico-caruso-and-monkey-house-incident.html. 16 Kraus (Fn. 3), S. 326. 17 Ebd. 18 Adorno (Fn. 1), S. 385. 19 Ebd., S. 386. 20 Ebd. 21 S. ebd., S. 372.

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kriegen! – Angekl. (kurz): Ledige Leute kriegen aa Kinder. – Richter: Ja, leider! Schamen S’Ihna! …“22

In seinem Theaterstück Die letzten Tage der Menschheit hat Kraus die hier zu Tage tretende menschenfeindliche Arroganz und Dummheit namentlich von Funktionären der Gesellschaft zu einer panoptischen Dimension gesteigert. Das Grauen, der zwischenmenschliche Abgrund, tut sich gerade in der Banalität des alltäglichen, durch dialektale Färbungen keineswegs gefühlsvermittelteren, sondern eher noch bedrohlicheren Sprechens auf. Hier erweist sich womöglich die wahre, zeitlose Modernität der Texte, die auch Adorno erkannte: „Er [Kraus] ist vom Schlimmsten nicht überholt, weil er im Mäßigen das Schlimmste erkannte, und indem er es spiegelte, es enthüllte.“23 In Sittlichkeit und Kriminalität geht es ganz überwiegend um Spiegelungen und Enthüllungen von Sittlichkeitsprozessen der Zeit um die vorvergangene Jahrhundertwende. Schauplatz ist Österreich, die Provinz sowie die Hauptstadt Wien. Dass man die Namen der Akteure überwiegend nicht mehr kennt, tut dem Text keinen Abbruch, im Wesentlichen geht es nicht um sie als Personen, als Individuen, sondern als Träger von Rollen, als Repräsentanten von Institutionen. Im Wesentlichen geht es darum, was Richter im Gerichtssaal mit Menschen machen, was sie sich anmaßen, wie sie diejenigen, die ihnen ausgeliefert sind, demütigen und vernichten. Einer wegen Kindstötung angeklagten Frau hält der Vorsitzende, als sie, vor der Verkündung des Todesurteils zu weinen anfängt, entgegen: „Wollen Sie ruhig sein, sonst laß ich sie abführen! Machen S’ nicht solche G’schichten!“24 Kraus ist da am stärksten, wo er solche Szenen einfach festhält, die Vorgänge für sich selbst sprechen lässt, allenfalls durch die Überschrift des Artikels – Katastrophen – stichpunktartig kommentiert.

III. Immanente Kritik der bürgerlichen Gesellschaft? Adorno interpretiert die Spiegelungen und Enthüllungen in Sittlichkeit und Kriminalität als eine immanente Kritik der bürgerlichen Gesellschaft.25 Er will damit sagen, dass Kraus keine abstrakt-theoretische, von außen kommende Kritik der Gesellschaft seiner Zeit liefert, sondern, dass er, indem er bestimmte Vorgänge zeigt, bestimmte Szenen noch einmal in Szene setzt, dieser Gesellschaft die Augen darüber öffnet, was sie anrichtet und ihr so ihre eigene Fragwürdigkeit vermittelt. Auffällig ist dabei, dass Adorno mit einem Pathos formuliert, das mit Leichtigkeit alles übertrifft, was man in Kraus an pathetischer Rede finden kann: 22

Kraus (Fn. 3), S. 307 (Kursivierungen im Original gesperrt). Adorno (Fn. 1), S. 381. 24 Kraus (Fn. 3), S. 41 (Kursivierungen im Original gesperrt), s. auch S. 105. 25 Adorno, a.a.O. (Fn. 1), S. 370. 23

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Jochen Bung „Trotz allem Geschwätz vom Gegenteil hat in der Grundschicht der bürgerlichen Gesellschaft nichts sich geändert. Böse hat sie sich vermauert, als wäre sie so naturgesetzlichewig, wie sie es ehedem in ihrer Ideologie positiv behauptete. Sie lässt die Verhärtung des Herzens, ohne welche die Nationalsozialisten nicht unbehelligt Millionen hätten morden können, so wenig sich abmarkten wie die Herrschaft des Tauschprinzips über die Menschen, den Grund jener subjektiven Verhärtung. Flagrant wird das Bedürfnis, zu bestrafen, was nicht zu bestrafen wäre.“26

Dies gelte insbesondere für das Feld des Sexuellen, denn: „Je geschickter das fortdauernde soziale Unrecht unter der unfreien Gleichheit der Zwangskonsumenten sich versteckt, desto lieber zeigt es im Bereich nicht-sanktionierter Sexualität seine Zähne und bedeutet den erfolgreich Nivellierten, dass die Ordnung im Ernst nicht mit sich spaßen lässt. Geduldetes Freiluftvergnügen und ein paar Wochen mit einteiligem Bikini haben womöglich nur eine Wut gesteigert, die hemmungsloser als je die von ihr verfolgten sogenannten Laster, sich zum Selbstzweck wird, seitdem sie auf die theologischen Rechtfertigungen verzichten muss, die zuzeiten auch für Selbstbesinnung, und Duldung, Raum gewährten.“27

Was will Adorno hier sagen? Dass die Marktgesellschaft am Ende repressivere Effekte generiert als traditionelle Gesellschaftsformen? Dass die Zulassung des Bikinis den Hass auf den Bikini fördert? Dass die bürgerliche Gesellschaft die Verhärtung des Herzens bedingt und damit den organisierten Massenmord erst möglich macht? Und dass es diese Verhärtung ist, die sich in besonderer Weise darin Bahn bricht, das Feld der Lust mit dem Instrument des Strafrechts zu bestellen? Indem Adorno sich völlig dem Pathos hingibt, nur noch donnert, statt zu argumentieren, ist es nicht leicht, die für die Kraus-Deutung brauchbaren von den unbrauchbaren Teilen zu trennen.

IV. Sexualität als Freiheitsreservat In einem Punkt trifft Adorno allerdings etwas Wichtiges. Der Autor von Sittlichkeit und Kriminalität ist im Kern eher ein Konservativer als ein Liberaler. Kraus spricht das selbst an einer Stelle unmissverständlich aus: „[E]in Konservatismus, der das Glück aller raubt, ist ein würdigerer Feind als ein Liberalismus, der dem Glück der Räuber dient“28. Kraus plädiert entschieden für eine staatliche Regulierung der ökonomischen Sphäre. Er hebt hervor, „dass ich den Standpunkt des Staatsfreunds, der von der Gesetzgebung immer wieder das verlangt, was der manchesterliche Schwindelgeist ,Bevormundung‘ nennt, […] dann beziehe, wenn ich das Geltungsgebiet ökonomischer Werte betrachte.“29 Hier scheint ihm „strengste Überwa26

Ebd., S. 367. Ebd. 28 Kraus, a.a.O. (Fn. 3), S. 275. 29 Ebd., S. 12. 27

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chung geboten“30 und er betont, dass er „den neuen Formen neue Paragraphe an den Hals wünsche“31. Eine kritische Theorie des Kapitalismus (wie bei Adorno) steckt darin allerdings nicht, Kraus ist einfach moralisch entrüstet über die systembedingte Gier nach Profit. Dabei fällt allerdings auf, dass er kein Problem damit hat, die Kommerzialisierung zwischenmenschlicher Beziehungen im Sexuellen zu verteidigen. Er möchte, dass die freie Entscheidung, sich zu prostituieren, als selbstbestimmte „Geschlechtskarriere“32 anerkannt wird, er meint – im Rahmen seiner wiederkehrenden bösartigen Invektiven gegen die „Frauenrechtlerinnen“33 und „Tugendmegären, bei denen sich verhinderte sexuelle Notwendigkeiten in Sozialpolitik umgesetzt haben“34 – dass die Mädchen, die bei der Bekämpfung des Mädchenhandels gerettet werden sollen, die „Bordellhyänen“ den „Samariterinnen“ vorziehen würden35. Kraus unterstellt diese mutmaßliche Entscheidung als selbstbestimmt, dass Unerfahrenheit hier schnell zu existentieller Abhängigkeit und Ausbeutung führen kann, wird nicht thematisiert. Kraus ist aufgeklärt konservativ und deswegen residual-liberal: Er möchte, dass das „bisschen Vergnügen“36 „im stillen Kämmerlein“37 unbehelligt bleibt von justizieller Einmischung oder der Bedrohung durch „die unsterbliche Wandlungsfähigkeit des Polizeigeistes“38. Schlüsselt man das historisch auf anhand seiner Kritik an strafrechtlicher oder polizeilicher Verfolgung von Ehebruch, Homosexualität und Kuppelei („Gelegenheitsmacherei“), ist das aus heutiger Sicht geschenkt. Was aus heutiger Sicht nicht mehr so einfach nachzuvollziehen ist, ist das bei Kraus offenbar naiv zugrunde liegende Schema einer normativen Dichotomie des Öffentlichen und des Privaten. Wieso sollen nicht gerade im stillen Kämmerlein jene Beschädigungen des sexuellen Selbstbestimmungsrechts passieren, die auch Kraus strafrechtlich geschützt wissen möchte? Adorno analysiert diesen Umstand zutreffend, jetzt wird auch klarer, was immanente Kritik der bürgerlichen Gesellschaft heißen soll: „Die bürgerliche Gesellschaft lehrt den Unterschied des öffentlichen und beruflichen Lebens vom privaten und verspricht dem Individuum, als der Keimzelle ihrer Wirtschaftsweise, Schutz. Die Methode von Kraus fragt […] eigentlich nicht mehr, als wie weit die Gesellschaft, in der Praxis ihrer Strafgerichtsbarkeit, dies Prinzip anwende, dem Individuum den versprochenen Schutz gewähre und nicht vielmehr, im Namen fadenscheiniger Ideale, 30

Ebd. Ebd. 32 Ebd., S. 245. 33 Ebd., S. 253. 34 Ebd., S. 255. 35 Ebd., S. 246. 36 Ebd., S. 263. 37 Ebd., S. 14. 38 Ebd., S. 260. 31

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auf dem Sprung stehe, auf es sich zu stürzen, sobald es wirklich von der verheißenen Freiheit Gebrauch macht. Mit Scheuklappen als Brille insistiert Kraus auf dieser einen Frage. Darüber wird der gesellschaftliche Zustand insgesamt verdächtig. Die Verteidigung der privaten Freiheit des Einzelnen gewinnt paradoxen Vorrang vor der einer politischen, die er wegen ihrer Unfähigkeit, privat sich zu realisieren, als im weiten Maße ideologisch verachtet.“39 So viel ist jedenfalls richtig an Adornos Beobachtung: Freiheit der Sexualität ist für Kraus die Probe aufs Exempel in der Freiheitsfrage überhaupt. Ob paradox oder nicht paradox, politische Freiheit interessiert Kraus eigentlich gar nicht, sogar Verachtung lässt er, wie im Fall der Frauenrechtsbewegung, durchblicken. Sexualität wird an keiner Stelle des Buches auf ihre politische Bedeutung hin angesprochen, darin übrigens in auffälligem Unterschied zu einschlägigen Diskursen zur Zeit Adornos, in denen über die Befreiung von Triebimpulsen auch eine andere Gesellschaft angestrebt wurde. Kraus’ Wunschvorstellung eines Freiheitsreservats für unbeaufsichtigtes Sexualvergnügen unter Einschluss der Dienstleistungssexualität entspricht am ehesten Helmut Schelskys konservativer Deutung von Prostitution als gesellschaftlicher Ventilsitte.40 Dass die „Freigabe des Glücks Bedingung richtigen Lebens ist“41, ist bei Kraus keineswegs an eine Philosophie von der Möglichkeit des richtigen Lebens im Falschen geknüpft.

V. Rechtskritik oder Justizkritik? Wegen dieser Ausblendung des Politischen ist die Rechtskritik bei Kraus, im Gegensatz zur Rechtskritik Adornos, nicht wirklich Kritik am Recht selbst, nicht Kritik an der Form des Rechts als einer Verdichtung des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs, in der sich die Normierungsmacht des Tauschprinzips reproduziert. Gehört bei Adorno das Recht schon aufgrund seiner Form und Methode zum „Verblendungszusammenhang“ , wird es bei Kraus – bürgerlich durch und durch – als Schutzmacht angerufen, bis hin zu – auch von Adorno bemerkten42 – Forderungen nach Verschärfungen des Strafrechts.43 Der Angriff aufs Recht findet nicht bei Kraus statt, sondern bei Adorno. In der Negativen Dialektik heißt es: „Recht ist das Urphänomen irrationaler Rationalität […]; nachlebender Mythos inmitten einer nur zum Schein entmythologisierten Menschheit. Die Rechtsnormen schneiden das nicht Gedeckte, jede nicht präformierte Erfahrung des Spezifischen um bruchloser Systematik willen ab und erheben dann die instrumentale Rationalität zur zweiten Wirklichkeit sui 39

Adorno (Fn. 1), S. 376. Helmut Schelsky, Soziologie der Sexualität, Hamburg 1955. 41 Adorno (Fn. 1), S. 377. 42 Ebd., S. 374. 43 S. etwa die Argumentation gegen Volltrunkenheit oder Angetrunkenheit als Entlastungsgründe, Kraus (Fn. 3), S. 216. Vgl. dazu auch Merkel (Fn. 7), S. 160. 40

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generis. […] Dies Gehege, ideologisch an sich selbst, übt durch die Sanktionen des Rechts als gesellschaftlicher Kontrollinstanz, vollends in der verwalteten Welt, reale Gewalt aus.“44

Im Gegensatz zum Willkürregime des Unrechtsstaats, konserviere, so Adorno, „das Recht in der Gesellschaft den Schrecken, jederzeit bereit auf ihn zu rekurrieren mit Hilfe der anführbaren Satzung“45. Eine derartige Fundamentalkritik am Recht ist bei Kraus nicht zu finden. Einige wenige Stellen finden sich zwar auch bei ihm, die in die von Adorno gewiesene Richtung eines unheilvollen Mechanismus deuten: „Die Menschheit verblutet unter dem trostlosen Scharfsinn einer Wissenschaft, die operiert und nicht verbindet.“46 An einer Stelle spricht er vom „Gesetzeswahnsinn“47. Doch artikuliert sich Rechtskritik bei Kraus fast ausschließlich als Justizkritik, vor allem als Kritik an monströsen Justizfunktionären, an jenen „Kreaturen, die […] berufen [sind], über Menschen zu richten.“48 Im Gegensatz zu Adorno, der dies im Übrigen genau erkennt, ist das Schreiben von Kraus selbst von juridischem Interesse geprägt und zwar nicht nur in dem direkten Sinne, dass er sich, wie im Fall des Nötigungsstrafrechts, auf ziselierte dogmatische Begriffsanalysen einlässt, sondern, ganz allgemein, in dem Anspruch des Richtens und Rechtbehaltenwollens – bis in jene Steigerung von Unfehlbarkeit hinein, in der jegliche Allgemeinverbindlichkeit des Urteils durch Geschmacksurteile ersetzt wird, deren Legitimität Kraus wie folgt begründet: „Man ist lange genug Prediger in der Wüste gewesen, um sich schließlich mit der Befugnis einer ästhetischen Wertung der Menschen und der Dinge zu belohnen.“49 Das Gesamturteil über die Menschen fällt dabei denkbar ungünstig aus, indem, so Kraus wörtlich, „ich mich beschieden habe, die meisten meiner Mitmenschen als traurige Folgen einer unterlassenen Fruchtabtreibung zu betrachten“50.

VI. Dekonstruktion der Lust und Sexualmetaphysik Ist der konservative Misanthrop Kraus also weit davon entfernt, sich die Triebbefreiung als politisches Projekt zur Verbesserung der Gesellschaft und der Menschen vorzustellen, so entpuppt sich Sexualität im Rahmen des von ihm abgesteckten Freiheitsreservats gleichwohl als Spielwiese sektoraler Dekonstruktion. Kraus misstraut robusten Vorstellungen von sexueller Identität. Er verachtet und spottet über die psychiatrischen und juristischen Versuche, im Feld sexueller Erfahrung und sexueller Experimente normative Taxonomien zu etablieren, wie etwa die Unterscheidung von angeborener und erworbener Homosexualität oder überhaupt 44

Adorno, Negative Dialektik, 3. Aufl. Frankfurt am Main 1982, S. 304. Ebd., S. 303. 46 Kraus (Fn. 3), S. 287. 47 Ebd., S. 303. 48 Ebd., S. 287. 49 Ebd., S. 99. 50 Ebd., S. 282. 45

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die Unterscheidung von Homo- und Heterosexualität: „Die Dummheit einer ganzen Welt stellt sich das Geschlechtsleben als eine Sache der Einteilung oder als die geradlinige Resultante ethischer Entschließungen vor.“51 Da alle Erotik, so Kraus, auf der Überwindung von Hemmungen beruhe52, kann erotische Erfahrung und Kompetenz nur gewonnen werden, wenn man die Hemmung überwindet. Um kompetent lieben zu können, so Kraus’ Vorstellung eines erotischen kompetenten Akteurs, den er als „vollen Mann“53 bezeichnet, muss er erweisen, dass ihm die „Möglichkeiten der doppelgeschlechtlichen Naturanlage nie versperrt sind und [er] die Lust am Weibe nicht nur beweist, sondern vermehrt, wenn er die Lust am Mann versucht“54. Freilich ist Kraus’ Ansatz auch hier im Grunde konservativ, es geht ihm um Bewahrung oder Wiederfindung einer ars erotica55, um „Nuancierung der Lust“56, und die „Erweiterung der Genußfähigkeit“57, nicht um „Neosexualitäten“ im Sinne von Volkmar Sigusch58. Kraus schreibt aus der Perspektive des Mannes und dabei gerät ihm der Blick auf „das Weib“ in zum Teil trivialste Stereotype, wie sie gerade um die vorvergangene Jahrhundertwende verbreitet waren. Der Mann braucht Phantasie, Gestaltung, um Lust zu empfinden, die Frau ist von Natur aus Lust. Wenn sie zu viel Gestaltungswillen hat, wird sie hysterisch59, „der Strom weiblichen Genießens hat vom Ursprung bis zur Mündung keine Nebenflüsse“60. In solchen Bemerkungen fällt Kraus weit zurück, erhalten seine im Grunde progressiven Deutungen des sexuellen Feldes eine rückständige Grundierung.

VII. Ausblick Freilich wäre es nicht fair, nur die Passagen herauszulesen, über die die Zeit hinweggegangen ist. Auch wenn es nicht länger die pure Wahrheit ist, dass kein Buch von Kraus aktueller ist als dieses (Adorno), weist uns Sittlichkeit und Kriminalität in ungebrochener Aktualität darauf hin, dass die Frage, in welchem Umfang eine Gesellschaft die in ihr stattfindende Sexualität der Normierungsmacht des Rechts, namentlich des Strafgesetzes, unterwirft, nicht irgendeine Frage unter anderen ist, sondern uns unmittelbar mit dem verbindet, was die Gesellschaft im Innersten bewegt. Neben der Wirtschaft wird das, wohl unabsehbar, immer auch der Sex sein. 51

Ebd., S. 304. Ebd., S. 303. 53 Ebd., S. 304. 54 Ebd., S. 304. 55 Vgl. Foucault (Fn. 4), S. 61. 56 Kraus (Fn. 3), S. 302. 57 Ebd. 58 Volkmar Sigusch, Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion, Frankfurt am Main 2005. 59 Kraus (Fn. 3), S. 304. 60 Ebd. 52

Prozesse als Bestandteil des Werks von Karl Kraus – Prozessakten als Quellen zu seinem Wirken Am Beispiel des Prozesses Pisk gegen Kraus (1929 – 1931) Von Sigurd Paul Scheichl Die von Hermann Böhm herausgegebenen Prozessakten der Kanzlei Oskar Samek1 sind eine wertvolle Ergänzung des Werks von Karl Kraus, sind doch die zahlreichen von ihm geführten Prozesse dessen integraler Bestandteil. Wohlgemerkt: die Prozesse, nicht die Prozessakten. Nicht wenige Verfahren wurden von Kraus geradezu provoziert, um sozusagen aus der Reaktion des/der von ihm satirisch oder polemisch Angegriffenen einen Bestandteil der Polemik zu machen, oder, anders ausgedrückt, die (erwartete) Reaktion des Gegners war von vornherein in die Polemik oder Satire eingebaut.2 Böhms Edition, die standardisierte Texte zum Teil in Regestenform darbietet und die abgedruckten Dokumente nicht näher beschreibt, ist nun ergänzt und präzisiert durch die (vor allem Katharina Prager zu dankende) digitale Veröffentlichung der Samek-Akten aus der Wien Bibliothek im Rathaus3, die die Formate der Papiere, Vordrucke und Briefköpfe, ihren Erhaltungszustand und überhaupt ihre Materialität sehen lässt, uns dadurch ganz eng an die vergangene Realität heranführt. Dadurch ist es zum Beispiel möglich zu sehen, dass Kraus an der Formulierung solcher Schriftstücke unmittelbar beteiligt war. Im Ehrenbeleidigungsprozess, den der Musikkritiker der Arbeiter-Zeitung, Paul A. Pisk, 1929 gegen ihn anstrengte (1929 – 1931; B 134; Band 2, S. 372 – 417)4, gibt es zum Beispiel die ,Ausführung der Berufung des Beschuldigten‘5 (also Kraus’), die als handschriftlich verbessertes Typoskript im Akt liegt; eine Notiz hält fest, dass die Reinschrift dieses Schriftstücks 1 Hermann Böhm (Hg.), Karl Kraus contra … Die Prozeßakten der Kanzlei Oskar Samek in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek. Band 1: 1922 – 1927. Wien: Wiener Stadt- und Landesbibliothek 1995; Band 2: 1927 – 1929. Ebenda, 1995; Band 3: 1930 – 1933. Ebenda, 1996; Band 4: 1934 – 1936. Ebenda, 1997. = Publikationen aus der Wiener Stadt- und Landesbibliothek 2. 2 Vgl. zu dieser Strategie Dirk Rose, Polemische Transgression. Karl Kraus zwischen Schrift und Aktion. In: Studia theodisca 21. 2014. S. 5 – 29. 3 https://www.kraus.wienbibliothek.at/die-rechtsperson. 4 Die in Anm. 1 angegebene Edition wird zitiert mit Jahr; B und Nummer des Aktenstücks; Band, Seite. In der digitalen Ausgabe findet man sich leicht zurecht. 5 http://www.kraus.wienbibliothek.at/content/paul-amadeus-pisk-ca-karl-kraus.

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im Akt fehlt. Die umfangreichen handschriftlichen Korrekturen, die von Samek oder einer Sekretärin stammen könnten, erwecken den Eindruck, bei einem gemeinsamen Durchgehen des Dokuments diktiert worden zu sein, vielleicht von Kraus. Auf jeden Fall – ich bin nicht die ganze ,Ausführung‘ textkritisch durchgegangen – stehen an zumindest zwei Stellen Wörter in Kraus’ Handschrift, die von der die Korrekturen einarbeitenden Person übernommen worden sind. Es handelt sich um das Einfügen von „wortgetreu“ und den Ersatz von ,vollkommen unwahr‘ durch das stärkere „handgreiflichste Unwahrheit“ auf Blatt 9 des Dokuments (B 134.47; Band 2, S. 396 – 409, hier S. 399). Solchen Eingriffen des Satirikers selbst wäre nachzugehen, denn gewiss sind manche dieser in Zusammenhang der Prozesse entstandenen Texte – nämlich als ganz (z. B. das undatierte Gedächtnisprotokoll 134.10; Band 2, S. 378 f.) oder teilweise von ihm formuliert – im engsten Sinn Bestandteil des Werks von Kraus, im weiteren sind sie es ohnehin. Bei dieser ,Ausführung der Berufung‘ ist denkbar, dass der Satiriker schon am ergänzten Typoskript mitgearbeitet hat, mit seinem Anwalt Samek. Aber nicht darum soll es hier gehen, zumindest nicht in erster Linie. Es soll vielmehr gezeigt werden, wie Texte von Kraus in ein Netz von Texten eingebunden sind. Das ist bei allen seinen Schriften der Fall, die ja durchwegs verflochten sind mit dem, was in den Zeitungen steht, mit politischen Aussagen, mit Theaterprogrammen, mit zeitgenössischer und älterer Literatur und ganz besonders mit dem, was bisher in der Fackel gestanden ist, wie mit dem, was im aktuellen Heft steht. Bei den juristischen Texten ist diese Verflechtung besonders augenfällig, weil, den Regeln der Verfahren vor Gericht folgend, jeder von Kraus oder unter seinem Einfluss formulierte Text unmittelbar auf – zum Teil vom Gericht vorgegebene – ,Prätexte‘ reagiert, reagieren muss, wobei aber das Verfahren seinerseits schon eine Reaktion auf gesprochene und gedruckte Texte von Kraus ist. Manche Texte aus dem Umfeld von Prozessen sind ja dann auch in der Fackel erschienen. Um die Vielfalt der Texte, um dieses Zusammenspiel von gesprochenem (und nachher gedrucktem) oder geschriebenem Wort des Satirikers, Texten des Gerichts und der Prozessgegner, Reaktionen Kraus’ darauf, Texten dritter (wie Zeugenaussagen und Zeitungsartikeln), von Kraus mitformulierten Texten seines Anwalts usw. beispielhaft vorzuführen, bleibe ich beim Pisk-Prozess. Der dank Samek erhaltene Akt umfasst insgesamt 71 Dokumente, es ist denkbar, dass einige weitere verloren gegangen sind. Im Akt befinden sich die Privatanklage Pisks vom 15. Juli 1929, die sich ihrerseits auf Texte bezieht, die der Satiriker in seiner Offenbach-Vorlesung (Blaubart) am 7. Juni 1929 (V 511)6 zum Vortrag gebracht hatte, Artikel aus Zeitungen, (von beiden Seiten vorgelegte) Zeugenaussagen, Briefe Sameks an (potentielle) Zeugen und Briefe an Samek, ein Gedächtnisprotokoll von Kraus, Anträge auf La6

https://www.kraus.wienbibliothek.at/der-vorleser. Auf dieser Seite sind alle Programme der Vorlesungen zugänglich, die sich vom Abdruck in der Fackel doch etwas unterscheiden. Die Nummerierung der Vorlesungen folgt wie üblich: Christian Wagenknecht: Die Vorlesungen von Karl Kraus. Ein chronologisches Verzeichnis. In: Kraus-Heft 35/36. 1985. S. 1 – 30.

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dung von Zeugen, Abschriften aus Dialektwörterbüchern zum Wort ,schliefen‘ (wegen des von Kraus verwendeten Schimpfworts ,Schlieferl‘)7, sogar ein Auszug aus dem Strafregister von Karl Kraus8 usw. Viele dieser Dokumente sind Gerichtsroutine, ausgefüllte Formulare, doch die Gesamtheit gibt – in den Facsimilia im Internet noch mehr als im notwendiger Weise mit Regesten arbeitenden Buch – einen Einblick in die Komplexität der Auseinandersetzungen Kraus’ mit seinen Gegnern und in deren immer auch literarischen Charakter. In Zusammenhang mit der Klage Pisks (aufgrund deren Kraus, endgültig am 21. März 1931, schließlich zu einer empfindlichen Geldstrafe verurteilt worden ist) sind im Übrigen mindestens sieben weitere Verfahren eingeleitet worden (B 147, B 148, B 149, B 150, B 152, B 157, B 162; Band 3, S. 79 – 85, S. 87 – 91, S. 97 f., S. 134 – 137), mit insgesamt 42 weiteren Texten. Die meisten davon betreffen die Berichterstattung von Zeitungen über den Prozess. Unter den von Samek bewahrten Dokumenten befinden sich Briefe von wichtigen Persönlichkeiten des damaligen kulturellen Lebens, im Fall Pisk beispielsweise von Hanns Eisler. Es dürfte sich lohnen, die Samek-Akten auch einmal unter diesem Aspekt durchzusehen. Auf jeden Fall wird durch die Prozessakten das Geflecht, das Netzwerk sichtbar, in dem Kraus wirkte. Besonders interessant und aufschlussreich sind die Kontakte in Berlin, die in diesen Verfahren deutlicher fassbar werden als in der Fackel. Zurück zum Pisk-Prozess, der insofern atypisch ist, als er nicht von Kraus angestrengt worden ist und als ihn dieser durch seine Äußerungen in der Vorlesung vom 7. Juni 1929 wohl auch nicht bewusst provoziert hat, eher in seiner einleitenden Rede vom 10. Juni (V 513). In Kraus’ Zeitschrift ist von diesem Prozess nur wenig die Rede, was freilich bei vielen der von Samek geführten Prozesse der Fall ist, von denen einige in der Fackel überhaupt nicht vorkommen. Paul Amadeus Pisk (1893 – 1990), Musiker, Komponist und Musikwissenschaftler, hatte unter anderem Kompositionsunterricht bei Arnold Schönberg genossen. In den 20er Jahren schrieb er Musikkritiken für die Wiener Arbeiter-Zeitung und war gleichzeitig Wiener Mitarbeiter der rechts stehenden Berliner Börsen-Zeitung. Mit Kraus hatte er auf jeden Fall 1924 persönlichen Kontakt, als er die musikalische Leitung der von der sozialdemokratischen Kunststelle veranstalteten Aufführung von Traumtheater und Traumstück innehatte (F 649 – 56, 1924, S. 128).9 Diese Bekanntschaft erwähnt Pisk in seiner Privatanklage (B 134.1; Band 2, S. 372), Kraus will ihn 1924 nur „flüchtig gesehen“ haben (B 134.32, ebenda, S. 383); Pisk wendet dagegen in einer ergänzenden Sachverhaltsdarstellung vom 29. 9. 1930 (B 134.32; Band 2, 7 Leider geht aus dem maschinschriftlichen Zettel B 134.69 (mit wenigen händischen Korrekturen) nicht hervor, wer in den Wörterbüchern recherchiert hat. 8 Der Strafregisterauszug vom 6. 7. 1930 verzeichnet 6 Verurteilungen aus den Jahren 1901 bis 1904, eine von 1917, durchwegs mit eher geringen Geldstrafen. 9 Kraus’ Zeitschrift Die Fackel wird mit „F“, der Angabe der Nummer und der des Jahres zitiert.

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S. 390 – 393, hier S. 391 f.) durchaus glaubhaft ein, die Zusammenarbeit zwischen ihm und Kraus von 1924 sei intensiver gewesen. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass damals entstandene Vorbehalte bei Kraus oder bei Pisk oder auch bei beiden Auswirkungen auf die publizistische und dann gerichtliche Auseinandersetzung hatten (vgl. die Anspielung in F 811 – 19, 1929, S. 89). 1929 war Pisk dann das Ziel eines heftigen Angriffs. Kraus’ in den Anfangsjahren der Republik sehr positives Verhältnis zur österreichischen Sozialdemokratie, das sogar zu einer gewissen Zusammenarbeit geführt hatte, war in kritische Distanz und Polemik umgeschlagen; einer von mehreren Gründen dafür war die Kulturpolitik der Partei, die sich in den Augen Kraus’ zu sehr an bürgerlichen Vorstellungen orientierte.10 Auf den vom Satiriker am 22. September 1928 (V 461) gesprochenen „Rechenschaftsbericht“ (F 795 – 99, 1928, S. 1 – 66) reagierte die besonders heftig angegriffene Arbeiter-Zeitung mit einem Artikel „Auseinandersetzung mit Karl Kraus“11, in dem, was für die Ablehnung Pisks durch Kraus vor allem den Ausschlag gibt, die der Arbeiter-Zeitung von Kraus vorgeworfene Zurückhaltung gegenüber seinen Offenbach-Vorlesungen damit gerechtfertigt wird, dass man „diese Kunst aus dem Geiste des dritten Kaiserreiches [für] verklungen und vertan“ halte.12 (Die Ausführlichkeit dieses vom Chefredakteur – der freilich Kraus persönlich nahe stand – verfassten Beitrags zeigt, dass das Verhältnis zu dem Satiriker für die Partei und ihr Zentralorgan von großer Wichtigkeit gewesen ist.) Dieses „verklungen und vertan“ empfand Kraus als besonders empörende Absage an seine Bemühungen um eine Rettung der Theatertradition gegen das kommerzialisierte Musiktheater seiner Zeit. Wohl auch aufgrund von Insiderwissen über die Arbeiter-Zeitung verband er dieses ablehnende Urteil über Offenbach mit deren Musikkritiker Pisk. Die erste Reaktion auf den Artikel der Arbeiter-Zeitung steht auf dem Programm zu V 484 (17. Februar 1929), nimmt allerdings – durch Abdruck einer Berichtigung der Roten Hilfe (F 806 – 809, 1929, S. 16 – 22) – auf ein anderes Thema der Auseinandersetzung Bezug. „Verklungen und vertan“ kommt einen Tag später, am 18. Februar 1929 (Die Briganten, V 485), dann aber fast leitmotivisch auf den Vorlesungsprogrammen vor, in einer Zeit, in der Kraus besonders viele Offenbach-Vorlesungen hielt; auf den Programmen von V 507 (3. Juni 1929) und V 510 (6. Juni) wird der betreffende Absatz aus der „Auseinandersetzung“ wörtlich zitiert, hervorgehoben durch Sperrdruck. Am 7. Juni (V 511) fügte Kraus in den Blaubart eine Zeitstrophe ein, die mit dem Zitat „verklungen und vertan“ spielt und vor der er eine Figur der Operette von einem „Schlieferl“ im Saal und von der sozialdemokratischen Zeitung sprechen lässt (gedruckt in F 811-19, 1929, S. 83).

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Einen Überblick über Kraus’ Verhältnis zur Sozialdemokratie bietet Alfred Pfabigan, Karl Kraus und der Sozialismus. Wien: Europa 1976. 11 F. A. [Friedrich Austerlitz]: Auseinandersetzung mit Karl Kraus. In: Arbeiter-Zeitung 23. 12. 1928, S. 7 – 9; 25. 12. 1928, S. 5 – 8. 12 Ebenda, 23. 12. 1928, S. 7.

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In F 811-19 (August 1929) wird der Offenbach-Zyklus in Erinnerung gerufen, wie üblich durch Nachdruck der Programme, einschließlich des Zitats aus der ArbeiterZeitung. „Verklungen und vertan“ steht hier auch in einer Zeitstrophe, zur Prinzessin von Trapezunt (F 811-19, S. 68). Am 9. Juni erschien in der Arbeiter-Zeitung der Kraus-kritische Artikel „Vorgelesene Operetten“ von Pisk, auf den der Angegriffene am 10. Juni in V 513 (Fortunios Lied und Die Insel Tulipatan) mit der offenbar sehr schnell geschriebenen kurzen Ansprache „Bekenntnis zum Tage“ reagierte („Verklungen und vertan“, F 811-19, 1929, S. 75 – 93); dort ist Pisks Artikel nachgedruckt. Kraus’ Text ist ein vernichtender Angriff auf die sozialdemokratische Zeitung und den Verrat des in ihr überhand nehmenden „Schlieferl- und Tinterltums“ (S. 76) an den linken Idealen, viel mehr als eine Polemik gegen ihren Musikkritiker und dessen „kümmerliches Fachwissen“ (S. 79). In diesem Vorspruch zur Vorlesung wird Pisk zunächst (bis S. 85) nicht genannt; doch ist ziemlich (S. 83 f.) klar, dass mit dem häufig gebrauchten Wort „Schlieferl“13 niemand anderer als er gemeint ist. Am Ende des ersten Teils dieses „Bekenntnisses zum Tage“ (S. 83 f.) steht die Aufforderung Kraus’, ihn zu klagen: er werde auch eine allfällige „Niederlage vor der bürgerlichen Justiz“ (S. 84) nicht verschweigen. Es folgen der Abdruck von Pisks erwähntem Referat aus der Arbeiter-Zeitung und eine scharfe Polemik gegen den nun genannten Rezensenten, dem er unterstellt „Rache als Fachwissen zu verkleiden“ (S. 88). Kraus schließt mit einem aus Anlass von Pisks Kritik geschriebenen Brief von Eduard Steuermann, dem wichtigsten Pianisten des Schönberg-Kreises, der die musikalischen Wirkungen von Kraus’ OffenbachVorlesungen rühmt (S. 91 – 93).14 Dem Heft ist ein Beiblatt angefügt, in dem steht, „der Fachmann“ habe nach der Drucklegung der Fackel-Nummer beim Bezirksgericht die Klage gegen Kraus eingebracht. Diese Vorinformationen zum Prozess sind notwendig. Einmal zeigen sie, dass den Gerichtsakten viele (zum Teil vor dem Druck gesprochene) Texte Kraus’ und einige aus der Arbeiter-Zeitung vorangehen, die alle in der Fackel gedruckt bzw. nachgedruckt worden sind. Wichtiger noch ist der Kontext, in den diese Texte den Prozess stellen: Es geht einerseits um das Eintreten Kraus’ für die literarische und für die Theatertradition, um sein Bemühen, Offenbach (und nicht nur ihn) für den Kanon zu retten oder wiederzugewinnen; es geht andererseits um den sich verschärfenden Gegensatz zwischen der Sozialdemokratie und Kraus. Dass dieser der Partei Versagen gegenüber dem Bürgertum und Verbürgerlichung, ihrem Zentralorgan die Anpassung an die bürgerliche Kommerzpresse, insbesondere die Förderung der zeitgenössischen Kitsch-Operette vorwarf, umgekehrt die Zeitung sich gegen diese Vor13 Werner Welzig (Hg.), Schimpfwörterbuch zu der von Karl Kraus 1899 bis 1936 herausgegebenen Zeitschrift Die Fackel. 3 Bände. Wien: Akademie 2008 ist für das Wort ,Schlieferl‘ nicht ergiebig. Der Erstbeleg für das Wort in F 208, 1906, S. 10, ist ein Zitat (fiktiver?) mündlicher Rede, der zweite Beleg steht in F 400 – 403, 1914, S. 55. Möglicherweise ist es ein eher neues Schimpfwort; bei Nestroy scheint es nicht belegt zu sein. 14 Die Pisk-Satire „Die Wohnbaukantate“ (F 820 – 26, 1929, S. 57 – 64) und einige spätere Seitenhiebe auf den Rezensenten bleiben hier außer Betracht.

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würfe wehrte, stellt den Prozess in einen politischen und kulturpolitischen Rahmen, der ihn weit über die persönliche Beleidigung Pisks durch das Wort ,Schlieferl‘ hinaushebt. Der Musikkritiker hat vermutlich im Einvernehmen mit sozialdemokratischen Politikern gegen Kraus geschrieben und dann Kraus geklagt. Der erste Text im Akt ist die von Pisk und/oder seinem Anwalt verfasste Privatanklage vom 15. Juli 1929 (B 134.1; Band 2, S. 372 – 374), auf die Kraus in der PiskSatire „Die Wohnbaukantate“ (F 820 – 26, 1929, S. 57 – 64) mehrfach anspielt, die also wiederum in einen literarischen Text eingeht. Sie bezieht sich auf die Offenbach-Vorlesungen vom 7. und vom 10. Juni und besteht vor allem auf dem beleidigenden Gebrauch des Worts ,Schlieferl‘. Pisk erklärt abschließend entschieden, dass er nicht bereit sei an einer „Sühneverhandlung beim Gemeindevermittlungsamt“ teilzunehmen, legt also Wert auf das Stattfinden eines öffentlichen Prozesses, was wohl ebenfalls für politische Absichten spricht. Es folgen Zeugenaussagen von Freunden Pisks (B 134.3 – 134.5; Band 2, S. 372 – 374. B 162; Band 3, S. 134 – 137). An denen ist dreierlei interessant. Dass in KrausVorlesungen mitgeschrieben, ja mitstenografiert worden ist, wenn auch in diesem Fall wohl auf Bitte einer Person, war bisher kaum bekannt. Dass solche Mitschriften dem Kläger sofort zur Verfügung standen, lässt den Schluss zu, dass Pisk, vielleicht auf Grund von Gerüchten, mit Angriffen gerechnet und von vornherein an einen Prozess gegen Kraus gedacht hat. Dafür spricht auch, dass die jahrelang als Stenografin tätige und daher besonders glaubwürdige Herta Gropper (1931; B 162.1; Band 3, S. 134) anwesend war und als Zeugin aussagte. Die Abweichungen der Zeugenaussagen15 von Kraus’ gesprochenem Text sind vor allem deshalb interessant, weil sie zeigen, wie sehr man beim Hören wahrnimmt, was zu hören man erwartet. Das verdient über den spezifischen Prozess hinaus Aufmerksamkeit. Für die Verurteilung Kraus’ sollte es schließlich den Ausschlag geben, dass er mit der Erklärung, seine Äußerungen seien nie improvisiert, sondern stimmten immer mit seinen Manuskripten und den gedruckten Texten überein, vor Gericht keinen Glauben fand. Im Akt Sameks finden sich dann Briefe an und von Personen, von denen man sich entweder Urteile über Kraus’ Offenbach-Vorlesungen erwartete oder Informationen über Pisk und speziell über dessen Schreiben für das rechtsbürgerliche Berliner Blatt, sollte diese Tätigkeit für Berlin im Schriftsatz des Verteidigers (1930; B 134.22; Band 2, S. 381 – 388, hier S. 387 f.) doch ein wichtiges Argument für die Berechtigung der Bezeichnung ,Schlieferl‘ werden, dass Pisk zugleich in Wien in einem linken und in Berlin in einem rechten Blatt publizierte sowie seine Berichterstattung dem Ort der Veröffentlichung anpasste; wichtige Informationen dazu verdankte Samek einem Brief von Herbert Mildner (1930; B 134.12; Band 2, S. 379 f.). Auch Kraus selbst stellte mehr oder minder kriminalistische Recherchen zu Pisk und seinen Besprechungen an und ließ Samek durch den Verlag ein von ihm verfasstes „Gedächtnisprotokoll“ (134.10; Band 2, S. 378 f.) zugehen, in dem Rezensionen 15

Diese sind nur in Kraus-online zugänglich.

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Pisks zu aktuellen Operettenpremieren zum „Beweis des Schlieferltums“ (S. 379) miteinander verglichen werden; der Anwalt hat diese Mitteilung in seinem Schriftsatz jedoch nicht verwertet. Abgesehen von der genauen Beobachtung des Wirkens von Pisk verdient der Text, dem eine geradezu journalistische, freilich genaue und auf sprachliche Fragen achtende Recherche vorausgegangen ist, aus einem ganz anderen Grund Interesse: Es ist ein Gebrauchstext, der auf jede Stilisierung verzichtet, obwohl z. B. die Entgegensetzung im vorletzten Satz durchaus Fackel-würdig wäre. Da heißt es aber auch „der Pisk“ und „wäre Hinweis auf das Beiliegende wichtig“ – hier spielt das amtliche Umfeld hinein –, Formulierungen, die in der Zeitschrift so unvorstellbar wären wie der fehlende Beistrich. Solche Alltagstexte von Kraus haben wir nur wenige. Ein Blick auf sie ist aufschlussreich für seine Arbeitsweise, für die Stilisierung der Fackel. Die die Formalien des Verfahrens betreffenden Dokumente berühren den Leser der Samek-Akten aus anderen Gründen: Sie zeigen Kraus als Menschen, der in den Alltag eingebunden ist und den man über dem stilisierten satirischen Ich der Fackel zu vergessen droht. In dem Protokoll seiner Zeugeneinvernahme in der Angelegenheit der Zeugin Gropper (1932; B 162.4; Band 3, S. 135) – mit zahlreichen wohl von Kraus stammenden handschriftlichen Korrekturen16 – tritt der Staatsbürger vor Gericht in Erscheinung; die Ladung, Dokumente bei Gericht persönlich abzuholen (B 162.9; Band 3, S. 136), führt uns in den Alltag von Karl Kraus, der eben auch solche Dinge zu erledigen hatte. Für den Prozess ist gewiss der Schriftsatz der Verteidigung zur Vorbereitung der Hauptverhandlung einer der wichtigsten Texte; schwer vorstellbar, dass Kraus an dessen Ausarbeitung nicht beteiligt gewesen sein sollte (1930; B 134.22; Band 2, S. 381 – 388). Der Satz „und erfuhr er sie erst aus der Behauptung des Referats“ (S. 382) dürfte freilich vom Anwalt allein stammen. Wichtig ist gleich am Beginn die pauschale Zurückweisung der von Pisk benannten Zeugen: Da Herr Karl Kraus niemals frei spricht sondern immer vorliest, ist der Abdruck die einzige verlässliche Wiedergabe dessen, was bei dem Vortrag vorgefallen ist. Über die wörtliche Kongruenz des tatsächlich Gesprochenen und des später Gedruckten gibt es keinen Zweifel. (1930; B 134.22; Band 2, S. 381)

Die Richter haben daran offenbar gezweifelt, was man aufgrund der Lebenserfahrung sogar verstehen kann.17 Die völlige Übereinstimmung von gelesenem und gedrucktem Wort ist in diesem Prozess ein sehr wichtiges Thema; aber sie ist für Kraus weit über den Fall Pisk hinaus18 zentral, einerseits wohl aus juristischen Gründen, vor

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Das Protokoll und die Korrekturen sind nur in Kraus-online zugänglich. Vgl. Kraus’ Aussage im Prozess gegen die Zeugin Herta Gropper, in der er sein Verhalten als Vortragender genau beschreibt (1932; B 162.4; Band 3, S. 135 bzw. Kraus-online) – eine wichtige Quelle zu seinen Vorlesungen. 18 Man vgl. „Vor neunhundert Zeugen“ (F 706 – 711, 1925, S. 101 – 120, gesprochen am 14. November 1925), ein Text gegen Békessy. 17

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allem aber aufgrund seiner Sprachauffassung, die nichts dem Zufall des Mündlichen überlassen wollte. Die Widerlegung von Argumenten in Pisks Privatanklage ist juristisch interessant, aber weniger gewichtig. Hingegen ist sicher die folgende, höchstwahrscheinlich im Einvernehmen mit Kraus folgende Erklärung zentral für das Denken des Satirikers: […] weil damals Herrn Karl Kraus lediglich bekannt war, dass „ein Schlieferl“ an einer Zusatzstrophe Anstoss genommen habe, als welches ihm überhaupt keine konkrete Person, sondern nur der Vertreter des journalistischen Typus gegenwärtig war. Nichts liegt dem Beschuldigten ferner als die bekannte Methode einer Verteidigung, man habe den Kläger „nicht gemeint“. Gemeint ist jeder, der zum Typus gehört und sich als Vertreter vorstellt; aber nicht jeder ist das polemische Objekt, dessen Erkennbarkeit auch die juristische Voraussetzung herstellt. (S. 383)

Selbst für den Nicht-Juristen ist einsichtig, dass diese Differenzierung zwischen Typ und Individuum für einen Richter schwer in ein Urteil umsetzbar ist, zumal das Individuum Pisk doch recht eindeutig als Repräsentant des Typus vorgeführt wird. Auf die weitere Argumentation Sameks im Sinne eines Wahrheitsbeweises gehe ich hier nicht ein; nur ein Zitat soll zeigen, wie sehr in diesen Akten Grundsätzliches über Kraus zur Sprache kommt. In den Passagen über die Kritik an der Arbeiter-Zeitung heißt es ausdrücklich: „Herr Karl Kraus, der dem Sozialismus gefühlsmässig nahesteht […].“ (1930; B 134.22; Band 2, S. 385) Samek stellt die ,Schlieferl‘-Bemerkungen in das Umfeld der Polemiken gegen das sozialdemokratische Blatt; Pisks Abwertung der Kraus’schen Offenbach-Pflege sei in Wahrheit keine irgendwie fundierte Musikkritik, sondern ein aus „Liebedienerei für die Redaktion und für die Partei“ (S. 387), also eben ,schlieferlhaft‘ geschriebener indirekter Angriff auf den Kritiker der Partei. Der nächste Text mit wichtigen Aussagen zu Kraus ist die „Ausführung der Berufung“ (1931; B 134.47; Band 2, S. 396 – 409), an der, wie oben ausgeführt, Kraus nachweislich beteiligt war. Wieder wird die Identität von geschriebenem und gesprochenem Wort betont. Die daran anschließenden langen Ausführungen über die Widersprüche in den Angaben der von Pisk benannten Zeugen brauchen hier nicht erörtert werden. Über weite Strecken greift dieser Schriftsatz die aus der Fackel bekannten Positionen Kraus’ in der Auseinandersetzung mit der österreichischen Sozialdemokratie auf; von Grundsätzlichem ist hier weniger die Rede. Freilich zeigen die Parallelen zwischen Sameks Ausführungen und der Fackel neuerlich, wie eng bei Kraus die Inhalte seiner öffentlichen Aussagen und die von ihm geführten oder (wie im Fall Pisk) provozierten Prozesse zusammenhängen. Dass Kraus in diesem Prozess verurteilt und seine Berufung abgewiesen worden ist, sei der Vollständigkeit halber noch einmal gesagt. Einer juristischen Bewertung des Urteils muss ich mich selbstverständlich enthalten. In seiner Zeitschrift kommt, abgesehen von den Anspielungen auf die Privatanklage in der „Wohnbaukantate“ (F 820 – 826, 1929, S. 57 – 64), der Prozess nur in Andeutungen vor: In F 834 – 837, 1930, S. 17 f., ist die Rede von der Vorladung zu einem Gerichtstermin in der

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causa Pisk, in F 847 – 851, 1931, S. 43, wird eher nebenbei die Verurteilung in erster Instanz erwähnt; auf den Journalisten wird nur angespielt, sein Name nicht genannt. Die zu erwartende Polemik gegen die Sozialdemokratie, die die bürgerliche Justiz gegen den Revolutionär Kraus bemüht, bleibt aus. Vielleicht weniger wegen der Niederlage des Satirikers in beiden Instanzen als wegen des großen zeitlichen Abstands zwischen den angezeigten Vorfällen und dem endgültigen Urteil. Auch in der gewichtigsten Erinnerung an diesen Prozess, immerhin in einem so bedeutenden Text wie „Hüben und drüben“ (F 876 – 884, 1932, S. 1 – 31), wird, Ausdruck der Verachtung, Pisk nicht namentlich genannt. Hier kommt es einerseits im Sinne dieser Abwehr gegen die deutschnationalen Tendenzen der österreichischen Sozialdemokratie auf die Mitarbeit Pisks sowohl an der Arbeiter-Zeitung als auch an der Berliner Börsen-Zeitung an; andererseits unterstreicht Kraus auch in dieser politischen Ansprache erneut eines der wichtigsten Themen im Ehrenbeleidigungsprozess: die vollkommene Identität des gesprochenen mit dem im Nachhinein gedruckten Wort. Mir ist es hier darauf angekommen, am Beispiel dieses Prozesses auf die knappen grundsätzlichen Aussagen hinzuweisen, zu denen der Kontext eines Prozesses Kraus veranlasst hat, auch wenn die entsprechenden Schriftsätze von seinem Anwalt Samek unterschrieben sind. Eine Auswertung der gesamten Akten unter diesem Gesichtspunkt wird sich lohnen. Diese Dokumente machen auch Details des Wirkens von Kraus sichtbar, die der Fackel nicht entnommen werden können oder in ihr untergehen. Einmal ist den Texten eine gewisse Freude an der rechtlichen Auseinandersetzung zu entnehmen, die gewiss nicht nur die des ,verbündeten‘ Anwalts ist. Auch Details werden erkennbar, so die im Zusammenhang mit den Zeugenaussagen mehrfach erwähnte völlige Verdunklung des Saals während der Vorlesung (z. B. Band 2, S. 382). Von großem Interesse ist die Liste der Zeugen, deren Ladung von Kraus vorgeschlagen wird (1930; B 134.31; Band 2, S. 389): Sie bietet einen Einblick in das Umfeld Kraus’, in den Kreis der dem Vorlesenden bekannten regelmäßigen Besucher seiner Veranstaltungen. Bemerkenswert für die Vielfalt der polemischen Verfahren von Kraus ist das Auflegen von „vielfachen Exemplaren“ der Nummer der Arbeiter-Zeitung mit Pisks Kritik in der Vorlesung vom 10. Juni (1930; B 134.32; Band 2, S. 391). Ähnliche Ergänzungen unseres Wissens über Kraus sind auch aufgrund der Materialien zu anderen Verfahren möglich. Die komplizierte theoretische Frage nach dem Status der Prozess-Texte kann ich hier nur andeuten: Wenn Kraus einen – nicht redigierten – Prozesstext in die Fackel aufnimmt, dann macht er ihn durch den Ort der Veröffentlichung zu einem literarischen Text. Die Samek-Akten sind aber größtenteils unveröffentlicht geblieben; sie gehören zwar zur satirischen Arbeit, ihr Status ist aber wohl doch ein anderer als jener der veröffentlichten Prozesstexte (wie im Fall Kerr), ganz unabhängig davon, ob Kraus an ihrer Formulierung beteiligt war oder nicht. Das gilt etwa auch für das „Gedächtnisprotokoll“ (134.10; Band 2, S. 378 f.), das von Kraus stammt, aber von ihm

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Sigurd Paul Scheichl

offensichtlich nicht als literarischer Text geformt worden ist. Dass es gerade deshalb Aufmerksamkeit verdient, habe ich oben zu begründen versucht. Eine Nachbemerkung: Zum Werk von Kraus gehören selbstverständlich nicht nur jene Prozesse, deren Akten dank Oskar Samek erhalten geblieben oder die in der Fackel dokumentiert worden sind, sondern auch eine vermutlich nicht ganz geringe Zahl von Verfahren, die von Kraus vor 1922 angestrengt wurden oder in die er verwickelt war.19 Von einigen geht in der Fackel die Rede, die dort nicht dokumentierten haben wohl keine Spur hinterlassen, die Akten sind längst skartiert; dass die Justiz auf die Literaturgeschichte keine Rücksicht nimmt, wird man ihr schwerlich zum Vorwurf machen können. Uns bleibt nur die Vermutung, dass Kraus öfter, als wir wissen, nicht nur als Satiriker, sondern auch mit Hilfe der Gerichte versucht hat, die Welt in Ordnung zu bringen.

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Vgl. https://www.kraus.wienbibliothek.at/die-rechtsperson/fruehe-prozesse.

Das Vergleichen als eigenartige intellektuelle Tätigkeit betrachtet Ein Gespräch Von Jan Philipp Reemtsma A: Worüber wollen wir heute reden? Schlagen wir die Zeitung aufs Geratewohl auf … wir lesen, daß die nigerianische Kunsthistorikerin Peju Layiwola zum Thema afrikanische Kunstwerke in europäischen Museen gesagt oder geschrieben hat … B: Kolonialistische Raubkunst … A: Das Feld ist für heute zu weit. Ich meine nicht, was sie zum Thema gesagt hat, sondern wie sie es gesagt hat. So: „Was gestohlen wurde, muß zurückgegeben werden. Es ist, als gehöre mir ein Auto, aber ein anderer fährt es.“1 Unsere Frage für heute: ist das ein triftiges Argument … B: Fragen, nämlich zweitens: ist das ein triftiger Vergleich? A: Und wenn der Vergleich nicht triftig ist, was ist dann mit dem Argument, das doch etwa heißen soll: wer etwas gestohlen hat, kann doch nicht damit machen, was er will, bloß weil er es jetzt in seiner Verfügungsgewalt hat. B: Und wenn wir zustimmen, können wir fragen, was der Vergleich soll. Macht er das Argument einsichtiger? Beschädigt er es, wenn er, wie man so sagt: hinkt? A: Ja, darüber wollen wir heute reden – vielleicht lassen wir Layiwola erstmal. Erinnern Sie sich an Ulrich Wickert? B: Klar, wieso? A: Na, der trat als Frankreich-Kenner auf und sagte, vom Brie esse man ebensowenig die Rinde, wie man von der Banane die Schale esse. B: Erinnert mich an Asterix, der Obelix mahnt, er solle es mit den Austern machen wie mit den Walnüssen: ohne Schale essen, und Obelix antwortet, er mache es mit den Walnüssen wie mit den Austern, er esse sie mit Schale. A: Vergleich akzeptiert, Argument nicht – können wir es so zusammenfassen? Wenn wir das Argument nicht akzeptieren und den Vergleich nicht, könnten wir

1 Zitiert aus Jörg Häntzschel, Dieb in Deutschland, Süddeutsche Zeitung Nr. 271, 24./ 25. 11. 2018, S. 17.

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einem imaginären Wickert antworten: Wieso Banane? Das ist doch was ganz anderes! B: Bananenschalen kann man nicht essen … A: Schimpansen können das, glaube ich … A: Nein, auch nicht, tun das jedenfalls nicht, Elefanten müßten Sie sagen. B: Meinethalben: Elefanten also, wir jedenfalls nicht … A: Mögen nicht, können vielleicht … B: Spielt doch keine Rolle. Bananenschalen ißt man nicht, die Rinde vom Camembert … A: … ißt man auch nicht, würde Ulrich Wickert sagen. B: Darum geht doch der Streit – wenn man sich um sowas streitet … A: Tut man eben, wenn einer in den Ring springt. Eben Wickert. Er will den Deutschen beibringen, wie man ißt wie ein Franzose, kultivierter eben, und also sagt er: Man solle die Rinde vom Camembert ebensowenig essen wie die Schale der Banane. Thou shalt not! B: In Thomas Manns Moses-Erzählung: „Wer wird denn die Blindschleiche essen und den Molch!“ A: „Wer wird denn bei seiner Tante liegen!“, gewiß, aber das geht doch – ich meine argumentativ – anders. Wenn wir Wickert mit einem Mosaischen Speise(und sonstigen) Gebot vergleichen, vergleichen wir eine einzuführende Norm mit einer anderen, und die Einführung wird mit einem Pathosverstärker versehen. Manns Moses sagt: „Das ist ein Greuel vor dem Herrn!“, aber er sagt nicht, den Molch zu essen sei etwas wie … B: Doch, die Blindschleiche essen. A: Nein – hier kommt etwas durcheinander. Man soll weder Molch noch Blindschleiche essen, weil sie (zu essen) vor dem Herrn ein Greuel ist – das gilt für beide … B: Und insofern sind sie einander ähnlich – A: Kann man das so sagen? Die Norm „Du sollst das nicht essen!“ gilt für beide. Das schon, aber es gilt nicht, weil Molch und Schleiche einander ähnlich wären, ich meine außerhalb der Ähnlichkeitsbeziehung, die durch die, Sartre würde sagen: Serialität, die durch die Norm hergestellt wird. Wickert nun stellt keine Speisevorschrift auf, die eine solche Serie zur Folge hätte à la: „Ich sage euch, ihr sollt meiden die Rinde vom Camembert, die Schale von der Banane, die …“ und so weiter – das ist doch ein Unterschied. Darüber die Norm, darunter die Serie – die Verbindung ist, wenn man so will, vertikal. B: Stiftet eine solche vertikale Beziehung eine horizontale – denn „Ähnlichkeit“ scheint mir eine horizontale zu sein – ?

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A: Ja, tut es. Wenn du zu der normkreierten Speisegemeinschaft gehörst, kannst du sagen: Igitt, du ißt eine Schleiche? Einen Molch ißt du doch auch nicht! B: Aber du sagst nicht „weil“. Das ist der Unterschied. Du ißt die Schleiche und den Molch nicht, weil beide verboten sind, die Schleiche ist nicht verboten, weil der Molch verboten ist und beide einander in anderer Hinsicht ähnlich sind und also das Verbot des einen plausiblerweise auf das der anderen übertragen wird. Wie das Wickert mit seinem Camembert/Banane-Vergleich macht. A: Was machte man, wenn man widersprechen wollte? Im einen Fall sagte man vielleicht nur: „Ach ja, ist die Schleiche auch verboten?“ und die Antwort könnte lauten: „Aber gewiß doch, frag Moses.“ Im anderen Fall etwa so: „Ich esse die Rinde beim Camembert immer mit!“ „Ja, das ist ebenso unkultiviert, als wenn du die Schale der Banane mitäßest.“ „Aber das ist doch etwas ganz anderes!“ „Ist es nicht!“ Und das Spiel ist aus, will sagen: da kommen beide nicht weiter. Wickert begründet seine Speisenorm mit einem Vergleich, und wenn man den nicht akzeptiert, dann akzeptiert man die Norm nicht. B: Wieso? Man könnte doch sagen: „Vielen Dank für die Belehrung, ich will mich in einem Pariser Restaurant ja nicht blamieren, aber Ihr Vergleich mit der Banane ist doch Quatsch!“ A: Ja, also übertragen wir’s: Klar müssen wir koloniale Raubkunst zurückgeben, aber der Vergleich mit dem geklauten Auto … B: Wieso denn? Wir müssen nur erkennen, wo die Pointe des Vergleichs liegt. Es geht doch nicht um Kunst-gleich-Auto, sondern um die Frage nach der Unverschämtheit einer Präsentation … A: Kann sein, aber müßten wir nicht erst einmal ein wenig grundsätzlich-abstrakter vorgehen? Was heißt eigentlich „ähnlich“? B: „AäX“ – Sie meinen, was da … A. Was „gleich“ bedeutet, ergibt sich aus „A=A“ und aus „A=B -> B=A“ und aus „A=B u B=C -> A=C“: interessant, daß das alles für „ähnlich“ nicht gilt. B: Wieso nicht? Für „ähnlich“ gilt doch wohl „AäB u BäC -> AäC“. Wie denn nicht? A: Wenn Sie eine Serie einander ähnlicher Gesichter hintereinander zeigen, ist jedes Gesicht dem folgenden ähnlich (das macht ja die „Serie“ aus), und nun ist das erste und letzte der Reihe kaum mehr „ähnlich“ zu nennen – diese Überraschung ist ja die Pointe solcher Spiele. B: Nur ähnlich dem folgenden? Doch wohl auch dem davor, denn „AäB -> BäA“. A: In der Reihe schon, aber wenn Sie sagen, XY sehe mit seiner Haarmähne aus wie ein Löwe, werden Sie doch nicht sagen, wenn Sie einen Löwen sehen, der sehe aus wie XY. B: Unter Umständen …

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A: Mag sein, mag sein, aber dann gehen Sie mit „ähnlich“ anders um. Wenn Sie als Tertium nur die „Mähne“ meinen, geht die Umkehrung nicht. Übrigens ist auch nichts sich selber ähnlich. B: Normalerweise wird Ähnlichkeit aber durchaus durch Reflexivität, Symmetrie, Transitivität bestimmt. Na, jedenfalls habe ich das mal entschieden behauptet gelesen. A: Dabei kommt aber nur Unsinn heraus. Siehe Scholastik: der Mensch ist Gott ähnlich, aber doch nicht Gott dem Menschen! B: Wieso eigentlich nicht?: eritis sicut deus scientes bonum et malum – wenn das stimmt, müßte man auch sagen können, Gott sei in dieser Hinsicht dem Menschen ähnlich. A: Müßte man? Also wenn ich mich auf dieses Denken einließe, so würde ich doch sagen: wohl ähnelt der Mensch in seinem Wissen um Gut und Böse Gott, aber Gottes Wissen von Gut und Böse ist von so anderer, umgreifenderer Art, daß zu sagen, Gott ähnele dem Menschen in dieser Hinsicht, die Gottesidee vollkommen verfehlte. B: Ich nehme das mal hin, denn in diesen Gedankenwegen wollen wir uns nicht verirren. Halten wir fest: „ähnlich“ läßt sich wahrscheinlich nicht regelhaft formalisieren. Nun gut. Trotzdem kann man „ähnlich“ doch so terminologisch eingrenzen, daß wir bestimmen können, was wir als Basis für einen Vergleich verwenden können. Wann ist ein Etwas etwas anderem ähnlich und in welcher Hinsicht kann ich es also … A: … vergleichen –? Klingt sonderbar, nicht wahr? Sie vergleichen A mit B nicht, weil A B ähnlich ist, sondern indem Sie vergleichen, machen Sie auf eine Ähnlichkeit aufmerksam. B: Aber wie soll ich einen Vergleich kritisieren, wenn ich sein Fundament, die Ähnlichkeitsbeziehung, nicht kritisieren kann? Man sagt doch: „Das kann man nicht vergleichen!“ A: Und man weiß doch, daß das nichts weiter heißt als: „Ich akzeptiere diesen Vergleich in der-und-der Hinsicht nicht!“ So, wie „Es kann nicht sein, daß …“, was jeder Politiker, der etwas auf sich hält, sagt, nur heißt: „Das sollte meiner Meinung nach so nicht sein.“ Die Leute dekretieren eben gern, das ist alles. So, wie der Zoo-Besucher im Witz, der zum ersten Mal eine Giraffe sieht und sagt: „So ein Tier gibt es nicht!“ B: Aber was heißt: auf eine Ähnlichkeit aufmerksam machen? – Und: wozu? (Aber zunächst das eine.)

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A: Wir müssen wohl Searle zitieren – und dann diesbezüglich resignieren: „Ähnlichkeit ist ein nichtssagendes Prädikat. Zwei beliebige Dinge ähneln einander in der einen oder andren Hinsicht.“2 B: Und „auf eine Ähnlichkeit aufmerksam machen“ – heißt dann was? A: Wenn etwas an sich nichtssagend ist, ist das Operieren mit ihm nicht notwendigerweise nichtssagend. Ich kann von allem behaupten, daß es in der einen oder andren Weise einem anderen ähnlich sei, aber hier und jetzt behaupte – nun, genaugenommen behaupte ich es ja nicht, weil niemand diese Behauptung auch nur bestreiten kann – ich weise, so sagten wir ja eben, darauf hin: „Achten Sie mal hierauf, und dann …“ B: Und dann? A: Dann führe ich das eben aus. Kommt drauf an. B „Wirkliche Privatsphäre im Netz ist etwa so selten wie ein Einhorn im zoologischen Garten.“3 Schreibt ein Leserbriefschreiber im „Spiegel“. Was will er uns damit sagen? A: Daß wirkliche Privatsphäre im Netz so selten ist wie ein Einhorn im Zoo – die gibt es nämlich ebensowenig wie ein Einhorn im Zoo. So etwa. B: Schon-schon, aber was will er uns damit sagen, daß er es uns so sagt? Warum sagt/schreibt er nicht „Privatsphäre im Netz gibt es nicht!“ – Na, vielleicht nimmt er eine Art Halbeinwand vorweg à la „Wirklich nicht, meinst du?“ und- „Na, glaub mir mal – so wenig wie ein Einhorn im zoologischen Garten!“ A: Wieso eigentlich: „Im zoologischen Garten“? B: Klingt mehr nach spöttischen Mundwinkeln als „im Zoo“. A: Meinetwegen, aber „ebensowenig wie ein Einhorn“ reichte doch. B: Stimmt. Klänge aber anders. A: Wo geraten wir hin? Ist das eine Art Steigerung (wovon auch immer): gibt es nicht – gibt es ebensowenig wie ein Einhorn – gibt es ebensowenig wie ein Einhorn im Zoo – gibt es ebensowenig wie ein Einhorn im zoologischen Garten –? Nehmen wir es als solche: was würde „gesteigert“? B: Was ich eben mit „spöttischen Mundwinkeln“ meinte. Demjenigen, der meint, Privatheit im Netz gebe es, wird als weltfremd vorgeführt, wird … früher gab es mal das Wort „verhohnepiepelt“. A: Gibt’s immer noch.

2 John R. Searle, Metapher, in: ders., Ausdruck und Bedeutung. Untersuchungen zur Sprechakttheorie, Frankfurt am Main 1982, S. 116. 3 Raffaele Schacher, in: Der Spiegel 4, 19. 1. 2019, S. 120 (Leserbrief).

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B: Sagt aber keiner, na, ich sag’s gerade. Verhohnepiepelt also. Also etwa so: „Sie glauben mir das nicht? In welcher Welt glauben Sie eigentlich zu leben, Sie Traumtänzer? Süß irgendwie. Privatheit im Netz … ich meine, wo und wie … und wie stellen Sie sich das eigentlich vor? Glauben Sie noch an den Weihnachtsmann? Oder an Einhörner vielleicht? Mal eins gesehen? Im Zoo neulich? Nein, ich sage Ihnen, Privatsphäre im Netz ist etwa so selten wie ein Einhorn im zoologischen Garten.“ A: Also wird wieder verglichen. Nicht die Privatheit mit dem Einhorn (im Zoo), sondern der, der an Privatheit im Netz glaubt, mit dem, der nicht nur an Einhörner glaubt, sondern auch noch für möglich hält, sie mal im Zoo anzutreffen. B: Verzeihen Sie, aber ist das alles unser Ernst? Im Ernst dergleichen zu – ja: ist’s „analysieren“? Oder überhaupt: ernstzunehmen? A: Wenn wir unser Gespräch in Essayform umgössen – nichts leichter als das! –, könnten wir’s in jeder „philosophy today“ unterbringen. Was, jetzt bin ich boshaft, Ihre Frage natürlich keineswegs beantwortet. Aber – vielleicht doch interessant. Interessant nämlich, wenn wir uns dadurch wieder intellektuell satisfaktionsfähig machen, daß wir unser Herumrätseln um das Ähnliche suspendieren. B: Erstmal dies. Aber was soll das heißen? Nicht mehr drüber reden? A: Nicht mehr so, als unterstellten wir eine Behauptung, die zutrifft oder nicht. Es ist ja platterdings nicht möglich, einer solchen Behauptung zu widersprechen. Siehe Searles Statement. Aus dem folgt doch nur, daß man auf eine Ähnlichkeitsbehauptung – nein, auf einen Satz à la „Das ist so ähnlich wie jenes“ nur antworten kann: „Was möchtest du uns damit sagen?“ B: Eine Antwort „Na, daß das-und-jenes eben einander ähnlich ist!“ wäre unzulässig? A: This is a free country, isn’t it? Aber wir könnten uns darauf verständigen, daß eine solche Antwort irgendwie ungebildet ist, von – wie soll man sagen: verknapptem Nachdenken zeugt. B: Also gut. Das Gespräch geht irgendwie weiter. Aber die Antwort auf das „Was wollen Sie mir damit sagen?“ kann doch nicht ganz beliebig ausfallen? Kommen Sie mir nicht wieder mit „This is a free …“ A: Gespräche setzen sich nie auf ganz beliebige Weise fort. Nicht einmal die unter Verrückten – man muß nur die Verrücktheiten kennen. Nein, der mit dem … – wie nennen wir’s übrigens? B: … Ähnlichkeitsinterjektion? A: So nennen wir’s bitte nicht! Egal. Wer damit angefangen hat, muß so fortfahren, als hätte er eine einsichtige Behauptung aufgestellt, die der andere gebilligt hätte, gespannt, welche Folgerungen der Behauptende nun daraus zieht. Wenn der andere diesen Folgerungen nicht beistimmen mag, tut er nur das, bestreitet aber nicht die Ähnlichkeitsbehauptung, weil niemand das kann und es außerdem gar keine Behauptung gewesen ist, sondern nur eine Art wortkolorierten Atemholens, das der andere

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hingehen läßt aus Contenance, weil man das eben so macht, weil er sich mit dem Kram nicht ewig aufhalten will. – Und zweitens? Daß wir den Vergleichen ebenfalls den Laufpaß geben? B: Und den Vergleichenden dann, sie möchten sich vom Acker machen. A: So würde es der Übersetzer von Davidson formulieren. Ganz so weit können wir doch wohl nicht gehen. Mit Schrot schießen sollten wir nicht. Nehmen wir einen Vergleich, den wir, ohne mutwillig zu sein, nicht anzweifeln können. B: Jemand sagt: „Du sollst dein Kind ebenso gegen Masern impfen lassen wie gegen YXZ.“ Der Vergleich, wörtlich genommen, sagt, daß die eine Krankheit ebenso schlimm sei wie die andere, und man also ein Kind gegen beide schützen solle … A: Würden die beiden sich um diesen Vergleich streiten? „Nein, Masern sind doch weniger schlimm!“ Und dann stritten sie sich um „schlimm“ und „weniger schlimm“? So wird das doch nicht ablaufen. Die Replik wird doch sein: „Ich möchte mein Kind nicht gegen Masern impfen lassen, weil …“ was-weiß-ich, wie das dann weitergeht. Und wenn der Vergleichende sagt: „Solltest du aber, unterschätze Masern nicht!“, dann will er das sagen, ob nun ein Vergleich einleuchtet oder nicht. B: Sein Vergleich leuchtet ein, wenn … A: Da leuchtet nichts ein. Der Vergleich wird hingenommen, wenn der beredete Impfgegner der Tirade zustimmt. Ich nehme es so: Einem Vergleich zustimmen, bedeutet: eine Emphase akzeptieren. B: Klingt wie fürs Lehrbuch formuliert: „Einem Vergleich zustimmen, bedeutet: eine Emphase akzeptieren.“ – Aber wie ist es mit den Lehrbeispielen, mit denen man Juristerei lernt? Ich meine bekannte Späße wie: Cordula tut ihrem Freund Süßstoff in den Kaffee, weil sie meint, es sei Strychnin. Ist das ein Mordversuch? Ja, weil es darauf ankommt, daß jemand das Mittel für tauglich hielt. Ist das nicht auch ein Vergleich? Ich meine, ein Vergleich mit einem tatsächlichen Geschehen, und der Folgerung: wenn du hier so urteiltest, müßtest du dort auch so urteilen? A: Ein Vergleich? Ich glaube nicht. Es geht doch um das Schulen des Regelverstehens. Was sagt die Regel? Fällt das Beispiel unter die Regel? Ergo … Nicht: weil das so ist und dieses „so ähnlich“, muß das eine wie das andere behandelt werden, sondern weil die Ableitung korrekt ist. Tatsächlich würde man Fälle, die sich tatsächlich ereignet haben, zwar zunächst danach beurteilen, unter welche Regel sie zu subsumieren sind, aber über sie urteilen je-nachdem. Das ist dann, was man Urteilskraft nennt. Siehe Kant, „Kritik der Urteilskraft“, siehe Wieland, „Geschichte der Abderiten“. Da kömmt es auf die Unterschiede an. – Mit vergleichen und Vergleichen hat das nichts zu tun. B: Vergleiche sind also nichts als old-school-emojis? A: Ich habe eine Aversion gegen alle Sätze mit „nichts als“. Aber sagen wir doch: bis auf Weiteres.

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B: Sind wir da nicht in der Nähe der alten Metaphernkritiker gelandet, die in ihnen nichts sahen als Rhetorik … A: … was kein Einwand erstmal … B: Eben. In dem damaligen Sprachgebrauch Beiwerk, der vom eigentlichen – wir würden sagen: Argument ablenkte und also irgendwie in verführerischem Unernst … A: Vielleicht doch irgendwie so. Wenn wir die Analogie zur Metapher nicht nur obenhin verwendet haben, sondern sie ernstnehmen, wird es aber noch kompliziert werden, ergo cave! B: Wollen wir zurückgehen zu Layiwola? „Was gestohlen wurde, muß zurückgegeben werden. Es ist, als gehöre mir ein Auto, aber ein anderer fährt es.“ Wir halten uns also beim Vergleich-als-Vergleich nicht weiter auf – na, tun wir’s übungshalber: ein Raubkunstwerk ähnelt einem Auto in jeder Hinsicht, die man bemühen will – etwa: kann bunt sein –, in diesem Falle ist das Tertium deutlich das Gestohlensein. Worin besteht die nahegelegte Folgerung? Mit Gestohlenem soll man nicht herumfahren – Raubkunst soll man nicht in den falschen Museen zeigen? A: Das Tertium, folgen wir mal dieser Durchmusterung weiter, wäre wohl: das eine sollte dich so empören wie das andere, denn das Herumfahren mit gestohlenen Autos wird dich doch ganz gewiß empören, und ebenso solltest du mit einem „Das geht gar nicht!“ auf das andere reagieren. B: Was man tun wird, wenn man in der Raubkunstfrage sowieso entsprechend Stellung bezieht. Dann wird man bei dem nunja-Vergleich mit dem Kopf nicken und „Genau so isses!“ sagen. Auch hier ein Emoji … A: Ach, sagen wir doch: Rhetorikon. B: Einverstanden: ein Rhetorikon für Einverstandene. A: Sie kennen den Witz mit Adenauer und dem Papst? Nein? Adenauer hat eine Audienz bei Pius XII. Weil die so lange dauert, guckt einer seiner mitgebrachten Staatssekretäre, die natürlich vor der Tür warten müssen, durchs Schlüsselloch. Er sieht den Papst vor Adenauer knien: „Bitte, Herr Bundeskanzler, ich bin doch auch katholisch!“ In dem Sinne. B: Sind wir für heute fertig? A: Ich fürchte nicht. Wir haben den landläufigen Ebenso-wie- bzw. Obenhin-Vergleich, der uns dauernd vor Ohren und Augen kommt, mit dem schönen Wort Rhetorikon bedacht, aber es gibt Vergleiche, die zwar auch rhetorischen Wert haben (das allein soll sie nicht zum bloßen Rhetorikon machen), die aber wesentlich ernsthafter mit dem Anspruch auftreten Argumentwert zu haben. Wir müßten eines von denen mal ansehen. B: Ich hätte eins bei der Hand. Der Verfasser ist rhetorisch versiert und argumentativ einer der Trainiertesten im Lande. Ich bin nicht immer seiner Meinung gewesen, kenne aber nichts von ihm, das nicht bedenkenswert gewesen wäre. Wenn man ihn

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liest, kann man nur klüger werden. Ich zitiere mal: „Wohl erscheint Hilfe für jeden einzelnen Armutsmigranten, löst man sie aus ihrem Zusammenhang, zunächst moralisch verdienstlich. Aber die Abstraktion ist falsch. Man stelle sich einen wohlhabenden Gutsbesitzer vor, um dessen Anwesen sich tausend Hilfsbedürftige drängen: Zehn von ihnen, die es über die Mauer bis an die Haustür geschafft haben, gewährt er Einlaß, dauerhafte Wohnung und Unterhalt. Das erschöpft seine Mittel bis ans Limit. Verteilte er sie an alle Tausend, wäre allen geholfen. So aber verbleibt ihm für die 990 draußen Gebliebenen beim besten Willen kaum noch etwas. Ihrer Not bietet es nicht mehr als einen Tropfen auf den heißen Stein. So ungefähr das Sinnbild für die Moralität der deutschen Flüchtlingspolitik.“4 A: Wie sagt der Computer „Deep Thought“ bei Douglas Adams: „Tricky!“ Es ist ja nicht getan mit einem reflexhaften „Die Probleme eines bedrängten Hauswirts – die zudem so doch nie vorkommen – kannst du doch nicht mit den politischen Entscheidungen, die ein Gemeinwesen treffen muß, vergleichen.“ B: Bzw. das liegt so sehr auf der Hand, daß man sich scheut … A: Wir fanden es doch schon bei Enzensberger sonderbar, wie sehr er sich auf die Suggestivität seines Bahnabteil-Gleichnisses zur Illustration der Migrationsproblematik verließ … B: Er verließ sich auf die Gemeinde der Fellow-Katholiken. A: Nehmen wir es doch auch so. Wie wären wir als – ach, nennen wir doch den Namen: Reinhard Merkels Fellow-Katholiken beschaffen, um bei seinem Vergleich überzeugt zu nicken? B: Wir müßten zunächst sagen, daß der Vergleich-als-Vergleich zwar nicht hinhaut, aber trotzdem … A: „Haut“ er denn nicht „hin“? – ich übernehme mal Ihr saloppes … B: Jede Frage, die mit Phänomenen wie Migration, Einwanderung, Flucht und so weiter zu tun hat, hat es mit dem Umgang mit Menschenmassen zu tun – ob die nun als „Masse“ im Canettischen Sinne auftreten oder erst in der Statistik zu solchen werden – und ebenfalls mit sehr zahlreichen, wie wollen wir sie nennen: Zielbevölkerungen. Alle Probleme, die sich da stellen – antizipierend stellen oder schon praktisch auftreten –, lassen sich nicht durch reduzierende Modelle veranschaulichen. Sie treten ja gerade auf, wenn es um eine Anzahl geht, für die die Bewältigungsformen, die es für kleine Mengen schon gibt, nicht mehr funktionieren. A: Oder wenn es Leute gibt, die meinen, es funktioniere nicht mehr. B: Ja, das Modell unseres Vergleichs verkleinert gewissermaßen, aber doch nicht so sehr. Es ist ja nicht die Rede von einem Hauswirt, vor dessen Tür sich fünf oder sechs Leute drängeln und er hätte für eine komfortable Übernachtung nur für zwei 4 Reinhard Merkel, Wir können allen helfen. Kosten der Migrationspolitik, FAZ NET, 21. 11. 2017.

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Platz, sondern der Vergleich schildert bereits eine Art Fluchtszenario: ein Gut mit Mauern, tausend Schutzsuchende … was los ist, wissen wir nicht … A: Ist es nicht gerade wichtig, daß es darauf nicht ankommt? B: In der Wirklichkeit käme es genau darauf an, wenigstens auch. Die moralische Situation des Gutsbesitzers würden wir doch immer auch dadurch definieren, was denen-da-draußen droht. Eine ungemütliche Nacht oder ein paar ungemütliche Nächte – und haben sie Kranke dabei, denen eine kalte, regnerische Nacht schlecht bekommt? – oder, naja, es gibt solche Filme – es drohen ihnen Zombies … verzeihen Sie meinen scheinbaren Unernst. A: Schon gut – es gibt Zombiefilme, in denen gerade solche moralischen Probleme modellhaft diskutiert werden, man verachte das ebensowenig wie die moralischen Kasuistiken in Dickens’ „Bleakhouse“. Aber schön. Es sollen die moralischen Fragen angesprochen werden, die sich ergeben, wenn wir mal die beiseite lassen, die sich aus den sogenannten „Fluchtursachen“ ergeben. Betrachten wir die Wirklichkeit und sehen dabei davon ab, was sie zur Wirklichkeit macht. Manchmal besteht das Geheimnis philosophischen Räsonnements genau darin. Aber, einverstanden, weiter. B: Der Vergleich mit der im Grunde irrealen Situation – wo soll denn solch ein Hof liegen, vor dessen Mauern plötzlich so etwas sich ereignet … A: … und tausend Leute den Hof nicht etwa stürmen, sondern brav auf Einlaß warten und zulassen, daß zehn von tausend eingelassen werden … – B: … mit der im Grunde irrealen Situation nötigt uns etwas auf – ich meine den Hinweis, daß eine Entscheidung getroffen werden muß, die nicht getroffen werden kann. A: Sie kann getroffen werden. In der Phantasiesituation, in der Wirklichkeit. B: Sie kann nicht in befriedigender Weise getroffen werden, Befriedigend nicht für den Gutsbesitzer, nicht für die 990 – vielleicht nicht einmal für die zehn – für die Moral auch nicht. A: Welche auch immer wir hier für maßstabsetzend halten. Aber ist das die Pointe? Die liegt doch wohl darin, daß eine Moral vorausgesetzt wird, die die Wahl unmöglich macht. Und die heißt nicht: hilf, wem du kannst, und ultra posse …, sondern moralisch ist, allen zu helfen, und zwar zu gleichen Teilen à la Speisung der 5000, und wenn du kein diesbezüglicher Magier, kein Christus oder Agathodämon bist, dann allerdings … B: … dann mußt du niemandem helfen? Will Merkel uns das damit sagen? Ich glaube kaum. Wir müssen dann doch wohl den Aufsatz ansehen, in dem der vertrackte Vergleich steht. A: Nein, ums Vergleichen geht es uns, nicht um Merkels Meinung zur Flüchtlingspolitik. Kennen Sie übrigens das Gedicht „Die Nachtlager“? Brecht.

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B: Natürlich.5 Wir haben in der Schule fleißig debattiert, was sich im Gedicht änderte, wenn die Reihenfolge der Strophen anders wäre. A: Ein emotionsleitendes Rhetorikon vertritt ein Argument? Zugegebenermaßen liegt der Fall bei den „Nachtlagern“ ein wenig anders. Hier wird gefragt, ob das caritativ eingesetzte Geld nicht besser an den Vietcong oder das damals landesübliche magnum bonum flösse, aber – jetzt machen wir selber einen Vergleich – hier wie dort geht es darum, das Helfen, das wenigen zugute kommt, in Frage zu stellen, weil nicht in größtem Maßstabe geholfen werden kann. – Man könnte sagen, daß solches Räsonieren geradewegs in den Zynismus führt. Ein Bettler sagt zu Rothschild: Du bist so reich, gib mir meinen Teil von deinem Reichtum. Rothschild gibt ihm einen Sous mit der Bemerkung, das dürfte in etwa stimmen. – So? B: Nein, Sie haben nicht genau gelesen. Im Gleichnis wäre, anders als bei dem Rothschild-Beispiel, „für alle genug da“. Ich zitiere noch mal: „Verteilte er sie an alle Tausend, wäre allen geholfen. So aber verbleibt ihm für die 990 draußen Gebliebenen beim besten Willen kaum noch etwas. Ihrer Not bietet es nicht mehr als einen Tropfen auf den heißen Stein.“ Wie möchte das Gleichnis das haben? Das Haus resp. Gut hat nicht genug Platz, und hätte es, wie wäre es mit der Versorgung der Leute? Und hätten sie alle ein Nachtlager – und ein Nachtlager mit Kost –, was wäre in den nächsten Tagen? Müßte das Gleichnis sagen, daß nun auf der Tagesordnung des Gutsbesitzers stünde, seinen Betrieb in eine Genossenschaft umzubauen, die den tausend Arbeit, sanitäre und gesundheitliche Versorgung, Erziehung, Bildung etc. bietet und sich darum kümmert, daß dies aus eigenen Kräften finanziert werden kann, denn eine Auflösung der Sparguthaben des Gutsbesitzers wird nicht ausreichen? A: Ja, eigentlich müßte man das Rhetorikon beiseite legen und eine Geschichte erzählen, ein utopisches Märchen etwa – wenn man darauf hinauswollte, daß das Flüchtlings- oder, wenn man will: Migrationsproblem nur durch eine radikale Änderung der Eigentums- und Produktionsverhältnisse … B: Könnte man. Erstens will das heute ernstlich niemand mehr erzählen und noch weniger hören – wollen wir „leider“ sagen? –, und zweitens wirft das mehr Probleme auf, als in einer solchen Geschichte unterzubringen wären. Auch wollten wir nicht

5 „Ich höre, daß in New York / An der Ecke der 26. Straße und des Broadway / Während der Wintermonate jeden Abend ein Mann steht / Und den Obdachlosen, die sich ansammeln / Durch Bitten an Vorübergehende ein Nachtlager verschafft. // Die Welt wird dadurch nicht anders / Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich nicht / Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt / Aber einige Männer haben ein Nachtlager / Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten / Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße. // Leg das Buch nicht nieder, der du das liesest, Mensch. // Einige Menschen haben ein Nachtlager / Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten / Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße / Aber die Welt wird dadurch nicht anders / Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich dadurch nicht / Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt.“ (Bertolt Brecht, Die Nachtlager, Gesammelte Werke, Gedichte, Frankfurt am Main 1967, S. 373 f.)

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Jan Philipp Reemtsma

darüber reden, sondern über den argumentativen oder eben nur rhetorischen Umgang mit Vergleichen. A: Trotzdem: läßt der Verfasser eigentlich durchblicken, wie er sich den Umgang mit seinem Vergleich wünscht? B: Ja, er folgt seinem Gleichnis. Keine Aufnahme/Hilfe für Flüchtlinge welcher Art auch immer und: „Das wäre eine gewaltige Aufgabe; und möglich wäre sie nicht.“ A: Und meint nicht, das wäre eine Geste à la Rothschild? B: Wohl nicht: „die hunderte von Milliarden, die dadurch eingespart würden, ohne Abstriche an die wirkliche Behebung des Elends der Welt zu wenden“ ist sein Vorschlag … – obwohl er ja nicht sagt, wie … A: Ist doch ganz wuchtig: Wenn ihr’s ernst meint und moralisch weiter ernstgenommen werden wollt, dann … – man müßte allerdings nicht über eine Umverteilung der bzw. aus vorhandenen Kassen reden, sondern über Produktionsmodi, politische nicht nur „Rahmen“-Bedingungen hier und dort und dort, und … B: Früher hätte man gesagt, daß das im Kapitalismus nicht geht. A: Oder Imperialismus, oder Spät- oder … B: „Spät-“ war ja immer lustig, oder melancholisch, oder – na, wie man will. Jedenfalls die gute alte „Systemfrage“. A: Wollen Sie das Gleichnis ein Nostalgikon nennen? B: Nein. A: Wie nun weiter? B: Bleiben wir bei „Rhetorikon“ und „Emotikon“, wenn ich „Emoji“ mal rückübersetzen darf. Der Vergleich ist eine Kaschierung der emotionserzeugenden Pointe, der Trick der Verkürzung bzw. Kompliziertheitsreduktion. A: Herbert Wehner? B: Wieso der denn jetzt? A: Er hat mal gesagt, man schreibe erst eine hundertseitige Analyse der Verhältnisse, dann fasse man die in ein zehnseitiges Manifest, aus ihm mache man ein Flugblatt und aus dem die Parole: „Hautse!“ B: Oh, so … naja, meinetwegen. Aber gut. Drehen wir’s um. Das Flugblatt zielt auf die Parole als Effekt, aber es wird gerechtfertigt dadurch, daß man sagt, eigentlich stecke im Flugblatt doch die ganze Analyse. Der Vergleich als rhetorisches Einsatzmittel zur Erzeugung von Vorab-Zustimmung ersetzt die Argumentation. A: Und beides stimmt hinten wie vorne nicht? B: Lassen Sie mich mal probeweise diesen Gedanken formulieren: der Vergleich ist sich seiner Nichtstichhaltigkeit …

Das Vergleichen als eigenartige intellektuelle Tätigkeit betrachtet

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A: Also nichts wird ernstlich mit irgendwas verglichen, und das Argument wird sich auch als nicht triftig erweisen? B: Der Vergleich ist die resignierende Vorwegnahme der Kritik am Argument. Wer vergleicht, kapituliert. A: Sie wissen, was Sie damit alles abräumen? B: Ich folge, glaube ich, David Hume, der alle Vergleiche, die die Welt mit einem wohlersonnenen Artefakt verglichen und so auf einen Grand Designer schlossen, höflich veralberte. Und zwar die Vergleiche ebenso wie die Idee, die vergleichend gestützt werden sollte. Und aufs freundlichste andeutete, wer so argumentativ operiere, sei ernstlich nicht mehr ganz bei Trost. A: Ja, gut, diese Vergleiche – aber übers Vergleichen an sich hat er sich doch kaum geäußert. B: Wo beginnen. Am besten doch bei Platon. Wie verabschiedet sein Sokrates sich von seinen Anklägern und Richtern? Vergleichend. Die Anklage war unter anderem, daß er die Jugend verderbe. Sokrates fragt den Ankläger Meletos, ob er wisse, wer sie denn, wenn er, Sokrates, sie verderbe, bessere. Meletos zählt nach Ermunterung des Sokrates auf: die Richter, die Zuhörer, schließlich alle Athener überhaupt, Ausnahme Sokrates. Und nun der Einwand: „Dünkt es dich bei den Pferden auch so zu stehen, daß alle Menschen sie bessern und nur einer sie verdirbt? Oder ist nicht ganz im Gegenteil nur einer geschickt, sie zu bessern, oder wenige, die Zureiter, die meisten aber, wenn sie mit den Pferden umgehen und sie gebrauchen, verderben sie? Verhält es sich nicht so, Meletos, bei den Menschen und allen anderen Tieren?“6 Hat er gedacht, er käme mit diesem Vergleich mit dem Leben davon? A: Sie haben recht. Da hat er, ohnedies im Verdacht, der Mentor einer prospartanischen Fronde zu sein, im Angesicht einer radikaldemokratischen Versammlung sich selbst mit Fleiß den Giftbecher angemischt. B: Vergleiche, lehrte er uns, benutzt man, wenn man verloren hat. Und der Welt eine Nase drehen will. A: Wollen wir damit enden? B: Für heute.

6 Platon, Apologie des Sokrates 25a–b, übersetzt von Friedrich Schleiermacher, in: ders., Sämtliche Werke übersetzt von Friedrich Schleiermacher, Reinbek 2015, S. 22.

Eine Poetik der Menschenwürde Stil als weiche Normativität bei Ferdinand von Schirach Von Birgit Recki „Eine Antwort auf die Frage, wie der Mensch möglich sei, könnte daher lauten: durch Distanz.“ Hans Blumenberg1

I. Recht und Literatur Die Affinität von philosophischem und juridischem Denken dürfte unbestritten sein. Die Eigenart einer methodischen, allemal von Problemen ausgehenden und in Begriffen reflektierten, an Prinzipien orientierten, in Begründungen fundierten und in Urteilen kulminierenden Einstellung auf die Wirklichkeit, mithin deren konsequente Selektion oder auch Konstruktion durch argumentative Verfahren: Darin liegt eine Gemeinsamkeit, die an der Idee einer als begriffliche Rechtfertigung und praktische Urteilskraft qualifizierten Rationalität orientiert ist. Lässt sich eine gleichermaßen starke und genuine, nicht auf die biographische Zufälligkeit von individuellen Vorlieben und Begabungen gegründete Affinität von literarischem und juridischem ,Diskurs‘ ebenfalls behaupten? Welche Evidenz kann das Beispiel für sich reklamieren, das so unterschiedliche Schriftsteller wie Heinrich von Kleist,2 Novalis, Goethe, Marcel Proust, Franz Kafka, Karl Kraus,3 Louis Begley zu geben scheinen? Längst ist der ästhetische Blick, ist überhaupt die ästhetische Aufmerksamkeit nicht mehr auf die Künste fixiert; das zeitgenössische Bewusstsein zeigt sich insbe1

Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlass hg. von Manfred Sommer, 2006, S. 570. Der dichtende Jurist Kleist ist insofern ein besonders interessanter Fall, als er sich zugleich stark beeindruckt zeigte von der zeitgenössischen, insbesondere der Kantischen Philosophie. Das zählebige Gerücht, das seine ,Nihilismus-Krise‘ auf den Schock zurückführt(e), den ihm Kants vermeintlich absoluter, in Wahrheit transzendentaler Idealismus versetzt haben soll, hat indessen Ernst Cassirer zurückgewiesen, indem er Kleists Demoralisierung in einer beispielhaften philologischen Detektivarbeit auf die Lektüre von Fichtes Bestimmung des Menschen zurückführt. Ernst Cassirer, „Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie“, in: ders., Idee und Gestalt (1921), Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki (ECW), Bd. 9, S. 389 – 435. 3 Siehe vom hochgeschätzten Adressaten dieses Bandes: Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus, 1998. 2

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sondere sensibilisiert für die Omnipräsenz der narrativen und theatralischen Modi ästhetischer Gestaltung in den Wirklichkeiten, in denen wir leben. Ohne damit die Funktion und Autorität des Rechts der Gefahr einer Relativierung oder Missachtung auszusetzen, sind wir heute imstande, in den formalen Verfahren eines Strafrechtsprozesses neben dem Element der Rhetorik auch elementare Formen des Narrativen wie des Theatralischen (Performativen)4 zu identifizieren, durch deren Gewärtigung an der normativen Dimension menschlicher Praxis, ja an der rationalen Konstitution gesellschaftlicher Wirklichkeit eine Dimension mehr erkennbar wird. Das kann der Philosophie in ihrem Interesse an Konstitutionsbedingungen menschlicher Wirklichkeit nicht gleichgültig sein. Thematisch ist mit dem Fokus auf diese Formen aber immer auch die basale Affinität von Recht und Literatur.

II. Die Prosa der Strafverteidigung Auf dieser Folie ziehen die Prosa-Texte eines Juristen,5 der auf zwei Jahrzehnte erfolgreicher Berufserfahrung als Strafverteidiger zurückblickt und die abgründigen Erfahrungen bei der methodischen Auseinandersetzung mit der Kriminalität als Reservoir seiner Erzählungen nutzt, ein mehrfach motiviertes Interesse auf sich.6 Dass die Bücher Ferdinand von Schirachs in den Buchhandlungen unter Krimis eingeordnet werden, muss den Leser, der sich auch nur in der Lektüre von einem oder zweien seiner Bände auf das Erzählprogramm dieses Aufklärers eingelassen hat, im ersten 4

Für die zunehmend intensive transdisziplinäre Forschung in diesem Feld seien hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit und nähere Auseinandersetzung exemplarisch genannt Heinrich Triepel, Vom Stil des Rechts. Beiträge zu einer Ästhetik des Rechts (1947), mit einer Einleitung von Andreas von Arnauld und Wolfgang Durner, 2007; Andreas von Arnauld, „Was war, was ist – und was sein soll. Erzählen im juristischen Diskurs“, in: Christian Klein/Matías Martínez (Hg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, 2009, S. 14 – 50; Sabine Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung. Eine theoretische Annäherung, Weilerswist 2012; Eva Schürmann, „Das Recht als Gegenstand der Ästhetik? Über ein kritisches Verhältnis“, in: Zeitschrift für Grundlagen des Rechts 2015, S. 1 – 12; Joachim Lege, „Ästhetik als A und O ,juristischen Denkens‘“, in: a.a.O., S. 28 – 36; Klaus F. Roehl/Hans Christian Roehl, „Zur Ästhetik des Rechts“ („Law and Aesthetics“), 2018 [Internet-Beitrag]. 5 Ferdinand von Schirach, Verbrechen. Stories, München/Zürich 2009; ders., Schuld. Stories, München/Zürich 2010; ders., Strafe. Stories, München/Zürich 2018; ders., Der Fall Collini, München/Zürich 2011; ders., Tabu, München/Zürich 2016. 6 In der kritischen Auseinandersetzung mit der Prosa von Schirachs hat der ausdrückliche Rekurs auf die Berufserfahrung des Strafverteidigers naive Einwände ermutigt, in denen das Elend des zeitgeistigen Authentizitätsfetischs als neue Variante der Verkennung von Literatur offenbar wird. Der Nachweis, dass derselbe Autor, dessen Autorität offenbar in den Augen vieler Leser allein durch den professionellen Hintergrund beglaubigt ist, sich in seinen Erzählungen nicht auf eigene Fälle beschränkt, sondern auch andere markante Prozesse zum Anlass fiktionaler Bearbeitung macht, schien einigen Kritikern Anlass der Beschwerde wegen unredlicher Übergriffe. Wer so argumentiert und eine Qualitätseinbuße vermutet, wo der frühere Rechtsanwalt den Horizont der eigenen Praxis überschreitet, hat offenbar übersehen, dass es alles in allem Literatur ist, was der Autor schreibt.

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Zugriff amüsieren. Offenkundig werden hier keine Geschichten nach dem klassischen Modell des Whodunnit erzählt. Allein – die Spannung, die der Autor in seinen Stories zu erzeugen versteht, ist auch dann enorm, wenn sie sich zumeist um etwas ganz Anderes drehen als um den Auftrag, durch die Ermittlung des Täters Verbrechen aufzuklären. Der Täter steht in vielen Fällen fest – oder er scheint festzustehen. Hitchcocks Methode des Suspense kommt so in der Literatur zu Ehren. Dabei inszeniert von Schirach häufig eine Erzählhaltung, die einen entscheidenden Reiz seiner Prosa ausmacht: Die Texte setzen ein mit der im objektiven Gestus gehaltenen Schilderung vom Hergang der Tat bis zur Festnahme und Beschuldigung des als Täter exponierten Protagonisten – mit einer unter Umständen lange durchgehaltenen scheinbar unpersönlichen Erzählung, in der die Erzählposition unthematisch bleibt, bis der Rechtsanwalt, an den der Auftrag zur Verteidigung des Angeklagten ergeht, uno actu mit dessen Übernahme als Erzähler aus dem Off tritt.7 Häufig ergeht der Verteidigungsauftrag ohne jeden finanziellen Anreiz – als notgedrungene Übernahme einer Pflichtverteidigung; regelmäßig führt er ins Dickicht menschlich-allzumenschlicher und unmenschlicher Handlungsverstrickungen. Nicht selten handelt es sich um Fälle, die extreme Herausforderungen an die methodische Rationalität des Juristen mit sich führen – an diejenige methodische Rationalität, die sich in letzter Instanz, wenn Art und Ausmaß der Schuldverstrickung das anwaltliche Selbstverständnis auf die Zerreißprobe stellen, daran zu erweisen hat, dass der advocatus von seiner Befindlichkeit: seiner Betroffenheit, seiner Antipathie und Sympathie, seinem Entsetzen, kurz und gut: von seinem Wissen über die Schuld und ihr Ausmaß zu abstrahieren vermag. Worum es in dieser Prosa letztlich geht, ist bei aller individuellen Konkretheit nicht der Kriminalfall als solcher. Es geht in letzter Instanz um das normative Skelett des Menschen; um die Normativität des humanen Selbstverständnisses, das in der Haltung des professionellen Juristen exemplarisch wird: mit dem Blick in das, was man die Abgründe der menschlichen Natur nennen mag, bewährt sich das Standhalten nicht anders als in der elementaren Kulturtechnik der Abstraktion. Es geht um kognitive und emotionale Distanz und den guten Willen zur Sachlichkeit, die uno actu mit der Fähigkeit zur Abstraktion kultiviert werden: Abstraktion durch epistemische Unterscheidung und methodische Trennung der Gesichtspunkte, mit denen einer an eine Wirklichkeit oder vermeinte Wirklichkeit herangeht, Abstraktion als Ursprung einer Distanz, deren Wahrung die formale Garantie des fairen Verfahrens – und eben damit: der Humanität – enthält: Um diese Idee und ihren Bedarf in der Wirklichkeit, um die Schwierigkeit auch im Zweifelsfall an ihr festzuhalten, drehen 7 Das Modell sei exemplarisch an drei Beispielen belegt: „Fähners Schwester, die mich um die Verteidigung ihres Bruders gebeten hatte, saß im Zuschauerraum“, heißt es in „Fähner“, in: von Schirach, Verbrechen, S. 7 – 19; Zitat: S. 17. – Desgleichen: „Die drei jungen Männer erzählten mir die Geschichte“, heißt es nach deren Erzählung in „Tanatas Teeschale“, in: a.a.O., S. 21 – 42; Zitat: S. 36. – In der Erzählung von einem Mord aus Barmherzigkeit: „Nach zwei Stunden stieg sie aus der kalten Wanne, legte ein Handtuch über ihren toten Bruder und rief mich an“, in: „Das Cello“, in: a.a.O., S. 43 – 58; Zitat: 56.

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sich die Erzählungen des Ferdinand von Schirach.8 Sie leisten an extremen Fällen anschauliche Aufklärung über die Funktion des Rechts als Medium der menschlichen Kultur. Das ist selbst mit Blick auf die monströsen Verbrechen, die dabei zur Darstellung kommen, und bei aller Spannung noch etwas anderes als Krimi-Literatur. Indessen gibt es ein regelmäßig instrumentiertes Element der Spannungssteigerung: Immer dann, wenn es unerlässlich wird, dass der Strafverteidiger in konsequenter Erfüllung seiner genuinen Aufgabe, das Interesse seines Mandanten wahrzunehmen,9 zu eigener, selbstständiger Ermittlung des Tatbestandes übergehen muss, kommt doch eine Affinität dieser anschauungsgesättigten Traktate auf die juridische Rationalität zur Struktur der Kriminalstory zur Geltung. Der Strafverteidiger als true detective10 – das ist die versteckte Pathosformel dieser Texte, in der dem trockenen auf methodische Abstraktion und das ihr entsprechende Quantum an Nüchternheit und Illusionslosigkeit verpflichtenden Recht seine charismatische Dimension zuwächst. Immer wieder geraten die Protagonisten in von Schirachs Erzählungen durch die Zumutungen, die der Umgang mit extremen Verbrechen und der kaltblütigen Unempfindlichkeit der Täter, die zu deren Extremen beiträgt, mit sich bringt, in eine Lage, in welcher ein überzeugter Jurist seinem Gegenüber (einem unerfahrenen Berufs-Anfänger, einer zartbesaiteten Kollegin, notfalls auch sich selbst) das grundlegende Ethos des Rechts noch einmal ausbuchstabieren muss: die Unparteilichkeit in Ansehung der Rechte eines jeden, auch des nicht mehr bloß verdächtigen, sondern offensichtlich schuldigen Individuums – und die Parteilichkeit des Anwalts für sei-

8 Max Weber hat die unverzichtbaren Eigenschaften des Politikers in Augenmaß, Ausdauer (zum Bohren ,dicker Bretter‘) und Leidenschaft gesehen, und diese – nur auf den ersten Blick verblüffend – mit Sachlichkeit gleichgesetzt; siehe Max Weber, „Der Beruf zur Politik“ (1918). Diese Gleichsetzung darf als Modell für die Dialektik von Engagement und Distanz herangezogen werden, von der die Erzählungen von Schirachs immer auch handeln. 9 „Der Verteidiger ist Partei. Er darf nur die Interessen seines Mandanten vertreten – nicht die des Staatsanwalts, nicht die der Richter und schon gar nicht die der Öffentlichkeit. Er muss „der Gegenspieler von Gericht, Staatsanwaltschaft und anderen staatlichen Einrichtungen“ sein, wie die Richterin am Europäischen Gerichtshof Renate Jäger einmal schrieb. […] Nur wenn er alles tut, nur wenn er für seinen Mandanten mit allen zulässigen Mitteln kämpft, erfüllt er seinen Auftrag. Und nur so entsteht Gerechtigkeit, auch wenn das Urteil im Einzelfall ungerecht erscheint.“ von Schirach, „Die Würde der Fürchterlichsten“, in: ders., Die Würde ist antastbar. Essays, München 2017, S. 109 – 125; Zitat: S. 115. 10 Ich verwende diesen Terminus absichtsvoll in Anspielung darauf, dass es in der ersten Staffel der gleichnamigen HBO-Serie (2014) ein überzeugter Schopenhauerianer ist, der sich den Ehrentitel erwirbt, dem die Serie insgesamt ihren Titel verdankt: ein Mann, der die bis zum Mystischen gesteigerte Fähigkeit zu (mitleidender) Einfühlung mit methodisch geschulter Kälte zu nutzen versteht, um von den Schwerverbrechern, die er verhört, so gut wie jedes Geständnis zu bekommen. Eine ganz ähnliche Melange der Motive und Befindlichkeiten scheint es mir auch zu sein, was in von Schirachs Hauptfiguren – allerdings ohne das Motiv der Instrumentalisierung von Empathie – produktiv wird.

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nen Mandanten; die Bereitschaft, von eigenen Präferenzen abzusehen zugunsten der Durchführung dieses Prinzips.11

III. Tabu und Trauma – Schönheit und Statistik I Darum geht es selbst noch in dem Roman, der sich in Handlung und Duktus vom bis dahin variierten Modell des rechtspragmatischen und rechtsidealistischen Umgangs mit Schwerstkriminalität augenscheinlich weit entfernt.12 In Tabu jedenfalls scheint in der Unübersichtlichkeit biographischer und psychischer Komplikationen, die der Protagonist im Feld der technologisch instrumentierten Gegenwartskunst ausleben kann, das juridische Leitmotiv aus dem Blick zu geraten. Doch das sieht in den rätselhaften Tropismen einer Psychologie und Ästhetik der Selbstrettung nur solange so aus, bis es zur Inszenierung des Verschwindens einer Person kommt, das für die äußeren Betrachter alle Züge einer Gewalttat aufweist. Ferdinand von Schirach bezieht das Bewusstsein von der Geltung des formalen Anspruchs auf das uneingeschränkte Recht auf Korrektheit eines fairen Verfahrens hier auf den skurrilen Fall eines mordverdächtigen Künstlers, der ein raffiniertes Vexierspiel mit der Grenze von Realität und Fiktion inszeniert. In der Handlung des Romans stellt er zwei Protagonisten auf gleicher Augenhöhe gegenüber. Nachdem sich in der ersten Hälfte der Handlung alles um den mit synästhetischer Imagination begabten und geschlagenen Künstler Sebastian gedreht hat, der als ambitionierter Photograph in seinen verrätselnden Installationen und Performances die traumatischen Erlebnisse seiner Kindheit und frühen Jugend zu bewältigen sucht, rückt in der zweiten Hälfte der kauzige Strafverteidiger Konrad Biegler in den Fokus, der imstande sein könnte, dem in seine Bewältigungsstrategien verstrickten Künstler aus der Not der Strafverfolgung herauszuhelfen. Aus der Perspektive beider so ungleicher Charaktere und Positionen drängt sich die exemplarische Reflexion auf die Abgründigkeit des Verhältnisses der menschlichen Psyche zur Wirklichkeit auf. Was ist Wahrheit? Welche Schicht der Wirklichkeit ist wahrheitsfähig, und welchen methodischen Verfahren ist sie zugänglich? Intuitiv erwartet man von einem Roman mit dem Titel Tabu die Auseinandersetzung mit einem Tabubruch. Doch verlangt die Erfüllung dieser Erwartung vom Leser zumindest ein Höchstmaß an eigener Reflexion. Es ist nicht mit eindeutiger Gewissheit auszumachen, welches Tabu es eigentlich sein soll, das der Titel des Romans in 11 Ein Beispiel für viele: „Sie haben mir Ihre Abscheu gegen Ihren Mandanten deutlich gemacht – das könnte ich als Verstoß gegen Ihre Anwaltspflichten werten. Ich werde das nicht tun, weil es Ihr erster Fall ist. […] Ich erwarte von Ihnen, dass Sie Ihren Mandanten weiter ordentlich und umfassend verteidigen. Er hat einen Anspruch darauf, wie jeder Angeklagte“, erwidert die Richterin in einem Strafprozess gegen einen gewalttätigen Frauenhändler und Mörder der jungen Anwältin, die ihr Mandat niederlegen möchte, in „Subotnik“, in: von Schirach, Strafe, S. 138 – 168; Zitat: S. 163. 12 Ferdinand von Schirach, Tabu, München/Zürich 2016.

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Aussicht stellt; und: Wird hier überhaupt ein Tabu gebrochen, oder wird es gewahrt? Im Text fällt der Ausdruck „Tabu“ (oder „tabu“) an keiner Stelle. Es gibt indessen in der Erzählhandlung mehrere Ereignisse, die als Kandidaten von gebrochenen Tabus in Betracht kommen. Im Zentrum der juristischen Aktion, in der die Handlung kulminiert, dem großen Auftritt des Verteidigers in einem Prozess um einen Mord ohne Leiche, steht in Tabu die Befragung eines Polizeiwachtmeisters, der dem Angeklagten durch die Androhung von Folter ein – wie sich herausstellt: falsches – Geständnis abgenötigt hatte. Durch ein geschicktes rhetorisches Manöver gelingt es dem Verteidiger, den vom Kreuzverhör ausgeschlossenen Wachtmeister im Zeugenstand zum Reden zu bringen. Auf dem Höhepunkt der sachlichen Zuspitzung schlägt die Befragung um in eine Belehrung des Zeugen durch den Anwalt: Die Idee der Menschenwürde darf auch mit Blick auf einen Terroristen, aus dem man sich zutraut, entscheidende Informationen herauszubekommen, nicht zur Disposition stehen.13 – Ist damit das Tabu benannt, das dem Roman seinen Titel gibt: Folter? Wenn es so gedacht sein sollte, wäre an dieser Stelle ein unterkomplexer Begriff von der Rationalität des Rechts zu beklagen.14 Dagegen spricht indessen die rationale Argumentationshaltung, die der Autor in allen Fragen des Rechts bis hin zur Menschwürde stets erkennen lässt. Und der Text hat auch einschlägigere Referenzen zu bieten: Der Vater des kleinen Jungen, der der Künstler einmal war, schlitzt vor dessen Augen einem erlegten Wild den Bauch auf und entnimmt die Eingeweide. Das Geräusch des Aufbrechens der Bauchdecke unter dem Schnitt des Messers wird dem Jungen in Erinnerung bleiben. Jahre später, als der Junge im Internat ist und die Schulferien im Haus der Eltern verbringt, begeht der Vater in einer Nacht, in der er weiß, dass sein halbwüchsiger Sohn der Erste sein kann, der ihn findet, Suizid durch Kopfschuss. Tatsächlich findet ihn sein Sohn, der von dem Schuss geweckt wird, mit zerschossenem Kopf in seinem Blute liegend. Die frühe verstörende Erfahrung einer Gewalttat gegen die physische Integrität eines der Lebewesen, von denen wir Menschen uns ernähren, und der einige Jahre später erlebte martialische Suizid des geliebten Vaters zeitigen traumatische Effekte der Art, wie sie vom Tabubruch ausgehen. Sie belasten den Jungen schwer. Er zieht sich zurück in seine eigene 13 Auf der Folie dieser Textaussage via Figurenrede ist m. E. auch das umstrittene interaktive Theaterstück und Fernsehspiel „Terror“ (2015) zu verstehen, dessen Intention man entgegen dem Augenschein nicht in der frohen Botschaft vom Nutzen und Vorteil plebiszitärer Verfahren der Rechtsprechung, sondern in der Befragung, Aufdeckung und Problematisierung des Rechtsbewusstseins des Publikums zu sehen hat; Ferdinand von Schirach, Terror, München/Zürich 2016. – Für diese Lesart spricht explizit die Rede des Autors in erster Person: „Ich mag Volksentscheide nicht, sie scheinen unserer Demokratie fremd. Es gibt keine Schwarmintelligenz bei politischen Einzelabstimmungen, jedenfalls hat es sie früher nie gegeben.“ Ferdinand von Schirach, „Reine Menschen, reine Luft. Über Raucher und Nichtraucher“, in: ders., Die Würde ist antastbar, S. 89 – 97; Zitat: S. 92. 14 Dann müsste die Lektüre-Empfehlung an den Autor lauten: Bijan Fathe-Moghadam/ Thomas Gutmann/Michael Neumann/Thomas Weitin, Säkulare Tabus. Die Begründung der Unverfügbarkeit, Berlin 2015. Die Autoren argumentieren überzeugend und luzide dafür, dass der mit mythischer Emotionalität operierende Tabu-Begriff die auf diskursive Rationalität, d. h. auf Argumente gegründete Unverfügbarkeit der Menschenwürde nur verfehlen kann.

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Welt, eine aus synästhetischen Halluzinationen gespeiste Welt der Imagination; er fällt den Lehrern in seinem Internat auf, weil er in lebhafte Gespräche vertieft ist, ohne dass irgendeine andere Person anwesend wäre. Er wird untersucht, seine Verfassung als ein harmloser Fall wohl von kindlichem Irresein eingestuft, und er überlässt sich seinen Imaginationen fortan mit mehr Vorsicht vor dem Entdecktwerden. Als junger Mann lässt er sich zum Photographen ausbilden und entwickelt seine Fähigkeiten bis zu jenem Grad an künstlerischer Selbstständigkeit, der es ihm erlaubt, seine Traumata in therapeutischer Produktivität zu bearbeiten. Nach einem großen Erfolg erleidet er jedoch durch eine existentielle Konfrontation (die Begegnung mit seiner Halbschwester, von deren Existenz er bis zum Augenblick des Kennenlernens nichts wusste) einen Zusammenbruch. In der selbstgewählten Einsamkeit produziert er ein Kunstwerk, eine digitale Video-Installation, mit deren provozierender Inszenierung er eines der „Tabus“ unserer Welt bricht: Er überschreitet die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit in einer für ihn selbst existenzbedrohenden Weise. Im letzten Drittel des Romans wird der Leser derart zum Zeugen einer Inszenierung, mit der der Protagonist die Absicht zu verbinden scheint, die geliebte Person, die er durch seine Unzugänglichkeit in die Flucht geschlagen hatte, durch öffentlichen Skandal zu erreichen – und dazu zu bewegen, zu ihm zurückzukehren. Im Zentrum dieser Video-Installation steht indessen das Trauma der unglücklichen Mutterbindung. Die Wahrheit über die Schönheit, die er als Kind an seiner Mutter erlebt hat, führt er sich als Erwachsener nach Bibliotheksrecherche über einen der Pioniere des wissenschaftlichen Photographierens: Sir Francis Galton (1822 – 1911) in jener computerbasierten Video-Installation vor Augen: „Er war überzeugt, alle Verbrecher hätten sichtbare Merkmale, die sie von anderen Menschen unterschieden. Galton hatte lange überlegt, wie er diese Merkmale zeigen könnte, dann stellte er seinen Fotoapparat im Gefängnis von London auf und ließ sich Gefangene vorführen. Er fotografierte alle Gesichter übereinander auf eine einzige Fotoplatte. Galton wusste nicht, wie das Böse aussieht – es hätten die Augen, die Stirn, die Ohren oder die Münder sein können. Galton war erstaunt, als er das Foto zum ersten Mal sah: Es gab keine außergewöhnlichen Merkmale – das Gesicht aus den vielen Verbrechern war schön.“15 Wie sich bei dem Forscher Galton das synthetische Bild der Schönheit im Effekt der nivellierenden Vielfach-Projektion der verschiedensten individuellen Physiognomien ergibt, so stellt sich in dem Kunstwerk, dass Sebastian nach seiner Recherche inszeniert, durch die Übereinander-Projektion der verschiedensten Farbphotos schöner Frauen die Farbe Weiß – und damit das mentale Bild der geliebten Mutter ein. Als kleinem Jungen war dem Künstler seine Mutter so erschienen, als wäre sie farblos: „Nur seine Mutter hatte keine Farbe“, resümiert die Erzählung die syn15

von Schirach, Tabu, S. 114. – In zwei denkwürdigen künstlerischen Projekten wird die Photographie im Zeitalter ihrer Digitalisierung in diesem Roman noch einmal als Medium der Erkenntnis exponiert – als Medium der realitätsbezogenen Reflexion auf Anschauungen, die erst in der bedeutsamen artifiziellen Konstellation – und damit im Modus der Reflexion – die Chance zu (auch kathartischer und therapeutischer) Einsicht bieten.

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ästhetische Impressionierbarkeit des Kindes, das an allen Menschen vor allem eine Farbempfindung erlebte. „Lange Zeit glaubte Sebastian, sie bestehe aus Wasser, und erst wenn er in ihr Zimmer komme, nehme sie die Gestalt an, die alle kannten. Er bewunderte die Schnelligkeit, mit der ihr jedes Mal die Verwandlung gelang.“16 Für den Leser des Romans, der den Protagonisten interessant genug findet, um auf die Andeutungen und Hinweise in der Vernetzung der Geschichte zu achten, lautet der Schlüsselsatz der Passage, in der die Projektion digitaler Bilder beschrieben wird, denn auch: „Die künstliche Frau war nun fast weiß.“ Die höchst signifikante Farbe Weiß, die sich in der Video-Projektion als Mischungsprodukt aus allen anderen Farben ergibt, beschwört das mentale Bild der Mutter wieder herauf – diesmal als Medium der Seelenruhe. Kein Zweifel: Auch hier wiederum geht es um eine Technik des Distanzgewinns. In dieser Geschichte ist es die fortgeschrittene Technologie der Bild-Projektion, durch die im rein atmosphärischen Erinnerungs„bild“ Distanz erwächst. Das gleichsam statistische Verfahren und seinen Effekt, die der Künstler-Protagonist im ultimativen Projekt seiner Video-Installation zur Anwendung bringt, stellt er unter das Motto einer Gedichtzeile von Friedrich Nietzsche: Glatt liegt Seele und Meer.17 Dass die ultimative Hommage an das schon früh entrückte Bild der Mutter im Modus seiner Relativierung durch die ernüchternde Einsicht in das statistische Durchschnittsverfahren der Evokation von Schönheit, auch ihrer Schönheit, daherkommt: Der Reflexion auf diese Ambiguität ist keine objektive Grenze gesetzt.

IV. Die „Normalidee der Schönheit“ und das „ästhetische Ideal“ – Schönheit und Statistik II In ideengeschichtlicher Perspektive ist darüber hinaus etwas Anderes bemerkenswert. Der im Roman erwähnte Francis Galton mag zwar der erste Operateur des hier beschriebenen statistischen Bildgewinnungsverfahrens sein. Sein Erfinder ist er nicht. Und es ist auch nicht die Photographie, auf deren Erfindung man erst warten musste, bis der Gedanke der nivellierenden Überblendung individueller Züge in einem idealen Bild der Schönheit fassbar wurde. Lange vor der Erfindung der ersten photographischen Verfahren, in einem philosophischen Text von 1790, wird das Publikum mit diesem Gedanken vertraut gemacht.18 Der Autor setzt sich im ersten Teil des Buches mit dem Begriff von Schönheit auseinander und fragt nach der Analyse der Bedingungen ihrer Möglichkeit, die er gemäß seiner generel16

A.a.O., S. 15. A.a.O., S. 124. Vollständig lautet der Text, dessen letzten Satz von Schirach übernimmt: „Rings nur Welle und Spiel. / Was je schwer war, / sank in blaue Vergessenheit, / müssig steht nun mein Kahn. / Sturm und Fahrt – wie verlernt er das! / Wunsch und Hoffnung ertrank, glatt liegt Seele und Meer.“ (Friedrich Nietzsche, Die Sonne sinkt, Dionysos-Dithyramben [1888]). 18 Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft (1790), Akademie-Ausgabe Bd. V [im Folgenden zitiert als KU]. 17

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len, bereits in anderen elementaren Fragen der Einstellung auf Wirkliches in Geltung gesetzten Intuition in den kognitiven Aktivitäten des wahrnehmenden Subjekts erkennt,19 schließlich ob es auch ein Maximum (Ideal) der methodisch so rekonstruierbaren Schönheit gäbe.20 Es ist mit einiger Komplikation verbunden, die ein ganz eigenes Thema ausmacht, dass die Antwort in unerwartetem Epochensprung mit derjenigen Platons kongruiert, mit dem dieser Autor sonst nur wenig im Sinn hat: Das Ideal der Schönheit ist (wie denn auch anders für den ästhetisch affizierten Menschen?) der schöne Mensch. An dem damit gegebenen Begriff unterscheidet er zwei Dimensionen: die „Vernunftidee“ und die „ästhetische Normalidee“ vom Menschen. Die letztere aber ist genau der statistische Durchschnitt, den man unter Berücksichtigung einer maximal verfügbaren Bezugsmenge an Bildern zu ermitteln hätte. Und es ist nicht die Photographie, der diese Ermittlung zugetraut wird, sondern die menschliche Einbildungskraft. „Es ist anzumerken: daß auf eine uns gänzlich unbegreifliche Art die Einbildungskraft […] wenn das Gemüth es auf Vergleichungen anlegt, allem Vermuthen nach wirklich, wenn gleich nicht hinreichend zum Bewußtsein, ein Bild gleichsam auf das andere fallen zu lassen und durch die Congruenz der mehrern von derselben Art ein Mittleres herauszubekommen wisse, welches allen zum gemeinschaftlichen Maße dient. Jemand hat tausend erwachsene Mannspersonen gesehen. Will er nun über die vergleichungsweise zu schätzende Normalgröße urtheilen, so läßt (meiner Meinung nach) die Einbildungskraft eine große Zahl der Bilder (vielleicht alle jene tausend) auf einander fallen; und wenn es mir erlaubt ist, hiebei die Analogie der optischen Darstellung anzuwenden, in dem Raum, wo die meisten sich vereinigen, und innerhalb dem Umrisse, wo der Platz mit der am stärksten aufgetragenen Farbe illuminirt ist, da wird die mittlere Größe kenntlich, die sowohl der Höhe als Breite nach von den äußersten Gränzen der größten und kleinsten Staturen gleich weit entfernt ist; und dies ist die Statur für einen schönen Mann. […] Diese Normalidee ist nicht aus von der Erfahrung hergenommenen Proportionen, als bestimmten Regeln, abgeleitet; sondern nach ihr werden allererst Regeln der Beurtheilung möglich. Sie ist das zwischen allen einzelnen, auf mancherlei Weise verschiedenen Anschauungen der Individuen schwebende Bild für die ganze Gattung […].“21

Auch für Kant ist das empirisch-hyperempirische Zentrum der Schönheit ein Idealbild, das nicht anders als durch den statistischen Mittelwert definiert ist – doch das Haben dieses Bildes ist nach seiner Erklärung nicht die Angelegenheit technischer Lichtprojektion und Überblendung, sondern beruht auf einer genuinen Leistung – einem „dynamischen Effect“ – der Imagination: der bloßen intelligenten, mit Sinn und Verstand betätigten Vorstellungskraft. Und an diesem empirisch gewonnenen ästhetischen Bild vollzieht sich unter der Wirkung der „Vernunftidee“ eine ethisch-äs-

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KU, S. 203 – 231. KU, S. 231 – 236. 21 KU, S. 234. 20

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thetische Bewusstseinserweiterung22 – die eigentliche Idealisierung, die in nicht weniger als dem Bewusstsein besteht, dass der Mensch anders als alle anderen in Frage kommenden ästhetischen Objekte (und es kommen nach diesem Ansatz im Prinzip alle Objekte auch als ästhetische in Frage) niemals bloß Objekt ist, sondern immer auch Person. Die zweite Formel des Kategorischen Imperativs hatte dies als normativen Anspruch artikuliert: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“23 Es ist dieses normative Bewusstsein, das sich nach Überzeugung des Autors des Kategorischen Imperativs dem Betrachter eines Menschen auch im Medium des ästhetischen Gefallens jederzeit mitteilt. Dem Forscher Sir Francis Galton, der sich – wie von Schirach in seiner geistesgeschichtlichen Intarsie paraphrasiert – die Frage nach der ästhetischen Wahrnehmbarkeit des Bösen gestellt hatte, könnte sich somit, wenn es nach Kant ginge, angesichts seines Befundes („das Gesicht aus den vielen Verbrechern war schön“) die Intuition mitgeteilt haben, die dieser in der zweiten Formel des Imperativs artikuliert hatte: dass die Menschheit in der Person eines jeden zu achten sei. Es könnte sich ihm die Einsicht in die Menschheit in der Person auch des Verbrechers mitgeteilt haben. Kongruiert nicht die Botschaft dieses ästhetischen Lehrstücks in ebenso verblüffender wie beglückender Weise mit der tragenden Intention der Prosa von Schirachs?

V. Ethos des Rechts – Poetik der Menschenwürde Der Subtext dessen, was in Tabu in der Auseinandersetzung mit der Liquidität digitaler Bilder vorgestellt wird, richtet sich tatsächlich auf eine Poetik der personalen Distanz, die als die gemeinsame Botschaft aus den Texten von Schirachs emergiert. In der langen Flucht dieser Texte kann nicht verborgen bleiben, dass im Horizont der Handlung allemal das essential des Rechtsgedankens steht: die Menschenwürde. „Würde ist nichts, was verliehen wird, sie kann nicht entzogen werden“, heißt es programmatisch in einem seiner Essays.24 Damit ist der Rahmen gesteckt, in dem sich 22 Zum Verhältnis des Ästhetischen und Ethischen siehe Birgit Recki, Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt am Main 2001. 23 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Akademie-Ausgabe Bd. IV [im Folgenden zitiert als GMS], S. 429. 24 Ferdinand von Schirach, „Vergessene Gummistiefel. Das Straßburger Urteil zur Sicherungsverwahrung“, in: ders., Die Würde des Menschen ist antastbar, S. 99 – 107; Zitat: S. 105. – Der Titel verweist auf den Skandal, der darin besteht, dass Menschen wie Sachen behandelt werden. Auch darin darf eine Anspielung auf die zweite Formel von Kants Kategorischem Imperativ gesehen werden (siehe oben, Fußnote 23). von Schirach erwähnt ausdrücklich: „Die Idee [der Menschenwürde, B.R.] geht auf Kant zurück. Der Mensch, sagte Kant, könne sich seine eigenen moralischen Gesetze geben und nach ihnen handeln, das unterscheide ihn von allen anderen Wesen.“ von Schirach: „Die Würde ist antastbar“, S. 10. Seine Ausrichtung am Denken Schopenhauers (siehe oben, Fußnote 10) kommt in der unmittelbar folgenden Über-

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auch das Ethos der Anwalt-Erzählerfigur in den Prosatexten artikulieren muss. Doch mit der narrativen und diskursiven Thematisierung der Menschenwürde ist es nicht getan;25 das Interesse an der Qualität literarischer Texte bliebe unbefriedigt, wenn es nur beim Inhalt der Botschaft bliebe. Auf die Form kommt es an. Was die Erzählungen Ferdinand von Schirachs literarisch auszeichnet: Aus der Idee der Menschenwürde geht scheinbar unmittelbar das Momentum ihrer impliziten Poetik hervor. Die Menschenwürde findet in der Performanz dieser Texte auch ihre corporate identity – ihre formale Repräsentation. Denn von Schirach gehört zu den Autoren, die ihren Figuren ausnahmslos nicht zu nahe treten. Unabhängig davon, ob es ein Täter, ein Opfer, ein Jurist – und dabei: der Verteidiger mit seinem berechtigten Anspruch auf die Wahrung der Interessen seines Mandanten oder sein Gegner, der Staatsanwalt, oder der Richter – ist, den der Erzähler vor sich hat: Er behandelt seine Figuren mit allem Respekt. Auch dazu, vielleicht vor allem dazu dient die so häufig hervorgehobene Sachlichkeit der direkten, nicht-expressiven und schnörkellosen Sprache, durch die sich seine Texte auszeichnen. Dabei hat es von Kritikern auch gereizte Reaktionen auf das gegeben, was ihnen wie eine Rückkehr zur neuen Sachlichkeit eines Hemingway und von daher wie ein epigonaler Manierismus erscheint. Doch nur bei vordergründigem Zugriff wird man übersehen, dass literarische Stilmittel wie der Primat des kurzen Satzes, die lineare Erzählstruktur und der Verzicht auf schmückende Adjektive unter historisch und sachlich individuierten Bedingungen nicht dasselbe ist: Der impact, die indirekte Botschaft im Verzicht auf Komplikationen der Syntax und auf andere Maßnahmen der Expressivität ist eine ganz andere je nachdem, ob der Erzähler wie bei Hemingway sich in einer Welt des Krieges und der existentiellen Schiffbrüche im heroisch standhaltenden Blick auf gesellschaftliche Katastrophen und ungerührte Natur seiner Ich-Stärke und Virilität als letzter Instanz zu vergewissern sucht – oder ob er sich wie bei von Schirach in einer Welt des globalen Marktes, der postmodernen Desintegration von Kulturen und Subkulturen und der Erosion regionaler Werte darauf verpflichtet fühlt, an der befreienden Disziplin des Rechts festzuhalten, vor dem alle gleich zu sein und unter dessen Schutz alle gleichermaßen zu stehen haben. Selbst der Verzicht auf Adjektive erweist sich mit Blick auf diese Differenz als eine abhängige Variable. Die klaren, linearen, schnörkellosen Sätze des nahme der Position Schopenhauers zum Ausdruck – in der verblüffenden Einschätzung, Kant hätte den Begriff „nicht hinreichend bestimmt.“ Dass hier undeutlich bleibt, ob der Begriff der Person oder der Würde gemeint ist, macht nichts, da die Würde nach Kant ohnehin Merkmal der Person ist. Entscheidend ist indessen, dass Kant den Begriff der Person nicht durch die epistemischen Leistungen bestimmt, die den Subjektbegriff qualifizieren sollen, so dass Personalität und Würde nicht schon an Erkennen und Selbstbewusstsein gebunden sind, sondern erst an das spezifizierende Merkmal der Selbstgesetzgebung im Handeln (siehe GMS S. 428 – 432), das von Schirach in seiner Eingangsparaphrase klar und deutlich erwähnt, ohne dass er darin offenbar Kants Bestimmung der personalen Würde erkennt. 25 Siehe auch die Essays „Die Würde ist antastbar“ und „Die Würde der Fürchterlichsten. Die Menschenrechtsklage des Kindermörders Gäfgen“ in: Ferdinand von Schirach, Die Würde ist antastbar, S. 5 – 17 und S. 109 – 116.

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Ferdinand von Schirach, in denen noch einmal das (hier indessen nicht wissenschaftstheoretisch, sondern juristisch informierte) Ideal des Protokollsatzes aufzuschimmern scheint, können manche Funktion erfüllen, manchen Effekt begünstigen. Prima facie scheinen sie im Dienst der Konzentration auf die Transparenz des Handlungsverlaufs wie des darin entwickelten Sachproblems zu stehen; in der Zurückhaltung von Expressivität nehmen sie aber ebenso sehr Rücksicht auf das expressive Eigenleben des Lesers wie sie seine selbsttätige Imagination begünstigen. Dieser Aspekt ist besonderer Beachtung wert: Gelungene Kunstwerke zeichnen sich durch die Gewährung eines Interpretationsspielraums aus, der es (ohne die Gefahr einer bloß subjektiven Beliebigkeit) erlaubt, eine Vielfalt an Deutungen in Betracht zu ziehen. Kant spricht über diese Eigenschaft des ästhetischen Objekts mit dem Terminus der „ästhetischen Idee“. Die den Künstler auszeichnende Fähigkeit ist das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen, und eine ästhetische Idee ist eine „Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, völlig adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.“26 Man kann dies als einen spezifischen Modus von Vagheit begreifen, der von Ungenauigkeit zu unterscheiden wäre. von Schirach erzielt diesen Effekt, den spätere Autoren als Ambiguität oder als die essentielle Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes beschrieben haben, in seinem Roman Tabu nicht allein dadurch, dass im Duktus der Handlung mehrfach Kunstwerke gerade eben so eingehend beschrieben werden, dass sie ihrerseits als Appell an die Interpretation fungieren. Hier wie in seinen anderen ProsaTexten ist es vor allem der Verzicht auf expressives Ausschmücken, durch den dem Leser ein Spielraum, ja geradezu eine produktive Herausforderung seiner Einbildungskraft eröffnet wird. Darüber hinaus aber ist in der nicht allein auf den Handlungsverlauf, die Situationsschilderung und die Objektbeschreibung, sondern auch auf die handelnden Personen ausgedehnten Sachlichkeit, in der Enthaltung von aller Expressivität, insbesondere aller Bewertungen, das Element einer Poetik der Menschenwürde zu sehen: In der indirekten Botschaft des Stils formiert sich gleichsam ein Manifest gegen die Übergriffigkeit des alles relativierenden Psychologismus, unter dem das Zeitalter so sehr leidet. Performativ geht von Schirach darin auf Distanz zu dem offenkundig verführerischsten Laster der Solidargemeinschaft kritisch versierter Zeitgenossen: Er psychologisiert nicht in seine Figuren hinein. Selbst die als schuldig Erwiesenen und strafrechtlich Verurteilten werden hier weder verurteilt – noch pathologisiert. Und im Extrem der Enthaltung von der Beurteilung der Täter kulminiert im Gestus objektiver Sachlichkeit überhaupt der Verzicht auf jegliche Indiskretion. Dieser Erzählgestus, in dem sich das methodische Abstrahieren und der gute Wille zur Urteilsenthaltung auch gegenüber den dunklen Motive des Handelns verschränken, hebt in der Instrumentierung der literarischen Mittel, deren wichtigstes die Zurückhaltung von so gut wie allen Methoden der Expressivität und der Introspektion 26

KU, S. 314.

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ist, das Ethos der Achtung vor der Würde des Menschen ohne Ansehung der individuellen Person auf die Ebene einer impliziten Poetik – einer Poetik der Menschenwürde. von Schirach macht derart den denkbar weiten und produktiven Gebrauch von der Funktion des Stils als weiche Normativität.27

27 Siehe auch Birgit Recki, „Stil im Handeln oder Die Aufgaben der Urteilskraft“, in: Kunst, Ästhetik, Philosophie. Im Spannungsfeld der Disziplinen, hg. von Hans Friesen und Markus Wolf, Münster 2013, S. 221 – 244.

Warum schreiben Schriftsteller über Recht und Justiz? Von Heinz Müller-Dietz

I. Von Gemeinsamkeiten zwischen dem Jubilar und mir In meiner relativ umfangreichen Sekundär-Bibliothek über Karl Kraus nimmt ein Werk einen Ehrenplatz ein. Es ist Reinhard Merkels profunde und fulminante habilitationsreife Studie „Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus“, die mir der Jubilar im November 1994 dediziert hat. Ich habe sie damals buchstäblich verschlungen und sie – wie die 1998 erschienene, um ein Namenregister ergänzte SuhrkampAusgabe – gleichsam als kulturgeschichtliches Nachschlagewerk für das literarische Wirken und die Lebenszeit von Karl Kraus benutzt. Reinhard Merkels Studien und Erkenntnisse über die Schriften des Wiener Satirikers haben mich tief beeindruckt – auch wenn etliches davon keinen expliziten Ausdruck in meinen Arbeiten über diesen Autor und die Literatur schlechthin gefunden hat. Das damalige Werk des heutigen Jubilars hat in seiner Widmung zugleich an den 1991 in Jerusalem verstorbenen Schriftsteller und exzellenten Kraus-Kenner Werner Kraft erinnert, dem sich Merkel ja eng verbunden fühlte.1 Kraft gehörte zu jenen Autoren, die mir noch vor Reinhard Merkels Buch und seinen anderen Schriften über Kraus durch zwei seiner literaturgeschichtlichen Darstellungen den Wiener Autor nahegebracht hatten.2 Ich wurde kürzlich an Kraft erneut anlässlich einer Lesung erinnert, die Auszüge aus einem in seiner Gestalt wohl einzigartigen, 37 Jahre andauernden Briefwechsel über Literatur zwischen zwei Schriftstellern vermittelte.3 Die beiden Autoren waren Werner Kraft und der Naturlyriker und Essayist Wilhelm Lehmann.4 Sie sind sich freilich nur wenig – etwa in der Endphase der Weimarer Republik und später nach dem Zweiten Weltkrieg – begegnet. Ihr brieflicher Kontakt, der trotz der Verschiedenheit der literarischen Themen und Schwerpunkte fruchtbar und reich an kulturellen Erkenntnissen gewesen ist – hat nur mit Ausnahme der Kriegsjahre bis zum Tod Lehmanns 1968 angedauert. 1

Über Kraft Jörg Drews, Marbacher Magazin, 75/1996. Es waren: Kraft, Karl Kraus. Beiträge zu seinem Werk. 1956, und ders., Das Ja des Neinsagers. Karl Kraus und seine geistige Welt, 1974. 3 Zur Veranstaltung Dorothee Philipp, Bad. Zeitung Nr. 85 v. 13. 4. 2018, S. 39. 4 Über Lehmann etwa Albert Soergel/Curt Hohoff, Dichtung und Dichter der Zeit. Vom Naturalismus bis zur Gegenwart, 2. Bd., 1964, S. 622 – 631. 2

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Für mich – und auch Reinhard Merkel – hat Karl Kraus natürlich danach nicht mehr im Zentrum des Schaffens gestanden. Ich habe mich in zunehmendem Maß anderen Schriftstellern zugewandt, unter denen wohl Robert Musil mit seinem Jahrhundertroman „Der Mann ohne Eigenschaften“ der prominenteste ist. Eine bedeutsame Rolle spielte in diesem Kontext begreiflicherweise die Darstellung des Strafprozesses gegen den Prostituiertenmörder Moosbrugger. Das nicht abgeschlossene, Fragment gebliebene Werk Musils – an dem ich mir keineswegs allein die Zähne ausgebissen habe –,5 hat mein einschlägiges Wirken bis 2013 begleitet.6 Darüber hinaus hat die Beschäftigung mit einer Vielzahl weiterer Schriftsteller – namentlich unter der Prämisse, wie Literatur und Recht sich zueinander verhalten – nicht zuletzt aufgrund einschlägiger Seminare in einer Reihe von Festschriftbeiträgen ihren Ausdruck gefunden. Dass Reinhard Merkels literarische Interessen und Kenntnisse sich in der geschilderten Weise mit den meinigen gekreuzt haben, hat mich dazu ermutigt, ihm zum runden Geburtstag einen Beitrag zu einem banal erscheinenden Thema zu widmen, der Recht und Literatur miteinander verbindet. Wohl wissend, dass dieses Projekt seine Haken und Ösen hat, denen man in einem bloßen Festschrift-Beitrag schwerlich gerecht werden kann. Die Frage, weshalb Schriftsteller sich in ihren Werken so oft – und vielfach mit Emphase – mit Recht und Justiz befassen, ist meines Wissens bisher nicht in dieser expliziten Form thematisiert worden. Obgleich sich seit der literarischen Moderne eine kaum noch überschaubare rechts- und literaturwissenschaftliche Literatur mit dem Verhältnis von Literatur und Recht in seinen verschiedensten Facetten beschäftigt.7 Wobei natürlich eine Vielzahl von Aspekten etwa hermeneutischer, kommunikativer und sprachtheoretischer Provenienz eine Rolle spielt.8 Nicht zuletzt hat die US-amerikanische Bewegung „Law and Literature“ maßgeblich zu dieser Entwicklung beigetragen.9

II. Beziehungen zwischen Literatur und Recht Manches könnte dafür sprechen, dass sich die Beschäftigung vieler Schriftsteller mit Recht und Justiz in ihren Werken in aller Kürze auf einen recht einfachen Nenner bringen ließe. Immerhin weisen nicht weniger als drei Aspekte auf einen Zusammenhang zwischen Literatur und Recht hin: Zum einen haben Recht und Literatur die 5 Zum heutigen Diskussionsstand vgl. nur die exzellente Studie von Inka Mülder-Bach, Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Ein Versuch über den Roman, 2013. 6 Vgl. z. B. Müller-Dietz, Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ als Essay über Kultur und Recht, 2012. 7 Vgl. z. B. Klaus Lüderssen, Produktive Spiegelungen. Recht in Literatur, Theater und Film, 2. Aufl. 2002. 8 Siehe etwa Thomas Weitin, Recht und Literatur, 2010. 9 Vgl. z. B. Richard Weisberg, Rechtsgeschichten, 2013 und den in diesem Werk auf S. 275 – 289 wiedergegebenen Beitrag Bernhard Schlinks „Das Bilderbuch des Rechts“.

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Sprache gemeinsam, zum anderen rekurrieren Schriftsteller in ihren Werken allemal auf kulturelle Phänomene, zu denen ohne Frage Recht und Justiz gehören. Schließlich existieren seit eh und je Schriftsteller, die über rechtliche Kenntnisse verfügen – sei es, dass sie zumindest (zeitweilig) Jurisprudenz studiert haben, sei es, dass sie aufgrund ihrer Ausbildung – neben ihrem literarischen Wirken – einen juristischen Beruf ausüben. Recht ist – das bedarf keiner näheren Begründung – ebenso wie Literatur auf Sprache angewiesen.10 Wenngleich sich im Laufe der Zeit eine eigene Juristensprache herausgebildet hat, was namentlich Divergenzen in hermeneutischer Hinsicht zur Folge hat. Recht steht – wie etwa der Literaturwissenschaftler Bernhard Greiner dargelegt hat – mit Literatur in einem engen, ja unmittelbaren Zusammenhang. Ist es doch wie diese auf Sprache angewiesen – ja „in einem wesentlichen Sinne selbst Literatur“ – „was jede Kodifikation von Recht beweist“.11 Dieser Zusammenhang oder gar die Abhängigkeit des Rechts von Literatur war in Zeiten der schriftlichen Fixierung von Recht noch enger, als es gerade Sache der Literatur war, Rechtsdenken zu vermitteln und Rechtsfragen zu verhandeln. Zum anderen befassen sich Schriftsteller in ihren Arbeiten allemal mit kulturellen Phänomenen und Aspekten von Bedeutung. Dass Recht und Justiz von gewichtiger gesellschaftlicher Relevanz sind, steht außer Frage. Der Übertreibungskünstler Thomas Bernhard hat sich in seiner frühen Prosa, die namentlich aus seinen Erfahrungen mit Gerichtsberichterstattung hervorgegangen ist, zu einer Äußerung verstiegen, die immer wieder zitiert, aber nicht weiter hinterfragt worden ist. Hat er doch bei der Wiedergabe eines Gesprächs seinem Gesprächspartner die Worte in den Mund gelegt: „Die Welt ist eine ganz und gar, durch und durch juristische. […] Die Welt ist eine einzige ungeheuere Jurisprudenz.“12 Viele gesellschaftliche Konflikte und Auseinandersetzungen weisen Rechtscharakter auf oder rufen zumindest das Recht auf den Plan. Unzählige Autoren der Literaturgeschichte – von denen sich nur einige wenige im Rahmen eines begrenzten Beitrags zitieren lassen – haben sich in ihren Werken mit Recht und Justiz auseinandergesetzt. Seit der Antike bis in die unmittelbare Gegenwart hinein har sich eine schwerlich fassbare Vielzahl von Schriftstellern aufgemacht, sich in ihren Werken mit der kulturellen Bedeutung von Recht und Justiz zu beschäftigen. Wobei natürlich stets die Frage eine Rolle gespielt hat, welchen Einfluss fiktionale und realistische Elemente auf die geschichtliche und gegenwartsbezogene Darstellung in solchen Werken genommen haben. Dass Schriftsteller, die über keinerlei juristische Vorkenntnisse verfügen, sich auch in einer für Juristen diskutablen oder gar akzeptablen Weise mit Fragen des Rechts und der Justiz auseinandersetzen können, selbst wenn sie sich einer 10

Vgl. z. B. Müller-Dietz, Recht und Kriminalität im literarischen Widerschein, 1999, S. 7 – 45. 11 Greiner, Das Forschungsfeld „Recht und Literatur“, in: Recht und Literatur. Interdisziplinäre Bezüge. Hrsg. von Bernhard Greiner u. a., 2010, S. 7. 12 Bernhard, Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?, in: Prosa, 1967, S. 44.

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ironischen oder gar satirischen Schilderung des Romangeschehens bedienen, haben so manche Beispiele gezeigt. Ein Musterbeispiel für die Verflechtung von zeitgenössischen und fiktionalen Aspekten in diesem Sinne stellt der fast schon zu Tode analysierte Strafprozess gegen den Prostituiertenmörder Moosbrugger in Wien vor dem Ersten Weltkrieg in Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ dar. Bei der ironisierenden Schilderung dieser Gerichtsverhandlung hat sich der Autor ja auf eine Reihe von Recherchen stützen können, die er nicht zuletzt ausgiebigen Berichten in der Gerichtsberichterstattung der Presse zu verdanken hatte.13 Der 2010 verstorbene Münchner Literaturwissenschaftler Walter Müller-Seidel hat in einem von ihm selbst als „Rechtsbuch“ betitelten, leider erst posthum erschienenen Werk sich eigens mit „Rechtsdenken im literarischen Text“ (2017) anhand einer ganzen Reihe bedeutender Autoren von der Weimarer Klassik bis zur Weimarer Republik befasst. Er hat – nicht zuletzt unter Rekurs auf rechtsgeschichtliche Wissenschaftler – in diesem nicht nur für Juristen lesenswerten Sammelband von einer fachübergreifenden Position aus dargetan, dass etwa Schillers Dramen durch die Erörterung staats- und verfassungsrechtlicher Fragen zur Legitimität von Verschwörung, Widerstandsrecht und Tyrannenmord in aussagekräftiger Weise juristische Themen zur Diskussion gestellt hat. Ein Kernproblem ist demnach – wie er es nicht nur, doch vor allem in seinem „Wilhelm Tell“ diskutiert hat – die Rechtsfrage, wann und unter welchen Voraussetzungen unterdrückte und terrorisierte Bürger (oder Untertanen) berechtigt sind, sich die ihnen zustehende Freiheit durch einen Tyrannenmord zu verschaffen. Die unverändert aktuell gebliebene juristische Fragestellung hat – wie erinnerlich – namentlich die Widerständler des „Dritten Reiches“ umgetrieben.14 Müller-Seidel hat sich ferner mit Heinrich Manns Werk auseinandergesetzt, das durch Justizkritik gekennzeichnet ist, und an seinem Beispiel gezeigt, wie es um die nicht nur moralische, sondern auch juristische Rechtfertigung der Todesstrafe bestellt ist oder doch sein kann. Ferner hat er an Alfred Döblins Schrift „Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord“ (von 1924) erinnert, die in einer geradezu modern erscheinenden Weise aktuelle Rechts- und Justizprobleme erörtert. Die Weimarer Zeit war ja, was das Verhältnis von Literatur und Justiz anlangt, durch eine nachhaltige justizkritische Phase gekennzeichnet, an der zahlreiche zeitgenössische Schriftsteller – wie z. B. Kurt Tucholsky, Jakob Wassermann, Lion Feuchtwanger und Ödön von Horváht – partizipiert haben.15 13 Vgl. Müller-Dietz, Strafrechtliche, strafprozessuale und kriminologische Aspekte in Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, GA 160, Jg. 2013, S. 49 – 68. 14 Vgl. z. B. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, hrsg. von Jürgen Schmädeke/Peter Steinbach, 1985, S. 1003 ff., 2021 ff.; Gerd Überschär, Für ein anderes Deutschland. Der deutsche Widerstand gegen den NS-Staat 1933 – 1945, 2006, S. 240 ff.; neuerdings Thomas Karlauf, Stauffenberg: Porträt eines Attentäters, 2019. 15 Vgl. namentlich Klaus Petersen, Literatur und Justiz in der Weimarer Zeit, 1988, S. 133 – 193; Müller-Seidel, Justizkritik und moderne Literatur, 1989.

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Doch müssen es keineswegs nur Kardinalfragen und Staatsaktionen des Rechts sein, die in literarischen Texten – insbesondere in Romanen und Erzählungen – behandelt werden. Es können durchaus auch Alltagsprobleme des Rechts und der Justiz sein, die literarisch zur Sprache gebracht werden. Der Weg, den Autoren dieser Provenienz zumeist einschlagen, besteht zumeist darin, dass sie sich im Rahmen ihrer schriftstellerischen Tätigkeit spezielle juristische Kenntnisse zu verschaffen suchen. Einen solchen Versuch, die Alltagswelt unserer Zeit in juristischer Hinsicht – nicht zuletzt auf der Grundlage berliner Erfahrungen – abzubilden, hat etwa Martin C. Schröder in einem leicht lesbaren Werk unternommen.16 In der Vorbereitung ihres Romans „Justizpalast“ von 2017 deutlich weitergegangen ist die gelernte Theaterwissenschaftlerin Petra Morsbach, die für ihr mit dem Wilhelm-Raabe-Preis ausgezeichnetes Werk neun Jahre recherchiert hat. Sie hat erklärtermaßen mit etwa 50 Juristen, darunter 30 Richtern der Zivil-, Straf- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, Gespräche über ihre Arbeit geführt und ist von manchen mit Rat, Kritik und Korrekturen unterstützt worden.17 Eine dritte enge Verbindung zwischen Literatur und Recht wird auch durch Autoren literarischer Werke hergestellt. So geht auf ihr Konto ein nicht unerheblicher Anteil von Autoren, die wenigstens teilweise eine universitäre juristische Ausbildung genossen haben oder sogar nach ihrem Jurastudium einen juristischen Beruf ausgeübt haben oder weiterhin ausüben. Dies wird namentlich an der Vielzahl von „Dichterjuristen“ deutlich, die in der Vergangenheit literarische Werke vorgelegt haben oder dies bis in die unmittelbare Gegenwart hinein noch tun. Eugen Wohlhaupter hat diesem beachtlichen Kreis von Schriftstellern ja in seinem monumentalen dreibändigen Werk unter eben dem Titel „Dichterjuristen“ – das leider posthum erscheinen musste – ein literaturwissenschaftliches Denkmal gesetzt, das in Größenordnung und Bedeutung bisher unerreicht geblieben ist. H. G. Seifert hat durch seine Bearbeitung dafür gesorgt, dass diese Bände 1952, 1955 und 1957 erscheinen konnten. Sie befassen sich mit einer Vielzahl von bedeutenden Autoren, die sich in der Vergangenheit literarisch betätigt haben, beziehen aber gewiss nicht sämtliche Schriftsteller ein, die man zu den „Dichterjuristen“ rechnen kann. Immerhin werden im dritten Band des umfangreichen Werkes noch weitere „Juristen als Künstler“ in Form von Kurzporträts präsentiert, die sich gleichfalls (seit dem 15. Jahrhundert) literarisch betätigt haben (S. 403 – 459). Im Kreis der „Dichterjuristen“ waren und sind so gut wie alle juristischen Berufe vertreten. Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik haben sich vor allem Rechtsanwälte als Schriftsteller hervorgetan. Ein neueres Beispiel bildete etwa der 1995 verstorbene österreichische Schriftsteller Albert Drach, der seine Erkenntnisse und Erfahrungen als Rechtsanwalt – die er namentlich in Strafprozessen gewonnen hatte – literarisch ausgiebig zu verwerten gewusst hat. So hat er in verschiedenen Ro16

Schröder, Allgemeine Geschäftsbedingungen. Roman, 2002. Vgl. ihren Dank an die Helfer nach dem Ende des Romans, ferner die Rezension von Hermann Weber, NJW 71. Jg. 2018, S. 762 f.; vgl. auch Morsbach, in: NJW Nr. 5 / 2018. 17

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manen, in denen strafprozessuale Ermittlungen eine zentrale Rolle spielen, eine sprachliche Form der Darstellung praktiziert, die mich in einem Versuch seiner Würdigung dazu veranlasst hat, sein Werk unter das Rubrum „Vom Kriminalprotokoll zum literarischen Protokoll“ zu stellen.18 Inzwischen hat das Beispiel Wohlhaupters Schule gemacht. So hat Yvonne Nilges 2014 einen weiteren Sammelband unter dem Titel „Dichterjuristen“ herausgegeben, der „Studien zur Poesie des Rechts vom 16. bis zum 21. Jahrhundert“ von Germanisten und Juristen aufweist. Hier begegnet man neben älteren Schriftstellern, die großenteils schon von Wohlhaupter gewürdigt worden sind, auch neuen Autoren wie Kafka, Carl Schmitt (mit Frühwerken), Nikos Katzantzakis, Bernhard Schlink, Georg M. Oswald, Juli Zeh und Ferdinand von Schirach. Unter den literarisch tätig gewesenen Juristen wäre noch Herbert Rosendorfer zu nennen, der neben seiner beruflichen Tätigkeit als Richter eine beachtliche Vielzahl von Romanen und anderen literarischen Texten hervorgebracht hat. Er ist etwa in dem von Michael Kilian herausgegebenen Sammelband „Jenseits von Bologna“19 mit einem Beitrag „Über Gerechtigkeit und Literatur“ (S. 1 – 16) vertreten.

III. Themen, die Literatur und Recht miteinander verbinden Unter der Vielzahl von Themen, die Literatur und Recht gleichermaßen beschäftigen, ragen drei mit deutlichem Abstand vor anderen heraus. Es ist zum einen die Gerechtigkeit, die als Rechtswert von fundamentaler Bedeutung für das Recht ist, aber ebenso im Mittelpunkt von einer Vielzahl von Romanen steht, die sich mit gesellschaftlichen Konflikten und ihrer Lösung auseinandersetzen. Verwandt mit dem Thema der Gerechtigkeit ist aber auch das vielfach von Diskrepanz gekennzeichnete Verhältnis von Recht und Rechtsgefühl, das in Rechtspraxis und Rechtstheorie eine gewichtige Rolle spielt, zugleich aber Lesern immer wieder in Romanen begegnet. Nicht minder bedeutsam erscheinen schließlich auch die zumeist als Parallelen oder Ähnlichkeiten beschriebenen Vorgänge, die sich in den auf der Theaterbühne gezeigten Prozessen und den im Gerichtssaal stattfindenden Verhandlungen abspielen. Nicht wenige Schriftsteller haben sich anheischig gemacht, die Gerechtigkeit in den Mittelpunkt ihrer Romane oder Erzählungen zu rücken – und damit die zentrale Rechtsidee20 zum Gegenstand ihrer Analysen zu erheben21. Das gilt etwa für prominente Autoren wie Heinrich von Kleist, Georg Büchner, E. T. A. Hoffmann, Annette von Droste-Hülshoff, Franz Kafka oder für eine ganze Reihe von Schriftstellern der 18

Vgl. Müller-Dietz (Fn. 10), S. 190 – 218. Kilian (Hrsg.), Jenseits von Bologna – Jurisprudenz literarisch. Von Woyzeck bis Weimar – von Hoffmann bis Luhmann, 2006. 20 Vgl. nur Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1997, S. 152 – 164. 21 Vgl. z. B. Rosendorfer, a.a.O.; Müller-Dietz, Die Gerechtigkeitsfrage in der Literatur, in: Gerechtigkeit – eine Illusion?, hrsg. von Kai Horstmann u. a., 2004, S. 103 – 124. 19

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Weimarer Zeit wie Arnold Zweig, Jakob Wassermann und Lion Feuchtwanger. Zumal das Publikum gerade von belletristischen Werken, die sich mit Rechtsproblemen auseinandersetzen, in aller Regel – ebenso wie von realen Prozessen – gerechte Lösungen des juristischen Konflikts erwartet. Freilich hat Robert Musil in der ihm eigenen ironischen Weise in seinem perspektivenreichen Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ konstatiert: „Es ist schwer, der Gerechtigkeit in Kürze Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.“22 Hans Erich Nossack hat einen Essay über „Das Verhältnis der Literatur zu Recht und Gerechtigkeit“ von 1968 zwar mit der Feststellung eingeleitet: „Als Thema interessieren sich Literatur und Literaten niemals direkt für Recht und Gerechtigkeit“ (S. 3). Er hat aber zum Ausdruck gebracht, dass das Problem der Gerechtigkeit von Kleist in seiner Erzählung „Michael Kohlhaas“ gültig abgehandelt worden sei (S. 12). „So dass das Lebensschicksal des Rosshändlers [für ihn] gleichsam zum Symbol dafür geworden ist, wie sich die Majestät des Rechts in Gestalt der Gerechtigkeit auch und gerade allen Übersteigerungen des Rechtsgefühls gegenüber zu behaupten weiß.“23 Es mag sein, dass Schriftsteller aus guten ästhetischen Gründen in ihren Werken eine direkte Bezugnahme auf Gerechtigkeit meiden und deshalb – wie eben Nossack – sich allenfalls essayistisch zu diesem ebenso schwierigen wie anspruchvollen Thema äußern. In diesem Sinne könnte denn auch Friedrich Dürrenmatts weitausgreifender „Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht“ von 1969 verstanden werden. Durch den ganzen Vortrag zieht sich ein Gedanke, den man gewissermaßen als das Fazit des Schriftstellers begreifen könnte: „Die Welt ist durch unsere Ungerechtigkeit gerechterweise ungerecht, und erst dann könnte die Welt gerechterweise gerecht sein, wenn wir selbst gerecht wären.“ (S. 94) „Der Schriftsteller“ – so meint Rosendorfer – „zitiert die Realität, in der fast nie die Gerechtigkeit zum wahren Sieg gelangt, vor die Schranken einer höheren, selbsternannten Instanz, und das ist vermutlich der innerste Zusammenhang der Literatur mit der Jurisprudenz und der Grund dafür, dass sich so viele Juristen in der Literaturgeschichte tummeln.“24 Oft genug haben Schriftsteller ein feines Gespür für die Anwendung und Durchsetzung von Recht, das diese Bezeichnung verdient. Dementsprechend setzen sich etliche Werke mit der Frage auseinander, wie das jeweils in einem Gemeinwesen geltende Recht vom Publikum, namentlich aber von den unmittelbar Betroffenen erlebt wird. Wie die Beispiele von Nossack und Dürrenmatt zeigen, verbinden Schriftsteller in der Regel mit Recht die Vorstellung von Gerechtigkeit. Und das gilt normalerweise für das Publikum gleichermaßen. Gleichwohl konstatiert man schon aus Gründen der Rechtsgeltung, also Rechtsdurchsetzung, einen mehr oder minder tiefgreifenden Zwiespalt zwischen Recht und Rechtsgefühl. Er stellt beileibe nicht nur ein rechtssoziologisches und rechtsphilosophisches Problem für die Rechtsanwendung und

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Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 2, 1978, hrsg. von Adolf Frisé, S. 537. Müller-Dietz (Fn. 21), S. 106. 24 In: Kilian (Fn. 19), S. 2.

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-durchsetzung dar. Vielmehr wird er auch von vielen Schriftstellern als Problem empfunden und deshalb in ihren Werken diskutiert. Wie Autoren sich mit der „Diskrepanz zwischen Recht und Rechtsgefühl“ auseinandergesetzt haben, hat etwa Katharina Döderlein auf literaturwissenschaftlicher Grundlage – natürlich unter Heranziehung juristischer Erkenntnisse und Stellungnahmen zu diesem Konflikt – anhand einer Reihe von Romanen und Erzählungen untersucht.25 Sie hat sich in ihrer überaus beachtlichen Studie mit fünf einschlägigen literarischen Texten – die freilich nur eine Auswahl aus der Vielzahl einschlägiger Werke darstellen – befasst. Unter ihnen befinden sich Texte, denen man zumindest Klassizität zusprechen möchte. Im Einzelnen handelt es sich um die folgenden Romane und Erzählungen: Heinrich von Kleists „Michael Kohlhaas“, Annette von Droste-Hülshoffs „Judenbuche“, Theodor Fontanes „Grete Minde“, Werner Bergengruens „Feuerzeichen“ und Martin Walsers „Finks Krieg“. Es ist schwerlich ein Zufall, dass ich mich gleichfalls in einem Beitrag unter dem Vorzeichen einer ähnlichen Fragestellung mit den hier zitierten Werken von Kleist und Walser auseinandergesetzt habe.26 Ich habe freilich in dieser kleinen Arbeit die einschlägige Thematik keineswegs in dieser tiefschürfenden und weit ausgreifenden Weise ausschöpfen können, wie es Katharina Döderlein in ihrer grundlegenden Studie vermocht hat. Hat sie doch „Geltendes Recht und Rechtsgefühl“ als „zwei Schalen einer Waage“ begriffen, deren Sockel „die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Demokratie“ darstellen, „auf die sowohl das gesamte Rechtswesen als auch das individuelle und kollektive Selbstverständnis der Bürger aufbaut und die dem Gebilde Halt und Substanz verleihen“ (S. 286). Im Regelfall geht die Autorin von einem relativen Gleichgewicht zwischen beiden Seiten aus. Zu einer „strukturellen Bedrohung“ wächst sich ein Ungleichgewicht zwischen geltendem Recht und subjektivem Rechtsgefühl aus, wenn das Rechtswesen seine allgemeine Akzeptanz zu verlieren oder nachhaltig gestört zu werden droht. Doch ist das ein Szenario, das Döderlein zufolge in Deutschland schwerlich eintreten kann (S. 287). Mit einem solchen Fall hatten wir es – wie sie des Näheren ausführt (S. 289 f.) – aufgrund des nationalsozialistischen Unrechtssystems im „Dritten Reich“ zu tun, das ja zur gerichtlichen Anerkennung der legendären Radbruch’schen Formel in seinem 1946 erschienenen Beitrag „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ von 1946 geführt habe.27 Nur in solchen Extrem-Fällen, in denen das Recht nicht mehr den für es verbindlichen Wertmaßstäben der Gerechtigkeit genügt, nämlich die „strikte Trennung 25 Döderlein, Die Diskrepanz zwischen Recht und Rechtsgefühl in der Literatur. Ein dramatischer Dualismus von Heinrich von Kleist bis Martin Walser, 2017. 26 Müller-Dietz, Rechtsbehauptung und Rechtsdurchsetzung in literarischen Diskursen, in: Festschrift für Winfried Hassemer, 2010, S. 121 – 141. 27 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie III, bearb. von Winfried Hassemer, 1990, S. 83 – 93.

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von Recht und Macht“, die „für ein demokratisches, soziales und gerechtes Rechtssystem unabdingbar“ ist, hat nach Döderlein das geltende Recht seine Legitimation zur Durchsetzung verloren (S. 290). Genügt das geltende Recht den normativen Anforderungen an eine Rechtsordnung, müsse der trotz seines abweichenden Rechtsgefühls – wie stark er sich durch dieses Recht auch verletzt fühle – dessen Anwendung hinnehmen. Zumeist geschehe dies bei vernünftig reagierenden Bürgern aufgrund gesunden Menschenverstandes und sozialen Verantwortungsbewusstseins auch. Doch sei eben nicht jeder Bürger bereit, sich dem geltenden, von ihm aber als ungerecht empfundenen Recht unterzuordnen, so dass „das funktionale Gleichgewicht zwischen Rationalität und Emotionalität“ gestört sei und deshalb „zu impulsiven Affekthandlungen, pathologischem Verhalten und, im Ernstfall, zu Selbstjustiz führen“ könne. (S. 294) Konflikte zwischen Recht und Rechtsgefühl könnten jederzeit – auch in beliebigen Alltagssituationen – auftreten. Sie seien keineswegs von revolutionären Situationen oder von einschneidenden politischen, gesellschaftlichen oder religiösen Wertumbrüchen abhängig (S. 300). Katharina Döderlein rückt ans Ende ihrer eindrucksvollen und weitgehend überzeugenden Analyse – die hier nur fragmentarisch wiedergegeben worden ist – als Fazit das Statement: „Den Schriftstellern ist in der Regel nicht daran gelegen, die Ideen und Gefühle des Individuums den Prinzipien der die Gemeinschaft sichernden Rechtsordnung vorzuordnen und damit ein gewisses ,Davidtum, das den Goliath schlug‘, durch die gesamte Weltgeschichte“ (Theodor Fontane) vor den idealisierenden Kulissen der literarischen Bühne zu etablieren (S. 303 f.). Über die bisher erwähnten Beziehungen hinaus gibt es noch einen weiteren Aspekt, der auf Verknüpfungen, ja sogar auf Ähnlichkeiten oder gar Parallelen zwischen Literatur und Recht verweist. Er besteht im Prozess, der seit der Antike, etwa seit dem „König Ödipus“ von Sophokles auf der Bühne des Theaters gezeigt wird und im Gerichtssaal seinen juristischen Ausdruck findet. Theateraufführung und Gerichtsverhandlung laden zum Vergleich buchstäblich ein.28 Seine geradezu unvergängliche Klassizität ist an und in Kleists Komödie „Der zerbrochne Krug“ in besonderer Weise deutlich geworden. Hier hat es der Dichter verstanden, an einem exceptionellen Beispiel einen Gerichtsprozess auf der Bühne vorzuführen.29 Natürlich gibt es noch eine weitere Vielfalt von Exempeln, an denen man verfahrensrechtliche und inhaltliche Parallelen zwischen Prozessen auf der Theaterbühne und im Gerichtssaal studieren kann. Ein prominentes Beispiel bildet etwa Shakespeares „Kaufmann von Venedig“, dessen – literarisch-juristische Gestalt gleichfalls reiche Beachtung von Literaturwissenschaftlern und Juristen erfahren hat.30 Der 1995 verstorbene österreichische Schriftsteller Albert Drach etwa hat seine Kennt28

Vgl. z. B. Müller-Dietz, Literarische Strafprozessmodelle, GA 150, 2003, S. 269 – 292. Vgl. Cornelia Vismann, Medien der Rechtsprechung, 2011, S. 38 – 64; Müller-Dietz, Der zerbrochne Krug, in: Justiz und Komödie, hrsg. von Heike Jung u. a., 2014, S. 49 – 82. 30 Vgl. z. B. Theodor Wolpers, in: Literatur und Recht, hrsg. von Ulrich Mölk, 1996, S. 150 – 185; Uwe Diederichsen, a.a.O., S. 186 – 228. 29

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nisse und Erfahrungen als Rechtsanwalt – die er namentlich in Strafprozessen gewonnen hat – literarisch ausgiebig zu verwerten gewusst. So hat er in verschiedenen Romanen, in denen strafprozessuale Ermittlungen eine zentrale Rolle spielen, eine sprachliche Form der Darstellung praktiziert, die mich in einem Versuch der Würdigung dazu veranlasst hat, sein Werk unter das Rubrum „Vom Kriminalprotokoll zum literarischen Protokoll“ zu stellen.31

IV. Ein zentraler Unterschied zwischen Literatur und Recht Ein gewichtiger Unterschied zwischen Literatur und Recht besteht freilich hinsichtlich der Lösungen und Lösungsmöglichkeiten gesellschaftlicher Konflikte: Recht ist an übergeordnete normative Wertungen gebunden. Zwar ist umstritten, ob und inwieweit es dem Wertekanon eines wie immer abgeleiteten und verstandenen Naturrechts unterliegt. Wohl aber sind die nachgeordneten Gesetze und normativen Lösungen an die an der Spitze der Rechtsordnung stehende Verfassung gebunden. Verkörpert diese doch die rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens. Literatur hingegen unterliegt grundsätzlich keinerlei normativen Bindungen. Kunst und Wissenschaft sind nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes frei. Dementsprechend ist literarisches Schreiben als künstlerische Betätigung autonom, von Bindungen frei. Ausnahmen stellen lediglich verfassungsrechtlich gezogene Schranken dar – etwa Persönlichkeitsrechte, die durch literarische Texte betroffen werden oder strafrechtliche Grenzen, die durch ihrerseits verfassungskonforme Gesetze gezogen werden. „Kunst ist autonom.“32 Aus alledem resultiert eine Freiheit des literarischen Schreibens, die die Wirklichkeit ebenso übersteigen kann, wie sie an rechtliche Regelungen – etwa Gesetze – nicht gebunden ist. Dieser fundamentale Unterschied eröffnet dem Schriftsteller Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, aber auch fiktionaler Darstellungen, wie sie nicht annähernd dem Juristen zu Gebote stehen. So fehlt es denn auch nicht an literarischen Beispielen für Lösungen gesellschaftlicher Konflikte, wie sie Juristen aus rechtlichen Gründen verwehrt sind. Dementsprechend wird denn auch Literatur in literaturwissenschaftlicher Perspektive schlechthin utopischer Charakter zugeschrieben. So hat etwa Gert Ueding in dem von ihm 1978 herausgegebenen Sammelband ,Literatur ist Utopie‘ die Gleichsetzung von Literatur und Utopie gleichsam programmatisch vollzogen und ihr mit der Feststellung Ausdruck gegeben: „Literatur als Utopie ist ja generell Vorgriff der Einbildungskraft auf neue Erlebniswirklichkeiten, bedeutet planvoll phantasiereiches Entdecken und Aktivieren schöpferischen Vermögens des Menschen im 31 32

Müller-Dietz (Fn. 10), S. 190 – 218. Weitin (Fn. 8), S. 81 – 87.

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ästhetischen Bild und kritische Absage an eine hemmende Wirklichkeit.“33 In diesem Sinn hat sich auch der „Dichterjurist“ Rosendorfer geäußert: „Literatur ist Utopie. Der Schriftsteller schafft Welten.“34 Literarische Exempel dieser Darstellungsart bieten vor allem jene bis in die unmittelbare Gegenwart erschienenen Romane, die utopischen Charakter aufweisen. Freilich stellen solche Werke, die verschiedentlich zugleich philosophischer und politischer Natur sind, keine Erfindung der Neuzeit dar. Ausgangspunkt bildet vielmehr Platons „Politeia“ („Staat“). Von dessen Entwurf eines Idealstaates führt der Weg über den „Gottesstaat“ („De civitate Dei“) Augustins zum staatsphilosophischen Dialog des Thomas Morus von 1516. Morus gab mit seinem Titel „Utopia“ der ganzen literarischen Gattung den Namen. Auf sein Werk folgte 1623 „Sonnenstaat“, dasjenige des Dominikaners Tommaso Campanella, das in lateinischer Fassung „Civitas solis idea republicae philosophiae“ hieß, aber in sprachlicher und origineller Form zurückblieb. In der literarischen Moderne traten indes zunehmend an die Stelle solcher utopischer Romane, die ideale Gemeinwesen zum Gegenstand hatten, deren Gegenteile, sog. Dystopien. Dies gilt namentlich für das 20. Jahrhundert, dessen Verlauf durch eine weitgehende Abdankung des Fortschrittsgedankens, vor allem aber durch die Entstehung totalitärer Diktaturen gekennzeichnet war. Beispiele für derartige „schwarze Utopien“ bilden namentlich der 1920 entstandene Roman „Wir“ des russischen Schriftstellers Jewgenin Samjatin, Aldous Huxleys Roman „Brave New World“ von 1932 und George Orwells Roman „1984“ von 1949. Aus der Gegenwartsliteratur verdient insbesondere Juli Zehs Roman „Corpus Delicti“ von 2009 als Exempel für eine Dystopie hervorgehoben zu werden.35 In allen diesen Werken ist von Staatssystemen oder -formen mit totalitärem Charakter die Rede. In ihnen ist für Menschenrechte und Menschenwürde kein Platz mehr, steht doch die Durchsetzung der ideologischen Vorstellungen des Systems um jeden Preis im Zentrum des Geschehens. Ob und inwieweit die Pflichten, die den in solchen Zwangssystemen lebenden Menschen auferlegt sind, Rechtscharakter haben, ist irrelevant. Jedenfalls kommt den dort geltenden Regelungen keinerlei moralische Qualität zu. Eine weitere Dystopie, – die von Ferne an aktuelle politische Ereignisse wie den Brexit und das Vorhaben des US-Präsidenten erinnert, eine Mauer an der Grenze zu Mexiko zu errichten – hat der Globalisierungskritiker John Lanchester inzwischen in seinem Roman „Die Mauer“ (2019) vorgelegt. Das Werk schildert eine von der Klimakatastrophe befallene Erde, in der ganze Teile von Unbewohnbarkeit bedroht sind. Im Zentrum des Romans steht eine 10.000 Kilometer lange, fünf Meter hohe, von 100.000 Verteidigern bewachte Mauer, mit der sich das britische Volk vor der „Über33

Zit. nach Müller-Dietz, Literatur, Recht und Staat, GA 156, 2009, S. 699 – 720 (715). Vgl. auch Literarische Utopie-Entwürfe, hrsg. von Hiltrud Gnüg, 1982. 34 In: Kilian (Fn. 19), S. 2. 35 Vgl. Müller-Dietz, Zur negativen Utopie von Recht und Staat etc., JZ 66, 2011, S. 85 – 95.

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flutung“ durch die „Anderen“ – die außerhalb der britischen Insel leben – zu schützen sucht.36

V. Epilog Die hier referierten Beziehungen zwischen Literatur und Recht (II. – III.) verweisen in der Tat auf enge Beziehungen zwischen Literatur und Recht. Sie greifen freilich aus der Vielzahl struktureller Annäherungen und Überschneidungen wohl nur die bedeutsamsten und ins Auge stechendsten heraus. Auf der anderen Seite trennen und unterscheiden die beiden Kulturphänomene Literatur und Recht die im IV. Abschnitt erörterten auseinandergehenden Räume freier Erörterung und Auseinandersetzung gesellschaftlicher Konflikte. Sie zeigen, dass ungeachtet aller Beziehungen zwischen Literatur und Recht doch eine kulturell stark ins Gewicht fallende Differenz zwischen beiden kulturellen Phänomenen besteht.

36 Vgl. etwa die Rezensionen von Burkhard Müller, Eine Mauer um die ganze Insel, in: Die Zeit Nr. 6 vom 31. 1. 2019, S. 41; Martin Halter, Wir oder die Anderen, in: Bad. Zeitung Nr. 26 vom 31. 1. 2019, S. 11.

Die rechten Dinge Von Alfred Nordmann Wenn von rechten Dingen die Rede ist, dann meist sorgenvoll, ob es hier wohl mit rechten Dingen zugeht oder ob nicht irgendein Spuk, womöglich Zauber am Werk ist. Mit rechten Dingen geht es offenbar dann zu, wenn mit offenen Karten gespielt wird, wenn sich alles in der natürlichen Ordnung vollzieht. In nur fünf Spielen hat er jetzt schon zum dritten Mal vier Asse – nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit zwar nicht unmöglich, aber bei so viel Glück kann es eigentlich nicht mit rechten Dingen zugehen. Auch in Abwesenheit jeglichen Beweises erhebt sich der Verdacht, dass wir taschenspielerisch getäuscht wurden. Dabei geht es hier nur um die Alltagserscheinung des Glücksspiels. Aber was, wenn der zuletzt glücklose Jägerbursche Max plötzlich die erstaunlichsten Treffer erzielt – mit Kugeln, die er womöglich in der verwunschenen Wolfsschlucht geschmiedet hat? Mit rechten Dingen geht da im Haushalt seiner Agathe gar nichts mehr zu. Die Bilder fallen von der Wand, eine Taube entpuppt sich als Raubvogel und der Jungfernkranz ist eine Totenkrone. Wer nach den rechten Dingen fragt, will wissen, was am Werk ist. Herrschen hier rechtmäßige Kräfte und geordnete Verhältnisse oder geschieht den verwunschenen, verbogenen, verzerrten Dingen ein Unrecht? Surren die Zahnräder im Uhrwerk gut aufeinander abgestimmt leicht dahin und zeigen die Zeiger ihre Stunden und Minuten mit zwanglosem Eifer – oder geschieht ihnen Gewalt, werden sie in ihre Position gezwungen auf die Gefahr hin, dass sie biegen oder brechen und die Räder sich verzahnen? Der gut funktionierende Mechanismus, die natürliche Ordnung der Dinge, das wohl verrichtete Werk sind angesichts dieser Fragen nicht ein schlicht gegebenes Sein, das kein Sollen impliziert. Sie stellen vielmehr ein normatives Schema dar, nach dem sich der zwanglose Zwang eines unangestrengten, den Dingen gemäßen Geschehens bemisst. Und so ergibt sich provokativ die weitreichendere rechtsphilosophische Frage, ob wir es auch schon mit rechtmäßigen Verhältnissen zu tun haben, wenn es nur mit rechten Dingen zugeht, insofern nämlich das gewaltfreie Zusammenspiel von Menschen und Dingen ein Maß für Gerechtigkeit wäre? Dies mag als Sozialutopie oder als Maschinendystopie gelten. Wie dem auch sei – die Verführungskraft derartig wohl geordneter soziotechnischer Systeme gründet in einer ästhetischen Erfahrung technischen Gelingens, der es trotz aller politischen Vorbehalte nachzugehen lohnt.

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I. „Seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt“ forderte Günter Eich vor gut 70 Jahren unter dem Eindruck historischer Katastrophen, die sich einer allzu großen Anpassungsbereitschaft an die maschinellen Vorgaben totalitärer Regime verdanken.1 Aber wenn alle Rädchen heiß laufen, ins Stocken geraten und sich festfressen, geht es gar nicht mehr zu – und schon gar nicht mit rechten Dingen. Darum verschafft inzwischen und angesichts etwa des 100jährigen Bauhaus-Jubiläums ein durchaus erhebendes, zumindest tröstliches Gefühl, dass wir als Teile eines technisches Funktionszusammenhangs wunderbar aufgehoben sind, auch oder gerade wo kulturelle und politische Identitätsstiftung nicht greift. So schreibe ich diese Zeilen im fremden China als hoffnungslos verlorener Ausländer, der seinen europäischen Tablet Computer nur dazu bringen muss, einen QR-Code zu generieren, um innerhalb von gefühlten Zehntelsekunden meine spottbillige Zahnbürste von einem chinesischen Bankkonto aus zu bezahlen – ein vollwertiger Kunde, sprachlos glücklich eingebunden in einen undurchsichtigen, aber irgendwie gelingenden Zusammenhang. Als Beispiel mag auch ein Europa gelten, das als politische Union von einer Krise in die nächste stolpert, während uns die technische Union stillschweigend verbündet. In derart glücklichen Momenten vergewissern wir uns, dass ein gelingendes Zusammenspiel von Menschen und Dingen möglich ist. Ein durchaus komplizierter Vollzug ist technisch geglückt. So flüchtig sie sein mögen, sind diese Momente Anzeichen, Vorboten oder „Theologen des Glücks“ – eine Bezeichnung Alexander Kluges für die „kleinen“ Gefühle der Ab- und Einstimmung in Zusammenhänge, die wir als freundlich oder unfreundlich, warm oder kalt, zwanglos oder gewaltsam erfahren. Diese auf Ausgleich und Abstimmung, durchaus auch an Passung und somit Angemessenheit orientierten, harmoniesüchtigen Gefühle glauben daran, dass es einen glücklichen Ausgang der Geschichte geben und mit rechten Dingen zugehen kann.2 Kluges Bedeutung als Schriftsteller, Filmemacher, politischer und Technikphilosoph beruht darauf, dass er seinen juristisch geschärften Blick auf den besonderen Fall richtet, in dem sich Recht und Unrecht abspielen, in dem es um gelingende und misslingende Begegnungen geht, geglückte und missglückte Lebensläufe, um die Wechselwirkung kleiner, naher Kräfte und nicht um die Fernwirkung der Prinzipien, Rechtsnormen und Staatslehren. Gegenstand und Methode seiner Arbeit ist die zärtliche Kraft der Sachlichkeit, somit die Aufmerksamkeit für die Dinge als verhärteter Geist und tödlich erstarrter Lebendigkeit.3 Nichts schlimmeres kann dem Menschen passieren, als zum Ding zu werden, gerade auch dann, wenn sie nur noch Gegenstand sind der großen Gefühle, patriotischen Leidenschaften oder erbarmungslos todesverliebten Operndramaturgien (Macht der Gefühle). Und darum gilt es auch, 1

Eich, Günter, Träume, Frankfurt: Suhrkamp, 1953. Kluge, Alexander, Die Macht der Gefühle, Frankfurt: 2001, 1981. 3 Nordmann, Alfred, Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes: Sachlichkeit, Zeitschrift für Kulturphilosophie, Band 8:1, 2014, S. 89 – 99. 2

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die Dinge zum Leben zu erwecken, zur Sprache zu bringen, in gelingende Werkzusammenhänge einzuordnen, als Mit- und Gegenspieler sichtbar zu machen.

II. Die Dinge sagen uns, ob es mit rechten Dingen zugeht. Darauf lässt sich Kluges ästhetisch-politisches Programm gewiss nicht verkürzen, aber es ist ein zentrales Motiv, ein Attraktor oder Gravitationszentrum, das er immer wieder umkreist, kürzlich in einem wenig rezipierten Buch, das in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Dichter Ben Lerner entstand, dem Autor der Lichtenbergfiguren. Der gemeinsam und im Austausch mit Gerhard Richter und Thomas Demand 2018 entstandene Band trägt den Titel Schnee über Venedig und ist gewiss nicht Kluges bestes Buch. Zu selbstverliebt ist es in die transatlantische Intellektuellenfreundschaft, zu prätentiös erscheinen die vielfältigen Querverbindungen zwischen den kryptisch anregenden Sonetten Lerners und der trockenen, gerade darin ungemein aufschlussreichen Kurzprosa Kluges. Wenn Lerner in einem Gedicht aus den Lichtenbergfiguren ein museales Himmelsgemälde besingt und dabei auf die unbehandelte Leinwand stößt, die der Weite und Tiefe des Himmel eher gerecht wird als es der malerische Glanz vermag, hat er das Scheitern seines poetischen Anspruchs benannt angesichts der Kunst Kluges, mittels der bloßen Aufzählung karger, lückenhafter Alltagsspuren Verwundungen sichtbar zu machen, die sich der sprachlichen Eingemeindung und Aneignung entziehen. Immerhin ist sich Lerner dessen ganz bewusst: Das poetische Establishment hat Widerspruch eingemeindet. Das poetische Establishment hat Widerspruch nicht eingemeindet. Sind diese Gedichte einfach nur lahmarschig [cumbersome] Oder sind diese Gedichte eine Kritik der Lahmarschigkeit [cumbersomeness]? Der Himmel hört auf zu malen und wendet sich der Kritik zu. Wir beneiden den Himmel um seine Widersprüche. Wir beneiden den Himmel um seine offene Stellen, unbehandelte Leinwand, ihre stumme Kritik an gemaltem Glanz. […]4

Insofern sich hier so etwas wie eine Wertschätzung der politischen Poetik Kluges ankündigt, greift dieser die Idee einer Kritik durch oder seitens des Himmels in seinen „Vierzehn Geschichten zu Versen von Ben Lerners Lichtenbergfiguren“ auf – und widmet eine dieser Geschichten dem Luftangriff auf Halberstadt. In seinem Werk dient dieses historisch-biografische Ereignis immer wieder als Sinnbild für die Unverhältnismäßigkeit der antogonistisch aufeinander abgestimmten technischen Strategien des himmlischen Bombengeschwaders einerseits, der auf ihr Über4

Kluge, Alexander/Lerner, Ben, Schnee über Venedig, Leipzig, 2018, S. 46, 48.

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leben bedachten Keller- und Straßenbewohner andererseits. Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu und wird die Unmöglichkeit der Versöhnung zwischen den Techniken Oben und den Techniken Unten zu einer Chiffre der Kritik: […] – und dann sind immer noch Nester von Menschengeist im Gange, die sich zu retten und neu einzurichten suchen. Der Angriff der Flugzeuge, eine solche Einwirkung BEWAFFNETER INDUSTRIE, INGENIEURSZENTRIERTER HIMMELSMACHT, enthält einen starken SCHUB VON KRITIK. Im Luftschutzkeller gefragt: Wo war die letzte Abzweigung für mich und meine Kinder, wenn es darum geht, dem Verhängnis, das in zwei Meilen über uns hereinbricht, zu entgehen? Vor zwanzig Jahren? Hätte ich gestern noch entkommen können? Wohin ausweichen? Kenntnis der sicheren Orte ist der Anfang der Philosophie. […] Wäre mein Körper aus Stahl und so biegsam wie eine junge Pappel, ich könnte das Bombenfragment, das mich treffen wird, abfedern. So kritisiert der SICH VERÄNDERNDE HIMMEL OBEN, den Körper, die Sinne und den Geist und fordert dringlich den Homo Novus, wie er zuletzt 1917 von den Biokosmisten der russischen Revolution ins Auge gefasst wurde. Wo Brüder seid Ihr jetzt in meiner Not? Es war genug Zeit, mit Euch in Verbindung zu treten, aber ich war beschäftigt. Ich habe die kristallenen Farben des Himmels abzuzählen versucht. Der Himmel in der Frühe und der Abenddämmerung ist in unseren Breiten ein begabter Maler. […] (Schnee über Venedig, S. 76 f.)

So biegt Kluge die poetologische Wendung Lerners auf den Boden der Geschichte zurück und zur Frage nach den rechten Dingen und der Möglichkeit eines gelingenden Lebens. Lerner wiederum antwortet darauf mit seinen „Langsamen Sonetten für Alexander Kluge“. Hier verbindet er das Motiv des langsam erzählten Luftangriffs mit der auf einer Halberstädter Kirchenorgel auf mehrere Jahrhunderte angelegten Aufführung eines von John Cage komponierten Orgelstücks mit der Tempovorschrift „As SLow aS Possible“. So heißt es in dem Sonett „Halberstadt brennt oder die langsamste Musik der Welt“: Musik berührt ein Gebiet, keinen Punkt Sie steigt an einem Bein hoch und hält das Herz an. […] Körper qualmen zwischen blauen Blumen Die Klangstrukturen bersten oder entstellen […] Der Traum wählt den Schläfer Wie ein Tornado aufsetzt. (S. 128)

Trotz ihrer spezifischen Kalkuliertheit bleiben die Wirkungen von Kunst und Musik, ihre „agency“ unbestimmt. Das allemal wohl-komponierte, wohl-temperierte Zusammenspiel der Dinge nimmt die menschlichen Mitspieler in sich auf und kann sie in einen Wirbel versetzen, der die betuliche Rede von den rechten Dingen unterläuft. Jetzt ginge es erst einmal darum, diesen Wirbel zu verlangsamen, analytisch still zu stellen, aufzuwachen – und hier kommt nun wieder die Kunst ins Spiel,

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aber endlich vielleicht auch Lichtenberg und die Lichtenbergfiguren, wie sie sich manchen Opfern von Blitzschlägen in die Haut schreiben (Schnee über Venedig, S. 347): „Nie wecke ein kollektives Bewusstsein“ Spannung flackert über die Kopfhaut (S. 128)

III. Der etwas merkwürdige, oft ratlos stimmende Verlauf des intellektuell-künstlerischen Dialogs von Lerner und Kluge verdeutlicht die, elektrostatisch gesprochen, Grundspannung des Buchs. Einerseits wird die Zusammenkunft Lerners und Kluges auf einer poetologischen Metaebene angesiedelt – und darum wird andererseits im Gegenzug Nähe und Konkretion behauptet, unter anderem durch Bezugnahme auf die Lichtenbergfiguren. Damit sind nicht etwa rhetorische Figuren und Denkbewegungen gemeint, wie sie Georg Christoph Lichtenberg vollzogen haben könnte. Tatsächlich kommen das Sprachdenken Lichtenbergs, seine Sudelbücher, seine Philosophie bei Kluge und Lerner fast gar nicht oder nur implizit vor – und gehörte ja Lichtenberg bislang ohnehin nicht zu den Referenzautoren Kluges. Wie eine eigens den Lichtenbergfiguren gewidmete „Insel“ im Buch5 und wie es die zahlreichen Abbildungen verdeutlichen, geht es um die experimentelle Technik des Physikers Georg Christoph Lichtenberg, die Spuren elektrischer Entladungen und gewissermaßen die Elektrizität selbst sichtbar zu machen. Aber auch hier fällt zunächst auf, wie wenig Kluge und Lerner eigentlich mit Lichtenberg und den Lichtenbergfiguren anzufangen wissen, als fehle den durchaus akribischen Autoren die detailreiche Kenntnis des Problemzusammenhangs, der spielerischen Entwicklung und symbolischen Bedeutung der Lichtenbergfiguren.6 Insbesondere Kluges den Band beschließenden 9 Geschichten über „Lichtenberg und die Elektrizität“ strapazieren die Geduld von Lichtenberg-Kennern und Wissenschaftshistorikern: Darf der ästhetisch rätselhafte Unterschied von „positiven“ und „negativen“ Figuren wirklich so ganz verschenkt werden, auch der Vergleich zu Eisblumen oder ihre Verwandtschaft zu Chladnis Klangfiguren? Ist nicht das Lesen mit dem durch Elektrizität erzeugten Licht etwa ganz anders als die Lesbarkeit elektrischer Ereignisse. Kluge vermengt beides heillos, wenn er nahtlos übergeht von der „Sichtbarkeit der Elektrizität“ in Glühbirnen und Kinoprojektoren zur Sichtbarmachung „elektrischer Bewegungen,“ bzw. Entladungserscheinungen. Aber all diese Vorwürfen sollten nicht zu schnell gemacht werden, dürfen nicht schon das letzte Wort sein. Dafür werden zu viele Spuren gelegt, die sich als anregend 5

Lerner, Ben, The Lichtenbergfigures, Port Townsend: Copper Canyon Press, 2004; Die Lichtenbergfiguren, übersetzt von Steffen Popp, Wiesbaden: Lux, 2011, 337 – 355. 6 Hamanaka, Haru, Erkenntnis und Bild: Wissenschaftsgeschichte der Lichtenbergischen Figuren um 1800, Göttingen: Wallstein, 2015.

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erweisen können. Gerade Kluges und Lerners reduzierte, nur bruchstückhafte, im Wortsinn zerstreute Aufmerksamkeit für die Lichtenbergfiguren verschafft ihnen Raum, die Fragen der Sichtbarkeit, der Beständigkeit, der Nah- und Fernwirkungen, der unschlüssigen Zugänge und des technischen Gelingens permanent zu umkreisen. Kluges neun Geschichten lassen sich nicht wirklich auf ein Narrativ reduzieren. Wer es dennoch versuchen wollte, stößt aber vielleicht auf eine Geschichte technischen Gelingens dort, wo intellektuelle Bestrebungen scheitern – und somit auf elektrische Figuren, die die vergebliche Bemühung um ihr Verstehen ästhetisch überdauern und überstrahlen.7 Lichtenbergs intellektuelle Problemlage erscheint bei Kluge in etwa so8 : Hier ist ein Denker, der darum weiß, wie willkürlich es ist, den Gesichtssinn gegenüber dem Tasten und Schmecken zu privilegieren, der dennoch frustriert ist, dass elektrische Phänomene nur im Dunkeln zu sehen seien und dem Gesichtssinn nichts Beständiges bieten – und der darum glücklich ist, mit dem Elektrophor ein Aufzeichnungsgerät gefunden zu haben, das die Spur eines Blitzes festzuhalten vermag, der aber gleichzeitig unglücklich sein müsste, weil er zwar Buchstaben erzeugen kann, die sich einer gelenkten Entladung verdanken, der diese Spuren aber dennoch nicht lesen kann. Was Kluge an dieser Stelle gewinnbringend hätte einbeziehen können: Dass Lichtenberg diesen unauflösbaren Zwiespalt auch im so genannten Physiognomik-Streit klar benannt hat. In der Welt der Dinge ist jede Spur bedeutungsvoll – die Staubspur der elektrischen Entladung, der Kratzer auf dem metallenen Essgeschirr, das kleinste Fältchen im Gesicht des Menschen.9 Dies sind die Spuren, für die sich auch Lerner und Kluge interessieren. Jede hat ihre Ursache oder ihren Grund, aber wir können sie nicht lesen. Der Physiognom Lavater hat Recht, dass dem Menschen ins Gesicht geschrieben steht, wer er war und wer er ist, aber er hat Unrecht, wenn er sich anmaßt, diesen hieroglyphischen Text lesen zu wollen. Er kann und soll dies nicht, so wenig wie Lichtenberg seine Staubfiguren zu entziffern verstand. Zunächst geht also alles mit rechten Dingen zu, es gibt kein Mysterium des Gesichts, nur die unterhaltendste Fläche der Erde.10 Aber es geht längst nicht mehr mit rechten Dingen zu, wenn ein Lavater sie zu zwingen sucht, wenn Spuren und Zeichen zurechtgebogen und ausgepresst werden, damit sie sich in allein dem Leser bequeme Deutungsmuster fügen. Dem Misslingen der intellektuellen Anspannung steht das technische Gelingen gegenüber und die entspannte Leichtigkeit des fallenden Staubs, der rätselhaft schöne Muster bildet und sogar dem Verlauf eines auf den Elektrophor gelegten Kettchens folgt, wodurch er ganz unangestrengt auch zeichenhafte Muster hervorbringen kann. 7 Vgl. Nordmann, Alfred, Vor-Schrift – Signaturen der Visualisierungskunst, in: Wolfgang Krohn (Hrsg.), Ästhetik in der Wissenschaft: Interdisziplinärer Diskurs über das Gestalten und Darstellen von Wissen, Hamburg: Meiner, 2006, S. 117 – 129. Zum Halberstädter Orgelprojekt siehe www.aslsp.org. 8 Kluge, Alexander/Lerner, Ben, Schnee über Venedig, Leipzig, 2018, S. 337 – 355. 9 Lichtenberg, Georg Christoph, Über Physiognomik, in: Wolfgang Promies (Hrsg.), Schriften und Briefe, Dritter Band, Darmstadt: WBG, 1972, 265. 10 Lichtenberg, Georg Christoph, Sudelbücher, München: Hanser, 1973, F 88.

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Die ästhetische Produktivität seines Elektrophors hat Lichtenberg durchaus gewürdigt, aber wahrhaft zelebriert und als Technik entwickelt hat sie Adolph Traugott von Gersdorf, aus dessen Görlitzer Werkstatt die meisten Bilder in Schnee über Venedig stammen.11 Und wieder hätte Kluge an dieser Stelle gewinnbringend Lichtenberg zitieren können, wenn dieser nämlich die angespannt gewaltsame amerikanische Revolution und Entmachtung des englischen Königs kontrastiert mit der entspannt gelingenden Leichtigkeit, die den Namenszug des Königs als Lichtenbergische Staubfigur erzeugt. Mit Anspielung auf den von ihm bewunderten amerikanischen Aufklärer und blitzesammelnden Elektriker berichtet er in einem Brief von einer öffentlichen Vorführung seiner elektrostatischen Schreibkunst: „Als ich sagte ich wolte nun, in einem Zug, ein GR [Georgius Rex] schreiben, das selbst Franklin respektiren würde, da hätten sie sehen sollen, wie alles drückte und als es mir ohne Anstoß gelang, so legten einige die Hände vor Verwunderung zusammen.“12 Und schon wieder geht es auch darum, was es politisch heißen könnte, sich nicht der gewaltsamen Ästhetik des Manifests, der Revolution, des dramaturgischen Entwurfs zu fügen, sondern die ästhetischen Bedingungen des technischen Gelingens „ohne Anstoß“ aufzusuchen und am Lauf der Dinge und des Lebens zu partizipieren.

IV. Im Zusammenhang seiner Kritik an Goethes Werther und der spektakulären Inszenierung amorpher, aber todessehnsüchtig großer Liebesgefühle, formuliert Lichtenberg ein ästhetisches Gegenprogramm der Sachlichkeit, das Alexander Kluge in für sich abgewandelter Form verfolgt und das sich auch durch das dialogisch mit Lerner verfasste Buch zieht: […] Jedes Gefühl unter dem Mikroskop betrachtet läßt sich durch ein Buch durch vergrößern. Ist es nötig oder ist es gut? es ist genug, wenn nur jene dunklen Gefühle uns zum Guten stärken, und dann kann man die Entwickelung Müßiggängern überlassen. Meine Hand im Schlaf auf eine Falte eines seidenen Vorhangs geschlagen, diese Empfindung kann zu einem Traum aufwachsen und blühen dessen Beschreibung ein Buch erfordert. [F 500]

So vielleicht spüren wir den rechten Dingen nach und ob es mit rechten Dingen zugeht in der Welt. Angesichts des Anspruchs auf große Gefühle und starke Bilder entspricht dieses Verfahren einer im Gespräch von Kluge und Lerner entwickelten negativen Theologie: „Vielleicht muss man mit einer Intensität lesen, welche die Kunstgriffe wegbrennt,“ erklärt Lerner und huldigt den Moment, in dem im Kino die Lichter ausgehen und elektrische Spannung über die Kopfhaut zu flackern be-

11

Vgl. Herrmann, Constanze, Das physikalische Kabinett zu Görlitz und das wissenschaftliche Vermächtnis des Adolph Traugott von Gersdorf, Görlitz: Gunter Oettel, 2016. 12 Lichtenberg, Georg Christoph, Brief an Schernhagen, Februar 1778, in: Ulrich Joost/ Albrecht Schöne (Hrsg.), Briefwechsel Band 1, München: Beck, 1983, Nr. 450.

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Alfred Nordmann

ginnt: „es gibt etwas in diesem Moment der reinen Möglichkeit … Es ist der Schimmer einer anderen Ordnung, einer anderen Welt“ (Schnee über Venedig, S. 163, 176): Du hörst nicht zu. Tut mir leid. Ich dachte daran Wie die Schönheit deines Singens die Hoffnung Wieder einträgt, deren Tod es verkündet. (S. 200)

Wenn es mit rechten Dingen zugehen soll, müsste sich aus dem Spiel möglicher Ordnungen ein Modus der Teilnahme und des glücklichen Mitvollzugs ergeben, der nicht auf Darstellung oder Nachahmung zielt – dann darf nicht der letzte Funke Verstand an Abbildung verschwendet werden (vgl. Schnee über Venedig, S. 50 und 163). Und eben dies leisten die Lichtenbergfiguren bezüglich des Phänomens der Elektrizität: Was nicht abgebildet werden kann, kann doch eine Bewegungsspur erzeugen, die ein Lichtenberg mit-erzeugt, moduliert, nachvollzieht, ohne Anstoß und mit Leichtigkeit. Das letzte Wort hierzu soll Kluge haben und sein Bericht aus einem Friseursalon, in dem ein erzählendes Ich Modemagazine durchblättert mit der zerstreut kritischen Aufmerksamkeit eines Kinogängers. Dabei gelangt Kluge zu einer erstaunlichen Wendung wie so oft, wenn er seine Leser kompositorisch zu beglücken vermag: Die Lippe des Models auf Seite 13 würde auf das Gesicht des sehr ernsten Mädchens (eines Modells, das für Uhren wirbt) auf Seite 24 passen. Sie alle können nicht konkurrieren mit dem unsichtbaren Bild einer Frau, das ich in mir trage und vermutlich selbst bin. Nochmals schaue ich auf die Linie des Modells von Seite 64. Schon kommt die Haarwäscherin. Mit winzigen Skalpellen oder Magneten haben die Abbildungen „Verstand“ aus mir herausgezogen. Das, was das unsichtbare Bild wie ein Brettergestell, von dem aus die Redner sprechen, stützt. Das innere Bild liegt durcheinander da. Spielzeug, das verlorenging. Magda wird es finden. (Schnee über Venedig, S. 163 f.)

Die andere Ordnung als reine Möglichkeit muss immerhin eine Ordnung sein, in der es irgendwie zugeht, der Lauf der Dinge und des Lebens in Bretter gestellt, damit wir mit Herz und Hand, Glück und Verstand teilnehmen können an Vollzügen, von denen wir dann sagen können, ob sie gelingen und wie, und ob es zwanglos zugeht und leicht, mit rechten Dingen.

II. Politische Philosophie und Rechtsphilosophie

Eine kontraktualistische Rechtfertigung von Freiheit Von Michael Pauen

I. Einleitung Zwar hat sich die Diskussion um das Problem der Willensfreiheit in der letzten Zeit etwas beruhigt, doch das ist wohl eher ein Zeichen von Ermüdung als ein Indiz für echte Fortschritte in der Sache. Im Gegenteil: Verfechter und Gegner der Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus stehen einander so unerbittlich gegenüber wie seit jeher. Ich bin sicher, dass sehr starke Argumente für diese Vereinbarkeit sprechen: Die Abwesenheit von Determination führt nicht zu einem Mehr an Freiheit, sondern zu einem Weniger an Kontrolle.1 Aber um die vorherrschende Ermüdung nicht durch die Wiederholung dieser primär begrifflichen Überlegungen weiter zu verstärken, möchte ich hier einen anderen Weg gehen. Ich werde zur Rechtfertigung eines kompatibilistischen Begriffs von Freiheit auf ein kontraktualistisches Argumentationsmuster zurückgreifen, das sich schon bei den Theoretikern des Sozialvertrags im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, also bei Hobbes, Locke und später bei Rousseau findet. Diese Autoren haben versucht zu zeigen, dass ein Vertrag, der Sicherheit garantiert und im Gegenzug Rechtssysteme einschließlich der mit ihnen verbundenen Freiheitseinschränkungen einführt, im wohlverstandenen Interesse aller Beteiligten liegt. Selbst ein Volk von Teufeln, so Kant in der Schrift Zum ewigen Frieden, würden trotz seiner bösartigen Absichten letztlich in einem Staat enden, solange es rational seine eigenen Interessen verfolgt.2 Der allgemein unterstellte Grund ist, dass ein staatliches Rechtssystem für alle Bürger attraktiv ist, weil es ihrem Leben, ihrer Gesundheit und ihren Gütern einen Schutz bietet, der im Naturzustand unerreichbar ist. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass man mit dieser Argumentationsstrategie auch zur Rechtfertigung einer kompatibilistischen Theorie von Freiheit gelangt. Mit den klassischen Vertragstheoretikern gehe ich davon aus, dass Gesellschaften Regeln benötigen und diese Regeln durch Sanktionen gestützt werden müssen. 1

Vgl. hierzu: Pauen, Michael, Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt/M. 2004. 2 Kant, Immanuel, Zum ewigen Frieden, in: ders., Gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff., Bd. VIII, S. 366.

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Mein entscheidender Punkt ist, dass diese Sanktionen wiederum nur dann wirkungsvoll und akzeptabel sind, wenn sie ausschließlich gegen diejenigen verhängt werden, die in einem kompatibilistischen Sinne frei gehandelt haben. Anders ausgedrückt: Eine kompatibilistische Freiheitsvorstellung liefert Kriterien, die sicherstellen, dass staatliche Sanktionen bei Normverletzungen einerseits wirksam und für die Bürger, die mit solchen Sanktionen rechnen müssen, andererseits auch annehmbar sind. Ich werde ein solches System von Sanktionen im Folgenden als „qualifiziert“ bezeichnen. Meine These lautet also, dass es für die Bürger sinnvoll ist, einen Vertrag einzugehen, der einerseits ihre substantiellen Interessen an Leben, Leib und Eigentum schützt, sie auf der anderen Seite aber einem System von Sanktionen unterwirft, die notwendig sind, um die Wirksamkeit der Regeln sicherzustellen. Bedingung dafür ist, dass es sich um ein qualifiziertes System handelt, welches normverletzende Handlungen nur dann sanktioniert, wenn die Urheber im kompatibilistischen Sinne frei gehandelt haben. Die skizzierte kontraktualistische Argumentation dient wie gesagt nicht dem Nachweis, dass ein kompatibilistischer Freiheitsbegriff einer inkompatibilistischen Konzeption begrifflich oder normativ überlegen ist. Gezeigt wird vielmehr, dass es aus Sicht von Bürgern und staatlichen Autoritäten schon allein aus rein pragmatischen Gründen sinnvoll ist, eine solche Konzeption bei der Zumessung von staatlichen Sanktionen zugrunde zu legen. 1. Ein kompatibilistischer Freiheitsbegriff Zunächst möchte ich kurz den kompatibilistischen Freiheitsbegriff skizzieren, um dessen kontraktualistische Rechtfertigung es im Folgenden gehen soll. Ausgangspunkt ist die weithin akzeptierte Annahme, dass freie Handlungen nach zwei Richtungen abgegrenzt werden müssen: Zum einen gegenüber erzwungenen oder von außen determinierten Handlungen. Erzwungene oder sonstwie nicht durch den Akteur selbst bewirkte Handlungen sind nicht frei; man kann den Akteur für solche Handlungen auch nicht verantwortlich machen. Freiheit, so kann man diese Forderung auch umschreiben, erfordert Autonomie. Zum zweiten müssen freie Handlungen auch zufälligen Geschehnissen abgegrenzt werden. Freiheit begründet Verantwortung, doch wie will man eine Person für ein Geschehnis verantwortlich machen, das ganz unabhängig von ihr zustande gekommen ist? Freiheit, so kann man diese Forderung umschreiben, erfordert auch Urheberschaft. Beiden Forderungen, der nach Autonomie und der nach Urheberschaft, kann man sehr einfach dadurch gerecht werden, dass man Freiheit als Selbstbestimmung versteht. Selbstbestimmung wird zum einen der Forderung nach Autonomie gerecht, denn wer gezwungen oder von außen gelenkt wird, der ist nicht selbst-, sondern

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fremdbestimmt. Gleiches gilt für die Forderung nach Urheberschaft. Wer sie verletzt, der ist nicht selbst-, sondern überhaupt nicht bestimmt. Positiv gesprochen, verlangt Selbstbestimmung, dass man Wünsche und Überzeugungen besitzt, an denen sich das eigene Handeln orientieren kann. Allerdings taugt nicht jeder Wunsch, den man besitzt, zu selbstbestimmtem Handeln. Jemand, der aufgrund einer Alkoholabhängigkeit ständig den Wunsch nach Alkohol verspürt, handelt sicher nicht frei, wenn er diesem Wunsch folgt. Von einem eigenen Wunsch oder einer eigenen Überzeugung kann daher nur bei solchen Wünschen und Überzeugungen gesprochen werden, die der eigenen Kontrolle unterliegen. Und das soll hier bedeuten, dass man die Wünsche und Überzeugungen aufgeben kann, sofern man dies will. Genau dies gilt bei einem Abhängigen für den Wunsch nach der Droge nicht. Halten wir also fest, dass dieser Konzeption zufolge von einer freien bzw. selbstbestimmten Handlung dann die Rede sein kann, wenn die eigenen Wünsche und Überzeugungen eines Akteurs erklären, warum dieser sich für eine Handlung x und gegen die Handlung y entscheidet. Dabei gilt für die eigenen Wünsche und Überzeugenden, dass sie der Kontrolle des Akteurs unterliegen. Verletzt eine Person mit einer in diesem Sinne selbstbestimmten Handlung eine rechtliche oder moralische Norm, so kann sie hierfür verantwortlich gemacht und gegebenenfalls auch bestraft werden. 2. Pragmatische statt metaphysischer Fragen Der vorliegende Beitrag wird diese Konzeption nicht mit begrifflichen oder normativen, sondern mit pragmatischen Argumenten verteidigen. Gezeigt werden soll also, dass die für eine Gruppe konstitutiven Regeln durch ein System von Sanktionen gestützt werden müssen, damit das Zusammenleben in der Gruppe funktioniert. Diese Sanktionen wiederum sind nur dann wirksam und akzeptabel, wenn sie nur auf selbstbestimmte Normverletzungen angewandt werden. Der wichtigste Vorteil des vorliegenden Ansatzes ist dabei, dass er hartnäckigen Problemen aus dem Weg geht, die aus metaphysisch oder religiös begründeten Intuitionen stammen und sich z. T. seit langem erhalten haben. Hierzu gehört z. B. die Vorstellung dass, Freiheit weder in einer deterministischen noch in einer indeterministischen Welt möglich sei; eine Vorstellung, die u. a. von Galen Strawson vertreten worden ist.3

3 Strawson, Galen, Consciousness, Free Will, and the Unimportance of Determinism, in: Inquiry 32, 1989: S. 3 – 27.

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II. Voraussetzungen 1. Allgemeine Voraussetzungen Wie bereits erwähnt, basiert der vorliegende Ansatz auf zwei Voraussetzungen, die, soweit ich das sehen kann, wenig umstritten sind. Die erste Voraussetzung teilt mein Vorschlag mit den klassischen Sozialvertragstheorien. Er lautet, dass Gruppen Regeln – im weitesten Verständnis des Wortes – benötigen, um die Interessen ihrer Mitglieder zu schützen. Natürlich kann man diese Interessen nicht allgemein festlegen, schließlich halten unterschiedliche Personen unterschiedliche Dinge für unverzichtbar. Zumindest bei Staaten und staatsähnliche Gemeinschaften, auf die ich mich im Folgenden konzentrieren werde, zählen Leben, Leib und Besitz der Bürger zu den Gütern, die unter staatlichem Schutz stehen. Seit der Antike geschieht dies in zunehmendem Maße durch formale Rechtssysteme mit festgelegten Sanktionen. Angesichts der Tatsache, dass Menschen diese Interessen anderer nicht von Natur aus respektieren, benötigen wir Regeln, um sie zu schützen. Regeln also, die verbieten, dass die Mitglieder einer Gruppe einander umbringen, einander verletzen oder einander um ihr Eigentum bringen. Es wäre widersinnig, würde ich mich einem Staat anschließen, in dem ich damit rechnen müsste, getötet zu werden, in der meine körperliche Integrität nicht geschützt würde, oder in der sich jeder meinen Besitz aneignen könnte. Die bedeutet nicht, dass ich vollkommene Sicherheit gegenüber derartigen Risiken erwarten kann. Aber eine Gruppe, die noch nicht einmal ernsthafte Versuche zu meinem Schutz unternimmt, wäre für mich sicherlich äußerst unattraktiv. Die zweite Voraussetzung lautet, dass Regeln durch Sanktionen bewehrt sein müssen, um wirksam zu werden. Es reicht also nicht einfach aus, irgendwelche Regeln zu verkünden, vielmehr muss eine Gruppe sich auch darum kümmern, dass sie eingehalten werden. Und dazu gehört, dass eine Gruppe deutlich macht, welche Sanktionen zu erwarten sind, wenn jemand die Regeln verletzt. Dies erscheint nicht nur an sich plausibel, es wird durch die Geschichte bestätigt, und seit einiger Zeit gibt es auch empirische Belege für diese Annahme. So konnten Fehr und Gächter zeigen, dass die Bereitschaft, Beiträge für eine Gemeinschaftskasse zu leisten, drastisch anstieg, sobald die Möglichkeit bestand, Verweigerer zu bestrafen, und zwar auch dann, wenn das Strafen aufwendig war. Gingen die Verweigerer dagegen straffrei aus, dann sank die Bereitschaft immer weiter ab, bis schließlich nur noch eine kleine Minderheit ihre Beiträge leistete.4 Sanktionen können unterschiedliche Formen annehmen. Man kann einfach seine Missbilligung äußern, Mitbürger können informelle Vorwürfe erheben, man kann einen Regelverletzer lächerlich machen, oder ihm die Gefolgschaft verweigern. Auf diese Weise stellten z. B. steinzeitliche Horden sicher, dass ihre Führer sich

4

40.

Fehr, Ernst/Gächter, S., Altruistic punishment in humans, in: Nature 415 (2002) S. 137 –

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nicht zu viel Macht aneigneten.5 In formalisierten Rechtssystemen gibt es dann im Allgemeinen vorher festgelegte Strafen, die in Geldbeträgen, Arbeitsleistungen, dem Entzug von Freiheit, dem Ausschluss aus der Gruppe, in eher archaischen Systemen auch in der Tötung des Regelverletzers bestehen können. Doch ganz egal, wie die Sanktionen im Einzelnen aussehen; der entscheidende Punkt ist, dass es nur schwer möglich ist, eine Regel ohne Sanktionen zu etablieren. Dies gilt auch außerhalb von Staaten: Bei Fußballspielen tritt dies schon dann zutage, wenn ein Schiedsrichter nur etwas zögerlich bei der Verhängung von Strafen ist. Und selbst auf akademischen Konferenzen kann man beobachten, dass Redner die festgelegten Zeiten immer weiter überziehen, sofern der Sitzungsleiter nicht einschreitet. In staatlichen Verbänden spielt hier das Gewaltmonopol eine zentrale Rolle, das für Max Weber ein Definitionskriterium von Staatlichkeit ist.6 Existiert ein solches Monopol nicht, dann schränkt dies die Fähigkeit des Staates massiv ein, Leben, Gesundheit und Eigentum seiner Bürger zu schützen. Steven Pinker hat gezeigt, dass die Einführung des staatlichen Gewaltmonopols in Europa zu einem dramatischen Rückgang der Gewaltkriminalität geführt hat: So hat sich z. B. die Zahl der Mordopfer in England seit dem 15. Jh. von 24 auf 0,6 pro 100.000 Einwohner verringert.7 Umgekehrt droht ein Staat, der diesen Schutz nicht gewährleisten kann, auf die Dauer zu scheitern.8 2. Individuelle Voraussetzungen Regeln und Sanktionen können die substantiellen Interessen von Gruppenmitgliedern allerdings nur dann schützen, wenn die Gruppenmitglieder ihrerseits in der Lage sind, den Regeln zu folgen und auf die Sanktionen zu reagieren. Konkret bedeutet das zunächst, dass sie die Regeln verstehen, dass sie also wissen, was sie tun dürfen und was nicht, wenn sie die Regeln einhalten wollen. Während viele der basalen Regeln einfach zu verstehen sind, mag dies z. B. bei der Steuergesetzgebung schwierig sein. In jedem Falle bedeutet die Forderung, dass man gewisse kognitive Voraussetzungen erfüllen muss, um sich den Regeln entsprechend zu verhalten. Aber es reicht nicht, dass man weiß, was zu tun ist. Notwendig ist außerdem, dass die Mitglieder einer Gruppe dieses Wissen in die Tat umsetzen und tatsächlich den 5

Boehm, Christopher, Egalitarian Behavior and Reverse Dominance Hierarchy, in: Current Anthropology 34 (1993) S. 227 – 254. 6 „Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes … das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht.“ Weber, Max, Gesammelte politische Schriften. Hrsg. von Johannes Winckelmann. 5. Auflage, Tübingen 1988 (1. Auflage 1921), S. 506. 7 Pinker, Steven, A History of Violence, in: The New Republic, 19. 3. 2007. 8 Stewart, Patrick, ,Failed‘ States and Global Security: Empirical Questions and Policy Dilemmas, in: International Studies Review 9, 2007, S. 644 – 662.

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Regeln entsprechend handeln können. Ein typischer Fall für eine Person, die dieser Voraussetzung nicht gerecht wird, ist ein nikotinabhängiger Raucher, der weiß, dass er in einem bestimmten Raum nicht rauchen darf, aber aufgrund seiner Sucht nicht davon ablassen kann. Einigen Philosophen zufolge leiden solche Personen unter einer „Willensschwäche“. Aber wie auch immer man die Regelverletzungen dieser Person beschreiben will: Es scheint klar, dass die Unfähigkeit dieser Person primär keine kognitive, sondern eine volitionale Ursache hat. Halten wir also fest, dass zur Befolgung von Regeln neben kognitiven auch volitionale Fähigkeiten erforderlich sind. Man muss nicht nur erkennen, was man tun sollte, sondern man muss auch imstande sein, das Erkannte in die Tat umzusetzen. 3. Schuld, Vorwürfe und Strafe Die skizzierten Voraussetzungen liefern die Basis für das zentrale Argument dieses Beitrags, nämlich dass es starke pragmatische Gründe für einen kompatibilistischen Begriff von Willensfreiheit gibt. Warum ist das so? Sprechen wir zuerst darüber, warum wir jemanden für verantwortlich halten, warum wir jemanden beschuldigen und bestrafen, nachdem er eine Regel gebrochen hat.9 Folgt man einer retributiven Theorie der Strafe, wie sie vor allem deontologischen Ansätzen in der Ethik entspricht,10 dann stellt Strafe einen Ausgleich für Schuld dar. Die Erwartung, dass Strafe von weiteren Normverletzungen abhalten könnte, spielt diese Theorie zufolge keine Rolle für die Rechtfertigung von Strafe. Solche Erwartungen stehen dagegen im Zentrum präventiver Straftheorien: Sie rechtfertigen Strafen mit dem Hinweis darauf, dass auf diese Weise zukünftige Normverletzungen verhindert werden können. Dabei soll die Strafe nicht nur den Bestraften selbst, sondern auch andere Mitglieder seiner Gruppe von zukünftigen Normverletzungen abschrecken. Wie nicht anders zu erwarten, weisen beide Theorien eine Reihe von Problemen auf: Die Retributionstheorie hat z. B. damit zu kämpfen, dass das Verhältnis zwischen Normverletzung und Strafe oft sehr unklar ist. Wenn die Schuld sich auf materielle Güter bezieht, dann kann man durch die Zahlung einer bestimmten Summe einen Ausgleich erzielen – doch inwiefern kann man von einem Ausgleich oder von Vergeltung sprechen, wenn eine Vergewaltigung durch eine bestimmte Zeit im Gefängnis bestraft wird? Ich werde im Folgenden ausschließlich Gebrauch von präventiven Gesichtspunkten machen, dennoch glaube ich, dass das Ergebnis auch für Vertreter retributiver Theorien akzeptabel sein sollte.

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Vgl. hierzu: Kaiser, Hanno, Widerspruch und harte Behandlung. Zur Rechtfertigung von Strafe, Berlin 1999. 10 Kant, Immanuel, Metaphysik der Sitten, in: ders., Gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff. Bd. VI, 332.

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III. Das kontraktualistische Argument Mein zentrales Argument lautet nun, dass es unter den genannten Voraussetzungen für jeden Bürger rational ist, einen Vertrag mit dem Staat zu akzeptieren, sofern dieser Vertrag einerseits Schutz von basalen Gütern wie Leben, Gesundheit und Eigentum bietet, andererseits aber eine Verpflichtung auf diejenigen Regeln enthält, die für den Schutz dieser Güter erforderlich sind. Und da dieser Schutz nur gewährleistet werden kann, wenn die Regeln durch Sanktionen gestützt werden, muss der Vertrag auch die Unterwerfung unter diese Sanktionen umfassen. Rational11 ist diese Unterwerfung allerdings nur solange, wie die Sanktionen tatsächlich effektiv und zielgenau sind, was wiederum voraussetzt, dass sie den wahren Urheber der Normverletzung treffen: Kein Bürger hat ein Interesse daran, sich einem ineffektiven System von Sanktionen zu unterwerfen, genauso wenig kann er Sanktionen akzeptieren, von denen er befürchten muss, dass sie ihn auch dann treffen können, wenn er nicht der wahre Urheber einer Rechtsverletzung ist. Ich werde im weiteren Verlauf zu zeigen versuchen, dass eine kompatibilistische Theorie der Willensfreiheit ein Kriterium für die Verhängung von Sanktionen liefert, welches genau diese Anforderungen erfüllt: Es sorgt einerseits dafür, dass die wahren Urheber einer Normverletzung bestraft werden können, und macht das Sanktionssystem damit effektiv. Auf der anderen Seite schützt es alle diejenigen vor Sanktionen, die sich ernsthaft um die Einhaltung der Normen bemühen. Dies ist eine entscheidende Voraussetzung für die rationale Zustimmung der Bürger und führt zu einer weiteren Steigerung der Effektivität der Sanktionen. 1. Effektivität Dem oben skizzierten kompatibilistischen Freiheitsbegriff zufolge ist eine Handlung frei, wenn sie selbstbestimmt ist, was wiederum bedeutet, dass die Wünsche und Überzeugungen des Urhebers eine Erklärung dafür liefern, dass er diese und keine andere Handlung ausgeführt hat, also z. B. die Norm gebrochen und nicht eingehalten hat. Eine Sanktionierung solcher Handlungen ist vor allem deshalb effektiv, weil der Urheber bei der Entscheidung für die Normverletzung die Sanktionsdrohung berücksichtigen kann, schließlich betrifft diese Drohung seine basalen Bedürfnisse nach Freiheit und Eigentum. Dies gilt insbesondere, wenn er sich – selbstbestimmt – für die Normverletzung entscheidet. Es ist anzunehmen, dass die tatsächliche Erfah11

Diese Rationalitätsforderung ist wichtig, weil es durchaus möglich ist, dass ein diktatorisches Regime die Bürger zu einer Zustimmung zu terroristischen Praktiken veranlasst, die den skizzierten Forderungen nicht entsprechen. Eine Zustimmung der Bürger wäre in diesem Falle faktisch möglich, doch sie wäre nicht rational. Insofern enthält der vorliegende Ansatz ein gewisses normatives Moment, das jedoch keinerlei ethische Implikationen hat. Auch Kants Teufel können über diese Rationalität verfügen, weil sie einsehen, dass sie ihre teuflischen Interessen am besten unter dem Schutz eines Staates mit einem durch qualifizierte Sanktionen bewehrten Rechtssystem realisieren können.

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rung der Sanktion in zukünftigen Fällen selbstbestimmter Handlungen noch einen stärkeren Einfluss auf seine Entscheidungen haben wird als die bloße Drohung. In jedem Falle kann man sagen, dass ein ein selbstbestimmter Urheber ansprechbar für Sanktionen ist und, da er nach seinen Überzeugungen handelt, auch für die Begründung der Normen, die betroffen sind – schließlich geht es bei solchen Begründungen darum, die Normen aus möglichst allgemein geteilten Überzeugungen abzuleiten. Umgekehrt wäre eine Sanktionierung nicht-selbstbestimmter Handlungen schon allein deshalb nicht effektiv, weil es in diesem Falle qua Voraussetzung nicht von den Wünschen und Überzeugungen des Urhebers abhing, ob dieser die Handlung ausführen würde oder nicht. Grund dafür kann z. B. sein, dass der Urheber unter physischen oder psychischen Zwängen stand. Es ist daher nicht zu erwarten, dass eine Sanktionierung Normverletzungen in zukünftigen vergleichbaren Fällen verhindert: Weder die Drohung noch der Vollzug der Sanktion kann an den Zwängen etwas ändern. Auch mögliche Überzeugungen des Urhebers z. B. bezüglich der Rechtfertigung der Normen würden hier keine Rolle spielen. Was die fragliche Handlung angeht, ist der Urheber also weder für rechtfertigende Argumente noch für Sanktionsdrohungen ansprechbar.12 Effektiv wäre ggfs. nur eine Therapie innerer Zwänge oder aber eine Sanktionierung des wahren Urhebers der äußeren Zwänge. Ein System, das auf die Qualifikation durch den skizzierten Freiheitsbegriff verzichtet, wäre aber auch deshalb weniger effektiv, weil es die Motivation untergräbt: Wenn ich trotz ernsthafter Bemühungen damit rechnen müsste, bestraft zu werden, warum sollte ich diese Bemühungen dann noch auf mich nehmen? Schließlich würde damit auch die Akzeptabilität des Sanktionssystems leiden: Warum sollte ich ein System akzeptieren, das mich für Normverletzungen bestraft, deren Vermeidung gar nicht in meiner Macht lag? Die Beschränkung der Sanktionen auf selbstbestimmte Handlungen stellt also nicht nur sicher, dass das Sanktionssystem effektiv ist, vielmehr gibt es mir immer die Möglichkeit, einer Strafe zu entgehen, und steigert damit die rationale Akzeptabilität des Systems, bzw. des Vertrags, der das System etabliert. 2. Funktion des kompatibilistischen Freiheitsbegriffs Damit zeichnet sich in der Tat ab, dass sich ein kompatibilistischer Freiheitsbegriff pragmatisch rechtfertigen lässt. Man kann sich also nicht nur darauf berufen, dass es ungerecht ist, jemanden für Handlungen zu bestrafen, für die er oder sie gar nicht verantwortlich war. Natürlich ist das ungerecht. Aber hier kommt es darauf an, dass die Forderung nach Freiheit und Verantwortung gerechtfertigt werden kann, ohne sich auf diese Ungerechtigkeit zu berufen. Ausreichend sind die pragmatischen 12 Ob dies generell für den betreffenden Urheber gilt, hängt davon ab, wie spezifisch die Einschränkung seiner Freiheit ist. Ein momentan wirkender physischer Zwang schließt nicht aus, dass der Urheber ansonsten für Argumente und Sanktionsdrohungen ansprechbar ist, eine dauerhafte psychiatrische Störung könnte dies sehr wohl tun.

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Notwendigkeiten einer Gesellschaft, die die basalen Interessen ihrer Mitglieder schützen will, und dazu ein Sanktionssystem benötigt. Ein solches System muss wirksam und für die Mitglieder dieser Gesellschaft akzeptabel sein. Wirksam kann es nur sein, wenn es die wahren Urheber einer Handlung trifft. Die Bestrafung Unschuldiger dagegen wäre kontraproduktiv, schließlich könnte man sich dann nicht mehr durch die Beachtung von Normen vor Strafe schützen. Das würde nicht nur die Wirksamkeit, sondern auch die Akzeptabilität des Sanktionssystems untergraben. Sanktionsdrohungen dagegen, die durch den Bezug auf einen kompatibilistischen Freiheitsbegriff qualifiziert sind, wären nicht nur wirksam, sondern auch akzeptabel, da sie einerseits den Schutz substantieller Interessen der Gruppenmitglieder gewährleisten, auf der anderen Seite den Gruppenmitgliedern die volle Kontrolle darüber geben, ob sie von den Sanktionen getroffen werden: Die Mitglieder müssen nur das Ihre dazu beitragen, dass sie die Regeln einhalten, die notwendig zu ihrem eigenen Schutz sind. Angesichts eines solchen Systems von Regeln und Sanktionen läge es also im substantiellen, wohlverstandenen Interesse der Bürger, einen Vertrag einzugehen, der dieses System und die damit verbundenen Freiheitsverluste gegen ein Schutzversprechen etabliert. Dies bedeutet gleichzeitig, dass sich auch die zentralen Kriterien des kompatibilistischen Freiheitsbegriffs pragmatisch rechtfertigen lassen: Die Forderung nach Selbstbestimmung stellt sicher, dass die Sanktionen den wahren Urheber treffen, dass sie effektiv sind und dass die Bürger durch ausreichende Anstrengungen den Sanktionen entgehen und nicht zuletzt deshalb das Sanktionssystem akzeptieren können. Natürlich liefert diese Theorie nur relativ abstrakte Kriterien, aus denen sich noch keine direkten Maßgaben für die Anwendung und praktische Überprüfung von Selbstbestimmung ergeben. Wie sollen wir also feststellen, ob eine Person tatsächlich selbstbestimmt gehandelt hat? Naheliegend wäre hier das bereits etablierte Vorgehen nach dem Ausschlussprinzip: Ob eine Handlung selbstbestimmt ist oder nicht, ließe sich durch den Ausschluss der wichtigsten Gegengründe feststellen. Dazu gehören z. B. psychische und physische Abhängigkeiten, die Selbstbestimmung beeinträchtigende psychiatrische Störungen und natürlich äußere Zwänge, wie sie z. B. von anderen Personen ausgehen können.

IV. Einwände 1. Schuldprinzip Man könnte indes einwenden, dass die hier vorgelegte Argumentation offene Tore einrenne. Sie rechtfertige mit großem argumentativem Aufwand nur einen klassischen Bestandteil des Strafrechts, nämlich das Schuldprinzip. Diesem Prinzip zufolge sind Normverletzungen einem Akteur nur dann zurechenbar, wenn sie schuldhaft erfolgen. Im strafrechtlichen Schuldbegriff „sind die Voraussetzungen dafür formu-

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liert, das tatbestandsmäßige Strafunrecht dem Subjekt als seine Tat zuzurechnen und den dadurch eingetretenen objektiv-subjektiven Geltungswiderspruch, die Verletzung des Rechts ,als Recht‘, strafend aufzuheben.“13 Dabei gilt sogar – ganz ähnlich wie hier behauptet – „normative Ansprechbarkeit“ als eine der zentralen Implikationen.14 Wird hier also nur Altbekanntes in neuen Worten wiederholt? Dies ist nicht der Fall. Entscheidend ist dabei, dass der Anspruch dieses Beitrags nicht darin besteht, einen neuen Begriff von Freiheit, Verantwortung oder Schuld einzuführen, neu ist vielmehr die Rechtfertigungsstrategie, also der Versuch, eine aus den Sozialvertragstheorien bekannte kontraktualistische Rechtfertigungsstrategie für einen kompatibilistischen Begriff der Willensfreiheit in Anspruch zu nehmen. Dieser Begriff liefert daneben aber auch konsistente kompatibilistische Kriterien für die Anwendung des Schuldprinzips.15 2. Andere Freiheitsbegriffe Doch warum lässt sich aus den obigen Überlegungen ausgerechnet die Rechtfertigung eines kompatibilistischen, noch dazu eines ganz bestimmten kompatibilistischen Freiheitsbegriffes ableiten? Könnte ein inkompatibilistischer Freiheitsbegriff oder ein anderer kompatibilistischer Ansatz nicht die gleichen Leistungen erbringen? Nehmen wir zur Beantwortung dieser Frage zunächst einen inkompatibilistischen Ansatz wie die u. a. von Taylor und Chisholm16 entwickelte Theorie der Akteurskausalität. Dieser Theorie zufolge muss es in einem Entscheidungsprozess mindestens einen Schritt geben, der nicht durch physische Prozesse und damit durch die Naturgesetze determiniert wird, sondern ausschließlich dem Akteur zuzurechnen ist. Chisholm führt zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen dem Akteur und seiner Entscheidung einen eigenen Kausalitätsbegriff ein. Im Gegensatz zur üblichen „transeunten“ Kausalität, wie sie das Verhältnis von Ursache und Wirkung in der physischen Welt beherrscht, haben wir es lt. Chisholm hier mit einem Akt der „immanenten“ Kausalität seitens des Akteurs zu tun. Er zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass der Akteur damit eine neue Kausalkette beginnt, ohne selbst von anderen Ursachen abzuhängen. Dies schließt in den Augen Chisholms Unabhängigkeit nicht nur von äußeren Einflüssen, sondern auch von den eigenen Wünschen und Überzeugungen ein. Genau dies hat allerdings zur Folge, dass meine Überzeugungen ihren Einfluss auf meine Entscheidungen verlieren können. Auch wenn ich also fest von be13

Köhler, Michael, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Berlin Heidelberg 1997, S. 349. Roxin, Claus, Strafrecht. Allgemeiner Teil. Band I. Grundlagen. Der Aufbau der Verbrechenslehre, München 1994, S. 715. 15 Pauen, Michael, Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt/M. 2004. 16 Chisholm, Roderick M., Human Freedom and the Self, in: Gary Watson (Hrsg.), Free Will, Oxford 1982, S. 24 – 35. 14

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stimmten Normen überzeugt bin, nicht an Willensschwäche leide und auch die relevanten Sanktionen unbedingt vermeiden möchte, kann es passieren, dass ich mich plötzlich für eine schwerwiegende Verletzung der fraglichen Normen entscheide. Es kommt hinzu, dass aus ganz ähnlichen Gründen auch der Einfluss äußerer Faktoren wie der Sanktionsdrohungen auf meine Entscheidungen in Frage gestellt wird. Auch wenn die Bewahrung meiner Freiheit für mich einen wesentlich höheren Rang hat als bestimmte Verlockungen durch Gesetzesverstöße, könnte ich mich unter den von der Akteurskausalität beschriebenen Bedingungen also unvermittelt für eine schwerwiegende Gesetzesverletzung entscheiden, die mit einer Freiheitsstrafe sanktioniert ist. Die Wirksamkeit von Sanktionen würde unter den Bedingungen der Akteurskausalität also ebenfalls signifikant reduziert. Selbst wenn der Begriff der Akteurskausalität ein höheres Maß an Freiheit oder eine plausiblere Analyse unseres vorwissenschaftlichen Freiheitsbegriffs liefern würde, fiele er aus pragmatischer Perspektive hinter den skizzierten kompatibilistischen Begriff von Freiheit als Selbstbestimmung zurück. Tatsächlich wirft der Begriff der Akteurskausalität aus den bereits genannten Gründen aber auch schwerwiegende normative und begriffliche Fragen auf: Freiheit besteht sicherlich nicht darin, dass ich im Widerspruch zu meinen Wünschen und Überzeugungen handle, doch genau diese Gefahr wirft die Akteurskausalität auf. Wie steht es mit anderen kompatibilistischen Ansätzen? Nehmen wir als Beispiel die von Frankfurt vertretene Konzeption der Volitionen zweiter Ordnung.17 Ihr zufolge handelt eine Person dann frei, wenn sie ihren faktischen Willensakt einem Willensakt zweiter Ordnung gutheißt, die Person ihren faktischen Willensakt auch haben will. Auch wenn Frankfurt auf diese Weise einige typische Schwächen kompatibilistischer Ansätze ausräumen zu können glaubt, so gibt es schon auf der theoretischen Ebene eine Reihe bekannter Einwände gegen seine Theorie. Besonders gravierend ist das Regressproblem: Wenn man die Freiheit eines Willensaktes erster Ordnung in Frage stellen kann, dann gilt dasselbe auch für einen Willensakt zweiter Ordnung. Doch wie sollte ein Willensakt erster Ordnung frei sein, wenn er einem Willensakt zweiter Ordnung entspricht, dessen Freiheit ebenfalls in Frage steht? Naheliegend wäre hier der Rückgriff auf einen Willensakt dritter Ordnung, doch gegen den lässt sich derselbe Einwand vorbringen. Offenbar entsteht hier ein Regress, und es ist schwer zu sehen, wie dieser Regress zum Stillstand gebracht werden sollte. Möglich wäre allenfalls ein unabhängiges Kriterium für Freiheit, doch das könnte man gleich auch auf den Willensakt erster Ordnung anwenden. Entscheidend ist hier jedoch die Frage, inwieweit Frankfurts Ansatz geeignet ist, pragmatisch sinnvolle Kriterien für die Sanktionierung einer Handlung zu liefern. Doch auch das ist mehr als zweifelhaft, Frankfurts Theorie scheint gleich in mehreren Fällen zu kontraintuitiven Resultaten zu führen. Stellen wir uns vor, ein Rausch17 Frankfurt, Harry G., Freedom of the Will and the Concept of the Person, in: The Journal of Philosophy 68 (1971) S. 5 – 20.

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giftsüchtiger würde eine illegale Droge nehmen. Nach einem sehr weit verbreiteten Verständnis wäre diese Person nur in einem eingeschränkten Sinne frei und verantwortlich. Dazu passt, dass Sanktionen hier nicht sonderlich wirksam sind; Rauschgiftsüchtige lassen sich durch Sanktionsdrohungen nur schwer von ihrem Handeln abhalten, andernfalls wären sie vermutlich gar nicht süchtig geworden. Doch Frankfurts Theorie läuft diesen ebenso weit verbreiteten wie plausiblen Vorstellungen geradewegs zuwider. Wenn der Rauschgiftsüchtige seine Sucht billigt, gilt er Frankfurt zufolge als frei, egal wie stark der Zwang ist, den die Sucht auf sein Verhalten ausübt. Umgekehrt wäre ein Süchtiger, der seine Probleme erkannt hat und seine Sucht daher nicht mehr billigt, Frankfurt zufolge unfrei – auch wenn er dabei ist, sich von seiner Sucht zu lösen und für Sanktionen viel eher ansprechbar wäre. All dies weckt große Zweifel, ob Frankfurts Theorie wirklich pragmatisch angemessene Kriterien für ein wirksames Sanktionssystem liefern kann. Natürlich bedeutet dies nicht, dass es keine pragmatisch angemessenen Alternativen zu dem obigen Vorschlag geben kann. Hierzu wäre eine umfangreiche Auseinandersetzung mit den wichtigsten gegenwärtig zur Diskussion stehenden Theorien der Willensfreiheit notwendig, die die Grenzen dieses Beitrags bei weitem sprengen würde. Doch die obigen Bemerkungen sollten zumindest gezeigt haben, dass die skizzierte Theorie der Willensfreiheit besonders gute Voraussetzungen für einen kontraktualistischen Ansatz aufweist, selbst wenn offen bleiben muss, ob sie der einzig denkbare pragmatisch sinnvolle Ansatz ist.

V. Fazit Fassen wir zusammen. Ich habe versucht zu zeigen, dass man einen kompatibilistischen Begriff von Willensfreiheit mit pragmatischen, kontraktualistischen Argumenten rechtfertigen kann, so wie sie ganz ähnlich auch in den klassischen Theorien des Sozialvertrags verwendet werden. Die Grundüberlegung ist hier, dass jedes Mitglied eines Staates oder einer staatsähnlichen Gruppe ein substantielles Interesse am Schutz seiner wichtigsten Güter, also von Leben, Leib und Eigentum hat. Der Schutz setzt nicht nur Regeln voraus, sondern auch ein Sanktionssystem, das diese Regeln durchzusetzen hilft. Doch Sanktionen dürfen nicht einfach blind jede Normverletzung treffen, vielmehr müssen sie auf die verantwortlichen Urheber von Normverletzungen zielen: Andernfalls verfehlen sie ihre Wirkung und sind für die Bürger nicht akzeptabel. Doch wie kann man sicherstellen, dass die Sanktionen ihr Ziel treffen? Ich habe argumentiert, dass ein kompatibilistisches Verständnis von Willensfreiheit als Selbstbestimmung genau dies leisten kann: Die Beschränkung auf selbstbestimmte Handlungen stellt einerseits sicher, dass die Sanktionen effektiv sind, denn selbstbestimmungsfähige Personen sind ansprechbar für die Rechtfertigung von Normen und für Abschreckung, die von Sanktionsdrohungen ausgeht. Gleichzeitig

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macht die Beschränkung der Sanktionen auf selbstbestimmte Handlungen das System für die Bürger attraktiv. Zum einen, weil das System effektiv ist und die Bürger schützt. Zum anderen aber auch, weil die Bürger vor Sanktionen halbwegs sicher sein können, sofern sie sich ernsthaft um die Einhaltung der Normen bemühen. Wenn sie dagegen gezwungen werden oder einer psychiatrischen Krankheit zum Opfer fallen und dabei Normen verletzen, brauchen sie keine Angst vor Strafe zu haben, denn ihr Handeln gilt dann auch nicht mehr als selbstbestimmt. Eine kompatibilistische Theorie der Willensfreiheit ist daher nicht nur pragmatisch sinnvoll, sondern auch gerechtfertigt, schließlich haben die Bürger gute Gründe, diesen Begriff als Kriterium der Verantwortlichkeit zu akzeptieren. Von wichtigen konkurrierenden Theorien wie der inkompatibilistischen Theorie der Akteurskausalität oder Frankfurts kompatibilistischer Second Order Volition Theorie kann man dies dagegen nicht sagen. Dies schließt nicht aus, dass es andere Begriffe von Freiheit gibt, die sich ebenfalls pragmatisch rechtfertigen lassen. Doch abgesehen davon, dass solche Theorien schwer zu finden sein dürften, ändert dies nichts daran, dass die skizzierte kompatibilistische Theorie ein guter Kandidat für eine solche pragmatische Rechtfertigung ist. Und genau das sollte hier gezeigt werden.

Zur Legitimität von Staatlichkeit Eine kosmopolitische Kritik offener Grenzen Von Julian Nida-Rümelin

I. Einleitung Meine Erinnerungen an Reinhard Merkel reichen sehr weit zurück, nämlich in unsere Jugendzeit. Für einige lange Jahre waren wir beide Leistungsschwimmer, er intensiver und auf höherem Niveau als ich. Aber Sport spielte und spielt in unser beider Leben eine nach wie vor wichtige Rolle. Und wie das sich für einen Jüngeren geziemt, er schaut auf die Älteren – hier bei rund fünf Jahren Unterschied – aber diese schauen nicht zurück. Er wird sich aus dieser Zeit nicht an den Jüngeren erinnern. Er ist mir dagegen in lebhafter Erinnerung als eigenwilliger Typ, der, wenn ich es richtig im Kopf habe, mit einem VW-Bus zu Wettkämpfen anreiste und dort zum Erstaunen mancher Sportsfreunde sich in die Lektüre vertiefte. Ein cooler Typ, auch ein homme á femmes, muskulös und zugleich intellektuell.1 Viele Jahre später, seine Schwimmkarriere war längst mit dem Höhepunkt der Teilnahme an den Olympischen Spielen 1968 und einem sechsten Platz über 400 m Lagen beendet, meine war, nach der Aufnahme eines Doppelstudiums Physik und Philosophie, ausgelaufen, wieder bei Hochschulmeisterschaften begegnet, diesmal, es war wohl das einzige Mal, war ich schneller als er. Er studierte Jurisprudenz, aber interessierte sich auch intensiv für die – analytische – Philosophie, vor allem aber für Karl Kraus. Ich studierte in den ersten Semestern ganz überwiegend Physik, definierte mich als analytischer Philosoph, hatte aber dafür untypische philosophische Interessen, zum Beispiel für Platon und Aristoteles oder die Stoa. Gelegentlich kreuzten sich unsere Wege in Seminaren am Stegmüller-Institut in München, das Seminar II für „Philosophie, Logik und Grundlagenforschung“. Er machte auf mich einen scharfsinnigen Eindruck, wenn er sich an Diskussionen beteiligte, nahm er jeweils ungewöhnliche Positionen ein, zugleich tat er sich aber mit den Werkzeugen der analytischen Philosophie ein wenig schwer. Aber allein die Tatsache, dass ein junger Jurist sich so konsequent auf philosophische Debatten einließ und zudem einen immensen allge-

1 Vgl. Schmidt, Caroline, „Nichts für Lerner, was für Denker“, Spiegel-Online, 19. 09. 2012, online verfügbar: https://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/professoren-der-extraklas se-der-hamburger-jurist-reinhard-merkel-a-843998.html.

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meinen Bildungshintergrund mitbrachte, beeindruckte mich. Und das bei einem Typen, der so gar nicht dem Gelehrten-Klischee entsprach. Als es Jahre später, Anfang der 1990er, darum ging die Freiheit der Wissenschaft gegen Ideologen zu verteidigen, setzte sich Reinhard Merkel zusammen mit vielen anderen analytischen Philosophen für den australischen Bio-Ethiker Peter Singer ein oder genauer für dessen Rede- und Wissenschaftsfreiheit. Der Konflikt eskalierte auf einem Wittgenstein-Kongress in Kirchberg am Wechsel in Österreich als die Veranstalter unter dem Druck der veröffentlichten Meinung und angekündigter Protestaktionen die Einladung an Peter Singer wieder zurückzogen und dies wiederum auf den Wiederstand vieler schon eingeladener Referentinnen und Referenten aus der analytischen Philosophie weltweit stieß.2 Den meisten ging es dabei nicht nur um die Verteidigung der Rede- und Wissenschaftsfreiheit, sondern auch um die Seriosität der inhaltlichen Positionen von Peter Singer, der im angelsächsischen Raum zwar auch nicht unumstritten ist, aber als anerkannte Autorität in der Bioethik und generell in applied ethics gilt. Meine eigene Position in diesem Streit war ambivalent: Einerseits konsequente Verteidigung des Primats epistemischer Rationalität gegenüber anderen pragmatischen und politischen Erwägungen in der Wissenschaft, andererseits meine grundsätzliche und unversöhnliche Kritik an den inhumanen Konsequenzen konsequentialistischer und utilitaristischer Ethik.3 Das Entsetzen über einzelne Handlungsempfehlungen, die Peter Singer glaubte aus einem Präferenz-Utilitarismus des Hare’schen Typs ableiten zu können einerseits und die Zurückweisung des meist aus dem Feuilleton-Katholizismus, aber auch aus den Kirchen und sozialen Bewegungen im linken Spektrum herrührenden, teilweise gewalttätigen Protestes gegen Peter Singer, schien für Außenstehende schwer vereinbar zu sein4. Als Zeit-Redakteur hat er dann zwischen 1988 und 1990 ein größeres Forum gefunden, nicht immer zur Freude der Zeit-Redaktion selbst und das führte wohl auch zu der Beendigung dieser Rolle.5 Fürderhin war Reinhard Merkel aber nicht nur ein ausgewiesener Rechtswissenschaftler und Rechtsphilosoph, sondern auch ein public intellectual, der sich immer wieder auch mit provokativen Stellungnahmen zur Bioethik und zur Rechtsentwicklung zu Wort meldete.6 2

Merkel, Reinhard, „Der Streit um Leben und Tod“ Die ZEIT Nr. 26/1989, 23. Juni 1989. Nida-Rümelin, Julian, Kritik des Konsequentialismus, 2. Aufl., Oldenburg 2013. 4 Vgl. Nida-Rümelin, Julian, Kritik des Konsequentialismus, München 1995 und NidaRümelin, Julian, Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch (Hrsg.), Stuttgart: Kröner 1996, 22005. 5 Vgl. Ahmann, Martina, „Was bleibt vom menschlichen Leben unantastbar? Kritische Analyse der Rezeption des praktisch-ethischen Entwurfs von Peter Singer aus praktischtheologischer Perspektive“, Theologie und Praxis, hg. von Prof. Dr Collet, Prof. Dr. Mette, Prof. Dr. Schmälzle, Prof. Dr. Steinkamp, Münster 2001, S. 224 ff. 6 Vgl. Merkel, Reinhard, Forschungsobjekt Embryo, München 2002 oder Merkel, Reinhard, Willensfreiheit und rechtliche Schuld: Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung, Baden-Baden 2008. 3

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Politisch versteht sich Reinhard Merkel von jeher als Liberaler, die kommunitaristischen, früher auch links-sozialistischen Positionen seines jüngeren Bruders, des Politikwissenschaftlers Wolfgang Merkel, sind ihm bis heute fremdgeblieben. Dies hat sich als eine interessante Gemeinsamkeit zwischen ihm und mir im Hinblick auf die Ethik und die Politik der Migration herausgestellt. Üblicherweise gibt es die Gegenüberstellung von Kosmopolitismus einerseits und Kommunitarismus andererseits, wobei der Kommunitarismus oft genug in einen Nationalismus umschlägt und der Kosmopolitismus in einen universalistischen, oft libertär begründeten, Liberalismus. In zwei gemeinsam von uns vorbereiteten Kooperationsveranstaltungen der Leopoldina und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zur Migration7 wurde aber sehr deutlich, dass Merkels Position, auch in dieser Frage deutlich radikaler als meine eigene, seine Ablehnung einer Politik der offenen Grenzen, nicht kommunitaristisch oder nationalistisch begründet wird, sondern demokratietheoretisch und politisch. Ich selbst spreche in diesem Zusammenhang von einem „kosmopolitischen Republikanismus“, wonach politische Identität voraussetzt, dass der kollektive Akteur, in der Demokratie kontrolliert von der Bürgerschaft dieses Staates, handlungsfähig bleibt. Eine Welt offener Grenzen würde diese essentielle Bedingung von Demokratie und Staatlichkeit nicht erfüllen und damit kollektive Autorschaft unterhöhlen oder sogar unmöglich machen. Von daher fand ich es passend den Herausgebern der Festschrift zum Siebzigsten von Reinhard Merkel einen Text zum Wiederabdruck anzubieten, der in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie 2017 publiziert wurde und der auf einem Vortrag beruht, den ich am 19. Dezember 2016 in Berlin an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gehalten habe.

II. Zur Legitimität von Staatlichkeit: Eine kosmopolitische Kritik offener Grenzen Abstract: Borders are a constitutive feature of states. Political agency would, therefore, come into conflict with a practice of open borders. This is equally true for the dynamics of unleashed global financial and commodity markets as well as of a global labour market. An unregulated mobility of capital, goods, and people would erode the agency of states and diminish politics to a mere location factor. In the following, I argue in favor of the legitimacy of (state) borders and the political control over migratory movements, however, not from a communitarian or even nationalist, but from a cosmopolitan perspective. Political cosmopolitanism differs from a sociological, economic, or cultural one with regard to the role of politics. While other variants of cosmopolitanism generally understand globalisation as weakening the agency of states, political cosmopolitanism strives for the establishment of a global institutional order, which allows for democratically legitimised political agency beyond the nation-state. Therefore, the question is which institutional governance of migration is legitimate in a cosmopolitan 7 Als Keynote Speaker bei „Normative Criteria of Migration“ am 31. Januar 2019 und „Normative Kriterien der Integration von Migrantinnen und Migranten in Deutschland“ am 12. April 2019 in Berlin.

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framework. The following text discusses the political theory (part 1) and some preliminary philosophical-ethical aspects (part 2) of this topic.8

Grenzen sind ein konstitutives Merkmal von Staatlichkeit.9 Politische Gestaltungskraft gerät daher in Konflikt mit einer Praxis offener Grenzen. Dies gilt für die Globalisierungsdynamik im Zeichen entfesselter globaler Finanz- und Warenmärkte ebenso wie für den globalen Arbeitsmarkt. Eine ungebremste Mobilität von Kapital, Waren und Menschen ließe Staatlichkeit erodieren und degradierte die Politik zum bloßen Standortfaktor. Im Folgenden argumentiere ich für die Legitimität von (Staats-)Grenzen und die politische Kontrolle von Migrationsbewegungen, allerdings nicht aus einer kommunitaristischen oder gar nationalistischen, sondern aus einer kosmopolitischen Perspektive. Der politische Kosmopolitismus unterscheidet sich von einem soziologischen, ökonomischen oder kulturellen vor allem hinsichtlich der Rolle der Politik. Während andere Kosmopolitismus-Varianten10 die Globalisierung als Schwächung von Staatlichkeit generell verstehen, setzt der politische Kosmopolitismus auf die Etablierung einer globalen institutionellen Ordnung, die demokratisch legitimierte politische Gestaltungskraft auch jenseits der Nationalstaaten zulässt. Es stellt sich die Frage danach, welche institutionelle Steuerung der Migration im kosmopolitischen Rahmen legitim ist.11 Der folgende Text stellt politiktheoretische (Teil 1) und philosophisch-ethische (Teil 2) Vorüberlegungen zu dieser Thematik zur Diskussion.

1. Politische Aspekte Die meisten Philosophen – zumindest diejenigen, die zu dieser Frage Stellung beziehen – sind für offene Grenzen. Einige argumentieren entweder aus kommunitaristischen oder aus nationalistischen Gründen für geschlossene Grenzen (wobei einige Vertreter einer nationalistischen Position Republikaner sind, andere Kommunitaristen). Kosmopoliten sind meistens für offene Grenzen, Anti-Kosmopoliten dagegen. Ich halte mich selbst für einen kosmopolitischen Philosophen, dennoch bin ich gegen offene Grenzen. Ich bin der Überzeugung, dass eine sinnvolle Fassung des Kosmo8

Keywords: communitarianism, cosmopolitanism, global constitutionalism, migration, neoliberalism, open borders. 9 Dieser Artikel entspricht inhaltlich meinem Vortrag „On the ethical legitimacy of (state) borders“, gehalten auf dem Workshop „Justice, State, Migration“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am 19. Dezember 2016. Er folgte auf den Vortrag von David Miller „Immigrants, refugees, and the liberal state“, ebenfalls in diesem Heft der Deutschen Zeitschrift für Philosophie. Christine Bratu danke ich für die Übersetzung des ersten Teils („Politische Aspekte“) aus dem Englischen. 10 Vgl. Nida-Rümelin, Julian, „Zur Philosophie des Kosmopolitismus“, Zeitschrift für internationale Beziehungen,13. H. 2, 2006, S.13, 231 – 238. 11 Dies ist eines der Themen, mit denen sich die von mir geleitete Interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Internationale Gerechtigkeit und institutionelle Verantwortung“ der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften seit Juli 2016 befasst; vgl. http://www.ge rechtigkeit.bbaw.de (16. 6. 2017).

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politismus gegen offene Grenzen argumentieren und stattdessen die Legitimität staatlicher Grenzen akzeptieren muss. Im Folgenden werde ich versuchen, dies zu zeigen. Kosmopoliten betrachten die Welt aus einer globalen Perspektive. Ihre Analyse beginnt mit der Frage „Was wäre eine legitime und gerechte Weltordnung?“. Ausgehend von dieser Frage diskutieren sie dann Implikationen für die Migrationspolitik. Die Prämissen für die Diskussion sind je nach Standpunkt verschieden: Nationalisten betrachten die Welt aus der Perspektive nationaler Interessen, Kommunitaristen hingegen sehen die Werte und Normen der Gemeinschaft, der sie angehören, als unhintergehbaren Ausgangspunkt. Republikaner nehmen schließlich einen dezidiert politischen Standpunkt ein, da sie annehmen, dass sich normative Rechtfertigung nur im Rahmen politischer Partizipation ergibt. Dementsprechend beschreiben sie die institutionellen Elemente, die für Partizipation konstitutiv sind. Einige Republikaner (aber nicht alle) sind in einem noch zu klärenden Sinne nationalistisch, ebenso wie einige (aber nicht alle) Kommunitaristen nationalistisch sind. Republikaner sind dagegen niemals kommunitaristisch, da sie im demos und nicht im ethnos die Quelle der Legitimität des Staates sehen. Der Kosmopolitismus dreht sich um Fragen der globalen politischen Ordnung.12 Er diskutiert Kriterien einer gerechten Weltordnung und besteht auf dem Primat des Politischen. Zudem betrachtet er die Menschheit und ihr Interesse als Ganze und rückt dadurch die Interessen von Staaten und Gemeinschaften in den Hintergrund. Kosmopoliten sind Universalisten. Sie behaupten, dass die grundlegenden ethischen Regeln für alle Erdenbewohner gelten, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft, ihrer Hautfarbe, ihrer Muttersprache oder anderen partikulären Zugehörigkeiten. Einige Kosmopoliten argumentieren gegen den Nationalstaat. Sie behaupten, dass eine gerechte Weltordnung, ausgehend von allgemeinen ethischen Prinzipien, Nationalstaaten insgesamt abschaffte. Wenn man den Nationalstaat als die politische Institution definiert, die die Nation ernst nimmt – d. h. ein Volk, das ein Zugehörigkeitsgefühl verbindet, das historisch gewachsen ist, Ausgleichhandlungen rechtfertigt und nach staatlicher Verfasstheit strebt13 –, so sind wahrscheinlich die meisten der existierenden Staaten in der Welt keine Nationalstaaten: denn entweder leben jene, die sich dem Staatsvolk durch ein Zugehörigkeitsgefühl verbunden fühlen, zum Teil nicht im Staat oder sind Bürger anderer Staaten, oder aber die Bürgerschaft umfasst mehr als eine Nation im oben dargestellten Sinne. Die im 19. Jahrhundert aufkommende Idee, dass Staaten Nationalstaaten sein sollten, hat zu vielen Konflikten geführt. Einige davon eskalierten zu Kriegen und Bürgerkriegen, die sich bis in die Gegenwart ziehen. Diese Konflikte gingen zum Teil darauf zurück, dass Staatsgrenzen traditionellerweise nationalen Strukturen 12

Zugegebenermaßen gibt es verschiedene Formen des Kosmopolitismus, unter anderem soziologische, wie sie Ulrich Beck, „The Cosmopolitan Perspective: Sociology of the Second Age of Modernity“, British Journal of Sociology 51, 2000, S.78 – 105 entwickelt hat. 13 Vgl. Miller, David, Citizenship and National Identity, Oxford 2000.

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keine Rechnung getragen haben oder dass das Zugehörigkeitsgefühl ambivalent war oder sich gewandelt hat. Der Nationalstaat ist ursprünglich ein kommunitaristisches Konzept und basiert auf der Idee, dass es außerpolitische Entitäten gibt, die versuchen, sich als Staaten zu organisieren. Republikaner sind keine Kommunitaristen. Ihrer Ansicht nach wird die Republik durch das Erleben gemeinsamen politischen Handelns gestiftet. Ein kommunitäres Zugehörigkeitsgefühl kann für dieses Erleben hilfreich oder hinderlich sein, aber in jedem Fall ist es hierfür nicht konstitutiv. Der Republikanismus betrachtet den demos als die Quelle der Legitimität des Staates, nicht die kulturelle Gemeinschaft, selbst wenn diese versucht, politisch zu werden. Kommunitär ausgerichtete Nationalisten halten dagegen das ethnos für die Quelle der Legitimität des Staates. Aus pragmatischen Gründen mögen Republikaner Staaten bevorzugen, die nur eine Sprachgemeinschaft umfassen, denn für sie ist politisches Deliberieren wichtig und dies geschieht einfacher, wenn alle Beteiligten dieselbe Muttersprache sprechen. Frankreich ist hierfür ein interessantes geschichtliches Beispiel. Die Französische Revolution wurde von republikanischen und nicht von kommunitären Idealen getragen. Diese republikanischen Ideale waren eng verknüpft mit universellen, kosmopolitischen Prinzipien: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Dennoch stieß die Französische Revolution im Weiteren Prozesse der kulturellen Vereinheitlichung an, die in der Marginalisierung von kulturellen und sprachlichen Minderheiten resultierten. Für einen republikanischen Kosmopoliten ist die Frage der staatlichen Organisation eine pragmatische: Wie sollten Staaten verfasst sein, damit politisches Handeln, z. B. die Rahmengebung für die Gemeinschaft durch politische Institutionen, Diskussionen und Entscheidungen, möglich und effektiv durchführbar ist? Mir scheint, dass Immanuel Kant mit seiner Annahme Recht hatte, dass ein solches Modell in globalem Maßstab nicht möglich wäre.14 Der Weltstaat würde wahrscheinlich despotisch. Nach Kant ist der Grund hierfür, dass politische Kontrolle durch die Bürgerschaft ausgeübt werden muss; dafür muss diese aber in der Lage sein, effektiv zu intervenieren und Meinungen und Entscheidungen so zu artikulieren, dass sie für die Gemeinschaft als Ganze relevant sind. Föderalismus im Sinne von dezentralisierten politischen Strukturen kann sowohl auf kommunitaristische oder republikanische Überlegungen zurückgehen. Aus kommunitaristischen Gründen spricht man sich im Lichte verschiedener Sprachen sowie verschiedener kultureller und ethnischer Gruppen für föderale Strukturen aus. Aus republikanischen Gründen spricht man sich dagegen für eine staatliche Organisation aus, die politisches Handeln auf allen Ebenen effektiv ermöglicht. Hier ist es also nicht die Zugehörigkeit zu einer außerpolitischen Gemeinschaft, die für einen dezentralen föderalen Staat spricht, sondern die Komplexität politischer Entscheidungen und Handlungen. Dezentralisierung wird als ein Mittel angesehen, politische Kon14

Vgl. Kant, Immanuel, Zum Ewigen Frieden, Erstausgabe 1785.

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trolle und politisches Handeln effektiv zu gestalten. Zwar können sich auch Republikaner dafür aussprechen, kommunitäre Strukturen ernst zu nehmen, aber nicht, weil diese Strukturen selbst Quelle politischer Legitimität wären. Vielmehr gehen Republikaner davon aus, dass die Erfahrung gemeinsamen politischen Handelns mit kommunitärem Zugehörigkeitsgefühl überlappen kann und sollte. Ein Staat, der sich selbst lediglich als ein Bündel kommunitärer Entitäten versteht, würde auf einen modus vivendi reduziert, dessen Legitimität sich aus den kommunitären Strukturen zöge. Es würde unmöglich, eine gemeinsame normative Basis für politisches Handeln zu entwickeln, wenn diese Gemeinschaften zu stark in ihren Normen, Werten und Lebensformen differierten. Republikaner sprechen sich daher dafür aus, die politische Gemeinschaft statt der überlappenden kommunitären Strukturen zu stärken. Die Weltgemeinschaft umfasst ein breites Spektrum von verschiedenen Lebensformen, Religionen, Werten und Normen. Ein globales politisches System, das auf Repräsentanten dieser Unterschiede aufbaute, würde auf den minimalen Konsens eines modus vivendi reduziert. Das ist zwar sicher besser als die gegenwärtige Situation, die in manchen Weltregionen eher dem Hobbes’schen bellum omnium contra omnes und in anderen dem langen Krieg der christlichen Konfessionen im 17. Jahrhundert ähnelt. Aber der Kosmopolitismus beschränkt sich nicht auf einen bloßen globalen modus vivendi: Kosmopoliten sollten Republikaner sein, sie sollten sich dafür aussprechen, die Möglichkeit politischen Handelns von der Ebene des Nationalstaats auf die kontinentale und globale Ebene zu heben. Die Globalisierung hat zu einem sich immer weiter spinnenden weltweiten Netzwerk von ökonomischen, sozialen und kulturellen Verflechtungen geführt, as die Welt in ein globales System der Kooperation und des Konflikts verwandelt. Da der moderne Nationalstaat die Antwort auf ein sich immer weiter spinnendes Netzwerk von Kooperation und Konflikt jenseits der kommunitären Ebene war, sollte eine kosmopolitische politische Ordnung als Antwort auf die Entwicklungen jenseits des Nationalstaats etabliert werden. Vor zweihundert Jahren reichte die lokale Herrschaft feudaler Familien in Europa nicht mehr. Heute reicht die lokale Herrschaft der Nationalstaaten nicht mehr. Der gegenwärtige Kosmopolitismus ist dabei, politisches Handeln und politische Institutionen jenseits des Nationalstaats zu etablieren. Dem Kosmopolitismus geht es nicht darum, das gegenwärtige System der Staaten abzuschaffen, sondern darum, dieses um eine föderale Struktur zu ergänzen, die von Städten und Regionen bis hin zu Nationalstaaten reicht und die regionale Strukturen wie die Europäische Union genauso umfasst wie globale Institutionen (auch wenn letztere noch auf wenige, schlecht organisierte Beispiele wie den Internationalen Strafgerichtshof oder den Internationalen Währungsfonds beschränkt sind). Der Kosmopolitismus zielt darauf, eine föderale Weltordnung mit institutionellen Strukturen zu erschaffen, die effektives politisches Handeln und Entscheiden auf allen Ebenen ermöglichen. Wie im Falle des einzelnen republikanischen Staates wird eine republikanische oder kosmopolitische Ordnung zur Entwicklung politischer Identitäten führen, die die bestehenden kommunitären Identitäten überlappen. Dadurch wird sie dabei helfen, eine zivile Weltgesellschaft zu etablieren.

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Kommen wir nun aus einer kosmopolitischen und republikanischen Perspektive auf einige Aspekte der Ethik der Migration zu sprechen. Da es dem Kosmopolitismus nicht darum geht, einzelne Staaten abzuschaffen, sondern sie um eine föderale Weltordnung zu ergänzen, spricht er sich für die Existenz von staatlichen Grenzen aus. Eine allgemeine Politik der offenen Grenzen nicht nur für Güter und Leistungen, sondern auch für Arbeitskräfte und Migranten im Allgemeinen wäre mit der institutionellen Struktur eines republikanischen Kosmopolitismus nicht vereinbar. Der republikanische Kosmopolitismus setzt die Möglichkeit voraus, kollektiv zu handeln, um politische Ziele zu verwirklichen. Im Allgemeinen ist ein Freihandelssystem dem politischen Handeln abträglich. Es vereinzelt das Individuum, es zerstört Strukturen der Kooperation und degradiert politische Entscheidungen zu Standortfaktoren im ökonomischen Wettbewerb. Wenn eine politische Entität versucht, im Wettbewerb mit anderen politischen Entitäten die besten Bedingungen für ökonomische Investitionen zu etablieren, verliert sie dadurch die Fähigkeit, geleitet von politischen Gründen zu handeln und gemeinsame politische Werte und Ideen zu realisieren. Politik wird zu einem bloßen Mittel ökonomischer Ziele. Wenn es für die Politik nichts mehr zu tun gibt, weil der freie Markt die Verteilung aller Güter, Leistungen, Werte, Normen und Praktiken übernimmt, werden politische Institutionen inhaltsleer. Politisches Handeln wird Teil eines großen Illusionstheaters, das den Eindruck vermittelt, es gäbe politisch noch etwas zu entscheiden, wenn dies doch längst nicht mehr der Fall ist. Stattdessen sollte politisches Handeln, d. h. politische Entscheidungen innerhalb etablierter Institutionen, dazu in der Lage sein, das Spielfeld als Ganzes zu gestalten. Ohne den Primat des Politischen gibt es keine republikanische Ordnung. Eine Migrationspolitik, die sich für offene Grenzen ausspricht, steht in der Tradition der Freihandelsideologie und des Libertarismus. Eine solche Politik würde es politischen Institutionen unmöglich machen, eine gerechte soziale Ordnung zu erschaffen. Jede Maßnahme zum Arbeitnehmerschutz oder zur Umverteilung von Wohlstand innerhalb einer Gesellschaft würde von Migrationsbewegungen unmöglich gemacht, die durch diese Anreize ausgelöst würden. Ein weltweites Freihandelssystem der Arbeitskräfte hätte zerstörerische Auswirkungen auf entwickelte Sozialstaaten. In dieser Hinsicht ist Migration sehr ambivalent. Für jene, die aus armen Regionen auswandern, stellt dies meist einen ökonomischen Fortschritt dar. Empirische Studien belegen aber, dass ein beträchtlicher Anteil der erfolgreichen Migranten insgesamt gesehen verliert, wenn man auch psychologische und kulturelle Aspekte einbezieht. Wichtiger noch: Die Regionen, aus denen die meisten Migranten stammen, verlieren deutlich mehr, wenn ein Großteil ihrer Bevölkerung auswandert. Globale Migration ist kein effektives Mittel im Kampf gegen globale Armut. Da ungefähr zwei Milliarden Menschen auf der Welt unter extremer Armut, d. h. unter anderem unter chronischer Unterernährung, Mangel an Trinkwasser, sozialer Exklusion, keinem oder unzureichendem Zugang zu Bildung, Arbeitslosigkeit und anderen Entbehrungen leiden, kann globale Migration in die reichen Länder das Problem der globalen Armut nicht lösen. Die Kosten der Integration von Migranten hängen stark vom

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Sozialsystem des jeweiligen reichen Staates ab.15 Mit Subventionen in derselben Größenordnung ließe sich Armut weit effektiver in den Ursprungsländern bekämpfen. Migration ist in der Tat kein geeignetes Mittel, um globale Armut zu bekämpfen. In vielen Fällen leistet sie eher einen Beitrag zur globalen Armut. Wenn arme Staaten einen großen Teil ihres Haushalts in Bildung und Qualifizierungsmaßen investieren, dann aber damit konfrontiert sind, dass die Personen, die von diesen Maßnahmen profitiert haben, auswandern, führt das zum Kollaps dieser Entwicklungsstrategie. Daher sollten reiche Staaten, die von der Einwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte profitieren, dazu verpflichtet werden, die Ursprungsstaaten zu kompensieren.16 Im Falle von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen ist es Aufgabe der Weltgemeinschaft, die Anrainerstaaten, die den Flüchtlingen Obhut gewähren, finanziell zu unterstützen. Die Integration von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen in Länder, die Tausende von Meilen entfernt sind, macht die Situation in vielen Fällen schlimmer. Wenn der Krieg vorbei ist, werden die Flüchtlinge zurückkehren, um Häuser, Wirtschaft und die Gesellschaft als Ganze wiederaufzubauen. Wenn jene, die über finanzielle Mittel verfügen, nicht zurückkehren, weil sie mittlerweile ökonomisch und sozial in eine reiche Gesellschaft wie die USA oder einige der nördlichen und mitteleuropäischen Staaten integriert sind, wird es für die Ursprungsregionen noch schwieriger, sich vom Kriegsgeschehen zu erholen. Reiche Länder, die die Kosten von groß angelegter Migration tragen, sollten zudem bedenken, dass die Kosten hierfür meistens von jenem Teil der Bevölkerung getragen werden, der relativ arm ist. Dieser Bevölkerungsteil leidet, weil er ökonomisch mit den Migranten auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren muss, weil die Mieten steigen und weil er schnellen kulturellen und sozialen Wandel erlebt, den seine Mitglieder als anstrengend empfinden könnten. Reiche Bevölkerungsgruppen profitieren dagegen von Migration aus armen Ländern: Sie können Hausmädchen und Gärtner einstellen und diesen sogar noch niedrigere Löhne zahlen als unausgebildeten heimischen Arbeitskräften. Auch wenn es gute ökonomische Argumente für die Immigration gut ausgebildeter Fachkräfte in die wohlhabenden westlichen Länder gibt, sind die kulturellen und sozialen Kosten doch ungerecht verteilt. 2. Ethische Aspekte Als ich in der Frühe in mein Wohnzimmer komme, um zu frühstücken, muss ich zu meinem Erstaunen feststellen, dass dort schon eine Person sitzt. Die Person ist 15 Die Bundesrepublik Deutschland zahlt ca. 250.000 Euro pro Migrant an die Türkei, damit sie diese Personen wieder zurück nimmt. Daher kann angenommen werden, dass die Kosten für die Integration dieser Personen in die deutsche Gesellschaft höher liegen. 16 Die praktische Umsetzung dieses Vorschlags ist zweifellos kompliziert. Sinnvoll erscheint ein System, bei dem sowohl das Unternehmen und der Staat, als auch die Migranten Ausgleichszahlungen erbringen. Gillian Brock hat hierzu einen detaillierten Vorschlag unterbreitet, vgl. Brock, Gillian, Global Justice: a Cosmopolitan Account, Oxford 2009.

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freundlich, sympathisch, aber auch sehr bestimmt: Sie hat sich, wie sie erzählt, mit einem Dietrich Zutritt zu meiner Wohnung verschafft, sie ist obdachlos und bittet mich nun um Zustimmung, diese Wohnung in Zukunft mit mir zu teilen. Obwohl ich die schwierige Situation des Obdachlosen durchaus nachvollziehen kann und er mir keineswegs unsympathisch ist, bitte ich ihn, meine Wohnung umgehend zu verlassen. Die meisten Leserinnen und Leser werden mir darin zustimmen, dass dies nicht nur mein juridisches, sondern auch mein moralisch begründetes Recht ist. Besteht dieses (moralische) Recht und, wenn ja, aus welchen Gründen? Um die Situation noch ein wenig zu konkretisieren: Ich bin davon überzeugt, dass der Obdachlose nicht mit dem Tod bedroht ist, wenn ich ihn aus meiner Wohnung weise. Ich bin aber zugleich davon überzeugt, dass sich die Lebenssituation des Obdachlosen deutlich verbessern würde, wenn ich seinem Begehren nachgekommen wäre. Zudem steht völlig außer Frage, dass meine Lebenssituation eine weit bessere ist als die des Obdachlosen, und dass sich die Nachteile, die sich aus einer Kohabitation für mich ergäben, in Grenzen hielten, dass die Vorteile, die der Obdachlose von einer Kohabitation hätte, meine Nachteile bei weitem überwiegen würden. Denkbar wäre auch, dass ich in eine Verhandlung einträte; das Ergebnis könnte sein, dass wir uns auf einen Aufenthalt von zum Beispiel einer Woche einigten, mit Vorteilen für ihn, Nachteilen für mich, aber für beide akzeptabel. Verpflichtet wäre ich dazu allerdings offenkundig nicht. Die legitime Grenze ist in diesem Fall durch meine Wohnung gezogen. Ich kontrolliere als Wohnungseigentümer oder Mieter den Zutritt zu dieser Wohnung und mein Status als Eigentümer oder Mieter gibt mir individuelle Rechte, darunter das Recht, den Zutritt oder den Aufenthalt zu verweigern, auch im Falle, dass die Person gute Gründe hat, sich den Zutritt oder den Aufenthalt zu wünschen, wie in diesem Fall. Verletzen die individuellen (juridischen und ethischen) Rechte des Wohnungseigentümers ein Gleichbehandlungsprinzip? Muss nicht jede Person gleichermaßen Zutritt zu dieser Wohnung haben? Und sollten wir den Zutritt zu der Wohnung nach Bedürftigkeit regeln? Die Antwort lautet ganz offenkundig: Nein. Und zwar deswegen, weil wir uns gemeinsam wünschen, dass wir unter Normalbedingungen die Möglichkeit haben sollten, die eigene Wohnung, einschließlich des Zutritts und des Aufenthalts, zu kontrollieren. Dieses individuelle moralische Eigentumsrecht verletzt nicht universelle Prinzipien der Gleichbehandlung. Diese sind mit legitimen Grenzen, hier den Grenzen meiner Wohnung, vereinbar. Individuelle (Eigentums-)Rechte dieser und anderer Art sind nicht absolut, wie Libertäre17 meinen, sie können und müssen gegen andere moralische Gründe abgewogen werden. In unserem Fall könnte ich zum Beispiel eine moralische Pflicht zur Aufnahme des Obdachlosen dann haben, wenn es sich um eine klirrend kalte Winternacht handelte und zu befürchten wäre, dass der schon kränkelnde Obdachlose eine Nacht im Freien mit dem Leben bezahlen müsste. In Kriegs- und Nachkriegszeiten wurden die Vorrechte von Wohnungseigentümern eingeschränkt, 17

Vgl. Nozick, Robert, Anarchy. State. Utopia, New York 1974.

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etwa in Gestalt von Zwangsbelegungen für ausgebombte Familien oder Flüchtlinge nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Die bloße Tatsache, dass es von Seiten des Staates eine allgemeine, durch gesetzliche Regelungen oder zumindest behördliche Anweisungen gestützte Praxis gibt, ist ethisch relevant. Eine solche allgemeine Praxis löst das Problem der ethischen Unterbestimmtheit (Wer hat in welchem Maße welche moralischen Verpflichtungen gegenüber den Flüchtlingen oder Ausgebombten?) und erfolgt nach – im günstigsten Fall – nachvollziehbaren und gerechten Kriterien (Größe der Wohnung, bisherige Belegungsdichte, Bedürftigkeit der Unterzubringenden etc.). Entscheidungen von dazu Befugten (im Rahmen zum Beispiel staatlicher Gesetze oder staatlicher institutioneller Praxis) haben eine stärker legitimierende Wirkung als die individuelle Entscheidung einer Person, Grenzen (hier die Grenzen einer Wohnung) zu überschreiten. Betrachten wir ein anderes Analogiebeispiel, das im Anschluss an Peter Singer18 gelegentlich angeführt wird, um für eine sehr weitgehende Aufnahmepflicht gegenüber Migranten zu argumentieren: Jemand kommt an einem Teich vorbei und sieht, dass eine Person zu ertrinken droht. Dann ist es offenkundig seine Pflicht, den Ertrinkenden zu retten, auch, wenn dies bedeutet, dass seine Kleidung dabei nass wird. Die wohlhabenden Länder haben eine moralische Pflicht, ihre Grenzen jedenfalls so lange offen zu halten, bis die Belastungen durch die Aufnahme unzumutbar groß werden. Peter Singer und zahlreiche philosophische Befürworter offener Grenzen19 fügen die empirische und wohl auch meist zutreffende Einschätzung hinzu, dass die Unzumutbarkeitsgrenzen, also die Grenze, ab der die Belastungen der aufnehmenden Gesellschaft unerträglich werden, angesichts des unterdessen etablierten Wohlstandes in den Reichtumsregionen der Welt sehr hoch angesetzt werden kann. Auch eine Verdoppelung oder Verdreifachung der Wohnbevölkerung in einem überschaubaren Zeitraum sollte dann nicht als unzumutbar gelten.20 18

Vgl. Singer, Peter, One World: The Ethics of Globalization, New Haven 2004. Vgl. Carens, Joseph, The Ethics of Immigration, Oxford 2013 oder Andreas Cassee in seiner soeben als Buch erschienenen Dissertation Cassee, Andreas, Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen, Berlin 2016. Cassee kritisiert kommunitaristische (Walzer) und nationalistische (Miller, Kymlicka) Thesen gegen „open borders“ unter Rückgriff auf libertäre und liberalistische Argumente; vgl. dazu Miller, David, Strangers in Our Midst: The Political Philosophy of Immigration, Cambridge MA. London 2016 u. Kymlicka, Will, Multicultural Citizenship: A Liberal Theory of Minority Rights, Oxford 1995. Eine Zusammenstellung von Beiträgen zu dieser Debatte findet sich in Cassee, Andreas/Goppel, Anna, Migration und Ethik, in: Frank Dietrich (Hrsg.), Münster 2012. 20 Hier gehen die Kalkulationen natürlich stark auseinander. Wenn man den Familiennachzug für Immigranten zulässt (schon aus Gründen der sozialen und der GeschlechterBalance, aber auch aus Gründen der Humanität liegt dies nahe), müsste mittelfristig damit gerechnet werden, dass je nach Zusammensetzung der einwandernden Gruppe in den Folgejahren zwei bis vier weitere Personen für jeden Migranten nachziehen. Bei einer Einwanderung im monatlichen Umfang, wie er sich zwischen der Öffnungsentscheidung der deutschen Bundeskanzlerin und der Schließung der Balkanroute durch die Visegrád-Staaten zeigte, würde sich die in Deutschland lebende Bevölkerung in den nächsten zehn Jahren in etwa verdoppeln. Auch wenn dies eine massive Belastung der sozialen Sicherungssysteme und der 19

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Damit scheinen zwei Analogie-Argumente vorzuliegen, die zu gegensätzlichen ethischen Konsequenzen führen. Bevor wir versuchen, dieses Dilemma zu lösen, sei ausdrücklich angemerkt, dass ich solche Analogie-Argumente für zulässig halte. Der einfachste Weg wäre ja zu sagen, dass die unterschiedlichen Bereiche der Praxis jeweils von ganz unterschiedlichen Regeln geleitet sind und daher solche Analogien in die Irre führen. Ich bin deswegen der Auffassung, dass Analogieargumente dieser Art zulässig sind, weil die menschliche Praxis als Ganze kohärent zu sein hat. Man kann sich nicht lediglich darauf berufen, dass es sich um eine andere Praxis handelt, sondern man muss zusätzlich sagen, warum diese andere Praxis nach anderen ethischen Prinzipien geregelt werden sollte, um Analogieargumente abzuwehren. Wenn jemand zu ertrinken droht, ist er mit dem Tode bedroht. Wenn der Obdachlose in einer klirrenden Winternacht mit dem Tode bedroht ist, wenn ich erwarten muss, dass er stirbt, wenn ich ihn aus der Wohnung weise, dann habe ich eine moralische Pflicht, ihn zu beherbergen. Selbst diese Pflicht scheint aber begrenzt zu sein. Wenn es sich zum Beispiel um einen schweren Alkoholiker handelt, der nur durch meine Fürsorge davon abgehalten werden kann, sich zu Tode zu trinken, kann daraus keine zeitlich unbegrenzte Pflicht zur Beherbergung abgeleitet werden. Selbst dann, wenn die Todesfolgen nicht eigenem Handeln (hier Alkoholgenuss), sondern den Umständen geschuldet sind, ist eine unbegrenzte Beherbergungspflicht nicht gerechtfertigt. Es gibt ein berühmtes Argument für die Legitimität der Abtreibung, das folgende Analogie heranzieht: Eine Frau hat sich für eine Operation in eine Klinik begeben, und als sie aus der Narkose aufwacht, muss sie feststellen, dass ihr Blutkreislauf künstlich mit dem einer anderen Person (über Schläuche) verbunden wurde, und es stellt sich heraus, dass es sich dabei um einen weltberühmten Geiger handelt, der stürbe, wenn er nicht weiterhin von der Vitalität ihres Herz-Kreislauf-Systems profitieren könnte. Judith Jarvis Thomson21 hält es auch unter diesen Umständen für zulässig, dass die Frau entscheidet, nach Hause zu gehen und den Musiker sterben zu lassen. Das Recht auf Selbstbestimmung wird nicht einmal durch das Interesse einer erwachsenen, zudem der Menschheit nützlichen („weltberühmter Geiger“) Person am Weiterleben aufgewogen. Ich, hier die schwanger gewordene Frau, kann mich gegen das werdende Leben in Gestalt einer Abtreibung entscheiden, unabhängig davon, welchen moralischen Status der Embryo hat. Selbst dann, wenn die Personeneigenschaft mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle etabliert wären, selbst dann, wenn die Identität der Person ab diesem Zeitpunkt feststünde, selbst dann, wenn der Embryo die gleiche Würde hätte wie ein geborenes menschliches Wesen oder – hier in der Geiger-Analogie – ein Erwachsener, hat das Selbstbestimmungswirtschaftlichen Leistungskraft pro Kopf bedeuten würde, ist anzunehmen, dass auch nach einer derart massiven Veränderung der Lebensstandard in Deutschland weit höher wäre als in den Ursprungsländern der Zugewanderten. 21 Vgl. Thomson, Judith Jarvis, „A Defense of Abortion“, Philosophy & Public Affairs 1, 1976, S. 47 – 66.

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recht ein größeres Gewicht als das Überlebensinteresse des Wesens, das von meinen Körperfunktionen abhängig ist. Die Grenzen, die hier gezogen werden, sind andere als die der Wohnung, es sind Grenzen in Gestalt von Interventions-Verboten. Niemand hat das Recht, in dieser Weise in die persönliche Autonomie der Frau einzugreifen, selbst dann, wenn dieser Eingriff das Leben eines Menschen rettet. Man kann die vorrangige Rolle individueller Rechte in demokratischen Verfassungen als Grenzsetzungen dieser Art interpretieren: Was immer die Gründe sein mögen, die für eine Praxis sprechen – wenn sie individuelle Rechte einer Person verletzen, ist diese Praxis unzulässig. Natürlich kann sich die Trägerin individueller Rechte dazu entschließen, eine Intervention zu akzeptieren; in dem beschriebenen Fall kann sie sich entscheiden, für, sagen wir, neun Monate das Bett zu hüten und das Leben des bis dahin soweit Genesenen retten, der dann, ohne an das Herz-Kreislauf-System der Frau angedockt zu sein, überleben kann. Vom Geiger ist zu hoffen, dass er dann autonom leben kann; vom Neugeborenen ist das nicht zu erwarten. Es ist allerdings die Frau, die darüber entscheidet, weil sie das Recht hat, ein Leben nach eigenen Vorstellungen zu leben. Die Analogie zur Migrationsthematik liegt auf der Hand: Es gehört zum kollektiven Selbstbestimmungsrecht einer Bürgerschaft, die sich in einem Staat organisiert hat, zu entscheiden, wie sie leben möchte, mit wem sie leben möchte, ob sie kulturelle, soziale und ökonomische Veränderungen akzeptiert oder nicht22. Es gibt keine moralischen Gründe, die sie zwingen könnten, dieses Selbstbestimmungsrecht aufzugeben. Natürlich kann sie sich dafür entscheiden, die Veränderungen zu akzeptieren, die Grenzen zu öffnen, bislang nicht Beteiligte an der politischen Meinungsbildung teilhaben zu lassen, neue Kooperationsformen zu etablieren, Wohlfahrtsverluste hinzunehmen. Wenn ich den Ertrinkenden retten kann und mir dabei die Kleider nass mache, habe ich die Pflicht dazu. Wenn ich den Ertrinkenden nur retten kann, wenn ich meine individuelle Selbstbestimmung aufgebe, mein gesamtes Leben ändere, die Kontrolle über das verliere, was mir wertvoll ist, dann habe ich diese moralische Pflicht nicht mehr. Wenn wir das Elend der unteren beiden Milliarden der 22 Hier liegt der Einwand nahe, dass eine (Staats-)Bürgerschaft kein freiwilliger Zusammenschluss, sondern eine Zwangsgemeinschaft sei, die sich die allermeisten, die ihr angehören, nicht ausgesucht haben. Dies gilt aber nur hinsichtlich der Staatsangehörigkeit bei Geburt. Die demokratische Staatsbürgerschaft als eine Form politischer Gemeinschaft und geteilter Praxis bezieht ihre Legitimation aus einem Konsens höherer Ordnung, einem geteilten Gerechtigkeitssinn. Dies ist jedenfalls der Kern der sogenannten vertragstheoretischen Rechtfertigung demokratischer Institutionen und Herrschaftsformen. Erst die faktische, implizite oder jedenfalls hypothetische Zustimmung aller Bürgerinnen und Bürger stiftet demokratische Legitimation. Diese (vertragstheoretische) Denkfigur aus dem 17. und 18. Jahrhundert (Hobbes, Locke, Rousseau, Kant) wurde 1971 von John Rawls mit seinem epochalen Werk A Theory of Justice erneuert, was weitere – konkurrierende – vertragstheoretische Konzeptionen in der politischen Philosophie anregte, u. a. Buchanan, John, James McGill, The Limits of Liberty. Between Anarchy and Leviathan, Chicago 1974; Nozick, Robert, Anarchy. State. Utopia, New York 1974 und Gauthier, David: Morals By Agreement, Oxford, 1986; vgl. dazu auch meine Überlegungen in Nida-Rümelin, Julian, Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch (Hrsg.), Stuttgart: Kröner 1996.

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Weltbevölkerung durch offene Grenzen, durch Aufnahme diesseits des gerade noch Erträglichen bekämpften, wären Staat, Gesellschaft und Kultur, in denen wir leben, nicht mehr wiederzuerkennen. Man kann das wollen, aber man muss es nicht, es ist legitim, Grenzen zu setzen. Dieses Argument für die Legitimität von Grenzen – unterschiedlichster Art – ist, wohlgemerkt, nicht partikular oder kommunitaristisch. Hier wird nicht der Interessenstandpunkt eines Staates oder einer Gemeinschaft oder einer Person den Interessenstandpunkten anderer Staaten oder Gemeinschaften oder Personen vorgeordnet. Ich argumentiere nicht dafür, dass kollektive Loyalität nur möglich ist, wenn man das Eigene höher bewertet als das Fremde wie MacIntyre in „Ist Patriotismus eine Tugend?“,23 ich argumentiere für ein universelles Recht auf individuelle und kollektive Selbstbestimmung, das allen (Individuen, Kollektiven, Staaten) gleichermaßen zukommt. Ohne Grenzen gibt es keine individuelle, kollektive, staatliche Selbstbestimmung und keine individuelle, kollektive oder staatliche Verantwortung, sondern die Strukturen der Verantwortungszuschreibung und der Akteure lösen sich auf. Ohne Grenzen werden die Lebensformen amorph, sie haben dann keine erkennbare Gestalt mehr, wir wissen dann nicht, wer welcher Akteur ist, wer wofür verantwortlich ist, welche Normen und Werte die jeweiligen Praktiken repräsentieren. Eine Gesellschaft aus perfekten Utilitaristen, die je für sich die Nutzensumme im Universum maximierten, bestünde nicht mehr aus Einzelpersonen, die Individuen wären nämlich ununterscheidbar, sie hätten keine eigenen Projekte, keine Normen und Werte, keine Identität. Es ist die – deontologische – Idee der individuellen Verantwortlichkeit, geschützt durch individuelle Rechte und Freiheiten und durch negative Pflichten der anderen, das heißt, durch moralische Gebote, die bestimmte Interventionen untersagen, die meine Autonomie gefährden könnten, die individuelle Autorschaft, die Fähigkeit, Autorin oder Autor des eigenen Lebens zu sein, sichert.24 Zu dieser Deontologie der Grenzen gehören nicht nur die Abwehrrechte der Individuen gegen Interventionen von Seiten des Staates, sondern auch von Seiten anderer Personen, eben auch die konstitutiven Bedingungen kollektiver Autorschaft in Gestalt politischer Institutionen, Staaten, kultureller und anders verfasster Gemeinschaften. Ohne Struktur, ohne legitime und akzeptierte Grenzen keine Autorschaft, keine Zurechenbarkeit, keine Verantwortlichkeit, kein Respekt und keine Würde. Das so sympathische Plädoyer für Grenzenlosigkeit, die These, dass Grenzen grundsätzlich illegitim seien, weil sie Unterschiede aufrechterhielten25, lässt sich bei genauer Betrachtung ethisch nicht legitimieren. 23 Vgl. MacIntyre, Alasdair, „Ist Patriotismus eine Tugend?“, Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, in: Axel Honneth (Hrsg.), Frankfurt am Main/ NY, 1993. 24 Vgl. Nida-Rümelin, Julian, Kritik des Konsequentialismus, München 1995 und Williams, Bernard/Smart, J. J. C. (Hrsg.), Utilitarianism: For and Against, Cambridge 1973. 25 Vgl. z. B. Moses, Jonathan, International Migration: Globalization’s Last Frontier, London 2006.

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Wie steht es aber um die Ungerechtigkeiten, die durch die Grenzen entstehen? Ist es nicht ungerecht, dass Menschen, die in einem bestimmten Land geboren sind, deswegen geringere Chancen auf Wohlergehen haben als andere? Verlangt nicht das Prinzip des Ausgleichs natürlicher oder zufälliger Unterschiede, um Chancengleichheit sichern zu können, dass Grenzen verschwinden? Auch innerhalb einer nationalstaatlich verfassten Gesellschaft bestehen massive Ungleichheiten als Folge der Tatsache, dass man in eine bestimmte Familie hineingeboren wird, von einem bestimmten soziokulturellen Milieu umgeben ist, möglicherweise ungünstigen elterlichen Entscheidungen den eigenen Bildungsweg betreffend ausgesetzt war, etwas erbt oder nicht, genetisch begünstigt oder benachteiligt ist usw. Diese Unterschiede, in der englischsprachigen Philosophie der Gegenwart oft als natural luck bezeichnet, sollten in einer gerechten Gesellschaft so weit als möglich ausgeglichen werden: Den sozial Benachteiligten sollten besondere Mittel zur Verfügung stehen, um ihren Konkurrenznachteil ausgleichen zu können, Kinder mit Behinderungen sollten mehr staatliche Ressourcen binden dürfen, um sich gut entwickeln zu können, als Kinder ohne Behinderungen usw. Es gibt jedoch auch hier enge Grenzen des Zulässigen egalitaristischer Praxis. So wäre es ethisch unzulässig, Kinder auf die Familien umzuverteilen, Kinder mit genetischen Nachteilen in Familien mit sozioökonomischen Vorteilen zu verpflanzen und umgekehrt. Es wäre unzulässig, Heranwachsende mehrfach aus ihren Familienbezügen herauszunehmen und sie mit ungünstigeren beziehungsweise günstigeren Lebensbedingungen zu konfrontieren, um eine Gleichheit der Startbedingungen herzustellen. Diese und andere hyperegalitaristische Maßnahmen wären deswegen unzulässig, weil sie die wünschenswerten Strukturen einer humanen Gesellschaft, der Zusammengehörigkeit, der Verantwortlichkeit der individuellen und kollektiven Selbstbestimmung zerstören würden. Eine humane Gesellschaft ist von der Balance zwischen Gleichheit und Differenz geprägt. Differenzen ergeben sich aus dem individuellen und kollektiven Recht auf Selbstbestimmung; sie vollkommen zu eliminieren hieße, inhumane, individuelle und kollektive Verantwortlichkeit zerstörende Maßnahmen zu ergreifen. Der Egalitarismus im Sinne des Gebots der Gleichbehandlung und der Gleichverteilung – es sei denn, es gäbe Gründe für eine Ungleichverteilung – muss mit den Differenzen der individuell und kollektiv gestalteten Lebensformen und ihren Zufälligkeiten vereinbar sein, sonst schlägt er in eine inhumane Praxis um. Wenn wir aber die Auflösung von Familienstrukturen, das Auseinanderreißen von Freundschaften und Nachbarschaften im Dienste gleicher Chancen ablehnen, dann akzeptieren wir die ethische Relevanz von Strukturen, von Zugehörigkeiten und Abgrenzungen. Auch dann, wenn es der sozialen Emanzipation eines Individuums zuträglich wäre, wenn es zum Freundeskreis eines einflussreichen anderen Individuums gehörte, gibt es keine moralische Pflicht der Aufnahme in diesen Freundeskreis. Das Recht, seine Freunde selbst zu bestimmen, ist ein wesentliches Merkmal autonomer Lebensführung, es hat Vorrang gegenüber der Realisierung von Gleichheitspostulaten. Erst recht gilt dies für Eheschließungen. Über viele Jahrzehnte hinweg wurde soziale Mobilität teilweise dadurch gesichert, dass insbesondere Frauen über eine Eheschlie-

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ßung ihre sozioökonomische Situation verbesserten bzw. die soziale Schicht, der sie entstammten, hinter sich ließen. Dies ist heute weitgehend zum Erliegen gekommen. Soziologen sprechen von Endogamie, im Sinne einer Einheirat in dieselbe soziale Schicht, was vermutlich damit zusammenhängt, dass die Abstiegsängste größer geworden sind und die Absicherung gegen diesen Abstieg durch vergleichbare ökonomische Leistungskraft zumindest unbewusst eine Rolle bei Eheschließungen spielt. Aber auch, wenn die Heirat über unterschiedliche sozioökonomische Milieus hinweg ein wichtiger Beitrag für eine egalitärere und sozial mobilere Gesellschaft wäre, könnte niemand darauf verpflichtet werden. Das individuelle und hier auch das kollektive (ein Kollektiv, das zwei Personen umfasst) Selbstbestimmungsrecht hat Vorrang. Wir sollten uns das Zusammenleben der menschlichen Gesellschaft diesseits und jenseits nationaler Grenzen und über die Zeiten der Menschheitsgeschichte hinweg wie eine Ansammlung unterschiedlicher Dichte von Myriaden von Teilchen in einer bewegten Flüssigkeit vorstellen. An manchen Stellen formen sich diese Teilchen zu dichten Klumpen, an anderen dünnen sie aus, manche bleiben über längere Zeiträume hinweg in enger räumlicher Nähe, andere entfernen sich voneinander und begegnen sich nie wieder, andere sind hoch mobil und nähern sich der einen oder anderen Verklumpung nur vorübergehend an, um dann zu einer anderen zu wechseln. Die Ströme der Flüssigkeit werden von Gefäßen strukturiert, zwischen denen es mehr oder weniger starken Austausch gibt. Die Bewegungs- und Interaktionsmuster ändern sich nicht nur von Gefäß zu Gefäß, sondern auch zwischen den unterschiedlichen Verklumpungen. Der Vorzug dieser Metapher ist, dass sie das Graduelle, die permanent fließenden Übergänge, das Wechselverhältnis von Struktur (der Gefäße) und Strömungsbild vor Augen führt. Den jeweiligen Verklumpungen entsprechen soziale Nahbereiche und kulturelle Gemeinschaften verschiedenster Art. Dem Wechsel der Teilchen von der einen zur anderen Verklumpung und die Überlagerung unterschiedlicher Verklumpungen im Strömungsgeschehen entsprächen die Kreolisierungsprozesse und die Kosmopolitisierung der Weltgesellschaft.26 Die einzelnen Gefäße sind nicht hermetisch voneinander abgeschlossen, sie sind miteinander verbunden, aber im unterschiedlichen Ausmaß. Nur sehr wenige Staaten der Welt können sich gegenüber der globalen Migration abschließen. Die einzelnen Verklumpungen sind durch spezifische Formen von Interaktion geprägt, die an den Rändern ausdünnen und oft in fließendem Übergang zu anderen Strukturen der Interaktion und der damit einhergehenden normativen Stellungnahmen stehen. Es lassen sich jedoch auch gemeinsame Muster über alle Verklumpungsund Gefäßstrukturen hinweg erkennen. Man mag dies als das Bild einer globalen Zivilgesellschaft interpretieren. Diese entsteht nicht durch einen besonderen Status, 26 Vgl. Beck, Ulrich, Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden, Frankfurt am Main 2004 sowie Beck, Ulrich/Grande, Edgar, Das kosmopolitische Europa, Frankfurt am Main 2004.

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sondern in Fortsetzung bestehender Bindungen und Interaktionen, die im globalen Maßstab ephemerer werden und eine Normativität voraussetzen, die partikulare Bindungen überwölbt. Wir haben in diesem Bild Gefäßstrukturen, Interaktionsstrukturen, institutionell verfestigte kollektive Identitäten, etwa in Gestalt einer verbindlichen und sanktionierten Rechtsordnung über alle kulturellen und regionalen Gemeinschaften hinweg, und eine weiche Strukturbildung, meist ohne oder nur mit einer schwach ausgeprägten institutionellen Verfestigung: das, was üblicherweise als kulturelle Identität bezeichnet wird. Diese beiden strukturbildenden Merkmale sind nicht unabhängig voneinander, aber man darf sie nicht identifizieren. Das ethnizistische Missverständnis des Nationalstaates identifiziert diesen mit einer partikularen, kulturell bestimmten Lebensform und empfindet daher jede Vervielfältigung kultureller und regionaler Gemeinschaften als eine Bedrohung. Diese ethnizistische Fassung des Nationalstaates tendiert zu einer Planierung und Nivellierung, im Konfliktfalle zur Unterdrückung partikularer (genauer: partikularerer) Gemeinschaften und provoziert dadurch wiederum Revolten, die sich über ethnische Identität legitimieren. Dieses Muster prägt den Kurdenkonflikt in der Türkei ebenso wie die separatistischen Bewegungen etwa der Katalanen oder der Schotten in Europa. Das, was durch Nivellierung und Assimilation zum Verschwinden gebracht werden soll, formiert sich als seinerseits „national“ interpretierter Widerstand neu. Statt als „Bergtürken“ die Differenzen der Lebensform langsam abklingen zu lassen, wie es der türkische Nationalismus erwartete und forderte, formiert sich eine virtuelle kurdische Nation, die nicht nur die Türkei, sondern drei weitere Staaten um ihre territoriale Integrität fürchten lässt. Auch der Umgang mit religiösen Gemeinschaften folgt demselben Muster: Solche Gemeinschaften, die sich marginalisiert fühlen, die ihre eigenen Gotteshäuser nicht errichten dürfen, die sich ins Private zurückziehen müssen, die sich gewissermaßen den Blicken der Mehrheitskultur entziehen müssen, um ihren religiösen Bräuchen und spirituellen Praktiken nachzugehen, sind vor die Alternative gestellt, sich zu assimilieren und einen Teil ihrer Identität aufzugeben, oder gerade das Verdrängte zum Zentrum einer wie auch immer imaginierten oppositionellen Identität zu machen. In dieser Hinsicht scheint mir die amerikanische Praxis in einer im hohen Maße von religiösen Empfindungen und Praktiken geprägten Gesellschaft geradezu vorbildlich zu sein: Gotteshäuser unterschiedlichster Provenienz, nicht nur christliche, stoßen – bislang – nicht auf Widerstand, und die Vielfalt christlicher Konfessionen lässt die christliche Mehrheitsgesinnung für andere Religionsgemeinschaften nicht als bedrohlich erscheinen. In den nichtmonotheistischen Religionen ist die Kombination unterschiedlicher religiöser Traditionen, ja, die multireligiöse Nutzung derselben Tempelanlagen ausgeprägter. Shintoistische und buddhistische, auch taoistische und konfuzianische Glaubensinhalte und -riten werden nicht als unvereinbar empfunden. Die Missionierung der Angehörigen anderer Glaubensrichtungen ist in diesen Kulturregionen unüblich. Auch die mit der religiösen Identität verbundene kulturelle Abschließung ist

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in den monotheistischen Religionsgemeinschaften verbreiteter und reicht bis zur massiven Sanktionierung, die sich in einigen Rechtsordnungen islamischer Staaten als Todesstrafe für die Abkehr vom muslimischen Glauben gehalten hat (Apostasie). Aber auch die Praxis der Endogamie, also die Praxis der Verheiratung innerhalb einer Religionsgemeinschaft, ist eine historische Gemeinsamkeit der drei monotheistischen Wüstenreligionen.27 Die gesellschaftliche Konvivialität unterschiedlicher Religionsgemeinschaften setzt bei allen Differenzen der Lebensformen und der Bewertungen einen Konsensus höherer Ordnung voraus, der sich auf den Umgang mit Religion und kulturellen Differenzen bezieht. Erst dieser Konsensus höherer Ordnung stiftet Zivilität, einen zivilen Umgang über Wertungsdifferenzen hinweg. Aber auch diese zivile Praxis angesichts religiöser Differenzen muss in der Alltagskultur verankert sein. Eine religiös motivierte Apartheid mit separaten Orten der Begegnung, des Amüsements, der Freizeit und der Arbeit, wäre mit dieser Form der Zivilität unvereinbar. Auch die Separierung in religiös einheitliche Viertel in den Großstädten mag manche Konflikte erst gar nicht entstehen lassen, ist aber ein Hindernis für eine gemeinsame, bürgerschaftliche (politisch verfasste) Identität. Die Hoffnung liberaler Philosophen, dass sich das Politische und das Kulturelle sorgsam trennen lassen, trügt. Wir sind mit einem Kontinuum von kleinen Partikularitäten des Nahbereichs über kulturelle und religiöse Gemeinschaften bis zu den normativen Konstitutiva ziviler Staatlichkeit und globaler Bürgerschaft konfrontiert. Die Praxis politischer Partizipation, also eine republikanisch verfasste Demokratie, kann in der Tat zur Befriedung kultureller und religiöser Konflikte einen wesentlichen Beitrag leisten; sie über den Nationalstaat auszudehnen, ist ein – kosmopolitisches – Postulat.

27 Diese Bezeichnung spielt auf die gleiche Ursprungsregion an, die ihre Gemeinsamkeiten, aber auch Unverträglichkeiten erklärt.

Demokratie im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus Philosophische Reflexionen zur Begründung und zum Wesen einer Weltgemeinschaft als einer freiheitlichen Konstruktion Von Daniela Demko Weder der Begriff der Globalisierung noch sich stellende Fragen zum Bedeutungs- und Inhaltsverhältnis zwischen Globalisierung und Kosmopolitismus sind bisher umfassend beantwortet. Ist der Kosmopolitismus mit seiner Ideengeschichte und gegenwärtigen Ausformung bereits seit langem Gegenstand der Philosophie, so fehlt es bis heute an einer in all ihren Einzelaspekten vollständig erarbeiteten Philosophie der Globalisierung. Der vorliegende Beitrag widmet sich anknüpfend an die Frage nach einem Weltdemos einem ausgewählten Aspekt einer Philosophie der Globalisierung und des Kosmopolitismus. Anliegen der nachfolgenden Ausführungen ist es aufzuzeigen, dass und in welcher Weise sich gerade das Freiheitsmoment – mit dem mit ihm einhergehenden freiheitlichen Konstruieren von Ich und Wir – und das freiheitlich konstruierte Relationsmoment als entscheidend erweisen für die Begründung und Wesensbestimmung einer (normativen) Weltgemeinschaft.

I. Gemeinschaft und die Bedeutungen des Freiheitsmoments und Relationsmoments Normatives Kernelement der Demokratie ist das Moment der Freiheit und anknüpfend an die Formulierung des ehemaligen US-amerikanischen Präsidenten Abraham-Lincoln zum Verständnis der Demokratie als Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk gestaltet sich dieses Freiheitsmoment in dreifacher Hinsicht aus.1 Bezieht sich das Freiheitsmoment bei der Regierung durch den Demos auf das Wie (d. h. auf die Wege, Verfahren bzw. Mittel, mittels welcher der Demos selbst bestimmen möchte), so betrifft das Freiheitsmoment bei der Regierung für den Demos das Was (d. h. die vom Demos selbstbestimmten Inhalte, Werte und 1

Siehe hierzu u. a. Neyer, Jürgen, Globale Demokratie, Baden-Baden 2013, S. 40 ff., 47 ff.; Marschall, Stefan, Demokratie, Opladen, Toronto 2014, S. 12 ff., 15 ff.; siehe hierzu des Weiteren u. a. Kirste, Stephan, Das Menschenrecht auf Demokratie, in: Stekeler-Weithofer, Pirmin/Zabel, Benno (Hrsg.), Philosophie der Republik, Tübingen, 2018, S. 463 ff., 486 ff., 491 ff.

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(u. a. Rechts-)Güter für das (Zusammen-)Leben).2 Verbunden mit der Selbstbestimmung des Wie und Was und dieser als „Home base“3 und grundlegende Ausgangsfrage vorausgehend ist die ebenfalls aus dem Freiheitsmoment folgende Selbstbestimmung des Wer, mit welcher die sich in Bezug auf den einzelnen Menschen und sein Ich stellende Frage nach dem „Wer bin ich und wer möchte ich sein“? und die sich in Bezug auf das Wir stellende Frage nach dem „Wer sind wir und wer möchten wir sein?“ angesprochen sind.4 Das die Freiheit grundlegend kennzeichnende Element ist das Element des Konstruierens,5 wonach sich als frei verstehende und verstanden wissen wollende und 2 Siehe hierzu u. a. Reder, Michael, Globalisierung und Philosophie. Eine Einführung, Darmstadt 2009, S. 59 ff.; Ottmann, Henning, Vier Modelle globaler Ordnung, in: Ottmann, Henning/Barisˇic´, Pavo (Hrsg.), Kosmopolitische Demokratie, Baden-Baden 2018, S. 165 ff.; Marschall, Demokratie, S. 16 f.; Neyer, Globale Demokratie, S. 49 ff. 3 Jonas, Klaus/Stroebe, Wolfgang/Hewstone, Miles (Hrsg.) Sozialpsychologie, Berlin/ Heidelberg, 2014, S. 192. 4 Siehe hierzu u. a. Thome, Helmut, Soziologie und Solidarität: Theoretische Perspektiven für die empirische Forschung, in: Bayertz, Kurt (Hrsg.), Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt am Main 1998, S. 231 ff. mit Hinweis auf Tugendhat: „Konstruktion einer personalen Identität erwächst aus dem Bemühen des Menschen, sich selbst die (immer wieder neu zu stellende) Frage zu beantworten: ,Was für ein Mensch bin ich und was für ein Mensch will ich sein?‘ (Tugendhat)“ (S. 231); Benhabib, Seyla, Kosmopolitismus und Demokratie, Frankfurt am Main 2008, S. 39: „We the People … definieren uns im Akt der Selbstgesetzgebung zugleich unmittelbar als ein Wir.“ (Hervorhebung im Original); Marschall, Demokratie, S. 16: „Was und wer genau ist unter „demos“ zu verstehen …?“; Alkemeyer, Thomas/ Bröckling, Ulrich, Jenseits des Individuums. Zur Subjektivierung kollektiver Subjekte. Ein Forschungsprogramm, in: Alkemeyer, Thomas/Bröckling, Ulrich/Peter, Tobias (Hrsg.), Jenseits der Person, Bielefeld 2018, S. 17 ff. 5 Siehe zum Konstruktionsmoment u. a. Delitz, Heike, Kollektive Identitäten, Bielefeld 2018, S. 11, 23 ff., 29 ff., 43 ff.: „konstruiert“ (S. 11); Jureit, Ulrike, Imagination und Kollektiv. Die „Erfindung“ politischer Gemeinschaften, in: Jureit, Ulrike (Hrsg.), Politische Kollektive, Münster 2001, S. 7 ff.: „Konstruktion … Konstruktionsleistung“ (S. 12); Herkenrath, Die Globalisierung der sozialen Bewegungen, Wiesbaden 2011, S. 53 ff.; Thome, in: Bayertz (Hrsg.), Solidarität. Begriff und Problem, S. 231: „Konstruktion einer personalen Identität“; Leidner, Bernhard/Tropp, Linda R./Lickel, Brian, Politische Psychologie von Gruppen, in: Zmerli, Sonja/Feldmann, Ofer (Hrsg.), Politische Psychologie, Baden-Baden 2015, S. 236 ff.: „wechselseitig wahrgenommenen Beziehungen zueinander“ (S. 236), „Gruppenkategorisierung“ (S. 237, Hervorhebung im Original), „psychologisch verbunden fühlen“ (S. 237); siehe im Zusammenhang mit dem rekonstruktiven und reflektiven Denken des Menschen näher Mead, George, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt am Main 2013, S. 28 f.; Nida-Rümelin, Julian, Humanistische Reflexionen, Berlin 2016, S. 361, 412, 429: „permanentes wertendes Stellungnehmen“ (S. 361), „Gemeinschaftsstiftung … stiften politische Identität“ (S. 412), „Die politische Gemeinschaft wird durch die Praxis kollektiver Entscheidungen gestiftet.“ (S. 429, Hervorhebung im Original); Nussbaum, Martha, Politische Emotionen, Berlin 2016, S. 188: „Erzeugung einer universellen Verbundenheit aller Menschen“; Alkemeyer/Bröckling, in: Alkemeyer/Bröckling/Peter (Hrsg.), Jenseits der Person, S. 17 ff.: „Ein Subjekt ist man nicht, man wird dazu gemacht und muss sich selbst dazu machen. Subjekte sind … Effekte von Subjektivierungspraktiken“ (S. 17); Schweitzer, Doris, Die Subjektwerdungen der juristischen Person. Subjektivierungstheoretische Überlegungen zur rechtlichen Personalisierung von Kollektiven, in: Alkemeyer, Thomas/Bröckling, Ulrich/

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normativ sollende Menschen als Autoren ihres Lebens6 ihr Ich und Wir (sowie daran anschließend das Wie und Was ihres (Zusammen-)Lebens) in einem Selbstreflexionsprozess unter Einbezug von Vernunfts-, emotionalen und moralischen Komponenten und unter Loslösung von äußerer und innerer Fremdbestimmung selbst bestimmen wollen und normativ sollen.7 Zur Freiheit gehört hierbei – sonst wäre es keine Freiheit – der mit dem Grundelement des Konstruierens verbundene Aspekt des Immerwieder-neu-Konstruierens, womit zugleich zwei zusammengehörende Gesichtspunkte, zum einen der des Konstruktionsprozesses und zum anderen der des aus dem Konstruktionsprozess (dem Konstruieren) hervorgehenden Konstruktionsergebnisses,8 mitangesprochen sind. Menschen befinden sich während ihres gesamten (Zusammen-)Lebens in einem fortlaufenden Konstruktionsprozess bezüglich ihres Wer (ihres Ich und Wir) sowie ihres Wie und Was ihres (Zusammen-)Lebens, d. h. erfinden, erschaffen, kreieren, entwickeln sich – was gerade Ausdruck ihrer Freiheit ist – ständig neu. Bei den im Konstruktionsprozess erschaffenen Konstruktionsergebnissen handelt es sich (zum Ersten) nicht um objektive Gegebenheiten und erst recht nicht um dauerhaft feststehende und unveränderliche objektive Gegebenheiten, sondern um vom/von Menschen subjektiv-intersubjektiv Konstruiertes, Erfundenes, Kreiertes, Erschaffenes. Hiermit ist (zum Zweiten) verbunden, dass es diese erschaffenen Konstruktionsergebnisse in ihrem Charakter als „fluide und permanent vorläufig“,9 d. h. in ihrem flüchtigen, temporären, stets vorläufigen und mit der Möglichkeit von permanenten Veränderungen und Neuerfindungen eines immer wieder neu konPeter, Tobias (Hrsg.), Jenseits der Person, Bielefeld 2018, S. 178, 181 f.; Sen, Amartya, Die Identitätsfalle, München 2015, S. 9 f.: „entscheiden, welche Bedeutung wir unseren einzelnen Bindungen und Zugehörigkeiten zumessen“ (S. 9), „nachdenken und eine Wahl treffen“ (S. 9); Sakai, Naoki, Der Ort von Vergleich und Transnationalität. Ein Plädoyer für vergleichende Geisteswissenschaften, in: Bhatti, Anil u. a. (Hrsg.), Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma, Konstanz 2015, S. 136, 140 mit Ausführungen (u. a.) zur Grenzziehung (bordering): „eine Grenze (ist) immer etwas Menschengemachtes“; Hörning, Karl, Was fremde Dinge tun. Sozialtheoretische Herausforderungen, in: Hahn, Hans Peter (Hrsg.), Vom Eigensinn der Dinge, Berlin 2015, S. 166 f.; Rauhut, Andreas, Gemeinsam gegen Armut?, Leipzig 2015, S. 79; Reder, Michael, Philosophie pluraler Gesellschaften, Stuttgart 2018, S. 34. 6 Siehe hierzu u. a. Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 379 ff.: „Menschen sind Autorinnen und Autoren ihres Lebens“ (S. 379), „im Zentrum eines humanistischen Ethos steht“ (S. 381, Hervorhebung im Original). 7 Siehe u. a. Herkenrath, Die Globalisierung der sozialen Bewegungen, S. 54; Leidner/ Tropp/Lickel, in: Zmerli/Feldmann (Hrsg.), Politische Psychologie, S. 246; Reder, Philosophie pluraler Gesellschaften, S. 33 f.; Kirste, in: Stekeler-Weithofer/Zabel (Hrsg.), Philosophie der Republik, S. 486 ff., 491 ff. 8 Siehe u. a. Herkenrath, Die Globalisierung der sozialen Bewegungen, S. 55: „Prozess und Resultat“ (Hervorhebung im Original), „beide Aspekte (müssen) analysiert werden“; „doch nehmen außenstehende Dritte in der Regel nicht den Prozess der Identitätsbildung wahr, sondern die Erscheinungsformen des gerade aktuellen Resultats“. 9 Herkenrath, Die Globalisierung der sozialen Bewegungen, S. 55; siehe zudem u. a. Jonas/Stroebe/Hewstone (Hrsg.) Sozialpsychologie, S. 192: „Raum für eine Veränderung des Selbst“; Stürmer, Stefan/Siem, Birte, Sozialpsychologie der Gruppe, München 2013, S. 17: „nicht als statische Konzepte …, sondern als dynamisch und kontextabhänig“.

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struierten Wer (sowie Wie und Was) zu erkennen gilt.10 Die im Rahmen des – während des gesamten (Zusammen-)Lebens fortlaufenden – Konstruktionsprozesses erschaffenen Konstruktionsergebnisse zum Wer (sowie Wie und Was) stellen sich (zum Dritten) als erschaffene Zwischenkonstruktionsergebnisse zu dem jeweils aktuell gewollten und normativ gesollten Wer (sowie Wie und Was) dar: Es sind Konstruktionsergebnisse, welche von den sie konstruierenden Menschen mit Bezug auf den jeweils aktuellen zeitlichen, räumlichen, sozialen usw. Kontext normativ als richtig angesehen werden und welchen – u. a. um Handlungsorientierung im (Zusammen-)Leben zu finden – (zum Vierten) die Bedeutung, Geltung und/oder sogar Verbindlichkeit eines Objektiven zugeschrieben wird: D. h., im und trotz Bewusstsein(s), dass das konstruierte Wer (sowie Wie und Was) keine objektive und erst recht keine auf Dauer feststehende objektive Gegebenheit ist, wird dieses konstruierte Wer (sowie Wie und Was) „als objektiv“ und „als objektiv verbindlich“ für das (Zusammen-) Leben gesetzt. Dieses freiheitliche (Immer-wieder-neu-)Konstruieren ist nicht nur mit Bezug auf das Ich, sondern auch auf das Wir von zentraler Bedeutung: Eine Gemeinschaft ist keine objektive Gegebenheit, welche der Mensch „lediglich zu ,entdecken‘ braucht“.11 Vielmehr wird das (normative) Wir von Menschen gerade als Ausdruck ihrer Freiheit subjektiv-intersubjektiv konstruiert, d. h. der sich als frei verstehende und verstanden wissen wollende und normativ sollende Mensch ist als Ausgangs- und Mittelpunkt für das in seiner Selbstbestimmung liegende Ent-/Bestehen einer Gemeinschaft anzusehen.12 Dieses für die Begründung einer Gemeinschaft (und auch einer Weltgemeinschaft) maßgebende Freiheitsmoment ist mit Bezug auf die 10 Siehe u. a. Reder, Michael/Pfeifer, Hanna/Cojocaru, Mara-Daria, Was hält Gesellschaften zusammen? Eine Einführung, in: Reder, Michael/Pfeifer, Hanna/Cojocaru, Mara-Daria (Hrsg.), Was hält Gesellschaften zusammen?, Stuttgart, 2013, S. 13: „Idee der Menschheit, die ständig neu von allen Mitgliedern der Gesellschaft zu verwirklichen ist“ (S. 13), „in einem fortlaufenden Prozess der Selbst- und Neuerfindung“ (S. 13); Reder, Philosophie pluraler Gesellschaften, S. 129; Delitz, Kollektive Identitäten, S. 11: „… stets konstruiert. Sie ist imaginär und muss daher permanent diskursiv und symbolisch aktualisiert werden“ (S. 11); Herkenrath, Die Globalisierung der sozialen Bewegungen, S. 55; Thome, in: Bayertz (Hrsg.), Solidarität. Begriff und Problem, S. 231: „immer wieder neu“; Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 363 f., 411: „die eine oder andere Einstellung aufgeben“ (S. 362); Assmann, Aleida, Ähnlichkeit als Performanz. Ein neuer Zugang zu Identitätskonstruktionen und Empathie-Regimen, in: Bhatti, Anil u. a. (Hrsg.), Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma, Konstanz 2015, S. 170 f.: „Was ihr Selbstbild angeht, so bleiben sie durchaus … die Subjekte eigener Wahlfreiheit in konkreten und kontingenten Situationen“ (S. 170), „können etablierte Schranken und Abgrenzungen immer wieder neu ,verhandelt‘ werden“ (S. 170). 11 Sen, Die Identitätsfalle, S. 21. 12 Siehe hierzu u. a. Eigmüller, Monika, Der duale Charakter der Grenze. Bedingungen einer aktuellen Grenztheorie, in: Eigmüller, Monika/Vobruba, Georg (Hrsg.), Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes, Wiesbaden 2006, S. 63 ff. mit Ausführungen (u. a.) zum Raum und zur Grenze: „konstruierte Realität“ (S. 66), „gesellschaftliche(r) Interaktionsraum(s)“ (S. 67, Hervorhebung im Original), „(inter)subjektive(r) Sinnbesetzung“ (S. 68), „die Grenze selbst (ist) … nichts, sondern die Grenze wird erst durch die Menschen und ihre Beziehungen in Bezug auf die Grenzziehung real“ (S. 70).

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Frage, was genau das Wesen einer Gemeinschaft und den eine Gemeinschaft (und auch eine Weltgemeinschaft) grundlegend charakterisierenden Wesenskern bestimmt, mit dem Relationsmoment zu verbinden, hierbei anknüpfend an das sog. Zwischen zwischen dem einen Ich und dem anderen Ich, wie es sich in verschiedenen Auffassungen zur Gemeinschaft und/oder Grenze – u. a. von Nancy und Simmel – wiederfindet.13 Mit Blick auf die Wesensbestimmung einer normativen Gemeinschaft ist hierbei (zum Ersten) nicht an ein sog. überindividuelles Wir, sondern an das unmittelbare Verhältnis von Mensch zu Mensch anzuknüpfen und unter Anknüpfung an dieses direkt-horizontale Verhältnis zwischen Mensch und Mensch (zum Zweiten) danach zu fragen, ob und in welcher Weise sich die Menschen zueinander in Beziehung bzw. in Relation setzen und welche Bedeutungen und Inhalte sie hierbei dem zwischen ihnen bestehenden Relationsmoment – d. h. dem Zwischen zwischen dem einen individuellen Ich und dem anderen individuellen Ich – freiheitlich konstruierend zuschreiben und zuerkennen wollen und normativ sollen. Das Relationsmoment mit Blick auf eine normative Gemeinschaft mithin (nicht auf die Seins-, sondern) auf die Sollensebene beziehend und mit dem Freiheitsmoment verknüpfend – und damit das Relationsmoment in seinem für eine normative Gemeinschaft entscheidenden Verständnis als freiheitlich konstruiertes Relationsmoment erkennend – ent-/besteht eine normative Gemeinschaft als eine freiheitliche Konstruktion (zum Dritten) dann und solange, wenn und solange die individuellen Ich dem zwischen ihnen bestehenden Relationsmoment die Bedeutungen und Inhalte eines SichVerbindens in einem Mit-und Füreinander zuschreiben und zuerkennen wollen und normativ sollen.14 13

Siehe hierzu auch die vertiefenden Ausführungen und Nachweise unter III.2.; siehe zudem u. a. Nancy, Jean-Luc, Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988, siehe dort die Ausführungen u. a. auf den S. 16 ff., 60 ff., 65 ff.: „Sie besteht im Erscheinen des Zwischen als solchem: du und ich (das Zwischen-uns) …“ (S. 65, Hervorhebung im Original); Simmel, Georg, Soziologie, Berlin 2013, S. 11 ff.: „Wechselwirken und … Zusammenwirken“ (S. 11), „Wechselwirkung“ (S. 12); Gertenbach, Lars/Henning, Laux/Rosa, Hartmut/Strecker, David, Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, Hamburg 2010 mit Ausführungen u. a. zu den dekonstruktiven Positionen zu Gemeinschaft und zu Nancy, S. 158 ff.; Milà, Natàlia Cantó, Die Grenze als Relation. Spanische Grenzrealität und europäische Grenzpolitik, in: Eigmüller, Monika/Vobruba, Georg (Hrsg.), Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes, Wiesbaden 2006, S. 189 ff. mit Ausführungen u. a. zu Simmel und seiner Auffassung von der Gesellschaft und Grenze: „Relationalismus (Relativismus)“ (S. 191); Herrmann, Steffen, IchAndere-Dritte. Eine Einführung in die Sozialphilosophie, Freiburg, München 2018, mit Ausführungen u. a. zu Simmel auf den S. 133 ff: „Wechselwirkung“ (S. 134); Moebius, Stephan, Simmel lesen, Stuttgart 2002, S. 50 ff.: „Wechselwirkung“ (S. 52, Hervorhebung im Original), „Netzwerk von Wechselwirkungen“ (S. 53). 14 Siehe u. a. Simmel, Soziologie, S. 11 ff.: „das isolierte Nebeneinander der Individuen zu bestimmten Formen des Miteinander und Füreinander gestalten“ (S. 13, Hervorhebung durch die Verfasserin); Sen, Die Identitätsfalle, S. 9 f., 21, 33 f. mit Ausführungen u. a. dazu, dass die „Freiheit, über unsere Loyalitäten und die Rangfolge der Gruppen, denen wir angehören, selbst zu entscheiden, … eine besonders wichtige Freiheit (ist), die anzuerkennen, zu schätzen und zu verteidigen wir allen Grund haben“ (S. 21 (Hervorhebung durch die Verfasserin), „entscheiden, welche Bedeutung wir unseren einzelnen Bindungen und Zugehörigkeiten zumessen“ (S. 9), „nachdenken und eine Wahl treffen“ (S. 9), „beigemessen wird“ (S. 33); Beck,

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Das mit dem freiheitlich konstruierten Zwischen angesprochene freiheitlich konstruierte Relationsmoment erweist sich mithin als zentral mit Bezug auf die Frage nach dem normativen Zusammenleben von Menschen, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen, wie bereits oben aufgezeigt, ist das freiheitlich konstruierte Relationsmoment relevant mit Bezug auf die Begründung und das Wesen einer normativen Gemeinschaft als solcher – und ist damit von wichtiger Bedeutung auch für eine normative Weltgemeinschaft – mit der hierfür wichtigen Bezugnahme auf die von Menschen freiheitlich konstruierte Relation zwischen dem einen Ich und dem anderen Ich.15 Zum anderen ist das freiheitlich konstruierte Relationsmoment – und auch dies ist mit Blick auf eine normative Weltgemeinschaft und ihr Verhältnis zu und ihr Zusammenwirken mit partikularen Gemeinschaften von wichtiger Bedeutung – relevant mit Bezug auf die Frage nach dem normativen Verhältnis zwischen und dem normativen Zusammenwirken von mehreren Gemeinschaften mit der hierfür wichtigen Bezugnahme auf die ebenso von Menschen freiheitlich konstruierte Relation zwischen dem einen Wir und dem anderen Wir: Ist in freiheitlicher Konstruktion eine Gemeinschaft bzw. – da Menschen nicht nur eine Gemeinschaft, sondern mehrere Gemeinschaften erschaffen können – sind in freiheitlicher Konstruktion mehrere Gemeinschaften erschaffen worden, dann liegt es in der ebenso freiheitlichen Konstruktion der Menschen zu entscheiden, welche Bedeutungen und Inhalte sie dem Relationsmoment zwischen dem einen Wir und dem anderen Wir zuerkennen wollen und normativ sollen.16

II. Globalisierung und Kosmopolitismus im Lichte des Relationsmoments Sich stellende Fragen zum genauen Verhältnis zwischen Kosmopolitismus und Globalisierung, einschließlich der zwischen ihnen bestehenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede, sind bisher nicht umfassend und nicht übereinstimmend beantwortet. Zu lesen ist in Bezug auf die Globalisierung u. a. von einer „neuerliche(n) Renaissance der Kosmopolitanismus-Diskussion …“, einem „… erweiterte(n) kosmopolitische(n) Bewusstsein“17 und davon, dass „Kosmopolitismus und WeltbürgerUlrich, Was ist Globalisierung?, Frankfurt am Main 1997, S. 55 f.: „Konzept“ (S. 55, Hervorhebung im Original), „tatsächlich aber erfunden wurde“ (S. 56, Hervorhebung im Original); Schellhaas, Fabian, Die „internationale Gemeinschaft“ im 21. Jahrhundert – Ein Gespenst geht um …, in: Tomuschat, Christian (Hrsg.), Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2009, S. 36: „Bekenntnisse“; Gertenbach/Henning/Rosa/Strecker, Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, S. 160: „Denken in Relationen (statt in Substanzen)“ (S. 160); Milà, in: Eigmüller/Vobruba (Hrsg.), Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes, S. 189 ff. mit Ausführungen u. a. zu Simmel und seiner Auffassung von der Gesellschaft und Grenze: „Vergesellschaftung“ (S. 190). 15 Siehe hierzu zudem die vertiefenden Ausführungen unter III. 1. und 2. 16 Siehe hierzu die vertiefenden Ausführungen unter II., III. und IV. 17 Hartmann, Martin/Offe, Claus, Politische Theorie und Politische Philosophie, München 2011, S. 239.

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tum … geradezu die „normative Seite der Globalisierung“ zu sein (scheinen)“18 und „die verschiedenen Traditionen des Kosmopolitismus … als Philosophie der Globalisierung ante litteram verstanden werden“19 können. Auch wenn es bis heute an einer allgemein verbindlichen Definition für die Globalisierung und einer umfassend erarbeiteten Philosophie der Globalisierung, einschließlich einer vollständigen Beantwortung aller Fragen zum Verhältnis zwischen Kosmopolitismus und Globalisierung, fehlt,20 so lässt sich dennoch das Relationsmoment als das den Kosmopolitismus und die Globalisierung prägende Moment erkennen und für sowohl die Seinsebene als auch die Sollensebene betreffende Untersuchungen zum Kosmopolitismus und zur Globalisierung, einschließlich einer Philosophie des Kosmopolitismus und der Globalisierung, fruchtbar machen. Dieses auf das Zwischen Bezug nehmende Relationsmoment findet sich im Kontext der Globalisierung in Bezeichnungen, wie z. B. Netzwerk oder Vernetzung21 wieder, auch als „Relation“22 bezeichnet, welche 18 Ottmann, Henning, Einleitung, in: Ottmann, Henning/Barisˇic´ (Hrsg.), Kosmopolitische Demokratie, Baden-Baden 2018, S. 9. 19 Cheneval, Francis, Philosophie, in: Niederberger, Andreas/Schink, Philipp (Hrsg.), Globalisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2011, S. 142 (Hervorhebung im Original). 20 Siehe hierzu u. a. Niederberger, Andreas/Schink, Philipp, Einleitung: Phänomene, Theorien und Kontroversen der Globalisierung, in: Niederberger, Andreas/Schink, Philipp (Hrsg.), Globalisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2011, S. 5: „keine Definition (hat sich) bislang als allgemein verbindlich durchsetzen können“; Cheneval, in: Niederberger/Schink (Hrsg.), Globalisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, S. 142: „Im strengen Sinn gibt es keinen philosophischen Begriff ,Globalisierung‘“. 21 Siehe u. a. die Ausführungen in Niederberger, Andreas/Schink, Philipp (Hrsg.), Globalisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2011, und den dortigen verschiedenen Beiträgen, z. B. S. 1 ff. („globale(n) wechselseitige(n) Verbundenheit“ (S. 2), „,globale(r) Interdependenz‘ … globale(r) Zusammenhänge“ (S. 3)), S. 142 ff., 251 f.; Emmerich-Fritsche, Angelika, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, Berlin 2007, S. 63 f.: „Globale Vernetzung verschiedener Lebensbereiche“ (S. 64); Habermas, Jürgen, Politische Theorie, Frankfurt am Main 2009, S. 407 f.; Herkenrath, Die Globalisierung der sozialen Bewegungen, S. 121 f.; Stichweh, Rudolf, Der Zusammenhalt der Weltgesellschaft: Nicht-normative Integrationstheorien in der Soziologie, in: Beckert, Jens u. a. (Hrsg.), Transnationale Solidarität, Frankfurt am Main 2004, S. 239 ff.: „strukturelle Vernetzungen“ (S. 241); Held, David, Kosmopolitanismus – Ideal und Wirklichkeit, Freiburg, München 2013, S. 9, 15, 39 ff.: „Netzwerke … Verkettung“ (S. 9), „immer stärker vernetzte(n) Welt“ (S. 15), „miteinander verwoben“ (S. 40), „Grad der Vernetzung gegenseitiger Abhängigkeiten steigt stetig an“ (S. 42); Reder, Globalisierung und Philosophie. Eine Einführung, S. 7 ff., 29 ff., 37 ff. mit Ausführungen zu Vernetzungen in verschiedenen Bereichen, z. B. „räumlich-geographische Vernetzungen“ (S. 8), „transnationale(n) Kooperationsnetzwerke“ (S. 10), „transnationale(n) Vernetzung“ (S. 10)), „Netzwerktheorie“ (S. 32) mit globalen Prozessen, die „durch ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Akteure im öffentlichen Raum geprägt sind. Sie bilden auf unterschiedlichen Ebenen Netzwerke miteinander und versuchen, durch diese globales Leben zu beeinflussen“ (S. 32), „Netzwerkgesellschaft“ (S. 32), „Das, was Globalisierung ausmacht, sind die Vernetzungen …“ (S. 37); Küchler, Susanne, Wenn Dinge Netzwerke sind, in: Hahn, Hans Peter (Hrsg.), Vom Eigensinn der Dinge, Berlin 2015, S. 127 ff.: „Das Netzwerk ist die neue soziale Sphäre“ (S. 127); Hörning, in: Hahn (Hrsg.), Vom Eigensinn der Dinge, S. 163 ff.: „dem Dazwischen, den Vermittlungen, Vernetzungen, Verknotungen, dem dyna-

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„philosophisch betrachtet zur Grundkategorie einer überzeugenden Globalisierungstheorie“23 werde. Mit dem Konzept der Globalisierung werden weltweit grenzübergreifende bzw. weltweit grenzenlose Vernetzungen, Verflechtungen, Interaktionen beschrieben, die eine Vielzahl von verschiedenen, sich wechselseitig beeinflussenden Bereichen – z. B. Wirtschaft, Politik, Recht, Kultur, Kommunikation, Kriminalität, Umwelt – betreffen, weshalb auch von der Globalisierung als einem „multidimensionale(n) Phänomen“,24 den „Globalisierungen im Plural“25 bzw. der „Vielzahl von globalen Interaktionen“26 zu lesen ist. Die Zunahme, Verdichtung und Beschleunigung dieser weltweit grenzüberschreitenden/grenzenlosen Vernetzungen lässt (entgegen einem reduzierten, einseitigen und fehlerhaften Container- und Schubladen-Bild27) die an sich große Welt immer mehr, und zwar nicht nur in Bezug auf das äußere, sondern gerade auch auf das innere – die Wahrnehmung und das damit verbundene wiedererstarkte und gestiegene Bewusstsein28 sowie damit einhergehend die mischen Beziehungsgeflecht“ (S. 163), „ließen sich nicht von Grenzen abhalten“ (S. 164), „Die – aus westlicher Sicht – vorgeblich völlig isolierten Gesellschaften waren nie allein auf der Welt, immer hatten sie Nachbarn, die auch wieder Nachbarn hatten, mit denen sie in ein Netz von Austauschbeziehungen verwickelt waren“ (S. 164 f.); Sen, Die Identitätsfalle, S. 190 ff.: „Werte(n) … Ethik … Zugehörigkeitsgefühl, die unsere Wahrnehmung der globalen Welt prägen“ (S. 192), „Wir müssen … dafür sorgen, daß unser Geist nicht durch einen Horizont halbiert wird“ (S. 193); Rauhut, Gemeinsam gegen Armut?, S. 38: „Netzwerke“, „Vernetzungen“; Reder/Pfeifer/Cojocaru, in: Reder/Pfeifer/Cojocaru (Hrsg.), Was hält Gesellschaften zusammen?, S. 19; Reder, Philosophie pluraler Gesellschaften, S. 118 ff.; Brunkhorst, Hauke, There Will Be Blood. Konstitutionalisierung ohne Demokratie?, in: Brunkhorst, Hauke (Hrsg.), Demokratie in der Weltgesellschaft, Baden-Baden 2009, S. 114: „Netzwerk“ (Hervorhebung im Original); Schellhaas, in: Tomuschat (Hrsg.), Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert, S. 36: „miteinander vernetzt sind“. 22 Reder, Globalisierung und Philosophie. Eine Einführung, S. 37. 23 Reder, Globalisierung und Philosophie. Eine Einführung, S. 37, siehe zudem: „Das, was Globalisierung ausmacht, sind die Vernetzungen – der Philosoph nennt diese auch Relationen“ (S. 37). 24 Herkenrath, Die Globalisierung der sozialen Bewegungen, S. 113. 25 Herkenrath, Die Globalisierung der sozialen Bewegungen, S. 113 (Hervorhebung im Original). 26 Sen, Die Identitätsfalle, S. 134. 27 Siehe hierzu zudem die vertiefenden Ausführungen unter IV.; siehe des Weiteren u. a. Beck, Was ist Globalisierung?, S. 49 ff. zur „Container-Theorie der Gesellschaft“ (S. 49); Delitz, Kollektive Identitäten, S. 50: „jegliche kollektive ,Container‘ aufzubrechen“. 28 Siehe u. a. Callicott, J. Baird, Die begrifflichen Grundlagen der land ethic, in: Krebs, Angelika (Hrsg.), Naturethik, Frankfurt am Main 1997, S. 220: „Wahrnehmung – wie vage und unklar sie auch immer sei –, daß die Menschheit weltweit eine Gesellschaft, eine Gemeinschaft darstelle, sei sie auch noch so unbestimmt oder institutionell unorganisiert“; Heinonen, Reijo, E., Globale Ethik. Auf der Suche nach einer neuen Weltorientierung, in: Yousefi, Hamid Reza/Seubert, Harald (Hrsg.), Ethik im Weltkontext, Wiesbaden 2014, S. 315 ff.: „Bewusstseinsänderung“ (S. 315), „neue Bewusstseinsänderung in Richtung planetarische Verantwortlichkeit“ (S. 322); Schellhaas, in: Tomuschat (Hrsg.), Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert, S. 36 f.; Rauhut, Gemeinsam gegen Armut?, S. 38 f.: „Bewusstsein … anwächst“ (S. 39); Held, Kosmopolitanismus – Ideal und Wirklichkeit, S. 22 f.: „wiedererstarktes Bewusstsein“ (S. 22), „wachsendes Bewusstsein“ (S. 23); Brunkhorst, in: Brunkhorst

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Vernunfts-, emotionalen und moralischen Komponenten betreffende – Zusammenleben weltweit aller Menschen als eine kleine Welt (zu lesen ist hier auch u. a. von der Welt als einem globalen Dorf29) erscheinen.30 Es entsteht (z. B. durch das Kommunikationsmittel des Internets) bzw. genauer, es wird konstruiert ein Weltbild von einer Welt als einem weltweiten Raum sozialer Lebens-, Handlungs- und Kommunikationszusammenhänge und von den in ihr (zusammen-)lebenden Menschen, welche (zum Ersten) sich und ihr (Zusammen-)Leben als ein weltweit Zeitgleich-Hier und Dort31 und als ein weltweit natürliche und künstliche Grenzen Überschreitendes32 oder sogar weltweit Grenzenloses sowie (zum Zweiten) sich selbst hierbei in ihrem aktiven und unmittelbar von Mensch zu Mensch weltweit miteinander Interagieren und Sich-Verbinden-Können wahrnehmen.33 Der Gedanke eines Weltbezugs ist hierbei kein erst mit der Globalisierung entstandener neuer Gedanke, sondern prägte bereits die Philosophie des Kosmopolitismus.34 Kennzeichen des Kosmopolitismus und der Globalisierung ist ihre die gesamte Welt und die gesamte Menschheit zum maßgebenden und primären Referenzpunkt wählende universalistische Ausrichtung mit Blick auf eine Welt(gemeinschaft) und (Hrsg.), Demokratie in der Weltgesellschaft, S. 110; Delitz, Kollektive Identitäten, S. 43; Schellhaas, in: Tomuschat (Hrsg.), Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert, S. 36: „wahrgenommen“. 29 Siehe u. a. Callicott, in: Krebs (Hrsg.), Naturethik, S. 220: „in ein ,globales Dorf‘ (,global village‘) verwandelt“. 30 Siehe u. a. Dietrich, Frank/Zanetti, Veronique, Philosophie der internationalen Politik, Hamburg 2014, S. 127: „In der durch die Globalisierung der Wirtschafts- und Kommunikationswege klein gewordenen Welt“. 31 Siehe u. a. Beck, Was ist Globalisierung?, S. 58: „Hier-wie-Dort, ein Sowohl-als-Auch“. 32 Siehe u. a. Beck, Was ist Globalisierung?, S. 174: „über Grenzen hinweg“ (Hervorhebung im Original). 33 Siehe u. a. Beck, Was ist Globalisierung?, S. 178: „aktive, gleichzeitige und gegenseitige Kontaktaufnahme zwischen einzelnen Akteuren über alle Grenzen … hinweg“; Hörning, in: Hahn (Hrsg.), Vom Eigensinn der Dinge, S. 165 f.: „gedehnte(n) Gegenwart“ (S. 165, Hervorhebung im Original); Reder, Globalisierung und Philosophie. Eine Einführung, S. 7 ff., 30 ff. mit Ausführungen u. a. dazu, dass Globalisierung „nicht mehr nur ein Prozess von Staaten, sondern von Individuen, Institutionen und Organisationen unterschiedlichster Art“ (S. 10) ist, „globale Zivilgesellschaft“ (S. 31); Herkenrath, Die Globalisierung der sozialen Bewegungen, S. 114: „horizontales und interaktives Medium“, Auflösung der „Grenzen zwischen der öffentlichen Außen- und der bewegungsinternen Binnenkommunikation“; Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, S. 62 f.: Anknüpfung an die „vielfältigen menschlichen Lebensbeziehungen“ (S. 62). 34 Siehe hierzu u. a. Schellhaas, in: Tomuschat, Christian (Hrsg.), Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert, S. 30 ff.; Benhabib, Seyla, Kosmopolitismus ohne Illusionen, Berlin 2016, S. 23 ff.; Reder, Globalisierung und Philosophie. Eine Einführung, S. 7 ff., 13 ff.; Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, S. 197 ff.; siehe zudem die Beiträge in Lutz-Bachmann, Matthias/Niederberger, Andreas/Schink, Phillip (Hrsg.), Kosmopolitanismus, Weilerswist, 2010; Demko, Daniela, Zur Entwicklung einer kosmopolitisch-pluralistischen Weltrepublik, in: Stekeler-Weithofer, Pirmin/Zabel, Benno (Hrsg.), Philosophie der Republik, Tübingen, 2018, S. 494 ff.

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eine weltweite Verbundenheit aller Menschen kraft ihres Menschseins.35 Anerkannt ist hierbei zugleich, dass Menschen zusätzlich zu ihrer Zugehörigkeit zur Welt(gemeinschaft) als dem umfassendsten Zugehörigkeitskreis auch partikularen (etwa familiären, lokalen, nationalen und regionalen) Gemeinschaften angehören können – d. h. dass Mehrfachzugehörigkeiten zu mehreren Gemeinschaften möglich sind36 –, und es wird zudem nach Antworten zur Frage des als richtig anzusehenden Verhältnisses und Zusammenwirkens zwischen partikularen Gemeinschaften und der Welt(gemeinschaft) gesucht.37 Das freiheitlich konstruierte Relationsmoment erweist sich im Kontext der Globalisierung und des Kosmopolitismus in zweifacher Hinsicht als wichtig: Mit der den Kosmopolitismus und die Globalisierung kennzeichnenden Hervorhebung der maßgebenden und primären Zugehörigkeit der Menschen zur Welt(gemeinschaft) ist die Bedeutung des sich auf die Begründung und Wesensbestimmung einer norma35

Siehe u. a. Hartmann/Offe, Politische Theorie und Politische Philosophie, S. 238 ff.; Schellhaas, in: Tomuschat, Christian (Hrsg.), Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2009, S. 29: „ganzheitlich-globale Ausrichtung der Gemeinschaft, die „Aufhebung“ der Nationalitäten“ (S. 29), „kraft ihres Menschseins miteinander verbunden“ (S. 30, siehe zudem S. 36), „also auch heute die nach wie vor gültige Idee, dass zwischen allen Menschen eine gewisse Verbundenheit kraft ihrer Menschennatur besteht“ (S. 52); Held, Kosmopolitanismus – Ideal und Wirklichkeit, S. 10: „was allen Menschen gemeinsam ist … uns alle als zu einer Spezies gehörig bestimmen“; Hartmann/Offe, Politische Theorie und Politische Philosophie, S. 306; siehe auch u. a. Stürmer/Siem, Sozialpsychologie der Gruppe, S. 104. 36 Siehe u. a. Höffe, Otfried, Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, München 2004, S. 101: „neuartig mehrfachen Staatsbürgerschaft“; Schellhaas, in: Tomuschat, Christian (Hrsg.), Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert, S. 30 f.; Sen, Die Identitätsfalle, S. 8 ff., 26 ff., 35, 50; Delitz, Kollektive Identitäten, S. 39 ff.: „Individuelle Identität setzt sich stets aus mehreren kollektiven Identitäten zusammen“ (S. 39). 37 Siehe u. a. Köhler, Benedikt, Soziologie des Neuen Kosmopolitismus, Wiesbaden, 2006, S. 22 ff.; Albert, Mathias, Zur Politik der Weltgesellschaft. Identität und Recht im Kontext internationaler Vergesellschaftung, Weilerswist, 2002, S. 103 ff., 192 ff.: „… gleichzeitig ein Umbau nationalstaatlicher kollektiver Identitäten und ein Auffalten alternativer Formen der Konstruktion grobräumiger kollektiver Identitäten in Gestalt der verschiedenartigen transnationalen Gemeinschaften …“ (S. 199, kursive Hervorhebung des gesamten Zitats im Original; hier vorgenommene kursive Hervorhebungen durch Verfasserin); Höffe, Otfried, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München, 1999, S. 230 ff., 335 ff.; Broszies, Christoph/Hahn, Henning, Die Kosmopolitismus-Partikularismus-Debatte im Kontext, in: Broszies, Christoph/ Hahn, Henning (Hrsg.), Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus, Berlin, 2010, S. 10 ff., 26 ff., 42 ff.; Höffe, Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung, S. 101 f.: in der „neuartig mehrfachen Staatsbürgerschaft“ (S. 101) sei man „(P)rimär … Staats- oder Europabürger, und sekundär das andere, folglich in gestufter Weise beides zusammen, und tertiär ist man Weltbürger“ (S. 101 f.); dazu ebenso Höffe, Otfried, Vision Weltrepublik. Eine philosophische Antwort auf die Globalisierung, in: Brugger, Winfried u. a. (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main, 2008, S. 395 f.; Höffe, Otfried, Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung, München, 2004, S. 170 f.: „Weltbürger, aber nicht im exklusiven, sondern komplementären Verständnis“ (S. 170 f.), „komplementäre Weltrechtsordnung“ (S. 171), „Mehrfachbürgerschaft“ (S. 171).

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tiven Weltgemeinschaft als solcher beziehenden Relationsmoments im Sinne eines freiheitlich konstruierten Sich-Verbindens, Sich-Vernetzens bzw. Sich-in-Beziehung-Setzens weltweit aller Menschen angesprochen. Zudem verweisen Kosmopolitismus und Globalisierung mit ihrer die gesamte Welt und Menschheit ins Zentrum stellenden Ausrichtung und ihrem Vorrang des kosmopolitischen/globalisierten Kontextes vor partikularen Kontexten – in einer Antithese zu einem Primat partikularer Gemeinschaften38– auf das Erfordernis der Beantwortung der Frage nach der Bedeutung und Sinnhaftigkeit von bisher als Primat anerkannten partikularen Gemeinschaften in einer kosmopolitischen/globalisierten Welt und der Frage nach dem für das Zusammenleben in einer kosmopolitischen/globalisierten Welt als richtig anzusehenden funktionellen Zusammenwirken von partikularen Gemeinschaften und der Weltgemeinschaft.39 Die freiheitliche Konstruktion einer Weltgemeinschaft als solcher mit der für diese relevanten Frage nach dem weltweit alle Menschen einbeziehenden Relationsmoment zwischen dem einen Ich und dem anderen Ich sowie die freiheitliche Konstruktion des Relationsmoments zwischen den partikularen Gemeinschaften und der Weltgemeinschaft gehören zu den zentralen Fragen, welche im Rahmen einer Philosophie des Kosmopolitismus und der Globalisierung zu beantworten sind, wobei – zusätzlich zur wichtigen Bedeutung der einzelnen Einheiten (Ich und Wir) – gerade auch dem mit dem Zwischen angesprochene Relationsmoment selbst eine wichtige Bedeutung für sowohl rechtstheoretische als auch rechtsethische Untersuchungen zum Kosmopolitismus und zur Globalisierung zukommt.40

III. Zur normativen Weltgemeinschaft als einer freiheitlichen Konstruktion Anknüpfend an die vorangehenden Ausführungen (zu I. und II.) soll nachfolgend vertieft werden, in welcher Weise und gestützt auf welche Gründe sich auf der Grundlage des hierfür entscheidenden Freiheitsmoments und freiheitlich konstruierten Relationsmoments eine normative Weltgemeinschaft begründen und in den ihr Wesen kennzeichnenden Einzelelementen bestimmen lässt.

38 Siehe u. a. Hartmann/Offe, Politische Theorie und Politische Philosophie, S. 238: „Antithese zum Primat der Mitgliedschaft in einer exklusiven partikularen Gemeinschaft und zum Vorrang nationaler, territorialer oder ethnischer Bindungen …“. 39 Siehe hierzu zudem die vertiefenden Ausführungen unter IV.; siehe des Weiteren u. a. Hartmann/Offe, Politische Theorie und Politische Philosophie, S. 238: „gegebene und anerkannte kollektive parochiale Bindungen von Bürgern herauszufordern“; Demko, in: StekelerWeithofer/Zabel (Hrsg.), Philosophie der Republik, S. 495 ff., 501 ff., 506 ff., 512 ff. 40 Siehe u. a. Reder, Globalisierung und Philosophie. Eine Einführung, S. 37, wonach dies philosophisch bedeute, dass bei der Globalisierungsbeschreibung „nicht einzelne substanzielle Wesensbeschreibungen von Akteuren oder Systemen, … sondern die Vernetzung zwischen diesen“ wichtig sind; siehe hierzu zudem die oben angeführten Darstellungen und Nachweise zu dem den Kosmopolitismus und die Globalisierung prägenden Relationsmoment.

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1. Freiheitsmoment als Ausgangs- und Mittelpunkt einer normativen Weltgemeinschaft Ausgangs- und Mittelpunkt für das Ent- und Bestehen einer jeden normativen Gemeinschaft – auch einer normativen Weltgemeinschaft – ist die Freiheit des Menschen, womit sich anknüpfend an das Subjektmodell des Liberalismus das ins-Zentrum-Stellen des Menschen verbindet, und zwar des freiheitlich konstruierenden Menschen, welcher sein Wer (einschließlich Ich und Wir) sowie das Wie und Was seines (Zusammen-)Lebens selbst bestimmt. Eine „liberale Gesellschaft hat kein Ideal außer Freiheit“,41 heißt es zutreffend bei Rorty, und auch die Konstruktion der normativen Weltgemeinschaft hat „ihren Anfang bei der Freiheit“42 zu nehmen. Hierbei ist nicht von dem Bild eines isolierten, vollkommen abgegrenzten und bindungslosen atomistischen Menschen43 auszugehen, wie es der Kommunitarismus dem Liberalismus kritisch entgegenhält.44 Zugrunde zu legen ist vielmehr – gerade als Ausdruck der Freiheit des Menschen – das Bild eines Menschen, der das gleichzeitige45 Bestehen beider Gesichtspunkte erkennt: einerseits seine (die Seinsebene betreffende) Einbettung in äußere und innere soziale Kontexte und aber andererseits zugleich seine Fähigkeit, sich zu dieser Einbettung in äußere und innere soziale Kontexte in Distanz, in Abstand, in Ablösung, in ein Verhältnis zu setzen, einschließlich der (u. a. auch für die Sollensebene relevanten) in der Selbstbestimmung des Menschen liegenden Fähigkeit des Konstruierens und Immer-wieder-Neu-Konstruierens seines Wer (und Wie und Was seines Lebens).46 Ein normatives Welt-Wir (und dies gilt für 41 Rorty, Richard, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main 1999, S. 110; siehe zudem u. a. Wihl, Tim, Freiheit als Unwert? Verwandlungen des Völkerrechts aus liberaler Perspektive, in: Tomuschat, Christian (Hrsg.), Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2009, S. 67. 42 Wihl, in: Tomuschat, Christian (Hrsg.), Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert, S. 67; siehe zudem u. a. Held, Kosmopolitanismus – Ideal und Wirklichkeit, S. 43: „Dieser umfassenden Gemeinschaft liegt das zugrunde, was für alle Menschen wesentlich ist – dass Vernunft und Menschlichkeit in jeder Person gleichen Wert haben“. 43 Siehe u. a. Vesting, Thomas, Staatstheorie, München 2018, S. 145; Özmen, Elif, Politische Philosophie zur Einführung, Hamburg 2013, S. 105 ff.; Bayertz, Kurt, Begriff und Problem der Solidarität, in: Bayertz, Kurt, Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt am Main 1998, S. 13 f. 44 Siehe zur Kommunitarismus-Liberalismus-Diskussion u. a. Özmen, Politische Philosophie zur Einführung, S. 105 ff.; Hartmann/Offe, Politische Theorie und Politische Philosophie, S. 43. 45 Siehe u. a. Vesting, Staatstheorie, S. 105: „die Logik der naturrechtlichen Individualrechte (darf) nicht von ihrer kollektiven Seite gelöst werden“; Thome, in: Bayertz (Hrsg.), Solidarität. Begriff und Problem, S. 231 f.: „Austausch mit anderen“ (S. 231), „Selbst-Wahrnehmung und … wahrgenommene(n) Wahrnehmung der anderen“ (S. 231 f.). 46 Siehe u. a. Hartmann/Offe, Politische Theorie und Politische Philosophie, S. 41, 44: „Liberalismus muss nicht leugnen, dass menschliche Subjekte immer schon soziale Bindungen eingehen; aber er zeichnet das Vermögen aus, diese Bindungen … auch wieder auflösen zu können“ (S. 44); Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 417; Sen, Die Identitätsfalle, S. 21 f., 48 f.: „grundlegende kulturelle Einstellungen und Anschauungen (mögen) zwar

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jede Gemeinschaft) ist keine objektive Gegebenheit und kein dem/den Menschen von außen auferlegter Seinsaspekt, sondern vielmehr eine von Menschen subjektiv-intersubjektiv bewusst und gewollt geschaffene und ausgeformte freiheitliche Konstruktion.47 Es ist das freiheitliche Konstruieren (einschließlich des hierfür erforderlichen Konstruktionswillens) des/der Menschen als der „legitimatorische(n) Instanz“48 sowie als des „nicht nur … Adressat(s), sondern auch … Absender(s) von legitimierenden Begründungen“,49 das konstitutiv ist für das Ent- und Bestehen einer jeden normativen Gemeinschaft, d. h. auch einer normativen Weltgemeinschaft.50 In Begriffen, wie z. B. dem Begriff der Vergemeinschaftung oder Vergesellschaftung, findet sich dieser auch für eine normative Weltgemeinschaft entscheidende Aspekt wieder, dass eine normative Gemeinschaft von Menschen bewusst und willentlich erschaffen, erfunden, kreiert, gestiftet, definiert (usw.) wird,51 d. h. eine von Menschen die Art unseres Denkens beeinflussen, aber das heißt nicht, daß sie diese vollständig determinieren … Einfluß ist nicht gleichbedeutend mit vollständiger Determination und trotz der Existenz – und Wichtigkeit – kultureller Einflüsse bleibt die Wahlfreiheit doch bestehen“ (S. 48, Hervorhebung im Original); Held, Kosmopolitanismus – Ideal und Wirklichkeit, S. 24: Anerkennung jeder Person „als autonomen moralischen Akteur“; Jureit, in: Jureit (Hrsg.), Politische Kollektive, S. 11: „Konstruiert wird nicht im luftleeren Raum, sondern im Kontext der jeweiligen Bezugssysteme“; Alkemeyer/Bröckling, in: Alkemeyer/Bröckling/Peter (Hrsg.), Jenseits der Person, S. 17, 21, 23: Subjekte „beziehen sich reflexiv auf sich selbst und ihre Umwelt“ (S. 17), Subjektivierung als ein „reflexiver Vorgang bzw. der Vorgang des Reflexiv-Werdens“ (S. 21), einerseits Beeinflussung durch die „sozio-materiellen Strukturen …“, andererseits Einhergehen „mit einer konstruktiven Aneignung oder Subversion dieser räumlichen Strukturen“ (S. 23). 47 Siehe zum Konstruktionsmoment zudem die Ausführungen und Nachweise unter I.; siehe hierzu des Weiteren u. a. Morgenroth, Claas, Einleitung. Zur Politik der Gemeinschaft, in: Böckelmann, Janine/Morgenroth, Claas (Hrsg.), Politik der Gemeinschaft, Bielefeld 2008, S. 9 ff.; Delitz, Kollektive Identitäten, u. a. S. 55 ff., 84 ff.; Stürmer/Siem, Sozialpsychologie der Gruppe, S. 103: „soziale(n) Konstruktion“ (S. 103), „soziale(n) Identitätskonstruktion“ (S. 103); Thome, in: Bayertz (Hrsg.), Solidarität. Begriff und Problem, S. 231: „Konstruktion“ (S. 231), „Leistung des Subjekts“ (S. 232), „konstruieren“ (S. 239); Jureit, in: Jureit (Hrsg.), Politische Kollektive, S. 7 ff.: „Konstruktion … Konstruktionsleistung“ (S. 12). 48 Özmen, Politische Philosophie zur Einführung, S. 46. 49 Özmen, Politische Philosophie zur Einführung, S. 47. 50 Siehe u. a. Özmen, Politische Philosophie zur Einführung, S. 46 f.: „sein Wille (ist) konstitutiv für die Legitimität der ,künstlichen‘, nicht auf objektiven Prinzipien gründenden, politischen Ordnung“ (S. 46). 51 Siehe u. a. Milà, in: Eigmüller/Vobruba (Hrsg.), Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes, S. 189 ff. mit Ausführungen u. a. zu Simmel: „Vergesellschaftung“ (S. 190); Moebius, Simmel lesen, S. 50 ff.: „prozesshafte(n) Vergesellschaftung“ (S. 52), „Vergesellschaftungsprozesse“ (S. 53, Hervorhebung im Original); Simmel, Soziologie, S. 11 ff.: „Vergesellschaftung“ (S. 13); Schellhaas, in: Tomuschat, Christian (Hrsg.), Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert, S. 36: „Bekenntnisse“; Sen, Die Identitätsfalle, S. 9 f., 21 f.: „entscheiden, welche Bedeutung wir unseren einzelnen Bindungen und Zugehörigkeiten zumessen“ (S. 9), „nachdenken und eine Wahl treffen“ (S. 9), „Wir selbst können über unsere Prioritäten entscheiden“ (S. 10); Stürmer/Siem, Sozialpsychologie der Gruppe, S. 103 f. zur Definition, Redefinition und Kategorisierung von Gruppen und Gruppengrenzen sowie zur „subjektive(n) Sicht …“ der Gruppenmitglieder als dem „… zentralen Definiti-

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subjektiv-intersubjektiv bewusst und gewollt erschaffene und ausgeformte freiheitliche Konstruktion darstellt. 2. Normative Weltgemeinschaft als ein weltweit freiheitlich konstruiertes Sich-Verbinden in einem Mit- und Füreinander: Das freiheitlich konstruierte Relationsmoment und die mit ihm verbundenen Einzelelemente Hinsichtlich der Frage nach den eine normative (Welt-)Gemeinschaft ausmachenden grundlegenden Charakteristika ist es das sich auf das unmittelbare Verhältnis von Mensch zu Mensch beziehende freiheitlich konstruierte Relationsmoment, welches sich als für die Bestimmung des Wesens einer normativen (Welt-)Gemeinschaft entscheidend erweist.52 Eine Bezugnahme auf ein sog. Zwischen bzw. Zwischenraum findet sich in verschiedenen Gemeinschaftskonzepten, u. a. von Nancy und Simmel, wenn auch jeweils mit anderen inhaltlichen Ausformungen und Schwerpunktsetzungen53 wieder.54 Es ist diese Anknüpfung an das Zwischen zwischen den sich vergeonskriterium“ (S. 11); Bierhoff, Hans W./Küpper, Beate, Sozialpsychologie der Solidarität, in: Bayertz, Kurt, Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt am Main 1998, S. 265 ff.; Meffert, Michael F., Informationsverarbeitung und Entscheidungsfindung, in: Zmerli, Sonja/Feldmann, Ofer (Hrsg.), Politische Psychologie, Baden-Baden 2015, S. 87 im Zusammenhang mit dem „(politische[n]) Gedächtnis als assoziative Wissensstruktur“, „menschliche(s) Gedächtnis … als ein assoziatives Netzwerk“; Sen, Die Identitätsfalle, S. 9 f. 52 Siehe hierzu u. a. Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, siehe dort die Ausführungen u. a. auf den S. 16 ff., 60 ff., 65 ff.: „Sie besteht im Erscheinen des Zwischen als solchem: du und ich (das Zwischen-uns); in dieser Formulierung hat das und nicht die Funktion des Nebeneinandersetzens, sondern die des Aussetzens … du Mit-Teilung ich“ (S. 65, Hervorhebung im Original); Dallmayr, Fred, Eine ,undarstellbare‘ globale Gemeinschaft? Reflexionen über Nancy, in: Böckelmann, Janine/Morgenroth, Claas (Hrsg.), Politik der Gemeinschaft, Bielefeld 2008, S. 106 ff.; Marchart, Oliver, Die politische Ontologie der Gemeinschaft. Politik und Philosophismus bei Jean-Luc Nancy, in: Böckelmann, Janine/Morgenroth, Claas (Hrsg.), Politik der Gemeinschaft, Bielefeld 2008, S. 133 ff.: Gemeinschaft entsteht „in dem Zwischen des Mit-Seins“ (S. 143, Hervorhebung im Original); Schellhaas, in: Tomuschat, Christian (Hrsg.), Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert, S. 54 mit Bezug auf bestehende „grundlegende Bande“ zwischen allen Menschen und allen Staaten, „Zusammengehörigkeitsgefühl“ und „internationale Solidarität“; Bayertz, in: Bayertz, Solidarität. Begriff und Problem, S. 23. 53 Siehe hierzu u. a. Gertenbach/Henning/Rosa/Strecker, Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, S. 158 ff., wonach nach Ansicht von Nancy „die fundamentale menschliche Gemeinschaft … weder etwas (ist), das erzeugt oder hergestellt werden kann, noch etwas, das bedroht oder im Verfall begriffen ist“ (S. 164, Hervorhebung im Original). 54 Siehe hierzu u. a. Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 16 ff., 60 ff., 65 ff.; Simmel, Soziologie, S. 11 ff.; Gertenbach/Henning/Rosa/Strecker, Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, S. 158 ff.: „Denken in Relationen (statt in Substanzen)“ (S. 160), „Gemeinschaft als das Zwischen … bzw. als dasjenige, was zwischen den Individuen ist“ (S. 167, Hervorhebung im Original), „dieser verbindende Zwischenraum … das eigentliche Wesen der Gemeinschaft ist“ (S. 167 f.); Milà, in: EigmüllerVobruba (Hrsg.), Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes, S. 189 ff. mit Ausführungen u. a. zu Simmel und seiner

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meinschaftenden Ich unter Abstellen auf das unmittelbare Verhältnis von Mensch zu Mensch, welche mit Blick auf die Wesensbestimmung einer Gemeinschaft zu befürworten ist und welche es – mit Bezug auf eine Wesensbestimmung einer normativen Weltgemeinschaft unter Hinzunahme des für die Begründung einer normativen Weltgemeinschaft entscheidenden Freiheitsmoments – in ihrer Bedeutung als freiheitlich konstruiertes Relationsmoment näher zu vertiefen gilt: Nicht der die Seinsebene betreffende Gesichtspunkt der sozialen (äußeren und inneren) Kontextualisierung eines jeden Menschen lässt eine normative Gemeinschaft ent- und bestehen, sondern vielmehr ist auf der Sollensebene für eine Gemeinschaft als freiheitliche Konstruktion entscheidend, welche Bedeutungen und Inhalte freiheitlich konstruierende Menschen diesem zwischen ihnen bestehenden Zwischen zuschreiben, zumessen, zuerkennen wollen und (normativ) sollen:55 D. h., wichtig ist die von freiheitlich konstruierenden Menschen subjektiv-intersubjektiv bewusst und willentlich zu treffende Entscheidung, ob und in welcher Weise, Tiefe, Form und verbunden mit welchen inhaltlichen Ausformungen sie sich für ihr Zusammenleben in ein inneres und dann auch im Außen gelebtes (Vernunfts-, emotionales und moralisches) Beziehungs-, Verbindungs- bzw. Zugehörigkeitsverhältnis setzen wollen und normativ sollen.56 Anknüpfend an dieses Zwischen zwischen den Ich ent- und besteht ein normatives Wir dann nicht und solange nicht, wenn und solange diesem Zwischen zwischen den Ich die Bedeutungen eines Ohne-Einander, Isoliert-Nebeneinander oder gar Gegen-Einander zugeschrieben werden. Ein normatives Wir und auch ein normatives Welt-Wir ent- und besteht vielmehr anknüpfend an das für das Wesen einer Gemeinschaft zentrale freiheitlich konstruierte Relationsmoment zwischen den Ich erst und nur bei einer von freiheitlich konstruierenden Menschen subjektiv-intersubjektiv bewusst und willentlich getroffenen Entscheidung zu einem Sich-Verbinden in einem

Auffassung von der Gesellschaft und Grenze; Herrmann, Ich-Andere-Dritte. Eine Einführung in die Sozialphilosophie, mit Ausführungen u. a. zu Simmel auf den S. 133 ff.: „Wechselwirkung“ (S. 134), „Gesellschaft als einen Prozess zu verstehen, der sich zwischen den Individuen abspielt“ (S. 134, Hervorhebung im Original); Moebius, Simmel lesen, S. 50 ff.: „Wechselwirkung“ (S. 52, Hervorhebung im Original). 55 Siehe hierzu zudem u. a. Demko, in: Stekeler-Weithofer/Zabel (Hrsg.), Philosophie der Republik, S. 496 ff., 499 f.; Gertenbach/Henning/Rosa/Strecker, Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, S. 160 ff. zu Nancy und der „Formel der Ontologie des Mit-Seins“ (S. 160, Hervorhebung im Original) und der „grundlegenden (ontologischen) Frage der Gemeinschaftlichkeit“ (S. 162). 56 Siehe u. a. Bayertz, in: Bayertz, Solidarität. Begriff und Problem, S. 23 ff. im Zusammenhang mit Ausführungen zur Solidarität und zu den unterschiedlichen Formen von sozialen Verbindungen zwischen Menschen unter Hinweis u. a. auf Ferdinand Tönnes (und seine Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft) und Emile Durkheim: „Inbegriff jener inneren Bindemittel“ (S. 23), „Bindungskräfte“ (S. 26); Khushf, George, Solidarität als moralischer und politischer Begriff. Jenseits der Sackgasse von Liberalismus und Kommunitarismus, in: Bayertz, Kurt, Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt am Main 1998, S. 132; siehe mit Bezug auf das Relationsmoment zudem u. a. Gertenbach/Henning/Rosa/Strecker, Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, S. 160: „Denken in Relationen (statt in Substanzen)“ (S. 160).

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Mit-und Füreinander,57 d. h. erst und nur dann, wenn dem Zwischen zwischen den Ich die Bedeutungen und Inhalte eines Sich-Verbindens in einem Mit-und Füreinander zugeschrieben und zuerkannt werden. Bei einem solchen, hier von der Verfasserin vorgeschlagenen Verständnis einer normativen Weltgemeinschaft – welche richtigerweise als Weltvergemeinschaftung zu bezeichnen ist – als eines weltweit freiheitlich konstruierten Sich-Verbindens in einem Mit- und Füreinander setzen sich die sich weltweit vergemeinschaftenden Menschen in ein Verhältnis eines normativen Um-Seins und zugleich eines normativen Mit-Seins:58 Mit dem normativen Um-Sein ist der Gesichtspunkt angesprochen, dass die sich vergemeinschaftenden Ich auch im Rahmen eines von ihnen freiheitlich konstruierten Welt-Wir nicht ihre Einzigartigkeit und damit einhergehende Verschiedenheit als jeweils individuelle Einheit (d. h. als individuelles Ich) verlieren; vielmehr bleiben sie auch in dem von ihnen freiheitlich konstruierten Welt-Wir als jeweils individuelles Ich bestehen und treten sich in Bezug auf ihre jeweilige Einzigartigkeit und damit einhergehende Verschiedenartigkeit als das eine Ich und das andere im Sinne von verschiedene Ich gegenüber.59 Diese zu wahrende und zu schützende Beibehaltung des individuellen Ich bedeutet aber nicht ein Sich-absolut-Isolieren und Sich-absolut-Verschließen gegenüber den anderen individuellen Ich; vielmehr ist mit dem normativen Mit-Sein – welches zugleich mit dem normativen Umsein vorliegt – der Gesichtspunkt angesprochen, dass sich die individuellen Ich wechselseitig, und zwar gerade mit und trotz ihrer gewahrten und geschützten Einzigartigkeit und Verschiedenartigkeit, füreinander öffnen und sich einander zuwenden.60 Das 57

Siehe hierzu u. a. Simmel, Soziologie, S. 11 ff., 13: „Miteinander und Füreinander“ (S. 13, Hervorhebung durch die Verfasserin). 58 Siehe hierzu u. a. Simmel, Soziologie, S. 11 ff., 13; siehe im Zusammenhang mit verschiedenen Fragestellungen aus dem Bereich u. a. der Umwelt- und Naturphilosophie/-ethik u. a. Kather, Regine, Die Wiederentdeckung der Natur, Darmstadt 2012, S. 99 ff., 144 ff., 166 ff., 187 ff., 193 f., 228 ff.: u. a. wird hier angeführt mit Bezugnahme auf Meyer-Abich „… im Mitsein mit der natürlichen Mitwelt insgesamt“ (S. 228); Meyer-Abich, Klaus Michael, Vom Baum der Erkenntnis zum Baum des Lebens, München 1997, S. 27 ff.: „… in ihrem Mitsein mit uns Menschen, d. h. als natürlicher Mitwelt …“ (S. 27, Hervorhebung im Original), „natürliche Mitwelt“ (S. 31, Hervorhebung im Original); Meyer-Abich, Klaus Michael, Praktische Naturphilosophie, München 1997, S. 257 ff.: „natürliche(s) Mitsein“ (S. 260); Meyer-Abich, Klaus Michael, Aufstand für die Natur. Von der Umwelt zur Mitwelt, München/ Wien 1990, S. 35 ff.: „… natürliche Mit-Welt, so wie Menschen in der menschlichen Allgemeinheit, der Menschheit, unsere Mit-Menschen sind“ (S. 48, Hervorhebung im Original). 59 Siehe hierzu zudem u. a. Clark, Stephen, Gaia und die Formen des Lebens, in: Krebs, Angelika (Hrsg.), Naturethik, Frankfurt am Main 1997, S. 160: „Wir sind … befähigt, uns selbst als verschieden von der Umwelt und anderen Bewohnern dieser Umwelt wahrzunehmen“; Alkemeyer/Bröckling, in: Alkemeyer/Bröckling/Peter (Hrsg.), Jenseits der Person, S. 17: Subjekte „begreifen sich als Einheiten und werden auch von ihrer Umwelt als Einheiten wahrgenommen“; Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 393: „Individualismus und Atomismus nicht miteinander verwechseln“. 60 Siehe hierzu u. a. Hartmann/Offe, Politische Theorie und Politische Philosophie, S. 304; Clark, in: Krebs (Hrsg.), Naturethik, S. 160; Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 393.

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normative Mit-Sein verweist mithin darauf, dass sich die individuellen Ich bewusst und willentlich verbinden in einem Mit- und Füreinander,61 und zwar ohne hierbei sich selbst – d. h. ohne hierbei ihre individuelle Identität, einschließlich ihrer jeweiligen Grenze im Sinne von Linie, durch welche die Individualität eines jeden Ich sowie damit einhergehend die Einzigartigkeit jedes individuellen Ich und die Verschiedenartigkeit zwischen den individuellen Ich markiert wird62 – aufzulösen bzw. zu verlieren.63 Damit einher geht – hierbei die Unterscheidung aufgreifend64 zwischen dem SichIdentifizieren mit einer Gemeinschaft (unter Beibehaltung der Individualität und Ein61 Siehe u. a. Benhabib, Seyla, Gleichheit und Differenz, Tübingen 2013, S. 95 zur „,erweiterten Denkungsart‘“ (S. 95), siehe zudem: „die Welt mit den Augen des Anderen erblicken; und zwar nicht durch unmögliche Erwartungen vollständiger Empathie, die alle zwischenmenschliche Distanz hinwegzaubert, sondern durch ein verhandelbares DazwischenSein, durch welches ich Dich als gleichwertig respektieren lerne, als Träger einer gemeinsam geteilten Menschenwürde; durch welches ich Dich aber auch als den konkreten Anderen erlebe, der Du bist“ (S. 93, Hervorhebung im Original); Hartmann/Offe, Politische Theorie und Politische Philosophie, S. 304 im Zusammenhang mit Solidarität: „verhaltenswirksame Bereitschaft, sich für die Durchsetzung von Zielen einzusetzen, die das eng verstandene Eigeninteresse übersteigen“; Clark, in: Krebs (Hrsg.), Naturethik, S. 160: „uns vernünftigerweise nicht für genuin unabhängige Wesen halten … nicht glauben, daß wir … abgeschlossene Monaden sind“; Keller, Heidi, Entwicklung als kulturspezifische Lösung universeller Entwicklungsaufgaben, in: Rauh, Andreas (Hrsg.), Fremdheit und Interkulturalität, Bielefeld 2017, S. 93 f. zum independenten und interdependenten Selbstkonzept. 62 Siehe hierzu u. a. Eigmüller, in: Eigmüller/Vobruba (Hrsg.), Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes, S. 63 ff. mit Ausführungen u. a. zur Grenze: „Das bedeutet zunächst einmal nicht mehr, als dass das, was nicht innen ist, außen ist, beziehungsweise das, was nicht außen ist, innen ist“ (S. 65), „Differenzierungsmarke“ (S. 65), „Membran“ (S. 65), „Linie“ (S. 70). 63 Siehe u. a. Waldenfels, Bernhard, Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen, Frankfurt am Main 2009, S. 115 ff.: „… eine(r) ,moralische(n) Gemeinschaft‘ …, die als rein ,inklusive Gemeinschaft‘ allen Menschen offensteht und niemanden von sich ausschließt“ (S. 116), „Die Grenzen werden … zwar nicht aufgehoben durch Einfügung in ein Ganzes, sie werden jedoch neutralisiert …“ (S. 115 f.), „Anschlußfähigkeit bedeutet dann das höchste Lob; sie ist die Netztugend schlechthin“ (S. 116), „Innerhalb des Netzes kann von Eigenheit und Fremdheit nicht mehr gesprochen werden, geschweige denn von Eigen- und Fremdorten“ (S. 116), „durchgängige(n) Ordnung, in der es Verschiedenheiten gibt, aber keine Fremdheiten“ (S. 116); „Binnenraum ohne Außen“ (S. 117, Hervorhebung im Original), „Gemeinort ohne Fremde“ (S. 117, Hervorhebung im Original); siehe zudem die Ausführungen von Dübgen, Franziska, Global Sisterhood Revisited. Möglichkeiten und Fallstricke grenzüberschreitender Solidarität, in: Hostettler, Karin/Vögele, Sophie (Hrsg.), Diesseits der imperialen Geschlechterordnung, Bielefeld 2014, S. 309 ff. zu einem „reflexive(n) ,Wir‘“ (S. 310) und einer „,reflexive(n) Solidaritäts‘-Konzeption“ (S. 311); Özmen, Politische Philosophie zur Einführung, S. 116 f.; Heinonen, in: Yousefi/Seubert (Hrsg.), Ethik im Weltkontext, S. 318: „bedeutet aber nicht ein Verschwinden der Unterschiede, sondern im Gegenteil eine Differenzierung durch die Zusammenarbeit der Kulturen“. 64 Siehe zu dieser Unterscheidung Leidner/Tropp/Lickel, in: Zmerli/Feldmann (Hrsg.), Politische Psychologie, S. 238 ff.: Unterscheidung zwischen der „Identifikation mit einer Gruppe (d. h. der psychologischen Verbundenheit mit der Gruppe) und der Identifikation als ein Gruppenmitglied (d. h. der Erkenntnis, dass man Teil einer Gruppe ist)“ (S. 238, Hervor-

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zigartigkeit des Ich und der Verschiedenartigkeit der individuellen Ich) einerseits und dem Sich-Identifizieren als Gemeinschaftsmitglied andererseits – der weitere für eine normative Weltgemeinschaft wichtige Gesichtspunkt, dass das Wesen einer Gemeinschaft nicht in einem sich über die individuellen Ich erhebenden und sie überwölbenden überindividuellen Kollektivsubjekt, welches zusätzlich zu den Menschen als den Individualsubjekten hinzutrete, liegt. Zwar wird eine Gemeinschaft regelmäßig mit der Vorstellung eines solchen überindividuellen Kollektivsubjekts verbunden,65 jedoch wird hiermit nicht der für die Wesensbestimmung einer Gemeinschaft entscheidende Punkt angesprochen: Vielmehr kommt es mit Blick auf das Wesen einer normativen (Welt-)Gemeinschaft allein und entscheidend auf das Innen der Gemeinschaft mit dem hier zentralen freiheitlich konstruierten Zwischen zwischen den individuellen Ich und ihrem von Mensch zu Mensch freiheitlich konstruierten SichVerbinden in einem Mit- und Füreinander an.66 Weder (zum Ersten) ein überindividuelles Kollektivsubjekt noch (zum Zweiten) ein Sich-Auflösen(-Müssen) der individuellen Ich in einem überindividuellen Wir noch (zum Dritten) ein Sich-vollkomhebung im Original); siehe zudem u. a. Herkenrath, Die Globalisierung der sozialen Bewegungen, S. 54: „individuelle Identifikation mit einem kollektiven Akteur“; Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, S. 320 ff.; Jureit, in: Jureit (Hrsg.), Politische Kollektive, S. 12: „Konstruktion bewegt sich im Spannungsfeld zwischen einem Imaginations- und einem Identifikationsprozeß. Unter ersterem ist das nur in der Imagination der Akteure existierende Kollektivsubjekt zu verstehen, woran sich idealtypisch ein Identifikationsprozeß anschließt, in dem sich die Einzelmitglieder mit der vorher geschaffenen Gemeinsamkeit identifizieren“. 65 Siehe hierzu u. a. Alkemeyer/Bröckling, in: Alkemeyer/Bröckling/Peter (Hrsg.), Jenseits der Person, S. 18 ff.: „Kollektive als Subjekte aufzufassen, ist keineswegs ungewöhnlich: Das Rechtssystem kennt seit langem neben den natürlichen auch juristische Personen“ (S. 18), „zum Kollektivsubjekt (gemacht) werden“ (S. 18), „Im Alltagsdiskurs wimmelt es ohnehin von Kollektivsubjekten, seien es Sportclubs … Bildungsinstitutionen … Interessengruppen … oder andere Zusammenschlüsse“ (S. 18); Schweitzer, in: Alkemeyer/Bröckling/Peter (Hrsg.), Jenseits der Person, S. 175 ff.: juristische Person gehört „zu den Idealtypen der rechtlichen Personalisierung von Kollektiven“ (S. 175). 66 Siehe u. a. Hartmann/Offe, Politische Theorie und Politische Philosophie, S. 304: „intellektuelle und/oder emotionale Identifikation“; Herkenrath, Die Globalisierung der sozialen Bewegungen, S. 53 ff. mit Bezug auf die kollektive Identität und ein „Wir“: „Konstruktion eines handlungsfähigen überpersonellen Akteurs, mit dem sich die beteiligten Individuen … verbunden fühlen“ (S. 53), „Vorstellung von Einheit und ein Gefühl der Zugehörigkeit … assoziieren … die von mehreren Personen geteilte Verbundenheit mit einer größeren Gemeinschaft, Kategorie, Praxis oder Institution“ (S. 54); Bayertz, in: Bayertz, Solidarität. Begriff und Problem, S. 17 ff. im Zusammenhang mit der Solidarität; Thome, in: Bayertz (Hrsg.), Solidarität. Begriff und Problem, S. 238 ff.; Meffert, in: Zmerli/Feldmann (Hrsg.), Politische Psychologie, S. 94 f.; Delitz, Kollektive Identitäten, S. 25: „Vorstellung eines Zusammenhalts“; Gertenbach/Henning/Rosa/Strecker, Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, S. 158 ff.: „dieser verbindende Zwischenraum … das eigentliche Wesen der Gemeinschaft ist“ (S. 167 f.); Herrmann, Ich-Andere-Dritte. Eine Einführung in die Sozialphilosophie, mit Ausführungen u. a. zu Simmel auf den S. 133 ff.: „Gesellschaft (ist) keine eigenständige Entität jenseits der Individuen …, sondern (besteht) einzig und allein aus deren Bezogenheit aufeinander“ (S. 134), „Gesellschaft als … Prozess …, der sich zwischen den Individuen abspielt“ (S. 134, Hervorhebung im Original); Simmel, Soziologie, S. 11 ff., 13: „Miteinander und Füreinander“ (S. 13, Hervorhebung durch die Verfasserin).

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men-Identisch-Setzen(-Müssen) der individuellen Ich mit einem überindividuellen Wir (mit einem damit einhergehenden Sich-Ansehen nur noch als Teil bzw. nur noch als Mitglied eines überindividuellen Wir) sind für eine Gemeinschaft erforderlich; zudem ist (zum Vierten) auch ein kommunitaristisches Verständnis eines überindividuellen Wir – nach welchem eine normative Priorität und ein normativer Vorrang einer Gemeinschaft vor dem Individuum sowie von Kollektivinteressen vor Individualinteressen bestehe67 – abzulehnen.68 Für die Wesensbestimmung einer normativen Weltgemeinschaft ist dieses auf das Zwischen zwischen den sich weltweit vergemeinschaftenden Menschen Bezug nehmende freiheitlich konstruierte Relationsmoment mit seinem bewusst und willentlich weltweit freiheitlich konstruierten Sich-Verbinden in einem Mit- und Füreinander zentral und ausschlagend. Hierbei ist es unter Zugrundelegung eines deontologischen Verständnisses69 die Freiheit selbst, welche sich als entscheidendes normatives Richtigkeitskriterium erweist für die Begründung und das Wesen einer normativen Weltgemeinschaft (wie sie in den vorangehenden Ausführungen entwickelt worden ist). Lassen sich hierfür auch ergänzend und unterstützend konsequentialistische Richtigkeitsgründe anführen,70 so bildet anknüpfend an eine deontologische Moraltheorie die Freiheit selbst den grundlegenden und ausschlagenden normativen Richtigkeitsgrund für eine normative Weltgemeinschaft, welche die Freiheit weltweit aller Menschen und für weltweit alle Menschen in ihr Zentrum stellt: Den Menschen und seine Freiheit an den Anfang und in den Mittelpunkt einer normativen Weltgemeinschaft setzend71 und eine normative Weltgemeinschaft zu erkennen zum einen als eine in der Willensentscheidung weltweit aller Menschen liegende freiheitliche Konstruktion und zum anderen in der ihr zukommenden Aufgabe, weltweit alle Menschen in ihrer Freiheit zu schützen (d. h. weltweit allen Menschen ein freiheitlichselbstbestimmtes Leben und Zusammenleben zu gewähren), heißt – nimmt man das Freiheitsmoment und dessen Schutz für weltweit alle Menschen wirklich 67 Siehe zum Kommunitarismus u. a. Hartmann/Offe, Politische Theorie und Politische Philosophie, S. 305; Sen, Die Identitätsfalle, S. 46 ff.: „Erweiterung des eigenen Ichs“ (S. 47), „Identität mit der eigenen Gemeinschaft müsse die hauptsächliche oder dominierende (vielleicht sogar die einzige bedeutende) Identität sein“ (S. 47). 68 Siehe hierzu u. a. Gertenbach/Henning/Rosa/Strecker, Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, S. 158 ff., 166 f. mit Ausführungen u. a. zu Nancy und seinem „Vorwurf an die meisten Theorien der Gemeinschaft …, dass diese zu sehr einem Identitätsdenken entspringen“ (S. 160). 69 Siehe u. a. Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 390 ff. im Zusammenhang mit einem humanistischen Verständnis: „sind Humanisten auf ein deontologisches Verständnis von Ethik festgelegt“ (S. 390); Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, S. 190. 70 Siehe zudem zu den Zusammenhängen zwischen Konsequentialismus und Deontologie u. a. Seelmann, Kurt/Demko, Daniela, Rechtsphilosophie, München, 2019, S. 178 ff. 71 Siehe hierzu u. a. Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, S. 338 f., 1039: „Eine universelle Rechtslehre, welche nicht von der Subjekthaftigkeit und Freiheit des Menschen ausgeht, ist eine Weltherrschaftslehre …“ (S. 339), „den Menschen als Ausgangspunkt des Rechts, mithin als selbstbestimmtes Rechtssubjekt und das Prinzip der Selbstbestimmung des Menschen als Grundlage des (Welt-)rechts … verstehen“ (S. 1039).

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ernst –, die hiermit einhergehende enge und untrennbare Verbindung von Freiheit und Gleichheit72 – wonach jedem Menschen Freiheit zukommt und Freiheit immer als gleiche Freiheit anzusehen ist73 – und dem Sich-Verbinden in einem Mit- und Füreinander zu beachten und zu wahren.74 „Handlungsfähigkeit und Unterstützung hängen zusammen“,75 heißt es zutreffend bei Nussbaum, und eine von weltweit allen Menschen in der Realität tatsächlich in Anspruch genommen und verwirklicht werden könnende76 gleiche Freiheit verlangt nach einem weltweiten mit- und füreinander Zusammenleben mit über partikulare Gemeinschaften hinausgehender grenzüberschreitender und weltweiter gegenseitiger Hilfe und Unterstützung in einer weltweiten Werte-, Verantwortungs- und Solidargemeinschaft,77 womit zu-

72 Siehe u. a. Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 419 ff.: „Freiheit und Gleichheit aller Menschen sind die beiden Prinzipien, auf denen jede demokratische Ordnung beruht.“ (S. 419); Vesting, Staatstheorie, S. 105: „impliziert … die Vorstellung ,gleicher Freiheit‘“. 73 Siehe u. a. Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 380 f., 419 ff.: „nicht als Gegensatz, sondern als eine Einheit“ (S. 419), „gleiche(r) Freiheit“ (S. 421, Hervorhebung im Original). 74 Siehe u. a. Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 380 f.; Held, Kosmopolitanismus – Ideal und Wirklichkeit, S. 24, 43, 66 f.: „dass Individuen den ,letztlich entscheidenden moralischen Bezugspunkt‘ darstellen“ (S. 24), Anerkennung jeder Person „als autonomen moralischen Akteur“ (S. 24), „Dieser umfassenden Gemeinschaft liegt das zugrunde, was für alle Menschen wesentlich ist – dass Vernunft und Menschlichkeit in jeder Person gleichen Wert haben“ (S. 43); Ulrich, Peter, Wirtschaftsethik, in: Düwell, Marcus u. a. (Hrsg.), Handbuch Ethik, Stuttgart 2006, S. 300: „Moderne Antworten, die einer freiheitlichen Gesellschaft angemessen sind, werden auf Sinn aus Freiheit setzen“ (Hervorhebung im Original); Reder/ Pfeifer/Cojocaru, in: Reder/Pfeifer/Cojocaru (Hrsg.), Was hält Gesellschaften zusammen?, S. 7 ff.; Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, S. 189 ff., 206 ff., 217 ff., 244 ff., 280, 306 f., 338 ff., 482 ff., 539 ff., 542 ff.; Bierhoff/Küpper, in: Bayertz, Solidarität. Begriff und Problem, S. 427; „Bedingungsverhältnis … Reflektionsverhältnis“, „Ort der individuellen Freiheit“; Özmen, Politische Philosophie zur Einführung, S. 60, 107 ff.: „die Individuen nicht von der Gemeinschaft entfremdende Freiheit“ (S. 60). 75 Nussbaum, Politische Emotionen, S. 186, siehe zudem: „Einerseits sind die Menschen aufeinander angewiesen, da sie viele Dinge nicht allein erreichen können … Das soll andererseits nicht bedeuten, daß Unabhängigkeit und Handlungsfähigkeit unwichtig werden“ (S. 187). 76 Siehe u. a. Ulrich, in: Düwell (Hrsg.), Handbuch Ethik, S. 300 f.: „real lebbare Freiheit … reale(r) Freiheit“ (S. 300); Habermas, Politische Theorie, S. 415 f.: „den Weltbürgern Bedingungen garantiert werden, die in Anbetracht des jeweiligen lokalen Kontextes erforderlich sind, um die formal gleichen Rechte effektiv in Anspruch nehmen zu können“ (S. 415, Hervorhebung im Original). 77 Siehe u. a. Ulrich, in: Düwell (Hrsg.), Handbuch Ethik, S. 300 f. zur erforderlichen Gewährung und Sicherung der Grundlagen für eine real lebbare Freiheit; Schellhaas, in: Tomuschat (Hrsg.), Weltordnungsmodelle für das 21. Jahrhundert, S. 36 ff., 45 ff.: „Zukunftsgemeinschaft“ (S. 37), „Verantwortungsgemeinschaft“ (S. 37 Fn. 57), „internationale Wertegemeinschaft“ (S. 38); Habermas, Politische Theorie, S. 415 f.

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gleich die hierfür wichtigen Gesichtspunkte der globalen Ethik, globalen Gerechtigkeit und globalen Solidarität angesprochen sind.78

IV. Erforderliche Neureflexion und freiheitliche Neukonstruktion im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus In den obigen Ausführungen sind die Bedeutungen des Freiheitsmoments und freiheitlich konstruierten Relationsmoments für die Begründung und Wesensbestimmung einer normativen Weltgemeinschaft vertieft worden. Aufgezeigt wurde zudem die zweifache Bedeutung des freiheitlich konstruierten Relationsmoments, zum einen mit Bezug auf die normative Weltgemeinschaft als solche (mit der hierfür relevanten Anknüpfung an die freiheitlich konstruierte Relation zwischen den Ich) sowie zum anderen mit Bezug auf das normative Verhältnis und Zusammenwirken zwischen partikularen Gemeinschaften und der Weltgemeinschaft (mit der hierfür relevanten Anknüpfung an die freiheitlich konstruierte Relation zwischen den Wir). Mit einer solchen, sich auf die Freiheit stützenden und die Freiheit schützenden normativen Weltgemeinschaft, wie sie im vorliegenden Beitrag von der Verfasserin entwickelt worden ist, und mit der nach Ansicht der Verfasserin zu befürwortenden Anerkennung des Vorrangs und Primats dieser normativen Weltgemeinschaft vor partikularen Gemeinschaften lässt sich in einer Art von kathartischer Wirkung zugleich die Aufforderung verknüpfen zu einer erforderlichen Neureflexion – unter kritischer Nachprüfung und Infragestellung von bisher als (angeblich) selbstverständlich Angesehenem (z. B. in Gestalt des bisher traditionell anerkannten Primats der nationalen Gemeinschaften)79 – sowie zu einer erforderlichen neuen Suche und Neubestimmung, d. h. zu einer freiheitlichen Neukonstruktion der im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus als richtig anzusehenden normativen Ordnungsstruk-

78 Siehe u. a. Sen, Die Identitätsfalle, S. 132 f.: „globale(r) Solidarität … globale(n) Moral … Gefühl globaler Zusammengehörigkeit … Sorge um die globale Ungerechtigkeit … Existenz eines Gefühls globaler Identität … globale Ethik“ (S. 132 f.); Nussbaum, Politische Emotionen, S. 188: „Opferbereitschaft und Mitgefühl machen nicht an nationalen Grenzen halt.“; Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, S. 542 ff. mit Ausführungen zur menschheitlichen Solidarität, S. 635 ff.; Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 380 f., 428 ff.: „Entgrenzung der Solidaritätspflichten“ (S. 428, Hervorhebung im Original), „Humanisten wollen, dass die politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen so gestaltet sind, dass jede menschliche Person Autorin ihres Lebens sein kann“ (S. 381), „Aus humanistischer Perspektive ist die Menschheit als ganze eine Solidargemeinschaft …“ (S. 428, Hervorhebung im Original). Siehe u. a. Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 427 f.: „Aus humanistischer Perspektive steht im Mittelpunkt die allgemein menschliche Solidaritätspflicht.“ (S. 428). 79 Siehe u. a. Reder, Philosophie pluraler Gesellschaften, S. 115 ff.: „kritische(n) Reflexion einer staatszentrierten Deutung der globalisierten Welt“ (S. 115); Hörning, in: Hahn (Hrsg.), Vom Eigensinn der Dinge, S. 167: „immer weniger auf stabile Deutungsmuster und Sinnsysteme verlassen“.

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turen für ein weltweites friedliches und freiheitswahrendes Zusammenleben aller Menschen.80 Damit einher geht zum Ersten die Ablehnung des verkürzten, reduzierten, einseitigen und fehlerhaften Container- und Schubladen-Bildes81 von einer Welt, welche (angeblich) aus objektiv festgefügten, statischen, dauerhaft unveränderlichen und isolierten, exklusorischen und sich mit absolut geschlossenen Grenzen gegenüberstehenden (nationalen, regionalen und universalen) Gemeinschaften bestehe.82 Zum Zweiten gilt es zu beachten, dass – da eine Gemeinschaft von Menschen freiheitlich konstruiert wird und daher immer wieder neu konstruiert werden kann – die bisherigen/aktuellen Ordnungsstrukturen lediglich Zwischenkonstruktionsergebnisse darstellen, welche zwar mit Bezug auf die bisherigen/aktuellen zeitlichen, räumlichen, sozialen usw. Kontexte als richtig angesehen wurden/werden, welche aber zugleich mit dem Aspekt ihrer Vorläufigkeit und zukünftigen Veränderbarkeit verknüpft sind: Die im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus erforderliche Neureflexion zu den als richtig anzusehenden normativen Ordnungsstrukturen für das weltweite friedliche und freiheitswahrende Zusammenleben aller Menschen bedeutet mithin, sich von den den Anforderungen der Globalisierung und des Kosmopolitismus nicht (mehr) entsprechenden bisherigen/aktuellen Ordnungsstrukturen (z. B. von 80 Siehe u. a. Habermas, Politische Theorie, S. 421 ff.: „müssen sich sowohl Regierungen wie Bevölkerungen neue Orientierungen zu eigen machen und in diesem Sinne ,lernen‘“ (S. 421 f.), „Lernprozeß …“, der „… auf die Überwindung einer zähen, mit der Nationalstaatsbildung historisch verschränkten Bewußtseinslage (zielt)“ (S. 422); Held, Kosmopolitanismus – Ideal und Wirklichkeit, S. 99 ff.: „neue Übereinkünfte, Gemeinsamkeiten und Bedeutungszusammenhänge hergestellt werden“ (S. 100), „Identitäten von bestimmten Zeiten, Orten und Traditionen abzulösen – bzw. zu ,entbetten‘ – … bemerkenswerte Fähigkeit der Menschen, … neue Identitäten zu bilden“ (S. 100); Reder, Globalisierung und Philosophie. Eine Einführung, S. 38; Delitz, Kollektive Identitäten, S. 41 f.; Stürmer/Siem, Sozialpsychologie der Gruppe, S. 103 f. zu Definition, Redefinition und Kategorisierung von Gruppen und Gruppengrenzen; Leidner/Tropp/Lickel, in: Zmerli/Feldmann (Hrsg.), Politische Psychologie, S. 246; Rauhut, Gemeinsam gegen Armut?, S. 39 ff., 44 f. 81 Siehe u. a.: Beck, Was ist Globalisierung?, S. 49 ff. zur „Container-Theorie der Gesellschaft“ (S. 49); Delitz, Kollektive Identitäten, S. 50: „jegliche kollektive ,Container‘ aufzubrechen“; Hartmann/Offe, Politische Theorie und Politische Philosophie, S. 239, 306: „nach wie vor fragmentierten“ (S. 239); Vesting, Staatstheorie, S. 191 zur „Fragmentierung globaler Teilrechtsordnungen“; Stichweh, in: Beckert u. a. (Hrsg.), Transnationale Solidarität, S. 242 zum Gesichtspunkt der „Differenzierung“; Hörning, in: Hahn (Hrsg.), Vom Eigensinn der Dinge, S. 167: „fragmentierte(n) Identitäten“; Sen, Die Identitätsfalle, S. 190: „Alles-odernichts-Wettstreit“, „Entweder-oder-Form“. 82 Siehe u. a. Sen, Die Identitätsfalle, S. 8 ff., 26 ff.: „solitaristischen Deutung“ (S. 8), „Politik der globalen Konfrontation“ (S. 8), „Keine von ihnen kann als die einzige Identitätsoder Zugehörigkeits-Kategorie dieser Person aufgefaßt werden“ (S. 9), „reduzieren“ (S. 27); Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, S. 393; Dübgen, in: Hostettler/Vögele (Hrsg.), Diesseits der imperialen Geschlechterordnung, S. 310 f. zum Begreifen von „Innen und Außen … in konventionellen Solidaritätskonzepten als statisch und exklusorisch“ (S. 311); Held, Kosmopolitanismus – Ideal und Wirklichkeit, S. 39 ff.: „Die Welt besteht nicht mehr aus … ,voneinander getrennten Kulturen‘ oder ,voneinander getrennten politischen Gemeinschaften‘ … vielmehr ist es eine Welt sich überlappender Schicksalsgemeinschaften“ (S. 39).

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dem bisher traditionell anerkannten Primat der nationalen Gemeinschaften) lösen und befreien zu müssen sowie diese durch den Anforderungen der Globalisierung und des Kosmopolitismus besser entsprechende neue Ordnungsstrukturen (z. B. mit Blick auf ein funktionales Zusammenwirken der partikularen Gemeinschaften und der Weltgemeinschaft) zu ersetzen.83

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Siehe hierzu u. a. Demko, in: Stekeler-Weithofer/Zabel (Hrsg.), Philosophie der Republik, S. 506 ff., 512 ff.: „komplexe(s) funktionale(s) Mehrebenensystem“ (S. 514, Hervorhebung im Original), „eng vernetztes funktionales Zusammenwirken“ (S. 514 f., Hervorhebung im Original); Hörning, in: Hahn (Hrsg.), Vom Eigensinn der Dinge, S. 167: „keine festgefügten Wertmuster oder kohärente Sinnsysteme mehr“; Vesting, Staatstheorie, S. 192: „nicht mehr als Sinngrenzen zwischen sozialen, ökonomischen und kulturellen Sphären“ (Hervorhebung durch Verfasserin); siehe zudem u. a. Callicott, in: Krebs (Hrsg.), Naturethik, S. 220; Beck, Was ist Globalisierung?, S. 174, 177 ff.: „Einheit von Staat, Gesellschaft und Individuum … löst sich auf“ (S. 174); Held, Kosmopolitanismus – Ideal und Wirklichkeit, S. 65: „Nationalstaaten … sollten aber nicht als ontologisch privilegiert betrachtet werden“; Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 310; Kersting, Wolfgang, Einleitung: Probleme der politischen Philosophie der internationalen Beziehungen: die Beiträge im Kontext, in: Chwaszcza, Christine/Kersting, Wolfgang, Politische Philosophie der internationalen Beziehungen, Frankfurt am Main 1998, S. 47 ff. mit Ausführungen u. a. zur Frage der Zurückdrängung des „partikular-exklusive(n) Ethos“ (S. 47) durch die „inklusiv-universalistischen Vergesellschaftungsformen des Rechts, des Marktes und des Diskurses“ (S. 47) sowie eines „eigene(n) und bleibende(n) normative(n) Rationalitätsprofil(s)“ (S. 47) der „ethisch-politische(n) Zwischenwelt des Nationalen“ (S. 47); Reder, Globalisierung und Philosophie. Eine Einführung, S. 17 ff.: „Transformation der Rolle des Staates“ (S. 20); Stichweh, in: Beckert u. a. (Hrsg.), Transnationale Solidarität, S. 242: „keinen zwingenden Grund, den Verfall des Nationalstaats zu prognostizieren, wenn auch bestimmte Phänomene der Auflösung seiner ehemals dominanten Position zu beobachten sein mögen“; Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, S. 37; Benhabib, Seyla, Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit, Frankfurt am Main 1999, S. 29: „Im Zeitalter der Globalisierung ist eben diese integrative Leistung des Nationalstaates, eine kohärente nationale und ethische Identität zu schaffen und zu wahren, in Frage gestellt“; Sen, Die Identitätsfalle, S. 124 f.: „Freiheit einschließen, die automatische Billigung alter Traditionen in Frage zu stellen“ (S. 124); Sakai, in: Bhatti (Hrsg.), Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma, S. 143; Brunkhorst, in: Brunkhorst (Hrsg.), Demokratie in der Weltgesellschaft, S. 111, 114; Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, S. 78 ff., 82: „bedeutet nicht den Abbau, sondern nur den Wandel der Staatlichkeit“ (S. 79).

Gleichheit und/oder Verdienst? Von Anton Leist

I. Eine Herausforderung Es ist eine unbestrittene Tatsache, dass in der kapitalistischen Welt eine Tendenz zur zunehmenden ökonomischen Ungleichheit herrscht. Nach einer verbreiteten ökonomischen Analyse, mit besonderer Öffentlichkeitswirkung durch T. Piketty, liegen die Ursachen dieser Tendenz im gegenwärtigen Arbeitsmarkt, im Einkommen durch Kapitalbesitz und in den übergenerationellen Weitergaben von Vermögen begründet. Die Aufspaltung von Löhnen entsprechend unterschiedlicher Produktivität, das Einkommen aufgrund von ökonomischen Renten sowie die Freiheit des Schenkens und Vererbens sind eng mit starken Überzeugungen zur Freiheit von Besitz, und mit starker Skepsis gegenüber allen staatlichen und bürokratischen Eingriffen in diese Freiheit verbunden. Andererseits hat ökonomische Ungleichheit soziale und individuelle Ungleichheit zur Folge, aus der heraus nicht nur verbreitete persönliche Unzufriedenheit, sondern auch steigende soziale Konflikte und Kriminalität sowie der Aufstieg autoritärer politischer Bewegungen zu erwarten sind. Damit ist klar, dass Korrekturen der Entwicklung zur Ungleichheit hoch wünschenswert sind. Weitgehend offen ist aber gegenwärtig, wie sie ansetzen sollen und wie weit sie gehen können. Piketty und seine Ökonomenkollegen wie Stiglitz und Atkinson haben eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, wie die Zunahme von Ungleichheit gedämpft werden könnte. In dieser sicher nötigen Diskussion geht es schnell um die ökonomisch-technischen Probleme des Konflikts zwischen Fairness und Effizienz, von Nebenkosten und praktischen Erfahrungen.1 Wenn auch nötig, sollten diese Überlegungen jedoch an zweiter Stelle stehen. Mit der ökonomischen Theorie geht eine gesamtgesellschaftliche Perspektive einher, die typisch ist für diese Wissenschaft, oder analog für eine ihr entsprechende Superbürokratie. Allgemeine Überlegungen zu Steuern beispielsweise, unterstellen bereits die Perspektive einer Behörde, die zwischen unterschiedlichen Einzelakteuren vermitteln und für sie eine übergreifende Lösung finden muss. Unter den normativen Moraltheorien wurde diese Herangehensweise vor-

1 Piketty, T., Capital et Ideologie, Paris 2019, fordert eine Kapitalsteuer bis zu 90 %, Teilnahme der Angestellten am Firmenvermögen, ein Startgeld für Neugeborene und anderes mehr.

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rangig vom Utilitarismus vollzogen. Seiner Verstöße gegen die Rechte von Individuen wegen ist er aber inzwischen als unakzeptabel anerkannt. Für die gegenwärtigen Formen von Einkommen und Reichtum ist also, im Kontrast, eine Gerechtigkeitsperspektive nötig, die nicht nur empirisch informiert, sondern unter Rücksicht auf die sozialen Beziehungen in ihrer Wechselseitigkeit ansetzt. Tatsächlich ist in der philosophischen Literatur zu sozialer Gerechtigkeit der letzten 50 Jahre ein großer Reichtum an scharfsinnigen Argumenten entstanden, wenn auch ohne Konsens zum Endziel einer gerechten Verteilung. Bei einigen Teilauffassungen zu den beteiligten Grundwerten wie Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit herrscht im westlichen Alltag vielleicht sogar größere Übereinstimmung als im Fachdiskurs – schon aufgrund der im Alltag verbreiteten Unklarheit über den möglichen Gehalt dieser Werte. Anders als die genannten Ökonomen haben die Moralphilosophen diese auch für sie relevanten soziologischen Daten aber meist ignoriert und deshalb zu einem vertieften Konsens wenig beigetragen. Teilweise liegt das am großen akademischen Erfolg einiger dominanter Modelle für Gerechtigkeit, die noch zu einer Zeit weitgehender ökonomischer Gleichheit und sozialer Zufriedenheit entstanden sind. Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit kam 1971 zu einem Zeitpunkt an die Öffentlichkeit, als in den USA noch ein Spitzensteuersatz von 70 % gültig war. Die Leser von Nozicks Anarchie, Staat und Utopie (1974), und Nozick selbst, wären kaum auf den Gedanken gekommen – ein heute durchaus naheliegender Vergleich –, Somalia als Version des spitzfindig nahegelegten ,Nachtwächterstaats‘ anzusehen. Kurzum, diese moralischen Entwürfe für eine soziale bzw. libertäre Demokratie sind unter, aus heutiger Sicht, sehr günstigen Bedingungen entstanden, in denen es darum ging, die herrschende Gesellschaft entweder noch ein wenig in Richtung Schweden oder in Richtung Playboy Mansion zu entwickeln. Unter weniger günstigen Bedingungen geht es ein halbes Jahrhundert später statt dessen darum, einige zentrale normative Grundlagen zu überdenken – wenn auch ohne Hoffnung, das ökonomische Gleichheitsniveau von 1971 noch einmal zu erreichen.

II. Moral zwischen Ideologie und Sozialrealität Mit der Französischen Revolution ist eine Trias von Werten in die Welt gekommen, die seither zum Leitbild der Sozialpolitik geworden ist. Dass praktisch jede reale Sozialpolitik diesen Anspruch für sich reklamieren kann, kehrt allerdings auch die Unverbindlichkeit so abstrakter Begriffe wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hervor. Innerhalb der Spielräume dieser drei Begriffe bemühen sich Philosophen, diese Ideale miteinander in Ausgleich zu bringen. Ihre Standardmethode bei der Arbeit stützt sich auf verbreitete ,Intuitionen‘, die mithilfe von Gedankenexperimenten und relevanten Tatsachen korrigiert oder verfeinert werden. Der Nachteil dieser Methode besteht darin, dass die Intuitionen auf der Motivseite unklar und auf der Geltungsseite milieubedingt beschränkt sind. Gibt es dazu eine Alternative?

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Wenn wir die Trias der sozialpolitischen Werte als ,moralische‘ Werte ansehen, dann entspringt die Schwäche der verbreiteten Methode einem generellen Modell von Ethik, das man als das ,Lesemodell‘ bezeichnen könnte. Danach geht es in moralischen Argumenten darum, die moralischen Werte angemessen wiederzugeben, ähnlich wie man in einem Buch liest – bei Unterstellung, dass der zu lesende Inhalt in dem Buch festgelegt und vorgegeben ist. Analog sind nach der Institutionenmethode die Intuitionen irgendwie vorgegeben, wenn auch zunächst in den Denkweisen von Mitmenschen, von wo ausgehend sie aufgenommen und geordnet werden. Nicht selten geht das Lesemodell jedoch eine Stufe weiter. Dabei werden nicht die moralischen Überzeugungen gelesen, sondern deren Inhalte, etwa die Werte als Gegenstände der Überzeugungen. In diese Logik gerät man unweigerlich dann, wenn der Anspruch besteht, nicht einfach mit Meinungen, also ,subjektiv‘, sondern mit Inhalten, also ,objektiv‘, zu argumentieren. Damit geht das Lesemodell von einer psychologischen zu einer metaphysischen Variante über. Denn nach diesem Schritt wird zugunsten einer objektiven, allgemein verbindlichen Argumentation angenommen, dass einige von unseren Gefühlen und Überzeugungen unabhängige normative Inhalte erkannt werden können. Rawls hat sich mit der Zweideutigkeit im Begriff der Intuition nach dessen Einführung 1971 weiter beschäftigt und sich klar zur psychologischen Variante bekannt, ohne allerdings seine inhaltliche Argumentation dadurch in irgendeiner Weise zu korrigieren.2 Ebenfalls offen, aber dennoch grundsätzlich alternativ kann man ein ,Handlungsmodell‘ der Moral identifizieren. Ähnlich wie in Bezug auf das zu Lesende im Lesemodell ist dabei offen, wer handelt und wie gehandelt wird. Um das Bild von vorgegebenen moralischen Inhalten aber ein für alle Mal ad acta zu legen, sollte man das Handlungsmodell sowohl realistisch – unter Einbezug relevanter Eigenschaften der Handelnden –, wie konstruktiv – im Sinn einer Erzeugungsmechanik – verstehen. Die Moral ist dann nicht etwas, das möglichst getreu abgebildet werden muss, sondern etwas, dessen Konstruktionsdynamik als sozialer Mechanismus herauszufinden ist. Während das Lesemodell zur bekannten Sein-Sollens-Differenz einlädt: was gelesen wird, entstammt einer eigenständigen Realitätssphäre, kennt das Handlungsmodell keinen solchen Dualismus. Die Handelnden sind empirisch situierte Menschen, über deren Sozialverhalten wir bereits eine Menge wissen. Dieses Wissen entscheidet darüber, wann eine moralische Argumentation ,realistisch‘ ist – nicht realistisch im Sinn eines metaphysischen ,moralischen Realismus‘, sondern im homogenen alltäglich-wissenschaftlichen Sinn. Die Geschichte der Ethik ist zu lang, als dass diese alternativen Modelle vom Lesen/Erkennen und Handeln bei der Moral nicht bereits durchgespielt worden wären. Eine Hauptströmung des Utilitarismus verkörpert etwa das Lesemodell, wenn die Inhalte nicht wie bei Bentham und in der Wohlfahrtsökonomie als psychologische Tatsachen, sondern, wie in klarster Form bei G. E. Moore, als Wertzustände 2 Diese metaethische Revision geschah mit Rawls, J., Justice as Fairness: Political not Metaphysical, in: Philosophy & Public Affairs 14 (3), 1985, S. 223 – 251.

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behandelt werden. Eine Hauptströmung des Kontraktualismus entspricht dem Handlungsmodell, wenn der ,Vertrag‘ in eine soziale Konstellation von Interessen bei gegenseitigem Handeln aufgelöst wird, wie in der Humeschen Tradition, im Gegensatz zur Kantischen. Wie man sich bei der grundsätzlichen Alternative zwischen Leseund Handlungsmodell, und weiter innerhalb des Handlungsmodells, mit Gründen situiert, hängt allerdings auch davon ab, was man von moralischen Argumenten erwartet. Bei unterschiedlichen Erwartungen ist ein Konsens über das Modell nicht zu erzwingen. Der Eindruck wäre irreführend, eine solche Wahl könnte gleichsam moralisch neutral vollzogen werden. Auch solche theoretischen und teilweise sehr abstrakten Diskussionen sind unausweichlich innerhalb vorausgesetzter moralischer Valenzen gefangen. Und das nicht deshalb, weil eine ,wahre‘ Moral im Sinn des Lesemodells bereits vorgegeben wäre, sondern weil eine vorgegebene, immer auch moralisch imprägnierte soziale Realität solche Diskussionen unweigerlich bewertet. Anders als Mathematik sind moralische Urteile nicht sozial neutral. Sie geraten unweigerlich aufgrund ihrer praktischen Anwendbarkeit in Kontakt mit den sozialen Verhältnissen, indem sie deren Beziehungen bewerten und potentiell regeln. Dadurch schwanken sie unweigerlich immer zwischen Ideologieverdacht und – mit einem weniger schlagkräftigen Begriff –,Sozialrealität‘. Ideologie bedeutet die idealisierende Verklärung eines moralisch kritikwürdigen Zustands. Sozialrealität bedeutet eine ebenfalls ideale, aber realistisch-ideale Bewertung eines Zustands, eine Wahrheit auf Basis einer angemessenen sozialen Faktenlage. Bei der Vorstellung dessen, dass Werte zu lesen sind, wird nämlich übersehen, dass (anders als in der Mathematik) die realen sozialen Zustände über die Wahrheit moralischer Sachverhalte mit entscheiden. Moralische Urteile erhalten innerhalb dieser Zustände unausweichlich eine Funktion.3 Unausweichlich deshalb, weil die moralische Reflexion die Moral nicht erfindet, sondern – meist unbemerkt – nur an einen Platz innerhalb der immer vorausgesetzten und ihrerseits moralisch geformten sozialen Beziehungen rückt. Deshalb gerät sie unausweichlich in ein entweder bestätigendes oder kritisches Verhältnis zu diesen Beziehungen, was aufgrund der hohen Abstraktion leicht verborgen bleiben kann. Ohne weitere Kritik des Lesemodells, gehe ich im Folgenden vom Handlungsmodell aus.4 Denken wir die Moral nach dem Handlungsmodell, so scheinen sich unzäh3 Weil ein Vergleich von Moral mit Mathematik deshalb nicht nur falsch, sondern irreführend wirkt, ist der Vergleich selbst ideologisch. In diesem Sinn objektiv ideologisch äußert sich ein Vertreter dieser klassischen Auffassung wie Estlund, D., Utophobia, in: Philosophy & Public Affairs 42 (2), 2014, S. 113 – 134. Im Weiteren plädiere ich für einen Begriff von Ideologie, der nicht realisierbare Idealisierungen umfasst, die als realisierbar behandelt werden. Das trifft auf einen nicht geringen Teil der liberalen Ethik zu. 4 Zu den bekanntesten Einwänden gegen den Utilitarismus gehört eben, dass er die ,Grenzen zwischen den Individuen‘ (Rawls) ignoriert. Der neben solchen selbst moralischen Einwänden wichtigste ,philosophische‘ Einwand wäre derjenige der Wertmetaphysik, wobei ,Metaphysik‘ nicht für alle Philosophen als discussion-stopper wirkt. Bei der ,letzten‘ Kon-

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lige Möglichkeiten zu eröffnen, wie soziale Beziehungen beschaffen sind, abhängig auch von der Wahl bestimmter Sozialbereiche. Diese mögliche Fülle schränkt sich aber dadurch ein, dass uns die folgenbewusste Anwendung der Trias von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf denjenigen Bereich der Gesellschaft interessiert, in dem ökonomische Ungleichheit entsteht. Mit dem Lesemodell der Moral ginge tendenziell die Vorstellung einher, dass das reale Handeln durch anderweitig gewonnene, externe moralische Normen zu korrigieren sei, was im gesellschaftlichen Maßstab nur der Staat übernehmen kann.5 Wird hingegen das Handlungsmodell im Sinn einer Erzeugungsmechanik verstanden, dann suchen wir in der realen Gesellschaft keinen ,Vertrag‘, einen ,Urzustand‘ oder Annäherungen an diese Fiktionen, sondern Formen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die bereits folgenreich implementiert sind und bestimmte Verhältnisse konstitutiv hervorbringen. Die sozialliberale Trias prägt vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg das Bewusstsein und die Politik in liberalen Staaten. Freiheit und Gleichheit stellen darin die relevanteren Werte dar, abhängig von der Interessenlage, aus der man sich der Trias nähert. Sicher ist Brüderlichkeit für Bedürftige wichtiger als Freiheit und Gleichheit; aber wenn die weitgehende Mehrheit nicht bedürftig ist, etwa im Ausmaß von Sozialhilfe, dann rückt Bedürftigkeit in der Gesamtschau hinter Freiheit und Gleichheit. Brüderlichkeit ist auch insofern zweitrangig, als aufgrund der Vagheit der ersten beiden Begriffe offen bleibt, inwieweit und in welchem Ausmaß Brüderlichkeit in ihnen bereits abgedeckt und als eigenständiger Wert damit unnötig ist. Der zentrale normative und sozialpolitische Disput betrifft also Freiheit und Gleichheit, mit der Folge des endemischen Konflikts zwischen Forderungen zugunsten beider Werte.6 Angesichts dessen, dass diese beiden Werte in verschiedenen Sozialbereichen eine unterschiedliche Bedeutung und unterschiedliches Gewicht haben, sind globale Äußerungen zu ihrem Gehalt und Verhältnis wenig sinnvoll. Man denke nur an die Bereiche der Familie, der rechtlichen Beziehungen von Bürgern, und aller in Ausbildung und Beruf. Umfassende normative Ansätze wie die von Rawls (1971, vgl. Fn. 8) oder Miller (ders., Principles of Social Justice, Oxford 1999) sortieren die normative Diskussion entsprechend nach sozialen Bereichen. Auch dann sind freilich weniger normative als vielmehr rekonstruktiv-kausale Annahmen dazu nötig, aus welchem Bereich Bedrohung und Ermöglichung moralischer Beziehungen, genauer ökonomischer Ungleichheit, entspringen. Ist unser zentrales Interesse ökonomische Ungleichheit – und was sollte moralisch gesehen in liberalen Gesellschaften ohne Krieg wichtiger sein? – dann wird entsprechend auch die ökonomische Sphäre derjenige Sozialbereich sein, dem das erste Augenmerk gilt. fliktebene in diesem Diskurs stehen sich Philosophen deshalb nicht als Repräsentanten von Rationalität, sondern als politische Akteure gegenüber. 5 Die Vorstellung von der externen Korrektur wird verstärkt, wenn der Markt als de facto oder idealerweise moralisch neutral angesehen wird. Der Realität entspricht diese einseitige Rekonstruktion natürlich nicht. 6 Zur Illustration dieser klassischen Thematik: Narveson, J./Sterba, J. P., Are Liberty and Equality Compatible? Cambridge 2010.

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Diese Behauptung ist nicht selbstverständlich und eher riskant. Meist denkt man bei Freiheit und Gleichheit weniger an die ökonomische als an die rechtliche und politische Sphäre. Die Vermutung liegt nahe, dass die gegenwärtig starke ökonomische Ungleichheit in liberalen Gesellschaften sowieso nur akzeptiert wird, weil sie mit einer relativ starken rechtlichen und politischen Freiheit und Gleichheit einhergeht. Ungleichheit vor dem Recht und bei der politischen Wahl würde gegen erheblich größere Widerstände stoßen als es bei ökonomischer Ungleichheit der Fall ist. Tatsächlich sind damit viele Bürger ideologisch fehlgeleitet, denn die ökonomische Ungleichheit greift in der Regel in ihr alltägliches Leben nicht weniger, oft unmittelbarer ein als es eine rechtliche und politische vermöchte. Zwischen diesen Sphären herrschen allerdings Abhängigkeitsbeziehungen. Soziologische Untersuchungen zum relativen Gewicht der Interessen an Einkommen und Vermögen im Vergleich zu rechtlicher Sicherheit und politischer Freiheit belegen, soweit man das so pauschal sagen kann, nach wie vor das größere Gewicht der ersteren.7 Diese Interessen zu entzerren ist nicht einfach, weil das erste Interesse das zweite teilweise impliziert. Ohne egalitäre Rechtsbedingungen und politische Freiheit ist ein effektives Wirtschaften nicht möglich, so dass vorrangig materielle Interessen, wenn sie tatsächlich weit verbreitet sind, indirekt auch Interessen an einer liberalen staatlichen Ordnung implizieren. Wie ich im Weiteren noch zeigen will, würde die rechtliche und politische Anerkennung der Bürger jedoch leiden, wenn sie nur funktional auf Einkommen und Vermögen bezogen wäre und keinen Eigenwert hätte. Und insofern sind die Sphären begrifflich doch trennbar. Diese Bemerkungen sollen dazu einladen, Freiheit und Gleichheit in der ökonomischen Sphäre aufzusuchen. Da Freiheit und Gleichheit keine einfach kohärente Menge bilden (Freiheit führt zu Ungleichheit, Ungleichheit vermeiden schränkt Freiheit ein), wären Gründe für den Vorrang des einen oder anderen Ideals nötig, sind aber in pauschaler Form wenig überzeugend. Freiheit und Gleichheit können gleichsam nur im Paket, unter Einbezug der gegenseitigen Wirkung im Verfolgen von Freiheit und Gleichheit, begründet werden. Das weite Feld der dabei zu beachtenden empirischen Folgen wird etwas übersichtlicher, wenn wir Freiheit und Gleichheit mithilfe psychologischer Handlungsgesetze zu verstehen suchen. Dann treten nämlich zwei miteinander verbundene psychologische Dispositionen in den Vordergrund, die den Ideen Freiheit und Gleichheit eine realistische Basis geben können. Diese beiden Dispositionen sind Gegenseitigkeit und Verdienst. Beide Begriffe schwanken zwischen dem Benennen einer empirischen Verhaltenstendenz und einem normativen Prinzip, und spielen wohl deshalb in der normativen Debatte 7 Diese Aussage erscheint im Licht der berühmten These R. Inglehardts zur Zunahme ,postmaterialistischer‘ Interessen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielleicht etwas riskant. Ein Konsens scheint aber inzwischen darin zu bestehen, dass die materialistischen Interessen nur ergänzt, nicht überrundet werden. S. zu dieser kontroversen Diskussion Thome, H., Wandel gesellschaftlicher Wertvorstellungen aus der Sicht der empirischen Sozialforschung, in: B. Dietz/Ch. Neumaier/A. Rödder (Hrsg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschung zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, 2013.

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nur eine randständige Rolle. Gegenseitigkeit wurde von Rawls als wichtiges Hintergrundprinzip erkannt, Verdienst hingegen als normativ nicht belastbar abgelehnt.8 Der Unsicherheit unter Moralphilosophen steht eine starke Präsenz beider Prinzipien innerhalb der Alltagsmoral gegenüber, die in den letzten Jahren von der experimentellen Literatur vor allem für Verdienst nachgewiesen wurde. T. Mulligan hat einige Ergebnisse der verhaltenstheoretischen Literatur zu Verdienst zusammengefasst.9 Gegenseitigkeit und Verdienst sind miteinander inhaltlich verbunden. Gegenseitigkeit ist seit langem von Ethnologen und Biologen als universell verbreitetes Verhaltensmuster anerkannt. Dabei ist zunächst ein tit-for-tat Muster unter den Beteiligten an einer Kooperation gemeint. Diese Muster stellen aber immer auch bereits Formen des Belohnens und Strafens dar, so dass Gegenseitigkeit nicht ohne Verdienst als Proportionalität auskommt. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass ein Sinn für Proportionalität – und indirekt Gerechtigkeit – auch bei bestimmten Säugetieren beobachtbar ist und in allen menschlichen Kulturen eine Rolle spielt.10 Ohne solche biologisch angebahnten Muster einfach in eine kulturell geformte soziale Gerechtigkeit fortschreiben zu wollen, sind sie doch verhaltenstheoretisch zu bedeutsam, als dass 8 S. Rawls, J., A Theory of Justice, Cambridge/MA 1971 (Revidierte Fassung 1999), zu Gegenseitigkeit: § 77, und zu Verdienst: § 48. Gegenseitigkeit als normatives Prinzip einsam verteidigt hat Becker, L. C., Reciprocity, London 1986, auf typische Weise kritisiert Buchanan, A., Justice as Self-Interested Reciprocity versus Subject-Centered Justice, in: Philosophy & Public Affairs 19, 1990, S. 227 – 252. Trotz der wirkungsvollen Kritik von Verdienst durch Rawls hat die philosophische Debatte über dieses Prinzip nie aufgehört. 9 Mulligan, T., Justice and the Meritocratic State, New York 2018, Kap. 3, verweist insbesondere auf experimentelle Ergebnisse der Bergener Cappelen/Tungodden Gruppe sowie auf die Arbeiten von Konow. Ergänzend zu Gegenseitigkeit scheint mir interessant: Kolm, S.-Ch., Reciprocity: Its Scope, Rationales, and Consequences, in: S.-Ch. Kolm/J. M. Ythier (Hrsg.), Handbook of the Economics of Giving, Altruism and Reciprocity, vol. 1, Brüssel 2006, S. 375 – 441; Falk, A./Fischbacher, U., A Theory of Reciprocity, in: Games and Economic Behaviour, 54 (2), 2009, S. 293 – 315; zu Verdienst: Cappelen, A. W. et al., Responsibility for What? Fairness and Individual Responsibility, in: European Economic Review 54, 2010, S. 429 – 441; Cappelen, A. W. et al., The Merit Primacy Effect, NHH Dep. of Economics discussion paper, 2017; Kanngiesser, P./Warneken, F., Young Children Consider Merit when Sharing with Others, in: Plos One 8 (8), 2012. Diese Belege ergeben sich aus einer Menge verschiedener Szenarien und sind nicht einem bestimmten theoretischen Ansatz verhaftet. Eine nötige Voraussetzung ist allerdings, dass die Versuchspersonen miteinander interagieren und ihre Handlungen im Vergleich mit anderen bewerten, im Unterschied zu einem abstrakten Abfragen von Überzeugungen. Die starke Alltagsakzeptanz von Verdienst/Leistung bestätigen Becker, R./Hadjar, A., Meritokratie – Zur gesellschaftlichen Legitimation ungleicher Bildungs-, Erwerbs- und Einkommenschancen in der modernen Gesellschaft, in: R. Becker (Hrsg.), Lehrbuch der Bildungssoziologie, 2009, S. 48. 10 Tomasello fasst den Forschungsstand zu einer Protomoral bei nicht-humanen Primaten so zusammen, dass sie über Sympathie und ein Gegenseitigkeitsverständnis verfügen, aber nicht über einen Sinn für Fairness. Die vermeintlichen Belege von Fairness anhand von ultimatum game Experimenten lassen sich über eine fairnessfreie Ärgerreaktionen erklären (s. Tomasello, M., A Natural History of Human Morality, Princeton 2016, S. 32 f., 71). Tomasello bestätigt gleichwohl die Bedeutung von Gegenseitigkeit als Entstehungsbedingung für Fairness und Gerechtigkeit (S. 36).

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sie bei normativen Verbindungen von Freiheit und Gleichheit ignoriert werden könnten.

III. Verdienst und Wettbewerb Die philosophische Literatur über Verdienst hat einige Unterscheidungen eingeführt, die zu berücksichtigen empfehlenswert ist. Erstens diejenige zwischen einem primären und einem sekundären Verdienstbegriff (oder ,Verdienst‘ und ,Berechtigung‘). Zweitens die zwischen vergleichendem und absolutem Verdienst. Drittens die Unterscheidung zwischen moralischem und nicht-moralischem Verdienst. Viertens die zwischen Verdienst bei verteilender und strafender Gerechtigkeit. Die beiden letzteren Unterscheidungen klammere ich im Folgenden aus. Die Unterscheidung zwischen moralischem und nicht-moralischem Verdienst ist stark von einer Definition von Moral abhängig, die ich hier nicht ausführlicher betrachten will. Der Unterschied ist im Weiteren nicht von Bedeutung. Auch klammere ich strafende Gerechtigkeit und die Thematik ,verdienter Strafe‘ aus praktischen Gründen aus. Interessant wäre aber, die Bedeutung der gemeinsamen psychologischen Grundlagen für beide Formen von Gerechtigkeit zu verfolgen. Verdienst im primären Sinn gesteht einer Person eine Belohnung aufgrund einer so genannten ,Verdienstbasis‘ zu, ohne dass dabei eine rechtliche oder ,institutionelle‘ Norm vorausgesetzt ist. Sekundär wird der Verdienstbegriff dagegen bei Abhängigkeit dieser Art angewandt. Leicht verdeutlichen lässt sich der Unterschied am besten Läufer über die ganze Saison. Vor-institutionell: eigentlich hätte er den Sieg verdient, wäre er nicht am effektiven Sieg gehindert worden. Institutionell: Kraft Regeln hat der tatsächliche Sieger den Sieg verdient.11 Bei Verdienst in primärer Anwendung entspringt die Bewertung aus der Qualität des Handelnden oder Handelns. Das schließt nicht aus, dass die Qualität durch Vergleich ermittelt werden muss. Verdienst wird dann, zweite Unterscheidung, vergleichend und nicht absolut verstanden.12 Bei Beiträgen zu einem kollektiven Ziel gibt es 11

Über diesen klaren, anhand der Moral/Recht-Differenz unterschiedenen Fällen übersieht man leicht, dass auch eine inner-ethische Unterscheidung von primärer und sekundärer Anwendung denkbar ist. Geht es um Beitragsverdienst, dann wäre ein Beitrag primär verdienstvoll, wenn bei der Belohnung die individuelle Handlungsqualität eine Rolle spielt, er wäre sekundär verdienstvoll, wenn nach einer generalisierenden Verteilungsnorm entschieden wird. Ähnlich wie im Rechtsfall wird etwa bei einer grob nach Arbeitszeit beurteilten Verteilung von den Qualitäten des Einzelbeitrags abgesehen. Dann ließe sich kraft der unterstellten Norm dennoch sagen ,A verdient aufgrund von y einen Lohn von z‘, aber im Urteil wird nicht weiter auf die Qualität von y eingegangen. Der Unterschied zwischen primären und sekundären Urteilen in diesem Sinn ist fließend. 12 Es gibt meines Wissens nur einen Autor, der Verdienst nicht-vergleichend in Verbindung mit einer absoluten Moral versteht: Kagan, S., The Geometry of Desert, Oxford 2012. Cavanagh, M., Against Equality of Opportunity, Oxford 2002, S. 38 ff. weist allerdings darauf hin, dass Vergleiche nur notwendig, nicht hinreichend für eine Bewertung sein können.

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keine absoluten Beitragsminima oder -maxima, sondern die Qualität der einzelnen Beiträge stellt sich erst in der Realisierung heraus. Darin passt das eben bereits herangezogene Beispiel des Rennens – das sicher beliebteste Beispiel in der Literatur – gut zur Illustration. In einem sportlichen Wettkampf ist nicht von vornherein klar, welche Minima und Maxima erreicht werden können, und die Qualität einzelner Vorträge ergibt sich nur im Vergleich. Nicht jeder Vergleich muss mit einem Wettkampf verbunden sein. Unterstellt man nicht bereits jedes vergleichende Bewerten als kompetitiv, dann ist der Vergleich zwischen zwei ältesten Bäumen ein nicht-kompetitiver, der Vergleich zwischen zwei Bewerbern für eine Stelle ein kompetitiver. Innerhalb von vergleichendem Verdienst bilden kompetitiver und nicht-kompetitiver Verdienst zwei mögliche Varianten. Beide Arten von Verdienst benötigen einen Beziehungsrahmen, der Regeln und Werte umfasst, und eine unterschiedliche Art der Kooperation unterstützt. Im kompetitiven Fall wird das eine kompetitive Kooperation (Kooperation weil Einhalten von Regeln) sein, im nicht-kompetitiven Fall eine wertorientierte und tendenziell gemeinschaftliche Kooperation. Mischformen beider Typen sind üblich. Beide Male ist der Zweck der Kooperation das Erreichen von Zielen, im kompetitiven Fall eher die Verteilung von materiellen Gütern, im nicht-kompetitiven Fall eher das Herstellen von Sicherheit und Freiheit. In Anschluss an klassische Unterscheidungen von Weber und Habermas liegt vielleicht nahe, die beiden Verdienstkategorien idealtypisch voneinander zu trennen und entsprechende Sozialbereiche zu unterscheiden. Ersteres ist einfach, letzteres nicht sinnvoll. Das typische handwerkliche Handeln, im Arbeitsmarkt immer noch von Bedeutung, ist sowohl von Wettbewerb wie auch von Idealen durchzogen. Handwerker, und mit vielen Abstufungen vielleicht Arbeiter generell, verfolgen meist auch ein Ideal des Herstellens und müssen es mit den ökonomischen Zielen in Übereinstimmung bringen. Soweit die Bereiche verschieden sind, liegt das nicht an der durchgängig vorhandenen Wertorientierung, sondern an der Rolle des Wettbewerbs. Entscheidend ist die Frage, ob der Wettbewerb wesentlichen Einfluss auf Erfolg und Verdienst hat, nicht welche Ideale ihm zugrunde liegen. Weil ,wesentlich‘ ein qualitatives Prädikat ist, scheidet eine klare und einfache Bereichstrennung aus. Die an der gesellschaftlichen Bedeutung von Verdiensturteilen interessierte Literatur bedient sich dazu des Begriffs der ,Meritokratie‘. Meritokratie bezeichnet ein Sozialsystem, das mindestens durch Wettbewerb und Verdienst gekennzeichnet ist. Darüber hinaus wird der Begriff in unterschiedlicher Weise aufgeladen und moralisch ausgelegt. Auf diese Varianten gehe ich im nächsten Abschnitt ein. J. Littler (Fn. 16) hat die Einführung des erst seit den 1950er Jahren gängigen Begriffs durch die britischen Soziologen A. Fox und M. Young nachgezeichnet und seine Ideologieanfälligkeit besonders hervorgehoben. Eine solche Anfälligkeit entsteht, weil der ökonomische Markt als Paradigma der Kombination von Wettbewerb und Verdienst gilt, aber gleichzeitig die nützliche Reichweite und Fairness des Markts in der Gesellschaft umstritten und wahrscheinlich nicht völlig objektivierbar ist.

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Der offene Anspruch der Meritokratie wirft die bekannte Problematik auf, inwieweit die Gesellschaft insgesamt der Marktlogik entsprechend organisiert ist oder, soweit nicht, es noch werden soll. Eingeschlossen ist darin die Frage, inwieweit Verdienst unter Wettbewerb hinreichend ist für eine gerechte Verteilung von Gütern, oder vielmehr der externen Korrektur bedarf. Dazu mehr im nächsten Abschnitt. Viele Kritiker des Markts sehen die Notwendigkeit, neben dem Markt in der Gesellschaft einen nicht durch ökonomischen Wettbewerb gekennzeichneten Bereich aufrecht zu erhalten und ihn als Gegengewicht und Kontrolle zu stärken. Politik, Recht, durch Recht orientierte Verwaltung, Religion, und ein zivilgesellschaftliches Handeln der Bürger sowie die vielen persönlichen Nahbereiche sind soziale Sphären, in denen nicht der Wettbewerb, sondern Interessen und Ideale – und bei entsprechendem Handeln der nicht-kompetitive Verdienst – eine vorrangige Rolle spielen. Dass diese Sphären in Gefahr sind, durch ökonomisches Denken und Wettbewerb erodiert zu werden, ist hinlänglich bekannt. Der Konflikt des Handwerkers, der sein Berufsideal mit dem ökonomischen Erfolg in Einklang bringen muss und damit einer Außenkontrolle unterliegt, wiederholt sich im Großen, wenn die idealorientierten Sphären in Konkurrenz mit dem ökonomischen Erfolg geraten.13 Für kritische Soziologen wie Littler, prospektiv bereits für Fox und Young, entlegitimiert die zunehmende Ökonomisierung moderner Gesellschaften weitgehend auch die Tauglichkeit von Verdiensturteilen, insbesondere solchen unter Wettbewerb. Berechtigt an dieser Skepsis ist – neben der Gefahr des auswuchernden ökonomischen Denkens – der Vorbehalt, wie weit kompetitiver Verdienst überhaupt gerecht gestaltet werden kann, sowohl in idealer wie natürlich mehr noch realer Hinsicht. Dazu eine möglichst nüchterne, nicht bereits in politischen Vorbehalten befangene Diskussion zu führen, ist deshalb nötig, weil der Markt und seine moralischen Legitimationsmuster de facto existieren und eine vollständig nicht-kompetitive Alternative unter menschlichen Bedingungen wohl völlig undenkbar ist. Realistisch gesehen ist kompetitiver Verdienst unausweichlich, so dass das Ziel nur darin liegen kann, ihn möglichst fair zu gestalten. Das dazu übliche Prinzip, um das es jetzt gehen soll, ist Chancengleichheit.

IV. Gleichheit und Wettbewerb Die Vertreter von normativer Meritokratie räumen mehr oder weniger bereit ein, dass die Voraussetzungen für Verdienst in bestimmtem Ausmaß gleich sein müssen,

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Sollte man den Strafvollzug an eine kostengünstigere Privatfirma übergeben, auch wenn die Ideale des Strafvollzugs dabei gefährdet werden? Soll der Klimaschutz eher durch Marktinstrumente oder durch politisch gerechtfertigte Anreize und Verbote organisiert werden? Alle Bereiche der Gesellschaft sind von einem fortwährenden Verdrängungsgeschehen zwischen kompetitiven und nicht-kompetitiven Denkweisen durchzogen.

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damit Verdienst ein faires Kriterium sein kann.14 Daraus entsteht die übliche Vorstellung, dass Verdienst mit Chancengleichheit verbunden sein muss, damit Verdienst als Gerechtigkeitskriterium akzeptabel wird. Betrachtet man diesen Gedankengang jedoch genauer, entstehen vor allem zwei Fragekomplexe. Erstens, wie setzt sich die Begründung von Chancengleichheit zusammen? Offensichtlich durch eine Kombination von Gleichheit und Wettbewerb, aber wie genauer und mit welchen Gründen? Das erklärt sich vor allem dann nicht von selbst, wenn die Verbindung handlungsnah, also in realistischer Nähe zu den tatsächlichen sozialen Beziehungen gedacht werden soll. Zweitens, wie umfassend ist Chancengleichheit zu fordern und wie ist der Umstand zu bewerten, dass Chancengleichheit real nicht herstellbar ist? Dieser zweite Punkt einer realistisch-idealen Chancengleichheit ist Thema des nächsten Abschnitts. Manche sind der Meinung, dass Gleichheit ebenso wie Freiheit inhärenter Bestandteil von Wettbewerb ist, so dass Chancengleichheit aus dem kompetitiven Verdienst selbst bereits folgen muss.15 Im Folgenden nenne ich das das interne Modell der Chancengleichheit. Bei der Alternative dazu, dem externen Modell, wird Gleichheit als Wert unabhängig von Wettbewerb betrachtet und als externe Korrekturbasis eingeführt. Auf den ersten Blick scheint der Unterschied zwischen beiden Einführungen von Gleichheit belanglos. Bei genauerem Zusehen sind beide aber mit der Frage verbunden, welchen Umfang Wettbewerb in menschlichen Beziehungen haben soll.16 Das interne Modell ist nicht unverständlich. Ein Wettbewerb macht wenig Sinn ohne eine angemessene Form von Freiheit. Wenn Wettbewerb eine Methode sein soll, den Besten herauszufinden, dann müssen alle Beteiligten auch die Freiheit haben, ihre geeigneten Fähigkeiten auszuüben. Und diese Freiheit muss gleich verteilt sein. Sicher ist ein Wettbewerb, bei dem einige behindert werden, wohl eher die Regel. Aber die Funktion des Wettbewerbs wird dann eingeschränkt, wenn sie eben das genannte Entdeckungsziel hat. Aufgrund ihrer Funktion enthält die Methode des 14 Zum Begriff Meritokratie herrschen verschiedene Literaturen. Obwohl ich das Ideal verfolge, sie zu verbinden, ist das nur annähernd möglich. Die Differenz zwischen der normativen und der empirischen Analyse spielt im Folgenden eine zentrale Rolle. Beide Literaturen leiden unter ihrer Einseitigkeit. Für die Empirie, neben Littler (Fn. 16) und speziell informativ für Deutschland s. Becker, R./Hadjar, A. (Fn. 9). 15 So zustimmend Mulligan (Fn. 9), S. 72 f. Ähnlich, allerdings kritisch, Cavanagh (Fn. 12), S. 85 und Anderson, E., Rethinking Equality of Opportunity: Comment on Adam Swift’s How Not to Be a Hypocrite, in: Theory and Research in Education 2, 2004, S. 104. Im Unterschied zu Mulligan lehnen beide normative Meritokratie ab. 16 Der Begriff Meritokratie wird manchmal, möglicherweise sogar typisch, mit dem internen Modell verbunden (wie bei den in Fn. 15 Genannten). Wie Littler, J., Against Meritocracy, London 2018, Kap. 1, zeigt, gab es auch die ,linke‘ Meritokratie, etwa von Tawney und Bell, ansatzweise sogar bei dem wichtigsten ersten Propagator des Begriffs, Young, M., The Rise of the Meritocracy, 1870 – 2033. An Essay on Education and Equality, London (zahlreiche Auflagen) 1958, in der das externe Modell vorherrscht. Ich verwende den Begriff hier übergreifend für beide Varianten. Von Bell s. Bell, D., On Meritocracy and Equality, in: The Public Interest 29, 1972, S. 29 – 68.

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Wettbewerbs als solche eine Forderung nach Chancengleichheit. Allerdings hängt diese funktionale Begründung von Chancengleichheit davon ab, um welchen Wettbewerb es sich handelt und natürlich auch, ob für eine bestimmte Klasse von sozialen Beziehungen überhaupt ein Wettbewerb gelten soll. Ohne Wettbewerb kein kompetitiver Verdienst, und nach dem internen Modell keine Chancengleichheit. Die mit dem externen Modell verbundene ,egalitaristische‘ Überzeugung von Gleichheit ist dem gegenüber freistehend und maximal umfassend. Dem Egalitaristen geht es in der umfassendsten Variante darum, dass alle gleiche Chancen auf ein gutes Leben haben.17 Der maximale Rahmen für Forderungen nach Gleichheit ist damit der nach gutem Leben im Allgemeinen. Zum Herstellen von Gleichheit beim guten Leben im Allgemeinen einen Wettbewerb zu fingieren, wäre nicht besonders plausibel. Zutreffend ist zwar, dass die Mittel für ein gutes Leben vieler insgesamt ähnlich knapp sind wie Jobs, es also um eine Verteilung knapper Güter geht. Unklar ist aber, was das Ziel eines Wettbewerbs sein sollte, der Lebenschancen im Ganzen verteilt, und insbesondere welche Instanz darüber entscheiden sollte, wer der Beste ist. Im Fall von Sportveranstaltungen oder Stellenbesetzungen ist das klar, im Fall von Chancen für ein ganzes Leben ist es nicht nur unklar, sondern prinzipiell nicht zu beantworten.18 Die interne Einführung von Gleichheit im Wettbewerb kann, muss freilich nicht, mit einer Überdehnung des Wettbewerbs einhergehen. In liberalen Demokratien herrscht das Selbstverständnis, dass rechtliche und politische Gleichheit nicht Gegenstand von Wettbewerb sein können, sondern relativ gesehen bedingungslos gelten, während bei ökonomischer Gleichheit der Wettbewerb eine zentrale Rolle spielt. Unter Gleichheit verstehen die meisten Bürger vorrangig den Anspruch, im Recht gleich behandelt zu werden und eine gleiche Stimme bei der Wahl zu haben, weniger den Anspruch nach gleichem Einkommen und Vermögen. Allen ist bewusst, dass die realen menschlichen Ungleichheiten ökonomische Ungleichheit nach sich ziehen. Würde Gleichheit nur wettbewerbsintern begründet, würde diese Sphärendifferenz ignoriert. Auch wäre das Ausmaß von Chancengleichheit kaum eindeutig zu begründen. Die seit Rawls bekannte Differenz von ,formaler‘ und ,fairer‘ Chancengleichheit setzt einen wettbewerbsunabhängigen Glauben an Gleichheit voraus. Formale Chancengleichheit entspricht der rechtlichen und politischen Gleichheit, die ein Diskriminieren aufgrund von Ethnie, Geschlecht oder Religion im Wettbewerb verbietet. Ob eine interne Begründung aus den Interessen des Wettbewerbs heraus solche Arten von Diskriminierung ausschließen kann, ist nicht sicher. Ein Arbeitgeber hat wohl das Interesse, den ,Besten‘ für eine Stelle zu finden, und vielleicht ist eine Frau 17 Ihn so darzustellen, dass alle tatsächlich ein gleich gutes Leben haben, wäre eine nicht erfüllbare und nicht wünschenswerte Forderung. Sie ließe keinen Spielraum dazu, dass verschiedene Vorstellungen zum guten Leben herrschen. 18 Die Annahme, dass das Leben im Allgemeinen ein Wettbewerb ist, hätte den Charakter eines Sozialdarwinismus. Manche meritokratischen Denkweisen gehen in diese Richtung.

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die Beste für eine Stelle. Aber lässt sich unter dieser Bezeichnung ignorieren, dass sie potentiell schwanger wird und dann ihre Fähigkeit nicht einsetzen kann? Hier zeigen sich grundsätzliche Differenzen zwischen den kategorischen Gleichheitsüberzeugungen und Ergebnissen beim Wettbewerb – selbst wenn der Wettbewerb idealisierend als reine Entdeckungsmethode verstanden wird. Eine ähnliche Lücke wiederholt sich bei fairer Chancengleichheit, die als kompensierendes Bemühen um gleiche Ausgangsbedingungen gemeint ist. Wichtig ist dabei zwischen verschiedenen Funktionen von Chancengleichheit (ChG) zu unterscheiden.19 Dann steht der Entdeckungsfunktion des Wettbewerbs durch ChG zunächst gegenüber, eine bestimmte Menge von Kandidaten erst in die Lage zu bringen, an Wettbewerben teilzunehmen. Und beiden steht gegenüber, dass Personen in ihren Potentialen ohne Bezug bereits auf einen Wettbewerb gefördert werden. ChG im Sinn der ersten Funktion wäre entdeckende ChG, im Sinn der zweiten Funktion ausbildende, im Sinn der dritten Funktion fördernde ChG. Einen Überblick zu diesen Varianten von ChG gibt das folgende Schaubild: Funktion der ChG

Grenzen der Förderung von ChG

Verhältnis zu interner bzw. externer Gleichheit20

Entdecken innerhalb von Wettbewerb (formale ChG)

Keine Ausgangsförderung bei hinreichender Menge von Kandidaten

Intern gleich, extern ungleich

Ausbilden in Bezug auf einen Wettbewerb (faire ChG1)

Ausgangsförderung je nach Art des Wettbewerbs und Kandidatenlage

Intern gleich, extern ungleich

Fördern ohne Bezug zu Wettbewerb (faire ChG2)

Ausgangs- und begleitende Förderung

Intern gleich, extern (annähernd) gleich

Diese Varianten machen deutlich, dass sich formale und faire ChG stark danach unterscheiden können, wie und ob überhaupt sie mit einem Wettbewerb verbunden sind. Ist ein Wettbewerb vorgegeben, definiert er auch die wünschenswerten Fähigkeiten und kann dabei einseitige Vorgaben liefern. Man kann dem Vertreter der internen Begründung von Gleichheit die Möglichkeit einräumen, dass er den Wettbewerb möglichst umfassend und allgemein definiert, um einseitige Auswahlen und die Einschränkung auf kontingente Zahlen von Kandidaten zu vermeiden. Dennoch bleibt der Gleichheitsanspruch an Funktionen gebunden. Das Problem der internen Begründung lässt sich freilich auch so darstellen, dass das konkrete Ausmaß von Förderung bei fairer ChG mangels Wissen funktional überhaupt nicht ermittelbar ist. In-

19 Hilfreich ist dazu die Diskussion bei Cavanagh (Fn. 12), Teil 2, von dem ich die Frage nach den Zwecken von Chancengleichheit übernehme. 20 Verstanden hier als normative Forderung, nicht als erreichbarer Zustand. S. Abschnitt 5.

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sofern bliebe die interne Begründung von Gleichheit in den konkreten Maßnahmen willkürlich und beschränkt. Gleichheit muss gegenüber Wettbewerb und kompetitivem Verdienst also extern begründet werden. Attraktiv wäre die funktionale Begründung über Wettbewerb insofern, als sie von einer bewährten Beziehungsform ausgeht, während Gleichheit als solche nur eine Idee ist. Im Wettbewerbsmodell argumentiert man von vornherein realitätsnah, im Gleichheitsmodell ist man gefordert, den realen Gehalt der Idee allererst nachzuweisen. Dabei geht es – gegen das Lese- und mit dem Handlungsmodell – mindestens darum, die Motivationskraft der Gleichheitsidee zu belegen und damit indirekt auch den Ideologiecharakter von Gleichheit auszuräumen. Bekannte rhetorische Begründungen mithilfe allgemeiner Eigenschaften wie ,Menschlichkeit‘, ,Vernunft‘ oder ,Würde‘ sind ersichtlich untauglich.21 Deshalb muss das Gleichheitsmodell analog wie das Wettbewerbsmodell aus einer Beziehungskonstellation heraus verteidigt werden. Gleichheit wird dabei ein spezielles Profil annehmen. Eine realitätsnahe Begründung wird nicht aus verbreiteten Intuitionen erfolgen, die nicht davor gefeit sind, ideologische Muster wiederzugeben.22 Vielmehr sollte sie die generellen Interessen im Rahmen möglichst aller Arten von sozialen Beziehungen berücksichtigen. Darin nimmt sie wiederum die Form einer funktionalen Begründung an, mit der Hoffnung allerdings, dass sich Einschränkungen wie beim Wettbewerb vermeiden lassen. Hier sehr skizzenhaft, wie eine solche Begründung lauten könnte. Wenn wir davon ausgehen, dass Menschen nicht einfach durch Gleichheitsideen als Ideen motiviert sind, benötigt man eine verhaltensnahe Begründung. Eine solche Begründung wird nicht den Charakter haben, einen fiktiven Opponenten, etwa den rationalen Egoisten, von moralischer Gleichheit zu überzeugen. Vielmehr wird sie sich auf die nachweisbaren Dispositionen einer Mehrheit von Menschen berufen, ohne damit alle Einzelindividuen wiederzugeben. Reale Menschen sind in ihren Verhaltensweisen keine rationalen Egoisten, aber ebenso wenig uneingeschränkte Altruisten. Ihre prosozialen Verhaltensweisen ergeben sich durch eine prosoziale Grunddisposition und auf beziehungsspezifischen Interessen beruhenden Teilmoralen. Die prosoziale Grunddisposition ist eine der Gegenseitigkeit: die Tendenz, Gutes mit Gutem und Schlechtes mit Schlechtem zu beantworten. Wenn man versucht, eine so grob benannte Disposition mit einem Prinzip wiederzugeben, sind verschiedene Verfeinerungen möglich. Möglichst schwach wäre die folgende Wiedergabe: 21 Diese Begründung sind entweder Pseudobegründungen, wenn sie eine selbst begründungsbedürftige Eigenschaft wie Würde unterstellen, oder führen nicht zu gleichen Rechten, wenn sie sich etwa auf ungleich verteilte Vernunft beziehen. Erklärungsbedürftig ist das Ausmaß, in dem solche beliebten Pseudogründe wiederholt werden. 22 Man stelle sich vor, die Existenz Gottes sollte durch die Verbreitung des Glaubens an die Existenz Gottes bewiesen werden. Je nach Auswahl der Befragten würde er existieren oder nicht existieren.

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Handeln deine Kooperationspartner zu deinem Vorteil, dann handle ihnen gegenüber ebenso; unterlasse es, wenn sie zu deinem Nachteil handeln! Dieses ,Gegenseitigkeitsgesetz‘ enthält rudimentäre Formen von Freiheit und Gleichheit. Es wird unterstellt, dass die Kooperation ohne Zwang erfolgt, und ebenfalls dass eine Gleichheit von Beiträgen erwartet wird. Die Anerkennung anderer als Gleicher geht so weit, dass auf Vorteile verzichtet wird, auch wenn sie zum Nachteil des anderen möglich wären. Mein Nachbar hilft mir beim Baumfällen, ich helfe ihm danach bei ähnlicher Gelegenheit selbst dann, wenn ich in Kürze für immer ins Ausland gehe. Diese Gegenseitigkeitsgleichheit muss und kann nicht weiter begründet werden. Weil sie anthropologisch unausweichlich und praktisch verlässlich ist, kann man aber von ihr ausgehen. In Frage steht dann, ob sich von ihr aus rechtliche und politische Gleichheit bzw. ökonomische Gleichheit ergeben. Die zusätzlichen Interessen für die soziale Existenz als Bürger oder als Arbeiter in der ökonomischen Sphäre sind nicht dieselben. Im ersten Fall geht es um die Beteiligung an einem Schutz- und Ordnungssystem, dem Staat, im zweiten Fall um die Beteiligung an der Erwirtschaftung von Gütern mit anderen Arbeitern.23 Stark vereinfacht unterscheiden sich die Interessen darin, dass die Bürgerexistenz mit einem allgemein geteilten Interesse an Schutz verbunden ist, die ökonomische Existenz mit einem individuell modifizierten Interesse an Arbeit. Beide Interessen sind darin verschieden, dass das Schutzinteresse unter allen Bürgern annähernd gleich ist, das Arbeitsinteresse individuell verschieden. Alle unterscheiden sich stärker in ihren Fähigkeiten und Wünschen der Lebensgestaltung als in ihrem Schutzbedürfnis. Während die rechtlich-politische Sphäre die in Gegenseitigkeit angelegte Tendenz zur Gleichheit unter dem Eindruck des Schutzbedürfnisses in bedingungslose rechtliche und politische Gleichheit überführt, muss die ökonomische Sphäre eine den individuellen Verschiedenheiten angemessene Form von Gleichheit finden. Ich habe vornhin bereits angedeutet, dass Gegenseitigkeit Verdienst nahelegt. Gegenseitigkeit gilt dann nicht beim Austausch zwischen Partnern, sondern als Proportionalität von Beitrag und Lohn (bzw. Schadenzufügen und Strafe). Wenn ein Verhaltensgesetz der Gegenseitigkeit wirkt, dann ist Verdienst ein naheliegendes Verteilungsprinzip. Die Einführung des Wettbewerbs beruht auf einem Interesse an Effizienz und historischer Erfahrung, und nicht unmittelbar auf Gegenseitigkeit. Wenn aber einmal Gegenseitigkeitsgleichheit wirksam ist und Wettbewerb als effizient erkannt, dann stehen eben die beiden Alternativen von interner oder externer Gleichheit (und entsprechend unterschiedliche ChG) offen. Gibt die Gegenseitigkeit dabei einen Ausschlag? Es scheint so, dass sich einzig über die gegenüber dem Wettbewerb externe Gleichheit eine widerspruchsfreie Verbindung zwischen politischer und ökonomi23 Das Schutzbedürfnis gilt sowohl gegenüber bestimmten Mitmenschen wie gegenüber anderen Staaten. Ohne einen Staat und den Schutz durch den Staat ist dieses Bedürfnis also nicht zu beantworten.

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scher Sphäre herstellen lässt. Würden die Schutzrechte der politischen Sphäre nicht auch in die ökonomische hineinreichen, dann würden die Bereiche so weit auseinanderfallen, dass es sich eher um zwei Teilgesellschaften handelte als um eine. Anders gesagt wird unterstellt, dass das Schutzbedürfnis auch gegenüber der Beteiligung an Produktion anhält und dann mit Verdienst unter Wettbewerb eine Einheit bilden muss. Diese Einheit ergibt sich durch die Forderung nach nicht nur formaler, sondern fairer ChG, also der durchgängigen Förderung bei unverdienten Nachteilen.24 Zusammengefasst könnte zutreffen, dass Gegenseitigkeitsgleichheit in Verbindung mit zwei Interessen, an Schutz und Effizienz, zu einem ökonomischen Gerechtigkeitsregime führt, das Verdienst unter Wettbewerb mit weitgehender ChG verbindet. Ohne Schutzinteresse keine externe Gleichheit, ohne Effizienzinteresse kein Wettbewerb, ohne Wettbewerb kein kompetitiver Verdienst, ohne Verdienst bei ChG keine Verteilungsgerechtigkeit. Skizzenhaft ist diese Begründung darin, dass mit diesen Stichworten einzelne Faktoren zwar benannt sind, aber diese Faktoren weiter je in sich gewichtet werden müssten. Eine dieser Verfeinerungen betrifft dabei die Frage nach Ausmaß und Realisierbarkeit von fairer ChG.

V. Reale Chancengleichheit oder Ideologie? Kritiker von Meritokratie als Ideologie führen meist den irreführenden Charakter des Slogans ChG an, der bei den Erfolglosen den Eindruck hinterlässt, sie hätten die gleichen Chancen und ihre Erfolglosigkeit beruhe nur auf ihrem individuellen Unvermögen. In Reaktion auf diese Art von Vorbehalt scheinen mir zwei Punkte wichtig. Erstens eine Klärung dessen, was ChG eigentlich genauer fordert. Kritiker von Meritokratie gehen nicht selten, meist implizit, von einer Forderung der Ergebnisgleichheit aus, an der gemessen ChG dann defizitär wirkt.25 Ein Teil der Antwort auf diese Kritik wird darin bestehen, zu zeigen, wozu ChG in einem vorteilhaften Sinn führen kann. Zweitens ist es aber nötig, den Hintergrund selbst zu bedenken. Indem sie Ergebnisgleichheit fordern, erweitern die Kritiker ein Prinzip der Gleichheit über die rechtlich-politische Sphäre hinaus vollständig auf das Wirtschaftshandeln. Ich will diese unrealistische Alternative zuerst ausräumen. G. Cohen war der Meinung, dass die Gegenseitigkeit des Markts vorrangig auf einer Kombination von Gier und Furcht beruht. Darin sähe jeder den Mitteilnehmer als jemand, den er maximal dazu benutzen müsse, einen für ihn größten Vorteil zu 24 Die Unterscheidung zwischen verdienten und unverdienten Nachteilen ergibt sich aufgrund des vorausgesetzten Verdienstrahmens. 25 Andere fallen einer ungenauen Verwendung des Chancenbegriffs zum Opfer. So übersetzt beispielsweise Becker, R., Entstehung und Reproduktion dauerhafter Bildungsungleichheit, in: R. Becker (Hrsg.), Lehrbuch der Bildungssoziologie, Wiesbaden 2009, durchgängig (ebenso Becker, R./Hadjar, A. [Fn. 9]) die Ergebniskorrelationen von Abschlüssen oder Besuch mit sozialer Herkunft direkt in Chancen. Die Ergebnisse drücken etwas aus, wenn auch nicht direkt die Chancen.

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realisieren. Dem stellte er eine gemeinschaftliche Gegenseitigkeit gegenüber, die mit einer ,sozialistischen‘ ChG, eine Art Zufallsegalitarismus, verbunden sei.26 Nun ist es immer schwierig, darüber zu urteilen, was ,der‘ Markt alles beinhalte, wenn man den Begriff so abstrakt einführt. Worin sich Cohen aber wohl irrte, und dabei eigenartigerweise in der Nähe der libertären Vertreter eines moralisch neutralen Markts, ist die unausweichliche Bindung auch von materiellen Interessen an moralische Denkweisen bei den meisten Menschen. Egalitaristen der abstrakten Sorte, zu denen auch Cohen gehört, übersehen die Notwendigkeit, wonach auch die Gegenseitigkeit im Markt Vertrauen erzeugende Maßstäbe enthalten muss, die über die Motive Gier und Furcht hinausgehen. Verdiensturteile bieten solche Maßstäbe, die sozial effektiver sind als sowohl Gier/Furcht-Motive, wie weiter unqualifizierte abstrakte Gleichheit. Aufgrund ihrer einzigartigen Kombination von (selbstinteressierter, also nicht moralisch anspruchsvoller) Motivation und Begründung unter einem Begriff, gleichzeitig als Ausdruck von Gegenseitigkeit, ist Meritokratie jeder nichtmoralischen und jeder moralisch anspruchsvollen, aber rein gedanklichen Art des Egalitarismus überlegen.27 Die anhaltende Überzeugung vieler zur Richtigkeit der meritokratischen Idee, selbst unter meritokratieaversen Bedingungen, ist weniger ein Resultat von „Jahrhunderten kapitalistischer Zivilisation“ (Cohen [Fn. 26], S. 41), als ein Ausdruck dieser vorteilhaften Kombination von Begriff und Motivation. Als Fazit scheint mir deshalb verständlich, warum auf Meritokratie nicht verzichtet werden kann. Die anhaltende Kritik verdeutlicht aber auch, dass das Verdienstdenken mit dem nicht prozedural transformierten, also substanziellen Gleichheitsdenken unabschließbar in Konkurrenz steht. Das verdeutlicht auch die Kontroverse über das interne und externe Modell – und diese Kontroverse wiederholt sich in allen sozialen Anwendungsbereichen, so etwa in der Diskussion von Meritokratie in der Erziehung. Dazu gleich mehr. Nun zum ersten Punkt: was ist unter ChG konkret zu verstehen? Worauf sollen sich, erstens, Chancen richten und inwiefern sollen sie gleich sein? Lässt sich eine Gleichheit überhaupt beurteilen oder sogar messen? Und zweitens, werden die mit ChG verbundenen Absichten dadurch widerlegt, dass auch mit den besten Maßnahmen nie reale ChG herstellbar ist? Ist das Täuschungsmoment im Begriff ChG möglicherweise nie zu vermeiden?

26

Cohen, G. A., Why not Socialism? Princeton 2009, S. 38 – 43. Cohen hat möglicherweise einen Punkt gegenüber den äußerlich gesehen fair handelnden Bonobos. Sie handeln aus Gier und Furcht. 27 Die typischen motivationalen Defizite des Sozialismus, die zu Korruption auf der Herrscher-, zu Apathie auf der Beherrschtenseite führen, sind deshalb erwartbare Folgen jedes moralisch anspruchsvolleren Egalitarismus.

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In Form allgemeinster Ziele in der ökonomischen Sphäre richten sich die Chancen auf Einkommen und Vermögen. Die Chancen auf Einkommen zerlegen sich in die, eine Stelle für bezahlte Arbeit zu erhalten und entsprechend Verdienst bezahlt zu werden. Die Chancen auf Vermögen beruhen in Arbeit oder Renten, um Vermögen zu bilden. Mit anderen Worten geht es bei diesen Zielen um ein Recht auf Arbeit und fairen Lohn auf der einen, um die Berechtigung von Einkommen aus Besitz und Erbschaft auf der anderen Seite. Vor allem das über Erbschaft intergenerationell ungleich verteilte Vermögen erscheint klar als Widerspruch zu ChG. Ich kann auf diese einzelnen Themen hier nicht eingehen, sondern nur die Frage zu klären versuchen, ob sich dem Begriff ChG überhaupt eine normativ anwendbare Fassung geben lässt. Das wäre etwa dann nicht der Fall, wenn ein Inhalt in der Verbindung von Chancen und Gleichheit nicht mehr benennbar wäre. Ohne weiteren Kommentar ist ChG ein extrem offener und vieldeutiger Begriff. Das liegt vor allem daran, dass man den Begriff nicht relevant präzisieren kann, ohne dabei die Ungleichheitsproblematik und die Möglichkeiten ihrer Korrektur bereits im Auge zu haben. Den Begriff (wiederum Lesemodell!) als solchen abstrakt verstehen und daraus Forderungen ableiten zu wollen, führte in die Irre. Hat man Chancengleichheit nicht als eine Norm oder einen Wert, sondern als einen Handlungsprozess im Blick, dann ist klar, dass Chancen zunächst Angebote oder Gelegenheiten sind, die bei den einen bereits bestehen, bei den anderen aktiv erzeugt werden müssen. Doch herrscht darüber hinaus die Erwartung, dass diese Angebote tatsächlich zu einem Ergebnis führen. Damit sind Chancen über Angebote hinaus Wahrscheinlichkeiten.28 Damit aus Angeboten Wahrscheinlichkeiten werden, muss derjenige, dessen Chancen steigen sollen, selbst beteiligt sein. Weil er unterschiedlich beteiligt sein wird, also aus gleichen Angeboten nie gleiche Wahrscheinlichkeiten werden, werden die Chancen am Ende nie gleich sein können. ChG als Bemühen verringert Ungleichheit, erzielt aber nicht Gleichheit. Die Eigenbeteiligung auf verschiedenen Stufen der ChG ist grundsätzlich nicht vermeidbar, wird aber von der frühen Kindheit bis zur Beteiligung am Wettbewerb unterschiedliche Bedeutung haben. Dabei geht grundsätzlich das Fördern dem Nichtbehindern voraus, beide können sich aber im Lauf der Beteiligung an Wettbewerben immer wieder abwechseln oder auch kombiniert auftreten. Chancen sind also vom Endresultat über vier Stufen entfernt, über die Angebote, die Wahrscheinlichkeiten, die Fähigkeiten und deren Ausübung in Freiheit, sowie die externen Umstände ihrer Ausübung. Weil auf allen Stufen unausweichlich reale Ungleichheiten in Spiel kommen, könnten selbst gleiche Angebote (die real kaum gegeben sind) nicht zu gleichen Ergebnissen führen. Vielleicht ist der Begriff ChG darin irreführend, dass er Gleichheit und nicht ,Verringern von Ungleichheit‘ im Titel führt. Vielleicht erwarten deshalb manche, dass 28 Das entspricht im Englischen der Unterscheidung von opportunities und chances. Opportunities sind Gelegenheiten für, chances sind reale Wahrscheinlichkeiten für. Erstere sind weiter vom Resultat entfernt als letztere. S. auch die Diskussion bei Cavanagh (Fn. 12), 118 ff.

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gleiche Wahrscheinlichkeiten oder gar die gleichen Endzustände der Inhalt von ChG sind. Dass eine solche Gleichheit unter menschlichen Bedingungen nicht herstellbar ist, liegt bereits daran, dass Zufall nicht auszuschalten ist, dann aber auch an unaufhebbaren individuellen Unterschieden. Sicher, genau genommen müsste anstatt von ChG die Rede sein von ,Gleichheitsbemühen zum Verringern von Ungleichheit‘.29 Aber versteht das nicht jeder informiert Denkende sowieso darunter? Wichtig scheint vielmehr, ob die sprachliche Kritik dazu dienen soll, einen substanziellen Egalitarismus oder den Verzicht auf Gleichheit zu rechtfertigen. Wenn man beides nicht im Sinn hat, ist die sprachliche Kritik folgenlos. Aufgrund der unausweichlichen Eigenbeteiligung ,zwischen‘ Angebot und Wahrscheinlichkeit, unterliegt auch das Bemühen um ChG bereits unausweichlich Verdiensturteilen.30 Der Förderanspruch aller umfasst die beiden Aspekte Förderanlass und Fördergrenze, und in beiden Aspekten spielt Verdienst eine Rolle. Im Anlass ist Verdienst enthalten als unverdiente Ungleichheit, in der Fördergrenze als verdiente Ungleichheit. Während nicht umstritten ist, dass Arbeit zum Erzielen von Einkommen und Vermögen die zentrale Form von ,Lebenstätigkeit‘ ist, herrscht weniger Einigkeit zu unverdienter und verdienter Ungleichheit. Gegeben die Einschränkung auf Arbeit, konzentrieren sich diese Urteile auf die kritischen Phasen von Kindheit und Ausbildung sowie die Willkür des Arbeitsmarkts. Ich gehe konkret hier nur auf erstere ein. Schematisch dargestellt geht es im Bildungsprozess um das Entwickeln von Fähigkeiten, die als entwickelte Voraussetzung für Verdienst sein können. Weil am Beginn des Prozesses die Dispositionen ungleich sind – ungleich in genetischer und sozialer Hinsicht –, hat ChG die Aufgabe, diese ungleichen Dispositionen zu korrigieren, so dass am Ende Verdiensturteile berechtigt sein sollen. Wichtige Fragen sind dabei, erstens, ob auch die genetisch bedingten Talentunterschiede ausgeglichen werden müssen; zweitens, wie die Förderung eingesetzt werden soll, damit sie Unterschiede ausgleicht; drittens, in welchem Ausmaß Förderung auf Grenzen stößt und dies ChG als normativen Anspruch untergräbt. Daran kann sich auch die generelle Frage anschließen, ob die Grenzen des Realisierens von ChG diesen Begriff ad absurdum führen. Erstens. In der Diskussion seit Rawls ist umstritten, ob nicht nur sozial, sondern auch genetisch bedingte Ungleichheiten korrigiert werden sollen. Obwohl Rawls das in seinem Verständnis von ChG ablehnt, belastet sein Differenzprinzip die natürlich Talentierten damit, für die weniger Talentierten zu arbeiten. Insgesamt handelt es sich dabei weitgehend um eine Scheindebatte, weil sich die genetische Bedingtheit 29

S. ähnlich bereits Coleman, J., The Concept of Equality in Educational Opportunity, in: Harvard Educational Review 38, 1968, S. 29. 30 Das macht, wie oft bemerkt wurde, Rawls’ Kritik von Verdienst tendenziell widersprüchlich, weil die von ihm befürwortete Politik der ChG ohne Verdienst undurchführbar wird. Allerdings könnte der Verdienst auch nicht-kompetitiv verstanden werden und wird dann substanziell egalitaristisch.

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kaum isoliert feststellen lässt, und soweit doch, sie anteilsmäßig relativ schwach ist.31 Zugunsten der geforderten Korrektur der ungleichen Fähigkeiten wird sich der genetische Anteil kaum isoliert herausrechnen lassen. Soweit doch, gälte der Einwand von Mulligan, dass ein Bestrafen der Persönlichkeit im Spiel wäre, wenn sie aufgrund genetischer Eigenschaften belastet würde.32 Im Fazit: zu korrigieren sind die sozial bedingten Ungleichheiten. Zweitens. Die kompensierende Förderung steht vor zwei strukturellen Problemen. Einmal soll durch den Bildungsprozess die Eignung für einen fairen Wettbewerb erst geschaffen werden. Aber wie in der Produktion ist auch im Bildungsprozess ein meritokratischer Geist nicht völlig auszuschließen. Die Bildungsmittel (Zuwendung, Lob, Auszeichnung, Stipendien) sind wie alle Mittel knapp und müssen gerecht verteilt werden. Sie nur nach Bedürftigkeit zu verteilen, hätte einen demotivierenden Effekt, so dass Verdienst als Kriterium nicht zu umgehen ist – was aber eine Spirale der Ungerechtigkeit in Gang setzt. Die weniger Fähigen sollen ja gerade gefördert und nicht nach Verdienst behandelt werden. Zum anderen sollte die Förderung nicht nur fair, sondern auch effizient sein. Leider gibt es wenig Wissen über die längerfristige Effektivität schulischer Förderung, und starke Hinweise darauf, dass die Bildungsinstitutionen die Einflüsse des sozialen Milieus in Hinblick auf Ehrgeiz, Willen, Erwartung nicht aufheben können.33 Gibt es Lösungen für diese beiden internen Probleme? Das Problem der unausweichlich meritokratischen Bildungsphase benötigt eine differenzierte Behandlung je nach Altersstufe. Dabei wird in zunehmendem Maß ein teil-meritokratisches Beurteilen nötig sein, bei dem etwa die Motivation von Kindern und Jugendlichen, im Unterschied zu bereits vorhandenen ungleichen Fähigkei31 Das gilt besonders für den IQ, während einflussreichere psychologische Eigenschaften (kognitive und nicht-kognitive Fähigkeiten) kaum von der sozial bedingten Umgebung zu trennen sind. Es wird häufig darauf hingewiesen, dass auch IQ-Tests im Objekt bereits psychologische Tugenden einschließen, weil der Test als Aufgabe wahrgenommen wird. Tugenden sind nicht rein genetisch bedingt. Jencks, Ch. et al., Inequality: A Reassessment of the Effect of Family and Schooling in America, New York 1972, gaben die Einflussstärke neben anderen Faktoren mit 0.310, in einer späteren Untersuchung reduziert auf 0.20 an. Irwing, P./ Lynn, R., The Relation between Childhood IQ and Income in Middle Age, in: Journal of Social, Political and Economic Studies 31 (2), 2006, S. 191 – 196, korrigieren das auf 0.368 für Männer und 0.317 für Frauen. Aber selbst wenn man annimmt, dass der IQ ein Drittel einflussreich ist, dann würden die Unterschiede im IQ, auf die es unter Gerechtigkeit ankäme, erheblich geringer sein. Bei einer 30 % Variation des IQ käme man beispielsweise bei 0.3 Einfluss auf 0.09 Variation ,ungleicher‘ IQ-Auswirkung auf Einkommen. 32 Mulligan (Fn. 9), Kap. 7. Ich lese das Argument so, dass die realistisch vorauszusetzende moralische Bereitschaft ein ,Vergesellschaften‘ genetischer Individualität (Rawls), typisch für den Zufallsegalitarismus, nicht deckt. Zu beachten ist, dass ,die‘ Gesellschaft ursächlich verantwortlich ist für soziale, aber nicht für genetische Unterschiede – wenn man eine staatliche Eugenik einmal ausschließt. 33 So argumentiert Jencks, Ch., Whom Must We Treat Equally for Educational Opportunity to Be Equal? In: Ethics 98, 1988, S. 518 – 533, gestützt auf seine früheren (1973), heute nicht mehr gültigen Ergebnisse.

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ten, im Vordergrund steht. Dabei sind nicht nur die Fähigkeiten, sondern auch die Erwartungen und der Ehrgeiz von Kindern klassenspezifisch beeinflusst. Eine kompetente Pädagogik sollte aber in der Lage sein, das sich herausbildende eigenständige Wollen des Kindes und dann Jugendlichen an die Oberfläche zu bringen, und in einem gestaffelt ansteigenden Ausmaß meritokratisch zu beurteilen, ohne dabei unfair zu sein. Den Erfolg kompensatorischer Pädagogik pauschal zu beurteilen, ist weder sinnvoll noch möglich.34 Misst man die Abnahme von Bildungsungleichheit an erweitertem Zugang zu höheren Bildungsangeboten, dann ist in Deutschland in den letzten 30 Jahren ein nennenswerter Aufstieg von Arbeiterkindern in höhere Schulen nachweisbar, nicht aber an die Universität. Dabei ist die Zunahme einzuordnen in eine allgemeine Bildungsexpansion, in der auch die Mittel- und Oberschichten vermehrt Bildung nachfragen, so dass die Bildungsabstände trotz Aufstieg der Unterschicht nahezu gleich bleiben.35 Ungeachtet der aufholenden Effektivität kompensatorischer Pädagogik, ist sie schon deshalb nötig, um zu verhindern, dass in der laufenden Expansion des Bildungsprozesses die Unterschichten weiter abgehängt werden. Drittens. Die wohl wichtigste Grenze für Förderung zugunsten ChG im Bildungsprozess bildet die elterliche Autorität und die Autonomie der Familie. Die Familie kann in Bildungshinsicht sowohl einschränkende wie fördernde Wirkung auf Kinder haben, die durch die öffentliche Förderung nicht aufzuheben ist – unterstellt ein geltender Vorrang von Familienautonomie. Dabei behindern manche Familien ein levelling up ihrer Kinder durch die Institutionen, während andere ihre Kinder überdurchschnittlich fördern und aus der Sicht von ChG ein levelling down benötigten. Das Behindern der Kinder geschieht bereits durch das gesamte Binnenklima einer Familie und eines Milieus, mit dem Erwartungen, Ansprüche und Wünsche festgelegt werden. Ich gehe davon aus, dass ein levelling down nicht rechtfertigbar ist.36 ChG kann auf dieser Seite nur durch Verbessern der öffentlichen Schulen angestrebt werden. Maßnahmen gegen die ihre Kinder behindernden Eltern sind leichter zu rechtfertigen, weil Behindern (Schadenzufügen) leichter zu verbieten ist als Fördern (Wohl-

34 S. aber Jencks (Fn. 29); Coleman, J., Equality and Achievement in Education, New York 1990 (eine Sammlung von Artikeln von 1966 – 85), für die USA. Vergleichbare Evaluationen für Deutschland sind mir nicht bekannt. Zunahmen an Bildungszertifikaten werden angeführt in Becker, R. (Fn. 25), aber gleichzeitig gilt, dass Bildungsabschlüsse nicht identisch sind mit Berufserfolg. Nach der in Becker, R./Hadjar, A. (Fn. 9), S. 44, zitierten Literatur wäre der Zusammenhang sogar gering. 35 Für eine informierende Darstellung in diesem Sinn s. Becker, R. (Fn. 25), S. 100. 36 S. etwa die Diskussion zwischen Swift, A., How Not To be a Hypocrite: School Choice for the Morally Perplexed Parent, London 2003 und Anderson (Fn. 15) über das Verbot von Privatschulen. Die Tendenz einer negativ wirkenden Homogenität an Hauptschulen gibt es vermehrt auch in Deutschland. S. Becker, R. (Fn. 25), S. 92.

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tun).37 Aus dem Bisherigen ist vielleicht einsichtig, warum die Ideen von ChG und Verdienst das beste Begründungsszenario gegenüber den behindernden Eltern darstellt. Einerseits in der Hinsicht, dass es die Verantwortungen klar verteilt, und zum anderen deshalb, weil die Alternativen noch weniger überzeugen. Einmal kann den Familien die Unausweichlichkeit von Verdienst in der späteren Berufskarriere ihrer Kinder plausibel gemacht werden. Dann kann paternalistisch zugunsten des Kinds argumentiert werden, wenn sich die Eltern verweigern. Schließlich kann die Gesamtverantwortung nicht genutzter Chancen (als Angebote) auf die Familie und das Kind übergehen, wenn keinerlei Maßnahmen zu irgendeinem Erfolg führen. ChG ist dann gegeben, wird aber nicht genutzt. Insgesamt fordert ChG einen starken, paternalistischen Eingriff in Familien, der aber die negativen Folgen der primären Sozialisation meist nicht neutralisieren wird können. Soweit er das nicht kann, fällt – jedenfalls im Fall von guten Angeboten – die Verantwortung auf die Seite der Eltern und nicht zu Lasten von ChG! Die deutschsprachige pädagogische Literatur spricht gegenwärtig wenig von ChG, und bevorzugt stattdessen Ideale der Anerkennung, Diversität und Integration. Eine genauere ethische Analyse dieser Ziele ist hier unmöglich. Das Problem dieser Ansätze, sehr kurzgefasst, besteht darin, dass sie entweder ein Bedürfniskriterium zugrundelegen oder eine Fähigkeitenliste als Idealzustand präsentieren. Beides ignoriert die Anforderung Knappheit an Gerechtigkeit und beantwortet deshalb nicht das eigentliche Desiderat.38 Bedürfnisse und Fähigkeiten, altersgemäß und experimentell entlastet, ohne einen Anreiz durch Verdienst, lassen den Förderprozess orientierungslos werden. Anstatt eine Entwicklung einzuleiten, in der am Ende der zu Fördernde selbst die Verantwortung für seine Fähigkeiten übernehmen soll, gerät dieses Ziel zum Nachteil des Kinds aus den Augen.

VI. Fazit Entkräftet das Eingeständnis, ChG im wörtlichen Sinn gleicher Wahrscheinlichkeiten oder gleicher Ergebnisse sei unmöglich, nicht doch die Anwendung von Verdiensturteilen im Wettbewerb? Ein Rennen, bei dem einer der Läufer unpassende 37 Auch das Fördern ihrer Kinder der Mittel- und Oberschichteltern bedeutet über besagte Homogenität ein Schadenzufügen für andere Kinder. Die Folgen sind aber zu indirekt, um ein Verbot zu rechtfertigen. 38 Ablesbar scheint mir das am bei Pädagogen beliebten Begriff der Anerkennung. Anerkennung müsste immer als gegenseitig und verdienstvoll verstanden werden, kann aber leicht auf ein einseitiges Erfüllen von Bedürfnissen reduziert werden. Gegen den Vorschlag der Suffizienz von Fähigkeiten bzw. einer Schwellenkonzeption der Bildung (s. Stojanov, K., Bildungsgerechtigkeit, in: J. Drerup/G. Schweiger (Hrsg.), Handbuch der Philosophie des Kindes, 2019; Nerowski, Ch., Leistung als Kriterium von Bildungsgerechtigkeit, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 21, 2018, S. 441 – 464) ist zu bedenken, dass eine Schwelle der Bildungsexpansion direkt entgegen läuft. (Für Hinweise zur Literatur dankbar bin ich Hans-Uwe Rösner.)

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Schuhe tragen muss, würde nicht akzeptiert werden. Wieso sollte man den ökonomischen Wettbewerb akzeptieren, wenn ChG nicht herstellbar ist? Entkräften die Statistiken über bleibende Ungleichheit insbesondere im Bildungsbereich nicht ein Ethos der ChG, wenn sie es nicht sogar als Ideologie entlarven? Ich denke nicht, und zwar vorrangig aus zwei Gründen. Erstens ist zu beachten, dass die individuell nicht kontrollierbaren Unterschiede an genetischen Fähigkeiten – im Vergleich zu individueller Anstrengung und sozialer Korrekturmöglichkeit – gering sind. Individuell ist es möglich, seinen Bildungs- und Berufsweg in die Hand zu nehmen, und sozial ist es möglich, maximal (ohne Schwellenkonzepte) zu fördern. Zweitens schafft der Wettbewerb den Vorteil, dass der individuelle Erfolg nicht von einer absolut gegebenen Skala, sondern von den Verhaltensweisen der anderen abhängt, und im Vergleich sind die Schwächen der einen die Stärken der anderen. Auch im ökonomischen Wettbewerb, also im Markt, gibt es viele Teilwettbewerbe und viele verschiedene Erfolgsbedingungen. Die statistisch belegten Ungleichheiten benennen nie absolute individuelle Barrieren, weshalb das Erfolgsstreben nicht sinnlos und Erfolg nicht ausgeschlossen ist. Fatalistische bis zynische Diagnosen nennen ChG und Meritokratie eine integrativ nützliche Illusion, aber eben eine Illusion.39 Wenn die bisherige Darstellung zutreffend ist, entsteht die Idee der Verdienstgerechtigkeit funktional unausweichlich. Hat eine Gesellschaft die abstrakte Idee der Gleichheit einmal übernommen, erfüllt Meritokratie in der ökonomischen Sphäre am ehesten die Verbindung von Motivation und Begriff, von Anreiz und Überzeugung. Außerdem missachten solche Diagnosen das individuelle Bedürfnis auf Selbstbewährung, Selbststeigerung und Selbstachtung. Zu den typischen Einwänden gegen Meritokratie seit Young gehört der Verlust von Selbstachtung bei denen, die im Wettbewerb verlieren und in der Leistungshierarchie nach unten rutschen. Wenn das eintritt, dann ist es eher ein Zeichen mangelnder ChG als ein genereller Makel einer sozial unterstützten Meritokratie. Geschenke von Talentierteren zu erhalten (Differenzprinzip), die entsprechende Kodierung von Sozialhilfe, wäre sicher keine Förderung von Selbstachtung. Angesichts der Unausweichlichkeit des Verdienstgedankens kann es nicht darum gehen, Verdienst und ChG durch blinde Gleichheit zu ersetzen, sondern nur darum, ChG zu radikalisieren und Verdienst als Sozialmechanismus zu verstärken.

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Z. B. Jencks (Fn. 33), S. 533; Becker, R./Hadjar, A. (Fn. 9), S. 55.

Kant und Hegel zur Gewaltenteilung im Staat – Skizze eines Vergleichs1 Von Jan C. Joerden

I. Problemstellung Zumindest seit Locke (1632 – 1704) und Montesquieu (1689 – 1755) kennt man den Begriff der Gewaltenteilung, d. h. genauer: einer Trennung der Staatsgewalten in Legislative, Exekutive und Judikative. Diese Trias ist in den modernen Staaten so ins Bewusstsein eingedrungen, dass kaum noch gefragt wird, weshalb es genau drei Gewalten sein sollen, in die sich die Staatsgewalt aufteilt, und weshalb es gerade diese drei Gewalten sind, auf die es ankommen soll. Man könnte erwägen, z. B. auch die Gewerkschaften oder die Presse oder die Kirchen als separate Gewalten anzusprechen. Indes sind dies gerade keine Staatsgewalten, sondern gesellschaftliche Gewalten im Staat, die sich auch aus guten Gründen unabhängig von staatlicher Führung entwickeln sollen. Kant (1724 – 1804) und Hegel (1770 – 1831) äußern sich beide zur Problematik der Gewaltenteilung in ihren dem Recht gewidmeten Büchern Die Metaphysik der Sitten (Rechtslehre) (1797) einerseits und Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820) andererseits. Auf den ersten Blick stimmen sie zumindest darin überein, dass es einer Dreiteilung dieser Gewalten im Staat bedarf, aber wie diese praktisch werden soll, ist damit noch keineswegs gesagt. Gerade in diesem letzteren Punkt konvergieren die Lehren von Kant und Hegel nicht, was einen Vergleich reizvoll macht. Doch zunächst sei die Gewaltenteilungslehre von Kant skizziert (II.), um ihr dann vergleichend die Lehre von Hegel gegenüber zu stellen (III.). Schließlich sollen neben einem Fazit des Vergleichs auch offen gebliebene Fragen angesprochen werden (IV.).

1 Die nachfolgenden Zeilen widme ich Herrn Kollegen Reinhard Merkel mit herzlichen Glückwünschen zu seinem 70. Geburtstag.

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II. Gewaltenteilung bei Kant Es gibt Passagen im Werk2 von Kant, die zumindest darauf hindeuten, wie die eingangs aufgeworfenen Fragen zur Trennung und Anzahl der Staatsgewalten wohl von Kant beantwortet worden wären. Zunächst ist dabei hervorzuheben, dass Kant „jene drei Gewalten im Staate“ als „Würden“ versteht, die „das Verhältniß eines allgemeinen Oberhaupts (der, nach Freiheitsgesetzen betrachtet, kein Anderer als das vereinigte Volk selbst sein kann) zu der vereinzelten Menge ebendesselben als Unterthans“3 enthalten. (RL, § 47) Daraus folgert er,4 dass „die drei Gewalten im Staate […] erstlich einander […] beigeordnet, […]; aber zweitens auch einander untergeordnet“ seien, „so daß eine nicht zugleich die Function der anderen, der sie zur Hand geht, usurpieren kann, sondern ihr eigenes Princip hat, d. i. zwar in der Qualität einer besonderen Person, aber doch unter der Bedingung des Willens einer oberen gebietet; drittens durch Vereinigung beider jedem Unterthanen sein Recht ertheilend.“ (RL, § 48) Weshalb die drei Gewalten getrennt werden müssen, begründet Kant wie folgt:5 „Der Regent des Staats (rex princeps) ist diejenige (moralische oder physische) Person, welcher die ausübende Gewalt (potestas executoria) zukommt […] Als moralische Person betrachtet, heißt er das Direktorium, die Regierung […] Eine Regierung, die zugleich gesetzgebend wäre, würde despotisch zu nennen sein, im Gegensatz mit der patriotischen, unter welcher aber nicht eine väterliche (regimen paternale), als die am meisten despotische unter allen (Bürger als Kinder zu behandeln), sondern vaterländische (regimen civitatis et patriae) verstanden wird, wo der Staat selbst (civitas) seine Unterthanen zwar gleichsam als Glieder einer Familie, doch zugleich als Staatsbürger, d. i. nach Gesetzen ihrer eigenen Selbstständigkeit behandelt, jeder sich selbst besitzt und nicht vom absoluten Willen eines Anderen neben oder über ihm abhängt. Der Beherrscher des Volks (der Gesetzgeber) kann also nicht zugleich der Regent sein; denn dieser steht unter dem Gesetz und wird durch dasselbe folglich von einem Anderen, dem Souverän, verpflichtet […] Endlich kann weder der Staatsherrscher noch der Regierer richten. Das Volk richtet sich selbst durch diejenigen ihrer Mitbürger, welche durch freie Wahl […] dazu ernannt werden […] – Es wäre auch unter der Würde des Staatsoberhaupts, den Richter zu spielen, d. i. sich in die Möglichkeit zu versetzen, Unrecht zu thun, und so in den Fall der Appellation […] zu gerathen. Also sind es drei verschiedene Gewalten (po-

2 Die Zitate aus Kants Werken sind hier entnommen aus: Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (1797), zitiert nach der Akademie-Ausgabe (im Folgenden: AA), 1900 ff., Bd. 6, jeweils nach Seitenzahlen. Hingewiesen wird nachfolgend auch auf die Stellen der in der Metaphysik der Sitten enthaltenen Rechtslehre („RL“) bzw. Tugendlehre („TL“), jeweils nach Paragraphen. 3 Kant, AA 6:315. 4 Kant, AA 6:316. 5 Kant, AA 6:316 ff.

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testas legislatoria, executoria, iudiciaria), wodurch der Staat (civitas) seine Autonomie hat, d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält […]“ (RL, § 49) Gerade der letzte Satz dieses Zitats deutet nun aber noch auf eine hinter der Dreiteilung der Gewalten liegende Begründung für diese hin. Man kann nämlich die Frage stellen: Wie ist Autonomie eigentlich möglich? Wobei Kant auch hier deutlich den Bezug zu dem Agieren des Staates nach „Freiheitsgesetzen“ herstellt, das durch die Dreiteilung der Gewalten im Staat ermöglicht werden soll. Die Frage nach der Möglichkeit von Autonomie (Selbstgesetzgebung) taucht aber auch schon dann auf, wenn es nur um das individuelle Handeln einer Person geht. Man muss daher zunächst fragen: Wie ist Autonomie (bzw. autonomes Handeln) eines Individuums (bzw. einer Person) möglich? Die Antwort, die Kant auf diese Frage gibt, lässt sich zwar nicht explizit aus seinen Werken entnehmen, wird aber doch allem Anschein nach in vielen seiner Schriften vorausgesetzt. Frei handeln kann eine Person nur dann, wenn sie Regeln anwendet, die sie sich selbst gegeben hat. Wenn sie nun Regeln bzw. Gesetze (nach Kant insbesondere den Kategorischen Imperativ: „[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“)6 anwendet, dann kann sie nicht zugleich in der Position des Gesetzgebers sein. Vielmehr richtet sich die Person nach ihrer Vernunft, durch die sie die Regeln bzw. Gesetze erkennt, die sie dann anwendet. Fraglich bleibt aber zunächst, ob diese Regeln denn überhaupt verbindlich und damit Pflicht sein können, da der Mensch sie doch selbst (mit seiner Vernunft) gesetzt hat und sich deshalb auch von ihnen ebenso gut wieder selbst sollte entbinden können. Kant beantwortet diese Frage so:7 „Der Mensch betrachtet sich in dem Bewußtsein einer Pflicht gegen sich selbst, als Subject derselben, in zwiefacher Qualität: erstlich als Sinnenwesen, d. i. als Mensch (zu einer der Thierarten gehörig); dann aber auch als Vernunftwesen […] Der Mensch nun, als vernünftiges Naturwesen (homo phaenomenon) ist durch seine Vernunft, als Ursache, bestimmbar zu Handlungen in der Sinnenwelt, und hiebei kommt der Begriff einer Verbindlichkeit noch nicht in Betrachtung. Eben derselbe aber seiner Persönlichkeit nach, d. i. als ein mit innerer Freiheit begabtes Wesen (homo noumenon) gedacht, ist ein der Verpflichtung fähiges Wesen und zwar gegen sich selbst (die Menschheit in seiner Person) betrachtet.“ (TL, § 3) Das heißt, dass man sich allenfalls dadurch (scheinbar) von den (selbst gesetzten) vernünftigen Regeln „entbinden“ kann, dass man gegen sie verstößt, aber jedenfalls nicht dadurch, dass man sie aufhebt, weil man sich damit unvernünftig verhielte; und natürlich erhebt Kant den Anspruch, dass ein Mensch sich stets vernünftig verhält und nicht unvernünftig, also nicht gegen die selbst gesetzten (vernünftigen) Regeln verstößt. Wenn die handelnde Person daher einerseits einen Gesetzgeber (Legislative) in sich birgt, andererseits aber auch die ausführende Instanz (gleichsam die Exekutive) ist, die die vernünftigen Regeln anwendet, so bedarf es zudem noch einer (dritten) 6 7

Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 4:421. Kant, AA 6:418.

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Instanz, die diese Anwendung der Regeln auf ihre Korrektheit hin überprüft. Diese Aufgabe erfüllt nach Kants Auffassung das Gewissen, das er mit dem Bewusstsein eines (inneren) Gerichtshofs vergleicht:8 „Das Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen (,vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen‘) ist das Gewissen. Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respect […] gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt. […] der Handel ist hier die Führung einer Rechtssache (causa) vor Gericht.“ (TL, § 13) Aber Kant erkennt auch hier die Problematik des „Richters über sich selbst“. Er schreibt dazu:9 „Daß aber der durch sein Gewissen Angeklagte mit dem Richter als eine und dieselbe Person vorgestellt werde, ist eine ungereimte Vorstellungsart von einem Gerichtshofe; denn da würde ja der Ankläger jederzeit verlieren. – Also wird sich das Gewissen des Menschen bei allen Pflichten einen Anderen (als den Menschen überhaupt, d. i.) als sich selbst, zum Richter seiner Handlungen denken müssen, wenn es nicht mit sich selbst im Widerspruch stehen soll. Dieser Andere mag nun eine wirkliche, oder blos idealische Person sein, welche die Vernunft sich selbst schafft.“ (TL, § 13) Die Möglichkeit eines solchen Gerichtshofes erörtert Kant in einer Anmerkung:10 „Die zwiefache Persönlichkeit, in welcher der Mensch, der sich im Gewissen anklagt und richtet, sich selbst denken muß: dieses doppelte Selbst, einerseits vor den Schranken eines Gerichtshofes, der doch ihm selbst anvertraut ist, zitternd stehen zu müssen, anderseits aber das Richteramt aus angeborener Autorität selbst in Händen zu haben, bedarf einer Erläuterung, damit nicht die Vernunft mit sich selbst gar in Widerspruch gerathe. – Ich, der Kläger und doch auch Angeklagter, bin eben derselbe Mensch (numero idem); aber als Subject der moralischen, von dem Begriffe der Freiheit ausgehenden Gesetzgebung, wo der Mensch einem Gesetz unterthan ist, das er sich selbst giebt (homo noumenon), ist er als ein Anderer als der mit Vernunft begabte Sinnenmensch (specie diversus), aber nur in praktischer Rücksicht zu betrachten.“ (TL, § 13, Anm.) Man kann diese Überlegungen Kants wie folgt zusammenfassen: Auch innerhalb des Menschen, wenn er als Individuum moralisch – und d. h. bei Kant „nach Freiheitsgesetzen“ – handeln soll, müssen genau drei Instanzen gedacht werden: ein Gesetzgeber (die Vernunft als Legislative), eine die Gesetze ausführende Person (gleichsam als Exekutive) und schließlich ein Richter (als Judikative), der die richtige Anwendung des moralischen Gesetzes kontrolliert: das Gewissen. Und diese drei „Gewalten“ müssen als voneinander getrennt gedacht werden (obwohl sie innerhalb ein und derselben Person aktiv sind), soll es nicht zu Widersprüchen kommen. 8

Kant, AA 6:438. Kant, AA 6:438 f. 10 Kant, AA 6:439 Anm. 9

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Was aber für eine Person zutrifft, die „nach Freiheitsgesetzen“ handeln will, muss erst recht auch auf den Staat zutreffen.11 Die drei Gewalten Gesetzgeber (Legislative), Regierung (Exekutive) und Gerichte (Judikative) müssen daher auch hier voneinander getrennt werden. Da es im Unterschied zu der Situation bei einem handelnden Individuum aber auch möglich ist, diese drei Gewalten nicht nur gedanklich, sondern auch faktisch zu trennen (d. h. auf verschiedene Personen zu verteilen), muss diese Trennung auch vorgenommen werden, damit der Staat „sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält.“ (RL, § 49) Sogar Gott verkörpert die Trias der Gewalten, allerdings sind alle drei in ihm selbst vereinigt, nur in ihrer Funktion differenziert. Kant formuliert dies so:12 „Nämlich wir nehmen an, Gott sey das Fundament unserer ganzen Moralität, er sey das belebende moralische Wesen, in Verhältnis gegen uns als seine Geschöpfe; so liegt ja hierin eine dreifache Zerteilung dieser idealischen Vorstellung: a) Gott als heiliger Gesetzgeber, ist Object der Achtung. b) Gott als gütiger Erhalter und Regierer, ist Object der Liebe. c) Gott als gerechter Richter, ist Object der Gottesfurcht.“13 Kant geht demnach auch hier von einer „dreifachen Zerteilung dieser idealischen Vorstellung“ von Gott aus, aber anders als im Staat und im Menschen ist es nicht notwendig, den Gewalten voneinander unabhängige, getrennte Rollen zuzuweisen, weil Gott natürlich schon von sich aus die jeweils richtige Gewalt und diese auch zutreffend anwenden wird.14 Diesen Überlegungen fügt Kant nun noch eine strukturierende Überlegung hinzu, indem er die Gewaltenteilung (im Staat) mit einem praktischen Syllogismus ver11 Zu dieser Parallele vgl. auch Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 2007, S. 309 ff. Weitere Nachweise bei Joerden, „Das Prinzip der Gewaltenteilung als Bedingung der Möglichkeit eines freiheitlichen Staatswesens“, Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 1, 1993, S. 207 ff.; ders., Staatswesen und rechtsstaatlicher Anspruch, 2008, S. 33 ff., 37 ff.; siehe auch jüngst Michael Köhler, Recht und Gerechtigkeit. Grundzüge einer Rechtsphilosophie der verwirklichten Freiheit, 2017, S. 696 ff. 12 Kant, Vigilantius-Nachschrift, AA 27.2.1:721. Eine ähnliche Passage findet sich auch in Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA 6:139; vgl. zu dieser Stelle und allgemein zur Gewaltenteilung bei Kant auch Peter Unruh, Die Herrschaft der Vernunft. Zur Staatsphilosophie Immanuel Kants, 2. Aufl., 2016, S. 258 ff., 267 m.w.N. 13 In seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft schreibt Kant: „[…], daher diese dreifache Qualität des moralischen Oberhaupts des menschlichen Geschlechts in einem und demselben Wesen vereinigt gedacht werden kann, die in einem juridisch-bürgerlichen Staate nothwendig unter drei verschiedenen Subjecten vertheilt sein müsste.“ (AA 6:140). Er weist auch darauf hin, dass die „Idee“ der Dreiteilung („drei göttliche Personen“) in „viele[n] alte[n] Völker[n]“ anzutreffen sei, weil sie in der „allgemeinen Menschenvernunft“ liege, „wenn man sich eine Volks- und (nach der Analogie mit derselben) eine Weltregierung denken will.“ (AA 6:140 2. Anm.). 14 In der Kritik der praktischen Vernunft heißt es bei Kant über Gott u. a., dass er „denn also auch der heilige Gesetzgeber (und Schöpfer), der gütige Regierer (und Erhalter) und der gerechte Richter [ist]: drei Eigenschaften, die alles in sich enthalten, wodurch Gott der Gegenstand der Religion wird, und denen angemessen die metaphysischen Vollkommenheiten sich von selbst in der Vernunft hinzu fügen.“ (AA 5:131 Anm.)

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gleicht. Er schreibt dazu:15 „Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d. i. den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica): die Herrschergewalt (Souveränität) in der des Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt in der des Regierers (zu Folge dem Gesetz) und die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz) in der Person des Richters (potestas legislatoria, rectoria et iudiciaria) gleich den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluß: dem Obersatz, der das Gesetz jenes Willens, dem Untersatz, der das Gebot des Verfahrens nach dem Gesetz, d. i. das Princip der Subsumtion unter denselben, und dem Schlußsatz, der den Rechtsspruch (die Sentenz) enthält, was im vorkommenden Falle Rechtens ist.“ Offenbar geht es Kant hier darum, einerseits die durchgängige Bestimmung des Staatsverhaltens durch Gesetze zu gewährleisten, da im Obersatz (praemissa maior) des Syllogismus der Gesetzgeber steht und damit die (allgemeinen) Gesetze auch in dem gesamten Syllogismus die entscheidende Rolle spielen. Souverän ist dabei das Volk, das gerade die Gesetze über alle einzelnen Bürger gleichermaßen wirksam beschließt, sofern diese Gesetze von allen Bürgern prinzipiell akzeptiert werden können, was durch ihre Übereinstimmung mit dem kategorischen Imperativ gewährleistet werden soll. Die Exekutive wendet dann diese Gesetze an, wodurch die Gefahr von reinen Willkürentscheidungen weitgehend gebannt wird. Die Exekutive steht deshalb als Untersatz (praemissa minor) in dem hier relevanten Syllogismus. Die Rechtsprechung schließlich prüft, ob die Gesetze auch im Einzelfall richtig angewendet werden und stellt damit die Rechtmäßigkeit (bzw. Unrechtmäßigkeit) des Staatsgebarens jeweils konkret fest. Sie hat damit gewissermaßen die Rolle des (Vernunft-) Schlusses (conclusio) im besagten (praktischen) Syllogismus. Man kann die hier skizzierten Überlegungen Kants zur Gewaltenteilung nunmehr in einer Tabelle zusammenfassen, die in Abb. 1 wiedergegeben wird. Handelnde Person

Staat

Gott

praemissa maior

Vernunft

Gesetzgeber

Heiliger Gesetzgeber

Legislative

praemissa minor

Anwender des Gesetzes

Regierung

Erhalter und Regierer

Exekutive

Conclusio

Gewissen

Gerichte

Gerechter Richter

Judikative

Abbildung 1: Trias der Gewalten bei Kant

15 Kant, AA 6:313; vgl. auch Zum ewigen Frieden, AA 8:352. – Dazu dass und warum der Gedanke der Gewaltenteilung auf die Ebene des Völkerrechts (gerade unter Zugrundlegung der Lehre Kants zum Völkerrecht) nicht einfach übertragen werden kann, instruktiv Reinhard Merkel, „,Lauter leidige Tröster‘. Kants Friedensschrift und die Idee eines Völkerstrafgerichtshofs“, in: ders./Roland Wittmann (Hrsg.), „Zum ewigen Frieden“. Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, Frankfurt a.M. 1996, S. 309 ff., 313 f.

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III. Gewaltenteilung bei Hegel Hegel wendet sich demgegenüber explizit gegen die Gewaltenteilungslehre, wie sie von Locke, Montesquieu und Kant entwickelt wurde, indem er sie der Sache nach als Staatsauffassung im Rahmen eines „mechanischen bzw. maschinellen Zentralismus“16 charakterisiert. Er fasst seine Kritik an der überkommenen Lehre wie folgt zusammen:17 „Das Prinzip der Teilung der Gewalten enthält nämlich das wesentliche Moment des Unterschiedes, der realen Vernünftigkeit; aber wie es der abstrakte Verstand faßt, liegt darin teils die falsche Bestimmung der absoluten Selbständigkeit der Gewalten gegeneinander, teils die Einseitigkeit, ihr Verhältnis zu einander als ein negatives, als gegenseitige Beschränkung aufzufassen. In dieser Ansicht wird es eine Feindseligkeit, eine Angst vor jeder, was jede gegen die andere als gegen ein Übel hervorbringt, mit der Bestimmung, sich ihr entgegenzusetzen und durch diese Gegengewichte ein allgemeines Gleichgewicht, aber nicht eine lebendige Einheit zu bewirken. Nur die Selbstbestimmung des Begriffs in sich, nicht irgend andere Zwecke und Nützlichkeiten, ist es, welche den absoluten Ursprung der unterschiedenen Gewalten enthält, und um deretwillen allein die Staats-Organisation als das in sich Vernünftige und das Abbild der ewigen Vernunft ist. – Wie der Begriff, und dann in konkreter Weise die Idee sich an ihnen selbst bestimmen und damit ihre Momente abstrakt der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelnheit setzen, ist aus der Logik, – freilich nicht der sonst gäng und gäben – zu erkennen. Überhaupt das Negative zum Ausgangspunkt zu nehmen, und das Wollen des Bösen und das Mißtrauen dagegen zum Ersten zu machen, und von dieser Voraussetzung aus nun pfiffigerweise Dämme auszuklügeln, die Einheit als eine Wirksamkeit nur gegenseitiger Dämme zu begreifen, charakterisiert dem Gedanken nach den negativen Verstand und der Gesinnung nach die Ansicht des Pöbels […]. Mit der Selbständigkeit der Gewalten, z. B. der, wie sie genannt worden sind, exekutiven und der gesetzgebenden Gewalt, ist, wie man dies auch im großen gesehen hat, die Zertrümmerung des Staats unmittelbar gesetzt oder, insofern der Staat sich wesentlich erhält, der Kampf, daß die eine Gewalt die andere unter sich bringt, dadurch zunächst die Einheit, wie sie sonst beschaffen sei, bewirkt und so allein das Wesentliche, das Bestehen des Staates rettet.“ (R, § 272) Damit bringt Hegel sinngemäß zum Ausdruck, dass eine wechselseitige Entgegenstellung der (klassischen) drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative für einen Staat gefährlich werden könnte, weil die drei Gewalten – stellt man sie sich im herkömmlichen Sinne getrennt vor – in ständigem Streit über ihre Kompetenzen liegen müssten, was sich zum Schaden des Staates auswirken würde. Hegel vertraut demgegenüber einem Begriff des Staates, der sich in allen seinen Gliederun16 Vgl. Ludwig Siep, „Hegels Theorie der Gewaltenteilung“, in: Hans-Christian Lucas/Otto Pöggeler (Hrsg.), Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte, 1986, S. 387 ff., 406 m.w.N. 17 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (im Folgenden: „R“), Hauptwerke in sechs Bänden, Bd. 5, 1999, S. 234 f.

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gen mit legislativen, exekutiven und judikativen Fragen beschäftigen müsse. In diesem Sinne ist die Gewalten„teilung“18 letztlich eine Problematik, die alle Staatsorgane betreffen muss. Das Staatshandeln insgesamt weist dann die unterschiedlichen Gewalten eher als „Momente“19 bzw. als „substantielle Unterschiede“20 auf, nicht aber mehr als getrennte Entitäten. Es geht Hegel mithin um ein (freiheitliches) Staatshandeln, wie es sich begrifflich verstehen lässt. Er schreibt dazu im Hinblick auf die staatlichen Gewalten:21 „Der politische Staat dirimiert22 sich somit in die substantiellen Unterschiede: a) der Gewalt, das Allgemeine zu bestimmen und festzusetzen, – der gesetzgebenden Gewalt, b) der Subsumtion der besonderen Sphären und einzelnen Fälle und das Allgemeine, – der Regierungsgewalt, c) der Subjektivität als der letzten Willensentscheidung, der fürstlichten Gewalt, – in der die unterschiedenen Gewalten zur individuellen Einheit zusammengefaßt sind, die also die Spitze und der Anfang des Ganzen, – der konstitutionellen Monarchie, ist.“ (R, § 273) Wie man sieht, wird von Hegel durchaus an der legislativen Gewalt (gesetzgebende Gewalt) und an der exekutiven Gewalt (Regierungsgewalt) festgehalten, aber als gewissermaßen funktionale Unterschiede des staatlichen Handelns. Die judikative Gewalt (rechtsprechende Gewalt) allerdings tritt in den Hintergrund und wird zu einem bloßen Teil der Regierungsgewalt.23 Als dritte Gewalt nennt Hegel vielmehr die „fürstliche Gewalt“, die er für notwendig hält, um die „unterschiedlichen Gewalten zur individuellen Einheit“ zusammen zu fassen.24 Die „fürstliche Gewalt“ ist damit „die Spitze und der Anfang des Ganzen, – der konstitutionellen Monarchie.“25 Hier wird deutlich, dass Hegel die Verfassung des Staates eher mit einem – wie er selbst formuliert – „organischen“26 Geschehen vergleicht als mit einer konstruierten 18 Zu Recht hebt Siep, a.a.O. (Fn. 16), S. 387, hervor, dass bei Hegel „im Grunde schon der Begriff der ,Teilung‘ mit Vorsicht zu benutzen ist“. 19 Vgl. Hegel, a.a.O. (Fn. 17), S. 236. 20 Vgl. Hegel, a.a.O. (Fn. 17), S. 235. 21 Hegel, a.a.O. (Fn. 17), S. 235. 22 Älterer Ausdruck für: trennen, entfremden, (sich) lösen. Vgl. Duden, Bd. 5, Fremdwörterbuch, 1997. 23 Vgl. Hegel, a.a.O. (Fn. 17), § 287, S. 253: „Dies Geschäft der Subsumtion überhaupt begreift die Regierungsgewalt in sich, worunter ebenso die richterlichen und polizeilichen Gewalten begriffen sind, welche unmittelbarer auf das Besondere der bürgerlichen Gesellschaft Beziehung haben und das allgemeine Interesse in diesen Zwecken geltend machen.“ 24 Hegel, a.a.O. (Fn. 17), § 273 c), S. 235, obiges Zitat. 25 Hegel, ebd. 26 Hegel fasst die Beziehung zwischen dem Organismus (des Staates) und der Gewaltenteilung in folgende Worte: „Ihren besonders bestimmten Inhalt nimmt die Gesinnung aus den verschiedenen Seiten des Organismus des Staats. Dieser Organismus ist die Entwickelung der Idee zu ihren Unterschieden und zu deren objektiver Wirklichkeit. Diese unterschiedenen Seiten sind so die verschiedenen Gewalten und deren Geschäfte und Wirksamkeiten, wodurch das Allgemeine sich fortwährend, und zwar indem sie durch die Natur des Begriffes bestimmt sind, auf notwendige Weise hervorbringt, und indem es ebenso seiner Produktion vorausgesetzt ist, sich erhält; – dieser Organismus ist die politische Verfassung.“ R, § 269; Hegel,

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Maschine, wobei er letztere Vorstellung wohl eher (in kritischer Absicht) der klassischen Gewaltenteilungslehre zuschreiben würde. Hegels Staatskonzept erinnert daher an die antike Vorstellung vom Staat als Körper, in dem die einzelnen „Organe“ und „Glieder“ als Teile einer Einheit funktionieren.27 Später spricht Hobbes (1588 – 1679) in Bezug auf den Staat vom „Leviathan“ (mythologisch: Drache, Ungeheuer) im Sinne eines allmächtigen Staates, eine Version des Staatsverständnisses, der ähnliche Vorstellungen zugrundeliegen. Insofern passt es dann durchaus ins Bild, wenn Hegel die These vertritt, dass die konstitutionelle Monarchie eine erbliche Monarchie sein müsse, indem er ausführt:28 „Dieses letzte Selbst des Staatswillens ist in dieser seiner Abstraktion einfach und daher unmittelbare Einzelnheit; in diesem Begriffe selbst liegt hiermit die Bestimmung der Natürlichkeit; der Monarch ist daher wesentlich als dieses Individuum, abstrahiert von allem anderen Inhalte, und dieses Individuum auf unmittelbare natürliche Weise, durch die natürliche Geburt, zur Würde des Monarchen bestimmt.“ (R, § 280) Ob diese Ableitung der Erbmonarchie plausibel ist, muss hier offen bleiben. Die Möglichkeit einer Wahlmonarchie schließt Hegel jedenfalls mit dieser Argumentation von vornherein aus. In § 273 der Grundlinien der Philosophie des Rechts steht die „fürstliche Gewalt“ bei der Auflistung der Gewalten zunächst noch an dritter Stelle (nach der gesetzgebenden Gewalt und der Regierungsgewalt), wird dann aber in den Erläuterungen ab § 275 als erste diskutiert. Hegel schreibt:29 „Die fürstliche Gewalt enthält selbst die drei Momente der Totalität in sich (§ 272), die Allgemeinheit der Verfassung und der Gesetze, die Beratung als Beziehung des Besonderen auf das Allgemeine, und das Moment der letzten Entscheidung als der Selbstbestimmung, in welche alles Übrige a.a.O. (Fn. 17), S. 219 f. Vgl. auch: „Die politische Verfassung ist fürs erste: die Organisation des Staates und der Prozeß seines organischen Lebens in Beziehung auf sich selbst, in welcher er seine Momente innerhalb seiner selbst unterscheidet und sie zum Bestehen entfaltet […]“ (R, § 271; Hegel, a.a.O. (Fn. 17), S. 233. Weitere Hinweise zur Verwendung der OrganismusMetapher bei Hegel s. bei Ludwig Siep, a.a.O. (Fn. 16), S. 405 ff., die auch zeigen, dass Hegel zwar von einem „ontologischen Grundbegriff des ,Lebens‘“ (Siep, S. 405) ausgeht, aber nicht nur einen schlichten Organismus des Leibes, sondern wohl eher den natürlichen Entwicklungsprozess meint, bei dem die einzelnen Glieder im Staat funktional zusammenwirken und sich dabei die Gewaltenteilung als Strukturelement dieser Zusammenarbeit ausprägt. Bei Siep, a.a.O., auch Überlegungen zu Hegels Vorschlägen zur sog. vertikalen Gewaltenteilung, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Vgl. außerdem zur Organismus-Metapher in Hegels Staatsphilosophie auch Schnädelbach, Die Verfassung der Freiheit (§§ 272 – 340), in: Ludwig Siep (Hrsg.), G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 4. Aufl., 2017, S. 261 ff., 263 ff. 27 Erinnert sei hier an die Legende über den Auszug der Plebejer aus Rom, während dessen der damalige Konsul eine Rückkehr der Plebejer mit Hilfe der Metapher von den verschiedenen Gliedern des Körpers bewirkte. Er machte den Plebejern klar, dass die einzelnen Glieder nur zusammen den Menschen (und damit ihre eigene Existenz) erhalten könnten, weshalb die Plebejer im eigenen Interesse wieder nach Rom zurückkehren müssten. Vgl. dazu auch Herbert Schnädelbach, a.a.O. (Fn. 26), S. 264. 28 Hegel, a.a.O. (Fn. 17), § 280, S. 247. 29 Hegel, a.a.O. (Fn. 17), S. 240. – Zur Verwendung dieser „Momente der Totalität“ bei Hegel zur Strukturierung der Gewaltenteilung vgl. auch Siep, a.a.O. (Fn. 16), S. 412 ff.

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zurückgeht, und wovon es den Anfang der Wirklichkeit nimmt. Dieses absolute Selbstbestimmen macht das unterscheidende Prinzip der fürstlichen Gewalt als solcher aus, welches zuerst zu entwickeln ist.“ (R, § 275) Damit wird aber auch klar, dass der Satz „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz) jedenfalls mit der Staatskonzeption von Hegel kaum in Einklang zu bringen sein dürfte. (Anders als bei Kants Konzeption, die nachgerade voraussetzt, dass der Gesetzgeber das „vereinigte Volk“ ist.30) Bei Hegel ist der Monarch derjenige, von dem (nahezu) alle Gewalt im Staate ausgeht. Das Volk spielt allenfalls im Rahmen der gesetzgebenden Gewalt als „ständisches Element“ eine Rolle neben dem von Hegel zunächst genannten monarchischen Moment, „dem die höchste Entscheidung zukommt,“ und dem danach genannten Moment der Regierungsgewalt. (R, § 301)31 Hegel erwähnt in § 27232 die für die Begriffsbildung aus seiner Sicht wichtige Logik der Unterscheidung (und des Zusammenhangs) von „Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelnheit“. Diese Momente sind nach Hegel aber nicht etwa parallel zu den von Kant erwähnten Stufen des praktischen Syllogismus zu sehen, sondern folgen einem eigenen Konzept, das diese Momente auch in den drei Gewalten im Staate wirksam sein lässt: Die Gesetzgebung ist die Gewalt, die „das Allgemeine zu bestimmen und festzusetzen“ hat (§ 273 a). Die Regierungsgewalt verbindet nun durch Subsumtion bei der Anwendung der Gesetze das Besondere mit dem Allgemeinen (§ 273 b).33 Der fürstlichen Gewalt kommt die „Subjektivität der letzten Willensentscheidung“ zu, in der die „unterschiedlichen Gewalten zur individuellen Einheit zusammengefasst sind.“ (§ 273 c) Offenkundig steht der Fürst primär für den Aspekt der „Einzelnheit“; zugleich aber soll er alle drei der genannten Momente (Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelnheit) in sich vereinen, wenn er die „letzte Willensentscheidung“ trifft. Das ist nur schwer zu verstehen; man könnte die Vorstellung Hegels aber zumindest annähernd durch Vergleich mit einem Syllogismus (des Modus Barbara) interpretieren, den Hegel zwar (in der Variante des praktischen Syllogismus, wie Kant ihn bei der Gewaltenteilung verwendet; s. o.) ablehnt, aber inzident doch zu verwenden scheint: Die erste Prämisse des Syllogismus enthält die allgemeine Aussage („Alle Menschen sind sterblich“), die zweite Prämisse die in der allgemeinen Aussage ihrerseits enthaltene besondere Aussage („Alle Wissenschaftler sind Menschen“) und schließlich die Konklusion des „Subsumtionsschlusses“ von der ersten Prämisse über die zweite Prämisse zum Ergebnis des Syllogismus („Also sind auch alle Wissenschaftler sterblich“).

30

Vgl. Kant, Zitat aus RL, § 47 am Beginn des obigen Abschnitts II. Vgl. Hegel, a.a.O. (Fn. 17), S. 261. 32 Hegel, a.a.O. (Fn. 17), S. 235, obiges Zitat im Haupttext bei Fn. 16. 33 Hegel, a.a.O. (Fn. 17), S. 235: „Subsumtion der besonderen Sphären und einzelnen Fälle“. 31

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Hegels Lehre der Aufgliederung der Staatsgewalten ließe sich daher wie in Abb. 2 wiedergegeben zusammenfassen.34 Staat Allgemeinheit

Gesetzgebende Gewalt

Legislative

Besonderheit

Regierungsgewalt

Exekutive (incl. Judikative)

Einzelnheit

Fürstliche Gewalt Abbildung 2: Trias der Gewalten bei Hegel

IV. Fazit und offengebliebene Fragen Die Lehren zur Gewaltenteilung von Kant und Hegel sind schon deshalb nur schwer miteinander zu vergleichen, weil sie offenkundig von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen. Während Kant im Wesentlichen einen praktischen Syllogismus hinter dem Gedanken, die Staatsgewalten zu trennen, annimmt und auf dieser Basis zu einer strikten Trennung der Staatsgewalten – auch personell – kommt, sieht Hegel die Gewalten, die er nur in Anlehnung an die klassische Theorie ähnlich bezeichnet (von der so bei Kant nicht thematisierten „fürstlichen Gewalt“ abgesehen), demgegenüber eher als Momente des Staatsbegriffs, die in ihren spezifischen Funktionen in allen Bereichen des Staatshandelns wiederkehren. Während die Theorie von Kant relativ klar zu sein scheint, treten bei Hegel anscheinend auch Paradoxien auf.35 Beide Autoren haben aber – neben der Verwendung von weitgehend einheitlicher, aus der Antike überkommener Terminologie hinsichtlich der Bezeichnung der Gewalten – durchaus auch inhaltliche Übereinstimmungen. So etwa hinsichtlich der Kritik an dem heute weit verbreiteten, aus dem angelsächsischen Raum stammenden 34

Da Hegel nicht weiter explizit auf den Zusammenhang der Gewaltenteilungslehre mit dem (moralisch) handelnden Menschen und mit Gott eingeht, finden sich – anders als in Abb. 1 – hierzu in Abb. 2 keine weiteren Hinweise. – Zu Abb. 2 ist noch anzumerken, dass die waagerechten Linien hier (nach Hegel) gleichsam nur die begrifflichen Momente im Staatsorganismus gegen einander abgrenzen, nicht aber – wie noch in Abb. 1 zu Kants Lehre – eine auch personelle Trennung der Gewalten symbolisieren. – Welche weiteren Schlüsse sich im Hinblick für die Darstellung in dieser Tabelle im Hinblick auf Gott daraus ziehen lassen, dass Hegel den Staat letztlich als den „erscheinenden Gott“ (Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hauptwerke in sechs Bänden, Bd. 2, 1999, S. 362) bzw. als „absoluten Geist“ versteht (vgl. z.B. Georgi Schischkow, Hegel, in: Philosophisches Wörterbuch, 1978, S. 254), lasse ich hier offen; vgl. auch Hegel: „Der Staat ist göttlicher Wille als gegenwärtiger, sich zur wirklichen Gestalt und Organisation einer Welt entfaltender Geist.“ R, § 270, Hegel, a.a.O. (Fn. 17), S. 222. 35 Vgl. auch Siep, a.a.O. (ob. Fn. 16), S. 387, der schon im Einleitungssatz seines Aufsatzes schreibt: „Wer sich mit Hegels Theorie der Gewaltenteilung beschäftigt, sieht sich einer Reihe von Paradoxen gegenüber.“ Vgl. weiterhin ders., S. 389 oben.

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Gedanken, dass die Gewaltenteilung eher als ein nutzenorientiertes Prinzip von „balance of powers“ bzw. „checks and balances“ verstanden werden sollte. Dass ein solcher primär utilitaristischer Ansatz für Kant nicht akzeptabel wäre, bedarf keiner besonderen Hervorhebung; aber auch Hegel lehnt ein solches Argumentieren offenkundig ab, das er als „pfiffigerweise Dämme auszuklügeln“ ironisiert und kritisiert.36 Für beide Autoren steht die begriffliche Konstruktion des Staatshandelns im Vordergrund der Überlegungen. Es ist aber nun auch nicht so, dass man sich einfach für eines der beiden Gewaltenteilungskonzepte entscheiden könnte. Dazu lassen sie jeweils zu viele Fragen offen, die aber immerhin durch einen Vergleich der beiden Konzepte deutlicher zu Tage treten. So fragt sich bei Kants Konzept, wer eigentlich entscheiden soll, wenn sich die Gewalten einmal in der Behandlung einer für die Staatsverfassung relevanten Frage uneins sein sollten. Scheinbar wird diese Frage bei Kant damit beantwortet, dass die drei Gewalten eben ganz unterschiedliche Aufgaben haben (Gesetzgebung, Ausführen der Gesetze, Rechtsprechung), so dass es schon deshalb gar nicht zu dem von Hegel befürchteten Streit zwischen den Gewalten kommen kann. Denn jede Gewalt ist ja in den Aufgaben, die sie zu erfüllen hat, letztentscheidend und im Übrigen, d. h. bei den anderen beiden Aufgaben, den jeweils zuständigen anderen Gewalten „untergeordnet“.37 Zu Recht macht Hegel aber darauf aufmerksam, dass z. B. der Gesetzgeber auch schon die Subsumtion von möglichen Einzelfällen unter das Gesetz im Auge behalten muss, obwohl dies eigentlich (nach Kant) eine genuine Aufgabe (nur) der Rechtsprechung ist. Ähnliches gilt für die ausführende Gewalt, die die Gesetze ja (richtig) anwenden soll. Hier kann es also durchaus zu inhaltlichen Konflikten zwischen den Gewalten kommen (Wie ist etwa ein Begriff in der Verfassung auszulegen?), und bei Kant wird – wie schon angedeutet – nicht wirklich klar, wer dann letztentscheidend sein soll. Kant bezeichnet zwar die Legislative („das vereinigte Volk selbst“) als „Beherrscher des Volks (der Gesetzgeber)“38, doch wäre zu klären, wie das „vereinigte Volk“ sich im Hinblick auf eine solche Streitfrage sollte artikulieren können; durch einen Parlamentspräsidenten, durch einen Monarchen, durch ein Verfassungsgericht?39 Eine strikte Gewaltenteilung, wie Kant sie begründet, hätte zudem Probleme damit zu erklären, weshalb ein Rechtsstaat anscheinend auch ganz gut mit gewissen Überschneidungen der Gewalten und deren Aufgaben zurechtkommen kann. Um nur 36

Vgl. etwa das Zitat im Haupttext bei Fn. 17. Vgl. Kant, a.a.O. (Zitat im Haupttext bei Fn. 4). 38 Vgl. Kant, a.a.O. (Zitate im Haupttext bei Fn. 3 und 5), wobei hier erkennbar nicht nur die Souveränität nach außen, sondern primär die Souveränität nach innen gemeint ist. 39 Weder Kant noch Hegel kennen die Institution eines Verfassungsgerichts. Einmal ganz abgesehen davon, dass das Verfassungsgericht seinerseits eine ambivalente Stellung im Rahmen der Gewaltenteilungstheorie von Kant haben müsste, jedenfalls dann, wenn es – wie in Deutschland das Bundesverfassungsgericht – zwar durchaus rechtsprechende, aber zum Teil auch gesetzgebende Funktionen wahrzunehmen hat. 37

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das Beispiel Deutschlands zu nennen, wo es etwa dadurch zu Durchbrechungen des Gewaltenteilungsprinzips kommt, dass viele Beamte als Parlamentarier an der Gesetzgebung mitwirken, obwohl sie als Beamte natürlich der Exekutive zuzurechnen sind. Zwar sind sie vorübergehend beurlaubt, ihre Loyalität gilt aber möglicherweise doch eher der Exekutive, aus der sie kommen und in die sie nach dem Auslaufen ihres Mandats regelmäßig zurückkehren, als der Legislative; zumindest könnte insoweit ein Anschein von Befangenheit entstehen. Ähnliche Probleme bei der Abgrenzung der Gewalten ergeben sich unter dem Eindruck und der Herausforderung sich relativ schnell ändernder Lebensverhältnisse (man denke nur an die Entwicklungen der Medizintechnik). Hier erscheint es angemessen, die Exekutive in die Lage zu versetzen, auch allgemeine Regeln aufzustellen, zumindest dann, wenn gesetzlich dafür eine Ermächtigungsgrundlage bereitgestellt worden ist, weil dann schneller auf neue Entwicklungen in Umwelt und Gesellschaft reagiert werden kann. Im deutschen Rechtssystem gibt es bekanntlich eine solche Befugnis der Exekutive (Verwaltung), allgemeine Rechtsregeln aufzustellen, wie sie eigentlich bei klarer Gewaltentrennung nur der Legislative zustehen sollte, und zwar (bei Vorliegen einer entsprechenden gesetzlichen Ermächtigung) im Hinblick auf den Erlass sog. Rechtsverordnungen (z. B. Straßenverkehrsordnung) und sog. Allgemeinverfügungen (z. B. Verkehrsschilder). Hegel könnte solche Überschreitungen der Grenzen zwischen den Gewalten zweifellos besser akzeptieren als Kant, dessen Konzept die Verlagerung von quasi-gesetzgebenden Aufgaben auf die Exekutive kaum zulassen könnte. Anderseits ist bei Hegel vor allem die Rolle der von ihm so genannten „fürstlichen Gewalt“ problematisch.40 Schon systematisch leuchtet es nicht recht ein, weshalb die fürstliche Gewalt einerseits erst als dritte der Gewalten in der (fortschreitenden) Reihe von „Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelnheit“41 stehen und andererseits zugleich „die Spitze und der Anfang des Ganzen“42 (gemeint ist mit dem Ganzen wohl der Begriff des Staates bzw. der Staat selbst) sein soll. Skeptisch stimmt auch, dass Hegel hier nur das Modell einer konstitutionellen Monarchie vor Augen zu haben scheint und jedenfalls eine im modernen Sinne parlamentarische Demokratie nicht mit seiner Konzeption vereinbar sein dürfte.43 Der Verdacht, dass Hegels Modell sogar zur Strukturierung einer autokratischen Staatsverfassung genutzt werden könnte, erhärtet sich noch, wenn man seine vehemente Verteidigung der Erblichkeit der Monarchie in Rechnung stellt. Es mag zwar sein, dass Hegel sich ein Modell des Staates vorgestellt hat, wie wir es heute aus Großbritannien kennen, 40 Zur kritischen Auseinandersetzung mit Hegels Konzept der „fürstlichen Gewalt“ vgl. auch Schnädelbach, a.a.O. (Fn. 26), S. 266 ff., sowie weiterführend zu den anderen Gewalten in Hegels Lehre auf S. 269 ff. („Regierungsgewalt“) und auf S. 271 ff. („gesetzgebende Gewalt“), jeweils m.w.N. 41 Vgl. Hegel, a.a.O. (Zitat im Haupttext bei Fn. 32). 42 Vgl. Hegel, a.a.O. (Zitat im Haupttext bei Fn. 25). 43 Wie schon kurz erwähnt, spielt die Bevölkerung nur im Rahmen von Ständevertretungen eine begrenzte Rolle; vgl. Hegel, a.a.O., S. 261.

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d. h. mit konstitutioneller (Erb-)Monarchie und einer nicht durchgängig gewaltenteiligen Staatsverfassung, doch bliebe dann unverständlich, weshalb er sich so klar gegen ein Konzept von „balance of powers“ bzw. „checks and balances“ zu stellen scheint, anstatt dies nach Maßgabe seiner begrifflichen Rekonstruktion des Staates zumindest in seine Theorie zu integrieren. Mithin bleiben in den Konzepten von Kant und Hegel zur Gewaltenteilung noch eine ganze Reihe von Fragen offen, die der Diskussion und Beantwortung harren, wenn eine konsistente Theorie der Gewaltenteilung entstehen soll.

Thomas Dunson und Ethan Edwards im Lichte von Immanuel Kant und Carl Schmitt Von Kurt Bayertz und Thomas Gutmann Wir beginnen mit Thomas Dunson und erinnern kurz an einige wichtige Stationen seiner Geschichte, bevor wir dann auf Ethan Edwards zu sprechen kommen. Das Handeln beider werden wir mit Hilfe einiger Theoriestücke vor allem von Immanuel Kant und Carl Schmitt näher beleuchten und rechtsphilosophisch würdigen.

I. Thomas Dunsons Landnahme Im Jahre 1851 hatte sich Dunson gemeinsam mit seinem Adlatus Nadine Groot einem großen Wagentreck angeschlossen, der von St. Louis nach Kalifornien aufbrach. Als der Treck nach drei Wochen die texanische Nordgrenze erreicht, löst sich Dunson aus der sich westwärts bewegenden langen Wagenkolonne und biegt nach Süden ab, um sich in Nordtexas niederzulassen und eine Rinderfarm zu gründen. Schon bald werden sie gewahr, daß der Treck, den sie eben verlassen haben, von Indianern überfallen wurde; wie (fast) alle anderen wird auch Dunsons Verlobte, die er im vermeintlich sicheren Schutz des Trecks zurückgelassen hatte, getötet. Während sie am Red River, dem texanischen Grenzfluß, lagern, werden auch er und Groot von einer kleinen Gruppe von Indianern angegriffen; doch der Kampf geht hier zuungunsten der Indianer aus: Dunson tötet sie. Zu ihnen stößt am folgenden Tag Matthew Garth, ein Junge, der bei dem Überfall auf den Treck seine Eltern verloren hat. Er folgt nun Dunson und Groot, die den Red River überqueren und in den texanischen Weiten bald einen Platz finden, an dem sie sich niederlassen. Sie binden den Stier los, der Dunson geblieben war, und die Kuh, die der Junge mitgebracht hatte: „Laß sie los,“ erklärt Dunson, „wo immer sie weiden, wird mein Land sein.“ Schon bald tauchen zwei Reiter auf. Sie sind Abgesandte des Don Diego, dem der König von Spanien seinerzeit das Land, auf dem Dunson seine Ranch errichten möchte, vermacht hatte; unter Verweis auf diesen Eigentumsanspruch fordern sie Dunson und die Seinen auf, weiterzuziehen. Nach einem kurzen Disput erschießt Dunson einen der beiden und fordert den anderen auf, seinem 600 Kilometer entfernt wohnenden Don Diego auszurichten, daß er (Dunson) dieses Land nun in Besitz genommen habe und verteidigen werde. Auch spätere Versuche, ihn von dem in Besitz genommenen Land zu vertreiben, enden zugunsten Dunsons, der auf diese Weise innerhalb eines Zeitraums von weniger als anderthalb Jahrzehnten eine riesige Ranch mit über 9.000 Rindern aufbauen wird.

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Kurt Bayertz und Thomas Gutmann

Dies ist die Geschichte Thomas Dunsons, soweit wir sie in diesem Beitrag diskutieren werden. Es handelt sich bei ihr natürlich nicht um eine realhistorische Ereignisfolge, sondern um den Anfang eines Films: um den Anfang des von Howard Hawks gedrehten Films Red River, der 1948 in die Kinos kam und zu den klassischen Exemplaren des Western-Genres gehört. Er ist in der einschlägigen Literatur oft interpretiert worden;1 dies allerdings in erster Linie bezüglich der späteren und längeren Teile der Handlung (an die wir einleitend noch nicht erinnert haben). Auf sie werden wir zwar später noch kurz eingehen, möchten in diesem Beitrag aber den Hauptakzent auf einige rechtsphilosophische Fragen konzentrieren, die in dem referierten ersten Teil des Films aufgeworfen werden. Es liegt auf der Hand, daß dieser erste Teil das schildert, was gemeinhin als eine Landnahme bezeichnet wird. Ebenso liegt auf der Hand, daß solche Landnahmen in Westernfilmen eine zentrale Rolle spielen, da sie für jene große Landnahme stehen, aus der schließlich auch die Vereinigten Staaten von Amerika hervorgehen sollten. Das Thema ,Landnahme‘ hat im Fall der USA (ähnlich wie im Falle Israels) eine staatskonstituierende und -legitimierende Dimension, auf die wir in diesem Beitrag aber nicht näher eingehen werden. Wir werden uns auf das Handeln Thomas Dunsons und seine Legitimationsgrundlagen konzentrieren; wobei allerdings offensichtlich ist, daß die Gesichtspunkte, die sich aus der Betrachtung dieses (individuellen) Handelns ergeben, nicht ohne Konsequenzen für die große (kollektive) Landnahme bleiben werden.

II. Immanuel Kant über die Bemächtigung von Gegenständen Auszugehen ist von der naheliegenden Frage, ob es sich bei der Inbesitznahme des Bodens, wie sie uns in der Geschichte von Thomas Dunson präsentiert wird, um einen bloß faktischen Akt handelt oder ob ihm zugleich eine normative Potenz innewohnt. Tatsächlich ist ihm eine solche normative Potenz in der rechtsphilosophischen Literatur von prominenter Seite zugesprochen worden. So von den in der frühen Neuzeit von Hugo Grotius und Samuel Pufendorf vertretenen Spielarten der (bis in die Antike zurückverfolgbaren) Okkupationstheorie, der zufolge der ursprüngliche Eigentumserwerb auf der faktischen Inbesitznahme eines herrenlosen Gutes beruht. John Locke gibt dieser Theorie eine folgenreiche Wendung, indem er die Okkupation als Arbeit deutet: Aus dem ursprünglich gemeinsamen Besitz der Erde entsteht privates Eigentum dadurch, daß ein Individuum durch seine Arbeit irgendeinen Teil herauslöst und sich zu eigen macht.2 Ausdrücklich soll das nicht nur für die 1 Um nur einige zu nennen: Gerald Mast, Howard Hawks, Storyteller. New York/Oxford 1982; Josef Früchtl, Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne. Frankfurt/ M. 2004: 84 – 95; Robert B. Pippin, Hollywood Westerns and American Myth. The Importance of Howard Hawks and John Ford for Political Theory. New Haven and London 2010: 26 – 60. 2 John Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung. (Kommentiert von Ludwig Siep). Frankfurt/M. 2007: §§ 27 ff.

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Früchte der Erde und die Tiere, die auf ihr leben, gelten, sondern auch für „die Erde selbst als das, was alles übrige enthält und auf sich trägt“.3 Und auf seine spezielle Weise bestätigt auch Jean-Jacques Rousseau die Schlüsselrolle der Landnahme, wenn er den zweiten Teil seines zweiten Discours mit den berühmten Worten beginnen lässt: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.“4 Auch Immanuel Kant steht in dieser Tradition: Der ursprüngliche Erwerb eines beliebigen Gegenstandes kann ihm zufolge „nur durch Bemächtigung (occupatio) geschehen“, d. h. durch einen einseitigen Akt der Willkür.5 Dabei bleibt es bei Kant aber nicht. Ohne an dieser Stelle auf seine Rechts- und Eigentumstheorie näher eingehen zu können, wenden wir uns zunächst zwei Aspekten zu, die (bei kreativer Interpretation) Dunsons Zustimmung gefunden hätten. Erstens hätte ihm zweifellos Kants These gefallen, daß der Landnahme insofern eine besondere Bedeutung zufällt, als der Boden die Substanz darstellt, zu der sich alles Bewegliche auf ihm als eine Gesamtheit von Akzidenzen verhält. Da Akzidenzen nicht unabhängig von Substanzen existieren können, „so kann im praktischen das Bewegliche auf dem Boden nicht das Seine von jemandem sein, wenn dieser nicht vorher als im rechtlichen Besitz desselben befindlich (als das Seine desselben) angenommen wird.“ (§ 12) Mit einem Wort: Alles Eigentum existiert nur unter der Voraussetzung des Eigentums am Boden. – In einer eigenwilligen Radikalisierung dieses Gedankens wird Dunson in einer späteren Episode des Films alle Rinder, die sich auf seinem Boden befinden als ,seine‘ Rinder beanspruchen, auch wenn sie offensichtlich aus den Herden anderer Rancher stammen. Die sich daraus ergebenden Konflikte werden erstaunlich leicht beigelegt; auf sie kam es dem Regisseur und seinem Drehbuchschreiber offenbar nicht an. Zweitens hätte auch Kants Antwort auf die Frage, wie weit die Befugnis der Inbesitznahme des Bodens reicht, Dunsons Zustimmung gefunden. Diese Befugnis erstreckt sich nämlich „so weit, als das Vermögen ihn in seiner Gewalt zu haben, d.i. als der, so ihn sich aneignen will, ihn vertheidigen kann; gleich als ob der Boden spräche: wenn ihr mich nicht beschützen könnt, so könnt ihr mir auch nicht gebieten.“ (§ 15)6 – In einer unorthodoxen Anwendung dieser Auffassung hätte Dunson wohl geltend

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Ibid. § 32. Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité. (Hg., übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier). Paderborn etc. 1984: 173. 5 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Erster Theil: Metaphysische Anfänge der Rechtslehre, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe Bd. VI. Berlin 1968, 203-372: § 14. Zitate aus Kants Rechtslehre werden nachfolgend im Text durch die Angabe des jeweiligen § nachgewiesen. 6 Bei Locke liest sich die analoge These so: „Soviel Land ein Mensch bepflügt, bepflanzt, bebaut, kultiviert und soviel er von dem Ertrag verwerten kann, soviel ist sein Eigentum“ (Locke [Fn. 2], § 32). 4

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gemacht, daß Don Diego es (als es noch das Seine war) eben nicht hatte verteidigen können, während ihm das über die Jahre hinweg offenbar durchaus gelungen sei. Mit zwei weiteren Punkten hätte Dunson allerdings Schwierigkeiten gehabt. Nach Kant wird mit der „Bemächtigung“ des Bodens zwar echtes, gültiges Eigentum geschaffen, aber nur provisorisches. Endgültiges, gesichertes, „peremtorisches“ Eigentum ist nur unter den Bedingungen einer bürgerlichen Gesellschaft möglich, „denn durch einseitigen Willen kann Anderen eine Verbindlichkeit, die sie für sich sonst nicht haben würden, nicht auferlegt werden.“ (§ 15) Dies ist nicht nur so zu verstehen, daß eine effektive Sicherheit des Besitzes erst durch staatliche Institutionen, die eine bürgerliche Gesellschaft voraussetzen, gewährleistet werden kann. Die philosophische Grundfrage besteht vielmehr darin, wie der Übergang vom „empirischen“ zum „rechtlichen“ Besitz, vom Reich der Fakten in das Reich der Normen also, konzipiert werden kann. Kants Theorieziel besteht in dem, was er eine „Deduktion des Begriffs des bloß rechtlichen Besitzes eines äußeren Gegenstandes (possessio noumenon)“ (§ 6) nennt. Die Filiationen dieser Deduktion können hier nicht nachverfolgt werden. Nur so viel: Der ersten Erwerbung beliebiger Sachen, den Boden eingeschlossen, geht nach Kant ein Zustand des gemeinsamen Besitzes aller Menschen voraus: „ein ursprünglicher Gesammtbesitz“, der allerdings nicht als empirisch aufgefasst werden dürfe, sondern als ein „praktischer Vernunftbegriff, der a priori das Princip enthält, nach welchem allein die Menschen den Platz auf Erden nach Rechtsgesetzen gebrauchen können“. (§ 13) Die auf diesen Zustand folgende „erste Besitznehmung“ (§ 14) ist zwar empirisch, aber (wie wir gesehen haben) nur provisorisch. „Der Vernunfttitel der Erwerbung aber kann nur in der Idee eines a priori vereinigten (nothwendig zu vereinigenden) Willens Aller liegen, welche hier als unumgängliche Bedingung (conditio sine qua non) stillschweigend vorausgesetzt wird; denn durch einseitigen Willen kann Anderen eine Verbindlichkeit, die sie für sich sonst nicht haben würden, nicht auferlegt werden.“ (§ 15) Peremtorisches Eigentum kann also nur im bürgerlichen Zustand erworben werden, der seinerseits natürlich nicht auf einen empirischen Gründungsakt zurückgehen kann, sondern eine Vernunftbasis haben muß. – Dieser Gedankengang wäre Dunson wohl fremd geblieben; die Idee eines bürgerlichen Zustandes und einer staatlichen Ordnung hätten außerhalb seiner Vorstellungswelt gelegen. Darauf werden wir am Schluß dieses Beitrages kurz zurückkommen. Selbst wenn wir von diesem bürgerlichen Zustand und der Idee eines „rechtlichen (intelligiblen)“ Besitzes abstrahieren, bleibt zu konstatieren, daß sich die bisher referierten Ansichten Kants auf die erste Erwerbung des Bodens bezogen, mithin auf der Voraussetzung beruhen, daß er von niemandem bereits in Besitz genommen wurde. – Genau diese Voraussetzung besteht im Film nicht: Dunson nimmt kein herrenloses Land, sondern nimmt das Land jemandem ab, der es bis dahin besessen hatte: Don Diego. Für Kant wäre seine Landnahme daher kein rechtsbegründender Akt gewesen; und insofern handelt es sich bei den in Red River geschilderten Ereignissen nicht um einen Anwendungsfall der Kantischen Theorie des ersten Eigentumserwerbs. Über die Reaktion Dunsons auf diese Feststellung wollen wir nicht

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spekulieren. Ob er sich genötigt gesehen hätte, anderweitig nach Legitimationsressourcen Ausschau zu halten, darf bezweifelt werden. Bei Carl Schmitt hätte er sie aber finden können.

III. Carl Schmitt und der bodenhafte Urgrund, in dem alles Recht wurzelt Schmitt kennt natürlich die Ansichten Kants. In seinem Buch Der Nomos der Erde zitiert er sie kurz, um sie aber sofort hinter sich zu lassen. Er bescheinigt Kant zunächst, „mit großer Klarheit dargelegt“ zu haben, daß die Landnahme (im Unterschied zu Kant kennt Schmitt diesen Ausdruck und verwendet ihn gern) die Voraussetzung und Basis allen weiteren Rechts sei: Sie sei „der erste Rechtstitel, der allem folgenden Recht zugrunde liegt. Landrecht und Landfolge, Landwehr und Landsturm setzen Landnahme voraus. Die Landnahme geht auch der Unterscheidung von privatem und öffentlichem Recht vorher. Sie schafft überhaupt erst die Bedingungen dieser Unterscheidung. Insofern hat die Landnahme einen, wenn man es so nennen will, in rechtlicher Hinsicht kategorialen Charakter.“7 Dann aber trennen sich die Theoriewege und weisen in divergierende Richtungen. Zum einen behandeln beide nicht genau denselben Gegenstand. Während es Kant um eine metaphysische Begründung der Rechtsphilosophie allgemein zu tun gewesen war und seine bisher referierten Ansichten die Grundlagen des Privatrechts, genauer: des Sachenrechts8 betreffen, steht bei Schmitt das Völkerrecht im Vordergrund, insbesondere die Aufteilung der Erde zwischen verschiedenen Völkern. Wichtiger als diese Differenz ist, daß Schmitt die Idee einer „Deduktion des Begriffs des bloß rechtlichen Besitzes eines äußeren Gegenstandes“ als abwegig ansah. Gegen Kant macht er zwei Punkte geltend: „Wir müssen erstens die Landnahme als eine rechtsgeschichtliche Tatsache, als großes historisches Ereignis und nicht als eine bloß gedankliche Konstruktion erkennen … Und wir müssen zweitens im Auge behalten, daß dieser nach Innen und Außen grundlegende Vorgang einer Landnahme auch der Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht, von Herrschaft und Privateigentum, von Imperium und Dominium vorausgeht.“ (17) In einem ersten Schritt kassiert Schmitt also die kantische Unterscheidung zwischen provisorischem und peremtorischem Eigentum; die empirisch-faktische Inbesitznahme des Bodens ist die einzige Quelle des legitimen Eigentums. Und mehr noch: Sie ist die Basis des Rechts überhaupt, der „bodenhafte Urgrund, in dem alles Recht wurzelt und Raum und Recht, Ordnung und Ortung zusammentreffen“ (17). 7 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. Berlin 1950: 17. Im Folgenden werden Zitate aus diesem Buch durch Angabe der Seitenzahlen im Text nachgewiesen. 8 Vgl. allerdings die Anmerkung B zu § 49, in der der Landesherr als „Obereigenthümer“ des Bodens erscheint, wenn auch nicht als Privateigentümer.

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Zweitens kassiert er die Unterscheidung zwischen Herrschaft und Privateigentum zwar nicht; relativiert sie aber deutlich, indem er die (faktische) Landnahme als einen der Unterscheidung von Imperium und Dominium vorausliegenden Akt charakterisiert. Daß die faktische Inbesitznahme des Bodens nicht nur privates, sondern auch öffentliches Recht begründet, hängt bei Schmitt auch damit zusammen, daß er weniger die individuelle Inbesitznahme à la Thomas Dunson im Auge hat, als kollektive Landnahmen durch ganze Völker. „Am Anfang der Geschichte jedes seßhaft gewordenen Volkes, jedes Gemeinwesens und jedes Reiches steht also in irgendeiner Form der konstitutive Vorgang der Landnahme. Das gilt auch für den Anfang einer geschichtlichen Epoche. Die Landnahme geht der ihr folgenden Ordnung nicht nur logisch, sondern auch geschichtlich voraus. Sie enthält die raumhafte Anfangsordnung, den Ursprung aller weiteren konkreten Ordnung und allen weiteren Rechts. Sie ist das Wurzelschlagen im Sinnreich der Geschichte.“ (19) Im Film verschwimmt die Differenz zwischen individueller und kollektiver Landnahme. Er rückt das Handeln Dunsons stark in den Vordergrund, lässt aber – in Gestalt des anfänglichen Trecks, in der Person Groots, dann Matts – die kollektive Dimension dieses Handelns zumindest anklingen. Schon hier wird deutlich, daß es (ungeachtet gegenläufiger Ideologien) eine rein individuelle Landnahme nicht geben kann; in den späteren Teilen des Films wird die soziale Dimension dann direkt zum Thema. Daß die Differenz zwischen einer faktischen „Anfangsordnung“ und einer normativ verbindlichen Ordnung auf diese Weise zum Verschwinden gebracht wird, hat Schmitt offenbar nicht als einen Verlust, sondern als einen Gewinn angesehen: als einen Gewinn an Verwurzelung im „Sinnreich der Geschichte“. Es ist natürlich schwer bestreitbar, daß in diesem Sinnreich Eroberungen de facto häufig genug zum „Ursprung aller weiteren konkreten Ordnung und allen weiteren Rechts“ geworden sind. Ob sich die Frage nach der Legitimität dieser konkreten Ordnung und dieses weiteren Rechts damit bereits erledigt hat, ist eine ganz andere Frage. – Wie Schmitt hätte Dunson sie durch den Verweis auf den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse für beantwortet angesehen. Der Film zeigt eindringlich, daß seine Landnahme tatsächlich auf einer „realhistorischen Tatsache“ fußt: auf seiner Fähigkeit, den Revolver schneller zu ziehen als die Abgesandten Don Diegos. In einer späteren Szene kann der Zuschauer bemerken, daß das Grab des Reiters Don Diegos sich um sechs weitere vermehrt hat: Ein kleiner Friedhof ist entstanden, der Schmitts These illustriert, daß Landnahmen „in der geschichtlichen Wirklichkeit bisher etwas tumultarisch zugehen“ (17). Damit ist die Landnahme nach Außen hin abgeschlossen. Die rechtskonstitutive Rolle von Landnahmen reduziert sich für Schmitt aber nicht auf den Ausschluß der Fremden; sie ist rechtskonstituierend zugleich auch nach Innen: Sie begründet nämlich eine Boden- und Eigentumsordnung innerhalb des landnehmenden Volkes. Der terminus technicus, den er dafür wiederbeleben möchte, ist der griechische Ausdruck Nomos. „Dieses Wort, in seinem ursprünglichen, raumhaften Sinn verstanden, ist am besten geeignet, den grundlegenden, Ortung und Ordnung in sich vereinigenden Vorgang zum Bewusstsein zu bringen.“ (36) Entscheidend sei dafür, diesen griechischen

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Ausdruck nicht in einem normativen Sinne als ,Gesetz‘ oder ,Setzung‘ mißzuverstehen; er habe seine Wurzel vielmehr in ,nemein‘, einem Wort, das sowohl ,Teilen‘ als auch ,Weiden‘ bedeuten könne. „Der Nomos ist demnach die unmittelbare Gestalt, in der die politische und soziale Ordnung eines Volkes raumhaft sichtbar wird, die erste Messung und Teilung der Weide, d. h. die Landnahme und die sowohl in ihr liegende wie aus ihr folgende konkrete Ordnung … Nomos ist das den Grund und Boden der Erde in einer bestimmten Ordnung einteilende und verortende Maß und die damit gegebene Gestalt der politischen, sozialen und religiösen Ordnung. Maß, Ordnung und Gestalt bilden hier eine raumhaft konkrete Einheit.“ (39 f.) Wir erkennen hier unschwer die bereits charakterisierte Tendenz wieder, die Differenz von Faktizität und Normativität einzuebnen. Wie und aufgrund wovon eine „erste Messung und Teilung der Weise“ zum „Maß“, d. h. zu etwas Normativem werden kann, wird nicht nur nicht erklärt; schon die Frage selbst wird mit der Auskunft beiseite geschoben, es sei darauf zu achten, „daß das Wort seine Verbindung mit einem geschichtlichen Vorgang, mit einem konstituierenden Raumordnungsakt nicht verlieren darf.“ (40) In seinen Ausführungen zu ,Nomos‘ wird das Vertrauen sichtbar, das Schmitt der Sprachgeschichte für die Lösung rechtstheoretischer Sachfragen entgegenbringt. Wenn ,Nehmen‘, ,Teilen‘ und ,Weiden‘ (im Griechischen) aus der Sprachwurzel ,Nomos‘ erwachsen sind, fallen sie damit eo ipso und auf ewig auch sachlich zusammen; einer darüber hinaus gehenden Begründung bedarf es nicht mehr. Die Sprache spinnt ihre Bedeutungsfäden hinter dem Rücken der Individuen und stattet ihr ,Nehmen‘, ,Teilen‘ und ,Weiden‘, sowie alles daraus Folgende mit einer (sprach)geschichtlichen Legitimation aus; denn sie „tradiert auf ihre Weise die weiterwirkenden konstituierenden Vorgänge und Ereignisse, auch wenn die Menschen sie vergessen haben.“9 Das von Schmitt behauptete Zusammenfallen von Abteilung nach Außen und Teilung im Inneren hat seine Entsprechung in Red River. Für Dunson steht von vornherein fest, daß er das Land genommen hat und daß alles, was sich darauf befindet ihm gehört. Auch seine beiden Begleiter scheinen keine Zweifel an diesem Anspruch zu haben. Groot erscheint von vornherein als ein bloßes Anhängsel Dunsons (auch wenn er in späteren Filmepisoden eine gelegentliche Distanz zu ihm erkennen lässt), als ein freiwilliger Knecht, dem keine Ansprüche zugestanden werden, der aber auch keine erhebt. Das Unterordnungsverhältnis zu Dunson hat seine Basis also nicht darin, daß die Landnahme ausschließlich das Werk des letzteren ist; denn zum einen bestand es 9

Carl Schmitt, Nomos – Nahme – Name, in: Stadt, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916 – 1969. Herausgegeben, mit einem Vorwort und mit Anmerkungen versehen von Günter Maschke. Berlin 1995: 582. In einem anderen Text gelingt es Schmitt, seinen Etymologie-Fimmel zur Karikatur zu steigern. Anlaß dafür ist ein anderes Grundwort seines Denkens, das auch im hier vorliegenden Zusammenhang einschlägig ist: „Raum ist ein Wort, an dem die Sprache sich als eine Ursprache erweist. Es ist ein Urwort der Ursprache … Ich bin sicher, daß Raum und Rom dasselbe Wort ist. / Von dort entwickeln sich weitere, teils sachlichnüchterne, oft aber auch gesteigert-herrliche Bedeutungen“ (ebenda: 491).

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bereits vorher und zum anderen kann man bezweifeln, daß Dunson die Landnahme allein hätte bewerkstelligen können.10 Bei Matt liegen die Dinge etwas anders. Zunächst ist er noch ein Kind, dessen sich Dunson annimmt und dadurch in eine ,natürlicherweise‘ übergeordnete Position kommt. Daß Matt eine Kuh mitgebracht hatte, ohne die Dunson keine Herde hätte aufbauen können; daß er damit von vornherein einen Anspruch auf Miteigentum an der späteren Ranch und Herde haben könnte, wird eher beiläufig abgetan. Erst ganz am Ende des Films, nach Zwist und Versöhnung, billigt ihm Dunson die Rolle eines Miteigentümers zu. Dessen Bewusstsein, alleiniger Nehmer und Verteidiger des Landes zu sein und damit auch alleiniger Besitzer der Ranch und der Herde wird durch diese Schlußszene also eher bekräftigt als dementiert: Er beteiligt Matt (aber nicht Groot) an seiner Ranch und seiner Herde. – Daß die Idee einer individuellen Landnahme (wie sie auch Kant veranschlagt hatte) auf einer Illusion beruht: Zu dieser Einsicht gelangt Dunson nicht; und der Film deutet sie bestenfalls in weiter Ferne an.

IV. Ethans Edwards’ Kampf gegen die tellurischen Kräfte der Selbstverteidigung Im Hinblick auf den Film stellt sich nun die Frage, wem Dunson das Land eigentlich abgenommen hat: Nicht den Indianern, sondern dem spanisch-mexikanischen Großgrundbesitzer Don Diego. Die Indianer repräsentieren noch das Stadium des Gemeinbesitzes. Sie gelten kaum als Menschen (Dunson spricht nicht mit ihnen), sondern gehören noch der Natur an. Mit den Abgesandten Don Diegos hingegen gibt es eine vergleichsweise ausführliche Konversation, in der Argumente ausgetauscht werden – bis der Colt Dunsons das letzte Argument vorbringt und die Diskussion beendet. Die Landnahme der Spanier ging der Dunsons voraus. Doch in einem waren sich Dunson und Don Diego als Schmittianer avant la lettre einig: Die Eroberung Amerikas durch die europäischen Mächte und Siedler war im Schmittschen Sinn „Landnahme freien kolonialen Bodens“ (171) und Ausdruck des behaupteten Rechts eines auf einer höheren Stufe stehenden Volkes auf die Annexion von Gebieten mit auf niedrigerer Stufe stehenden Einwohnern (vgl. 108 f.). Die Landnehmer brauchten, so Schmitt, hinsichtlich der Rechte am Boden, die sie innerhalb des erworbenen Landes vorfanden, keine Rücksichten zu nehmen, weil die Nutzung dieses Bodens durch 10

Philosophische Hilfe (wenn er sie denn gesucht hätte) hätte Dunson bei Locke gefunden, der eine recht großzügige Deutung von dem zugrunde legte, was „meine Arbeit“ ist: „Das Gras, das mein Pferd gefressen, der Torf, den mein Knecht gestochen … werden ohne Anweisung und Zustimmung von irgend jemandem mein Eigentum. Es war meine Arbeit, die sie dem gemeinsamen Zustand, in dem sie sich befanden, enthoben hat und die mein Eigentum an ihnen bestimmt hat“ (Locke [Fn. 2], § 28). Die Existenz sozialer Ungleichheit ist (nicht nur) bei Locke eine selbstverständliche Voraussetzung, die weder einer Thematisierung noch einer Legitimation bedarf. Dunson hätte dem zugestimmt.

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die Eingeborenen kein Eigentum darstellte. Sie konnten „das genommene koloniale Land hinsichtlich des Privateigentums […] als herrenlos behandeln“ (171). Zugleich wurden die autochthonen Einwohner des Landes, soweit sie den Akt der Landnahme selbst überlebten, zu „Objekte[n] der Organisierung durch höherstufige Völker“ (108), natürlich ohne daß man mit ihnen gemeinsam in einen bürgerlichen Zustand eingetreten wäre.11 Es ist nun eine besondere Pointe, daß es wiederum Schmitt ist, der beschreibt, daß und auf welche Weise die koloniale Landnahme bereits besiedelter Gebiete Widerstand produziert. 1963 veröffentlicht er seine aus zwei im Jahr zuvor in Spanien gehaltenen Vorträgen entstandene „Theorie des Partisanen“, die das „Nomos“-Buch fortschreibt. Schmitt entwickelt hier vier charakteristische Kennzeichen des „klassischen“ Partisanen (20 ff.)12. Man muss sie nur nennen, um zu sehen, daß auch die amerikanische Landnahme, im Film wie in der Wirklichkeit, in Gestalt der Indianer mit Partisanen konfrontiert wird: (a) Der Partisan kämpft, nach den Maßstäben des Landnehmers, irregulär. Er unterläuft für sich und beim Gegner die Tradition der Unterscheidung zwischen regulären Soldaten und Zivilisten, er ist nicht in Konventionen von regelhafter Kriegsführung oder gar eines Kriegsvölkerrechts eingebunden. Was Schmitt am Partisanen fasziniert, ist seine Teilhabe am genuin „Politischen“, weil er für ihn die Kategorie der „wirklichen Feindschaft“ (93) repräsentiert – einen zugleich irregulären und unbegrenzten Widerstand gegen die Ordnung der Landnahme, der auf einer Unterscheidung von Freund und Feind beruht, die sich nicht mehr normativ einhegen lässt. (b) Den Partisanen kennzeichnet gesteigerte Mobilität. Es geht um „Bewegung und Schnelligkeit und überraschenden Wechsel von Angriff und Rückzug“ (23) in der Taktik einer Guerilla, die das Land zu nutzen weiß. (c) Er agiert „intensiv“ (21), in einem gesteigerten politischen Engagement und einer inneren Haltung, die in einer unbedingten Einsatzbereitschaft sowie einer außergewöhnlichen Kampfmoral zum Ausdruck kommt. Und vor allem: (d) Sein Charakter ist „tellurisch“ (26), er kämpft aus Erd- und Heimatverbundenheit, also prinzipiell defensiv. Der Partisan steht für eine andere Ordnung des Raums, aber seine Feindschaft ist insoweit, räumlich und motivational, begrenzt. Er kämpft nicht für abstrakte oder universalistische Prinzipien. Er ist konservativ und verteidigt, wenngleich mit allen Mitteln, nur das 11 So ähnlich hat es auch Kolumbus gesehen. In einem unmittelbar nach seiner Rückkehr geschriebenen, auf den 14. März 1493 datierten Brief heißt es: „Dreiunddreißig Tage nachdem ich von Cádiz ausgelaufen war, erreichte ich das Indische Meer und fand dort mehrere Inseln, auf denen unzählige Menschen leben. Von allen diesen Inseln habe ich im Namen unseres durchlauchtigsten Königs nach feierlicher Verlautbarung und dem Hissen der Fahne Besitz ergriffen, ohne daß mir irgendjemand widersprochen hätte.“ Christoph Kolumbus, Der erste Brief aus den Neuen Welt: 13. (Wir danken Niko Strobach für den Hinweis auf dieses Zitat, sowie für seine kritische Durchsicht einer früheren Fassung des hier vorliegenden Textes – K.B. und Th.G.). 12 In diesem Abschnitt werden Zitate aus der „Theorie des Partisanen“ durch Angabe der Seitenzahlen im Text nachgewiesen. Siehe Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. Berlin 1963.

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eigene Territorium gegen die landnehmenden und normsetzenden Eindringlinge. Schmitt spricht deshalb von der „defensive[n], tellurische[n] Kraft der […] Selbstverteidigung“ gegen einen fremden Eroberer (59) und vom engen Zusammenhang zwischen Partisanentum und antikolonialistischem Krieg (27). Es geht um Widerstand gegen die Inbesitznahme des Bodens. Daß die Indianer schon in Red River Urbild des autochthon-tellurischen Partisanen sind, zeigen schon der – für die weitere Erzählung des Films allerdings eigenartig folgenlose – Überfall der Indianer auf den Treck, den nahezu kein Mitglied der Siedlerfamilien überlebt, und ihr Angriff auf Dunson und Groot am texanischen Grenzfluß. Noch deutlicher wird die Dialektik von Landnahme und Widerstand, Widerstand und Rache in dem 17 Jahre später, im Texas des Jahres 1868 einsetzenden Film The Searchers von John Ford (1956), in dem die das Gesicht Thomas Dunsons (John Waynes) tragende Hauptfigur, Ethan Edwards, zu einem siebenjährigen Rachefeldzug gegen einen Stamm von Comanche aufbricht, die eine texanische Siedlerfamilie getötet und ihre Tochter, die Nichte Ethans, entführt haben. Die asymmetrische Kriegsführung des autochthonen Widerstands gegen die Landnahme in Nordamerika von Anfang des 17. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts13 war, wie wir wissen, historisch nicht erfolgreich. Sie endete in der Unterjochung, Vertreibung oder Ausrottung des größten Teils der indianischen Urbevölkerung Nordamerikas. Schmerzhaft für die Einwanderer war sie jedoch, blickt man beispielsweise auf die guerrilla-style warfare-Überfälle der Apache unter Cochise auf Mexikaner und Amerikaner, bei denen allein zwischen 1820 und 1835 über 5.000 Soldaten und Siedler starben und 100 Siedlungen zerstört wurden. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen texanischen Siedlern und Comanche, von denen sowohl Red River als auch The Searchers erzählen, entwickelten sich zum wahrscheinlich „langwierigsten Konflikt, der je auf amerikanischem Boden stattfand, einer vierzig Jahre währenden Blutfehde zwischen zwei fremden Zivilisationen“.14 Daß Filme wie Red River und The Searchers – anders als etwa Delmer Daves’ Broken Arrow aus dem Jahr 1950 – die Gegner der weißen Siedler nicht als gute Menschen und edle Wilde zeigen, sondern als Ureinwohner eines besetzten Landes, die sich der Landnahme und ihrer eigenen Auslöschung mit Gewalt und

13 Vgl. nur Spencer C. Tucker, The Encyclopedia of North American Indian Wars, 1607 – 1890: A Political, Social, and Military History. Santa Barbara: ABC-CLIO 2012: xxv: „The Native Americans introduced the Europeans to a new type of warfare – the so-called skulking way of war – that emphasized stealth, the bow and arrow, the tomahawk and knife at close quarters, and hit-and-run raids“. 14 Glenn Frankel, The Searchers. The Making of an American Legend. London 2013: 103 (eBook). Und weiter: „Indians and settlers were intimate enemies. When they waged war against each other, they killed with rifles, pistols, tomahawks, and bows and arrows – at close range, often while looking into the faces of their victims. There were no boundaries or rules and no noncombatants. It was truly a war of populations: destroying a man’s family was as important as killing the man himself. Part of any victory was to inflict the maximum amount of suffering and humiliation on the other side“.

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Grausamkeit15 und nicht selten in „wirklicher Feindschaft“ (Schmitt) zur Wehr setzen16, ist nicht weit von der Wirklichkeit entfernt. Auch das Bild des Indianers als Vergewaltiger, Schlächter und Entführer tugendhafter, angelsächsischer Siedlerfrauen und -mädchen ist keine reine Imagination, wenn man zeitgenössische Berichte liest wie etwa die den Film The Searchers inspirierende Geschichte der 1836 im Alter von neun Jahren von Comanchen entführten Cynthia Ann Parker, deren Familie vor ihren Augen abgeschlachtet worden war.17 The Searchers verhandelt nun den Moment, in dem der asymmetrische Widerstand der Indianer gegen jene große Landnahme, aus der die United States of America hervorgegangen sind, den Rassismus der Landnehmer zum Vorschein bringt. Der Film konfrontiert den Zuschauer „mit der Tatsache, daß der Ursprung der territorialen Vereinigten Staaten auf einem virulenten Rassismus und einem genozidalen Krieg gegen die Ureinwohner beruht“.18 In seinem Feldzug gegen die Indianer lässt Ethan Edwards nicht nur keine Gelegenheit aus, seinen Gegner rassistisch herabzusetzen, seine Kultur zu verachten, seine Toten zu schänden und seine Lebensgrundlagen zu zerstören, er beschließt in seinem Reinheitswahn schließlich auch, seine mittlerweile 16-jährige Nichte („She ain’t white“) lieber zu töten als sie zu retten und mit dem Gedanken einer möglichen Rassenschande leben zu müssen.19 Daß die Landnahme bereits besiedelter Gebiete durch militärisch überlegene und sich kulturell für höherwertig haltende Invasoren in der Dialektik von Eroberung und Widerstand in Säuberungskriegen endet, die von einem eliminatorischen Rassismus getragen werden, ist die Geschichte, die, in der Zusammenschau, nicht nur von Red River und The Searchers erzählt wird, sondern auch von Carl Schmitt.20 Ethan Ed15

„Still, by the mid-eighteenth century the Comanches had become the most relentless and feared war machine in the Southwest. They butchered their prisoners – torturing, amputating, eviscerating, mutilating, decapitating, and scalping – for entertainment, for prestige as warriors, and for the belief that to destroy the body of an enemy was to doom his soul to eternal limbo“ (so Frankel [Fn. 14], 113 f. [eBook]). 16 Pippin (Fn. 1), 105. 17 Hierzu Frankel (Fn. 14), ch. I. 18 Pippin (Fn. 1), 104. 19 Vgl. Arthur M. Eckstein, Incest and Miscegenation in The Searchers (1956) and The Unforgiven (1959), in: Arthur M. Eckstein and Peter Lehman (Hrsg.), The Searchers. Essays and Reflections on John Ford’s Classic Western. Detroit 2004, 197 – 221. Siehe zur Rechtsgeschichte der amerikanischen Obsession mit ,gemischtrassigem‘ Sex und ,gemischtrassigen‘ Ehen post Ethan Edwards: Peggy Pascoe, What Comes Naturally: Miscegenation Law and the Making of Race in America. New York 2009; zu John Fords Haltung Arthur M. Eckstein, Darkening Ethan: John Ford’s „The Searchers“ (1956) from Novel to Screenplay to Screen. Cinema Journal 38/1 (1998), 3 – 24. 20 Es gibt hier verschlungene Subtexte. Es sind nach Schmitt ja nicht zuletzt die Deutschen die wahren Partisanen, die sich in einer Tradition, die von Arminius’ Vietkong-Taktik im Teutoburger Wald bis zum preußischen Edikt über den Landsturm vom 21. April 1813 (47) reicht, gegen die landnehmende und rechtssetzende römische und romanische Zivilisation gewehrt haben. Der Schmittsche Partisanenbegriff zeigt so eine Wahlverwandtschaft, ja

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wards, das alter ego Thomas Dunsons, steht – auch wenn er am Ende des Films, nach vielen toten Frauen, Kindern und Männern der Comanche, die verlorene Nichte schließlich doch in die Arme nimmt, statt ihr „eine Kugel ins Hirn zu jagen“ – für jene Ausmerzungspolitik, die in dem (von Schmitt als vorbildhaft bezeichneten) Partisanenbegriff der deutschen Wehrmacht so deutlich wird: Harte Terrormaßnahmen gegen einen nicht nur waffentechnisch, sondern angeblich auch zivilisatorisch und rassisch unterlegenen Feind, der ebendiese Unterlegenheit durch regellose, also heimtückische, Kriegsführung zu kompensieren sucht. Hierbei dient die These Schmitts, daß sich der Kampf gegen den Partisanen genauso wenig durch Normen zähmen lasse wie dessen eigenes Handeln (38 – 43), dem Mythos von der ,sauberen‘ deutschen Wehrmacht21 und einem recht durchsichtigen Schönfärben der systematischen Ermordung zahlloser, von der Wehrmacht kurzerhand als Partisanen bezeichneter Zivilisten in den Bloodlands Osteuropas.22 1858 ist nicht 1940, doch hätte Ethan Edwards der Schmittschen These, daß sich die Vernichtung des rassisch unterschiedenen Feinds nicht durch moralische oder rechtliche Normen bremsen lasse und lassen dürfe, sicher zugestimmt: „Er [der Feind] ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist, so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines ,unbeteiligten‘ und daher ,unparteiischen‘ Dritten entschieden werden können. Die Möglichkeit richtigen Erkennens und Verstehens und damit auch die Befugnis mitzusprechen und zu urteilen ist hier nämlich nur durch das existenzielle Teilhaben und Teilnehmen gegeben. Den extremen Konfliktsfall können nur die Beteiligten selbst unter sich ausmachen; namentlich kann jeder von ihnen nur selbst entscheiden, ob das Anderssein des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktsfalle die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft wird, um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu bewahren.“23 Der Kampf gegen die Indianer, die sich gegen die Landnahme und die „eigene, seinsmäßige Art von Leben“ der Siedler wehren, kann auch für Ethan Edwards keine Regeln kennen. So wie das bloße Faktum einer erfolgreichen Landnahme für Thomas Dunson die Frage nach ihrer normativen Rechtfertigung verdrängt, ist Ethan Edwards davon überzeugt, daß schon der Umstand, daß er seinen Konflikt mit den ethnisch und kulturell fremden, sich asymmeBlutsbrüderschaft zwischen Indianern und Deutschen. Das ist der heimliche Karl May in Carl Schmitt. 21 Reinhard Mehring, Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk – Wirkung – Aktualität, Freiburg/München 2017: 388. 22 Vgl. Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. München 2011, und Hannes Heer, Die Logik des Vernichtungskrieges – Wehrmacht und Partisanenkampf, in: Hannes Heer/Klaus Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944. Hamburg: Hamburger Edition, 2. Auflage 1995, 104 – 131. 23 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Collarien. 3. Aufl. der Ausg. von 1963. Berlin 1991: 27.

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trisch zur Wehr setzenden Verlierern der Landnahme als existentiellen erlebt, alle Fragen nach der Legitimität seines Handelns erledigt. Beide sind sie gute Schmittianer. Trifft der landnehmende Nomos auf Widerstand, so wird der Partisan zum Feind im Sinne Schmitts, zu dessen Wesen es gehört, „daß er in einem besonders intensiven Sinne existentiell etwas anderes und Fremdes ist“.24 Wir sehen hier den idealtypischen Rassismus kolonialer Landnehmer, der sich der Idee eines bürgerlichen Zustandes mit dem Anderen verweigert.

V. Die Maßgaben des Rindermarktes, der Eisenbahn und der Frau Die von uns bisher besprochenen Episoden des Films Red River bilden seinen Beginn und beanspruchen knapp 20 Minuten von insgesamt mehr als zwei Stunden Gesamtdauer. Was folgt, lässt sich so zusammenfassen: Innerhalb der folgenden 14 Jahre ist aus Dunsons Ranch ein gewaltiges Imperium geworden. Matt, inzwischen erwachsen, kommt aus dem Bürgerkrieg auf die Ranch zurück und findet eine Krisensituation vor. Das Problem ist jetzt nicht mehr die Nahme des Landes, sondern der Zusammenbruch des Viehmarktes nach dem Bürgerkrieg: Dunson kann seine vielen Rinder nicht mehr in Texas verkaufen und beschließt daher, sie nach Missouri zu treiben. Während dieses langen (1.000 Meilen) und gefährlichen Trails kommt es zu heftigen Konflikten zwischen den immer erschöpfter und unwilliger werdenden Cowboys und einem immer misstrauischer und despotischer werdenden Dunson. Als die Nachricht eintrifft, daß eine neue Eisenbahnlinie nach Abilene gebaut ist, eröffnet sich die Möglichkeit, von der ursprünglich geplanten Route abzuweichen und den Weg abzukürzen. Matt rebelliert gemeinsam mit den Cowboys gegen Dunson, der an der geplanten Route festhalten will, und übernimmt das Kommando und die Herde. Dunson bleibt verletzt zurück, heuert dann Männer an, um die Herde zurückzuerobern. Nachdem Matt die Herde mit großem Gewinn in Abilene verkauft hat, trifft Dunson wütend ein; es kommt zu einem Kampf mit Matt, den dessen Freundin dann allerdings beendet; den Kampfhähnen bleibt nur noch die Möglichkeit der Versöhnung. Da diese Haupthandlung des Films oft interpretiert worden ist, können wir uns mit einigen wenigen Bemerkungen begnügen. Es geht in ihr um ein Thema, an dem sich viele Western-Filme abarbeiten: Um den Übergang von dem ursprünglichen, vorzivilisatorischen Zustand der frontier in einen geordneten ,bürgerlichen Zustand‘, vom Recht des Stärkeren zur Herrschaft des Gesetzes.25 In Red River spiegelt sich dieser Übergang darin, daß sich die Haupthandlung des Films gänzlich in der Wildnis unter 24

Schmitt (Fn. 23), Der Begriff des Politischen: 27. Vgl. dazu: Kurt Bayertz, Zur Ästhetik des Western, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 2003, S. 69 – 82. 25

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Kurt Bayertz und Thomas Gutmann

freiem Himmel abspielt, daß sie aber in einer Stadt mit Eisenbahnanschluß endet.26 Ein Aspekt dieses Übergangs besteht darin, daß bestimmte Tugenden, Charaktere, Einstellungen und Lebensweisen durch ihn obsolet werden. Dunson verkörpert genau diese Eigenschaften. Unter den zu Beginn des Films geschilderten Umständen haben sich sein Charakter und seine Einstellung praktisch bewährt: er hat allen Gefahren getrotzt und ein gigantisches Rinderimperium aufgebaut. Nun haben sich die Umstände geändert: Nicht mehr die Indianer und die Pistoleros des Don Diego bedrohen die Existenz Dunsons, sondern die ökonomischen Verwerfungen des Rindermarktes. Damit werden die Tugenden, die zuvor seinen Erfolg begründet haben, dysfunktional. Durch sein despotisches Verhalten während des Trails gerät er ins moralische Abseits und gefährdet zugleich sein gesamtes Aufbauwerk. Er ist unfähig einzusehen, daß neue Bedingungen neue Verhaltensweisen erfordern. In seinem Fall sind das neue Methoden der (politischen) Führung; an die Stelle seines autokratischen und rücksichtslosen Führungsstils müßte ein ,moderner‘, konsensbasierter und rücksichtsvoller Führungsstil treten, um den post-frontier Bedingungen gerecht zu werden.27 Im Film ist es Matt, der dies einsieht und den neuen Stil politischer Führung verkörpert. Der Konflikt zwischen ihm und Dunson ist daher nicht bloß ein Generationenkonflikt; er ergibt sich auch nicht bloß aus divergierenden Charakteren: Er steht für den Übergang in ein neues Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung, in der nicht mehr gewaltsame Eroberungen im Vordergrund stehen, sondern ökonomische Schwierigkeiten zu überwinden sind. Kant thematisiert diese politisch-psychologische Dimension der gesellschaftlichen Entwicklung nicht; aber er betont die Differenz zwischen dem ursprünglichen und dem bürgerlichen Zustand, aus der sich die Notwendigkeit eines Wandels auch der Einstellungen und Charaktere ergibt. Für Kant ist die Notwendigkeit des Übergangs vom Naturzustand zur bürgerlichen Gesellschaft im Akt der ersten, einseitigen Inbesitznahme bereits angelegt und implizit anerkannt. Denn indem ich erkläre, daß ich etwas als mein Eigentum beanspruche (und damit allen anderen die Pflicht auferlege, sich seines Gebrauchs zu enthalten), bekenne ich nach Kant eo ipso, „jedem Anderen in Ansehung des äußeren Seinen wechselseitig zu einer gleichmäßigen Enthaltung verbunden zu sein; denn die Verbindlichkeit geht hier aus einer allgemeinen 26 Auf die eindrucksvollen Naturschilderungen des Films konnten wir in dem hier vorliegenden Text nicht eingehen. Sie sind nicht nur filmästhetisch bedeutsam, sondern haben auch eine symbolische Funktion: Nach Mast hat Hawks ihnen nicht ohne Bedacht große Aufmerksamkeit geschenkt. Der von Texas nach Abilene, Kansas führende Chisholm Trail, den Dunsons Herde im Hauptteil des Films bewältigt, führt durch einen weiten und leeren Naturraum, der für die historisch anstehende Landnahme gleichsam bereit liegt. „That trail represents the crossing of a vast space, in effect the conquest of the nation’s vast spaces themselves. Hawks mentioned that the reason for the film’s vast visual spaces is that its historical subject is the conquest of those spaces“ (Mast [Fn. 1], 332). 27 Vgl. Mast (Fn. 1), 333, sowie ausführlich Pippin (Fn. 1), 40 ff. Daß der Film „etwas unmotiviert, aber geschichtlich passend, mit dem Erscheinen der Frau am Beginn ihrer Emanzipation“ endet (Enno Patalas, Red River., Filmkritik 3/1965: 133), ist da nur folgerichtig.

Th. Dunson und E. Edwards im Lichte von I. Kant und C. Schmitt

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Regel des äußeren rechtlichen Verhältnisses hervor.“ (§ 8) Kurz: Mit der einseitigen Inbesitznahme des Bodens (sowie anderer Gegenstände) wird der Übergang zu einer bürgerlichen Gesellschaft als eine Notwendigkeit anerkannt. Bei Dunson ist davon nichts zu sehen. So wie für Schmitt jede Rechtsordnung in einer Landnahme „wurzelt“ und damit zugleich auch die bloße Verlängerung und Ausdifferenzierung der mit ihr gesetzten Verhältnisse sein kann, so vermag sich Dunson den zivilisatorisch-bürgerlichen Zustand nur als eine Verlängerung der frontier vorstellen. Er ist Schmittianer – bis er durch den Fortgang der Geschichte eines anderen belehrt wird. Gegen den Rindermarkt, die Eisenbahn und die Frau kommt er mit seinem Colt nicht an.

Politische Verbrechen und europäische Kultur – Joseph Conrads „Heart of Darkness“ und die Gegenwelten der Gerechtigkeit Von Matthias Mahlmann

I. Das „Böse“ – ein metaphysischer Witz? Eine rechtsphilosophisch nicht unbedeutende Frage lautet: Was ist eigentlich das Gegenteil von moralisch gutem und gerechtem Handeln und dem Wollen, das ihm unterliegt? Darauf soll das Recht ja Antworten geben und verhindern, dass die Gegenwelt der Gerechtigkeit das menschliche Leben beherrscht. In der Vergangenheit wies diese Frage direkt auf das Problem des Ursprungs und des eigentlichen Gehalts des Bösen. Dieses hat in religiösen Zusammenhängen einen festen und einigermaßen wohldefinierten Ort – so sehr wie die Theorie des Guten und Gerechten, deren Kehrseite es ist. Das Böse ist in solchem religiösen Rahmen zumindest in bestimmten Teilen genau bestimmt, beispielsweise aufgegangen in einem Sündenregister, das von Gott festgelegt worden ist. Ein entscheidendes Element ist im christlichen Rahmen die Auflehnung gegen Gott, der Sündenfall, eine Tat, die mit der Verbannung aus dem Paradies eine strenge Strafe für den menschlich ja nicht sehr überraschenden Wunsch, zu verstehen, nach sich zog. Das Böse als Begriff und Idee ist ein wenig anrüchig geworden. Es mag eine vor Spannung den Puls angenehm hochtreibende Rolle spielen, wenn es um charmante Geschichten über im Kampf mit dunklen Kräften erwachsen werdende Zaubererjungen mit Brille geht, die davon schon früh eine ehrenvolle Narbe auf der Stirn davongetragen haben. Manche mögen es auch goutieren, wenn schwülstiger FantasyKitsch über den Bildschirm flimmert, in dem die Einhörner wiehern, auf Scheiterhaufen die Unschuldigen pittoresk braten und die gezähmten Drachen über dunklen Festen ihre Loopings machen, während die Soldaten der Armeen der guten Königin mit falschen blonden Zöpfen in kernig knarrenden ledernen Wamsen und kriegerisch scheppernden Rüstungen mit der kämpferischen Miene schlecht bezahlter Komparsen zum Kampf gegen das Böse ziehen. In anderen Zusammenhängen aber scheint die Zeit dieser Idee lange abgelaufen zu sein. Der Begriff erregt den Verdacht einer Substantiierung, die mit pompösem Klang ihre Gehaltlosigkeit ohne Erfolg kaschiert. Mit Wagner-Akkorden tritt eine Worthülse auf, die längst schon hohl klingt. Moralisierung, nicht kritisch überprüfte

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Moral und Ethik, hat ihren Auftritt. Denn das angeblich Böse hat sich zu häufig als etwas erwiesen, das nicht unter Rückgriff auf moralisch verpflichtende Prinzipien, die nüchterner Reflexion standhalten, identifiziert wird, sondern aus vorurteilsgeladenen Setzungen geboren wird, die mit dem Mantel und hohen Ton des Verpflichtenden auf einer Bühne zu spielen versuchen, für die sie ungeeignet sind. Veraltet wirkt der Begriff auch, weil er als ein Kind von Zeitaltern erscheint, die alles Schlechte in der Brust der Individuen wachsen sahen und nichts begriffen hatten von der gesellschaftlichen Wurzel der Verletzung der Rechte von Menschen, der Ungerechtigkeiten und der kleinen und großen politischen Verbrechen. Der Begriff riecht verdächtig nach falscher Subjektivierung, nach Äugen in die Menschenbrust in der Illusion hier und nicht im „stahlharten Gehäuse“1, das durch Sozialstrukturen gebildet wird, seien die Wurzel der Übel, die menschliche Gesellschaften plagen, aufzuspüren. Spätestens mit der Gesellschaftstheorie des 19. Jahrhunderts und der Herausarbeitung der Bedeutung von sozialen Strukturen, die in klassischen Theorien von Individuen sogar unabhängig sind, ist derartiges bei vielen verpönt. Auf der anderen Seite hat das Phänomen, um das es geht, in der Zeit seiner theoretischen Verabschiedung unübersehbar sein Haupt erhoben. Es sind nicht die einzigen Monstrositäten des letzten Jahrhunderts, aber der Holocaust, wie auf andere Art die Massenmorde des Stalinismus, haben sehr deutlich gemacht, warum sich hier ein Problem nicht leicht abschütteln lässt. Diese historischen Ereignisse haben viele Gründe, die in gesellschaftlichen Strukturen ebenso liegen wie in konkreten historischen Entwicklungen. Der Antisemitismus fiel nicht vom Himmel, er wuchs und gor über viele Jahrhunderte hinweg. Er musste aber in die Form von Rassismus transformiert werden, der für Millionen Menschen zur tödlichen Falle wurde. Und in diesem Zusammenhang wird man um eine Analyse auch der subjektiven Haltungen und damit der Frage nach der Verantwortung von Menschen für ihre Taten nicht herumkommen. Es wäre eine unerträgliche Weißwäscherei der Geschichte, wenn die vielen Täter und Täterinnen, aber auch andere Beteiligte von dieser Verantwortung entlastet würden. Nicht Systeme und Strukturen haben in Babi Jar die Läufe auf die Menschen vor den Massengräbern gerichtet, die Befehle gegeben, die Truppen versammelten, die tausend Handlungen vollzogen, die nötig waren, um die Schüsse denkbar, praktisch möglich und schließlich wirklich werden zu lassen, sondern Subjekte, die so, aber auch anders handeln konnten.2 1 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Wolfgang Schluchter (Hrsg.), Max Weber Gesamtausgabe I/18, 2016, S. 486 f. 2 Diese Feststellung ist für verschiedene Analysen des Holocausts wichtig. Vgl. z. B. Hannah Arendts Einschätzung zur Lage der Juden in Deutschland nach 1933: „[I]hre fast vollkommene Isolierung von der übrigen Bevölkerung war eine Angelegenheit von Wochen, noch nicht einmal von Monaten gewesen – eine Folge des Terrors, aber auch der außergewöhnlichen Bereitschaft ihrer Mitbürger, sie im Stich zu lassen.“ Diese „außergewöhnliche Bereitschaft ihrer Mitbürger, sie im Stich zu lassen“ ist eine sehr wichtige Kategorie für die Analyse der Möglichkeit des Holocausts. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, 2006, S. 114.

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Und damit lässt sich das Problem, um das es geht, ohne den Ballast falscher Metaphysik und banaler Moralisierung, einigermaßen genau fassen: Was hat es mit der Fähigkeit und Bereitschaft von Menschen auf sich, jede Art von Unheil anderen Menschen anzutun? Das ist die nüchterne Frage, die vom Problem des Bösen dauerhaft bleibt. Das 20. Jahrhundert hat dabei Anschauungsunterricht geliefert, wie radikal die Verachtung moralischer Grundprinzipien die menschliche Lebenswelt verändert. Konzentrationslager und was in ihnen mit Menschen als Opfer, als Täter geschieht, sind keine welthistorische Kleinigkeit. Das Ganze führt in Bereiche der menschlichen Psyche, die wissenschaftlicher Analyse nicht leicht zugänglich sind. Man muss nach Schlüsseln, Hinweisen, Wegen in dieses tiefe Dunkle suchen, auch solchen, die vielleicht nicht sofort ins Auge fallen, weil sie überwuchert sind von dichtem ideologischem Gestrüpp. Die historischen Zeugnisse sind offensichtlich zentral, gerade auch zur Tätergeschichte, aber auch die Versuche, die sozialpsychologischen Entwicklungen, die den Ereignissen zugrunde liegen, fassbar zu machen. Diese sind aber so schwer zu begreifen, dass man nach weiteren Erkenntnismöglichkeiten suchen wird. Eine solche Möglichkeit besteht darin, die ästhetische Repräsentation im Kunstwerk als Heuristik zu benutzen. Die Kunst kann auch in Bezug auf das Verständnis des Ursprungs und Kerns des Schrecklichen mit dem die Täter und Mitläufer das Bild dessen, was Menschsein heißt, für immer verändert haben, einen Schlüssel der Erkenntnis bieten. Ein klassischer Text soll hier deswegen mit kritischem Blick befragt werden: Heart of Darkness von Joseph Conrad. Der Text ist zu einem Meilenstein der literarischen Moderne geworden, weil er nach den Wurzeln der großen Übel sucht, die die europäische Kultur hervorgebracht hat. Auch das zeigt – das Thema, um das es geht; die radikale Negation von menschlichen Prinzipien des guten Handelns und der Gerechtigkeit ist kein Nebenschauplatz des Nachdenkens, sondern ein Phänomen, das die Epoche definiert, in der wir immer noch leben. Die Geschichte hat auch nach dem Ende von Nationalsozialismus und Stalinismus genug Bestätigungen dafür geliefert, dass diese Epoche auf eine sehr beunruhigende Weise fortdauert – von Großkatastrophen wie dem Genozid in Ruanda bis hin zu der kleineren, schäbigen Münze der Wahlerfolge von Rechtsradikalen, die sie sogar, nach allem was geschehen ist, auch in der Gegenwart wieder in Regierungsämter nicht nur in Europa gespült haben. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist eine Schädelstätte. Das 21. Jahrhundert kann es sicher noch werden. Diese Feststellung wirft die zweite Frage auf, um die es hier gehen soll: Was kann man tun, dass es nicht geschieht?

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II. Die verschiedenen Reisen des Charlie Marlow 1. Fallen für Leserinnen und Leser In Heart of Darkness lässt Joseph Conrad den auch aus anderen Werken vertrauten Kapitän Charlie Marlow, der einmal mit einer Götzenfigur,3 einmal mit einem Buddha4 verglichen wird, und der – anders als andere Seemänner, die eigentlich sesshaft seien – ein Wanderer sei,5 über seine Reise den Kongo hinauf zu einer entlegenen Handelsstation in rauem, trocken sarkastischem Ton berichten. Seine Zuhörer sind ein Kreis von Freunden, die bis auf einen alle einmal zur See gefahren sind. Zusammen haben sie auf einer Jolle eine Ausfahrt gemacht und sich in der Themsemündung vor Anker gelegt, um den Tidenwechsel abzuwarten. Es ist Abend geworden und eine merkwürdige Stimmung liegt über der Hauptstadt eines Weltreichs: „The air was dark above Gravesend, and farther back still seemed condensed into a mournful gloom, brooding motionless over the biggest, and the greatest, town on earth.“6 Einer der Zuhörer berichtet von diesem Abend und den Erinnerungen, die Marlow mit seinen Freunden teilt, während diese trauernde Düsternis über der Stadt London liegt. Der Erzähler wird von dem Anblick der ins Meer mündenden Themse mitgezogen, seine Gedanken wandern in die Vergangenheit und beschreiben, wie die Entdecker und Eroberer von hier aus in die Welt aufgebrochen seien, fahrende Ritter der See: „Hunters for gold or pursuers of fame, they all had gone out on that stream, bearing the sword, and often the torch, messengers of the might within the land, bearers of a spark from the sacred fire. What greatness had not floated on the ebb of that river into the mystery of an unknown earth! […] The dreams of men, the seed of commonwealths, the germs of empires.“7 Marlow beginnt seinen Bericht in einer anderen Tonlage: Er durchbricht das Schweigen mit der nüchternen Feststellung: „And this also has been one of the dark places of the earth.“8 Eine beruhigende zeitliche Distanz bestehe nicht: „Darkness was here yesterday.“9 Die beschriebene Düsternis über London hat für diese Bemerkung bereits den Boden bereitet und sogleich zu Beginn der Erzählung deutlich gemacht, dass die berichteten Ereignisse auf eine im Mehrdeutigen verglimmende Art symbolisch aufgeladen sind.10 Aber auch in die Gedanken des Erzählers sind schon Fallstricke einge3

Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 18. Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 20. 5 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 18. 6 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 15. 7 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 17. 8 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 18. 9 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 19. 10 „Conradian narrative demands, then, the close attention usually reserved for poetry“, Allan H. Simmons, Reading Heart of Darkness, in: John H. Stape (Hrsg.), The New Cambridge Companion to Joseph Conrad, 2015, S. 20. 4

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zogen: Die fahrenden Ritter der See umfassen etwa Sir Francis Drake, der nicht erst in der Gegenwart nicht nur mit der ersten Weltumsegelung, sondern auch mit Plünderung in Verbindung gebracht wird, und Sir John Franklin, dessen Expedition mit dem Ziel, die Nord-West-Passage zu finden, scheiterte und schon zeitgenössischen Berichten zu Folge zu Kannibalismus der Überlebenden führte11 – eine Andeutung, die man in Erinnerung haben sollte, wenn in der Erzählung auch in Afrika Kannibalen auftauchen – „fine fellows“ übrigens. Die Erwähnung der Schiffe Franklins, die nach dem griechischen Gott der Finsternis benannte Erebus und die Terror, lassen die langsam entstehende Atmosphäre der Bedrohung, des Schrecklichen, das sich wie ein Strudel immer schneller dreht und alles in seinen Schlund zieht, dichter und dichter werden. Marlow erinnert an die barbarische Vergangenheit der Insel, bedauert die zivilisierten römischen Besatzer, gewöhnt an guten Wein, und stellt sich vor, wie es für sie gewesen sein könnte in dieser Zeit die Themse hochzufahren, durch dieses unheimliche, dunkle, unzivilisierte, von Wilden bewohnte Land mit einem schrecklichen Klima. Mit diesen Bemerkungen wird begonnen, den Europäern auf eine wirkungsvoll hinterlistige Art einen Spiegel vorzuhalten. Die Eroberung, die Kolonisation, so fasst Marlow seine Beobachtungen zusammen, sei aus der Nähe gesehen keine besonders attraktive Angelegenheit; es handle sich um nackte Gier, Raublust, die sich auslebe aufgrund von zufälliger Überlegenheit der Gewaltmittel: „The conquest of earth, which mostly means the taking it away from those who have a different complexion or slightly flatter noses than ourselves, is not a pretty thing when you look into it too much“.12 Was Kolonialismus rette, sei Effizienz, die Idee, die dieser zugrunde liege; eine Idee, die das Unternehmen veredle, „not a sentimental pretence but an idea; and an unselfish belief in the idea – something you can set up, and bow down before, and offer a sacrifice to […].“13 Als Marlow diese Aussage macht, stockt er und verstummt. Dieses Stocken ist ein entscheidender Moment, denn es markiert den Beginn der zweiten Reise, die Marlow unternimmt. Die erste hat ihn den Kongo hochgeführt und dabei seine Vorstellung von dem, was europäische Kultur und Menschsein heißt, auf eine neue, einigermaßen unerträgliche Grundlage gestellt. Aber auch das Erzählen, das jetzt einsetzt, lässt ihn nicht unverändert zurück. In ihm verwandelt sich das Verständnis der Ereignisse erneut: Marlow beginnt mit einer Haltung, die mit der Apologie des Kolonialismus in England noch nicht gebrochen hat. Sobald er ihre Kernthese aber ausspricht und in ihm die Erinnerung an das aufflammt, was er gesehen hat und ihm bewusst wird, was Effizienz tatsächlich im kolonialen Alltag bedeutet, wer vor welchem Götzen nieder11 Vgl. Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, note 12, S. 127. Conrad spielt vermutlich darauf an, wenn er über die Franklin-Expedition schreibt: „The end of the darkest drama perhaps played behind the curtain of Arctic mystery“, Joseph Conrad, Geography and Some Explorers, in: Harold Ray Stevens/J. H. Stape (Hrsg.), Last Essays, The Cambridge Edition of the Works of Joseph Conrad, 2010, S. 10. 12 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 20. 13 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 20.

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kniet und welche Opfer ihm dabei gebracht werden, hält er inne und in diesem Moment fällt dieses Kartenhaus des Selbstbetrugs zusammen und die eigentliche Reise ins Herz der Dunkelheit beginnt. Die politische Tendenz von Conrads Werk ist nicht einfach zu bestimmen.14 Ein Grundthema ist die Verteidigung des Wertes von persönlicher Freiheit und die Kritik von Despotie und ihrer zerstörerischen Wirkungen, bis in die persönlichsten Verhältnisse hinein.15 Er schildert das korrumpierende Regiment von „material values“, selbst für hochstehende politische Ziele strategisch eingesetzt,16 unterstreicht die Bedeutung eines Ethos von hingebungsvoller Arbeit als Weg, sich selbst als Mensch treu zu bleiben,17 von Pflichterfüllung, Solidarität und Respekt vor Rechten von Menschen ohne Sentimentalität,18 den Egoismus, die tragischen Folgen, aber auch noblen Züge eines romantisierenden Selbstentwurfs19 oder die Selbstzerstörung terroristischer Bewegungen durch Gewalt.20 Viele Aspekte dieser Werke hat die Realität der Gegenwartsepoche als flackernde Vorgriffe auf das Kommende beglaubigt. Alles dies ist unterlegt mit tiefer Skepsis, dass mit der menschlichen Natur viel Staat zu machen ist. Conrad schreibt an Bertrand Russell: Der Mensch könne fliegen, was ganz nett sei. Er fliege aber nicht wie ein Adler, sondern wie ein Käfer: „And you must have noticed how ugly, ridiculous and fatuous is the flight of a beetle.“21 Die ästhetische Idee wird aus der tief bewegten Anschauung der ohne ethisches Ziel entstandenen Welt gewonnen, einer Welt „purely spectacular: a spectacle for awe, love, adoration or hate, if you like, but in this view, and in this view alone – 14 Vgl. z. B. Brief an R. B. Cunninghame Graham, in: Frederick R. Karl/Laurence Davies (Hrsg.), The Collected Letters of Joseph Conrad, Vol. 2 1898 – 1902, 1986, S. 157 ff., mit Skepsis gegenüber der Demokratie und politischem Fortschrittsglauben. Seine Haltung zur Demokratie hat sich wohl verändert, vgl. Zdzislaw Najder, Joseph Conrad. A Life, 2007, S. 242 ff., 255 ff., 549, etwa zu seiner Befriedigung über den Sieg der Labour Party nach dem ersten Weltkrieg. Die Kritik von Autokratien war durchweg unerbittlich. 15 Vgl. z. B. Joseph Conrad, Under Western Eyes, Penguin Classics Edition, 2007. Vgl. mit dieser Haltung die Äusserungen zur Demokratie im zitierten Brief, s. o. Fn. 14. 16 Vgl. Joseph Conrad, Nostromo, Penguin Classics Edition, 2007. 17 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 52. 18 Vgl. zu ihn begleitenden Kindheitserinnerungen Joseph Conrad, A Personal Record, in: Zdzislaw Najder/J. H. Stape (Hrsg.), A Personal Record, The Cambridge Edition of the Works of Joseph Conrad, 2008, S. 6: „An impartial view of humanity in all its degrees of splendour and misery together with a special regard for the rights of the unprivileged of this earth, not on any mystic grounds but on the grounds of simple fellowship and honourable reciprocity of services, was the dominant characteristic of the mental and moral atmosphere of the houses which sheltered my hazardous childhood: – matters of calm and deep conviction both lasting and consistent, and removed as far as possible from that humanitarianism that seems to be merely a matter of crazy nerves or a morbid conscience“. 19 Joseph Conrad, Lord Jim, Penguin Classics Edition, 2007. 20 Joseph Conrad, Under Western Eyes, Penguin Classics Edition, 2007; ders., The Secret Agent, Penguin Classics Edition, 2000. 21 Joseph Conrad, Brief an Bertrand Russell, 23. 10. 1922, in: Bertrand Russell, Autobiography, 2000, S. 396.

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never for despair!“22 Diesem Weltverhältnis entspricht ein Existenzentwurf, in dem die Aufmerksamkeit auf das in der Subjektivität der Menschen wiedergespiegelte Weltgeschehen, mit klarer Sicht, unverstellt durch das eigene Selbst, einen Lebenszweck bildet: „[T]he unwearied self-forgetful attention to every phase of the living universe reflected in our consciousness may be our appointed task on this earth.“23 Anteilnahme, die die Einzelnen vom Welterlebnis ergriffen werden lässt, eröffnet einen Lebenssinn. Das unaufgesetzte Bewusstsein menschlicher Gemeinschaft ist die Wurzel des ästhetischen Impulses: Denn warum sollte die manchmal nur noch schattenhafte Erinnerung an Menschen „demand to express itself in the shape of a novel, except on the ground of that mysterious fellowship which unites in a community of hopes and fears all the dwellers on this earth?“24 Der Übertritt in den ästhetischen Raum der Kunst setzt voraus, dass man die eigene Welt anderer Menschen in ihrer ganzen Wirklichkeit so nachdrücklich empfindet, dass diese Erfahrung die Erarbeitung eines Kunstwerkes tragen kann: „And what is a novel if not a conviction of our fellow men’s existence, strong enough to take upon itself a form of imagined life clearer than reality and whose accumulated verisimilitude of selected episodes puts to shame the pride of documentary history?“25 Der Effekt ist, wohl entgegen Conrads eigener Selbsteinschätzung, ein ethischer: Diese Entstehungsbedingungen von Kunst vertiefen durch die Arbeiten, die sie ermöglichen, die menschliche Gemeinschaft, die ihr Ursprung ist. In Conrads Werk finden sich viele Spuren der Vorurteile seiner Zeit. Es fehlt nicht an nationalistischen Tönen, wie schon sein früher Roman, The Nigger of the Narcissus, illustriert, in dem die Besonderheit seiner Wahlheimat Großbritannien hervorgehoben wird. Der Titel, aber auch die Beschreibung eines zentralen Charakters schlägt rassistische Töne an.26 Pauschale Urteile über Menschengruppen sind auch anderswo zu finden. Solche Passagen sollte man aber nicht mit andauernden rassistischen Ansichten des Autors gleichsetzen.27 Es gibt diverse Äußerungen, auch schon 22 Joseph Conrad, A Personal Record, in: Zdzislaw Najder/J. H. Stape (Hrsg.), A Personal Record, The Cambridge Edition of the Works of Joseph Conrad, 2008, S. 86 f. 23 Joseph Conrad, A Personal Record, in: Zdzislaw Najder/J. H. Stape (Hrsg.), A Personal Record, The Cambridge Edition of the Works of Joseph Conrad, 2008, S. 87. 24 Joseph Conrad, A Personal Record, in: Zdzislaw Najder/J. H. Stape (Hrsg.), A Personal Record, The Cambridge Edition of the Works of Joseph Conrad, 2008, S. 23 f. 25 Joseph Conrad, A Personal Record, in: Zdzislaw Najder/J. H. Stape (Hrsg.), A Personal Record, The Cambridge Edition of the Works of Joseph Conrad, 2008, S. 27 f. 26 Vgl. Joseph Conrad, The Nigger of the Narcissus, in: ders., The Secret Sharer and Other Stories, 2014, S. 17 wo Wait wie folgt beschrieben wird: „a face pathetic and brutal: the tragic, the mysterious, the repulsive mask of a nigger’s soul“. Allerdings wird der Tod von Wait mit großer Empathie dargestellt. 27 Ein anderes Beispiel sind Bemerkungen zu Frauen, die Conrads Werk durchziehen, die man ebenfalls nicht vorschnell auf eine Bedeutungsebene reduzieren sollte. Vgl. z. B. Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 28: „It is queer how out of

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zur Zeit des Verfassens des Niggers of the Narcissus, in denen sich Conrad gerade einer Kritik von Rassismus anschloss.28 Außerdem ist eine solche Einschätzung schwer mit den Bedeutungsebenen von Conrads Werk vereinbar, die sich unübersehbar entwickeln. Auch im Nigger of the Narcissus ist der moralisch zweifelhafteste Charakter Donkin, ein Weißer. In der ersten Verarbeitung von Conrads Erlebnissen im Kongo wird festgehalten: „We talk with indignation or enthusiasm; we talk about oppression, cruelty, crime, devotion, self-sacrifice, virtue, and we know nothing real beyond the words. Nobody knows what suffering or sacrifice mean – except, perhaps, the victims of the mysterious purpose of these illusions.“29 Conrad ist ein abgründiger Autor, der bewusst Leserfallen stellt.30 Dies gilt erst recht für Heart of Darkness. Man geht Conrad auf den Leim, wenn man Marlows zweifache Reise übersieht und solche Passagen wie die anfänglichen Rechtfertigungsversuche Marlows und spätere Anklänge an diese Ideen31 oder gar das Nachtouch with truth women are. They live in a world of their own, and there had never been anything like it, and never can be. It is too beautiful altogether, and if they were to set it up it would go to pieces before the first sunset.“ In Anbetracht der Tatsache, dass die Erzählung Marlows darauf hinausläuft, zu zeigen „how out of touch“ das Bild des Kolonialismus der europäischen Männer mit der Realität war, ist auch diese Passage durchaus doppelbödig. Maya Jasanoff, The Dawn Watch. Joseph Conrad in a Global World, 2017, S. 225, kommentiert solche Passagen: „It sounds in itself like a piece of unexamined sexism, but as with Marlow’s racist descriptions of Africans, Conrad embedded it in a story that subverted prejudices as much as it reinforced them“. Eine Anregung, bei der gendertheoretischen Analyse von Conrad nicht selbst in stereotype Gender-Kategorien zu verfallen, findet sich bei Debra Romanick Baldwin, Conrad and Gender, in: J. H. Stape (Hrsg.), The New Cambridge Companion to Joseph Conrad, 2015, S. 132 ff. 28 Vgl. den Brief an R. B. Cunninghame Graham, 15. 6. 1898, in: C. T. Watts (Hrsg.), Joseph Conrad’s Letters to R. B. Cunninghame Graham, 1969, S. 89, in dem er zu dessen Kritik am Rassismus im Artikel „Bloody Niggers“ in der Zeitschrift Social-Democrat gegenüber dem Autor (einem seiner engen Freunde) festhält: „very good, very telling“. 1903 schreibt er: „And the fact remains that in 1903, seventy five years or so after the abolition of the slave trade (because it was cruel) there exists in Africa a Congo state, created by the act of European Powers where ruthless systematic cruelty towards the blacks is the basis of administration, and bad faith towards all the other states the basis of commercial policy“, Joseph Conrad, Letter to R. Casement, 21. 12. 1903, in: Paul B. Armstrong (Hrsg.), Joseph Conrad, Heart of Darkness, 2006, S. 271. Vgl. auch wie Almayer das Opfer seiner eigenen rassistischen Vorurteile wird, Joseph Conrad, Almayer’s Folly, The Modern Library, 2002, oder die Haltung von MacWhirr gegenüber derartigen Einstellungen, Joseph Conrad, Typhoon, in: ders., Typhoon and other Stories, Penguin Classics, 2007. 29 Joseph Conrad, An Outpost of Progress, in: ders., The Secret Sharer and Other Stories, Penguin Classics Edition, 2007, S. 248. 30 Vgl. Brief an R. B. Cunninghame Graham, in: Frederick R. Karl/Laurence Davies (Hrsg.), The Collected Letters of Joseph Conrad, Vol. 2 1898 – 1902, 1986, S. 157 zu Heart of Darkness: „The idea is so wrapped up in secondary notions that You – even You! – may miss it.“. Vgl. auch die Analyse von Ian Watt, Conrad in the Nineteenth Century, 1980, S. 175 f. zu „delayed decoding“. 31 Marlow sieht in Brüssel eine Landkarte mit unterschiedlichen Farben – Englands Kolonien sind rot eingezeichnet und kommentiert: „Good to see at any time, because one knows

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denken des Erzählers über die Größe Großbritanniens und die Gründung seines Reiches für Conrads bare Münze hält. Teil seiner Technik des Romans ist die Bindung der Erzählung an eine historische Situation. Für den Romanschreiber gelte: „[T]he first virtue is the exact understanding of the limits traced by the reality of his time to the play of his invention.“32 Conrad schrieb für ein Publikum, dessen Ideologie tief durch Imperialismus und Rassismus geprägt war. Er löste die Aufgabe, wie man über Imperialismus und Rassismus zu Imperialisten und Rassisten spricht, indem sein Erzähler bei den Rechtfertigungsphrasen einsetzt, die die Leser selbst teilten, die aber seinen Erzähler Marlow stocken lassen und beim Erzählen allmählich zu Staub zerfallen – vermutlich nicht anders als Conrads eigene Vorstellungen von europäischer Zivilisation und der Natur der Menschen während seiner Reise im Kongo und insbesondere seiner eigenen zweiten beim Schreiben der Geschichte, die nach der Wahrheit dessen sucht, was er erlebt hat.33 Wenn auch andere wie Marlow bei rassistischen Phrasen stocken, nachdem sie die Geschichte gelesen haben, haben sie etwas von ihrer subversiven Kraft gespürt. Man kann durchaus gewarnt sein, denn der Erzähler hält fest, welche Besonderheit Marlows Geschichten hatten: „To him the meaning of an episode was not inside like a kernel but outside, enveloping the tale which brought it out only as a glow brings out a haze, in the likeness of one of these misty halos that sometimes are made visible by the spectral illumination of moonshine.“34 Dies gilt auch für die Geschichte, die Conrad einen der Zuhörer auf der Jolle von Marlows Bericht erzählen lässt: Bereits diese doppelt in ihren Perspektivnahmen gebrochene Erzählstruktur sollte davon abhalten, die Äußerungen, Gedanken oder Erlebnisse einzelner Personen für den Schlüssel zur tiefsten Bedeutungsschicht des Textes zu halten. Marlow stellt fest, dass schon seine Zuhörer mehr sehen als er selbst: „You see me, whom you know […].“35 Conrad stand mithin mit seinem Werk nicht über den Ideologien seiner Zeit. Er hat aber mit ihm allmählich, nicht in allen, aber sehr wichtigen Hinsichten, einige dieser ideologischen Schleier unerbittlich wie kaum ein anderer zerrissen. Die ethische Position, die dieser Radikalität die moralische Selbstverständlichkeit gibt, die ihr gebührt, entspringt der Achtung vor der Gleichheit der Menschen, vereint in Größe, Glück, Leid und tröstendem, zerstörerischen Wahn: „I am content to sympathize with common mortals, no matter where they live; in houses or in tents, in the streets that some real work is done in there“, Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 25. 32 Joseph Conrad, A Personal Record, in: Zdzislaw Najder/J. H. Stape (Hrsg.), A Personal Record, The Cambridge Edition of the Works of Joseph Conrad, 2008, S. 88 f. 33 Vgl. vermutlich zutreffend Zdzislaw Najder, Joseph Conrad. A Life, 2007, S. 163: „[H]e was aware of having been only a step from himself becoming one of the gang of plunderers. His frequently expressed mistrust of human nature had, I suspect, not only an intellectual but also a personal basis.“ 34 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 18. 35 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 50.

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under a fog, or in the forests behind the dark line of dismal mangroves that fringe the vast solitude of the sea. For, their land – like ours – lies under the inscrutable eyes of the Most High. Their hearts – like ours – must endure the load of the gifts of heaven: the curse of facts and the blessing of illusions, the bitterness of our wisdom and the deceptive consolation of our folly“.36 2. Eine Stadt wie ein Grab Marlow hat unter Vermittlung einer wohlmeinenden Verwandten eine Kommandantur auf einem Dampfboot angenommen, das den Kongo befährt. Als Kind hatte er eine Leidenschaft für Landkarten: Der weiße Fleck im Inneren von Afrika zog ihn besonders an.37 Das Kommando ist frei geworden, weil sein Vorgänger in einem Streit mit den eingeborenen afrikanischen Menschen getötet wird. Als Marlow den Ort erreicht, wächst hohes Gras durch seine Rippen. Der Vorgänger war schon lange im Kongo und spürte auf einmal den Wunsch, sich durch Durchsetzen in einem Streit mit den Kolonisierten Selbstrespekt zu verschaffen:38 Kolonisator zu sein zehrt an der Selbstachtung. Marlows Unternehmen beginnt in Brüssel, eine Stadt wie ein „whited sepulchre“39, von wo aus die Ausbeutung des Kongo zur Zeit Conrads als Privatunternehmen des Königs mit großer Grausamkeit und enormen Menschenopfern betrieben wird. Gegenwärtige Schätzungen gehen von 10 Millionen Toten aus, die während dieser Zeit direkt oder indirekt das Opfer der Kolonialherrschaft geworden sind.40 Die Einstellung hat Züge der Aufnahme in eine verbrecherische Verschwörung – wie Parzen stricken die Vorzimmerdamen eines hohen Angestellten der Gesellschaft ihre schwarze Wolle.41 Er muss sich einer ärztlichen Untersuchung unterziehen, in der sich der Arzt aus wissenschaftlicher Neugier für die psychischen Veränderungen bei den Kolonisatoren interessiert. Marlow erinnert sich daran, als er das erste Mal mit solchem Wandel konfrontiert wird – als ein Reisebegleiter plötzlich auf einem Fußmarsch das Bedürfnis nach einem Massenmord verspürt.42 Er verabschiedet sich von seiner 36

Joseph Conrad, Author’s note to Almayer’s Folly, The Modern Library, 2002, xxviii. Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 21. Das verarbeitet eine Kindheitserinnerung Conrads, vgl. ders., Geography and some Explorers, in: Harold Ray Stevens/J. H. Stape (Hrsg.), Last Essays, The Cambridge Edition of the Works of Joseph Conrad, 2010, S. 14. 38 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 23 f. 39 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 24. 40 Vgl. Adam Hochschild, King Leopold’s Ghost, 2006, S. 233. Zu zeitgenössischen Berichten vgl. z. B. Roger Casement, The Congo Report (1904), in: Paul B. Armstrong (Hrsg.), Joseph Conrad, Heart of Darkness, 2006, S. 131 ff.; Edmund D. Morel, King Leopold’s Rule in Africa, 1905. Excerpts, in: Paul B. Armstrong (Hrsg.), Joseph Conrad, Heart of Darkness, 2006, S. 160 ff. 41 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 24 f. 42 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 27, 32, 40. 37

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Tante, die ihn mit den politischen Märchen einer menschenfreundlichen Mission der Kolonisatoren beglückt – „there had been a lot of such rot let loose in print and talk just about that time“ – bis er entnervt daran erinnert, „that the Company was run for profit.“43 Der Aufbruch ist auch aus seiner Perspektive keiner zu einer gewöhnlichen Reise: „[F]or a second or two, I felt as though, instead of going to the centre of a continent, I were about to set off for the centre of the earth.“44 Die Reise nach Afrika nimmt schnell surreale Züge an, „a weary pilgrimage amongst hints for nightmares.“45 Marlow beobachtet ein französisches Schiff, das in den Kontinent hineinschießt, auf Feinde, wie es hier heißt – später sind es Verbrecher oder Rebellen – eine traurige, klägliche und doch tödliche Posse, auch für die französischen Soldaten, die unbeachtet in der Brandung bei der Landung ersaufen. Das einzig Reale, das ihm begegnet, sind die eingeborenen Menschen: „Now and then a boat from the shore gave one a momentary contact with reality. It was paddled by black fellows. You could see from afar the white of their eyeballs glistening. They shouted, sang; their bodies streamed with perspiration; they had faces like grotesque masks – these chaps; but they had bone, muscle, a wild vitality, an intense energy of movement, that was as natural and true as the surf along their coast. They wanted no excuse for being there. They were a great comfort to look at.“46 Diese Beobachtungen beinhalten keinerlei Romantisierungen des Zusammentreffens mit den eingeborenen Menschen, im Gegenteil, dass er ihre Gesichter als „groteske Masken“ empfindet, unterstreicht nur wie fremd sie Marlow (der nicht Conrad ist) zunächst sind. Eine andere Schilderung – „Ich erkannte gleich – sie sind meine Brüder!“ – wäre keine sehr überzeugende Darstellung des ersten Kontakts eines Seemanns des Zeitalters des „scramble for Africa“ mit schwarzafrikanischen Menschen. Sie bliebe sicher nicht der eigenen Maxime treu, die Grenzen, die die Realität der eigenen Zeit dem Spiel der eigenen Vorstellungskraft zieht, zu beachten.47 Das Gefühl in eine schwermütige Farce geraten zu sein, verlässt ihn nicht mehr bei seinem genaueren Verständnis der Schritte des speziellen Tanzes, der von den Europäern den afrikanischen Menschen aufgezwungen wurde: „[T]he merry dance of death and trade goes on in a still and earthy atmosphere as of an overheated catacomb.“48

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Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 28. Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 29. 45 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 31, 50: „It seems to me I am trying to tell you a dream – making a vain attempt, because no relation of a dream can convey the dream-sensation, that commingling of absurdity, surprise, and bewilderment in a tremor of struggling revolt, that notion of being captured by the incredible which is of the very essence of dreams […]. We live, as we dream – alone […].“. 46 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 30. 47 Vgl. o. Fn. 32. 48 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 31. 44

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3. Der schäbige Teufel der habgierigen Dummheit Nach seiner Ankunft an der Mündung des Kongo macht er sofort Bekanntschaft mit der rechtfertigenden Effizienz der Kolonisation: sinnlose Arbeiten, verfallendes Material. Marlow trifft auf eine Gruppe von versklavten Menschen, die verhungert und apathisch49 an ihm in Ketten vorbeiziehen, „raw material“ eines großen und gerechten Projekts, wie Marlow grimmig festhält.50 Er sucht Schatten und tritt unvermittelt unter einigen Bäumen in den „gloomy circle of some Inferno“.51 Eine Anzahl Sterbender hat sich in den Schatten von Bäumen geschleppt, um dort ihrem Ende entgegen zu dämmern – verlorene Seelen, die in den Feuern einer Vorhölle vergehen, die aus der Verachtung der Kolonisatoren für ihr Leben unentrinnbar gespeist werden. Einem gibt er von den Keksen, die er besitzt. 15 Meter entfernt sorgt ein in makelloses Weiß gekleideter Buchhalter für fehlerlose Bilanzen der Station.52 Mehr als solche Szenen vor Augen zu rufen, kann man nicht tun, um gegen das Geschehen zu rebellieren. Die geschilderte Menschenverachtung, organisiert durch Bürokraten, die auf die eigene reinliche Erscheinung achten, ist ein erstes Beispiel für die Antizipation anderer, späterer Formen solcher Höllenkreise, die Conrads Erzählung aufgrund ihrer Treffsicherheit zunehmend unheimlich durchzieht.53 Marlow muss an den Stromschnellen entlang wandern, die unbeschiffbar sind, ins Innere des Landes, wo ihm tote Träger am Wegesrand weiteres Anschauungsmaterial von der Eigenart des Zivilisationsprojektes liefern, das hier betrieben wird. Ein Leitmotiv der Erzählung ist die Anwendung der kolonialistischen Vorurteile auf die kolonisierende Zivilisation. Dazu gehört schon der mächtige Auftaktakkord von Marlow, der an die Vergangenheit Englands erinnert, in der seine Bewohner in der Lage der Menschen in Afrika waren und sich den zivilisierten Eroberern aus Rom gegenüber sahen. Dazu zählt auch, dass Marlow darauf hinweist, dass die Weißen ja aus der Ferne alle gleich aussähen54 – ein rassistisches Stereotyp, auf die Kolonisatoren gespiegelt. Gleiches gilt schließlich für seine Anmerkung zu den verlassenen Landschaften, die er passiert, dass Ähnliches wohl auch in England der Fall sein

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Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 33: „They passed me within six inches, without a glance, with that complete, deathlike indifference of unhappy savages“. Eine solche Passage sollte man wieder lesen, wenn man zur Kenntnis genommen hat, was „savage“ im Zusammenhang der Geschichte bedeutet. 50 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 33. 51 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 34. 52 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 38. 53 Zu einer unkonventionellen, aber interessanten Reflexion des Zusammenhangs von Kolonialgeschichte und Völkermord, Sven Lindqvist, ,Exterminate all the Brutes‘: One Man’s Odyssey into the Heart of Darkness and the Origins of European Genocide, 1996. 54 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 33.

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würde, wenn bewaffnete Invasoren es überfallen und die Bewohner als Träger pressen würden.55 Marlow macht nähere Bekanntschaft mit den Kolonialherren, dessen Paradeexemplar ein Pappmaché-Mephistopheles ist: „[I]t seemed to me that if I tried I could poke my forefinger through him, and would find nothing inside but a little loose dirt, maybe.“56 Er begreift schnell: In diesem Unternehmen der Kolonialherren erhebt keine noble Idee, sondern ein niedriger Teufel sein Haupt: „The flabby, pretending weak-eyed devil of a rapacious and pitiless folly.“57 4. Die Bande der Tugend Marlow stellt fest: Sein Schiff ist gesunken, er muss es reparieren und ist deswegen gezwungen, wochenlang auf dieser Station auszuhalten. Hier hört er das erste Mal von Kurtz, einem Wunderkind, Teil der „gang of virtue“.58 Ströme von Elfenbein hat er den Fluss hinuntergeschickt. Er sieht auch ein Bild, das Kurtz gemalt hat: Eine Frau mit verbundenen Augen, die eine Fackel trägt, eine Mischung aus Abbildern der Gerechtigkeit, Freiheit und Aufklärung, aber mit wenig ermutigender Bedeutung: „The movement of the woman was stately, and the effect of the torchlight on the face was sinister.“59 Denen, die behaupten, Licht zu bringen, ist selbst die Sicht genommen. Die Natur, die Marlow umgibt, empfindet er mal als gleichgültig, mal als bedrohlich, mal als bedrückend: „The silence of the land went home to one’s very heart – its mystery, its greatness, the amazing reality of its concealed life.“60 Schließlich fährt er den Kongo hoch, um mit anderen Angehörigen der Gesellschaft herauszufinden, warum man von Kurtz länger nichts gehört hat. Dabei werden weitere Tiefenschichten der Erzählung freigelegt: „Going up that river was like travelling back to the earliest beginnings of the world, when vegetation rioted on the earth and the big trees were kings.“61 Trommeln erinnern Marlow immer wieder an die Präsenz von anderen Menschen. Er hört sie ohne Herablassung: Sie können vieles bedeuten, Krieg, Frieden, Gebete, ja so sinngeladen sein wie Kirchenglocken.62 Die Fahrt ist wie die erste Inbesitznahme der Welt durch Menschen, eine zwiespältige Gabe, eine verfluchte Erbschaft: „We were wanderers on a prehistoric earth, on an earth that wore the aspect of an unknown planet. We could have fancied 55

Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 39. Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 48. 57 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 34. 58 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 47. 59 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 46 f. 60 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 48. 61 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 59. 62 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 62. 56

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ourselves the first men taking possession of an accursed inheritance, to be subdued at the cost of profound anguish and of excessive toil.“63 Die Erde begegnet ihnen nicht als kultivierte und den menschlichen Bedürfnissen anverwandelte, sondern in ihrer ganzen ursprünglichen, unbezwungenen Gewalt. Auch die Begegnung mit „prehistoric man“, als eine Gruppe von eingeborenen Menschen den Dampfer entdeckt, hält eine Herausforderung bereit: „The earth seemed unearthly. We are accustomed to look upon the shackled form of a conquered monster, but there – there you could look at a thing monstrous and free. It was unearthly, and the men were – No, they were not inhuman. Well, you know, that was the worst of it – this suspicion of their not being inhuman. It would come slowly to one. They howled, and leaped, and spun, and made horrid faces; but what thrilled you was just the thought of their humanity – like yours – the thought of your remote kinship with this wild and passionate uproar.“64 Die große Fremdheit, die sich hier erneut in Marlows Bericht spiegelt, die Art, wie über die Konfrontation mit der dortigen Kultur erzählt wird, hat den Verdacht wie andere derartige Passagen erregt, hier werde die koloniale, rassistische Wahrnehmung nicht überwunden, sondern befestigt – was aber nicht nur die Stellungnahme, die sich in der Geschichte insgesamt findet, mit der von ihm selbst erzählten eines Charakters verwechselt, sondern diese Perspektive selbst völlig unzureichend rekonstruiert. Marlow gewinnt eine erste Ahnung gemeinsamen Menschseins, die zu einem zweifelnden Moment der Selbstentfremdung führt. Sie erzwingt ein anderes als gewohntes Selbstbild, weil sie eine zwiespältige eigene Natur, aber eine von allen Menschen geteilte Natur betrifft. In seiner weiteren Überlegung wird die Überraschung, aber auch die Fremdheit geringer und gibt neuen Einsichten Raum: „And why not? The mind of man is capable of anything – because everything is in it, all the past as well as all the future. What was there after all? Joy, fear, sorrow, devotion, valour, rage – who can tell? – but truth – truth stripped of its cloak of time.“65 Die Konfrontation mit der Lebensweise der eingeborenen Menschen baut am Ende eine Brücke zu ihnen. „Joy, fear, sorrow, devotion, valour, rage“ sind sehr vertraute und keineswegs notwendig niedrige humane Empfindungen. Die Begegnung als Schlüssel zu einer Wahrheit über Menschen ohne den Mantel der Zeit zu verstehen, ist das Gegenteil einer hierarchischen Unterscheidung verschiedener Menschengruppen, weil es das Gemeinsame der menschlichen Welt unterstreicht. Auszusagen, dass der menschliche Geist alles schon umfasse, die Vergangenheit und Zukunft, verbindet die Geschichte zur Einheit einer Geschichte der Formen des Menschseins – von den Kulturen des Kongo bis zur großen Stadt, die die Männer auf dem Boot auf der Themse in der Ferne sehen und zu dem Reich, für das sie steht.

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Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 62. Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 62. 65 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 63. 64

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Schließlich spürt Marlow sogar selbst wegen des vermuteten Todes von Kurtz genau eine solche Empfindung wie er sie bei den eingeborenen afrikanischen Menschen beobachtet hat, womit jede angenommene Kluft zwischen ihm und ihnen endgültig verschwindet: „[M]y sorrow had a startling extravagance of emotion, even such as I had noticed in the howling sorrow of these savages in the bush.“66 Die Antwort auf den ungezügelten Ausdruck der Gefühle könne nur „inner strength“ sein, findet Marlow.67 Es gibt nun Reisebegleiter, die genau diese innere Stärke gegenüber anderen Antrieben zeigen. Das Schiff wird unter anderem durch eine Gruppe von Kannibalen bemannt – „fine fellows […] men one could work with, and I am grateful to them“68 – die Hunger leiden, weil sie nur ein paar Teigklumpen in Blättern und stinkendes Nilpferdfleisch mit sich führen, das die Kolonisatoren, Marlow nennt sie mit grimmiger Verachtung, „faithless pilgrims“,69 über Bord werfen, aus allerdings verständlichen Gründen, wie er betont: „You can’t breathe dead hippo waking, sleeping, and eating, and at the same time keep your precarious grip on existence.“70 Von den Drahtstücken, die sie als Bezahlung bekommen (dies allerdings mit einer der sie beschäftigenden Gesellschaft würdigenden Regelmäßigkeit, wie Marlow anerkennt), können sie sich nichts kaufen, was aber natürlich niemanden interessiert. Sie leiden Hunger und das ist keine Kleinigkeit: Hunger ist eine andere Antriebe schnell überwältigende Plage, unterstreicht Marlow. Zu seinem großen Erstaunen sind die Kannibalen dennoch fähig, ihre eigenen Antriebe, sogar den archaischen, eigentlich unbezähmbaren des Hungers, zu kontrollieren und nicht das zu tun, was eigentlich das Naheliegendste ist, nämlich die zahlenmäßig unterlegenen Europäer zu töten, um sich einmal satt zu essen: „I looked at them as you would on any human being, with a curiosity of their impulses, motives, capacities, weaknesses, when brought to the test of an inexorable physical necessity. Restraint! What possible restraint?“71 Es ist ihre „inborn strength“,72 die sie befähigt, ihren Hunger zu überwinden, also genau jene Kraft, die Marlow dem ungezügelten Gefühlsausdrücken der „prähistorischen Menschen“ entgegenzusetzen nötig erschien. Er sieht – es ist nicht die europäische Zivilisation, die sie dazu befähigt, sie können es selbst. Und nicht nur das unterminiert die im eben noch im Raum stehende Diskrepanz zwischen enthemmten Wilden und selbstbeherrschten Zivilisierten: Die Kannibalen haben damit eine Fähigkeit, die die „Pilger“ gerade nicht teilen – der Manager der Gesellschaft, der mitreist, bringt es nur zu „restraint“, zur Bewahrung des äußeren Anscheins73 – ein ganz entscheidender moralischer Vorzug der Kannibalen, weil sich 66

Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 79. Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 63. 68 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 61. 69 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 44. 70 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 70. 71 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 71. 72 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 71. 73 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 72. 67

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die Zügellosigkeit, das Fehlen von „restraint“ allmählich als ein Kern der kolonialen Tragödie herausschält. Marlow mustert bei seinen Beobachtungen die Erscheinung der „Pilger“ und wünscht sich in einer, wie er selbst findet, etwas überraschenden Anwandlung, dass er auf die Kannibalen wenigstens appetitanregender wirke als diese Gestalten.74 Diese Empfindung besonderer kulinarischer Sensibilität war sicher keine leichte Kost für die Leserinnen und Leser seiner Zeit, die in ihrem Selbstbild wie die „Pilger“ immerhin einer überlegenen Rasse anzugehören meinten, die berechtigt die Welt unterwarf, nicht aber einer Menschengruppe, die sogar hungrigen Kannibalen den Appetit verdirbt. Die Gruppe wird angegriffen, nicht aus Aggression, sondern zur Selbstverteidigung, aus Trauer, die sich in Gewalt entlädt, wie Marlow vermutet75 und auf Befehl von Kurtz, wie sich später herausstellt. Marlow verliert dabei den einzigen Menschen, zu dem er eine echte Bindung empfand – seinen nicht sehr talentierten eingeborenen Steuermann: „I missed my late helmsman awfully.“76 Er wird von einem Speer getroffen und Marlow fängt die letzten Blicke des Sterbenden auf, die er nicht vergessen kann: „I declare it looked as though he would presently put to us some question in an understandable language; but he died without uttering a sound, without moving a limb, without twitching a muscle“.77 Marlow nimmt die angenommene Haltung seiner Zuhörer als Angehörige einer Kolonialmacht vorweg, wenn er anmerkt, dass sie das vielleicht überrasche, da das Leben eines solchen eingeborenen Menschen keinen großen Wert habe – „a grain of sand in a black Sahara“.78 Die gemeinsame Arbeit hatte aber eine menschliche Beziehung gestiftet und der letzte Blick, die unausgesprochene Frage in einer verstehbaren, also gemeinsamen Sprache, seine intime Tiefe, hatte das gemeinsame Menschsein unterstrichen: „And the intimate profundity of that look he gave me when he received his hurt remains to this day in my memory – like a claim of distant kinship affirmed in a supreme moment“.79 Wohlgemerkt – Marlow schildert wiederum keine grenzenlose Verbrüderung, sondern eine Annäherung, eine entfernte Verwandtschaft, aber von intimer Tiefe, deren Restdistanz dem Bericht die Phrasenhaftigkeit nimmt.

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Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 71. Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 73. 76 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 84. 77 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 78. 78 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 84. 79 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 84 f. 75

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5. Lichtlose Regionen des Schreckens Nachdem sie auf einen russischen Abenteurer und letzten Jünger von Kurtz gestoßen sind, kommen sie an Kurtz’ Station an. Auf Pfähle gespießte Menschenköpfe sind die Hoheitszeichen von Kurtz’ Herrschaft, die ihre Art und Methoden mit geschlossenen Augen und vertrockneter Haut bündig zusammenfassen. Der junge Russe klärt Marlow, der von Kurtz immer noch als Menschen mit moralischen Zielen denkt, über Kurtz’ Unternehmen auf. Marlow versteht nun auch den Grund für Kurtz’ Erfolg: Kurtz hat das Land ausgeplündert, unterworfen, zerstört und sich selbst zu einem Fürsten erhoben, den die beherrschten Menschen verehrten und fürchteten, weil er über sie mit dem Donner und Blitz seiner Waffen kam, und den sie bei seinen Raubzügen unterstützten:80 „He had taken a high seat amongst the devils of the land“,81 „unspeakable rites“ wurden zelebriert.82 Die Häuptlinge mussten zu ihm kriechen.83 Marlow will von diesen Ritualen nichts hören. Die Lust an Erniedrigung darin empfindet er als schrecklicher als die offene Verwerflichkeit der aufgespießten Köpfe: „After all, that was only a savage sight, while I seemed at one bound to have been transported into some lightless region of subtle horrors, where pure, uncomplicated savagery was a positive relief, being something that had a right to exist – obviously – in the sunshine“.84 Das ist eine wichtige Passage. Warum ist dieser Wunsch, die eingeborenen Menschen nicht nur zu unterwerfen und auszubeuten, sondern auch zu erniedrigen, so scheußlich? Man kann das schwer erklären, wenn der Respekt vor ihnen, vor ihrer Würde, nicht ein herausragend wichtiges Gut wäre. Die Bedeutung von „savage“ wird so durch Kurtz’ Charakter und Handlungen genauer ausbuchstabiert, der dabei über „love, justice, conduct of life“ monologisiert.85 Kurtz fehlt wie den anderen „Pilgern“, was die Kannibalen auszeichnet: „restraint in the gratification of his various lusts“.86 Seine Lebenssituation in der Station hat seine Haltlosigkeit offengelegt: „But the wilderness had found him out early, and had taken on him a terrible vengeance for the fantastic invasion. I think it had whispered to him things about himself which he did not know, things of which he had no conception till he took counsel with this great solitude – and the whisper has proved irresistibly fascinating. It echoed loudly within him because he was hollow at the core“.87 80

Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 92 f. Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 81. 82 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 83. 83 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 95. Zur kolonialen Praxis der Unterwerfung, vgl. die Beispiele besiegter, vor den kolonialen Siegern zum Kriechen gezwungener Häuptlinge aus illustrierten Nachrichten der Zeit, wiedergegeben in Sven Lindqvist, ,Exterminate all the Brutes‘: One Man’s Odyssey into the Heart of Darkness and the Origins of European Genocide, 1996, S. 55 f. 84 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 95. 85 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 96. 86 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 95. 87 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 95. 81

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Kurtz ist krank und dem Tod nahe: „an animated image of death carved out of old ivory“.88 Er hat den Angriff auf das Schiff angeordnet, weil er nicht nach Europa zurückkehren will. Sie bringen ihn an Bord, er aber kriecht in der Nacht davon, wird von Marlow gestellt und in einer langen Auseinandersetzung zur Rückkehr aufs Boot bewogen. Marlow überzeugt Kurtz damit, dass er, wenn er zurück an Land gehe, vollständig verloren sein werde.89 Warum Kurtz darauf reagiert, zeigt sein Ende: Auf der Fahrt zurück stirbt Kurtz. Marlow beobachtet, wie die teuflische Liebe der eigenen innersten Wünsche und der Hass auf sie miteinander kämpfen: „But both the diabolic love and the unearthly hate of the mysteries it had penetrated fought for the possession of that soul satiated with primitive emotions, avid of lying fame, of sham distinction, of all the appearances of success and power“.90 In seinen letzten Augenblicken durchlebt er noch einmal die ganzen Schrecken; die ganze Schuld seiner Handlungen. „The horror, the horror“ keucht er ein letztes Urteil über sein Leben, das seitdem nicht verklungen ist.91 Es bezeugt einen Akt der Selbsterkenntnis, mit dem Kurtz aus seiner vollständigen Verlorenheit immerhin im letzten Moment erkennend in eine moralische Welt zurückfindet. Marlow hält ihn deswegen für einen bemerkenswerten Menschen und jedenfalls trotz seiner Untaten von anderem Kaliber als die Pilger, die sich bis zuletzt in ihrer banalen Schlechtigkeit treu bleiben. Der Stationsmanager, der Marlow begleitet, hält Kurtz’ Methoden schlicht für unsolide92 – die Ausbeutung braucht einer längerfristige Erfolgsperspektive, keine anderen moralischen Grenzen. Tröstend ist Kurtz’ Selbsterkenntnis nicht: „No eloquence could have been so withering to one’s belief in mankind as his final burst of sincerity.“93 Marlow findet in Kurtz’ Papieren einen Bericht, in dem er die hochtrabende Rhetorik der Zivilisation mit der ihm eigenen besonderen Gabe der Rede entfaltet – „the gift of expression, the bewildering, the illuminating, the most exalted and the most contemptible, the pulsating stream of light, or the deceitful flow from the heart of an impenetrable darkness.“94 Am Ende steht ein später hinzugefügter, alles erhellender Zusatzvermerk: „Exterminate all the brutes!“95 Diese Ergänzung ist ein Sprengsatz, weil sie eine entscheidende Wahrheit ausspricht: die totale Verachtung der Menschen, die der kolonialen Praxis und ihrer in Europa weitverbreiteten Ideologie unterliegt. Und wieder scheint der Text durchsichtig zu werden und den Blick freizugeben auf spätere Ereignisse, die die letzten Konsequenzen aus dieser Menschenverachtung ziehen. 88 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 97. Der Bezug auf Elfenbein ist ein weiteres Leitmotiv, das die Erzählung von Beginn an, wenn die Freunde mit Elfenbeinwürfeln spielen, durchzieht – das Raubgut aus Afrika findet sich in Europa überall. 89 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 106. 90 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 110. 91 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 112. 92 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 94, 101. 93 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 108. 94 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 79. 95 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 84.

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Für Marlow ist die Reise eine Fahrt in das Innerste seines Selbst und die Möglichkeiten, die auch dort lauern. Wieder bedeutet die Selbstannäherung zunächst eine Selbstentfremdung:96 „I had – for my sins, I suppose – to go through the ordeal of looking into myself“,97 „[i]t is his extremity that I seem to have lived through“.98 Kurtz ist ein Spiegelbild eines Teils seines Selbst, den es ihm mit einer Klarheit enthüllt, die tröstliche Selbsttäuschung unmöglich macht. Marlow wird krank. Das Grau, gefüllt mit lauem Skeptizismus, das seinen Kampf mit dem Tod erfüllt, scheint ihm weniger bemerkenswert als Kurtz’ Urteil über die Irrfahrten seiner Seele, in dem sich der Wunsch, das Getane noch einmal zu tun, und der Hass auf seine Untaten mischen.99 Er kehrt nach Brüssel zurück und kann das normale Leben dort nur schwer ertragen, weil die Menschen die Gefahr nicht sehen, die er gesehen hat: „Their bearing, which was simply the bearing of commonplace individuals going about their business in the assurance of perfect safety, was offensive to me like the outrageous flauntings of folly in the face of a danger it is unable to comprehend“.100 Ein Bekannter von Kurtz informiert ihn, dass Kurtz ein politischer Führer hätte werden können, einer extremistischen Partei „on the popular side“.101 Auch mit diesen Bemerkungen nimmt die Erzählung in einer Weise Geschehnisse vorweg, die Conrad sich nicht hätte wünschen können: Die in der Kultur seiner Gegenwart lauernde Gefahr, die politische Führer brauchte und schließlich fand. Er besucht am Ende die Verlobte von Kurtz, die ihn weiter als einen großen und guten Menschen verehrt. Auch in Afrika wurde Kurtz von einer Frau geliebt, der Marlow begegnet, als sie versucht, Kurtz zu halten und dabei „barbarous and superb“ furchtlos den „Pilgern“ entgegentritt.102 Die Schilderung beider Frauen hat klischeehafte Züge, in denen sich stereotypische Ansichten über Frauen und Menschen schwarzer Hautfarbe mischen.103 Unter der Oberfläche der Verzerrungen zeigen 96 Entsprechend gewinnt auch die Beschreibung der afrikanischen Landschaft eine neue Bedeutung: „The African wilderness is, by these terms, less a geographical place than a symbolic space, reflecting and accommodating European dreams of wealth and power. If Africa is transformed into a function of European fantasy, it also resists and transcends such fantasies“, Allan H. Simmons, Reading Heart of Darkness, in: J. H. Stape (Hrsg.), The New Cambridge Companion to Joseph Conrad, 2015, S. 26. Zu den in verschiedenen Fassungen der Erzählung immer indirekter werdenden Bezugnahmen auf Afrika, Robert Hampson, Introduction, Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. xxiv. 97 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 107. 98 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 113. 99 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 113. 100 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 114. 101 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 116. 102 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 109. 103 Vgl. die Schilderung der afrikanischen Frau, die Kurtz’ Partnerin war: „She was savage and superb, wild-eyed and magnificent; there was something ominous and stately in her deliberate progress. And in the hush that had fallen suddenly upon the whole sorrowful land, the immense wilderness, the colossal body of the fecund and mysterious life seemed to look at

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sich aber deutlich zwei Persönlichkeiten, die mehr sind als ein Spiegelbild männlicher Phantasien, die mit den Menschen, deren Bild sie imaginieren, nichts zu tun haben. Vor dem Eintritt sieht er Kurtz vor sich und hört seine letzten Worte, wie sie das ganze Universum umarmen, verurteilen und verabscheuen. Die Verlobte, in deren Bild sich Marlow ein bisschen verliebt hat,104 bittet um irgendein Wort oder Zeichen, mit der sie ihre Liebe nähren und ihre Trauer ertragen lernen kann. Sie ist eine Persönlichkeit, mit einer gereiften Fähigkeit zur Treue, zum Glauben und zum Leiden.105 Als Marlow begreift, wie es um sie steht, lügt er ihr vor, die letzten Worte von Kurtz seien ihr Name gewesen, was sie mit größtem Leid und einem letzten Triumph anhört. Das ist ein großer Schritt für Marlow, da er die Lüge hasst: „There is a taint of death, a flavour of mortality in lies – which is exactly what I hate and detest in the world – what I want to forget. It makes me miserable and sick, like biting something rotten would do.“106 Die Wahrheit wäre zu schrecklich gewesen, rechtfertigt Marlow gegenüber seinen Zuhörern seine Lüge. Sie hätte den Lichtschimmer ausgelöscht, der in der Liebe dieser Person liegt, wenn er auch auf Täuschung gegründet ist. Am Ende blicken Erzähler, Marlow und seine übrigen Zuhörer, die über der Erzählung den Tidenwechsel verpasst haben, ihr also angespannt gefolgt sein müssen, über die Themse hinaus, die in ein großes, unbestimmtes Dunkel führt. Der Kreis der Erzählung hat sich äußerlich geschlossen, die Frage, die sie gestellt hat, steht unbeantwortet und die Ruhe raubend im Raum. Vielleicht klingt in ihrem schweigenden Nachdenken in diesen Momenten auf dem Boot Marlows Einschätzung nach: „Droll thing life is – that mysterious arrangement of merciless logic for a futile purpose.“107 Vielleicht aber auch Marlows eigene Antwort auf die Herausforderungen, denen Kurtz erlegen ist: Das Gebot, das Schlechte ohne Aufhebens zu vergraben und die Fähigkeit, sich einer Sache mit aller Kraft zu verschreiben – nicht dem eigenen, kleinen Ego, sondern einer Sache, die dieses transzendiert: „[B]reathe dead hippo, so to speak, and not be contaminated. And there, don’t you see? Your strength comes in, the faith in your ability for the digging of unostentatious holes to bury the stuff in – your power of devotion, not to yourself, but to an obscure, back-breaking business.“108

her, pensive, as though it had been looking at the image of its own tenebrous and passionate soul“, Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 99, und die der Verlobten in Brüssel: „a soul as translucently pure as a cliff of crystal“, Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 114, mit offensichtlich grob geschnittenen Entgegensetzungen. 104 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 117. 105 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 119. 106 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 50. 107 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 112. 108 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 82.

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III. Wo schlägt nun das „Herz der Dunkelheit“? Es gibt eine einflussreiche, postkolonial motivierte Kritik, die in den letzten Jahren allerdings deutlich an Einfluss verloren zu haben scheint – zu Recht, weil sie am Text vorbei geht.109 Die Kritik von Conrad als Rassisten sollte nicht zu schnell über die Lippen kommen, das sollte deutlich geworden sein. Offensichtlich ist, wie schon betont, die Erzählung aus dem Horizont eines Autors des 19. Jahrhunderts geschrieben, der mit seinen Texten in das 20. Jahrhundert und die literarische Moderne aufbricht. Gerade dass das Herkommen des Autors aus Sichtweisen, die mit einer kolonialen Kultur verbunden sind, in Conrads Werk spürbar ist, verdeutlicht, welche Entfernungen seine ästhetisch verkörperte Reisebeschreibung zurücklegt. Da erobert einer, was heute manchem vielleicht vorschnell als offensichtlich erscheint. Es zeigt mit welchem Ernst und welcher den Blick vor nichts abwendender Entschiedenheit die Suche nach dem wirklichen Herz der Schrecken vorangetrieben wird. Ein Kern ist dabei die Auseinandersetzung mit der Idee, die Menschen in Afrika seien „savages“, Wilde – eine für die Rechtfertigungsideologie des Kolonialismus entscheidende Idee, die die europäische Kultur tief geprägt hat, bis in die Kritik ihrer tödlichen politischen Auswüchse hinein: Selbst in dieser Kritik wird manchmal ein Menschenbild zugrunde gelegt, das dem Kritisierten gefährlich nahe kommt, weil es aus Gründen unterschiedlicher kultureller Entwicklung bei bestimmten Menschengruppen, etwa in Afrika, das vollentwickelte Menschsein bezweifelt.110 Die Beschreibung der Reise von Marlow, genauer seiner zweifachen, äußeren und inneren, erzählten und beim Erzählen angetretenen ebenso wie die Entwicklung bei seinen Zuhörern auf dem Boot und bei jenen, die über das Reisen, Erzählen und Zuhören lesen und nachdenken, betreiben allmählich die Schleifung der herkömmlichen, kolonialen Bedeutung der Begriffe „Wilde“ und „Zivilisation“. Die scheinbar Unzivilisierten zeigen sich allein (ohne jede Romantisierung) als Menschen, die Kolonisatoren machen schwer übersehbar, dass das Herz der Dunkelheit, das Marlow sucht, in ihrer europäischen Zivilisation schlägt. Die Kannibalen sind die Einzigen, die das an den Tag legen, dessen Fehlen der Schlüssel zu Kurtz’ Untaten ist, nämlich die Fähigkeit, eigenes Verlangen zu zügeln – eine Fähigkeit, die auch den anderen Europäern abgeht und die sich deswegen hemmungslos der eigenen Gier nach Elfenbein und anderen Antrieben ergeben. Der wilde Tanz, den Kurtz aufgeführt hat, ist von einem ganz anderen Kaliber als der, den Marlow bei den eingeborenen Menschen beobachtete und der ihn zunächst so irritierte. Die einzige menschliche Bindung entwickelt Marlow mit seinem schwarzafrikanischen Steuermann. Die europäischen Kolonisatoren haben dagegen nur Verachtung verdient, als „weniger wertvolle 109 Zum Auf und Ab der Interpretation gerade nach Chinua Achebes einflussreicher Kritik, ders., An Image of Africa, in: The Massachusetts Review 18 (1977), S. 782 – 794, im Überblick Andrew Francis, Postcolonial Conrad, in: J. H. Stape (Hrsg.), The New Cambridge Companion to Conrad, 2015, S. 147 – 159. Vgl. auch Cedric Watts, ,A Bloody Racist‘: About Achebe’s View of Conrad, The Yearbook of English Studies 13 (1983), S. 196 – 209. 110 Vgl. selbst Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 2005, S. 388, 408 ff., 425.

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Tiere“ als die Esel, die sie auf ihrem Raubzug mitführen.111 Wenn man das zusammensieht, was Marlow über die Kolonisatoren aussagt und für eine Sekunde auf die eingeborenen Menschen anwenden würde, wäre der Vorwurf des Rassismus schnell erhoben. Damit wird überdeutlich, dass der Überlegenheitsanspruch der scheinbar Zivilisierten nichts ist als eine bloße Schmutzspur der Ideologie. Und noch etwas ist bemerkenswert: Marlow beschreibt am Anfang der Geschichte seiner Reise den Kongo als Spiegelbild der Kolonisation Englands durch die Römer – und legt damit eine Spur, die bereits deutlich macht, worum es in der Erzählung wirklich geht: Was von europäischen Taten in Afrika berichtet wird, betrifft die ganze Welt. In einer gestrichenen Passage wird dies (für Conrad wohl zu) explizit: Die ganze Erde dreht sich in der Dunkelheit, deren Herz Marlow kennenlernt.112 Das heißt auch: Die Analyse der Verbrechen des Kolonialismus sollte nicht zu einer Romantisierung von außereuropäischen Kulturen führen – auch für sie gilt, was Kurtz’ Tragödie lehrt.113 Worin besteht also das radikal Böse, das Kurtz verkörpert? Marlow hält Kurtz für einen bemerkenswerten Charakter und macht ihn, und nicht die Pilger, zum „Albtraum seiner Wahl“.114 Der Grund dafür ist, dass er noch zugänglich dafür ist, was moralische Prinzipien fordern. Er ist kein amoralischer Charakter, kein Mephistopheles; er lebt nicht jenseits von Gut und Böse, das zeigt sich am Ende, als ihn das Grauen, das ihn bei einer letzten Musterung seiner Wünsche, Absichten und Taten empfindet, erfasst. Dies setzt voraus, dass er eine Ahnung vom moralischen Status seiner Handlungen hat. Damit hat die Reise den Kongo herauf ihren Zielpunkt erreicht: Das radikale moralische Böse, das Kurtz verkörpert, nüchtern gefasst, die Fähigkeit und Bereitschaft von Menschen, jede Art von Unheil anderen Menschen anzutun, besteht nicht in Amoralität, nicht in einer Welt, in der Moral eine unbekannte Größe wäre, sondern in einem moralischen Impuls, der durch andere Antriebe überwältigt, unterdrückt, unerheblich gemacht wird, ein flackerndes Flämmchen, das den starken Winden der Leidenschaften nicht widersteht, ausgeblasen wird und nur noch mit dünnen, zur Decke sich schlängelnden Rauchfäden eines verbliebenen schlechten Gewissens eine Spur hinterlässt. Das ist kein erfreulicher Befund, im Gegenteil. Er zeigt näm111

Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 59. Paul B. Armstrong (Hrsg.), Joseph Conrad, Heart of Darkness, 2006, S. 84: „And the earth suddenly seemed shrunk to the size of a pea spinning in the heart of an immense darkness full of sparks born, scattered, glowing, going out beyond the ken of men.“ 113 Victor G. Kiernan, The Lords of Human Kind, 1988, S. 226, hält zum belgischen Kolonialregime fest: „The consequences were of a sort and on a scale not seen again in the world until the Nazi epoch, when they were seen in Europe itself. Africa, or this part of it, now became very truly a Dark Continent, but its darkness was one the invaders brought with them, the sombre shadow of the white man.“ Wie die postkoloniale Geschichte mit ihren vielen Diktaturen lehrt, ist es nicht nur der „Schatten des weißen Mannes“, der politische Übel schafft. 114 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 101, 104. 112

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lich, dass es nicht an gänzlich fehlender moralischer Orientierung liegt, dass gewisse Verbrechen geschehen, sondern daran, dass die durchaus vorhandene moralische Orientierung nicht stark genug ist, andere Antriebe zu begrenzen. Diese Feststellungen sind mit klassischen Schuldtheorien gut vereinbar, auch solchen, die sich in konkreten und das ganze strafrechtliche Sanktionssystem fundierenden Normen niederschlagen: Der Schuldvorwurf ergibt sich nicht daraus, dass der Handelnde ein amoralisches Wesen wäre, sondern daraus, dass er Unrecht hätte erkennen können, aber es unterließ, die eigenen Handlungsvorsätze an dieser möglichen Einsicht auszurichten und entsprechend zu handeln.115 Und auch Kant verfolgte diese Spur bei seiner Diskussion des Bösen als Kategorie praktischer Philosophie: Es ist der Sieg der Selbstsucht über die Gebote des kategorischen Imperativs.116 Es wäre viel beruhigender, wenn es anders wäre, wenn moralische Gebote, wenn sie nur überhaupt empfunden werden, alle anderen Antriebe übertrumpften. Es käme dann nur darauf an, diese moralischen Impulse zu wecken, mit Leben zu erfüllen, um Unheil zu verhindern. So ist selbst eine vorhandene moralische Orientierung kein Garant dafür, dass dieses Unheil unterbleibt. Es muss den Handelnden nicht verschlossen sein, dass etwas ethisch Unvertretbares getan wird, damit es geschieht. Man muss also nicht nur um ethische Orientierung besorgt sein, sondern auch darum, dass sie überhaupt und insbesondere politisch etwas zählt. Damit ist ein weiterer wichtiger Aspekt von Marlows Reise erreicht: Es handelt sich nicht nur um die Studie eines Einzelnen, dessen seltsame Psyche entschlüsselt wird und den man in beruhigender Distanz zu den vielen anderen halten kann, die derartige Exzesse einfach nicht kennen. Ein wohliger Schauer im bequemen Lesesessel ist nicht die angemessene Reaktion auf Kurtz’ Verfall. „All Europe contributed to the making of Kurtz“, hält Marlow fest.117 Und damit wird die zutiefst politische Dimension der Erzählung erreicht: Kurtz existiert nicht in einem gesellschaftlich-politischen Vakuum. Zu den Ermöglichungsbedingungen seiner Untaten zählt vieles, nicht zuletzt ein spezifischer kultureller Hintergrund, der die Unterwerfung und Ausbeutung eines ganzen Kontinents zu einer erlaubten Selbstverständlichkeit machen 115 Vgl. entsprechend die Voraussetzungen der Schuldfähigkeit § 20 StGB Deutschland; Art. 19 StGB Schweiz. 116 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Akademie Ausgabe VI, 1907, S. 36: „Folglich ist der Mensch (auch der Beste) nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Aufnehmung derselben in seine Maximen umkehrt: das moralische Gesetz zwar neben dem der Selbstliebe in dieselbe aufnimmt, da er aber inne wird, daß eines neben dem anderen nicht bestehen kann, sondern eines dem anderen als seiner obersten Bedingung untergeordnet werden müsse, er die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht, da das letztere vielmehr als die oberste Bedingung der Befriedigung der ersteren in die allgemeine Maxime der Willkür als alleinige Triebfeder aufgenommen werden sollte.“ Warum diese geschehe, sei letztlich unerklärlich, vgl. ders., S. 31 f. 117 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 83.

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konnte118 und eine politische und ökonomische Struktur, in der sich der Kolonialismus und Imperialismus entfalten konnten, aber auch technische Entwicklungen, etwa der Waffen, die die Überlegenheit der Eroberer auch gegen Widerstand sicherten. Ein Kernaspekt in normativer Hinsicht ist, dass die Gleichheit des Wertes der Existenz jedes Menschen in Frage gestellt bzw. verhindert wurde, dass das Bewusstsein dieser Gleichheit sich bilden und politisch relevant werden konnte. Andere Menschen zählten einfach nicht und konnten deswegen als Material für die imperialistischen Ziele benutzt werden.119 Damit lässt sich der Inhalt des Gegenteils von moralischer Orientierung und Gerechtigkeit umreißen: Das Böse in einem ganz nüchternen Sinn ist die Lust auf Ungleichheit, das Greifen nach Wohlstand um jeden Preis, die Bereitschaft, andere im Stich zu lassen, wenn der Wind sich entsprechend dreht oder sogar ihr Leiden hinzunehmen, wenn es nur der eigenen Sache dient, und die Verachtung der Bedeutung der Existenz anderer Menschen. Es wird radikal, wenn das Bewusstsein vom Wert menschlichen Lebens völlig verloren geht, wenn eine individuelle Existenz weniger zählt als ein paar Kilogramm Elfenbein oder Gummi, oder sogar, die letzte Konsequenz, sich zu einem tödlichen Willen verdichtet, dem es nicht mehr um Ausbeutung, sondern nur noch um Vernichtung von Menschengruppen geht. Diese Verachtung von Menschen wird von Kurtz auf eine knappe Formel gebracht: „Exterminate all the brutes!“ Es wurde schon unterstrichen: Das ist eine Losung, die die weiteren Katastrophen des 20. Jahrhunderts und vielleicht unserer Zukunft antizipiert. Kurtz’ Tragödie ist deswegen der Vorschein der Geschehnisse, in deren Schatten wir noch leben. Sie geht, wohlgemerkt, von Europa aus, dem moralisch dunkleren Erdteil als viele es wahrhaben wollen. Sie umreißt die zentrale Aufgabe, der sich eine ethische, aber auch eine rechtliche Kultur im 21. Jahrhundert zu stellen hat: Es gilt mit der Möglichkeit dieser radikalen Verachtung des Menschseins zu rechnen und ihre politische Wirksamkeit durch ethische Orientierung, Gesellschaftsformen und rechtliche Normen und Institutionen zu verhindern.

IV. Was kann man tun? In Hinblick auf die Lösung dieser Aufgabe ist zu betonen, dass mit Fragen der Moral und der Ethik als einer Reflexionstheorie der Moral keine subjektiven, weichlichen Gefühlsduseleien angesprochen werden, die politisch irrelevant sind und 118 Vgl. zu einigem Anschauungsmaterial zu diesen Haltungen, Sven Lindqvist, ,Exterminate all the Brutes‘: One Man’s Odyssey into the Heart of Darkness and the Origins of European Genocide, 1996. 119 Die „eigentlich politische Struktur“ des Imperialismus besteht nach Hannah Arendts plausibler Beobachtung in dem Versuch, „die Menschheit in Herren- und Sklavenrassen, in ,higher and lower breeds‘, in Schwarze und Weiße, in Bürger und eine ,force noire‘, die sie schützen soll, einzuteilen“, dies., Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 2005, S. 288 f.

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rechtlich bedeutungslos sein müssen. Es geht nicht um bekenntnishaftes, kathederprophetisches Sich-in-die-Brust-werfen für Privatvorlieben. Es geht um Identifizierung von Grundnormen menschlichen Zusammenlebens und politischer Ordnung, die durch kritische Reflexion und systematischen Zweifel immer wieder abgesichert und weiterentwickelt werden. Solche Normen sind für Rechtsordnungen unverzichtbar, weil diese den Anspruch erheben, legitim zu sein. Es ist auch kein besonders großes Rätsel, welche Normen dabei einen Kernbestand bilden. Demokratische Verfassungsstaaten, aber auch die internationale Rechtsordnung, fragmentarisch wie sie entwickelt sein mag, sind auf die Idee von Menschenrechten, der Würde, Freiheit und Gleichheit von Menschen aufgebaut, die zu diesem Normbestand gehören. Diese politischen und rechtlichen Ordnungen sind nicht naturwüchsig oder aufgrund von historischen oder gesellschaftsfunktionalen Notwendigkeiten entstanden, sondern weil Menschen in politisch wirksamer Weise die Forderung erhoben haben, dass diese grundlegenden ethischen Prinzipien politischen und rechtlichen Institutionen als Maßstäbe zu dienen haben. Es sind ethische Prinzipien, die politisch revolutionäre Kraft entfaltet haben und die die Wurzel rechtlicher Institutionenbildung geworden sind. Ihre Negation ist keine Privatangelegenheit, sondern eine destruktive historische Kraft, wie Marlow erlebt und wie die weitere historische Entwicklung, von seiner Erzählung antizipiert, unterstreichen sollte. In den Gegenwelten des Imperialismus und Nationalsozialismus spiegelt sich die moralisch ins Bodenlose fallende Handlungsorientierung der politischen Subjekte in einer je eigenen institutionellen, ökonomischen und kulturellen Form, die aus dem individuellen und kollektiven Handeln und Unterlassen der Subjekte entsteht und die ihre politische Tragödie ausmachen. Verschiedene Faktoren spielen nun eine wichtige Rolle bei der Frage, welchen Einfluss auf Handlungen moralische Urteile haben, die auf solchen Prinzipien beruhen. Dabei geht es wohlgemerkt gerade auch um politisch relevantes Handeln, z. B. dasjenige von verschiedenen Akteuren, das, in welcher Form auch immer, ein solches imperialistisches Unternehmen wie von König Leopold im Kongo möglich macht, ein Unternehmen, zu dessen Konsequenzen nicht nur die architektonische Verhübschung von Brüssel, sondern auch einige Millionen Tote gehörten, von anderem Leiden ganz zu schweigen. Die Katastrophen der Geschichte des 20. Jahrhunderts waren komplexe Phänomene. Es wäre aber ein Stück Geschichtsverfälschung, vom ethischen Versagen und der Verantwortung dafür von konkreten Menschen zu schweigen. Erstens ist die Kraft der moralischen Motive für ihren Einfluss auf politisches Handeln wichtig. Wieviel zählt das eigene Gewissen? Kurtz schreibt ein pompöses Pamphlet über die Mission des weißen Mannes, das von Menschenfreundlichkeit trieft. Die moralischen Prinzipien sind aber hohl und ohne Halt, in nichts verwurzelt, nicht gesichert durch Reflexion und ein bisschen echte Anteilnahme. Hinter der Fassade der Rhetorik – im Kleinen von Kurtz’ Pamphlet wie im Großen der kolonialistischen und imperialistischen, geschichtsgestaltenden Ideologien – spielen andere als menschenfreundliche Impulse eine entscheidende Rolle. Damit ist der zweite Punkt

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erreicht: Die Stärke der anderen Antriebe ist bedeutsam, die die moralischen Prinzipien herausfordern. Für Kurtz ist Habgier ein wichtiges Motiv.120 Das ist nicht nur eine literarische Räuberpistole – für König Leopold spielte Bereicherung wie für andere koloniale oder imperialistische Mächte eine zentrale Rolle. Schon die spanischen Galeonen mit dem Gold Mittel- und Südamerikas waren kein Nebenaspekt der Conquista. Aber auch andere, nur angedeutete Wünsche, die jedenfalls Machtlust und ihre Auswüchse betreffen und Kurtz die Häuptlinge der ihm gehorchenden Stämme zu ihm kriechen lassen, der Spaß an Erniedrigung und Grausamkeit, verlocken ihn zu Handlungen, die am Ende Anlass des unerbittlichen Urteils über sich selbst werden. Drittens sind leitende Prinzipien für die Entscheidung von Konflikten zwischen den verschiedenen Antrieben, die Menschen erleben, von Bedeutung. Ohne Bewusstsein, dass es für ein Leben wichtig sein könnte, wenigstens wenn es wirklich darauf ankommt, anständig zu handeln, ohne die durch Reflexion verankerte Priorität moralischer Prinzipien, ohne die Erkenntnis, dass ein Leben, das wert ist, gelebt zu werden, eines ist, das sich in moralischen Grenzen entfaltet, werden ethische Prinzipien kraftlos bleiben. Es gibt keine Eudämonie ohne moralische Orientierung, keine Würdigkeit zur Glückseligkeit ohne moralische Integrität – diese Einsichten helfen, es mit ethischen Prinzipien hinlänglich oft und gerade wenn es politisch zählt, ernst zu meinen. Wenn all dies ein plausibler Teil einer Psychologie des subjektiven Teils der Voraussetzungen politischer Verbrechen ist, was ist dann zu tun? Eine erste Konsequenz besteht zunächst darin, mit dieser Natur zu rechnen. Das heißt nicht, in wohlfeiles Moralisieren zu verfallen. Im Gegenteil ist es wesentlich, keine politischen Institutionen, ökonomische Ordnungen oder gesellschaftliche Strukturen zu schaffen, in denen derartige Antriebe die Oberhand gewinnen können. Dazu gehört insbesondere, dass keine Verhältnisse entstehen, in denen Menschen nicht zur Rechenschaft gezogen werden können, weil sie in ihren Händen zu große Machtmittel konzentriert haben. In die Idee der Demokratie ist die Hoffnung eingeschrieben, dass die Gleichheit der Mitbestimmungsrechte auch die Selbstsucht bestimmter Gruppen im Zaum hält – wenn die Praxis der Demokratie auch ernüchternde Beispiele des Gegenteils bereithält. Fundamental ist politisches Handeln an den Respekt vor bestimmten Rechten zu binden – das ist der Kern des epochalen Versuchs, den die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkörpert und der sich in nationalen Grundrechtsordnungen ebenso wie, wenn auch in sehr unvollkommener Form, im internationalen Recht ausprägt. Demokratische Verfassungsstaatlichkeit und der Versuch einer menschenrechtsorientierten Völkerrechtsordnung sind eine Antwort auf die zentrale ethische und politische Herausforderung, für die Kurtz’ Untergang steht. Das Bewusstsein der Wichtigkeit des Rechts muss dabei immer wieder neu in der Alltagskultur verankert werden. Eine Rechtsordnung als Inbegriff komple120 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 120: „[…] impatience of comparative poverty that drove him out there.“

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xen sozialen Handelns einer Vielzahl von Individuen kann einen Beitrag zu ihrer eigenen Erhaltung durch die Anziehungskraft der Resultate ihrer Existenz und Wirksamkeit leisten. Es liegt nicht bloß in den Händen von einzelnen wohlmeinenden Personen, ob Gerechtigkeit oder andere Impulse obsiegen. Die Zähmung der Kräfte, die Kurtz in ihre Gewalt gebracht haben, hat mit solchen Institutionen einige Unterstützung auf ihrer Seite. Rechtsordnungen bleiben in letzter Instanz aber abhängig vom sozialen Handeln der Menschen. Ein demokratischer Verfassungsstaat, eine internationale Ordnung, die von niemandem mehr getragen wird, wird untergehen. Ob das geschieht, hängt entscheidend von den Legitimationsvorstellungen der Menschen ab. Wenn hinlänglich viele Menschen hierarchische Autokratien Demokratien vorziehen, haben letztere keine Zukunft mehr. Die ethischen und rechtskulturellen Hintergründe von Verfassungsstaat, Demokratie, Menschenrechten und der einzelnen Rechtsbereiche, in denen sich eine Rechtsordnung differenziert entfaltet, sind deswegen ebenfalls von großer Bedeutung. Sie sind das Fundament, auf dem diese Bausteine der Rechtsordnung ruhen. Das Recht kann sich selbst dauerhaft nicht garantieren, weil es sich nicht selbst schafft. Damit ergibt sich eine Schwierigkeit: Die Sicherungsmechanismen der Rechtsordnung, die nach wiederkehrenden Annahmen benötigt werden, um die Defizite der Moral auszugleichen, sind selbst auf eine ethische Orientierung hinlänglich vieler Individuen angewiesen, deren soziales Handeln die Rechtsinstitutionen erzeugen. Man kann politische Ethik deshalb nicht vollständig durch Recht ersetzen.121 Die kulturellen Voraussetzungen von Recht lassen sich nicht einfach sozialtechnisch herstellen, sondern sind darauf angewiesen, dass verschiedene Quellen nicht versiegen. Marlow weist in seinen Reflexionen zu den Ursachen von Kurtz’ Tragödie auf die Bedeutung anderer Menschen hin, die andere an ihr besseres Selbst mahnen und, wenn die Sirenenklänge erklingen, die nicht nur Kurtz in Schuld verstrickt haben, eine andere Melodie anstimmen können.122 Neben solchen sozialen Bindungen ist eine offensive Kritik menschlicher Ziele wichtig: Was ist wert, dass dafür gelebt wird? Die Erinnerung an die Bedeutung des Lebens hilft insbesondere ethisch, politisch und rechtskulturell dann weiter, wenn sie das menschliche Leben als solches betrifft und nicht nur das eigene, weil es das eigene ist. Es ist dann deutlich weniger wahrscheinlich, dass man bereit ist, es leichthin zu opfern. Marlow hat den Eindruck, dass Kurtz die ganze Welt verschlingen wolle, mit seinem unersättlichen Ich.123 Das Bewusstsein des Werts menschlichen Lebens relativiert die Bedeutung der eigenen 121 Vgl. zur klassischen Idee der Kompensation der Defizite der Moral durch Recht Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 143 ff. 122 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 82. 123 Joseph Conrad, Heart of Darkness, Penguin Classics Edition, 2000, S. 97.

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Person, weil sie wohlverstanden nur eine von vielen ist und deswegen keinen besonderen Rang beanspruchen kann, erhöht aber den Grad geschuldeter Achtung für alle. Ein weiteres tragendes Element einer humanen Rechtskultur besteht darin, dass ethische Ideen überhaupt ernstgenommen und nicht nur als süßlicher Flitter abgetan werden. Die Stärke moralischer Normen, von Gerechtigkeit und menschlicher Solidarität, hängt nicht zuletzt davon ab, moralische Orientierung für ein prägendes Merkmal menschlichen Lebens zu halten und nicht nur für eine metaphysische124 oder sozialfunktionale Luftnummer.125 Menschen besitzen moralische Urteilsfähigkeit, sie können wissen, was man anderen nicht antut; was dazu gehört, ist hinlänglich klar, wenn es um mehr geht als selbstverliebten Zweifel ohne erkenntnistheoretischen Grund. Menschen sind keineswegs bloße Opfer der Verhältnisse und Ideologien, die Verachtung der moralischen Urteilskraft hat verheerende politische und rechtliche Folgen: Moralische Überzeugungen und ihre Negation sind entscheidende Bewegungskräfte der durch Menschen gemachten Geschichte, auch der des Rechts – ohne diese Schlussfolgerungen zu ziehen, versteht man die Sprache, die die Erinnerung an die Opfer gut verständlich spricht, zu schlecht. Dass dies nach den politischen Großverbrechen der jüngeren Vergangenheit und ihrer fast unerträglich treffsicheren Schilderung und Vorwegnahme in solchen Werken wie dem, das von Marlows Bericht über seine Reise den Kongo hinauf erzählt, keine Selbstverständlichkeit ist, bildet eines der beunruhigenden Elemente der geistigen Konstellation am Beginn des 21. Jahrhunderts.126 Die rechtlichen Normen und Institutionen, die so entwickelt und kulturell gesichert werden müssen, reichen vom Strafrecht bis zum Völkerrecht. Die Reflexion über Recht, nicht zuletzt in der Rechtswissenschaft, kann durch das Unterstreichen der Bedeutung von bestimmten Werten wie der Würde, Autonomie, Solidarität und Gleichheit, ihrer Erklärung und Verteidigung, dazu beitragen, dass das Gegenteil dieser Werte keine Wunschhorizonte der Menschen erobert, ohne dabei das Verführerische eines Lebens in dieser Gegenwelt kleinzureden oder gar zu verschweigen – „breathe dead hippo, so to speak, and not be contaminated“. 124

Klassisch z. B. Rudolf Carnap, Die Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, Erkenntnis 2 (1931/32), S. 219 – 241. 125 Vgl. z. B. zur universalistischen Moral als „Selbstbeschreibung“ eines autopoietischen Systems Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 1036 ff. 126 Hannah Arendt berichtet auch über einen Zeugen im Eichmann-Prozess, der die Möglichkeit am Beispiel eines deutschen Feldwebels in Erinnerung rief, verfolgte Menschen nicht aufzugeben, sondern ihnen zu helfen: „Während der wenigen Minuten, die Kovner brauchte, um über die Hilfe eines deutschen Feldwebels zu erzählen, lag Stille über dem Gerichtssaal; es war, als habe die Menge spontan beschlossen, die üblichen zwei Minuten des Schweigens zu Ehren des Mannes Anton Schmidt einzuhalten. Und in diesen zwei Minuten, die wie ein plötzlicher Lichtstrahl inmitten dichter, undurchdringlicher Finsternis waren, zeichnete ein einziger Gedanke sich ab, klar, unwiderlegbar, unbezweifelbar: wie vollkommen anders alles heute wäre, in diesem Gerichtssaal, in Israel, in Deutschland, in ganz Europa, vielleicht in allen Ländern der Welt, wenn es mehr solcher Geschichten zu erzählen gäbe.“, Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, 2006, S. 345.

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Die Rechtsordnung ist auf ein Mindestmaß an Selbstvertrauen gegründet – „the faith in our ability for the digging of unostentatious holes to bury the stuff in“, den Stoff, aus dem die Tragödien gemacht sind, für die Kurtz steht. Die Rechtsphilosophie sollte sich deshalb nicht entmutigen lassen, zu versuchen, das Bewusstsein des Sinns des Ganzen eines Rechtssystems wachzuhalten – als Antwort, die keine Alternative kennt, auf die Herausforderung durch das, was einmal das Böse hieß, auf die nie erlöschenden Anziehungskräfte dessen, was Gerechtigkeit und moralischen Anstand negiert.

Kritischer Rationalismus und das Recht Von Eric Hilgendorf Wie kaum ein anderer deutschsprachiger Jurist verknüpft Reinhard Merkel in seinen Arbeiten juristische Problemstellungen mit Einsichten und Analysen aus dem Umkreis der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Wien1 entstandenen analytischen Philosophie, ohne sich jedoch mit einer ihrer vielen Spielarten identifizieren zu lassen. Der „Kritische Rationalismus“ ist die vermutlich am stärksten systematisch ausgearbeitete Version analytischen Denkens in der Gegenwart. Vielleicht ist die Hoffnung deshalb nicht vermessen, dass der Jubilar, dem wohl niemand die Attribute „kritisch“ und „rational“ abzusprechen wagen würde, die nachfolgenden Zeilen mit Interesse und vielleicht sogar mit gelegentlicher Zustimmung lesen wird.

I. Kritischer Rationalismus als Angebot und Herausforderung Der von Karl Popper in kritischer Auseinandersetzung mit dem Neopositivismus bzw. „Logischen Empirismus“ des Wiener (und Berliner) Kreises2 begründete Kritische Rationalismus gehört zu den einflussreichsten philosophischen Strömungen der Gegenwart.3 Seine Themen orientierten sich ursprünglich an Fragestellungen 1 Janik/Toulmin, Wittgensteins Wien. Übersetzt von Reinhard Merkel, 1984; vgl. auch Merkel, Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus, 1994. Fast alle einflussreichen Ideen des 20. und frühen 21. Jahrhunderts scheinen der „Wiener Moderne“ zu entstammen, dazu Fischer (Hrsg.), Das goldene Zeitalter der Österreichischen Philosophie, 1995; Nautz/Vahrenkamp (Hrsg.), Die Wiener Jahrhundertwende, 2. Aufl. 1996; Pollak, Wien 1900. Eine verletzte Identität, 1992; Stadler (Hrsg.), Wissenschaft als Kultur. Österreichs Beitrag zur Moderne, 1997; Wunberg (Hrsg.), Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, 1981/2000 (unter Mitarbeit von Braakenburg). 2 Haller, Neopositivismus. Eine historische Einführung in die Philosophie des Wiener Kreises, 1993. Einschlägige Texte sind zusammengestellt in: Stöltzner/Übel (Hrsg.), Wiener Kreis. Texte zur wissenschaftlichen Weltauffassung von Rudolf Carnap, Otto Neurath, Moritz Schlick, Philipp Frank, Hans Hahn, Karl Menger, Edgar Zilsel und Gustav Bergmann, 2006; Milkov (Hrsg.), Die Berliner Gruppe. Texte zum logischen Empirismus, 2015; vgl. auch Hilgendorf (Hrsg.), Wissenschaftlicher Humanismus. Texte zur Moral- und Rechtsphilosophie des Wiener Kreises, 1998. 3 Zur ersten Orientierung Niemann, Lexikon des Kritischen Rationalismus, 2004. Näher zur geistigen Tradition des Kritischen Rationalismus Keuth, Die Philosophie Karl Poppers, 2000, XVI ff., Hilgendorf, Kritischer Rationalismus und Positivismus, in: Hilgendorf (Hrsg.), Kritischer Rationalismus und Einzelwissenschaften, 2017, 43 – 54.

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der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie.4 Schon seit den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts traten aber Fragen der politischen Philosophie, der Sozialphilosophie5 und schließlich der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie hinzu.6 Während der 60er und 70er Jahre spielte der Kritische Rationalismus auch in den politischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland eine nicht unerhebliche Rolle. In der damals einsetzenden Reformphase arbeiteten führende Vertreter des Kritischen Rationalismus eng mit Juristen und Rechtsphilosophen zusammen; es kam zu einer Renaissance der Rechtstheorie, die die Rechtsreformen der 70er und 80er Jahre vorbereiten half.7 Vorschläge aus dem Umfeld des Kritischen Rationalismus wurden und werden vor allem im Rahmen der juristischen Methodenlehre kontrovers diskutiert8, wobei sich die Rezeption bisweilen auf wenige Schlagworte wie „Fallibilismus“ oder „Falsifikation“ beschränkte.9 Nicht zuletzt unter dem Einfluss dieser Debatten wurde ab den 70er Jahren auch in der Rechtsdogmatik die Bedeutung der Empirie wieder verstärkt reflektiert.10 Zu den Beiträgen des Kritischen Rationalismus im Rahmen des rechtstheoretischen und rechtspolitischen Aufbruchs der späten 60er Jahre in Deutschland gehörte zum einen der Re-Import von Problemstellungen und Lösungsansätzen der analytischen Philosophie, etwa zur Metaethik.11 Einflussreich wurde des Weiteren das dezidiert anti-fundamentalistische Programm des Kritischen Rationalismus, welches mit der damals in der Rechtsphilosophie vollzogenen Wende gegen das Naturrecht im Einklang stand. Eine weitere Verbindung bestand im Hinblick auf den Aufschwung teleologischer – in der Terminologie des Kritischen Rationalismus: „zweckrationaler“ – Argumentationsmuster. Über den akademischen Kontext hinaus wurde vor allem Poppers Philosophie der Offenen Gesellschaft12 rezipiert, ein Modell, welches heute geradezu als Markenzeichen der aufgeklärten westlichen Gesell4

Musgrave, Alltagswissen, Wissenschaft und Skeptizismus, 1993. Siegetsleitner, Fehlbarkeit und gesellschaftliche Praxis, in: Morscher (Hrsg.), Was wir Karl R. Popper und seiner Philosophie verdanken, 2002, 381 – 411; Stelzer, Karl Poppers Sozialphilosophie. Politische und ethische Implikationen, 2004. 6 Rönsberg, Hans Albert und die Jurisprudenz, 2012. 7 Hilgendorf, Die Renaissance der Rechtstheorie 1965 – 1985, 2005. 8 Schwerdtner, Rechtstheorie 2 (1971), 67 – 94, 224 – 244; Savigny, Die Jurisprudenz im Schatten des Empirismus. Polemische Anmerkungen zu Hans Albert: Erkenntnis und Recht, in: Jahrbuch für Rechtstheorie und Rechtssoziologie 2, 1972, S. 97 – 108, dagegen Albert, Normativismus oder Sozialtechnologie?, in: Jahrbuch für Rechtstheorie und Rechtssoziologie Bd. 2, 1972a, S. 109 – 113 und Kellmann, Rechtstheorie 1 (1975), 83 – 103; dazu Popper, Rechtstheorie 1 (1976), 65 – 66; Schlink, Der Staat 19 (1980) 73 – 107; Damas, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 89 (2003), 186 – 199. 9 Canaris, Juristenzeitung 48 (1993), 377 – 391. 10 Starck, Juristenzeitung 27 (1972), 609 – 614; Potacs, Rechtstheorie 25 (1994),195 – 211. 11 Albert, Ethik und Meta-Ethik (1961), in: ders., Konstruktion und Kritik. Aufsätze zur Philosophie des kritischen Rationalismus, 1975, S. 127 – 167. 12 Dazu Keuth, Die Philosophie Karl Poppers, 2000, 244 ff.; Salamun, Ein Jahrhundertdenker. Karl R. Popper und die offene Gesellschaft, 2018. 5

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schaften gilt und auch in den Massenmedien gerne beschworen wird, ohne dass immer deutlich gemacht wird, welchen geistesgeschichtlichen Hintergrund die Rede von der „Offenen Gesellschaft“ besitzt: die europäische Aufklärung. Im Folgenden sollen die wichtigsten Verbindungslinien zwischen Kritischem Rationalismus und Jurisprudenz skizziert werden. Der Begriff „Jurisprudenz“ wird dabei weit verstanden, so dass er sowohl die Rechtspraxis als auch die Rechtswissenschaft unter Einschluss von Rechtstheorie und Rechtsphilosophie umfasst. Dieser Herangehensweise entspricht die Überzeugung führender Vertreter des Kritischen Rationalismus, dass eine Trennung von Theorie und Praxis allenfalls begrifflich möglich ist.13 Mit seiner Zurückweisung vermeintlich vorgegebener Sicherheiten, seiner Forderung nach unbedingter Klarheit und Transparenz und der Rückbindung der Praxis an menschliche Interessen und zu verantwortende menschliche Entscheidungen kann der Kritische Rationalismus als philosophischer Rahmen eines zeitgemäßen juristischen Humanismus14 verstanden werden.

II. Die Philosophie der „Offenen Gesellschaft“ Das 1945 erschienene Buch „Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde“ ist Poppers sozialphilosophisches Hauptwerk und wohl sein bekanntestes Buch überhaupt.15 Der ins Exil vertriebene Wissenschaftslehrer Popper betrachtete das Werk als seinen Beitrag zur Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen totalitären Systemen in Deutschland und der Sowjetunion. „Anmaßende Philosophen“ in der Tradition von Platon, Hegel und Marx interpretiert Popper als Vordenker und intellektuelle Verbündete des Totalitarismus, eine Deutung, die sich zwar auf manche Inhalte und eine oftmals fatale Rezeptionsgeschichte stützen lässt, jedoch abweichende Interpretationen der genannten Denker zu wenig berücksichtigt, um ohne Einschränkungen überzeugen zu können. Für Popper spiegeln die von ihm kritisierten Denker zu Unrecht vor, sicheres Wissen über den Ablauf und das Ziel der menschlichen Geschichte zu besitzen – Popper 13 Albert, Traktat über kritische Vernunft, 1991, S. 72 f. Dazu auch Rießlinger, Vernunft und Kritik. Fünfzig Jahre „Traktat über kritische Vernunft“, in: Aufklärung und Kritik 2018, S. 7 ff. 14 Dazu Hilgendorf, Humanismus und Recht – Humanistisches Recht? Eine erste Orientierung, in: Groschopp (Hrsg.) Humanismus und Humanisierung, 2014, 36 – 56. 15 Popper, Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde (1945), in: Kiesewetter (Hrsg.) Gesammelte Werke in deutscher Sprache, Bde. 5 und 6, 2003; dazu Döring, Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Ein einführender Kommentar, 1996; Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 4: Das 20. Jahrhundert, Teilband 2: Von der Kritischen Theorie bis zur Globalisierung, 2012, S. 131 ff.; Waschkuhn, Kritischer Rationalismus: Sozialwissenschaftliche und politiktheoretische Konzepte einer liberalen Philosophie der offenen Gesellschaft, 1999, S. 129 ff. Aus dem angelsächsischen Sprachraum Catton/Macdonald (Hrsg.), Karl Popper. Critical Appraisals, 2004.

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nennt dies „Historizismus“16 – und entwickeln Systeme und politische Herrschaftsmodelle, in denen dieses vermeintliche Wissen im Sinne eines politischen Paternalismus, im schlimmsten Fall sogar eines politischen Fundamentalismus, umgesetzt werden kann. So entsteht das Leitbild einer „geschlossenen Gesellschaft“, in der es keiner kritischen Analysen und Debatten mehr bedarf, denn die endgültige Wahrheit ist gefunden und muss nur noch verkündet und durchgesetzt werden. Die solchen Vorstellungen entgegengesetzte „Offene Gesellschaft“ ist nach Popper gekennzeichnet durch die Einsicht in die Beschränktheit unseres gesamten Wissens und den – im besten Fall institutionalisierten – Versuch, durch unvoreingenommene, rationale Diskussion Schritt für Schritt bessere Problemlösungen zu erarbeiten. In einer seiner letzten Schriften formulierte Popper sein Ideal intellektueller Auseinandersetzung wie folgt: „Vielleicht habe ich unrecht, und du hast recht, jedenfalls können wir beide hoffen, nach unserer Diskussion etwas klarer zu sehen als vorher, und jedenfalls können wir ja beide voneinander lernen, solange wir nur nicht vergessen, dass es nicht so sehr darauf ankommt, wer recht behält, als vielmehr darauf, der Wahrheit näherzukommen. Nur zu diesem Zweck verteidigen wir uns in der Diskussion so gut, wie wir eben können“.17

Der in diesen Zeilen erkennbare Sprachduktus ist typisch für die oft absichtlich einfach und populär gehaltenen sozialphilosophischen Texte Poppers.18 Seine Leitideen sind Klarheit und intellektuelle Bescheidenheit; nicht belegbare Behauptungen, sprachlicher Bombast und vielversprechender Tiefsinn werden kritisiert und als nicht tragfähig entlarvt. Es überrascht nicht, dass dieses Verständnis von Philosophie gerade in Deutschland bei Vielen keinen leichten Stand hat. Poppers Schüler John Watkins hat das Modell der „Offenen Gesellschaft“ in folgenden Worten umschrieben: „a society where no ideology or religion is given a monopoly, where there is a critical interest in new ideas whatever their source, where political processes are open to public examination and criticism, where there is freedom to travel and where restrictions on trade with other countries are minimal, and where the aim of education is to impart knowledge rather than to indoctrinate“.19

In der Gegenwart ist das Konzept der „Offenen Gesellschaft“ zum Leitbegriff der liberalen westlichen Gesellschaften geworden. Ihr Gegenmodell bilden heute nicht mehr nur die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts, sondern auch die theokratisch

16 Popper, Das Elend des Historizismus (1957), in: Kiesewetter (Hrsg.), Gesammelte Werke in deutscher Sprache, Bd. 4, 2003. 17 Popper, Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik, 1994, S. 161. 18 Dazu auch Dahrendorf, Liberale und andere. Portraits, 1994, S. 82. 19 Watkins, Open Society, in: Outhwaite (Hrsg.), The Blackwell Dictionary of Modern Social Thought, 2. Aufl., 2003, S. 443.

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orientierten Gesellschaftsordnungen des Nahen und Mittleren Ostens.20 Die Grundideen der „Offenen Gesellschaft“ – Demokratie, Meinungsfreiheit, Menschenwürde – finden sich sämtlich auch in den Verfassungen Westeuropas und der USA, was nicht zuletzt dadurch zu erklären ist, dass die liberale Verfassungsbewegung ebenso wie die Idee der „Offenen Gesellschaft“ in den Idealen der europäischen Aufklärung wurzelt. Das Modell der „Offenen Gesellschaft“ wird heute von allen großen politischen Denkrichtungen Europas und der USA im Grundsatz bejaht, wobei allerdings über Einzelfragen durchaus unterschiedliche Meinungen bestehen. Die Leitprinzipien der „Offenen Gesellschaft“ sind offenkundig mit der klassischen liberalen Wissenschaftskultur eng verwandt: die kritische Prüfung aller Behauptungen, sachliche Analyse, Offenheit für Gegenargumente, die nicht bloß zugelassen, sondern geradezu gesucht werden, sowie Vertrauen auf die Kraft des besseren Argumentes. Freie Universitäten sind, weit über bloße Ausbildungsaufgaben hinaus, „Stätten des Geistes“21, in denen nicht bloß fachwissenschaftliche, sondern auch ethische und politische Probleme von allgemeinem Interesse offen und unvoreingenommen analysiert und kritisch erörtert werden sollen. Sie repräsentieren damit geradezu die Ideale der „Offenen Gesellschaft“22. Es überrascht deshalb nicht, dass die Feinde der Offenen Gesellschaft in aller Regel auch Feinde freien und kritischen Denkens sind. Die Offene Gesellschaft erscheint heute bedroht wie lange nicht mehr. Abgelehnt werden vor allem der ihr zugrunde liegende Individualismus, die Prinzipien der Marktwirtschaft und des Privateigentums, der Grundsatz der Chancengleichheit, die Kritik an Autoritäten, welche einen Anspruch auf „allgemeine Wahrheit“ erheben, die Idee der Gewaltenteilung und Kontrolle über staatliche Institutionen und schließlich auch der Universalismus des westlichen Gesellschaftsmodels, also die Vorstellung, die Ideen der „Offenen Gesellschaft“ könnten auch außerhalb des Wirkungsbereichs der europäischen Aufklärung fruchtbar umgesetzt werden.23 Die Verteidiger der Offenen Gesellschaft konnten lange darauf verweisen, dass sich die westlichen, den Idealen des klassischen Liberalismus folgenden Gesellschaften bislang gegenüber allen anderen Gesellschaftstypen als überlegen erwiesen haben. Dieses Argument verliert allerdings angesichts der Erfolgsgeschichte konkurrierender Gesellschaftsformen, z. B. in Ostasien, und deutlichen Schwächeanzeichen des westlichen Gesellschaftstypus vor allem in den USA, aber auch in Europa, an 20 Engel, Aufklärung und Kritik, Sonderheft 17/2007 (2007), S. 96 ff. Sehr bemerkenswert deshalb das vorzügliche Buch von Masoud Mohammadi Alamuti, Critical Rationalism and Globalization. Towards the sociology of the open global society, 2015. 21 Demandt (Hrsg.), Stätten des Geistes. Große Universitäten Europas von der Antike bis zur Gegenwart, 1999. 22 Hilgendorf, Universität in der offenen Gesellschaft. Gefährdung und Chancen. In: Hilgendorf (Hrsg.), Pro Universitate et Ecclesia. Festgabe für Dieter Salch zum 75. Geburtstag, 2015, 63 – 72. 23 Fücks, Freiheit verteidigen. Wie wir den Kampf um die offene Gesellschaft gewinnen, 2017, S. 36 f. unter Verweis auf Dugin, Die Vierte Politische Theorie, 2013.

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Überzeugungskraft. Es reicht deshalb nicht aus, sich darauf zu berufen, dass zahlreiche Grundsätze der Offenen Gesellschaft verfassungsrechtlich verankert sind, in Deutschland etwa in den Staatszielbestimmungen der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie, sowie in der Festschreibung von Grundrechten und der Menschenwürde. Um nachhaltig Wirkung zu entfalten, müssen Verfassungen und die in ihnen verkörperten Werte und Prinzipien von der Rechtsgemeinschaft akzeptiert und gelebt werden; Texte allein können gesellschaftliche Entwicklungen und Umbrüche nicht aufhalten.

III. Die Systematisierung der kritisch-rationalen Sozialphilosophie durch Hans Albert Eine der Kernthesen des Kritischen Rationalismus lautet, dass es außerhalb der Formalwissenschaften kein sicheres Wissen gibt. Alle unsere Annahmen sind unsicher; eine „letzte Begründung“ gibt es nicht. Der Kritische Rationalismus erweist sich damit als eine Spielart des Skeptizismus, dessen Wurzeln bis in die Antike zurückreichen. Wichtige Vorschläge zur Weiterentwicklung dieser Tradition stammen von dem deutschen Wissenschaftslehrer Hans Albert. Er hat dem Kritischen Rationalismus als erster eine systematische Form gegeben und den kritisch-rationalen Denkstil explizit auf Disziplinen außerhalb der Naturwissenschaften angewandt. Ein Hauptaugenmerk Alberts lag dabei auf der Jurisprudenz.24 Die Kernpositionen des Kritischen Rationalismus werden bei Albert durch drei Thesen charakterisiert:25 (1) die These des konsequenten Fallibilismus, wonach alle menschlichen Problemlösungsversuche prinzipiell fehlbar sind, und zwar in der Wissenschaft ebenso wie in der Praxis. (2) die These des methodischen Rationalismus, auch Methode der kritischen Prüfung genannt, nach der sich bei allen Problemlösungsversuchen zwei Schritte unterscheiden lassen, nämlich die von Erfahrung, Fantasie und Intuition geleitete Konstruktion neuer Problemlösungsvorschläge und ihre anschließende Kritik vor der Folie der Realität, und schließlich

24 V. a. Albert, Erkenntnis und Recht. Die Jurisprudenz im Lichte des Skeptizismus, in: Jahrbuch für Rechtstheorie und Rechtssoziologie Bd. 2, 1972, S. 80 – 96, ders., Traktat über rationale Praxis, 1978, ders., Zur Kritik der reinen Jurisprudenz. Recht und Rechtswissenschaft in der Sicht des kritischen Rationalismus, in: Internationales Jahrbuch für Rechtsphilosophie und Gesetzgebung 2, 1992, 341 – 364 und ders., Rechtswissenschaft als Realwissenschaft. Das Recht als soziale Tatsache und die Aufgabe der Jurisprudenz, 1993. 25 Albert, Kritische Vernunft und menschliche Praxis. Mit einer autobiographischen Einleitung. Durchgesehene und bibliographisch ergänzte Aufl., 1984, S. 26; ders., Meine philosophischen Auffassungen, in: Hilgendorf (Hrsg.), Kritischer Rationalismus und Einzelwissenschaften (Fn. 3), S. 199.

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(3) die These eines kritischen Realismus, wonach die Erkenntnis der Wirklichkeit zwar immer fehlbar, aber prinzipiell doch möglich ist. Der Suche nach einer sicheren Wissensbasis setzen Kritische Rationalisten die Idee der kritischen Prüfung entgegen: Jeder Aussage, habe sie nun kognitiven oder normativen Gehalt, besitzt nur vorläufige Geltung, sie muss sich in der Realität bewähren und ist permanent kritisch zu hinterfragen. In den Worten Alberts: „Während der klassische Rationalismus gewisse Instanzen – die Vernunft oder die Sinne – zu epistemologischen Autoritäten erhob und sie dadurch unfehlbar und damit kritikimmun zu machen suchte, weil sonst das Ziel der sicheren Begründung nicht erreichbar schien, kann der kritische Rationalismus keiner Instanz mehr Unfehlbarkeit und damit das Recht der Dogmatisierung bestimmter Problemlösungen zugestehen. Es gibt weder eine Problemlösung, noch eine für die Lösung bestimmter Probleme zuständige Instanz, die notwendigerweise von vornherein der Kritik entzogen sein müsste“.26

In der Form, die ihm Hans Albert gegeben hat, ist der Kritische Rationalismus eine naturalistische Denkrichtung.27 Darin gleicht er der modernen Rechtswissenschaft, die ebenfalls naturalistisch argumentiert.28 Die bevorzugte Problemlösungsmethode ist die von „Konstruktion und Kritik“29: In der Auseinandersetzung mit Problemsituationen jeder Art gilt es, mit Hilfe von Fantasie, intellektueller Offenheit, aber auch Erfahrung Lösungsvorschlage zu entwickeln. Bewähren sie sich, so werden sie (vorläufig) beibehalten, scheitern sie, so sollen sie zugunsten neuer Problemlösungsvorschläge aufgegeben werden. Die Konstruktion von Problemlösungen wechselt sich mit ihrer kritischen Prüfung ab; beide gehören zusammen. Niemals dürfen Problemlösungen als definitiv oder sakrosankt angesehen und der Kritik entzogen werden. Es liegt auf der Hand, dass ein derartiger Umgang mit Problemen am ehesten in einer von theoretischem wie praktischen Pluralismus geprägten Offenen Gesellschaft, wie Popper sie entworfen hatte, möglich ist. Eine verbreitete Methode, um Positionen der Kritik zu entziehen, ist die Verwendung von Immunisierungsstrategien wie sprachlicher Verschleierung, Dogmatisierung oder Tautologisierung. Gerade in der Rechtsphilosophie sind derartige Manöver immer noch verbreitet. Es ist aber bemerkenswert, dass der damit bezeichnete Umgang mit der Sprache jedenfalls in der Rechtspraxis negativ bewertet wird – ein Anwaltschreiben, das unverständlich oder voller bedeutend klingender Trivialitäten 26

Albert, Traktat über kritische Vernunft (Fn. 13), 1991, S. 44. Zum Naturalismus Beckermann Deutsche Zeitschrift für Philosophie 60 (2012), 5 – 26; Vollmer, Gretchenfragen an den Naturalisten, 2017. 28 Hilgendorf, Rechtswissenschaft, Philosophie und Empirie. Plädoyer für ein naturalistisches Forschungsprogramm, in: Dölling (Hrsg.), Jus humanum. Grundlagen des Rechts und Strafrecht. Festschrift für Ernst-Joachim Lampe zum 70. Geburtstag, 2003, 285 – 300, ders., Tatsachenfragen und Wertungsfragen: Bausteine zu einer naturalistischen Jurisprudenz, in: Lütge/Vollmer (Hrsg.), Fakten statt Normen? Zur Rolle einzelwissenschaftlicher Argumente in einer naturalistischen Ethik, 2004, 91 – 102. 29 Albert, Konstruktion und Kritik. Aufsätze zur Philosophie des kritischen Rationalismus, 1975. 27

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ohne kognitiven Gehalt ist, hat wenig Aussicht auf Erfolg. Gerade in der Strafrechtspraxis, in der es für den Angeklagten nicht selten um existentielle Fragen geht, erwartet man äußerste Klarheit und Konzentration auf das Wesentliche. Dahinter steht die Erkenntnis, dass nur so eine transparente kritische Überprüfung strafrechtlicher Entscheidungen möglich ist. Kritische Rationalisten vertreten die Position, dass in der Wissenschaft keine geringeren Anforderungen gelten sollten.

IV. Konstruktion und Kritik in der Rechtsentwicklung Die Idee der kritischen Prüfung lässt sich auf die Moral- und Rechtsphilosophie übertragen. Auch hier ist sicheres Wissen ausgeschlossen. Wir finden jedoch in der europäischen Rechtsentwicklung seit der Aufklärung Leitideen wie die Würde des Menschen und Menschenrechte auf Freiheit und Gleichheit. Diese Leitideen und Grundwerte, die in zahlreichen internationalen Menschenrechtsabkommen und in Staatsverfassungen rechtlich fixiert wurden, beeinflussen und prägen heute auch die in der Gesellschaft vorzufindenden Rechts- und Moralüberzeugungen. Folgt man der Idee der kritischen Prüfung, sind allerdings auch moralische Überzeugungen nicht der Kritik entzogen, sondern müssen immer wieder überprüft werden. Der Kritische Rationalismus rekurriert hierfür nicht auf einen festen, vorgegebenen Maßstab (damit würde er sich in Gegensatz zu seinen eigenen Positionen setzen), sondern verweist auf die demokratischen Debatten in der Offenen Gesellschaft.30 Ob dieses Vertrauen in die rationalisierende und humanisierende Kraft der Öffentlichkeit heute, in einer Zeit unkontrollierter Massenkommunikation, hemmungsloser „shitstorms“ und gezielter Verbreitung von „fake news“ im Internet, noch ohne Weiteres tragfähig ist, ist eine offene Frage, der sich die Vertreter des Kritischen Rationalismus zu stellen haben. Eine Art „empirischen Anker“ unseres Wertungsverhaltens in Politik und Moral können universale menschliche Grundbedürfnisse bilden.31 Für den Vergleich juristischer Theorien und Problemlösungsansätze auf der Grundlage des Kritischen Rationalismus hat Axel Birk einige bedenkenswerte Vorschläge vorgebracht. Als zu berücksichtigende „Gesichtspunkte[…] für den Leistungsvergleich von juristischen Theorien“ schlägt er zunächst vor, einer „sozialen[n] Stückwerkstechnik“ zu folgen und Gesellschaften wie juristische Systeme in kleinen

30 Kiesewetter, Karl Poppers Offene Gesellschaft und die Demokratie im 21. Jahrhundert, in: Neck/Stelzer (Hrsg.), Kritischer Rationalismus heute. Zur Aktualität der Philosophie Karl Poppers, 2013, 241 – 262; Niemann, Die Strategie der Vernunft. Problemlösende Vernunft, rationale Metaphysik und Kritisch-Rationale Ethik, 2008. 31 Hilgendorf, Werte in Recht und Rechtswissenschaft, in: Krobath (Hrsg.), Werte in der Begegnung. Wertgrundlagen und Wertperspektiven ausgewählter Lebensbereiche, 2011, 227 – 243.

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Schritten weiterzuentwickeln. Traditionen, anerkannte Werte und Normen müssen berücksichtigt werden, denn sie „schaffen Ordnung und Orientierung“.32 Ein zweiter zentraler Gesichtspunkt ist die Effizienz: „Eine auf Wirkanalysen fokussierte Rechtswissenschaft analysiert die Steuerungswirkungen möglicher Regulierungen, die sich aus (Interpretations-)Vorschlägen von Rechtssätzen und Rechtsfortbildungen ergeben. Der Sozialtechnologe untersucht dann diese Alternativen auf ihre tatsächliche Leistung zur Erreichung von sozialen Zielen oder zur Lösung sozialer Konflikte“.33 Es gelte deshalb, stets eine „umfassende Sachverhaltsanalyse und Analyse der tatsächlich beteiligten Interessen“ vorzunehmen, desgleichen „die Bestimmung der relevanten Zweck-Mittel-Zusammenhänge“ sowie eine Analyse der Folgen bei der Wahl einer bestimmten Theorie oder Auslegungsvariante anzustellen. Bei der Effizienzanalyse soll das empirische Wissen der Sozialwissenschaften berücksichtigt werden.34 Des Weiteren nennt Birk die Untersuchung von Werten und Zielen auf ihre logische und empirische Vereinbarkeit sowie die Berücksichtigung bestimmter Leitwerte oder „regulativer Ideen“. Als eine davon nennt er die Minimierung von Leid.35 Man kann darin eine Bezugnahme auf den (negativen) Utilitarismus sehen, wie er auch bei Popper gelegentlich anklingt.36 Bei der Kritik und Überprüfung moralischer (und rechtlicher) Normen spielen im Kritischen Rationalismus sog. „Brückenprinzipien“ eine wesentliche Rolle.37 Sie erlauben es, Normen und Werte an unserem empirischen Wissen zu messen und nach Maßgabe dieses Wissens zu kritisieren. Eines dieser Brückenprinzipien ist der Grundsatz „Unmögliches darf nicht verlangt werden“. Im Recht spricht man oft vom Grundsatz „ultra posse nemo obligatur“. Eine Norm, die Unmögliches fordert, kann unter Rekurs auf diesen Grundsatz zurückgewiesen werden. Der Grundsatz gilt im deutschen Recht allerdings nicht ausnahmslos; so bleibt etwa eine Zahlungsverpflichtung auch dann bestehen, wenn man sie nicht erfüllen kann. Ein anderes Brückenprinzip ist das Kongruenz-Postulat: Normen sollten keine faktischen Annahmen voraussetzen, die mit bewährtem empirischen Wissen nicht übereinstimmen.38 Wenig aussichtsreich wäre es, das Modell der Theorienfalsifikation ohne hinreichende Klärung auf die Rechtswissenschaft übertragen zu wollen.39 „Falsifikation“ bedeutet „als falsch erweisen“. Da sich die Prädikate „wahr“ und „falsch“ nach der Korrespondenztheorie der Wahrheit nur auf Tatsachenaussagen, nicht aber auf Nor32

Birk, Rechtstheorie 48 (2017), 7. Ders., Rechtstheorie 48 (2017), 7. 34 Ders., Rechtstheorie 48 (2017), 8. 35 Ders., Rechtstheorie 48 (2017), 9. 36 Salamun, Ein Jahrhundertdenker (Fn. 12), 2018, S. 86 f. 37 Albert, Traktat über kritische Vernunft (Fn. 13), 1991, S 92 f.; Stelzer, Brückenprinzipien, in: Hilgendorf (Hrsg.), Kritischer Rationalismus und Einzelwissenschaften (Fn. 3), 159 – 178. 38 Albert, Traktat über kritische Vernunft (Fn. 13), 1991, S 92 f. 39 Kaum überzeugend deshalb z. B. Canaris, Juristenzeitung 48 (1993), (Fn. 9), 377 – 391. 33

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men und Werte anwenden lassen, lassen letztere sich nicht falsifizieren. Nur in einem metaphorischen Sinn könnte man davon sprechen, dass Normen oder Norminterpretation „falsifiziert“ worden wären.40

V. Das Werturteilsproblem und seine Renaissance im sog. Positivismusstreit In Deutschland ist die Position des Kritischen Rationalismus eng verknüpft mit den Stellungnahmen Alberts zum sogenannten Positivismusstreit der sechziger und frühen siebziger Jahre41, welcher den Werturteilsstreit vom Anfang des 20. Jahrhunderts42 unter veränderten Vorzeichen wieder aufnahm. Im Kern ging es darum, ob Wissenschaftler als Wissenschaftler Werturteile abgeben dürfen oder gar sollen, m.a.W. ob wissenschaftliches Werten möglich ist. Hintergrund des Streits, der Anfang des Jahrhunderts vor allem von Max Weber geführt wurde, war die Praxis zahlreicher Professoren, im Hörsaal bestimmte politische Positionen und Strömungen zu propagieren, eine Praxis, die insbesondere Max Weber scharf kritisierte.43 Albert hat vorgeschlagen, beim Werturteilsstreit vier Problemstellungen zu unterscheiden: (1) das definitorische Problem, welches darin besteht, ob sich ein System, in welchem Werturteile vorkommen, als „wissenschaftlich“ bezeichnen lässt, (2) das logische Problem, bei dem es um die Frage geht, welchen Sinn Werturteile haben. Dazu gehört insbesondere die Frage, ob es einen Unterschied zwischen Werturteilen und Tatsachenaussagen gibt und worin er genau besteht. (3) das methodologische Problem, ob Werturteile in der Wissenschaft erforderlich sind, Wissenschaftler also Werturteile aussprechen müssen, und schließlich (4) das Problem der Kathederwertung, also die Frage danach, ob Wissenschaftler nicht bloß als Privatpersonen, sondern auch als wissenschaftliche Lehrer Wert40 Dazu Potacs, Kritischer Rationalismus und Rechtswissenschaft, in: Neck/Salamun (Hrsg.), Karl R. Popper – Plädoyer für kritisch-rationale Wissenschaft, 2004, S. 116 ff.; ders., Rechtstheorie, 2015, S. 150 ff. 41 Dazu Theodor W. Adorno, Hans Albert, Ralf Dahrendorf, Jürgen Habermas, Harald Pilot, und Karl R. Popper, Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 1969; Dahms, Positivismusstreit. Die Auseinandersetzungen der Frankfurter Schule mit dem logischen Positivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem kritischen Rationalismus, 1994; Keuth, Erkenntnis oder Entscheidung. Zur Kritik der kritischen Theorie, 1993. 42 Hilgendorf, Hans Albert zur Einführung, 1997, S. 115 f.; ausf. Keuth, Wissenschaft und Werturteil. Zu Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit, 1989; Nau (Hrsg.), Der Werturteilsstreit. Die Äußerungen zur Werturteilsdiskussion im Ausschuss des Vereins für Sozialpolitik (1913), 1996. 43 Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Winkelmann (Hrsg.), ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1988, S. 492.

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urteile aussprechen dürfen oder gar sollen. Albert spricht hier von einem „moralischen Problem“.44 Die damit angedeuteten Problemstellungen sind gerade in der Rechtswissenschaft und rechtswissenschaftlichen Lehre von besonderer Bedeutung. Zwischen einer rechtsdogmatisch begründeten Darlegung und einer rechtspolitischen Stellungnahme besteht oft nur ein theoretischer Unterschied. Immerhin wurde Webers Postulat, fachliche Äußerungen von eigenen politischen oder moralischen Stellungnahmen zu trennen, in der juristischen Unterscheidung von Äußerungen de lege lata und de lege ferenda vorweggenommen.45 Für die Rechtsdogmatik wichtig ist auch die begriffliche Präzisierung von Ausdrücken wie „Wert“, „Werturteil“, „Tatsache“ und „Tatsachenurteil“ bzw. „Tatsachenaussage“.46 Um die logische Grammatik von Werturteilen zu klären, unterscheidet Albert folgende Gesichtspunkte: 1. „1. Der Sprecher drückt mit seinem Urteil seine Stellungnahme zu einem Sachverhalt aus, den er damit positiv oder negativ auszeichnet. 2. Er bekennt sich damit implizit zu einem allgemeinen Prinzip, dass eine derartige Stellungnahme rechtfertigt oder ein Kriterium für sie enthält. 3. Er legt den Adressaten des Werturteils eine gleichartige Stellungnahme nahe.“47

So beschreibt etwa der Satz „Diese Tat war verwerflich“ die Tat nicht; vielmehr wird sie vom Sprecher negativ ausgezeichnet (bewertet). Der Sprecher bekennt sich dabei zumindest implizit zu einer allgemeinen Regel, wonach Handlungen dieser bestimmten Kategorie negativ zu bewerten sind. Den Adressaten seiner Stellungnahme legt er nahe, die Tat ebenso wie er zu bewerten. Derartige Differenzierungen spielen in der Rechtsdogmatik z. B. bei der Analyse der §§ 185 ff. StGB oder des § 263 StGB eine große Rolle.

44 Albert, Werturteil und Wertbasis. Das Werturteilsproblem im Licht der logischen Analyse, in: ders., Marktsoziologie und Entscheidungslogik. Ökonomische Probleme in soziologischer Perspektive, 1967, S. 95 f.; Hilgendorf, Hans Albert zur Einführung (Fn. 42), S. 117. Vgl. auch die zusammenfassende Darstellung von Zecha, Hans Alberts Beitrag zur Werturteilsdiskussion 1956 – 2006: Eine Würdigung als rationale Kritik der Ansichten eines kritischen Rationalisten, in: Franco (Hrsg.), Der Kritische Rationalismus als Denkmethode und Lebensweise. Festschrift zum 90. Geburtstag von Hans Albert, 2012, S. 276 ff. 45 Hilgendorf, Zum Begriff des Werturteils in der reinen Rechtslehre, in: Stadler/Walter (Hrsg.), Logischer Empirismus und Reine Rechtslehre. Beziehungen zwischen dem Wiener Kreis und der Hans-Kelsen-Schule, 2001, 117 – 135. 46 Hilgendorf, Werte in Recht und Rechtswissenschaft (Fn. 31), 2011, 227 – 243. 47 Albert, Probleme der Wissenschaftslehre in der Sozialforschung, in: König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, 1973, S. 67.

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VI. Jurisprudenz als Sozialtechnologie Popper hatte den Kritischen Rationalismus als Forschungslogik der empirischen Wissenschaften konzipiert, orientiert an der Methodologie der Naturwissenschaften.48 Die Rechtswissenschaft spielt bei Popper nur eine ganz untergeordnete Rolle.49 Die wichtigste Zielsetzung der Naturwissenschaft ist für Popper die Erfassung von Gesetzmäßigkeiten, eine Aufgabe, die auch für Albert eine hervorragende Bedeutung besitzt: „Die vom Kritischen Realismus bevorzugte Zielsetzung ist die Erfassung der Gesetzmäßigkeiten, die das wirkliche Geschehen bestimmen, und die Erkenntnis der Struktur dieses Geschehens. Die Mittel sind Theorien von möglichst großer Erklärungskraft und theoretisch fundierte Modelle, mit deren Hilfe möglichst tief gehende und umfassende Erklärungen und Beschreibungen aller in Betracht kommenden Tatbestände und damit auch der Erfahrungen ermöglicht werden, die wir in der Praxis des Lebens tatsächlich machen“.50

Diese von Popper und Albert präferierte Zielsetzung wissenschaftlichen Arbeitens ist auf die Jurisprudenz nicht ohne weiteres zu übertragen, denn es handelt sich bei ihr nicht um eine empirische Disziplin, die auf die Erfassung von Gesetzmäßigkeiten abzielt. Dennoch, und dies ist der Kern von Alberts Konzeption der Rechtswissenschaft, können (und sollten) in einer rational gefassten Rechtswissenschaft auch empirische Gesetzmäßigkeiten eine wesentliche Rolle spielen. Mit Albert lässt sich von einer „sozialtechnologischen“ Deutung von Rechtswissenschaft sprechen.51 Sieht man genauer hin, so spielt die von Albert ins Spiel gebrachte Perspektive in der Rechtswissenschaft schon heute eine erhebliche Rolle, auch wenn dies vielen Juristen nicht bewusst sein mag. In vielen traditionellen Darstellungen wird die Rechtswissenschaft als normativ und dogmatisch beschrieben.52 Sie ist dogmatisch, weil sie die Gesetze als festes Fundament verwendet, und sie ist normativ, weil sie Interpretationen dieser Gesetze liefert, die den Charakter von Normen haben. Deutet man die Rechtswissenschaft in dieser Weise, so ähnelt sie in erstaunlicher Weise der Theologie, in der es ebenfalls darum geht, vorgegebene Texte zu interpretieren und daraus Handlungsanleitungen abzuleiten.53 In den Worten Alberts: „Dass es zwischen Religion und Recht und zwischen Theologie und Jurisprudenz enge Zusammenhänge und strukturelle Ähnlichkeiten gibt, ist seit langem bemerkt worden. Eine der 48

Hilgendorf, Hans Albert zur Einführung (Fn. 42), S. 108. Popper, Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde (Fn. 15), 2003, S. 63 ff. 50 Albert, Kritik der reinen Erkenntnislehre. Das Erkenntnisproblem in realistischer Perspektive, 1987, S. 88. 51 Albert, Rechtswissenschaft als Realwissenschaft (Fn. 24), 1993, S. 12 ff., dem folgend z. B. Birk, Rechtstheorie 48 (2017), 43 – 75 und Eidenmüller, Juristenzeitung 54 (1999), 53 – 61. 52 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 195 ff., 204 ff., differenzierend R. Dreier, Rechtstheorie 2 (1971), 37 – 54. 53 Hilgendorf, Hans Albert zur Einführung (Fn. 42), S. 109. 49

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wesentlichen Gemeinsamkeiten (…) scheint darin zu bestehen, dass beide sich mehr oder weniger ausdrücklich einem Offenbarungsmodell der Erkenntnis unterwerfen, demzufolge es darauf ankommt, die Wahrheit aus den Verlautbarungen von Instanzen zu entnehmen, die mit unzweifelbarer Autorität für die Lösung der betreffenden Probleme ausgestattet sind. So können im Wesentlichen nur zwei Arten von Problemen auftreten: Probleme der Identifikation der in Betracht kommenden Verlautbarungen und Probleme ihrer adäquaten Interpretation. Im einen Fall handelt es sich um die Frage der Geltung bestimmter ,Quellen‘, im anderen um die ihrer gültigen Deutung“.54

Albert stellt dieser traditionellen Auffassung eine explizit teleologisch orientierte Perspektive von Recht und Rechtswissenschaft gegenüber: Gesetze, Gesetzesinterpretationen, Verwaltungsentscheidungen und Urteile lassen sich als Mittel ansehen, um bestimmte Zwecke zu erreichen. Rechtswissenschaft ist danach eine Technologie wie die Medizin, in der es ebenfalls darum geht, bestimmte Ziele, vor allem die Heilung des Patienten, zu erreichen. Die Zielsetzungen der Jurisprudenz – Albert nennt sie „Leistungsmerkmale“ – sind etwa Freiheit, soziale Sicherheit, Sicherung gegen Gewalt, Willkür und Ausbeutung, und Stabilität.55 Um zu prüfen, ob eine als zweckbezogen verstandene juristische Entscheidung in der Lage ist, den ihr bestimmten Zweck zu erreichen, muss nomologisches Wissen – das Wissen um Gesetzmäßigkeiten – herangezogen werden. Nach Albert spielen deshalb empirische Disziplinen wie die Rechtstatsachenforschung, die Rechtssoziologie, und die Kriminologie für Recht und Rechtswissenschaft eine viel größere Rolle, als dies im tradierten Verständnis von Rechtsdogmatik der Fall war. Alberts Ansatz lässt sich noch deutlicher beschreiben, wenn man die Bereiche Gesetzgebung, Rechtsanwendung (unterfallend v. a. in Rechtsprechung und Verwaltung) und Rechtswissenschaft im engeren Sinne unterscheidet: Nach klassischer naturrechtlicher Vorstellung existieren dem menschlichen Dafürhalten vorgeordnete normative Inhalte, eben das Naturrecht. Es wurde nicht von Menschen formuliert, sondern besteht unabhängig von ihnen und geht ihren Willensäußerungen vor. Jedenfalls strukturell ähnlich argumentieren geschichtsphilosophisch orientierte Entwürfe, wie sie etwa in der Historischen Rechtschule56 vertreten wurden. Für Savigny57 entwickelt sich das Recht ähnlich wie die Sprache im Rahmen der gesellschaftlichen Entwicklung („Volksgeist“). Derartigen Modellen ist die von Albert bevorzugte Vorstellung fremd, Recht – sei es nun Strafrecht, Verbraucherschutzrecht oder das Recht des Datenschutzes – sei ein von Menschen „gemachtes“ Mittel, um Ziele, die ebenfalls von Menschen festgelegt wurden, zu erreichen.

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Albert, Erkenntnis und Recht (Fn. 24), 1972, S. 82 f. Albert, Rechtswissenschaft als Realwissenschaft (Fn. 24), 1993, S. 25. 56 Dazu Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, S. 353 ff. Brauneder, Europäische Privatrechtsgeschichte, 2014, S. 133 ff. 57 Ironischerweise wurde von Savigny 1842 zum „Minister für Revision der Gesetzgebung“ in Preußen ernannt. 55

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Eine solche teleologisch geprägte, die Rechtspolitik fokussierende Perspektive, die das Gesetz als menschliche Setzung ansieht und an der Erreichung bestimmter vom Parlament gesetzter Ziele bemisst, gilt heute in den westlichen Demokratien so unumstritten, dass sich viele Juristinnen und Juristen gar nicht mehr vorstellen können, dass sie erst im 19. Jahrhundert allmählich durchgesetzt wurde.58Als Ursprung der modernen Rechtspolitik wird man wohl den Briten Jeremy Bentham anzusehen haben,59 der über Robert von Mohl und Rudolf von Jhering auch die heutige deutsche „Interessenjurisprudenz“60 wesentlich beeinflusst hat. Will man Gesetze an ihrer Eignung zur Erreichung der gesetzgeberischen Ziele messen, so bleibt zu klären, welche Ziele der Gesetzgebung vorgegeben sind. In der parlamentarischen Demokratie ist es das Parlament, welches die gesetzgeberischen Ziele festlegt. Es tut dies im Namen des Volkes, welches durch das Parlament repräsentiert wird. Auswahl und Festlegung der zu erreichenden sozialen Ziele werden also in letzter Instanz in die Hand des demokratischen Souveräns gelegt, der dabei grundsätzlich frei ist. Allerdings muss sich der demokratische Souverän im Rechtsstaat in den Grenzen der Verfassung bewegen; die Grundrechte und die Menschenwürde bilden Rahmen und Maßstab gesetzgeberischen Handelns. Auch die Rechtsanwendung, also vor allem die Rechtsprechung, lässt sich nach Albert technologisch deuten. Rechtsanwendung ist auf die Erreichung bestimmter Ziele hin orientiert: So dient das Urteil des Strafrichters der Resozialisierung des Täters, in einer Mietsache geht es möglicherweise darum, einen gerechten Ausgleich zwischen den Belangen verfeindeter Nachbarn zu finden, und die Verwaltungsbehörde zielt auf die Herstellung eines bestimmten Zustandes von Sicherheit und Ordnung. Das Recht wird angewandt, um diese Ziele zu erreichen; seine Anwendung lässt sich also daran messen, ob sie faktisch geeignet ist, die vorgegebenen Ziele zu erreichen. Aus dieser Perspektive besteht offenbar eine erhebliche strukturelle Ähnlichkeit von Rechtssetzung und Rechtsanwendung. Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob sich auch die Rechtswissenschaft, verstanden vor allem als Rechtsdogmatik, technologisch deuten lässt. Tradierter Auffassung nach ist die Rechtswissenschaft eine hermeneutische Disziplin, in der es darum geht, die gesetzlichen Vorgaben zu interpretieren.61 Albert zufolge ist diese Konzeption nicht falsch, aber doch zumindest unterkomplex. Gesetze sind so gut wie nie eindeutig, sondern lassen verschiedene Interpretationen zu. Ihre Herausarbeitung und kritische Analyse ist eine der Hauptaufgaben der Rechtswissenschaft. Sie entwickelt also Deutungsvorschläge, die sich ihrerseits als Mittel ansehen lassen, um bestimmte Zwecke – den Willen des Gesetzgebers, aber auch darüber hinausgehende, etwa von der Verfassung vorgegebene Zwecke wie Sicherheit, Freiheit usw. – zu erreichen. Ob die von der Rechtswissenschaft herausgearbeiteten Deutungsvarianten 58

Tamanaha, Law as a Means to an End. Threat to the Rule of Law, 2006. Tamanaha, Law as a Means to an End (Fn. 58), 2006, S. 43, für die USA. 60 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre, 2018, Rn. 524 ff. 61 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, S. 204 ff.

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eines Gesetzes geeignet sind, diese Ziele zu erreichen, ist wiederum eine Frage, die sich nur mittels nomologischen Wissens beantworten lässt. Mit anderen Worten: dem nomologischen Wissen kommt bei der Auswahl unter verschiedenen vertretbaren Interpretationsvorschlägen eines Gesetzes eine zentrale Rolle zu. Auf diese Weise lässt sich auch die rechtswissenschaftliche Analyse von Gesetzen technologisch interpretieren. Der Kritische Rationalismus deutet die Rechtswissenschaft damit in ähnlicher Weise wie der US-Amerikanische Rechtsrealismus und die „Interessenjurisprudenz“ in der Tradition Rudolf von Jherings.

VII. Offene Fragen Die Rechtswissenschaft, nicht nur die deutsche, ist traditionellerweise auf Eigenständigkeit bedacht. Schon deshalb ist die enge Anbindung an nomologisches Wissen und die sie zur Verfügung stellenden empirischen Wissenschaften, seien es nun Sozial- oder Naturwissenschaften, vielen Juristen suspekt. Macht man aber mit dem Gedanken ernst, das Recht als Mittel sozialer Gestaltung anzusehen, so kommt man um die Berücksichtigung von faktischen Wirkungszusammenhängen nicht herum. In der juristischen Methodologie wird meist von der „Folgenberücksichtigung“ gesprochen. Sie verbirgt sich häufig hinter der „objektiv-teleologischen“ Interpretation von Gesetzen.62 Zippelius hat vorgeschlagen, die teleologische Perspektive vor allem für den Bereich der Gesetzgebung explizit auf die Leistungsmerkmale „Wirksamkeit“, „Gerechtigkeit“ und „Systemverträglichkeit“ (im Sinne von Konsistenz) zu beziehen.63 In enger Anknüpfung insbesondere an Karl Popper spricht er von einer „experimentierenden Methode im Recht“ und zeigt, dass sich ein derartiges Rechtsverständnis bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein zurückverfolgen lässt. Das explizite Plädoyer Alberts für die Berücksichtigung empirischer Erkenntnisse in der Rechtswissenschaft stieß bei Vertretern der „Reinen Rechtslehre“ Kelsens auf Widerspruch.64 Die Differenzen bei der Festlegung des Zuständigkeitsbereichs von „Rechtswissenschaft“ sollten jedoch die beträchtlichen Übereinstimmungen beider Denkrichtungen etwa im Hinblick auf die Zurückweisung naturrechtlicher Ansätze und die Bedeutung der Sein-Sollen-Dichotomie nicht in Vergessenheit geraten lassen. Vor allem teilen beide Richtungen das Bekenntnis zu Analyse und be62

Hilgendorf, Hans Albert zur Einführung (Fn. 42), S. 114. Zippelius, Die experimentierende Methode im Recht, in: ders., Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 1996, 21 – 38. 64 Walter, Bemerkungen zu Albert, Zur Kritik der reinen Jurisprudenz. Recht und Rechtswissenschaft in der Sicht des kritischen Rationalismus, in: Internationales Jahrbuch für Rechtsphilosophie und Gesetzgebung, 1992, 359 – 362; Thienel, Rechtswissenschaft ohne Sollen?, in: Hilgendorf (Hrsg.), Wissenschaft, Religion und Recht. Hans Albert zum 85. Geburtstag, 2006, 415 – 438; umfassend Thienel, Kritischer Rationalismus und Jurisprudenz, 1991; Fritzsche, Die Reine Rechtslehre im Lichte des kritischen Rationalismus, 2002. 63

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grifflicher Klarheit und heben sich dadurch wohltuend von vielen Vorschlägen aus dem Kontext z. B. des „Deutschen Idealismus“ ab. Ein weiterer Kritikpunkt, der häufig gegen die sozialtechnologische Deutung des Rechts und der Politik vorgebracht wird, zielt auf die angebliche Nähe dieser Konzeption zur Herrschaft einer (Juristen-)„Elite“. Die sozialtechnologische Deutung der Jurisprudenz sollte aber nicht mit der Forderung nach Etablierung einer juristischen Technokratie verwechselt werden. Ganz im Gegenteil ist die Vorstellung, Recht sei ein von Menschen gemachtes Mittel zur Erreichung von durch Menschen festgelegten Zwecken, eine durch und durch demokratische Konzeption. Dies lässt sich von tradierten naturrechtlichen Modellen oder der Vorstellung, Recht sei das Ergebnis der Entwicklung eines „Volksgeistes“, nicht sagen, denn derartige Verlautbarungen waren (und sind!) oft nur schlecht kaschierte Versuche, eigene normative Vorstellungen zur Geltung zu bringen. Erst die technologische Deutung von Recht und seiner Anwendung überantwortet im demokratischen Rechtsstaat das Recht der demokratisch verfassten Rechtsgemeinschaft. Kritisiert wurde weiter, dass eine sozialtechnologische Deutung der Jurisprudenz auf eine „revolutionäre“ Umgestaltung der rechtswissenschaftlichen Arbeit, so wie sie bisher stattfinde, hinauslaufen würde.65 Die Berücksichtigung der Folgen verschiedener möglicher Interpretationsansätze gehört aber spätestens seit Jhering zum Kernbestand der Methodenlehre.66 Ausgehend vom Zivilrecht ist die teleologische Methode, die man als das juristische Analogon von Alberts sozialtechnologischem Ansatz ansehen kann, auch in die anderen Teilrechtsgebiete vorgedrungen, vor allem in das öffentliche Recht, also das Verwaltungs- und das Staatrecht. Grundrechtsdogmatik kommt heute ohne Folgenberücksichtigung und Zweck-Mittel-Analysen nicht mehr aus. Von dort ist es nur noch ein Schritt zur expliziten Heranziehung sozialwissenschaftlichen Wissens, um die Folgenberücksichtigung auf ein solideres Fundament zu stellen. Im Strafrecht hat sich die Vorstellung einer „reinen“ Dogmatik am längsten halten können, doch auch hier setzt sich spätestens seit Roxins Werk über Kriminalpolitik und Strafrechtssystem67 die teleologische Sichtweise dogmatischer Arbeit Schritt für Schritt durch. Die Einbeziehung sozialwissenschaftlichen (und erforderlichenfalls auch naturwissenschaftlichen) Wissens in die rechtswissenschaftliche Arbeit bedeutet allerdings ein Bekenntnis zu echter Interdisziplinarität, die vom einzelnen Fachjuristen nicht immer zu leisten ist. Soll Interdisziplinarität fruchtbar sein, so muss sie bestimmten Anforderungen genügen68, die nur unter günstigen Umständen gegeben 65 Engländer, Kritischer Rationalismus und die Jurisprudenz. Überlegungen zu einem komplizierten Verhältnis, in: Hilgendorf (Hrsg.), Kritischer Rationalismus und Einzelwissenschaften (Fn. 3), S. 121; Hoerster, Rechtstheorie 41 (2010), 13 – 23. 66 Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2012, S. 48 ff. 67 Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 1973. 68 Hilgendorf, Bedingungen gelingender Interdisziplinarität – am Beispiel der Rechtswissenschaft, Juristenzeitung Bd. 65 (2010), S. 913 ff.

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sein werden. Es spricht deshalb viel dafür, bei einer nach dem Vorschlag des Kritischen Rationalismus vorgehenden sozialtechnologisch orientierten Dogmatik Rollenverteilungen vorzunehmen und die Analyse von Normen mitsamt der Herausarbeitung von Interpretationsvorschlägen einerseits, die Untersuchung dieser Vorschläge auf ihre Eignung zur Erreichung bestimmter sozial erwünschter Ziele andererseits nicht bloß begrifflich, sondern auch personell zu trennen. Dies entspricht jedenfalls für einen Teilbereich der etablierten Unterscheidung von Rechtswissenschaft und Rechtsanwendung.69 Auch insofern erweist sich der sozialtechnologische Ansatz also als weitaus weniger revolutionär, als es auf den ersten Blick den Anschein haben könnte. Kritisiert wird bisweilen auch, der Kritische Rationalismus habe keine eigenen Interpretationslehren entwickelt.70 Dem lässt sich entgegenhalten, dass die juristischen Auslegungsregeln „grundsätzlich keine anderen als jene der allgemeinen Kommunikationspraxis“ sind: „Ebenso wie diese setzen sie sich aus semantischen (d. h. auf die übliche Wort- und Satzbedeutung abstellenden) und pragmatischen (d. h. auf andere Aspekte wie den Zweck oder den Kontext Bedacht nehmenden) Regeln zusammen“.71 Diese enge Anbindung an die Alltagskommunikation ist erforderlich, damit die Interpretation des Rechts für die Rechtsunterworfenen zumindest im Grundsatz nachvollziehbar bleibt. Natürlich ist es von zentraler Bedeutung, das Steuerungsziel des Gesetzes überhaupt erst zu erkennen.72 Diese Aufgabe wirft aber im Allgemeinen keine besonderen Probleme auf, jedenfalls keine, die durch Interpretation zu lösen wären. In unklaren Fällen wird der Rechtsanwender vielmehr entscheiden müssen, welche Zielsetzung mit dem Gesetz zu verfolgen ist, eine Aufgabe, die in der Praxis im gerichtlichen Instanzenzug gelöst wird.

VIII. Testfall Menschenwürde Das Konzept „Menschenwürde“ mag als Beispiel für das instrumentelle „sozialtechnologische“ Rechtsverständnis des Kritischen Rationalismus dienen. Weder Popper noch Albert scheinen sich mit diesem Konzept näher auseinandergesetzt zu haben; bei nicht wenigen Autoren aus dem Umkreis der analytischen Rechtsphilosophie stößt man auf Äußerungen, die eine gewisse Skepsis gegenüber dem Konzept „Menschenwürde“ offenbaren.73 Die Idee eines unserem Dafürhalten vorgege69

Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Fn. 61), 1991, S. 234 ff. Engländer, Kritischer Rationalismus und die Jurisprudenz (Fn. 65), 2017, S. 124. 71 Potacs, Kritischer Rationalismus und Rechtswissenschaft (Fn. 40), 2004, S. 111; siehe auch schon ders., Rechtstheorie 25 (1994), 32 ff. 72 Huster, Rechtswissenschaft als Realwissenschaft?, in: Hilgendorf (Hrsg.), Wissenschaft, Religion und Recht. Hans Albert zum 85. Geburtstag (Fn. 64), S. 396. 73 Birnbacher, Menschenwürde-Skepsis, in: Joerden/Hilgendorf/Thiele (Hrsg.), Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch, 2013, 159 – 175; Hoerster, Juristische Schulung 82 (1983), 93 – 96; vgl. auch schon Topitsch, Über Leerformeln. Zur Prag70

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benen „absoluten“ Wertes oder eines unveränderbaren vorstaatlichen Rechts ist mit den Rationalitätsanforderungen des Kritischen Rationalismus nicht in Einklang zu bringen. Gerade Albert hat sich sehr deutlich gegen die Kosmosmetaphysik des tradierten Naturrechts ausgesprochen.74 Auf der Grundlage eines instrumentellen Rechtsverständnisses ist es aber denkbar, die Menschenwürde als Setzung zu verstehen, um bestimmte Ziele, die mit den übrigen Grund – und Menschenrechten offenbar nicht zu verwirklichen sind, zu erreichen. Wetz hat vorgeschlagen, den Schutz der Menschenwürde auf die Selbstachtung des Individuums zu beziehen.75 Gegen diesen Vorschlag lässt sich anführen, dass die Selbstachtung bereits durch andere Normen der Moral und vor allem des Rechts (etwa das Beleidigungsstrafrecht) geschützt wird. Eines gesonderten Schutzes der Selbstachtung über die Menschenwürde bedarf es deshalb nicht. Weiterführend könnte folgender Gedanke sein: Die Positivierung der Menschenrechte seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert hat die Rechtsstellung des Individuums zunehmend verbessert und die Grundlagen für den modernen freiheitlichen Rechtsstaat gelegt. Allerdings waren die Menschenrechte nicht in der Lage, dem Aufstieg des Totalitarismus im 20. Jahrhundert wirksam entgegenzuwirken. Dies dürfte (bezogen auf die Situation in Deutschland) auch daran gelegen haben, dass Menschenund Grundrechte als einschränkbar verstanden wurden, also durch einfaches Recht eingeschränkt werden konnten. Nach dem 2. Weltkrieg setzte sich dagegen die Vorstellung durch, die Menschenwürde als neues, nicht einschränkbares Grundrecht einzuführen, sozusagen als „letzte Bastion“ des Rechts und normativer Anker der Rechtsordnung. Man kann dies als Rekurs auf eine vorstaatliche Rechtsposition ansehen, die sozusagen nur „in Erinnerung gerufen“ wurde, aber auch (wie hier) als Setzung neuen staatlichen Rechts. Beide Ansichten stimmen überein, was die „Uneinschränkbarkeit“ der Menschenwürde angeht: Nach bis heute jedenfalls in der deutschen Rechtswissenschaft ganz herrschender Vorstellung, ist jede Einschränkung der Menschenwürde eo ipso rechtswidrig; d. h. die Menschenwürde kann nicht legal begrenzt werden.76 Dadurch unterscheidet sich die Menschenwürde deutlich von Grundrechten wie der Religions- oder der Meinungsfreiheit, die zwar ebenfalls dem Individuum eine sehr starke Position einräumen, aber grundsätzlich doch durch Gesetzesrecht eingeschränkt und begrenzt werden können.

matik des Sprachgebrauchs in Philosophie und politischer Theorie, in: Topitsch (Hrsg.), Probleme der Wissenschaftstheorie. Festschrift für Victor Kraft, 1960, 233 – 264. 74 Albert, Traktat über kritische Vernunft (Fn. 13), 1991, S 66 f.; vgl. auch Wetz, Kritischer Rationalismus und Menschenwürde, in: Hilgendorf (Hrsg.), Kritischer Rationalismus und Einzelwissenschaften (Fn. 3), S. 157. 75 Wetz, Kritischer Rationalismus und Menschenwürde (Fn. 74), 2017, S. 152 f. 76 Hilgendorf, Menschenrechte, Menschenwürde, Menschenbild, in: Hilgendorf/Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2017, 366 – 372 (370).

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Eine derartig „durchsetzungsstarke“ Ausgestaltung von Menschenwürde setzt offensichtlich voraus, dass das Konzept „Menschenwürde“ eng verstanden wird. Andernfalls würde der Menschenwürdeschutz in der Praxis scheitern. Außerdem muss das Konzept „Menschenwürde“ so präzis gefasst werden, dass der Schutzbereich einigermaßen klar abgegrenzt werden kann. Ein Vorschlag, der diese Voraussetzungen erfüllen könnte, ist die „Ensembletheorie“ der Menschenwürde.77 Ihr zufolge lässt sich der Schutz der Menschenwürde durch ein Ensemble folgender Rechte darstellen: ein Recht auf Sicherung einer Existenzgrundlage (materielles Existenzminimum), ein Recht auf autonome Selbstentfaltung (Einräumung minimaler Freiheitsrechte), ein Recht auf Freiheit von extremen Schmerzen (Verbot der Folter), ein Recht auf Wahrung der Privatsphäre (gegen völlige Aufhebung der Privatsphäre), ein Recht auf geistig-seelische Integrität (gegen Gehirnwäsche und den Einsatz von Wahrheitsdrogen), ein Recht auf grundsätzliche Rechtsgleichheit (gegen Sklaverei) und ein Recht auf minimale Achtung (gegen extreme Demütigung). Das letztgenannte Recht auf minimale Achtung weist Parallelen zu dem Konzept der Selbstachtung von Franz-Josef Wetz auf.78 Um den Menschenwürdeschutz möglichst stark auszugestalten, stellt nach hier vertretener Ansicht die Menschenwürde ein Ensemble subjektiver Rechte dar, es handelt sich also nicht bloß um Fallgruppen, die bei der Interpretation des Begriffes „Menschenwürde“ gebildet wurden. Darüber hinaus werden diese subjektiven Rechte so verstanden, dass ihre Verletzung stets rechtswidrig ist. Daraus folgt etwa, dass Folter ausnahmslos rechtswidrig ist, also niemals gerechtfertigt werden kann.79 Dasselbe gilt für die Verweigerung eines materiellen Existenzminimums. Wie ausgeführt, müssen diese Rechte sehr eng verstanden werden, um nicht an den praktischen Gegebenheiten zu scheitern. Eine so konzipierte Menschenwürde bildet sozusagen nur den innersten Kern der (ihrerseits als einschränkbar gedeuteten) Menschenrechte. Es handelt sich um ein instrumentelles Konzept, da die Menschenwürde als Setzung verstanden wird, als Mittel, um Verbrechen, wie sie vor allem unter dem Nationalsozialismus begangen wurden, abzuwehren. Darüber, ob eine so verstandene Menschenwürde die Rechtsperversion des Dritten Reiches tatsächlich hätte verhindern oder zumindest zeitweise aufhalten können, lässt sich natürlich trefflich streiten. Im Lichte neuerer Erfahrungen wäre es nach hier vertretenem Verständnis möglich, die Ensembletheorie durch weitere Rechte zu erweitern oder auch sonstige Modifikationen durchzuführen, um das Ziel des Konzepts, die Gewährleistung eines unantastbaren Kernbereichs des Individualschutzes, zu verwirklichen. Auch hier gilt also die Idee von Konstruktion und Kritik: Ein Konzept wird eingeführt, um bestimmte Ziele zu erreichen, und solange es diese Ziele

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Hilgendorf, Zeitschrift für evangelische Ethik 57 (2013), 258 – 271. Wetz, Kritischer Rationalismus und Menschenwürde (Fn. 71), 2017, 141 – 157. 79 Differenzierend Merkel, Folter und Notwehr, in: Festschrift für Günther Jakobs, 2007, S. 375 ff. 78

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erreicht, kann es als bewährt gelten; das Konzept bleibt aber, im Lichte neuerer Erfahrungen, stets verbesserungsfähig.

IX. Zur Kritik der Ideologien und Religionen Kennzeichnend für Ideologien ist der Versuch, bestimmte Behauptungen oder Theorien einer kritischen Prüfung zu entziehen, insbesondere der Prüfung an der Realität.80 Im Anschluss an Karl Popper und Hans Albert hat der österreichische Philosoph Kurt Salamun Leitfragen zur kritischen Prüfung von Ideologien entwickelt:81 Werden absolute Heilsansprüche erhoben oder eine absolut wahre Erkenntnis behauptet? Findet sich die Vorstellung, ein enger Kreis auserwählter Personen hätte nach Art von Platons königlichen Philosophen einen privilegierten Zugang zur wahren Erkenntnis? Finden sich Immunisierungsstrategien, um bestimmte Thesen oder Ansprüche normativer Art gegen kritische Argumente zu schützen? Existieren Verschwörungstheorien oder Feindbilder, die rationaler Kritik entzogen sind? Finden sich in der fraglichen Theorie politische oder essentialistische Argumentationsmuster, die an eine angeblich harmonische „Ganzheit“ oder „Totalität“ appellieren? Wird versucht, den logischen Unterschied zwischen Tatsachen und Werturteilen zu verwischen, etwa indem aus Tatsachen bzw. Tatsachenaussagen Normen hergeleitet und die Normen so vor Kritik geschützt werden sollen? Werden eine oder gar mehrere dieser Fragen positiv beantwortet, so handelt es sich bei dem in Rede stehenden Glaubenssystem wahrscheinlich um eine mit dem Prinzip der kritischen Prüfung nicht vereinbare Ideologie.82 Derartige Ideologien treten heute oft in Form theologisch fundierter oder offen fundamentalistischer Theorien auf. Auf der Basis des kritischen Rationalismus lassen sich solche Überzeugungen ebenso kritisieren wie die Versuche von Religionen, ihre Glaubenswahrheiten ohne Weiteres in politische Programme umzumünzen.83 Ideologie- und Religionskritik hat in den vergangenen Jahrzehnten in der öffentlichen Debatte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine besondere Rolle mehr gespielt. Angesichts aktueller politischer Veränderungen weltweit, auch in der deut80

Hilgendorf, Hans Albert zur Einführung (Fn. 42), S. 148. Salamun, Perspektiven einer Ideologietheorie im Sinne des Kritischen Rationalismus, in: Salamun (Hrsg.), Karl R. Popper und die Philosophie des Kritischen Rationalismus. Zum 85. Geburtstag von Karl R. Popper, 1989, 252 – 268, siehe auch ders., Fundamentalistische Weltanschauungen aus der Sicht von Karl R. Poppers Kritischem Rationalismus, in: Neck/ Salamun (Hrsg.), Karl. R. Popper – Plädoyer für kritisch-rationale Wissenschaft, 2004, 201 – 221. 82 Umfassend zum Ideologiekonzept Lieber (Hrsg.), Ideologie, Wissenschaft, Gesellschaft. Neuere Beiträge zur Diskussion, 1976. 83 Albert, Zur Analyse und Kritik der Religionen, 2017; Hilgendorf, Religion, Recht und Staat. Zur Notwendigkeit einer Zähmung der Religionen durch das Recht, in: Hilgendorf (Hrsg.), Wissenschaft, Religion und Recht. Hans Albert zum 85. Geburtstag (Fn. 64), 359 – 383. 81

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schen Gesellschaft, spricht viel dafür, der Verteidigung der Offenen Gesellschaft in Zukunft wieder mehr Aufmerksamkeit zu widmen als bisher.84

X. Der europäische Sonderweg Albert hat die These vertreten, die Weltzivilisation lebe „großenteils von Ideen, die in Europa entstanden sind, und sie ist weitgehend mit Problemen konfrontiert, die auf europäische Ideen zurückgehen“.85 Die Ursachen des europäischen Sonderwegs sind umstritten. Otto Brunner nennt in diesem Zusammenhang Faktoren wie das griechische Denken, das Recht und die Staatsorganisation der Römer, die Rolle der christlichen Kirche, die autonome Stadt des Mittelalters sowie vor allem „die Daseinsformen der europäischen Neuzeit“:86 Albert hat diesen Ansatz ausgebaut und im Hinblick auf die genannten Daseinsformen „den Rechts- und Verfassungsstaat mit der repräsentativen Demokratie als Regierungsform“, den „modernen Kapitalismus als Träger der industriellen Entwicklung“ sowie „die autonome Wissenschaft mit ihrer methodisch disziplinierten Forschung und der auf sie gegründeten Technik“ benannt.87 Der Leitgedanke des europäischen Sonderwegs ist für ihn die Idee der Freiheit: „Die freie Gestaltung des eigenen Lebens ohne die Leitung durch fremde Autoritäten und ohne Bindung an fremdbestimmte Regeln, das sind die beiden Seiten der Freiheitsidee, die in der europäischen Kultur zur Zähmung der Herrschaft geführt und an die Stelle der persönlichen Herrschaft in weiten Bereichen die Herrschaft des Rechts gesetzt haben – im Gegensatz zur Normalform der Despotie mit ihrer endemischen Rechtlosigkeit, wie sie bis heute in den meisten Ländern der Erde anzutreffen ist.“88

Individualismus und rechtlich gesicherte Freiheit zur Selbstverwirklichung sind also die positiven Schlüsselkonzepte in der politischen Philosophie und Rechtstheorie des Kritischen Rationalismus, verbunden mit der Methode von „Konstruktion und Kritik“. Alles in allem kann man den Kritischen Rationalismus im Recht deshalb als Fortführung des Programms der Aufklärung begreifen: Es gilt, tradierte Normen und Werte kritisch zu hinterfragen, auf ihre Vereinbarkeit mit den – sich stetig weiter entwickelnden – humanistischen Leitideen unserer Rechtskultur zu überprüfen und sie auf dieser Grundlage für die Zukunft fortzubilden. 84 Schmidt-Salomon, Die Grenzen der Toleranz. Warum wir die offene Gesellschaft verteidigen müssen, 2016. 85 Albert, Europa und die Zähmung der Herrschaft. Der europäische Sonderweg zu einer offenen Gesellschaft, in: ders., Freiheit und Ordnung. Zwei Abhandlungen zum Problem einer offenen Gesellschaft, 1986, S. 9. 86 Brunner, Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte; in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 1968, S. 85 ff. 87 Albert, Europa und die Zähmung der Herrschaft (Fn. 85), 1986, S. 17; vgl. auch ders., Das Ideal der Freiheit und das Problem der sozialen Ordnung. Friedrich A. von Hayek-Vorlesung, 1994. 88 Albert, Europa und die Zähmung der Herrschaft (Fn. 85), 1986, S. 30 f.

Dogmatik und Hermeneutik als Leitbegriffe in Rechtswissenschaft und Theologie Von Martin Hein

I. Fremde Schwestern Die Außensicht der einen auf die andere Wissenschaft kann ebenso anregend wie irritierend sein. Das gilt umso mehr, wenn es sich um Wissenschaften handelt, die verwandt erscheinen, weil sie ähnliche Terminologien verwenden und eine lange gemeinsame Geschichte haben. Besonders trifft dies auf Jurisprudenz und Theologie zu. Hier verspricht ein struktureller Vergleich erhellend für das gegenseitige Verständnis zu sein. Beide sind eng mit dem Ursprung der europäischen Universität und der Entwicklung einer europäischen Identität überhaupt verbunden. Und die Berührungspunkte liegen sowohl auf der Oberfläche der gesellschaftlichen Aktivitäten als auch in der Tiefenstruktur ihres jeweiligen Gegenstands und ihrer Methodik. Es sind zwei Begriffe, die sich seitens der Theologie für den vergleichenden Blick auf die Rechtswissenschaft nahelegen, weil sie in beiden Wissenschaften verwendet werden – und doch nicht völlig univok sind: Dogmatik und Hermeneutik.1 Die zunächst unpräzis anmutende Kategorie „Leitbegriffe“ versucht der Tatsache gerecht zu werden, dass sich in Rechtswissenschaft und Theologie das Verständnis von Dogmatik unterscheidet und in beiden Wissenschaften die Rolle der Hermeneutik abweichend gedeutet wird. Hinter der letztgenannten Differenz steht eine andere Auffassung hinsichtlich der Funktion von Texten im Anwendungsbereich beider Wissenschaften. Das soll im Folgenden beleuchtet werden – und zwar aus einer dezidiert evangelisch-theologischen Sicht. Diese Einschränkung bedarf einer Erläuterung: Es ist gerade die Rolle des Rechts, an der sich nicht nur kirchenunterscheidende, sondern kirchentrennende Differenzen zeigen. Und es ist auch für Nicht-Theologen durchaus von Bedeutung, diese Differenzen wahrzunehmen – gerade wenn es um das Verhältnis von Recht und Ethik, von 1 Einen knappen Überblick bietet Rainer Walz, Zur grundsätzlichen Trennung von Rechtswissenschaft und Theologie, in: Heiner Adamski/Axel Denecke/Wilfried Hartmann (Hrsg.), Der „Gott“ der Fakultäten. Gott der Wissenschaft – Gott, der Wissen schafft? (Hamburger Theologische Studien 21), Münster/Hamburg/London 2000, S. 92 – 97. „Als Fazit dieser Auseinanderentwicklung von Recht und Theologie, Rechtspraxis und Gottesfrage müssen wir festhalten: Theologie und Rechtswissenschaft sind nach Gegenstand und Methode verschieden“ (S. 95).

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Glaube und Moral und von lehramtlicher Verbindlichkeit und Diskurskultur geht. Genau in diesen unterschiedlichen Akzentuierungen liegt die Quelle vieler Missverständnisse, die man sich aber auf Dauer kaum wird leisten können. Denn die globale Perspektive zwingt dazu, in eine gemeinsame Reflexion über Religion und Recht einzutreten, die über rein staatskirchenrechtliche Fragen hinausgeht.

II. Berührungspunkte von Religion und Recht Religion und Recht, Theologie und Rechtswissenschaft berühren sich in vielfacher Hinsicht. Und diese Berührungspunkte sind keineswegs nur historischer Natur, sondern weiterhin aktuell.2 Sie sollen in gebotener Kürze benannt werden, weil es nicht nur von Bedeutung ist, auf welcher Ebene die Begegnung von Theologie und Rechtswissenschaft stattfindet, sondern auch, ob die Gesprächspartner diese unterschiedlichen Ebenen jeweils angemessen identifizieren. 1. Kirchenorganisation Kirchen können in Deutschland Körperschaften des öffentlichen Rechts sein (Art. 140 GG) und demzufolge im Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung ein eigenes, auf ihren Bereich bezogenes und begrenztes Recht entwickeln. Das kommt dem evangelischen Verständnis von „Kirche“ sehr nahe, wonach sie als Organisation allein (!) dem weltlichen Bereich zuzuordnen ist und sich nach einem vergleichbaren Regelsystem konstituiert.3 Ihre Organisationsgestalt ist einerseits rechtlich geregelt, andererseits aber – wie der Blick in die Wirklichkeit der evangelischen Landeskirchen zeigt – sehr pluriform und variabel. Rechtsetzende Instanz sind immer die jeweiligen Kirchensynoden und die von ihr abgeleiteten (und ihr gegenüber rechenschaftspflichtigen) Organe, nicht etwa ein bischöfliches Amt, das vielmehr diesem Recht vollständig unterliegt.4 Es ist deutlich, dass damit das Recht und die Rechtswissenschaft im evangelischen Raum eine andere Bedeutung haben5 als in der römisch-katholischen Kirche, 2 Vgl. dazu: Zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft, Schwerpunkt „Religion und Recht“, 3/2019. 3 Martin Heckel, Martin Luthers Reformation und das Recht. Die Entwicklung der Theologie Luthers und ihre Auswirkungen auf das Recht unter den Rahmenbedingungen der Reichsreform und der Territorialstaatsbildung im Kampf mit Rom und den „Schwärmern“ (Jus Ecclesiasticum 114), Tübingen 2016, bietet eine umfassende Auseinandersetzung zu diesem Thema. 4 Vgl. Hans Ulrich Anke, Rechtsquellen und kirchliche Gesetzgebung, in: Hans Ulrich Anke/Heinrich de Wall/Hans-Michael Heinig (Hrsg.), Handbuch des evangelischen Kirchenrechts, Tübingen 2016, S. 162 – 200, bes. 165 f. 5 Vgl. Anke (wie Anm. 4), S. 169: „Das Recht selbst ist in der evangelischen Kirche nur ein Hilfsmittel unter anderen, um irdische Organisationsformen bereitzustellen und die Ordnung

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in der die – als Rechtsverhältnis konstituierte – Kirchenmitgliedschaft und die religiöse Jurisdiktion des Lehramts, repräsentiert durch den Papst und niedergelegt im kanonischen Recht, auch für die Gottesbeziehung konstitutiv sind. Zudem gibt es in den evangelischen Landeskirchen – im Rahmen des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts – eine eigenständige Kirchengerichtsbarkeit, die in ihrem Urteil unabhängig ist.6 Hier zeigt sich die ordnende und Erwartungssicherheit garantierende Funktion des Rechts in evangelischer Perspektive besonders deutlich. Das Kirchenrecht verbindet in seiner historischen Tiefenstruktur Theologie und Rechtswissenschaft, insofern im evangelischen Kirchenrecht nach 1918/19 (das im Kern ein Dienst- und Verwaltungsrecht ist) Reste des alten kanonischen Rechts weiterleben.7 Und über das nach der Auflösung des landesherrlichen Kirchenregiments entstandene Staatskirchenrecht besteht die Beziehung zur Jurisprudenz auch dergestalt, dass die Frage eines möglichen europäischen Religionsverfassungsrechts neue Perspektiven entwirft und die Rechtsprechung ungeachtet der Bestimmungen des Art. 17 AEUV – aktuell etwa das kirchliche Arbeitsrecht betreffend – zu beeinflussen beginnt.8 2. Die Frage nach dem Ursprung des Rechts Auf einer tiefer reichenden Ebene sind Rechtswissenschaft und Theologe verbunden in der Frage nach der Herkunft des Rechts, den Rechtsquellen und der Geltung des Rechts. Sie lebt neuerdings – nachdem sie spätestens seit der Aufklärung als erledigt galt – wieder auf. Allerdings bietet sie zugleich eine Fülle von möglichen Missverständnissen bzw. Selbstmissverständnissen. Es steht zum einen die Frage im Raum, ob Gott (direkt oder indirekt) der Stifter des Rechts sei – und zwar nicht nur eines religiösen, Kult und Glaubensleben bestimmenden Rechts, sondern auch des weltlichen, Strafe und Gerechtigkeit betreffenden Rechts. Aus aufgeklärter Perspektive scheint das ein völlig abwegiger Gedanke zu sein;9 er spielt aber in der Argumentation vor allem religiös fundamentalistisch ausdes Zusammenwirkens der Kirchenglieder, die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat sowie die ordnungsgemäße Verwaltung der Sakramente zu befördern.“ 6 Eine ausführliche historische und systematische Darstellung bei Michael Germann, Kirchliche Gerichtsbarkeit, in: Handbuch des evangelischen Kirchenrechts (wie Anm. 4), S. 1060 – 1127: „Die Funktion der kirchlichen Gerichtsbarkeit in der kirchlichen Rechtsordnung ist kirchliche Rechtsprechung: die fremdinitiierte, externe, abschließende Kontrolle kirchlichen Handelns am Maßstab des kirchlichen Rechts“ (S. 1081). 7 Vgl. Anke (wie Anm. 4), S. 166. 8 In diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung von Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung der Kirchen und Religionsgemeinschaften von elementarer Bedeutung, weil es um ihr verfassungsmäßig garantiertes Selbstbestimmungsrecht geht: Wer legt fest, was „Religion“ ist – und was sie umfasst? 9 Walz (wie Anm. 1), S. 97: „Die moderne Rechtswissenschaft arbeitet ohne die Hypothese Gott.“

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gerichteter Gruppen eine nicht unwesentliche Rolle. Durch den politisch radikalisierten Islam steht das Thema auf der Tagesordnung.10 Eine reine Selbstbezüglichkeit des Rechts zu denken,11 bedeutet für entsprechende religiöse Gruppierungen nach wie vor eine große Irritation. Damit verwandt ist zum anderen das Problem des Naturrechts: Es ist keineswegs so, dass der christliche Glaube eo ipso ein naturrechtliches Verständnis von der Herkunft des Rechts besitzt. Gerade der Protestantismus hat sich gegenüber dergleichen Vorstellungen stets deutlich reserviert gezeigt. Die Entkoppelung von Naturrecht und göttlichem Recht in Richtung eines vernunftbasierten Naturrechts ist gerade im protestantischen Raum vollzogen worden.12 Obwohl die Frage nach der Letztbegründung des Rechts eine der kompliziertesten theologischen Fragen darstellt, weil sie unmittelbar die Konstitution der Beziehung von Gott und Mensch tangiert, wird sie erstaunlicherweise im evangelischen Kontext nur wenig behandelt. Hier entstehen sowohl innertheologisch als auch im gesellschaftlichen Diskurs bisweilen Fehleinschätzungen, was die Bestimmung des Verhältnisses von Ethik, Moral und Recht, von Legitimität und Moralität betrifft.

10 Vgl. dazu den instruktiven, aus römisch-katholischer Sicht konzipierten Sammelband: Nora Kalbarczyk/Timo Güzelmansur/Tobias Specker SJ (Hrsg.), Gibt Gott Gesetze? Ius divinum aus christlicher und muslimischer Perspektive (CIBEDO 5), Regensburg 2018. Johannes Caspar, Thesen zu Gottesfrage und Rechtswissenschaft, in: Adamski/Denecke/Hartmann (wie Anm. 1), S. 92 – 97, konstatiert: „Werden […] religiöse Normen wie Rechtsnormen mit einem äußeren staatlichen Zwangsstab durchgesetzt, handelt es sich um keinen Rechts-, sondern um einen Gottesstaat“ (S. 91). 11 Sie findet ihre Vollendung in Luhmanns systemtheoretischer Betrachtung des Rechts (vgl. Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt 1993): Als System stellt das Recht autopoetisch nichts anderes dar als die Auseinanderentwicklung der Basistautologie „Recht ist Recht“ (S. 56), denn Recht wird dort konstituiert, wo die „Leitdifferenz“ Recht/ Unrecht zum Einsatz kommt. „Wir schneiden jeden Rekurs auf eine ,höhere Ebene‘ der Sollwertzuteilung ab. Recht gilt, wenn es mit dem Geltungssymbol als geltend bezeichnet wird – und wenn nicht, dann nicht“ (S. 32). 12 Vgl. Michael Moxter, Über die Idee einer Religionsphilosophie des Rechts. Eine Erinnerung an Gustav Radbruch, in: Herta Nagl-Docekal/Friedrich Wolfram (Hrsg.), Jenseits der Säkularisierung. Religionsphilosophische Studien (Schriften der Österreichischen Gesellschaft für Religionsphilosophie 9), Berlin 2008, S. 71 – 94, hier S. 73: „Säkularisierung setzte auf dem Gebiet des Rechts und der Jurisprudenz ein, und zwar als Entzug von Rechten, die die Kirchen zuvor hatten. Dem folgte eine Entzauberung des Rechts hinsichtlich seiner religiösen Grundlagen.“ Das schließt aber nicht aus, dass das Recht „implizite Religion“ enthält, das sich einer religionsphilosophischen Betrachtung erschließt. Vgl. auch Walz (wie Anm. 1), S. 94: „In Deutschland haben die schrecklichen Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges zu einer radikalen Entkonfessionalisierung des Rechts geführt […]“. Gleichzeitig erfordert die beginnende Globalisierung die Formulierung eines Völkerrechtes „etsi deus non daretur“ (S. 94). Vgl. dazu schon Luhmann (wie Anm. 11), S. 377.

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3. Juristische Metaphorik in der biblischen Tradition Das führt zur dritten Ebene der Verwandtschaft von Theologie und Rechtswissenschaft: Die Bibel verwendet von Anfang an Metaphern des Rechts für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch. Die religiöse Sprache ist geradezu durchsetzt von Rechtsbegriffen und rechtlichen Denkkategorien. Das gilt zunächst für die Hebräische Bibel, in christlicher Terminologie: das „Alte“ Testament. Die Erzählung vom „Sündenfall“ (Genesis 2 – 4) als der Übertretung eines göttlichen Gebots endet mit der Eintrübung der Beziehung zwischen Gott und Mensch und – als Folge davon – mit dem Verlust des Paradieses: ein für die europäische Rechtsgeschichte und Staatengeschichte grundlegender Mythos. Unter dieser Perspektive stellen die Texte des Alten Testaments im Wesentlichen die Bemühungen dar, das zerstörte Rechtsverhältnis durch Bundesschlüsse, Kult- und Rechtsregeln wieder zu heilen. Das Alte Testament ist daher in seinen wesentlichen Teilen ein Rechtsbuch, in dem sich (aus moderner Perspektive formuliert) kultische, vertragsrechtliche, strafrechtliche und staatsrechtliche Bestimmungen ständig vermischen.13 Die für das Christentum zentrale Erlösungstat durch Jesus Christus wird im „Neuen“ Testament ebenfalls in Metaphern der Rechtsbeziehung beschrieben, weil es auch in ihr um die Heilung der gestörten Beziehung von Gott und Mensch geht. Besonders Paulus hat der christlichen Theologie eine solche Richtung vorgegeben, weil er als pharisäisch ausgebildeter Jude zugleich Rechtsgelehrter war und die Bedeutung des Todes Jesu am Kreuz als Neukonstituierung des Rechtsverhältnisses von Gott und Mensch verstand: „Christus ist des Gesetzes Ende“ (Römerbrief 10,4).14 Das Ziel der religiösen Existenz ist es, „Gerechtigkeit“ vor Gott zu erlangen, die nicht durch Gesetzesobservanz erworben, sondern durch göttliche Barmherzigkeit bzw. „allein aus Gnade“ geschenkt wird. Das ist der Kern der für den Protestantismus wesentlichen „Rechtfertigungslehre“. Juristisch Gebildete mögen sofort einwenden, Gnade sei keine juristische Kategorie, sondern gerade die Aufhebung des Rechts durch einen souveränen überrechtlichen Akt!15 Mit dem Vorrang der „Gnade“ vor dem „Gesetz“ werde – aus juristischer Perspektive – einer Relativierung

13 Wolfhart Pannenberg, Einleitung, in: Manfred Fuhrmann/Hans Robert Jauß/Wolfhart Pannenberg, Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch (Poetik und Hermeneutik 9), München 1981, S. 15 – 24, beleuchtet diesen biblischen Komplex, der im ersten Teil des Bandes ausführlich behandelt wird. 14 Im griechischen Text steht „télos“ („Ziel“). Luthers Übersetzung ist bereits eine theologische Auslegung des Textes. Die Diskussion über diese Akzentuierung und ihre Folgen dauert in der Theologie bis heute an. 15 Vgl. dazu Martin Hein, Gnade als Existenzbedingung in einer gnadenlosen Welt. Vortrag bei der Veranstaltungsreihe „Doppelkopf“ der Evangelischen Akademie Frankfurt zum Auftakt des Reformationsjubiläums, 16. Dezember 2016, https://www.ekkw.de/media_ekkw/down loads/bischof_161219_vortrag_gnade.pdf (Aufruf 17. 07. 2019).

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des Rechts Vorschub geleistet.16 Aber das ändert nichts an der Einsicht, dass semantisch eine explizit rechtlich eingefärbte Begrifflichkeit verwendet wird. Und die vielleicht elementarste rechtlich konnotierte Metapher des christlichen Glaubens ist die vom „Jüngsten Gericht“, die der Bilderwelt der jüdischen Apokalyptik entstammt. Sie beschreibt ein finales Urteil Gottes über den Menschen; und der christliche Glaube hat seinen stärksten Hoffnungs- und Gewissheitsimpuls darin, dass hier ein für alle Mal Gerechtigkeit geschaffen wird. Nachdem es lange Zeit in der Theologie geradezu verpönt war, auf die Metapher vom „Jüngsten Gericht“ zu sprechen zu kommen, hat sich das geändert: Angesichts des unübersehbar Bösen in der Welt, angesichts der bösen Taten, die Menschen an Menschen verüben, kann es nicht sein, dass dies alles eschatologisch irrelevant ist. Wie Gottes Urteil ausfällt, bleibt ihm überlassen. Aber dass er ein Urteil spricht, ist aus Gründen der Moralität unabdingbar! Wohlgemerkt: Es handelt sich um „Metaphern“. Das in der Bibel Geschilderte richtig zu interpretieren und das bestehende Rechtsverhältnis zwischen Gott und Mensch nun gerade nicht durch gesetzliche Regelungen zu „verrechtlichen“, ist eine der wesentlichen Aufgaben theologischer Dogmatik und Hermeneutik. Denn die Verrechtlichung des Glaubens als reine „Gesetzlichkeit“ hat nach evangelischem Verständnis das Schlimmste zur Folge, was dem Glauben widerfahren kann: nämlich den Verlust und das Ende der Freiheit!

III. Dogmatik 1. Dogmatik als theologische Disziplin In der Theologie bildet „Dogmatik“ zusammen mit „Ethik“ im Rahmen der „Systematischen Theologie“ eine eigenständige und mit Lehrstühlen ausgestattete Disziplin. Daneben gibt es die historischen und die praktischen Disziplinen, die sich mit Altem und Neuem Testament, der Christentums- und Religionsgeschichte und mit Predigt, Seelsorge, Unterricht und Diakonie befassen. Erstaunlicherweise ist der Begriff „Dogmatik“ für das theologische Fach nicht so alt, wie man meinen sollte. Er rührt wesentlich aus dem 19. Jahrhundert her, als sich die Theologie im Rahmen der allgemeinen Entwicklung der Wissenschaften nicht nur an der Universität neu positionieren musste, sondern auch begann, sich auszudifferenzieren: „Dogmatik“ meinte die philosophisch-systematische Beschäftigung mit

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Moxter (wie Anm. 12), S. 75, weist darauf hin, dass in der protestantischen Theologie vor allem nach dem Aufkommen des Rechtspositivismus gegenüber dem Recht eine „Hermeneutik des Verdachts“ zu beobachten ist: „,Recht‘ erscheint als Inbegriff einer bloß äußeren Angelegenheit, als Ausdruck eines Vertragsdenkens, das der Innerlichkeit des Gottesverhältnisses nicht genügen könne.“

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der christlichen Lehre, während die anderen Disziplinen zunehmend historisch-philologisch arbeiteten.17 Eine der neueren evangelischen Dogmatiken definiert ihre Aufgabe mit dem Satz: „Dogmatik ist die zusammenhängende Darstellung christlicher Lehre“.18 Der Kern der „christlichen Lehre“ besteht allerdings im Protestantismus nicht in einer in zeitlos wahren Sätzen zu glaubenden Wahrheit, sondern ist ein existenzveränderndes Geschehen, das sich unter der Kommunikation der christlichen Botschaft vollzieht. Auf dem Grund dieser Kommunikation findet sich auch keine Lehre, die als ein Ensemble axiomatischer Sätze verstanden werden könnte, sondern eine „Story“: die Erzählung der Geschichte Gottes mit seinem Volk, die in der Erzählung von Jesus Christus ihre Zuspitzung und Vollendung erfährt. Die „Offenbarung“, wie sie der christliche Glaube versteht, ist eine existenzverändernde Begegnung mit einer Person und ihrer Botschaft, die nicht zuerst argumentativ entfaltet, sondern erzählt wird. Nun will der christliche Glaube aber auf eine bestimmte Weise auch die Welt deuten: Er „interpretiert die Wirklichkeit und ihre Phänomene aus der Perspektive des Evangeliums“.19 Das Evangelium als verändernde und befreiende Zusage Gottes wiederum begegnet in der Bibel – und zwar, wenn diese als „Heilige Schrift“ gelesen wird. Wie die Heilige Schrift angemessen zu lesen sei, findet seinen Ausdruck in den Bekenntnissen.20 Heilige Schrift und Bekenntnisse bilden also die beiden Quellen der evangelischen Dogmatik. Deren Aufgabe besteht nun darin, Welt, Mensch, Heilige Schrift und Bekenntnis wechselseitig und methodisch kontrolliert aufeinander zu beziehen. Ziel ist es, eine kohärente zeitgemäße Explikation der christlichen Botschaft zu ermöglichen. Das ist etwas anderes als die juristische Interpretation eines vorhandenen Gesetzestextes oder die Anwendung von Recht in Form der Subsumtion – aber damit verwandt. Um das nachzuvollziehen, muss sich das Augenmerk auf die zentrale Handlung des Glaubens einerseits und des Rechts andererseits richten. 2. Verkündigung und Verkündung Nicht von ungefähr liegen der theologische Begriff der „Verkündigung“ und der juristische der „Verkündung“ sprachlich dicht beieinander. Beide haben auf ihre Weise mit „Veröffentlichung“ und „Öffentlichkeit“ zu tun! Richterinnen und Richter 17

Dabei ist zu bedenken, dass der Protestantismus „Dogma“ grundlegend anders versteht als der römische Katholizismus oder die Orthodoxie – einer der Gründe, warum der Begriff über Jahrhunderte im evangelischen Bereich eher vermieden wurde. 18 Ulrich H. J. Körtner, Dogmatik (Lehrwerk Evangelische Theologie 5), Leipzig 2018, S. 3 (im Original kursiv). 19 Ebd., S. 18 (im Original kursiv). 20 Dies ist die einzige Stelle, an der in der evangelischen Theologie der Normbegriff als theologischer Begriff auftaucht: das Wort Gottes als „norma normans“ und das Bekenntnis als „norma normata“, vgl. dazu ebd., S. 54.

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sind dabei allein „Recht und Gesetz“ verpflichtet, gleichzeitig aber befähigt, ihrem eigenen Urteil und ihrer sowohl erworbenen als auch zugesprochenen Kompetenz zu vertrauen. Ähnliches wird von Pfarrerinnen und Pfarrern erwartet. Am Ende steht jeweils ein öffentlicher performativer Sprechakt: das Urteil des Gerichts („Verkündung“) bzw. die Predigt des Evangeliums („Verkündigung“). Evangelische Pfarrerinnen und Pfarrer sind der Heiligen Schrift und den Bekenntnissen verpflichtet, wobei die zugleich vorausgesetzte Bindung an das Gewissen eine noch stärkere individuelle Komponente besitzt. Genau hier hat die „Dogmatik“ ihren Ort: Sie sagt nicht, was zu sagen ist, sondern wie ich zu dem gelange, was zu sagen ist. Damit nähert sich das evangelische Verständnis von Dogmatik als methodisch geleitete Selbstvergewisserung zumindest einigen Positionen des juristischen Verständnisses von Dogmatik an: Theologische Dogmatik versucht, Erwartbarkeit, Systematik und innere Kohärenz von Glaubenssätzen zu erreichen. Eine christliche Predigt dagegen ist ihrer Intention nach die Entfaltung der Geschichte des Volkes Gottes und seiner Erfahrungen mit Gott in der Gegenwart der Hörenden.21 Ihr Ziel ist das Einstimmen in den Glauben und die Veränderung der eigenen Lebensorientierung auf Freiheit hin. Die Predigt wäre völlig missverstanden, wollte man sie als Aufreihung dogmatischer Behauptungen oder gar als ethische Fixierung sehen oder gerade das von ihr erwarten.22 Sie ist „Auslegung“ – worauf noch zurückzukommen ist. Mit der juristischen Dogmatik scheint es demgegenüber nicht so klar bestellt zu sein.23 Sie bildet kein wissenschaftliches „Fach“ innerhalb der Rechtswissenschaften wie die Dogmatik in der Theologie, und sie ist auch in einer sehr viel grundlegenderen Hinsicht umstritten: Schon allein die Frage, ob es sie überhaupt geben muss und kann, ist Gegenstand der innerjuristischen Debatte24 – eine Frage, die sich dem christlichen Glauben nicht stellt, sofern er sich als „denkender Glaube“ versteht. 21 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Frage und Antwort – Das Normative in christlicher Überlieferung und Theologie, in: Fuhrmann/Jauß/Pannenberg (wie Anm. 13), S. 418: „Ebenso wenig wie die Bibel als Gesetzesnorm oder Präjudiziensammlung, fungiert die Predigt als Urteil, das die Gesetzesnorm auf die jeweiligen Hörer anzuwenden hätte.“ 22 Ders., Über Menschwürde, persönliche Freiheit und Freiheit der Kunst – Theologische Erwägungen aus Anlass des Falles ,Mephisto‘, in: ebd. (wie Anm. 13), S. 137 – 148, sieht hier eine deutliche Differenz zwischen der Theologie und der Jurisprudenz: „Die religiöse Erfahrung ist nicht primär Normbewußtsein, sondern Erfahrung einer ursprünglicheren, eben ,göttlichen‘ Wirklichkeit. An dieser Stelle ist der Ort der tiefsten Differenz zwischen theologischer und juristischer Hermeneutik zu vermuten“ (S. 137). 23 Vgl. Gregor Kirchhof/Stefan Magen/Karsten Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik? Was leistet und wie steuert die Dogmatik des Öffentlichen Rechts? (Recht – Wissenschaft – Theorie 7), Tübingen 2012. Dieser Sammelband gibt einen guten Einblick in die Debatte. Vor allem Oliver Lepsius, Kritik der Dogmatik, S. 39 – 62, ist aus theologischer Perspektive instruktiv. 24 Sie ist jedenfalls keine eigene Fachdisziplin innerhalb der Rechtswissenschaften, wie es die Dogmatik innerhalb der Theologie ist. Vgl. die Verortungen der Dogmatik bei Winfried

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3. Aufgaben und Grenzen von Dogmatik: „Multifunktionalität“ Der Theologe Michael Welker arbeitet angesichts der Strukturanalogien zwischen theologischer und juristischer Dogmatik25 als bemerkenswerten Unterschied heraus, dass die Debatte um Aufgabe und Funktion der Dogmatik in der Rechtswissenschaft für Außenstehende zumindest deutlich auch von ideologischen Vorgaben bestimmt ist und sich so kein einheitliches Bild davon einstellen will, was juristische Dogmatik überhaupt sei, was sie leisten könne und solle. Doch gerade als Theologe, der sich den Fragen nach der Wissenschaftlichkeit der Theologie stellt und sie sowohl auf ihren Gegenstand wie auf ihre Methode in der Neuzeit hin befragt, hält er fest, es sei den Versuch wert, „einen klaren Blick auf die Multifunktionalität der Dogmatik, und zwar der Rechtsdogmatik und einer Dogmatik überhaupt, zu gewinnen“.26 Wichtig ist dabei, dass man keinen „dogmatischen“ Begriff von Dogmatik hat, der aus einer abstrakten Norm heraus entwickelt, was sie sein soll, sondern einen funktionalen Dogmatikbegriff entwickelt, der beschreibt, was sie tatsächlich tut – und zwar sowohl in der Theologie als auch im Recht. Welker betont: „Die ,wissenschaftliche Selbstprüfung des Rechtssystems‘ scheint in der Tat eine zentrale Aufgabe der Dogmatik zu sein“:27 die Selbstbeschreibung des Rechts,28 die aber zugleich auch die Fremdbeobachtung ermöglicht. Damit ist Dogmatik zu allererst ein Verfahren, was bedeutet, dass sie als eine Methode verstanden wird, wie Inhalte auf kontrollierbare und nachvollziehbare Weise miteinander verwoben sind. Ihr funktionaler Charakter ist zugleich auch ein systemischer, ohne dass die beiden Aspekte einfach ineinander aufgehen. Folgt man Welker, dann bedeutet Dogmatik gerade nicht Erstarrung, sondern kann im Gegenteil der Motor für Innovation und Paradigmenwechsel sein, insofern sie kritisch Brüche, Spannungen, Leerstellen und Fehlstellen identifiziert und benennt. Zugleich aber sieht Welker die Dogmatik zwischen „Gesetz und Fall“29 : Sie wird sowohl von der Wissenschaft als auch in der Praxis produziert, weil aus dogmatischer Perspektive jedes Urteil ein Beitrag zur dogmatischen Entwicklung ist, wie andererseits dogmatische Entwicklungen das Urteilsverhalten von Richterinnen und Richtern sowie das Gesetzgebungsverfahren des Gesetzgebers verändern. Damit verknüpft die wissenschaftliche Dogmatik die Ebene der Reflexion mit der Ebene der Ausübung. Diese Position zwischen akademischer Reflexion und unmitHassemer, Dogmatik zwischen Wissenschaft und richterlicher Pragmatik (wie Anm. 23), S. 3 – 15. 25 Michael Welker, Juristische und theologische Dogmatik, in: Evangelische Theologie 75 (2015), S. 325 – 341. Er rekurriert dabei auf den Tagungsband „Was weiß Dogmatik?“ (wie Anm. 23). 26 Ders. (wie Anm. 25), S. 329. 27 Ebd., S. 329. 28 Vgl. Luhmann (wie Anm. 11), S. 11. 29 Welker (wie Anm. 25), S. 329.

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telbarer Rechtsausübung – so Welker – „scheint dem wissenschaftlich-dogmatisch gestützten Richterrecht einen beträchtlichen Einfluss auf die Rechtserzeugung und Gesetzgebung in Aussicht zu stellen. Das wiederum ist nur zu begrüßen, da Rechtserzeugung und Gesetzgebung natürlich vielfältigen politischen, zivilgesellschaftlich-moralischen, medialen, wirtschaftlichen und anderen Erwartungen ausgesetzt sind“30. Rechtsdogmatik ist in der Lage, außerrechtliche Fragen in die Rechtsdiskussion einzubringen. Das ist nun – per analogiam – ebenfalls eine der wichtigsten Funktionen der theologischen Dogmatik: die Anschlussfähigkeit sowohl zu den anderen Wissenschaften als auch zur alltäglichen Erfahrung herzustellen. Jede andere Definition von Dogmatik, die sie etwa als Produzentin von „Wahrheit“ versteht, verfehlt zumindest das evangelische Verständnis. Gleichwohl ist keineswegs ausgeschlossen, dass sie Wahrheitsansprüche erhebt!

4. Der gesellschaftliche Ertrag von „Dogmatik“ Die Einbindung der Rechtswissenschaft und der Theologie in das Wissenschaftssystem via Dogmatik31 kann jedenfalls für die Gesellschaft von hohem Interesse sein, weil dadurch dreierlei gesichert wird: (1) Theologie und Rechtswissenschaft werden erkennbar im Sinne von Transparenz und Kontrolle, (2) sie sind eingebunden in den öffentlichen wissenschaftlichen Diskurs und (3) sie unterliegen zugleich der Freiheit der Wissenschaft, sodass Versuche der moralischen, politischen oder wirtschaftlichen Einflussnahme eingedämmt werden können.32 Die Einbindung in das Wissenschaftssystem steigert für beide die Komplexität und den inneren Pluralismus mit der Folge, dass „diese Errungenschaften mit vielfältigen intensiven Formen der akademisch institutionalisierten Erkenntniskontrolle einhergehen, die zusätzliche Formen von Selbstprüfung und Selbstkritik zu den gerichtlichen und gesetzgeberischen bzw. kirchlichen und religiös-moralischen Formen solcher Prüfung bereitstellen und implementieren“33. 30

Ebd., S. 329. Die Theologie ist auch über ihre historischen Wissenschaften mit dem Wissenschaftssystem verbunden. Während diese (Rechtsoziologie, Rechtgeschichte, Rechtsphilosophie) in der Jurisprudenz ausdrücklich als Hilfswissenschaften betrachtet werden, sind sie der modernen Theologie wegen des geschichtlichen Charakters des Glaubens wesentlich, vgl. Ulrich H. J. Körtner, Einführung in die theologische Hermeneutik, Darmstadt 2006, S. 25 f. 32 Diesbezüglich hat sich der Deutsche Wissenschaftsrat eindeutig positioniert: „Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen“, vom 29. 01. 2010, einzusehen unter http://www.wissenschaftsrat.de/ download/archiv/9678 - 10.pdf (Aufruf 18. 07. 2019), vgl. dazu Martin Hein, Theologie als universitäre Wissenschaft. Ein Plädoyer aus evangelischer Perspektive auf dem Hintergrund der „Empfehlungen“ des Wissenschaftsrates, in: Frank Hofmann/Karl Waldeck (Hrsg.): Martin Hein, Theologie in der Gesellschaft. Aufsätze zur öffentlichen Verantwortung der Kirchen, Leipzig 2014, S. 255 – 278. 33 Welker (wie Anm. 25), S. 330. 31

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Ähnlich argumentiert von juristischer Seite her Ulli F. Rühl,34 wenn er die rechtswissenschaftliche Dogmatik als Kulturwissenschaft verstanden wissen will: Sie sei insbesondere eine „Verstehenswissenschaft“35, also eine hermeneutische Wissenschaft, die zwar keine Wahrheiten, aber sehr wohl Wahrheitsansprüche formuliere. Rühl zitiert dazu ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1973: „Im verfassungsrechtlichen Sinn ist Wissenschaft jede Tätigkeit, die ,nach Inhalt und Form als ernsthafter und planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist‘“.36 Wissenschaft ist für Rühl „methodische Suche (Streben) nach der Wahrheit.“ Gegenstand der Rechtswissenschaft als Verstehenswissenschaft sind „Texte in Gestalt von Gesetzen, Gesetzesmaterialien und Präjudizien, welche die Rechtsdogmatik mittels hermeneutischer Methoden zu verstehen und auf konkrete Fälle anzuwenden versucht“.37 Mit dieser Orientierung an der Wahrheitsfrage bekommen die Dogmatiken eine gegenüber der Gesellschaft und ihren Systemen – vor allem den Wissenssystemen – kritisch-hermeneutische Funktion. Oder um es mit Welker zu sagen: „Die Selbstverpflichtung zur Wahrheitssuche muss einhergehen mit der in der Moderne oft schwer zu vermittelnden Erkenntnis, dass Wahrheit wohl Gewissheit und Konsens einschließen kann und in der Regel einschließen sollte, dass die Wahrheitssuche aber auch immer wieder Gewissheiten und Konsensbildung problematisiert.“38 Und er fasst – mit durchaus angemessenem Pathos – zusammen: „So, wie es den Glauben ehrt, dass er eine wie immer emotionalisierte Religiosität und diverse wie immer eingespielte religiöse Autoritäts- und Abhängigkeitsverhältnisse durch die wissenschaftliche Wahrheitssuche geprüft und begleitet sehen will, so ehrt es das Rechtssystem, dass es die Suche nach Gerechtigkeit, nach Konfliktlösung und Steuerung wohlgeordneter gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse auch durch die wissenschaftlich kultivierte Wahrheitssuche bereichern, filtern und prägen lässt.“39 Was Welker die „Multifunktionalität“ der Dogmatik nennt, spiegelt sich in beiden Wissenschaften darin wider, dass sie in mehrere Bezugssysteme eingebunden ist. Sie sichert nicht nur die inhaltliche Identität von Glauben bzw. Recht (verhindert also 34

Ulli F. Rühl, Ist die Rechtswissenschaft überhaupt eine Wissenschaft? Vortrag, Bremen 2005; https://www.jura.uni-bremen.de/uploads/Ulli_Ruehl/Ruhl-ReWi_Vortrag.pdf (Aufruf 08. 03. 2019). Den Hinweis verdanke ich dem ehemaligen Präsidenten des Bundesozialgerichts, Dr. h.c. Peter Masuch. 35 Ebd., S. 14. 36 Ebd., S. 14. (Kursive im Original). 37 Ebd. S. 14. 38 Welker (wie Anm. 25), S. 331. 39 Ebd., S. 331 f. Insofern sind sowohl die Institutionen der verfassten Religion, also die Kirchen, als auch die Institutionen verfassungsmäßig etablierter und konstituierter Rechtspflege auf akademisch gebildete und dogmatisch urteilsfähige Akteure angewiesen.

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subjektive Beliebigkeit oder Willkür), sondern begründet auch Methoden der Wahrheitsfindung und der Wahrheitsdokumentation. Sie tut dies zum einen in normativer Rückbindung (z. B. an die Verfassung, an das Gesetz und die Praxis der Rechtsprechung in der Rechtswissenschaft bzw. an die Heilige Schrift und die Bekenntnisse in der Theologie),40 zum anderen in der tatsächlichen Praxis ihrer Akteure. 5. Das Problem des „Kodex“ Welker stimmt interessanterweise Udo Di Fabio zu, wenn dieser – etwas zugespitzt – feststellt: „Das Gesetz ist für den Juristen das, was die Heilige Schrift für den Theologen in den großen Schriftreligionen ist“.41 Gegen diese Behauptung einer funktionalen Äquivalenz von Gesetz und Heiliger Schrift lassen sich jedoch gewichtige Einwände formulieren. Abgesehen davon, dass die Rolle der „Heiligen Schrift(en)“ in Judentum und Koran eine andere ist als im Christentum, ist auch innerhalb des Christentums die Bedeutung der Heiligen Schrift von der des Gesetzes für Juristen zu unterscheiden.42 Denn die „Heilige Schrift“ ist nicht einfach mit der Bibel (als Buch bzw. Kodex) gleichzusetzen. Auch ist sie keine Sammlung von Normen und Axiomen. Selbst ihre Rechtstexte sind narrativ eingebunden, denn die Bibel erzählt in allererster Linie! Es geht in der christlichen Verkündigung vielmehr darum, in der Bibel (in ihrer kodifizierten, historisch entstandenen Gestalt) als Heiliger Schrift dem lebensverändernden Wort Gottes zu begegnen. Zur „Heiligen Schrift“ wird die Bibel erst durch ihren Gebrauch!43 Für Nicht-Glaubende ist sie das historische Konvolut religiöser Grundschriften von Judentum und Christentum. Demgegenüber ist das Ziel von Schriftauslegung und Verkündigung die existentielle Begegnung. Normenbildung (im Sinne einer spezifisch religiösen Moral oder 40

Vgl. Welker (wie Anm. 25), S. 332. Udo Di Fabio, Systemtheorie und Rechtsdogmatik, in: Kirchhof/Magen/Schneider (wie Anm. 23), S. 63 – 78, hier S. 65, und Welker (wie Anm. 25), S. 333. 42 Lakonisch dazu Pannenberg, Frage und Antwort, in: Text und Applikation (wie Anm. 13), S. 416: „Aber die Bibel ist ein Geschichtsbuch, und darum ist es nicht angemessen, analog zu einer Gesetzesnorm angewendet zu werden.“ Pannenberg geht einen Schritt weiter: „Eher als mit einer gewöhnlichen Gesetzesnorm läßt sich die Bibel mit Verfassungstexten vergleichen“ (ebd., S. 416). 43 Diesen Gedanken macht Ingolf U. Dalferth, Wirkendes Wort. Bibel, Schrift und Evangelium im Leben der Kirche und im Denken der Theologie, Leipzig 2018, in Aufnahme reformatorischer Theologie wieder stark: „Die Schrift bezeugt dieses Evangelium, indem sie mit Hilfe der biblischen Texte kommuniziert, wie Menschen Gottes Zusage verstanden und missverstanden, angenommen und zurückgewiesen haben […] Die Bibel ist das Buch, das diese Texte (in geschriebener oder gedruckter Form) tradiert. Liest man sie nicht als Zeugnis des Evangeliums, kommt sie nicht als Schrift in den Blick“ (S. 76). Die Fokussierung auf das gedruckte Buch nennt Dalferth sehr kritisch gegenüber entsprechenden Traditionen des Protestantismus die „Gutenberg-Falle“ (S. 105). 41

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eines religiösen Rechts) oder gar Wahrheitsfindung (im Sinne eines empirischen Wahrheitsbegriffs) sind die Folgen dieser Verkündigung, nicht ihr Inhalt. So gesehen versteht sich der Protestantismus jedenfalls nicht als „dogmatisch“: Der narrative Impuls der „Heiligen Schrift“, der auf Oralität, also auf lebendige mündliche Vergegenwärtigung zielt, durchkreuzt das stets. Die Dogmatik selbst muss, wenn sie für die Entwicklung des Systems und seiner Praktiken leistungsfähig sein soll, in sich die Kraft haben, nicht in Dogmatismus zu erstarren, sie muss aber zugleich als eine Art Axiomatik Anspruch auf Gültigkeit erheben. Sie „trotzt der Kontingenz des wirklich gelebten Lebens und der Resignation und dem Zynismus angesichts des Fragens nach Gerechtigkeit und Wahrheit“44. In der christlichen Tradition wird dies mit der Vorstellung des Wirkens des „Heiligen Geistes“ zu umschreiben versucht, der dem „Wort Gottes“ immer wieder auf überraschende Weise gegen alle Systeme, auch gegen die institutionalisierte Kirche samt ihrer Wissenschaft Geltung verschafft:45 Es sei nur an die Reformation und ihre inneren Beweggründe erinnert! Angesichts dessen legt sich die Frage nahe, wer im Blick auf das Recht die kritischen Anfragen stellt.46

IV. Hermeneutik 1. Jurisprudenz und Theologie als hermeneutische Wissenschaften Evangelische Theologie versteht sich – allgemein gesprochen – als „Wissenschaft vom Wort Gottes“. Ihr ist damit etwas vorgegeben, das als zu interpretierender Text erscheint. Jurisprudenz und Theologie eint die philologische Tätigkeit, also der Versuch, den Wortsinn zu erheben. Was der Staatsrechtler Josef Isensee47 über die Beziehung von Philologie und Jurisprudenz sagt, lässt sich auf die Theologie übertragen: „Gegenstand und Werkzeug dieser Wissenschaften ist das Wort und allein das Wort. Sprache ist die Bedingung der Möglichkeit des Rechts. Das Recht lebt im Wort und aus dem 44

Welker (wie Anm. 25), S. 334. Das hat auch Auswirkungen auf die Frage nach dem „Autor“ der Heiligen Schrift, der nicht einfach mit den Autoren der biblischen Texte identisch ist. Vgl. dazu Dalferth (wie Anm. 43), S. 250: „Die Schrift wird als Wort Gottes bezeichnet, weil sie nicht nur menschliche Verfasser, sondern auch Gott zum Autor hat.“ Wie diese „doppelte“ Autorenschaft im Einzelnen zu bestimmen ist, wird in der protestantischen Theologie allerdings kontrovers diskutiert. 46 Luhmann (wie Anm. 11), S. 364, relativiert die Bedeutung des „Kodex“ für das Recht, weil juristische Interpretation, sei es eines Textes oder des Herkommens eines Common Law, immer auf Entscheidung drängt. Das Verfahren, dahin zu gelangen, sei demgegenüber zweitrangig. 47 Josef Isensee, Arbeiter am Text: Philologen und Juristen, in: Birgit Tappert (Hrsg.), Grenzüberschreitende Wissenschaft. Reden anläßlich der Emeritierung von Willi Hirdt (BAR 90), Bonn 2004, S. 31 – 64. 45

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Wort.“48 Was Jurisprudenz und Theologie unterscheidet, ist der Charakter dieses Wortes.49 Der für die moderne protestantische Theologie wegweisende Theologe Friedrich Schleiermacher, der für sich in Anspruch nehmen darf, die Hermeneutik als Wissenschaft etabliert zu haben, formuliert in seiner Glaubenslehre pointiert: „Es läßt sich […] sagen, die Welt selbst sei, als durch das Sprechen geworden, das von Gott gesprochene.“50 Die Theologie legt eben nicht nur die „heiligen Texte“ aus, als seien sie gesetzesanalog vorliegende Kodizes. Sie legt etwa auch das „Buch der Natur“ aus. Wie sie das jeweils tut – darum wird in der Theologie, zum Teil erbittert und konfessionstrennend, gestritten. Denn es geht in der theologischen Hermeneutik um mehr als um die Methode einer „Übersetzungskunst“.51 Es geht um Existenzerhellung, aus der heraus sich moralische und kultische Haltungen und Einstellungen erst ergeben. Das „Wort“, das der Jurisprudenz vor- und aufgeben ist, ist das Wort des Gesetzes oder das sich im Gesetz realisierende Recht. Seine Interpretation ist zugleich seine Auslegung,52 weil das Interesse des Rechts als Rechtsprechung ein unmittelbar praktisches ist.53 Eine welterklärende oder welterhellende, auf die Grundwahrnehmung und Veränderung der Existenz zielende Absicht ist damit nicht verbunden, solange

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Ebd., S. 32 ff. Vgl. Körtner (wie Anm. 31), S. 15: „Hermeneutik ist eine Querschnittswissenschaft bzw. ein Teilbereich der Wissenschaftstheorie. Bedarf an Hermeneutik besteht grundsätzlich in allen Wissenschaften, die es mit der Interpretation von Texten und sonstigen sprachlichen Äußerungen zu tun haben, von der Philologie bis zur Rechtswissenschaft.“ 50 Rolf Schäfer (Hrsg.): Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), Erster und zweiter Bd., Berlin/New York 2008, § 40, S. 231. 51 Aus einer modernen hermeneutischen Perspektive formuliert Dalferth (wie Anm. 43), S. 45, das von Schleiermacher Intendierte so: „Nicht die Auslegung von Texten, sondern die Auslegung des Lebens durch Texte ist die Pointe der Kommunikation des Evangeliums, in der sich die Selbstauslegung des Evangeliums in der Auslegung des Lebens durch das Evangelium ereignet.“ 52 So Uwe Wesel, Juristische Weltkunde. Eine Einführung in das Recht, 15. Aufl., Frankfurt 2016, S. 14: Es gehe um Klärung der Bedeutung eines Wortes: „Juristen nennen das Auslegen. Man kann auch von Interpretieren sprechen. Das ist dasselbe.“ Franz Bydlinsky/Peter Bydlinksy, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 3. Aufl., Wien 2018, S. 27 ff, verwenden die Begriffe „Auslegung“ und „Interpretation“ ebenfalls univok. Reinhold Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl., München 2012, S. 35, spricht durchgängig von „Auslegung“. 53 Vgl. z. B. Reinhold Zippelius, Rechtsphilosophie, 4. Aufl., München 2003, S. 256: „Aufgabe der Auslegung ist es, innerhalb des Spielraumes der möglichen Wortbedeutungen, die nach dem Sprachgebrauch dieser Rechtsgemeinschaft mit den Gesetzesworten verbunden werden können, jene Bedeutungsvariante herauszufinden und zu präzisieren, die diesen Worten im vorliegenden Text richtigerweise zukommt.“ „Auslegung ist also ein argumentatives Verfahren, in welchem zwischen verschiedenen Auslegungsalternativen eine Wahl getroffen wird“ (ebd., S. 257). Das ist für ihn zugleich der Beleg dafür, dass eine rein dogmatisch konstruierte Rechtswissenschaft nicht möglich ist. 49

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das Recht nicht weltanschaulich okkupiert oder als „heiliges“ bzw. „göttliches“ Recht selbst religiös wird.54 Auch hier zeigt sich, dass Di Fabios Diktum einer funktionalen Äquivalenz von heiligem Text und Recht nicht wirklich den Kern der Sache trifft. Der biblische Text und die ihn auslegenden Bekenntnisse als Auslegungsrichtschnur sind der Theologie in anderer Weise vorgegeben als das Gesetz, verstanden als positives oder gemeinsames Recht. 2. Interpretation und Auslegung Vor diesem Hintergrund wird Ingolf U. Dalferths Statement zur Spezifik der Theologie nachvollziehbar: „Evangelische Theologie ist keine Textwissenschaft, sondern eine Interpretationspraxis – die vielschichtige und vieldimensionale Auslegung und Reflexion der Kommunikation des Evangeliums und ihrer Auswirkungen im Leben, Denken und Handeln von Menschen unterschiedlicher Zeiten und Kulturen.“55 Die evangelische Kirche ist darum eine „Auslegungsgemeinschaft“.56 Ausgelegt wird aber nicht „die Bibel“, sondern das Evangelium, das in der Bibel als Heiliger Schrift begegnet. Darum ist – möchte man die befruchtende, aber auch trennende Differenz von Rechtswissenschaft und Theologie in den Blick bekommen – die Unterscheidung von Interpretation und Auslegung von grundlegender Bedeutung57 um verstehen zu können, was die Theologie eigentlich treibt und wie sie zu ihren Aussagen kommt.

54 Ähnlich setzt Isensee (wie Anm. 47), S. 33, die Literatur vom Recht ab: „Die Sprache macht das Wesen des Gedichts aus, auch wenn seine Aussage über das Sprachliche hinausgeht. Das Wesen des Gesetzes liegt dagegen in der rechtlichen Mitteilung, die sich in Worten ausdrückt. Hier ist Sprache das Medium, über das sich der Normbefehl ausdrückt, dort ist sie die Sache selbst.“ Das ist freilich eine sehr instrumentelle Sicht von Sprache. Wenn Luhmann (wie Anm. 11), S. 14, die Gefahr sieht, dass die Wissenschaften aneinander vorbeireden, weil ihre gegenseitige Wahrnehmung unterkomplex ist, dann ist aus der Sicht der Theologie hier einer der Gründe zu finden: das Verständnis von Sprache als bloßem Medium des Ausdrucks. 55 Dalferth (wie Anm. 43), S. XI. In Aufnahme von dessen früheren Überlegungen (Ingolf U. Dalferth, Evangelische Theologie als Interpretationspraxis. Eine systematische Orientierung [Forum Theologische Literaturzeitung 11/12], Leipzig 2004) entwickelt Körtner (wie Anm. 31), S. 23, ein Verständnis der Theologie als Orientierungswissenschaft und Lebenswissenschaft, das deutlich macht, dass es in der Theologie um mehr geht als um Interpretation und Auslegung von Texten. 56 Körtner (wie Anm. 31), S. 90 f. 57 Auch das ist umstritten. Es geht hier aber nicht um eine „Trennung“ der beiden Perspektiven, sondern um eine perspektivische Unterscheidung. Vgl. ebd., S. 35: „Hat bereits jede Interpretation und Rekonstruktion ein applikatives Element, so besteht die applikative Aufgabe der Auslegung darin, nach dem zu fragen, was die Botschaft des Glaubens zu denken und weiterzudenken gibt“.

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Einen biblischen Text zu interpretieren ist etwas anderes, als ihn auszulegen, und noch einmal etwas anderes (und im Ansatz Verfehltes) ist es, ihn unbesehen etwa als gesetzesförmige Regel „anzuwenden“: Vielmehr besteht die „primäre Aufgabe der Theologie […] darin, immer wieder neu ihren Gegenstand, nämlich die Botschaft des Glaubens zu identifizieren und zu reformulieren, d. h. aber zu rekonstruieren. Diese Aufgabe stellt sich immer wieder neu, da es die Botschaft des Glaubens nicht als ein für alle Mal fixierten Text gibt, sondern nur in einer geschichtlichen Vielfalt von Interpretationen.“58 „Auslegung“ ist also ein über die Interpretation hinausgehendes Verfahren zur Erhebung des Sinns. Die Theologie interpretiert nicht nur, sie interpretiert auch Interpretationen, die sich als Texte, aber auch als konkrete kirchliche und glaubensmäßige Praxis niederschlagen. Hier zeigt sich eine wesentliche Differenz juristischen und theologischen Denkens und Handelns, die sich schon in der Differenz von „Verkündigung“ und „Verkünden“ andeutete: In der juristischen Methodenlehre geht es um Interpretation, und letztlich ist sogar die „Anwendung“ eine Form der Interpretation. Das ist einleuchtend, weil die Subsumtion eines konkreten Falls unter ein Gesetz und damit seine Identifizierung als das vom Gesetz Gemeinte ja Ergebnis einer Interpretation ist, das seinerseits wiederum sowohl den Fall als auch das Gesetz neu interpretiert und so das Recht fortbildet – und dies unabhängig von einer möglichen „existentiellen Betroffenheit“, auf die die theologische Auslegung zielt. Die Differenz von „Interpretation“ und „Auslegung“ im theologischen Denken verdankt sich dem Aufkommen der historischen Kritik seit der Aufklärung. Durch sie ist die möglichst genaue philologische Erhebung des Textsinns zu einer historischen Disziplin geworden. Erst dadurch wurde die Unterscheidung von Exegese und Dogmatik in der Theologie sinnvoll und so spannungsreich, wie sie uns heute begegnet.59 Die historisch-kritische Exegese als Methodenensemble zur Interpretation eines biblischen Textes versucht den Textsinn zu erheben, indem sie den Text textkritisch auf der Ebene der Buchstaben, literarkritisch auf der Ebene des Kontextes und redaktionskritisch auf der Ebene des Gesamttextes analysiert. Von besonderer Bedeutung ist dabei die „Form-“ oder auch „Gattungskritik“, die über die Identifizierung stereotyp verwendeter Textformen etwas über die Herkunft eines Textes und seine sozialhistorische Verankerung verrät: Wo wird ein „Hymnus“ gesungen? Wer erzählt „Gleichnisse“ weiter? Welche sozialen Gruppen und Akteure schreiben „Briefe“? Hinzugekommen sind im vergangenen Jahrhundert die Methoden der modernen Linguistik und der Semiotik als textsynchrone Perspektiven sowie historische Fächer 58

Ebd., S. 35. Vgl. ebd., S. 36: „Die Interpretation wie die Auslegung greifen in allen Disziplinen der Theologie ineinander. Allgemein lässt sich sagen, daß Interpretation die historische, Auslegung dagegen die systematische Aufgabe innerhalb der Theologie ist. […] Beide […] spielen schließlich in der Praktischen Theologie und ihren Disziplinen ineinander. Hier tritt aber auch im erhöhten Maße die Spannung zwischen beiden Funktionen der Theologie zutage.“ 59

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wie Sozialgeschichte, Überlieferungsgeschichte und Religionsgeschichte. Damit arbeitet die Exegese exakt mit denselben Methoden, die auch in den anderen Philologien angewendet werden. Es gibt keine „Hermeneutica Sacra“ der Bibelexegese als spezielle theologische Interpretationstechnik. All dies zusammen liefert eine Interpretation des Textes, die ihn insofern fremd werden lässt, als der historische und mentale Abstand deutlich wird. Als rein historische Arbeitsweise muss die Exegese als Interpretation schon um der wissenschaftlichen Redlichkeit willen jegliche religiöse Betroffenheit oder Vorentscheidungen über mögliche Inhalte methodisch sistieren. Das hat der historischen Kritik den Ruf eingetragen, den Glauben an die Bibel zu zerstören – und damit die vielleicht erbittertste und intensivste Debatte in der Theologie der letzten dreihundert Jahre angestoßen. Denn dieser Zugang zum Textcorpus der Bibel als religionshistorischer Urkunde der Antike sieht methodisch davon ab, den Text als „Wort Gottes“ zu verstehen. Mit anderen Worten: Um die Bibel zu interpretieren, braucht es keine religiöse Affinität, sondern wissenschaftliche Kompetenz und Redlichkeit. „Auslegung“ meint dagegen, genau den nächsten Schritt zu gehen und den interpretierten Text als „Heilige Schrift“ zu lesen, d. h. das darin enthaltene Wort Gottes als unmittelbare Anrede zu erheben: also das, was uns – um eine Formulierung des Theologen und Religionsphilosophen Paul Tillich aufzunehmen – „unbedingt angeht“.60 Dabei ist zu bedenken, dass die biblischen Texte stark intertextuell verwoben sind und sich gegenseitig interpretieren und auslegen, indem sie entweder in derselben Überlieferungstradition stehen, einander zitieren oder sogar explizit interpretieren und auslegen. Schon innerhalb der Bibel wird um das Verständnis des Textes und seine Auslegung durchaus gestritten! Um dies zu verdeutlichen: Das „Neue“ Testament kann als Ganzes nur verstanden werden als eine Neuauslegung des „Alten“ Testaments unter der Perspektive der Offenbarung Gottes in Jesus Christus – dies freilich nur als Interpretation der Interpretation eines Textes, der zu dieser Zeit als geschlossenes Corpus noch gar nicht vorlag, sondern unter dem Druck dieser Interpretation überhaupt als „Neues“ Testament entstand. Es war der Prozess der Auslegung der „heiligen Texte“, der zu ihrer Kodifizierung führte, weil unterschiedliche Geltungsansprüche an sie erhoben wurden und nach wie vor erhoben werden. Das ist ein hermeneutischer Zirkel auf höherer Ebene, der sich tatsächlich erst einem intensiven Studium erschließt und eine Dimension des Glaubens eröffnet, die einem vorwissenschaftlichen unmittelbaren Textzugang oder einem amateurhaften Verständnis der Texte zunächst fremd ist – was auch für die Rechtswissenschaft kein unvertrautes Phänomen sein dürfte. 60 Paul Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, Frankfurt/Berlin 1961, S. 9, erneut abgedruckt in: Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, Gesammelte Werke Bd. VIII, Stuttgart 1970, S. 111 – 196.

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Theologie ist als hermeneutische Disziplin anspruchsvoll, weil sie die ständige Bereitschaft verlangt, auf diesen unterschiedlichen Ebenen zu argumentieren, sie wachzuhalten und sie gegen vereinfachende Auslegungstendenzen zu verteidigen. Auch deshalb insistieren die großen Kirchen nach wie vor auf einer gründlichen wissenschaftlichen Ausbildung ihrer professionellen Akteure.

3. Der Dekalog als „Gesetz“? Verdeutlichen kann man die Tendenz der bisherigen Ausführungen am (vermeintlichen) „Kernbestand“ der jüdisch-christlichen Tradition, den Zehn Geboten, die wohl von den meisten als moralische, wenn nicht gar rechtliche Grundlage religiöser Ethik betrachtet werden. Dieser Eindruck trifft jedoch für das Christentum nicht zu! Der christliche Glaube deutet den Dekalog gerade nicht als Grundlage von Sitte, Moral und Recht, sondern als eine kritische Instanz menschlichem Handeln gegenüber und legt ihn auf der Basis eines neuen Gerechtigkeitsverständnisses aus, das sich nicht an wörtlicher Gebotserfüllung, sondern am Geist der Gebote orientiert. Schon im hebräischen Text ist der Dekalog unterschiedlich kontextualisiert (Exodus 20,2 – 17 und Deuteronomium 5,6 – 21), und nach einer rund fünfhundertjährigen Auslegungsgeschichte innerhalb des Judentums wird er von Jesus von Nazareth neu und radikal „entrechtlicht“ ausgelegt. In den „Antithesen“ der Bergpredigt (Matthäusevangelium 5,17 – 48) lehnt Jesus eine kasuistische Anwendung der Zehn Gebote ab, indem er sie zuspitzt: Schon der Gedanke an Mord ist Mord, schon der Gedanke an Begehren ist Begehren. Auf diese Weise leuchtet er ihre anthropologische und moralische Dimension aus und macht deutlich, dass sie für die Definition der Gottesbeziehung und als alleinige Grundlage menschlicher Gemeinschaft nicht geeignet sind. Stattdessen formulieren die „Seligpreisungen“ zu Beginn der Bergpredigt (Matthäusevangelium 5,2 – 12) eine völlig andere Sicht auf den Willen Gottes, der sich nicht eingebunden in ein System von vertragsartigen Rechtssätzen offenbart, sondern sich souverän als barmherzig und gnädig zeigt – was alles andere als rechtstaugliche Kategorien sind und das Recht als geregelte Erwartbarkeit von Gerechtigkeit gerade unterläuft.61 Das nennt Jesus im Matthäusevangelium (5,20) die „bessere Gerechtigkeit“, weil sie nicht nach dem bloßen Handeln, sondern nach der Ausrichtung am Willen Gottes

61 Unter genau dieser Perspektive entfaltet Pannenberg, in: Text und Applikation (wie Anm. 25), S. 417, das „neue Gesetz“ der Bergpredigt. Es gehe nicht um die „Subsumtion unter eine Gesetzesnorm“, sondern um ein Verständnis der eigenen Geschichtlichkeit in einem Raum der Liebe.

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fragt.62 Der Dekalog als reiner Text kann also keine religiös begründete Rechtsgrundlage mehr darstellen. Dementsprechend fordert Martin Luther, dass Christen auf der Grundlage der durch Jesus Christus gewonnenen Freiheit „neue Dekaloge“ (!) machen sollen, die das Prinzip der göttlichen Gerechtigkeit auf der Basis der Liebe (verstanden als bedingungsloser Barmherzigkeit) in jeweils zeitgemäßer Weise auslegen und in Handlungsmuster transformieren.63 Luther interpretiert die Zehn Gebote historisch und legt sie – etwa im Kleinen Katechismus – existentiell aus, indem er danach fragt, was die Gebote an positiver Handlungsanweisung für ein gelingendes Leben enthalten: nicht nur „nicht stehlen“, sondern anderen zu Eigentum verhelfen; nicht nur „nicht töten“, sondern das Leben fördern; nicht nur „nicht begehren“, sondern gönnen. Das richtet sich gegen jeden Versuch, den Glauben zu verrechtlichen; und es gehört zur Dramatik der Christentumsgeschichte insgesamt, dass dieser Impuls immer wieder verlorenging. Eine der bleibenden Errungenschaften der Reformation besteht darin, durch die Auslegung der Heiligen Schrift als reiner Glaubensurkunde (und nicht als Rechts- und Moralkodex) Recht und Religion entkoppelt und unterschiedlichen Bereichen zugeordnet zu haben. In der evangelischen Dogmatik wird diese Art des Umgangs mit dem göttlichen Gebot und seiner Verheißung mit Hilfe der Differenzierung von „Gesetz und Evangelium“ verhandelt: eines der wesentlichen hermeneutischen Axiome protestantischer Dogmatik64 und ein gewichtiger Beitrag zur Entwicklung moderner Säkularität! Aus der Perspektive der Jurisprudenz beschreibt das einen entscheidenden, die Moderne einleitenden Vorgang, an dessen Ende die Autonomie des Rechts steht. Selbst als Staatskirchenrecht oder als Kirchenrecht gehört es auf die Seite der „Welt“ und ist profan – und darum zu Recht an Juristischen Fakultäten verortet.

62 Wie sich das konkretisiert, wird von Jesus in seinen Gleichnissen, aber auch in den – die sittlichen, ethnischen und religiösen Grenzen oft skandalös überschreitenden – „Wundern“ exemplarisch vorgeführt. 63 Vgl. Körtner (wie Anm. 31), S. 141: „In neutestamentlicher Perspektive ist das Gesetz Gottes nun das Gesetz Christi. Dieses ist in der Tat ein neues Gebot (Joh 13,34), nicht nur eine Erneuerung des alten Gebotes. Der Glaube kann und muss, mit Luther gesprochen, neue Dekaloge schreiben (WA 39 I,47), wobei das Kriterium, besser gesagt das Krites, d. h. die prüfende Instanz, die Liebe ist […], welche die überlieferten Gestalten des Gesetzes bzw. seine historisch-kontingenten Interpretamente sichtet […] Es gibt eine durch das Evangelium provozierte, in der Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität sich vollziehende Entwicklungsgeschichte menschlichen Rechts und der Moral. Sie ist durch das Evangelium motiviert und bleibt doch von diesem klar geschieden.“ Körtner verweist z. B. auf die Menschenrechte, die Impulse des Evangeliums aufnehmen, aber sich nicht einlinig darauf zurückführen lassen. 64 Aus der Perspektive eines Kirchenjuristen entfaltet Anke (wie Anm. 4), S. 172, sehr anschaulich, wie sich dieser theologisch-dogmatische Topos unmittelbar auf die Gestaltung der Kirche als Organisation und ihr Recht auswirkt.

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4. Geist und Buchstabe Die Bibel als Buch, verstanden als historische Urkunde, verlangt – wie alle anderen geschichtlichen Urkunden – einen ständigen Prozess der wissenschaftlich begründeten Interpretation. Die Bibel als Heilige Schrift drängt darüber hinaus auf einen ständigen Prozess der Auslegung. Beide Prozesse kann man nicht voneinander trennen, aber muss sie unterscheiden! Die Ergebnisse historischer Forschung sind als solche nicht Verkündigung. Das werden sie erst durch die Auslegung. Hier treten konfessionelle Unterschiede im Umgang mit der Frage zutage, wie die geltende Lehre gewonnen wird. Gibt es eine der höchstrichterlichen Entscheidung analoge Instanz? Aus evangelischer Perspektive lautet die Antwort: Es gibt sie nicht. Die Kirche ist eine Auslegungsgemeinschaft, die sich der Wahrheit ihrer Aussagen im beständigen Diskurs versichert. Und die Bekenntnisse schließen diesen Diskurs nicht ab, sie dokumentieren vielmehr Stationen und Richtungsentscheidungen, benennen Grenzen und Auslegungsperspektiven. Fortwährend sind sie an der „Heiligen Schrift“, also am Bekenntnis zu Jesus Christus, zu prüfen und zu validieren. Alle Versuche, diesen Prozess durch lehramtliche Entscheidungen (der römischkatholische Weg), durch synodale Beschlüsse (der orthodoxe Weg) oder die Berufung auf einen unveränderlichen „Wortlaut“ (der fundamentalistische Weg) zu beenden, führen in hermeneutische Sackgassen. Die Bibel ist kein Rechtsbuch – so wenig wie ein Gesetzeskodex schon das Recht ist. Für beide einander fremd gewordenen Schwestern, Recht und Religion, gilt im Blick auf ihre mündlichen und schriftlichen Texte: „Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig“ (2. Korintherbrief 3,6). Während für die Theologie – die mehr sein will als eine rein historische Wissenschaft: nämlich Orientierungswissenschaft des Glaubens65 – dieser Geist der Geist Gottes ist, stellt sich für das Recht die Frage, welcher Geist hier hinter dem Buchstaben steht. In den Diskussionen vergangener Jahrhunderte und Jahrzehnte sind manche „Kandidaten“ dafür genannt worden: der lebendige Volksgeist, der legitime Gesetzgeber, der autopoietische Prozess der Selbstauslegung des Rechts, die Natur, die Vernunft oder das geoffenbarte Recht. An dieser Stelle ist auf die Grundfrage nach Dogmatik und Hermeneutik zurückzukommen: Damit das Recht nicht in reiner Selbstbezüglichkeit erstarrt oder gar nur noch den Schein des Rechts aufrechterhält (wie etwa in der Zeit des Nationalsozialismus oder des DDR-Kommunismus), braucht es die kritische Systematisierung und die kritische Befragung in Gestalt einer Hermeneutik, die die Gesetze nicht nur interpretiert, sondern auf das Leben hin auslegt. 65 Vgl. dazu Martin Hein, Theologische Orientierung, in: Eva Hillebold/Roland Kupski (Hrsg.): Martin Hein, Theologie in der Gesellschaft, Bd. 2: Bischofsberichte 2000 – 2018, Leipzig 2019, S. 282 – 291, hier S. 284 f.

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Die Theologie kann von der Jurisprudenz lernen, sich über den Zusammenhang von Legitimität und Moralität Gedanken zu machen, anstatt in abstrakter Spekulation zu verharren. Die Jurisprudenz ist eingeladen zu erproben, ob die Differenz von Interpretation und Auslegung sich als ein Weg anbietet, die Debatte um die Rolle von Dogmatik und Hermeneutik auf neue Weise aufzunehmen und nach dem „Geist“ des Rechts zu fragen. Die beiden fremden Schwestern sind sich – aller historischen Auseinanderentwicklung zum Trotz – ausgesprochen nahe. Beide sollten aus der jüngeren deutschen Geschichte gelernt haben: Theologie und Jurisprudenz haben Besseres zu bieten als die Verbrämung einer – wie auch immer gearteten – Moral durch göttliche Autorität oder die bloße Legitimation von Machtansprüchen. Und in Zeiten, in denen autoritäre, identitäre oder offen faschistoide Politikmodelle meinen, Recht und Religion hätten der Politik und der Macht zu folgen, können beide ein ebenso kritisches wie innovatives Potential entwickeln, ihren Beitrag zu einer befriedeten, freiheitlichen Gesellschaft zu leisten.66

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In eben diesem Sinn habe ich die Gespräche und Debatten mit Reinhard Merkel stets als Anfrage wie als Bereicherung erlebt. Unser weltanschaulicher Dissens war oft genug Ausdruck des Konsenses darüber, dass es notwendig ist, an der Entwicklung einer humanen Gesellschaft mitzuwirken, in der Politik, Wirtschaft, Recht, Religion, Wissenschaft und Kunst respektvoll und in kundiger gegenseitiger Wahrnehmung jeweils ihr Bestes einbringen, anstatt sich gegeneinander ausspielen zu lassen von jenen Kräften, die sich als reine Ideologien reflektierten dogmatischen und hermeneutischen Bemühungen entziehen, weil sie „dogmatistisch“ sind und sich deshalb der selbstkritischen Befragung verweigern.

Rechtswissenschaft, positives Recht und politischer Protest Überlegungen anlässlich der Campus as Safe Space-Bewegung Von Christian Becker

I. Einleitung In Reinhard Merkels Vorlesungen im Examensvorbereitungsprogramm der Universität Hamburg erlebte ich erstmals Schönheit und Eleganz scharfsinniger rechtsdogmatischer Argumentation in ihrer vollendeten Form. Gleichwohl sind meine folgenden Überlegungen, die dem Jubilar in Dankbarkeit und Bewunderung gewidmet sind, Teil eines Bemühens, den Horizont jener unbestreitbaren Eleganz und Formschönheit gelungener Rechtsdogmatik zu transzendieren. Zu diesem Zweck wird im folgenden Text zunächst ein Schlaglicht auf das schwierige Verhältnis von Rechtswissenschaft und Politik geworfen, wobei eine studentische Protestbewegung den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet, die vor allem in den USA unter dem Schlagwort Campus as Safe Space kontrovers diskutiert wird (knapp hierzu sogleich unter II.). An einen kurzen Überblick über das Phänomen schließt sich die idealtypische Darstellung von zwei unterschiedlichen Arbeitsweisen der Rechtswissenschaft an, die auf verschiedene Weise beide an einem unklaren Verhältnis zum Feld des Politischen leiden (III.). Daher werde ich – mit vorsichtigen Anleihen bei der Hegelschen Philosophie – eine dritte Variante vorschlagen, in der die rechtswissenschaftliche Reflexion durch eine Auseinandersetzung mit der realen politischen Praxis die Einheit von positivem Recht und Gerechtigkeit erweist – oder aber ihr Scheitern offenlegt (IV.). Im Schlussteil werde ich darauf aufbauend zeigen, wie die Campus as Safe Space-Bewegung sich als Verwirklichung einer Ethik vom Anderen her begreifen lässt, die ihrerseits wiederum als Ausdruck der Idee des modernen Rechts ausgewiesen werden kann (V.).

II. Das Phänomen: Die Campus als Safe Space-Bewegung Die Forderung, dass der Universitätscampus ein sicherer Raum, ein Safe Space sein sollte, wird von einer relativ jungen Studierendenbewegung (vor allem) an

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US-amerikanischen Hochschulen erhoben.1 Ursprünglich stammt das Konzept eines Safe Space aus der Frauenrechts- bzw. der LGBTQ-Bewegung, wo es oft im buchstäblichen Sinne Räume bezeichnete, in denen von Gewalt und/oder Diskriminierung betroffene Personen ihre Angelegenheiten sicher und frei von Unterdrückung diskutieren können; speziell für sexuelle Minderheiten soll ein Safe Space signalisieren, dass die eigene sexuelle Identität in diesem Raum nicht verborgen werden muss.2 In der Campus as Safe Space-Bewegung ist diese Idee erweitert worden hin zu einem Verständnis der Universität als ein Raum, „in dem sich alle Studierenden unabhängig von ihrer ethnischen, religiösen oder sexuellen Identität, ihrer sozialen Herkunft und unabhängig von möglichen psychischen Vorbelastungen, etwa Traumata, sicher fühlen können – sicher nicht nur im Sinne des Schutzes vor offener Diskriminierung oder gar Gewalt, sondern auch vor Infragestellungen der eigenen kulturellen Identität sowie vor Retraumatisierungen, die durch belastende Diskussionen oder Unterrichtsmaterialien ausgelöst werden könnten“.3 Zu den Themen, die in der Debatte um die Campus as Safe Space-Bewegung im Vordergrund stehen, gehören neben der Einrichtung von Safe Spaces im eigentlichen (oben dargestellten) Sinne vor allem sog. Microagressions und sog. Trigger Warnings. Mit dem Begriff Microaggression werden unterschwellig aggressive und diskriminierende (jedenfalls als diskriminierend empfundene) Äußerungen bezeichnet, die sich in der alltäglichen Kommunikation an der Universität (oder z. B. auch am Arbeitsplatz) abspielen. Trigger Warnings nennt man Hinweise von Dozent_innen auf potenziell belastende oder gar (re-)traumatisierende Passagen z. B. in einem Lektüretext. Darüber hinaus tauchen im Zusammenhang mit der Bewegung immer wieder Debatten um die Einbzw. Ausladung von Referenten oder um die Benennung von Symbolen oder Universitätseinrichtungen auf.4 In den USA kreist die juridische Debatte vor allem um Fragen der Meinungsfreiheit.5 Die bisher soweit ersichtlich einzige Stellungnahme aus dem deutschen rechts-

1 Instruktiv zur Bewegung und ihrem theoretisch nicht ohne Weiteres greifbaren Charakter Kaldewey, Mittelweg 36 2017, 132 ff.; eine umfassende Darstellung sowie eine abgewogene Bewertung findet sich bei Palfrey, Safe Spaces, Brave Spaces Diversity and Free Expression in Education, 2017, passim. 2 Christina Paxson, Washington Post vom 5. September 2016, abrufbar unter https://www. washingtonpost.com/opinions/brown-university-president-safe-spaces-dont-threaten-freedomof-expression-they-protect-it/2016/09/05/6201870e-736a-11e6-8149-b8d05321db62_story.html (zuletzt abgerufen am 25. 9. 2019). 3 Kaldewey, Mittelweg 36 2017, 132, 133. 4 Ein guter zusammenfassender Überblick zu den unterschiedlichen Aspekten findet sich bei Palfrey (Fn. 1), S. 27 ff. 5 Kritisch gegenüber der Bewegung etwa Day/Weatherby, Florida Law Review 70 (2018), 839 ff.; Lasson, Quinnipiag Law Review 37 (2018), 1 ff.; tendenziell auch Shepard/Culver, San Diego Law Review 55 (2018), 87 ff.; differenzierend Kitrosser, Minnesota Law Review 101 (2017), 1987 ff.; Ross, J. Legal Educ. 66 (2017), 739 ff., die letztlich aber staatliche Einschränkungen der freien Rede ablehnt; Trigger Warnings grds. befürwortend Amaranth

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wissenschaftlichen Schrifttum wählt ebenfalls einen verfassungsrechtlichen Zugang.6 Nun ist es zwar ohne Frage richtig, dass Recht – vor allem Verfassungsrecht – dem politischen Diskurs Grenzen setzt und dass politische Protestbewegungen selbstverständlich nicht in einem extralegalen Raum agieren; aber gleichzeitig gibt es im freiheitlichen Staat einen gewissen Vorrang des Politischen vor dem Recht, der Inhalt des Rechts steht in großen Teilen unter dem Vorbehalt abweichender politischer Entscheidungen.7 Politischer Protest richtet sich daher immer auch auf eine Veränderung des juridischen status quo, er beansprucht aus politischen Gründen die Verwirklichung eines noch nicht geltenden oder nicht wirksam durchgesetzten Rechts. In der Auseinandersetzung mit solchen Phänomenen muss die Rechtswissenschaft Farbe bekennen hinsichtlich der politischen Dimension ihrer Aussagen. Diese gilt es im folgenden Abschnitt näher zu untersuchen.

III. Zwischen Dogmatik und Philosophie: Das Politische in der Rechtswissenschaft Die deutsche Rechtswissenschaft meidet tendenziell die verschlungenen Pfade zwischen Recht und Politik und bemüht sich um Politikferne und Wertfreiheit.8 Besonders ausgeprägt ist dies in der dogmatisch arbeitenden Wissenschaft, deren Zugang nachfolgend als erste Idealtypische9 Arbeitsweise der Rechtswissenschaft dargestellt wird (1.). Ein im Anschluss wiederum als Idealtypus vorgestellter rechtsphilosophischer Zugang betrachtet seinen Gegenstand hingegen aus einer originär normativen Perspektive (2.). Beiden Varianten fehlt jedoch – in unterschiedlicher Weise – letztlich ein stimmiger Begriff der politischen Dimension ihrer Aussagen (3.).

Lockhart, First Amendment Studies 50 (2016), 59 ff.; abwägender Thorpe, First Amendment Studies 50 (2016), 83 ff. 6 Froese, JZ 2018, 480 ff.; ihr zust. Gärditz, WissR 51 (2018), 5, 39. 7 Näher zum Spannungsverhältnis von Recht und Politik siehe nur Grimm, in: Klein (Hrsg.), FS Benda, 1995, S. 91 ff. (zum modernen Verfassungsstaat insbesondere S. 95 ff.); zum vorgelagerten Charakter des Politischen gegenüber dem Recht in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften auch Pawlik, Rechtstheorie 25 (1994), 101, 110. 8 Von einem Selbstbild der Rechtswissenschaftler als „wertfrei oder jedenfalls als frei von Ideologie und Politik argumentierende Personen“ spricht Kuntz, AcP 219 (2019), 254, 288; zur Debatte um die Wertfreiheit der Jurisprudenz vgl. die Beiträge in Hilgendorf/Kuhlen, Die Wertfreiheit der Jurisprudenz, 2000; einordnend zu Max Webers Postulat der Wertfreiheit H. Dreier, in: Waechter (Hrsg.), FS Treiber, 2010, S. 149 ff. 9 Mit der idealtypischen Darstellung wird die Hervorhebung bestimmter Momente beabsichtigt, um den für die folgenden Überlegungen entscheidenden Aspekten Ausdruck zu verleihen. Keineswegs wird beansprucht, dass eine bestimmte rechtswissenschaftliche Arbeitsweise damit umfassend beschrieben bzw. dass sie in dieser Form in der Realität vorzufinden wäre, siehe zur Figur des Idealtypus und seiner Funktion Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftstheorie, 7. Aufl. 1988, S. 190 ff.

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1. Ein erster Idealtypus: Die Rechtsdogmatik Die rechtsdogmatische Wissenschaft10 begreift ihre Aussagen ihrem Selbstverständnis nach als „Ausdruck immanenter Sachlogik, politischer Neutralität, freigesetzt von individuellen Vorverständnissen und institutionellen Voraussetzungen“.11 Von entscheidender Bedeutung ist dabei eine meist unbestimmt und implizit bleibende Referenz auf eine objektive Größe – das positive Recht bzw. seine Dogmatik –, die als mit den Methoden des Diskurses (und ohne politische Wertung) erkennbar vorausgesetzt wird.12 Indes können selbst die besten Gründe für eine möglichst strikte Trennung von Recht und Politik nicht darüber hinwegtäuschen, dass die binäre Unterscheidung von positivem Recht und politisch-normativer Wertung – wie jede binäre Unterscheidung – durchlässig ist für jene Schmuggelbewegungen, die Ino Augsberg in etwas abweichendem Kontext geradezu meisterhaft vorgeführt hat.13 Die vermeintlich unpolitische Erkenntnis des positiven Rechts ist immer auch politisch und die scheinbar autonome Sphäre der politischen Entscheidungen ist immer schon juridisch überformt.14 In dieser Gemengelage agiert die dogmatische Rechtswissenschaft bereits dadurch politisch, dass sie entscheidet, was sie zum Gegenstand ihrer immer schon als unpolitisch ausgewiesenen Rechtserkenntnis macht. Denn so entscheidet sie auch darüber, welche normativen Prämissen von der Notwendigkeit einer politischen Legitimation befreit sind und „lediglich“ juristisch begründet werden müssen, wobei die politische Verantwortung für eine dann behauptete Regelung durch den Verweis auf das positive Recht externalisiert wird. Legitimieren ließe sich der Charakter des Unpolitischen indes nur, wenn dogmatische Aussagen tatsächlich ein epistemologisch zugängliches positives Recht zum Gegenstand hätten. Dass dies nicht der Fall sein kann, zeigt sich spätestens, wenn die performative Dimension der Rechtserzeugung in den Blick gerät.15 Recht entsteht im demokratischen Rechtsstaat durch die Entscheidung hierfür zuständiger Organe und Institutionen. Diese Entscheidungen sind zwar keineswegs willkürlich und un10 Eine gründliche monographische Untersuchung der Rechtsdogmatik bietet Bumke, Rechtsdogmatik, 2017, passim. Die vorliegenden Überlegungen beanspruchen ersichtlich keinen vergleichbar tiefgehenden Begriff der rechtsdogmatischen Arbeitsweise. Sie zielen vielmehr speziell darauf ab, Friktionen aufzuzeigen, die sich insoweit aus dem Spannungsverhältnis von Recht und Politik ergeben. 11 Lepsius, in: ders./Jestaedt (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, S. 1, 5; siehe auch Pöcker, Rechtstheorie 37 (2006), 151, 162 ff. 12 Becker/Sow, in: Ortmann/Schuller (Hrsg.), Kafka Organisation, Recht und Schrift, 2019, S. 235 ff. (insbesondere S. 236 f.); ausführlich untersucht wird die Notwendigkeit eines Bezugs der Rechtsdogmatik auf das positive Recht bei Bumke (Fn. 10) S. 56 ff. 13 Augsberg, Kassiber, 2016, passim. 14 Mit Recht bezeichnet Grimm das Spannungsverhältnis von Recht und Politik als „prinzipiell unaufhebbar“, siehe ders., in: Klein (Fn. 7), S.97. 15 Vgl. hierzu die gründliche Analyse von Kuntz, AcP 216 (2016), 866 ff. (insbesondere 873 ff.); siehe außerdem Becker/Sow, in: Ortmann/Schuller (Fn. 12), S. 238 f. m. Fn. 18.

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gebunden, da ihre Begründung immer an die im Entscheidungszeitpunkt vorhandene Vergangenheit des Rechtsdiskurses mit ihren Anschlusszwängen und -möglichkeiten anknüpft; aber dennoch ist das performative Element konstitutiv für jeden Vorgang der Rechtserzeugung, jede gerichtliche Entscheidung fügt dem Recht in mehr oder weniger großem Umfang etwas hinzu, das zuvor nicht vorhanden war und dass folglich auch nicht ex ante bekannt sein konnte.16 Setzt man den Charakter rechtsdogmatischer Aussagen zu diesem performativen Element der Rechtserzeugung ins Verhältnis, bleiben im Ausgangspunkt zwei unterschiedliche Möglichkeiten: Es könnte sich um empirische Vorhersagen dahingehend handeln, wie Gerichte zukünftig bei der Entscheidung bestimmter Fälle vorgehen werden.17 Das dürfte freilich eher nicht dem Selbstverständnis des dogmatischen Diskurses entsprechen. Meist enthalten dogmatische Aussagen vielmehr eine normative Prämisse, die einen bestimmten Gebrauch der richterlichen Befugnis zur performativen Rechtserzeugung als vorzugswürdig vorschlägt.18 Damit überschreitet der dogmatische Diskurs aber die von ihm in Anspruch genommene Beschränkung auf unpolitische Rechtserkenntnis, weil das performative Element der Rechtserzeugung gleichsam per Definition nicht durch das positive Recht geregelt sein kann. Ein konsequenter Positivismus würde in dieser Situation die performative Dimension der Rechtserzeugung vollständig dem politischen Diskurs zuweisen. Das ist bekanntlich die Position Kelsens gewesen.19 Sie führt freilich – wenn man das Ausmaß performativer Elemente realistisch einschätzt20 – zu einer erheblichen Verkürzung des Gegenstands einer solchen Rechtswissenschaft.21 Deshalb hat Kelsen – beabsichtigt oder nicht – abgeschafft, wovon er sprach,22 als er die reine, auf objektive Rechtserkenntnis gerichtete Rechtslehre beschrieb. Indem er in aller Klarheit die Strukturen der Rechtserzeugung offenlegt, wird deutlich, dass in diesen Strukturen kein Raum ist für einen zeitstabilen und epistemologisch zugänglichen Gegenstand Recht. Eine andere Möglichkeit für den Umgang mit dem performativen Element der Rechtserzeugung bestünde darin, den eröffneten Entscheidungsspielraum mit Argu16

Siehe hierzu die Überlegungen zur dort sog. Kontingenz der Gründe bei Becker, Was bleibt? Recht und Postmoderne, 2014, S. 111 ff. 17 Hierzu Kuntz, AcP 216 (2016), 866, 903 ff. 18 Diese Möglichkeit wird auch erwähnt von Kuntz, AcP 216 (2016), 866, 904, wobei dort offenbleibt, woher die normative Legitimation für einen solchen Vorschlag angesichts des von Kuntz angenommenen empirischen Charakters der wissenschaftlichen Aussage stammt. 19 Vgl. insoweit Kelsen, Reine Rechtslehre, Studienausgabe der 2. Auflage 1960, herausgegeben und eingeleitet von Matthias Jestaedt, 2017, S. 418 ff. 20 Kelsen selbst war noch vorsichtig in der Einschätzung des Verhältnisses von Anwendung und Erzeugung, siehe ders. (Fn. 19), S. 436 f. sowie S. 456: „Die Wahrheit liegt in der Mitte.“ 21 Insofern jedenfalls zum Teil wie hier Kuntz, AcP 216 (2016), 866, 873 ff., der die Flüchtigkeit des „Geltenden Rechts“ hervorhebt und betont, dass auch der nach Kelsen vorgegeben „Rahmen“ des geltenden Rechts erst erzeugt werden muss (a.a.O. S. 877). 22 Zu diesem Phänomen lesenswert Kittler, in: Derrida/Kittler, Nietzsche – Politik des Eigennamens, S. 65, 68 ff. (insbesondere S. 85 f.).

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menten anderer Provenienz auszufüllen. Diese zweite Variante möchte ich im Folgenden – wiederum idealtypisch – als rechtsphilosophische Herangehensweise bezeichnen. 2. Der zweite Idealtypus: Rechtsphilosophie Bei einem rechtsphilosophischen (oder nichtpositivistischen)23 Zugang verhält sich die Rechtswissenschaft nicht rezeptiv gegenüber einem als gegeben vorausgesetzten positiven Recht und seiner Dogmatik, sondern nimmt eine bewertende Position ein; Rechtsphilosophie in diesem Sinne verhält sich zu der Frage, ob eine rechtliche Regelung richtig ist oder wie mit einer gesellschaftlichen Regelungsproblematik umgegangen werden sollte.24 Bei diesem Ausgangspunkt muss die Tatsache, dass gerichtliche Entscheidungen nicht durch das positive Recht determiniert sind, müssen die das positive Recht transzendierenden Elemente richterlicher Rechtserzeugung nicht zwangsläufig in ein wissenschaftlich nicht erfassbares Feld des Politischen führen. Vielmehr geht die rechtsphilosophisch arbeitende Rechtswissenschaft davon aus, dass in diesem Bereich Logik und Prinzipien einer allgemein-praktischen oder auch einer spezifisch juridisch geprägten Vernunft gelten mit der Folge, dass Entscheidungen wenn nicht durch ontologische Gegebenheiten, so doch zumindest durch mehr oder weniger gute bzw. zwanglos zwingende Gründe reguliert werden.25 Und in der Tat wird sich schwerlich bestreiten lassen, dass dem Recht des freiheitlichen Staates bestimmte substanzielle Erwägungen zu Grunde liegen, die dem Diskurs über akzeptable Gründe für juridische Entscheidungen eine gewisse Struktur, zumindest aber semantische Bezugspunkte verleihen. Den groben Rahmen bildet insoweit eine politische Philosophie, die – nach der Abkehr von metaphysischen Herrschaftslegitimationen – Freiheit, Autonomie und personale Würde des Einzelnen zum Ausgangspunkt nimmt.26 Die formalen Organisationsprinzipien des so begründeten Staates – Gewaltenteilung und -verschränkung, Unterwerfung aller Staatsgewalt unter rechtliche Kontrolle – sowie die Positivierung des Rechts sollen sicherstellen, dass Freiheit und Würde des Einzelnen nicht durch staatliche Willkür missachtet 23

Die Möglichkeit, dass eine nicht durch das positive Gesetzesrecht determinierte Entscheidung gleichwohl rechtlich bestimmt sein kann, wird als Wesensmerkmal des Nichtpositivismus bezeichnet bei Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 3. Aufl. 2011, S. 25. 24 Fast schon klassisch zu nennen ist die Darstellung der Rechtsphilosophie und ihres Verhältnisses zur Rechtsdogmatik bei Kaufmann, in: Saliger/Hassemer/Neumann, Einführung in die Rechtsphilosophie, 9. Aufl. 2016, S. 1 ff.; ein emphatisches Plädoyer für die Relevanz der Rechtsphilosophie in der Gegenwart findet sich bei Mahlmann, RW 2017, 181 ff. 25 Eine gründliche Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen in Betracht kommenden (dort sog.) Prädeterminanten des positiven Rechts findet sich bei Bumke (Fn. 10), S. 65 ff., der ausführlich und überzeugend darlegt, dass eine nennenswerte Determination des positiven Rechts durch solche Maßstäbe letztlich kaum in Betracht kommt. 26 Eindringlich Mahlmann, RW 2017, 181, 184 f.; zur Ablösung objektivistisch-metaphysischer Herrschaftskonzepte durch die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994, S. 17 (und passim).

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werden.27 Dieser substanzielle Hintergrund unserer Rechtsordnung kann im Umgang mit dem richterlichen Spielraum bei der Rechtserzeugung zum Maßstab erklärt werden mit der Folge, dass gerichtliche Rechtserzeugung zum Gegenstand philosophisch begründeter Kritik wird.28 Doch ergeben sich aus den der philosophischen Methode zugänglichen Prinzipen des modernen Rechts auch die Grenzen jener Methode. Die Prinzipien des freiheitlichen Staates können nur in der Welt des institutionellen Rechts verwirklicht werden, die sich nicht an quasimetaphysischen Vernunftgründen orientiert, sondern eigene Verfahrens- und Diskursregeln entwickelt, um innerhalb vertretbarer Zeit zu vertretbaren Entscheidungen zu kommen. Diese müssen selbst bei einem praktisch non liquet getroffen werden und bleiben im Rahmen von Instanzenzügen und Gewaltenteilung immer korrigierbar; dabei gilt die von einem zuständigen Organ getroffene Entscheidung unabhängig davon, ob sie sich in einem praktischen Diskurs als (un-)vernünftig erweisen lässt.29 Die Rechtsphilosophie im freiheitlichen Rechtsstaat vollzieht daher die Selbstentmachtung des Philosophenkönigtums, indem sie die philosophischen Gründe dafür liefert, warum philosophische Gründe für die Ausübung von Staatsgewalt nicht maßgeblich sind. Wo sie gleichwohl mit dem Anspruch auf institutionelle Geltung ihrer Gründe auftritt, verstrickt sie sich unweigerlich in Widersprüche. 3. Das Politische als blinder Fleck der Rechtswissenschaft In der vorstehenden Auseinandersetzung mit rechtsdogmatischen und rechtsphilosophischen Zugängen in der Rechtswissenschaft offenbart sich ein grundsätzliches Dilemma des modernen Rechts.30 Das positive Recht mit seiner juridisch-institutionellen Logik muss an der Verwirklichung der Gerechtigkeit scheitern, die notwendig über das positive Recht hinausgeht. Philosophische Gerechtigkeitskonzepte sind wiederum nicht in der Lage, ihre auf Vernunftgründe gestützten Ansprüche in politisch legitime Formen zu übersetzen. Jenseits dieser Grenzen stößt das Recht auf das Feld des Politischen, in dem sowohl der das positive Recht transzendierende Gerechtigkeitsdiskurs als auch Kampf um die praktische Verwirklichung theoretischer Ideen stattfindet – allerdings stets mit offenem Ausgang und ohne Objektivitätsanspruch oder zwanglos zwingende Gründe31. 27

Vgl. den Versuch einer ethischen Legitimation des Rechtspositivismus bei Becker, in: Joerden/Schuhr (Hrsg.), GS Hruschka, 2019, im Erscheinen; zur substanziellen Dimension des Positivismus auch Mahlmann, RW 2017, 181, 211. 28 Krit. insoweit gegenüber der philosophischen Berufung auf „stärkere Gründe“ FischerLescano, JZ 2018, 161, 165 ff. (in der Auseinandersetzung mit Rainer Forst). 29 Hierzu näher Becker, in: Joerden/Schuhr (Fn. 27) im Erscheinen. 30 Zum Folgenden Teubner, ZRSoz 29 (2008), 9, 21 ff.; Fischer-Lescano, JZ 2018, 161, 162. 31 Zur Notwendigkeit der Kontingenz des politischen Diskurses im freiheitlichen Staat siehe Grimm, in: Klein (Fn. 7), S. 96 f.

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Der blinde Fleck der theoretischen Rechtswissenschaft wird in der Auseinandersetzung mit politischem Protest besonders deutlich. Wird dieser ausschließlich oder vorwiegend vor dem Hintergrund des positiven Rechts thematisiert, wird jedes emanzipatorische Potenzial unter Hinweis auf ein vermeintlich neutral und unpolitisch erkanntes positives Recht in seine Schranken gewiesen. In Wahrheit verbirgt sich dahinter aber nolens volens eine versteckte politische Prämisse, die etwaige Entscheidungen durch institutionell zuständige Organe ohne politische Legitimation normativ vorwegnimmt. Aber auch die rechtsphilosophische Methode gerät in Schwierigkeiten angesichts der Frage nach der politischen Legitimation der von ihr formulierten Gerechtigkeitskonzepte sowie einer politischen Praxis, die sich nicht damit zufriedengibt, dass im Raum der Gründe über ihre Ansprüche verhandelt wird, sondern deren Ziel die Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist. Angesichts dieses Dilemmas einer entweder latent restaurativ wirkenden dogmatischen oder einer im Reich der Vernunftgründe steckenbleibenden philosophischen Methode soll nachfolgend ein dritter Weg für die rechtswissenschaftliche Reflexion in der Auseinandersetzung mit politischer Praxis angedeutet werden.

IV. Politische Praxis als Ort der möglichen Einheit von positivem Recht und Gerechtigkeit Die Hinwendung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit kann als wesentlicher Impuls in Hegels politischer Philosophie verstanden werden.32 Er spricht von einem „Glück für die Wissenschaft“ angesichts der Tatsache, dass die Philosophie „sich in näheres Verhältnis mit der Wirklichkeit gesetzt hat“; Philosophie ist nach Hegel „das Ergründen des Vernünftigen […], eben damit das Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen, nicht das Aufstellen eines Jenseitigen“.33 All das gipfelt in der berüchtigten Sentenz „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“34, die lange Zeit die Rezeption von Hegels Rechtsphilosophie geprägt hat35. Es besteht indes kein Anlass dafür, Hegel angesichts dieser Worte als reaktionären Staatsphilosophen zu sehen, der die ihn umgebenden Verhältnisse philosophisch le32

Instruktiv Rawls, Geschichte der Moralphilosophie Hume-Leibniz-Kant-Hegel, 3. Aufl. 2016, S. 427 ff.; Châtelet, in: ders. (Hrsg.), Geschichte der Philosophie Band V, 1973, S. 150, 152 ff.; vgl. auch Rorty, Achieving our Country, 1998, S. 19 ff. 33 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, 11. Aufl. 2017, S. 23 f. 34 G. W. F. Hegel (Fn. 33) S. 24 a.E. 35 Vgl. zur Rezeptionsgeschichte Schnädelbach, G.W.F. Hegel zur Einführung, S. 120 ff., der die Vorrede als „publizistisches Unglück“ (S. 121) bezeichnet; dagegen Jaeschke, Hegel Handbuch Leben Werk Wirkung, 2. Aufl. 2010, S. 274 f.; näher zur lange Zeit besonders wirkmächtigen Kritik an Hegel durch Rudolf Haym Ritter, Hegel und die französische Revolution, 1965, S. 7 ff.

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gitimieren wollte.36 Er unterscheidet sehr wohl zwischen einem vorübergehenden und äußeren Dasein, einer begriffslosen Realität, äußerlichen Zufälligkeit oder wesenslosen Erscheinung, und einer „Gestaltung, welche sich der Begriff in seiner Verwirklichung gibt“ und die „das andere von der Form, nur als Begriff zu sein, unterschiedene wesentliche Moment der Idee“ ausmacht.37 Die Wahrheit „über Recht, Sittlichkeit, Staat“ ist danach zwar „in den öffentlichen Gesetzen, der öffentlichen Moral und Religion offen dargelegt und bekannt“; jedoch fährt Hegel fort: „Was bedarf diese Wahrheit weiter, insofern der denkende Geist sie in dieser nächsten Weise zu besitzen nicht zufrieden ist als sie auch zu begreifen und dem schon an sich selbst vernünftigen Inhalt auch die vernünftige Form zu geben, damit er für das freie Denken gerechtfertigt erscheine, welches nicht bei dem Gegebenen, es sei durch die äußere positive Autorität des Staates oder der Übereinstimmung der Menschen oder durch die Autorität des inneren Gefühls und Herzens und das unmittelbar beistimmende Zeugnis des Geistes unterstützt, stehenbleibt, sondern von sich ausgeht und ebendamit fordert, sich im Innersten mit der Wahrheit geeint zu wissen?“38 Die Wirklichkeit wird also von der philosophischen Reflexion nicht einfach affirmativ zur Kenntnis genommen, sondern im Prozess des Begreifens überhaupt erst als in sich vernünftige erkannt – oder eben als bloß vorübergehendes äußeres Dasein erwiesen. Philosophische Reflexion in diesem Sinne ist ein beständiges wechselseitiges Messen der Praxis an der Theorie und der Theorie an der Praxis, um als Resultat dieses Prozesses entweder die Einheit der beiden hervorzubringen – oder aber die bislang fehlende Verwirklichung dieser Einheit aufzuweisen. Umgangssprachlich ließe sich sagen, dass die Philosophie versucht, sich auf die Wirklichkeit einen Reim zu machen. Dabei kann sich eine gesellschaftliche oder institutionelle Praxis als „ihrer Zeit voraus“ erweisen und so dem noch im vorübergehenden Dasein verharrenden positiven Recht den Weg aus einer bereits verwirklichten gerechten Zukunft weisen. Die Praxis kann aber auch Ausdruck eines „Vollzugsdefizits“ sein, wenn sie nicht die aus dem Begriff gewonnene Verwirklichung der Rechtsidee ist, sondern lediglich begriffslose Realität. In diesem Sinne haben sich unterschiedliche Varianten kritischer Rechtstheorien (z. B. Feminismus, postkoloniale Rechtstheorie) große Verdienste erworben, indem sie in der Auseinandersetzung mit realen Verhältnissen die fehlende Realisierung der Verheißungen des modernen aufgeklärten Rechts aufzeigen.

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So im Ergebnis einhellig Schnädelbach, Einführung (Fn. 35), S. 120 ff.; ders., Hegels praktische Philosophie Ein Kommentar der Texte in der Reihenfolge ihrer Entstehung, 2000, S. 172 ff.; Jaeschke (Fn. 35), S. 274 ff.; eindringlich Ritter (Fn. 35), passim. 37 G. W. F. Hegel (Fn. 33) S. 29. 38 G. W. F. Hegel (Fn. 33) S. 13 f.

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V. Die Campus as Safe Space Proteste als vorweggenommene Verwirklichung der Idee des Rechts Wenngleich Hegels wesentliches Anliegen ohne Zweifel darin bestand, die zur Wirklichkeit gelangte Vernunft in den staatlichen Institutionen seiner Zeit und vor allem in der von ihm erstmals philosophisch erkannten bürgerlichen Gesellschaft aufzuweisen, blieb seine politische Philosophie stets geprägt von der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Revolution.39 Vor diesem Hintergrund scheint es vertretbar, Hegels Philosophie hier in der Auseinandersetzung mit politischem Protest fruchtbar zu machen. Denn obwohl Hegel betont hat, dass eine seinen Vorstellungen entsprechende Rechtsphilosophie nicht mit konkreten geschichtlichen Vorgängen befasst ist, um nicht „die Entwicklung aus historischen Gründen […] mit der Entwicklung aus dem Begriffe“ zu verwechseln,40 hat er sich doch immer wieder zu politischen Fragen seiner Zeit geäußert41. Ich werde im Folgenden zunächst den Im Zentrum von Hegels Rechtsphilosophie stehenden Begriff der Freiheit um einen Begriff des Anderen ergänzen, den ich vor allem von Emmanuel Lévinas nehme (1.). Anschließend werde ich zeigen, in welcher Weise sich diese Idee der Freiheit in der Campus as Safe Space-Bewegung verwirklicht (2.). 1. Die Freiheit und der Andere Hegels Definition des Rechts lautet: „Dies, daß ein Dasein überhaupt Dasein des freien Willens ist, ist das Recht. – Es ist somit überhaupt die Freiheit, als Idee“.42 Während die Idee der Freiheit zwar in der griechischen Polis ihren geschichtlichen Ausgangspunkt hatte, war die Freiheit dort noch unvollständig realisiert, weil Griechen (und Römer) lediglich wussten, „daß einige frei sind, nicht der Mensch, als solcher“, weshalb „ihre Freiheit […] selbst teils nur eine zufällige, vergängliche und beschränkte Blume“ gewesen sei.43 Hegel erhebt sodann die europäische Geschichte (ausgehend vom Christentum) zu einer Weltgeschichte, soweit sie „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ ist.44 Diese Entwicklung wird in der französischen Revolution gewissermaßen „im politischen Sinn zum Abschluss gebraucht“.45 Nunmehr 39

Das hat vor allem Joachim Ritter (Fn. 35) herausgearbeitet, dessen Hegel-Interpretation meine Überlegungen viel verdanken. 40 G. W. F. Hegel (Fn. 33) S. 34 ff. (Zitat auf S. 35 a.E.); siehe hierzu auch Jaeschke (Fn. 35), S. 275 f. 41 Siehe die Nachweise bei Ritter (Fn. 35), S. 31 zu Hegels Kritik an der politischen Restauration. 42 G. W. F. Hegel (Fn. 33) S. 80. 43 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 1986, S. 58 f. 44 Siehe zum Begriff der Weltgeschichte bei Hegel Ritter (Fn. 35), S. 28 f. 45 Ritter (Fn. 35) S. 29.

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gilt der Mensch im Recht als allgemeine Person, „weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist“.46 Bei Hegel sind Freiheit und Autonomie untrennbar miteinander verknüpft.47 Der nicht nur an sich, sondern auch für sich freie Wille, die „wahrhafte Idee“ ist „die sich selbst bestimmende Allgemeinheit, der Wille, die Freiheit“.48 Im 20. Jahrhundert ist hingegen die Vorstellung eines autonomen Subjekts unter Druck geraten, wobei hier neben dem Konzept des Unbewussten in der Psychoanalyse auch die Idee des Fremden in der Phänomenologie eine Rolle gespielt hat.49 Besonders eindringlich hat der französische Philosoph Emmanuel Lévinas eine Ethik entwickelt, in der die Verantwortung für den Anderen der Freiheit vorausgeht.50 Weil sich das Subjekt erst in seiner Beziehung zu diesem unverfügbaren und absoluten Anderen konstituiert, verliert es seine Autonomie.51 Der Einzelne genügt sich nicht selbst, was aus phänomenologischer Sicht nicht weniger als die Anerkennung der simplen Erfahrung ist, dass wir ganz allein in unserem Leben keinen Sinn finden können und dass das Fremde – etwa in Gestalt von Schmerzen, Emotionen, Vergessen oder auch der Ablenkung unserer Aufmerksamkeit – in unserem Alltag ständig präsent ist.52 Ich habe an anderer Stelle aus diesem ethischen Primat der Verantwortung gegenüber der Freiheit eine ethisch begründete Legitimation des modernen Rechtspositivismus angedeutet.53 Das Recht muss dem ethischen Subjekt zur Hilfe kommen, das sich selbst einer permanenten Überforderung durch die Über-Forderung des Anderen ausgesetzt sieht. Es muss die Andersheit des Anderen gewährleisten und gleichzeitig seinen Anspruch auf ein Maß begrenzen, das eine lebensfähige Gemeinschaft zwischen dem Selbst, dem Anderen und dem Dritten ermöglicht. Diese Leistung kann nur das moderne positivistische Recht erbringen, das ohne eine ihm übergeordnete Quelle auskommt und so die Gewähr dafür bietet, dass der Andere keiner anderen Gewalt ausgesetzt wird als der des Rechts, deren Eigentümlichkeit darin besteht, dass sie einerseits ihre eigene Legitimation voraussetzt und sich andererseits selbst kontrolliert. Wenn wir die Hegelsche Idee eines fortschreitenden Bewusstseins der Freiheit lösen von der Vorstellung eines autonomen Subjekts und sie stattdessen vor dem Hin46

G. W. F. Hegel (Fn. 33) S. 360. Lesenswert zur (von him sog.) „auotonomy orthodoxy“ Critchley, Infinitely Demanding Ethics of Commitment, Politics of Resistance, 2012, S. 32 ff. 48 G. W. F. Hegel (Fn. 7) S. 71 f. 49 Hierzu Waldenfels, Erfahrung, die zur Sprache drängt, 2019, S. 29 ff. 50 Lévinas, Totalität und Unendlichkeit Versuch über die Exteriorität, 5. Aufl. 2014, S. 35 ff.; S. 105 ff.; S. 267 ff. und passim: vertiefend zu Lévinas siehe Därmann, Fremde Monde der Vernunft Die ethnologische Provokation der Philosophie, 2005, S. 565 ff.; zusf. Critchley (Fn. 47), S. 56 ff. 51 Luzide hierzu Critchley (Fn. 47), S. 38 ff. 52 Hierzu m.w.N. Becker, in: Joerden/Schuhr (Fn. 27) im Erscheinen. 53 Zum Folgenden Becker, in: Joerden/Schuhr (Fn. 27) im Erscheinen. 47

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tergrund der Verknüpfung der Freiheit mit einer Verantwortung für den Anderen im Sinne von Lévinas betrachten, wird deutlich, dass die uneingeschränkte Anerkennung aller Menschen als Rechtspersonen noch lange Zeit nach der französischen Revolution ein Privileg (einiger) europäischer weißer Männer blieb. Weder den europäischen Frauen noch den Bewohner_innen anderer Kontinente wurden diese Rechte zuerkannt. Aus der Perspektive des Anderen bleibt die Freiheit in weiten Teilen letztlich bis heute eine zufällige, vergängliche und beschränkte Blume. 2. Die Universität als Raum praktisch werdender Anerkennung des Anderen Die Forderungen der Campus as Safe Space-Bewegung bringen diese nach wie vor unvollständige Verwirklichung der Freiheit zum Ausdruck. Sie verweisen sub specie freiheitliches Recht auf den Unterschied zwischen „der Form, nur als Begriff zu sein“ und der „Gestaltung, welche sich der Begriff in seiner Verwirklichung gibt“. Die Proteste artikulieren diejenigen Stimmen, die bis heute von jener Freiheit und personalen Anerkennung ausgeschlossen sind, die das moderne Recht für sich in Anspruch nimmt. Hegel hat mit aller Nachdrücklichkeit herausgearbeitet, dass die mit der Revolution in die Geschichte getretene bürgerliche Gesellschaft jegliche Kontinuität mit geschichtlichen Überlieferungen unterbricht.54 Er hat dabei keineswegs die Radikalität dieser Entwicklung verkannt,55 ohne deswegen von der positiven Einschätzung der Revolution abzurücken56. In den auf die Anerkennung und Achtung von Diversität zielenden Protesten der Campus as Safe Space-Aktivist_innen verwirklicht sich diese Radikalität, indem selbst die „letzten“ geschichtlich überlieferten Gewissheiten betreffend Kultur, Nation oder geschlechtlicher Identität in Frage gestellt werden.57 In einer konsequent verwirklichten bürgerlichen Gesellschaft ist die Identität als weißer heterosexueller Mann nicht mehr oder weniger selbstverständlich als diejenige einer schwarzen Transgenderperson. Weil dies aber eben bis heute noch nicht konsequent verwirklicht ist, muss es in der Form des politischen Protests adressiert werden. Aus der Tatsache, dass die Proteste dem Anspruch des Anderen eine wirkliche Gestalt verleihen, erklärt sich im Übrigen auch der bisweilen überzogen wirkende Charakter mancher Forderungen. Dieser ist eine Konsequenz des Gegenstands der Forderungen, weil der Anspruch des Anderen strukturell eine Über-Forderung und 54

Eindringlich hierzu Ritter (Fn. 35), S. 40 ff. Siehe insbesondere G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 1986, S. 431 ff. 56 Ritter (Fn. 35), S. 22: „Hegel hat immer die französische Revolution bejaht; es gibt nichts Eindeutigeres als diese Bejahung“. 57 Zur Geschichtslosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft und der daraus folgenden Freisetzung der menschlichen Subjektivität nochmal Ritter (Fn. 35), S. 61 ff., insbesondere S. 65 ff. 55

Rechtswissenschaft, positives Recht und politischer Protest

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seiner Natur nach unerfüllbar ist.58 Es ist hierbei gerade die Aufgabe des positiven Rechts, das wechselseitige Gefüge solcher in sich unerfüllbarer Ansprüche in eine lebenspraktisch zu bewältigende Sozialität zu überführen. Im positiven Recht kann der Andere folglich nicht immer und nicht uneingeschränkt Gehör finden mit seiner Forderung. Es bedarf daher fast keiner Erwähnung, dass die Interessen von Studierenden, die sich z. B. gegen eine Diskriminierung durch Microaggressions wehren, im konkreten Streitfall mit etwaigen gegenläufigen Interessen durch das im Einzelfall zuständige Gericht abgewogen werden müssen.59 Die als unpolitisch und wertfrei ausgewiesene Vorwegnahme einer solchen Abwägung durch theoretische Rechtswissenschaft ignoriert aber nicht nur die performative Dimension der gerichtlichen Rechtserzeugung und die institutionelle Zuständigkeitsordnung, sondern sie verfehlt auch die philosophisch-politische Dimension der Proteste. Nur weil möglicherweise nicht alle Forderungen unmittelbar in positives Recht umsetzbar sind – darüber ist immer nur anlassbezogen und durch die zuständigen Organe zu entscheiden –, bedeutet dies nicht, dass sie keine rechtlich relevanten Inhalte zum Ausdruck bringen. Die Idee des Rechts kann im positiven Recht notgedrungen immer nur unvollständig verwirklicht sein. Es sollte auch Aufgabe der rechtswissenschaftlichen Reflexion sein, die in der Wirklichkeit jenseits des positiven Rechts Gestalt annehmende Rechtsidee nachzuzeichnen.

VI. Schluss Es sei zum Abschluss betont, dass unbeschadet der von Hegel entlehnten Semantik mit der hier skizzierten Vorstellung einer zu verwirklichenden Rechtsidee kein Absolutheitsanspruch erhoben wird. Anstatt den unvermeidlichen Schmuggel zwischen Recht und Politik zu leugnen, wird er hier legalisiert. Die vorstehenden Überlegungen beschreiben ein aus dem Gedanken der Achtung des Anderen sowie dem Primat der Verantwortung gegenüber der Freiheit entwickeltes Recht, das sich im Zweifel gegen die Rechtfertigung von Leid unter Berufung auf Freiheit entscheidet.60 Niemand kann (auch nicht „zwanglos zwingend“) gezwungen werden, sich dieser Beschreibung anzuschließen. Umgekehrt kann sich aber auch niemand auf absolute und objektive Maßstäbe berufen, um ihr entgegenzutreten.61 58

Becker, in: Joerden/Schuhr (Fn. 27) im Erscheinen. Froese, JZ 2018, 480, 488 f., die aber ohnehin davon ausgeht, dass regelmäßig keine geschützten Rechtspositionen betroffen seien. 60 Insofern gibt es Parallelen zum Projekt Richard Rortys, siehe ders. (Fn. 32), passim. 61 Wenn Froese (JZ 2018, 480, 489) resümiert, das Phänomen der Safe Spaces „entspricht dem liberalen Konzept des Grundgesetzes nicht“, so artikuliert sie damit nicht eine wertneutrale und unpolitische Erkenntnis des positiven Verfassungsrechts, sondern setzt ein bestimmtes Verständnis jener „liberalen Konzeption“ des Grundgesetzes, eine bestimmte Haltung voraus. Diese muss man ebenso wenig teilen wie die in den vorstehenden Zeilen zum 59

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Im fortlaufenden Wettstreit um gelingende Beschreibungen einer freiheitlichen Rechtsordnung wird man mit Reinhard Merkels Stimme auch in Zukunft zu rechnen haben. Das ist unabhängig davon ein Gewinn, ob man die von ihm vertretene Position inhaltlich teilt oder nicht. Im ersten Fall weiß man einen argumentationsstarken Streitgenossen an seiner Seite. Anderenfalls kann es kaum eine bessere Möglichkeit zur Überprüfung und Schärfung der eigenen Argumentation geben, als die Auseinandersetzung mit einem so prägnanten und klaren Denker wie dem geschätzten Jubilar.

Ausdruck kommende (in vielerlei Hinsicht diametral entgegengesetzte) Position. Weder die eine noch die andere Sichtweise kann sich dem Streit um die politisch für richtig gehaltene Lösung entziehen.

Handeln, Entscheiden, Zurechnen Wie der Einsatz intelligenter Technik die deontologische Deutung des Rechts verändert Von Benno Zabel

I. Einführende Überlegungen 1. Recht, Freiheit und Kontingenz Dass Handlungs-, Entscheidungs- und Zurechnungskonzepte gesellschaftsabhängig sind, dass sich Ordnungsvorstellungen des Hochmittelalters von denen der Frühmoderne unterscheiden, ist eine Binsenweisheit. Herauszufinden, was das für unsere normativen und rechtlichen Erwartungen bedeutet, ist dagegen alles andere als trivial: Moderne liberale Gesellschaften sind dynamisch, plural und volatil, sie sind aber auch verletzbar und hoch verunsichert.1 Wir können sogar von Immanenz- und Vorsorgegesellschaften sprechen, wenn wir betonen wollen, dass das omnipräsente Kontingenzbewusstsein – das Wissen, dass alles auch anders möglich ist – und die Kultur der Kontingenzbewältigung eine Signatur des rechtlichen Zusammenlebens geworden sind.2 Es ist deshalb auch kaum verwunderlich, dass die Ordnungsvorstellungen moderner Gesellschaften in Bewegung geraten, man denke etwa an die Debatte um Sicherheit und Sicherheitsbedürfnisse, an die kontroversen Deutungen einer sich zusehends verändernden demokratischen Infrastruktur oder auch an den Umgang mit den Regressionskräften des Marktes. So unterschiedlich die Interaktionsformen sind – das Kraftfeld aus Freiheit, Kontingenz und (politischen) Gestaltungsinteressen ist nicht zu übersehen. Ein besonderes Beispiel für die Dynamiken und Effekte, die mit diesem Kraftfeld einhergehen, dürfte die umfassende Technisierung der Lebenswelt sein, die uns später noch genauer beschäftigen wird. Der Einsatz von Technik ist allgemein erwünscht oder wird sogar eingefordert. Mit ihm verbindet sich die Hoffnung auf eine nachhaltige Steigerung individueller oder kollektiver Freiheit. Auf der an1 Detaillierte u. a. bei Analysen bei Zygmunt Bauman, Ambivalenz und Moderne, Hamburg 1992; Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am Main 1996; Judith Shklar, Liberalismus der Furcht, Berlin 2013 und Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014. 2 Klassisch Niklas Luhmann, Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft, in: ders., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 93 – 128; außerdem Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Untersuchungen zur praktischen Philosophie. Frankfurt am Main 1984, S. 35 ff.

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deren Seite verändert Technik Sozialverhältnisse, unterstellt sie der Logik von Algorithmen, funktionalisiert sie und schafft gerade dadurch neue Verunsicherungs- und Konfliktpotentiale.3 Das betrifft die Vernetzung des Straßenverkehrs, die Digitalisierung der (öffentlichen) Kommunikation und nicht zuletzt die Entwicklungen, die heute unter dem Label big data und Industrie 4.0. zusammengefasst werden. Das Recht und die Rechtswissenschaft (speziell Theorie und Praxis der Technikfolgenabschätzung) werden so aber mit immensen Grundlagenproblemen konfrontiert. Muss doch geklärt werden, ob und gegebenenfalls in welcher Form die Evaluierung menschlichen Verhaltens, das heißt die klassische Zuordnung von Rechten und Pflichten, beibehalten oder den neuen Bedürfnissen, Präferenzen und Erwartungshaltungen anzupassen ist.4 Das setzt aber immer schon bestimmte (alternative) Handlungs-, Entscheidungs- und Zurechnungskonzepte voraus. 2. Menschliches Verhalten und ökonomische Deutungsangebote Die Anerkennung und der Umgang mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen prägt die wissenschaftlichen Standards einer Epoche. Erhellend ist für unsere Problemperspektive ein Blick auf die moderne Verhaltens- und Institutionenökonomie, und das aus zwei Gründen: Zum einen rekonstruieren Verhaltens- und Institutionenökonomie menschliche Interaktionen im Rahmen eines entscheidungstheoretischen Paradigmas (rational choice approach). Sie rufen damit ein Deutungsmuster auf, das nicht nur im sozialen Handeln selbst große Verbreitung und (zumindest intuitive) Plausibilität besitzt, sondern sich auch in weiten Teilen der Sozialwissenschaft etabliert hat. Zum anderen haben Verhaltens- und Institutionenökonomie schon frühzeitig begonnen, sich mit der Verarbeitung sozialer Konflikte zu beschäftigen und Konsequenzen für Individuum und Gesellschaft zu diskutieren.5 So geht es verhaltensökonomischen Forschungen darum, die in der neoklassischkeynesianischen Ökonomie entwickelten Standards rationaler Lebensgestaltung (d. h. das gängige Kalkül des homo oeconomicus) stärker den Realbedingungen moderner Gesellschaften anzupassen. Individuelle oder kollektive Präferenzen, Überzeugungen und Erwartungen sind danach nicht nur in erheblichem Maße situationsund umweltabhängig. Sie kennen auch keine einheitlichen Entscheidungsprogramme. Menschliches Verhalten ist, entsprechend den Zielen, Zwecken und Möglichkei-

3 Die Debatte ist als solche nicht neu, vgl. etwa Hans Blumenberg, Schriften zur Technik, 2015. 4 Zum Verhältnis von Technik und Recht siehe etwa Susanne Beck (Hrsg.), Jenseits von Mensch und Maschine, 2012 und Eric Hilgendorf (Hrsg.), Robotik und Gesetzgebung, 2013. 5 Für diese Entwicklung stehen etwa Guido Calabresi, Ideals, Beliefs, Attitudes, and the Law, 1985 und Richard Posner, Economic Analysis of Law, 9. Aufl., 2014; vgl. darüber hinaus Hanno Beck, Behavioral Economics, Wiesbaden 2014; Richard Thaler, Behavioral Economics. Past, Present, and Future, American Economic Review 106 (7), 2016, 1577 – 1600; Douglass North, Theorie des institutionellen Wandels, 1988.

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ten, relativ rational (bounded rationality).6 Es ist sozial orientiert, es ist nutzen- und ressourcenbezogen. Es unterliegt den Unsicherheitsfaktoren gesellschaftlicher Realbedingungen und ist auch deshalb risikosensibel. Dieses vor allem am einzelnen Individuum ansetzende Erkenntnisinteresse wird (nicht nur, aber auch) durch die Analysen der Institutionenökonomie ergänzt. Letztere betont vor allem die Regelungsund Organisationskontexte individueller oder kollektiver Entscheidungen und die sich daraus ergebenden Effekte. Denn menschliches Verhalten, so der Tenor, ist kein isoliertes Phänomen. Präferenzen und damit konkrete Handlungsziele stehen in Wechselwirkung mit anderen, zum Teil hoch komplexen Entscheidungen. Die Institutionenökonomie will darauf aufmerksam machen, dass wirtschaftliche Verhaltensweisen koordiniert werden müssen und dennoch in Konflikt geraten können. Koordination bedeutet aber, dass soziale Normen, Rechte und Statuspositionen wie auch unternehmerische Strukturen zum Tragen kommen. Die Rede von der Konflikthaftigkeit verweist wiederum darauf, dass Sanktions- und Haftungskonzepte bestehen müssen, um Organisations- und Vertragsstörungen, Beeinträchtigung von Rechten auszugleichen und Austauschbeziehungen zu stabilisieren.7 Betrachtet man die Transaktionskostentheorie von Ronald Coase, die, neben der Property Rights- und der Principal-Agent-Theorie, den wichtigsten Erklärungsrahmen anbietet, dann wird klar, welche Stoßrichtung damit verknüpft ist: Transaktionskosten bezeichnen Aufwendungen, die für die Durchsetzung diverser Verfügungsrechte in Austauschbeziehungen oder unternehmerischen Strukturen anfallen (man denke an die Kosten für den Umgang mit Verträgen, für opportunistisches Handeln der Akteure usw.), mit anderen Worten, sie sind der Maßstab für die Effizienz oder Ineffizienz wirtschaftlichen Verhaltens.8 Nur was folgt daraus für das Recht? Die an Coase und die Institutionsökonomie anschließende Analyse interpretiert das Recht als eine Reaktion auf durch Knappheit entstehende Interessenskonflikte zwischen Individuen. Recht hat demnach mit seinen Regeln vor allem eine effiziente Konfliktlösung zu garantieren und d. h. das Verhältnis zwischen Schädiger und Geschädigtem zu beachten (auch darauf werden wir zurückkommen). Einzelheiten der Epistemologie und das methodische Setting müssen hier nicht vertieft werden, um dennoch zu sehen, worauf die Rekonstruktionen hinauslaufen;9 geht es doch ersichtlich darum, das Menschenbild der klassischen Ökonomie mit dem Ordnungsprojekt liberaler Gesellschaften und den Erkenntnissen 6

Daniel Kahneman, Maps of Bounded Rationality. Psychology for Behavioral Economics, The American Economic Review 93 (5), 2003, 1449 – 1475; Herbert A. Simon, Theories of Decision-Making in Economics and Behavioral Science, The American Economics Review, 49 (3), 1959, 253 – 283. 7 Douglass C. North, Institutions, institutional change and economic performance, 2002; Michael Schmid, Der neue Institutionalismus, 2018; darüber hinaus Christoph Engel u. a. (Hrsg.), Recht und Verhalten, 2007. 8 Ronald Coase, Problem of the social Cost, Journal of Law and Economics 1960, 1 – 44; Oliver E. Williamson, The Logic of Economic Organization, Journal of Law, Economics, & Organizations 4 (1988), 65 – 93. 9 Siehe nur Horst Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Aufl., 2005.

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der Psychologie in Einklang zu bringen.10 Nun wird kaum bestritten, dass sich Rechtswissenschaft und ökonomische Analyse auf unterschiedliche Theorie- und Methodenkonzepte berufen. Und bestritten wird ebenso wenig, dass sie voneinander abweichende Ziele verfolgen, Koordination von Präferenzen und der Marktlogik nach Effizienzkriterien einerseits, Koordination von allgemein garantierten Freiheitssphären andererseits. Aber wie sollen gleichzeitig die Autonomie und die Vergesellschaftung des Rechts angemessen begründet werden? Die These, die wir im Folgenden diskutieren wollen, geht davon aus, dass die Regulierung bestimmter Gesellschaftsbereiche – wir werden uns auf das autonome Fahren konzentrieren – eine Überschneidung rechtlicher, ökonomischer und ethischer Verhaltensdeutungen zur Folge hat. Wir können auch sagen: In der Binnenperspektive des Rechts wird bei der Verarbeitung unterschiedlichster Risiken (implizit oder explizit) auf das entscheidungstheoretische Paradigma zurückgegriffen, wie es etwa in der ökonomischen Analyse und dem damit eng verknüpften utilitaristischen Denken Anwendung findet (allerdings ohne das Effizienzkriterium in Reinform zu übernehmen).11 Im Strafrecht, das im Mittelpunkt unserer Erörterungen stehen wird, führt dieser Umgang mit Verhalten, Risiken und Interessen zu einem hybriden Zurechnungs- und Verantwortungskonzept, das den modernen Freiheitserwartungen von Individuum und Gesellschaft gerecht werden soll. Wir nähern uns dem Problemfeld, indem wir zunächst das herkömmliche Zurechnungsmodell des Strafrechts skizzieren. Im Anschluss wird zu zeigen sein, in welcher Weise dieses Modell durch das entscheidungstheoretische Paradigma dynamisiert, d. h. den gesellschaftlich technologischen Entwicklungen (und den damit einhergehenden Risiken) angepasst werden soll. Zu zeigen ist aber auch, wie sich das hybride Zurechnungskonzept auf die Dogmatik auswirkt und wie es – ganz grundsätzlich – die deontologische Deutung des Rechts verändert. Die Überlegungen sind Reinhard Merkel gewidmet, der sich nicht nur mit dem Thema des autonomen Fahrens beschäftigt, sondern sich wie kaum ein zweiter mit den Grund- und Grenzfragen des gegenwärtigen (Straf-)Rechts auseinandergesetzt hat.

10

Matthew Rabin, A perspective on psychology and economics, European Economic Review, 46 (4), 2002, 657 – 685. 11 Von Bedeutung ist also das entscheidungstheoretische Paradigma als solches. Gleichzeitig ist nicht zu übersehen, dass die Ideen der ökonomischen Entscheidungstheorie auf einen ubiquitären (möglw. auch hegemonialen) Diskurs in den Geistes- und Sozialwissenschaften verweisen. Für das Strafrecht hat das enorme Relevanz.

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II. Schuld, Risiko und Schaden 1. Zurechnung als Kohärenzprinzip des Strafrechts Die gängige Begründung rechtlicher Verantwortung oder Haftung beruht auf der Zurechnung schuldhaften Verhaltens.12 Danach kann eine Rechtsverletzung nur dann plausibel adressiert werden, wenn, neben der kausalen Bewirkung (jemand wird verletzt, Eigentum wird beschädigt usw.),13 ein konsistenter Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg hergestellt werden kann. Beide Perspektiven, Kausalität und Zurechnung, fokussieren traditionell das einzelne Individuum – die Person – als Urheber von Ereignissen in der Welt.14 Es geht also in der Regel darum, das Verhalten des A mit einer konkreten Rechtsverletzung bei B in Verbindung zu bringen. Namentlich die strafrechtliche Zurechnung stellt auf das Einstehenmüssen des Handelnden ab, soweit vorsätzlich oder fahrlässig gegen die Normenordnung (also gegen bestehende Rechte, negative oder positive Pflichten) verstoßen wurde und an der Entscheidungsmacht, dem Unrechtsbewusstsein keine Zweifel bestehen.15 Dieses rechtsverletzende Verhalten wird im Strafrecht nicht nur als irgendein Bewirken verstanden. Rekonstruiert wird es vielmehr als ein sinnsetzendes Geschehen. Genau genommen wird durch die Zurechnung der Konflikt von zwei entgegengesetzten Normdeutungen ausdiskutiert und zu Lasten des erkannten Normwiderspruchs aufgelöst. Methodisch gesehen handelt es sich bei der Zurechnung um ein praktisches Urteil, um ein Verfahren, das Bedeutungen generiert, nämlich die, dass es um eine gesellschaftsrelevante Abweichung von der Norm geht, die grundsätzlich einen Schuld- und Strafausspruch zur Folge hat. Bei Günther Jakobs heißt es dementsprechend: „,Urteil‘ ist eine Entscheidung nach einem Code“ und dieser lautet bei der strafrechtlichen Zurechnung „deliktischer Sinn vs. Natur“. Deliktisches Verhalten wird also als kommunikativer Beitrag verstanden und ist nach Regeln zu interpretieren, die für solche Beiträge gelten: „nicht nach Regeln für die Erkenntnis der Natur, sondern nach Regeln einer Verhaltenssemantik … Die maßgebliche Frage lautet deshalb nicht: ,Was bewirkt das Verhalten?‘, sondern ,Was bedeutet es?‘“16

12 Joachim Hruschka, Strukturen der Zurechnung, 1976; Günther Jakobs, Die Strukturen strafrechtlicher Zurechnung, 2012; Benno Zabel, Die Ordnung des Strafrechts, 2017. 13 Auf das höchst intrikate Problem der Kausalität kann vorliegend nicht eingegangen werden, dazu aber vertiefend Ingeborg Puppe, Der Erfolg und eine kausale Erklärung im Strafrecht, ZStW 92 (1980), 863 – 911; dies., Strafrecht. Allgemeiner Teil, 4. Aufl., 2019, Rn. 26 ff.; zu den Randunschärfen der herkömmlichen Semantik bereits Weyma Lübbe (Hrsg.) Kausalität und Zurechnung, 1994. 14 Die Zurechnung kollektiven Handelns und die Frage der Unternehmenshaftung bleibt hier außer Betracht. 15 Michael Pawlik, Normbestätigung und Identitätsbalance, 2017. 16 Jakobs, Zurechnung (Fn. 12), S. 17.

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Nun geht es hier nicht darum, kritische Einwände gegen die systemtheoretische Einkleidung dieser Zurechnungskonzeption zu formulieren.17 Hervorzuheben ist demgegenüber die Einsicht, dass Zurechnung grundsätzlich als kommunikativer Akt gedacht werden muss. Strafrechtliche Zurechnung antwortet auf den „kommunikativen Beitrag“ des Delinquenten in Gestalt einer Eigentums-, einer Körperverletzung usw. und bringt im Zurechnungsurteil die normativen Bindungskräfte freier Gesellschaften und ihrer Verfassungen zur Geltung. Zurechnung ist insofern ein ordnungsstabilisierendes Konzept. Die Pointe dieses Konzepts besteht vor allem darin, dass Zurechnungsurteil, Schuld- und Strafausspruch einen symbolischen Überschuss erzeugen (sollen), der die gerechten und damit Legitimationsgrundlagen des liberalen Staates zur Geltung bringt. Nichts anderes kommt in der Rede vom sozialethischen Tadel zum Ausdruck. Erinnert sei hier nur an die Wirtschaftsstrafverfahren gegen Vorstände des Mannesmann- und Siemens-Konzerns, an den Auschwitz-Prozess oder an das Verfahren gegen Mitglieder und Unterstützer des NSU.18 Zudem wird am Strafverfahren erkennbar, welche immense Bedeutung sie gerade auch für die Verletzten (oder deren Angehörige) haben können. Das Zurechnungsurteil zu Lasten des Täters bezieht sich gleichermaßen auf den Verletzten, indem es die Rechtsverletzung nicht als Unglück oder Selbstverschulden kommuniziert, sondern klar als Straftat ausweist. Es ist deshalb weitgehend anerkannt, dass die Verletzten – jedenfalls in gewissem Umfang – vom Gemeinwesen Solidarität und professionelle Unterstützung erwarten dürfen.19 Im Ganzen ermöglicht die Zurechnungs- und Strafanwendungspraxis (ungeachtet bestehender Probleme) eine kulturelle Transferleistung; also das, was soziale Kohärenz genannt werden kann. 2. Risikoallokation und „Vergesellschaftung“ von Schäden Das strafrechtliche Zurechnungsurteil markiert ein normatives Kalkül, das die nachträgliche Verarbeitung des Konflikts – der Rechtsverletzung – allgemein anerkannten Bewertungsstandards vorbehält.20 Solche Beurteilungsstandards sehen nicht vom individuellen Standpunkt ab, ganz im Gegenteil, gleichen aber die partikularen Interessen mit den Freiheitsvorstellungen des Gemeinwesens ab. Aber wie wir schon gesehen haben, konkurriert diese Deutung mit anderen sozialwissenschaftlichen Modellen. Und nicht nur das. Zur Debatte steht auch eine alternative Deutung von Recht und Gesellschaft, Freiheit und Interesse. Dazu einige Bemerkungen: Ökonomische 17

Benno Zabel, Urteilskraft, Zurechnung und sozialethischer Tadel, in: Jan C. Joerden/Jan C. Schuhr (Hrsg.), Gedächtnisgabe für Joachim Hruschka, Jahrbuch für Recht und Ethik, 2020 (im Erscheinen). 18 BGHSt 50, 331 (Mannsmann); BGHSt 52, 323 (Siemens); LG Frankfurt/Main, 19. 08. 1965 – 4 Ks 2/63 (Ausschwitz-Prozess); OLG München, 11. 07. 2018 – 6 St 3/12 (NSU). 19 Zur Bedeutung des Opfers/des Verletzten im Strafrecht siehe Tatjana Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 37 ff. 20 Die Absprachen (jetzt auch geregelt in § 257c StPO) zeigen freilich, welchen Dynamiken inzwischen auch die gängige Zurechnungspraxis ausgesetzt ist.

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Modelle der Risikoallokation von Schäden beruhen auf dem Kalkül effizienzbasierter Wohlstandsoptimierung und mobilisieren so ein differenziertes nutzenorientiertes Denken. Die Analyse von Coase u. a. zielt daher auf eine Konfliktlösung mittels präferenzorientierten Interessensaugleichs.21 Dabei ist die Idee leitend, dass für den Umgang mit Interessenskonflikten – mit divergierenden Rechten und Pflichten – alternative gesetzliche Anreize bestehen können, die individuelles Handeln beeinflussen und deshalb zu alternativen Resultaten führen. Die ökonomische Verhaltensanalyse fragt deshalb erstens nach den konkreten gesetzlichen Alternativen. Zweitens will sie die Konsequenzen alternativer Rechtsanwendung offenlegen, die sich unter Berücksichtigung der wechselseitigen Kooperation, d. h. durch individuelle Intentionen und Handlungen ergeben. Drittens müssen die alternativen Kooperations- und Ausgleichsformen auf ihre relative Vorteilhaftigkeit gegenüber traditionellen Lösungen untersucht werden, wobei als Maßstab die komparative Effizienz dienen soll. Coase Innovation in The problem of social cost besteht nun darin, dass er – im Gegensatz zur orthodoxen Wohlfahrtsökonomie Pigous – auch die unterschiedlichen Wirkungen alternativer Regulierungen auf die betroffenen Individuen präzise analysiert. Wie bereits erwähnt, führt Coase zur Erfassung dieser Effekte die Idee der Transaktionskosten ein. Transaktionskosten sind Aufwendungen für das Betreiben eines Wirtschaftssystems.22 Für unseren Problemkontext soll die Rede von Transaktionskosten darauf aufmerksam machen, dass die mit einem Konflikt verbundenen Risiken und Schäden nur in der Reziprozität der Ressourcen- und Risikoallokation angemessen bestimmt werden können. Schäden oder Verletzungen sind danach keine Größe, die nur aus einer Perspektive, nämlich aus der Perspektive des Geschädigten, und Kompensationsleistungen kein Posten, der nur aus der Sicht des Schädigers zu betrachten wäre. Coase verdeutlicht an verschiedenen Beispielen, dass Nachteile nicht nur auf Verletztenseite, sondern, etwa durch Einschränkung von Nutzungsrechten, auf Seiten des Verursachers zu besorgen sind.23 Die Einbettung von Risiken und Schäden in ein Geflecht von Bedürfnissen, vor allem in das Kollektivgut des gesellschaftlichen Wohlstands, ist nun aber mit einer Konsequenz verbunden, die unter Juristen kontrovers diskutiert wurde und wird:24 Denn wenn die Ressourcenallokation bei allen Betroffenen ergibt, dass – in gängiger Semantik – der Geschädigte kostengünstiger eine Verminderung oder Vermeidung der Externalität herbeiführen kann, wenn also die Kosten der Internalisierung (d. h. die Kosten durch staatliche Regulierung) die Kosten aus dem Schaden bei fehlender Internalisierung übersteigen, dann 21

Ronald Coase (Fn. 8); außerdem Garry S. Becker, Crime and Punishment. An Economic Approach, Journal of Political Economy 76 (1968), 169 – 217; Guido Calabresi, The Costs of Accidents. A Legal and Economic Analysis, 1970; Arthur C. Pigou, The Economics of Welfare, 1920; George T. Stigler, The Optimum Enforcement of Laws, Journal of Political Economy 78 (1970), 526-536; Oliver Williamson, Transaction-cost Economics. The Governance of Contractual Relations, Journal of Law and Economics 22 (1979), 233 – 261. 22 Coase, Problem of the social Cost, 1 – 44. 23 Coase, Problem of the social Cost, 1 – 44. 24 Horst Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (Fn. 9).

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ist es für Coase schon aus wohlfahrtsökonomischen Gründen wenig plausibel, strikt an einer ausschließlichen Haftung des Schadensverursachers festzuhalten; wird auf diese Weise doch eine den gesamtgesellschaftlichen Output maximierende Lösung unterlaufen.25 Der für meine nachfolgenden Überlegungen zentrale Punkt ist, dass Coase mit der Orientierung an einer allokativen Effizienz der Konfliktregulierung Verursachung, Entscheidung und gesetzliche Verantwortung gezielt entkoppelt, wir können auch sagen, die traditionelle Zuordnungsbeziehung dynamisiert. So geht es im Bereich der Verhaltens- und Institutionenökonomie nicht mehr in erster Linie darum, Handlungen eines Akteurs und entsprechende Wirkungen – Beeinträchtigungen anderer – isoliert zu beurteilen. Entscheidend wird vielmehr die Frage, welche Bedeutung miteinander konkurrierende Aktivitäten (Risikoschaffungen, Verletzungen usw.) für eine Gesellschaft als ökonomische Gesamtressource haben.26 Die daran anschließende ökonomische Analyse des Rechts betont vor allem die flexiblen Möglichkeiten der Verhaltenssteuerung und Konfliktregulierung. In den Blick kommen dadurch unterschiedlich organisierte Institutionen und Entscheidungslogiken, namentlich Unternehmen, der Markt oder die rechtliche Rahmenordnung. D. h. die Bedeutung von Rechten und Pflichten, die Art, wie über sie verfügt werden kann und wie Konkurrenzen oder Beeinträchtigungen normativ zu beurteilen sind, ist immer schon eine Frage der komplexen Wechselwirkungen zwischen individuellen Präferenzen, gesellschaftlichen Erwartungen und ökonomischen Opportunitäten.27 Gerade an der Institutionalisierung der Risiken und der Vergesellschaftung von Schäden wird aber auch deutlich, dass die effiziente Operationalisierung von Konflikten nicht nur auf die Allokationen unter Knappheitsbedingungen verweist. Ebenso wichtig dürfte das Bestreben sein, durch die erwähnten sozialen Arrangements (und unter Berücksichtigung der Transaktionskosten) die Unwägbarkeiten herkömmlicher Interventions- und Regulierungsprogramme aufdecken und für Unsicherheitsbeherrschung sorgen zu wollen.28

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Coase, Problem of the social Cost, 1 – 44. Die Frage lautet dann: Worauf verzichtet eine Gesellschaft und ein Gemeinwesen (ökonomisch), wenn Aktivität A ausgeschlossen und Aktivität B ermöglicht wird, und worauf andererseits, wenn Aktivität B verhindert und Aktivität A sanktioniert wird? Auf die interne ökonomische Diskussion kann hier nicht eingegangen werden. 27 Ronald Coase, The Firm, the Market and the Law, in: ders., The Firm, the market and the Law, 1988, 1 – 31. 28 Unter „herkömmlich“ sind hier besonders staatliche, nicht an „allokativer Effizienz“ oder an der totalen Output-Maximierung orientierte Modelle angesprochen. 26

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III. Von der Zurechnungs- zur Entscheidungstheorie? 1. Die Ausweitung der Unsicherheitszonen Dass die ökonomische Analyse des Rechts zu einer langanhaltenden Kontroverse unter Juristen und zu vielfältiger Kritik geführt hat, braucht hier nicht im Detail diskutiert werden. Es ist bereits vielfach getan worden. In der Sache bezieht sich das einerseits auf die Tragfähigkeit der verwendeten Modelle und Semantiken, man denke an den Begriff des homo oeconomicus, an das zugrunde gelegte Rechtsverständnis, die mobilisierten Rationalitätskalküle, aber auch an die heuristischen Standards. Zum anderen betrifft es Transformationsprobleme zwischen ökonomischem Denken und Rechtswissenschaft, etwa Fragen nach der angemessenen Übersetzung des Effizienzkriteriums, die Begründung der Wohlstandsoptimierung im Recht, dessen Verhältnis zur Gerechtigkeit usw.29 Nun lag (und liegt) der juristischen Kritik eine Ordnungs-, Rechte- und Pflichtenkonzeption zugrunde, die im Grundsatz durch eine liberale Freiheitsannahme gekennzeichnet ist. Ausschlaggebendes Merkmal dieser Freiheitsannahme ist die normative Begrenzung gesellschaftlicher Effizienz- und Wohlstandsoptimierung zugunsten einer Autonomie- und Menschenwürdegarantie. Kurz: Personalisierung der handelnden Akteure als Ausdruck von Rechtssicherheit. Nur wer Person ist, kann auch Rechte- und Pflichtenadressat sein.30 Genau daran orientiert sich auch das erwähnte Zurechnungs- und Verantwortungskonzept (wir können das die deontologische Option nennen). Dieses Zurechnungs- und Verantwortungskonzept wird aber in dem Maße irritiert, in dem Gesellschaften die Lebenswelt der Mitglieder verändern und die Gesellschaftsmitglieder versuchen, neue Formen der Anpassung oder auch Selbstorganisation zu kreieren. Namentlich die angesprochene Digitalisierung des Sozialen stellt eine solche Irritation dar. Sichtbar wird das dann, wenn wir uns vor Augen führen, dass elektronische Netzwerke (Ebay, Facebook, Instagram usw.) die Idee der Öffentlichkeit, die Kommunikations- und Aushandlungskulturen massiv verändern;31 dass durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz, durch hochtechnisierten Straßenverkehr oder durch Cyberkriminalität Rechte (Eigentum, Körper, Leben) in anderer Weise als bisher beeinträchtigt werden können.32 Die vormals klare Fokussierung auf die Person, vor allem auf die kohärenzstiftende Verknüpfung von Verhalten, Zurechnung und Verantwortung wird nun in Tei29 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (Fn. 9), S. 323 ff. und öfter; Karl Heinz Fezer, Nochmals: Kritik der ökonomischen Analyse des Rechts, in: Juristenzeitung 1988, 223 – 228. 30 Benno Zabel, Rechtssicherheit und Prävention. Über ein Dilemma des modernen Strafrechts, in: Jan C. Schuhr (Hrsg.), Rechtssicherheit durch Rechtswissenschaft, 2014, S. 219 – 243. 31 Dazu jetzt Armin Nassehi, Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, 2019; für den konkreten Kontext Malte-Christian Gruber, Zumutung und Zumutbarkeit von Verantwortung in Mensch-Maschine-Assoziationen, in: Eric Hilgendorf (Hrsg.), Robotik und Gesetzgebung, 2012, S. 123 – 161. 32 Diskutiert etwa bei Eric Hilgendorf (Hrsg.), Autonome Systeme und neue Mobilität, 2017 und Susanne Beck/Bernd-Dieter Meier/Carsten Momsen (Hrsg.), Cybercrime und Cyberinvestigations, 2015.

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len der Rechtsordnung zum Problem, Rechtssicherheit droht in Rechtsunsicherheit umzuschlagen. Bemerkenswert ist aber vor allem – darauf kommt es mir hier an – in welcher Weise Rechtspolitik, Rechtswissenschaft und Rechtsdogmatik ihrerseits versuchen, diese Unsicherheitszonen effektiv einzuhegen.33 Wir können nämlich beobachten, dass die strikte Verknüpfung von Verhalten, Entscheidung und Verantwortung konfliktspezifisch dynamisiert oder im Sinne neuer Konfliktlösungsinteressen funktionalisiert wird. Mit anderen Worten, Entscheidung und Verantwortung sind nicht mehr notwendig verbunden; Zurechnung wird – wenn notwendig – auf Risikoallokation umgestellt. Was das konkret heißt, werden wir noch sehen. Klar wird zunächst, dass damit im (Straf-)Recht partiell ein nutzenorientiertes Denken Platz greift, wie wir es auch aus der Verhaltens- und Institutionenökonomie kennen. Im Unterschied zu den gängigen Debatten zwischen Ökonomen, Juristen und Sozialwissenschaftlern wird aber die Deutung der ökonomischen Analyse nicht einfach übernommen (oder transformiert), sondern das eigene heuristische Interesse und die Methode den gesellschaftlichen Rechtssicherheitsbedürfnissen angepasst. Ökonomische Analyse und Rechtswissenschaft bleiben daher getrennte Systeme, mit getrennten Weltund Konfliktverarbeitungskulturen. Die Kontrastierung beider Kulturen zeigt uns aber auch, warum die Systeme unter bestimmten sozialen Bedingungen gleichlaufende Ziele verfolgen. Denn es geht um ein gemeinsames Interesse: die Beherrschung von gesellschaftlichen Unsicherheitszonen und individuellen Unsicherheitserfahrungen. 2. Intelligente Technik und der strafrechtliche Schutz des Individuums Nun sind Umstellungen im Bereich rechtlicher Zurechnung per se nichts Neues, was man am Wechsel von Erfolgs- auf Schuldhaftung, an der Etablierung von Fiktionen als originäre Zurechnungsvoraussetzungen oder an der dogmatischen Figur der hypothetischen Einwilligung beobachten kann.34 Die Umcodierung, die wir anhand der Technisierung und Digitalisierung des Sozialen besichtigen können, hat aber eine besondere Drift. Mit ihr wird die Zurechnung zum normativen Hybrid.35 33

Cass Sunstein, Gesetze der Angst, 2007. Zur Erfolgs- bzw. Schuldhaftung Stephan Stübinger, Der Stellenwert der Schuld, in: Klaus Lüderssen (Hrsg.), Die Durchsetzung des öffentlichen Strafanspruchs, 2000, S. 187 – 205; zur Fiktion als Zurechnungsvoraussetzung Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 2, 1973 (1840), § 85, S. 236 und öfter (hinsichtlich der juristischen Person); zur hypothetischen Einwilligung Lothar Kuhlen, Objektive Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen, in: Bernd Schünemann u. a. (Hrsg.): Festschrift für Claus Roxin, 2001, S. 331 – 348. 35 Zur zugrunde gelegten Gesellschaftstheorie siehe bereits Bruno Latour: „Um unsere Erklärungen der Gesellschaft ins Gleichgewicht zu bringen, müssen wir einfach unsere exklusive Aufmerksamkeit von den Menschen abwenden und auch auf die Nicht-Menschen blicken. Hier sind sie, die versteckten und verachteten sozialen Massen, aus denen unsere 34

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a) Verantwortungssplitting und Gefährdungszurechnung Wichtig für das Verständnis der Zurechnung als normativer Hybrid ist die Vorstellung, dass Entscheidung – damit Verursachung – und Verantwortung nicht mehr ausschließlich individualisiert und d. h. nicht mehr vom einzelnen Akteur aus gedacht wird, Organisationsbereiche werden neu vermessen.36 Was ist damit gemeint und welche Konsequenzen hat es? Anknüpfen können wir an die oben festgestellte Entkopplung von Handlung, Entscheidung und Verantwortung. Während die ökonomische Analyse die Entkopplung noch mit Effizienzerwartungen und Wohlstandsoptimierungen begründet hatte, geht es im Recht um Ordnungsvertrauen mittels diversifizierter Risikoverantwortung. Diese Risikoverantwortung beruht – so die Deutung – auf einer Pluralität von Akteuren und Zurechnungsadressaten. Menschen bedienen sich zunehmend komplexer Technik oder sind selber nur noch Teil eines Kommunikations- und Datenverarbeitungssystems.37 Verwiesen wird beispielhaft auf die Inanspruchnahme von elektronischen Agenten im Internethandel, auf den Einsatz von smarter Operationstechnik im Gesundheitswesen (da Vinci-Roboter) oder auf die Etablierung von künstlicher Intelligenz im Börsengeschäft (high frequency trading).38 Wo genau die Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine, zwischen individueller Organisationsherrschaft und maschineller „Selbststeuerung“ (qua Software) verlaufen, ist offensichtlich nicht immer klar auszumachen, wie zuletzt mit Blick auf „autonome Waffensysteme“ geltend gemacht wurde.39 Wenn aber Entscheidungen nicht mehr eindeutig zuordenbar sind, weil ein kollektives Geflecht von Mittlern handlungswirksam wird, wenn gleichzeitig Schäden vermieden oder Beeinträchtigungen kompensiert werden sollen, müssen dann Zurechnung und Verantwortung anders begründet werden, etwa verschuldensunabhängig oder relativ zur Konfliktsituation? Die Frage ist heikel. Denkt man sie konsequent zu Ende, läge – jedenfalls für bestimmte soziale Arrangements – die Verabschiedung vom handelnden Subjekt nahe. So radikal wird es nur selten gesehen.40 Eher wird die Diversifizierung in Form einer gefährdungssensiblen Netzwerkkultur ausbuchstabiert. Dabei geht es nicht mehr allein um die herkömmliche Gefährdungshaftung. Diese statuiert Moralität besteht.“ Vgl. ders., Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, 1995. 36 Gunther Teubner, Elektronische Agenten und große Menschenaffen, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2006, 5 – 50; Benno Zabel, Die Ordnung des Strafrechts (Fn. 12), S. 533 ff. 37 In diesem Sinne wird in der Soziologie schon länger von sog. Akteurs-Netzwerk-Theorien gesprochen, dezidiert Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, 2007, S. 66 ff. 38 Zu den damit einhergehenden Fragen Karsten Gaede, Künstliche Intelligenz – Rechte und Strafen für Roboter? Plädoyer für eine Regulierung künstlicher Intelligenz jenseits ihrer reinen Anwendung, 2019. 39 Zu autonomen Waffensystemen vgl. William Marra/Sonia McNeil, Understanding ,The Loop‘. Regulating the Next Generation of War Machines, Harvard Journal of Law and Public Policy, Vol. 36, 2013, 1139 – 1185. 40 Ganz abgesehen davon, dass ein solches Konzept im (deutschen) Strafrecht derzeit kaum integrierbar wäre.

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bekanntlich eine am isolierten Individuum ausgerichtete Vorsatz- oder Fahrlässigkeitshaftung auf der Basis einer handlungsbezogenen Rechtskreisverletzung (mit allen damit verbundenen Problemen der normativen Ausdünnung des Zurechnungszusammenhangs usw.).41 Ins Zentrum rücken vielmehr die organisationsbezogenen Rollen von Produzent, Unternehmer, von Programmierer, Betreiber oder Nutzer. „Paradox formuliert“, so Malte Gruber, „haften zwar auch hier Menschen – aber nicht als … Menschen, sondern als Betreiber oder Unternehmer […]. Gegenstand der Gefährdungshaftung ist also der konkrete Anwendungskontext des maschinellen Betriebs, das menschlich-nichtmenschlich assoziierte Tätigsein im Bereich technologischer Risiken …“.42 Wie weit Gefährdungen zugerechnet werden, ist dann abhängig von den Kontroll-, Sicherungs- oder Prüfungsstandards, dogmatisch, von gesetzlich vorgeschriebenen Sorgfalts- und Vermeidungspflichten. Insofern wird das Feld individuell-subjektiver Verantwortung durch eine objektivierte „Risikoabschirmungsverantwortung“ ergänzt oder, je nach Kontext, sogar überformt.43 Diese Dynamik aus Technisierung und Gefährdung der Lebenswelt, damit einhergehenden Risikobeherrschungspflichten und Verantwortlichkeiten, birgt freilich ein Dilemma, für das uns die ökonomische Analyse des Rechts sensibilisiert hat. Denn technische Innovationen – das wurde schon an dem Eisenbahnbeispiel bei Pigou und Coase deutlich44 – haben immer zwei Seiten: die Seite des Risikos und die Seite des individuellen oder gesellschaftlichen Nutzens. Zurechnung schafft zuallererst Verantwortungszumutungen der Produzenten, Betreiber usw. und Risikozumutungen für die Gesellschaft und das einzelne Individuum. Nur unterliegen Verantwortungszumutungen und Risikozumutungen keinem Selbstzweck. Sie dienen eben nicht dazu, Sicherheit – Lebenssicherheit – um jeden Preis zu organisieren, wie wir markant am Straßenverkehr beobachten können (umstrittener dürfte schon das Unterhalten von Atomtechnik und Atomkraftwerken sein).45 Zurechnung durch Recht soll Ordnungsvertrauen gewährleisten, aber auch den Rahmen für neue verlässliche Gestaltungsspielräume abstecken. Anders als die ökonomische Analyse des Rechts annimmt, lässt sich das aber nicht nur über Effizienz- oder Wohlstandserwägungen organisieren. Wenn es bei Risikoal41 Dogmatische Einzelfragen können hier nicht vertieft werden, vgl. aber Weyma Lübbe, Handeln und Verursachen. Grenzen der Zurechnungsexpansion, in: dies. (Hrsg.), Kausalität (Fn. 13), S. 223 – 242 42 Gruber, in: Robotik und Gesetzgebung (Fn. 31), S. 123 – 161, hier: 143 f. 43 Gunnar Duttge, § 15 StGB, in: MüKo, 3. Aufl. 2017, Rn. 105 ff. 44 Arthur Pigou, The Economics of Welfare, S. 175 ff.; Coase, Problem of the social Cost, 1 – 44. 45 Zur sozialen Grammatik des Sicherheitsbegriffs in der Moderne Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als sozialogisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl. 1973; mit speziell juristischen Fokus Andreas von Arnauld, Rechtsicherheit, 2006; zum juristischen Konzept des erlaubten Risikos vgl. die nachfolgenden Erörterungen.

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lokation und Zurechnung um Beherrschbarkeitsszenarien geht,46 sind vielmehr zwei Punkte zu beachten: Zum einen muss den unterschiedlichen Interessen und den Freiheitsrechten, Rechnung getragen werden. D. h. Ordnungsvertrauen und verlässliche Gestaltungsspielräume sind immer schon polyfunktional codiert, insofern sie Erwartungen der Ökonomie, der Industrie und Technologieentwicklung, der Wissenschaft, Sozialmoral usw. zur Geltung zu bringen haben. Das aber kann zum anderen nicht in einer Addition partikularer Erwartungshaltungen zum Ausdruck gebracht werden. Die Akteure beziehen sich mit ihren Haltungen – dazu gehören auch die Präferenzen des homo oeconomicus – wenigstens implizit auf das zeitbedingte Freiheitsniveau liberaler Gemeinwesen. Gleichzeitig wirken sie auf dieses ein. Wirtschaft, Recht, Moral und Wissenschaft, sind uns als Institutionen nicht vorgegeben; wir sind es als politisch Handelnde, die sie stabilisieren und verändern. b) „Autonome“ Fahrzeuge und die deontologische Deutung des Rechts Nirgends konzentrieren sich die eben verhandelten Fragen so massiv, wie in der Debatte um das sog. „autonome Fahren“ (besser trifft es wohl: vernetzte Fahrzeuge). Der Straßenverkehr wird geradezu zum Probierfeld für die Innovationsfähigkeit heutiger Netzwerk- und Kommunikationsgesellschaften, für die entsprechende Anpassung der Freiheitsspielräume und der Haftungsregulierung.47 Dem kann hier nicht im Detail nachgegangen werden. Wir wollen uns auf das Verhältnis von Risikoallokation und Zurechnung beschränken. Als autonom oder teilautonom gelten technische Systeme, wenn sie, „dem Sprachgebrauch der Technik folgend, ,unabhängig von menschlichen Eingaben im Einzelfall‘“ agieren.48 Dieses aus Sicht klassischer Autonomiebegriffe geradezu paradoxe Verständnis zeigt, wie stark sich Wissenschaft und Gesellschaft von herkömmlichen (philosophischen) Semantiken emanzipieren und auf diese Weise unsere Lebenswelt beeinflussen. Bei autonomer Fahrzeugtechnik läuft das darauf hinaus, dass diese aufgrund einer speziellen Software (Ausbildung künstlicher neuronaler Netze durch sog. deep learning usw.) und ihrer technischen Ausstattung (insbes. Sensortechnik) nicht nur in der Lage sind oder zukünftig in der Lage sein sollen, die Steuerung im Verkehr zu übernehmen, sondern auch die Steuerungsmöglichkeiten eigenständig weiterzuentwickeln (sog. Selbstlernfähigkeit). Welche realen Gefahren beim Einsatz von solchen Fahrzeugen drohen, hat der tödliche Unfall eines von der Firma Tesla produzierten und in den Verkehr ge-

46 Vgl. Niklas Luhmann, Risiko und Gefahr, in: ders., Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven, 2. Aufl., 1993, S. 131 – 169. 47 Dazu Bernd Oppermann et al. (Hrsg.), Autonomes Fahren: Rechtsfolgen, Rechtsprobleme, technische Grundlagen, 2017; vgl. außerdem die Stellungnahme des Ethikrates: Autonome Systeme. Wie intelligente Maschinen uns verändern, http://www.ethikrat.org/veranstal tungen/jahrestagungen/autonome-systeme. 48 Hilgendorf, Können Roboter schuldhaft handeln?, in: Susanne Beck (Hrsg.), Jenseits von Mensch und Maschine, 2012, S. 119 – 132.

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brachten Automobils jüngst veranschaulicht.49 Für die Akzeptanz vernetzter Fahrzeuge ist es daher unumgänglich, dass die Autohersteller über eine ausgereifte Technik verfügen. Unumgänglich ist es aber ebenso, die konkreten Sorgfaltspflichten, die Verantwortungs- und Risikozumutungen festzulegen, auf die sich alle beteiligten Akteure und die Gesellschaft einstellen müssen. aa) Einige Bemerkungen zu den Perspektiven der Rechtsund Strafrechtspolitik Beschäftigt man sich mit der Frage der Verantwortungszumutung, so ist zu klären, wem im Falle von Unfällen im Straßenverkehr Rechtsbeeinträchtigungen zugerechnet werden können oder müssen, etwa dem Hersteller, dem Programmierer oder dem Fahrer.50 In Konstellationen, in denen eindeutige Mängel identifiziert werden können, fehlerhafte Produktion oder mangelhafte Softwareentwicklung, dürfte die Zurechnung keine größeren Probleme bereiten. Ob unter Umständen und mit Blick auf die Transaktionskosten auch Regulierungen jenseits rechtlicher oder staatlicher Intervention denkbar sind, wäre zu überlegen. Die Schwierigkeiten entstehen jedenfalls dann, wenn, entweder aufgrund der komplexen Technik des Fahrzeugs, die Verantwortungsbereiche nicht mehr präzise abgrenzbar sind oder Kausalitäts- und Verantwortungsbeiträge durch die Selbstlernfähigkeit autonomer Systeme „neutralisiert“ werden. Um die damit einhergehenden Unsicherheiten in ein Arrangement beherrschbarer Risiken überführen zu können, sind verschiedene Szenarien denkbar: Denkbar sind eine neue Ausgestaltung der Produkt- oder Produzentenhaftung, eine Halter-Gefährdungshaftung oder an den Stand der Technik angepasste Versicherungslösungen. Aber klar ist ebenso, dass die Risikofolgenabschätzung, einschließlich der Kontroll- und Überwachungspflichten, nicht ins Unermessliche gesteigert werden kann, will man seitens der Politik und der Gesellschaft vernetzte Fahrzeuge grundsätzlich ermöglichen; abgesehen davon, dass der Zurechnungszusammenhang massiv ausgedünnt würde. In Betracht käme darüber hinaus die Konstruktion einer elektronischen Person mit eingeschränkten Rechten und Pflichten (insofern geht es dann auch um eine Rechtsfähigkeit von intelligenten Maschinen51). Die Konstruktion eines solchen Zurechnungsadressaten hätte den Effekt, dass Haftungssummen durch die beteiligten Akteure – Hersteller, Programmierer, Verkäufer, Fahrer – gebündelt und Ansprüche, in Gestalt von Schadensersatz, direkt gegenüber der ePerson geltend

49 Vgl. dazu die Stellungnahme des IKEM: http://www.ikem.de/wp-content/uploads/2016/ 07/Toedlicher-Tesla-Unfall-Irrtuemer-und-Rechtsfolgen.pdf. 50 Unabhängig von dem hier betrachteten Unfallszenario bei autonomen Fahrzeugen treten Verantwortungsfragen auch noch in anderen Zusammenhängen auf, man denke nur an den ubiquitären Zugriff auf persönliche Daten, der für die Nutzung von autonomen Systemen notwendig ist, zur verfassungsrechtlichen Problematik Udo Di Fabio, Grundrechtsgeltung in digitalen Systemen, 2016. 51 Umfassend dazu nochmals Gaede (Fn. 38).

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gemacht werden könnten.52 Die Drift von einer subjektiven (individualisierten) zu einer objektivierten Verantwortungszuschreibung ist hier unübersehbar.53 bb) Detailfragen der Zurechnungslehre und Dogmatik Gerade beim autonomen oder vernetzten Fahren sind Verantwortungs- und Risikozumutung eng miteinander verknüpft. D. h. die technische Umsetzung wirkt sich direkt auf den Straßenverkehr, auf Beteiligte und Unbeteiligte aus. Aber nicht nur das: Sie hat auch Konsequenzen für die Verhaltens- und Konfliktdeutungen im Strafrecht. Beispielhaft lässt sich das an entstehenden Dilemma-Situationen diskutieren.54 Dilemma-Situationen bei der Nutzung von autonomen Fahrzeugen können sich etwa dann ergeben, wenn sich das Fahrzeug einer Unfallstelle nähert, an der sich mehrere Schwerverletzte befinden. Das Fahrzeug kann vor dieser Unfallstelle nicht mehr abbremsen. Wie soll der Bordcomputer (Eric Hilgendorf spricht auch von selbsttätigen Kollisionsvermeidesystemen55) des Fahrzeugs reagieren? Welche Kriterien und Prinzipien sollen bei eventuell notwendigen Ausweichmanövern gelten, wenn die Tötung einer bestimmten Zahl von Schwerverletzten unausweichlich erscheint? Das Problem ist in der Rechtswissenschaft, aber auch in der Rechts- und Moralphilosophie bekannt, wie wir aus den Debatten um die Weichensteller- und TrolleyFälle wissen.56 Mit einer ähnlichen Dilemma-Situation hatte sich das Bundesverfassungsgericht 2006 zu beschäftigen. Dabei ging es um die Frage, ob (entsprechend § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz a.F.) ein mit konfliktunbeteiligten Personen besetztes Flugzeug abgeschossen werden darf, wenn es zum Zweck eines terroristischen Angriffs gekapert wurde.57 Die letztgenannten Fälle haben allerdings eine Gemeinsamkeit. Sie alle beziehen sich auf das situative Verhaltensdilemma von Menschen. In solchen Notstandssituationen hat sich zumindest im deutschen (Straf-) Recht ein weithin akzeptiertes Beurteilungsmuster herausgeschält. Grundsätzlich gilt das Prinzip der geringeren Schadenswirkungen. Wenn der Eingriff in die Rechtssphären unbeteiligter Dritter nicht vermieden werden kann, dann muss er so gering 52 Einzelheiten bei Susanne Beck, Über Sinn und Unsinn von Statusfragen – zu Vor- und Nachteilen der Einführung einer elektronischen Person, in: Eric Hilgendorf (Hrsg.), Robotik und Gesetzgebung, 2012, S. 239 – 260. 53 Soweit ein nachweisbares Fehlverhalten, d. h. vorsätzliche oder fahrlässige Beeinträchtigung von Rechtssphären vorliegt, soll es selbstverständlich möglich bleiben, die volle Haftung/Zahlung dem konkreten Verursacher (Produzent, Programmierer, Halter, Fahrer) zu übertragen. 54 Zur „Dilemma-Debatte“ bei der Nutzung autonomer Fahrzeuge vgl. die Beiträge von Jan C. Joerden, Frank Schuster, Susanne Beck und Eric Hilgendorf, in: Hilgendorf, Autonome Systeme und neue Mobilität, passim. 55 Hilgendorf, Autonomes Fahren im Dilemma, in ders. (Fn. 54), S. 143 – 175. 56 Zum Weichensteller etwa Hans Welzel ZStW 63 (1951), S. 47 ff.; zum Trolley-Fall, Philippa Foot, The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect, in: Oxford Review 5 (1967), 5 – 15. 57 BVerfGE 115, 118 ff.

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wie möglich gehalten werden. Dieses Prinzip wird aber dann als inakzeptabel angesehen, wenn bei der Abwägung von Schadenswirkungen Menschenleben einbezogen werden oder sogar Verrechnungen von Menschenleben zur Debatte stehen, also eine Gruppe von zwei Personen gegen eine Gruppe von 10 (oder vielleicht sogar 1.000) Personen, Jüngere gegen Ältere usw. Denn jedes Menschenleben soll aufgrund seiner Ausnahmestellung in modernen Rechtsordnungen – seinem individuellen Würdeanspruch gem. Art. 1 Abs. 1 GG – gerade nicht abwägungsfähig oder aufrechenbar sein. Weder Quantitäten noch besondere Eigenschaften der (potentiellen) Opfer dürfen bei der Konfliktlösung eine Rolle spielen. In der Sache wird damit die Allokation verhaltensbedingter Schadenswirkungen durch ein deontologisch begründetes Argument begrenzt. In der Rechtsanwendung hat das zur Folge, dass die unausweichliche Tötung eines Menschen in Notlagen als rechtswidrig beurteilt wird. § 34 StGB kennt zwar die gerechtfertigte Gefahrenabwehr. Allerdings nur im Rahmen einer Abwägung widerstreitender Interessen (Leben, Leib, Eigentum usw.), und nur dann, wenn die Gefahr nicht anders abwendbar war und „das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt“; was bei kollidierenden Lebensinteressen gerade ausgeschlossen sein soll. Das Recht trägt aber der tragischen Ausweglosigkeit und der psychologischen Ausnahmesituation (Unzumutbarkeit) dadurch Rechnung, dass sie den Handelnden entschuldigt und so eine Sanktion erspart, was entweder über die Regelung des entschuldigenden Notstandes, § 35 StGB, oder durch die Figur des übergesetzlichen Notstandes erreicht werden kann.58 Der Umgang und die juristische Verarbeitung solcher Notstandslagen kennt noch eine Reihe weiterer Probleme, die hier aber nicht diskutiert zu werden brauchen.59 Für uns ist es wichtig, dass wir das Verhaltensdilemma und die notstandsbezogenen Unterschiede zwischen Menschen und vernetzten Fahrzeugen identifizieren können. Der Unterschied besteht einmal darin, dass die Allokation der Schadenswirkungen resp. Tötungen durch einen Bordcomputer vorgenommen wird, d. h. die Tragik der Situation zwar objektiv vorliegt, von einer psychologischen Druck- und Ausnahmesituation keine Rede sein kann. Und ein zweiter Unterschied ist von Belang: Um beim autonomen Fahren überhaupt eine Kollisionsvermeidung zu ermöglichen, müssen bestimmte Parameter, wie ein Automobil in bestimmten Konfliktsituationen qua Bordcomputer reagieren soll, vorab programmiert werden (insofern dürfte allerdings auch klar sein, dass zu keinem Zeitpunkt alle in der Zukunft denkbaren Verhaltenskonflikte erfasst werden können). Die zentrale Frage, die sich nun stellt ist, welche normativen Standards die Kollisionsvermeidesoftware umsetzen sollte, d. h. welche Risikozumutungen den (potentiellen) Opfern aufgebürdet werden können und welche nicht. Der Lösungsvorschlag, der dafür im Raum steht, ist auch deshalb so radi58

Zu der gesamten Debatte, einschließlich der dogmatischen Fragen zu §§ 34 und 35 StGB siehe etwa Jan C. Joerden, Zum Einsatz von Algorithmen in Notstandslagen. Das Notstandsdilemma bei selbstfahrenden Kraftfahrzeugen als strafrechtliches Grundlagenproblem, in: Eric Hilgendorf (Fn. 54), S. 73 – 97 und Armin Engländer, Das selbstfahrende Kraftfahrzeug und die Bewältigung dilemmatischer Situationen, ZIS 2016, 608 – 618. 59 Ulfried Neumann, NK-StGB, 5. Aufl., 2017, § 34 Rn. 65 – 105.

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kal, weil er die herkömmliche kategorische Prinzipienbindung des Rechts aufbricht – oder zumindest neu deutet – und hierfür u. a. auf Argumente zurückgreift, die in der utilitaristischen Ethik, vor allem in der Verhaltensökonomie bzw. der ökonomischen Analyse des Rechts entwickelt wurden. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass die Art und Weise der Verhaltenszurechnung und Risikoallokation unter anderen Voraussetzungen stattfindet. Sichtbar wird das schon daran, so Reinhard Merkel, dass die „Vor-Programmierung“ des Bordcomputers sich nicht auf unmittelbare und konkrete Gefährdungslagen, sondern auf ein hoch abstraktes Risiko bezieht, mit anderen Worten, es wird nur ein möglicherweise eintretendes Risiko technisch antizipiert.60 Die Pointe dieser Argumentation liegt darin, dass sie die Frage der Risikozumutung mit dem allgemeinen Interesse der Gesellschaft an einem vernetzten Straßenverkehr verknüpft. Juristisch wird damit der Gedanke des erlaubten Risikos nutzbar gemacht. Das erlaubte Risiko ist – strafrechtlich betrachtet – ein Verantwortungsbegrenzungsgrund.61 Generell betrachtet geht es darum, gesellschaftlich erwünschte Nutzen- und Wohlstandsoptimierungen im Recht abzubilden. Das betrifft vor allem die Vorteile, die sich aus einer mobilen Lebensgestaltung ergeben, weshalb bestimmte Risiken (auch das der Lebensgefährdung) bis zu einem gewissen Grade und Umfang in Kauf genommen werden. Allerdings sollten wir nicht übersehen, dass beim „normalen“ Straßenverkehr dieses abstrakt erlaubte Risiko situationsspezifisch konkretisiert wird, nämlich – je nach Entscheidungskontext – als sorgfaltsgemäße/sorgfaltswidrige, rechtmäßige/rechtswidrige, schuldhafte/entschuldigte Verletzungshandlung. Demgegenüber soll es beim „automatisierten Straßenverkehr“ bei einer grundsätzlichen Verantwortungsfreistellung (des Herstellers, des Programmierers, gegebenenfalls des Fahrzeugnutzers usw.) bleiben; jedenfalls dann, wenn bei der Systemfertigung der Stand der Technik und die notwendigen Sorgfaltsanforderungen beachtet wurden und auch sonst keine Mängel oder Fehler in der Handhabung erkennbar sind.62 Die Konsequenzen sind bemerkenswert: Denn jetzt kann auch in Konstellationen Leben gegen Leben u. a. grundsätzlich das Kriterium der Schadensminimierung herangezogen werden. Das bedeutet nicht, dass Fragen der Risikoallokation beim autonomen Fahren auf reine Effizienz- oder Nutzenoptimierungserwägungen heruntergestutzt werden könnten. Das ist schon deshalb ausgeschlossen, weil das erlaubte Risiko als rechtlicher Verantwortungsbegrenzungsgrund keine Nutzen- und Gemein60

Reinhard Merkel, in: Stellungnahme des Ethikrates: Autonome Systeme. Wie intelligente Maschinen uns verändern, http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/jahrestagungen/auto nome-systeme. 61 Zu Theorie und Dogmatik des erlaubten Risikos siehe Kristian Kühl, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 7. Aufl., § 4 Rn. 40 ff.; Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil I, 4. Aufl., 2006, § 11 Rn. 65 ff.; kritisch zu dieser dogmatischen Figur Joachim Renzikowski, in: Matt/ Renzikowski, Kommentar zum StGB, vor § 13 Rn. 102. 62 Zum Ganzen und für zusätzliche Details Eric Hilgendorf, Autonomes Fahren im Dilemma, in ders., Autonome Systeme und neue Mobilität, S. 143 ff., kritisch zum Rekurs auf das erlaubte Risiko Engländer (Fn. 58), 611 f.

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wohloptimierung um jeden Preis legitimiert. Vielmehr müssen Grund und Reichweite von Risikozumutungen gerade in demokratischen Gemeinwesen durch gesellschaftliche Debatten, Gesetzgebung und die Rechtsanwendung geklärt werden. Dazu gehört auch eine wissenschaftlich basierte Politikberatung und Technikfolgenabschätzung.63 Ins Zentrum, so Eric Hilgendorf, dürften hierbei weitgehend objektive und nachprüfbare Kriterien rücken, etwa die Höhe der erwarteten Schäden, deren Eintrittswahrscheinlichkeit, die Frage, ob es sich um reversible Schäden handelt, oder Formen effektiver Schadensprävention. Hilgendorf will den rechtstheoretischen und dogmatischen Problemen, die durch diese Deutung der Konfliktkonstellation entstehen, mit der Idee einer Abstufung im Unrecht begegnen. „Die Tötung jedes Unschuldigen bleibt ein Unrecht und kann nicht gerechtfertigt werden. Es ist aber eine Stufung im Unrecht vorzunehmen, die vorschreibt, so wenig unschuldige Leben zu gefährden oder gar zu vernichten wie möglich.“64 Mit dieser Lösung wird den (potentiell) Betroffenen zwar ein Abwehrrecht eingeräumt, das sie berechtigt, das Fahrzeug zu zerstören oder in anderer Weise zum Stillstand zu bringen. Im Gegenzug werden aber Eingriffsrechte Dritter statuiert, die die „aktiv gesteuerte“ Tötung Unschuldiger unter bestimmen Bedingungen (und auch ohne die Einschränkungen des § 35 StGB) straflos stellen. Hilgendorf differenziert seine Lösung weiter aus und versucht sie an verschiedenen Konfliktkonstellationen zu testen.65 Darauf braucht vorliegend nicht eingegangen zu werden. Denn bei allen Differenzierungen steht eine Prämisse im Vordergrund: die pragmatische Entkopplung von Verhalten, Entscheidung und Schuldvorwurf oder anders gesprochen, die Umstellung von der Zurechnungs- auf die Entscheidungstheorie. Die Entscheidungstheorie, so wie wir sie aus der utilitaristischen Ethik und der ökonomischen Analyse kennen, setzt nicht an einem Verhaltensschema an, das eine Handlungs- oder Unterlassungspflicht mit kategorisch bestimmten (Grund-) Rechten ins Verhältnis setzt. Sie aggregiert vielmehr individuelle Rechte und individuelle Pflichten und generiert daraus ein Entscheidungs- oder Abwägungskalkül. Das ist aber etwas ganz anderes. Möglich wird das überhaupt erst dadurch, weil der theoretische Fokus auf den Konflikt radikal verändert wird. Denn dadurch, dass methodisch, dogmatisch und in der praktischen Rechtsanwendung die Antizipation des Konflikts und der Konfliktregulierung eingerechnet werden muss – es ließe sich auch von einer „technologischen Verdopplung“ der Konfliktsituation sprechen –, können nun auch die Allokation von (abstrakten/erlaubten) Risiken, die Frage der ausgeschlossenen/zulässigen Abwägung, aber auch die Voraussetzungen des konkreten Schuldvorwurfes neu oder anders diskutiert werden.

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Dazu Christoph Hubig, Die Kunst des Möglichen. Die Macht der Technik, Bd. 3, 2015; Armin Grunwald, Technik und Politikberatung. Philosophische Perspektiven, 2008. 64 Hilgendorf, Autonomes Fahren im Dilemma, in: ders., Autonome Systeme und neue Mobilität, S. 155. 65 Hilgendorf (Fn. 64), S. 156 ff.

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Auf dieses Problem- und Spannungsfeld haben bereits Alexander Hevelke/Julian Nida-Rümelin in ihrem moralphilosophisch orientierten Aufsatz hingewiesen.66 Die Autoren betonen, dass die „eigentliche“ Entscheidung nicht in der realen Konfliktsituation, sondern zum Zeitpunkt der Programmierung, d. h. der hypothetisch vorgestellten Konfliktkonstellationen fällt. Im Unterschied zu den klassischen Trolleyoder Weichensteller-Fällen „steht die Identität von Opfer wie auch von Geretteten zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht fest. Dies macht aus deontologischer Sicht insofern einen Unterschied, als man bei moralischer Betrachtung … einen Unterschied von dem Wissen zum Zeitpunkt der Entscheidung und Handlung ausgehen muss und nicht von Informationen, die erst im Nachhinein zugänglich sind“.67 Die rationale Entscheidung weise daher den maximalen Erwartungswert bzgl. der Interessen der handelnden Personen auf – und zwar zum Zeitpunkt der Entscheidung. Daraus folge aber, so die Autoren weiter, „dass eine auf Minimierung der Opfer ausgelegte Programmierung durchaus im Interesse jedes Einzelnen sein kann – nämlich genau dann, wenn diese Programmierung das Risiko eines jeden reduziert bzw. minimiert. Dies gilt auch für den Unglücklichen, der schlussendlich doch überfahren wird. Solange die Programmierung – also die eigentliche Handlung – für ihn die Risiken in gleicher Weise minimierte wie für alle anderen, war sie in gleicher Weise in seinem Interesse“.68

Worauf Hevelke/Nida-Rümelin aufmerksam machen, ist, dass der Einsatz intelligenter Technik unsere herkömmliche deontologische Deutung des Rechts irritiert und dass wir die Potentiale und Risiken zumindest zur Kenntnis nehmen sollten. Dass die Autoren hier zunächst den Fall der Gesetzgebung im Auge haben, ändert daran nichts.69 Denn wir können sehen, dass uns die Problemanalyse auch für die konkreten voneinander abweichenden Konflikt- und Entscheidungssituationen sensibilisieren will. Zwar haben wir es bei beiden Konstellationen mit gleichen normativ-gesetzlichen Ausgangssituationen zu tun, Verletzung des Tötungsverbots, Vorgaben für eventuelle Rechtfertigungen oder Entschuldigungen. Aber darauf kommt es nicht allein an. Zu beachten ist vielmehr die unterschiedliche Aktualisierung, d. h. das Wie der Entscheidung durch die Akteure sowie die entsprechende Beurteilung. In den Trolley-Fällen (oder in den Fällen, in denen der Fahrer das Auto auch steuert) ist dies das situationsbedingte Verletzungsverhalten des Menschen. Dieses Verletzungsoder Tötungsverhalten ist aber nicht nur der faktische Nachvollzug einer normativen und jede Wahl vorherbestimmenden Regel. Vielmehr ist die Tötung von individualisierten Opfern selbst ein normativ gestaltender und kommunikativer Akt (genauso wie wir faktisch sprechen können und damit verschiedenartige Verpflichtungen eingehen). Und als solcher ist er juristisch überhaupt interessant. Insofern sind der Schuldvorwurf/der Zurechnungsausschluss nichts, was sich im Verfahren durch rich66

Alexander Hevelke/Julian Nida-Rümelin, Selbstfahrende Autos und Trolley-Probleme. Zum Aufrechnen von Menschenleben im Falle unausweichlicher Unfälle, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 19 (2015), S. 5 – 23. 67 Hevelke/Nida-Rümelin (Fn. 66), S. 11. 68 Ebenda. 69 Anders Joerden (Fn. 58), S. 85 Fn. 19 und Engländer (Fn. 58), 613.

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terliche Introspektion oder durch sonstiges Herausdeuten subjektiven Wissens feststellen lässt. Schuldbeurteilungen sind professionelle Zuschreibungen, die allerdings auf der Basis gemeinsam geteilter Rechtsbegriffe erfolgen. Die Dogmatik spricht von der zurechnungsfähigen Person und transferiert so gesellschaftliche Vorstellungen von frei/unfrei, rational/irrational usw. mit Hilfe von Normen in das entsprechende Zurechnungskonzept.70 Insofern können im Verfahren – und vor allem durch den Beschuldigten – mentale Zustände, Unzumutbarkeitserfahrungen usw. vorgebracht werden, um das individuelle Handeln oder den Konflikt zu erklären; und gerade bei Dilemma-Konstellationen wird das der Fall sein. Entscheidend für die Frage der Zurechnung/der Entschuldigung oder des Schuldvorwurfes ist aber letztlich, ob das erkennende Gericht bereit ist, dem Beschuldigten zuzugestehen, dass er die entsprechenden (psychischen) Zustände, Unzumutbarkeitserfahrungen usw. im Konfliktfall auch haben konnte, dass also die konkrete Verhaltensmotivation als Entschuldigungsgrund rekonstruierbar ist. Das Verhaltensschema und die Dilemma-Situation „funktionieren“ beim vernetzten Fahren offensichtlich anders: Hier erfolgt die Aktualisierung nun tatsächlich dadurch, dass ein Kollisionsvermeidungssystem eine vorab getroffene normative Entscheidung (resp. eine damit verknüpfte Verhaltensregelung) technisch umsetzt und auf diese Weise die erwartete aggregierte Verletzungsminimierung operationalisiert. Die Auswahl von zu Rettenden und zu Opfernden erfolgt dann im Wege eines algorithmisierten Kalküls und auf der Basis einer hypothetisch fairen Risikoverteilung. Nach Gründen für das konkrete Verhalten zu fragen, macht nur Sinn, soweit man die normativ ansprechbaren Akteure einbezieht, in erster Linie Hersteller, Programmierer usw. Aber auch wenn man das tut, sieht man, dass das klassische Zurechnungsmodell partiell verabschiedet wird. Dass Hilgendorf mit dem Konzept einer Abstufung im Unrecht arbeitet (s. o.), ist daher konsequent. Gleichzeitig werden aber auch die Probleme sichtbar. Das erste betrifft die rechtsethische Verknüpfung von kategorischem Lebensschutz und hypothetisch fairer Risikoverteilung. Denn die Entschuldigung beruht hier letztlich darauf, dass nicht mehr auf die konkret mögliche, sondern nur auf die theoretisch erwartbare Rettung abgestellt wird (und es erscheint fraglich, ob § 35 StGB auch eine solche Relativierung regelt). Dieser Erwartungswert einer theoretisch kalkulierten Rettung verweist aber auf nichts anderes als auf eine überindividuelle Güter- und Präferenzoptimierung.71 Wir können mit anderen Worten sehen, wie die Idee des Gattungsindividuums („Jedes Menschenleben zählt!“) mit der Annahme des konkreten Opferindividuums („Wenn schon Unschuldige sterben müssen, dann so wenig wie möglich.“) verschmolzen wird.72 Die Zurechnung nimmt damit die bereits erwähnte allokative Entscheidungslogik an.

70

Siehe bereits die Erörterungen unter II.1. Zu den Voraussetzungen einer solchen überindividuellen Güter- und Präferenzoptimierung vgl. auch die Überlegungen II.2. 72 Beide Zitate bei Hilgendorf (Fn. 64), S. 155. 71

Handeln, Entscheiden, Zurechnen

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Es betrifft zweitens aber auch die technische Operationalisierung des konkreten Konflikts. Hilgendorf macht auf die Problematik der Algorithmensteuerung vernetzter Fahrzeuge eigens aufmerksam. Selbst wenn man also die Umstellung von Zurechnungslehre auf Entscheidungstheorie akzeptiert, bleibt die Frage, ob in den Dilemma-Situationen eine faire Risikoverteilung überhaupt möglich ist.73 Konstatieren muss man jedenfalls, dass die Abwägungs- und Quantifizierungsregime nicht nur enorm vielgestaltig, sondern auch hoch komplex sein können.74 So verschwindet hinter der Rede von einer unvermeidlichen Verletzungsminimierung, Quantifizierung usw. schnell die Einsicht, dass es ein großes (potentielles) Opferspektrum gibt, das in die programmierte Präferenzbeurteilung einzubeziehen ist: Frauen, Männer, Kinder, junge und alte Menschen, mobilitätseingeschränkte Akteure, erfahrene und nicht erfahrene Personen, daneben unterschiedliche Verkehrsteilnehmer (motorisierte Teilnehmer, Fahrradfahrer, Fußgänger), zu bedenken ist der Umgang mit (potentiellen) Opfergruppen und Verletzungsgraden; schließlich das Problem verkehrswidrigen Handelns und die daraus erwachsenen Konsequenzen. Damit soll nicht gesagt werden, dass vernetzte Fahrzeuge eine größere Gefahr als nicht vernetzte darstellen. Genauso wenig ist damit eine Güter- und Präferenzoptimierung im Bereich des Lebensschutzes per se vom Tisch. Dennoch muss man vielleicht stärker als Hilgendorf betonen, dass mit dem Modell der Entscheidungstheorie (oder einer hybriden Zurechnungslehre) ein Denken im Strafrecht „normalisiert“ wird, das seine Ursprünge im Utilitarismus und der ökonomischen Analyse hat. Diese Normalisierung sollte nicht perhorresziert werden. Die strafrechtliche Grundlagendiskussion sollte jedoch hervorheben, dass die gesellschaftlich erwünschte Technisierung ganzer Lebensbereiche (einschließlich des Straßenverkehrs) im Recht und zumal im Strafrecht Spuren hinterlassen wird; und sei es eben die Ausweitung des Abwägungs- bzw. Schadensminimierungsregimes. Wenn diese Ausweitung grundsätzlich akzeptiert wird, dann kann sie allerdings nicht auf das vernetzte Fahren beschränkt werden. Das Regime müsste allgemeine Geltung haben. Klar dürfte allerdings sein, dass die Grenzen einer Präferenzoptimierung (durch Interessenabwägung) dort liegen müssen, wo das Recht seine eigenen Autonomieund Freiheitsgewährleistungen unterlaufen würde. D. h. Zurechnung und Zurechnungsausschluss, Schuld und Verantwortungsfreistellung können nur auf faire Risikoverteilung und (abstrakte) Schadensminimierung umgestellt werden, wenn es eine allgemeine Anerkennung dieser Risiken gibt; wenn also diese Risiken – hier durch den Einsatz intelligenter Technik im Straßenverkehr – als Teil der rechtlichen Freiheitsannahme reformulierbar sind.

73 74

Hilgendorf (Fn. 64), S. 170 ff. Hevelke/Nida-Rümelin (Fn. 66), S. 13 ff.

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IV. Müssen wir Zurechnung, Schuld und Verantwortung neu denken? 1. Zusammenfassung der Überlegungen a) Der Einsatz intelligenter Technik, so im Rahmen des vernetzten (autonomen) Fahrens, verunsichert nicht nur ganze Gesellschaften. Er stellt auch das strafrechtliche Zurechnungsregime und die gängige Notstandsdogmatik vor erhebliche Herausforderungen. b) Allgemein gilt: Vernetztes Fahren macht deutlich, dass hier ganz grundsätzlich die deontologische Deutung des Rechts, die kategorische Begründung von individuellen Freiheitspositionen, zur Debatte steht. c) D. h.: In dem Maße, in dem unvermeidliche Notstandskonflikte normativ antizipiert und technisch auf ein faires Risikoverteilungsmanagement umgestellt werden, wird das Zurechnungsregime mit einer entscheidungstheoretischen Logik kurzgeschlossen. d) Die Verschmelzung von Zurechnungs- und Entscheidungstheorie führt methodisch zu einer Aggregation von Rechten und Pflichten und ermöglicht auf diese Weise die Abwägung und Quantifizierung von Lebensrisiken über den bisher eng gesetzten Rahmen hinaus. e) Strafrechtstheorie und Dogmatik sollten diese Szenarien nicht perhorreszieren, aber dennoch diskutieren, inwieweit Kalküle der (ökonomisch-utilitaristischen) Präferenzoptimierung Eingang in das normative Selbstverständnis von Gesellschaft und Wissenschaft finden sollten. f) Klar ist jedenfalls: Wenn diese Ausweitung grundsätzlich (gesetzlich und dogmatisch) akzeptiert wird, dann kann sie nicht auf das vernetzte Fahren beschränkt werden. Das Regime müsste allgemeine Geltung haben.

2. Benötigt die „digitalisierte“ Gesellschaft einen neuen Zurechnungs-, Schuld- und Verantwortungsbegriff? a) Zurechnung und Verantwortung sind dynamische, d. h. veränderliche und gesellschaftsfunktionale Begriffe. b) Zurechnungs- und Verantwortungsmodelle können deshalb mit Blick auf die Lebens- und Sozialverhältnisse neu konzipiert oder angepasst werden (man denke auch an die Kontroversen um mögliche Unternehmenssanktionen etc.). c) Solche Modelle sollten aber auch beim Einsatz von intelligenter Technik/Kollisionsvermeidesystemen die Rechts- und Statuspositionen des Einzelnen nicht überspielen.

Handeln, Entscheiden, Zurechnen

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d) Die Grenzen einer Präferenzoptimierung (durch Interessenabwägung) liegen dort, wo das Recht seine eigenen Autonomie- und Freiheitsgewährleistungen unterläuft. e) D. h.: Autonomie- und Freiheitsspielräume müssen auch in „digitalisierten“ Gesellschaften und beim vernetzten Fahren als Rechtsverhältnisse gedacht werden. f) In unvermeidlichen Notstandslagen werden diese Rechtsverhältnisse indes partiell außer Kraft gesetzt. g) Zurechnung und Zurechnungsausschluss, Schuld und Verantwortungsfreistellung können aber nur auf faire Risikoverteilung und (abstrakte) Schadensminimierung umgestellt werden, wenn es eine allgemeine Anerkennung dieser Risiken gibt; d. h. die Risiken – hier durch den Einsatz intelligenter Technik im Straßenverkehr – selbst Teil der rechtlichen Freiheitsannahme geworden sind.

Vom Leid und Eigeninteresse künstlicher Rechtsträger: Juristische Personen als moralische Subjekte? Von Till Zimmermann

I. Vorrede Abgesehen von meinen unmittelbaren akademischen Lehrern (Armin Engländer und Urs Kindhäuser), gibt es niemanden, von dem ich so viel über das Strafrecht gelernt habe wie von Reinhard Merkel. Seitdem ich als Doktorand mit seinen Schriften in Berührung gekommen bin,1 bewundere ich an seinem wissenschaftlichen Werk vor allem drei Dinge: Erstens spannt sich sein Œuvre über eine ungewöhnliche Breite von besonders komplexen Themengebieten. Merkel befasst sich auf philosophisch gründlich informierte Weise mit den besonders vertrackten Wirrnissen des AT (etwa auf dem Gebiet der Kausalität,2 der Schuld,3 der Notrechte4 und des Versuchs;5 auch gebührt ihm das Verdienst, als Erster das dogmatische Potential des Katzenkönig-Falls erkannt zu haben6); zugleich hat er sowohl auf dem Gebiet der Bio-Ethik7 als auch in dem Be1

Da Merkel als Autor didaktischer Ausbildungsliteratur nicht in Erscheinung tritt, ist sein Werk bei Studierenden leider wenig bekannt. Von seinen Fähigkeiten im Hörsaal berichtet aber ein Spiegel-Online-Artikel (C. Schmidt, 19. 9. 2012, „Nichts für Lerner, was für Denker“), wo von einem „Star-Professor“ und „Vorlesungen der Spitzenklasse“ die Rede ist. 2 S. Merkel, FS Puppe, 2011, 151 ff. sowie das Fragment in ders., Zaungäste?, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a.M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, 171 Fn. 1. 3 Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 1. Aufl. 2008; ders., FS Philipps, 2005, 411 ff. 4 Merkel, JZ 2007, 373 ff. (zum LuftSiG); ders., FS Jakobs, 2007, 375 ff. (zur Rettungsfolter). 5 Merkel, ZIS 2014, 565 ff. 6 Merkel, Die Zeit 39/1988 („Der Katzenkönig vom Möhnesee“); 5/1989 („Hilflos: das Gericht“). 7 Besonders zu erwähnen sind neben seiner Habilitation zum Problem der Früheuthanasie (2001; dazu auch JZ 1996, 1145) Merkels Beiträge zum Hirntodkriterium (Jura 1999, 113), zur Sterbehilfe (vor allem in: Hegselmann/Merkel [Hrsg.], Zur Debatte über Euthanasie, 1991, 71), zum Behandlungsabbruch bei Wachkoma-Patienten (ZStW 1995, 545), zur Embryonenforschung (insbes. Forschungsobjekt Embryo, 2002 und in FS Müller-Dietz, 2001, 493), zum Schwangerschaftsabbruch (Kommentierung der §§ 218 – 219b in: NK-StGB, 5. Aufl. 2017)

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reich der Völker(straf)rechts-Ethik8 mehr Pionierarbeit geleistet, als es ansonsten allenfalls einer ganzen Juristengeneration hätte gelingen können. Besonders hervorstechend ist, zweitens, Merkels Weitsicht über den juristischen Tellerrand hinaus, sein Mut zum exotischen Gedankenexperiment,9 zur unkonventionellen Frage10 und zu einem (politisch) unpopulären Ergebnis;11 sein Plädoyer zum Gedankenaustausch der deutschen Strafrechtswissenschaft mit der modernen Rechtsphilosophie auch jenseits von Kant und Hegel12 habe ich seit dessen Lektüre zu beherzigen versucht. Hervorzuheben ist, drittens, Merkels unnachahmliche Sprachästhetik. Gelernt habe ich von Merkel schließlich auch, dass es keine Schande ist, in einem Fachaufsatz die eigene Ratlosigkeit einzugestehen.13

II. Reinhard Merkel und der normative Individualismus Trotz der thematischen Bandbreite seines Werks kann man zumindest in den rechtsethisch geprägten Beiträgen des Jubilars so etwas wie einen roten Faden erkennen: Das Bekenntnis zu einem normativen Individualismus. Gemeint ist damit eine analytische Methode der Normlegitimation, die danach fragt, ob sich eine Regelung ausgehend von den Belangen der einzelnen Normunterworfenen begründen lässt.14 Merkel selbst nutzt den Begriff „normativer Individualismus“, soweit ich sehe, nicht. und zur Trennung Siamesischer Zwillinge (in: Roxin/Schroth [Hrsg.], Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, 603). 8 Als besonders eindrucksvoll empfunden habe ich Merkels Schriften über die rechtsethischen Grundlagen der Nürnberger Prozesse (Rechtshistorisches Journal 14 [1995], 491), zu den Notrechten im Völkerstrafecht (ZStW 2002, 437), zur Ethik humanitärer Interventionen (in: Merkel [Hrsg.], Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, 2000, 66 sowie ZIS 2011, 771 [zur Libyen-Intervention]) und des ius ad bellum internum (FAZ-online v. 2. 8. 2013: „Syrien – Der Westen ist schuldig“) sowie über die moralische Vertretbarkeit sog. Kollateraltötungen im Krieg (JZ 2012, 1137). 9 Merkel betont, dass Gedankenexperimente „nicht die Welt, sondern die Struktur von Problemen abbilden sollen“, s. Zaungäste? (Fn. 2), 171, 193 Fn. 69; Früheuthanasie (Fn. 7), S. 215 Fn. 239 u. S. 469 Fn. 164) – und behandelt daher auch rechtsethische Probleme von „Kopftransplantationen“ (beiläufig in Jura 1999, 113, 117 f., umfänglich in FS Neumann, 2017, 1133) oder die Frage nach der Menschenwürde von Mumien (Forschungsobjekt [Fn. 7], S. 41 Fn. 42). 10 Man vgl. die Einleitung in Merkel, ZIS 2014, 565 („blöde Frage“) und die Anm. zu „skandalösen Fragen“ in Forschungsobjekt (Fn. 7), S. 133 Fn. 176. 11 Gemeint sind z. B. Merkels Positionen zur Krim-Annexion (die in seinen Augen keine war – FAZ-online v. 8. 4. 2014: „Kühle Ironie der Geschichte“) oder zur fehlenden ethischen Legitimation der Knabenbeschneidungsbefugnis (SZ-online v. 30. 8. 2012: „Die Haut eines Anderen“; dort als ein „jüdisch-muslimisches Sonderrecht“ und „Sündenfall des Rechtsstaats“ bezeichnet). 12 Merkel, Zaungäste? (Fn. 2). 13 Vgl. Merkel, Siamesische Zwillinge (Fn. 7), 603, 638; ders., Zaungäste? (Fn. 2), 171, 196. 14 Dazu etwa v.d. Pfordten, JZ 2005, 1069.

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Auch ist er keineswegs auf einzelne prominente rechtsphilosophische Blaupausen festgelegt; vielmehr integriert er das Gedankengerüst des normativen Individualismus in seinen Werken in unterschiedlicher moralphilosophischer Ausprägung, etwa unter Rückgriff auf Kant, Rawls’ Gerechtigkeitstheorie oder utilitaristisch geprägte Autoren wie Singer. Immer wieder greift Merkel aber auf einen Zentralbegriff des normativen Individualismus zurück: Denjenigen des (Individual-)Interesses. Damit gibt Merkel sich als Anhänger einer Spielart der Interessentheorie zu erkennen, also eines Normbegründungsmodells, das im Ausgangspunkt auf die realen Interessen echter Lebewesen abstellt.15 Wie weit bzw. wie konsequent Merkel diese im Kern subjektive Art der (ethischen) Normbegründung mitzutragen bereit ist, hat er nach meiner Einschätzung zwar nie zur Gänze offen gelegt.16 Eindeutig sagt er aber jedenfalls, dass die (rechts-)ethische Legitimität einer Norm im Prinzip eine Übereinstimmung mit den Interessen der normunterworfenen Individuen voraussetzt. Worauf es mir im Folgenden ankommt, ist Merkels Verständnis des Interessenbegriffs als Grundbaustein einer ethischen Normordnung. Er versteht diesen Zentralbegriff nicht in einem „wolkigen“, abstrakt-normativen Sinne (wie er häufig im Kontext der Rechtsgutsdebatte oder bei der Auslegung von § 34 S. 1 StGB anzutreffen ist), sondern ganz konkret im Sinne des Wunsches eines empfindungsfähigen Wesens nach einem bestimmten Weltzustand. Wesentliche Voraussetzung des so verstandenen Interessenbegriffs ist, dass das Interesse auch einem die etwaige Interessenfrustration erlebenden Inhaber zugeordnet werden kann (sog. „Erfahrbarkeitsbedingung“17). Denn, wie Merkel sagt: „[E]in Interesse, das nicht ,gehabt‘ werden kann, ist keines.“18 Eine elaborierte Variante dieses von Nelson,19 Tooley20 und Feinberg21 inspirierten Gedankens – also sozusagen der Volltext dessen, was Merkel unter 15

Präzise interessentheoretische Skizzen finden sich bei Engländer, JuS 2002, 535; Hoerster, JZ 1982, 265; Stemmer, ZPhF 58 (2004), 483. Merkel gebraucht den Begriff Interessentheorie in seiner Dissertation (Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus, 1994, S. 305). 16 Klärungsbedürftig ist insbes., ob eine konsequent interessentheoretische Normbegründung mit dem Postulat absolut-universaler („objektiver“) ethischer Richtigkeit vereinbar ist, d. h. jede Regel – auch solche zur Auflösung vermeintlich unauflösbarer Dilemmata (z. B. bei Rettungstötungs-Szenarien) – dem Test einer radikalen Verallgemeinerbarkeit standhalten können muss. Während dies bspw. vom Autor dieser Zeilen verneint wird (Zimmermann, JZ 2014, 388, 389 f.), scheint Merkel eher vom Gegenteil auszugehen (vgl. Kosovo-Krieg [Fn. 8], 66, 90). Eindeutig jedenfalls Elpel, Widerstandsrecht, 2017, S. 566 ff., die meine Position in ihrer von Merkel betreuten Dissertation als „absurd“ (a.a.O., S. 570) zurückweist. 17 Begriff nach Merkel, Früheuthanasie (Fn. 7), S. 447. 18 Merkel, Sterbehilfe (Fn. 7), S. 99. Ähnlich ders., Früheuthanasie (Fn. 7), S. 446; ders., FS Müller-Dietz, 493, 509; Hoerster, JuS 2003, 529, 531 f. 19 Nelson, Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik, Bd. 1, 1917, §§ 93 (S. 144 – 146), 167 – 170 (S. 344 ff.). 20 Tooley, Philosophy and Public Affairs 2 (1972), 37; ders., Abortion and Infanticide, 1983, S. 110 ff. 21 Feinberg, in: ders. (Hrsg.), Rights, Justice and the Bounds of Liberty, 1980, 159.

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einem ethisch relevanten Interesse versteht –, findet sich in seinem Buch „Forschungsobjekt Embryo“. Da ich diese Passage für die zentrale Annahme schlechthin im bio-ethischen Teil des Merkel’schen Werkes halte, sei ein Zitat in (fast) voller Länge gestattet: „Ich habe […] keinen Zweifel, daß der [folgende, T.Z.] Ausgangspunkt […] zur Begründung moralischer Normen richtig und notwendig ist: die Bindung dessen, was Moral überhaupt will und soll, an irgendeine Form der Subjektivität derer, die in den Schutzbereich unserer moralischen Normen einbezogen sind oder einzubeziehen wären. Das hat […] folgenden Grund: Der Begriff eines subjektiv moralischen Rechts […] ist analytisch, also zwingend, mit dem des Schutzes verknüpft. Denn das genau ist es, wozu subjektive Rechte da sind: Schutz zu gewähren. ,Schutz‘ wiederum ist, ebenfalls analytisch, mit dem Begriff der Verletzung (im weitesten Sinne) verknüpft. Denn das genau ist es, wogegen Schutz gewährt werden soll. Verletzung setzt aber, zum drittenmal analytisch, die Verletzbarkeit des Wesens, das gegen Verletzung geschützt werden soll, voraus. Wer in bestimmter Hinsicht nicht verletzbar ist, der kann, trivialerweise, in eben dieser Hinsicht nicht verletzt werden. Es hätte daher schon begrifflich keinen Sinn, ihm insofern ein subjektives Schutzrecht zuzuschreiben, also Schutz gegen eine Verletzung, die ihm nicht angetan werden kann. Der hier vorausgesetzte Begriff der Verletzbarkeit meint: subjektiv verletzbar. Denn nur in dieser Bedeutung ist er moralisch relevant. Rein objektiv beschädigen kann man auch leblose Gegenstände. Das ist zwar grundsätzlich gegenüber deren Inhabern, möglicherweise auch gegenüber Dritten, aber nicht gegenüber den Gegenständen selbst eine moralisch bedeutsame Handlung. […] Subjektiv verletzbar im moralisch bedeutsamen Sinne ist ein Wesen nur dann, wenn es für dieses Wesen selbst einen Unterschied ausmacht, wie mit ihm verfahren wird. Daraus erst kann für andere eine Pflicht entstehen, es um seiner selbst willen moralisch zu respektieren. Subjektive Verletzbarkeit setzt aber, und wiederum analytisch, die subjektive Erlebensfähigkeit des verletzbaren Wesens voraus. Denn diese konstituiert als notwendige Minimalbedingung den Begriff der Subjektivität. Ein Wesen, das schlechterdings nichts erleben kann […], ist subjektiv nicht verletzbar. Denn ein solches Wesen hat keine Subjektivität; es gibt nichts Subjektives in seiner Existenz. Anders gewendet: ein solches Wesen kann man nicht ,um seiner selbst willen‘ moralisch berücksichtigen, auch wenn man dies wollte. Denn das hieße: es um seines eigenen ,Wohls und Wehes‘ willen berücksichtigen. Da es aber kein solches eigenes Wohl und Wehe hat, weil es überhaupt nichts, also auch nicht Wohl und Wehe erleben kann, kann es nicht Gegenstand einer moralischen Berücksichtigung um seiner selbst willen sein. […] Einem Wesen, das nicht verletzt werden kann, ein subjektives Recht gegen Verletzungen zuzuschreiben, […] wäre auch nicht legitimierbar. Denn subjektive Rechte beinhalten stets die Pflicht aller anderen, sie zu beachten. Sie erzwingen also für alle anderen eine Freiheitseinschränkung. Da aber diese als Schutz für den ,Rechtsinhaber‘ keinerlei Sinn haben kann, ist sie jedenfalls nicht als ein solcher Schutz […] legitimierbar.“22

22 Merkel, Forschungsobjekt (Fn. 7), S. 134 – 139. Knappere Formulierungen finden sich bei ders., Früheuthanasie (Fn. 7), S. 441 – 448; ders., FS Müller-Dietz, 493, 508 f.; ders., DRiZ 2002, 184, 190 f.; ders., JZ 1996, 1145, 1152. Eine frühe Fassung des Gedankens ist bereits in Satire (Fn. 15), S. 332 enthalten.

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Konkret geht es Merkel in dem zitierten Text darum, gegen ein Lebensgrundrecht (früher) Embryonen zu argumentieren. Man kann daraus aber, wie auch Merkel selbst andeutet,23 ohne Weiteres extrapolieren, dass als Träger sämtlicher subjektiver (moralischer) Rechte ausschließlich natürliche Personen in Betracht kommen.24 Hält man diese Annahme für richtig (was ich tue), so hat dies – dem Slogan „Trennung von Recht und Moral“ zum Trotz25 – unmittelbare Auswirkungen auch auf das Design eines legitimen Strafrechts: Geht man nämlich davon aus, dass dieses dem Schutz von Rechtsgütern dient,26 und ferner, dass Rechtsgüter ihrerseits aus dem Rohstoff moralisch relevanter Rechte bzw. Interessen konstruiert sein müssen, so landet man schließlich bei der Formel, dass eine legitime Strafnorm stets auf die Interessen natürlicher Personen zurückführbar sein muss („Interessenbindung der Rechtsgüter“27). Das entspricht recht genau Hassemers personaler Rechtsgutslehre.28 Dennoch erschöpft sich der Wert des hier verhandelten Merkel-Gedankens nicht in einer anschaulichen Reformulierung besagter Rechtsgutslehre. Denn jener ist, im Unterschied zu dieser, vom analytischen Zugriff her stark an der anglo-amerikanischen harm principle-Doktrin orientiert und damit viel besser zur rechtsethischen Sezierung konkreter Detailprobleme geeignet.29 Im Folgenden unternehme ich den Versuch, das Merkel’sche Verständnis moralisch relevanter Interessen für zwei zentrale Probleme des Wirtschaftsstrafrechts30 fruchtbar zu machen. Dabei geht es um die Frage, inwieweit bei der Begründung strafrechtlicher Vorschriften mit einem Eigeninteresse juristischer Personen bzw. deren Verletzbarkeit argumentiert werden kann. Nach einigen Grundüberlegungen 23

Früheuthanasie (Fn. 7), S. 440 und 444. Wie weit der normative Begriff der (moralisch relevanten) natürlichen Person reicht, ist in den Grenzbereichen natürlich streitig. Merkel will bspw. Embryonen ab einem Alter von 20 Wochen einbeziehen (Früheuthanasie [Fn. 7], S. 461 f.; krit. dazu Birnbacher, ARSP 87 [2001], 587, 590), ferner intelligente Außerirdische (Früheuthanasie [Fn. 7], S. 469) und wohl auch höher entwickelte Tiere (Satire [Fn. 15], S. 324 ff.), nicht hingegen Hirntote (Jura 1999, 113, 116 ff.). 25 Zum Verhältnis von Recht und Moral heißt es bei Merkel, Zaungäste? (Fn. 2), 171, 174 mit Fn. 7 kurz und bündig (und überzeugend): „[D]as Strafrecht muß […] seine tragenden Grundsätze auf das Fundament der Ethik stellen. […] [Die Strafgesetze] dürfen […] den Grundsätzen der Moral […] nicht widersprechen.“ 26 Knappe Überblicke bei Engländer, ZStW 2015, 616, 622 ff.; Kudlich, ZStW 2015, 635, 639 ff.; Roxin, GA 2013, 433; Zimmermann, Unrecht der Korruption, 2018, S. 131 f. Zur Rechtsgutslehre s. auch Merkel, Satire (Fn. 15), S. 293 ff. 27 Merkel, Satire (Fn. 15), S. 332. 28 Grdl. Hassemer, Theorie des Verbrechens, 1973; aus neuerer Zeit NK-Hassemer/Neumann, 5. Aufl. 2017, Vor § 1 Rn. 131 ff. Zu den Verbindungslinien zwischen Rechtsgutslehre und Interessentheorie bzw. normativem Individualismus Engländer, FS Neumann, 2017, 547; Martins, ZStW 2013, 234. 29 Zu diesem Vorteil der harm principle-Lehre gegenüber der (keineswegs in ihrer analytischen Funktion insgesamt unterlegenen) Rechtsgutsdoktrin Zimmermann (Fn. 26), S. 353 ff. 30 Merkel selbst hat sich mit dem Wirtschaftsstrafrecht bislang nur beiläufig auseinandergesetzt, nämlich in Satire (Fn. 15), S. 455 ff. 24

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(dazu III.) geht es zum einen um die Grenzen einer sog. Organuntreue (IV.1.) und zum anderen um die Möglichkeiten, juristische Personen zu Adressaten ahndender Sanktionen zu machen (IV.2.).

III. Juristische Personen als moralische Subjekte? 1. Juristische Personen als Rechtsträger: Problem Juristische Personen31 existieren – im Gesetz (vgl. § 21 BGB, § 1 I AktG, § 13 I GmbHG) und in der Realität32. Man kann mit ihnen – vermittelt durch ihre Organe und Stellvertreter – Rechtsgeschäfte abschließen und man kann von ihnen verklagt werden; sie verfügen über ökonomische Macht und sie haben einen guten (oder schlechten) Ruf; sie werden von Art. 19 III GG als Grundrechtsträger angesprochen und sind auch als Opfer von Straftaten,33 ja sogar als „Verletzte“ i.S.d. §§ 403 ff. StPO34 anerkannt. All dies widerspricht prima facie der Merkel’schen Erfahrbarkeitsbedingung, wonach leblose Gegenstände nicht Inhaber von (ethisch fundierten) Rechten sein können – denn die juristische Person ist als solche nicht im beschriebenen Sinne verletzbar. Kommt ihr etwa Eigentum durch Diebstahl abhanden oder wird ihr durch Betrug ein Vermögensschaden zugefügt, so kann sie den Verlustposten in ihrer Bilanz nicht als Interessenbeeinträchtigung empfinden. Ein bilanzieller Negativposten kann nur demjenigen „wehtun“, der selbst und unmittelbar empfinden kann was es heißt, über weniger ökonomische Ressourcen zu verfügen als zuvor. Das mag zutreffen auf die Organwalter der juristischen Person und auf ihre Inhaber (denn deren finanzielles Wohl ist häufig mittelbar von der ökonomischen Situation der juristischen Person abhängig); die juristische Person aber „erleidet“ bei entsprechenden Schädigungen im moralischen Sinne gar nichts, da sie nicht über eigene Sinnesorgane zur Wahrnehmung des Verlusts und auch nicht über ein eigenes Gehirn verfügt, das aus dieser Information eine negativ empfundene Beeinträchtigung der eigenen Existenz ableitet. Ich meine jedoch, dass dieser Befund nur in einem scheinbaren Widerspruch zu der eingangs zitierten Verletzbarkeitsthese steht. Merkel betont nämlich auch, dass interessenunfähige Dinge zwar nicht im eigenen Interesse, aber durchaus im Interesse anderer (etwa demjenigen ihres „Inhabers“) geschützt werden können.35 Sofern 31 Mit dem Begriff der juristischen Person werden hier der Einfachheit halber sämtliche nicht-natürlichen Entitäten bezeichnet, denen der Rechtsverkehr die Eigenschaft zuschreibt, Rechtsträger zu sein. Gemeint sind also z. B. auch rechtsfähige Personengesellschaften, wiewohl diese keine juristischen Personen im technischen Sinne sind. 32 Dies ist die zentrale Grundannahme von v. Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. 1: AT und Personenrecht, 1895, § 59 II 4 (S. 470) und seiner Theorie der realen Verbandspersönlichkeit. 33 BGH, NStZ 2000, 205 (zu § 46a StGB). 34 Vgl. OLG Frankfurt, NStZ 2007, 168, 169; MK-StPO/Grau, § 403 Rn. 10. 35 S. auch Merkel, JZ 1996, 1145, 1152 Fn. 40.

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es sich bei diesen „anderen“ ihrerseits um moralisch verletzbare (d. h. natürliche) Personen handelt, steht einem interessentheoretisch begründeten Schutzprogramm, d. h. der Verleihung von Rechten und deren Schutz durch korrespondierende Verbote, nichts Grundsätzliches im Wege. Fraglich ist daher „nur“ noch, ob es sich bei der rechtlichen Anerkennung juristischer Personen tatsächlich um eine solchermaßen begründbare Gewährung von Rechten (Dritter) handelt. Meine Antwort darauf lautet „Ja“. Und zwar auf der Basis folgender Begründung: Juristische Personen sind keine organischen, empfindungsfähigen Lebewesen; schon deshalb können sie nicht denselben moralischen Status wie natürliche Personen haben.36 Sie sind vielmehr eine Art von Kollektiventitäten, die in (zivil-)rechtlicher Hinsicht allerdings als von ihren einzelnen Gliedern verselbstständigt betrachtet werden (sog. Trennungsprinzip, vgl. § 13 II GmbHG). Wie genau man sich die Vorgänge ihrer Personwerdung vorzustellen hat, ist wenig geklärt. Im Zivilrecht ist die Frage seit jeher umstritten,37 infolge ihrer praktischen Irrelevanz jedoch weitgehend ad acta gelegt.38 Im Kern zutreffend zu sein scheint mir die Fiktionstheorie.39 Nach dieser handelt es sich bei der juristischen Person um einen künstlichen, mediatisierenden Rechtsträger, der gewissermaßen als Platzhalter für eine dahinter stehende natürliche Person (oder eine Mehrheit natürlicher Personen) eine rechtliche Alsob-Behandlung (Rechtszuschreibung) erfährt. Hintergrund der Fiktionstechnik ist die sozialtechnische Erkenntnis, dass sich auf diese Weise gleichgerichtete Interessen natürlicher Personen besonders effektiv bündeln lassen und infolge der damit einhergehenden Vereinfachung bestimmter Rechtsvorgänge (wie Kreditaufnahme; individuelle Haftungsbeschränkung; Prozesse kollektiver Willensbildung) eine Vervielfachung der (ökonomischen) Durchschlagskraft erzielt werden kann. Hinter der rechtlichen Anerkennung juristischer Personen als künstliche Rechtsträger stehen daher keine eigenen Interessen dieser fiktiven Person (diese kann sie nicht haben, s. o.), sondern bestimmte zweckgebündelte Interessen40 derjenigen natürlichen Personen, die sich ihrer im Rechtsverkehr bedienen. Ganz i.d.S. heißt es in der Begründung zum AktG 1965, das Aktienrecht müsse in seinen Grundsätzen „von dem wirtschaftlichen Eigentum der Aktionäre an dem

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So andeutungsweise auch Kasiske, wistra 2005, 81, 85; Zöller, Gutachten zur Frage der Einführung eines Unternehmensstrafrechts in Deutschland, 2017 (abrufbar unter https://www. familienunternehmen.de/media/public/pdf/publikationen-studien/studien/Unternehmensstraf recht_Studie_Stiftung_Familienunternehmen.pdf), S. 8. Vgl. auch Rönnau, FS Amelung, 2009, 247, 265. 37 Ausführliche Darstellung bei Wiedemann, WM-Sonderbeilage 4/1975, 7 ff. 38 S. nur Palandt/Ellenberger, BGB, 78. Aufl. 2019, Einf. v. § 21 Rn. 1; Bamberger/Roth/ Hau/Poseck/Schöpflin, BGB, Bd. 1, 4. Aufl. 2019, § 21 Rn. 2. 39 Grdl. v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. II, 1840, § 85, S. 236, 239. Aus heutiger Sicht Soergel/Hadding, BGB, Bd. 1, 13. Aufl. 2000, Vor § 21 Rn. 7 – 10. 40 Den Aspekt der zweckgerichteten Bündelung stellt die Theorie des Zweckvermögens in den Mittelpunkt, grdl. Brinz, Lehrbuch der Pandekten, Bd. I, 3. Aufl. 1884, §§ 60 f.

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auf ihren Kapitalbeiträgen beruhenden Unternehmen ausgehen“.41 Eine Folge dieser Sehweise ist, dass eine juristische Person ohne „dahinterstehende“ natürliche Interessensträger keine rechtsethische Daseinsberechtigung hat; denn eine rechtlich beglaubigte Existenz um ihrer selbst willen ist sachlogisch ausgeschlossen. Konsequenterweise ist das Zivilrecht bestrebt, die Entstehung derartiger Rechts-Zombies42 zu vermeiden, etwa indem es einer juristischen Person im Grundsatz verboten ist, Eigentum an sich selbst zu erwerben (vgl. § 33 GmbHG, § 71 AktG). Geschieht dies dennoch – etwa im Falle eines mitgliedslos gewordenen Vereins oder einer durch Gesamtrechtsnachfolge sich nun selbst gehörenden Gesellschaft (sog. Keinmann-GmbH oder -AG) –, geht die h.M. zu Recht von einer automatischen Auflösung der juristischen Person aus.43 2. Trennungsprinzip und Strafrecht Fraglich ist, welche Konsequenzen das skizzierte Begründungsmodell juristischer Personen im Privatrecht für den Bereich des Strafrechts zeitigt. Theoretisch lassen sich zwei Extrempositionen gegenüberstellen: Ein radikal zivilrechtsakzessorisches Modell, das die Personen-Fiktion so weit wie irgend möglich aufrechterhält (formelle Sichtweise), und eine rein materielle Betrachtungsweise, bei der von vornherein auf die „wahre“, hinter der juristischen Person stehende Interessenlage natürlicher Personen abgestellt wird. Die formelle Herangehensweise würde verlangen, juristische Personen nicht nur als „vollwertige“ Opfer von Straftaten anzuerkennen – namentlich als verletzbare Rechtsgutsinhaber (inkl. strafprozessualer Verletztenrechte) und nothilfefähige Subjekte44 („anderer“ i.S.v. § 32 II StGB) –, sondern auch als Tatbeteiligte, d. h. als Adressaten strafrechtlicher Sanktionen einschließlich der Kriminalstrafe und auch als taugliche Tatmittler45 („anderer“ i.S.v. § 25 I Var. 2 StGB). Eine streng materielle Betrachtung würde hingegen allein nach den hinter der juristischen Person stehenden natürlichen Personen fragen und allein deren Interessen und Verhalten für maßgeblich erklären. Soweit ich sehe wird zu jedem der genannten Unterprobleme (mit unterschiedlicher Gewichtung von Meinungsherrschaft und -minderheit) sowohl das eine wie auch das andere vertreten – allerdings ohne dass dies explizit mit einer einheitlichen „Generaltheorie“ begründet würde. 41

BT-Drs. IV/171, S. 93. Hachenburg, FS Cohn, 1915, 79 (88 ff.) spricht von einer substanzlos gewordenen Schale. 43 BGHZ 19, 51; Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 33 Rn. 19; MKGmbHG/Berner, 3. Aufl. 2018, § 60 Rn. 199 ff.; MK-AktG/Koch, 4. Aufl. 2016, § 262 Rn. 103. Besonders begründungsbedürftig ist vor diesem Hintergrund die juristische Person einer Stiftung, da diese häufig überhaupt erst mit dem Tod ihres Stifters zu existieren beginnt, vgl. §§ 83 f. BGB (zur Problematik einer ethischen Relevanz der Interessen Verstorbener knapp Merkel, Früheuthanasie [Fn. 7], S. 444). 44 Dafür RGSt 63, 215, 220; Kindhäuser/Zimmermann, AT, 9. Aufl. 2020, § 16 Rn. 2. 45 I.d.S. wohl Roxin, ZStrR 2007, 9, 14. A.A. Kindhäuser/Zimmermann, AT, § 39 Rn. 7. Vgl. auch Jeßberger, JZ 2009, 924. 42

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Tatsächlich dürfte sich im Strafrecht eine radikale Herangehensweise verbieten. Vernünftig ist ein einzelfallbezogener Mittelweg. Das sei sogleich anhand zweier Anwendungsfälle näher ausgeführt (IV.). Ganz allgemein wird man wohl sagen können, dass eine Beachtung der fiktiven zivilrechtlichen Trennung zwischen der juristischen Person und ihren natürlichen Hinterpersonen im Bereich des Strafrechts so lange legitim und vor dem Hintergrund des Prinzips von der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung sogar geboten ist, wie die Aufrechterhaltung der Fiktion den Täter begünstigt – z. B. weil dadurch die Rechtslage einfacher zu erfassen ist (Art. 103 II GG) und der Täter es beim Betrug zulasten einer AG in Streubesitz bloß mit einem Tatopfer und nicht mit Tausenden zu tun hat. Geht es aber darum eine täterungünstige Folge zu begründen, muss im Hinblick auf die rechtsethische Legitimationsbedürftigkeit der strafrechtlichen Sanktion der interessentheoretische Hintergrund einer Regelung seziert und auf die „wahre“ Interessenlage hin untersucht werden – im Zweifel ist dann diese die maßgebliche.46

IV. Anwendungsbeispiele 1. Organuntreue Das Stichwort „Organuntreue“ bezeichnet die Fragestellung, ob die Leitungsorgane eines künstlichen Rechtsträgers auch dann für die Verschleuderung von Verbandsvermögen nach § 266 StGB zu bestrafen sind, wenn die Inhaber des Verbandsträgers mit der Vermögensverringerung einverstanden waren.47 Am Beispiel: Die Geschäftsführerin einer kriselnden GmbH nimmt mit erklärter Billigung des Alleingesellschafters für die Gesellschaft einen hohen Kredit auf und setzt sodann den gesamten Betrag im Casino „auf Rot“. Weil das Vorgehen der Geschäftsleiterin infolge des hohen Verlustrisikos nicht der Sorgfalt einer ordentlichen Geschäftsfrau entspricht (vgl. § 43 I GmbHG),48 ist hier prinzipiell von einer Pflichtverletzung gegenüber der GmbH (sowie einem dadurch bei dieser entstandenen Vermögensschaden)49 auszugehen.

46 Ich habe eine solche Vorgehensweise, inspiriert durch Vorarbeiten Merkels, für das bioethische Problem der Trennung siamesischer Zwillinge ausbuchstabiert, Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 476 ff. Krit. Koch, GA 2011, 129, 143. 47 Überblicke bei Achenbach/Ransiek/Rönnau/Seier/Lindemann, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl. 2019, 5. Teil Kap. 2 Rn. 319 ff.; Minkoff/Sahan/Wittig/Zimmermann, Konzernstrafrecht, 2020, § 13 Rn. 118 ff. 48 Vgl. BGH, NJW 1975, 1234, 1235; Zimmermann, in: Steinberg/Valerius/Popp (Hrsg.), Das Wirtschaftsstrafrecht des StGB, 2011, 71, 76. 49 Vgl. Zimmermann (Fn. 48), 71, 83 ff. Allg. zum strafrechtlichen Vermögensbegriff Merkel, Satire (Fn. 15), S. 407 ff.

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Bedenken, die Geschäftsführerin wegen Untreue zulasten der GmbH (und den Alleingesellschafter wegen Teilnahme daran)50 zu belangen, ergeben sich daraus, dass infolge des Einverständnisses des Gesellschafters bei wirtschaftlicher Betrachtung (also unter Außerachtlassung des formalen Trennungsprinzips) eine Selbstschädigung vorliegt – und eine solche nach allgemeinen Grundsätzen straflos zu sein hat. Dieses Ergebnis lässt sich auf zweierlei Weise erreichen: Entweder wird bereits der Fremdheitsbegriff in § 266 StGB materiell, d. h. so verstanden, dass es hierfür nicht auf die formale Zivilrechtslage (Schädigung von GmbH-Vermögen) ankommt, sondern auf die „wahre“ wirtschaftliche Lage (mit der Folge, dass der Vermögensschaden als beim Gesellschafter eingetreten gilt). Dieser Weg wird im Hinblick auf juristische Personen von einer kleinen Minderheit,51 bei rechtsfähigen Personen(handels)gesellschaften von der h.M.52 beschritten. Ich halte das in beiden Fällen für nicht überzeugend: Hier sollte man das Gesetz zunächst beim Wort(laut) nehmen und hinsichtlich der Opfereigenschaft vom Trennungsprinzip ausgehen: Rechtsgutsträger (und damit fingierter Inhaber des tatbestandlich geschützten „Vermögensinteresses“) ist demnach zunächst einmal die Gesellschaft als solche. Die zweite Möglichkeit hier zu einer Straflosigkeit zu gelangen, besteht darin, eine unbegrenzte Dispositionsbefugnis des Gesellschafters über das Vermögen „seiner“ juristischen Person anzuerkennen – mit der Konsequenz, dass infolge der Zustimmung selbst bei planmäßig herbeigeführtem Ruin der Gesellschaft von einer pflichtwidrigen (d. h. dem Interesse des Rechtsgutsinhabers widersprechenden) Vermögensbeschädigung keine Rede mehr sein kann (sog. strenge Gesellschaftertheorie).53 Diese Lösung wird von der der h.M. indes mit einer bemerkenswerten Begründung verworfen: Eine Dispositionsbefugnis des Inhabers der Gesellschaft sei bei jeglicher54 oder zumindest bei existenzgefährdender55 Vermögensbeschädigung abzulehnen, da dies nicht zu vereinbaren sei mit dem eigenen Interesse der Gesellschaft

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Diese Konsequenz wird nur selten thematisiert, bspw. von Radtke, GmbHR 1998, 311, 313; Hachenburg/Ulmer/Kohlmann, GmbHG-Großkommentar, Bd. 3, 8. Aufl. 1997, Vor § 82 Rn. 309. 51 Nelles, Untreue zum Nachteil von Gesellschaften, 1991, 479 ff., 513 ff. Tendenziell auch Muhler, wistra 1994, 283, 287; Blei, Strafrecht II. BT, 12. Aufl. 1983, S. 258. 52 BGH, NJW 2013, 3590; Waßmer, WiJ 2018, 1, 4; Wittig, Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2017, § 20 Rn. 77. A.A. BGH, NStZ 2004, 205, 206; Radtke, NStZ 2016, 639, 644; K. Schmidt, JZ 2014, 878, 882; Zimmermann (Fn. 47), § 13 Rn. 23 f. 53 Wohl h.L., etwa Beulke, FS Eisenberg, 2009, 245, 257; Gaede, NZWiSt 2018, 220, 223; Kraatz, ZStW 2011, 447, 477; Kubiciel, NStZ 2005, 353, 359. 54 So die von der Rspr. vormals vertretenen Körperschaftstheorien, vgl. RGSt 71, 353, 355 f. (strenge Körperschaftstheorie: Einverständnis generell unmöglich); BGHSt 34, 379, 385 f. (eingeschränkte Körperschaftstheorie: ökonomisch unvernünftiges Einverständnis unmöglich). 55 Sog. eingeschränkte Gesellschaftertheorie, vertreten etwa von BGHSt 54, 52, 57 f.; 49, 147, 157 f.; NK-Kindhäuser, § 266 Rn. 71.

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an ihrem Fortbestand.56 Was genau ist damit gemeint? Nimmt man den Begriff des „Eigeninteresses der Gesellschaft“ wörtlich und bezeichnet damit also ein solches, das nicht bloß eine zusammenfassende Chiffre für die Interessen außenstehender Dritter (Gesellschafter, Beschäftigte der Gesellschaft oder Gläubiger) darstellt, sondern eines, das in radikaler Umsetzung der zivilrechtlichen Trennungsthese ein echtes eigenes Interesse der juristischen Person beschreibt,57 ist an den Gedanken Merkels zu erinnern, wonach es sich bei einem so verstandenen Interesse um ein analytisches Unding handelt: Die GmbH kann als von Natur aus empfindungsunfähiges Sozialkonstrukt kein Eigeninteresse haben und daher auch nicht „um ihrer selbst willen“ geschützt werden; ein Strafrecht, das dies dennoch tut, ist – in den Worten Merkels – illegitim. Versteht man das von den Gesellschafterinteressen verschiedene „Eigeninteresse der GmbH“ hingegen als künstliches Medium zur Beförderung der (Vermögens-)Interessen der Gläubiger,58 so ist dieser Weg unter rechtsethischen Gesichtspunkten prinzipiell gangbar und sub specie Bankrottstrafrecht kriminalpolitisch diskutabel. Allerdings kollidiert er im Falle der Organuntreue mit der verfassungsgerichtlichen Vorgabe, einzig anzuerkennendes Schutzgut des § 266 StGB sei das Vermögen des Treugebers, nicht hingegen dasjenige der Gesellschaftsgläubiger.59 Der rabulistische Versuch, ein Eigeninteresse der Gesellschaft im Interesse der Gläubiger zu konstruieren (und dadurch § 266 StGB seinem materialen Gehalt nach bei der Organuntreue in ein abstraktes Gläubigerschutzdelikt umzufunktionieren60), ist daher nicht nur begrifflich verdreht, sondern als verfassungswidriger Rechtsgutsaustausch (präziser: als Austausch des Schutzinteresses, aus dem das Rechtsgut geformt ist) abzulehnen.61 Beifall verdient allein die strenge Gesellschaftertheorie.

56 Diese klassische Formulierung findet sich bei Brammsen, DB 1989, 1609, 1610. Von einem „Eigeninteresse“ der Gesellschaft spricht auch BGHZ 149, 10, 16 (Bremer Vulkan), was dann in der strafrechtlichen Parallelentscheidung BGHSt 49, 147, 159 f. aufgegriffen wird. Abl. zuvor noch BGHZ 119, 257, 262. 57 Eindeutig i.d.S. Brammsen, DB 1989, 1609, 1610; Zieschang, FS Kohlmann, 2003, 351, 358 f. 58 I.d.S. BGH, NJW 2007, 2689, 2690 („im Gläubigerinteresse zweckgebundene[s] Gesellschaftsvermögen“); Anders, NZWiSt 2017, 13, 21 f.; Radtke, GmbHR 1998, 361, 362 ff. Ebenso in Bezug auf das Eigeninteresse einer AG Rönnau, FS Amelung, 247, 261 ff. (auch unter Einbezug von Belangen der Allgemeinheit). 59 BVerfGE 126, 170 (200 f.). Ebenso BGH, NJW 2000, 154, 155. 60 Das wird eingeräumt von Radtke/Hoffmann, GA 2008, 535, 536 Fn. 8. 61 Zutr. Kasiske, wistra 2005, 81, 85; Labsch, JuS 1985, 602, 604 ff.; Leimenstoll, ZIS 2010, 143, 146 f.

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2. Die Möglichkeit einer Verbandsstrafe a) Ausgangspunkt Entsprechend einer radikal verstandenen Trennungsthese werden künstliche Rechtsträger zu genuinen Adressaten punitiver Sanktionen gemacht. De lege lata sehen §§ 30 I OWiG, 81 IV 2 GWB die Möglichkeit einer Geldbuße und § 74e StGB eine Strafeinziehung für juristische Personen vor, wenn sich eine ihrer Leitungspersonen in betriebsbezogener Weise strafrechts- oder ordnungswidrig verhalten hat. Noch weitergehend wird über einen Ausbau der ordungswidrigkeitenrechtlichen Ahndbarkeit62 und sogar über die Einführung einer echten Verbandskriminalstrafe63 gestritten. All diesen Konzepten ist gemein, dass die juristische Person als eigenständiger moralischer Akteur betrachtet und mit einer Abwandlung der aus dem Sanktionsrepertoire bzgl. natürlicher Personen bekannten Sanktion belegt wird – neben Maßnahmen wie Einziehung64 und Führungsaufsicht65 etwa mit Freiheits-,66 Geld-,67 Todes-68 und Prangerstrafe.69 b) Verbandsstrafe als Verstoß gegen das Schuldprinzip Fundamentalkritik an der Idee eines repressiv-ahndenden Verbandsträgerstrafrechts entzündet sich meist an ihrer Inkompatibilität mit dem Schuldprinzip, nach welchem Bestrafung Schuld voraussetzt. Versteht man Schuld i.S.e. Vorwurfs, sich trotz alternativer Verhaltensmöglichkeit pro Normbruch entschieden zu haben,70 könnten sich, so die Kritik, juristische Personen mangels eigener Hand-

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Exemplarisch Beulke/Moosmayer, CCZ 2014, 146; Schünemann, ZIS 2014, 1, 6. In diese Richtung zuletzt etwa Bürger, ZStW 2018, 704 ff. 64 Vgl. exemplarisch § 7 des Kölner Entwurfs eines Verbandssanktionengesetzes (von Henssler et al., NZWiSt 2018, 1, 3). 65 Vgl. den Vorschlag von Schünemann, ZIS 2014, 1, 7 m.w.N. zur Unternehmenskuratel. 66 So bedeuten etwa der (allerdings als Verbandsmaßregel bezeichnete) Ausschluss von der Vergabe öffentlicher Aufträge nach § 10 des NRW-Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden (VerbStrG-E, abrufbar unter https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Doku ment/MMI16-127.pdf) eine Einschränkung der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit. 67 Vgl. § 6 VerbStrG-E („Verbandsgeldstrafe“). 68 Vgl. die „Verbandsauflösung“ nach § 14 des (bislang unveröffentlichten) BMJV-Referentenentwurfs für ein Gesetz zur Bekämpfung der Unternehmenskriminalität (VerSanG-E), Bearbeitungsstand 15. 8. 2019. Von einer „Todesstrafe“ sprechen in diesem Kontext etwa Baur/Holle, ZRP 2019, 186, 189. 69 Vgl. die „Bekanntgabe der Verurteilung“ nach § 9 VerSanG-E. Den Begriff „Prangerstrafe“ verwendet etwa Willems, ZIS 2015, 40, 45. 70 BGHSt 2, 194, 200. Zur damit verbundenen Willensfreiheitsproblematik Merkel, FS Philipps, 411, 416 ff. 63

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lungsfähigkeit unmöglich in diesem Sinne schuldig machen;71 auch der Weg über eine Zurechnung fremder Schuld sei angesichts der Höchstpersönlichkeit von Schuld (vgl. § 29 StGB) nicht gangbar. Diesen Einwand, der – was selten thematisiert wird72 – in gleichem Maße die ordnungswidrigkeitenrechtliche Geldbuße trifft (das Schuldprinzip gilt auch in diesem Bereich)73, halte ich im Kern für berechtigt; alle Konstruktionsversuche einer Analog-Schuld („Betriebsführungsschuld“ u. ä.)74 erweisen sich bei näherem Hinsehen als verkappte Zurechnungsmodelle, die mit dem Grundsatz des Schuld-Zurechnungsverbots brechen.75 Ergo kann es keine (legitime) Bestrafung oder Bebußung juristischer Personen geben; ihre etwaige Sanktionierung könne daher jedenfalls nicht so begründet werden – und dürfe auch nicht so benannt werden.76 c) Begriffliche Unmöglichkeit der echten Verbandsstrafe aa) Der rechtsethische Strafbegriff Im Ergebnis teile ich, wie gesagt, die o.g. Analyse. Jedoch kommt es dafür gar nicht erst auf den (vertrackten) Begriff der Schuld (§ 20 StGB) bzw. der Verantwortlichkeit (§ 12 OWiG) an. Ausschlaggebend ist bereits der Strafbegriff selbst. Zwar ist auch dieser in Grundlagen und Details umstritten. Geht man aber von einer differenzierten, technischen Sanktionsbegrifflichkeit aus (die insbes. zwischen der rein generalpräventiven Maßnahme der Tatertragseinziehung, den spezialpräventiven Maßregeln und der repressiven Sanktionierung i.S.e. Ahndung unterscheidet),77 so dürften folgende Merkmale als notwendige Bedingungen halbwegs konsensfähig sein: Eine punitive Sanktion liegt vor, wenn jemandem ein Übel mit der Begründung zugefügt wird, dies erfolge in ahndender Reaktion auf einen von ihm zu verantworten-

71 Exemplarisch Greco, GA 2015, 503, 504 ff.; Schünemann, ZIS 2014, 1, 2 ff.; Zöller (Fn. 36), S. 34 ff. 72 Zutr. problematisiert von Mitsch, NZWiSt 2014, 1, 3; Renzikowski, GA 2019, 149, 151. 73 BGHSt 20, 333, 337; Kindhäuser/Zimmermann, AT, § 21 Rn. 3 m.w.N. 74 Vgl. Gómez-Jara, ZStW 2007, 290; Vogel, StV 2012, 427; Schönke/Schröder/Heine/ Weißer, 30. Aufl. 2019, Vor §§ 25 ff. Rn. 131. 75 Greco, GA 2015, 503, 508; Schünemann, ZIS 2014, 1, 5. 76 Vor einer „semantischen Verschmutzung“ warnen Greco, GA 2015, 503, 515; Schünemann, ZIS 2015, 1, 11 u. 15. Neuere Entwürfe verwenden daher eine neutrale Terminologie, vgl. § 4 des Kölner-Entwurfs; § 8 Nr. 1 VerSanG-E („Verbandsgeldsanktion“). 77 Zur Vermeidung von Missverständnissen: Ein solchermaßen elaborierter Strafbegriff ist keine juristische Spitzfindigkeit, sondern ein wissenschaftstheoretisch gebotenes Instrument zur sprachlichen Unterscheidung von Sanktionierungsvorgängen, deren ethische Differenzierungswürdigkeit aus ihren unterschiedlichen Legitimationsbedingungen folgt. Entsprechend sind auch moralphilosophische Untersuchungen auf eine vergleichbare terminologische Unterscheidung angewiesen, vgl. die Strafdefinition bei Hoerster, Muss Strafe sein?, 2012, S. 14.

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den Normbruch.78 Erfasst sind davon neben den Strafen des StGB auch der entehrende Schuldspruch ohne zusätzliche Sanktion (vgl. §§ 60, 199 StGB),79 die Maßnahme der Strafeinziehung, die strafzweck-analog begründete80 Geldbuße gem. §§ 1, 17, 30 OWiG, die JGG-Sanktionen gem. § 5 II, Ordnungsgeld und -haft nach § 890 ZPO sowie die nur vordergründig auf freiwilliger Hinnahme beruhenden Sanktionen des Verwarnungsgeldes gem. §§ 56 ff. OWiG und die Zahlungsauflage nach § 153a I 2 Nr. 2 StPO. bb) Juristische Personen als Adressat des Strafübels? Ohne Weiteres lässt sich zwar in den Begriff der Verantwortlichkeit für den Normbruch das Schulderfordernis integrieren.81 Mindestens ebenso zentral scheint mir im hiesigen Kontext aber das Merkmal des Strafübels zu sein. Dieses muss den zu Bestrafenden treffen, d. h. (zumindest auch) von diesem als Übel, d. h. als etwas Unangenehmes oder Nachteilhaftes empfunden werden;82 Abraham spricht plastisch vom Erleiden von „Strafschmerz“.83 Offenkundig setzt die Übelszufügung daher (analytisch) eine Form der Leidensfähigkeit und damit als Adressat ein „empfindendes

78 Hinter dem Merkmal der „Ahndung“ verbirgt sich letztlich die (heillos umstrittene) straftheoretische Zwecksetzung (Überblick bei Hörnle, Straftheorien, 2. Aufl. 2017); es dient in der Definition vor allem der Abgrenzung zu nichtpunitiv-reaktiven Übelszufügungen wie Maßregeln, Einziehung, Beugehaft oder zivilrechtlichem Schadensersatz. Das in der Teildefinition enthaltene (bei Rawls, in: Höffe [Hrsg.], Einführung in die utilitaristische Ethik, 4. Aufl. 2008, 135, 136 u. 143, geborgte) „Begründungselement“ stellt den Versuch eines Kompromisses in der Streitfrage dar, inwieweit zwischen der Definition einer Strafe und ihren Legitimationsbedingungen unterschieden werden muss. Der Streit dreht sich vornehmlich um die Frage, ob zwischen Delinquent und Übelsadressat per definitionem Personenidentität bestehen muss (dies prinzipiell bejahend Hart, in: Hoerster [Hrsg.], Recht und Moral, 1971, 58, 62; verneinend Hoerster [Fn. 77], S. 13) bzw. ob man die Sanktionierung Unschuldiger noch sinnvoll als Strafe bezeichnen kann (grdl. Flew, Philosophy 29 [1954], 291, 292; aus neuerer Zeit etwa Fassin, Der Wille zum Strafen, 2018, S. 57 f.). Der hiesige Vorschlag trennt insoweit zwischen Strafbegriff und -legitimation, als letztere neben Verhältnismäßigkeitsaspekten davon abhängt, ob die für die strafende Übelszufügung gegebene Begründung wahr ist. Hinsichtlich des häufig angeführten (Unter-)Problems der Kollektivstrafe kommt es auf den Streit freilich nicht an, da Gewalt gegen nahestehende Personen (auch) eine Beeinträchtigung der altruistischen Interessen (zum Begriff Hoerster, Was ist Recht?, 2006, S. 102) des Delinquenten bedeutet und somit (auch) für diesen ein Übel darstellt (vgl. Kubik/Zimmermann, JR 2013, 192, 197). 79 Zum Übel dieser Sanktionsform MK-StPO/Engländer/Zimmermann, 2019, § 361 Rn. 4. 80 Achenbach, ZIS 2012, 178, 179 f.; KK-OWiG/Mitsch, 5. Aufl. 2018, § 17 Rn. 8 f.; Zimmermann (Fn. 26), S. 361. 81 Zur Austauschbarkeit der Begriffe Verantwortlichkeit und (Strafbegründungs-)Schuld Kindhäuser/Zimmermann, AT, § 21 Rn. 4a. 82 Vgl. zu diesem Erfordernis des Übelsbegriffs MK/Sinn, 3. Aufl. 2017, § 240 Rn. 71; NK/Toepel, § 240 Rn. 103. S.a. T. Walter, GS M. Walter, 2014, 831, 835. 83 Abraham, Sanktion, Norm, Vertrauen, 2018, S. 18 f. m. Fn. 32 und passim.

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Wesen“ voraus.84 Dass dies im Hinblick auf juristische Personen nicht gegeben ist, liegt auf der Hand. Näher mit diesem Gedanken hat sich jüngst Greco befasst. Er spricht der juristischen Person die Fähigkeit ab, bestraft werden zu können, da als Strafübel allein der „Entzug angeborener Rechte“ in Betracht komme,85 die juristische Person aber nur über verliehene Rechte verfüge, ergo nicht mit dem Strafübel belegt werden könne. Ich halte das Konzept von Greco aufgrund der arbiträren Auswahl der für das Strafübel relevanten Interessen letztlich nicht für überzeugend.86 Richtig ist aber sein Ansatz. Und zwar, in der Diktion von Merkel, deswegen: Eine Bestrafung juristischer Personen ist nicht möglich, da diesen als leidensunfähigen Entitäten kein Übel im moralisch (und damit auch strafrechtlich) relevanten Sinne zugefügt werden kann. Daraus folgt: Es gibt jedenfalls solange keine Bestrafung juristischer Personen, wie man an dem differenzierten Strafbegriff festhalten möchte. d) Verbandssanktion als Sanktionierung natürlicher Personen Was folgt daraus für (bestehende und geplante) Konzepte der strafrechtlichen Sanktionierung von Unternehmen? Von einer Bestrafung oder Bebußung der juristischen Person sollte man nicht sprechen. Trotzdem ist eine solche Sanktion nicht per se illegitim. Das sei grob skizziert: Analysiert man die (wahre) Interessenlage bei der Sanktionierung von Verbänden, wird man bei der Suche nach darunter Leidenden schnell fündig. Es sind dies die Unternehmensinhaber (Gesellschafter, Aktionäre usw.) sowie die bei der juristischen Person Beschäftigten, die damit in ihren Vermögensinteressen beeinträchtigt werden (Wertminderung der Gesellschaftsanteile und Verlust der Dividendenexspektanz hier, Lohneinbuße und Arbeitsplatzverlust dort).87 Ihnen gegenüber gilt es, die Unternehmenssanktion in einem rechtsethischen Sinne zu legitimieren. Lässt sich also eine formell gegen die juristische Person gerichtete Sanktion gegenüber den materiellen Übelsadressaten begründen, bestünde zumindest kein grundlegendes rechtsethisches Problem. Was die Belegschaft eines Unternehmens anbetrifft, dürften die Legitimationsschwierigkeiten nicht weiter reichen als beim akzessorischen Leid der Familie 84

Vgl. Hoerster (Fn. 77), S. 11. Unter angeborenen Rechten versteht Greco, GA 2015, 503, 512 f. „das Leben, die Rechtsfähigkeit, den Leib oder … die Fortbewegungsfreiheit“. Die Geldstrafe ist für Greco (nur) vermittels der Möglichkeit der Ersatzfreiheitsstrafe ein Strafübel. 86 Warum sollten das als erheblicher Freiheitsverlust empfundene Fahrverbot (§ 44 StGB) oder die mit Eigentumsverlust einhergehende Strafeinziehung nach § 74 StGB keine Strafe sein? Diese (und weitere) Kritikpunkte hat Greco zwar in einer antizipativen Modifikation seines Strafverständnisses aufgegriffen und sein Strafverständnis um sog. „künstliche Strafen“ erweitert (Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, 2015, S. 661, 671 f.). Vom originellen Ursprungskonzept bleibt damit freilich nicht mehr viel Substanzielles übrig, vgl. Renzikowski, GA 2019, 149, 158; Stuckenberg, ZIS 2017, 445, 453. 87 Schünemann, ZIS 2014, 1, 6; Zöller (Fn. 36), S. 36. 85

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eines bestraften Individuums, d. h. prinzipiell bewältigbar sind.88 Hinsichtlich der Inhaber der sanktionierten juristischen Person hat man es, wie oben beschrieben, mit den eigentlichen Interessensträgern hinter der juristischen Person zu tun. Diesen gegenüber kann eine Übelszufügung durch die Unternehmenssanktion wenigstens auf dreierlei Weise rechtsethisch legitimiert werden: Als Strafe, aber auch als schuldindifferente Einziehung oder Gefährdungshaftung. aa) Als Strafe Eine legitime Strafe i.S.d. obigen Definition setzt die Verantwortlichkeit des Bestraften für den sanktionierten Normbruch voraus. Die Sanktionierung der juristischen Person als materielle Bestrafung ihrer wirtschaftlichen Inhaber setzt daher voraus, dass diese aktiv oder zumindest im Modus der Konnivenz vorwerfbar zu dem durch Vertreter der juristischen Person begangenen Normbruch beigetragen haben. Ein solches Legitimationskonzept dürfte Renzikowski vorschweben, wenn er über die Zurechnungsfigur der „zusammengesetzten moralischen Person“ (persona moralis) der Kollektivperson und auch jedem Mitglied des Kollektivs die „gemäß dem einheitlichen Willen vorgenommene [deliktische, T.Z.] Handlung“ zurechnet.89 Dieses Zurechnungsmodell gerät nicht mit dem Schuldgrundsatz in Konflikt, weil jedem einzelnen nur solche im Namen der Kollektivperson begangene Taten zugerechnet werden, zu denen er durch seine vorherige Zustimmung willentlich beigetragen hat; unvorhersehbare Exzesstaten einzelner sind nach dieser Logik nicht zurechenbar, auch wenn der Täter im Namen des Kollektivs agiert.90 Gegen ein solches Zurechnungsmodell als rechtsethischer Hintergrund eines Unternehmensstrafrechts bestehen keine prinzipiellen Einwände. Allerdings dürften damit nur solche Konstellationen einflussreicher Hinterpersonen erfassbar sein, die auch mit den Zurechnungsinstrumentarien des herkömmlichen Individualstrafrechts in den Griff zu bekommen sind (Stichworte: Mittelbare Mittäterschaft, Gesellschafter als faktischer Geschäftsführer, Geschäftsherrenhaftung usw.); einfache Minderheitsaktionäre 88

Die Frage, inwieweit es legitim ist, mit einer Bestrafung auch dem Bestraften nahestehenden Personen (akzessorisch) Übel zuzufügen, wird nur selten thematisiert (etwa von Müller-Dietz, FS Roxin II, 2011, 1159). Jedenfalls herrscht Konsens, es handele sich bei psychischen Schäden eines Kindes infolge der strafvollzugsbedingten Trennung von den Eltern oder bei den finanziellen Einbußen durch den Ausfall des Familienernährers um bloße „Nebenwirkungen, die nicht begrifflich zum Wesen des Strafübels gehören“, vgl. MK-StPO/ Nestler, § 456 Rn. 4 ff. Nach st. Rspr. (exemplarisch OLG Frankfurt, NStZ 1989, 93) fallen hierunter auch Auswirkungen wie der Job-Verlust von Mitarbeitern bei strafbedingter Insolvenz eines Unternehmens. 89 Renzikowski, GA 2019, 149, 156. 90 Praktische Anwendungsbeispiele derartiger Fragen finden sich vor allem im Bereich des Völkerstrafrechts (zur Figur des joint criminal enterprise III Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 8. Aufl. 2018, § 15 Rn. 55) und bei der Ahndung von Terrorismus (vgl. Montenegro, GA 2019, 489 ff., der die kriminelle Vereinigung nach § 129 StGB als zurechnungsbegründende kollektive „Unrechtsperson“ apostrophiert).

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könnten hingegen ob ihrer faktischen „Einflusslosigkeit“ auf diese Weise nicht legitim sanktioniert werden.91 bb) Als Einziehung Nicht jede Übelszufügung als Reaktion auf einen Rechtsbruch ist eine Strafe. Das ist etwa für Schadensersatzansprüche unmittelbar einleuchtend.92 Der Unterschied zwischen punitiver und sonstiger Sanktion liegt dabei in der jeweils anders gelagerten Zwecksetzung. In der obigen Strafdefinition kommt dies dadurch zum Ausdruck, dass als punitiv nur die ahndende Sanktion anzusehen ist; nur diese ist zu ihrer Legitimation auf ein Verschulden angewiesen. Andere Sanktionen, auch solche des Strafrechts, sind dies nicht. Das gilt insbes. für die Maßnahme der Tatertragseinziehung (vormals Verfall). Diese lässt sich auf ein der zivilrechtlichen Kondiktion verwandtes Gerechtigkeitsprinzip zurückführen, wonach es kein Anrecht auf das Behalten unrechtmäßig erlangter Vermögenswerte gibt; im strafrechtlichen Kontext lautet die geläufige Kurzfassung „crime must not pay!“93 Diese generalpräventive Sanktion eigener Art setzt ob der beschriebenen Zwecksetzung keine Schuld voraus94 und kann entsprechend auch „unschuldige“ Dritte treffen, denen der konfiszierte Vermögenswert ohne eigenes Zutun in den Schoß gefallen ist (vgl. § 73b StGB). Kehrseite der Schuldindifferenz ist, dass sich das mit dieser Sanktionsform verbundene Übel auf den Entzug von Gegenstand oder -wert des unrechtmäßig Erlangten beschränkt, d. h. im Grundsatz nur eine Netto-Abschöpfung legitimierbar ist.95 Es ist offensichtlich, dass solcherart begründete Vermögenssanktionen bei juristischen Personen (etwa als Dritteinziehung gem. § 73b StGB und § 29a II OWiG, als selbständige Mehrerlösabführung nach §§ 8, 10 II WiStG oder als vermögensabschöpfende Überbuße gem. § 30 i.V.m. § 17 IV 2 OWiG) gegenüber den materiell betroffenen natürlichen Personen (Aktionären usw.) rechtsethisch unproblematisch sind.96 Die korrekte begriffliche Kategorie wäre freilich nicht „Strafe“, „Buße“ (wie in § 17 IV OWiG) oder „Maßregel“, sondern „Tatertragseinziehung“. cc) Als Gefährdungshaftung Die gegen juristische Personen gerichteten Vermögenssanktionen sowohl des geschriebenen als auch des vorgeschlagenen künftigen Rechts beschränken sich nicht 91

Zutr. Schünemann, ZIS 2014, 1, 11. Vgl. Abraham (Fn. 83), S. 19; Hoerster (Fn. 77), S. 12. 93 Vgl. BVerfGE 110, 1, 19; Kindhäuser/Zimmermann, AT, § 1 Rn. 23. Grdl. Eser, Die strafrechtlichen Sanktionen gegen das Eigentum, 1969, S. 284. 94 Ausf. zur Abgrenzung zwischen punitiver und schuldindifferenter Eigentumsentziehung Marstaller/Zimmermann, Non-conviction-based confiscation in Deutschland?, 2018, S. 72 ff. 95 Zum Streit um Ausnahmen von diesem Prinzip Marstaller/Zimmermann (Fn. 94), S. 75 ff. m.w.N. 96 So auch nachdrücklich Schünemann, ZIS 2014, 1, 7. 92

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auf den Entzug von Taterträgen, sondern gehen darüber hinaus (vgl. § 17 IV 2 OWiG). Hinsichtlich der davon mittelbar betroffenen „schuldlosen“ Inhaber der juristischen Person (z. B. eines einflusslosen Minderheitsaktionärs, dessen Aktien infolge der Sanktionierung einen starken Wertverlust verzeichnen) stellt sich diese Sanktion als eine Haftung ohne Verschulden dar.97 Rogall bezeichnet dies als eine Form der „Gefährdungshaftung“ und sieht darin einen verfassungswidrigen Verstoß gegen das Schuldprinzip.98 Die Bezeichnung stimmt, die Schlussfolgerung nicht. Von einer Gefährdungshaftung kann man hier sprechen, weil der Betrieb einer juristischen Person die Schaffung einer Gefahrenquelle, nämlich eines kriminogenen Faktors bedeutet.99 Die Schlussfolgerung aber ist unrichtig, weil sich ohne großen Aufwand ein Gerechtigkeitsprinzip formulieren lässt, wonach es keineswegs unbillig ist, die Nutznießer einer freiwillig betriebenen Gefahrenquelle auch mit den Kosten für die Abwendung und Beseitigung der aus ihr resultierenden Schäden zu belasten100 – und strafrechtliche Sanktionen für juristische Personen sind als Kriminalitätsprävention eine solche Gefahrbeseitigung. Problematisch ist lediglich, ob bei der Gefährdungshaftung eine Haftungsobergrenze zu ziehen ist. Im hiesigen Kontext bestünde etwa ein Legitimationsproblem, wenn die Gefährdungshaftung einen unbegrenzten Zugriff auf das Privatvermögen des unschuldigen Inhabers erlaubte (etwa zur Beitreibung einer Geldsanktion von einer insolventen juristischen Person). Zumindest hinsichtlich der ohnehin gesellschaftsrechtlich haftungsbeschränkten Verbandsformen (AG, GmbH) stellt sich dieses Problem aber nicht, da hier der Umfang des den Anteilseignern zufügbaren Übels auf den „Einsatz“ der Betroffenen begrenzt bleibt. Fazit: Eine rechtsethische Fundamentalkritik an derartigen Sanktionen ist unbegründet. Aber auch hier gilt, dass schon zur Meidung von Missverständnissen auf terminologische Klarheit zu achten und der Strafbegriff zu vermeiden ist.

V. Schluss Juristische Personen sind etwas Künstliches. Sie haben kein eigenes Empfinden und deshalb keine im Wortsinne eigenen Interessen. Sie sind daher auch keine (rechts)ethisch unmittelbar relevanten Subjekte. Moralisch beachtlich sind allein die Interessen der „hinter“ ihnen stehenden natürlichen Personen. Diese Interessen werden aus Gründen einer rechtstechnischen Vereinfachung unter der Chiffre „juristische Person“ gebündelt und erfahren so eine Als-ob-Behandlung. Das zivilrechtli97

Vgl. Schünemann, Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, S. 209. KK-OWiG/Rogall, § 30 Rn. 4 f. 99 Ob aus dem tatsächlichen Ausmaß der Kriminogenität aktuell rechtspolitischer Handlungsbedarf erwächst, ist umstritten, s. einerseits Zöller (Fn. 36), S. 30 f., andererseits Henssler et al., NZWiSt 2018, 1, 8 f. 100 Vgl. Deutsch, NJW 1992, 73, 74 („betriebswirtschaftliche Steuerung des Risikos durch Kostenübernahme“); BeckOGK/Walter, § 7 StVG Rn. 2; Wiedemann, WM-Sonderbeilage 4/ 1975, S. 16. 98

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che Trennungsprinzip könnte daher im Strafrecht nur um den Preis von rechtsethischen Legitimationsmängeln strikt durchgehalten werden. Konkret folgt daraus zum einen die Vorzugswürdigkeit der strengen Gesellschaftertheorie bei der Organuntreue und zum anderen die analytische Unmöglichkeit, juristische Personen mit einer punitiven Sanktion zu belegen. Reinhard Merkel wünsche ich dreierlei: Dass dieser Text ihm Freude bereitet; dass zahlreiche seiner gedanklichen Rohdiamanten (Beispiel: die Figur der sich allmählich verbrauchenden Solidarität bei gehäufter Inanspruchnahme)101 einen veredelnden Schliff auch durch künftige Generationen von StrafrechtswissenschaftlerInnen erhalten; und dass noch viele Jahre ungebrochener Schaffenskraft vor ihm liegen. All dies liegt gewiss in seinem Interesse.

101

Merkel, Zaungäste (Fn. 2), 171, 195 f.

III. Grundlagen des Strafrechts

Zum normativen Charakter menschlicher Freiheit und der Frage nach dem objektiven Fundament des Schuldprinzips Von Bettina Walde1 „There is a fundamental paradox about our understanding of free will. The intuition that many of our actions are ultimately caused simply by our free choices seems to be deeply rooted and widespread, at least in western cultures. And yet, at least in its strong metaphysical form, this intuition seems to be incompatible with the scientific facts. So where does it come from?“ Alison Gopnik and Tamar Kushnir2 „Free will, a big step further beyond simple animal agency, evolved to deal with a radically new kind of social environment […]“ „Free will, or the capacity to acquire it, can also be reasonably regarded as an adaptation to make culture possible. […] Thus, the sort of free will useful for culture would be an advanced form of action control that can bring the actions of individual selves in line with the rules and requirements of the [cultural] system. […] Thus, self-control and rational thought, as well as social communication, would be essential.“ Roy F. Baumeister, Cory Clark and Jamie Luguri3

I. Die normative Quelle der Willensfreiheit Wirft man einen Blick in die seit mehr als zweitausend Jahren geführten Debatten um die Willensfreiheit (ungefähr so weit reichen die schriftlichen Überlieferungen dazu zurück), so entdeckt man schnell, dass es zu diesem Ewigkeitsthema immer noch Neues zu sagen gibt. Das mag damit zu tun haben, dass zahlreiche Teilprobleme eben nicht gelöst sind. Es hat aber auch damit zu tun, dass es sich bei dem Phänomen Willensfreiheit wohl um etwas handelt, was den Menschen von anderen Lebewesen 1

Kontakt unter: Dr. phil. habil. Bettina Walde, [email protected]. S. 4 aus Gopnik, Alison/Kushnir, Tamar: The Origins and Development of our Conception of Free Will, in: Alfred Mele (Hrsg.), Surrounding Free Will. Philosophy, Psychology, Neuroscience, Oxford/New York, 2015, S. 4 – 24. 3 S. 52 und S. 54 aus Baumeister, Roy F./Clark, Cory/Luguri, Jamie: Free Will. Belief and Reality, in: Alfred Mele (Hrsg.), Surrounding Free Will. Philosophy, Psychology, Neuroscience, Oxford/New York, 2015, S. 49 – 71. 2

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deutlich unterscheidet, etwas, was ihm seine charakteristische Lebensform, menschliche Kultur, erst ermöglicht; etwas, das über einen langen Zeitraum der Koevolution mit der menschlichen Kultur erst hervorgebracht wurde, und das sich zudem in jedem einzelnen Individuum im Laufe des Heranwachsens während eines langwierigen Sozialisationsprozesses erst entwickeln muss. Die obigen Zitate zeigen, wie sich der Blick auf das Phänomen Willensfreiheit im letzten Jahrzehnt vor allem in den empirisch-experimentellen Mind Sciences verändert hat. War die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts noch von Studien geprägt, die Mechanismen der unbewussten und automatisierten Entscheidungsselektion und Handlungssteuerung zum Gegenstand hatten, die Autonomie und Willensfreiheit zu widerlegen schienen, so hat sich im letzten Jahrzehnt der Fokus darauf verschoben, eine Konzeption von Willensfreiheit zu finden, die im Einklang steht mit den zahlreichen kulturellen Anforderungen, die wir an das Phänomen knüpfen.4 Seit etwa 2008 ist u. a. die Frage in den Interessensmittelpunkt gerückt, wie sich ¨ berzeugungen eines Individuums hinsichtlich der eigenen Willensfreiheit auf die U das tatsa¨ chliche Entscheiden und Handeln dieses Individuums auswirken. Man ko¨ nnte auch sagen, es fand ein Wechsel der Ebene statt, auf der man die interessierenden Pha¨ nomene untersuchte – weg von einer nicht-personalen Ebene, hin zu einer personalen Ebene. Mit der Etablierung dieser Herangehensweise zeigte sich dann ¨ berzeugung von der eigenen Willensfreiheit mit einer ziemlich schnell, dass die U ganzen Bandbreite an positiven Konsequenzen hinsichtlich der Entscheidungsselek¨ berzeugung tion und Handlungssteuerung verbunden ist. Und umgekehrt, dass die U des Fehlens der Willensfreiheit wie sie aus einem deterministischen Weltbild resultieren kann, entsprechend mit negativen Konsequenzen einhergeht. Seither kann man eine Flut von Titeln in den Forschungsdatenbanken entdecken, die etwa lauten: The value of believing in free will – Encouraging a belief in determinism increases cheating5; oder Determined to conform: Disbelief in free will increases conformity6; oder

4

Stellvertretend für die Flut an Studien, die bis etwa 2008 die Debatte prägten, und die sich ganz ausschließlich der Untersuchung unbewusster Mechanismen der Entscheidungsfindung und Handlungssteuerung widmeten, sei hier auf die bekannte Untersuchung von Benjamin Libet verwiesen: Libet, Benjamin: Unconscious cerebral initiative and the role of conscious will in voluntary action, in: The Behavioral and Brain Sciences 8 (1985), S. 529 – 539. Dieser Untersuchung folgten zahlreiche weitere, immer noch ein wenig ausgefeiltere Varianten des Libet-Paradigmas nach, jenes Paradigmas also, das der Psychologe und Neurowissenschaftler in den 1980er Jahren entworfen hatte, um einen empirischen Beleg fu¨ r die Existenz der Willensfreiheit zu liefern, das dann jedoch das Gegenteil zu zeigen schien. Diese Studien zielten darauf ab, Belege dafu¨ r zu liefern, dass bestimmte unbewusste neuronale Vorga¨ nge einer bewussten Willensentscheidung zeitlich vorausgehen, und dass man mit Hilfe mancher dieser neuronalen Vorga¨ nge und mit einer gewissen statistischen Erfolgswahrscheinlichkeit die spa¨ tere Entscheidung vorhersagen kann, so dass fu¨ r Willensfreiheit schlicht kein Raum mehr zu bleiben scheint. 5 Vohs, Kathleen D./Schooler, Jonathan W.: The value of believing in free will. Encouraging a belief in determinism increases cheating, in: Psychological Science 19 (2008), S. 49 – 54.

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Reducing self-control by weakening belief in free will7; oder auch Priming determinist beliefs diminishes implicit (but not explicit) components of self-agency8 ; und Inducing disbelief in free will alters brain correlates of preconscious motor preparation: The brain minds whether we believe in free will or not9, um nur einige Beispiele zu nennen. All diesen Untersuchungen ist gemeinsam, dass sie auf einen engen Zusammenhang zwischen unseren Überzeugungen zu Willensfreiheit und Verantwortung einerseits, und tatsächlicher Willensbildung, Handlungssteuerung und Verhalten andererseits verweisen. In diesem Aufsatz soll gezeigt werden, dass unsere offensichtlich stark verwurzelte Intuition der Willensfreiheit daher rührt, dass das ganze Phänomen eigentlich mehr ein normatives ist, als ein Naturphänomen oder ein metaphysisches Phänomen. Ein normatives Phänomen, das ein wichtiger Bestandteil unserer menschlichen Kultur ist, und eine tragende Funktion in zahlreichen Bereichen des sozialen Miteinanders hat, wie eben auch in der Rechtsprechung und den Rechtswissenschaften. Entsprechend ist der Begriff der Willensfreiheit in weiten Teilen, jedoch nicht ausschließlich, der Begriff eines normativen Phänomens.10 Den Ausgangspunkt bilden dabei Reinhard Merkels Überlegungen zur Frage nach der Möglichkeit einer objektiven Rechtfertigung des Schuldprinzips. Es wird sich zeigen, dass die Lage vielleicht nicht ganz so pessimistisch zu sehen ist, wie Merkel es andeutet, wenn man Willensfreiheit und die mit ihr verbundenen alternativen Möglichkeiten als normatives Phänomen auffasst. Der objektive Charakter einer Rechtfertigung des Schuldprinzips durch Willensfreiheit und alternative Möglichkeiten rührt einerseits daher, dass sich die Individuen einer sozialen Gemeinschaft darauf verständigen, welche Merkmale und Fähigkeiten Personen entwickelt haben müssen, um als willensfrei und verantwortungsfähig zu gelten. Dabei geht es um intersubjektiv zugängliche Merkmale und Fähigkeiten, nicht das jeweils persönliche Freiheitserleben, denn das wäre epistemisch nicht zugänglich. Zum anderen rührt er daher, dass die Individuen einer sozialen Gemeinschaft zwar Prognosen über das Wollen, Entscheiden und Tun anderer abgeben können, aber eben kein Wissen darüber haben. D. h. sie sind gezwungen, das 6

Alquist, Jessica L./Ainsworth, Sarah E./Baumeister, Roy F.: Determined to conform: Disbelief in free will increases conformity, in: Journal of Experimental Social Psychology 49 (2013), S. 80 – 86. 7 Rigoni, Davide/Kühn, Simone/Gaudino, Gennaro/Sartori, Giuseppe/Brass, Marcel: Reducing self-control by weakening belief in free will, in: Consciousness and Cognition 21 (2012), S. 1482 – 1490. 8 Lynn, Margaret T./Muhle-Karbe, Paul S./Aarts, Henk/Brass, Marcel: Priming determinist beliefs diminishes implicit (but not explicit) components of self-agency, in: Frontiers in Psychology, 5 (2014), Aufsatz 1483, S. 1 – 8. 9 Rigoni, Davide/Kühn, Simone/Sartori, Giuseppe/Brass, Marcel: Inducing disbelief in free will alters brain correlates of preconscious motor preparation: The brain minds whether we belief in free will or not, in: Psychological Science 22 (2011), S. 613 – 618. 10 Ich habe diese These, die hier nun genauer ausgearbeitet werden soll, bereits früher einmal formuliert. Siehe hierzu Walde, Bettina: Willensfreiheit und Hirnforschung. Das Freiheitsmodell des epistemischen Libertarismus, Paderborn, 2006.

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Wollen, Entscheiden und Tun anderer, sowie auch ihr eigenes, stets unter der zumindest epistemischen Annahme alternativer Möglichkeiten zu betrachten.

II. Die Frage nach dem objektiven Fundament des Schuldprinzips Reinhard Merkel geht in seiner exzellenten kleinen strafrechtsphilosophischen Abhandlung „Willensfreiheit und rechtliche Schuld“11 im letzten Kapitel vor dem Resümee der Frage nach der Legitimation des strafrechtlichen Schuldprinzips nach, und benennt dabei zwei Perspektiven, an denen ein Legitimationsvorschlag jeweils gemessen werden müsse. Demnach bilden (a) das Willensfreiheitserleben auf Seiten des Subjekts, sowie (b) die Funktion, die das Strafrecht mit Blick auf die Gesellschaft zu erfüllen hat, die Grundlage für eine als plausibel empfundene Schuldzuschreibung. Dabei wird die erste Perspektive als „subjektiv-persönlich“12, die zweite als „objektiv-normativ“ charakterisiert.13 Merkel macht durch einige Beispiele wie das eines Epileptikers, der während einer Autofahrt einen Anfall erleidet, einen Unfall verursacht, und sich selbst dabei als frei erlebt, wiewohl ihm wichtige Steuerungskompetenzen fehlen, deutlich, dass subjektives Freiheitserleben eines Akteurs alleine nicht hinreichend sein kann, um Willensfreiheit in einem objektiven Sinne zuzuschreiben, so dass es alleine als Grundlage einer aus dem Schuldprinzip resultierenden Schuldzuschreibung herangezogen werden könnte.14 Die von Merkel vorgeführten Überlegungen verweisen darauf, dass es, um zu einem objektiven Fundament des Schuldprinzips zu gelangen, entscheidend ist, einen Übergang vom subjektiven Freiheitserleben hin zu dem, was häufig als „praktisch-wirkliche (Willens-)Freiheit“ bezeichnet wird, herzustellen. Gemeint ist damit eine Art von Willensfreiheit, die intersubjektiv zugänglich ist, sich der Beobachtung durch andere nicht (wie das reine persönliche Freiheitserleben) entzieht, die im idealen Falle auch noch zum Forschungsgegenstand der empirischen Mind Sciences und Naturwissenschaften mit ihren empirisch-experimentellen Methoden gemacht werden können sollte, und die dann in diesem Sinne auch objektivierbar sein sollte. Die 11

Merkel, Reinhard: Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung, Baden-Baden, 22014. 12 Positionen, die das subjektive Freiheitserleben als Ursprung einer „praktisch-wirklichen Willensfreiheit“ heranziehen, finden sich in der Rechtsphilosophie u. a. bei Björn Burkhardt. Subjektives Freiheitserleben wird in solchen Ansätzen indirekt als legitimatorische Grundlage der Schuldzuschreibung herangezogen, indem sie als Ursprung oder Quelle einer praktischwirklichen Freiheit aufgefasst wird. Siehe hierzu den Aufsatz Burkhardt, Björn: Freiheitsbewusstsein und strafrechtliche Schuld, in: Albin Eser (Hrsg.), Festschrift für Theodor Lenckner, München, 1998. 13 Siehe S. 118 aus Merkel, Reinhard: Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung, Baden-Baden, 22014. 14 Merkel, Fn. 11, S. 121. Kritik an einer solchen subjektivistischen Auffassung übt auch Tatjana Hörnle: S. 36 – 37 aus Hörnle, Tatjana: Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf. Ein Plädoyer für Änderungen in der strafrechtlichen Verbrechenslehre, Baden-Baden, 2013.

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Geschichte der Willensfreiheitsdebatte ist voll von Versuchen, einen solchen Zusammenhang zwischen subjektivem Freiheitserleben und einer tatsächlichen oder wirklichen (im Sinne von objektivierbaren) Willensfreiheit auszuformulieren. Ein Weg, der hierzu häufig beschritten wurde, führt über die Diskussion der sog. alternativen Möglichkeiten, die eine Person im Zeitraum der Willensbildung und Entscheidungsfindung gehabt haben muss, um die Willensentscheidung selbst sowie die daraus resultierenden Handlungen als frei auffassen zu können. Folgt man dieser Diskussion ein wenig, so kann man sich schnell in metaphysischen Debatten über Kontrafaktisches verlieren, die teils schon seit mehreren hundert Jahren geführt werden, und die immer wieder neue Varianten subtiler Argumente hervorbringen. Wie schon erwähnt, wird seit einigen Jahrzehnten die Suche nach der Willensfreiheit oder nach einer unumstößlichen Widerlegung der Willensfreiheit auch in den naturwissenschaftlich arbeitenden Mind Sciences fortgeführt. Doch diese empirisch motivierten Debatten scheinen genauso wenig wie die metaphysischen Debatten zu einer intersubjektiv zugänglichen und mehrheitsfähigen Grundlage einer Auffassung von Willensfreiheit zu führen, die als objektives Fundament des Schuldprinzips dienen könnte.15 Im Falle der empirischen Mind Sciences hat dies u. a. auch damit zu tun, dass sie schon aus methodischen Gründen leicht in Widerspruch zur Annahme der Willensfreiheit geraten. Jeder Versuchsaufbau, der beispielsweise dazu dienen soll, Willensfreiheit zu messen, zu belegen, zu widerlegen, setzt gewisse Regelmäßigkeiten in den Naturabläufen und im Bereich des Untersuchungsgegenstandes voraus, ohne die ein sinnvoller Versuchsaufbau gar nicht konzipierbar wäre. Solche Zusammenhänge können die von der Versuchsleiterin erwarteten Re15

Dies zeigen nicht nur kritische Äußerungen, die aus den empirischen Mind Sciences selbst kommen, sondern vor allem auch kritische Äußerungen aus jenen Disziplinen, die sich mit den neurowissenschaftlichen Thesen zu Willensfreiheit und Determinismus aus einer normwissenschaftlichen Perspektive heraus befassen, wie etwa Rechtsphilosophie und Strafrechtswissenschaft. So vertritt beispielsweise Rolf Herzberg die These einer gänzlichen Irrelevanz der neurophysiologischen Erkenntnisse, wenn er schreibt „Dem setze ich die radikale Behauptung entgegen, dass die Erkenntnisse der Hirnforschung zur Beantwortung der Fragen nach Willensfreiheit und Schuld rein gar nichts beisteuern, dass sie dafür auch nicht die geringste Relevanz haben.“ Gemeint sind hier vor allem solche Erkenntnisse, die an das zuvor schon erwähnte Libet-Paradigma anschließen, siehe Fn. 4. Herzberg begründet seine These aus einer deterministischen Weltsicht heraus: „Belanglos sind die Hirnforschungsergebnisse jedenfalls für den Deterministen. […] Für den Verstand ist das apriorische quidquid fit necessario fit entscheidend und nicht irgendeine Einzelheit des Ursachenverlaufs, der so oder so mit Notwendigkeit den Entschluss zur Folge hat.“ Die Zitate finden sich auf S. 4 und S. 6 in Herzberg, Rolf D.: Willensunfreiheit und Schuldvorwurf, Tübingen, 2010. Hier ist zu bedenken, dass ein umfassender physikalischer Determinismus nur den Status einer wissenschaftstheoretischen Hypothese hat, die wir aus der Perspektive eines außerhalb des Universums befindlichen Beobachters formulieren, der nicht mit dem Universum interagiert – aus seiner Sicht würde sich der oben beschrieben notwendige Ursachenverlauf ergeben, so dass Prognosen und Wissen über Entscheidungen und Handlungsverläufe zusammenfallen würden. Die im Universum befindlichen Akteure agieren aber zumindest epistemisch nicht unter dieser Perspektive, für sie ist die Zukunft (epistemisch betrachtet) offen, so dass Prognose und Wissen über Entscheidungen und Handlungen regelmäßig auseinanderfallen.

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aktionen der Probanden auf bestimmte Reize betreffen, die erwartete neuronale Verarbeitung solcher Reize, den Zusammenhang zwischen (neuro-)physiologischen Vorgängen und Bewusstseinszuständen und so fort. Diese Auseinandersetzungen, sowohl die metaphysischen als auch die empirischexperimentellen, haben inzwischen über einen langen Zeitraum hinweg, der bereits in der Antike begann, eine enorme Menge an Literatur hervorgebracht, und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Gegenstand reißt keineswegs ab. Dennoch scheint man von einer allgemein überzeugenden Lösung des Problems weit entfernt. Wie ein objektives, auf einer in irgendeinem Sinne als tatsächlich oder wirklich geltenden Willensfreiheit basierendes Fundament des Schuldprinzips im Sinne des Paragraphen 20 StGB aussehen könnte, ist alles andere als klar.16 Dieser Umstand ist es, der Merkel zu dem Resümee veranlasst, dass wir „[…] mindestens in dubio […] hinnehmen [müssen], dass (möglicherweise) kein einziger individueller Straftäter jemals in der Lage ist, sich „bei Begehung der Tat“ anders zu verhalten und sein Handeln zu vermeiden“17 (S. 126), so dass vor diesem Hintergrund § 20 StGB das ungelöste Problem aufwerfe, dass er einerseits ein tatsächliches Andershandelnkönnen im Moment der Tatbegehung voraussetze, dass aber andererseits diese Voraussetzung nicht beweisbar sei, und deshalb sinnvoll nur als „normative Setzung“ gedeutet werden könne.18 D. h. das eingeforderte objektive Fundament des Schuldprinzips wäre dann ein eigentlich normatives, und würde die im rechtlichen Sinne als schuldfähig geltenden Täter von Straftaten mit der Unterstellung von alternativen Möglichkeiten bei der Begehung einer Tat, zur Quelle der Legitimität einer Strafe machen. Merkel kommt entsprechend gegen Ende seiner Abhandlung zu dem 16 In der Strafrechtswissenschaft und der Rechtsphilosophie wurden aus diesem Grunde längst auch andere Lesarten des Paragraphen 20 StGB formuliert, die das Schuldprinzip ohne Rekurs auf eine substantielle Variante der Willensfreiheit und die alternativen Möglichkeiten im Moment der Tatbegehung zu interpretieren versuchen. So formuliert etwa Roxin ein Kriterium der Normativen Ansprechbarkeit, das anstelle der alternativen Möglichkeiten unmittelbar vor dem Zeitpunkt der Tatbegehung zur Begründung des Schuldprinzips und als Kriterium der Schuldfähigkeit herangezogen werden kann – „[…] bei intakter Steuerungsfähigkeit und damit gegebener normativer Ansprechbarkeit [wird der Täter] als frei behandelt“, so Roxin in Roxin, Claus: Strafrecht Allgemeiner Teil Band I, § 19 Rn 36, 37, Münster, 4 2006. Obwohl dieser Vorschlag durchaus plausibel ist, wirft er doch Fragen auf. Neben der (vor allem empirisch zu beantwortenden) Frage, was man sich unter normativer Ansprechbarkeit vorzustellen habe, dürfte vor allem zu klären sein, ob sich die „[…] eingestandenermaßen unaufhebbare Lücke zwischen einem solchen Surrogat [gemeint ist die normative Ansprechbarkeit] und jenem freien Willen zum Andershandelnkönnen, von dem nach Roxin „das Strafrecht ausgehen muss“, tatsächlich einfach per „Zuschreibung“ schließen [lässt]“, so Merkel in Merkel, Reinhard: Schuld, Charakter und normative Ansprechbarkeit. Zu den Grundlagen der Schuldlehre Claus Roxins, in: Manfred Heinrich/Christian Jäger (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis. Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag, München 2012, Bd. I, S. 737 ff. 17 S. 126 aus Merkel, Reinhard: Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung, Baden-Baden, 22014. 18 S. 134 aus Merkel, Reinhard: Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung, Baden-Baden, 22014.

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Befund, dass ein solches Vorgehen eigentlich unzulässig sei. Es stelle das ungelöste Problem des Paragraphen 20 StGB dar, und könne letztlich nur durch Normschutzerwägungen gerechtfertigt werden. Diese Überlegungen sind, vor dem Hintergrund der umfangreichen Debatte zur Willensfreiheit, durchwegs überzeugend und nicht von der Hand zu weisen. Hier soll nun überlegt werden, inwiefern es legitim und begründbar sein könnte, die von Reinhard Merkel konstatierte „[…] unaufhebbare Lücke zwischen einem solchen Surrogat [gemeint ist die normative Ansprechbarkeit] und jenem freien Willen zum Andershandelnkönnen, von dem nach Roxin das Strafrecht ausgehen muss, tatsächlich einfach per Zuschreibung [zu] schließen“19. Merkel selbst unternimmt einen solchen Versuch und nennt Normschutzerwägungen, wie wir gesehen hatten. Man kann im Sinne einer weiterführenden Begründung jedoch auch die impliziten, aber womöglich hinterfragbaren philosophischen Voraussetzungen des mit § 20 StGB verbundenen „objektiven Fundaments des Schuldprinzips“ einmal genauer betrachten. Dieses „objektive Fundament des Schuldprinzips“ und die zu seiner Ausgestaltung herangezogenen „alternativen Möglichkeiten bei der Tatbegehung“ lassen sich nämlich durchaus unterschiedlich deuten. Die von Merkel verwendeten Lesarten, sowie die von ihm vorausgesetzte Auffassung des Begriffs der Willensfreiheit gehören dabei zu den weit verbreiteten und eigentlich unumstrittenen. Doch man kann die unausgesprochene Voraussetzung der gesamten Willensfreiheitsdebatte, dass der Terminus „Willensfreiheit“ entweder ein metaphysisches oder aber ein Naturphänomen bezeichne, oder eine Mischung aus beiden, in Frage stellen. Es gibt noch eine dritte Möglichkeit – man könnte den Terminus auch als versteckte Bezeichnung für eine komplexe Norm auffassen, den Begriff entsprechend als normativen Begriff lesen, und das Phänomen der Willensfreiheit entsprechend als ein zumindest in Teilen normatives Phänomen verstehen. Gelänge das, könnte auf diese Weise ein innerer Zusammenhang zwischen den alternativen Möglichkeiten und dem, was bei Merkel und Roxin als „normative Ansprechbarkeit“ bezeichnet wird, herzustellen.

III. Alternative Möglichkeiten aus Sicht des Akteurs, aus Sicht eines Beobachters im Universum und aus Sicht eines hypothetischen, außerhalb des Universums befindlichen Beobachters Die Frage nach den alternativen Möglichkeiten bei der Tatbegehung kann ganz unterschiedliche Antworten hervorbringen, je nachdem, aus welcher Perspektive sie gestellt wird. Wirft man also die Frage auf, wie man damit umgehen solle, 19 In Merkel, Reinhard: Schuld, Charakter und normative Ansprechbarkeit. Zu den Grundlagen der Schuldlehre Claus Roxins, in: Manfred Heinrich/Christian Jäger (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis. Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag, München 2012, Bd.I, S. 737 ff.

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„dass (möglicherweise) kein einziger individueller Straftäter jemals in der Lage ist, sich ,bei Begehung der Tat‘ anders zu verhalten und sein Handeln zu vermeiden“20, so gilt es deshalb zunächst mehrere Perspektiven zu unterscheiden, aus denen heraus man diesen Zusammenhang beurteilen kann. Zum einen hängt die Antwort auf die Frage, ob ein Handelnder, sei er nun ein Delinquent oder nicht, im Vorfeld seines Tuns Willensfreiheit hatte oder nicht, davon ab, wer sie – perspektivisch betrachtet – beurteilt. Es lassen sich zumindest drei Perspektiven unterscheiden: (a) Die Perspektive der ersten Person, die nur vom Akteur selbst eingenommen werden kann. Hier bildet das Freiheitserleben die Grundlage für die Antwort, das aber selbstverständlich nicht abgetrennt vom Wissen und den Überzeugungen des Akteurs dasteht, sondern vielmehr davon stark beeinflusst wird (wie auch umgekehrt). (b) Die Perspektive der dritten Person, wie sie einem in der Welt befindlichen Beobachter entspricht. Hier erfolgt die Beantwortung der Frage auf der Grundlage des Verhaltens (einschließlich des Sprachverhaltens), das der fragliche Akteur zeigt, sowie auf dem gesamten Wissen, das der Beobachter (Perspektive der 3. Person) mitbringt. Man kann hier im Sinne eines Gedankenexperiments annehmen, dass er (i) über sämtliche uns derzeit verfügbaren Kenntnisse zur Handlungssteuerung, Willensbildung und Entscheidungsfindung verfüge, wie überhaupt über alle uns derzeit verfügbaren Kenntnisse zu naturgesetzlichen und sonstigen Zusammenhängen Wissen habe. Man kann sich (ii) diesen Beobachter aber auch einfach, realitätsnah, als einen zwar in jederlei Hinsicht hervorragend informierten, aber eben nicht allwissenden Richter vorstellen. (c) Schließlich gibt es eine weitere Perspektive der dritten Person, wie sie einem außerhalb der Welt befindlichen Beobachter entspricht. Von diesem zweiten hypothetischen Beobachter sei angenommen, dass er über sämtliche überhaupt zu erlangenden Kenntnisse zur Handlungssteuerung, Willensbildung und Entscheidungsfindung, sowie sämtliche naturgesetzlichen und sonstigen Zusammenhänge verfüge – kurz: es gibt nichts, was er nicht weiß. Und in diesem Punkt unterscheidet er sich von dem ersten hypothetischen Beobachter unter (b). Die Beantwortung der Frage, ob ein bestimmter Akteur aus der beobachteten Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt Willensfreiheit im Sinne der alternativen Möglichkeiten hatte, erfolgt, wie unter (b), auf der Grundlage des Verhaltens (einschließlich des Sprachverhaltens), das der fragliche Akteur zeigt, sowie auf der Hypothese, dass der Beobachter selbst in dem Sinne allwissend sei, dass er aus dem Zustand der Welt zu einem beliebigen Zeitpunkt zusammen mit naturgesetzlichen Zusammenhängen, die er alle kenne, auf die künftigen Zustände der Welt und des beobachteten Akteurs schließen könne.

20 S. 126 aus Merkel, Reinhard: Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung, Baden-Baden, 22014.

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Außer diesen drei Beobachterperspektiven bzw. personellen Perspektiven, aus deren Blickwinkel man die Frage nach den alternativen Möglichkeiten eines Handelnden bei der Tatbegehung beantworten kann, gilt es auch noch, zwischen unterschiedlichen zeitlichen Standpunkten zu differenzieren: Stellt man die Frage vor der fraglichen Tat (so wie es der Handelnde jeweils selbst tun muss oder müsste), oder danach. D. h., formuliert man vor der Willensentscheidung und Handlung eines Akteurs eine Prognose bzw. Vorhersage, oder gibt man – retrospektiv – eine im Idealfalle vollkommen lückenlose und u. U. deterministische Kausalerklärung. Je nachdem, welchen Zeitpunkt man hier wählt, kann die Antwort auf die Frage, ob ein individueller Handelnder nun alternative Möglichkeiten hat bzw. hatte oder nicht, unterschiedlich ausfallen. Diese Differenzierung ist wichtig, weil sich Handelnde, verüben sie nun Straftaten oder nicht, die Frage nach den alternativen Möglichkeiten stets vor ihren Entscheidungen und Taten stellen, falls sie sich überhaupt damit befassen. Die mit den Resultaten von Handlungen befassten Personen wie beispielsweise Psychiater und Richter können die Frage nach den alternativen Möglichkeiten aber immer erst nach den Taten stellen, und das birgt gewisse Verwechslungsrisiken wie wir noch sehen werden. Welche Antworten ergeben sich aus diesen Unterscheidungen nun hinsichtlich der Frage, ob ein bestimmter Akteur vor Beginn seiner Handlung alternative Möglichkeiten hatte, ob er also auch anders hätte wollen, entscheiden und handeln können als er es dann tatsächlich tat? Um die Frage zu beantworten, ob ein individueller Akteur in diesen unterschiedlichen Perspektiven jeweils alternative Möglichkeiten vor dem Zeitpunkt der Tatbegehung hatte oder nicht, ist mit Blick auf die beiden Fälle (b) und (c) festzustellen, ob der jeweilige Beobachter wissen kann, wie die Willensbildung, Entscheidungsfindung und das Handeln des fraglichen Akteurs ausfallen werden oder nicht. Insofern als (propositionales) Wissen stets mit dem Ausschluss alternativer Möglichkeiten verbunden ist, kann man davon ausgehen, dass in jenen Fällen, in denen Wissen darüber besteht, dass ein individueller Akteur so-und-so entscheiden und handeln wird, keine alternativen Möglichkeiten unmittelbar vor dem (späteren) Zeitpunkt der Tatbegehung gegeben sein können. Geht man vor einer Tat im Sinne einer Prognose oder Vorhersage der Frage nach, ob der fragliche Akteur unmittelbar vor dem Tatzeitpunkt alternative Möglichkeiten hat, so hat man grundsätzlich, das klingt nun fast trivial, noch kein Wissen darüber, zu welchem Ergebnis der Willensbildungsprozess letztlich führen wird, welche Entscheidung getroffen wird und wie dann gehandelt wird. Selbst wenn man, wie es heutige Neuropsychologen tun21, relativ genaue Vorhersagen darüber machen kann, wel21 Siehe hierzu Fn. 4, sowie beispielsweise Haynes, John-Dylan/Rees, Geraint: Decoding mental states from brain activity in humans, in: Nature Reviews 7 (2006), S. 523 – 534; sowie Soon, Chun S./Brass, Marcel/Heinze, Hans-Jochen/Haynes, John-Dylan: Unconscious determinants of free decisions in the human brain, in: Nature Neuroscience 11 (2006), S. 543 – 545; sowie Haynes, John-Dylan/Sakai, Katsuyuki/Rees, Geraint/Gilbert, Sam/Frith, Chris/Passingham, Richard E.: Reading hidden intentions in the human brain, in: Current Biology 17 (2007), S. 323 – 328.

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che Absichten und Motive einer Versuchsperson oder auch eines gewöhnlichen Handelnden sich wohl im Entscheiden und Tun durchsetzen werden, ist die Menge der möglichen Determinanten, die in die Entscheidung und damit verbundene Handlungen, sowie auch in die Vorhersage einfließen, noch nicht abgeschlossen solange der Willensbildungsprozess nicht abgeschlossen, die Entscheidung nicht getroffen ist und die Handlung nicht initiiert ist. Selbst ein idealer, in der Welt befindlicher Beobachter (wie unter (b), (i) skizziert), der alles weiß, was es bis zu seiner Prognose über seine Welt überhaupt zu wissen gibt, müsste damit rechnen, dass noch neue Determinanten hinzukommen, die die Willensbildung, das Entscheiden und Tun des beobachteten Akteurs verändern könnten, und eine neue Prognose erforderlich machen könnten.22 Ein gewöhnlicher in der Welt befindlicher Beobachter wie etwa ein Neurowissenschaftler, der sich mit den neuronalen Grundlagen der Handlungssteuerung befasst, weiß ohnehin nicht alles, was es überhaupt zu wissen gibt, wird also ohnehin nicht alle bis zum Zeitpunkt der Prognosestellung aufgetretenen Determinanten einer bestimmten Entscheidung und Handlung kennen, und wird schon von daher unzuverlässigere Vorhersagen machen. Das heißt also, dass mit Blick auf den obigen Fall (b) bei dem sich die Beobachter unseres Akteurs in der Welt befinden, kein Wissen möglich ist. Damit bestehen aus dieser Perspektive vor dem Handlungsbeginn durchaus alternative Möglichkeiten. Der Hinweis auf den Zeitpunkt, zu dem man die Frage nach den alternativen Möglichkeiten eines Akteurs stellt, mag zunächst belanglos erscheinen. Sie ist es aber nicht ganz. Wie wir eben gesehen haben, sind vor dem Abschluss eines Willensbildungsprozesses mit Entscheidung und Handlung nur so etwas wie Prognosen oder Vorhersagen über die künftige Handlung möglich, jedoch kein Wissen. Damit gibt es – zunächst epistemisch gesehen – immer auch alternative Möglichkeiten für die entsprechende Handlung, einfach weil wir eben nicht alle Determinanten des Wollens, Entscheidens und Tuns eines Handelnden kennen. Das betrifft auch die obige Perspektive (a), also den Handelnden selbst, der sich fragt, welche alternativen Möglichkeiten er in einer gegebenen Situation eigentlich hat, auch er kennt keineswegs alle Determinanten, die in sein Wollen und Tun einfließen. Erst wenn man den zeitlichen Standpunkt in den Bereich nach einer bestimmten Tat verschiebt, scheint sich plötzlich alles zu ändern. Dann hat die Handlung stattgefunden, und es lassen sich retrospektiv auch zahlreiche in die Handlung mündende Determinanten finden, u. U. sogar eine relativ lückenlose und womöglich auch deterministische Kausalerklärung. Stellt man von diesem zeitlichen Standpunkt aus die Frage nach den alternativen Möglichkeiten, wird man sie deshalb wohl fast immer negativ beantworten. Dies ist natürlich nicht die Situation des Handelnden 22 Siehe hierzu vor allem Donald MacKay, der ein entsprechendes Argument formuliert: MacKay, Donald M.: On the logical indeterminacy of free choice, in: Mind 69 (1960), S. 31 – 40; sowie MacKay, Donald M.: Choice in a mechanistic universe: Reply to some critics, in: The British Journal for the Philosophy of Science 22 (1971), 275 – 285.

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vor einer Handlung, wohl aber die eines Richters, der die Ergebnisse des Entscheidens und Tuns von Tätern zu beurteilen hat. Mit der Verschiebung des Zeitpunktes, zu dem man die Frage nach den alternativen Möglichkeiten stellt, findet auch so etwas wie ein Kategorienwechsel statt: Während man vor einer Handlung nur mutmaßen oder mit mehr oder minder guten wissenschaftlichen Methoden prognostizieren kann (epistemisch), welche Wünsche, Motive, Werteinstellungen und so fort, sich im Entscheiden und Tun einer Person durchsetzen werden, weiß man nach der Handlung, welche Faktoren sich letztlich durchgesetzt haben. Damit wird es möglich, die epistemische Ebene zu verlassen, die ontologischen Zusammenhänge der fraglichen Handlung genauer zu betrachten, und Ereignisketten zu benennen. Ganz anders verhält es sich mit dem obigen Fall (c), in dem per Hypothese ein idealer Beobachter angenommen wurde, der sich selbst außerhalb der Welt des Akteurs befindet. Ein solcher hypothetischer Beobachter, der über sämtliche überhaupt zu erlangenden Kenntnisse zur Handlungssteuerung, Willensbildung und Entscheidungsfindung verfügt, sowie alle naturgesetzlichen und sonstigen Zusammenhänge kennt, weiß damit auch, welche Taten ein bestimmter Handelnder durchführen wird, bzw. kann das herleiten. Für einen nicht mit der beobachteten Welt interagierenden hypothetischen Beobachter dieses Typs fallen Vorhersage und Wissen zusammen. Aus dieser Perspektive getroffene Vorhersagen verändern (anders als im Falle eines in der Welt befindlichen Beobachters)23 die Menge der Determinanten, die in eine Handlung einfließen können, nicht. Das heißt, aus dieser Perspektive muss man tatsächlich einräumen, dass „kein einziger individueller Straftäter jemals in der Lage ist, sich bei Begehung der Tat anders zu verhalten und sein Handeln zu vermeiden“24, wie Merkel es als Frage formuliert hatte. Ein solches Szenario illustriert die wissenschaftstheoretische Hypothese eines umfassenden physikalischen Determinismus, wonach sich jeder Zustand der Welt jeweils aus den vorhergehenden Zuständen zusammen mit den naturgesetzlichen Zusammenhängen ergibt. Für unsere philosophischen und strafrechtlichen Belange hier ist ein solches Szenario jedoch eigentlich uninteressant, denn es handelt sich, wie gesagt, um eine Hypothese, von der wir nicht wissen, ob sie wahr ist, und die mit empirischen Mitteln nicht überprüft werden kann. Hinzu kommt, dass eine solche Hypothese auch eine gewisse innere Unplausibilität aufweist, da (nach gängiger Physik) schon der Beobachtungsvorgang selbst eine Interaktion mit dem beobachteten Universum darstellt. Unser eigener Standpunkt (und auch der aller Neurowissenschaftler, die sich mit Handlungssteuerung befassen) ist der von Handelnden und mehr oder weniger idealen Beobachtern in der Welt. Diesen Standpunkt können wir nicht verlassen, wir kön23 Ein in der Welt befindlicher Beobachter würde mit seinen Prognosen die Menge der Determinanten des nächsten Weltzustandes verändern, und damit eine gerade formulierte Prognose u. U. hinfällig werden lassen. Vgl. auch Fn. 22. 24 S. 126 aus Merkel, Reinhard: Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung, Baden-Baden, 22014.

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nen zwar darüber räsonieren, welche epistemischen und ontologischen Zusammenhänge einem hypothetischen außerweltlichen Beobachter zugänglich wären oder sein könnten, fundiertes Wissen, womöglich sogar empirischer Art, können wir hierzu aber nicht haben. Der Standpunkt von Beobachtern in der Welt des Akteurs (wie auch der Standpunkt des Akteurs selbst) schließt ein Wissen bis unmittelbar vor Beginn einer Tat, bis also die Menge der Determinanten einer Tat tatsächlich abgeschlossen ist, aus. Die für uns interessanten Fälle sind also (a) und (b), wobei sich die Frage nach den alternativen Möglichkeiten eines Akteurs wie in (a) nur vermittelt über (b) beantworten lässt. Prinzipiell gibt es aus der Sicht eines Beobachters wie in (b) skizziert alternative Möglichkeiten bis zum Beginn einer Tat des Akteurs. Ob diese alternativen Möglichkeiten aber auch in der Perspektive des Akteurs selbst auftauchen, von ihm als solche identifiziert und wahrgenommen werden, ist eine andere Frage. Die Perspektive der ersten Person ist einem eventuellen Beobachter, etwa einem Neurowissenschaftler oder auch Richter, nur vermittelt über die Beobachterperspektive der dritten Person wie in (b) zugänglich, d. h. nur vermittelt über Verhaltensäußerungen (einschließlich Sprachverhalten) des Akteurs, sowie über die Beobachtung und Analyse sonstiger körperlicher Vorgänge. Das mentale Innenleben des Akteurs dagegen entzieht sich der unmittelbaren Zugänglichkeit der Perspektive der dritten Person.

IV. Was wir eigentlich wissen wollen, wenn wir fragen „Hätte der Täter die Tat vermeiden können?“ Fasst man die bisherigen Überlegungen zusammen, so kann man sagen, dass die Frage „Hätte der Täter die Tat vermeiden können bzw. hatte er alternative Möglichkeiten?“ nicht danach fragt, ob der physikalische Determinismus eine plausibel begründete, womöglich empirisch untermauerte Position ist, so dass die obige Frage zu verneinen wäre. Die Frage sucht auch nicht nach der Wahrheit oder Falschheit der physikalisch-wissenschaftstheoretischen Hypothese des physikalischen Determinismus oder Indeterminismus. Vielmehr handelt es sich bei der obigen Frage um die nach den Entscheidungs- und Handlungssteuerungskompetenzen einer bestimmten Person. Vor dem Hintergrund des bisher gesagten, ist einmal festzuhalten, dass für die Frage nach den alternativen Möglichkeiten und die Frage danach, ob ein Täter seine Tat hätte vermeiden können, die personale Ebene ausschlaggebend ist. Es hilft nicht weiter, zu fragen, ob der physikalische Determinismus wahr ist oder nicht: Selbst wenn er wahr wäre, wären wir nicht in der Position eines außerhalb der Welt befindlichen Beobachters, für den Vorhersage bzw. Prognose und Wissen über das Wollen, Entscheiden und Tun von Akteuren zusammen fallen. Und wüssten wir, dass die Hypothese eines umfassenden physikalischen Determinismus falsch ist, würde auch daraus noch immer nichts mit Blick auf die alternativen Möglichkeiten zu einer von einer bestimmten Person ausgeführten Tat folgen. Dazu ist vielmehr ein

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Blick auf die Perspektive des jeweiligen Akteurs erforderlich. Denn wichtig ist nicht die Frage, ob Willensbildungsprozesse, Entscheidungen und daraus resultierende Handlungen von irgend etwas verursacht wurden oder an letzter Stelle unverursacht sind, sondern wie sie verursacht wurden. D. h. wir fragen eigentlich nach den Entscheidungs- und Handlungsfähigkeiten einer Person. Die Rede von den alternativen Möglichkeiten wird dann nicht mehr im Sinne der Determinismus-Hypothese gelesen (also auf die gesamte Welt von außen betrachtet bezogen), sondern nur auf einen umgrenzten Ausschnitt der Welt, der den Akteur umfasst, sowie seine Umgebung bzw. seinen Kontext, der wiederum zeitlich und räumlich unterschiedlich stark ausgedehnt werden kann. So gehen wir tatsächlich vor, wenn wir uns in der sozialen Interaktion fragen, ob irgendein Gegenüber wohl auch anders wollen, entscheiden und handeln hätte können als es der Fall war, und uns wechselseitig Verantwortung zuschreiben. Dabei gehen wir stets davon aus, dass es einen systematischen und in irgendeinem Sinne bestimmenden (oder eben determinierenden) Zusammenhang zwischen Motiven, Wollen, Entscheiden und Handeln von Personen gibt. Und auch die experimentelle Psychologie geht so vor, wenn sie die Willensbildung und das Entscheiden von Probanden untersucht. Sie betrachtet jeweils Ausschnitte der Wirklichkeit, und geht mit Bezug auf diese Ausschnitte davon aus, dass mentale Vorgänge und das Verhalten von Individuen von anderen Faktoren, z. B. Umweltreizen, bestimmt werden und sogar kontrolliert werden können. Dies ist die Voraussetzung dafür, Psychologie im Sinne einer positivistischen Wissenschaft betreiben zu können.25 In ihrer Reinform werden Ansätze, die annehmen, dass sich menschliches Verhalten vollständig durch Umweltreize kontrollieren lasse, längst nicht mehr vertreten. Vielmehr hat sich inzwischen herumgesprochen, dass Individuen der Kontrolle durch die Umwelt tatsächlich etwas entgegensetzen können, wie immer man das dann nennen möchte, interne Kontrolle, oder Autonomie, oder auch Willensfreiheit.26

25 In der kritischen Auseinandersetzung mit der experimentellen Psychologie wird der hier indirekt zum Ausdruck kommende Determinismus mit Blick auf Mentales und Verhalten wie er sich etwa bei B. F. Skinner findet, oft als situationalism bezeichnet. Siehe S. 184 ff. aus Skinner, Burrhuis F.: Beyond Freedom and Dignity, New York 1971. 26 Siehe hierzu Bowers, K. S.: Situationalism in psychology: An analysis and critique, in: Psychological Review 80 (1973), S. 307 – 336; und S. 11 ff. aus Easterbrook, James A.: The Determinants of Free Will. A Psychological Analysis of Responsible, Adjustive Behavior, New York 1978. Roy Baumeister distanziert sich wie folgt: „In contrast, we are inclined to think that deterministic inevitability is useless as a basis for psychological theory. The psychological project of explaining human thought, emotion, and especially action requires in practice the assumption that multiple future outcomes are possible. Human decisions, and particularly those that people would describe as reflecting free will, involve recognizing and contemplating the various competing options and then selecting which of the possible outcomes the person wishes to bring about.” S. 51 in Baumeister, Roy F./Clark, Cory/Luguri, Jamie: Free Will. Belief and Reality, in: Alfred Mele (Hrsg.), Surrounding Free Will. Philosophy, Psychology, Neuroscience, Oxford/New York, 2015, S. 49 – 71. Dem ist hinzuzufügen, dass die möglichen Entscheidungs- und Handlungsergebnisse, die es zu reflektieren gilt, zu-

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Wir hatten oben bereits gesehen, dass die alternativen Möglichkeiten, die im Zusammenhang mit der Willensfreiheit interessant sind, jene sind, die sich aus der individuellen Perspektive eines bestimmten Akteurs ergeben, um den es gerade geht. Und alternative Möglichkeiten aus der Perspektive eines Akteurs ergeben sich immer dort, wo sie oder er kontrollierend auf die Umwelt bzw. den Kontext, wozu auch die soziale Umgebung gehört, einwirken kann, und in ihrem oder seinem Wollen, Entscheiden und Tun nicht selbst vollständig durch Umgebungsfaktoren kontrolliert wird. Dies setzt keineswegs notwendiger Weise die Falschheit der Hypothese eines umfassenden physikalischen Determinismus voraus: Dass ein Akteur kontrollierend auf die Umgebung einwirken kann, erfordert zunächst nur bestimmte Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale auf Seiten des Akteurs. Die Frage danach, wie es kommt, dass die fragliche Person gerade diese Fähigkeiten und Merkmale hat, ob sie etwa durch Einwirkung determinierender Kräfte von außen zustande kamen oder nicht, spielt dazu keine unmittelbare Rolle. Man kann, wenn man das für plausibel hält, annehmen, die Hypothese eines umfassenden physikalischen Determinismus sei wahr, und jeder einzelne Akteur demzufolge das Produkt seiner kausalen Vorgeschichte. Selbst wenn man so etwas annimmt, macht es immer noch einen erheblichen Unterschied, ob das Wollen und Entscheiden eines Akteurs im Wesentlichen durch Umgebungsfaktoren hervorgebracht bzw. getriggert wurde, oder ob der Akteur eine interne Kontrolle inne hatte, die es ihm oder ihr erlaubt hat (oder hätte), sich über externe Trigger hinweg zu setzen. Im zweiten Fall, in dem jemand die Fähigkeit zur internen Kontrolle entwickelt hat, bleibt es, unter Annahme der Wahrheit der Determinismus-Hypothese, richtig, dass das Auftreten der Fähigkeit zur internen Kontrolle bei diesem Akteur nicht ihr oder ihm selbst oblag, sondern von vorgängigen Faktoren bestimmt wurde. Wenn wir aber als Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft, die überhaupt solche Phänomene wie Willensfreiheit, Verantwortungszuschreibung, Schuld und Strafe kennt, feststellen, dass eine Person die Fähigkeit zur internen Kontrolle erlangt hat, dann erachten wir das als einen wichtigen Anhaltspunkt dafür, der Person fortan Willensfreiheit und Verantwortungsfähigkeit zuzuschreiben. Der Grund dafür liegt darin, dass die Person alternative Möglichkeiten in ihrem Wollen, Entscheiden und Tun hat, wenn sie über die Fähigkeit der internen Kontrolle verfügt – sie muss den Umwelt- und Umgebungsreizen nicht folgen, ist nicht deren Spielball, sondern kann sich über diese hinwegsetzen, wenn sie es für erforderlich hält.

nächst epistemische Möglichkeiten darstellen – das wäre selbst mit der wissenschaftstheoretischen Hypothese eines umfassenden physikalischen Determinismus vereinbar.

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V. Noch einmal zum normativen Ursprung der Willensfreiheit und zur Begründung des Schuldprinzips durch alternative Möglichkeiten Gemäß unserer These sind weder Willensfreiheit noch Verantwortungsfähigkeit so etwas wie Naturphänomene, die einem Menschen schon bei der Geburt mitgegeben wären. Die (neuro-) physiologischen Voraussetzungen, die ein durchschnittlicher erwachsener Mensch mitbringt und entwickelt hat, sind alleine keineswegs hinreichend, um Willensfreiheit und Verantwortungsfähigkeit zuzuschreiben.27 Worum handelt es sich also dann, wenn weder natürliche Merkmale und Fähigkeiten, noch metaphysische Eigenschaften hinreichend sind, um Willensfreiheit und Verantwortungsfähigkeit zuzuschreiben? Möglicherweise um ein komplexes, abstraktes normatives Phänomen, das wir sowohl mit gewissen psychologischen und im weitesten Sinne physiologischen Voraussetzungen verknüpfen, als auch mit gewissen metaphysischen Voraussetzungen. Der Begriff der Willensfreiheit lässt sich, anders als das bislang der Fall war, als der Begriff eines stark kulturell und in der sozialen Interaktion von Individuen geformten Phänomens deuten. Entsprechend wäre der Ausdruck „Willensfreiheit“ der Ausdruck für eine komplexe soziale Norm (nicht für ein metaphysisches oder ein Naturphänomen), die im Laufe langer Zeiträume der Entwicklung menschlicher Kulturen und sozialer Gemeinschaften etabliert wurde, und sich in ihrem genauen Inhalt nach wie vor weiter verändert. Willensfreiheit geht stets mit Entscheidungs- und Steuerungskompetenzen einher, die wiederum Voraussetzung für die Interaktion von Individuen in komplexen sozialen Gefügen sein dürften. Die These, dass gewisse Steuerungsfähigkeiten bei den Individuen zu den Voraussetzungen der Entstehung menschlicher Kultur gehören, und dass menschliche Kultur wiederum die bei den Individuen vorhandenen Steuerungsfähigkeiten formt und verändert, findet sich seit einigen Jahren auch in der Sozialpsychologie.28 Doch anders als es in der Sozialpsychologie bislang angenommen wird, bildet Willensfreiheit als 27 Willensfreiheit und Verantwortungsfähigkeit weisen auch einen metaphysischen Anteil auf, indem sie gewisse metaphysische Voraussetzungen haben, auf die ich hier nicht näher eingehen kann. Nur soviel sei gesagt: Sie setzen zumindest eine solche Leib-Seele-Metaphysik voraus, die den mentalen und seelischen Zuständen und Vorgängen eine Wirksamkeit im Bereich des Physikalischen erlaubt. Ob das nun ein psycho-physischer Interaktionismus, eine Identitätstheorie oder ein funktionalistischer Ansatz sein muss, ist hier nicht zu klären; es darf jedenfalls kein epiphänomenalistischer Ansatz sein, der alles Geistige, also auch das bewusste Wollen und Entscheiden von Personen, zu epiphänomenalen, also kausal unwirksamen, nomologischen Anhängseln der physikalischen Welt macht. 28 Man findet die These erst seit wenigen Jahren, so zum Beispiel in Baumeister, Roy F./ Crescioni, Will A./Alquist, Jessica L.: Free will as advanced action control for human social life and culture, in: Neuroethics 4 (2011), S. 1 – 11. Ähnlich kann man grundsätzlich argumentieren, wenn es um bewusste Prozesse geht, zu denen auch bewusste Willensentscheidungen gehören wie wir sie mit Willensfreiheit verbinden: Baumeister, Roy F./Masicampo, E. J.: Conscious thought is for facilitating social and cultural interactions: How mental simulations serve the animal-culture interface, in: Psychological Review 117 (2010), S. 945 – 971.

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komplexe, relativ abstrakte soziale Norm verstanden, vermutlich ein wesentliches Element für das Funktionieren dieser Zusammenhänge. Soziale Normen sind so etwas wie akzeptierte Regeln, die das Verhalten von Individuen in sozialen Gemeinschaften und ganzen Gesellschaften leiten, und die sich je nach sozialer Gemeinschaft auch stark unterscheiden können. Sie dienen u. a. der Institutionalisierung von Verhaltensweisen und Praktiken bzw. Gepflogenheiten im Miteinander von Individuen, häufig, ohne dass die darin enthaltenen normativen Prinzipien von einer autorisierten Person oder Institution vorgegeben worden wären. Auf diese Weise, d. h. wenn das Verhalten von Individuen regelgeleitet ist (man könnte auch sagen: durch Normen kontrolliert wird), wird das Verhalten von Individuen absehbarer bzw. besser vorhersehbar. Überall dort, wo zahlreiche Individuen in sozialen Gemeinschaften, Gesellschaften, Kulturen zusammenleben, ist es hilfreich, zumindest bis zu einem gewissen Grad die Überzeugungen und Wünsche anderer Individuen antizipieren und verstehen zu können. Da wir keinen unmittelbaren Zugang zum mentalen Innenleben anderer haben, sind wir einerseits auf Verhaltensäußerungen wie etwa Sprachverhalten angewiesen, um andere zu verstehen, andererseits spielen aber auch (soziale, aber auch andere) Normen eine wichtige Rolle. Denn sie geben uns die Möglichkeit an die Hand, einschätzen zu können, wie andere in einem jeweils gegebenen Kontext entscheiden und handeln werden, ohne dass wir dafür explizites Wissen über Wünsche und Überzeugungen anderer benötigten. Einfach weil etablierte Normen es mit sich bringen, dass sich Menschen jeweils kontextabhängig einheitlicher und damit vorhersehbarer verhalten. D. h. es werden jeweils Regeln festgelegt, was in Abhängigkeit eines bestimmten Kontexts zu tun ist, etwa z. B. bei Beerdigungen schwarz zu tragen; aber auch: nicht zu stehlen, sondern Waren an der Ladenkasse zu bezahlen; nicht zu morden und so fort. Solche und ähnlich soziale Normen, die sich vielfach auch mit moralischen und rechtlichen Normen überschneiden, lassen sich zahlreich finden. (Soziale) Normen sind teils universelle, teils relativ spezifische Prinzipien, die selbst nicht zu den im weitesten Sinne physikalischen Bestandteilen des Universums gehören, d. h. sie sind erst einmal nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden im Universums zu entdecken, sondern entstehen erst mit dem Menschen bzw. jenen Individuen, die in sozialen Gruppen zusammenleben und Kulturen bilden. Wenn ich sage, dass Willensfreiheit nicht als im Universum bzw. am Menschen vorfindliches Naturphänomen zu betrachten ist, sondern als relativ abstrakte und universelle Norm verstanden werden kann, meine ich damit, dass unsere Rede von Willensfreiheit (und auch diejenige von Verantwortung und Schuld) in der sozialen Interaktion primär ein bestimmtes normatives Prinzip zum Gegenstand hat. Es könnte, verkürzt gesagt, etwa den folgenden Inhalt haben: Behandle Individuen, die nicht nur tun können, was sie tun wollen (also Handlungsfreiheit besitzen), sondern die tatsächlich auch (handlungswirksam) wollen können, was sie wollen, bei denen also das letztlich handlungswirksam werdende Wollen mit dem von der Person auch befürworteten oder innerlich bejahten und hinreichend reflektiertem Wollen übereinstimmt, als willensfrei und verantwortungsfähig. Die Phrase „(handlungswirksam) wollen können,

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was man will“ wird dabei mit neuropsychologischen Bestandteilen gefüllt, die jeweils kennzeichnen, wer innerhalb einer sozialen Gemeinschaft als jemand zu betrachten ist, der „(handlungswirksam) wollen kann, was er oder sie will“. Eine solche Norm wäre abstrakt genug, um sie kulturübergreifend in ansonsten sehr unterschiedlichen sozialen Gemeinschaften und Gesellschaften befolgen zu können. Sie verlangt, dass wir innerhalb einer bestimmten Gruppe diejenigen als willensfrei und verantwortungsfähig behandeln, die bestimmte psychologische und neurobiologische Voraussetzungen erfüllen, wie beispielsweise ausreichende Impulskontrolle und Fähigkeiten der mentalen Kontrolle, rationales Urteilsvermögen, und die Fähigkeit, alternative (Entscheidungs- und Handlungs-)Möglichkeiten aus der Perspektive der ersten Person als solche zu erkennen. Und sie setzt eine Leib-Seele-Metaphysik voraus, die dem Mentalen grundsätzlich Wirksamkeit im Bereich des Physikalischen (wozu auch der Körper gehört) einräumt. Eine auf diese Weise universelle und abstrakte Willensfreiheits-Norm hätte den Status eines übergeordneten Prinzips, das hinter anderen, konkreteren (sozialen) Normen stünde, und dazu herangezogen werden könnte, Sanktionen zu rechtfertigen, die auf die Nichtbefolgung von anderen Normen folgen (dies geschieht dann durch Verweis darauf, dass jemand auch anders hätte wollen, entscheiden und handeln können als es der Fall war). Man könnte auch sagen, es handelte sich um eine Art MetaNorm. Ein solches normatives Willensfreiheits-Prinzip wird den Individuen einer sozialen Gemeinschaft im Verlauf eines Sozialisationsprozesses, der in der Kindheit beginnt, immer wieder in der Interaktion mit anderen vorgeführt, und auf diese Weise eingeübt, bis es hinreichend internalisiert ist und (zusammen mit den psychologischen und neurobiologischen Voraussetzungen) fast zu einem konstitutiven Bestandteil der Persönlichkeit geworden ist. Ab dem Zeitpunkt, zu dem ein solches normatives Willensfreiheits-Prinzip hinreichend internalisiert ist, und ab dem ein Individuum tatsächlich die damit verbundenen psychologischen und neurobiologischen Voraussetzungen erfüllt, wird es dann als willensfrei und verantwortungsfähig erachtet und entsprechend behandelt. Hier offenbart sich ein Unterschied zu anderen sozialen Normen: Die Befolgung sozialer Normen wird in vielen Fällen neben anderem auch durch Sanktionen oder die Androhung von Sanktionen erreicht. Die Norm, dass Individuen mit bestimmten psychologischen und neurobiologischen Voraussetzungen wie z. B. bestimmten entwickelten Entscheidung- und Steuerungsfähigkeiten als willensfrei und verantwortungsfähig aufzufassen und zu behandeln sind, ist selbst jedoch nicht mit Sanktionen verknüpft. Vielmehr dient sie (umgekehrt) als Grundlage für die Rechtfertigung von Sanktionen, die bei Nichtbefolgung anderer sozialer, rechtlicher und moralischer Normen folgen. Ähnlich wie bei anderen sozialen Normen spielen Überzeugungen, Wissen und Erwartungen auch mit Bezug auf die Erklärung der Funktion von Willensfreiheit (als Norm verstanden) eine wichtige Rolle. Sie sind alle Faktoren, die zur Etablierung von Normen beitragen. Willensfreiheit kann entsprechend als Norm aufgefasst werden, die natürlich entsteht, auf der Grundlage sozialer Interaktion von Individuen.

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Auf diese Weise, d. h. unter der Voraussetzung, dass hinter dem Phänomen der Willensfreiheit eigentlich eine tief verankerte, abstrakte (soziale) Norm steht, lassen sich auch die zahlreichen Zusammenhänge erklären, die zwischen unseren Überzeugungen zur Willensfreiheit und bestimmten Verhaltensweisen bestehen.29 Insofern, als sich Normen zumindest zum Teil auf Überzeugungen von Individuen reduzieren lassen, kann man davon ausgehen, dass jene Studien, die sich seit ungefähr 2008 mit den behavioralen Folgen der Überzeugung, einen freien Willen zu haben oder eben nicht zu haben, befassen, eigentlich (auch wenn das nirgendwo gesagt wird) Erkenntnisse zur Funktion eines normativen Willensfreiheits-Prinzips liefern. Durch den Sozialisationsprozess ist diese Art von Meta-Norm tief in den Überzeugungs- und Wertesystemen der Individuen einer sozialen Gemeinschaft verankert, und drückt sich in den Überzeugungen der Individuen aus. Vermittelt über die Überzeugungen der Individuen beeinflusst sie die Willensbildung, das Entscheiden und Handeln der Individuen. Entsprechend darf man davon ausgehen, dass Untersuchungen zu Willensfreiheitsüberzeugungen und ihren behavioralen Konsequenzen auch Auskunft über Willensfreiheit als Norm verstanden geben. Was folgt nun aus all dem Gesagten hinsichtlich der Anfangsfrage nach einem objektiven Fundament des Schuldprinzips? Das von Reinhard Merkel formulierte Problem, dass es keinen Beweis für die alternativen Möglichkeiten im Zeitraum der Entscheidungsfindung bis hin zum Handlungsbeginn gebe, sondern dass diese eine normative Setzung seien, verschwindet zumindest ein Stück weit, wenn man Willensfreiheit selbst als ein primär normatives Phänomen versteht. Denn die Frage nach den alternativen Möglichkeiten wird dadurch zur Frage nach den Entscheidungs- und Steuerungskompetenzen von Personen, zur Frage danach, ob die Fähigkeiten der Person in einem gegebenen Handlungskontext auch andere Entscheidungen und Handlungen zugelassen hätten als es tatsächlich der Fall war, wenn sie beispielsweise im Verlauf der Willensbildung und des Entscheidungsprozesses andere (normadäquatere) Wertungen vorgenommen hätte. Nur wenn man Willensfreiheit selbst schon als Naturphänomen auffasst, wird die Frage nach den alternativen Möglichkeiten zur Frage nach alternativen Möglichkeiten unter identischen Naturbedingungen, d. h. zur Frage nach alternativen Verläufen der physikalischen Welt.

29 Wie bereits erwähnt – siehe Fn. 3 und Fn. 5 bis einschließlich Fn. 9 – wurden seit etwa 2008 in den empirischen Mind Sciences zahlreiche Studien zu den behavioralen Konsequenzen der Überzeugung, Willensfreiheit zu haben, sowie der Ablehnung dieser Überzeugung, durchgeführt.

Das schlechte Gewissen des Strafrechtlers und die Willensfreiheit Von Christian Fahl

Prolog Stellen Sie sich vor, man könnte in Ihrem Erbgut lesen wie in einem Buch. Darin stünde also, wie Ihre Leber funktioniert, wie groß und wie schwer Sie werden, auch welche Krankheiten Sie einmal bekommen und wie alt Sie werden, stünde darin. Stellen Sie sich vor, darin stünde aber auch, welchen Beruf Sie ergreifen, welche Zahnpasta Sie bevorzugen, wie die Frau oder der Mann heißt, die oder den Sie einmal kennenlernen und heiraten werden, wie Sie Ihre gemeinsamen Kinder nennen werden. Und schließlich stünde darin auch, dass Sie in eine nette Vorstadt mit hübschen Einfamilienhäusern ziehen werden, in deren Vorgärten einzelne Bäume stehen, dass Sie sich in Ihrem Keller eine Tischlerwerkstatt einrichten werden, darin in Ihrer Freizeit eine runde Gartenbank bauen werden, die Sie in Ihrem Vorgarten um den Baum herum aufstellen werden. Außerdem stünde darin, dass Sie Ihren Ehrenpartner im Streit mit einer Latte aus eben dieser Bank erschlagen werden. All das stünde da, schon bei Ihrer Geburt.

I. Einleitung Der „Determinismus-Indeterminismus-Streit“, die Frage also, ob der Mensch einen freien Willen habe, sich, vor eine beliebige Entscheidung gestellt, so oder so zu entscheiden, oder ob er sich dieser Freiheit nur fälschlich rühme, in Wahrheit aber unfrei („determiniert“) sei, ist ein „Ewigkeitsthema“ der Menschheitsgeschichte.1 Bereits der Kirchenvater Aurelius Augustinus (354 – 430 n. Chr.) vertrat – entgegen dem britischen Mönch Pelagius – die Unfreiheit des Menschen und meinte, dass des Menschen Schicksal von Gott vorherbestimmt (prädestiniert) sei.2 Später vertrat Martin Luther (1483 – 1546) dasselbe und behauptete: „Es verleugnet Christus, wer 1 R. Merkel, Willensfreiheit und Schuld – Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung, 2008, S. 8, verortet den Anfang der systematischen Debatte bei Aristoteles, Nikomachische Ethik, 3. Buch, Kap. 1 – 7, 1109b 30 – 1114b 30. 2 Siehe dazu Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, 3. Aufl. 2017, S. 48 f.; s. auch Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2. Aufl. 2006, S. 192; Adomeit, Rechts- und Staatsphilosophie I, 3. Aufl. 2001, S. 160, nennt das ein „unerfreuliches Kapitel“ im Leben des Heiligen.

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seiner Gnad zu wenig und dem freien Willen zuviel gibt. Das Wörtlein freier Wille wäre besser nie erfunden. Es heißt eigentlich Eigenwille. Adam im Paradies war vielleicht noch frei, aber mit der Sünde vom Teufel gefangen. Frei kann man nur durch Gnade werden, sonst nicht; … solche Lehrer heißen Sophisten.“3 Die Gegenposition vertrat Erasmus von Rotterdam (1496 – 1536) in der Schrift „De libero arbitrio“ (1524) etwa wie folgt: Wenn Gott so groß ist, dass der kleine Mensch und dessen Werke als Nichts erscheinen im Vergleich zum Willen des Schöpfers, wo ist dann die Denkbarkeit von Sünde? Für Erasmus ist der freie Wille die Fähigkeit des Menschen, sich für Gut oder Böse („Sünde“) zu entscheiden.4 Gottes Gerechtigkeit schließe es aus, dass der Mensch für seine ohne freien Willen geübten guten Taten belohnt und für seine unverrückbar determinierten bösen Taten auf ewig bestraft werde. Unter solchen Umständen wäre Gott ein grausamer, despotischer Gott, an den zu glauben von niemandem verlangt werden könne: „Wer wollte einen Gott lieben, der die Hölle heizte mit ewiger Pein, um dort für seine eigenen Missetaten armselige Menschen zu bestrafen, als freute er sich an ihren Qualen?“5 Die meisten Strafrechtler sind von Haus aus „Indeterministen“: Die „Freiwilligkeit“ beim Rücktritt (§ 24 StGB), die es doch im Determinismus gar nicht geben kann,6 die Vermeidbarkeit im Rahmen der Fahrlässigkeitsprüfung und beim (vermeidbaren) Verbotsirrtum (§ 17 StGB)7 – all das machte keinen Sinn, wenn der Täter nur so und nicht anders handeln konnte.8 In Bewegung geraten ist die Sache durch die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung. Das berühmte Libet-Expriment, in dem der Amerikaner Benjamin Libet nachwies, dass der als frei empfundene Entschluss zu einer Handlung dieser nicht vorausging, wie zu erwarten gewesen wäre, wenn er die Ursache bilden sollte, sondern stets um Sekundenbruchteile nachfolgte,9 schien zu belegen, was bereits Spinoza und Schopenhauer vermuteten, näm3 Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. damnatorum, Wittenberg 1520, Art. 36 – Dreher, Die Willensfreiheit, 1987, S. 4, nennt das „theologischen Determinismus“; s. auch R. Merkel (Fn. 1), S. 19, Fn. 19. 4 Das ist ziemlich genau die Position des Bundesgerichtshofs, der sich – in einer viel zitierten Entscheidung des Großen Senats vom 18. März 1952 (BGHSt 2, 194, 200 f.) – dazu bekannt hat, „dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden …“. 5 De libero arbitrio IX, 1217 F – zum Erasmus-Luther-Streit: Adomeit, Rechts- und Staatsphilosophie II, 2. Aufl. 2002, S. 26 ff. 6 Fahl, JA 2003, 757, 758; s. auch Dreher (Fn. 3), S. 26. 7 Dreher (Fn. 3), S. 25 – nach Herzberg, ZStW 2012, 12, 28, die einzige Vorschrift, die, unvoreingenommen gelesen, die Schuld des Täters von einem indeterministischen Vermeidenkönnen abhängig macht. 8 Vgl. Fahl, ZRph 2012, 93, 97 f.; krit. zu meiner Argumentation mit § 17 StGB: Herzberg, Frisch-FS, 2013, S. 95, 108 f. 9 Vgl. Libet, The Behavioral and Brain Science 8 (1985), S. 529 ff.; Libet/Gleason/Wright/ Pearl, Time of conscious intention to act in relation to onset of cerebral activity (readiness potential), Brain 106 (1983), S. 623 ff. – zum sog. Libet-Experiment ausf. Detlefsen, Grenzen der Freiheit, Bedingungen des Handelns, Perspektive des Schuldprinzips. Konsequenzen

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lich dass der freie Wille, der als menschliche Selbsterfahrung durchaus existiert, weiter nichts sei als eine habituelle Selbsttäuschung – „das Ich ist nicht der große Steuermann, für den es sich selbst hält.“10 Deshalb vertraten deutsche Hirnforscher ab Ende der 1990er Jahre die Ansicht,11 das Strafrecht sei reif für einen Umbau zu einem reinen Maßnahmerecht.12 „Die Annahme, wir seien verantwortlich für das, was wir tun, weil wir es ja hätten anders machen können“, sei jedenfalls „nicht haltbar“.13 Damit war die in der Vergangenheit schon mehrfach geführte und ad acta gelegte Diskussion um die Berechtigung des Schuldstrafrechts angesichts der Denkbarkeit vollständiger Determiniertheit neu entbrannt.14

II. Der Disput zwischen Reinhard Merkel und Rolf Dietrich Herzberg Aus der Flut von Veröffentlichungen stechen meines Erachtens zwei in besonderer Weise15 hervor: die Schrift von Herzberg „Willensunfreiheit und Schuldvorwurf“ (2010) und – bereits zwei Jahre zuvor – die Schrift „Willensfreiheit und rechtliche Schuld – Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung“ (2008) des Jubilars. Beide nehmen im Spektrum der möglichen Positionen einen ähnlichen, eher deterministischen Standpunkt (gegen die Willensfreiheit) ein. Bei Herzberg kommt das schon im Titel zum Ausdruck. Immerhin verbleibt dem Menschen aber auch nach Herzberg noch die (von ihm sog.) „kleine Willensfreiheit“.16 R. Merkel hingegen bekennt sich – formal17 – zu einem „agnostischen non liquet“,18 kommt aber am Ende neurowissenschaftlicher Forschung für das Strafrecht, 2006, S. 278 ff.; s. auch Precht, Wer bin ich und wenn ja, wie viele?, 2007, S. 146 ff. 10 Roth, Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, 2003, S. 395. 11 Vgl. dazu Jescheck, in: Hilgendorf (Hrsg.), Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft in Selbstdarstellungen, 2010, S. 186: „Die grundlegende Infragestellung des Schuldbegriffs durch die neuere Hirnforschung … ist mir zum ersten Mal ganz eindeutig vor Augen geführt worden, als ich 1996 den Vortrag von Wolf Singer … in der Göttinger Aula hörte“. 12 Vgl. Singer, Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, 2003, S. 31 ff.; s. auch G. Merkel, Herzberg-FS, 2008, S. 3 ff., insbes. S. 30 ff. 13 Singer (Fn. 12), S. 20. 14 Vgl. ohne Anspruch auf Vollständigkeit Crespo, GA 2013, 15; Detlefsen (Fn. 9), S. 240 ff.; Geyer, Hirnforschung und Willensfreiheit, 2004; von der Heydt, Perspektivität von Freiheit und Determinismus, 2017; Hillenkamp, Neue Hirnforschung, neues Strafrecht?, 2006; Jäger, GA 2013, 3; Kriele, ZRP 2005, 185; Lampe, ZStW 118 (2006), 1; Müller-Dietz, GA 2006, 338; Schiemann, ZJS 2012, 774; Spilgies, ZIS 2007, 155; Streng, Jakobs-FS, 2007, S. 675; Weißer, GA 2013, 26. 15 Das gilt vor allem hinsichtlich der – in philosophischen Fragen leider nicht immer gepflegten – sprachlichen Anschaulichkeit! 16 Herzberg, Willensunfreiheit und Schuldvorwurf, 2010, S. 37 – sie entspricht der einseitigen Freiheit im Gedankenexperiment nach Harry Frankfurt, vgl. dazu Walter, F. C. Schroeder-FS, 2006, S. 131, 133. Ausführliche Analyse des Gedankenexperiments bei R. Merkel (Fn. 1), S. 97 ff. 17 Siehe die Kritik bei Zaczyk, GA 2009, 371.

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doch zu dem Schluss: „Mein eigener Standpunkt dazu ist inzwischen offensichtlich. Nach dem Stand des verfügbaren Wissens spricht nichts für die Annahme, ein normaler Straftäter könnte sich im Moment seines Ansetzens zur Tatbegehung unter identischen Außen- und Innenweltbedingungen noch anders entscheiden und die Tat unterlassen.“19 In einem Punkt sind die beiden sich jedoch uneinig:20 Herzberg lobt ausdrücklich R. Merkels Abhandlung zur Willensfreiheit zu Recht als aus dem einschlägigen Schrifttum weit herausragend und nimmt sie sogar gegen den Indeterministen Rath21 in Schutz, dessen Kritik er als „ungehörig“22 bezeichnet, aber mit der für unser Thema die Überschrift gebenden Empfehlung R. Merkels im letzten – mit „Vorschlag zur Bescheidenheit“ überschriebenen – Kapitel weiß Herzberg23 nichts anzufangen. R. Merkel schlägt darin einige Änderungen im bislang herrschenden Umgang der Strafrechtswissenschaft mit dem Problem der Schuld vor: „Wir sollten uns keine Illusionen darüber machen, dass eine Rechtfertigung der Schuldstrafe nur unter dem Gesichtspunkt des Normenschutzes und also zuletzt des Schutzes der Gesellschaft zu haben ist, nicht aber allein mit Blick auf das Fehlverhalten des Täters. Ob er als empirischer Mensch wirklich verdient, was ihm als Rechtsperson mit der Strafe auferlegt wird, wissen wir nicht.“24 Des Weiteren: „Wir sollten nicht die Augen davor verschließen, dass Normschutzerwägungen utilitaristischer Provenienz sind.“25 Das sei der profundeste Sinn des viel zitierten Satzes von Kelsen, dem Menschen werde nicht darum zugerechnet, weil er frei sei, sondern der Mensch sei frei, weil ihm zugerechnet werde.26 Und ganz zum Schluss: „Wir sollten schließlich zugeben, dass alles dies

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R. Merkel (Fn. 1), S. 9; s. auch ders., Roxin-FS, 2011, S. 737, 740. R. Merkel (Fn. 1), S. 114. 20 Uneinigkeit besteht natürlich auch noch in weiteren Punkten, z. B. in der Interpretation des § 20 StGB: Herzberg will ihm eine mit dem Fehlen von Willensfreiheit kompatible Interpretation geben, Merkel, Roxin-FS, 2011, S. 737, 759, will ihn ändern. – Herzberg will das Schuldstrafrecht (im herkömmlichen Sinne) aufgegeben, R. Merkel (Fn. 1), S. 9, hingegen will zeigen, wie „ein vernünftig verstandenes Schuldprinzip begründet und gerechtfertigt werden kann.“ 21 Rath, Aufweis der Realität der Willensfreiheit – eine retorsive Reflexion zur Möglichkeit von Verantwortlichkeit in Ethik und (Straf-)Recht, 2009; (recht) harsche Kritik auch bei Zaczyk, GA 2009, 371; Lob dagegen bei Duttge, JZ 2010, 412. 22 Herzberg (Fn. 16), S. 25 m. Gegenkritik Rath, GA 2011, 731, 733 ff. 23 Herzberg (Fn. 16), S. 68 ff. 24 R. Merkel (Fn. 1), S. 135; krit. zu diesem Satz Herzberg (Fn. 16), S. 71, Fn. 103, weil er „die beruhigende Hoffnung“ hochhalte, „dass er sie ja immerhin vielleicht verdient“. R. Merkel habe von seinem Standpunkt aus sagen müssen, dass der Täter die Strafe nach allen empirischen Befunden nicht verdiene. 25 R. Merkel (Fn. 1), S. 135; krit. dazu Herzberg, ZStW 2012, 12, 15. 26 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 97. – Man fühlt sich dadurch freilich unwillkürlich an Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 99, Zusatz – § 100 19

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unserem Bemühen um die Rechtfertigung der Schuldstrafe eine dunkel bleibende Grenze zieht.“27 An diesem Punkt bemüht R. Merkel den Lehrer seines Lehrers,28 den Rechtsphilosophen und (zweimaligen) Reichsjustizminister Gustav Radbruch (1878 – 1949), mit dem Ausspruch, nur derjenige könne ein guter Jurist sein, der mit „schlechtem Gewissen“ Jurist sei.29 Das schlechte Gewissen des Juristen – genauer: des Strafjuristen30 – als erster explizit in den Zusammenhang mit der Willensfreiheit gebracht zu haben, dieses Verdienst – wenn man es denn als solches bezeichnen will – gebührt wohl dem österreichischen Strafrechtswissenschaftler Friedrich Nowakowski, der 1957 schrieb: „Wo kein Auch-anders-Können, dort keine Schuld … Vor allem für den Indeterministen muss das zweifelsfrei sein. Daraus ergibt sich sein ,schlechtes Gewissen‘ in der Strafrechtspflege. Er muss auch dort strafen, wo er heute von der Wahlfreiheit des Angeklagten keineswegs überzeugt ist.“31 So freilich will R. Merkel sich nicht verstanden wissen. Auf die Kritik von Herzberg, er halte (1.) Willensfreiheit und daher eigentlich auch Schuld für unbegründbar, zugleich aber (2.) das Schuldprinzip für notwendig, weswegen er (3.) die Strafrichter auffordere, ihrer Tätigkeit „mit schlechtem Gewissen“ nachzugehen, erwidert er: „Das wäre freilich ein seltsames Postulat – etwa so: ,Ihr macht zwar alles falsch, aber macht nur weiter, bloß schämt euch ein bisschen dafür‘.“32 Das sei nicht gemeint. Der berühmte Satz von Gustav Radbruch sei keine Mahnung an den einzelnen Richter;33 nichts sei selbstverständlicher, als dass er kein schlechtes Gewissen zu haben brauche. Es sei ein allegorischer Appell an das ganze Strafrechtssystem, sich dieser letzten dunklen Grenze seiner Begründungsmöglichkeiten bewusst zu bleiben.34 Das „(viel zu) gute Gewissen“ der Strafrechtsdogmatik gründet nach

erinnert, wonach die Strafe den Verbrecher ehre – hiergegen zu Recht R. Merkel (Fn. 1), S. 133, Fn. 211. 27 R. Merkel (Fn. 1), S. 136; s. auch ders., Roxin-FS, 2011, S. 737, 743: nicht ohne „einen dunklen Rest normativen Unbehagens“. 28 Merkel (Fn. 1), S. 136, Fn. 214. 29 Merkel (Fn. 1), S. 136, zitiert dafür (seinen Lehrer) Arthur Kaufmann, Gustav Radbruch – Rechtsdenker, Philosoph, Sozialdemokrat, 1987, S. 193. 30 Merkel (Fn. 1), S. 136, Fn. 214. 31 Nowakowski, Rittler-FS, 1957, S. 55, 61 – unter Verweis auf Eb. Schmidt, in: Materialien zur Strafrechtsreform, 1. Bd., Gutachten der Strafrechtslehrer, S. 9, 28, der den Satz von Radbruch freilich eher auf die gerechte Strafhöhe bezog. 32 R. Merkel, Roxin-FS, 2011, S. 737, 761, Fn. 67. 33 Da bin ich mir allerdings nicht so sicher. Immerhin hat Radbruch ihn in sein „Spruchbuch für Anselm“ aufgenommen, seinem (nach Feuerbach benannten) einzigen Sohn, der sich mit dem Gedanken trug, nach dem Krieg Jura zu studieren, aber aus dem Feld nicht heimkehrte, s. Radbruch, Kleines Rechts-Brevier, Spruchbuch für Anselm, nach dem Tode des Verfassers herausgegeben von v. Hippel, 1954, S. 44, Spruch Nr. 100. 34 R. Merkel, Roxin-FS, 2011, S. 737, 761.

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R. Merkel darin, dass „sie die Diskussion und Argumente der Gegenwartsphilosophie fast gänzlich ignoriert“.35 In der Frage des „schlechten Gewissens“ habe ich mich bereits früher auf die Seite des Jubilars gestellt36 und will die hier gebotene Gelegenheit benutzen, dieses Bekenntnis zu erneuern und dabei auch auf die von Herzberg an mir geübte Kritik einzugehen.

III. Eigener Standpunkt Ich meine zwar nicht, dass die Libet-Experimente „obsolet“ seien, wie jüngst John-Dylan Haynes, der am Berliner Bernstein Center for Computational Neuroscience der Charité forscht, befunden haben soll.37 Aber alles, was sie messen, ist, dass die Vorgänge in unserem Gehirn (mit dem Aufbau des sog. Bereitschaftspotentials) neurologisch längst determiniert sind, bevor wir uns ihrer bewusst werden. Sie messen also in Wahrheit gar nicht das Wann der Entscheidung, sondern der Bewusstwerdung.38 Man mag eine andere zeitliche Abfolge für plausibel gehalten und erwartet haben, dass erst der Wille gebildet und dann das Bereitschaftspotential aufgebaut werde. Aber die umgekehrte zeitliche Reihenfolge erschüttert doch den Indeterminismus so wenig wie die Tatsache, dass die körperliche Basis allen Wollens – ebenso wie auch des Bewusstseins – das Gehirn ist.39 Die Tatsache, dass der als frei empfundene Wille zu einer Handlung dieser nicht (wie erwartet) vorausgeht, sondern ihr stets um Sekundenbruchteile nachfolgt, belegt ja nur, dass wir uns in der zeitlichen Wahrnehmung täuschen – dass die Vorgänge in unserem Gehirn neurologisch längst determiniert sind, bevor wir uns ihrer bewusst werden. Manche Neurologen behaupten zwar, dass ich den Entschluss, aus meinem 35

Vgl. R. Merkel (Fn. 1), S. 9 – gemeint ist freilich, wie sich im weiteren Verlauf der Untersuchung zeigt, nicht nur die Gegenwartsphilosophie, sondern auch andere Disziplinen. R. Merkel (Fn. 1), S. 133, schreibt: „Entscheidend ist, dass die Strafrechtswissenschaft das Schuldprinzip nur dann glaubhaft verteidigen kann, wenn sie sämtliche Gründe, daran zu zweifeln, hinreichend erwogen hat, vor allem die gegen eine gängige, aber ungewaschene Intuition von Willensfreiheit“. 36 Fahl, ZRph 2012, 93, 121. 37 So wiedergegeben bei Kargl, Strafrecht, 2019, Rn. 207; s. bereits ders., GA 2017, 330. 38 Walter, F. C. Schroeder-FS, 2006, S. 131, 140; krit. zur Aussagekraft des Libet-Experiments auch Duttge, Das Ich und sein Gehirn, 2009, S. 13, 28; Hillenkamp, JZ 2005, 313, 319. 39 Insofern kann man sagen, dass die moderne Hirnforschung den alten Körper-Geist- bzw. Leib-Seele-Dualismus überwunden hat: „Die Belege sprechen eindeutig dafür, dass es keinen über den körperlichen Prozessen schwebenden Geist gibt“, alles „ist bestimmt von neuronalen Prozessen, die unter unserer Schädeldecke ablaufen“, so Schmidt-Salomon, Jenseits von Gut und Böse – Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind, 4. Aufl. 2010, S. 110 ff., zit. nach Herzberg, Frisch-FS, 2013, S. 95, 99, der ihm darin, wenn auch nicht in der Forderung folgt, sich darum Stolz und Schuldvorwurf zu verbieten, ibid., S. 106. – Freilich: Dass „Intelligenz“ in der Natur nur an Gehirne gebunden vorkomme, ist zu bestreiten. Völlig zu Recht sprechen wir darum davon, „die Natur habe es so eingerichtet“ oder die „Evolution“ habe hervorgbracht, obwohl die Natur und die Evolution keine Gehirne haben.

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Sessel aufzustehen, erst treffe, während ich mich bereits erhebe. Messbar ist, dass mein Gehirn bereits auf „Aufstehen“ geschaltet hat, bevor ich mir einbilde, mich zum Aufstehen entschieden zu haben. Zugestanden. Aber heißt das, dass der Entschluss aufzustehen, vollkommen irrelevant ist? Wozu sollte die Natur es so eingerichtet haben? Die Evolution produziert (normalerweise) nichts Überflüssiges. Einige Neurologen, vor allem Libet selbst, behaupten, das „Ich“ habe in diesem Stadium wenigstens so etwas wie ein „Vetorecht“,40 was manchen wiederum für die Aufrechterhaltung ihres Freiheitspostulats ausreicht.41 Aber liegt es nicht viel näher, dass der gewiss auf Hirntätigkeit beruhende – worauf sonst? – Entschluss aufzustehen dem Handeln in Wahrheit doch vorausgeht und lediglich das Bewusstsein nicht hinterherkommt? Dass eine Handlung einen Willensentschluss zur Voraussetzung hat und dass Entschlüsse nicht vom Himmel fallen, sondern auf biologischen (chemisch-physikalischen) Vorgängen im Gehirn (kausal) beruhen, scheint mir eine schiere Selbstverständlichkeit (de nihilo nihil fit). Ein Wille, der plötzlich da wäre, ohne von einem Gehirn gebildet worden zu sein, wäre in der Tat „einem Hund vergleichbar, den niemand erzeugt hat und der aus dem Nichts heraus auf einmal im Zimmer steht und bellt.“42 Das spricht aber nicht gegen die Freiheit, infolge der komplexen Rechenaktionen im Gehirn entweder aufzustehen oder als Folge einer ebenso komplexen Rechenaktion sitzen zu bleiben, wenn es beim Frühstück an der Haustür klingelt.43 Wenn ich am Strand einen Stein aufhebe, dann ist dieser Bewegung mit Sicherheit ein neuronaler Prozess in meinem Gehirn vorausgegangen. Aber das beweist doch weder, dass ich nur diesen und keinen anderen Stein aufheben konnte, noch, dass ich überhaupt den Entschluss fassen musste, einen Stein aufzuheben, oder dass ich mit dem Steineaufheben nicht auch wieder aufhören kann, wenn es mir langweilig geworden ist, ich die Hoffnung aufgegeben habe, Bernstein zu finden, oder das Essen ruft.44 40 Warum die Ausübung des Vetos nicht ihrerseits durch den Aufbau eines Bereitschaftspotentials präformiert oder (kausal) bedingt sein soll, sagt Libet nicht. Die darin liegende Inkonsequenz dürfte dazu beigetragen haben, dass seine „Veto-Lehre“ kaum Anhänger gefunden hat, s. R. Merkel (Fn. 1), S. 95, Fn. 151; Hillenkamp, ZStW 2015, 10, 78, Fn. 245. 41 Vgl. Jäger, GA 2013, 3, 9, mit einem interessanten Verweis auf die Hypnose. 42 Das Bild stammt von Herzberg, Frisch-FS, 2013, S. 95, 111; weiterführend zum sog. Physikalismus (Materialismus) R. Merkel (Fn. 1), S. 32 f. 43 Beispiel von Herzberg, Frisch-FS, 2013, S. 95, 97. 44 Zum Gründe-versus-Ursachen-Argument R. Merkel (Fn. 1), S. 39 ff. – Das bestreitet auch Herzberg (Fn. 16), S. 15 ff.; ders., ZStW 2012, 12, 44, nicht: am ehesten noch werde man von einer Willensfreiheit prima facie dort ausgehen können, wo jeder rationale Grund fehle, einer Alternative den Vorzug zu geben, z. B. den rechten oder linken Arm zu heben oder diesen oder jenen Stein aufzuheben. Der Mensch möge zwischen den Alternativen schwanken, aber endlich ergebe sich in seinem Kopf ein kleines Übergewicht, das den Ausschlag gebe. Natürlich hätte es sein können, dass er es sich in letzter Sekunde anders überlegt hätte. „Aber das hätte dann die Zwangsläufigkeit des Geschehens nicht widerlegt, sondern nur die wahre und endgültige Notwendigkeit zum Vorschein gebracht. Der Grund des Umstiegs wäre das etwas stärkere Motiv gewesen, erzeugt vielleicht von einer plötzlich auftauchenden Erinnerung wie

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Zaczyk prophezeite im Jahre 2009 (in einer Rezension von R. Merkels „Willensfreiheit und Schuld“), in zehn Jahren (also heute) werde niemand mehr aus der Hirnforschung Folgerungen für das Strafrecht ziehen.45 Das hat sich nicht bewahrheitet. Aber mir will – wie Herzberg46 – scheinen, dass die Erkenntnisse der Hirnforschung „zur Beantwortung der Frage der Wahlfreiheit des Menschen nichts“ beitragen. Die Suche nach dem freien Willen im Gehirn erscheint mir so aussichtslos wie die Suche nach dem lieben Gott im Weltraum.47 So wenig wie es gelungen ist zu beweisen, dass es Gott gibt, so wenig ist es gelungen zu beweisen, dass es ihn nicht gibt. Mit dem „freien Willen“ scheint es ähnlich: Die Frage nach der Wahlfreiheit des Menschen, wie die Frage nach der Willensfreiheit besser lautete, sei eine sinnlose, jedenfalls „keine wissenschaftlich beantwortbare Frage“, meinte Bockelmann.48 Nach Göppinger ist das Problem der Willensfreiheit „empirisch nicht angehbar“49 und nach Henkel ist die Frage nach dem „Anders-handeln-Können“50 schlichtweg unbeantwortbar; sie entziehe sich der Beweisbarkeit im Experiment, da es sich nur überprüfen lasse, „indem man den Täter wiederholt in die gleiche Situation versetzt und seine jeweiligen Verhaltensweisen registriert“, ein solches Experiment sei aber nicht durchführbar.51 Die Wissenschaft hat jedoch einen anderen Zugang gefunden, um das Problem der Nicht-Wiederholbarkeit von Entscheidungen zu umgehen: Zwillinge. Geeignet sind dafür aber nur eineiige Zwillinge. Anders als zweieiige Zwillinge haben sie (nahezu) identisches Erbgut und sind im wahrsten Sinne des Wortes ihr eigener „Doppelgänger“.52 Etwa zur selben Zeit wie Benjamin Libet die Hirnströme untersuchten Da,ich habe doch immer rechts gewählt‘ oder auch dem auf einmal empfundenen Bedürfnis, sich selbst seine Willensfreiheit zu beweisen“ (Herzberg, a.a.O., S. 18) – Die Erwähnung des Letzeren ist ein besonders geschickter Schachzug, macht sie es dem Indeterministen doch unmöglich, sich oder anderen seine Freiheit zu beweisen! 45 Vgl. Zaczyk, GA 2009, 371, 375. 46 Herzberg, ZStW 2012, 12, 32. 47 Vgl. dazu Walter, F. C. Schroeder-FS, S. 131, 141: Wenn Singer (Fn. 12), S. 20 verkünde: „Ich kann bei der Erforschung von Gehirnen nirgendwo ein mentales Agens wie den freien Willen oder die eigene Verantwortung finden“, dann erinnere ihn das an Juri Gagarin, der 1961 als erster Mensch im All nach Hause meldete, dass er dort keinen Gott angetroffen habe. 48 Vgl. Bockelmann, ZStW 75 (1963), 372, 384. 49 H. Göppinger, Kriminologie, 6. Aufl. 2008, S. 52. 50 Principle of Alternative Possibilities (PAP) oder auch CDO-Bedingung genannt (could have done otherwise) – R. Merkel (Fn. 1), S. 17, 96 ff., spricht vom Prinzip alternativer Möglichkeiten (PAM); s. auch ders., Roxin-FS, 2011, S. 737, 739. 51 Henkel, Larenz-FS, 1973, S. 3, 23. – Selbst wenn man den Täter wiederholt in die gleiche Situation versetzen könnte, so hätte das doch keine Aussagekraft, weil er sich im Wissen um die frühere Entscheidung, einfach zur Abwechslung (aus Spaß) anders entscheiden könnte und damit nach Herzberg (o. Fn. 44) noch immer determiniert handeln würde. Dazu braucht es noch nicht einmal das Wissen um die strafrechtlichen Konsequenzen, die ihn ja, hoffentlich, davon abhalten werden, den gleichen Fehler zweimal zu begehen. 52 Dreher (Fn. 3), S. 244; s. auch Ditfurth, So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen, 1985, S. 289: „Erfahrungen mit dem Doppelgänger“.

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vid T. Lykken/Thomas J. Bouchard von der Universistät Minnesota daher Zwillingspaare.53 Das eigentliche Anliegen war übrigens nicht, eine Entscheidung im Determinismus-Indeterminismus-Steit herbeizuführen, sondern die Frage, bis zu welchem Grade es die soziale Umwelt oder die erbliche Veranlagung ist, die uns prägen.54 – Behavioristen wie J.B. Watson (1878 – 1958)55 versprachen: „Geben Sie mir ein Dutzend gesunde, wohlgeformte Säuglinge und dazu meine eigene, von mir selbst in allen Merkmalen festgelegte Welt und ich garantiere Ihnen, dass ich jeden dieser Säuglinge nach rein zufälliger Auswahl zu jeder Art von Spezialisten ausbilden könnte – zum Arzt, Rechtsanwalt, Künstler und sogar zum Bettler oder Dieb; ohne Rücksicht auf Talente, Vorlieben, Neigungen, Fähigkeiten, Anlage oder Rasse.“56 Deshalb suchten die Forscher nur nach solchen Zwillingspaaren, die in frühester Kindheit voneinander getrennt und unabhängig voneinander aufgewachsen waren. Die Kontrollgruppe waren nicht gemeinsam miteinander aufgewachsene eineiige Zwillingspaare, sondern getrennt voneinander aufgewachsene zweieiige Zwillingspaare.57 Untersuchte man nämlich gemeinsam aufgewachsene Zwillingspaare, so wären die Ergebnisse wenig aussagekräftig, weil festgestellte Gemeinsamkeiten auch auf Umwelt und Erziehung beruhen könnten und Unterschiede gerade aus der Reaktion aufeinander und dem Bedürfnis, sich voneinander abzugrenzen. Um den Einfluss der Gene zu ermessen, müssen solche „Umweltfaktoren“ so weit als möglich ausgeschaltet werden. Was die Forscher dabei herausfanden, hat sie selbst in Erstaunen versetzt: Berühmt geworden – bis hin zu einem Eintrag in „Wikipedia“ – sind dabei die „JimTwins“58 (kurioserweise bekamen beide von ihren Adoptiveltern auch noch densel53

Einzelheiten zum sog. Minneapolis-Projekt bei David T. Lykken/Thomas J. Bouchard, Genetische Aspekte menschlicher Individualität, Mannheimer Forum 1983/84, S. 79. Von dem Projekt berichten von Ditfurth (Fn. 52), S. 289 ff. – der selbst von Haus aus Neurologe war – und Dreher (Fn. 3), S. 242 ff. – In Deutschland hat sich die Zwillingsforschung durch das Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene unter dem Mediziner Otmar von Verschuer (1896 – 1969) und seinem Zuarbeiter Josef Mengele, der als Lagerarzt in Auschwitz forschte, selbst diskreditiert. 54 Bekannt als „Nature-versus-Nurture“ (Natur oder Erziehung) oder Anlage-UmweltStreit. 55 Der in diesem Zusammenhang eher ein „Environmentalist“ zu nennen wäre. 56 Zitiert nach Dreher (Fn. 3), S. 243 f.; s. auch Vogel/Propping, Ist unser Schicksal angeboren, 1981, S. 54. 57 Was die Untersuchungen von Lykken/Bouchard relativ einzigartig macht, weil Adoptionsbehörden in den USA und anderswo Zwillinge inzwischen offenbar nicht mehr auseinanderreißen. 58 Ditfurth (Fn. 52), S. 293. – Ich beschränke mich hier aus Raumgründen auf diese, weiteres Anschauungsmaterial findet sich bei Ditfurth (Fn. 52), S. 289 ff. und Dreher (Fn. 3), S. 242 ff.; z. B. die Zwillinge Jack und Oskar: Obwohl sie seit ihrer Geburt getrennt aufgewachsen waren, der eine im Ruhrgebiet, der andere in Amerika, und sich vorher nur ein einziges Mal getroffen hatten, trugen beide Zwillinge den gleichen Schnauzbart, Nickelbrillen mit bläulich getönten Gläsern, blaue Sporthemden mit aufgenähten Brusttaschen und Schul-

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ben Vornamen!). Beide besaßen als Kinder einen Hund, den sie „Toy“ tauften. Beide waren zweimal verheiratet, wobei beide Frauen „Linda“ hießen. Später heirateten beide eine „Betty“. Der eine nannte seinen ersten Sohn „James Alan“, der andere „James Allan“.59 Beide fuhren, ohne voneinander zu wissen, jahrelang in denselben Urlaubsort in den Ferien und arbeiteten vorübergehend als Tankstellenwächter, danach als Hilfs-Sheriffs. Beide bastelten gerne mit Holz, hatten sich in ihren Häusern nahezu professionelle Tischlerwerkstätten eingerichtet und eine runde Gartenbank gebaut, die sie in ihrem Vorgarten um einen Baum herum aufstellten. … Man kann sich das gewiss auch mit einer Mode erklären, plötzlich runde Gartenbänke zu haben, so wie auch manche Namen in manchen Jahren besonders in Mode sind, oder das Ganze schlicht für (freilich merkwürige) Zufälle halten.60 Herzberg61 hat mir angesichts solcher Beispiele einen „eigenwilligen“ (genetischen) Determinismus vorgehalten und zur Illustration seiner Kritik daran das folgende Beispiel gebildet:„Angenommen, A und B, eineiige Zwillinge, kommen an einem kurzfristig unbewachten Imbissstand vorbei, wo A mit raschem Zugriff ein Fischbrötchen stiehlt. Wenn sich dem B die Gelegenheit genauso bietet, steht dann aufgrund der identischen Ausstattung fest, dass er das Gleiche tun wird? (…) Schon die ,Umweltbedingung‘ eines gut gefüllten Magens kann den Ausschlag geben, dass B achtlos am Imbissstand vorübergeht. Aber auch die ,Erfahrung‘, dass die Fischbrötchen nicht schmecken,62 kann ihn vom Diebstahl abhalten. Und ebenso ist es denkbar, dass B als Kind in einer anderen Familie gelebt und dank besserer ,Erziehung‘ stärkere Hemmungen entwickelt hat. (…) Zwar stand schon bei der Zwillingsgeburt fest, dass an diesem Ort zu dieser Zeit A ein Fischbrötchen stehlen und B keines stehlen werde. Aber es erscheint mir nicht richtig zu sagen, dies habe ,völlig unabhängig von Erziehung, Erfahrung, sonstigen Umweltbedingungen‘ festgestanden.“ Die Gene, so schließt Herzberg, „haben nicht die monokausale Bedeutung, die Fahl … ihnen zuschreibt. Auch die situativen, aktuell entstehenden Motive verursachen unser Tun, und sie bilden sich auf einer breiteren Grundlage als der genetischen Ausstattung: auf der Grundlage des individuellen Charakters, wie er sich mit seinen

terklappen und hatten sich rote Gummibänder über das linke Handgelenk gestreift. Danach gefragt, warum sie es getan haben, antworteten beide unabhängig voneinander fast gleichlautend: „Kann man doch immer einmal gebrauchen.“ 59 Die englischen Zwillingsschwestern Dorothy und Bridget nannten ihre Kinder „Richard Andrew“ und „Catherine Louise“ bzw. „Andrew Richard“ und „Karen Louise“; s. Ditfurth (Fn. 52), S. 297; krit. Dreher (Fn. 3), S. 250, da an der Namensgebung regelmäßig beide Eltern beteiligt sind. 60 Dagegen spricht freilich, dass Lykken/Bouchard sie stets nur bei den eineiigen Zwillingen und niemals bei der ebenso untersuchten Kontrollgruppe gefunden haben, Ditfurth (Fn. 52), S. 295. 61 Herzberg, Frisch-FS, 2013, S. 95, 111 f. 62 Das erscheint freilich nach den zahlreichen Berichten von Zwillingen, die den gleichen Geschmack bei ihrer Zahnpasta, ihrem Rasierwasser etc. entwickeln (Fn. 58), extrem unwahrscheinlich.

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ererbten Anlagen und von Umweltfaktoren beeinflusst im Lauf des Lebens ausprägt und in Grenzen verändert.“63 Erstens erscheint mir bemerkenswert, dass Herzberg zugesteht, dass schon bei der Zwillingsgeburt feststand, dass an diesem Ort zu dieser Zeit A ein Fischbrötchen stehlen werde. Das ist schon ein sehr weitgehender Determinismus, der an den Laplace’schen Dämon erinnert.64 Das erscheint mir eher unwahrscheinlich, ich komme darauf zurück. Zweitens: Allen Beteiligten ist (heute) klar, dass der Anlage-UmweltStreit nicht einseitig zugunsten einer Seite zu entscheiden ist. Der Mensch ist weder nur das Produkt seiner Gene noch seiner Umwelt. Der „Monismus“ ist lange einem „Sowohl-als-auch“ gewichen.65 Sauer glaubte sogar, Prozentzahlen angeben zu können, inwieweit Anlage und Milieu und inwieweit der freie Wille das Verbrechen bedingen.66 So wie es aber denkbar (wenngleich deshalb noch keineswegs bewiesen) ist, dass wir den Einfluss unseres Willens überschätzen – so ist es jedenfalls auch denkbar, dass wir den Einfluss der Gene auf unsere Entscheidungen notorisch unterschätzen, wie das Beispiel zeigt, und den Einfluss der übrigen Umweltbedingungen im Gegenzug zu hoch veranschlagen. Nehmen wir die Gartenbank: Gewiss werden sie die Zwillinge nicht am gleichen Tag gebaut haben,67 darüber mag wohl auch ein voller oder leerer Magen entschieden haben. Aber dass sie es eines Tages tun würden, darüber haben offenbar schon die Gene entschieden. Nur eineiige Zwillinge haben (bis auf die hier zu vernachlässigende Möglichkeit auch hier auftretender gelegentlicher Mutation) identisches Erbmaterial. Die „Umweltbedingungen“ mögen sein, wie sie wollen – sie werden in vielem verschieden, aber natürlich in vielem auch ähnlich gewesen sein, ein liebevolles Elternhaus und eine Schule, die ihre Neigungen zum Basteln gefördert oder wenigstens nicht behindert hat, ganz zu schweigen von der Verfügbarkeit von Baumaterial, Säge, Nägeln etc. –, die Probanden mussten die Bank anscheinend bauen. Man denke sich statt des Bauens einer Gartenbank eine Straftat, meinethalben die Wegnahme eines Fischbrötchens, oder stelle sich vor, dass die Zwillinge in einem Land wohnten, in dem es (aus Naturschutzgründen) strafbar wäre, Gartenbänke um Bäume zu 63

Zur Chrakterschuld-Lehre von Herzberg s. bereits Fahl, ZRph 2012, 93, 116 f. – R. Merkel, Roxin-FS, 2011, S. 737, 746, schreibt dazu: „Ich glaube nicht, dass sich unser Problem so lösen lässt. Wenn die Determinismus-Prämisse stimmt und daher in einem handfesten Sinne niemand etwas für seine Handlungen kann, dann erst recht nicht für den Charakter, der unvermeidbar deren Motive erzeugt und sich in ihnen manifestiert.“ Plastisch formuliert: „Charakter ist Schicksal.“ 64 Der Mathematiker Laplace vertrat die Ansicht, dass für den, der alle Ursachen kennte, die Zukunft klar vor Augen läge, vgl. Laplace, Essai philosophique sur les probabilités, 1814, dt. Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeiten, 2. Aufl. 1996, S. 1 f.; s. zu ihm auch Hawking, Kurze Antworten auf große Fragen, 2018, S. 113 f. 65 Vgl. bereits Fahl, JA 2003, 757, 758; dens., ZRph 2012, 93, 116, Fn. 135. 66 Sauer, Kriminologie, 1950, S. 59 ff. 67 Aber selbst das kommt vor: Dreher (Fn. 3), S. 249, berichtet von einem fern voneinander lebenden Bruderpaar, das sich am selben Tag einer Blinddarmoperation unterziehen musste. Andere haben am selben Tage Kinder bekommen.

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bauen. Dann käme freilich noch ein anderes widerstreitendes Motiv (nämlich das Vermeiden von Strafe) hinzu, welches den Ausschlag geben mag, die Tat zu unterlassen (die „Jim-Twins“ waren beide vorübergehend ja als Hilfs-Sheriffs tätig) – oder auch nicht.68 Die Suche nach einem Verbrecher-Gen à la Lombroso69 – das noch dazu phänotypisch in der Kopfform hervortritt – hat sich als ein Irrweg herausgestellt, aber dass die Gene etwas mit dem Verbrechen zu tun haben könnten, dafür spricht einiges. Nehmen wir den von R. Merkel des Öfteren70 ins Feld geführten Fall des 40-jährigen amerikanischen Lehrers L., Familienvater und bisher ohne jeden Konflikt mit dem Gesetz, der plötzlich, quasi von einem Tag auf den anderen, pädophile Neigungen entwickelte, aufdringlich zu Frauen und Kindern wurde und schließlich wegen sexueller Belästigung angeklagt und verurteilt wurde. Erst danach stellte sich heraus, dass er einen hühnereigroßen Hirntumor im orbitofrontalen Cortex hatte, einem Areal, dessen Funktion als Zentrum für deviantes Verhalten bereits bekannt war. Nach der operativen Entfernung des Tumors verschwanden die pädophilen Neigungen. Von R. Merkel eigentlich für die Relevanz der modernen Hirnforschung für das Thema der Willensfreiheit angeführt, zeigt das Beispiel doch eher die Relevanz der Genetik für unser Thema auf, weiß man doch (bei manchen Krebsarten) oder vermutet zumindest, dass ihre Entstehung (zumindest auch) genetisch bedingt ist. Die entscheidende Frage aber stellt R. Merkel zu Recht, nämlich „was eigentlich diese Unordnung von der eines anderen tumorfreien, aber ebenfalls pädophile Neigungen erzeugenden Gehirns unterscheidet“, und er beantwortet sie m. E. zutreffend: „Die weitaus plausibelste Antwort lautet: nichts.“71 Würde man die „Jim“-Zwillinge gefragt haben, ob es ihr „freier Wille“ gewesen sei, sich eine runde Gartenbank zu bauen und im Vorgarten aufzustellen, und ob sie auch anders hätten handeln können, so würden das beide wohl bejaht haben. „Um die 68 Lange, Verbrechen als Schicksal, 1929, S. 36 f., berichtet von einem Bruderpaar, das fast zur gleichen Zeit eine schwere Straftat beging; s. auch Dreher (Fn. 3), S. 249. 69 Lombroso, Arzt, Psychiater und Begründer der Kriminalanthropologie, vertrat mit seiner Theorie vom geborenen Verbrecher eine biologisch-genetische Prädeterminierung des Menschen zum Bösen – laut „Wikipedia“ ausdrücklich mit dem Ziel, die aufklärerische Doktrin der Willensfreiheit zu reformieren; krit. dazu Hillenkamp, JZ 2005, 313, 318. 70 R. Merkel (Fn. 1), S. 105 ff.; s. auch ders., Roxin-FS, 2011, S. 737, 748; dazu auch G. Merkel, Herzberg-FS, 2008, S. 3, 18 f. 71 R. Merkel (Fn. 1), S. 106, wo er zugleich den Verdacht äußert, dass die meisten deutschen Gerichte im Fall L zur Schuldunfähigkeit gem. § 20 StGB gelangen würden, dagegen vermutlich wohl in kaum einem anderen Fall von Pädophilie, in dem außer der abweichenden Sexualneigung nicht auch noch eine (weitere) manifeste Erkrankung – wie der Tumor – vorläge; dazu auch Herzberg (Fn. 16), S. 108, der den Fall gerade für die Richtigkeit seiner Auslegung des § 20 StGB heranzieht (dagg. wiederum R. Merkel, Roxin-FS, 2011, S. 737, 748, mit der bemerkenswerten Frage: „Aber warum sollte ein und derselbe Grad an Pädophilie einmal eine krankhafte seelische Störung sein, das ander Mal nicht, je nachdem, ob ihm die Ursache X oder die Ursache Y [vielleicht sogar beide Male dieselbe Ursache: die Gene, Anm. des Verf.] zugrunde liegt?“).

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Entstehung dieses für unser Thema so wichtigen Irrtums speziell und aufs Deutlichste zu erläutern …“, schreibt Schopenhauer in seiner berühmten Preisschrift über die Freiheit des Willens, „wollen wir uns einen Menschen denken, der, etwa auf der Gasse stehend, zu sich sagte: Es ist sechs Uhr abends, die Tagesarbeit ist beendigt. Ich kann jetzt einen Spaziergang machen; oder ich kann in den Klub gehn; ich kann auch auf den Turm steigen, die Sonne untergehen zu sehen; ich kann auch ins Theater gehen; ich kann auch diesen, oder aber jenen Freund besuchen; ja, ich kann auch zum Tor hinauslaufen, in die weite Welt, und nie wiederkommen. Das alles steht allein bei mir, ich habe völlige Freiheit dazu; tue jedoch davon jetzt nichts, sondern gehe ebenso freiwillig nach Hause, zu meiner Frau. Das ist gerade so, als wenn das Wasser spräche: Ich kann hohe Wellen schlagen (ja! nämlich im Meer und Sturm), ich kann reißend hinabeilen (ja! nämlich im Bette des Stroms), ich kann schäumend und sprudelnd hinunterstürzen (ja! nämlich im Wasserfall), ich kann frei als Strahl in die Luft steigen (ja! nämlich im Springbrunnen), ich kann endlich gar verkochen und verschwinden (ja! bei 808 Wärme); tue jedoch von dem allen jetzt nichts, sondern bleibe freiwillig, ruhig und klar im spiegelnden Teiche.“72 Das gleiche Argument soll de Spinoza (1632 – 1677) kurz so ausgedrückt haben: Wenn ein geworfener Stein denken könnte, dann würde er, am höchsten Punkt seiner Bahn angekommen, zweifellos denken: „Und jetzt will ich wieder herunterfallen.“73 Und von Albert Einstein stammt die Allegorie: „Wäre der Mond auf seinem ewigen Kreislauf um die Erde mit Bewusstsein begabt, so wäre er fest davon überzeugt, er ziehe seine Bahn auf eigene Faust, auf der Grundlage einer Entscheidung, die er irgendwann ein für allemal getroffen habe.“74 „Ich kann tun, was ich will“, erläutert Schopenhauer, „ich kann, wenn ich will, alles, was ich habe, den Armen geben und dadurch selbst einer werden – wenn ich will! –, aber ich vermag nicht, es zu wollen; weil die entgegenstehenden Motive viel zu viel Gewalt über mich haben, als dass ich es könnte. Hingegen, wenn ich einen anderen Charakter hätte, und zwar in dem Maße, dass ich ein Heiliger wäre, dann würde ich es wollen können; dann aber würde ich auch nicht umhinkönnen, es zu wollen, würde es also tun müssen.“75 – Das nenne ich einen „genetischen Determinismus“. Denn der Mensch ist ja nicht „der Schöpfer seiner selbst, eine causa sui … 72

Schopenhauer, Preisschrift über die Freiheit des Willens, 2. Auflage 1860, S. 77. Zu ihm etwa Antweiler, Das Problem der Willensfreiheit, 1955, S. 70, mit dem Zitat: „Fallunter homines, quod se liberos esse putant; qua opinio in hoc solo consistit, quod suarum actionum sint conscii et ignari causarum, a quibus determinatur“ (Die Menschen täuschen sich, wenn sie sich für frei halten; diese Meinung ist allein darin begründet, dass sie sich zwar ihrer Handlungen bewusst sind, nicht aber die Ursachen kennen, von denen sie bestimmt werden). 74 Albert Einstein, About Free Will, in: Chatterjee (Hrsg.), The golden book of Tagore, 1931, S. 77 – zit. bei R. Merkel (Fn. 1), S. 28. 75 Schopenhauer (Fn. 72), S. 78: „Daher sind in allen Sprachen die Epitheta moralischer Schlechtigkeit … viel mehr Prädikate des Menschen als der Handlungen. Dem Charakter werden sie angehängt; denn dieser hat die Schuld zu tragen, deren er auf Anlaß der Thaten bloß überführt worden.“ 73

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Niemand legt sich selbst etwas in die Wiege, andere sind es, die den Menschen mit all seinen Anlagen erzeugen …“.76 Unter diesen Umständen erschiene mir ein Festhalten am geltenden Schuldstrafrecht undenkbar. Nur am Rande sei angemerkt, dass die suggestive Kraft der Allegorien auf der Wahl eines unbelebten Gegenstandes beruht: Vergliche man den Mann mit einem Huhn, das auf einem Hühnerhof das eine Korn oder das andere aufpickte, so würde Herzberg zwar noch immer sagen, dass (am Ende) irgendein Motiv den Ausschlag gegeben und das Huhn sich (zwingend) so und nicht anders habe entscheiden müssen (und sei es der Flügelschlag eines Schmetterlings).77 Aber es lassen sich auch andere Beispiele aus der Verhaltensbiologie anführen, die eher für die Indeterminiertheit auch manch tierischen Verhaltens sprechen, z. B. die Versuche des deutschen Neurobiologen Björn Brembs an Fruchtfliegen (das „heute-Journal“ berichtete). Brembs stellte fest, dass von 100 Fruchtfliegen sich 70 auf eine Lichtquelle zu und 30 davon wegbewegten. An der Verteilung 70/30 änderte sich aber – und das ist entscheidend, weil das Wegstreben offenbar nicht genetisch festgelegt war – auch nichts, wenn man nur die Gruppe dem Licht aussetzte, die vorher davon weggestrebt war.78 Nun ist Indeterminiertheit noch nicht Willensfreiheit, sondern kann sich auch als „Zufall“ entpuppen. So könnte den Fruchtfliegen ein „Zufallsgenerator“ eingebaut sein, der sie „zufällig“ in die eine oder andere Richtung streben ließe, was freilich eher eine 50/50-Quote erwarten ließe.79 Das spräche zwar gegen die (von Deterministen behauptete) durchgängige Geltung des Kausalgesetzes von Ursache und Wirkung in der Natur.80 Ein solcher Zufall wäre strafrechtlich aber niemandem zurechenbar. Zufälliges Geschehen kann man niemand aufs Schuldkonto setzen.81 Es besteht aber auch kein Grund, den Tieren Willensfreiheit abzusprechen und sie nur den Menschen zuzugestehen. Es stimmt nicht, dass jeder, der Willenfreiheit be76 Herzberg (Fn. 16), S. 102, gegen Kants These (Fahl, ZRph 2012, 93, 112 mit Fn. 117), der Mensch verschaffe sich seinen Charakter selbst; zur Chrakterschuld-Lehre s. bereits oben Fn. 63. 77 Vgl. Herzberg (Fn. 16), S. 19, mit dem Beispiel des Hundes, der hin und her gerissen zwischen der Lust zu apportieren und dem Abscheu vor dem Sprung ins kalte Wasser am Ende dem stärkeren Motiv nachgibt. 78 Brembs, Behavioural Process 87 (2011), 157 ff.; s. dazu auch Bröckers, Strafrechtliche Verantwortung ohne Willensfreiheit, 2014, S. 197 f. 79 Evolutionsbiologisch machte das übrigens Sinn, damit Raubtiere sich darauf nicht einstellen können. 80 Brembs und andere Verhaltensforscher sehen eine Erklärung des indeterminierten Verhaltens von Tieren in der Quantenmechanik, vgl. Bröckers (Fn. 78), S. 198; zur Quantenmechanik auch R. Merkel (Fn. 1), S. 26 f. (der dem jedoch keine für die Frage der Willensfreiheit relevante Bedeutung beimisst); zur Heisenberg’schen Unschärferelation (anders) bereits Fahl, ZRph 2012, 93, 114 f.; dagg. wiederum Herzberg, Frisch-FS, 2013, S. 95, 111. 81 So bereits Bockelmann, ZStW 77 (1965), 253; Fahl, ZRph 2012, 93, 110, Fn. 107. – Zur Notwendigkeit des Wiedererlernens der Akzeptanz von Unglück in der Welt, s. Fahl, JA 2012, 808 ff.

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hauptet, sie auf den Menschen beschränkt.82 Eine solche Beschränkung auf „besondere Herrentiere“, die Hominiden, wäre in der Tat befremdlich. Auch ich habe anderenorts lediglich gesagt, dass sich das Strafrecht aus dieser Frage – anders als aus der Frage der Strafbarkeit von Kindern83 – heraushalten kann, weil Tiere sich bei uns heutzutage (anders als im Mittelalter) nicht mehr strafbar machen können.84 Aber zurück zu den „Jim“-Zwillingen: Zwar könnte man sie noch immer anklagen und der Richter könnte sie verurteilen mit dem Argument, so wie es dem Täter vorherbestimmt gewesen sei, die Tat zu begehen, so sei es dem Richter vorherbestimmt, ihn dafür zu verurteilen.85 Aber gerecht wäre eine solche Strafe in meinen Augen nicht. Ein „Schicksal“ zu vergelten „wäre genauso ungerecht, wie wenn man unverschuldetes Kranksein oder eine angeborene Verkrüppelung ,vergelten‘ wollte“.86 Unter einem solchen Strafrecht möchte man genauso wenig leben wie unter einem ungerecht strafenden Gott, an den Erasmus nicht glauben wollte. Freilich möchte man sich die Alternative zu einem (repressiven) Strafrecht auch nicht ausmalen. Denn die könnte doch wohl nur in dem möglichst frühzeitigen Erkennen der Tat und der (präventiven) Ingewahrsamnahme liegen, soweit nicht das Erbgut schon im Vorhinein87 verändert werden könnte. Denn es müsste ja gelten, nicht nur weitere Taten zu verhindern – wie durch die operative Entfernung des Tumors des Lehrers L. –, sondern schon die erstmalige Begehung.88 Soweit sind wir aber (gottlob) nicht: Zwar gilt das menschliche Genom durch das 1990 in den USA ins Leben gerufene sog. Humangenomprojekt, das sich zum Ziel gesetzt hat, nach dem Genom von verschiedenen Tieren auch das Genom des Menschen zu sequenzieren, was bis dahin aufgrund der Fülle der Informationen – die DNA des Menschen enthält ungefähr drei Milliarden Basenpaare an Nukleinsäuren – für praktisch undurchführbar gehalten worden war, mit der Beteiligung von über 1.000 Wissenschaftlern in 40 Ländern inzwischen als „entschlüsselt“. Trotz „Ent82

So aber Herzberg, ZStW 2012, 12, 49. Insofern meint Herzberg (Fn. 16), S. 11, Indeterministen muteten dem Verstand die Vorstellung zu, dass die ursprünglich nicht vorhandene Willensfreiheit ab einem bestimmten Alter in das Kind hineinschieße – aber auch das stimmt nicht, s. Fahl, ZRph 2012, 93, 108. 84 Fahl, ZRph 2012, 93, 107. 85 Vgl. dazu etwa G. Merkel, Herzberg-FS, 2008, S. 3, 17; Schünemann, in: Grundlagen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 155, 166 – s. zu diesem „self defeating“-Einwand auch R. Merkel (Fn. 1), S. 36 f., insbes. Fn. 49. 86 Nowakowski, Rittler-FS, 1957, S. 55, 60 f. Das spricht natürlich auch gegen das Konzept von Herzberg, der meint, es bedürfe lediglich des Prinzips von Lob und Tadel, um darauf das Strafrecht zu gründen; hiergegen R. Merkel, Roxin-FS, 2011, S. 737, 742 f. 87 Hawking (Fn. 64), S. 104 f. glaubt, dass wir Menschen uns in Zukunft selbst „designen“ werden, dass es wahrscheinlich Gesetze dagegen geben werde und dass diese gebrochen werden werden. 88 Das ist „Science Fiction“. – In dem amerikanischen Spielfilm „Minority Report“ (2002) kommt der „Precrime“ genannten Polizeibehörde die Aufgabe zu, zukünftige Verbrecher festzunehmen, bevor sie die Tat begehen. Vgl. zu zu einem Prepunishment-System führenden Überlegungen auch Bröckers (Fn. 78), S. 350. 83

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schlüsselung“ des Genoms, die viele Jahre in Anspruch genommen hat, sagt uns die Aufeinanderfolge der Basenpaare, von denen immer drei zusammen zu lesen sind (Tripletts), jedoch noch immer wenig. Wir wissen zwar, welche Buchstaben und Worte aufeinanderfolgen, aber nicht, was sie bedeuten. Das gleicht dem Lesen in einem Buch, dessen Sprache wir nicht verstehen.

IV. Resümee Ich glaube also – anders als Herzberg, der sagt: „Nur der Determinist kann am Schuldstrafrecht mit gutem Gewissen festhalten“89 – nicht, dass unser Strafrecht die Uminterpretation im Hinblick auf ein deterministisches Weltbild schadlos übersteht.90 Ich meine aber auch nicht, dass zum Umbau unseres Strafrechts nach derzeitigem Wissensstand schon Veranlassung besteht. Das sieht R. Merkel anders. Für ihn besteht – anders als für Herzberg, der § 20 StGB nur im Hinblick auf seine deterministische Grundüberzeugung uminterpretieren will – die „richtige“ und zugleich „einzig ehrliche“ Lösung darin, § 20 StGB zu ändern.91 Die Feststellung eines „Andershandelnkönnens“ im Zeitpunkt des Ansetzens zur Tat hält R. Merkel nicht nur für kein erreichbares, sondern auch kein sinnvolles Ziel zur Klärung strafrechtlicher Verantwortlichkeit. An dieser „doppelten, nämlich faktischen wie normativen Fata Morgana“ sollten wir nicht festhalten, schreibt R. Merkel, gibt aber auch zu: „Im Alltagsverständnis des Begriffs meinen wir mit Schuld eben das, was der BGH in dem berühmten Beschluss seines Großen Senats vom März 195292 als Kriterium auch der strafrechtlichen Verantwortlichkeit festhält: höchstpersönliche Vorwerfbarkeit. Das setzt ein Dafürkönnen … voraus.“ Zustimmen möchte ich R. Merkel darin: „Das schließt ein vernünftiges strafrechtliches Schuldkonzept nicht aus … Aber es bedeutet auch, dass Menschen für etwas verantwortlich gemacht und bestraft werden, für das sie im strikten Sinne (vielleicht) nichts konnten.“93 Das macht das Schuldprinzip nicht illegitim, aber es „wirft jenen nicht vollständig aufhellbaren Schatten, den Gustav Radbruch mit seinem berühmten Satz vom schlechten Gewissen des Strafrichters gemeint hat.“94

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Herzberg, Frisch-FS, 2013, S. 95, 112. Vgl. auch Dreher (Fn. 3), S. 18, mit der Einschätzung, „dass unser Strafrecht in seiner geltenden Gestalt nur indeterministisch verstanden werden kann. Der Indeterminismus ist ihm immanent.“ 91 R. Merkel, Roxin-FS, 2011, S. 737, 759 f. 92 Siehe oben Fn. 4. 93 Zu Herzbergs Kritik daran s. o. Fn. 24. 94 R. Merkel, Roxin-FS, 2011, S. 737, 760 f. 90

Setzt Unrecht Schuld voraus? Von Urs Kindhäuser

I. Einleitung Die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Täter als schuldfähig anzusehen ist, beantwortet das Strafgesetzbuch negativ: Es nennt nur Bedingungen (§§ 19, 20), unter denen Schuld zu verneinen ist. Dieses legislative Vorgehen ist wissenschaftstheoretisch gesehen angemessen, da Fähigkeiten Dispositionen sind und Dispositionen die semantisch unangenehme Eigenschaft aufweisen, sich nicht definieren zu lassen.1 Die Zuschreibung einer Disposition besagt, dass sich ein beliebiges Objekt unter bestimmten Bedingungen in typischer Weise verhält. Eine Disposition manifestiert sich also in spezifischen, für sie symptomatischen Verhaltensweisen, die sich jedoch nicht abschließend festlegen und damit definitorisch einfangen lassen. Mit Hilfe einer gewissen Anzahl solcher Symptomsätze lässt sich die Disposition jedoch explizieren. Ein einfaches Beispiel: Wird die Disposition „biegsam“ einem Stock zugeschrieben, so impliziert dies die Aussage, dass sich das fragliche Stück Holz unter Anwendung einer richtig gewählten Kraft zu einer bestimmten Zeit biegt. Insoweit haben Dispositionsprädikate auch einen gesetzesartigen Charakter: Sie beziehen sich zwar nur auf ein bestimmtes Individuum, nennen aber notwendige oder hinreichende Bedingungen, unter denen sich dieses in der für die Disposition symptomatischen Weise verhält. Die Schwierigkeiten mit dem Prädikat „schuldfähig“ liegen nun darin, dass es nicht nur dispositioneller Natur ist, sondern dass es sich im Falle seiner Zuschreibung als Strafbarkeitsvoraussetzung gerade nicht in einer symptomatischen Verhaltensweise manifestiert hat. Dass sich ein Täter aus Unrechtseinsicht rechtmäßig statt – wie getan – rechtswidrig hätte verhalten können, ist ein irrealer Konditionalsatz, der ersichtlich nicht verifizierbar ist. Reinhard Merkel hält in seiner Abhandlung „Willensfreiheit und rechtliche Schuld“ der Strafrechtswissenschaft eindringlich die (unlösbaren) Schwierigkeiten vor Augen, an denen der Versuch, Schuldfähigkeit

1 Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, Bd. I., 1974, S. 123; zur Problematik Goodman, Fact, Fiction and Forecast, Indianapolis, 2. Aufl. 1965, S. 40 ff.; bezogen auf das Geist-Körper-Problem Ryle, The Concept of Mind, 1949 (Nachdruck 1970), Kap. V.

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positiv zu bestimmen, scheitert bzw. scheitern muss.2 Allerdings – und auch hierin ist Merkel uneingeschränkt zuzustimmen – kann sich das Strafrecht mit diesem Befund nicht abfinden, weil § 20 StGB einer solchen Resignation zwingend entgegensteht.3 Merkel hält Roxins Lösungsvorschlag, Schuldfähigkeit durch normative Ansprechbarkeit zu ersetzen, für plausibel.4 Nun ist allerdings auch Ansprechbarkeit eine Disposition, so dass sich Merkel, um nicht vom Regen in die Traufe zu kommen, mit der generell begründeten, aber nicht notwendig auch für die konkrete Tatbegehung nachweisbaren Zuschreibung der Disposition begnügen will. Er verdeutlicht dies am Beispiel der Disposition „zerbrechlich“:5 „Lässt man ein Glas auf den Boden fallen und es zerbricht dabei wider Erwarten nicht, sondern erst beim zweiten Fallenlassen, dann kann man völlig konsistent das Folgende sagen: (1.) Das Glas war bei seinem ersten Fall auf den Boden zerbrechlich; (2.) es ist aber nicht zerbrochen, und die Behauptung, unter absolut […] identischen Weltbedingungen hätte es aber zerbrechen können, ist gänzlich sinnlos; (3.) dennoch war es auch beim ersten Fall zerbrechlich; das hat (4.) die anschließende Manifestation dieser Disposition beim zweiten Fall deutlich gemacht.“ Nun wird sich nicht bestreiten lassen, dass die Eigenschaft des Glases, zerbrechlich zu sein, im Allgemeinen auch dann bestehen kann, wenn ein konkreter Test misslingt. Jedoch hat die Zuschreibung der Disposition für den Fall einer ausbleibenden Manifestation keinerlei (gesetzesartige) Erklärungskraft; im Beispiel ist das Glas beim ersten Fallen nicht zerbrochen und ist daher unter diesen Bedingungen auch nicht zerbrechlich. Wenn es also offen bleibt, ob sich der Täter unter den Bedingungen der konkreten Tat zu rechtmäßigem Alternativerhalten hätte motivieren lassen können, ist die Zuschreibung einer ansonsten gegebenen normativen Ansprechbarkeit unter Geltung des Tatschuldprinzips bedeutungslos. An der dispositionellen Struktur der Schuldfähigkeit und damit ihrer mangelnden Verifizierbarkeit bei notwendig fehlender Manifestation lässt sich nichts ändern, so dass eine Lösung des Dilemmas unter Berücksichtigung weiterer Gesichtspunkte zu suchen ist, insbesondere mit Blick auf den Zweck der Zuschreibung strafrechtlicher Schuld. Merkel führt in diesem Sinne als Grundaufgabe der Strafe die Restitution verletzter Normgeltung an.6 Der Schuldvorwurf wäre dann Ausdruck der durch das normwidrige Verhalten enttäuschten Erwartung, der Täter werde sich als rechtstreuer Normadressat rechtmäßig verhalten. Liegen dagegen im konkreten Fall akzeptable Gründe vor, unter denen auch von einem rechtstreuen Normadressaten kein rechtmäßiges Verhalten zu erwarten ist, offenbart die Tat kein Defizit an erwarteter 2 Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2. Aufl. 2014, S. 78 f., 95 f. und passim. – Zudem: Selbst wenn der Nachweis menschlicher Willensfreiheit generell gelänge, stünde der Konditionalsatz im konkreten Fall weiterhin im Irrealis. 3 Ebd. S. 110 ff. 4 Merkel, in: Heinrich u. a. (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis, FS Roxin, Bd. I, 2011, S. 737 (752 ff.). 5 Ebd., S. 753, Hervorhebungen im Text. 6 A.a.O. (Fn. 2), S. 128.

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Rechtstreue; der Täter hat sich nicht schuldhaft verhalten, das heißt: er hat die Verbindlichkeit der Norm für sein Handeln nicht negiert. Schuld ist, so gesehen, keine positive Größe, sondern ein Defizit, das sich im Ausbleiben zu erwartender Normbefolgung äußert. Ähnlich wie das Glas „enttäuscht“, weil es beim ersten Fall nicht zerbrochen ist, obwohl es für zerbrechlich gehalten wurde, so enttäuscht der Täter, weil er sich rechtswidrig verhalten hat, obgleich von ihm rechtmäßiges Verhalten zu erwarten war. Rechtstreue ist keine Eigenschaft, die einer Person zugeschrieben wird, sondern ein Maßstab, an dem sie gemessen wird. Dem realen Verhalten einer Person wird das Verhalten gegenübergestellt, das von ihr unter der Hypothese hinreichender Rechtstreue zu erwarten gewesen wäre. Diese Hypothese kann freilich nicht ins Blaue hinein formuliert werden, sondern muss auf der Annahme beruhen, dass die (positiven wie auch negativen) Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen die fragliche Person, wenn sie rechtstreu wäre, sich hätte anders verhalten müssen, als sie sich verhalten hat. Das entsprechende Programm zur Prüfung dieser intellektuellen, physischen und psychischen Voraussetzungen liefert der dogmatisch ausgearbeitete Verbrechensaufbau. Dass dieses Vorgehen allein auf den strafrechtlichen Schuldbegriff bezogen ist und insbesondere nichts zur Klärung der Bedingungen eines freien menschlichen Willes beiträgt, liegt auf der Hand. An die Stelle bewiesener Willensfreiheit tritt der bescheidene Nachweis, dass die Voraussetzungen vorlagen, unter denen von einem rechtstreuen Normadressaten ohne bestimmte psychische Defekte und ausgestattet mit den Kenntnissen und der Physis des konkreten Täters eine handlungswirksame Entscheidung zur Normbefolgung zu erwarten war. Mehr kann das Strafrecht als Institution zur Sicherung der Geltung elementarer gesellschaftlicher Normen nicht leisten. In diesem Zusammenhang stellt sich nun eine Frage, der im Folgenden nachgegangen werden soll: Kann eine Person, von der auch bei unterstellter Rechtstreue keine Normbefolgung zu erwarten ist, überhaupt Adressat einer Norm sein und sich normwidrig verhalten? Eine bejahende Antwort scheint sich unmittelbar aus § 20 StGB entnehmen zu lassen: Unrechtseinsicht hat Unrecht zum Gegenstand und kann nicht dessen Voraussetzung sein. Gleichwohl stellt eine in den letzten Jahren nach gut einhundertjährigem Schlaf wiedererwachte Verbrechenslehre in Abrede, dass sich Normwidrigkeit ohne Schuld denken lasse;7 schuldloses Unrecht sei logisch ausgeschlossen.8 Unter dieser Prämisse hätte das StGB als magna charta9 des Verbrechers ausgedient, da sich dem Einzelnen durch einen Blick ins Gesetz nicht mehr erschließe, was er bei Strafe zu unterlassen hat und was nicht. Denn der strafrechtliche Schuldvorwurf wird als Urteil über den Täter – und nicht des Täters über 7 Vgl. nur (mit teilweise erheblichen Unterschieden im Detail) Freund, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2009, § 4 Rn. 20 ff.; Lesch, Der Verbrechensbegriff, 1999, S. 277 f. und passim; Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012, S. 259 ff.; Rostalski in: Schneider/Wagner (Hrsg.), Normentheorie und Strafrecht, 2018, S. 105 ff. 8 Rostalski (Fn. 7), S. 105: eine contradictio in adjecto. 9 v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge II, 1905, S. 75, 80.

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sich selbst – verstanden. Von den Rechtsunterworfenen wird nur verlangt, Normen zu befolgen, aber nicht, über ihre Normbefolgungsfähigkeit zu räsonieren. Jedenfalls kann sich die vorherrschende Doktrin, die Rechtswidrigkeit und Schuld als voneinander verschiedene Konstituenten der Straftat betrachtet,10 nicht nur auf die gesetzlichen Regelungen des Allgemeinen Teils, sondern auch auf die Logik alltäglicher Situationen der Verhaltenskritik berufen. Gemeinhin wird die Frage, ob die Rechnung eines Schülers richtig ist, unabhängig von der Frage beantwortet, ob der Schüler aufgrund seiner derzeitigen mathematischen Fähigkeiten in der Lage ist, die Rechenaufgabe richtig zu lösen. Und die These, mathematische Regeln gälten nur für diejenigen, die in der Lage seien, sie anzuwenden, widerspräche wohl eklatant dem Alltagsverständnis. Dem Alltagsverständnis liegt also eine Unterscheidung zwischen der Beurteilung eines Verhaltens als richtig oder falsch und der Verantwortlichkeit für dieses Verhaltens durch Zuschreibung von Lob oder Tadel zugrunde. In diesem Sinne geht auch die vorherrschende Strafrechtsdoktrin von der Annahme aus, dass Normen allgemeingültige Regeln rechtlich richtigen Verhaltens sind, deren Missachtung jedoch nur dann sanktioniert werden darf, wenn von dem sich falsch Verhaltenden rechtmäßiges Verhalten erwartet werden durfte. Auch der Schüler wird ja für die falsche (!) Berechnung nur getadelt, wenn von ihm nach Maßgabe seines Ausbildungsstadiums erwartet werden konnte, dass er die Aufgabe richtig löst.

II. Die Norm als Ansprache Ein Argument gegen die Trennung von Rechtswidrigkeit und Schuld wird u a. aus einer kommunikativen Interpretation der Straftat hergeleitet:11 Der Täter verstoße gegen ein rechtliches Ge- oder Verbot und stelle damit „seine eigenen Maximen über die allgemeinen gesellschaftlichen“. Die Gesellschaft antworte auf diese Erklärung des Täters, indem sie durch die Strafe zum Ausdruck bringe, dass sie „an den gemeinsamen Vorschriften festhalten möchte – und sie daher dem Täter nicht Recht gibt“. Diese Kommunikation setze nun die Tauglichkeit des Täters als Gesprächspartner voraus. Insoweit kämen als Normadressaten „ausschließlich Personen in Betracht, die zur Normbefolgung fähig sind.“ Schuldlose bewegten sich dagegen „außerhalb der rechtlichen Ge- und Verbote“, weshalb ihr Verhalten keinen Verstoß gegen das Recht begründen könne. Ungeachtet der Plausibilität eines kommunikativen Modells der Straftat wird man ein Strafverfahren schwerlich als ein Gespräch zwischen Täter und Richter/Gesellschaft über die Frage interpretieren können, ob dem Täter „Recht zu geben“ ist oder nicht. Dem Täter fehlt jede Kompetenz, über die Kriterien der rechtlichen Bewertung seines Verhaltens zu verhandeln. Die Kommunikation kann also allein der Klärung 10 Beispielhaft Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 19 Rn. 1 ff. m. umf. N. 11 Zum Folgenden Rostalski, a.a.O. (Fn. 7), S. 105 ff.; Hervorhebung nicht im Text.

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zweier Fragen dienen: (1.) Kann das rechtswidrige Verhalten als dem Täter zurechenbare Erklärung verstanden werden, die Norm sei für ihn situativ unverbindlich gewesen? Bejaht werden kann dies, wenn begründet angenommen werden kann, es seien die Voraussetzungen erfüllt gewesen, unter denen von ihm bei unterstellter Rechtstreue rechtmäßiges Verhalten zu erwarten gewesen wäre; die Zurechenbarkeit setzt hierbei einen Erklärungsinhalt, scil. das rechtswidrige Verhalten, logisch voraus. (2.) Hat der Täter um der Restitution faktischer (nicht rechtlicher) Normgeltung willen die Kosten seiner Unverbindlichkeitserklärung zu tragen und – wenn ja – in welchem Umfang? Ein kommunikatives Straftatmodell in diesem Sinne erfordert offensichtlich, dass zwischen der Norm als Kriterium rechtlich richtigen Verhaltens und der Fähigkeit zu ihrer Befolgung zu differenzieren ist; die Normbefolgung ist als akzidentelles Ereignis kategorial verschieden von der allgemeingültig gesetzten Norm. Im Übrigen kann von einer Kommunikation zwischen Straftäter und Richter/Gesellschaft nur in einer uneigentlichen Sprache die Rede sein: Straftat und Bestrafung sind keine beliebigen Sprechakte. Vielmehr enthalten die Strafgesetze bereits ex ante den festgelegten Text, den Täter und Richter aufsagen, so wie Macbeth und Duncan die Worte Shakespeares auf der Bühne wiederholen. (Und die Fähigkeit der Schauspieler, den Text lebendig werden zu lassen, berührt ersichtlich nicht den Inhalt des Gesagten.) Allerdings soll der „Gesprächspartner“ des Täters nach dem oben genannten kommunikativen Modell nicht (nur) der Richter, sondern (auch) der Gesetzgeber sein. Genauer: Der Gesetzgeber richte seine Normen nur an Personen, die hierdurch ansprechbar und handlungswirksam motivierbar seien, also als taugliche Gesprächspartner in Betracht kämen.12 Diese These kann zweierlei bedeuten. Sie kann besagen, dass nur generell Schuldfähige Normadressaten seien, die sich im Einzelfall aber durchaus schuldlos rechtswidrig verhalten könnten. In dieser Deutung wäre die These belanglos, da sie nur den potenziellen Täterkreis – entgegen dem Wortlaut der §§ 19 f. StGB – einengte, ansonsten aber das Verhältnis von Rechtswidrigkeit und Schuld im Sinne der vorherrschenden Doktrin bestimmte. Gewichtig wäre die These dagegen, wenn sie die Qualität, Normadressat zu sein, auf den Tatzeitpunkt bezieht, also stets für den Tatzeitpunkt Schuld als Rechtswidrigkeitsvoraussetzung verlangte, so dass sich ex hypothesi auch ein nur temporär – etwa wegen eines schuldausschließenden Affekts – Schuldunfähiger nicht rechtswidrig verhalten könnte.13 Doch wie soll der Gesetzgeber den Adressatenkreis ex ante bestimmen, wenn der Schuldvorwurf erst ex post im Wege der Zurechnung erhoben und begründet wird? Die These, Rechtswidrigkeit setze Schuld voraus, scheint also Gefahr zu laufen, die ex ante an eine Person gerichtete Verhaltensanforderung mit dem ex post zu treffenden Urteil über die zu verantwortende Missachtung der Anforderung durch diese Person zu konfundieren. 12

Rostalski, a.a.O. (Fn. 7), S. 107. Nur in diesem Sinne wird die These von der „objektiven Unmöglichkeit schuldlosen Verhaltensunrechts“ (so der Titel von Rostalskis Abhandlung, a.a.O. [Fn. 7], S. 105) im Folgenden diskutiert. 13

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III. Die Norm als Befehl 1. Im modernen Strafrecht ist die begriffliche Verbindung von Unrecht und Schuld unter normtheoretischen Gesichtspunkten wohl zuerst von Adolf Merkel ins Gespräch gebracht worden:14 Recht ist für ihn eine geistige Macht, deren Gebote und Verbote – im Sinne autoritativer Willenserklärungen – sich an den Willen zurechnungsfähiger Menschen richten, so dass Unrecht nur in der Verletzung von Normen durch Zurechnungsfähige liegen könne, denen gegenüber sie gelten wollen. Dementsprechend richte sich auch der Umfang der Pflicht nach der Fähigkeit, sie zu erfüllen; Unmögliches lasse sich nicht bewirken, Unvorhersehbares nicht vermeiden. Naturgewalten wie Wahnsinnige seien gleichermaßen nicht imstande, Unrecht anzurichten.15 In diesem Sinne sieht auch Merkels Anhänger Hertz die Zurechnungsfähigkeit als logische Voraussetzung des Unrechts:16 Schuldloses Unrecht sei eine contradictio in adjecto, schuldhaftes Unrecht eine Tautologie.17 Die sog. Imperativentheorie hat diesen Ansatz im Wege einer Deutung der Norm als Befehl fortentwickelt, allerdings nicht als einheitliche Lehre. Thon, einer ihrer Wegbereiter und Hauptvertreter, begreift zwar das Recht als einen „Complex von Imperativen“ – in jedem Rechtssatz liege ein praeceptum legis –18, hält es aber aus zivilrechtlichen Überlegungen für möglich, dass sich die Imperative des Rechts auch an Unzurechnungsfähige richten.19 Hold v. Ferneck dagegen vertritt eine entschieden subjektivierte Interpretation des Unrechts, der zufolge nur der Zurechnungsfähige – i. S. eines durch Motive normal bestimmbaren Menschen – tauglicher Normadressat sein könne,20 mit der Folge, dass nicht zurechenbares Unrecht ein Widerspruch in sich sei.21 Stellungnahmen dieser Art, die hier nur beispielhaft erwähnt seien, stammen allerdings aus einer Zeit vor dem für die weitere Strafrechtsdogmatik entscheidenden Anstoß zu einem normativen Schuldbegriff durch v. Frank.22 Schuld im normativen Sinne versteht sich seither nicht mehr als täterbezogene Willensschuld, sondern als auch präventive Elemente umfassende Vorwerfbarkeit23 (von Unrecht!) oder gar als Derivat des Strafzwecks24.

14

Adolf Merkel, Kriminalistische Abhandlungen I, 1867, S. 42 – 56. Ebd., S. 47, 54; vgl. auch Kohlrausch, Irrtum und Schuldbegriff im Strafrecht, I, 1903, S. 51. 16 Hertz, Das Unrecht und die allgemeinen Lehren des Strafrechts, 1880, S. 3. 17 Ebd., S. 14. 18 Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht, 1878, S. 3, 8. 19 Ebd., S. 71 ff.; hiergegen Merkel, Grünhuts Zeitschrift VI (1879), 367, 383. 20 Hold v. Ferneck, Die Rechtswidrigkeit, I 1903, S. 104 ff., 355 ff.; II 1905, S. 3. 21 Ebd., I 1903, S. 351, wiederum: contradictio in adjecto. 22 Frank, Über den Aufbau des Schuldbegriffs, 1907, S. 9 ff. und passim. 23 Ausf. hierzu Roxin, a.a.O. (Fn. 10), § 19 Rn. 10 ff., 18 ff., § 20 Rn. 1 ff. m. umf. N. 24 Jakobs, Schuld und Prävention, 1976. 15

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2. Dass Adolf Merkels und seiner Nachfolger Konzeption gleichwohl heute wieder zum Leben erwacht, beruht auf der vermeintlichen Plausibilität des zur Begründung herangezogenen Befehlsmodells. Nach Hruschka25 impliziert die Aufforderung „Du sollst die Tür schließen!“, dass der Sprecher der Meinung sei, der Angeredete könne die Tür auch tatsächlich schließen.26 Sei es für die Beteiligten offensichtlich, dass der Befehlsadressat die Tür nicht schließen könne, dann sei der fragliche Befehl nur noch so zu verstehen, dass er in einer lingua obliqua gesprochen und also zynisch gemeint sei. Verallgemeinert: Aus jedem präskriptiv gemeinten Sollenssatz ergebe sich die Meinung des Sprechers, der Adressat der Forderung sei auch in der Lage, die Forderung zu befolgen.27 Wenn von einer Norm als einem Befehl die Rede ist, kann dies zweierlei bedeuten. Zum einen kann mit der Charakterisierung einer Norm als Befehl deren Funktion als Bestimmungsnorm bezeichnet werden. Der Ausdruck „Normbefehl“ verdeutlicht dann nur, dass es sich bei der fraglichen Norm um eine Verhaltensanweisung und nicht um eine Verhaltensbewertung handelt. Der Sache nach geht es insoweit – ganz harmlos – nur um eine façon de parler. Zum anderen kann mit der Bezeichnung einer Norm als Befehl auch deren Verständnis als ein bestimmter Handlungstyp gemeint sein. In diesem Sinne ist ein Befehl eine Sprechhandlung, durch die jemand einen anderen zu einem künftigen Verhalten veranlassen will. Sofern dieses Modell auf staatliche Normen angewandt wird, wird es auf einen – mehr oder minder metaphorisch personalisierten – Gesetzgeber bezogen, der mit Hilfe der von ihm erlassenen Normen seinen Willen zum Ausdruck bringt, wie sich die Rechtsunterworfenen zu verhalten haben. Rechtswidriges Verhalten stellt sich dann als Gehorsamsverweigerung oder Unbotmäßigkeit dar. Es sei hier dahingestellt, ob sich ein Rechtssystem als Komplex von Imperativen sinnvoll darstellen lässt.28 In jedem Fall dürfte auch nach diesem Modell das Sollen nicht aus dem Wollen der Autorität folgen, sondern Ausfluss einer übergeordneten Norm sein, die den Normgeber zur Normsetzung berechtigt und den Normadressaten zur Normbefolgung verpflichtet. Auch wäre es inadäquat, die für das Strafrecht bedeutsamen Erlaubnisse oder Freistellungen in Gestalt von Befehlen zu formulieren, sofern diese Regelungen als Normen begriffen werden.29 Ungeachtet der Einwände gegen eine Interpretation strafrechtlicher Verhaltensnormen als Befehle taugt das Befehlsmodell nicht als Stütze der These, dass eine Norm die Fähigkeit zu ihrer Befolgung logisch voraussetzt. Vielmehr zeigt gerade 25

Hruschka, Rechtstheorie 1991, S. 449, 453. Hare, auf den Hruschka verweist, bezeichnet das Verhältnis von Sollen und Können in diesem Kontext ausdrücklich nicht als logisches, sondern als praktisches, vgl. Freiheit und Vernunft, 1973, S. 67 ff., 70 f. 27 Hruschka, a.a.O. (Fn. 25), S. 453. 28 Grundlegende Kritik mit Blick auf Rechtssysteme bei Hart, The Concept of Law, Oxford, 2. Aufl. 1994, S. 18 ff. und passim. 29 Hierzu Kindhäuser, in: Dimitris Charalambis, jus, ars, philosophia et historia, FS Strangas, 2017, S. 317, 325 f.; Mañalich, Rechtsphilosophie 2015, S. 288, 297 ff., 308 ff. 26

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eine Deutung der Norm als Sprechakt des Befehls, dass diese These verfehlt ist. Dies wird deutlich, wenn man den Zusammenhang zwischen der Norm und dem staatlichen Anspruch auf ihre Befolgung sprechakttheoretisch analysiert. In J. L. Austins (einfachem) Sprechaktmodell,30 das im hiesigen Kontext zur Problemdarstellung ausreicht, sind bei einer Handlung mittels sprachlicher Äußerung drei Aspekte zu unterscheiden: der sprachliche Inhalt der Äußerung (die lokutionäre Rolle), die mit der Äußerung vollzogene Handlung (die illokutionäre Rolle) und die mit der sprachlichen Äußerung erzielte Wirkung (die perlokutionäre Rolle). Der Argumentation halber sei nun davon ausgegangen, das Verbot der Sachbeschädigung sei ein Imperativ, und zwar der Befehl eines personal gedachten Souveräns S an einen ihm unterstellten Untertan U; U wirft am nächsten Tag mit einem Stein eine (fremde) Fensterscheibe ein. Kann nun aus dem Befehl des S logisch abgeleitet werden, dass der Befehl nur gilt (oder gar nur existiert), wenn U hinreichend handlungs- und motivationsfähig ist, um ihn befolgen zu können? Bezogen auf den Befehl des S an U folgt aus dem Sprechaktmodell Austins: Die Äußerung des S, es sei für U verboten, fremde Sachen zu beschädigen, markiert die lokutionäre Rolle des Befehls. Es ist der Ausdruck dessen, was S will und U deshalb nicht tun soll. Die sprachliche Formulierung dieser Äußerung – gewissermaßen der Rechtssatz –, in dem der Inhalt des Befehls seine fassbare semantische Gestalt annimmt, lässt sich in zwei Elemente unterteilen: einen deontischen Operator und einen bestimmten propositionalen Gehalt. Der deontische Operator verdeutlicht den Modus des Befohlenen als verboten, geboten, erlaubt oder freigestellt; er zeigt im Beispielsfall ein Verbot an. Der propositionale Gehalt des geäußerten Satzes hat dagegen den Anwendungsbereich des Befohlenen zur Referenz, hier: das Beschädigen fremder Sachen. Insoweit kann die lokutionäre Rolle des Befehls wie folgt formuliert werden: „verboten: fremde Sachen zu beschädigen“. Zu einem Befehl wird die Äußerung des S jedoch erst dann, wenn auch die illokutionären Voraussetzungen des Sprechakts gegeben sind, also die pragmatischen Voraussetzungen, die für einen Befehl konstitutiv sind und erfüllt sein müssen, damit der Sprechakt überhaupt gelingen kann.31 Im hiesigen Kontext sind wenigstens zwei Voraussetzungen von Belang: Zum einen muss eine Hierarchie zwischen S und U bestehen – Gleichgeordnete können einander nichts vorschreiben –, zum anderen muss S erwarten können, dass U den Anspruch des S, das Verbot handlungswirksam zu befolgen, als ihn bindende Verhaltensanweisung handlungswirksam anerkennt, und sei dies auch nur, weil S aufgrund der ihm zustehenden Sanktionsgewalt den U zur Befolgung des Befehls veranlassen kann. Hätte U die Möglichkeit, die Äußerung des S folgenlos zu missachten, so handelte es sich nicht um einen Befehl, sondern allenfalls um eine Bitte oder einen unverbindlichen Wunsch.

30 Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words), 1986, S. 110 ff., 123 ff. und passim; hierzu auch v. Savigny, Analytische Philosophie, 1970, S. 89 ff. 31 Hierzu Searle, Sprechakte, 2. Aufl. 1986, S. 100 f.

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Die perlokutionäre Rolle des Sprechakts gehört dagegen nicht zu den konstitutiven Bedingungen seines Gelingens, sondern betrifft eine von ihm unabhängige Wirkung, das heißt hier: Ob U tatsächlich den Befehl befolgt oder nicht, berührt nicht die Frage, ob der Sprechakt hinsichtlich seiner lokutionären und illokutionären Rolle gelungen ist. Dass U im Beispielsfall eine fremde Scheibe einwirft, ändert nichts daran, dass S zuvor einen Sprechakt vollzogen hat, der (lokutionär und illokutionär) die Voraussetzungen eines Befehls erfüllt. Anhand dieser Analyse wird deutlich, dass die Frage, wie sich der Befehlsempfänger nach Maßgabe der geäußerten Präskription verhalten soll, unabhängig davon zu beantworten ist, ob er den Befehl erwartungsgemäß befolgen kann und wird. Die geäußerte Verhaltensanweisung und die mit der Äußerung verbundene Erwartung, der Verhaltensanweisung werde und könne nachgekommen werden, sind zweierlei. Jenes entspricht der lokutionären Rolle, dieses der illokutionären Rolle des Sprechakts. Auch ein Geisteskranker kann sich daher in einer Weise verhalten, die nicht gesollt ist, auch wenn er nicht über die Fähigkeiten verfügt, die von ihm die Befolgung des Befehls erwarten lassen. In diesem Fall wäre es freilich auch (pragmatisch) irrational, den Betreffenden für sein Fehlverhalten zu bestrafen. Denn die Sanktion dient der Absicherung der Erwartung, der Befehlsempfänger werde seine Fähigkeiten zur Befolgung des Befehls handlungswirksam einsetzen. Die Unterscheidung von Logik und Pragmatik in der Normentheorie ist keine analytische Spielerei, sondern hat – ernst genommen – Konsequenzen. Soweit es um Logik geht, sind in Reichweite des strafrechtlichen Garantieprinzips allein begriffliche Ableitungen zulässig. Nur solche Verhaltensweisen können normwidrig sein, auf die sich die Normproposition begrifflich bezieht; hierauf wird zurückzukommen sein. Anders verhält es sich im Bereich der Pragmatik: Hier eröffnen sich teleologische Räume, etwa zu den sich am Strafzweck orientierenden Erwartungen in den von einem rechtstreuen Normadressaten erwarteten Einsatz seiner Handlungs- und Motivationsfähigkeit zur Normbefolgung. Oder anders formuliert: Ob ein Verhalten verboten oder erlaubt ist, steht nach Maßgabe des propositionalen Gehalts der anzuwendenden Norm begrifflich fest; hier gilt das Korsett der begrifflichen Logik. Ob es dagegen „sinnvoll“ – d. h. am Strafzweck gemessen: rational – ist, von dem Adressaten einer Norm deren Befolgung zu erwarten, steht weder a priori fest noch lässt sich der fragliche Sinn dem Zweck der Norm selbst entnehmen. Diese Differenzierung ist beispielsweise für die Bestimmung des Verhältnisses von Rechtswidrigkeit und Schuld von großer Bedeutung. Exempla docent: In einem Warenhaus explodiert eine Bombe, eine Panik bricht aus, A und B kämpfen sich mit Gewalt durch das Menschengewühl auf der rettenden Freitreppe und stoßen dabei Menschen um, von denen mehrere – sowohl von A wie auch von B bewusst verursacht – ums Leben kommen. Für das Beispiel sei angenommen, dass die Merkmale von § 20 StGB für A und B gleichermaßen nicht erfüllt sind, beide also zum Tatzeitpunkt als hinreichend schuldfähig gelten und sich zudem – strafrechtlich gesehen – objektiv wie subjektiv parallel verhalten haben. Auch die

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Voraussetzungen von § 35 Abs. 1 S. 1 StGB sind für Awie B gleichermaßen gegeben. Jedoch ist A ein beliebiger Kunde des Kaufhauses, während B die Bombe gezündet hatte. Demnach ist A entschuldigt, während B sich wegen Totschlags strafbar gemacht hat. Die Lehre von der „Unmöglichkeit schuldlosen Unrechts“ sieht sich hier augenscheinlich vor ein unlösbares Dilemma gestellt, da der Grund, dessentwegen A schuldlos handelt, seine Normbefolgungsfähigkeit nicht aufhebt; anderenfalls dürfte B, dessen Lage sich insoweit von derjenigen des A ex hypothesi nicht unterscheidet, nicht strafbar sein. Das Argument, Normen richteten sich nur an Personen, die zu ihrer Befolgung fähig seien, liefe demnach ins Leere. Das rettende Argument, nur der Schuldunfähige, nicht aber auch der Entschuldigte schiede als Normadressat aus, führte zu der wenig einsichtigen Konsequenz, dass es zwar kraft Entschuldigung, aber nicht kraft Schuldunfähigkeit schuldloses Unrecht gebe; die Differenzierung zwischen Unrecht und Schuld bliebe also partiell bestehen. Der Grund, dessentwegen A entschuldigt wird, hat nichts mit (dem Ausschluss) der Fähigkeit zur Normbefolgung zu tun. Er hängt aber auch nicht unmittelbar mit dem Zweck der Norm zusammen. Wenn das Tötungsverbot dem Schutz von Menschenleben dient, dann können schwerlich die von A getöteten Personen weniger schutzwürdig sein als die Personen, die von B getötet wurden. Ungeachtet dessen berechtigt allein der Umstand, dass A und B ihr Leben retten wollen – bzw. sich in einer Situation befinden, in der Menschen unabhängig von ihrer tatsächlichen Motivationslage nach generellen Maßstäben ihr Leben retten wollen –, nicht dazu, gleichwertige Güter Dritter zu verletzen. Die Maßstäbe, nach denen sich das Urteil über die zurechnungsbegründende Fähigkeit, Normen zu befolgen, richtet, stehen allenfalls mittelbar in einem Zusammenhang mit dem Zweck der Norm, Rechtsgüter zu schützen.

IV. Norm und Tatbestand 1. Ein gewichtiges Argument zugunsten der These, Unrecht setze Schuld voraus, könnte sich auf den ersten Blick dem heute allgemein anerkannten Deliktsaufbau entnehmen lassen. Nach der vorherrschenden Doktrin ist beim Vorsatzdelikt ein sog. subjektiver Tatbestand der Rechtswidrigkeit vorgelagert; eine vordringende Meinung befürwortet diese Konstruktion auch für die subjektiven Fahrlässigkeitselemente.32 Deutet man nun den (subjektiven wie auch objektiven) Tatbestand als Normproposition, so umfasste der Norminhalt beim Vorsatzdelikt auch den Vorsatz. Ungeachtet der Frage, wie der Vorsatz hinsichtlich seiner voluntativen Kriterien zu definieren ist, gehören jedenfalls die auf das objektive tatbestandliche Geschehen bezogenen Kenntnisse und Prognosen des Täters zum Vorsatz, so dass sich hinsicht32 Hierzu Kindhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2017, § 13, § 33 Rn. 49 ff. m. umf. N.

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lich der intellektuellen Momente der Handlungsfähigkeit des Täters Norm und Normbefolgung nicht trennen ließen. Nun ist gerade Beling, dem Vater der Tatbestandslehre, eine präzise Unterscheidung zwischen Tatbestand und Deliktstypus zu verdanken. Nach Beling ist der Deliktstypus der Inbegriff der Elemente, die eine bestimmte Form der Straftat prägen.33 Beim Diebstahl etwa ist dies die vorsätzliche Wegnahme einer fremden Sache in Zueignungsabsicht. Werden diese Deliktsmerkmale verwirklicht, ohne dass die Tat situativ gerechtfertigt ist, so ist ein „typischer“ (strafwürdiger) Diebstahl gegeben. Dasjenige also, was die heutige (finalistisch geprägte) Lehre als aus objektiven und subjektiven Tatelementen zusammengesetztes tatbestandliches Unrecht ausweist, ist bei Beling das deliktstypische Unrecht. Dieses „Unrecht“ wird ex post konstituiert und ist als strafwürdiger Gegenstand des Vorwurfs, der gegen den Täter erhoben wird, auch einer komparativen Wertung zugänglich. Das Unrecht, für das der Täter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, kann mehr oder weniger gravierend sein. Bei dieser Wertung gehören Vorsatz und Zueignungsabsicht als subjektive „Unrechtselemente“ wesentlich zur Bestimmung der Typizität eines Diebstahls.34 Nach diesem Schema lernt auch der Student die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens zu prüfen. In einer lehrbuchmäßig angeordneten und didaktisch plausiblen Reihenfolge subsumiert er objektive und subjektive Elemente eines Geschehens unter die Merkmale des relevanten Deliktstypus. Mit einer normtheoretischen Analyse der Straftat darf jedoch diese Konstitution des strafrechtlichen Vorwurfs schuldhaften Unrechts nicht verwechselt oder gar identifiziert werden, was schon aus zwei Umständen erhellt. Ob ein Verhalten verboten oder erlaubt ist, ist Ergebnis einer klassifikatorischen Zuschreibung; Rechtswidrigkeit ist im Gegensatz zu Unrecht nicht steigerungsfähig. Ferner ist für die Formulierung des Verbots nur auf Merkmale des Grundtatbestands zurückzugreifen.35 Merkmale, die das Unrecht einer Tat nur steigern oder mindern, sind Kriterien der Strafzumessung, berühren aber die Rechtswidrigkeit des Täterverhaltens nicht. Dies gilt auch für den Vorsatz, der nach Beling zwar wesentliches Element des Deliktstypus, aber eben kein Merkmal des Tatbestands ist. Allerdings hat vor allem diese rein objektive und zugleich wertfreie Deutung des Tatbestands Belings Konzeption unverständlich erscheinen lassen. Wie sollte sich auch ein als „Wegnahme einer fremden beweglichen Sache in der Absicht, sie sich rechtswidrig zuzueignen“ geschildertes Geschehen als wertfreie Verhaltensbeschreibung verstehen lassen? Dass dies sinnvoll sei, hat Beling freilich auch nie behauptet, sondern hierfür den Begriff des Deliktstypus zur Hand gehabt, der von ihm ausdrücklich nicht als wertfrei gedeutet wird.36 33

Beling, Die Lehre vom Tatbestand, 1930, S. 3. Ebd. 35 Dass auch Sanktionsnormen handlungsleitend wirken können, hat Renzikowski, in: Saliger (Hrsg.), FS Neumann, 2017, S. 335 ff., aufgezeigt. 36 A.a.O. (Fn. 33), S. 2, 9 ff. 34

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Das Verständnis der Tatbestandslehre Belings wird durch den terminologisch eher unglücklich gewählten Begriff des Tatbestands erschwert, den Beling nur deliktssystematisch zu präzisieren versuchte, ihn aber gerade damit aus dem üblichen dogmatischen Wortgebrauch herausgerissen und zu einem eigenständigen theoretischen Begriff gemacht hat. Beling nennt den Tatbestand einen Leitbegriff, der das und nur das Geschehen beschreibt, auf das sich alle Kriterien der Rechtswidrigkeit und Schuld beziehen.37 Die Schuld umfasst wiederum nach seiner Konzeption alle Kriterien der (subjektiven) Zurechnung und damit auch den Vorsatz.38 Auch die Zueignungsabsicht kann beim Diebstahl folgerichtig nicht zum Tatbestand gehören. Denn wie soll die Zueignungsabsicht des Täters Gegenstand seines Vorsatzes sein? Der (Grund-)Tatbestand des Diebstahls hat daher nur die Merkmale „Wegnahme einer fremden beweglichen Sache“ zum Inhalt. Die Wertfreiheit dieses Tatbestands ergibt sich wiederum zwanglos aus dem Umstand, dass sich auf genau dieses Geschehen auch die Rechtfertigung bezieht, dass also das tatbestandliche Geschehen zugleich Gegenstand eines (allgemeinen) Verbots und einer (situativen) Erlaubnis ist. Wenn semantische Identität zwischen dem Inhalt eines Verbots und dem Inhalt einer Erlaubnis besteht, muss der den Inhalt von Verbot und Erlaubnis gleichermaßen formulierende Tatbestand notwendig wertfrei sein. Wie sich die Kollision zwischen Verbot und Erlaubnis beseitigen lässt, ist dagegen eine von der Bestimmung des Tatbestands unabhängige Frage.39 Wenn die Zueignungsabsicht und alle sonstigen subjektiven Unrechtsmerkmale keine Tatbestandsmerkmale (in Belings Terminologie) sind, als was sind sie dann zu behandeln? Nach Belings Konzeption ist zu differenzieren. Handelt es sich um subjektive Merkmale, die sich auf den Tatbestand beziehen – wie etwa der Vorsatz oder das Unrechtsbewusstsein –, sind sie als Zurechnungskriterien in der Schuld zu lozieren. Handelt es sich dagegen um subjektive Merkmale, die sich – wie die Zueignungsabsicht beim Diebstahl – nicht auf den Tatbestand beziehen, wohl aber die spezifische Strafwürdigkeit des Deliktstypus charakterisieren, deutet sie Beling als subjektive Strafbarkeitsbedingungen,40 dies durchaus berechtigt, da sie ja, wie auch die objektiven Bedingungen der Strafbarkeit, nicht Gegenstand der subjektiven Zurechnung sind. Mit Blick auf die Zueignungsabsicht bedeutet dies: Die Absicht gehört nicht zum Verbot, denn die Wegnahme einer fremden Sache ist auch dann rechtswidrig, wenn der Täter ohne Zueignungsabsicht handelt. Strafwürdig wird die Wegnahme einer fremden Sache freilich erst dann, wenn sie deliktstypisch in Zueignungsabsicht erfolgt. Die Zueignungsabsicht ist auch nicht Gegenstand einer Rechtfertigung, denn sie setzt schon begrifflich die Rechtswidrigkeit des angemaß37 Um den Leitbildcharakter des Tatbestands zu verdeutlichen, spricht Beling von dessen „regulativer“ Funktion, a.a.O. (Fn. 33), S. 16. 38 Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 178 ff.; vgl. insoweit auch den Wortlaut von § 59 RStGB. 39 Diese Kollision betrifft nicht den tatbestandlichen Inhalt, sondern die deontischen Operatoren der Normsätze. 40 A.a.O. (Fn. 38), S. 196.

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ten Eigenbesitzes voraus; bei Rechtmäßigkeit der Zueignung ist diese eo ipso nicht rechtswidrig und bedarf daher keiner Rechtfertigung mehr. 2. Belings Analyse eines zentralen Elements des Verbrechensbegriff, das er „Tatbestand“ nennt, lässt sich unschwer zur Lösung der im hiesigen Kontext behandelten normtheoretischen Problemstellung heranziehen. Denn der Tatbestand im Sinne Belings kann mit dem propositionalen Gehalt strafrechtlicher Verhaltensnormen gleichgesetzt werden.41 Beling zeigt, dass die Kriterien strafrechtlicher Zurechnung im Tatbestand nichts zu suchen haben, dass also die Kriterien der Befolgung von Normen nicht zum Inhalt der Norm gehören. Fraglos sind jedoch subjektive Elemente wie Vorsatz, Absichten oder Motive Eigenschaften, die das deliktstypische Unrecht der Tat, für die der Täter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, mitkonstituieren. Ein aus Hass begangener zielgerichteter Totschlag hat nach den Wertungen des Rechts ein ganz anderes Gewicht als ein aufgrund fahrlässiger Unachtsamkeit im Straßenverkehr verursachter Unfall mit Todesfolge. Doch ist die Norm, die das zum Tode führende Verhalten in beiden Fällen untersagt, jeweils das Verbot, einen anderen Menschen zu töten. Der propositionale Gehalt dieses Verbots ist der Tatbestand im Sinne Belings.42 Nunmehr lässt sich auch zeigen, warum die Bedingungen der Fähigkeit zur Befolgung einer Norm aus logischen Gründen nicht zum Inhalt der zu befolgenden Norm gehören können. Zunächst: Aus einer allgemeinen Normproposition lassen sich nach einer logischen Individualisierungsregel individuellere Propositionen ableiten, sofern die in Frage stehenden Individuenbegriffe den Allgemeinbegriffen unterfallen. Da die speziellere Normproposition begrifflich in der allgemeineren enthalten ist, kann sie auch wieder mit dem jeweiligen deontischen Operator verbunden werden. Aus der allgemeinen Norm „Es ist verboten, fremde Sachen zu beschädigen“ kann so die speziellere Norm „Es ist verboten, eine fremde Fensterscheibe zu beschädigen“ gewonnen werden. Ersichtlich gehört aber die konkrete Handlungs- und Motivationsfähigkeit, über die eine Person P verfügen muss, um das Verbot zu befolgen, nicht zu den spezifizierten Individuen, die in die Variablen der allgemeinen Norm eingesetzt werden können. Denn diese Fähigkeiten beziehen sich auf das befohlene Verhalten selbst. Die Einbeziehung dieser Fähigkeiten in den propositionalen Inhalt der Norm wäre deshalb als Verstoß gegen das Verbot der Selbstbezüglichkeit logisch unzulässig.43 Ein solches Verbot müsste etwa lauten: „Du sollst nicht bewusst und gewollt sowie im (vermeidbaren) Bewusstsein, dass es verboten ist, eine fremde Sache zu beschädigen, eine fremde Sache beschädigen, sofern Du in der Lage bist, den Willen zu bilden, das Beschädigen einer fremden zu Sache zu unterlassen!“

41

A.a.O. (Fn. 33), S. 9: alle Tatbestände sind beschreibenden Charakters, also noch ohne Wertung (d. h. modalen Operator). 42 Vgl. die Ausführungen zur Körperverletzung a.a.O. (Fn. 38), S. 197. 43 Vgl. hierzu nur Vogel, Norm und Pflicht bei unechten Unterlassungsdelikten, 1993, S. 41 f. m.w.N.

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Der logische Fehler, der in der Formulierung einer selbstbezüglichen Norm steckt, wird deutlich, wenn man versucht, sie auf die Entscheidungssituation anzuwenden, in der sich ein Normadressat zum Tatzeitpunkt befindet. Diese ex ante-Sicht darf nicht mit der ex post-Bewertung eines Geschehens, das Gegenstand eines Schuldvorwurfs ist, durch einen Dritten verwechselt werden. Anscombe hat den Unterschied zwischen beiden Standpunkten wie folgt analysiert:44 Hat jemand etwas Verbotenes getan, so erschöpft sich die Frage, ob er sich insoweit schuldig gemacht hat, nicht in einem Hinweis auf ein äußerliches Geschehen, sondern bezieht sich auch auf seinen Willen. Entsprechendes gilt jedoch nicht, wenn es um die Entscheidung geht, ob ein Verbot zu befolgen oder nicht zu befolgen ist. Die Entscheidung kann hier nicht lauten, ob dies oder jenes willentlich oder unwillentlich zu machen ist. Willentlichkeit45 ist vielmehr in der Entscheidung, ob dies oder jenes zu tun ist, vorausgesetzt. Oder anders formuliert: Willentlichkeit gehört nicht zum Inhalt der Norm, zu deren Befolgung oder Nichtbefolgung sich ihr Adressat entscheidet, sondern zur Beurteilung des verbotenen Verhaltens als gewollt, das Gegenstand des Schuldvorwurfs ist. In ähnlicher Weise greift auch v. Kutschera die Problematik auf:46 „Natürlich wird jeder versuchen, ein Gebot so zu befolgen, daß er das tut, was nach seiner Ansicht das Gebot erfüllt. Daraus folgt aber nicht, daß Gebote nur den Sinn hätten, daß man nach bestem Wissen und Gewissen etwas tun soll. Diese Deutung würde vielmehr in einen unendlichen Regreß führen: Bedeutet der Satz ,Die Handlung F von a ist richtig“ dasselbe wie ,a glaubt, daß seine Handlung F richtig ist‘, so bedeutet das seinerseits soviel wie ,a glaubt, daß er glaubt, daß seine Handlung F richtig ist‘ usf.“ Und v. Kutschera fährt fort: „Ebenso gilt: Will ich ein Gebot befolgen, so habe ich eine gute Absicht; deswegen ist es aber nicht mein Ziel, eine gute Absicht zu haben. Man kann also nicht Absichten, sondern nur Handlungen vorschreiben, wenn man sich nicht in einen unendlichen Regreß verstricken will.“

V. Sein und Sollen 1. Nun können die vorangegangenen Überlegungen zur Trennung von Norm und Normbefolgung jedenfalls dann nicht überraschen, wenn man mit Hume47 von der unaufhebbaren Geschiedenheit von Sein und Sollen ausgeht: Normen sind Sollenssätze, die Fähigkeit, Normen zu befolgen, demgegenüber Gegenstand einer Aussage über Seiendes. Nun „müssen“ aber Normen befolgt werden, wenn die von ihnen auf44 G. E. M. Anscombe, The Two Kinds of Error in Action, in: Ethics, Religion and Politics, Oxford 1981, S. 3, 7 f.; näher zu Anscombes Analyse Mañalich, The Grammar of Imputation, in: Joerden u. a., GS Hruschka, demn. 45 Ergänze: und die vom konkreten Wollen implizierten Kenntnisse. 46 v. Kutschera, Grundlagen der Ethik, 2. Aufl. 1999, S. 89 ff.; treffend insoweit auch Binding, Die Normen und ihre Übertretung, I, 2. Aufl. 1890, S. 53 f. 47 Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, 1906 (Nachdruck 1978), Drittes Buch, Erster Teil, 1. Abschnitt (am Ende).

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gezeigte deontische Welt real, das Recht also Wirklichkeit werden soll. Dem Prinzip „Sollen impliziert Können“ könnte daher Sinn zukommen, wenn es auf die praktische Notwendigkeit der Verwirklichung von Normen bezogen wird. Die Frage, wie strafrechtliche Verhaltensnormen befolgt werden „sollen“, lässt sich den im Allgemeinen Teil des StGB enthaltenen Regeln nicht entnehmen. Die Normen wiederum, die mit Hilfe der Merkmale der Straftatbestände (im Sinne Belings) zu formulieren sind, sagen zwar, welche Verhaltensweisen geboten oder verboten sind, nicht aber, was der Adressat einer solchen Norm zu tun oder zu unterlassen hat, um das Gebot oder Verbot zu befolgen. Normpropositionen sind eng gefasst und lassen sich – bei Anerkennung des strafrechtlichen Garantieprinzips – nicht über ihren Wortlaut hinaus ausdehnen. Beispielhaft: Wenn das Tötungsverbot untersagt, einen anderen Menschen zu töten, so untersagt es – dem streng einzuhaltenden Wortlaut nach – nicht, auf einen anderen Menschen zu schießen, um ihn zu töten. Bisweilen werden die strafrechtlichen Verhaltensnormen mit der Begründung freihändig umformuliert, der Adressat einer Norm müsse zum Tatzeitpunkt wissen, ob das, was er gerade tut oder unterlässt, verboten ist. Beispielsweise sei deshalb das Verbot, einen anderen Menschen zu töten, umzuwandeln in das Verbot, eine unerlaubte Lebensgefahr für einen anderen Menschen zu schaffen.48 Durch eine solche Abänderung des Verbots lässt sich das zugrundeliegende Problem jedoch nicht lösen. Stets folgt der Effekt, um dessentwillen etwas getan wird, diesem Tun nach. Und stets lässt sich erst mit dem Eintritt des Effekts das Tun mit dem Effekt zu einer Handlung unter einer bestimmten Beschreibung erfassen. Auch derjenige, der einen Ertrinkenden retten will, muss etwas tun, um zu retten – und das Tun allein ist noch keine Rettung. Ebenso gilt: Wer das Verbot, eine unerlaubte Lebensgefahr für einen anderen Menschen zu schaffen, befolgen will, muss sich in einer Weise verhalten, welche die (negativ beschriebene) Tatsache zur Folge hat, dass keine unerlaubte Lebensgefahr entsteht. Das Schaffen einer Lebensgefahr und das Wissen und Können, sich so zu verhalten, dass hierdurch keine Lebensgefahr geschaffen wird, entspricht strukturell völlig der Situation der Tötung eines anderen Menschen und dem Wissen und Können, sich so zu verhalten, dass hierdurch kein anderer Mensch zu Tode kommt. Kein Problem wirft zum Tatzeitpunkt gewöhnlich die Frage auf, was Gegenstand eines Verbots oder Gebots ist; es ist dies genau das Geschehen, auf das sich die Normproposition bezieht und das als kausaler49 Effekt eines Verhaltens nicht eintreten soll.

48

Exemplarisch Freund, a.a.O. (Fn. 7), § 2 Rn. 23 ff.; gewöhnlich wird die unerlaubte Gefahrschaffung (primär) als Zurechnungskriterium verstanden, vgl. Roxin, a.a.O. (Fn. 10), § 11 Rn. 44 ff. Hierauf sei nicht näher eingegangen. 49 Als „kausal“ seien der Einfachheit halber auch konventionale Effekte bezeichnet, etwa die Begründung einer Ehe durch ein „Ja-Wort“; Jaegwon Kim, in: Posch (Hrsg.), Kausalita¨ t, Neue Texte, 1981, S. 127 ff., spricht insoweit von „nicht-kausalen Beziehungen“.

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Problematisch kann dagegen die Bestimmung der Verhaltensalternative sein, die zu ergreifen ist, damit der kausale Effekt (nicht) eintritt, das Verbot bzw. das Gebot also befolgt wird. Die Beschreibung dieses Verhaltens fällt nicht unter die Beschreibung des Tatbestands, weil der Effekt zwar begrifflich vom Tatbestand erfasst wird, faktisch aber dem ihn bedingenden oder verhindernden Verhalten nachfolgt. Wie bereits beispielhaft erwähnt: Das von der Normproposition des Tötungsverbots genannte „töten“ ist erst mit dem Tod des Opfers realisiert, so dass sich das Verhalten des Täters in dem Zeitpunkt, in dem er auf das Opfer schießt, (noch) nicht als „töten“ beschreiben lässt. 2. Nun erscheint es recht haarspalterisch, das Schießen, durch das der Täter den Tod des Opfers herbeiführt, nicht bereits zum Tatzeitpunkt als Verstoß gegen das Tötungsverbot anzusehen. Denn es ist klar: Der Täter darf nicht schießen, wenn er das Tötungsverbot befolgen will. Es muss also zwischen dem zu unterlassenden Schießen und dem verbotenen Töten ein Zusammenhang bestehen, der jedoch nicht logischer Natur ist. Dieser Zusammenhang zeigt sich daran, dass ein de facto von einer potenziellen Tötung isoliertes (beliebiges) Schießen nicht unter Bezugnahme auf das Tötungsverbot zu unterlassen wäre. Die Verben „töten“ und „schießen“ sind ersichtlich bedeutungsverschieden. Wenn also der Täter das Schießen unterlassen soll, ist dieses „Sollen“ – im Folgenden „m“ genannt –, von dem Sollen des Tötungsverbots – im Folgenden „n“ genannt – zu unterscheiden. Was besagt nun „m“? Zunächst: „n“ gibt gewissermaßen das Ziel an, das von einem Normadressaten A erreicht werden soll, während „m“ ein hierzu notwendiges Mittel nennt. Insoweit erscheint es angemessener, bei der Formulierung von „m“ das deontische „sollen“ durch den Operator „müssen“ zu ersetzen. Das Recht verlangt von A nicht das Unterlassen des Schießens, sondern das Unterlassen des Tötens; um jedoch das Töten zu unterlassen, „muss“ A das Schießen unterlassen. Das Müssen, das Schießen zu unterlassen, folgt allein aus der Zielsetzung, unter den gegebenen Umständen das Töten des Opfers zu unterlassen. Das Müssen ist demnach Ergebnis einer rationalen Deliberation, die nicht auf einem normlogischen Schluss beruht – aus einem Sollen, das nicht wahr oder falsch sein kann, lässt sich nicht wahrheitsbewahrend auf ein Sein schließen –, sondern sich auf einen faktischen Zusammenhang bezieht. Die hier relevante faktische Zweck-Mittel-Relation wird noch deutlicher, wenn „n“ für ein Gebot steht, z. B. das Gebot, in Unglücksfällen Hilfe zu leisten. Droht eine Person P in einem See zu ertrinken, und kann A diese Person nur retten, wenn er hinschwimmt und sie aus dem Wasser zieht, so gilt für A „m“ mit dem Inhalt, zu P schwimmen und sie aus dem Wasser zu ziehen, wenn es für ihn kein anderes Mittel gibt, um das Gebot „n“ zu erfüllen. „m“ ist also selbst keine Präskription, sondern eine Konsequenz aus einer praktischen (rationalen) Deliberation zur Realisierung eines gesetzten Ziels. Mit anderen Worten: Das Müssen von „m“ ist Ausdruck praktischer Notwendigkeit. Eine Verhaltensanforderung, die darauf beruht, dass etwas Bestimmtes getan oder unterlassen werden muss, um ein gesolltes Ziel zu erreichen, nennt v. Wright ein

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„technisches Sollen“.50 Damit wird der instrumentelle Charakter von „m“ zur Realisierung von „n“ betont und zugleich die Verbindung zwischen dem Sollen des Ziels und dem Müssen des Mittels verdeutlicht. Denn „m“ ist elliptisch formuliert. Anders als das kategorische „n“ drückt „m“ kein unbedingtes Sollen aus, sondern ist hypothetischer Natur: „m“ zu tun oder zu unterlassen ist für A nur dann ein Müssen, wenn er „n“ befolgen will, wenn also das Gesollte das von ihm (dominant) Gewollte ist. Daraus ergibt sich weiterhin, dass „m“ nicht wie „n“ für alle Personen gilt, die Adressaten der Normen des deutschen Strafrechts sind, sondern lediglich für denjenigen Normadressaten verbindlich ist, der sich in einer bestimmten Situation befindet und über eine bestimmte Handlungs- und Motivationsfähigkeit verfügt. „m“ ist also situativ konkretisiert und hinsichtlich der erforderlichen Handlung individualisiert. Wäre A Nichtschwimmer, „müsste“ er im beispielhaften Unglücksfall auch nicht zum Ertrinkenden schwimmen; „m“ hätte dann einen anderen Inhalt (oder ließe sich – bei völliger Unfähigkeit, Maßnahmen zur Rettung zu ergreifen – nicht begründen: impossibilium nulla est obligatio51). Bezogen auf das „technische“ Sollen der Normbefolgung ist der Satz, dass „Sollen“ ein „Sein“ (Können) impliziert, durchaus sinnvoll. Das „Sollen“ von „m“ ist bedingt durch das Faktum eines (dominanten) Handlungswillens und kein von einem Sein unabhängiges Sollen; es ist Ausdruck einer praktischen Notwendigkeit, die sich aus dem Wollen eines kategorischen Gesollten ergibt. „m“ verbindet damit das Sollen der kategorischen Norm mit dem So-Sein einer individuellen Person in einer konkreten Situation. Genauer: „m“ bindet einen bestimmten Normadressaten an eine Norm nach Maßgabe der ihm möglichen und von ihm erwarteten Leistungsfähigkeit. Diese Gebundenheit einer Person an eine Norm sei Pflicht genannt. In diesem Sinne lassen sich Normen als Verpflichtungsgründe für Handlungen verstehen.52 Die Pflicht zur Befolgung einer Norm lässt sich mit Hilfe eines praktischen Syllogismus bestimmen.53 Ein solcher Schluss ist formal dem logischen Syllogismus54 nachgebildet, jedoch ist bei ihm die Konklusion im Unterschied zum logischen Schluss-Schema nicht begrifflich bedingt, sondern resultiert aus der Verknüpfung von Zweck und Mittel und impliziert daher keine logische, sondern eine praktische Notwendigkeit. Der praktische Syllogismus nennt in der Oberprämisse die Norm-

50

G. H. v. Wright, Is and Ought, in: Bulygin u. a. (Hrsg.), Man, Law and Modern Forms of Life, Dordrecht 1985, S. 263, 275 f. 51 Celsus D. 50.17.185. 52 Grundlegend hierzu Raz, Praktische Gründe und Normen, 2006, S. 33 und passim. 53 v. Wright Handlung, Norm und Intention, 1977, S. 42 ff.; vgl. auch Anscombe, Praktisches Schlussfolgern, in: Aufsätze, 2014, S. 15 ff.; vgl. auch Bung, Wissen und Wollen im Strafrecht, 2009, S. 136 ff. und passim, der jedoch den praktischen Syllogimus nicht für die Normbefolgung, sondern für das deliktstypische Verhalten nach finalistischer Manier fruchtbar machen will. 54 Vgl. nur Essler, Einführung in die Logik, 2. Aufl. 1969, S. 41 ff.

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Proposition als gewolltes Ziel und in der Konklusion das pflichtgemäße Verhalten.55 Verbunden werden Oberprämisse und Konklusion durch die in der Unterprämisse genannten Kenntnisse und physischen Fähigkeiten des konkreten Normadressaten, soweit sie für die jeweilige Handlung relevant sind. Im Falle eines Gebots hat der Schluss folgende Grundform: - Oberprämisse: Ein Normadressat A will (das gebotene) n tun. - Unterprämisse: A nimmt an, dass er n (nur) erfüllen kann, wenn er m56 tut. - Konklusion: Also muss A m tun. Bei den Begehungsdelikten ist die Vornahme einer Handlung, die den Tatbestand verwirklicht, verboten und damit das Ergreifen irgendeiner rechtmäßigen Verhaltensalternative geboten. Als Konklusion des entsprechenden praktischen Schlusses kommt daher jedes rechtmäßige Verhalten in Betracht, das als Unterlassen des tatbestandsverwirklichenden Tuns anzusehen ist. Für einen Normadressaten, der (dominant) gewillt ist, ein strafrechtliches Verbot zu befolgen, hätte der praktische Schluss somit folgende Gestalt: - Oberprämisse: Ein Normadressat A will (das verbotene) n unterlassen. - Unterprämisse: A nimmt an, dass er n nur (sicher) unterlassen kann, wenn er m unterlässt. - Konklusion: Also muss A m unterlassen. 3. Die Fähigkeit zur Normbefolgung verlangt vom Adressaten einer Norm zweierlei: Er muss über die in der Unterprämise genannten Kenntnisse und über das in der Konklusion genannte physische Können verfügen, um in der Lage zu sein, die in der Oberprämisse genannte hypothetische Intention zu realisieren. Und er muss in der Lage sein, die Intention der Oberprämisse zu bilden und dominant in die Tat umzusetzen. Man kann die erstgenannte Fähigkeit als Handlungsfähigkeit und zweitgenannte Fähigkeit als Motivationsfähigkeit bezeichnen. Fähig, eine Handlung zu vollziehen, ist demnach, wer intellektuell und physisch in der Lage ist, die entsprechende Handlungsintention zu realisieren; motivationsfähig ist, wer in der Lage ist, diese Intention zu bilden und konkurrierenden Wünschen und Intentionen handlungswirksam vorzuziehen. Ob die Voraussetzungen der Handlungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt erfüllt sind, lässt sich ex post im Rahmen des forensisch Möglichen feststellen, nicht aber die erforderliche Motivationsfähigkeit. Sie kann nur, wie eingangs angesprochen, als hinreichende Rechtstreue erwartet werden, soweit kein Schuldausschließungs- bzw. Entschuldigungsgrund gegeben ist. 55

Gebote und Verbote lassen sich auch als das Sollen formulieren, ein Geschehen unter der Beschreibung eines Tatbestands zu verhindern bzw. zu vermeiden, vgl. insoweit Kindhäuser, in: Barton u. a. (Hrsg.), FS Fischer, 2018, S. 125, 135 f. 56 Bei gleichermaßen effizienten Handlungen kann m auch durch eine Disjunktion ersetzt werden (z. B. m1 oder m2 oder m3), mit der Folge, dass von A eine der disjunktiv verbundenen Handlungen ausgeführt werden „muss“.

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Es liegt nun auf der Hand, dass einer Person ein normwidriges Verhalten – also ein Verhalten, das unter die Beschreibung eines Tatbestands (im Sinne Belings) fällt – nur als Pflichtverletzung zurechenbar ist, wenn von ihr eine pflichtgemäße Normbefolgung zum Tatzeitpunkt erwartet werden konnte. Handlungs- und Motivationsfähigkeit nach Maßgabe hinreichender Rechtstreue sind demnach zugleich die Kriterien der subjektiven Zurechnung ex post. In der gängigen Dogmatik werden die Elemente der Handlungsfähigkeit im Rahmen eines sog. subjektiven Tatbestands (als sog. Handlungsunrecht) und die zurechnungsrelevanten Elemente der zu erwartenden Motivationsfähigkeit im Rahmen der sog. Schuld geprüft. Die Vertreter der kausalen Lehre verstanden demgegenüber die sog. Schuld als Ort beider Zurechnungskriterien, ohne dass hiermit funktional ein Unterschied verbunden gewesen wäre.57 Eine Trennung zwischen Rechtswidrigkeit als dem Zurechnungsgegenstand und Schuld (samt Handlungsunrecht) als Inbegriff der Zurechnungskriterien ist demnach aus normtheoretischen Überlegungen erforderlich. Sie entspricht aber auch den Regelungen des Strafgesetzbuches, wie sich etwa der Formulierung des Vollrauschtatbestands (§ 323a) entnehmen lässt. Nur weil es eine rechtswidrige Tat gibt, für die der Täter mangels Verantwortlichkeit nicht bestraft werden kann, kann er für seine mangelnde Verantwortlichkeit strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Die Existenz einer rechtswidrigen Tat muss sich also logisch unabhängig von ihrer Zurechenbarkeit zur Schuld feststellen lassen.

VI. Koinzidenzprinzip Die Unhaltbarkeit der These, für einen (im Tatzeitpunkt) Schuldlosen gebe es aufgrund seiner mangelnden Schuldfähigkeit gar keine Norm, die er zu befolgen hätte, zeigt sich schließlich noch in solchen Fällen, in denen Ausnahmen vom Koinzidenzprinzip durch „Vorverlagerung“ gemacht werden (können). Es sind dies die Fälle, in denen sich der „Täter“ nicht auf eine fehlende Voraussetzung seiner Fähigkeit zur Normbefolgung berufen kann, weil von einem rechtstreuen Normadressaten unter den gegebenen Umständen zu erwarten war, dass er das fragliche Defizit hätte zuvor beseitigen „müssen“.58 Dies gilt namentlich, wenn der Normadressat dieses Defizit bewusst herbeigeführt oder nicht beseitigt hat. Alle einschlägigen Regelungen, die Verantwortungszuschreibungen vor (unannehmbaren) „Unfähigkeitseinreden“ absichern, beruhen auf der Möglichkeit, den Gegenstand der Zurechnung von den Kriterien der Zurechnung zu isolieren und so die Zurechnungskriterien auf Zeitpunkte vor der Tatbegehung zu beziehen. Beispielhaft hierfür sei der „vermeidbare“ – d. h. bei Einhaltung erwarteter Sorgfalt nicht vorhandene – Verbotsirr57

Der Unterschied wirkt sich nur bei der Anordnung der Rechtfertigungskriterien aus. Es geht bei dieser „außerordentlichen“ Zurechnung um ein „Müssen“ mit Surrogatfunktion, das gewöhnlich als Sorgfaltspflicht bezeichnet wird, näher Kindhäuser, in: Hefendehl u. a. (Hrsg.), FS Schünemann, 2014, S. 143 ff.; grundlegend für die neuere Diskussion Hruschka, ZStW 96 (1984), S. 661 ff. 58

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tum angeführt. Weder schreiben Normen (selbstbezüglich) ihre eigene Kenntnis vor, noch gibt es Normen, die Unrechtsbewusstsein verbieten. Wissen ist weder rechtmäßig noch rechtswidrig; allenfalls das äußere Verhalten zur Wissenserlangung ist rechtlicher Normierung zugänglich. Wer sich daher zum Tatzeitpunkt in einem Verbotsirrtum befindet, hat zu diesem Zeitpunkt kein Unrechtsbewusstsein, unabhängig davon, ob dieser Irrtum für ihn vermeidbar war oder nicht. Wird das Unrechtsbewusstsein als notwendige Schuldvoraussetzung angesehen, so ist der Täter nach Maßgabe des Koinzidenzprinzips im Tatzeitpunkt schuldlos, mit der Folge, dass es nach der Lehre vom schuldhaften Unrecht zu diesem Zeitpunkt mangels Normkenntnis auch keine Norm gäbe, gegen die er verstoßen könnte. Den Normverstoß (im Falle eines vermeidbaren Verbotsirrtums) bereits auf den Zeitpunkt vorzuverlegen, in dem sich der Täter Kenntnis des Verbots hätte verschaffen können, ist nicht möglich, weil er sich diese Kenntnis mangels entsprechender Norm nicht hätte verschaffen müssen. Wer würde sich im Übrigen um die Kenntnis einer Norm bemühen, die lautet: „Das Verbot, x zu tun, gilt nur für denjenigen, der dieses Verbot kennt“? Kann – wie im Falle von § 17 StGB – dem Wissen vermeidbares Unwissen gleichgestellt werden, so heißt dies: Faktische Normbefolgungsunfähigkeit hindert nicht per se die Zuschreibung von Verantwortlichkeit für rechtswidriges Verhalten; das Recht kann auch Normbefolgungsunfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat ignorieren. Deshalb mag es zwar inakzeptabel sein, einen 12-jährigen (mit belastender Folge) so zu stellen, als sei er volljährig – für mangelndes Alter ist niemand zuständig –, wohl aber kann ein Steuerungsunfähiger als steuerungsfähig gelten, sofern er das hierfür relevante Defizit zu vertreten hat; Verantwortlichkeit kann nach allgemeinen Zurechnungsprinzipien nicht mit zu verantwortender Unverantwortlichkeit entkräftet werden. Ob und inwieweit die lex lata dem entspricht, steht auf einem anderen Blatt. § 17 StGB zeigt jedenfalls, dass faktische Normbefolgungsfähigkeit im Tatzeitpunkt nach den Regeln des Allgemeinen Teils keine notwendige Bedingung von Rechtswidrigkeit sein kann.

Das Anderskönnen in der strafrechtlichen Schuldlehre Von Rolf Dietrich Herzberg

I. Was heißt „Willensfreiheit“? 1. Merkels Definition Reinhard Merkel nennt die Frage nach den Voraussetzungen der Schuldfähigkeit „ein Ewigkeitsthema des Strafrechts“. Denn sie werfe „das Problem der Willensfreiheit auf“, das „manche Philosophen“ ansähen als „das meisterörterte und meistumstrittene in der Geschichte der abendländischen Philosophie“. Dem Gegenstand des Problems gibt Merkel eine Definition, die er „im Einklang mit dem allgemeinen Sprachverständnis und […] der gesamten Strafrechtswissenschaft“ sieht: „,Willensfreiheit‘ bei (oder zu) einem konkreten Handlungsentschluss“ sei zu verstehen „als die Möglichkeit des Handelnden, sich ceteris paribus auch anders zu entscheiden, nämlich sein Handeln zu unterlassen bzw. etwas anderes zu tun“.1 Ob frei oder unfrei, ich will tun, was der Jubilar von mir erwartet, d. h. seine abstrakte Aussage mir selbst und dem Leser sofort konkret veranschaulichen. Was heißt denn also „Willensfreiheit“ für den Täter einer rechtswidrigen Handlung, z. B. für Frau F im Drogeriemarkt, die ein Fläschchen Parfüm stiehlt, indem sie es in die Manteltasche steckt? Es bedeutet, kurzum, ein „Anderskönnen“ der F, oder ausführlicher und mit Merkels Worten: Es heißt, dass F angesichts des Parfüms sich „auch anders zu entscheiden die Möglichkeit“ hatte, dass sie die Straftat auch hätte vermeiden können, sei es durch schlichtes Unterlassen oder durch korrektes Einlegen in den Warenkorb. Merkel spricht hier – unter Vorbehalt – vom „Schuldfähigkeitskriterium des Andershandelnkönnens“, abgekürzt „PAM“ für „Prinzip der alternativen Möglichkeiten“.2 Der springende Punkt in Merkels Definition ist aber die Voraussetzung, dass die Frau die Möglichkeit, „sich anders zu entscheiden“, unter sonst gleichen Umständen (ceteris paribus) gehabt haben muss. Dies zu fordern ist im Prinzip selbstverständlich. Wer die Willensfreiheit allgemein und im konkreten Fall für F bestreitet, wird nicht dadurch widerlegt, dass man ihm banalerweise vorhält, F hätte den erwogenen oder schon beschlossenen Diebstahl doch gewiss vermeiden können (und tatsächlich vermieden), wenn sie sich kurz vor der Tat von einer Angestellten scharf beobachtet gefühlt hätte. Es geht ja um die Frage des Anderskönnens im jeweils wirk1 2

Festschrift für Claus Roxin, 2011, S. 737. (Fn. 1), S. 739.

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lichen Fall. Hier lag er so, dass F überzeugt war, das Parfüm unbeobachtet und ohne Risiko einstecken zu können. Aber ergibt sich eine für unsere Frage entscheidende Fallauswechselung auch dann, wenn wir uns vorstellen, F hätte, zum Diebstahl neigend, ohne äußeren Anstoß zuletzt einen anderen psychischen Prozess durchlaufen, hätte z. B. plötzlich mehr Angst oder starke Gewissensbisse empfunden und sei schließlich doch mehr gehemmt als geneigt gewesen? Ich verstehe Reinhard Merkel so, dass er auch hier das „ceteris paribus“ nicht erfüllt sähe, und ich gebe ihm recht. Zu den Umständen, unter denen F stiehlt, gehören auch die seelischen Befindlichkeiten, woraus der die Hemmung überwiegende Antrieb erwächst, und die Umstände sind andere, wenn psychische Bewegungen den Antrieb so schwächen, dass er die Hemmung nicht mehr überwiegt. Es beweist nicht die Willensfreiheit vor der letzten Entscheidung, dass jemand den beschlossenen Diebstahl doch noch vermeiden kann (und tatsächlich vermeidet), weil er beim Ansetzen zur Tat in Panik gerät. Aber die Panik ist schon ein extremer Fall. Es bedarf hier einer ganz allgemeinen Klarstellung: Das Abwägen und Schwanken vor einer Entscheidung ist keine Ausübung von Willensfreiheit. Ob willentlich und reflektiert betrieben oder bloßes Geschehen, ob in einem menschlichen oder tierischen Gehirn stattfindend, hier geht es noch um das Schaffen und Entstehen der Motivationslage, woraus die Entscheidung hervorgeht, und erst diese stellt uns vor die Frage, ob sie vom Motiv erzwungen oder in Freiheit getroffen wird. 2. Zu Burkhardts Lehre vom Freiheitserlebnis Aber der einen Klarstellung muss eine zweite folgen: Es gibt hier keine begriffliche und terminologische Verbindlichkeit. Wer besonderen Herrentieren, wenn sie erwachsen und „normal“ sind, Willensfreiheit oder auch nur den Glauben daran zuschreibt, kann das begründen mit dem normal-menschlichen und alltäglichen „Freiheitserleben im Vorfeld“. Und es überrascht nicht, dass Burkhardt, der eine „Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit“ verficht und „die Grundlage des Schuldvorwurfs“ nicht im Anderskönnen, sondern im „Bewusstsein des Anderskönnens“ sieht,3 in diesem Vorfeld fündig wird. „Praktisches Denken“, schreibt er, bezweckt „die Beantwortung der Frage: Was soll ich tun? Wer diese Frage (ernsthaft) stellt, wer also vor einem Entscheidungsproblem steht, der erlebt die Zukunft als offen und sich selbst als frei. Er setzt voraus, dass es verschiedene Handlungsmöglichkeiten gibt, dass er zwischen diesen Möglichkeiten wählen kann und muss und dass der zukünftige Zustand der Welt (auch) von seiner Wahl abhängt“. Einem naheliegenden Einwand beugt Burkhardt eine Seite später mit der Behauptung vor: In so einer Lage „erlebe ich nicht nur, dass ich so oder anders handeln kann, wenn ich will, ich erlebe auch, dass ich so oder anders entscheiden (wollen) kann. Das eine

3 Eser/Burkhardt, Juristischer Studienkurs, Strafrecht I, 4. Aufl., 1992, Nr. 14 A 26 (und an sehr vielen anderen Stellen).

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lässt sich vom anderen gar nicht trennen“.4 Diese Untrennbarkeit bestreite ich. Z. B. angesichts der Fensterscheibe des Nachbarn, die mit einem Steinwurf zu zertrümmern mich mein erboster Enkel auffordert. Ich erlebe dann nur mein Lächeln darüber, dass ich dies tun könnte, wenn ich es wollte (denn da liegt ein Stein). Dass ich es aber auch wollen könnte, d. h. mich dazu entschließen könnte, das erlebe ich nicht. Diese Entscheidung zu treffen, weiß ich mich unter den gegebenen Umständen so unfähig, wie ich unfähig bin, drei Meter in die Höhe zu springen. Konsequent denkende Deterministen werden Burkhardts Betonung der „subjektiven Freiheit“ und des „Erlebens von Freiheit“ entgegenhalten, dass das subjektive Erleben keine objektive Grundlage habe; alles Fühlen, Bedenken, Abwägen, jede Regung des Begehrens oder des Gewissens, jede Besorgnis und jedes Beiseitewischen, all das ereigne sich im Kopf des deliberierenden Subjekts ursächlich bedingt und darum mit Notwendigkeit. Burkhardt wird antworten, das möge so sein, aber für seinen Subjektivismus spiele die objektive Lage keine Rolle. Das ist in sich schlüssig, doch fragt sich, ob die Prämisse stimmt. Burkhardt verschließt die Augen vor dem Gegenphänomen des Erlebens von Unfreiheit. Man fühlt sich im Stadium des Überlegens keineswegs immer als souveräner Autor der Entscheidung, die in offener Zukunft bevorsteht und die man höchstselbst so oder so treffen wird. Man kann sich auch in einer passiven Rolle sehen, was unsere Sprache in Worten und Metaphern anschaulich zum Ausdruck bringt. Ich „schwanke“ noch (wie ein „Rohr im Winde“, wie ein Baum im Sturm), „es treibt mich um“, ich fühle mich „hin und her gerissen“, plötzlich „schoss es mir durch den Kopf“. Und man erlebt auch die Zukunft nicht immer als „offen“. Zwar mag man sich durchaus ernsthaft das Für und Wider vor Augen halten und über seine Wahlfreiheit grübeln, aber in manchen Situationen weiß man im Grunde seines Herzens ganz genau, wie man entscheiden wird und dass man nicht anders können wird. Wir werden noch sehen, dass die Unterschätzung des Unfreiheitserlebens in Burkhardts Lehre einen Schwachpunkt bildet, der zur Kritik einlädt.

3. Willensfreiheit und anerkannter Determinismus Zunächst aber ist herauszustellen, dass der Streit um die Willensfreiheit im Schwerpunkt nicht etwa die Frage der Abwägungs-, sondern die der Entscheidungsfreiheit betrifft. Um recht zu erfassen, was die indeterministische Bejahung von Willensfreiheit bedeutet, wollen wir also konkret annehmen, dass F ihre Tat vollbracht hat nach schwankender Erwägung des Für und Wider und bei einem endlichen Stärkeverhältnis zwischen Antrieb und Hemmung von, sagen wir, 70:30. Und da wird nun behauptet, dass F in genau dieser – sich nicht mehr verändernden! – Motivationslage, in der sie stärker zu stehlen als nicht zu stehlen motiviert ist und deshalb alsbald tatsächlich stiehlt, auch die Unterlassung des Diebstahls beschließen und vollbringen könnte. 4

Festschrift für Albin Eser, 2005, S. 91, 92.

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Ich habe an anderer Stelle die Behauptung einer so verstandenen Willensfreiheit bestritten und ihr vergleichbare Fälle entgegengehalten. Der Fußball beim Eckstoß kann nur dem Antrieb folgen und durch die Luft fliegen, nicht aber alternativ liegen bleiben, obwohl die Schwerkrafthemmung ihn dazu anhält. Und auch wo Antrieb und Hemmung in der Psyche eines hochentwickelten und verstandesbegabten Individuums miteinander streiten, glauben wir – jedenfalls unterhalb des Menschen – nicht an ein Anderskönnen. Läuft ein Rüde zögernd zur verlockenden Hündin, obwohl sein Herr es ihm deutlich verboten hat, dann behauptet, soweit ich sehe, niemand seine Willensfreiheit. So, wie dieser Hund charakterlich veranlagt und konkret motiviert war, musste er, wie der Eckball vors Tor fliegen, hin zur Hündin laufen. Was ihm geschah, geschah mit Notwendigkeit, und anderes konnte nur unter anderen Umständen geschehen.

II. Gesetzesaussagen zum Anderskönnen und Korrektur eines Fehlers Für meine beiden Vergleichsfälle wird wohl niemand mir widersprechen und ein Anderskönnen des gehemmt-getriebenen Balles oder Hundes behaupten. Aber die Frage ist, ob man das Nichtanderskönnen bis hinauf zum Menschen verallgemeinern kann. Geht es um den Menschen und seine Verantwortlichkeit, dann ist natürlich zunächst einmal das Gesetz zu beachten. Merkel hat das mit Recht betont und sich bemüht, dem § 20 StGB eine rechtliche Aussage abzugewinnen, mag sie auch philosophisch bestreitbar sein. Zur Entlastung seiner Suche unterscheidet er zwischen den beiden Unfähigkeiten in § 20 StGB (wer „unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln“), und er glaubt, eine davon beiseitelassen zu können. „Der erste der beiden genannten Defekte […] ist problemlos und unstreitig: Wer nicht wissen kann, dass er so, wie er handelt, nicht handeln darf, handelt ohne Schuld“. Erst der zweite sei problematisch. „Er berührt ersichtlich das Problem der Willensfreiheit“.5 In meiner Kritik der Merkel’schen Betrachtung des § 20 StGB habe ich diese Unterscheidung zunächst stillschweigend akzeptiert und gleichfalls das Merkmal der Einsichtsunfähigkeit nicht genau betrachtet.6 Später ist mir klargeworden, dass das ein Fehler war, der mich den § 20 StGB wohl im Ganzen hat missverstehen lassen. Ich habe nämlich die beiden Unfähigkeiten in § 20 StGB als unzweifelhafte, als feststehende Voraussetzungen angesehen. Man sei, sage das Gesetz, immer unfähig gewesen, das zu leisten, was man nicht geleistet hat. Wer versagt hat, hat versagen müssen. Die Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen und einsichtsgemäß zu handeln, sei nicht konkret zu prüfen und mal zu bejahen, mal zu verneinen, 5 Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2008, S. 110. Der Autor bekräftigt seine Entlastung in der Festschrift für Roxin (Fn. 1), S. 740, Fn. 16 mit dem Satz: „Das erste Element dieses ,2. Stockwerks‘ (Einsichtsunfähigkeit) wirft im Kontext der Frage nach der Willensfreiheit keine Probleme auf und bleibt deshalb hier außer Betracht.“ 6 Vgl. Herzberg, Willensunfreiheit und Schuldvorwurf, 2010, S. 104.

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sie sei vielmehr als gegeben vorausgesetzt. Fraglich sei immer nur, ob die Unfähigkeit auf „einem der in § 20 bezeichneten Gründe“ (so die Formulierung in § 21 StGB) beruht, was also die allein problematische, für die Schuld des Täters entscheidende Frage sei.7 Natürlich war es ein kühner und befremdlicher Gedanke, von der gesetzlichen Schuldverneinungsvoraussetzung, dass dem Täter eine bestimmte Fähigkeit fehlt, zu sagen, sie sei niemals fraglich. Aber mir schien dieses Verständnis des § 20 StGB richtig, weil es das Gesetz in Einklang bringt mit meiner deterministischen Weltsicht: Quidquid fit, necessario fit; wer etwas beschließt, tut oder versäumt, kann unter den gegebenen Umständen nicht anders als eben dies beschließen, tun oder versäumen. Ich war sogar stolz auf meine Gesetzesdeutung, besonders nach ihrer Würdigung seitens des von mir bewunderten und verehrten Jubilars. Merkel hatte sie schon vor mir erwogen (wenn auch sogleich als ungerecht verworfen)8 und bescheinigt ihr nun: „Das ist eine mögliche, mit dem Wortlaut des § 20 StGB ohne weiteres verträgliche Auslegung […] Sie macht als einzige § 20 StGB gänzlich friktionsfrei und buchstabengetreu anwendbar […] Damit werden alle Zwänge der h.M. obsolet, die Lücke zwischen dem behaupteten Erfordernis ,Willensfreiheit‘ und der Unmöglichkeit seines Nachweises mit irgendwelchen Konstruktionen […] zu überbrücken“.9 Man weiß, wie verbreitet in der Wissenschaft das Bestreben ist, am Eigenen, an einem originellen Gedanken, einer wohlbedachten Hypothese, einer Innovation und Theorie, festzuhalten, sie abzuschirmen und Gegenargumente, mitunter auf Biegen und Brechen, zurückzuweisen. Niemand ist ganz frei von solchem Rechtbehaltenwollen, und besonders stark wirkt der Wille, wenn der Autor jahrzehntelang seine Theorie als ein Stück Lebenswerk in vielen repetitiven Beiträgen verfochten hat. Aber zu billigen ist solche Beharrlichkeit natürlich nicht. Wissenschaft will Wahrheit finden, und der Wahrheit näher kommt, wer umgekehrt die eigene Theorie nicht um jeden Preis zu retten, sondern sie zu falsifizieren sucht. Das scheint mir diesmal für mein Teil gelungen. Mein Fehler war es, das Merkmal der Einsichtsunfähigkeit in § 20 StGB außerhalb seines gesetzlichen Zusammenhanges zu betrachten. Es geht auf Seiten des Täters darum, „das Unrecht der Tat einzusehen“, und so, wie das Handeln „nach dieser Einsicht“, ist auch das Gewinnen der Einsicht eine Leistung, die zu erbringen man fähig oder unfähig ist. Merkel meint: „Wer nicht wissen kann, dass er so, wie er handelt, nicht handeln darf, handelt ohne Schuld.“ Abgesehen davon, dass § 20 StGB für die Verneinung von Schuld eindeutig mehr fordert, ist diese Feststellung keineswegs „problemlos“, denn in ihr steckt die Frage nach einem problematischen Können. Kann, wer im Glauben, dies zu dürfen, erzieherisch sein Kind verprügelt, zur Einsicht finden, Unrecht zu tun? Oder nehmen 7

Merkel kennzeichnet diese Lesart sehr schön mit den Worten: § 20 StGB lasse das stets gegebene Nichtanderskönnen „nur in einer Kausalverbindung mit einem der genannten psychischen Defekte zum Schuldausschluss führen“ (Fn. 5), S. 113 Fn. 176. 8 (Fn. 5), S. 113 Fn. 176. 9 (Fn. 1), S. 741.

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wir an, zwei Geschwister wollen „miteinander den Beischlaf vollziehen“ (§ 173 Abs. 2 S. 2 StGB). Aber sie haben vom Verbot der „Blutschande“ gehört und wenden sich an einen Rechtsanwalt. Der missbilligt die Aufrechterhaltung des umstrittenen Verbots10 und überzeugt sie von dessen Aufhebung. Daraufhin begehen die beiden guten Gewissens die Tat. Hätten sie noch einen anderen Juristen befragt, dann hätten sie vom immer noch gültigen Verbot erfahren und die Tat unterlassen. – War der prügelnde Vater, waren die Geschwister fähig oder waren sie „unfähig […], das Unrecht der Tat einzusehen“? Die Frage führt in denselben Streit wie die Frage, ob Frau F im Drogeriemarkt unter den gegebenen äußeren und inneren Umständen fähig oder unfähig war, das Fläschchen in den Warenkorb zu legen. Hier wie dort stellt sich das Problem der Willensfreiheit, und mein Determinismus drängte mir die Lösung auf, auch in Fällen wie denen des Vaters und der Geschwister § 20 StGB konsequent deterministisch zu verstehen: Wenn die Täter, wie hier, das Unrecht der Tat nicht einsehen, dann steht ihre Unfähigkeit, es einzusehen, fest. Sie konnten nicht anders, als vom Prügelrecht überzeugt zu sein bzw. sich mit der einen Auskunft in Sachen Geschwisterbeischlaf zu begnügen. Für die Schuld kommt es nur noch an auf die „Kausalverbindung mit einem der genannten psychischen Defekte“ (Merkel). Rechte Einsicht, rechtes Handeln – woran der Täter es fehlen lässt, daran fehlt es mit Notwendigkeit. Die Täter waren unfähig, skeptischer zu sein und sich durch (weiteres) Nachfragen aus dem Irrtum zu befreien. Sie konnten den Irrtum, Unverbotenes zu tun, keinesfalls vermeiden. Wie bitte? Der Irrtum, die eigene Tat sei erlaubt, ist stets unvermeidbar? Hier wird mein Versäumnis offenkundig. Ich habe § 17 StGB nicht beachtet, eine seit 1975 geltende Vorschrift. Auch sie setzt einen Täter voraus, dem „bei Begehung der Tat die Einsicht (fehlt), Unrecht zu tun“. Aber anders als § 20 StGB lässt § 17 StGB die Deutung i.S. ausnahmsloser Unvermeidbarkeit nicht zu. Er ist vielmehr wie folgt zu verstehen: Den Irrtum, die Tat sei kein Unrecht, den „Verbotsirrtum“, den konnte der Täter nur manchmal nicht vermeiden; dann „handelt er ohne Schuld“ (Satz 1). Manchmal konnte er ihn aber sehr wohl vermeiden; dann trifft ihn Schuld, und es kommt nur eine Strafmilderung in Betracht (Satz 2). Wenn nun also bei der Subsumtion unter § 17 StGB die Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen (= Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums) nur manchmal anzunehmen ist, dann darf man es bei § 20 StGB nicht anders sehen; auch dort steht die Unfähigkeit nicht fest, sie ist mal zu bejahen, mal zu verneinen. Sieht man es anders, droht Widersprüchlichkeit, weil ein Verbotsirrtum sowohl § 20 StGB wie § 17 StGB unterfällt. Gemessen an § 20 StGB waren die Täter nach meiner alten Deutung der Vorschrift „unfähig, das Unrecht der Tat einzusehen“, und sie handelten „ohne Schuld“. § 17 StGB aber verlangt vom Richter, die Unfähigkeit anzuzweifeln, indem er mit Satz 2 fragt: „Konnte der Täter den Irrtum vermeiden“? Ich kann den Selbstwiderspruch des Gesetzes, der sich für mich ergab, nur dadurch auflösen, dass ich meine alte Deutung preisgebe und für

10

Vgl. BVerfGE 120, 224 einerseits und Hassemer, NJW 2008, 1142 andererseits.

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§ 20 StGB die Unfähigkeit ebenso in Frage stelle, wie das Gesetz in § 17 StGB die Unvermeidbarkeit in Frage stellt. Erst diese Angleichung verschafft mir eine zwanglose Erklärung des § 21 StGB. Auch in seinen Fällen hat der Täter das Unrecht der Tat nicht eingesehen bzw. bei gegebener Einsicht nicht danach gehandelt. Aber an die Stelle der Unfähigkeit (§ 20 StGB) tritt nun die „Fähigkeit“, nämlich die, „das Unrecht der Tat einzusehen“ bzw. „nach dieser Einsicht zu handeln“. § 21 StGB setzt beide Fähigkeiten als gegeben voraus, denn eine Fähigkeit bleibt erhalten, auch wenn sie „erheblich vermindert“ ist. Ich kann also nicht sagen, das Gesetz gehe davon aus, dass der Mensch das, was er nicht geleistet habe, auch nicht habe leisten können. Nach § 21 war mancher Täter, der die erwünschte Leistung versäumt hat, sehr wohl fähig, sie zu erbringen. Ich will den Gedankengang anhand des zweiten Beispiels konkretisieren. Man mag philosophisch überzeugt sein, dass die Geschwister das, was sie nicht leisten, unter den gegebenen Umständen auch nicht leisten können. Philosophisch betrachtet waren sie unfähig, das Unrecht des Beischlafs einzusehen und ihn zu unterlassen. Von diesem Standpunkt aus liegt es nahe, für die Täter die in § 20 StGB beschriebenen Unfähigkeiten gar nicht in Frage zu stellen und sie ohne Weiteres zu bejahen. Das ist aber unvereinbar mit §§ 17, 21 StGB. Hier gibt das Gesetz vor, dass der Täter manchmal etwas „vermeiden konnte“, was er nicht vermieden hat (den Verbotsirrtum), und manchmal die (verminderte) „Fähigkeit“ hatte, etwas zu leisten, was er nicht geleistet hat (die rechte Einsicht, das rechte Handeln). Darum muss man im Geschwisterfall offen sein für die Verneinung der Unfähigkeit. „Das Unrecht der Tat einzusehen“ und „nach dieser Einsicht zu handeln“ waren die Geschwister vielleicht fähig, wenn auch nur im rechtlichen, nicht im philosophischen Sinne.11

III. Unfähigkeit und Nichtvermeidenkönnen – zum rechten Verständnis der §§ 20, 17 StGB Reinhard Merkel sieht hier in der gesetzlichen Anerkennung einer ungenutzten, aber gegebenen Fähigkeit des Straftäters ein Bekenntnis des Gesetzes zur Annahme von Willensfreiheit. Er weist hin auf „die in § 20 vorausgesetzte schuldbegründende Fähigkeit“ des Täters,12 und es scheint ihm „schwerlich bestreitbar“, dass diese Fähigkeit „jedenfalls dem Wortlaut nach ein Andershandelnkönnen des Täters meint“. Nach dem Gesetz müsse also „der schuldige Täter […] bei Beginn seiner konkreten 11

Gewichtige Kritik an meiner hier preisgegebenen „Lesart der gesetzlichen Regelung der Schuldfähigkeit“ übt auch, mit ganz anderer Begründung, Frister, Festschrift für Wolfgang Frisch, 2013, S. 538 – 541. 12 Das ist nicht ganz korrekt. Eine schuldbegründende „Fähigkeit“ wird erst in § 21 StGB vorausgesetzt; § 20 StGB bestimmt, wann der Täter ohne Schuld handeln und setzt dafür bestimmte Unfähigkeiten voraus.

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Tatbegehung in der Lage gewesen sein, normgemäß statt rechtswidrig zu handeln. Damit entspricht § 20 genau dem oben […] dargestellten Prinzip PAM“.13 Das ist insoweit richtig und auf § 17 StGB ausdehnbar, wie wir die guten, aber ungenutzten Potenzen betrachten, die in §§ 21, 17 StGB genannt werden: die Fähigkeit bzw. das Vermeidenkönnen. Die Geschwister beweisen uns durch ihr tatsächliches Verhalten jedenfalls die genutzten Potenzen (die sie besser nicht genutzt hätten), nämlich auf die Belehrung zu vertrauen und die Tat zu begehen. Die §§ 21, 17 S. 2 StGB, wenn man sie anwendet, besagen nun dem Wortlaut nach, dass die Geschwister auch anders konnten: den Verbotsirrtum (durch weiteres Nachfragen) vermeiden und nach Einsicht in das Unrecht die Tat unterlassen. Aber es kann ja vor Gericht auch auf die §§ 20, 17 S. 1 StGB hinauslaufen, und dann heißt es, dass der Täter „unfähig“ war und „nicht vermeiden konnte“. Für die Geschwister würde dann festgestellt, dass ihnen die „alternative Möglichkeit“ (PAM) verschlossen war, dass sie nicht wählen konnten zwischen Irren und Erkennen, zwischen Beischlaf und Verzicht. In der Streitsache Willensfreiheit können also beide Parteien Worte und Wendungen des Gesetzes für sich ins Feld führen. Das ist ein Anzeichen, dass wir auf der falschen Fährte sind, wenn wir Gesetzesmerkmale wie Fähigkeit und Unfähigkeit, Vermeidenkönnen und Nichtvermeidenkönnen wörtlich nehmen, wenn wir uns durch sie zur Erforschung oder begründungslosen (angeblich unverzichtbaren) Annahme eines tatsächlichen Anderskönnens aufgefordert sehen und wenn wir dem Gesetz in Sachen Willensfreiheit so oder so einen Standpunkt zuschreiben. 1. Das Kriterium der Fahrlässigkeit Aber wenn man nach einem faktischen Können nicht forschen und auch nicht einfach „davon ausgehen“ soll, wie ist denn dann die jeweilige Voraussetzung der Schuldlosigkeit zu verstehen? Es heißt in § 20 StGB: „Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat […] unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen.“ Und in § 17 S. 1 StGB: „Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte.“ Wann ist den Geschwistern diese Unfähigkeit bzw. dieses Nichtvermeidenkönnen zuzubilligen? Die Antwort: Wenn sie im Hinblick auf die Gefahr, Unrecht zu tun, „die im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ beobachtet haben (vgl. § 276 Abs. 2 BGB). Dass es darauf ankommt, zeigt ein Vergleichsfall: Eine Mutter schädigt ihr Kind an der Gesundheit (§ 223 StGB), weil der Arzt dem Kind eine falsche Medizin verschrieben und sie ihm vertraut hat. Wenn wir hier eine deliktische Schuld der Mutter verneinen, dann deshalb, weil sie vertrauen durfte und nicht fahrlässig gehandelt hat. Die Wahrung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist der Grund ihrer Nichtschuld. Genauso liegt es im Geschwisterfall. Die Täter begehen eine Tat, die von Rechts wegen unterbleiben soll, aber sie durften nach der Belehrung durch einen Rechtsan13

(Fn. 5), S. 112 f.

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walt darauf vertrauen, nichts Unrechtes zu tun. Sie haben bei der Entfaltung ihrer Persönlichkeiten die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht außer Acht gelassen, sie haben ihre Sorgfaltspflicht erfüllt. Das muss genügen, um auch die Voraussetzung zu erfüllen, woran die §§ 20, 17 S. 1 StGB die Schuldverneinung knüpfen. Man muss ihnen bescheinigen, dass sie nach Sorgfaltspflichterfüllung im Rechtssinne „unfähig“ waren zur rechten Einsicht und zum rechten Handeln bzw. dass sie ihren Irrtum im Rechtssinne „nicht vermeiden konnte(n)“. 2. Roxins abweichender Ansatz Nicht überall mit so entschiedener Formulierung, aber in der Sache ist diese Sorgfaltspflichttheorie, beschränkt freilich auf § 17 StGB, die herrschende Lehre.14 Ihr entgegengesetzt ist, jedenfalls im Ausgangspunkt, die Lehre Roxins.15 Dieser Autor lenkt zwar später ein, aber zunächst rückt er das Kriterium der Sorgfaltspflicht ganz zur Seite. Aus seinem „Schuldprinzip der normativen Ansprechbarkeit“ folgert er, „dass die Schuld beim Verbotsirrtum allein in der Möglichkeit besteht, die Kenntnis des Unrechts zu erlangen, und nicht etwa in der davon unabhängigen Verletzung einer Pflicht zur Gewissensanspannung oder Erkundigung“ (Rn. 35). In casu wäre die Prognose, dass schon die Nachfrage bei einem zweiten Juristen die beiden ins Bild gesetzt hätte. Klarer könnte Roxins Urteil nicht lauten: Die Geschwister sind nach § 173 Abs. 1 S. 2 StGB schuldig, weil es ihnen leicht möglich war, die Kenntnis des Unrechts zu erlangen. Ich sehe hier einen Wertungswiderspruch. Die Geschwister haben bis zuletzt die gebotene Sorgfalt gewahrt. Sie haben keine Pflicht versäumt. Wer sich sorgfalts- und pflichtgemäß verhält, kann keine Schuld auf sich laden. Ja, man muss noch einen Schritt weiter gehen: Nicht einmal rechtswidrig kann ein Handeln sein, wenn es nicht pflichtwidrig ist. Das ist für die Körperverletzung, die im Vergleichsfall die Mutter begeht, heute allgemein anerkannt; weil es wegen ihres Vertrauendürfens schon an der objektiven Fahrlässigkeit fehlt („erlaubtes Risiko“), begeht sie mit der Verletzung ihres Kindes kein Unrecht. Die Geschwister durften aber genauso vertrauen. Dass man daraus nicht dasselbe Zugeständnis ableitet, sondern ihnen vorhält, sie hätten durch den Geschlechtsverkehr das Recht gebrochen, beruht auf einer 14

Vgl. nur Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl., 2014, § 17 Rn. 7; Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl., 1996, S. 458; treffend und besonders anschaulich Hardtung/Putzke, Examinatorium Strafrecht AT, 2016, Rn. 782 – 788; zum Fall einer über ihr Erlösungsrecht falsch belehrten Krankenschwester heißt es in Rn. 783: „Mit der ,Unvermeidbarkeit‘ ist also nicht eine wirkliche Unfähigkeit, die Unrechtseinsicht zu erlangen, gemeint; K hätte ja ohne Weiteres auch einen anderen Arzt oder Juristen fragen können und noch einen und noch einen. § 17 verlangt für die Befreiung vom Schuldvorwurf also nur, dass man sich mit der gebotenen Sorgfalt über die Rechtslage informiert: Seinen Irrtum, kein ,Unrecht zu tun‘, kann schon derjenige ,nicht vermeiden‘, der sich sorgfaltsgemäß erkundigt hat.“ 15 Roxin, Strafrecht AT, Band 1, 4. Aufl., 2006, § 21, Rn. 35 – 40 (im Folgenden verweise ich im Text auf die Randnummern).

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rechtswissenschaftlichen und gesetzgeberischen Fehlentwicklung, die die sog. „Schuldtheorie“ zur Herrschaft gebracht hat. Roxin scheint mir, trotz seines konträren Ausgangspunktes, von diesen Einsichten nicht weit entfernt. Er bricht beiläufig eine Lanze für die sog. Vorsatztheorie (Rn. 39) und zeigt sich bemüht, wenigstens auf der Schuldebene die Konsequenzen seines Ansatzes zu vermeiden. Ich sehe nahezu einen Widerruf der Eingangsthese in Sätzen wie diesen: „Die strafrechtliche Verantwortlichkeit ist […] schon dann auszuschließen, wenn der Täter, wie es in Art. 20 des schweizerischen StGB heißt, ,aus zureichenden Gründen angenommen‘ hat, ,er sei zur Tat berechtigt‘“ (Rn. 39). Und: „Im Rechtssinne unvermeidbar ist ein Verbotsirrtum“ schon dann, „wenn der Täter für die Annahme von Erlaubtheit seines Tuns verständige Gründe hatte“ (Rn. 40). Der Selbstwiderspruch wird in meinen Augen ganz deutlich. Einerseits war es den Geschwistern ein Leichtes, sich doch noch Kenntnis zu verschaffen vom Verbot des geschwisterlichen Beischlafs. Das begründet nach Roxin die Vermeidbarkeit ihres Verbotsirrtums (Rn. 35). Andererseits hatten sie „verständige Gründe“ zu glauben, dass sie miteinander schlafen durften. Das macht den Verbotsirrtum nach Roxin „im Rechtssinne unvermeidbar“ (Rn. 40).

IV. Das Dogma der Ungerechtigkeit von Tadel und Strafe War denn auch der Parfümdiebstahl im Eingangsbeispiel „unvermeidbar“? Selbstverständlich nicht, werden die meisten antworten, und zwar ohne den Begründungsumweg über unser Sorgfaltspflichtkriterium.16 Man wird einfach sagen: Niemand hat Frau F zum Stehlen gezwungen, sie hätte es lassen können. Aber darauf ist zu erwidern: Es gibt die philosophische Lehre von der Unfreiheit des Willens, die die Deterministen für zutreffend und die Agnostiker für unwiderlegbar halten. Sie behauptet für die konkrete Tat in einem fundamentalen Sinne die Unvermeidbarkeit, bestreitet also das Anderskönnen der F und sieht sich von keiner Gesetzesvorschrift gezwungen, eine Vermeidbarkeit im Rechtssinne zu erwägen und u. U. zu bejahen. Der Agnostiker Merkel formuliert die allgemeine Frage so: Hätte „ein Täter im Moment seines Ansetzens zur Tat unter identischen Außen- und Innenweltbedingungen (einschließlich seines Gehirnzustandes) anders […] handeln können?“17 Der herrschende Agnostizismus, also auch Merkel, antwortet, dass man dies nicht wisse, 16 Freilich passt es auch hier. F hat die Sorgfalt außer Acht gelassen, die im Verkehr bei der Überwachung und Zügelung der eigenen Person erforderlich ist. In jeder vorsätzlichen Begehung einer Straftat steckt als Minus die fahrlässige Begehung. 17 Merkel fährt fort: Das sei „eine Frage, deren Antwort wir nicht nur ,nicht wissen können‘ (Roxin), sondern die auf der Grundlage unserer heutigen Weltauffassung keinen vernünftigen Sinn hat“ (FS Roxin, 2011, S. 751). Ich bestreite Ersteres, indem ich die Frage entschieden verneine (Herzberg, ZStW 2012, 31 – 35: Nein, er hätte nicht anders handeln können), und gebe der Frage auch einen „vernünftigen Sinn“. Denn sie kann zur richtigen (deterministischen) Antwort führen und über sie zur Einsicht, dass die herrschende Prämisse, Schuld setze Willensfreiheit voraus, nicht stimmen kann.

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und geht deshalb davon aus, dass der Täter nicht anders hätte handeln können. Diese Aussage bringt nun aber unser Schuldstrafrecht in schwerste Bedrängnis, weil sie sich mit einem Postulat der Gerechtigkeit verbindet. Ich bestreite die Berechtigung des Postulats (dazu später) und habe an anderer Stelle die missliche Lage so gekennzeichnet: „Wie ein Alb lastet auf unserem Schuldstrafrecht der Glaube, dass es ohne Willensfreiheit keine Schuld und keine Verantwortlichkeit gäbe. Juristen, Philosophen, Theologen und Neurowissenschaftler, fast alle beugen sich diesem Dogma.“18 Im Folgenden belege ich das mit vielen Zitaten, wovon ich drei herausgreife: „Der Schuldgrundsatz hat die Entscheidungsfreiheit des Menschen zur logischen Voraussetzung.“19 „Denn ohne Willensfreiheit gibt es […] keine Schuld, und ohne Schuld lässt sich Bestrafung nicht rechtfertigen.“20 „Offenbar kann man niemanden für die Verletzung einer Norm zur Verantwortung ziehen, die er gar nicht einhalten konnte […] Schuld und Strafe setzen die Existenz alternativer Handlungsmöglichkeiten voraus.“21 Auch Reinhard Merkel, der am Schuldstrafrecht festhält, sieht und anerkennt das Dilemma. Er schreibt: „Nimmt man als Determinist (oder Agnostiker) an, ein Straftäter habe bei Tatbegehung (möglicherweise) nicht anders handeln, seine Tat nicht vermeiden können, dann konstatiert man zugleich, dass der Täter in einem robust plausiblen Sinn für sein Tun ,nichts konnte‘. Ist das aber so, dann verdient er im […] Sinn einer rein personal begründeten ,absoluten Letztverantwortung‘ die Strafe nicht“. Merkel veranschaulicht dieses von ihm angenommene Fehlen der „absoluten Letztverantwortung“ mit dem religiös überlieferten Bild des armen Sünders vor dem göttlichen Richterstuhl, der sich verteidigt wie Raskolnikow vor seinem irdischen Richter. „Warum bestrafst du mich für etwas“, lässt Merkel seinen armen Sünder den lieben Gott fragen, was „für mich unausweichlich und unvermeidbar“ war? Den Fall im Jenseits spielen zu lassen, hat für Merkel den guten Sinn, die Frage „nach dem Begründbarkeit einer Schuldzurechnung […] losgelöst von allen sozialen Notwendigkeiten“ zu stellen.22 Dieses „er verdient die Strafe nicht“ ist natürlich zu verstehen als die harte Konsequenz aus dem herrschenden Dogma, es sei ungerecht, jemandem ein schlimmes Tun, das er nicht vermeiden konnte, vorzuwerfen und ihn deswegen zu bestrafen. Die Frage, die sich daraus ergibt, hatte Merkel schon vorher gestellt und damit seinen großen Aufsatz zu Roxins Ehren eröffnet: „Wenn die agnostische Prämisse zusammen mit dem Prinzip ,in dubio pro reo‘ es ausschließt, wie Roxin mit Recht anmerkt, die Schuldfähigkeit eines Täters auf den Vorwurf zu gründen, er hätte ,bei Begehung der Tat‘ anders handeln und seine Tat unterlassen können: Welche andere Eigenschaft 18

Herzberg, ZStW 2012, 12. Jescheck/Weigend (Fn. 13), S. 407 f. 20 Lampe, ZStW 2006, 1, 2. 21 Pauen, Freiheit, Schuld und Strafe, in: Lampe/Pauen/Roth (Hrsg.), Willensfreiheit und rechtliche Ordnung, 2008, S. 41, 76. 22 (Fn. 1), S. 744 f. 19

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des Täters als eine so definierte Willensfreiheit käme denn als zentrales Kriterium seiner Schuldfähigkeit in Betracht?“23 Sieben Seiten später stellt Merkel dann fest, dass es nichts gebe, was als eine „andere Eigenschaft des Täters“ sich anbiete, und dass die „Legitimation von Schuldvorwurf und Strafe“ nur mit ihrer sozialen Notwendigkeit zu begründen sei. Die Gründe fänden sich also außerhalb der Täterperson und ihrer Eigenschaften zur Tatzeit. Es seien „eben Gründe der gesellschaftlichen Normverteidigung und daher zuletzt utilitaristischer Provenienz“.24

V. Burkhardts Lehre vom Bewusstsein des Anderskönnens Der resignative Unterton ist kaum zu überhören und gut zu verstehen. Denn wenn die Bestrafung des Täters rechtens, aber wegen seines Nichtanderskönnens ungerecht ist (was ich allerdings bestreite), dann ändert daran der Umstand, dass Strafe der „Normverteidigung“ dient und manchmal einen sozialen Nutzen abwirft, nicht das Geringste. Aber resigniert Merkel vielleicht zu früh, wenn er sich um des sozialen Nutzens willen mit der Ungerechtigkeit abfindet? Ungerechtigkeit ist, bei aller Relevanz objektiver Daten, vor allem eine Sache des subjektiven Empfindens, und diese Wahrheit kann einen die Dinge so sehen lassen: Wer eine Straftat beschließt und begeht, der fühlt und erlebt normalerweise gar keine Zwangsläufigkeit. In den allermeisten Fällen ist sein Erleben die Freiheit der Entscheidung, und bei der Tatbegehung hat er das Bewusstsein des Anderskönnens. Wer aber sich so erlebt und mit diesem Bewusstsein handelt, der erleidet keine Ungerechtigkeit, wenn er für das beschlossene und begangene Delikt getadelt und bestraft wird. Demgegenüber ist es ganz gleichgültig, ob die Philosophie oder Drittpersonen mit ihrer Außenperspektive den Täter für unfrei befinden. Sein eigenes, das subjektive Freiheitserleben verschafft der Bestrafung Sinn und Legitimation. Es ist bekanntlich vor allem Björn Burkhardt, der seit langem und in sehr vielen Publikationen so argumentiert. Greifen wir eine Darlegung heraus: „Das Strafrecht hat bei Lichte besehen überhaupt keinen Anlass, auf den individuellen Tadel zu verzichten. Grundlage für einen individuellen Tadel ist nämlich nicht indeterministische (kontra-kausale, libertarische) Willensfreiheit, sondern die psychologische Tatsache des allgemeinmenschlichen Freiheitserlebens. Das bedeutet: Strafrechtliche (persönliche) Schuld setzt voraus, dass der Täter seine rechtswidrige Tat im Bewusstsein des Anderskönnens vollzogen hat.“25 Eine klare Aussage, die ergänzt wird durch anderswo Gesagtes: „Das Bewusstsein des Anderskönnens ist nur eine notwendige, keine hinreichende Voraussetzung für den Schuldvorwurf. Es ist […] nur ein Surro-

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(Fn. 1), S. 738. (Fn. 1), S. 745. 25 Burkhardt, Schuld – rechtliche Perspektiven, in: Kick/Schmitt (Hrsg.), Schuld, 2011, S. 70 f. 24

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gat für indeterministische Willensfreiheit. Es soll nicht etwa andere Voraussetzungen der Schuldzurechnung (Fähigkeitskriterien und andere Erwägungen) ersetzen.“26 Burkhardt hat seine vielen einschlägigen Publikationen mir gegenüber vermehrt mit eindringlichen Antworten und Begründungen im Rahmen eines Briefwechsels. Hier wie dort stoße ich immer wieder auf ein Wort, womit er das Erleben von Freiheit und Anderskönnen kennzeichnet: „epistemisch“. Da hat wohl mancher, genau wie ich, eine Erklärung nötig. Im Internet (https://de.wiktionary.org/wiki/epistemisch) finde ich, was Burkhardt anscheinend meint: Das Wort weist hin „auf die Erkenntnislage des Einzelnen mit seinem persönlichen Wissen in der aktuellen Situation“; „eine epistemische Wahrnehmung ist im subjektiven Leben die Erkenntnis: Ja, so ist die Sachlage, und dies ist völlig unabhängig davon, ob auch ein objektiver Betrachter zu diesem Ergebnis käme“. Mir scheint der Terminus entbehrlich. Ich habe Burkhardt gefragt, ob er mir zustimme, wenn ich sage: „Wer sich einen Kaffee zubereitet, kann dies, objektiv betrachtet, bei unveränderter Motivlage nicht lassen. Er glaubt nur, es lassen zu können.“ Burkhardt hat den ersten Satz „akzeptiert“, den zweiten jedoch als „nicht korrekt“ bewertet. Richtig sei es zu sagen: „Er erlebt, die Zubereitung des Kaffees (im epistemischen Sinne) unterlassen zu können.“ Da dieses „Erleben“ ohne Zweifel den „Glauben“ an das Unterlassenkönnen (sei er nun irrig oder zutreffend) beinhaltet, sehe ich nicht so recht, warum Burkhardt meine Aussage inkorrekt nennt. Es verhält sich wohl so, dass er auch in meinem Beispiel auf die Schlüsselbegriffe seiner Lehre – „Erleben“ und „epistemisch“ – nicht verzichten will und deshalb meine schlichtere Formulierung verwirft, obwohl inhaltlich kein Unterschied besteht. 1. Burkhardts berechtigter Widerspruch Einleuchtend ist mir jedoch, dass Burkhardt seiner Lehre im Vergleich zur herrschenden den Wert der Gerechtigkeit beimisst. Er betont in Wiederholungen, dass ein „Schuldprinzip“ nur dann etwas tauge, wenn es die staatlichen Strafen so begrenze, dass die Betroffenen sie als gerecht empfinden können.27 Diese Qualität nimmt er für seine „Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit“ in Anspruch – im Ansatz zu Recht! Das zeigt eine Beobachtung, die kritisch auf die herrschende Lehre blickt und die seltsamerweise nie herausgestellt wird. In vereinfachter Wiedergabe belehrt uns der herrschende Agnostizismus folgendermaßen: Auszugehen ist vom Fehlen der Willensfreiheit, also davon, dass der Mensch seine rechtswidrige Tat nicht vermeiden kann. Also trifft ihn keine Schuld (was Burkhardt mit Recht bestreitet). Darum ist es ungerecht, ihm die Tat vorzuwerfen. Soziale Notwendigkeit zwingt uns aber, es dennoch zu tun, d. h. am Schuldstrafrecht 26

Burkhardt, Leseschwächen, Fehldeutungen und Donnerbüchsen – ein besorgter Brief an meinen akademischen Lehrer, in: Scripta amicitiae – Freundschaftsgabe für Albin Eser zum 80. Geburtstag, 2015, S. 313. 27 (Fn. 26), S. 326, Fn. 35; Festschrift für Manfred Maiwald, 2010, S. 90 f.

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festzuhalten. – Wenn dieses Eingeständnis zuträfe, wenn wirklich der gesetzlich gewollte Schuldvorwurf ungerecht wäre, dann würde doch fast jeder Angeklagte sich auf seine Willensunfreiheit und auf die Ungerechtigkeit des Schuldvorwurfs, den man ihm macht, berufen. Tatsächlich verhält es sich jedoch anders. Wer vorsätzlich oder fahrlässig eine Straftat begangen hat und deswegen vor Gericht steht, verteidigt sich mit allem Möglichen, aber er beruft sich so gut wie nie darauf, dass ihm die Willensfreiheit fehlt und also jeder Schuldvorwurf ungerecht sei. Vielmehr ist es für ihn selbstverständlich, dass er sein eigener Herr und im Prinzip kraft seiner Freiheit verantwortlich ist für seine Entscheidungen und seine Taten. Und darum findet er es kein bisschen ungerecht, wenn ihm der Richter bei erwiesener Tat nach Maßgabe des Gesetzes Schuld vorwirft. Ich stimme Burkhardt zu, wenn er, mehr oder minder deutlich mit dieser Begründung, Widerspruch erhebt gegen das herrschende Dogma, wonach man „einen Menschen für seine Taten nur dann gerechterweise zur Verantwortung ziehen und ggf. mit empfindlichen Strafen belegen (kann), wenn er als mit freiem Willen begabt betrachtet wird“.28 Dass dies so nicht richtig ist, scheint mir geradezu evident. Nehmen wir den angeklagten Pfarrer, der seine kindlichen Messdiener sexuell missbraucht hat, und die Richterin, die ihn von ihrem philosophischen Standpunkt aus nicht „als mit freiem Willen begabt“ ansieht. Ihr soll es sich verbieten, ihn zur Verantwortung zu ziehen und zu bestrafen? Und wenn sie es dennoch tut, so soll sie ihr Urteil ungerecht finden? Ich stehe nicht an, Burkhardts Widerspruch als eine Förderung der Strafrechtslehre zu rühmen. Das „Freiheitserleben“ und das „Bewusstsein des Anders-, des Unterlassenkönnens“, das wird der Pfarrer bei seinen Missbrauchstaten wohl gehabt haben. Er fühlt sich deshalb verantwortlich, er erlebt eine angemessene Bestrafung als gerechtfertigt und wird niemandem Ungerechtigkeit vorwerfen. 2. Einwände Ich anerkenne den Fortschritt und wende zugleich ein, dass Burkhardt den richtigen Weg nicht zu Ende geht. Er löst sich zwar von dem unhaltbaren Dogma, dass Schuld und Vorwerfbarkeit eine „indeterministische Willensfreiheit“ voraussetzen, aber nur in der Weise, dass er diese Freiheit ins Subjektive verschiebt und sie dort als ein „Erlebnis“ und als ein „Bewusstsein des Anderskönnens“ zur „notwendigen Voraussetzung des Schuldvorwurfs“ erklärt. Bezeichnend ist, dass Burkhardt in diesem Bewusstsein „nur ein Surrogat für indeterministische Willensfreiheit“ sieht.29 Es drohen ihm nun Konsequenzen, die mit dem geltenden Recht unvereinbar und höchstens de lege ferenda diskutabel sind. Ihnen kann er nur ausweichen, und zwar indem er seine „notwendige Voraussetzung“ entschärft, sie gleichsam in Luft auflöst, sodass sie niemals eine Bestrafung verbietet, die das Gesetz vorschreibt. Für die Straftat 28 Eugen Drewermann, Atem des Lebens, Die moderne Neurologie und die Frage nach Gott, Band 2: Die Seele – zwischen Angst und Vertrauen, 2007, S. 835. 29 (Fn. 26), S. 313.

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kommt es, folgt man Burkhardt, nicht auf deren Voraussetzung an, sondern umgekehrt. Nehmen wir einen Fall der unbewussten Fahrlässigkeit: Eine Mutter schützt die Gesundheit ihres Kindes durch Eingabe von Tabletten. Eines Morgens vergreift sie sich und verabreicht dem Kind eine falsche, der richtigen täuschend ähnliche Tablette, die einen erheblichen Gesundheitsschaden bewirkt (§ 229 StGB). Hier war sich die Täterin eines Fehlverhaltens gar nicht bewusst. Sie war überzeugt, genau das Richtige zu tun, hatte also keine Veranlassung, sich ein Anderskönnen bewusst zu machen. Aber Burkhardt will an der Strafbarkeit unbewusster Fahrlässigkeit festhalten und deshalb auch in so einem Fall seine Kriterien erfüllt sehen. Darum lässt er als gegenwärtiges Bewusstsein ein allgemeines, unaktuelles „Wissen“ genügen; ein, wie er es nennt, „Hintergrundwissen“, nämlich „dass man in der Lage ist, (qua Wollen) seine Aufmerksamkeit auf die Begleitumstände seines Verhaltens zu richten und die Bedeutung seiner Betätigung […] zu überdenken.“30 Das ist nichts als eine Paraphrase zum Fahrlässigkeitsbegriff. Sie beschreibt ein Wissen in Gestalt der Lebensweisheit, dass man lieber noch mal nachschauen und immer schön vorsichtig sein soll und dass Vertrauen gut, Kontrolle besser ist. Ohnehin kann ich – auch darauf stellt Burkhardt ja ab – beim besten Willen kein „Freiheitserleben“ der Mutter beim Eingeben der Tablette nachempfinden, und das Wissen, wonach Burkhardt fragt, ist ein Allerweltswissen, das ein Fahrlässigkeitstäter ex definitione hat und das als eine allgemeine Schuldvoraussetzung neben der Fahrlässigkeit vollkommen leerläuft. Denn eine Lebensweisheit, die jedermann jederzeit in sich hat, ist ohne Unterscheidungskraft. Die Voraussetzung „Bewusstsein des Anderskönnens“ hat, auch nach Burkhardt selbst, keine Relevanz in dem Sinne, dass ihretwegen die strafrechtliche Schuld entfallen kann. Diesen Befund bestätigt auch der erwähnte Briefwechsel. Burkhardt hat mir nach wiederholter Anfrage kein einziges Beispiel für eine Schuldverneinung genannt, deren Grund er allein im Mangel an Bewusstsein des Anderskönnens gesehen hätte. Er wusste nur Täter zu nennen, deren Schuldlosigkeit sich aus extremen Umständen und wegen ihrer schon aus dem Gesetz (§§ 20, 33, 35 StGB) ergab, sodass neben der gesetzlichen Schuldverneinung die Burkhardt’sche keine Bedeutung hatte. Sie müsste für Burkhardt allerdings dort entscheidend sein, wo das Gesetz dem Täter, der seine Freiheit bestreitet, keine Entschuldigung gewährt. Mein Beispiel: Eine 15jährige Schülerin verführt mit verlockenden Reizen und Angeboten ihren Lehrer zu sexuellen Handlungen. Er verteidigt sich als Angeklagter, schon die Sprache erkenne an, dass Reize „unwiderstehlich“ sein können und man mitunter „unausweichlich“ den falschen Weg gehe. Er habe diese Wahrheit körperlich und seelisch erfahren. Sein Erleben sei nicht das der Freiheit der Entscheidung, sondern das der Unfreiheit gewesen, und bewusst geworden sei ihm kein Anders-, sondern ein Nichtanderskönnen. – Wenn diese Verteidigung glaubhaft oder unwiderlegbar ist, dann müsste Burkhardts „Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit“ doch wohl wie folgt ur30 Burkhardt, Fahrlässigkeit als individuelle Erkennbarkeit der Tatbestandsverwirklichung, in: Strafrecht und Gesellschaft – Ein kritischer Kommentar zum Werk von Günther Jakobs, 2019, S. 481 (Hervorhebung bei Burkhardt).

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teilen: Die Schuld des Täters ist zu verneinen, weil eine notwendige Voraussetzung fehlt, weil der innere Grund des Schuldvorwurfs entfällt. Denn der Lehrer hatte kein Freiheitserleben und kein Bewusstsein des Anderskönnens. Im Gegenteil! Er erlebte Unfreiheit und war sich bewusst, nicht anders zu können. Er ist vom Vorwurf eines Vergehens nach § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB freizusprechen aufgrund eines ungeschriebenen Schuldausschließungsgrundes, der sich aus dem „Wesen der Schuld“ ergibt. –Burkhardt will die Konsequenz nicht wahrhaben. Er wehrt sich dagegen und findet, dass der Lehrer sehr wohl „das Bewusstsein des Anderskönnens“ hatte. Seine rhetorische Frage: Würde der Lehrer nicht „sofort einräumen, dass er dem verlockenden Angebot widerstanden hätte, wenn er gewusst hätte, dass eine versteckte Kamera der Schulleitung seinen Fehltritt aufzeichnet?“ Das ist unhaltbar. Wenn der Lehrer sich sicher ist, dass er vor laufender Kamera abgelehnt hätte, dann kann man daraus doch nicht schließen, dass er sich in der vollkommenen Heimlichkeit der realen Situation gleichfalls fähig gefühlt hat, die Schülerin abzuweisen. Burkhardt begründet das fragliche Bewusstsein damit, dass er die Umstände verändert, unter denen sich der Lehrer entscheidet. Um ihn zu widerlegen und ihm das Bewusstsein des Anderskönnens nachzuweisen, versetzt Burkhardt ihn in eine ganz andere Lage, dergestalt, dass das Unfreiheitserlebnis des Nichtneinsagenkönnens von dem des Nichtjasagenkönnens abgelöst wird. Stillschweigend räumt Burkhardt damit ein, dass vor Gericht dem Lehrer unter den gegebenen Umständen das Bewusstsein des Nichtanderskönnens als unwiderlegbar zuzubilligen wäre – und seine Lehre den Freispruch zur Konsequenz hat. Eine falsche Entscheidung, die Burkhardt selber unbedingt vermeiden will. Selbstverständlich darf das Gericht den Lehrer nicht freisprechen. Die strafrechtlichen Regeln zur Schuld mögen unabgeschlossen sein und offen für ungeschriebene Einschränkungen. Aber es ist gewiss keine relevante Verteidigung, wenn der Angeklagte sich auf keine gesetzliche Schuldverneinung berufen kann und nur vorbringt: „Ich habe gegen die Versuchung angekämpft, aber sie war stärker als ich und ich habe die Tat begangen in dem Bewusstsein, nicht anders zu können“. Ich sagte, dass Burkhardt den richtigen Weg nicht zu Ende geht. Wie das gemeint ist, wird jetzt deutlich. Burkhardt löst sich mit Recht von dem Dogma, wonach ein dem Lehrer gemachter Schuldvorwurf „eigentlich“ ungerecht ist und man ihn „eigentlich“ nicht bestrafen darf. Seinen Widerspruch begründet Burkhardt nicht etwa mit dem Glauben an die Willensfreiheit. Er ist selbst Agnostiker, wenn nicht gar Determinist und geht davon aus, dass der Lehrer objektiv gesehen „nicht anders konnte“. Aber er bestreitet die Relevanz dieses Befundes und verneint die Prämisse, dass Schuld einen freien Willen voraussetze. Das ist ein richtiger und wichtiger Schritt, doch zeigt der Fall des Lehrers, dass es auch auf eine „epistemische“ Freiheit nicht ankommt, dass auch die „Lehre von der Maßgeblichkeit subjektiver Freiheit“ keine Zustimmung verdient. Mit dem missglückten Versuch, dem Lehrer für den gegebenen Fall durch Fallabwandlung ein Bewusstsein des Anderskönnens nachzuweisen, verrät uns Burkhardt, dass er selbst an dieser angeblich „notwendigen Voraus-

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setzung des Schuldvorwurfs“ nicht festhält, wenn sie einen als falsch empfundenen Freispruch ergibt.

VI. Die eigene Sicht Aber lassen wir Burkhardts Epistemismus ruhen und wenden wir uns wieder der problematischen, in der Theorie übergewaltig herrschenden Prämisse zu: „Ohne Willensfreiheit gibt es keine Schuld, und ohne Schuld lässt sich Bestrafung nicht rechtfertigen.“31 Auf der Grundlage des gleichfalls herrschenden Agnostizismus führt sie in unserem Beispiel zu dem Urteil, dass man dem Lehrer – auch wenn er selbst an seine Entscheidungsfreiheit geglaubt hätte! – keine Schuld vorwerfen kann und er die gesetzlich geforderte Bestrafung nicht verdient. Kann man es nicht mit Händen greifen, dass die Vernunft protestiert und die Prämisse falsch sein muss? Auch unter den philosophisch Gebildeten empört sich ja niemand über die Rechtslage, der offenbar ein common sense zugrunde liegt.32 Der Lehrer wird für seine Tat verantwortlich gemacht, sie wird ihm vorgeworfen, er ist des sexuellen Missbrauchs seiner Schülerin schuldig und wird deswegen zu Recht bestraft. Wenn auch mir, wie Merkel, etwas „robust plausibel“ erscheint, dann im Beispiel nicht die von der Prämisse verlangte Ent-, sondern die Beschuldigung des Lehrers, die das Gesetz fordert. 1. Ethische Bewertung trotz Willensunfreiheit Aber wie entkräften wir die praktisch unwirksame Prämisse auch in der Theorie? Das geht nur auf einem Umweg. Wir müssen uns klarmachen, dass der strafrechtliche Schuldvorwurf immer verbunden ist mit einer ethischen Bewertung der Tat, und uns fragen, welche Bedeutung der philosophischen Verneinung von Willensfreiheit für ethische Bewertungen allgemein zukommt. Stellen wir uns zum Vergleich einmal vor, der Lehrer wendet sich seiner Schülerin in ganz anderer Weise zu, nämlich indem er sie in akuter Not vor dem Ertrinken rettet und dabei das eigene Leben gefährdet. Hier würde wohl niemand sagen, eine sittliche, eine moralische Bewertung der Tat verbiete sich, weil der Lehrer nicht anders konnte, weil er in seinem Handeln streng determiniert war. Seine Willensunfreiheit spielt für das ethische Urteil keine Rolle, der Lehrer „verdient“ die Reaktion auf seine Tat, die er von der Gesellschaft 31

Lampe, ZStW 2006, 1 f. Natürlich bewirkt die Prämisse, dass Konzessionen gefordert werden, zu leisten von der Strafrechtslehre und vom Gesetzgeber. Aber bei näherem Hinsehen zielen die Forderungen zumeist nur auf verbale und terminologische Änderungen. So verlangt Tatjana Hörnle, Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf, 2013, S. 71 f., dass im Gesetz „der Begriff ,Schuld‘ konsequent vermieden“ werde. Für richtig hält sie es allerdings, dem Täter „Unrecht vorzuwerfen“ und ihn dafür auch „verantwortlich“ zu machen. Und die Verantwortlichkeit des Täters hängt auch für sie von den gesetzlichen Schuldregeln ab, von denen sie keine verwirft oder inhaltlich verändern will. Ich vermag zwischen „verantwortlich begangenem Unrecht“ und „schuldhaft begangenem Unrecht“ in der Sache keinen Unterschied zu erkennen. 32

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erfährt. Er verdient also Lob und Dank, obwohl – oder gerade weil – Charakter und Motiv ihn gezwungen haben, die gute Tat zu begehen. Und es würde diese Reaktion nicht schwächen, sondern eher noch verstärken, wenn der Lehrer sich selbst auf seine Unfreiheit beruft: Ich konnte gar nicht anders, ich hatte keine Wahl; als ich das Mädchen schreien hörte, da musste ich mich ins Wasser stürzen, auf die Gefahr hin, selbst zu ertrinken. Ist es nicht widersprüchlich, dass man aus solcher Alternativlosigkeit in anderen Fällen (wenn auch nur theoretisch!) folgert, der Lehrer sei vor jeder sittlichen Beurteilung seiner Tat und vor jeder gesellschaftlichen Reaktion zu bewahren? Mit dieser dem Juristen wohlvertrauten systematischen, auf Widerspruchsvermeidung pochenden Argumentation gegen die herrschende Prämisse („ohne Willensfreiheit keine Schuld“), die ich an anderer Stelle ausführlich vorgetragen habe,33 hat sich fair, eindringlich, anerkennend und dennoch ablehnend Reinhard Merkel auseinandergesetzt. Ein Hauptgrund seiner Ablehnung ist, dass er meiner Betonung des Gemeinsamen mit der des Gegensätzlichen widerspricht. Um im Beispiel zu bleiben: Für Merkel ist nicht entscheidend, dass der Lehrer in beiden Fällen eine ethisch irgendwie zu bewertende Tat begangen hat, sondern dass den Täter ganz verschiedene gesellschaftliche Reaktionen treffen; hier Tadel und Bestrafung, die ihn „verletzen“, dort Lob und Dank, die ihn „begünstigen“. Was verletzt, bedarf der Legitimation, Lob und Dank haben keine nötig.34 Gegen eine systematische Argumentation, die Gleichbehandlung fordert, ist der Hinweis auf Ungleichheit immer ein relevanter Einwand. Ich räume auch ein, dass mein Argument der „Symmetrie zwischen Lob und Tadel“ (wie Merkel es nennt), nicht zwingend ist. Aber mein Kritiker hätte bedenken müssen, dass man im praktischen Urteil die Prämisse „ohne Willensfreiheit keine Schuld“ gar nicht beachtet und sie nur als einen die Gerechtigkeit gefährdenden Ballast mit sich herumschleppt. Darum sollte man ein plausibles Bestreiten der Prämisse, das Praxis und Theorie in Einklang bringt, dankbar willkommen heißen. Und mir scheint dies plausibel: dass man ausgeht von der fast allgemein anerkannten Berechtigung, die determinierte gute Tat zu loben und zu belohnen, und dass man dazu analog auch das Recht bejaht, die determinierte schlechte Tat zu tadeln und zu bestrafen. In beiden Fällen, Lebensrettung hier, sexueller Missbrauch dort, geht es um ethische Bewertung, und es ist nicht einzusehen, warum die Determiniertheit menschlichen Handelns, unstreitig belanglos im Lebensrettungsfall, das ethische Werturteil im Missbrauchsfall verbieten soll. Nein. Wenn das Nichtanderskönnen des Täters uns offensichtlich nicht hindert, die gute Tat zu loben, dann ebenso wenig, die schlechte zu tadeln. Wer einen wertvollen Fund ehrlich abliefert, verdient Belohnung (Finderlohn), wer ihn unter33

(Fn. 6), S. 90 – 93 mit dem Resümee: „Die moralische Bewertbarkeit einer Tat ist mithin von einem Bekenntnis zum Indeterminismus nicht abhängig. Der Mensch verdient für gute Taten Lob, Dank und Anerkennung wie für böse Tadel, Verachtung und Strafe. Mit seiner Willensfreiheit, die ohnehin unbeweisbar und m. E. sogar erwiesenermaßen zu verneinen ist, hat das nichts zu tun“ (S. 92). 34 (Fn. 1), S. 744.

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schlägt, verdient Strafe (§ 246 StGB). Die Rechtsordnung darf dieses elementare Gerechtigkeitsempfinden der Menschen, das vom Glauben an die Willensfreiheit ganz unabhängig ist, nicht verfehlen, sie muss ihm Ausdruck geben. Reinhard Merkel flieht gewissermaßen vor meiner Argumentation nach vorn, indem er es dem Lebensretter abspricht, ein Lob für seine edle Tat wirklich zu verdienen. Der Lehrer „konnte, genau bedacht, nichts dafür, dass er ein Leben gerettet hat; im Sinne einer rein persönlich begründeten Letztverantwortung verdient hat er das Lob daher nicht“. „Diese Überlegung“, findet Merkel, wäre „keineswegs ,Unfug‘, sondern richtig und konsequent“. Doch nun fügt er an: Den Dank deswegen zu verweigern, das freilich wäre „Unfug und grob schlechtes Benehmen“.35 Hier lesen wir zunächst ein Bekenntnis zur Konsequenz, aber dem Bekenntnis folgt die Erkenntnis, nämlich dass die Konsequenz für das Leben nicht taugt, dass sie gesellschaftlich unerträglich wäre. Damit finden wir bei Merkel selbst das klassische argumentum ad absurdum vorgeführt: Es ist abwegig, vom philosophisch überzeugten Deterministen zu erwarten, dass er folgerichtig dem Lehrer Lob und Dank verweigere und die Verdienstlichkeit der Tat bestreite. Und das ist stets die Forderung des Argumentes: Verteidige nicht die absurde Konsequenz, sondern gib die Prämisse auf, woraus sie folgt. Das heißt hier: Es ist richtig, den Menschen für seine guten Taten zu loben und für seine bösen zu tadeln, obwohl er sie alle, gemäß seinem Motiv und Charakter, mit Notwendigkeit, also ohne Willensfreiheit begangen hat. 2. Klarstellungen Kritik an meiner Schuldlehre übt Reinhard Merkel auch unter der Überschrift „Charakter, Krankheit und Schuldvorwurf“.36 Dieser lange Abschnitt schürft tief und ist hochgelehrt, übrigens auch unterhaltsam und spannend. Ich gehe einer umfassenden Auseinandersetzung lieber aus dem Weg und beschränke mich auf Klarstellungen. Dass für mich „das Motiv einer Tat nichts anderes sei als Ausdruck des Charakters eines Handelnden“,37 kann ich in dieser Allgemeinheit nicht gelten lassen. Gewiss charakterisiert den Täter manchmal schon sein Tatmotiv, z. B. das Motiv für das Quälen des geliebten Hundes in Thomas Manns Erzählung „Tobias Mindernickel“. Aber normalerweise sind die Motive vom Charakter noch mehr oder minder weit entfernt. Der Fall des Lehrers ist ein Beispiel. Das Motiv, sexuelle Freuden zu genießen, entspringt nicht dem individuellen Charakter, es würde fast jeden Mann bewegen. Und ebenso das Gegenmotiv, die Angst vor den misslichen Folgen eines rechtlich und gesellschaftlich verpönten Sexualgenusses. Der Charakter des Lehrers kommt erst in der Weise ins Spiel, dass er im Widerstreit der Motive dem ersten den Sieg verschafft. 35

(Fn. 1), S. 744. (Fn. 1), S. 745 – 750. 37 (Fn. 1), S. 745 f.

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Merkels Ausführungen lassen meine Ansicht als eine „Charakterschuldlehre“ erscheinen.38 Sie kenne „als mögliche Exkulpationsgründe nichts anderes als die in § 20 StGB genannten mentalen Defekte. Motive anderen Ursprungs müssen dann eo ipso als schuldbegründend gelten und als nicht dem Defektbereich entstammend ausnahmslos dem Charakter zugeschlagen werden.“39 Diese Sätze zu korrigieren wird Merkel nicht zögern. Selbstverständlich ist ihm klar, dass ich alle Exkulpationen kenne und anerkenne, die sich aus dem Gesetz ergeben, nicht nur die wegen „mentaler Defekte“, die dem § 20 StGB unterfallen. Wer eine dem § 35 StGB zu subsumierende rechtswidrige Tat begeht, etwa zur Rettung des Lebens der Tochter, ist exkulpiert, obwohl von einem mentalen Defekt keine Rede sein kann. Und auch wo Motive „dem Charakter zugeschlagen werden“ müssen, lasse ich sie durchaus nicht „eo ipso als schuldbegründend gelten“. Die Aggressivität zweier Brüder, 13 und 15 Jahre alt, die immer wieder Mitschüler verprügeln, mag durch und durch charakterlich bedingt sein. Aber ihre Schuld ist feststehend (§ 19 StGB) bzw. unter Umständen (§ 3 JGG) zu verneinen. Und es kann am Charakter eines Angegriffenen liegen, dass er in Panik und Schrecken die Grenzen der Notwehr überschreitet; aber seine Entschuldigung nach § 33 StGB schließt das nicht aus. 3. Worauf kommt es an: auf das Gesetz oder die „normative Ansprechbarkeit“? So zeichnet sich eine Schulddefinition ab, die präzise und schlechterdings unbestreitbar ist: Strafrechtliche Schuld liegt vor, wenn jemand eine rechtswidrige Tat i.S. von § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB begeht, auf die keine gesetzliche Schuldverneinung zutrifft. Aber diesen Satz werden viele als trivial und unergiebig abtun; er sei ja rein positivistisch und treffe in seiner Negativität nicht das „Wesen“ der Schuld, das es doch zu erkennen gelte. Ich antworte: Die Negationen, die mein Satz zusammenfasst, ergeben insgesamt ein Positivum, das der Wesensbestimmung, wenn man Wert darauf legt, dienen mag. Dieses Positivum ist die Freiheit, ist das Freisein des Täters bei Begehung der rechtswidrigen Tat. Gemeint ist damit natürlich nicht die sog. Willensfreiheit, d. h. das Freisein des Täters in seiner Entscheidung, sondern das Freisein von etwas, was man ganz allgemein „Beeinträchtigung“ nennen kann. Betrachten wir die Täterin des Eingangsbeispiels! Ihre strafrechtliche Schuld besteht darin, dass sie rechtswidrig einen Parfümdiebstahl begeht und dabei frei ist von Defiziten und Bedrängnissen, die nach gesetzlicher Bewertung ihre Schuld entfallen lassen; wie etwa jugendliche Unreife, schwere Demenz, unzumutbarer Notstandsdruck, unvermeidbare Verbotsunkenntnis. Wir sehen sie vor uns in ihrer ausgereiften, mental und situativ unbeeinträchtigten Persönlichkeit, getrieben zwar von ihrem Motiv, vielleicht auch aufgeregt, besorgt und ängstlich, aber nach gesetzlicher Wertung – sie bleibt für mich das A und O – berühren diese seelischen Befindlichkeiten nicht ihre Autono38

satz. 39

So die ausdrückliche Kennzeichnung in Festschrift für Roxin (Fn. 1), S. 747 im 2. Ab(Fn. 1), S. 747.

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mie, die unter bestimmten Voraussetzungen alle, auch Deterministen, dem Menschen, und nur dem Menschen, zuschreiben. Diese aus dem beschriebenen Freisein hervorgehende Autonomie ist es, die es uns gerecht erscheinen lässt, die Täterin verantwortlich zu machen und ihr Schuld vorzuwerfen. Ich sehe hier eine starke Übereinstimmung mit dem Gedankengang, der Merkel dahin führt, sich Roxin anzuschließen. Der Schuldvorwurf setze voraus, sagt Merkel, „dem Handelnden eine bestimmte Art von Autonomie zuzuschreiben – eine Autonomie, die mit dem untauglichen Begriff einer Freiheit zum Andershandeln freilich nichts zu tun hat. Was sie bezeichnet, ist vielmehr ein hinreichendes Maß an (und sei es determinierter) Fähigkeit zur motivationalen und also normativen Selbstkontrolle“. Merkel übernimmt für diesen Fähigkeitsbefund Roxins Begriff der „normativen Ansprechbarkeit“. Er sei zwar „vage und abstrakt“, aber doch „ein plausibler Titel und der richtige Ausgangspunkt für die weitere Klärung der Probleme“.40 Ich würde dem rundum zustimmen, wäre da nicht der „vage und abstrakte Begriff“. Natürlich habe ich nichts dagegen, jedem Straftäter, z. B. auch Frau F im Drogeriemarkt normative Ansprechbarkeit zu bescheinigen. Aber ich bestreite, dass diese Formel in der Schuldfrage Erkenntnis schafft und „für die weitere Klärung der Probleme“ hilfreich ist. Entscheidend ist allein, ob das Gesetz die Schuld verneint. Findet sich vielleicht irgendwo die Vorschrift „Schuldhaft handelt nur, wer bei Begehung der Tat normativ ansprechbar ist“? Oder wenigstens: „Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat normativ nicht ansprechbar ist“? Eine solche Vorschrift gibt es nicht. Und darum verbietet es sich nach meiner Überzeugung, aus der Annahme des Fehlens der normativen Ansprechbarkeit die Schuldlosigkeit des Täters abzuleiten. Eben dies tut aber Merkel zum Vorteil eines abergläubischen Mannes in einem Beispiel, das dem bekannten „Katzenkönigfall“ nachgezeichnet ist: Der Täter anerkennt zwar das Tötungsverbot, glaubt aber, es „werde für ihn immer dann zwingend aufgehoben und ins Gegenteil verkehrt, wenn ein entsprechender Befehl der Erzengel an ihn ergehe“. Er handle, schreibt Merkel, „falls er eine solche Befehlslage annimmt und genau deshalb tötet, nicht etwa im Verbotsirrtum“; d. h. er hatte sehr wohl „die Einsicht, Unrecht zu tun“ (§ 17 StGB). Gleichwohl verneint Merkel „seine Schuldfähigkeit“, weil er bei Tatbegehung „normativ nicht ansprechbar“ sei. Begründung: „Dass er hinter solchen Befehlen das rechtliche Tötungsverbot ausnahmslos zurücktreten lässt, also dessen Bedeutung nicht konsistent begreift, schließt in diesen Situationen seine hinreichende Rezeptivität für die Brücke zwischen Sachlage und Normbefehl aus – und damit seine ,normative Ansprechbarkeit‘“.41 Ob man den Begriff bejaht oder verneint, scheint mir vom Belieben des Interpreten abzuhängen. Das haben „vage und abstrakte“ Begriffe so an sich. Merkel hätte nach der Verneinung des Verbotsirrtums ebenso gut die normative Ansprechbarkeit bejahen können: Wer einsieht, „Unrecht zu tun“ (§ 17 StGB), der wird vom norma40 41

Merkel (Fn. 1), S. 752. (Fn. 1), S. 755 f.

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tiven Verbot angesprochen, und er versteht es auch. Ein anderes Beispiel: Die berechtigte Besitzerin von Betäubungsmitteln übergibt einem Junkie Heroin, weil er ihre Katze ergriffen hat und sie zu töten droht. Einerseits kennt die Täterin das Betäubungsmittelgesetz. Andererseits kann man sagen, die Angst um ihre Katze mache sie taub für dessen Verbote (hier: § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtmG), sodass sie in dieser besonderen Lage insoweit normativ unansprechbar sei. In meinen Augen ist die Beliebigkeit aber ein Problem, das sich der Rechtsanwendung gar nicht stellt. Ob der Täter einer strafrechtlich relevanten Tat „normativ ansprechbar“ ist, ist völlig belanglos. Man muss prüfen, ob er nach einer Gesetzesvorschrift gerechtfertigt oder wenigstens schuldlos gehandelt hat. In Merkels Beispiel kann sich Letzteres aus § 17 S. 1 StGB oder § 20 StGB ergeben. In meinem Heroinfall wird man eine Rechtfertigung nach § 34 StGB oder eine Entschuldigung nach § 35 StGB in Betracht ziehen. Wenn man jeweils beide Vorschriften verneint, dann sind die Möglichkeiten der Befreiung erschöpft, und das Delikt ist zu bejahen. 4. Negative und positive Aussagen zur Schuld Am Ende bleibe ich dabei, die strafrechtliche Schuld durch eine Negation zu definieren („wenn keine gesetzliche Schuldverneinung zutrifft“), weil nur diese Definition fehlerfrei und aussagekräftig ist. Anzumerken ist, dass auch das Strafgesetzbuch den Schuldbegriff, wo er eine Strafbarkeitsvoraussetzung bezeichnet, stets mit einem Negationswort oder -wortteil verbindet. Das Gesetz vermeidet die positive Definition, was unter „Schuld“ zu verstehen sei, und enthält auch keine Vorschrift, die positiv etwa sagen würde, dass wegen einer „rechtswidrigen Tat“ nur zu bestrafen sei, wer sie „schuldhaft“ oder „mit Schuld“ begangen habe. Vielmehr legt das Gesetz fest, wann ein Täter ohne Schuld handelt (§§ 17, 20, 35 Abs. 1 StGB), welche Umstände ihn „entschuldigen“ (§ 35 Abs. 2 StGB) bzw. unter welchen Voraussetzungen er „schuldunfähig“ ist (§ 19 StGB). Ein Dreizehnjähriger kann also beim Begehen einer rechtswidrigen Tat nicht schuldhaft handeln. Das besagt § 19 StGB mit seinem Begriff der Schuldunfähigkeit. Wenn man nun versucht, dazu den Gegenbegriff zu definieren, so muss das schiefgehen. Frister versucht es mit der Aussage: „Die Schuldfähigkeit ist […] die Fähigkeit, sich auf hinreichend verständige und deshalb für die Normgeltung relevante Art und Weise für oder gegen die Beachtung der Norm zu entscheiden.“42 Wie immer das gemeint ist, auch Kindern ist diese Fähigkeit oft schon zuzusprechen. So steckt in Fristers abstrakter Definition die konkrete Behauptung, dass ein dreizehnjähriger Gymnasiast, der sich normalerweise korrekt verhält, „schuldfähig“ ist, wenn er einen Ladendiebstahl begeht. § 19 StGB sagt das Gegenteil. Ein Fehlgriff ist auch das Jakobs-Zitat ein paar Zeilen später. Frister meint, seinem „Verständnis der Schuldfähigkeit“ entspreche „Jakobs’ Deutung der Schuldfä42

(Fn. 11), S. 546.

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higkeit als ,Kompetenz, Normgeltung zu desavouieren‘“43. Jakobs sagt aber, dass nach § 19 StGB „Kinder […] zurechnungsunfähig sind, weil sie nach der „Präsumtion“ des § 19 StGB „nicht kompetent sind, die Normgeltung zu desavouieren“44. Frister macht aus der negativen eine positive Aussage und verfälscht sie dadurch. Denn Jakobs sagt durchaus nicht, dass wer die Kompetenz habe, Normgeltung zu desavouieren, auch schuldfähig sei.

VII. Zu guter Letzt Hier setze ich meinen Überlegungen zum strafrechtlichen Schuldbegriff ein Ende, so gern ich auch ihre deterministische Grundlage noch begründen würde. Darum begnüge ich mich damit, den Leser mit einer nackten These zu provozieren: Im Sinne indeterministischer Freiheit verstanden, ist die Freiheit der Willensbildung gerade nicht Voraussetzung des Schuldvorwurfs, sondern das, was ihn verböte. Nicht das indeterministische – das deterministische Menschenbild ist die allein tragfähige Grundlage unseres Schuldstrafrechts. Ich hoffe auf das Umfeld und die Gelegenheit, darüber mit meinem Freund Reinhard Merkel weiter zu streiten. Hier habe ich ja, bei allem Beifall, damit begonnen. Aber ich kenne den Jubilar als einen Juristen und Philosophen von Rang. Sein wissenschaftliches Ethos heißt den Widerspruch, der sich um Gründe bemüht, genauso willkommen wie die Zustimmung. Hab ich nicht in einem ersten brieflichen Kontakt mit dem jungen Kollegen, der damals noch Assistent war, ein wenig von oben herab gesagt, er sei da oder dort „mit seinem Latein am Ende“? Wenn er es jemals war, in Sachen „Willensfreiheit und rechtliche Schuld“ ist er es gewiss nicht, und es würde mich freuen, wenn er meinem Widerspruch widerspräche, sei es auf einem Podium oder in gedruckter Form. Denn seine Schriften zu lesen, ihm zuzuhören und zu antworten ist seit langem ein wichtiger Teil meines rechtswissenschaftlichen Bemühens. Ihn und mich verbindet vor allem auch die langjährige Zusammenarbeit in Seminaren, die unsere Freundschaft begründet haben. Sie waren geprägt von seiner Eloquenz, Phantasie und angloamerikanischen Kasuistik. Ich habe von Reinhard Merkel viel gelernt, und ich verdanke ihm wie wenigen anderen den Reichtum und die Schönheit meines Berufes.

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(Fn. 11), S. 547. Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, 18/1 (Hervorhebungen von mir).

Zur Feststellung schwerer seelischer Abartigkeit, oder: Wieviel Selbstreferentialität verträgt die Schuld? Von Thomas Fischer

I. Einleitung Ob, wann und warum der Mensch frei, die Tat böse, die Schuld groß und die Strafe gerecht seien, sind Fragen von über die Zeit nicht nachlassender Aktualität, deren Stellen und Beantworten ein erheblicher Anteil von Selbstreferentialität innewohnt. Das liegt, sozusagen, in der Natur der Sache, und ähnelt insoweit der ewigen Frage, was Soziologie sei. Die intuitive Erfahrung sagt, dass Juristen besonders große Schwierigkeiten damit haben, Rückbezüglichkeit als solche zu erkennen, weil dies zur Folge hat, dass der eigene Standort sich aufweicht und zum Gegenstand unsicherer Prozesse wird. Entgegengesetzt werden der Ungewissheit zum einen Begriffe, zum anderen Methoden. Beides ist unvermeidlich, mildert den Schmerz aber nur ab, der aus der Notwendigkeit entsteht, eine dynamisch-chaotische Wirklichkeit mit Begriffen zu beschreiben, die ihrer Intention nach auf Vorhersehbarkeit und Steuerung abzielen. Ein beispielhafter Ort dieses Konflikts ist die „Schuldfähigkeit“. Ihre begriffliche Entwicklung aus der Zurechnungsfähigkeit verdunkelt den Focus eher als ihn zu erhellen, denn der Begriff „Schuld“ verlegt den Ort des Geschehens ganz ins Innere, während „Zurechnung“ ihn externalisiert und so deutlich macht, um was es in Wahrheit geht. Im Folgenden soll die – keineswegs neue – Problemlage noch einmal am Beispiel sexueller Devianz verdeutlicht werden.

II. Recht und Wirklichkeit „Schuld“ setzt, damit das (Straf-)Recht sich damit befasst, rechtswidrige Taten voraus. Schon in diesem schlichten Axiom liegen die Probleme verborgen, denn „Taten“ sind nicht natürliche Geschehnisse, sondern Handlungen, die rechtliche (Tatbestands-)Merkmale verwirklichen. Das Strafrecht geht also zunächst mit Wahrheiten um, nicht mit Wirklichkeiten. Deshalb ist es erforderlich, beides voneinander zu trennen und zugleich genau zu wissen, wo die Grenze verläuft und nach welchen Kriterien der Übergang von der einen Sphäre (Wirklichkeit) in die andere (Wahrheit) erfolgen muss, um jeweils in einer „konkreten“ sozialen (gern „historischen“) Kon-

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Thomas Fischer

stellation Geltung zu erlangen. Die Schuld und namentlich ihr postulierter Ursprung in der Schuld-„Fähigkeit“ sind insoweit besonders sperrig. Am einfachsten wäre es, wenn alles in eins fallen würde: Abweichung, Störung, Tatbestand und Schuld oder Unschuld. Der 2. Strafsenat des BGH, dem der Verf. 17 Jahre lang angehörte, hat hierüber (mindestens) einmal diskutiert, und zwar im Fall des so genannten „Kannibalen von Rotenburg“ (Beschluss vom 22. April 2005 – 2 StR 310/041; zweiter Durchgang: Beschluss vom 7. Februar 2007 – 2 StR 518/062). Der Senat hat damals das erste Urteil des LG Kassel auf die Revision der Staatsanwaltschaft aufgehoben, weil die Voraussetzungen des Mord-Tatbestands nicht fehlerfrei geprüft worden waren. Die im zweiten Durchgang erfolgte Verurteilung wegen Mordes in Tateinheit mit Störung der Totenruhe wurde rechtskräftig, die Revision des Angeklagten verworfen. Damit wurde die Feststellung des LG bestätigt, dass zur Tatzeit weder die Einsichts- noch die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten erheblich beeinträchtigt gewesen seien.3 In der Beratung des Senats wurde damals erörtert, ob diese Annahme möglich und tragfähig begründet sei oder ob sich sozusagen schon aus der Qualität der Tat selbst die Annahme aufdränge, die Schuldfähigkeit des Täters müsse (mindestens) eingeschränkt sein. Hierbei war die Besonderheit zu beachten, dass der Angeklagte sich im Rahmen seiner sexuell-kannibalistischen Tatmotivation und Ausführung überaus kontrolliert, abwägend und planend verhalten hatte, etwa indem er früher begonnene Tatausführungen auf Einwände von präsumtiven Opfern bereitwillig abbrach. Eine Einschränkung der Steuerungs-Fähigkeit lag also, wenn Einsicht gegeben war4, keinesfalls nahe. An der Einsicht konnte man unter Umständen Zweifel haben. Das LG hatte sich allerdings auch mit diesem Gesichtspunkt rechtsfehlerfrei auseinandergesetzt. Es gab, zeitlich nicht weit entfernt, einen zweiten (mutmaßlichen) „Kannibalen“Fall beim 2. Strafsenat: 2 StR 367/045 (LG Frankfurt am Main). Er war von anderen Rechtsfragen bestimmt, hatte aber durchaus auch ähnliche Implikationen. Das Landgericht hatte festgestellt, die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten sei möglicherweise voll erhalten, möglicherweise gänzlich aufgehoben gewesen. Im Zweifel sei daher von der Schuldunfähigkeit des Angeklagten auszugehen. Es hatte den Angeklagten freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die „nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen“, denen es sich angeschlossen hatte, waren wie folgt wiedergegeben: „Insgesamt wirke der Angeklagte in seinem Gesamtverhalten hoch auffällig. (…) Der Zustand des Angeklagten gehe über eine bloße Persönlichkeitsstörung deutlich hinaus (…) 1

BGHSt 50, 80 = NStZ 2005, 505. Zur Verfassungsbeschwerde siehe BVerfG, Beschl. v. 7. 10. 2008 – 2 BvR 578/07. 3 Vgl. dazu u. a. Kreuzer, StV 2007, S. 598; Mitsch, ZIS-Online 2007, S. 197; Momsen/ Jung, ZIS-Online 2007, S. 162. 4 Bei Fehlen von Einsicht kann es auf die „Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln“ (Steuerungsfähigkeit), nicht ankommen. 5 Beschl. v. 22. 11. 2004 – 2 StR 367/04, BGHSt 49, 347. 2

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Auch eine klassische schizophrene Psychose und mithin eine Geisteskrankheit im engeren Sinne liege (…) nicht vor. Bei der Störung des Angeklagten handle es sich um eine solche, welche zwar in seiner Persönlichkeitsstörung verankert sei, jedoch schizophrenietypische Züge trage. Die schizotype Persönlichkeitsstörung sei entweder unter das Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung oder unter das der anderen seelischen Abartigkeit zu fassen (…) Aufgrund der festgestellten Erkrankung des Angeklagten sei seine Steuerungsfähigkeit zumindest erheblich vermindert, möglicherweise auch ausgeschlossen. Hinsichtlich der Einsichtsfähigkeit sei von deren vollen Erhalt bis hin zu deren völligen Verlust alles denkbar (…)“

Der 2. Strafsenat hat die Entscheidung aufgehoben, weil das LG sich auf der genannten Grundlage nicht ohne Weiteres der Wertung des Sachverständigen habe anschließen dürfen.6 In beiden Fällen hat der BGH entschieden (bzw. unterstellt), dass aus der bloßen Qualität einer Abweichung keinesfalls ohne Weiteres auf die Ebene der Schuldfähigkeits-Beurteilung geschlossen werden könne, denn sonst würden zwei Differenzierungs- und eine Wertungs-Ebene übersprungen: die Unterscheidung zwischen Abweichung und „psychischer Störung“, die Unterscheidung zwischen Störung und Schuldfähigkeitsvoraussetzung sowie die konkrete Bewertung der Störung im Hinblick auf Tat und Tatzeitpunkt. Ergänzend ist auf das Merkmal der „Erheblichkeit“ in § 21 StGB hinzuweisen, das nach ständiger Rechtsprechung ein Rechtsbegriff ist und eine merkwürdige Zwischenstellung im Verhältnis von § 20 zu § 21 einnimmt: Schuld-Fähigkeit als Einsichts- oder7 Steuerungsfähigkeit ist entweder gegeben oder nicht. Die in § 21 erwähnte Erheblichkeit ist nur als Bestimmung der „Einschränkung“ und diese nur als Nicht-Aufhebung von Belang. Für die Einsichts-Komponente ist (vgl. § 17 StGB) zwischen der Fähigkeit und dem tatsächlichen Vorhandensein zu unterscheiden. Dem Modell der „Schuldfähigkeit“ in §§ 20, 21 scheint also zum einen eine zweisäulige (Einsicht; Steuerung) quantitative Skala von „vollständig vorhanden“ bis „gerade noch vorhanden“ zugrunde zu liegen, zum anderen eine Zweiteilung in „vorhanden“ und „nicht vorhanden“. Impliziert ist damit eine quantitative Differenzierbarkeit des Bereichs „vorhanden“, wobei allerdings die Maßeinheiten ebenso wie die empirische Zugänglichkeit nicht in abstrakter Form benannt werden können, sondern sich aus konkreten Analogien ergeben: Wie genau sich etwa die UnrechtseinsichtsFähigkeit oder die Hemmungs-Fähigkeit (Steuerungsfähigkeit) eines Menschen vom Zustand vollständiger Normalität (Gesundheit?) bis zur Grenze der „gerade noch vorhandenen“ Feststellbarkeit vermindert und wie sich dies hinsichtlich der tatsäch6

Anmerkung: Besonderheit an diesem Fall war, dass die Staatsanwaltschaft keine Revision eingelegt hatte. Wäre also im zweiten Durchgang volle Schuldfähigkeit festgestellt worden, hätte nach damaliger Rechtslage wegen des Verbots der reformatio in peius keine Unterbringung, aber auch keine Strafe angeordnet werden können. Dieser Fall führte dazu, dass der Gesetzgeber die Vorschrift des § 358 StPO ergänzt hat (Gesetz vom 16. 7. 2007, BGBl I S. 1327). 7 Entgegen vielfach missverständlichen Formulierungen geht nicht beides zugleich: „Nach einer Einsicht zu handeln“ vermag nur der, der eine solche hat. Wer keine Unrechtseinsicht hat, ist nicht steuerungsunfähig (vgl. § 17 StGB), da es schon am Steuerungsanlass fehlt.

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lich gegebenen Umsetzung dieser „Fähigkeiten“ verhält, bleibt weithin im Dunkel der Grenzbestimmungen. Hinzu kommt der Umstand, dass schon durch § 17 StGB eine ausdrückliche normative Einschränkung der Säule „Einsicht“ erfolgt, so dann man sich das Modell schematisch wohl etwa wie folgt vorstellen kann: Einsichtsfähigkeit

Tatsächliche Einsicht

Steuerungsfähigkeit

Tatsächliche Steuerung

Folge

vorhanden: graduell von vollständig >> bis gerade noch

vorhanden

vorhanden graduell von vollständig >> bis gerade noch

vorhanden

Schuld

vorhanden, aber erheblich eingeschränkt

vorhanden

vorhanden

vorhanden

Schuld

vorhanden, aber erheblich eingeschränkt

fehlt vorwerfbar

entfällt*

entfällt*

verminderte Schuld8

vorhanden, aber erheblich eingeschränkt

fehlt nicht vorwerfbar

Entfällt*

Entfällt*

Unschuld

vorhanden

vorhanden

vorhanden

erheblich eingeschränkt

Schuld

vorhanden

vorhanden

erheblich eingeschränkt

erheblich eingeschränkt

verminderte Schuld

vorhanden

vorhanden

erheblich eingeschränkt

erheblich eingeschränkt

verminderte Schuld

vorhanden

vorhanden

fehlt

fehlt

Unschuld

fehlt

fehlt

Entfällt*

Entfällt*

Unschuld

* Siehe Fußnote 7

III. Abweichung und Störung am Beispiel sexueller Devianz „Sexualität“ – gemeint: sexuelle Motivation, sexuelles Handeln oder gedankliche Befassung mit Sexualität – gerät grundsätzlich nur dann in das Blickfeld der strafrechtlichen Terminologie von der „seelischen Abartigkeit“ (§ 20), wenn sie in einem möglichen Zusammenhang mit der Verwirklichung von Straftatbeständen steht: - Ein Tatbestand kann gerade die Vornahme einer spezifisch sexuellen Handlung voraussetzen (Beispiel: § 176, § 177);

8

Vgl. z. B. BGH NStZ-RR 2013, 71; ständ. Rspr.

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- Ein sexuell unspezifischer Tatbestand kann durch sexuelle Interessen motiviert sein (Beispiel: Diebstahl, Raub, Hausfriedenbruch). Übergänge bestehen etwa bei Körperverletzung (§ 223) oder Beleidigung (§ 185). - Eigene oder fremde Sexualitätsbezogene Handlungen oder Motive können Inhalt anderweitig motivierter Taten sein (Beispiele: Menschenhandel, Zwangsprostitution, Zuhälterei); - Sexualitätsbezogene Persönlichkeitsmerkmale können mittelbar zu kriminogenen Situationen und/oder Tatgeneigtheit führen (also etwa sexuelle Präferenzen als Grundlage kriminogener sozialer Zusammenhänge); oder - Psychische Einschränkungen (etwa: Intelligenzminderungen) können mit sexualbezogenen Abweichungen verbunden sein und insoweit zu Rechtsgutsverletzungen im Sexualbereich führen. Mit dieser – nicht abschließenden – Aufzählung ist vorausgesetzt, dass das „bloße“ sexuelle Handeln oder So-Sein im Sinn einer personalen sexuellen Identität keine „Tat“ im Sinne des Strafrechts und daher einer Bewertung unter Schuldfähigkeits-Gesichtspunkten weder bedürftig noch zugänglich ist. Das gilt freilich nur im Grundsatz und war auch unter der Geltung von § 20 StGB nicht stets selbstverständlich: Bekanntlich ist erst im Jahr 1994 der frühere § 175 StGB – homosexuelle Handlungen von Männern – aufgehoben worden. Er knüpfte zwar an „unzüchtige“ (bzw. sog. „sexuelle“) Handlungen an und ließ die bloße „Disposition“ hierzu nicht ausreichen. Er beinhaltete damit aber ein strafrechtlich sanktioniertes lebenslanges, absolutes Verbot, die individuelle sexuelle Identität jenseits purer Fantasie jemals zu realisieren. Die postulierte Rechtsverletzung war dabei einerseits auf das Rechtsgut der „Sittlichkeit“ gestützt, andererseits auf die Annahme, Homosexualität bei Männern sei eine Art ansteckende Krankheit, von welcher man die Betroffenen „heilen“ könne oder solle und die Jugend schützen müsse.9 Dies gilt heute, soweit es § 175 aF angeht, als menschenrechts- und menschenwürdewidriger Eingriff in personale Freiheit. Danach ist es von vornherein grundrechtswidrig, Personen die bloße Verwirklichung ihres existenziellen „So-Seins“ lebenslang bei Strafandrohung zu verbieten, wenn es keine „weiter gehenden“ Rechtsgüter verletzt oder gefährdet. Das ist, nach heute fast allgemeiner Ansicht, bei einverständlichen sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen nicht der Fall. Diese Annahme erlangt ihre Legitimation freilich nicht aus sich selbst heraus. Sie hat vielmehr nur Gewicht, wenn man die sexuelle Präferenz „(männliche) Homosexualität“ von vornherein als rechtsguts-indifferent definiert und weder unter dem Gesichtspunkt der „Verführung“ noch unter dem von sozial bedingten Sekundär-Gefahren10 für strafrechts-relevant hält. 9 Vgl. etwa noch die Kommentierung in Dreher/Tröndle, Strafgesetzbuch und Nebengesetze (Kommentar), 46. Auflage (1991), Rdn. 1 zu § 175, und Tröndle, 48. Auflage (1997), Rdn. 3a zu § 182. 10 Etwa durch hohe Promiskuität, verbreitete praktische Formen der sexuellen Betätigung, Gefährdungen durch soziale Randgruppen-Phänomene.

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An anderer Stelle wird dies nicht mit derselben Gewissheit postuliert. Das gilt vor allem für pädophil orientierte Sexualität, die in weiten Teilen der Gesellschaft entweder gar nicht als Menschenwürde-konnotiertes „So-Sein“ akzeptiert oder trotzdem mit „krimineller Veranlagung“ und mit Taten nach §§ 176 ff., 174, 182 StGB gleichgesetzt wird.11 Das hat insoweit einen rationalen Kern, als die genannten Tatbestände sich auf plausibel postulierte Verletzungen (jedenfalls nahe liegende Gefährdungen) personaler Rechtsgüter beziehen (sexuelle Selbstbestimmung; sog. „ungestörte Entwicklung“ von Kindern; ggf. Jugendlichen). Es gerät aber an seine Grenzen, soweit dieser Rechtsgutsbezug weithin oder „tendenziell“ aufgelöst wird: Etwa beim Tatbestand des Besitzes oder des Sich-Verschaffens von kinderpornografischen Schriften (bzw. dem Versuch dazu; § 184b), soweit er auch allein virtuelle, für den allein individuellen Gebrauch bestimmte Schriften betrifft. Hier wird der Bezug zum Rechtsgut besonders weit abstrahiert.12 Dasselbe gilt für Verbreitung (i.w.S.) von tier-pornografischen13 Schriften, die ausnahmslos das Herstellen, Erwerben und Verbreiten (an Erwachsene mit deren Einverständnis oder auf deren Verlangen) von Darstellungen von Handlungen verbieten, die ihrerseits straffrei sind (§ 184a). Auch die geschlechtsspezifische – man wird wohl sagen müssen: offen sexistische –, in Legitimität und praktischem Sinn zweifelhafte Strafvorschrift des § 183 StGB (Exhibitionismus als Vorzeigen von primären Geschlechtsmerkmalen durch Männer zum Zweck [eigener] sexueller Erregung) ist hier zu nennen; ebenso § 183a StGB (öffentliches Ärgernis14). Zu unterscheiden ist zwischen Abweichung (im sozialen / empirischen) und Störung (im klinischen Sinn). Diese Differenzierung ist für das Strafrecht zumindest von mittelbarer Bedeutung, impliziert aber wiederum die Annahme, dass nicht aus dem Vorliegen einer Abweichung vom empirisch „Normalen“, Durchschnittlichen oder Üblichen ohne Weiteres in eine Prüfung der rechtlichen Wertungen der §§ 20, 21 StGB gesprungen werden darf. Dies geschieht in der forensischen Praxis gern unter dem Begriff der „Paraphilie“. Der 5. Strafsenat des BGH hat hierzu – beispielhaft – in einem Beschluss vom 19. 2. 199815 ausgeführt16: 11 Für die außerstrafrechtliche soziale Sanktionierung gilt dies in besonders hohem Maß. Erinnert sei an den Fall des Politikers Edathy im Jahr 2014, für den die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens und die Erhebung einer Anklage wegen des Verdachts des (pädophil motivierten) Sich-Beschaffens von jugendpornografischen Bildern zur vollständigen sozialen Ausgrenzung und zum Verlust der bürgerlichen Existenz führte. Das Verfahren wurde gem. § 153 Abs. 2 StPO gegen Zahlung einer Geldbuße an den Deutschen Kinderschutzbund eingestellt. Der begünstigte Kinderschutzbund weigerte sich aus Protest gegen die Einstellung, die Zahlung anzunehmen. 12 Man könnte auch die geplante (Stand: 30. 09. 2019) Versuchsstrafbarkeit des sog. „Cybergroomings“ gem. § 176 Abs. 6 hier einordnen. 13 Und auch gewalt-pornografischen. 14 Mit zahlreichen dogmatisch unklaren Varianten, in der Strafverfolgungs-Praxis aber fast ausschließlich sexual-bezogen. 15 Beschluss vom 19. Februar 1998 – 5 StR 605/97, NStZ-RR 1998, S. 174. 16 Die Entscheidung betraf § 63 StGB.

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Leitsatz 3: „Mit der Umschreibung einer Persönlichkeitsstörung als ,Paraphilie mit sadistischer Prägung‘ allein ist noch nicht hinreichend dargetan, dass der Zustand des Angeklagten auch den Grad einer schweren seelischen Abartigkeit erreicht.“

Das entspricht ständiger Rechtsprechung. Bei näherem Hinsehen enthält die Formulierung allerlei Unwägbarkeiten: Ein „Grad“ ist ein quantitativer, kein qualitativer Begriff. Als Qualität (Frage: Grad von Was?) nimmt der Senat offenbar den Gesetzesbegriff „Zustand“ in Bezug, der als solcher unbestimmt ist und auf eine irgendwie beschaffene psychologisch-individuelle Existenz und damit letztlich zirkulär auf seine eigene Folge verweist, indem es in § 63 Abs. 1 StGB heißt: „Hat jemand im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit eine rechtswidrige Tat begangen …“. Mit anderen Worten: „Paraphilie“ ist – so der 5. Strafsenat – ein „Zustand“. Dieser kann – quantitativ! – einen „Grad erreichen“ (oder auch nicht), der ebenfalls ein „Zustand“ ist und „schwere seelische Abartigkeit“ heißt (also ein sog. „Eingangsmerkmal“ des § 20 StGB ist). Hieraus folgt, dass „schwere seelische Abartigkeit“ eine quantitative Stufe des Zustands der Paraphilie ist: Auf einer gedachten (quantitativen) Skala von paraphilen Zuständen gibt es eine Grenz-Markierung, unterhalb derer eine „schwere seelische Abartigkeit“ nicht gegeben ist und oberhalb derer sie vorliegt. Diese Grenze ist ausdrücklich allein vom „Grad“ abhängig und enthält in der genannten Definition kein zusätzliches qualitatives oder rechtliches Filter-Kriterium. Zugleich ist der „Zustand“ der Schwere (von Abartigkeit resp. von „Störung“) aber nach dem Gesetz auch eine Maßeinheit von „Schuld-Unfähigkeit oder verminderter Schuldfähigkeit“ (§ 63 Abs. 1 StGB) – also von zwei Wertungsstufen, die im Gesetz ihrerseits als „Zustände“ bezeichnet werden. Letztere Formulierung ist mindestens missverständlich, denn „Schuld“ ist kein empirischer „Zustand“, sondern eine soziale (und nicht medizinische!) Bewertung. Ob „Schuld“ gegeben ist oder nicht, ist also keine Frage eines quantitativen, empirisch messbaren „Grades“ irgendeiner (Störungs-)Substanz. Daher kann „Fähigkeit zur Schuld“ im Grundsatz ähnlich wenig eine unmittelbare empirische Entsprechung von Schuld sein, wie „Wahrheitsfähigkeit“ einer Person die Voraussetzung von Philosophie sein könnte. Es gibt keine unmittelbare Ableitung des Sollens aus dem Sein. „Schuld“ ebenso wie Schuld-Fähigkeit können überdies nur in Bezug auf ein bestimmtes Verhalten (eine „Tat“) wahrgenommen und gemessen werden. Das ergibt sich grundsätzlich schon aus dem Begriff selbst und findet in § 20 StGB im Koinzidenzprinzip seinen Ausdruck. „Fähigkeit zur Schuld“ – also zur „Verantwortung“ oder zur „Zurechnung“17 – ist im geltenden Strafrechtssystem ein existenziell an die Qualität als Mensch geknüpf17 Das ist sprachlich nicht ganz dasselbe: „Schuld haben“ oder „schuldig sein“ hat eine aktivische Konnotation: Die Schuld kommt aus dem Subjekt. „Verantwortung“ und erst recht „Zurechnung“ sind dagegen passiv konnotiert: Sie kommen von außen auf das Subjekt.

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tes, insoweit also normatives Postulat: Tiere18 oder Roboter sind (jedenfalls derzeit) nicht „schuldfähig“, mögen sie noch so intelligent sein oder noch so viel „Einsicht in das Unrecht“ ihres Tuns haben.19 Im Bereich des Mensch-Seins (also einer Qualität) wird zwischen Kindern (bis 14 Lebensjahre) und Nicht-Kindern (ab 14 Lebensjahre) unterschieden, wobei diese Differenzierung nicht eigentlich qualitativ begründet ist, sondern in abstrahierender Weise an quantitative Postulate anknüpft („Reife“). Das ist der Grund, warum zwar eine Senkung der Altersschwelle der Schuldfähigkeit (etwa: auf 12 Lebensjahre) ernsthaft diskutiert wird, nicht aber etwa die Einführung einer Schuldfähigkeit von Kampfhunden. Oberhalb der Schwelle gelten gemischt empirisch-normative Maßstäbe: SchuldFähigkeit als normativer Begriff bezieht sich auf einen empirisch ermittelten „Normal“-Zustand, der als „Gesundheit“ definiert ist und als durchschnittliche Motivationsfähigkeit bei stabilisierungsfähigem Verhältnis von Frustration und Belohnung beschrieben werden könnte. Das Charakteristische im normativen Umgang mit dieser Marke ist, dass ihr nach oben keine Abstufungen zukommen, nach unten aber unendlich viele bis zur Untergrenze der „Unfähigkeit“. Man kann also zwar empirisch besonders unrechtssensibel oder verantwortungsempfänglich sein, nicht aber „besonders schuldfähig“.20 Die Untergrenze der „Unfähigkeit“ wird als vollständiges Heraustreten aus dem als „Normal“ und „gesund“ angesehenen Motivationssystem verstanden. Hier finden sich also der „Wahnsinn“ und die „Verrücktheit“, die in der neueren Rechtsprechung nurmehr als quantitativ-graduelle Disposition angesehen werden: „Allgemeine Diagnosen“ etwa von Schizophrenie, Bipolarer Störung oder Wahnerkrankung reichen ebenso wenig wie die Feststellung hirnorganischer Defekte aus, um über „Schuld“(-Fähigkeit) zu entscheiden.21 Insoweit kann man also vorläufig zusammenfassen, dass die normative Struktur des Rechts, die nur locker an Alltagserfahrungen sowie an soziale und politische Postulate geknüpft ist22, sich für die Zurechnung ihres hauptsächlichen Gegenstands, der 18 Vgl. dazu Schumann, „Tiere sind keine Sachen“ – Zur Personifizierung von Tieren im mittelalterlichen Recht, in: Herrmann (Hrsg.), Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium, 2008 – 2009, 2009, S. 181. 19 Was jedenfalls Hunde-, aber auch andere Haustierhalter bekanntlich – nicht selten mit einiger Plausibilität – nachhaltig behaupten. Erst recht zweifelhaft scheint es, eine klare Grenze zwischen der Schuld-Unfähigkeit von großen Menschenaffen und der Schuld-Fähigkeit von Menschen bestimmen zu wollen. Wenn Empathie, Normativität und „Charakter“ – neben „Freiheit“ des Willens, also Selbstreflexion – bestimmende Elemente der Letzteren sein sollten, wird die Abgrenzung überaus schwierig. 20 Was aus Sicht der forensischen Psychiatrie eine Ungerechtigkeit, jedenfalls eine Zumutung bedeuten könnte: Wer zur Tat-Begehung eine besonders hohe Schwelle überschreiten musste und erfolgreich überschritten hat, könnte als besonders „heilungs“- und korrekturbedürftig angesehen werden. 21 Vgl. etwa BGH NStZ-RR 2008, 39; 2012, 306; 2016, 239; NStZ 2012, 98. 22 In einer Agrar-Gesellschaft mit dominierendem Anteil einfachster (Hand)Arbeit und starren Klassengrenzen ist die Zahl der sozialverträglich integrierbaren Narren, Idioten und Wunderlichen viel größer als in hoch arbeitsteiligen städtischen Sozialwesen.

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Schuld, einer Rationalität der medizinisch-psychologischen Empirie bedient: Wenn es keine strafrechtliche Schuld ohne Schuldfähigkeit gibt und diese durch das „gesunde“ Funktionieren des Gehirns gekennzeichnet ist, kann die Tatschuld (§ 20 StGB) nur als Verhältnis eines Gehirnzustands zu einer Handlung gemessen werden. Kranke Gehirne produzieren zwar „Taten“, aber keine Schuld, weil sie hierzu nicht „fähig“ sind. Das hat man früher bekanntlich anders gesehen, ist heutzutage aber nicht mehr mit Aussicht auf Erfolg bestreitbar. Auch im Verhältnis von Paraphilie (einem wie auch immer, aber eindeutig klinisch/empirisch definierten Abweichungs-Zustand) und „schwerer Abartigkeit“ (einem gleich doppelt uneindeutig normativ bestimmten Fähigkeits-Zustand), liegt die Abgrenzungsproblematik zwischen normativen und empirischen Maßstäben auf der Hand. In der Praxis wird sie noch ergänzt durch eine intellektuell eher schlichte Rückkopplung, die quasi einen Bypass zwischen einer sozial-„lebensweltlichen“ Abweichungs-Feststellung und einem normativ gefilterten Standard herstellt. Man muss also jedenfalls zwischen „Paraphilie“ (empirischer Abweichung), „Störung“ (klinischer Diagnose) und „Abartigkeit“ (kriminologischer Ätiologie) unterscheiden.23 Ich zitiere insoweit aus einem Aufsatz von Peer Briken zur Manual-gestützten Definition paraphiler Störungen24: „Das Ausmaß der Assoziation zwischen paraphiler Störung und Sexualdelinquenz hängt selbstverständlich davon ab, wie diagnostische Kriterien aufgebaut sind und wie hoch oder niedrig die Schwelle für die Erfüllung dieser Kriterien angesetzt wird. Die Konstruktion einer Diagnose ohne eindeutige Ätiologie kann nicht unabhängig von sozialen Normen sein und ist in sich wandelnde gesellschaftliche Prozesse eingebettet. Es gibt jedoch wohl kaum eine andere Gruppe von Störungen, in der die Vermischung und die Gefahr einer Verwechslung von kriminellem Verhalten mit einer psychischen Störung so deutlich sind.“

IV. Recht und Wahrheit Das Verhältnis zwischen dem Wertungs-System des Rechts und dem WahrheitsSystem der (Psycho)Wissenschaft ist kompliziert: Zum einen hat das normative System sich auf der Grundlage des neuzeitlichen Rationalitäts-Parameters für die normfreien, im Ergebnis jeweils neuesten Erkenntnisse der Naturwissenschaften geöffnet. Begriffe und Vorstellungen von Schuld, Verantwortung, Vertreten-Müssen, Versagen und Bewähren, Abweichung und Zufriedenheit, Gnade und Wahnsinn haben sich hierdurch in ihren Fundamenten verschoben.25 Wenn Schuld nicht eine Funktion 23 Ein Referentenentwurf des BMJV (Stand: September 2019) schlägt vor, den Begriff der „Abartigkeit“ aus Gründen der sprachlichen Modernisierung durch den der Störung zu ersetzen, hält also beides offenbar für in der Sache identisch (Art. 1 Nr. 4 RefE). 24 Briken, FPPK 2015, S. 140. 25 Vergleichbar etwa der bildlichen Wirklichkeits-Definition durch Erfindung der Fotografie.

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von „Seele“, sondern von „Gehirn“ ist und Richter nicht von Gott Beauftragte sind, sondern Sachwalter gesetzespositivistischer Gewalt, verliert der Begriff der Schuld zwangsläufig seinen Halt im kategorisch Qualitativen und rutscht auf die Ebene einer (biologischen) Maschinen-Funktion herab, die ihrerseits zum Gottersatz aufsteigt: Der blinde Seher ist durch Algorithmen der Blindheit ersetzt. Wenn morgen die Wissenschaften der Magnetresonanz-Tomographie und der Neurologie eine empirisch plausibel gestützte neue Hypothese der menschlichen Norm-Erkennung fänden, wäre die Rechts-Wissenschaft (eher: Dogmatik) diesem Ereignis vollständig ausgeliefert. Die Senate des Obersten Gerichtshofs könnten, allenfalls, noch eine Weile Sprachnebel des „Einerseits – Andererseits“, der angeblich wissenschaftlichen „Umstrittenheit“ und des vorläufigen „Dahinstehen-Könnens“ verströmen. Aber der Keim des Legitimitäts-Zerfalls wäre gesetzt. Er kann, da er im Rahmen des Rationalitäts-Systems wirkt, auf Dauer nicht verdrängt werden.26 Zum anderen versucht das normativ-politische Rechts-System, das empirisch-rationale Wahrheits-System nur in den Grenzen des Ersteren zuzulassen. Wir finden das etwa in der zirkelhaften Formulierung, eine „Störung“ könne nur dann eine „schwere Abartigkeit“ sein, wenn sie ebenso schwer sei (denselben Grad der Störung erreiche) wie eine Krankheit (also ein „Zustand“, der seinerseits über den Begriff der Störung relativiert ist). Es liegt auch den (jedenfalls scheinbar) starren Rechtsfolgengrenzen der §§ 20, 21 StGB (volle Strafe, fakultativ ermäßigte Strafe, Straffreiheit) zugrunde. Das erinnert – ein wenig polemisch formuliert – an Methoden der katholischen Kirche, die Forderungen des Heiligen Geistes zu Bedingungen für die Geltung quantitativ-kapitalistischer Rationalisierung zu erklären. In jedem Fall setzt eine angebliche „Synchronisierung“ von Sollen und Sein – unter der offenkundigen Bedingung, dass am Ende Ersteres nichts und Letzteres alles bedeute – sinn-strukturierende, kommunikativ legitimierende Filter der Übersetzung voraus. Sie bleibt auf Dauer konflikthaft. Dies ist der Grund, warum die Diskussion um die neurologische Erforschung so genannter Willensfreiheit in der Rechts-Wissenschaft so große Beunruhigung ausgelöst hat. Sie bleibt hier – in seltener Einheit von Praxis und Theorie – („vorerst“) aufgeschoben, weil sie offenkun-

26 Beispielhaft kann auf die dramatische Geschichte des sog. „genetischen Fingerabdrucks“ verwiesen werden: Binnen 25 Jahren wandelten sich die DNA-Analyse-Ergebnisse von vagen „Ergänzungen“ oder „Anknüpfungspunkten“ einer („selbstverständlich“) rein „richterlichen“, also intuitiv-normativen „Gesamtwürdigung“ zu einem naturwissenschaftlichen Faktum, das in Urteilen so wenig erklärt werden muss wie die Funktion eines radargestützten Messgeräts zur Geschwindigkeits-Feststellung. Wer eine DNA-Spur mit einer Identitäts-Wahrscheinlichkeit von 1 : 10 Milliarden am Hals des erwürgten Opfers hinterlassen hat, kann überflüssige Beweisanträge in der Regel vergessen. Die Senate des BGH, deren Mitglieder ihre Sachkunde durch Anhörung von sachkundigen Molekularbiologen gewonnen haben, bauen auch in ihre neuen Entscheidungen noch den Begriff „Gesamtwürdigung“ ein, vergessen aber zu erwähnen, wie und nach welchen (gemeinsamen!) Kriterien man zwischen naturwissenschaftlichen Fakten und intuitiven Überzeugungen eine „Gesamt“-Würdigung vornehmen können sollte.

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dig das normative Fundament in Frage stellen würde27: Die Bestimmung der neuronalen Landkarte der Schuld ist, nach allerlei Experimenten mit Affen und Studenten, vorerst suspendiert bis zum Zeitpunkt der Funktionabilität des postuliert unendlichen Quanten-Rechners. Der Gedanke hieran ist im Übrigen nicht neu: Die zwei Vorlesungen des Rechners „Golem XIV“28 von Stanislaw Lem wurden im Jahr 1973/1981 geschrieben. Selbstverständlich ist mit dieser Auskunft aber bekannt gemacht, dass die Grenze zwischen Normativität und Empirie selbst den Avanciertesten entgleitet und dass die praktische Wissenschaft für die vorläufig Dummen ist. Argumente gegen neurologische Zweifel an (so genannter) Willensfreiheit und empirischer Schuld-Lokalisation sind nahe liegend. Auch auf naturwissenschaftsferner Ebene kann eingewandt werden, die Frage könne dahinstehen, weil es praktisch nicht auf Freiheit, sondern auf Funktion und Selbstbeschreibung ankommt: Der Mensch kann seit jeher und natur-bedingt immer nur „Ich“ denken und Verantwortung nur „Ich“ zuschreiben. Hirnforscher können also nicht postulieren (und tun dies auch nicht), sie selbst seien (als „Ich“) für die Ergebnisse ihrer Forschung nicht verantwortlich. Diese (polemische) Abwehr-Argumentation ist plausibel, weil und solange sie auf der Ebene einer bloßen neurologischen Hypothese bleibt. Denn deren gesicherte Bestätigung, also eine tatsächliche Durchdringung der Ursachenzusammenhänge von Gedanken- und Motivationsentstehung, müsste ja wiederum deren „natur“-wissenschaftliche, also technische Beeinflussbarkeit, Reparierbarkeit und Falsifizierbarkeit postulieren. Das ließe sich aber mit unserem Begriff von „Schuld“ gar nicht vereinbaren, daher auch nicht mit dem Begriff von „Strafe“. Einen defekten Roboter zu „bestrafen“, hat (vorläufig) keinen Sinn.29 Neurologische „Hirnforschung“ hat also, wie „künstliche Intelligenz“, Zugriff auf Ablaufs-Kausalitäten, nicht aber auf Begründungen. Daher entzieht sich der Kern des „Schuld“-Begriffs (und seine „natürlich“-soziale Konstruktion allemal) ihrem Horizont meist schon konzeptionell.

V. Selbstreferenzialität Es scheint, dass Darlegungen von Rechtsprechung und Wissenschaft zur Definition der „schweren seelischen Abartigkeit“ – unter dem Gesichtspunkt der Erheb27 Der Vatikan hat in 500 Jahren gelernt, dass weder die Heliozentrizität noch der Urknall, die Atombombe oder die Quantenmechanik dem Heiligen Geist etwas anhaben können. Unterdessen hat sich allerdings die Schar derer, die diese normative Setzung als Existenzgrundlage ihres Lebens ansehen, um 99 Prozent verringert. 28 Oder: „Also sprach Golem“ (dt. Übersetzung 1984). 29 Der Androide „Ash“ in der Rolle des Verräters in dem Science-Fiction Film „Alien I“ (1979) wirft die Frage nach „Schuld“ auf. Diese bleibt allerdings in einer etwas albernen Ambivalenz zwischen auslaufender Hydraulik-Flüssigkeit und quantengestützter PhilosophieSimulation stecken und ungeklärt.

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lichkeit so genannter Zustände der Schuldfähigkeit – vielfach, wenn nicht überwiegend – selbstreferenzielle Formeln enthalten. Die Grundlage des Problems liegt nicht im empirischen Bereich, sondern wird diesem von außen aufgezwungen, indem ein normatives System ein genuin empirisches durch postulativen Fehlgebrauch zur Legitimation des jeweils Gesollten benutzt. „Schwere Abartigkeit“ hat mit Klinischer Diagnostik, bildlich gesagt, nicht mehr zu tun als „Gutes Essen“ mit Internistik. Die übliche Definitions-Formel der Rechtsprechung für die schwere Abartigkeit lautet „Nicht pathologisch bedingte Störungen können nur dann Anlass für eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sein, wenn sie in ihrem Gewicht den krankhaften seelischen Störungen entsprechen und Symptome aufweisen, die in ihrer Gesamtheit das Leben des Täters vergleichbar schwer und mit ähnlichen, auch sozialen, Folgen stören, belasten oder einengen.“30

Es wird der Krankheits-Begriff also in einem spezifischen, eingeschränkten Sinn verwendet, der auf einer überkommenen, aber inzwischen zweifelhaften Unterscheidung in „körperlich/ unkörperlich“ gegründet ist. Derselbe Terminus wird in anderem Zusammenhang abweichend verwendet. Für das Strafrecht geht es, auf dem Hintergrund kommunikativer Verständigungen, um normative Grenzen: Zwischen Gefährlichem und Ungefährlichem (umgekehrt: dezidiert Schützenswertem und allgemein Verfügbarem), und zwischen Rechtsgüterschutz und Freiheit. So ist die große Zahl höchstrichterlicher Entscheidungen zur Implementierung, Abgrenzung, „Erläuterung“ und Substantiierung der (1) Schweren (2) Seelischen (3) Abartigkeit, (die zu einem) (4) Zustand der (mindestens) (5) erheblichen Einschränkung (von) (6) Normerkenntnis (oder) (7) Selbstkontrolle bei der Normbefolgung führt, vielfach zwar plausibel, aber in hohem Maß selbstreferenziell. Diese Feststellung ist nach dem oben Gesagten nicht überraschend. Ich will sie anhand einer – hier nur beispielhaft ausgewählten – Entscheidung des 4. Strafsenats des BGH vom 11. April 2018 nochmals illustrieren31: Das Landgericht hatte den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die Revision des Angeklagten führte mit der Sachrüge zur Aufhebung des Schuldspruchs und Zurückverweisung; die Tatsachenfeststellungen blieben aufrechterhalten. Zum Sachverhalt: „Nach den Feststellungen des Landgerichts lockte der im Iran aufgewachsene Angeklagte, der Mitte des Jahres 2016 im Alter von 24 Jahren als Flüchtling nach Deutschland gekommen und in einer Flüchtlingsunterkunft untergebracht war, zwischen Mitte September und Anfang Oktober 2016 in zwei Fällen den damals neunjährigen, ebenfalls mit seiner Familie 30 Vgl. etwa BGHSt 37, 397, 401; 49, 45, 51 ff.; BGH NJW 2013, 181; NStZ 2009, 258, 259; NStZ-RR 2010, 7 f. 31 Beschl. vom 11. 4. 2018 – 4 StR 446/17, StV 2019, 232.

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dort untergebrachten Nebenkläger in einen Duschraum der Unterkunft und vollzog an ihm – in einem Fall unter Anwendung von Gewalt – jeweils den analen Geschlechtsverkehr. Der Angeklagte litt etwa ab dem Alter von 17 Jahren unter nächtlichen Samenergüssen, wobei diese möglicherweise auch lediglich das Resultat häufigen Masturbierens waren‘. Er wurde deswegen im Iran einem Arzt vorgestellt, der eine Hypersexualität diagnostizierte und dem Angeklagten das Medikament Androcur verordnete, das die Bildung von Sexualhormonen unterdrückt. Weil der Vorrat des Angeklagten an Androcur während seiner Flucht nach Deutschland aufgebraucht war, nahm er dieses Medikament seither nicht mehr ein (…) Das Landgericht hat sich hinsichtlich der Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten dem psychiatrischen Sachverständigen angeschlossen. Dieser hat ausgeführt, der Angeklagte weise eine leichte Intelligenzminderung auf. Darüber hinaus sei bei ihm ,angesichts der angegebenen kontinuierlichen Medikation mit Androcur und der fremdanamnestischen Angaben der Eltern von einer Hypersexualität auszugehen‘. Zwar gebe die Sexualanamnese hierauf keine Hinweise, dies sei aber durch Schamgefühle und die Tabuisierung dieses Themenkreises im Iran erklärbar. Diesen Diagnosen folgend hat die Strafkammer angenommen, dass der bei dem Angeklagten ,krankheitsbedingt bestehende und nun nicht mehr medikamentös regulierte starke Sexualtrieb auf infolge der intellektuellen Minderbegabung ohnehin herabgesetzte Möglichkeiten zur vernunftgesteuerten Triebregulation‘ getroffen sei. Bei dem Angeklagten liege eine schwere andere seelische Abartigkeit vor, durch welche seine Steuerungsfähigkeit im Zeitpunkt der Taten im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert, aber nicht gemäß § 20 StGB aufgehoben gewesen sei (…)“32

Der BGH hat auf die die Sachrüge des Angeklagten das Urteil aufgehoben, weil die Prüfung der Schuldfähigkeit und der Maßregelvoraussetzungen des § 63 StGB durch das Landgericht rechtsfehlerhaft sei. Der Senat hat hierzu ausgeführt: „Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfolgt prinzipiell mehrstufig (…) (1) Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. (2) Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. (3) Hierzu ist das Gericht jeweils für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen. Gleichwohl handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds wie bei der Prüfung der aufgehobenen oder erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen.“33

Diese Sätze repetieren ständige Rechtsprechung, sind aber in der Sache (nur) ein Postulat. Verfolgt man die im Beschluss angegebene Zitat-Spur, finden sich keine 32 33

Oben Fn. 31, Rdn. 2 bis 4. Nummerierung durch den Verf.

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substanziellen Begründungen, sondern wiederum Repetitionen der Behauptung. Was der Unterschied eines „gesicherten psychiatrischen Befunds“ zu einem „Eingangsmerkmal“ im Sinn von § 20 ist, ist gerade die Frage. Sie muss umso mehr geklärt werden, als sich hier ein Wechsel von einer Tatsachen- zu einer Rechtsfrage vollziehen soll: Was genau prüft das Gericht, wenn ein „Befund“ vorliegt, um zur „Feststellung“ (?) eines „Eingangsmerkmals“ zu gelangen? Schon die hier verwendeten Begriffe deuten darauf hin, dass die Merkmale nicht Rechtsfolgen von Befunden sind, sondern die Befunde selbst unter anderem Namen. Entsprechendes gilt die die „Prüfung der aufgehobenen oder erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit“: Welche Rechts-Norm ist hier zu prüfen? Wie gelangt das Gericht vom Befund zum Recht? Wenn Befunde psychiatrie-fachliche Bewertungen von Diagnosetatsachen sind, und Eingangsmerkmale (z. B. Störung/schwere Abartigkeit) nichts anderes als „Grade“ des Vorhandenseins solcher Tatsachen, und wenn das Gericht diese aus eigener Sachkunde nicht klären kann, sondern zu ihrer Feststellung „angewiesen ist“ auf externen (naturwissenschaftlichen, nicht-normativen) Sachverstand (Ziffer 3), bleibt für die (angeblichen) Rechts-Fragen im Ergebnis kein Raum: Welches „Recht“ sollte noch „geprüft“ werden? Anders gefragt: Welcher genuin rechtliche Gesichtspunkt, welches rein normative Kriterium soll zu prüfen und welche Rechtsfrage zu entscheiden sein, wenn der Sachverständige eine Störung bestätigt, die zu einer Beeinträchtigung der psychischen Funktionsfähigkeit bei der Tat geführt hat? Der BGH beantwortet diese Frage wie folgt: „Deren Beurteilung (scil.: Die der Rechtsfrage) erfordert … Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichtsund Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat.“34

Die Entscheidung der „reinen Rechtsfrage“ setzt also voraus, den Kausalzusammenhang zwischen Störung, Funktionsfähigkeit („Handlungsmöglichkeit“) und „damit“ Steuerungsfähigkeit „darzulegen“. Die Rechtsfrage, von welcher die Rede ist, muss aber selbstverständlich zunächst von Tatrichter beantwortet werden, und dieser benötigt nicht „Darlegungen“, sondern Tatsachen-Feststellungen. Aus diesem (banalen) Erfordernis ergibt sich aber mitnichten, wie das Gericht von der „Darlegung“ (Feststellung) zum Recht (Schuld oder Unschuld) kommt, welche Qualität also auf dieser „Stufe“ der Entscheidung35 hinzutritt. Hieraus ergibt sich: Wenn das Gericht für die Feststellung der Tatsachen auf die Sachkunde von externen Sachverständigen angewiesen ist, kann es schlechterdings nicht aus Rechts-Kenntnis für die Entscheidung kompetent sein, ob die empirisch-konkrete Auswirkung dieser Tatsachen „erheblich“ war oder nicht. Umgekehrt: Wenn der psychiatrische Sachver34

Oben Fn. 31, Rdn. 7. Zitierte Nachweise: BGH, Beschlüsse vom 19. Dezember 2012 – 4 StR417/12, NStZ-RR 2013, 145, 146; vom 28. Januar 2016 –3StR 521/15, NStZ-RR 2016, 135, 136. 35 Ebd.

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ständige einen Grundlagen-„Befund“ und seine Auswirkungen in der konkreten Tatsituation so gesichert feststellen muss, dass das Gericht entscheiden kann, ob und wie stark die letzteren „erheblich“ waren, muss der Sachverständige seine Befundtatsachen nach denjenigen Kriterien auswählen, die einen unerheblichen von einem erheblichen Befund unterscheiden. In beiden Richtungen bleibt kein Zwischenraum, in welchem sich die Umwandlung von Tatsachen- zu Rechtsfragen – oder umgekehrt – vollziehen könnte.36

VI. Rechtsprüfung oder Tatsachenbewertung Die durchaus übliche Grenzverwischung zwischen Tatsache und Norm findet in der revisionsrechtlichen Prüfung der zitierten Entscheidung ihre Fortsetzung: „Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht, da das Vorliegen eines Eingangsmerkmals im Sinne des § 20 StGB nicht hinreichend belegt ist (…) Soweit das Landgericht bei dem Angeklagten das Eingangsmerkmal einer schweren anderen seelischen Abartigkeit in einer Kombination des nicht mehr medikamentös regulierten Sexualtriebs und einer intellektuellen Minderbegabung begründet sieht, bleibt bereits unklar, welches konkrete Krankheitsbild es mit dem Begriff der Hypersexualität verbindet. Darüber hinaus lässt sich dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen, welche Symptome einer Hypersexualität der Angeklagte aufweist und welchen Schweregrad diese besitzen.“37

Man könnte einwenden, als Symptome der Krankheit seien gerade die Straftaten anzusehen, die in ihrer Folge (!) begangen wurden. Das findet Anhaltspunkte nicht zuletzt darin, dass auf einer nächsten Stufe der Prüfung gerade die „Kausalität“ der Störung für die Tat zu prüfen sein soll und (etwa) die Rechtsfolge der Tat (Unterbringung gem. § 63 StGB) gerade voraussetzt, dass diese „Symptom der Krankheit“ ist. Auf der Stufe der Revision findet eine Verlagerung statt: Das Revisionsgericht muss prüfen, ob die Rechtsfragen des Falles vom Tatgericht richtig gesehen und entschieden sind. Hierzu ist es auf die Tatsachen beschränkt, die im tatrichterlichen Urteil angegeben sind. Deren Unvollständigkeit hat Auswirkungen, wenn sie einen Rechtsfehler darstellt (§ 337 StPO); das ist z. B. der Fall, wenn wesentliche Fakten fehlen,

36 Beispielhaft: Wenn ein Straftatbestand das Vorliegen „verkehrsunsicherer Bremsen“ eines Fahrzeugs voraussetzte, wäre das Gericht auf Feststellungen eines Sachverständigen zum Zustand von Scheiben, Belägen, Hydraulik usw. „angewiesen“. Man wird sagen können: Der Sachverständige könne und müsse nur feststellen, ob die Bremsscheiben beschädigt gewesen seien (Störung) und ob dies zu einer verminderten Bremsleistung geführt habe (Funktionsfähigkeit), die einen plötzlichen Ausfall der Bremswirkung im Unfallzeitpunkt verursacht habe (Steuerungsfähigkeit). All dies sind Tatsachenfragen. Dem hinzuzufügen, es sei eine die Kompetenz des Sachverständigen überschreitende, zusätzlich (!) zu prüfende „reine Rechtsfrage“, ob die Bremsen „verkehrsunsicher“ gewesen seien, wäre wohl nicht mehr als eine zirkuläre Verwirrung. Richtig ist, dass die Verkehrsunsicherheit die (Rechts)Folge der Funktionsunfähigkeit ist. 37 BGH a.a.O. (Fn. 31), Rdn. 9 f.

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die für die revisionsgerichtliche Überprüfung der (tatrichterlich entschiedenen) Rechtsfrage erforderlich sind. Im konkreten Fall: „Die Ausführungen des Landgerichts zum Vorliegen einer Hypersexualität des Angeklagten halten … revisionsrechtlicher Prüfung nicht stand, weil das Urteil die wesentlichen Anknüpfungstatsachen des Sachverständigen bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit nicht so wiedergegeben hat, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist.“38

Das führt zur Frage der Kompetenz-Kompetenz: Der Bundesgerichtshof verlangt vom Tatgericht, dass es die Tatsachen-Aussagen des Sachverständigen „überprüft“, um Recht zu sprechen; ob dies geschehen ist, prüft sodann (angeblich) das Revisionsgericht, indem es die Feststellungen des Tatrichters mit den Tatsachen-Aussagen des Sachverständigen vergleicht und eine Mischung von Empirie (Psychiatrie) und Normativität (Schuld-Fähigkeit) herstellt, erklärtermaßen ohne selbst über systematische Sachkompetenz für die Grundlage einer solchen Synthese zu verfügen. Denn wenn der Tatrichter auf den Sachverständigen „angewiesen“ ist, weil er die Feststellungen selbst nicht treffen kann, ist es auch das Revisionsgericht. Weder verfügt es strukturell über höhere psychiatrische Sachkunde als der Tatrichter noch könnte dies etwas daran ändern, dass ein „Rechtsfehler“ (§ 337 StPO) kaum darin liegen kann, dass ein Tatrichter einen tatsächlich Verrückten für „schuldfähig“ und einen tatsächlich Durchschnittlichen für „schwer abartig“ gehalten hat. Die Formulierungen des BGH führen vielmehr, jedenfalls an ihrer Oberfläche, in einen Zirkel. Man kann ihn argumentativ überspielen, indem man die Existenz einer (Rechts-)Instanz behauptet, die es besser zu wissen behaupten darf, also die unvereinbaren Sphären von Empirie und Norm legitimatorisch vereint. Das dürfte jedoch – nach dem Programm der rationalen Wahrheits-Erkenntnis, dem sich Argumente verpflichtet fühlen müssen, um als „vernünftig“ anerkannt werden zu können – kein bloßes Postulat bleiben, sondern muss angeben, an welcher Stelle und nach welchen Kriterien und Maßstäben die Übersetzung von Sein (Tatsachen) in Sollen (Norm; Rechtsfrage) stattfindet. Hierfür bietet das Gesetz die Begriffe „schwer“ in § 20 und „erheblich“ in § 21 an. Allerdings erlangen wir zu deren Auslegung in ständiger Rechtsprechung nur die Formel, eine Störung sei eine „schwere Abartigkeit“, wenn sie „vergleichbar schwer“ die Funktionsfähigkeit des Willens beeinträchtige wie eine „Krankheit“39 – womit letztlich der Befund des „Wahnsinns“ gemeint ist, dessen rechtserhebliche Definition sich auch nur aus der normativen Folge ergibt, eine echte psychische Krankheit liege vor, wenn eine Person für die Folgen seines Handelns nicht verantwortlich sei. Ob und wann und in welchem „Schweregrad“ Krankheiten vorliegen, entzieht sich der Sachkunde der mit Juristen besetzten Gerichte erst

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Ebd. Als Nachweise zitiert: BGH, Beschlüsse vom 6. April 2011 – 2StR72/11, NStZ-RR 2011, 241; vom 8. April 2003 – 3StR79/03, NStZ-RR 2003, 232. 39 Vgl. etwa BGHSt 37, 401; 49, 45 (52 f.); 49, 347 (355); BGH; BGH NStZ 2005, 326 f.; NStZ-RR 2005, 137; 2006, 235; 2008, 71; 2010, 7; jew. m.w. Nachw.

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recht; überdies sind alle genannten Kriterien quantitativer, empirischer Art und haben mit der genuin normativen Kompetenz der Richter gar nichts zu tun. Dem Revisionsgericht stehen zur Rechtsprüfung „Darlegungen“ des Tatrichters zur Verfügung, also dessen Bericht über die Tatsachenbekundungen des Sachverständigen sowie die Bekundung, auf deren Grundlage sei das Tatgericht zu der RechtsÜberzeugung gelangt, dass der Angeklagte im Tatzeitpunkt steuerungsfähig oder -unfähig gewesen sei, weil er eine „Störung“ im „Grad“ einer „Krankheit“ aufgewiesen habe, welche seine Einsicht oder seine Hemmung beeinträchtigte. Deshalb mag es erstaunen, wenn der 4. Strafsenat in der zitierten Entscheidung als Prüfungsgegenstand die „Schlüssigkeit“ des Sachverständigengutachtens bezeichnet. Nach wissenschaftsimmanenten Regeln kann man die Schlüssigkeit eines Expertengutachtens nur prüfen, wenn man über die ihm zugrunde liegende Sachkunde in mindestens demselben Maß verfügt wie der Gutachter selbst. Fehlt es daran, kann man allein die literarische Plausibilität auf einer kommunikativen Ebene prüfen; hierfür reicht literarische Intuition ohne vertiefte Sachkunde aus. Schlüssigkeits-Prüfung nach dem Maßstab des Wahrheits-Anspruchs der Strafprozessordnung (§ 244 Abs. 2 StPO) setzt Kenntnis von Hypothesen voraus: von Methoden und Standards, Anwendungspraxis und wissenschaftlichen Diskussionen des betreffenden Sachgebiets. Daran mangelt es dem Revisionsgericht. Es gibt in den Strafsenaten des BGH keine Psychowissenschaftler. Im Kernbereich dessen, mit was sich die Revisionsrichter ausschließlich befassen – also der (normativen) „Schuld“ – gibt es für dessen postuliert faktische Voraussetzung, der Schuld-Fähigkeit, weder Aus- noch systematische Fortbildung noch eine über laienhaftes Plausibilitäts-Wissen hinausgehende Sachkunde. Die Schlüssigkeits-Prüfungen der „dargelegten“ Fachgutachten, die gleichwohl mit großer Selbstverständlichkeit vorgenommen werden, dürften daher eher dem System der Legitimation als der Rationalität der Sachkunde geschuldet sein. Bis zur Klärung der genannten Rätsel schreiben Gerichte und Kommentatoren das Postulat, der Sachverständige dürfe die §§ 20, 21 StGB zugrunde liegenden Rechtsfrage nicht entscheiden; umgekehrt könne der Richter die zugrunde liegende Tatsachen nicht feststellen, sondern nur entscheiden, ob sie „hinreichend dargelegt“ und daher „festgestellt“ seien. Der Sachverständige darf danach allein entscheiden, ob das empirische So-Sein der betroffenen Person nach den Kriterien der psychiatrischen Profession a) eine Devianz, b) eine Störung, c) eine Beeinträchtigung von Einsicht oder Hemmung, d) eine Ausprägung derselben begründe. Wenn diese Fragen empirisch beantwortet sind, soll dann als „reine Rechtsfrage“ zu entscheiden sein, ob die Störung ein Eingangsmerkmal („schwere Abartigkeit“) ist und ob die Einschränkung der Verantwortung im Tatzeitpunkt schon oder noch „erheblich“ oder schon vollständig war. Selbst wenn diese hochgradig diffizile Kompetenz-Differenzierung systematisch möglich und faktisch plausibel wäre, müsste man, um sie einhalten zu können, zum einen wissen, woraus sich der Begriff der „Erheblichkeit“ im System des Straf-Rechts formt, und wie er von einem „lebensweltlichen“ Maßstab der Verrücktheit zu einer Tatsache im Referat des Berichterstatters im BGH-Senat wird. Anders gesagt: Man müsste die Rechtsfrage auf ihre Wertungskriterien zurück-

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führen und präzise formulieren (können). Insoweit besteht erhebliches Aufklärungsbedürfnis.

VII. Schluss Fragt man bei den Trägern der strafprozessualen Praxis – Staatsanwälten, Strafverteidigern, Richtern – nach dem Unterschied zwischen Sach- und Rechtsfrage bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit wegen psychischer Störungen, bekommt man regelmäßig keine oder nur zirkuläre Antworten. Strafrichter, denen ein Sachverständiger plausibel dargelegt hat, der Beschuldigte weise in seinem Erlebens- und/oder Entschlussverhalten eine Devianz auf, die sein Verhalten bei der konkreten Tat gravierend beeinflusst habe, wissen regelmäßig nicht, welche Rechtsfrage sie auf dieser Grundlage prüfen sollten, um zu entscheiden, ob dieser „Befund“ die Schuld-Fähigkeit erheblich beeinträchtigt habe. Sie „schließen sich den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen an“, und wenn sie dies breit genug „darlegen“, ergibt die strenge Rechtsprüfung durch das Revisionsgericht, dass der Sachverständige keinen Rechtsfehler gemacht hat. Es gibt keine genuin „rechtliche“ Dimension von „Abartigkeit“ oder Persönlichkeitsstörung in Abgrenzung zur Ungestörtheit und zur Normal-Artigkeit. Es gibt aber ein soziales Bedürfnis, eine solche Grenze zu bestimmen. Dieses rührt überwiegend aus kurz- und mittelfristigen sozialen Erfahrungen, und stützt sich auf die Grundlage langfristiger, biologisch-evolutionärer Dispositionen. Strafrecht hat keinen „juristischen“ Zugang zu dieser Wirklichkeit. Es spiegelt Symbolisierungen und Abstraktionen und entfaltet eigene Wirklichkeit in der Macht, die Behauptung seiner Urwüchsigkeit zum Legitimationsgrund für Gewalt zu machen. Auch unter der Geltung von internationalen Diagnose-Manualen ist die „schwere Abartigkeit“, namentlich auch die sexuell deviante, an vermutlich 75 Prozent aller Orte außerhalb des Geltungsbereichs des StGB auch heute ein wenig, ein wenig mehr oder ganz anders definiert als hierzulande; sie war es in den vergangenen Jahrhunderten allemal. Dass die Tatsachen dem Recht wie ein Schatten folgen und vice versa, ist denkgesetzlich nicht ausgeschlossen, wäre allerdings über alle Maßen erstaunlich. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Fragen, die sich am Übergang vom Sein zum Sollen, von der Krankheit zur Unschuld stellen, mit den üblichen Postulaten zufriedenstellend beantwortet sind. Auch hier bleibt dem Strafrecht ein schlechtes Gewissen, das freilich oft ein erfreulicher Schritt der Erkenntnis ist.

Schuldfähigkeit als Fertigkeit Zu denkbaren Konsequenzen im Erwachsenenstrafrecht Von Volker Haas

I. Einleitende Bemerkungen In den letzten Jahren hat hauptsächlich ein einziges Thema die Schulddiskussion beherrscht: der Einfluss der Hirnforschung auf das Konzept des Schuldstrafrechts, das auf der Freiheit des Täters gründet, auch rechtskonform hätte handeln zu können, mithin auf seiner Schuldfähigkeit. Der nachfolgende Beitrag lässt einen denkbaren, auf den Erkenntnissen der Neurowissenschaften beruhenden strafrechtlichen Paradigmenwechsel außer Betracht. Die mögliche Transformation des Schuldstrafrechts in ein Sicherungsstrafrecht als Folge der Entdeckungen der neueren Hirnforschung bleibt also ausgeblendet – und dies auch auf die Gefahr hin, dass der Jubilar, der selbst bedeutende Beiträge zur Grundlagendiskussion über den Schuldbegriff geleistet hat,1 mit leichter Enttäuschung über die Themenwahl reagieren sollte. Ich kann nur eine einzige Entschuldigung anführen. Die Festschrift zu Ehren des Jubilars schien mir geeignet, eine Idee vorzustellen bzw. einen Widerspruch aufzuzeigen, ohne schon mit einem gesicherten, geschweige denn ausgearbeiteten Standpunkt aufwarten zu können. Denn es ist gerade der Jubilar, der sich wie kaum ein Zweiter in unserer Zunft durch Leidenschaft an gedanklich wissenschaftlicher Experimentierlust ohne Rücksicht auf eingefahrene Sichtweisen auszeichnet.

II. Das Erwachsenenstrafrecht als Ausgangspunkt Die allgemeine theoretische Auseinandersetzung um den Schuldbegriff und damit auch um die Schuldfähigkeit kreist vornehmlich um § 20 StGB. Demnach liegt die Schuldfähigkeit immer dann vor, wenn nicht der Täter bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, Schwachsinns oder einer anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Anders formuliert: Liegt – wie im Regelfall – keiner der in § 20 StGB aufgeführten Defekte vor, steht die 1 Siehe nur R. Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung, 2008, Baden-Baden.

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Schuldfähigkeit als Resultante fest. Der Umstand, dass lediglich geprüft wird, ob bestimmte Ausnahmesituationen ausgeschlossen werden können, wobei nach der Konzeption der §§ 20, 21 StGB sich diese Ausnahmesituationen im Ausgangspunkt am Krankheitsbegriff als Referenzmaßstab orientieren,2 beeinflusst möglicherweise die dogmatische bzw. theoretische Erörterung der Schuldfähigkeit. Aus § 19 StGB, der die sogenannte Strafmündigkeit regelt, werden – soweit ersichtlich – keine theoretischen Folgerungen für das Wesen der Schuldfähigkeit gezogen. Ein Kind ist gemäß § 19 StGB schuldunfähig, wenn es bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist. Der Vorschrift werden in der Kommentarliteratur nur wenige Bemerkungen gewidmet. Einigkeit besteht, dass die Bestimmung eine unwiderlegliche Vermutung der Schuldunfähigkeit aufstellt, die keines Gegenbeweises zugänglich ist. Es handelt sich um einen Schuldausschließungsgrund.3 Zuzugeben ist, dass der hier an den Anfang gestellten Diagnose einer verzerrten Sichtweise der Vorwurf einer einseitigen Zuspitzung nicht erspart werden kann. Denn jenseits der in § 20 StGB aufgezählten Defekte wird natürlich darüber diskutiert, ob und inwiefern eine Aussage wie „Der Täter hätte auch die Entscheidung treffen und umsetzen können, die rechtswidrige Tat nicht zu begehen“ überhaupt getroffen werden kann und ob daher das Anders-handeln-Können überhaupt für die Schuld des Täters konstitutiv ist. Die Willensfreiheitsdebatte bleibt freilich – wie oben schon angedeutet – im Folgenden weitestgehend ausgespart.

III. Eine neue Perspektive durch das Jugendstrafrecht Dennoch: Einen anderen Blick auf die Dinge könnte man gewinnen, wenn man auch die jugendstrafrechtliche Vorschrift des § 3 JGG berücksichtigt. Ein Jugendlicher ist der Norm zufolge nur dann strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Der Begriff der geistigen Reife bezieht sich auf die verstandsmäßige Entwicklung. Von größerem Interesse ist der Begriff der sittlichen Entwicklung. Nach ganz herrschender Meinung ist dazu erforderlich, dass die Unterscheidung von Recht und Unrecht bzw. die ihr zugrundeliegenden Wertvorstellungen in der Gefühlswelt des Jugendlichen verankert sein müssen.4 2 Vgl. Schöch, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, Bd. 1, 2. Auflage, 2007, Berlin New York, § 20 Rn. 51 ff.; siehe dazu auch Rasch, StV 1984, S. 264, 267. 3 Perron/Weißer, in: Eser et al. (Hrsg.), Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Auflage, 2019, München § 19 Rn. 1, 3; Schild, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, (Hrsg.), Nomos Kommentar Strafgesetzbuch, Bd. 1, 5. Auflage, 2017, Baden-Baden, § 19 Rn. 2; Schöch, in: (Fn. 2), § 19 Rn. 1 f.; Streng; in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 3. Auflage, 2017, München, § 19 Rn. 5. 4 BGH, Urteil vom 25. 05. 1956 – 5 StR 127/56; vgl. auch BGH bei Herlan, GA 1956, S. 345; Diemer, in: Diemer/Schatz/Sonnen, Jugendgerichtsgesetz, 7. Auflage, 2015, Heidelberg, § 3 JGG Rn. 14; Ostendorf, in: Ostendorf (Hrsg.), Jugendgerichtsgesetz, 10. Auflage,

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Nichts Anderes ist mit der Forderung gemeint, dass der Jugendliche das Verbot als sittlichen Wert und seine Handlung als rechtlich beanstandenswert erleben könne.5 Kritisiert wird insoweit allerdings, dass es sich um eine schwammige Begrifflichkeit handele.6 In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass die fehlende oder eingeschränkte Verantwortlichkeit auf einer sittlichen Retardierung infolge von Sozialisationsdefiziten7 bzw. auf Erziehungsmängeln8 beruhen könne. Insoweit sollen Erziehungsmängel subjektiver Art (falsche Erziehungsmethoden und Erziehungsziele, negative Vorbilder) wie objektiver Art (häufiger Wechsel von Bezugspersonen, erziehungshinderndes Milieu und stigmatisierende Auswirkungen bei geschlossener Heimerziehung) zu prüfen sein.9 Es ist daher schlüssig, dass teilweise vorgeschlagen wird, die Erkenntnisse der Sozialisationstheorie zur Erklärung kriminellen Verhaltens Jugendlicher heranzuziehen.10 Häufiger jedoch wird auf die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie verwiesen, die verschiedene Stufen der Moralentwicklung von Kindern und Jugendlichen unterscheidet, und zugleich auf Einwände hingewiesen.11 Ob diese Einwände durchgreifen, kann für die Zwecke dieser Abhandlung dahingestellt bleiben. Denn von Interesse ist hier nicht, welche Entwicklungsstadien der moralischen Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen unterschieden werden können, sondern vielmehr, auf welche Weise es zu normgeleitetem Handeln von Kindern und Jugendlichen kommt. Von Belang ist daher vielmehr, dass Kinder und Jugendliche im Rahmen des Sozialisations- und Erziehungsprozesses lernen, sich an sozialen Regeln zu orientieren. Im Einzelnen heißt dies: Kinder und Jugendliche lernen täglich, welche sozialen Regeln sie zu beachten haben. Kinder und Jugendliche lernen aber auch, im Rahmen einer zunehmend selbständigeren Lebensführung diese Regeln einzuhalten. Und das heißt unter anderem, zugunsten der Normbefolgung ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. Erworben wird damit die Fähigkeit der Selbstbeherrschung bzw. der Selbstkontrolle und darüber hinaus die Fähigkeit, soziale Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Erst durch diesen Prozess, der zu seiner Verwirklichung der stetigen Einübung bedarf, bildet sich das diese Normen verinnerlichende, schuldfähige Zurechnungssubjekt. Die Entwicklung ist dabei nicht nur als Sozialisations2016, Baden-Baden, § 3 JGG Rn. 6; Baier, in: Laubenthal/Baier/Nestler, Jugendstrafrecht, 3. Auflage, 2015, Berlin Heidelberg, 3/68; Streng, Jugendstrafrecht, 4. Auflage, 2016, Heidelberg, § 4 Rn. 48. 5 Brunner/Dölling, Jugendgerichtsgesetz, 13. Auflage, 2018, Berlin, § 3 JGG, Rn. 4. 6 Albrecht, Jugendstrafrecht, 3. Auflage, 2000, München, S. 98; kritisch auch Bohnert, NStZ 1988, S. 250. 7 Ostendorf, in: (Fn. 4), § 3 JGG Rn. 6. 8 Remschmidt/Rössner, in: Meier/Rössner/Trüg/Wulf, Jugendgerichtsgesetz, 2. Auflage, 2014, Baden-Baden, § 3 Rn. 24; Eisenberg, Jugendgerichtsgesetz, 20. Auflage, 2018, München, § 3 JGG Rn. 27, 27a. 9 Ostendorf, in: (Fn. 4), § 3 JGG Rn. 6. 10 Ostendorf, in: (Fn. 4), § 3 JGG Rn. 6. 11 Remschmidt/Rössner, in: (Fn. 8), § 3 Rn. 13 ff.; Eisenberg, (Fn. 8), § 3 JGG Rn. 12a.

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prozess, sondern zugleich als Individuationsprozess zu begreifen. Nur die Ausbildung eines Selbst, das sich von der Gesellschaft als distinkt erfährt, ermöglicht Verantwortungsübernahme durch die betreffende Person. Völlig zu Recht ist daher in der jugendstrafrechtlichen Literatur der Begriff des sozialen Normlernens geprägt worden. In einem komplexen Entwicklungsprozess des sozialen Normlernens werde gemeinschaftsbezogenes Wissen und Handlungskompetenz erworben. Es gehe um die persönliche Aneignung der in der Außenwelt konstituierten Normen. Selbstkontrolle und Verantwortlichkeit seien das Resultat äußerer Regeldurchsetzung und innerer Verarbeitung.12 Eine gelungene Sozialisation soll derartige Prozesse des Erlernens von Normen voraussetzen.13 Und völlig zu Recht wird darauf hingewiesen, dass der „junge Mensch“ die Fähigkeit, das Unrecht seines Handelns zu erkennen und nach dieser Einsicht auch zu handeln, also sich frei für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, erst im Sozialisationsprozess erwirbt.14 Deutlicher noch ist die Übereinstimmung der Feststellung mit der hier vertretenen These, dass die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, nicht angeboren sei, sondern dass diese in einem längeren Lernprozess erworben werde.15 Es kann somit festgehalten werden, dass Schuldfähigkeit keine biologisch vorgefundene, sondern eine erlernte Fähigkeit ist, also eine Fertigkeit. Man könnte daher mit gutem Grund von einem sozialen Schuldbegriff sprechen. Allerdings ist dieser Terminus bekanntlich schon für einen anderen Gesichtspunkt reserviert. Anerkennt man diese Prämisse, sind Sozialisationsmängel stets Indikator für eine nicht hinreichend entwickelte Schuldfähigkeit. Dabei gilt: In dem Maße, in dem das Jugendstrafrecht als Erziehungsstrafrecht qualifiziert werden kann, reagiert dieses auf das Fehlen einer voll ausgebildeten Schuldfähigkeit des Delinquenten. Der Erziehungsgedanke legitimiert sich aus dem Bestreben, den Jugendlichen oder Heranwachsenden durch die Initiierung von Lernprozessen zur vollen Schuldfähigkeit zu verhelfen. Die Schuldfähigkeit als Fähigkeit, soziale Verantwortung zu übernehmen, ist Grundlage der Zubilligung von Handlungsfreiheit. Die jugendstrafrechtlichen Sanktionen haben insoweit den Charakter von Maßregeln im materiellen Sinne. Und nur insoweit ist die Tat des Jugendlichen oder Heranwachsenden Anlass, nicht Grund der Sanktionierung. In dem Maße jedoch, in dem die jugendstrafrechtlichen Sanktionen den Charakter von Strafen im materiellen Sinne annehmen, knüpfen sie an die schon bestehende, wenn auch nur unvollständig entwickelte Schuldfä-

12 Rössner/Bannenberg, in: Meier/Bannenberg/Höffler, Jugendstrafrecht, 4. Auflage, 2019, München, § 1 Rn. 1 ff. 13 Böhm/Feuerstein, Einführung in das Jugendstrafrecht, 4. Auflage, 2004, München, S. 1 f. 14 Laubenthal, in: Laubenthal/Baier/Nestler, Jugendstrafrecht (Fn. 4), 1/1. 15 Böhm/Feuerstein (Fn. 13), S. 1 f.

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higkeit an. Insoweit können die jugendstrafrechtlichen Sanktionen auch keine erzieherische Funktion ausüben.16

IV. Zurück zum Erwachsenenstrafrecht Diese gewonnene Einsicht im Auge behaltend kann sich der Beitrag wieder dem Erwachsenenstrafrecht widmen. Schauen wir noch einmal auf § 20 StGB. Unter das Merkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit werden nach nahezu völlig übereinstimmender Auffassung Persönlichkeitsstörungen (bzw. nach überkommener Lesart Psychopathien), Neurosen, Verhaltenssüchte und sexuelle Verhaltensstörungen subsumiert.17 Die angebliche Diskussion, ob auch Sozialisationsstörungen oder Sozialisationsdefizite unter das Eingangsmerkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit fallen, wird in Wahrheit nicht geführt.18 Im Gegenteil: Es wird – in der Sache durchaus zutreffend – klargestellt, dass das Gesetz annehme, im Regelfall verfüge der geistig gesunde Mensch über diejenigen Kräfte, die es ihm ermöglichen würden, strafbaren Neigungen oder Gefühlsexplosionen zu widerstehen.19 Gemeint ist der erwachsene Mensch. Schon problematischer ist die Behauptung, dass Reifeverzögerungen unter dieses Eingangsmerkmal gerade nicht fallen sollen, weil insoweit die §§ 3, 105 JGG als Spezialregelungen eingreifen würden. § 20 StGB soll nur reifeunabhängige psychopathologische Hintergrunde erfassen.20 Der daraus folgende Widerspruch ist offensichtlich: Ist ein Täter noch als Jugendlicher einzuordnen, wird ihm gegebenenfalls in Ausnahmefällen nach § 3 JGG aufgrund seiner reifeverzögerungsbedingten eklatant unterentwickelten Fähigkeit, sich an Normen zu orientieren, Schuldunfähigkeit attestiert. Begeht derselbe Täter als Erwachsener die Tat, hat jedoch der Umstand, dass sich seine psychische Disposition nicht geändert hat, keine exkulpierenden Konsequenzen. Der Täter wird nunmehr als schuldfähig behandelt. Die im Jugendstrafrecht zumindest vereinzelt gewonnene Einsicht, dass Schuldfähigkeit erlernt wird, ist in dem für Erwachsene geltenden Strafrecht offenbar bedeutungslos. Es sei hinzugefügt, dass auch bei § 21 StGB in der gängigen Kommentarliteratur Sozialisationsdefizite nicht als Schuldminderungsgrund aufgeführt werden, auch wenn der Kreis beachtlicher Syndrome vorsichtig ausgeweitet wird wie zum Beispiel namentlich bei gruppendynamischen Prozes-

16 Vgl. Laubentahl, in: Laubenthal/Baier/Nestler, Jugendstrafrecht, (Fn. 4), 1/4; Böhm/ Feuerstein, (Fn. 13), S. 11. 17 Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Auflage, 2018, § 20 Rn. 11; Perron/Weißer, in: (Fn. 3), § 20 Rn. 21; Rogall, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 9. Auflage, 2017, Köln, § 20 Rn. 29 ff.; Schöch, in: (Fn. 2), § 20 Rn. 152 ff.; Streng, in: (Fn. 3), § 20 Rn. 40 ff. 18 So aber Schild, in: (Fn. 3), § 20 Rn. 102. 19 Schöch, in: (Fn. 2), § 20 Rn. 152 unter Verweis auf BGHSt 14, 30, 32; 23, 176, 190. 20 Schöch, in: (Fn. 2), § 20 Rn. 69; Streng, in: (Fn. 3), § 20 Rn. 156.

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sen.21 Aus der Begründung zum Entwurf von 1962, der noch nicht dem Einheitssystem gefolgt ist, die schwere andere seelische Abartigkeit also nur bei der verminderten Schuldfähigkeit berücksichtigt hat, geht hervor, dass dieses Merkmal Psychopathien, Neurosen, Triebstörungen und ähnliche, bereits bei der Schuldunfähigkeit bezeichnete Gebrechen erfassen sollte, soweit diese sich als seelische Fehlanlagen und abgeschlossene seelische Fehlentwicklungen auswirken.22 Der Begriff der seelischen Fehlentwicklung wäre eigentlich weit genug, um eklatanten Defiziten beim Normlernen, die die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausschließen oder einschränken, Rechnung zu tragen. Allerdings dient der Begriff der seelischen Fehlentwicklung nur dazu, eine Bedingung für die Relevanz der anfangs genannten Fallgruppen zu formulieren. Und diese sind nicht betroffen. Der – zumindest prima facie – aufgewiesene Widerspruch würde allerdings entfallen, wenn man auf der Basis eines funktionalen Schuldbegriffs behaupten würde, dass der jugendliche Täter sich deswegen auf Schuldunfähigkeit oder eine verminderte Schuldfähigkeit berufen darf, weil er noch nicht als vollwertiger Sozialpartner anerkannt wird und daher die Tat des Jugendlichen nicht dieselbe Rechtserschütterung hervorzurufen geeignet ist wie die Tat eines Erwachsenen.23 Derselbe theoretische Ausgangspunkt wird im Rahmen des § 19 StGB eingenommen, sofern man für maßgeblich hält, wann der junge Mensch bereits als hinreichend Gleicher definiert wird, dem deshalb in der gegebenen Situation die hinreichende Kompetenz zuzubilligen ist, die Norm zu desavouieren.24 Konsequenz dieser Betrachtungsweise wäre es, dass ein Schuldausschluss oder eine Schuldminderung bei einem Erwachsenen schon deswegen ausgeschlossen wäre, weil er den vollen rechtlichen Bürgerstatus genießt, wie man zum Beispiel am Wahlrecht ablesen könnte. Aber diese auf dem funktionalen Schuldbegriff aufbauende Sichtweise vermag kaum zu überzeugen. Sie verkehrt Grund und Folge. Denn der eingeschränkte bürgerliche Status beruht auf der noch nicht oder nicht voll entwickelten faktischen Mündigkeit – nicht umgekehrt! Soll die Attribution von Schuld auf einer ontologischen Referenz beruhen und nicht zu einem rein normativen Konstrukt ohne Wirklichkeitsbezug denaturieren, so kann nicht bei derselben mentalen Verfassung des potenziellen Zurechnungsadressaten das eine Mal – bei einem Jugendlichen – ein Zustand der Schuldunfähigkeit und das andere Mal – bei einem Erwachsenen – ein Zustand der Schuldfähigkeit diagnostiziert werden. Genau dies ist allerdings Konsequenz der derzeitigen Ausgestaltung bzw. Handhabung unseres Strafrechts! Auf Vollzugsebene freilich spielt der Gesichtspunkt, die Übernahme sozialer Verantwortung zu erlernen, auch im Erwachse21 Vgl. Kühl, in: (Fn. 17), § 21 Rn. 2; Perron/Weißer, in: (Fn. 3), § 21 Rn. 21; Schöch, in: (Fn. 2), § 21 Rn. 23 ff.; Schild, in: (Fn. 3), § 20 Rn. 23; Streng, in: (Fn. 3), § 21 Rn. 16 ff. 22 BT-DrS 4/650, S. 141. 23 Streng (Fn. 4), § 1 Rn. 12; ders., ZStW 92 (1980), S. 637, 654; ders., GA 1984, S. 149, 164. 24 Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage, 1991, 18/1; Frehsee, Strafreife – Reife des Jugendlichen oder Reife der Gesellschaft?, in: Albrecht et al. (Hrsg.), Festschrift für Schüler-Springorum, 1993, Köln, S. 379, 387 f.; kritisch Jäger, GA 2003, S. 469, 472 ff.

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nenstrafrecht eine Rolle. Vollzugsziel aller Vollzugsgesetze ist es, die Fähigkeit der Gefangenen zu stärken, ein Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten zu führen (vgl. nur § 2 StVollzG). Legitimierbar ist dieses Vollzugsziel nach hier vertretener Auffassung nur dann, wenn man davon ausgeht, dass eine Einschränkung dieser Fähigkeit zugleich eine Einschränkung der Zurechnungsfähigkeit bedeutet. Will man den hier aufgedeckten Widerspruch vermeiden, dann ist gegenüber der den § 21 StGB betreffenden Warnung, nicht die Grenzen der Verantwortlichkeit für moralische Defizite mit Hilfe des Verweises auf Dissozialität und Soziopathie zu überspielen und haltlose und willensschwache Personen gegenüber dem an sich rechtstreuen Bürger zu bevorzugen,25 und die Aufforderung, deviante Verhaltensweisen von chronischen Rückfalltätern von den psychopathologischen Merkmalen einer Persönlichkeitsstörung abzugrenzen und damit aus dem Anwendungsbereich der §§ 20, 21 StGB auszuschließen,26 Vorsicht angebracht. Denn gerade bei derartigen Tätern könnten eklatante Lerndefizite vorliegen, die es ihnen erheblich erschweren oder sogar unmöglich machen, sich im Rahmen einer selbständigen Lebensführung normgemäß zu verhalten. Insbesondere bei chronischen Rückfalltätern, die innerhalb der Gefängnismauern eigentlich unproblematische Zeitgenossen sind, könnte der Verdacht vorliegen, dass sie in Freiheit nicht straffrei leben können oder dass zumindest ihre Fähigkeit, dies zu tun, stark eingeschränkt ist. Allerdings gibt es zwei Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, die eine gewisse Nähe zu dem hier diskutierten Gesichtspunkt aufweisen. So hat der Bundesgerichtshof in einer ersten Entscheidung eine Persönlichkeitsstörung, deren Ursache in einer schwerwiegenden Fehlentwicklung des Angeklagten im familiären Bindungssystem liegt, anerkannt.27 Und in einer zweiten Entscheidung hat er die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung in der Form der Störung des Sozialverhaltens (ICD 10 F.92) nicht beanstandet.28 Beide Entscheidungen betrafen jedoch ohnehin die Verhängung von Jugendstrafe. Betroffen sind ungeachtet dessen bei beiden Diagnosen Fehlentwicklungen, die die Fähigkeit berühren, Verantwortung zu übernehmen. Allerdings geht aus den jeweiligen Begründungen nicht hervor, dass das Normlernen beeinträchtigt gewesen sein könnte. Die Einsicht, dass Schuldfähigkeit den Erwerb der Fähigkeit voraussetzt, sich an Normen zu orientieren, könnte sehr gut in den strukturell-sozialen Krankheitsbegriff von Rasch integriert werden, der eine Störung im Sinne der §§ 20, 21 StGB definieren soll. Rasch hält es dennoch nicht für maßgeblich, ob eine psychische Krankheit auf einer bewiesenen oder postulierten körperlichen Verursachung beruht. Als entscheidenden Faktor zieht Rasch vielmehr die Minderung der sozialen Handlungs-

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Schöch, in: (Fn. 2), § 20 Rn. 174. Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß et al., NStZ 2005, S. 57, 60. 27 BGH, StV 1994, S. 598. 28 BGH, NStZ-RR 1998, 188.

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kompetenz heran, die es daher zu beurteilen gilt.29 Dies scheint schon deswegen überzeugend zu sein, weil nicht die Behandlungsbedürftigkeit aufgrund eines Leidensdrucks für den Betreffenden selbst oder für Dritte Telos der Begriffsbildung ist, sondern die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Täters. Allerdings ist die Begriffsbildung von Rasch im Schrifttum mit Zurückhaltung aufgenommen worden.

V. Gründe für die Abweichung der Exkulpationsmöglichkeiten Man kann nur spekulieren: Aber der Umstand, dass Defizite der sittlichen Entwicklung, die sich in der mangelnden oder nicht ausreichend ausgeprägten – das heißt im Rahmen des Sozialisationsprozesses nicht oder nicht ausreichend erlernten – Fähigkeit bemerkbar machen, das eigene Handeln in sozialer Verantwortung an Normen zu orientieren, nur im Jugendstrafrecht schuldausschließend oder schuldmindernd berücksichtigt werden, nicht aber im Erwachsenenstrafrecht, könnte darauf zurückzuführen sein, dass man bewusst oder unbewusst eine Beeinträchtigung der Effektivität der Strafrechtspflege, genauer: ihrer präventiven Wirksamkeit, befürchtet. Denn wenn man im Erwachsenenstrafrecht der Tatsache Beachtung schenken würde, dass Schuldfähigkeit eine erworbene bzw. erlernte Kompetenz ist und nicht etwas stets Gegebenes, das nur bei einer krankhaften seelischen Störung und bei einer dieser gleichwertigen Symptomatik fehlt – vgl. die Handhabung der schweren anderen seelischen Abartigkeit –, dann würde die mögliche Berufung auf Sozialisationsdefizite aller Voraussicht nach zu einer erheblichen Ausdehnung der strafrechtlichen Exkulpations- und Dekulpationsmöglichkeiten führen. Man wäre im Erwachsenenstrafrecht bei bestimmten Formen der Assozialität gezwungen, die gesamte Kindheit des Beschuldigten mit Hilfe eines Sachverständigen zu rekonstruieren. Es bedarf nicht viel Fantasie, um vorherzusagen, dass diese Rekonstruktion in vielen Strafverfahren nur völlig unzulänglich gelingen könnte. Der Grundsatz „in dubio pro reo“ müsste aller Wahrscheinlichkeit nach relativ häufig angewendet werden. Die Rekonstruktion der Sozialisation des Beschuldigten wäre zudem mit einem enormen Mehraufwand verbunden. Schon jetzt werden nicht wenige Strafverfahren aufgrund der zunehmenden Verwissenschaftlichung der Rechtsmaterie und erhöhten Komplexität der Lebensverhältnisse immer umfangreicher. Wäre diese Diagnose zutreffend, dann wäre der funktionale Schuldbegriff als Beschreibung insoweit zutreffend, als er darauf aufmerksam macht, dass strafrechtlich Exkulaptionsmöglichkeiten nur unter Wahrung der Belange gesellschaftlicher Stabilität zugebilligt werden können. Einschränkend ist allerdings zu beachten, dass unter Umständen statt einer Bestrafung Maßnahmen der Besserung und Sicherung verhängt werden könnten.

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131.

Rasch, NStZ 1982, S. 171, 182; ders., StV 1984, S. 264, 267 f.; ders., StV 1991, S. 126,

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VI. Ausblick Nach meiner Einschätzung bedürfte es noch weiterer Forschung, um die Bedeutung des sozialen Normlernens für die Schuldfähigkeit besser zu erfassen. Sinnvoll wäre wohl, die Neurowissenschaften in diese Forschung einzubeziehen. Die Entdeckung neuronaler Korrelate, in denen sich derartige Prozesse der einübenden Erziehung manifestieren würden, würde uns eventuell dazu verhelfen, genauer zu sagen, wann die betreffenden Defizite vorhanden sind und eine erhebliche Auswirkung auf die Steuerungsfähigkeit der betreffenden Person erwarten lassen.

Das tradierte Schuldstrafrecht – ein Auslaufmodell? Von Wolfgang Wohlers

I. Die Herausforderung des Schuldstrafrechts durch die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung Strafbar ist ein Verhalten nach ganz vorherrschend vertretener Auffassung dann – und nur dann –, wenn der Täter nicht nur tatbestandlich und rechtswidrig gehandelt hat, sondern sein Verhalten darüber hinaus auch als schuldhaft eingestuft werden kann.1 Die immer wieder einmal propagierten Vorschläge, auf das Element der Schuld entweder gänzlich zu verzichten2 oder dieses grundlegend umzugestalten, haben sich bisher – auch und obwohl sie von namhaften Autorinnen und Autoren vertreten worden sind – nie durchsetzen können, sondern sind stets Außenseiterstandpunkte geblieben. Die auch heute noch ganz vorherrschend vertretene Auffassung geht im Anschluss an eine durch Reinhard Frank3 geprägte Begrifflichkeit davon aus, dass das Element der Schuld die Vorwerfbarkeit des Verhaltens begründet4 und dass 1 BVerfGE 9, 169; 20, 323, 331; 28, 389, 391; 109, 133, 159; 123, 267, 413; 128, 326, 376; BGHSt 23, 176, 192; Frisch, Zur Zukunft des Schuldstrafrechts, in: Heger (Hrsg.), Festschrift für Kristian Kühl, München 2014, S. 187; Krauß, in: Heine/Pieth/Seelmann (Hrsg.), Wer bekommt Schuld? Wer gibt Schuld?, Gesammelte Schriften von Detlef Krauß, Berlin 2011, S. 367. 2 Vgl. zuletzt T. Hörnle, Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf, Baden-Baden 2013; aus dem älteren Schrifttum vgl. Baurmann, Zweckrationalität und Strafrecht, Opladen 1987; Calliess, Theorie der Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, Frankfurt am Main 1974, S. 179 ff.; Ellscheid/Hassemer, in: Lüderssen/Sack (Hrsg.), Seminar: Abweichendes Verhalten II, Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität, Bd. 1, Frankfurt am Main 1975, S. 266 ff.; Kargl, Kritik des Schuldprinzips – eine rechtssoziologische Studie zum Strafrecht, Frankfurt am Main 1982; Scheffler, Kriminologische Kritik des Schuldstrafrechts, Frankfurt am Main, 1985. 3 Frank, Über den Aufbau des Schuldbegriffs, in: Frank (Hrsg.), Festschrift für die Juristische Fakultät in Gießen zum Universitäts-Jubiläum, Gießen 1907, S. 521, 529 f. 4 Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, Berlin 1930, S. 15 ff., 22; Eisele, in: Schönke/Schröder (Hrsg.), StGB Kommentar, 30. Aufl., München 2019, Vor § 13 Rn. 114; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 5. Aufl., Berlin 1996, S. 404 und 407; Kaufmann, Das Schuldprinzip, Heidelberg 1976, S. 115 ff.; Kohlhof, Die Legitimation einer originären Verbandsstrafe, Berlin 2019, S. 104; MüKo-StGB/Radtke, 3. Aufl., München 2016, Vor § 38 Rn. 20; Schöch, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Leipziger Kommentar, StGB, 12. Aufl., Berlin 2007,

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eine Strafe ohne (Schuld-)Vorwurf keine Strafe mehr ist,5 sondern etwas grundlegend anderes, was sich dann aber letztlich nicht mehr wirklich von den Maßregeln der Besserung und Sicherung unterscheiden lässt.6 Seinen klassischen, die Vorwerfbarkeit des Verhaltens aus der im konkreten Tatzeitpunkt gegebenen Fähigkeit zum „Anders-handeln-können“7 ableitenden Ausdruck hat dieser Standpunkt in einem Beschluss vom 18. März 1952 erfahren, in dem der Große Senat für Strafsachen – bezeichnenderweise ohne jegliche Bezugnahmen auf zustimmende Meinungen und unter souveräner Missachtung aller möglicherweise abweichenden Standpunkte – dekretiert: „Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten, dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfes liegt darin, dass der Mensch auf frei, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden, sobald er sittliche Reife erlangt hat und solange die Anlage zur freien Selbstbestimmung nicht durch die in § 51 StGB [entspricht heute § 20 StGB] genannten krankhaften Vorgänge vorübergehend gelähmt oder auf Dauer zerstört ist.“8

Die ganz offenbar von keinerlei Zweifeln angekränkelte Überzeugung von der Existenz der Fähigkeit zum „Anders-handeln-können“ dürfte auch in den 50er Jahren des 20. Jahrhundert nicht von allen Vertretern der Strafrechtswissenschaft geteilt worden sein. Im Ergebnis war man sich aber – und ist man sich auch heute noch weitgehend – einig darin, dass das geltende Strafrecht auf eben dieser Konzeption aufbaut,9 wobei teilweise von der Existenz der Entscheidungs- bzw. Willensfreiheit des Menschen ausgegangen wird,10 während überwiegend eher eine agnostische Hal§ 20 Rn. 4; Stratenwerth, in: Aebersold et al. (Hrsg.), Beiträge zu Grundfragen eines zeitgemäßen Strafrechts, Baden-Baden 2017, S. 122; zur Entwicklung des normativen Schuldbegriffs vgl. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Berlin 1993, 17/5 ff.; Jescheck/Weigend (Fn. 4), S. 419 ff.; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Aufl., München 2006, § 19 Rn. 10 ff. 5 Hallmann, Gebundene Freiheit und strafrechtliche Schuld, Tübingen 2017, S. 60 ff.; Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedankens im Strafrecht, Karlsruhe 1967, S. 31 f.; Kaufmann (Fn. 4), S. 203 f.; Pfunder, ZStrR 51 (1937), 152, 153; Stratenwerth (Fn. 4), S. 207, 218 f.; vgl. auch Roxin (Fn. 4), § 19 Rn. 30. 6 Kohlhof (Fn. 4), S. 98; Roxin, in: Kaufmann et al (Hrsg.), Festschrift für Paul Bockelmann, München 1979 S. 299; vgl. auch Frister, in: Freund et al (Hrsg.), Grundlagen und Dogmatik des gesamten Strafrechtssystems Festschrift für Wolfgang Frisch, Berlin 2013, S. 553: Strafe ohne Vorwurf sei ein Widerspruch in sich. 7 Vgl. Hallmann (Fn. 5), S. 69 ff.; Stratenwerth (Fn. 4), S. 142. 8 BGHSt 2, 194, 200 f.; zur Schuldlehre des BGH vgl. Neumann, FG BGH, Band IV, München 2000, S. 83 ff. 9 So auch Neumann, FG BGH (Fn. 8), S. 85. 10 Kaufmann (Fn. 4), S. 116 f., 208 f.; Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, Berlin 1997, S. 348.

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tung eingenommen wird, die darin besteht, dass man zwar nicht beweisen kann, dass es so etwas wie einen freien Willen gibt, dass man aber auch das Gegenteil ebenso wenig beweisen kann und der Gesetzgeber deswegen frei ist, von der grundsätzlichen Fähigkeit des Menschen zum „Anders-handeln-können“ auszugehen.11 Grundlegend in Frage gestellt wurde das auf dem Konzept des „Anders-handelnkönnens“ im Tatzeitpunkt aufbauende Schuldstrafrecht, als gegen Ende des 20. Jahrhunderts einzelne Vertreter der modernen Hirnforschung den Anspruch erhoben, durch ihre Forschungen den Schleier des Nichtwissens gelüftet und hinter diesem nichts gefunden zu haben, was es rechtfertigen würde, an der Konzeption festzuhalten, nach der der Mensch über die Fähigkeit verfügen soll, sich zu jedem beliebigen Zeitpunkt – und vor allem: im Tatzeitpunkt – für oder gegen das Recht entscheiden zu können.12 Die Strafrechtswissenschaft hat auf diesen frontalen Angriff auf die für das Konzept des Schuldstrafrechts essenzielle Basis dezidiert aber nicht einheitlich reagiert. Beanstandet wird zunächst einmal, dass es zu kurz greift, wenn man die Erklärung sozialer Phänomene, wie z. B. die Konzepte der Zurechnung von Verantwortlichkeit und/oder des Erhebens von Vorwürfen, allein auf physikalisch-chemische Prozesse zurückführen bzw. von deren Nachweisbarkeit abhängig machen will.13 Hinzu kommt, dass die Schlussfolgerungen, die Hirnforscher aus den Ergebnissen ihrer Forschung ableiten, nach dem Urteil vieler Beobachter weit über das hinausgehen, was man aus diesen tatsächlich ableiten kann.14 Die Ahnung, dass sich dies in der 11

Vgl. nur Jescheck/Weigend (Fn. 4), S. 407 ff. m.w.N. Vgl. Prinz, Freiheit oder Wissenschaft, in: von Cranach/Foppa (Hrsg.), Freiheit des Entscheidens und Handelns, Heidelberg 1996, S. 86 ff.; ders., Willensfreiheit als soziale Institution, in: Hillenkamp (Hrsg.), Neue Hirnforschung – Neues Strafrecht?, Baden-Baden 2006, S. 54 ff.; Roth, Fühlen, Denken Handeln, Frankfurt am Main 2003, S. 494 ff., insbesondere S. 536 ff.; Singer, in: Stompe/Schanda (Hrsg.), Der freie Wille und die Schuldfähigkeit, Berlin 2010, S. 22 f.; G. Merkel/Roth, Freiheitsgefühl, Schuld und Strafe, in: Grün/ Friedmann/Roth (Hrsg.), Entmoralisierung des Rechts, Maßstäbe der Hirnforschung für das Strafrecht, Göttingen 2008, S. 59 ff.; Roth/Lück/Strüber, DRiZ 2005, 356 ff.; Roth/Lück/Strüber, Willensfreiheit und strafrechtliche Schuld aus Sicht der Hirnforschung, in: Lampe/Pauen/ Roth (Hrsg.), Willensfreiheit und rechtliche Ordnung, Frankfurt a.M. 2008, S. 126 ff.; für einen Überblick über die Aussagen und Erkenntnisse der neueren Hirnforschung vgl. Frisch, FS Kühl (Fn. 1), S. 191 f. sowie umfassend Hillenkamp, JZ 2005, 314 f.; ders., ZStW 127 (2015), 10, 14 ff.; Walter, Hirnforschung und Schuldbegriff, in: Hoyer et al (Hrsg.), Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder, Heidelberg 2006, S. 136 ff.; zu einer Auseinandersetzung mit den Vorläufern der modernen Hirnforschung vgl. Kaufmann (Fn. 4), S. 264 f. 13 Bommer, Hirnforschung und Schuldstrafrecht, Luzerner Universitätsreden Nr. 18, 2008, S. 28 ff.; Ege, ZStrR 2017, 299, 310 ff.; Eisele, StGB Kommentar (Fn. 4), Vor § 13 Rn. 110a; Hallmann (Fn. 5), S. 23 ff., 84 ff.; Hassemer, ZStW 121 (2009), 829, 846 ff.; Joerden, Strafrechtliche Perspektiven der Robotik, in: Hilgendorf/Günther (Hrsg.), Robotik und Gesetzgebung, Baden-Baden 2013, S. 199 f.; vgl. auch Jakobs, Strafrechtswissenschaftliche Beiträge, Tübingen 2017, S. 708 ff.; vgl. aber auch G. Merkel, Hirnforschung, Sprache und Recht, in: Putzke et al. (Hrsg.), Strafrecht zwischen System und Telos, Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg, Tübingen 2008, S. 24 ff. 14 Vgl. Bommer (Fn. 13), S. 27; Duttge, Über die Brücke der Willensfreiheit zur Schuld – Eine thematische Einführung, in: Duttge (Hrsg.), Das Ich und sein Gehirn, Göttingen 2009, 12

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Zukunft ändern könnte, hat dann aber dazu geführt, dass man sich auf diese Situation vorbereiten muss – und hier teilen sich die Meinungen:15 Während teilweise konzediert wird, dass ein die weitreichenden Thesen der Hirnforschung stützender empirischer Befund das Ende des tradierten Schuldstrafrecht zur Konsequenz hätte,16 wollen andere Autoren – unter ihnen Reinhard Merkel – dies alles zum Anlass nehmen, sich von den Denkschablonen der tradierten Schuldkonzeption zu verabschieden und diese durch etwas ersetzen, was auch vor dem Hintergrund der modernen Hirnfor-

S. 19 ff.; Ege (Fn. 13), 299, 306 ff.; Eisele, StGB Kommentar (Fn. 4), Vor § 13 Rn. 110a f.; Frisch, FS Kühl (Fn. 1), S. 201 ff.; Gaede, Künstliche Intelligenz – Recht und Strafe für Roboter?, Baden-Baden 2019, S. 35; Herzberg, Willensunfreiheit und Schuldvorwurf, Tübingen 2010, S. 4 ff.; Hillenkamp, JZ (Fn. 12), 318 f.; ders., ZStW (Fn. 12), 75 ff.; Jäger GA 2013, 3, 9 f.; Kröber, Die Hirnforschung bleibt hinter dem Begriff strafrechtlicher Verantwortlichkeit zurück, in: Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt a.M. 2004, S. 103 ff.; ders., Die Wiederbelebung des „geborenen Verbrechers“ – Hirndeuter, Biologismus und die Freiheit des Rechtsbrechers, in: Hillenkamp (Hrsg.), Neue Hirnforschung – Neues Strafrecht?, Baden-Baden 2006, S. 63 ff.; Olivier, Wonach sollen wir suchen? Hirnforscher fragen nach ihrer Frage, in; Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt a.M. 2004, S. 153 ff.; Paeffgen/Zabel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB, 5 Aufl., Baden-Baden 2017, Vor § 32 Rn. 230b; Schild, in: NK-StGB, § 20 Rn. 8; Schockenhoff, Wir Phantomwesen. Über zerebrale Kategorienfehler, in: Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt a.M. 2004, S. 169 f.; Schöch, Leipziger Kommentar StGB (Fn. 4), § 20 Rn. 26; Schroth, Strafe ohne nachweisbaren Vorwurf, in: Heinrich et al. (Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis, Festschrift für Claus Roxin zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011, Band 1, Berlin 2011, S. 708 f.; Streng, Schuldbegriff und Hirnforschung, in: Pawlik et al. (Hrsg.), Festschrift für Günther Jakobs, Köln 2007, S. 684 ff.; MüKo-StGB/Streng, 3. Aufl., München 2017, § 20 Rn. 62; Walter, FS Schroeder (Fn. 12), S. 140 f.; zur Kritik an den Experimenten von Libet vgl. Helmrich, Wir können auch anders: Kritik der Libet-Experimente, in: Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt a.M. 2004, S. 92 ff.; Rösler, Was verraten die Libet-Experimente über den „freien Willen“? – Leider nicht sehr viel!, in: Lampe/Pauen/Roth (Hrsg.), Willensfreiheit und rechtliche Ordnung, Frankfurt a.M. 2008, S. 140 ff.; bemerkenswert ist, dass auch Libet selbst die Meinung vertritt, die Erkenntnisse aus seinen Experimenten würden der Annahme eines freien Willens nicht zwingend entgegenstehen, vgl. Libet, Haben wir einen freien Willen?, in: Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt a.M. 2004, S. 286 ff., insbesondere S. 284 ff. = ders., in: Hillenkamp (Fn. 12), S. 111 ff. 15 Vgl. den instruktiven Überblick bei ders., ZStW (Fn. 12), 56 ff. 16 Detlefsen, Grenzen der Freiheit – Bedingungen des Handelns – Perspektive des Schuldprinzips, Berlin 2006, S. 345 ff.; Duttge (Fn. 14), S. 43; Hillenkamp, JZ (Fn. 12), 320; ders., Das limbische System: Der Täter hinter dem Täter, in: Hillenkamp (Hrsg.), Neue Hirnforschung – Neues Strafrecht?, Baden-Baden 2006, S. 95 ff.; G. Merkel/Roth (Fn. 12), S. 71 ff.; G. Merkel, FS Herzberg (Fn. 13), S. 27 ff.; G. Merkel/Roth, in: Stompe/Schanda (Hrsg.), Der freie Wille und die Schuldfähigkeit, Berlin 2010, S. 160 f.; Schiemann NJW 2004, 2056, 2059; Spilgies, HRRS 2005, 43, 44 ff.; ders., ZIS 2007, 155, 161; Walter, FS Schroeder (Fn. 12), S. 142 f.; vgl. auch ders., ZStW (Fn. 12), 61 f.; zu den Auswirkungen auf andere Teilrechtsgebiete vgl. Hillenkamp ZStW (Fn. 12), 38 ff.; ders., JZ 2015, 391 ff.; Bommer (Fn. 13), S. 26 f.; Eisele, StGB Kommentar (Fn. 4), Vor § 13 Rn. 110b; Jäger (Fn. 14), 3, 12; auch im Strafrecht geht es nicht allein um die Schuld, vgl. Hillenkamp, ZStW (Fn. 12), 42 ff.

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schung Bestand haben kann und das Strafrecht gegen die Herausforderungen der modernen Hirnforschung quasi „immunisiert“.17

II. Die Reformulierung des Schuldbegriffs: Schuldfähigkeit als „normative Ansprechbarkeit“ Reinhard Merkel hat seinen, den tradierten Schuldbegriff modifizierenden Ansatz anlässlich eines am 18. Januar 2006 in der Reihe der „Würzburger Vorträge“ gehaltenen Vortrags entwickelt.18 Die dort vorgetragenen Überlegungen hat Merkel sodann in weiteren Publikationen ausgebaut und fortentwickelt, wobei für den Strafrechtler neben zwei Beiträgen in Sammelbänden19 vor allem die Ausführungen zur näheren Umschreibung des für den Ansatz Merkels zentralen Kriteriums der „normativen Ansprechbarkeit“ von Bedeutung sind. Dass sich diese Ausführungen in der Festschrift finden, die Claus Roxin zu dessen 80. Geburtstag gewidmet worden ist,20 ist sicherlich kein Zufall, sondern trägt dem Umstand Rechnung, dass Merkel mit seinem Ansatz maßgeblich an die von Claus Roxin entwickelte Schuldlehre anknüpft. 1. Die Schuldlehre Roxins Die von Claus Roxin vertretene Schuldlehre wird immer wieder einmal in die Nähe der funktionalen, allein auf präventive Effekte abzielenden Schuldkonzeptionen gerückt. Dies stellt indes eine Verzerrung seiner Konzeption dar, gegen die Claus Roxin sich stets vehement – und zu Recht – gewehrt hat. Die grundlegende Struktur der von ihm als „Verantwortlichkeit“ bezeichneten Prüfungsstufe21 besteht darin, dass Roxin die Erfordernisse der Schuld und des Präventionsbedürfnisses verbindet: Eine Bestrafung setzt voraus, dass der Täter schuldhaft gehandelt hat und zusätzlich

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Kritisch dazu, dass dies so gelingen kann: Hillenkamp, ZStW (Fn. 12), 63 f.; Hoyer, FS Roxin (Fn. 14), S. 726 ff.; vgl. auch Schünemann, in: Jus humanum, Grundlagen des Rechts und Strafrecht, Festschrift für Ernst-Joachim Lampe, Berlin 2003, S. 545 f. 18 R. Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung, 2. Auflage, Baden-Baden 2014. 19 R. Merkel, Handlungsfreiheit, Willensfreiheit und strafrechtliche Schuld, in: Lampe/ Pauen/Roth (Hrsg.), Willensfreiheit und rechtliche Ordnung, Frankfurt a.M. 2008, S. 332 ff.; ders., Ist „Willensfreiheit“ eine Voraussetzung strafrechtlicher Schuld?, in: Roth/Hubig/ Bamberger (Hrsg.), Schuld und Strafe – Neue Fragen, München 2012, S. 39 ff. 20 R. Merkel, Schuld, Charakter und normative Ansprechbarkeit – Zu den Grundlagen der Schuldlehre Claus Roxins, in: FS Roxin (Fn. 14), S. 737 ff. 21 Vgl. Roxin, die strafrechtliche Verantwortlichkeit zwischen Können und Zumutbarkeit, in: Kreuzer et al. (Hrsg.), Fühlende und denkende Kriminalwissenschaften, Ehrengabe für Anna-Eva Brauneck, Godesberg 1999, S. 399; ders., in: Joerden/Schmoller (Hrsg.), Rechtsstaatliches Strafen, Festschrift für Keiichi Yamanaka, Berlin 2017, S. 467.

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ein Präventionsbedürfnis besteht.22 Das Erfordernis der Schuld geht also gerade nicht – wie z. B. in der Schuldlehre Jakobs – im Präventionsbedürfnis auf, sondern tritt als ein selbstständiges Element neben dieses.23 Mit anderen Worten: Es muss zunächst einmal davon ausgegangen werden können, dass der Täter normativ ansprechbar war. Ist dies nicht der Fall, kann er nicht als verantwortlich angesehen werden und die Frage, ob präventive Bedürfnisse für oder gegen eine Bestrafung sprechen, stellt sich gar nicht mehr. Ist der Täter dagegen normativ ansprechbar, stellt sich dann – und nur dann – in einem zweiten Schritt die weitere Frage, ob die Bestrafung präventiv erforderlich ist oder nicht. Definiert wird das Schulderfordernis von Roxin als unrechtes Handeln trotz normativer Ansprechbarkeit.24 Die Schuld ist zu bejahen, „wenn er [= der Täter] bei der Tat seiner geistigen und seelischen Verfassung nach für den Anruf der Norm disponiert war“.25 Roxin bezieht sich für das Merkmal der normativen Ansprechbarkeit auf Ausführungen von Peter Noll,26 der Sache nach finden sich – worauf bereits Merkel hingewiesen hat27 – entsprechende Überlegungen aber auch bereits bei Franz von Liszt, der die Schuldfähigkeit als „normative Bestimmbarkeit durch Motive“ bezeichnet hat.28 Basis der Konzeption der Schuld als normative Ansprechbarkeit ist aus der Sicht Roxins die empirisch feststellbare prinzipielle Fähigkeit des Menschen zur Selbststeuerung.29 Für die normative Ansprechbarkeit „genügt die Disposition zur Befolgung der Norm, die auch derjenige hat, der sich über sie hinwegsetzt, obwohl er die Kenntnisse und Fähigkeiten besaß, die für ein rechtmäßiges Verhalten erforderlich sind“;30 sind diese Voraussetzungen gegeben, werde der Täter „als frei behandelt“.31

22 Roxin, in: Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, Festschrift für Günther Kaiser, Berlin 1998, S. 890 f.; ders., FS Yamanaka (Fn. 21), S. 467; ders. (Fn. 4), § 19 Rn. 5 und 37. 23 Roxin, FS Bockelmann (Fn. 6), S. 284 f.; ders., Ehrengabe Brauneck (Fn. 21), S. 399; ders., FS Kaiser (Fn. 22), S. 894; ders. (Fn. 4), § 19 Rn. 7; vgl. auch Schünemann (Fn. 17), S. 550. 24 Roxin, Ehrengabe Brauneck (Fn. 21), S. 388; ders. (Fn. 4), § 19 Rn. 36 ff.; vgl. auch Burghardt, Zufall und Kontrolle, Tübingen 2018, S. 268. 25 Roxin, GA 2015, 489, 490. 26 Vgl. Noll, in: Geerds/Naucke (Hrsg.), Festschrift für Hellmuth Mayer, Berlin 1966, S. 219 ff., insbesondere S. 225. 27 R. Merkel, FS Roxin (Fn. 14), S. 752 Fn. 45. 28 Vgl. von Liszt, Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, Berlin 1905, S. 43 sowie S. 219 f. 29 Roxin (Fn. 4), § 19 Rn. 46, 48 und 51; ders., ZStrR 1987, 356, 369; vgl. auch Frister, FS Frisch (Fn. 6), S. 546: Schuldfähigkeit sei die Fähigkeit, sich durch ein verständiges Abwägen des Für und Wider der in Betracht kommenden Gesichtspunkte für oder gegen die Normbefolgung zu entscheiden; vgl. hierzu auch Burghardt (Fn. 24), S. 260 ff. 30 Roxin (Fn. 25), 490. 31 Roxin ZStW 96 (1984), 641, 650; ders. (Fn. 29), 369; ders. (Fn. 4), § 19 Rn. 37.

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Die Freiheitsannahme sei – so Roxin – eine „normative Setzung“,32 gleichzeitig aber nicht „etwas Beliebiges“, sondern eine soziale Spielregel, die „in der gesellschaftlichen Realität fundiert“ sei33 und ohne die „eine sinnvolle Ordnung des menschlichen Soziallebens“ nicht möglich sei.34 Das Strafrecht werde mit diesem agnostischen Schuldbegriff „von den neurologischen Befunden der Hirnforschung unabhängig“.35 Jedenfalls die letztgenannte These wird man bezweifeln müssen: Wenn Erkenntnisse der Hirnforschung überzeugend belegen sollten, dass die Fähigkeit zum „Anders-handeln-können“ nicht nur in Ausnahmefällen nicht gegeben, sondern generell als eine Fiktion einzustufen ist, wird sich die normative gesetzte „Spielregel“ sicher nicht – jedenfalls nicht auf Dauer – aufrechterhalten lassen.36 2. Die Konzeption Merkels Ausgangspunkt der Überlegungen Merkels ist die Überzeugung, dass die auch von Hassemer37 schon als „Lebenslüge des Strafrechts“ bezeichnete These von der Möglichkeit der Nachweisbarkeit des „Anders-handeln-können“ des Täters im Zeitpunkt der Tatbegehung tatsächlich nicht verifizierbar und vor dem Hintergrund der vorliegenden Erkenntnisse der Hirnforschung sogar höchst unwahrscheinlich sei.38 Das Schuldprinzip könne aber nicht auf bloßen Vermutungen oder Fiktionen aufbauen, sondern benötige ein objektives Fundament,39 das sich nach Merkel im Anschluss an Roxin im Erfordernis der normativen Ansprechbarkeit finden lassen soll.40 Die normative Ansprechbarkeit versteht Merkel als eine dispositionelle Eigenschaft, nämlich die Fähigkeit, sich grundsätzlich durch Normen motivieren zu lassen.41 Im Einzelnen setze normative Ansprechbarkeit „Rezeptivität“ und „Reaktivi32

Roxin (Fn. 31), 650; ders. (Fn. 29), 369; ders. (Fn. 25), 490. Roxin (Fn. 4), § 19 Rn. 37, 40 ff. und 46. 34 Roxin (Fn. 29), 369; ders. (Fn. 25), 491. 35 Roxin (Fn. 25), 490. 36 Vgl. auch Duttge (Fn. 14), S. 35 und 40 ff.; Hillenkamp, JZ (Fn. 12), 320; Jäger (Fn. 14), 3, 11; Weißer, GA 2013, 26, 35. 37 Hassemer (Fn. 13), 851; ders., Verantwortlichkeit im Strafrecht, in: Roth/Hubig/Bamberger (Hrsg.), Schuld und Strafe – Neue Fragen, München 2012, S. 7, 15; vgl. auch bereits Ellscheid/Hassemer (Fn. 2), S. 267 f. sowie S. 270; vgl. auch Schroth, FS Roxin (Fn. 14), S. 709 ff. 38 R. Merkel, Willensfreiheit (Fn. 18), S. 114 f.; ders., FS Roxin (Fn. 14), S. 751 und 759; ders., Handlungsfreiheit, Willensfreiheit und strafrechtliche Schuld – Versuch eines Beitrags zur Ordnung einer verworrenen Debatte, in: Schünemann/Tinnefeld/Wittmann (Hrsg.), Gerechtigkeitswissenschaft – Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstages von Lothar Philipps, Berlin 2005, S. 465; vgl. auch Frister, FS Frisch (Fn. 6), S. 536 ff. 39 R. Merkel, Willensfreiheit (Fn. 18), 121; ders., Handlungsfreiheit (Fn. 19), S. 365; vgl. auch Duttge (Fn. 14), S. 40. 40 R. Merkel, FS Roxin (Fn. 14), S. 738 f. 41 R. Merkel, Ist „Willensfreiheit“ eine Voraussetzung (Fn. 19), S. 55 f.; ders., FS Roxin (Fn. 14), S. 752 ff. 33

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tät“ voraus.42 Dies bedeutet zunächst einmal: „Der Handelnde muss zunächst rezeptiv (sensitiv) für den Sinn des Normbefehls unter den konkreten Umständen der Handlungssituation sein“,43 was wiederum dreierlei voraussetzt: Zum ersten muss der Handelnde die Elemente der Handlungssituation sinnlich wahrnehmen (können), die maßgeblich sind für die Wahrnehmung seiner konkreten Tat. Zweitens muss er „diejenigen Bestandteile der Handlungssituation, welche den (dann ignorierten) Normbefehl anwendbar machen, zutreffend identifizieren und in eben dieser Funktion begreifen“ können. Und schließlich muss er drittens „die von solchen Umständen evozierte Norm in ihrem Gewicht halbwegs konsistent in das System der allgemein verbindlichen Pflichten einordnen können“.44 Hinzukommen muss dann noch die „Reaktivität“. Ansprechbar ist man nicht bereits dann, „wenn man versteht, dass und womit man angesprochen wird, sondern erst dann, wenn man grundsätzlich auch in der Lage ist, auf diese ,Ansprache‘ adäquat zu reagieren“. Erforderlich ist, dass der Täter „über ein bestimmtes Maß an Fähigkeit zur richtigen Reaktion auf den Normbefehl verfügt“. Dies soll dann der Fall sein, wenn er sich selbst als jemanden begreifen kann, „der für den Fall des Sich-hinwegsetzens über den konkreten Normbefehl fairerweise – nämlich im Einklang mit der allgemein geltenden Normenordnung – zum Ziel einer sanktionierenden Reaktion gemacht werden kann“.45

III. Der Schuldbegriff im Spannungsfeld von Ontologie und Normativität Die kurze Analyse der Schuldlehre(n) Roxins und Merkels hat gezeigt, wo die für den Schuldbegriff elementaren Probleme liegen: Zum einen geht es darum, ob der Schuldbegriff ein forensisch nachweisbares ontologisches Fundament benötigt und, wenn ja, worin dieses bestehen muss bzw. kann. Zum anderen geht es darum, ob und inwieweit der Schuldbegriff normativiert werden kann. Letztlich handelt es sich bei den genannten Fragestellungen um Facetten ein und desselben Problems: Ist der Schuldbegriff ein normativer, ein empirischer oder ein gemischt empirisch-normativer Begriff?

42 Zustimmend Roxin (Fn. 25), 490; vgl. auch Burghardt (Fn. 24), S. 268 ff.; Matthias, Automaten als Träger von Rechten, Berlin 2008, S. 52 ff.; Weißer (Fn. 36), 35. 43 R. Merkel, FS Roxin (Fn. 14), S. 754. 44 R. Merkel, FS Roxin (Fn. 14), S. 754 f. 45 R. Merkel, FS Roxin (Fn. 14), S. 756; vgl. auch bereits Kaufmann (Fn. 4), S. 116: Strafe könne nur erleiden, wer den Zusammenhang der Strafe als verdientes Übelleiden für schuldhaftes Übeltun geistig verstehen kann.

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1. Die „Disposition zur Normbefolgung“: ein notwendiges ontologisches Fundament des Schuldvorwurfs? Reinhard Merkel legt, wie auch schon Claus Roxin,46 sehr viel Wert darauf, dass die als normative Ansprechbarkeit bezeichnete prinzipielle Fähigkeit zur Selbststeuerung etwas ist, was empirisch feststellbar ist.47 Insoweit soll dann aber bereits die grundsätzliche Fähigkeit ausreichen, sich zu normgemäßem Verhalten motivieren zu können.48 Dass der Täter über die Fähigkeit „prinzipiell“ verfügt, sagt aber nichts darüber aus, dass er von dieser im konkreten Fall auch Gebrauch machen bzw. diese abrufen konnte.49 Dieses Problem hatte Merkel ursprünglich durch den Verweis darauf erledigen wollen, dass es bei der Anwendung staatlichen Strafzwangs um die Demonstration der Normgeltung gehe.50 Es gehe um das „Bezahlenmüssen für die begangene Tat“, ohne die der (durch die Tat) verletzte Normgeltungsanspruch nicht repariert werden könne.51 In späteren Publikationen hat Merkel diese Argumentation nicht fortgeführt, sondern sich auf den Standpunkt zurückgezogen, dass man mit der Tatsache, dass der Täter die Fähigkeit, sich zu normgemäßem Verhalten zu bestimmen, im konkreten Fall möglicherweise nicht habe abrufen können, leben müsse.52 Er erkennt aber an: Es bleibe „ein Rest an legitimatorischem Unbehagen“.53 Offen ist, wie dies alles mit dem Verdikt zusammenpasst, dass die von der herrschenden Meinung vertretene normative Setzung des „Anders-handeln-könnens“ mit der Bindung an den verfassungs- und konventionsrechtlich gewährleisteten Grundsatz „in dubio pro reo“ nicht zu vereinbaren sein soll.54 Diesbezüglich ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz „in dubio pro reo“ nicht den Gesetzgeber bindet, der nicht daran gehindert ist, Straftatbestände zu schaffen, die auf Vermutungen aufbauen oder den Schuldgrundsatz missachten;55 gebunden ist allein der Strafrichter und auch dieser nur insoweit, als er sich, wenn Zweifel bleiben, welche von mehreren möglichen Sachverhaltsannahmen zutreffend ist, für die Variante zu 46

Roxin (Fn. 4), § 19 Rn. 46, 48 und 51; ders. (Fn. 31), 652; ders. (Fn. 29), 369. Vgl. die Nachweise in Fn. 39 f. 48 R. Merkel, Willensfreiheit (Fn. 18), S. 131 f.; ders., Ist „Willensfreiheit“ eine Voraussetzung (Fn. 19), S. 55 f. 49 Vgl. Ege (Fn. 13), 299, 312: An die Stelle der Fokussierung auf den Tatzeitpunkt trete „eine generelle Einschätzung der Täterpersönlichkeit“. 50 R. Merkel, Willensfreiheit (Fn. 18), S. 124 ff. 51 R. Merkel, Willensfreiheit (Fn. 18), S. 129 f.; ders., Handlungsfreiheit (Fn. 19), S. 366 ff. 52 R. Merkel, Ist „Willensfreiheit“ eine Voraussetzung (Fn. 19), S. 58; vgl. auch ders., Handlungsfreiheit (Fn. 19), S. 367; ders., FS Roxin (Fn. 14), S. 760 f. 53 R. Merkel, Willensfreiheit (Fn. 18), S. 133; vgl. auch ders., Handlungsfreiheit (Fn. 19), S. 368; Frister, FS Frisch (Fn. 6), S. 552: Es gebe auf diese Frage „keine wirklich befriedigende Antwort“. 54 Vgl. R. Merkel, Willensfreiheit (Fn. 18), S. 115 ff.; ders., FS Roxin (Fn. 14), S. 738; vgl. auch bereits Roxin (Fn. 29), 356. 55 Schöch, Leipziger Kommentar StGB (Fn. 4), § 20 Rn. 30; vgl. auch SK-StPO/Meyer, 5. Aufl., Köln 2019, Art. 6 EMRK Rn. 312. 47

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entscheiden hat, die für den Beschuldigten die günstigere ist.56 Wenn also der Gesetzgeber die Schuldfähigkeit eines nicht von den in § 20 StGB genannten Einschränkungen betroffenen Menschen als gegeben unterstellt, dann sind Zweifel, die der Richter an der Validität dieser Annahme hat unbeachtlich, weil es hier um Zweifel geht, die für die durch das Gesetz vorgegebene rechtliche Subsumtion keine Relevanz haben.57 Auch wenn man die von Merkel und Roxin propagierte normative Fundierung im „in dubio“-Satz und/oder der Unschuldsvermutung nicht für überzeugend hält, ändert dies aber nichts daran, dass man sich natürlich auf den Standpunkt stellen kann, dass ein Schuldvorwurf berechtigterweise nur dann erhoben werden kann, wenn hierfür ein ontologisches – und forensisch nachweisbares – Fundament vorhanden ist. Teilt man diesen Standpunkt und will man am Schuldgrundsatz festhalten, muss man entweder beweisen können, dass der Täter in der Lage war, die bei ihm grundsätzlich vorhandene Fähigkeit im konkret in Frage stehenden Fall abzurufen, was indes von Roxin und Merkel mit guten Gründen verneint wird.58 Will man trotzdem an einem nachweisbaren ontologischen Fundament festhalten, muss man bereit sein, die generelle Fähigkeit als solche ausreichen zu lassen59 – und dies nicht, wie es bei Merkel anklingt, mit einem schlechten Gewissen,60 sondern aus Überzeugung. Dies hat zur Folge, dass der Ausschluss der Strafbarkeit allein in den Fällen auf das Fehlen von Schuld gestützt werden kann, in denen nachgewiesen wird, dass der in Frage stehende Täter generell nicht normativ ansprechbar ist.61 In allen anderen Fällen bleibt es dabei, dass der – z. B. zum Tatzeitpunkt maßgeblich unter dem Einfluss von Alkohol und/oder Drogen stehende – Täter grundsätzlich gesehen sehr wohl in der Lage ist, sich normativ ansprechen zu lassen – nämlich dann, wenn der Rauschzustand nicht mehr vorhanden ist. In diesen Fällen kann die Nichtbestrafung allenfalls noch auf ein fehlendes präventives Bedürfnis für eine Bestrafung gestützt werden. Wenn man stattdessen darauf abstellen will, dass der berauschte Täter bezogen auf die konkrete, im Rauschzustand begangene Tat nachweisbar nicht „normativ ansprechbar“ war, ist man durch die Hintertür doch wieder beim Kriterium des Anders-handeln-könnens im Tatzeitpunkt angelangt.62 56

Vgl. SK-StPO/Velten, 5. Aufl., Köln 2016, § 261 Rn. 91 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., München 2019, § 261 Rn. 29. 57 Vgl. auch MüKo-StGB/Streng (Fn. 14), § 20 Rn. 29: Schuld sei das Ergebnis einer wertenden Zuschreibung, auf die in dubio-Grundsatz keine Anwendung finde; vgl. auch Schöch, Leipziger Kommentar StGB (Fn. 4), § 20 Rn. 17: Der Satz sei in „Fällen der prinzipiellen Erkenntnisgrenzen unanwendbar“. 58 Vgl. die Nachweise in den Fn. 29 und 38 sowie Roxin (Fn. 31), 653; vgl. auch Krauß, Neue Hirnforschung – Neues Strafrecht? Festschrift für Heike Jung, Baden-Baden 2007, S. 427; Stratenwerth (Fn. 4), S. 142. 59 So wohl Frank (Fn 3), S. 530. 60 Vgl. R. Merkel, FS Roxin (Fn. 14), S. 761; ders., in: Schünemann/Tinnefeld/Wittmann (Fn. 38), S. 465 f. 61 Roxin (Fn. 31), 652 f.; kritisch diesbezüglich Schünemann (Fn. 17), S. 545 f. 62 Vgl. insoweit auch die kritische Analyse des Ansatzes bei Hoyer, FS Roxin (Fn. 14), S. 728 f.

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Die Frage ist aber, ob die Ausgangsprämisse überhaupt richtig ist: Muss der Schuldvorwurf auf einem ontologischen – und als solchem forensisch nachweisbaren – Fundament aufbauen? Wenn das bei der Schuld so wäre, dann müsste Gleiches wohl auch für den Vorsatz und für das Hervorrufen des Tatentschlusses beim Haupttäter durch den Anstifter sowie bei der Stärkung des Täterwillens durch das Verhalten des psychischen Gehilfen gelten. Dass wir hier bestrafen, obwohl wir einen solchen Nachweis nicht führen können, ist ein Beleg dafür, dass wir meinen, einen solchen Beweis nicht führen zu müssen. Tatsächlich wird man hier die Kritik aufgreifen müssen, die den Vertretern der modernen Hirnforschung – zu Recht – entgegengehalten worden ist: Die Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit ist ein Akt der Zuschreibung,63 der an Wertungen anknüpft und wesentlich durch die gesellschaftliche Verständigung darüber determiniert wird, wer unter welchen Voraussetzungen für was Verantwortung zu tragen hat. Das Strafrecht agiert insoweit aber nicht im luftleeren Raum. Die Erklärungsmuster für soziale Phänomene dürfen den Rationalitätsstandard der jeweiligen Gesellschaft nicht missachten, d. h. sie dürfen anerkannten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht widersprechen,64 was dann der Grund dafür ist, dass auch im geltenden Recht beim Vorliegen bestimmter Umstände von Schuldunfähigkeit auszugehen ist.65 Zuschreibungsprozesse bedürfen damit aber keines forensisch nachweisbaren ontologischen Fundaments; es reicht aus, dass sie mit den in einer Gesellschaft vorherrschenden Erkenntnissen und Überzeugungen zu den biologischen, anthropologischen Grundlagen des sozialen Miteinanders kompatibel sind. Stehen Zuschreibungsprozesse in Widerspruch zu (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnissen, stellt dies die Legitimität der Zuschreibung in Frage und wird – jedenfalls auf längere Sicht – die Konsequenz haben, dass die Zuschreibung auf eine neue, mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaft kompatible Basis gestellt oder aber aufgege-

63 Vgl. – bezogen auf die Schuldfähigkeit – Bommer (Fn. 13), S. 30; Ege (Fn. 13), 299, 324; Gless/Weigend, ZStW 126 (2014), 561, 575; Günther, in: Prittwitz et al. (Hrsg.), Rationalität und Empathie, Baden-Baden 2014, S. 14 ff.; Hallmann (Fn. 5), S. 42 ff.; Hörnle (Fn. 2), S. 24 f.; Kindhäuser, in: Herzog/Neumann (Hrsg.), Festschrift für Winfried Hassemer, Heidelberg 2010, S. 765; Kohlhof (Fn. 4), S. 111 f., 114 f.; Krauß (Fn. 58), S. 413; Roth, FS Lampe (Fn. 17), S. 57; Simmler/Markwalder, Roboter in der Verantwortung?, ZStW 129 (2017), 20, 32 ff.; Stratenwerth (Fn. 4), S. 198 f.; MüKo-StGB/Streng (Fn. 14), § 20 Rn. 26; Weißer (Fn. 36), 37; vgl. auch Ortmann, NZWiSt 2017, 241, 247; zum ontologischen Status mentaler Zuständen vgl. Stuckenberg, FS Kindhäuser, Baden-Baden 2019, S. 533 ff. und speziell zu den unterschiedlichen Herangehensweisen des BGH und des schweizerischen Bundesgerichts bei der Feststellung bzw. der Zuschreibung des Tötungsvorsatzes vgl. Wohlers, Unfälle mit Todesopfern, in: Dähler/Landolt (Hrsg.), Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2019, S. 109 ff. 64 Hallmann (Fn. 5), S. 29 und 51; Hirsch, Das Schuldprinzip und seine Funktion im Strafrecht, in: Plywaczewski (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie, 1998, S. 201 = ZStW 106 (1994), 763 f. 65 Vgl. Hassemer (Fn. 37), S. 16 f.; ders. (Fn. 13), 852 f.

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ben werden muss.66 Wenn es also einmal so weit sein sollte, dass wir davon ausgehen müssen, dass Täter im Zeitpunkt der jeweiligen Tathandlung gar nicht mehr anders handeln können als so, wie sie gehandelt haben, dann stellt sich tatsächlich die Frage, ob man berechtigterweise den Täter dafür tadeln kann, dass er sich so verhalten hat, wie er sich verhalten musste.67 Wenn der Verlust der Steuerungsfähigkeit vom Ausnahme- zum Normalfall geworden ist, dürfte dies nicht mehr möglich sein: Einen Tadel an ein Verhalten zu knüpfen, dass der Betroffene nicht vermeiden konnte, wäre gleichermaßen sinnlos und ungerecht.68 Tatsächlich könnten wird den Täter nicht einmal dafür tadeln, dass er sich zu dem gemacht hat, was er ist. Eine derartige Revitalisierung des Konzepts der Charakter- bzw. Lebensführungsschuld wird zwar von Herzberg propagiert,69 wird aber ganz überwiegend – und insbesondere auch von Roxin70 und Merkel71 – zurückgewiesen.72 Und dies vollkommen zu Recht, denn: Wenn wir nicht anders handeln können, als so, wie wir gehandelt haben, wieso sollten wir dann verantwortlich dafür sein (können), dass wir durch unser Handeln zu dem geworden sind, der wir sind? 2. Vorwerfbarkeit als eine „normative Setzung“ Hinter der Normativierung des Schuldbegriffs steht nach alledem die Erkenntnis, dass es beim strafrechtlichen Schuldbegriff nicht darum geht, menschliches Verhalten zu erklären, sondern darum, dieses zu interpretieren, d. h. dessen Bedeutung für das soziale Miteinander zu bestimmen. Selbst wenn wir dereinst einmal in der Lage sein sollten, das Verhalten von Menschen in naturwissenschaftlicher Hinsicht umfassend zu beschreiben, würde diese Beschreibung allein nicht weiterhelfen. Für das soziale Miteinander ist entscheidend, ob das, was durch Verhalten bewirkt wird, einem Akteur als dessen Werk zugerechnet werden kann. Die Zurechnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit ist keine Problematik, die durch naturwissenschaftliche Messungen und/oder Berechnungen bewältigt werden kann, sondern es ist eine Zuschreibung, die im Rahmen der Praxis gesellschaftlicher Verständigung erfolgt und die maßgeblich durch die für die jeweilige Gesellschaft herrschende Vorstellung getra66 Vgl. Kindhäuser, ZStW 121 (2009), 954, 956; zustimmend Neumann, in: Böse/Toepel/ Schumann (Hrsg.), Festschrift für Urs Kindhäuser, Baden-Baden 2019, S. 336; vgl. auch Duttge (Fn. 14), S. 35; vgl. aber auch Burghardt (Fn. 24), S. 252 f. und 296 f. 67 Seelmann, in: Senn/Puskas (Hrsg.), Gehirnforschung und rechtliche Verantwortung, ARSP Beiheft Nr. 110 (2006), S. 102; vgl. auch Duttge (Fn. 14), S. 40 ff.; G. Merkel, FS Herzberg (Fn. 13), S. 23 f.; kritisch zum Tadel als Voraussetzung für Strafe: Ellscheid/Hassemer (Fn. 2), S. 279; kritisch zum Versuch, ein Strafrecht ohne Tadel zu denken: Frister, FS Frisch (Fn. 6), S. 553. 68 Burghardt (Fn. 24), S. 292 ff.; Frisch, FS Kühl (Fn. 1), S. 188; Schöch, Leipziger Kommentar StGB (Fn. 4), § 20 Rn. 4. 69 Herzberg (Fn. 14), S. 93 ff., 113 ff. 70 Roxin (Fn. 25), 499 f. 71 R. Merkel, FS Roxin (Fn. 14), S. 742 72 MüKo-StGB/Streng (Fn. 14), § 20 Rn. 58; Weißer (Fn. 36), 34.

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gen wird, wer unter welchen Voraussetzungen in verantwortlicher und vorwerfbarer Weise agiert.73 Vorwerfbarkeit ist also ein „kulturelles Konstrukt“74, ein in der gesellschaftlichen Praxis hergestelltes Produkt wertender Zuschreibung.75 Entscheidend ist das sich aus der gesellschaftlichen Verständigung ableitende Verständnis davon, wer ein verantwortliches Subjekt ist.76 Dem entspricht es, wenn Roxin die für seine Schuldlehre zentrale Freiheitsannahme als eine „normative Setzung“ bezeichnet, die aber nicht etwas Beliebiges sei, sondern ihr Fundament in der gesellschaftlichen Realität finde.77 Das Urteil über das Schuldstrafrecht sei „nicht davon abhängig, ob Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen philosophisch oder psychologisch beweisbar sind, sondern allein davon, ob es teleologisch angemessen ist, dass der Mensch als frei und verantwortlich behandelt wird“, wobei sich der insoweit erforderliche Maßstab „nur aus den sozialpsychologischen Grundlagen des Strafrechts gewinnen“ lasse.78 Das Leben im Bewusstsein der Freiheit sei „eine vom neuronalen Befund unabhängige soziale Realität. Das Recht muss daher die Möglichkeit von Freiheit und Schuld anerkennen, wenn es auf die soziale Realität wirken will“.79 Mit diesem Ansatz befindet sich Roxin in Übereinstimmung mit anderen Autoren, die die aus der Annahme von Willensfreiheit abgeleitete Fähigkeit zum „Anders-handeln-können“ als Teil der abendländischen Kultur in den elementaren Strukturen unserer gesellschaftlichen Kommunikation verankert ist80 und/oder darauf verweisen, dass sich die für unsere Praxis des sozialen Miteinanders zentrale Konzeption des Lobens und Tadelns auch in der Rechtsordnung ihren direkten Niederschlag gefunden hat.81 Die Praxis der Verhängung staatlicher Strafen erweist sich vor diesem Hin73 So auch Hassemer (Fn. 37), S. 14; vgl. auch Roxin (Fn. 31), 653: „[D]as Urteil darüber, bei welcher psychischen Beschaffenheit vom einzelnen ein rechtstreues Verhalten noch erwartet wird, hängt nicht ausschließlich vom Fortschritt der wissenschaftlichen Einsicht in die Bedingtheit menschlichen Handelns, sondern auch vom Bewusstseinsstand der Gesellschaft und der kriminalpolitischen Haltung des Gesetzgebers ab“; vgl. auch Hirsch (Fn. 64), 763 f. 74 Krauß (Fn. 58), S. 429. 75 Vgl. die Nachweise in Fn. 63. 76 Günther (Fn. 63), S. 28 f.; vgl. auch Teubner, Zeitschrift für Rechtssoziologie 27 (2006), 5, 9: „Akteure existieren nicht per se, sondern Sozialsysteme konstruieren ihre Akteure, indem sie semantischen Artefakten – den Personen – Subjektivität zuschreiben.“ 77 Roxin (Fn. 4), § 19 Rn. 42. 78 Roxin (Fn. 31), 651 f. 79 Roxin (Fn. 25), 491. 80 Schünemann, Die Funktion des Schuldprinzips im Präventionsstrafrecht, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, Berlin 1984, S. 163 ff.; ders., FS Lampe (Fn. 17), S. 547 ff.; vgl. auch Frister, FS Frisch (Fn. 6), S. 553 f.; Jescheck/Weigend (Fn. 4), S. 412; Hassemer (Fn. 13), 829, 848 ff.; Krauß (Fn. 58), S. 429; Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, Tübingen 2012, S. 283 f.; Schroth, FS Roxin (Fn. 14), S. 706; kritisch hierzu Hoyer, FS Roxin (Fn. 14), S. 729 f.; vgl. auch Burghardt (Fn. 24), S. 249 ff. 81 Schild, NK-StGB (Fn. 14), § 20 Rn. 14 ff.; vgl. auch Hassemer (Fn. 13), 829, 848 ff.; Hirsch (Fn. 64), 763 f.

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tergrund als nichts anderes als die Formalisierung und rechtsstaatliche Einhegung der von Peter Strawson82 beschriebenen sozialen Praxis des Tadelns. Ebenso wie die Regeln, nach denen Lob und Tadel verteilt werden, Teil einer erlernten sozialen Praxis sind,83 ist auch die Verhängung staatlicher Strafen eine soziale Praxis bzw. Institution,84 die, wenn man Strafe als einen stellvertretend erhobenen staatlichen Tadel versteht, auch den Regeln gerecht werden muss, nach denen die soziale Praxis des Lobens und Tadelns funktioniert. Es geht mithin weder darum, dass wir wirklich (nachweisbar) frei sind in dem, was wir tun, noch darum, dass wir uns subjektiv als frei empfinden. Entscheidend ist, dass unsere Verständigung über das soziale Miteinander darauf aufbaut, dass wir uns gegenseitig als verantwortliche Akteure wahrnehmen und ansprechen und damit die auf wechselseitiger Zuschreibung von Verantwortlichkeit und Vorwerfbarkeit aufbauende Konzeption in eine soziale Institution überführt worden ist. Wenn die Annahme der Willensfreiheit ein zentraler und in der gesellschaftlichen Verständigung fest verankerter Teil „der gesellschaftlichen Rekonstruktion der Wirklichkeit“85 ist, dann wird man mit Merkel festhalten müssen: Die „Möglichkeit, sich schuldig zu machen“ gehört zu den „essentiellen Funktionsbedingungen in modernen Gesellschaften“.86 Und hieraus folgt wiederum: „[N]icht nur die Beurteilung unseres eigenen Handelns, sondern auch die des Handelns unserer Mitmenschen beruht in hohem Grade auf der fraglosen Voraussetzung eines freien Willens. Viele der reaktiven Einstellungen, die unseren persönlichen Umgang miteinander bestimmen, hängen daher ebenfalls von dieser Voraussetzung ab: Lob, Tadel, Bewunderung, Verachtung, Dankbarkeit, Sympathie, Abneigung und manche weitere.“87 Und damit geht kein Weg daran vorbei, dass der Schuldgrundsatz, auf den man „in einer außerrechtlichen Lebenswelt, die auf Zuschreibung von Lob und Tadel, Verantwortung und Verdienst nicht verzichten kann und wird, erhalten werden sollte“.88 Letztlich wird dies auch von den Vertretern der modernen Hirnforschung akzeptiert, wenn diese anerkennen, dass das Selbstbild des Menschen aus der sozialen Interaktion stammt89 und es sich deshalb „als zweckmäßig erweisen [kann], im Rechtsalltag und im Selbstverständnis der Gesellschaft an den Begriffen ,Freiheit‘, ,Schuld‘ und ,Strafe für Schuld‘ festzuhalten, weil jeder, der in unserem Kulturkreis erzogen wurde, damit zwar vage, aber zumindest konsensfähige Inhalte seiner Selbsterfah82

Vgl. hierzu grundlegend Strawson, Freiheit und Übelnehmen, in: Pothast (Hrsg.), Seminar: Freies Handeln und Determinismus, Frankfurt a.M. 1978, S. 201 ff. 83 Hallmann (Fn. 5), S. 37 f. 84 Hassemer (Fn. 37), S. 14. 85 Schünemann, GA 1986, 293, 297. 86 Roxin (Fn. 25), 501. 87 R. Merkel, in: Schünemann/Tinnefeld/Wittmann (Fn. 38), S. 411 f. 88 R. Merkel, in: Schünemann/Tinnefeld/Wittmann (Fn. 38), S. 465. 89 Singer, Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen, in: Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt a.M. 2004, S. 47 f.; vgl. auch Prinz, in: Hillenkamp (Fn. 12), S. 59 ff.

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rung benannt findet“.90 Dies gilt, „solange wir die Inkompatibilität der alltagspsychologischen Intuitionen und der wissenschaftlichen Erkenntnisse aushalten können“.91 Ob wir dies auf Dauer weiter können werden, hängt unter anderem davon ab, ob sich zukünftig Erkenntnisse durchsetzen werden, angesichts derer sich der Vorwurf eines verantwortlichen Fehlverhaltens nicht mehr aufrechterhalten lässt – z. B. weil die Hirnforschung die bisher herrschenden Vorstellungen zur Willensbildung widerlegt oder grundsätzlich erschüttert hat. Sollte dies geschehen, werden die gleichen Mechanismen greifen, wie in den Fällen, in denen die Naturwissenschaft bereits heute Erkenntnisse gewonnen hat, die den Ausschluss der Annahme von Schuldfähigkeit in den Fällen tragen, die heute in § 20 StGB kodifiziert sind.92 Normative Setzungen sind allein in den Fällen des non liquet möglich.93 Der Einwand, dass das geltende Recht davon ausgeht, dass Strafe Schuld voraussetzt und Schuld persönliche Vorwerfbarkeit ist und dass das alles sogar Verfassungsrang hat,94 ist für sich gesehen richtig, besagt aber letztlich nicht mehr, als dass das eine bestimmte Regelung derzeit (noch) geltendes Recht ist.

IV. Herausforderung des Schuldstrafrechts durch den Einbezug von nichtmenschlichen Akteuren in den Kreis tauglicher Straftäter Die durch die neuere Hirnforschung angetriebene Debatte um den Schuldbegriff bewegt sich noch in den Bahnen des tradierten Individualstrafrechts: Es geht hier um die Frage, ob bezogen auf die Strafbarkeit von menschlichen Akteuren am tradierten Schuldvorwurf festgehalten werden kann oder dieser zu modifizieren ist. Noch viel grundlegendere Fragen werden aufgeworfen, wenn es um eine Ausweitung des heute noch ganz klar anthropozentrisch ausgerichteten Strafrechts95 auf nichtmenschliche Akteure geht, seien dies nun – wie in früheren Zeiten – Tiere,96 seien es juristische Personen oder seien es gar mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Roboter bzw. Intelligente Agenten. 90

Singer (Fn. 12), S. 23. Prinz, Der Mensch ist nicht frei. Ein Gespräch, in: Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt a.M. 2004, S. 26. 92 Vgl. Hassemer (Fn. 37), S. 16 f. 93 Frisch, FS Kühl (Fn. 1), S. 204 ff.; Frister, FS Frisch (Fn. 6), S. 533. 94 Hillenkamp, ZStW (Fn. 12), 46 f. 95 Vgl. Gless, GA 2017, 324; Seher, Intelligente Agenten als „Personen“ im Strafrecht?, in: Gless/Seelmann (Hrsg.), Intelligente Agenten und das Recht, Baden-Baden 2016, S. 45; Ziemann, Wesen, Wesen, seid‘s gewesen? Zur Diskussion über ein Strafrecht für Maschinen, in: Hilgendorf/Günther (Hrsg.), Robotik und Gesetzgebung, Baden-Baden 2013, S. 185. 96 Zur Bestrafung von Tieren vgl. Dinzelbauer, Das fremde Mittelalter: Gottesurteil und Tierprozess, Essen 2006; Gless/Weigend (Fn. 63), 561, 566 f.; unklar ist, ob es sich bei den Tierprozessen tatsächlich um Strafrecht im heutigen Verständnis gehandelt hat, vgl. Seher (Fn. 95), S. 45; Ziemann (Fn. 95), S. 186 f., jeweils m.w.N. 91

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1. Unternehmen und Intelligente Agenten als potentielle Adressaten strafrechtlicher Normen Aktuell stellt die weltweit im kriminalpolitischen Trend liegende Einführung der Strafbarkeit von Unternehmen und anderen Verbänden97 die anthropozentrische Ausrichtung des Strafrechts grundlegend in Frage.98 Bemerkenswerterweise ist aber zu konstatieren, dass zwar die Kritiker des Unternehmensstrafrechts auf dessen Inkompatibilität mit dem tradierten Schuldgrundsatz verweisen,99 dass aber die Befürworter des Unternehmensstrafrechts sich im Wesentlichen darauf beschränken, die kriminalpolitische Notwendigkeit der Einbeziehung von Unternehmen in den Anwendungsbereich des Strafrechts zu betonen und die Vereinbarkeit mit dem Schuldgrundsatz entweder gänzlich unerörtert lassen oder aber auf ein als „funktionsanaloges“ Pendant zur Schuld des Individualstrafrechts verstandene Betriebs-, Verbandsoder Organisationsschuld verweisen,100 deren Inhalte durchaus unklar bleiben, deren gemeinsamer Nenner aber darin zu bestehen scheint, dass das Unternehmen dafür in die Verantwortung genommen werden soll, dass es sich unzureichend organisiert hat.101 Der Versuch, die Auseinandersetzung mit Grundlagenproblemen durch ein gesetzgeberisches Machtwort zu ersetzen, wie dies in der Schweiz vom Gesetzgeber selbst ausdrücklich postuliert102 und in der Diskussion in Deutschland auch schon propagiert wurde,103 hat nun aber nicht zur Folge, dass diese Grundlagenprobleme schlicht und einfach verschwinden, sondern diese vielmehr unvermittelt dann wieder

97 Während von den deutschsprachigen Rechtsordnungen die Schweiz (2003), Österreich (2006) und das Fürstentum Liechtenstein (2011) die kriminalstrafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen bereits eingeführt haben, beschränkt sich Deutschland de lege lata auf eine ordnungswidrigkeitenrechtliche Lösung (vgl. den Überblick bei Wohlers, Unternehmensstrafrecht und Compliance: Landesbericht Deutschland – unter Berücksichtigung der Rechtslage in Österreich, im Fürstentum Liechtenstein und in der Schweiz, in: Hess et al. [Hrsg.], Unternehmen im globalen Umfeld, Köln 2017, S. 269 ff.; ders., ZGR 2016, 364, 365 f.). 98 So auch bereits Gless (Fn. 95), 324; Markwalder/Simmler, AJP 2017, 171, 180. 99 Vgl. nur Neumann, Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Verbänden – rechtstheoretische Prolegomena, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Unternehmensstrafrecht, Berlin 2012, S. 17 ff.; Seelmann, in: Ackermann et al (Hrsg.), Festschrift für Niklaus Schmid, Zürich 2001, S. 176 ff.; Wohlers SJZ 2000, 381, 385. 100 Vgl. Heine, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, Baden-Baden 1995, S. 261 ff.; Hilf, NZWiSt 2016, 189, 190 ff.; Hilf/Urtz/Handstanger, Verbandsverantwortlichkeit aus strafrechtlicher, abgabenrechtlicher und verwaltungsstrafrechtlicher Sicht, Gutachten zum 20. ÖJT, Band III.1, Wien 2018, S. 33 und 38; Heine/Weißer, in: Schönke/ Schröder (Fn. 4), Vor §§ 25 ff. Rn. 131; Hirsch, ZStW 107 (1995), 285, 290; Tiedemann, NJW 1988, 1169, 1172. 101 Heine, ZStrR 2001, 22, 38; Pieth, ZStrR 2003, 353, 357 f. 102 Vgl. Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches vom 21. September 1998, BBl. 1998, 2142 (Ziff. 217.3). 103 Vgl. Vogel, Unrecht und Schuld in einem Unternehmensstrafrecht, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Unternehmensstrafrecht, Berlin 2012, S. 205 ff. = StV 2012, 427 ff.

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auftauchen, wenn es um die Auslegung und Anwendung konkreter Normen geht.104 Die Frage, um deren Beantwortung wir uns nicht mehr weiter drücken dürfen, ist nicht nur die, ob man Unternehmen unter bestimmten – und, wenn ja, welchen – Voraussetzungen als verantwortlich für bestimmte Ereignisse einstufen kann. Zu klären bleibt, ob man Unternehmen gegenüber berechtigterweise den Vorwurf erheben kann, sie hätten sich vorwerfbar falsch verhalten und müssten aus diesem Grunde einen Tadel akzeptieren. Angesichts dessen, dass die eigentlich notwendige Grundlagendiskussion im Zusammenhang mit der Einführung der Strafbarkeit von Unternehmen nicht stattgefunden hat (und wohl auch nicht mehr stattfinden wird), ist sehr zu hoffen, dass dies wenigstens im Zusammenhang mit der Frage nach der Strafbarkeit von mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten Robotern und Programmen (Intelligente Agenten) geschehen wird. Zwar besteht soweit ersichtlich allgemeine Übereinstimmung dahingehend, dass die heute vorhandenen Roboter und Softwareprogramme die Anforderungen, die man an einen tauglichen Adressaten strafrechtlicher Normen stellen muss, nicht erfüllen.105 Da wir aber nicht ausschließen können, dass dies zukünftig einmal der Fall sein könnte,106 sollten wir uns bereits jetzt Gedanken dazu machen, wann bzw. unter welchen Voraussetzungen „Intelligente Agenten“ gegenüber ein Schuldvorwurf erhoben werden kann. 2. Die Berechtigung eines Schuldvorwurfs gegenüber nichtmenschlichen Akteuren Der zentrale Einwand gegen die Einbeziehung nichtmenschlicher Akteure in den Kreis tauglicher (Straf-)Täter geht dahin, dass ein Schuldvorwurf sinnvollerweise nur gegenüber menschlichen Akteuren erhoben werden kann. An dieser Stelle ist aber wieder in Erinnerung zu rufen, dass es bei der Zuschreibung von Verantwortlichkeit (und Vorwerfbarkeit), wie oben gesehen, nicht um den Nachweis bestimmter Fähigkeiten geht, sondern eben darum, ob man Verantwortlichkeit und Vorwerfbarkeit überzeugend zuschreiben kann. Anders ausgedrückt: Unternehmen und Intelligente Agenten können zu Verantwortlichkeitssubjekten werden, wenn ein gesellschaftlicher Konsens hierfür vorhanden ist.107 Die Frage ist, wann bzw. unter welchen Voraussetzungen sich ein solcher Konsens einstellen könnte. 104 Vgl. hierzu Wohlers, NZWiSt 2018, 412, 413 f. (in Auseinandersetzung mit dem Kölner Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes). 105 Gless/Weigend (Fn. 63), 574; Gless/Silvermann/Weigend, 19 New Criminal Law Review (2016), 412, 416 ff.; Gless (Fn. 95), 327; Wohlers, BJM 2016, 113, 123. 106 So auch Markwalder/Simmler (Fn. 98), 181; vgl. auch Simmler/Markwalder (Fn. 63), 42 f.; a.A. Joerden (Fn. 13), S. 204 f. 107 Beck, Über Sinn und Unsinn von Statusfragen – zu Vor- und Nachteilen der Einführung einer elektronischen Person, in: Hilgendorf/Günther (Hrsg.), Robotik und Gesetzgebung, Baden-Baden 2013, S. 255; Gless/Weigend (Fn. 63), 574 f.; Hilgendorf, Können Roboter schuldhaft handeln?, in: Beck (Hrsg.), Jenseits von Mensch und Maschine, Baden-Baden

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Unstreitig ist, dass es bei der Strafbarkeit von Unternehmen und/oder Intelligenter Agenten nicht darum gehen kann, die für Menschen entwickelte Kategorie der Schuld auf diese zu übertragen.108 Da Unternehmen und Intelligente Agenten eben keine Menschen sind, würde der Versuch, die für menschliche Akteure geltenden Maßstäbe auf sie zu übertragen, von vornherein darauf hinauslaufen, den Akt der Zuschreibung auf etwas zu stützen, was erkennbar nichts anderes wäre als eine den realen Gegebenheiten evident zuwiderlaufende Fiktion, die sich dann aus eben diesem Grund als nicht tragfähig erweisen würde.109 Eine andere, theoretisch denkbare Möglichkeit bestände darin, auf das Erfordernis der als Vorwerfbarkeit verstandenen Schuld zu verzichten. Dies hätte allerdings wohl – jedenfalls auf längere Sicht gesehen – Rückwirkungen auf das tradierte Individualstrafrecht; es ist höchst zweifelhaft, ob das Nebeneinander eines Schuldstrafrechts für menschliche Individuen und eines schuldgelösten (Präventiv-)Strafrechts für Unternehmen und/oder Intelligente Agenten auf Dauer durchzuhalten wäre.110 Entscheidend ist aber, dass das so entstandene schuldgelöste Unternehmensstrafrecht der Sache nach ein auf Präventionswirkungen ausgerichtetes Sanktionenrecht wäre, das dann zwar rein formal gesehen Teil eines erweiterten Strafrechtssystem ist, das aber in der Sache selbst nicht mehr viel mit dem zu tun hat, was wir gemeinhin unter Strafrecht verstehen.111 Wenn es darum geht, Unternehmen durch Sanktionsandrohungen zu Complianceanstrengungen zu motivieren,112 dann hat dies ersichtlich nichts mehr damit zu tun, auf ein Fehlverhalten mit Tadel zu reagieren. Die entsprechenden Sanktionen sollten dann aber auch nicht durch die Inanspruchnahme des Nimbus legitimiert werden, der dem Strafrecht in seiner tradierten Form offenbar immer noch zukommt.113

2012, S. 121 f.; Mansdörfer, in: Barton et al. (Hrsg.), Festschrift für Thomas Fischer, München 2018, S. 159; Simmler/Markwalder (Fn. 63), 30 und 37 ff., vgl. auch Teubner, KritV 1987, 61 ff. (bezüglich Unternehmen) sowie ders. (Fn. 76), 8 ff. sowie ders., AcP 218 (2018), 155,164 ff. (bezüglich Intelligenter Agenten). 108 Vgl. auch – bezogen auf Unternehmen/Verbände – Kohlhof (Fn. 4), S. 93 f.; Lampe, ZStW 106 (1994), 683, 722 ff.; Schirmer, JZ 2016, 660, 662; vgl. auch Teubner (Fn. 76), 22; ders., AcP (Fn. 107), 171 ff. sowie – bezogen auf Roboter – Beck, AJP 2017, 183, 186; dies. (Fn. 107), S. 253; Hilgendorf (Fn. 107), S. 119 f. 109 Vgl. Hilgendorf (Fn. 107), S. 130; Müller, AJP 2014, 595, 605: Man kann die Willensfreiheit fingieren, wenn hierfür ein praktisches Bedürfnis bestehe, was derzeit aber nicht der Fall sei. 110 Vgl. hierzu – bezogen auf das Unternehmensstrafrecht – Wohlers (Fn. 99), 386 f.; ders. (Fn. 104), 416. 111 Wohlers, Strafzwecke und Sanktionsarten in einem Unternehmensstrafrecht, in: Kempf/ Lüderssen/Volk (Hrsg.), Unternehmensstrafrecht, Berlin 2012, S. 246 f.; ders. (Fn. 104), 416 f.; ders., GA 2019, 425, 438 f. 112 Wohlers, ZGR 2016 (Fn. 97), 366 ff. und 382 f.; ders., Unternehmensstrafrecht und Compliance (Fn. 97), S. 297 ff.; ders. (Fn. 104), 418. 113 Wohlers (Fn. 104), 417.

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Der dritte und wohl allein gangbare Weg, wenn man an einer strafrechtlichen Lösung festhalten will, besteht darin, funktionsanaloge Pendants zu dem zu finden, was bei Menschen die als Schuld etikettierte und für die Legitimität eines Tadels unverzichtbare Vorwerfbarkeit ausmacht. In Bezug auf die Strafbarkeit von Unternehmen wird insoweit die sog. Betriebs- bzw. Organisationsschuld propagiert, bei der allerdings, wie bereits erwähnt, noch unklar ist, was man sich hierunter konkret vorzustellen hat. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Schuld des Unternehmens darin bestehen soll, für einen straftatrelevanten Grad an Desorganisation im Unternehmen verantwortlich zu sein. Dass und warum diese zurechenbare Desorganisation dann nicht nur Verantwortlichkeit, sondern darüber hinaus auch Vorwerfbarkeit begründen kann, bedürfte allerdings der näheren Begründung. Die Lösung über eine Betriebs- bzw. Organisationsschuld kann von vornherein allein bei Unternehmen in Betracht kommen, nicht aber bei mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten Robotern und anderen Intelligenten Agenten. Dass ein Roboter einen Turing-Test zu bestehen vermag,114 wird man ebenso wenig als ausreichende Basis für die Annahme seiner Schuldfähigkeit ansehen können, wie den Umstand, dass ein Roboter menschenähnlich aussieht.115 Was aber stattdessen zu verlangen ist, ist derzeit noch unklar: Teilweise wird es als ausreichend angesehen, dass der Intelligente Agent in der Lage ist zu erkennen, was das Gebotene ist und er die Fähigkeit hat, das Gebotene zu tun.116 Andere wollen darüber hinaus verlangen, dass der Intelligente Agent sein Verhalten „in der Auseinandersetzung mit sich selbst wertend überprüfen können“ muss.117 Wenn man das Erfordernis eines „funktionsanalogen“ Pendants zur menschlichen Schuld ernst nimmt, wird man tatsächlich wohl verlangen müssen, dass Intelligente Agenten das Ansinnen, das in der Strafe liegt, nachvollziehen können, da anderenfalls der mit der Institution der Strafe118 verbundene Tadel ins Leere geht.119 Der Gegeneinwand, dass man derartiges bei Intelligenten Agenten nicht verlangen könne, weil auch Unternehmen eine Sanktion nicht als verdientes Übel empfinden können,120 überzeugt nicht, sondern schlägt auf das Unternehmensstrafrecht zurück, bei dem sich die Organisations- bzw. Betriebsschuld dann als Deckmantel erweist, unter dem die Etablierung eines schuldgelösten Präventionsstrafrechts mehr schlecht als recht versteckt werden soll. Wenn wir Unternehmen 114

Vgl. Joerden (Fn. 13), S. 203 f.; kritisch zur Relevanz des Turing-Tests: Matthias (Fn. 42), S. 119, 209 ff. 115 So auch Matthias (Fn. 42), S. 117 f.; aus psychologischer Sicht betrachtet scheint dies allerdings ein relevanter Umstand zu sein, vgl. Gless (Fn. 95), 325. 116 So Erhardt/Mona, in: Gless/Seelmann (Hrsg.), Intelligente Agenten und das Recht, Baden-Baden 2016, S. 89 f. 117 So Gless (Fn. 95), 326. 118 Zur Frage, mit welchen Sanktionen man Intelligente Agenten eigentlich „strafen“ kann, vgl. Gless/Weigend (Fn. 63), 577 f.; Seher (Fn. 95), S. 58 ff.; Ziemann (Fn. 95), S. 188 ff. 119 Gaede (Fn. 14), S. 64; Gless (Fn. 95), 326; Gless/Weigend (Fn. 63), 575 ff.; Gless/ Silvermann/Weigend (Fn. 105), 424; Wohlers (Fn. 105), 123. 120 Vgl. Simmler/Markwalder (Fn. 63), 44.

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und/oder Intelligente Agenten nicht nur instrumentell sanktionieren, sondern wenn wir sie im Sinne der von Strawson beschriebenen reaktiven Praktiken „bestrafen“ wollen, dann müssen wir in der Lage sein darzulegen, dass und warum es sachlich angemessen ist, Unternehmen und/oder Intelligente Agenten für ein Fehlverhalten zu tadeln. Wenn uns das nicht gelingt, dann ist ein Unternehmens- und/oder ein Roboterstrafrecht tatsächlich nichts anderes als ein Etikettenschwindel.

Identität, Authentizität und Schuld – Reflexionen anlässlich der jüngsten Prozesse gegen „alte Nazis“ Von Luís Greco

I. Einleitung Reinhard Merkel habe ich zu meiner Assistentenzeit in München, an dem von meinem Lehrer Bernd Schünemann veranstalteten „Rechtsphilosophischen Donnerstag-Seminar“ kennengelernt. Merkel referierte über die Schuld – ich vermute, es ging um eine Frühfassung eines später erschienenen großen Büchleins1 – und hinterließ bei mir einen gewaltigen Eindruck, der mich zum Weiterlesen seiner Publikationen anspornte. Ein Festschriftbeitrag ist keine laudatio, weshalb ich den gerade eingeleiteten Lobgesang im übernächsten Satz abrupt beende. Es sei aber noch gesagt, dass mich Merkel seitdem nicht nur als profunder, belesener, aber zugleich scharfsinniger und klarer Denker, sondern vor allem als mutiger, sich dem Zeitgeist nicht selten widersetzender Intellektueller beeindruckt und irgendwie inspiriert hat.2 Dass dies keine leeren Worte sind, möge der nicht nur ihm gewidmete, sondern für ihn geschriebene Beitrag hoffentlich belegen. Das Problem, dem ich mich zuwenden möchte, ist ein Merkel’sches, damit ein zugleich strafrechtliches und philosophisches: die Frage der personalen Identität, die er zu Recht als „unentdecktes Grundlagenproblem der Strafrechtsdogmatik“ bezeichnet.3 Konkret: vorausgesetzt, es dürfen keine Strafen für fremde Schuld verhängt werden; 1

Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2. Aufl. 2014. In willkürlicher Auswahl eigener Favoriten: ich denke insb. an seine Überlegungen zu den Rechtfertigungsgründen (zu den Notständen insb.: „Zaungäste“, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a.M. [Hrsg.], Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 171 ff.; „§ 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten?“, JZ 2007, 373; sowie Merkel, Früheuthanasie, 2001, insb. S. 528 ff.; und zur Notwehr: „Folter und Notwehr“, FS Jakobs, 2007, S. 375 ff.); an seine Kritik der völkerrechtlichen Figur der Kollateraltötung („Die ,kollaterale‘ Tötung von Zivilisten im Krieg“, JZ 2012, 1137); an seine Stellungnahme zur Rettungsfolter (FS Jakobs, aaO.), bei der ich ihm nicht folgen würde (s. Greco, GA 2007, 628); und an seine Überlegungen zur Beschneidung („Die Haut eines Anderen“, Süddeutsche Zeitung v. 30. 08. 2012), denen ich weitgehend gefolgt bin (Roxin/Greco, AT I, 5. Aufl. 2020, § 13 Rn. 96k). 3 Merkel, JZ 1999, 502, mit dem Titel: „Personale Identität und die Grenzen strafrechtlicher Zurechnung. Annäherung an ein unentdecktes Grundlagenproblem der Strafrechtsdogmatik.“ 2

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wie können wir uns sicher sein, dass derjenige, den wir bestrafen, auch (genauer: noch) derjenige ist, der Schuld auf sich geladen hat? Der Anlass, mich diesen Fragen zuzuwenden, sind die jüngsten und (vielleicht aller-)letzten gegen NS-Straftäter durchgeführten Strafverfahren. Man nehme das Beispiel von Oskar Gröning:4 als 93-jähriger wurde er 2014 für Taten, die er als 21-jähriger 1942 begangen hat, angeklagt. Die Schuldigsprechung durch das LG Lüneburg im Jahre 2015 traf einen bereits 94-jährigen, bezog sich also auf Taten, die über 70 Jahre zurücklagen. Er verstarb 2018 im Alter von 96 Jahren vor Antritt seiner Strafe.5 Ähnlich erging es Demjanjuk: nach über Jahrzehnten wiederholt „halb erfolgreichen“ Versuchen, ihn zur Verantwortung zu ziehen, verurteile das LG München II 2011 einen 91-jährigen für Taten, die er 1943 begangen hat;6 er verstarb kurz nach Einlegung seiner Revision.7 Dem Zeitgeist entspricht es, diese Verurteilungen als verspätete, aber überfällige Siege der Rechtsstaats- und Menschenrechtsidee zu feiern.8 Das darf unsere Behandlung der Frage allerdings in keinster Weise präjudizieren. An vorliegender Stelle sollen die durchaus vorhandenen, vor allem beteiligungsdogmatischen Schwierigkeiten der Strafbarkeitsbegründung9 bei Seite gelassen werden zugunsten der fundamentaleren, wenn auch selten gestellten Frage danach, ob bei derart weit zurückliegenden Taten immer noch die Identität zwischen dem, der sie begangen hat und dem, der später zur Verantwortung gezogen wird, gewahrt wird; ob es um dieselbe Person geht.10 Die Relevanz dieses Gesichtspunkts wird immer wieder angedeutet, vor 4

Hierzu nur BVerfG NJW 2018, 289; BGHSt 61, 252. Vgl. Spiegel-Online v. 12. 03. 2018, „Früherer SS-Mann Oskar Gröning ist tot“, https:// www.spiegel.de/panorama/justiz/ehemaliger-ss-mann-groening-der-buchhalter-von-auschwitzist-tot-a-1197736.html. Zuletzt sei noch auf den Fall Boere hingewiesen, der für Taten, die er 1944 begangen haben soll, dessen gegen den Eröffnungsbeschluss vom 2009 eingelegte, eine Verletzung von Art. 2 II 1 GG rügende Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wurde, BVerfG 2 BvR 1724/09, BeckRS 2009, 39528; hierzu Beck, HRRS 2010, 156 (164 f.). Ganz aktuell auch das Verfahren gegen den 93-jährigen, damals 19-jährigen Bruno D. vor dem Hamburger Landgericht. 6 LG München II, Urt. v. 12. 5. 2011 – 1 Ks 115 Js 12496/08, BeckRS 2011, 139286. Zum Ganzen informativ Benz, Der Henkersknecht. Der Prozess gegen John (Iwan) Demjanjuk in München, 2011; Wefing, Der Fall Demjanjuk. Der letzte große NS-Prozess, 2011. S.a. BVerfG NVwZ 2009, 1156; BVerfG, 2 BvR 2331/09, BeckRS 2009, 42026; 2 BvR 2332/09, BeckRS 2009, 39843. 7 S. nur Spiegel-Online v. 17. 03. 2012, „John Demjanjuk ist tot“, https://www.spiegel.de/ panorama/justiz/ns-kriegsverbrecher-john-demjanjuk-ist-tot-a-821950.html . 8 Beispielsweise Safferling, JZ 2017, 258: „Meilensteinverfahren … jede andere Entscheidung wäre politisch einem Skandal gleichgekommen …“. 9 S. nur Leite, in: Stam/Werkmeister (Hrsg.), Der allgemeine Teil des Strafrechts in der aktuellen Rechtsprechung, 2019, S. 53 ff. 10 Dieser Frage kommt Beck, HRRS 2010, 160 immerhin nahe, ohne sie freilich zu stellen: „Zum anderen ist es nicht unberechtigt, zu diskutieren, inwieweit die Gerechtigkeit es erfordert, einen Mann, der inzwischen ein sehr hohes Lebensalter erreicht hat, aufgrund der bestehenden Beweislage vor ein Strafgericht zu führen“. Im Fall Boere (o. Fn. 5) sah das BVerfG keinen Anlass, sie aufzuwerfen. 5

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allem in anderen Zusammenhängen,11 ohne aber – mit Ausnahme von Silva Sánchez, Kawaguchi und einer ersten Monografie von Erhardt12 – ihn zum Gegenstand einer eigenen Untersuchung zu erheben. Der Beitrag wird einen untypischen, undogmatischen Charakter aufweisen. Sein Weg ist der einer Kadenz: er arbeitet sich zuerst hoch, von positivrechtlichen Überlegungen (Verjährung, Strafzumessung, u. III.) zu vorpositiven strafrechtlichen Argumenten (insb. Straftheorie, u. IV.), sodann zu Ontologie und Metaphysik (wo die Frage der personalen Identität aufgeworfen wird, u. V.), um sodann den Abstieg ins Rechtliche zurückzufinden (u. VI.). Es folgt ein Exkurs über das nahestehende Problem der Unverjährbarkeit (VI.). Das Ergebnis, das erst auf dieser letzten, rechtlichen Ebene gefunden werden soll, nehme ich vorweg. Die Verurteilung für derart lang in der Vergangenheit liegende Taten trifft nicht notwendigerweise eine andere Person als die, die die Taten begangen hat. Sie ist in aller Regel trotzdem illegitim, weil sie durch die in ihr implizite Aussage, die Identität sei gewahrt, es gehe um denselben Menschen, diesen an seine entfernteste Vergangenheit festnagelt und damit nicht nur die Möglichkeit, dass er sich hiervon distanziert, sich neu erfindet, sich bekehrt, ex post im Schuldspruch bestreitet, sondern – durch die gesetzliche Ankündigung der Unverjährbarkeit dieser Taten – bereits ex ante jegliche Hoffnung hierauf versagt. Damit maßt sich der Staat ein ihm schwerlich zustehendes Recht an, die Biographie eines Bürgers selbst zu schreiben, und missachtet dasjenige, was man als dessen Selbsturheberschaft oder als Authentizität bezeichnen könnte.13 11 Für die Verjährung: Vormbaum, FS Bemmann, 1997, S. 481 ff. (498 f.); Jakobs, AT, 2. Aufl. 1991, § 10 Rn. 22; Hörnle, FS Beulke, 2015, S. 115 ff. (122); und vor ihnen bereits Lourié, in einer 1914 veröffentlichten Arbeit, an die Asholt, Verjährung im Strafrecht, 2016, S. 127 erinnert, der weitere ähnliche Stellungnahmen auflistet (S. 127 ff.); Nachw. zum ausländischen Schrifttum bei Ragués i Valles, in: García Cavero/Chinguel Rivera (Hrsg.), Derecho Penal y Persona. Libro Homenaje a Silva Sánchez (= FS Silva Sánchez), Lima, 2019, S. 61 ff. (69 Fn. 15); für den Zeitablauf im Allgemeinen Tomiak, HRRS 2018, 18 (23); als Begründung einer Gefährdungshaftung Honoré, in: Responsibility and Fault, Oxford/Portland, 1999, S. 14 ff. (29); als Schranke von Strafrecht Werkmeister, Straftheorien im Völkerstrafrecht, 2015, S. 95 ff. Womöglich weist die Diskussion über eine Charakterschuld eine Nähe zum Identitätsproblem auf (gut ersichtlich am Beitrag von Androulakis über „,Zurechnung‘, Schuldbemessung und personale Identität“, ZStW 82 [1970], 492 [515 ff.], und DanCohen über „Responsibility and the Boundaries of the Self“, Harvard Law Review 105 [1992], 959). 12 Kawaguchi, FS Eser, 2005, S. 139 ff.; Silva Sánchez, FS Puppe, 2011, S. 989 ff.; Erhardt, Strafrechtliche Verantwortung und personale Identität, 2014. 13 Das konnotationsreiche Wort wird hoffentlich keine Missverständnisse veranlassen. Authentizität heißt hier also nur die Eigenschaft, Autor seines Lebens zu sein, was immer diese Worte auch bedeuten. Wäre das Leben eine Tatbestandsverwirklichung, würde Authentizität dasselbe wie Täterschaft i.S.v. § 25 StGB heißen. Mit diesem Sprachgebrauch ist insbesondere nicht impliziert, dass irgendeine Entsprechung zum Wertsystem eines Subjekts vorliegen muss (so der Sprachgebrauch von Schroth, MedR 2012, 571 ff., im Zusammenhang von § 228 StGB).

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II. Die positivrechtliche Ebene Womöglich enthält bereits die lex lata die Mittel, dem gerade beschriebenen Problem gerecht zu werden. 1. Verjährung? Das Rechtsinstitut, dessen vorrangiger Sinn es ist, zeitlichen Abständen zwischen Vervollkommnung des Tatbestands und Verhängung der Rechtsfolge Rechnung zu tragen, ist die Verjährung.14 Gegenüber dem hiesigen Problem ist sie aber so gut wie durchgehend unempfindlich. Mord verjährt nicht (§ 78 II StGB). Zudem ist der Mord trotz der erklärten Bereitschaft zur restriktiven Handhabung15 keine Ausnahmeerscheinung.16 Bei einer von einem NS-Täter begangenen Tötung ist Mord die Regel: wegen des für diese Taten prägenden Rassismus wird die Tötung grundsätzlich von Gründen getragen, die sozialethisch auf tiefster Stufe liegen, besonders verwerflich, geradezu verächtlich sind,17 also i.S.v. § 211 II StGB niedrig sind. Man denke auch an die Zerstörungsabsicht i.S.d. Völkermords (§ 6 VStGB), der ebenfalls unverjährbar ist (§ 5 VStGB). Zudem scheint die Verjährung den Kern der Sache – den wir als das Problem beschrieben haben, ob der zu Bestrafende als Individuum nicht ungerecht behandelt wird – noch nicht zu treffen. Denn Verjährung verobjektiviert; sie behandelt die Frage, ob die Rechtsfolge noch zu verhängen ist, vornehmlich unter der Lupe des Rechtsfriedens,18 der Rechtssicherheit19 oder der Disziplinierung von Verfolgungsbehörden.20 Die drei Gesichtspunkte nennt BGHSt 51, 72 (78 Rn. 22): „Die Rechtseinrichtung der Verjährung soll dem Rechtsfrieden und damit der Rechtssicherheit dienen und einer etwaigen Untätigkeit der Behörden in jedem Abschnitt des Verfahrens entgegentreten“. Nicht selten steht sogar der kriminalistische Gesichtspunkt des Beweisverlusts im Vordergrund.21 Verjährung bedeutet, mit anderen Worten, wir haben Wichtigeres zu tun als zu bestrafen (Rechtsfrieden), Strafe solle dem Strafen14

Hierzu umf. Asholt (Fn. 11). BVerfGE 45, 187 (221 ff.). 16 Nicht nur deshalb mehren sich Stimmen in dem Sinne, den Mord als Grundtatbestand anzusehen, so Müssig, Mord und Totschlag, 2005, S. 4, 251; Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt, 2010, S. 368 ff., 378 ff.; Peralta, FS Roxin II, 2011, S. 257 ff. (263). 17 Zu dieser Definition BGHSt 3, 133; 3, 180 (182); zum Rassismus als niedrigem Beweggrund BGHSt 18, 37 (39); zur Fremdenfeindlichkeit als niedrigem Beweggrund BGHSt 47, 128 (130). 18 BGHSt 11, 393 (396); BGHSt 12, 335 (337 f.). Zu Rechtssicherheit als Grundlage der Verjährung Asholt (Fn. 11), S. 105 f. 19 BGHSt (GrS) 62, 184 (195 Rn. 34). 20 BGHSt 11, 393 (396); BGHSt 12, 335 (337 f.); BGHSt (GrS) 62, 184 (195 Rn. 34). 21 Vgl. die Nachw. zu den Motiven zu den preußischen Strafgesetzbüchern aus dem 19. Jahrhundert bei Vormbaum, FS Bemmann, S. 482 f.; s.a. Asholt (Fn. 11), S. 92 ff. 15

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den, also uns, keinen Schaden zufügen (Rechtssicherheit), wir müssten Anreize setzen, damit unsere Verfolgungsorgane nicht nachlässig werden (Disziplinierung), Bestrafen sei unverhältnismäßig schwer (Beweisverlust). Auf den Punkt gebracht: die späte Strafe bringt uns nichts, sie ist konsequentialistisch sinnlos. Die Ausgangsfrage ist aber eine andere, nämlich ob der Betroffene nicht ungerecht behandelt wird, weil er eventuell nicht mehr für eigene, sondern für fremde Taten zur Verantwortung gezogen wird. 2. Strafzumessung? Den zeitlichen Abstand zwischen dem Tatbestand und der Rechtsfolge kann auch das Strafzumessungsrecht berücksichtigen. Denkbar wäre nämlich, für Taten, die lange in der Vergangenheit zurückliegen, mildere Strafen zu verhängen.22 Eine Begründung könnte verjährungsnah, also konsequentialistisch sein: zunehmende Bedürfnisse an Rechtssicherheit und Rechtsfrieden, die nicht durch eine späte Bestrafung erschüttert werden sollten. Man könnte straf(zweck)theoretische Argumente anführen, etwa ein „abnehmendes Sühnebedürfnis“,23 was wohl eher ein Hinweis auf geminderte generalpräventive Erfordernisse sein dürfte. Eine weitere Alternative läge darin, den zeitlichen Abstand als Grund anzusehen, in eine gesteigerte Prüfung der „Wirkungen der Strafe für den Täter“ einzusteigen.24 Dies wird spezialpräventivkonsequentialistisch und zugleich vergeltungstheoretisch-deontologisch begründet, wenn es in der Rspr. heißt, dass die Strafe dann zu mildern ist, „wenn sich die Tat durch den Zeitablauf als einmalige Verfehlung des Täters erwiesen, er sich inzwischen jahrelang einwandfrei geführt und der Verletzte die Folgen der Tat überwunden hat“.25 Denkbar wäre noch, hohes Alter26 oder eine geringe Lebenserwartung27 als Strafzumessungsgrund zu akzeptieren. Die Begründetheit dieser Thesen kann ich nicht im Einzelnen untersuchen. Ich merke nur an, dass sie alle eine bejahende Antwort auf die Frage voraussetzen, ob der zu Bestrafende noch legitim behandelt wird. Denn ohne diese Bejahung wäre ein Schuldspruch gar nicht möglich. Genau dies stellen die dargestellten Thesen nicht in Frage, wenn sie sich erst für die Höhe des Strafausspruchs interessieren.

22

So BGHSt (GrS) 62, 184 (193 f. Rn. 30); BGH NStZ 2010, 445 (448 Rn. 20). BGHSt (GrS) 62, 184 (194 Rn. 30). 24 BGHSt (GrS) 62, 184 (194 Rn. 30). 25 BGHSt (GrS) 62, 184 (194 Rn. 30). 26 Hierzu etwa BGH NJW 2006, 2129 m. Bspr. Streng, JR 2007, 271. 27 S. etwa BGH NStZ 1991, 527; NStZ 2018, 331; s.a. Streng, JR 2007, 271 (273 f.) im Sinne einer Vollstreckungslösung. 23

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3. Opportunität? Das materielle Recht dürfte kaum mehr als die beiden dargestellten Rechtsinstitute bieten. Man könnte sich deshalb dem Prozessrecht zuwenden. Hier stößt man auf die §§ 153 ff. StPO. Aus mehreren Gründe bleibt man enttäuscht. Zunächst werden sie bei Taten, die so schwer sind, dass ihre Bestrafung nicht durch Verjährung ausgeschlossen wird (u. a.: Verbrechen; öffentliches Interesse an Strafverfolgung), selten zum Tragen kommen. Das ist insbesondere bei §§ 153c, 153f StPO, die Auslandstaten betreffen, anders. Diese Vorschriften behandeln aber ein anderes, räumlich begründetes Problem und interessieren sich für Zeitliches nur sekundär. Zudem zeigt der Ermessenscharakter der Vorschriften, dass sie das Problem nicht ernst nehmen; die Verfolgungsorgane dürfen weitgehend frei entscheiden, ob sie verfolgen oder nicht, womit eine Bejahung der Ausgangsfrage, ob das zu bestrafende Individuum nicht ungerecht behandelt wird, ebenfalls vorausgesetzt wird.

III. Die straftheoretische Ebene 1. Das Problem weist also über das positive Recht hinaus. Womöglich lässt es sich auf einer strafrechtsphilosophischen Ebene bewältigen, nämlich durch Überlegungen zum Sinn der Strafe in den genannten Konstellationen. Der Gedanke kommt bereits in einigen der o. III. 2. zitierten BGH-Entscheidungen zur Strafzumessung zum Vorschein: die Strafe könnte in der vorliegenden Situation ihren Sinn verlieren. 2. Betrachten wir die Sache zuerst aus der Perspektive präventiver Straftheorien. a) Eine Reihe von kritischen Fragen bieten sich an. Welche Abschreckungswirkung weist die Androhung einer Strafe auf, von der der zur Tatbegehung Geneigte weiß, dass sie erst in 70 Jahren verhängt werden soll? Wirkt eine Bestrafung integrativ-normbestätigend, wenn die zeitgenössischen Zeugen des Normbruchs, deren normative Erwartungen enttäuscht worden waren, inzwischen so gut wie alle verstorben sind? Muss ein Täter, der über 50 Jahre gelebt hat, ohne Straftaten zu begehen, irgendwie resozialisiert werden, müssen wir uns vor ihm schützen? Die präventiven Straftheorien, die die Strafe mit der Anführung eines durch sie zu fördernden Zwecks rechtfertigen, scheinen den Sinn bzw. die Zweckmäßigkeit einer Bestrafung lang vergangener Taten in Frage zu stellen. b) Diesen Schein zum Sein zu erheben, wäre aber aus zwei Gründen voreilig. Zum einen sind die oben formulierten Fragen eben nur Fragen und keine Antworten. Die Antworten sind zumindest teilweise empirischer Natur und nicht vom Schreibtisch aus gewinnbar. Vom Schreibtisch aus lassen sich ähnlich plausible Hypothesen aufstellen, die aber darauf gerichtet sind, die Bestrafung sinnvoll bzw. zweckmäßig erscheinen zu lassen.28 So könnte man aus abschreckungstheoretischer Sicht die Vorzüge betonen, die sich daraus ergeben sollen, dass derjenige, der die Tat in Erwägung 28

S.a. Hörnle, FS Beulke, S. 119 f.

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zieht, weiß, niemals entkommen zu können29 – eine zeitliche Variante der eher räumlich gedachten No-Safe-Haven-Maxime des Völkerstrafrechts.30 Ein Freund der Normbestätigung bzw. der Integrationsprävention könnte geltend machen, dass gerade die Weigerung, bestimmte Taten je für zeitlich erledigt zu erklären, die Bedeutung der verletzten Norm im Bewusstsein der Bevölkerung unterstreiche. Nach diesen Perspektiven ist der zeitliche Abstand also ambivalent: er kann, muss aber nicht der Zweckmäßigkeit der Bestrafung lang vergangener Taten entgegenstehen, weil er als willkommenes Zeichen dafür dienen kann, zu verdeutlichen, wie sehr uns bestimmte Normen am Herzen liegen. Aus einer solchen Sicht ist das Medienspektakel um einen in seinem Krankenbett liegenden moribunden 90-jährigen im Gerichtssaal nicht zu bedauern, sondern gerade in seiner Absurdität willkommen zu heißen. Wir bestrafen nicht obwohl, sondern gerade weil es absurd erscheint, denn im credo quia absurdum erkennt man den Gläubigen. Und eine spezialpräventive Auffassung kann es immer noch für angezeigt erachten, sich zu vergewissern, ob das Resozialisierungsbedürfnis bzw. die Gefährlichkeit wirklich entfallen sind, ob der alte Täter über die kriminellen Neigungen seiner Jugend hinausgewachsen ist oder ob wir es sind, die es versäumt haben, genauer hinzuschauen. Welche Seite am Ende recht hat, lässt sich nur – wenn der präventive Ausgangspunkt aufrichtig und nicht nur als Rationalisierung einer sich im Schrank versteckenden Vergeltung31 vertreten wird – empirisch entscheiden. c) Wichtiger erscheint aber ein weiterer Gesichtspunkt, der bereits in den Überlegungen zur Verjährung zum Vorschein gekommen ist. Präventive Theorien sind Theorien darüber, weshalb wir von der Strafe einen Vorteil haben. Die eingangs formulierte Frage weist eine andere Blickrichtung auf: es geht darum, ob der Betroffene nicht ungerecht behandelt wird. Beide Frage dürfen nicht miteinander vermengt werden, etwa nach dem Liszt’schen Motto, dass „die richtige, d. h. die gerechte Strafe die notwendige Strafe“ sei.32 Wer dies tut, verkürzt Rechte eines einen Eigenwert aufweisenden Menschen zu vorläufigen Leihgaben eines gutmütigen Fürsten, mengt den Täter unter die Gegenstände des Sachenrechts. Strafe muss sowohl konsequentialistisch, zweckmäßigkeitsorientiert als auch deontologisch, respektorientiert begründet werden, weil sie sowohl gegenüber der Gesellschaft als auch gegenüber dem Individuum gerechtfertigt werden muss.33 29

Ragués i Valles, FS Silva Sánchez, S. 69, der daran erinnert, dass sich Feuerbach aus straftheoretischen Gründen gegen die Verjährung aussprach (für die Nachw. s. Asholt [Fn. 11], S. 20). 30 Womit man häufig das Weltrechtsprinzip begründet, s. nur Eser, FS Trechsel, 2002, S. 219 ff. (234). 31 Eine Anspielung auf den von Michael Moore sog. „closet retributivism“, s. M. Moore, Placing Blame, Oxford, 1997, S. 83 ff. 32 v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. I, 1905, S. 126 ff. (161). 33 Roxin/Greco, AT I, § 3 Rn. 1b, 51a.

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3. Wie sieht es aus mit Theorien, die nicht aus Gründen der Zweckmäßigkeit, sondern der Gerechtigkeit oder des Respekts bestrafen, also mit Vergeltungstheorien? Diese Theorien weisen bezüglich des hier behandelten Problems einen Vorzug, aber zugleich eine Begrenzung auf. Der Vorzug liegt darin, die Kernfrage an der richtigen Stelle aufzuwerfen. Ist es noch gerecht, den Einzelnen in der hier behandelten Situation zu bestrafen? Wird er nicht irgendwie zum Schauobjekt unserer präventiven Belange degradiert? Damit wird aber zugleich eine Grenze klar. Die Theorien bieten auf diese richtige Frage keine Antwort. Denn die Antwort, die Vergeltungstheorien parat haben, ist im Kern das Vorliegen (oder Fehlen) von individueller Schuld. Was aber Schuld ist, dazu verhalten sie sich nicht; vielmehr setzen sie diese Frage als geklärt voraus. Immerhin sind wir beim Merkel’schen Problem der personalen Identität angekommen. Denn Schuld als höchstpersönliche, unübertragbare Größe liegt nur dann (noch) vor, wenn derjenige, der die Tat begangen hat, immer noch derselbe Mensch ist, den wir bestrafen wollen. Ob dies aber der Fall ist, ist keine straftheoretische Frage mehr, sondern eine ontologisch-metaphysische, der wir uns in der Folge zuwenden müssen.

IV. Die ontologisch-metaphysische Ebene 1. Merkel leitet das Problem mit dem klassischen Beispiel des Schiffs des Theseus ein.34 Theseus repariert sein Schiff dadurch, dass er jede Planke sukzessiv abbaut und durch eine neue ersetzt. Die abgebauten Planken werden von einem Beobachter aufgegriffen, der das alte Schiff Planke für Planke neu aufbaut. Am Ende stehen zwei Schiffe nebeneinander; welches ist das alte Schiff? Sind es vielleicht sogar beide? Oder keins? Über dieses Problem, das viele Facetten aufweist, streiten sich Philosophen eifrig.35 Uns interessiert an der Stelle allein die Identität eines Individuums in der Zeit, manchmal als Problem der Persistenz,36 der Kontinuität oder der diachronen Identität37 bezeichnet (im Gegensatz zum Problem der sog. synchronen Identität, das die Frage thematisiert, ob es zwei Schiffe gibt, oder ob die zwei Seelen, die in Fausts Brust wohnen, zu zwei Personen führen oder es nur einen Faust gibt). Es 34

Merkel, JZ 1999, 503. Sammlungen fundamentaler Aufsätze bieten Quante (Hrsg,), Personale Identität, 1999, und Martin/Barresi (Hrsg.), Personal Identity, Malden, 2003, mit hilfreichen Einführungsstudien; für einen instruktiven Einstieg Noonan, Personal Identity, London/New York, 2. Aufl. 2003; Shoemaker, Personal Identity and Ethics. A Brief Introduction, Ontario, 2009; sowie die in den nachfolgenden Fn. Zitierten. 36 Quante, Personal Identity as a Principle of Biomedical Ethics, 2017, S. 4, 6. 37 Etwa Hudson, in: Gasser/Stefan (Hrsg.), Personal Identity. Complex or Simple?, Cambridge, 2012, S. 236 ff. 35

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ginge an der Sache vorbei, sich in diesen mit großem Aufwand geführten Streit zu vertiefen, und dies aus zwei Gründen. 2. a) Zum einen dürften die für die philosophische Diskussion tragenden, theoretisch-spekulativen Sorgen in unserem höchst praktischen Anlass, das Problem aufzuwerfen, keine Entsprechung finden. b) Dies wird bereits an der für die philosophische Diskussion charakteristischen Methode ersichtlich. Hier wimmelt es an einer beeindruckenden Fülle kreativer, nicht selten sogar konstruierter, skurriler Gedankenexperimente: Amnesien, Hirntransplantationen, Lobothomien, Hirnduplikationen, Klonierungen Erwachsener, Teleportierungen, Backups …38 Uns geht es schlicht und ergreifend um das Altern, also um das Verhältnis eines früheren Verhaltens zu einer Person, die von der Vornahme dieses Verhaltens ca. 7 Jahrzehnte entfernt ist. Ob die aufwändigen Gedankenexperimente dieses Phänomen, das so natürlich-trivial ist wie Leben und Tod, erhellen können, lasse ich dahingestellt. c) Auffallend ist ferner, dass die philosophischen Theorien zum Problem der diachronischen Identität zu der hier interessierenden trivialen Frage äußerst wenig zu sagen haben. Ich erläutere das allein anhand der zwei wohl traditionelleren Theoriegruppen. So scheint die nachvollziehbare, vielfach auf Locke zurückgeführte These, Kontinuität liege vor, soweit sich das Selbst durch eine Kette von psychischen Zuständen, insbesondere von Erinnerungen als Einheit begreife,39 erst etwa beim Alzheimer-Kranken die Identität abzustreiten. Gröning und co. sind nach dieser Auffassung durchgehend und völlig unproblematisch dieselbe Person. Aber auch die Gegenauffassung, die zeitliche Identität bzw. Persistenz als physisches Phänomen begreift, würde wohl wegen des Umstands, dass die alten Täter immer noch denselben Körper bzw. dasselbe Gehirn haben (oder sogar sind), unproblematisch zur Bejahung dieser Identität kommen. 3. Der zweite Grund liegt noch tiefer. Er würde selbst dann zum Tragen kommen, wenn eine perfekte Entsprechung zwischen unserem Interesse und dem der Philosophen bestünde. Er besteht in der schlichten Tatsache der Fülle der vorhandenen philosophischen Ansätze, ihrer fachinternen Umstrittenheit und somit der Fragwürdigkeit einer unkritischen Übertragung auf die Rechtswissenschaft (zu einer kritischen Übertragung fühle ich mich nicht berufen). Das Recht kann die Frage, ob die Bestrafung des Einzelnen ihn ungerecht behandelt, nicht von der Klärung einer heillos umstrittenen und wohl nie endgültig zu klärenden philosophischen Diskussion abhängig machen. Es kann diese Frage nicht auf die Philosophie abwälzen, sondern ist gehalten, sie in eigener Verantwortung zu beantworten. 38

Auch über die Angemessenheit der Verwendung von Gedankenexperimenten findet eine methodische Diskussion statt, s. etwa Coleman, Philosophical Studies 98/1 (2000), 53 ff.; Tamar Gendler, Intuition, Imagination, and Philosophical Methodology, Oxford, 2013, S. 21 ff. 39 Für eine von vielen Darstellungen s. Schechtman, Staying Alive. Personal Identity, Practical Concerns, and the Unity of a Life, Oxford, 2014, S. 10 ff. m. ausf. Nachw.

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V. Ein rechtliches Argument Der Umweg in die Höhen der Philosophie führt uns also zurück zur Provinz des Rechts, wenn auch nicht des positiven Rechts. Der Kern des Problems dürfte weniger auf der metaphysisch-ontologischen als auf der rechtlichen Ebene zu verorten sein; die metaphysisch-ontologische Frage bleibt immerhin von Bedeutung, wenn auch lediglich auf indirekte Art und Weise. 1. Der Schuldspruch als Identitätsbehauptung Ausgangspunkt ist eine schlichte Feststellung. Unabhängig von dem endlosen Streit der Philosophen über die personale Identität trifft das Recht Identitätsbehauptungen, wenn es jemanden der Begehung einer Straftat schuldig spricht. Jeder Schuldspruch verkörpert eine solche mehr als nur implizite Identitätsbehauptung: er behauptet nämlich, dass der, der die Tat begangen hat, und der, an den sich das Gericht richtet, miteinander identisch sind. Dies folgt aus dem Zusammenspiel zweier Annahmen, die nicht nennenswert umstritten sind, nämlich aus der anerkannten höchstpersönlichen Natur der Schuld und daraus, dass wir Schuld als notwendige Voraussetzung eines Schuldspruchs ansehen. Sprechen wir nur dann schuldig, wenn Schuld vorliegt, kann ein Individuum I allein dann der Begehung einer Tat T schuldiggesprochen werden, wenn derjenige, der T begangen hat, auch I ist. Ansonsten hätte man entweder eine Bestrafung eines anderen oder eine Bestrafung ohne Schuld. 2. Von der Identität zur Authentizität a) Diese Identitätsbehauptung erweist sich aber bei näherem Hinsehen als sehr implikationsreich. Dies liegt weniger daran, dass sie eine Stellungnahme in einer philosophischen Diskussion verkörpert, als an ihrem schlichten Aussagewert. Konkret und aus der Perspektive des alten Ichs: Durch die Behauptung, der 90-jährige sei immer noch der, der als 25-jähriger Straftaten begangen hat, negiert sie rückblickend, dass es dem alten Ich gelungen sein kann, sich von seiner Vergangenheit zu distanzieren, sich neu zu erfinden,40 über die Tat hinaus zu wachsen. Aus der Perspektive des jungen Ichs heißt das zugleich, dass es an seinen Fehler auf immer festgenagelt bleibt, gleichgültig, was es tut oder lässt, gleichgültig, wie sehr es sich um einen Neuanfang bemüht. Saulus bleibt auf immer Saulus und kann es nie zum Paulus schaffen. Hier dürfte meines Erachtens der Kern des Problems liegen. Diese Bestrafung erhebt die Tat zu einem nie mehr überwindbaren zentralen Ereignis der Biographie 40 Allgemein zur Fähigkeit zur Veränderung des eigenen Lebens im Zusammenhang der Menschenwürdedebatte: Werkmeister (Fn. 11), S. 94: „Die Autonomie des verletzlichen und fehlbaren Individuums besteht darin, sein Leben jederzeit radikal a¨ ndern zu ko¨ nnen, ihm zuku¨ nftig eine vo¨ llig andere Deutung zu geben“.

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eines Menschen, versagt ihm nahezu jede Möglichkeit, diese neuzuschreiben, sich – in religiöser Sprache – zu bekehren, oder – existentialistisch gewendet – neu zu erfinden. Der Weg zum Neuanfang wird ihm von Rechts wegen versperrt. b) Es fragt sich nur, warum das so wichtig ist. Die Argumentation für die Chance auf einen Neuanfang ist relativ einfach gestrickt. Der Ausgangspunkt liegt in dem für die liberale Ordnung konstitutiven Gedanken der freien Entfaltung und der Autonomie, also im Gedankengut, das in Art. 1 I, 2 I GG seinen positivrechtlichen Ausdruck gefunden hat. Im Grunde genommen ist der Neubeginn nicht das, worauf es ankommt, sondern nur eine Erscheinungsform hiervon. Vielmehr dürfte es darum gehen, das Individuum als Autor seines eigenen Lebens bzw. seiner Biographie anzuerkennen – um so etwas wie Recht auf Selbsturheberschaft oder auf Authentizität. Diese Überlegung bietet den Schlüssel zu allem weiteren. Der zeitlich unbegrenzt strafende Staat zwingt Paulus, dem späteren Apostel, die Selbstbeschreibung als Saulus, dem Christenverfolger, auf, gleichgültig, wie ernsthaft und aufrichtig sich Paulus darum bemüht, seine Vergangenheit zu überwinden. Ein solcher Staat schwingt sich selbst und seine Strafe zu einer Monopolstellung auf, als könnte nur er über die von ihm festgelegten Mittel jemandem einen Neuanfang ermöglichen, als wäre nur er, und niemals bloß das Individuum, dazu befugt, zu bestimmen, um welchen Menschen und um wessen Leben es geht. Akzeptiert man ein Recht des Individuums, seine eigene Biographie zu schreiben, impliziert das zugleich das Recht, die eigene Biographie nicht von einem anderen vorgeschrieben zu bekommen, sowie das Recht, mit gehöriger Mühe die gehörigen Korrekturen vorzunehmen. Hiermit wäre ein Verständnis, das jeden (auch größeren) Fehler für einen untilgbaren Bestandteil der Biographie eines Menschen erklärt, schwerlich vereinbar. c) Im Grunde geht es bei diesen Überlegungen nicht um Neuland, sondern, so gut wie immer im Recht, um die mehr oder weniger behutsame Fortentwicklung dessen, was es schon gibt. Die Gedanken nämlich, die in der Rspr. des BVerfG zur lebenslangen Freiheitsstrafe entwickelt wurden – dass es mit der Menschenwürde unvereinbar sei, „wenn der Staat für sich in Anspruch nehmen würde, den Menschen zwangsweise seiner Freiheit zu entkleiden, ohne daß zumindest die Chance für ihn besteht, je wieder der Freiheit teilhaftig werden zu können“ (BVerfGE 45, 187 [229]) – können als erste Manifestationen des hier postulierten Rechts angesehen werden, dass der Staat den Menschen nicht mit seinen noch so entferntesten Fehlern untilgbar identifizieren darf.

3. Schranken dieses Rechts a) Dieses Recht, Autor seines Lebens zu sein, kann natürlich nicht bedeuten, dass man sich jederzeit nach freiem Belieben von dem Gepäck, das man mit sich trägt und das mit jedem Schritt im Leben zunimmt, loslösen kann. Denn authentische Freiheit ist auch Freiheit zur authentischen Bindung und zur authentischen Verantwortung;

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Verantwortung, auch frei übernommene, kann per definitionem nicht frei aufgekündigt werden, ansonsten wäre sie der Verantwortungslosigkeit gleich. Deshalb berechtigt die Authentizität weder zum Vertragsbruch noch zur Selbstbegünstigung; privatautonom oder schuldhaft begründete Pflichten beeinträchtigen nicht die Authentizität, sondern verwirklichen sie. Mit jeder wichtigeren Entscheidung – Aufnahme eines Studiums oder einer Arbeitsstelle, Eheschließung, Zeugung von Kindern, Auszug aus dem Elternhaus, Umzug in eine andere Stadt, Fertigstellung eines Buchs, aber auch mit dem Abschluss eines Vertrags und mit der Begehung einer Straftat – fügt der Mensch seiner Biografie einen zusätzlichen Absatz hinzu. Jede dieser Entscheidungen begründet ihrerseits Rechte und Pflichten. Damit ist auch der Weg geebnet zu einer ersten Annäherung an die Schranken dieses Rechts auf freie Selbsturheberschaft. Diese Schranken möchte ich nicht erst (nach grundrechtsdogmatischem Vorbild) extern im Wege praktischer Konkordanz mit widerstreitenden Belangen, sondern bereits intern im Wege einer sorgfältigen Reflexion über die Möglichkeitsbedingungen einer solchen Freiheit erschließen. Sie dürften sowohl in der Sache als auch im Subjekt begründet sein. b) Die sachlichen Schranken werden am Beispiel des Sklavereivertrags, dem bereits von Mill anerkannten Beispiel einer nicht-bindenden Selbstverfügungsentscheidung, ersichtlich. Dieser Vertrag ist nicht erst deshalb unverbindlich, weil ihm Gründe des Gemeinwohls entgegenstehen, etwa weil wir keine Sklavengesellschaft sein wollen, sondern bereits deshalb, weil auch derjenige, der diese Entscheidung frei von jeglichem Zwang und aus kühlem Kalkül trifft, ihre Reichweite nie voll überblicken kann – denn er übergibt sich der Willkür eines anderen, der sich somit zum eigentlichen Autor des Lebens seines neuen Besitzgegenstands erheben kann.41 Der Sklavereivertrag ist qualitativ anders als die Selbsttötung, denn er weist nicht nur die negative Dimension auf, etwas zu vernichten, sondern zugleich eine positive, indem er ein Verhältnis der Fremdbeherrschung und der drohenden Inauthentizität begründet. c) Die subjektbezogene Schranke hängt damit zusammen, dass individuelle Rechte, wie das Recht auf Selbsturheberschaft eines ist, sich in der Disposition bzw. im Verzicht realisieren, diese bzw. dieser aber bestimmten Voraussetzungen genügen muss, deren Strenge mit der Tragweite der jeweiligen Entscheidung zusammenhängen. Auch aus diesem Grund kennt das Recht für folgenreiche Entscheidungen, von Vertragsabschlüssen bis zur Begehung von Straftaten, Altersgrenzen oder die Figur von Willensmängeln. 4. Die „alten Nazis“ Was noch fehlt ist eine klare Stellungnahme zum Fall unserer alten Verurteilten, die vom Recht mit den Jugendlichen, die sie einmal waren, für identisch erklärt wer41 S. noch einmal Werkmeister (Fn. 11), S. 114 (Würdeverletzung, wenn man sich nicht mehr als Mitautor des eigenen Lebens betrachten kann).

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den. Ist diese Identitätsbehauptung eine Verletzung des postulierten Rechts auf Authentizität? Oder zieht sie nur die Folgen einer vom Individuum getroffenen authentischen Entscheidung zur Straftatbegehung? Ich denke, dass sich eine pauschale Antwort verbieten dürfte. Die stärkeren Gründe dürften aber dafür sprechen, die Bestrafung im Regelfall für illegitim zu erklären. Denn die meisten Fälle dürften ziemlich nahe an der Grenze sowohl zu den in der Sache als auch zu den im Subjekt begründeten Schranken liegen, was schwer zu überwindende Zweifel an der Beachtung des Rechts dieser Menschen, ihre Biographie selbst zu schreiben, begründet. a) In sachlicher Hinsicht handelt es sich bei der Entscheidung des 25-jährigen, schwere Straftaten zu begehen, um eine solche, die schwere Folgen auf sich zieht – nämlich die Schuldigsprechung und eine langjährige Freiheitsstrafe – mit deren Verhängung man bis zum letzten seiner Tage auf Erden rechnen muss, und dies auch dann, wenn man viele Jahrzehnte vor sich hat. Zwar handelt es sich hierbei um ein Minus zum Selbstverkauf in die Sklaverei; die unermessliche Reichweite einer derartigen Entscheidung mindestens in ihrer zeitlichen Dimension rückt sie insoweit in die Nähe dieses Paradebeispiels für Inauthentizität. b) Die Schwelle wird aber womöglich erst deshalb überschritten, weil zu diesen sachlichen Überlegungen subjektbezogene hinzukommen. aa) Ein erster, eher moralphilosophisch begründeter Umstand erschließt sich durch die moralischen Einstellungen der Empathie und Introspektion. Die von den noch lebenden NS-Tätern begangenen Gräueltaten sind in ihrer Abscheulichkeit geschichtlich einzigartig. Dennoch sind sie von Menschen begangen worden, die sich von uns in erster Linie durch Zufälligkeiten unterscheiden: sie sind am falschen Ort zur falschen Zeit geboren. Wir, die das Glück haben, nichts anderes als den Rechtsstaat zu kennen, schwingen das Schwert der Gerechtigkeit gegen Menschen, denen dieses Glück versagt blieb, die von früh auf ideologisch vergiftete Luft atmeten, für die Lügen, Hass und Furcht das täglich Brot war. Spontan versetzt uns unsere angeborene Fähigkeit zur Empathie in die schwierige Situation dieser Personen hinein und lässt deren Willfährigkeit zwar keineswegs legitim, aber immerhin als nicht völlig unverständlich erscheinen. Und unsere ebenfalls angeborene Fähigkeit zur Introspektion lässt unbesehen die Frage aufkommen, ob wir Menschenrechtsapostel uns so sicher sein können, dass wir anders gehandelt hätten, wenn uns vergleichbares Pech zuteil geworden wäre. Zwar gibt es kein Recht darauf, sich einen Geburtsort und eine Geburtszeit auszusuchen. Authentisches Leben entfaltet sich immer innerhalb eines bestimmten Rahmens, dessen Schranken der Disposition des Individuums selbstverständlich entzogen sind. Der Rahmen kann aber weiter oder enger sein. Ich behaupte nur, dass wir, die nur weite Rahmen kennen, bei Aussagen zur Biographie von Menschen, die sich innerhalb ganz enger Rahmen entfalten mussten, empathische und zugleich selbstkritische Zurückhaltung üben sollten.

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bb) Eine weitere, eher moralbiologisch begründete Sorge erinnert an das Alter dieser Menschen, als sie der Versuchung erlagen. Diejenigen, über deren Taten wir heute im Jahr 2019 noch richten können, waren zur Tatzeit in aller Regel noch keine 25 Jahre. Diese Altersperiode markiert nicht zufällig den Höhepunkt der kriminellen Karrieren.42 Es ist nicht erforderlich, sich mit den zahlreichen, anspruchsvollen Ansätzen auseinanderzusetzen, die die Kriminologie für die Erklärung dieser schlichten Wahrheit anbietet, dass Kriminalität Jugendsache ist;43 vielmehr begnüge ich mit der ebenfalls schlichten Wahrheit, dass das Gehirn seine (vorläufige44) volle Entwicklung erst nach dem 25. Lebensjahr erreicht.45 Die allseits bekannte Impulsivität der Jugend beruht also nicht allein auf mangelnder Erfahrung, sondern bereits auf Biologischem. Vielleicht wäre nicht einmal dieser Biologismus zur Erweckung eines Unbehagens bei der Bestrafung der alten Nazis vonnöten gewesen; es hätte womöglich gereicht, auf die Impulsivität der Jugend hinzuweisen, an die sich so gut wie jeder, der das 30. oder spätestens das 40. Lebensjahr erreicht hat, rückblickend gut erinnern kann. c) Aus der Kombination dieser sowohl in der Sache als auch im Subjekt begründeten Umstände erscheint es im Prinzip ungerecht, Menschen, auch dann, wenn sie äußerste Gräueltaten begangen haben, nach 70 Jahren dieser Taten schuldig zu sprechen.46 Nicht nur gehen Demjanjuk und Gröning in die Geschichte als alte Nazis ein – das wäre noch zu verkraften, denn die Geschichte interessiert sich in erster Linie für unsere gemeinsame Lebenswelt, nur nachrangig für Privates –; sie bekommen es vom Staat, in unser aller Namen, verbindlich zu hören, dass die Taten eines jungen Nazis ihre Taten sind, m.a.W.: dass sie alte Nazis sind, und müssen aus diesem Grund den Entzug ihrer letzten Freiheitstage erdulden. Wir drängen ihnen eine Biographie auf, 42 Vgl. nur Eisenberg/Kölbel, Kriminologie 7. Aufl. 2017, § 48 Rn. 11 ff.; Göppinger, Kriminologie 6. Aufl. 2008; § 24 Rn. 8 ff.; Kaiser, Kriminologie 3. Aufl. 1996, § 43 Rn. 5 ff. (Rn. 9: „Befunde von nahezu universeller Gültigkeit“), wobei diese Erkenntnisse freilich typischerweise nicht im Rahmen von Delikten im Zusammenhang mit Unrechtsregimen gewonnen wurden. 43 Für eine sozialisations- und kontrolltheoretische Erklärung Kaiser (Fn. 38), § 43 Rn. 9; ähnlich, daneben aber auch auf gesellschaftliche Kontexte hinweisend Eisenberg/Kölbel (Fn. 38), § 48 Rn. 23 (s. auch § 55 Rn. 23 ff. mit Hinweisen zur neueren Lebenslaufkriminologie). 44 Denn die sog. Plastizität des Gehirns, also dessen Fähigkeit, sich über verschiedene Wege zu verändern, zählt zu den grundlegenden Entdeckungen der modernen Hirnforschung, s. hierzu eindrucksvoll und allgemeinverständlich Doidge, The Brain That Changes Itself: Stories of Personal Triumph from the Frontiers of Brain Science, London u. a. (Penguin), 2008; ders., The Brain’s Way of Healing: Stories of Remarkable Recoveries and Discoveries, London u. a. (Penguin), 2016. 45 Sapolsky, Behave: The Biology of Humans at Our Best and Worst, New York (Penguin), 2018, S. 155 ff. 46 Wie sich diese Überlegungen strafrechtsdogmatisch operationalisieren lassen, muss im Rahmen dieser ersten Annäherung nicht endgültig geklärt werden. Wegen ihrer schuldnahen Fundierung dürfte Einiges für einen Strafaufhebungsgrund sprechen; die Nähe zur Verjährung legt ein Verfahrenshindernis nahe.

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erheben uns zu Autoren ihres Lebens, und finden das gut, weil wir dabei die Worte Gleichheit, Menschenrechte und Rechtsstaat gebrauchen, die diese Menschen, als sie die Entscheidung trafen, an der wir sie heute, nach 70 Jahren, festnageln, allenfalls als Schimpfworte kannten. 5. Drei Einwände Vor Abschluss dieser Überlegungen möchte ich den Gedankengang gegen drei zu erwartende Einwände absichern. a) Der erste Einwand erlaubt sich keine Umwege: Ist es nicht unangemessen, dem Täter ein Recht auf ein authentisches Leben zuzusprechen, wenn er seinen Opfern nicht mal ein Recht auf Leben zuerkannte? Der Einwand dürfte kaum ernst zu nehmen sein. Nach seiner talionischen Logik müsste es erlaubt sein, den Folterer zu foltern und den Vergewaltiger zu vergewaltigen. b) Gerade von der Seite grundrechtsdogmatisch geschulten Denkens liegt es nahe, zu fragen, ob es ausreichen kann, ein subjektives Recht aufzustellen, ohne in eine Abwägung mit möglichen Gegenbelangen einzusteigen. Was ist mit dem Rechtsstaat, der ein Zeichen setzen muss? Was ist mit den Opfern, denen zunehmend sogar ein Recht auf Bestrafung der Täter zugesprochen wird?47 Hierzu in der gebotenen Kürze: Ein nicht-instrumentalisierendes Verständnis des Rechts und von subjektiven Rechten geht bei der Aufstellung dieser Rechte von Anfang an behutsam vor; es kennt kein Recht darauf, den Arm zu schwingen, wo die Nase des anderen beginnt,48 und dies nicht einmal als prima facie Recht, das erst im Wege der praktischen Konkordanz mit dem auch prima facie bestehenden Recht des anderen auf eine unversehrte Nase in Einklang gebracht werden muss. Das bedeutet, dass der Rechtsstaat, der auf dem hier kritisierten Weg Zeichen setzt, individuelle Rechte hierfür aufopfert und sich insoweit rechtswidrig verhält. Und auch dann, wenn das angebliche Recht des Opfers auf Bestrafung des Täters anzuerkennen wäre, wogegen m. E. überzeugende Gründe sprechen,49 lässt sich ein Recht des Opfers auf die maßgebliche Biographie des Täters kaum postulieren. c) Der Weg zur Einschränkung des subjektiven Rechts darf aber nicht von außen kommen, was Instrumentalisierung wäre, sondern vom Subjekt selbst. Hier könnte man fragen, ob es nicht Taten gibt, die die eigene Biographie derart prägen, dass man sich nie mehr von ihnen distanzieren kann. Hätten sich Stalin oder Hitler bekehren können? Das möchte ich nicht behaupten. Das hier entwickelte Argument besagt nur, dass für derart folgenreiche, biographieprägende Entscheidungen bestimmte 47 Reemtsma, Das Recht des Opfers auf die Bestrafung des Täters – als Problem, 1999, S. 26 f.; Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, Gesetz und Gerechtigkeit, 2002, S. 130 ff.; Hörnle, JZ 2006, 950 (955 f.); dies., Straftheorien, 2. Aufl. 2017, S. 38 ff.; weitere Nachw. bei Roxin/Greco, AT I, § 3 Rn. 36 h. 48 Vgl. Merkel, Süddeutsche Zeitung v. 30. 08. 2012 (wie Fn. 2). 49 Roxin/Greco, AT I, § 3 Rn. 36k ff.

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Voraussetzungen vorliegen müssen, die, wie gesehen, im Fall unserer noch lebenden alten Nazis regelmäßig fehlen dürften. Anders verhält es sich bei Stalin, Hitler und anderen Führungskräften, und dies bereits, weil die o. 3. c), 4. b) entwickelten subjektbezogenen Überlegungen nicht zum Tragen kommen.

VI. Exkurs: Die jungen Mörder u. a. vor der Unverjährbarkeit Ist das Entwickelte abschließend gemeint? Wie verhält es sich etwa mit dem alten Nazi, der sich sein Leben lang mit seinen Jugendsünden identifiziert, der sie bei jeder Gelegenheit wiederholt und bestätigt? Ex-post betrachtet, also aus der Perspektive des 90-jährigen, scheint ihm kein Unrecht zu geschehen, wenn der Staat sich nur das Selbstbild zueigen macht, das dieses Individuum selbst gemalt hat. Aus exante-Sicht, d. h. für den 20-jährigen, liegt dennoch das Problem vor, dass diesem jede Chance auf einen Neubeginn genommen wird (nehmen wir zur Vereinfachung an, die Unverjährbarkeit wäre nicht erst nachträglich eingeführt worden). Authentizität ist nicht nur Ergebnis, sondern auch Hoffnung. Damit wird eine Prämisse zu einer Fundamentalkritik an der Figur der Unverjährbarkeit gelegt (von der lebenslangen Freiheitsstrafe, die bereits aus sonstigen Gründen bedenklich ist, ganz zu schweigen50), die aber erst bei anderer Gelegenheit gegen denkbare Einwände abgesichert werden kann. Unverjährbarkeit ist nur verständlich unter der Annahme, dem Staat stehe ein Recht zu, Menschen, die einen gewissen, zugegeben nicht leichten Fehler begehen, für immer mit diesem Fehler zu identifizieren.

VII. Schluss Die einzelnen Ergebnisse der Abhandlung werde ich, der Gewohnheit entgegen, nicht wiederholen; dem Eiligen sei die Einleitung anempfohlen. Ich schließe meine Abhandlung mit der Hoffnung, die Zeilen mögen Merkel, ein persönliches Vorbild für wissenschaftliche Authentizität, auch gefallen.

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Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, 2009, S. 187 ff.

Die Genealogie der Vergeltung, oder warum retributiven Überzeugungen nicht zu trauen ist Ein Beitrag zu einer neuropsychologisch informierten Strafrechtswissenschaft Von Jan Christoph Bublitz Dieser Beitrag möchte eine Argumentart der gegenwärtigen philosophischen Debatte, sog. Debunking-Argumente, in die rechtswissenschaftliche Diskussion einführen, in dem es sie auf eines ihrer klassischen Themen anwendet: Die Legitimation von vergeltender bzw. retributiver Strafe. „Debunking“ meint in diesem Zusammenhang etwas zu untergraben oder zu unterminieren. Debunking-Argumente versuchen, von der Genese einer Ansicht oder Überzeugung auf ihre Rechtfertigung zu schließen.1 Genauer: sie versuchen, den Grad der Gewissheit einer Überzeugung (die Sicherheit, mit der man etwas für richtig hält) entscheidend zu verringern. In concreto möchte das folgende Argument die Überzeugung, Strafe zum Zweck der Vergeltung sei gerechtfertigt, aufgrund ihrer psychologischen Entstehungsbedingungen unterminieren – und zwar ohne sich vertieft mit den für oder gegen sie sprechenden Gründen auseinanderzusetzen, und ohne sich, das sei vorweggeschickt, in Gräben zwischen Sein und Sollen zu verfangen. Debunking-Argumente sind epistemischer Natur. Ihr Erfolg könnte neue Perspektiven für das Zusammenwirken von Psychologie und Recht eröffnen, und zwar, notabene, bezüglich normativer Fragen.2 Das Thema verbindet mehrere Interessen des Jubilars: Brücken zwischen Recht und Philosophie, Legitimation von Strafe, rechtliche Implikationen von Psychologie und Neurowissenschaften. Zugleich ist es eine Annäherung an die Frage, welche Bedeutung normativen Intuitionen in rechtlichen Argumentationen zukommen und zukommen sollen. Offenbar gibt es so etwas wie eine vis intuitiva, eine argumentative Kraft, die sich aus der unmittelbaren Einsichtigkeit einer Aussage speist. Das Werk 1

Terminologisches: „Überzeugung“ wird hier gleichbedeutend mit „Ansicht“ i.S. des Englischen „belief“ verwendet, etwa für wahr oder richtig halten, was voraussetzungsärmer ist als die Resultate der gerichtlichen Überzeugungsbildung. 2 Die Rechtspsychologie beschäftigt sich weitüberwiegend nicht mit normativen Fragen im engeren Sinn, sondern etwa mit dem Vorliegen psychischer Tatbestandselemente wie der Schuldfähigkeit oder Hintergrundannahmen des Rechts. Der hier vorgeschlagene engere Bezug auf normative Fragen würde eine jüngere Entwicklung in der Philosophie nachholen, die zunehmend klassische Fragen mit experimentellen Methoden untersucht, siehe etwa Grundmann/Horvath/Kipper (Hrsg.), Die experimentelle Philosophie in der Diskussion, Suhrkamp, 2014; Paulo/Bublitz (Hrsg.), Empirische Ethik: Grundlagentexte aus Philosophie und Psychologie. Suhrkamp (im Erscheinen).

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des Jubilars legt von ihr beredtes Zeugnis ab. Doch es ist alles andere als ausgemacht, dass das intuitiv Einsichtige stets das Richtige ist oder ob die Kraft der Intuitionen nicht bisweilen auch zum Falschen verführt. Dies gilt insbesondere für retributive Intuitionen, grob: das Empfinden, vergeltende Strafe müsse sein. Diese zählen zu Peter Strawsons berühmten reactive attitudes.3 In den vielen Gesprächen, die der Verf. mit dem Jubilar über Strafbegründungen führen durfte, bildeten diese so etwas wie einen argumentativen Fluchtpunkt. Der folgende Beitrag möchte dazu anregen, den gedanklichen Horizont neu auszurichten: Retributive Intuitionen sind epistemisch unzuverlässig, ihnen ist nicht zu trauen, man sollte das eigene Denken von ihren Einflüssen aktiv zu befreien suchen. Soweit sie retributive Ansichten stützen, sind diese zu suspendieren. All das ist freilich keine originelle, aber eine noch immer aktuelle These, denn retributive Intuitionen prägen das alltägliche wie das juristische Denken über Strafe und wirken auf Straftheorien wie -praxen ein. Neuerdings wird sogar der lange (zurecht) diskreditierte Bezug auf das Strafempfinden der Bevölkerung in der Strafrechtswissenschaft zu rehabilitieren gesucht.4 Ein ideengeschichtlicher Referenzpunkt des Arguments ist Nietzsches Genealogie der Moral.5 Gleichwohl atmet das Folgende seinen Geist nicht; insbesondere beruht es nicht auf seinem in der Tat „unzeitgemäßen“ Menschenbild. Vielmehr soll das Thema im Lichte gegenwärtiger psychologischer Forschung und philosophischer Debatten betrachtet werden.6 Das bedarf eines ungewohnt tiefen Blicks in diese Disziplinen, der aus ihrer Sicht gleichwohl oberflächlich bleiben muss: Weder den philosophischen Debatten zu Intuitionismus und Sentimentalismus, noch der psychologischen und neurowissenschaftlichen Forschung kann gebührend Rechnung getragen werden; Gleiches gilt für das reichhaltige rechtswissenschaftliche Schrifttum. Doch diese Blicktiefe, so die Hoffnung, ist für die anderen Disziplinen anschlussfähig und ermöglicht interdisziplinären Trialog. Zum Gang der Darstellung: Im ersten Teil wird die Struktur von Debunking-Argumenten knapp erläutert. Der zweite Teil behandelt die faktische Prämisse des Arguments. Dafür wird der Stand der Forschung zu Wesen und Entstehung retributiver Intuitionen sowie zu post hoc Rationalisierungen dargelegt. Diese Faktoren sind bei der Genese retributiver Überzeugungen typischerweise involviert. Zudem wird ein 3 Strawson, Freedom and Resentment (1962). In: Freedom and Resentment and Other Essays. Routledge, 2008. 4 Walter, Strafe und Vergeltung: Rehabilitation und Grenzen eines Prinzips. Nomos, 2016. 5 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (1887). In: Scheier (Hrsg.), Philosophische Werke, Bd. 6, Meiner 2013. Auch schon ders., Jenseits von Gut und Böse (1886), ebenda Bd. 5. Vgl. auch Bung, Nietzsche über Strafe. ZStW, 119 (1), 2007. 6 In der internationalen Diskussion scheint ein solches Argument immer wieder auf, wird aber nur selten ausformuliert, etwa bei Greene, The Secret Joke of Kant’s Soul. In: SinnottArmstrong (Hrsg.), Moral Psychology, (Bd. 3), MIT Press 2008, 35 – 79; Nichols, Brute Retributivism. In: ders., Bound: Essays on free will and Responsibility, Oxford University Press 2015, 119 – 140; Königs, The Expressivist Account of Punishment, Retribution, and the Emotions. Ethical Theory and Moral Practice 16 (5), 2013, 1029 – 1047.

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neuropsychologisches Modell der Verantwortungszuschreibung skizziert, welches erstaunliche Ähnlichkeiten mit rechtsdogmatischen Figuren aufweist und eine Reihe unerörterter Fragen für die Strafrechtswissenschaft aufwirft. Der dritte Teil wendet sich der normativen Prämisse des Arguments zu. Dazu werden epistemische Kriterien für überzeugende rechtliche Argumente herausgearbeitet, v. a. die Berücksichtigung gegenläufiger und kontraintuitiver Ansichten. Überzeugungsbildungsprozesse, die diese nicht erfüllen, sind keine zuverlässigen Wege zum Finden der am besten begründeten Position. Diese Kriterien werden im vierten Teil auf retributive Überzeugungen angewendet, deren Entstehung durch Intuitionen oder Rationalisierungen geprägt sind. Die Erörterung wird zeigen, dass solche Überzeugungen auf epistemisch unzuverlässigem Boden stehen und daher aufgegeben werden sollten. Der letzte Teil verwirft drei Einwände: Die vermeintliche Unüberwindbarkeit retributiver Intuitionen, die Verwechslung von Gründen und Ursachen sowie mangelnde Relevanz für die rechtswissenschaftliche Theorienbildung. Damit ist ein schlüssiges Debunking-Argument aufgezeigt, welches in der Zukunft auch auf weitere rechtswissenschaftliche Themen angewendet werden kann.

I. Zur Struktur von Debunking-Argumenten Der direkte Schluss von Entstehungsbedingungen einer Überzeugung auf ihre Richtigkeit ist regelmäßig unzulässig, ein genetischer Fehlschluss. Ob eine Überzeugung richtig oder falsch ist, hat in der Regel nichts mit den Umständen ihres Zustandekommens zu tun, sondern bemisst sich allein an ihrem Inhalt. Im Recht firmiert diese Unterscheidung manchmal als die zwischen Genese und Geltung oder Ursache und Begründung (Rechtfertigung), bzw. zwischen dem context of discovery und context of justification. Die Pointe von Debunking-Argumenten liegt in ihrer epistemischen Dimension. Sie betreffen nicht die inhaltliche Richtigkeit einer Überzeugung, sondern die Rechtfertigung, an ihre Richtigkeit zu glauben.7 Dafür können Entstehungsbedingungen relevant sein. Aus dem Alltag sind solche Erwägungen vertraut. Macht etwa jemand unter starkem Alkoholeinfluss eine überraschende Beobachtung, sind Zweifel an der Wahrnehmung und daraus resultierenden Überzeugungen angebracht. Bei einer Aussage in einem Strafverfahren wäre diese Fehleranfälligkeit der Überzeugungsbildung im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen. Eben das ist eine epistemische Erwägung. Das Ungewohnte an Debunking-Argumenten ist die Anwendung solcher Erwägungen auf normative Überzeugungen. Gegenstand im konkreten Fall ist die Überzeugung, retributive Strafe sei gerechtfertigt. Sie wird im Folgenden als retributive Überzeugung (RÜ) bezeichnet. Diese Überzeugung bezieht sich auf die retributive Norm, die grob lautet: Strafe (in Form von Leidzufügung) ist ungeachtet weiterer 7 Das bisher wohl umfangreichste Werk zu Debunking Argumenten stammt von Sauer, Debunking Arguments in Ethics. Cambridge University Press, 2018. Siehe auch Nichols, Process Debunking and Ethics. Ethics 124 (4), 2014, 727 – 749.

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Folgen gerechtfertigt (zulässig, ggf. geboten); sie bezieht sich allein auf die vergangene Tat (nicht auf künftige Zustände) und darf nur tatproportional gegen Schuldige verhängt werden. Diese retributive Norm ist „absolut“ in dem Sinne, dass sie keine weiteren Zwecke verfolgt (oder verfolgen muss), insofern ist sie auch nicht-konsequentialistisch.8 Die retributive Überzeugung (RÜ) besteht darin, diese Norm für richtig, also gerechtfertigt zu halten. Jeder, der Vergeltung für einen zulässigen Strafzweck hält – und damit viele Juristen und Laien – hat eine retributive Überzeugung in diesem Sinne. Das folgende Argument zielt darauf ab, die Gewissheit für diese Überzeugung zu untergraben, und zwar durch ein auf ihre Ätiologie abstellendes Argument. In formalerer Notation: (i) Denker D hat die Überzeugung RÜ, d. h. er hält Vergeltung für gerechtfertigt [empirische Prämisse 1]. (ii) RÜ wurde durch den psychologischen Prozess P gebildet [empirische Prämisse 2]. (iii) P ist kein zuverlässiger Prozess, um richtige Überzeugungen zu bilden [normative Prämisse 1]. (iv) Unzuverlässige Prozesse verleihen keine Berechtigung, an die Richtigkeit ihrer Resultate zu glauben [normative Prämisse 2]. Konklusion aus (i) – (iv): D ist nicht berechtigt, RÜ für richtig zu halten.

Hierdurch wird der Glaube an die Richtigkeit von RÜ untergraben, unterminiert oder debunked (alle synonym). Als Konsequenz gebietet eine rationale Überzeugungsbildung, RÜ zu suspendieren, also den Glauben an die Rechtfertigung von Vergeltung aufgeben. Die argumentative Herausforderung liegt darin, unzuverlässige psychologische Prozesse auszuweisen, Prämissen (ii) und (iii). Hierauf wird sich die Erörterung beschränken, Prämissen (i) und (iv) werden arguendo vorausgesetzt. Bevor (ii) und (iii) im zweiten bzw. dritten Abschnitt genauer dargelegt werden, seien einige einführende Bemerkungen zu epistemischen Argumenten erlaubt. Sie betreffen nicht die, juristisch gesprochen, materielle Frage „in der Sache“, sondern jene, ob man berechtigt ist, an ein materielles Ergebnis zu glauben. In den Naturwissenschaften sind solche Fragen mit Blick auf die Zuverlässigkeit bestimmter Erkenntnismethoden verbreitet. Denn häufig lässt sich nicht über ein bestimmtes Messergebnis streiten, sondern nur darüber, ob die verwendete Messmethode unter den gegeben Umständen zuverlässig und geeignet ist, richtige Ergebnisse hervorzubringen. Die Fragen nach der Richtigkeit eines Ergebnisses und der Zuverlässigkeit einer Methode liegen auf unterschiedlichen Ebenen. Viele Debatten der Gegenwart betreffen epistemische Fragen. Beispiel Klimawandel: Nur wenige Menschen dürften in der Lage sein, durch eigenes Nachdenken „in der Sache“ eine wohlbegründete Ansicht über die Existenz des Klimawandels zu bilden. Die Zusammen8

Im Detail ist die Bezeichnung von Vergeltung als nicht-konseq. Strafzweck freilich ungenau; sie könnte sich ggf. regelkonsequentialistisch begründen lassen; ebenso ist die Annahme, Strafe sei intrinsisch wertvoll oder führe zu einem Ausgleich von Schuld, mit konseq. Begründungen nicht unverträglich. Hiesiges Argument betrifft alle Begründungen der retributiven Norm, nicht nur deontologische.

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hänge und mögliche alternative Erklärungen sind zu komplex. Für alle anderen stellt sich die Frage, ob man ohne eigene Erkenntnismöglichkeit an die Existenz des anthropogenen Klimawandels glauben darf, vor allem auch nicht glauben darf. Dieses Verdikt fällt eindeutig aus: Die beste Methode zur Beurteilung der Frage bieten die (empirischen) Wissenschaften, und diese scheinen ausweislich ihrer Vertreter weitüberwiegend zu einer Ansicht zu gelangen. Rationale Überzeugungsbildung gebietet es, diese Ergebnisse für segr wahrscheinlich richtig zu erachten. Es gibt keine epistemisch auch nur annähernd gleichwertige Kontraposition. Folglich ist die Leugnung des Klimawandels epistemisch ungerechtfertigt. Zu diesem Ergebnis gelangt man ohne Auseinandersetzung mit irgendeinem spezifischen Befund über Klimaveränderungen „in der Sache“. Die „Logik“ solcher epistemischen Argumente ist auch im Recht einsichtig: Ein Richter, der Urteile würfelt, verwendet eine untaugliche Methode. So gebildete Überzeugungen wären mit obigem Argument unterminierbar: Würfeln ist ein unzuverlässiger Prozess. Auf diesem Weg von Genese zu Rechtfertigung werden keine Gräben zwischen Sein und Sollen übertreten, da stets normative Prämissen, hier (iii) und (iv), involviert sind. Zugleich ist die Reichweite des Arguments beschränkt. Es betrifft nur die epistemische Rechtfertigung einer auf einem bestimmten Wege gebildeten Überzeugung. Ein erfolgreiches Debunking-Argument schließt also weder aus, dass die identische Überzeugung auf einem anderen zuverlässigeren Weg gebildet werden könnte, noch dass sie inhaltlich richtig ist. Auch ein würfelnder Richter kann richtig liegen – nur gibt es keine Berechtigung, daran zu glauben. Folglich führt Debunking nicht zur Falschheit der Überzeugung, sondern zur Neubescheidung der Frage, ohne Rückgriff auf den unzuverlässigen Prozess. Nun gilt rechtswissenschaftliches Interesse zumeist dem Inhalt einer Überzeugung. Dennoch kann eine epistemische Herangehensweise manchmal hilfreich sein. Wenn etwa bei Entscheidungen aufgrund begrenzter Ressourcen eine umfangreiche Auseinandersetzung in der Sache unmöglich ist, können mit ihrer Hilfe unzuverlässige Prozesse ausgefiltert werden. Unter epistemischen Gesichtspunkten könnten auch Big Data und Künstliche Intelligenz Einzug in das Rechtssystem halten: Voraussetzung wäre, dass Entscheidungen solcher Systeme im Vergleich zu menschlichen zuverlässiger sind, also häufiger in der Sache zutreffen. Dies scheint bei einigen einfachen rechtlichen Entscheidungen bereits heute der Fall zu sein.9 Weichen unter dieser Prämisse menschliche und künstliche Entscheidungen in einem konkreten Fall voneinander ab, gäbe es aus epistemischer Sicht keinen Grund, die menschliche Entscheidung vorzuziehen – im Gegenteil.10 9

Siehe etwa Kleinberg et al., Human Decisions and Machine Predictions. The Quarterly Journal of Economics 133 (1), 2017, 237 – 293. 10 Das Argument lautet hier (in Modifizierung der dritten Prämisse): Ist ein Prozess epistemisch zuverlässiger als ein anderer, ist man nicht berechtigt, an die Resultate des letzteren zu glauben. Es mag natürlich andere Gründe geben, warum eine menschliche Entscheidung ausschlaggebend sein soll (wie es etwa Art. 22 der Datenschutzgrundverordnung ausdrückt).

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Schließlich können epistemische Erwägungen in einem Patt verharrenden Debatten neue Impulse verleihen. Verbleibt nach Austausch aller Gründe ein stabiler Dissens in der Sache, könnte das Wechseln auf eine andere Ebene, von Gründen auf Ursachen (also kausale Erklärungen), die Debatte voranbringen. Epistemisch bessere Entstehungsbedingungen könnten eine Position vorteilhafter erscheinen lassen.11 Eben diese Lage zeigt sich im „Ewigkeitsstreit“ über die Legitimierbarkeit vergeltender Strafe, in dem sich keine Ansicht entscheidend durchzusetzen vermochte.12 Vielen Vergeltungstheorien zufolge verdienen Täter Strafe, Strafe gleiche Schuld aus; durch Vergeltung wird Gerechtigkeit wiederhergestellt. Für Kritiker bleiben diese Argumente unverständlich, geradezu magical thinking.13 Weder gleiche Strafe irgendetwas aus, noch mache es die Welt gerechter, wenn dem Leid durch die Straftat weiteres hinzugefügt werde. Wenn überhaupt könne Strafe nur durch positive Folgen, also relative Strafzwecke (wie Abschreckung, Normstabilisierung) gerechtfertigt werden. Eine besondere Facette dieser Pattsituation ist ihre dialektische Struktur. Es widerstreiten zwei Normen, von denen eine alle Seiten anerkennen: Niemandem soll Leid zugefügt werden (neminem laedere). Die retributive Norm ist ihr Gegenteil, da sie das Leidzufügen in speziellen Fällen erlaubt. Beide Normen können bezüglich desselben Falls nicht gleichzeitig gelten. Retributivisten (und andere Befürworter von Strafe) müssen daher zeigen, warum die neminem leadere Norm nicht gilt (Ausnahme, Vorrang, Verwirkung, Überwiegen, etc.). Wird das entsprechende Argument entkräftet, lebt sie wieder auf.

II. Zur faktischen Prämisse (ii) Die Frage ist also, inwieweit die Entstehungsgeschichte der retributiven Überzeugung ihre epistemische Berechtigung zu untergraben vermag. Als psychisches Faktum ist die Ätiologie bei jedem Retributivisten im Einzelnen unterschiedlich. Dennoch scheinen retributive Intuitionen von einem basalen psychischen Mechanismus erzeugt zu werden, und viele retributive Überzeugungen bilden sich auf der Basis dieser Intuitionen und werden mit ihrer Unterstützung aufrechterhalten. Diese Vorgänge sind Gegenstand der folgenden Erörterung. Damit sei nicht behauptet, jede retributive Überzeugung entstehe auf diese Weise (diese empirische Frage sei hier offengelassen, wir kehren zu ihr zurück).

Gleichwohl dürfte die Begründungslast für die menschliche Entscheidung deutlich steigen, wenn eine im Allgemeinen treffsicherere KI zu einem anderen Ergebnis gelang. 11 Diese Strategie verfolgt etwa Greene (Fn. 6). 12 Zum Stand der Debatte etwa Hörnle, Straftheorien, (2. Aufl.), Mohr Siebeck, 2017. 13 So Nussbaum, Anger and forgiveness: Resentment, Generosity, Justice. Oxford University Press, 2016.

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1. Wesen und Wirkung von Intuitionen Zur Illustration ein bekannter Fall aus der angloamerikanischen Debatte: Der Täter Harris trifft in einem fast-food Restaurant in den USA zufällig auf zwei 16-Jährige. Er lockt sie in eine verlassene Gegend. Dort verspricht er den Jugendlichen, ihnen nichts anzuhaben und lässt sie vor ihm weglaufen. Dabei erschießt er sie mit offensichtlicher Freude hinterrücks. Anschließend bietet er anderen Menschen die Hamburger der Jugendlichen an. Amüsiert malt er sich aus, als Polizist verkleidet den Eltern der Jungen die Todesnachricht zu überbringen.14 Solche Fälle lösen ein Gefühl, eine Haltung, eine Meinung aus: die Tat ist verwerflich, der Täter hat Schuld, es möge strafend auf sie reagiert werden.15 Das ist die retributive Intuition. Der Begriff der Intuition ist in Psychologie und Philosophie nicht einheitlich definiert und weicht vom Alltagsverständnis ab.16 Hier werden darunter schnell auftretende, nicht-inferentielle Haltungen (oder Einstellungen) verstanden, die einen ersten Anschein dafür geben, dass etwas der Fall ist (etwa: Harris verdiene Strafe). Intuitionen haben verschiedene Gegenstände, es gibt sprachliche Intuitionen (z. B. bezüglich der Korrektheit einer Formulierung) oder ästhetische; viele fassen darunter auch Phänomene wie das Einschätzen, wo ein durch die Luft fliegender Ball landen wird. Einige Intuitionen sind erlernt, andere basal. Ein im Weiteren relevant werdendes Charakteristikum von Intuitionen ist ihre sog. Nicht-Inferentialität. Damit ist gemeint, dass ihr Inhalt nicht durch bewusstes Schließen gefolgert wird sondern sich unmittelbar, spontan und ohne geistige Anstrengung im Bewusstsein zeigt. Auch für Laien bedarf es keiner bewussten Überlegung, ob Harris Tat falsch ist und Strafe verdient, diese Bewertung ist unmittelbar einsichtig (so wie man etwas als schön empfindet, ohne dies zuvor aus Schönheitsidealen abzuleiten). Damit geht ein zweites Charakteristikum einher: Intuitionen sind bezüglich ihrer Ursachen opak, d. h. introspektiv nicht durchschaubar. So ist man in der Regel nicht in der Lage, die Ursachen dafür zu benennen, warum man etwas als schön empfindet, je ne sais quoi. Intuitionen lassen sich nur im Nachhinein erklären. Auf Nachfrage wird man die Ant14 Ausführlich schildert den Sachverhalt Watson, Responsibility and the Limits of Evil: Variations on a Strawsonian Theme. In: ders. (Hrsg.), Agency and Answerability. Oxford University Press, 2004, 219 – 258. 15 Die Psychologie unterscheidet zwischen second person punishment (Opfer – Täter) und third party punishment (unbeteiligte Dritter – Täter). Die emotionalen Reaktionen Betroffener sind komplexer als die eines strafenden Dritten. Sie bleiben hier außer Betracht, beachtlich ist die unbeteiligte Richterperspektive. 16 Allman/Woodward, What are Moral Intuitions and why should we care about them? A Neurobiological Perspective. Philosophical Issues 18 (1), 2008, 164 – 185; Kauppinen, Moral Intuition in Philosophy and Psychology. In: Levy/Clausen (Hrsg.), The Springer Handbook of Neuroethics. Springer, 2013, S. 21; Haidt, The Emotional dog and its Rational tail: A Social Intuitionist Approach to Moral Judgment. Psychological Review 108 (4), 2001, 814 – 834. Eine ausführliche deutsche Darstellung bei Burgbacher, Moralische Intuition. Eine Annäherung an einen mentalen Zustand. Mentis, 2018.

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wort erhalten, Harris Tat war falsch, weil Töten falsch sei; er sei schuldig, weil er die Jugendlichen absichtlich erschoss, usw. Diese Erklärung begründet den Inhalt der Intuition. Doch diese Gründe sind nicht notwendigerweise identisch mit den kausalen Ursachen für die Entstehung der Intuition. Weitere Faktoren können eine Rolle gespielt haben, etwa die soziale Erwartung der Anerkenntnis des Tötungsverbots, etc. Aus der eigenen Erfahrung lässt sich über die kausalen Ursachen nicht viel besagen. Es gibt keinen, das ist der entscheidende Punkt, direkten introspektiven Zugriff auf die Ursachen einer Intuition. Erklärungen von eigenen Intuitionen sind interpretative Akte – und damit fehleranfällig.17 Allerdings muss nun hinter jeder Intuition ein psychischer Mechanismus liegen, der Intuitionen hervorbringt. Irgendetwas muss etwa die Flugbahn des Balles berechnen oder visuelle Stimuli verarbeiten und zum Ergebnis gelangen, dass es sich um ein schönes Gesicht handelt. Diese Prozesse bleiben dem Bewusstsein verschlossen, die Neuropsychologie vermag jedoch etwas über sie zu besagen (dazu sogleich). Insbesondere in der Philosophie wurde die epistemische Funktion von Intuitionen herausgearbeitet: Sie fungieren psychologisch als Anscheinsbeweis. Im Allgemeinen geht man davon aus, dass die Welt ungefähr so ist, wie sie erscheint. Der natürliche Umgang mit Intuitionen ist, ihnen zu trauen. Moralische Intuitionen gehen zudem häufig mit einem hohen Grad an Gewissheit einher.18 Darüber hinaus präjudizieren Intuitionen die Beurteilung von Behauptungen. Stimmt eine Behauptung mit den eigenen Intuitionen überein, schenkt man ihr Glauben, sie ist intuitiv einleuchtend. Widerspricht sie der Intuition, ist sie kontraintuitiv und wird bezweifelt. Auf diese Weise wirken Intuitionen bei der Überzeugungsbildung: Sie geben einen Anschein der Richtigkeit, in dessen Licht Gegenteiliges überprüft wird. Die philosophische Debatte um den Intuitionismus betrifft u. a. die hier sogleich relevante Frage, ob dieser Anscheinsbeweis gerechtfertigt ist.19

17 Die Forschungslinie, die sich mit Unwissen über eigene Gründe und Einstellungen befasst, hat einen Ausgangspunkte in Nisbett/Wilson, Telling more than we can know. Psychological Review 84, 1977, 231 – 259.; s. auch Haidt (Fn. 16). Auf Einzelheiten der nicht immer unumstrittenen Forschung kommt es hier nicht an. Vgl. mit Blick auf Verantwortungszuschreibung auch: Hauser et al., A dissociation between moral judgments and justifications. Mind & language 22 (1), 2007, 1 – 21; Cushman/Young/Hauser, The role of conscious reasoning and intuition in moral judgment testing three principles of harm. Psychological science 17 (12), 2006, 1082 – 1089. 18 Burgbacher (Fn. 16). 19 Die metaethische Position des Intuitionismus ist freilich weitreichender, oft ist sie mit der Annahme eines moralischen Realismus verbunden. Intuitionen sind dann Erkenntnismittel für unabhängig existierende moralische Wahrheiten. Diese Aspekte werden im Folgenden außer Acht gelassen, der hier verwendete Begriff ist anspruchsloser. Zum Ganzen vgl. Huemer, Ethical intuitionism. Palgrave Macmillan, 2005.

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2. Retributive Emotionen Intuitionen lassen sich analytisch von Emotionen unterscheiden, wenngleich sie häufig gemeinsam auftreten.20 Emotionen definitorisch zu greifen ist notorisch schwierig. Als Arbeitsdefinition: Emotionen sind affektive Zustände mit physiologischen Dimensionen, die oft mit bewusstem Erleben (dem Gefühl) unterschiedlicher Art, Intensität (Erregung) und Wertigkeit einhergehen. Viele Emotionen haben intentionale Objekte, sie sind auf etwas gerichtet. Sie aktivieren Handlungstendenzen und motivieren zu deren Ausführung. Von gegenwärtigem Interesse sind retributive (oder punitive) Emotionen. Zu ihnen zählen Wut, Verärgerung und Empörung; auch Ekel und Abscheu.21 Sie dürften beim Vernehmen des Harrisfall, wenn auch schwach und flüchtig, ausgelöst worden sein. Diese Emotionen prädisponieren zu spezifischen Handlungen: Wut und Empörung motivieren zu Verurteilung, Rache, Heimzahlen – und zwar durch einen aggressiven Akt.22 Ekel motiviert hingegen Ausschluss. Das intentionale Objekt beider Emotionen ist der Täter (auf den man wütend ist). In der Struktur der punitiven Emotionen sind also bereits zwei Reaktionsformen auf die auslösende Handlung angelegt: Ein aggressiver Akt gegen den Täter bzw. sein Ausschluss. Diese entsprechen den beiden zentralen strafrechtlichen Reaktionsformen: Bestrafung bzw. Sicherung – eine erste bemerkenswerte Koinzidenz psychischer und rechtlicher Strukturen. 3. Retributive Intuitionen Retributive Intuitionen sind Hybride aus Intuitionen und Emotionen, affektiv aufgeladene, nicht-inferentielle Haltungen, die nach Verurteilung und Bestrafung streben.23 Dieser Doppelcharakter geht in der herkömmlichen Rede von punitiven Emotionen oft unter, weswegen hier von „retributiver Intuition“ gesprochen sei. Intuition umfasst hier also auch die affektive Seite (an Stellen, an denen sie im Vordergrund steht, ist gleichbedeutend von „retributiver Emotion“ die Rede). Warum ist die Intuition retributiv? Sie aktiviert die Handlungstendenz des Leidzufügens, wird durch die begangene Tat ausgelöst, ist also backward-looking, und erscheint der Person als von weitergehenden Erwägungen frei (nicht-inferentiell). Dies sind klassische Eigen-

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Vieles in der Unterscheidung zwischen Emotion und Intuition ist begrifflich und empirisch nicht geklärt; je nach Begriffsverwendung haben sie Überschneidungen. 21 Eine brauchbare Definition bei Dubreuil, Punitive emotions and norm violations. Philosophical Explorations 13 (1), 2010, 35 – 50. 22 Etwa: Frijda, The lex talionis: On Vengeance. In: Goozen/van de Poll/Sergeant (Hrsg.), Emotions: Essays on Emotion Theory, Erlbaum 1994, 263 – 289. 23 Greene/Haidt, How (and where) does Moral Judgment work? Trends in Cognitive Sciences 6 (12), 2002, 517 – 523. Prooijen, The Moral Punishment Instinct. Perspectives on justice and morality. Oxford University Press, 2018.

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schaften von Vergeltungslehren.24 Auch hier zeigt sich eine Koinzidenz von Psychischem und Rechtlichem. 4. Emotionen, Rationalität und die Dual-Process Hypothese Soweit zur Oberflächenerscheinung retributiver Intuitionen. Bevor wir uns ihrer Unterseite zuwenden, ist anzumerken, dass Emotionen hier nicht in prinzipiellem Gegensatz zu Verstand, Vernunft oder Rationalität verstanden werden. Die affektive Wende in den Kognitionswissenschaften der vergangenen zwanzig Jahre hebt sowohl emotionale Anteile an rationalen Entscheidungen als auch die Rationalität von Emotionen hervor.25 So gehen etwa emotionale Defizite mit Schwierigkeiten im moralischen Verständnis und Handeln einher. Gleichwohl können insb. starke Emotionen andere kognitive Prozesse negativ beeinträchtigen. Der klassische rationalistische Gegensatz zwischen Gefühl und Verstand ist dennoch nicht aufrechtzuerhalten. An seine Stelle ist in jüngerer Zeit ein anderer gerückt, der Gegensatz zwischen Intuition und Deliberation. Dieser lässt sich am sog. Dual-Process-Modell illustrieren, welches hier zugrunde gelegt wird. Psychische Prozesse lassen sich dem Modell zufolge grob in zwei Klassen und Systeme einteilen. System 1 ist intuitives, schnell urteilendes, automatisches Denken. Es kann nicht auf komplexere kognitive Funktionen zugreifen, dafür arbeitet es parallel. So kann System 1 große Datenmengen in geringer Tiefe verarbeiten. System 2 ist das phylogenetisch jüngere, rationalere System und kann komplexe kognitive Operationen durchführen. Es verfügt über Zugriff auf Erinnerungen und Wissen, kann kontrafaktisch, hypothetisch und folgenorientiert denken. Dafür benötigt es allerdings viele Ressourcen und arbeitet seriell und langsam. Das Dual-Process Modell postuliert also zwei Modi des Denkens, die zugleich miteinander kooperieren und konfligieren: Thinking fast and slow, wie es der Titel des Buches von Daniel Kahneman ausdrückt.26 Diese Zweiteilung des menschlichen Denkens hat sich in vielen Bereichen der Psychologie, auch der Moralpsychologie, als hilfreiches Modell erwiesen.27

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Proportionalität hingegen scheint nicht in dieser Intuition begründet zu liegen, das Gefühl der Rache ist häufig exzessiv, etwa Frijda (Fn. 22). 25 Zu allem etwa Prinz, The emotional basis of moral judgments. Philosophical Explorations 9 (1), 2006, 29 – 43. Einführend: Wiegmann/Engelmann, Jüngere Entwicklungen in der Moralpsychologie. In: Paulo/Bublitz (Fn. 1). 26 Kahneman, Thinking, fast and slow. Penguin, 2012. 27 Evans, Dual-Processing Accounts of Reasoning, Judgment, and Social Cognition. Annual Review of Psychology 59 (1), 2008, 255 – 278; Kahneman (Fn. 26); Sauer, Moral thinking, fast and slow. Routledge, 2018; Cushman/Young/Greene, Our multi-system moral psychology: Towards a consensus view. In: Doris (Hrsg.), Handbook of Moral Psychology, Oxford University Press 2010, 47 – 71.

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5. Neuropsychologisches Modell der Verantwortungszuschreibung Psychologie und Neurowissenschaften eröffnen nun Blicke in die Blackbox, auf die Mechanismen, die Intuitionen hervorbringen. Das Vernehmen eines Sachverhalts wie dem Harrisfall löst eine Kaskade von Verarbeitungsschritten im Gehirn aus, welche die retributive Intuition erzeugen. Einzelne Schritte lassen sich einigermaßen genau bestimmen und sogar im Gehirn lokalisieren.28 Aus der entsprechenden Forschung lässt sich ein neuropsychologisches Modell intuitiver Strafurteile ableiten.29 Eine grobe Skizze: In einem ersten Schritt detektiert ein kognitives Modul das Vorliegen einer Gefahr oder einer Normverletzung und löst entsprechende aversive Emotionen aus. Dieser Schritt gilt als emotional, weil er in einem emotionalen Hirnareal, der Amygdala, durchgeführt wird und der Output eine Emotion ist. Die Stärke der Emotion wird dabei von der Schwere des eingetretenen Schadens moduliert. Parallel dazu beurteilt ein zweites kognitives Modul, welches im Allgemeinen mit Mentalisieren, dem psychischen Hineinversetzen in andere, betraut ist, die Absichten und weitere psychische Zustände des Täters. Der Output beider Module wird dann in einem dritten Modul integriert, welches auf ihrer Grundlage eine erste Einschätzung darüber trifft, ob die Person an dem Schaden „Schuld“ hat. Ist dies der Fall, wird die retributive Intuition ausgelöst. Diese Verarbeitungsschritte erfolgen unbewusst, schnell und spontan. Sie sind System 1 Prozesse. Anschließend werden in einem vierten Modul weitere Einzelheiten, v. a. die Art und Schwere der Reaktion auf die Handlung (also etwa die Bestrafung) verarbeitet. Dieser vierte Schritt berücksichtigt den Entscheidungskontext, verfügt über Zugang zu höherstufigen kognitiven Prozessen und kann weitergehende Faktoren berücksichtigen (ein System-2 Prozess). Erstaunlich ist die Präzision, mit der einzelne Verarbeitungsschritte manipuliert werden können. Experimentell wurde etwa die Funktion des im zweiten Schritt involvierten Mentalisierungsmoduls durch transkranielle Magnetstimulation des betreffenden Hirnareals beeinträchtigt.30 Die Folge: Probanden unter dem Einfluss 28 Aus der psychologischen Forschung siehe die Modelle von Alicke, Culpable control and the psychology of blame. Psychological bulletin 126 (4), 2000, 556; Oswald/Stucki, A twoprocess model of punishment. In: Oswald/Bieneck/Hupfeld (Hrsg.), Social psychology of punishment of crime. Wiley 2011, 173 – 191; vgl. auch Cushman, Crime and punishment: Distinguishing the roles of causal and intentional analyses in moral judgment. Cognition 108 (2), 2008, 353 – 380. 29 Das Modell ist entnommen: Buckholtz et al., From Blame to Punishment: Disrupting Prefrontal Cortex Activity Reveals Norm Enforcement Mechanisms. Neuron 87 (6), 2015, 1369 – 1380; Ginther et al., Parsing the Behavioral and Brain Mechanisms of Third-Party Punishment. The Journal of Neuroscience 36 (36), 2016, 9420 – 9434; Krueger/Hoffman, The Emerging Neuroscience of Third-Party Punishment. Trends in Neurosciences 39 (8), 2016, 499 – 501; Buckholtz et al., The Neural Correlates of Third-Party Punishment. Neuron 60 (5), 2008, 930 – 940. 30 Young et al., Disruption of the right temporoparietal junction with transcranial magnetic stimulation reduces the role of beliefs in moral judgments. Proceedings of the National Academy of Sciences 107 (15), 2010, 6753 – 6758.

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der Hirnstimulation hielten mentale Zustände des Täters als weniger bedeutsam und versuchte Straftaten für weniger strafwürdig als jene ohne Stimulation. Die Hirnstimulation verunmöglichte also nicht das Urteilen per se, sondern störte (von Probanden unbemerkt) einen kognitiven Prozess, wodurch sich der Inhalt des Urteils änderte. Eine andere Studie beeinträchtigte mit derselben Technik die Funktion des vierten Moduls. Dies veränderte die Beurteilung der Strafschärfe, nicht aber der Schuld.31 Auf solchen Studien basiert das neuropsychologische Modell. Zusammenfassend: Bei Vorliegen bestimmter Umstände wird eine Intuition ausgelöst, die eine aggressive Reaktion gegen den Täter motiviert. Ob diese Umstände vorliegen wird durch verschiedene kognitive Prozesse beurteilt, von denen sich jedenfalls theoretisch bestimmen lässt, auf welche Merkmale sie reagieren. Dem hier skizzierten Modell zufolge entsteht die retributive Intuition zwischen dem dritten und vierten Verarbeitungsschritt.32 Dabei, und dies ist für die weitere Erörterung wichtig, werden bis zum Auslösen der Intuition nur wenige Informationen in recht spezialisierten Modulen verarbeitet. Diese sind insbesondere für Erwägungen, die gegen Vergeltung sprechen, etwa negative Folgen der Bestrafung, nicht sensibel. Auch die Form der Reaktion wird durch die Intuition vorgegeben: ein aggressiver Akt gegen den Täter (ob Einwände und Alternativen in der vierten Stufe berücksichtigt werden, lässt sich derzeit nicht sagen). 31

Buckholtz et al., (Fn. 29). Eine genauere Eingrenzung ist derzeit nicht möglich, nicht nur weil das Modell vereinfacht und die Prozesse komplexer sind, sondern weil unklar ist, ob es sich um eine retributive Intuition oder um mehrere miteinander verwobene handelt. Auf solche Einzelheiten kommt es im Folgenden nicht an. 32

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Aus rechtswissenschaftlicher Sicht ist dieses Modell überraschend und irritierend zugleich: Offensichtlich gibt es psychologische Mechanismen, die das Verhalten einer Person innerhalb weniger Augenblicke daraufhin beurteilen, ob es eine Norm verletzt, einen Schaden verursacht und ob sie im untechnischen Sinn „Schuld“ hat. Diese Mechanismen suchen systematisch nach bestimmten Informationen – und diese entsprechen grob den strafrechtlichen Tatbestandsmerkmalen, die Sequenz ihrer Prüfung ähnelt dem Deliktsaufbau. Im bejahenden Fall wird eine psychische Intuition ausgelöst, die eine vergeltende Handlung vorschlägt. Wohlgemerkt, diese Mechanismen finden sich in der Psyche von Laien.33 Es bestehen also auffallende strukturelle Ähnlichkeiten zwischen weitgehend unbewusst operierenden psychologischen Mechanismen und einer in jahrhundertelanger Debatte entstandenen Rechtsdogmatik. Weitere Koinzidenzen – wie sie zu erklären sind und was aus ihnen folgt, sind auch international weitgehend unerörterte Fragen.34 Eine zentrale Frage ist, ob der neuropsychologischen Ebene ein kausaler Vorrang vor der Dogmatik zukommt. Entwickeln sich also zuerst die Mechanismen, die dann von der Rechtsdogmatik expliziert werden, oder vice versa? Der erste Fall wäre wissenschaftlich ungleich spannender. Für ihn spricht, dass viele Forscher diese Mechanismen sowie retributive Intuitionen und Emotionen (oder jedenfalls Prädispositionen zu ihnen) für angeboren erachten.35 Inwieweit dies zutrifft und welche Rolle kulturelle Überformungen spielen, soll angesichts der bekannten Schwierigkeiten, das Naturwüchsige vom Gesellschaftlichen zu trennen, hier offenbleiben. Festzuhalten ist jedoch, dass retributive Intuitionen weit verbreitet sind, die Alltagsmoral und gewöhnliche Handlungsmuster, zwischenmenschliche Beziehungen wie Gruppenkonflikte prägen. In vielen kulturellen Artefakten, Romanen und Filmen kommt ein intrinsischer Wert von Strafe zum Ausdruck; erfolgreiche Vergeltung ruft Sympathie hervor. Verhaltensökonomische Experimente zeigen, dass unbeteiligte Dritte bereit sind, erhebliche eigene Kosten auf sich zu nehmen, um Normverletzende zu bestrafen, auch wenn damit keine weiteren positiven Effekte verbunden sind.36 Prototypische Formen solcher Bestrafungen finden sich bei Kindern.37 Ekel und Wut und ihre 33

Einige vermuten, solche Grundmechanismen seien angeboren, ggf. analog zu Sprachkompetenzen (gemäß der These Chomskys). Neben einer Universalgrammatik der Sprache könnte es also eine der Moral geben, Mikhail, Moral Grammar and Intuitive Jurisprudence. In: Bartels (Hrsg.), Psychology of Learning and Motivation: Moral Judgment and Decision Making, (Bd. 50). Elsevier, 2009, 27 – 100. 34 Aus solchen Mechanismen die Grundlage für Menschenrechte abzuleiten versucht Mikhail, Moral Grammar and Human Rights: Some Reflections on Cognitive Science and Enlightenment Rationalism. In: Goodman/Jinks/Woods (Hrsg.), Understanding Social Action, Promoting Human Rights. Oxford University Press, 2012. 35 Die evolutionäre Herausbildung eines Strafinstinkts untersucht (und vermutet) etwa Prooijen, (Fn. 23). Ähnlich Cushman, Punishment in Humans: From Intuitions to Institutions: Punishment: Intuitions and Institutions. Philosophy Compass 10 (2), 2015, 117 – 133. 36 Fehr/Gächter, Altruistic punishment in humans. Nature 415, 2002, 137 – 140. 37 Dazu McAuliffe/Jillian/Warneken, Costly third-party punishment in young children. Cognition 134, 2015, 1 – 10; Bregant/Shaw/Kinzler, Intuitive Jurisprudence: Early Reasoning

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Handlungstendenzen scheinen zum emotionalen Grundrepertoire des Menschen zu gehören. Folglich ist davon auszugehen, dass sich diese Mechanismen ontogenetisch herausbilden, bevor Konzepte wie Verantwortlichkeit und die Bedeutung einzelner Merkmale wie Vorsatz reflexiv beurteilt werden können. In der Entwicklung des eigenen Denkens gehen diese Mechanismen dem bewussten Nachdenken über Strafe also voraus.38 6. Rationalisierung & Deliberation Retributive Intuitionen entstehen also angesichts konkreter Fälle, in ihnen drückt sich ein „Gerechtigkeitsgefühl“ über den Einzelfall aus. Aus dem wiederholten Erleben solcher Intuitionen bildet sich die allgemeine Überzeugung, Vergeltung „müsse sein“, was wiederum ihre Rechtfertigung voraussetzt – RÜ ist entstanden.39 Hier beginnt die deliberative und diskursive Phase, in der Überzeugungen hinterfragt, getestet, verworfen und neu begründet werden. Dies führt mitunter zur Aufgabe von RÜ, vielfach scheint sich RÜ dadurch aber zu verfestigen. Nur letzteres ist hier von Interesse, also retributive Überzeugungen, die eine deliberative Phase überstanden haben. Obgleich diese Phasen psychologisch individuell unterschiedlich sind und obwohl man aus unterschiedlichen Gründen an RÜ festhalten mag, kann die Psychologie etwas über in dieser Phase typischerweise auftretenden Vorgänge besagen. Ihr Blick liegt quasi auf der Unterseite der inhaltlichen Debatten. Vor allem eines ist beachtlich: Die retributive Intuition kann in der deliberativen Phase auf verschiedene Weise weiterwirken und RÜ stützten. So wird im Allgemeinen das für überzeugend gehalten, was mit Intuitionen und Emotionen übereinstimmt, mit ihnen resoniert: Feeling is believing.40 Dissonanzen zwischen Intuitionen und Überzeugungen werden hingegen vermieden. Eine Reihe von Studien zeugen von der Stärke speziell retributiver Intuitionen. Ein bemerkenswerter Befund ist etwa, dass retributive Intuitionen das Verhalten auch dann beeinflussen können, wenn Personen RÜ für falsch halten. So orientieren sich Probanden bei der Zumessung von Strafe an retributiven Gesichtspunkten, etwa bzgl. relevanter Kriterien und der Strafhöhe, gleichzeitig begründen sie ihre Entscheidung aber konsequentialisabout the Functions of Punishment: Intuitive Jurisprudence. Journal of Empirical Legal Studies 13 (4), 2016, 693 – 717. 38 Auch wenn sublime Geister solche niederen Instinkte nicht an sich zu erkennen vermögen, bedeutet dies nicht, dass das Denken von ihnen frei ist. Sie können in besonderen Situationen zum Vorschein kommen, etwa in Konflikten, Krisen oder bei Überlastung – immer dann, wenn System 2 sie nicht überschreiben kann. 39 Übergänge von Intuitionen zu Überzeugungen sind, je nach Begriffsverständnis, fließend. Einzelheiten sind hier unerheblich. 40 Etwa: Nichols, Sentimental Rules: On the Natural Foundations of Moral Judgment. Oxford University Press, 2004; Frijda et al., The influence of emotions on beliefs. In: Frijda et al. (Hrsg.), Emotions and beliefs: how feelings influence thoughts, Studies in emotion and social interaction. Cambridge University Press 2000, 1 – 10.

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tisch.41 Handlung und Begründung fallen also auseinander. Wie ist das möglich? Die Charakteristika retributiver Intuitionen vermögen diese Diskrepanz zu erklären: Intuitionen schlagen eine Bewertung vor, ohne die ihr zugrundeliegenden Ursachen offenzulegen, diese bleiben opak. Die Probanden handeln gemäß ihren Intuitionen. Auf Nachfrage versuchen sie, ihr Handeln zu begründen. Da sie die Ursachen der Intuition nicht introspektiv erkennen können, führen sie die ihnen am besten erscheinende Theorie an (häufig offenbar eine konsequentialistische). Ihr Verhalten aber wurde durch die retributive Intuition geprägt, sie erklärt es jedenfalls besser als die Selbstauskunft. Intuitionen besitzen also die Kraft, das Verhalten zu beeinflussen und zu irrigen Selbstverständnissen zu verführen. Das zeugt von ihrer Wirkmächtigkeit. Am deutlichsten kommt diese wohl dort zum Vorschein, wo relative Strafzwecke nicht greifen. Die (etwas konstruierten) Lehrbuchfälle betreffen etwa vor der Öffentlichkeit verborgen bleibende Taten, die von Tätern begangen werden, die keine künftige Gefahr darstellen. In solchen Fällen mangels relativer Zwecke nicht zu strafen wird regelmäßig – auch von Konsequentialisten – als falsch erlebt. Prägnant hat dieses Phänomen eine Studie von Aharoni herausgearbeitet. Studierenden wurden ebensolche Sachverhalte vorgelegt und gebeten, die Schwere der Tat sowie das ob und wie der Bestrafung zu beurteilen. Fast alle befürworteten Strafe. Sie wurden sodann nach den Gründen für ihr Urteil befragt. Nach und nach legten die Forscher bei jedem angeführten Grund (zutreffend) dar, warum er im konkreten Fall nicht greift. Dabei verfolgten sie das Ziel, Probanden zur Aufgabe ihrer Strafe befürwortenden Antwort zu bewegen. Interessanterweise gelang dies nur in rund 10 % der Fälle; mehr als 70 % der Probanden hielten an der Bestrafung fest. Die Pointe: Probanden taten dies auch noch dann, wenn sie keine Gründe mehr für Bestrafung angeben konnten. Zusammenfassend schreiben die Autoren: „These findings lend … support to the theory that such punishment is driven primarily by retribution; however, this stance we call retribution may be better explained by heuristic processes rather than by abstract moral principles.“42 Diese Studie zeugt von einer Eigenschaften retributiver Intuitionen, die hier als ihre Störrigkeit bezeichnet sei (recalcitrant emotions): Auch im Lichte bessere Gründe verschwinden sie nicht. Ein irrationaler Zug.43 Psychologisch fügt sich die Störrigkeit von Intuitionen in allgemeinere Phänomene ein: Motiviertes Denken, Rationalisierung, Dissonanzvermeidung. Im Allgemeinen wird eine einmal gebildete Ansicht nicht leicht wieder aufgegeben, sondern eher 41

Carlsmith, On Justifying Punishment: The Discrepancy Between Words and Actions. Social Justice Research 21 (2), 2008, 119 – 137. 42 Aharoni/Fridlund, Punishment without reason: Isolating retribution in lay punishment of criminal offenders. Psychology, Public Policy, and Law 18 (4), 2012, 599 – 625, Zitat auf S. 618. Die Studie ist angelehnt an eine andere, die ein vergleichbares Insistieren auf moralische Wertungen ohne Gründe zeigte, Haidt/Björklund/Murphy, Moral dumbfounding: when intuition finds no reason. Lund psychological reports. Department of Psychology, Lund University, 2000. 43 Brady, The irrationality of recalcitrant emotions. Philosophical Studies 145 (3), 2009, 413 – 430.

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verteidigt und post hoc rationalisiert. „Rationalisierung“ meint das einseitige „Denken vom Ergebnis her“, welches Juristen als anwaltliche Berufsdenkrichtung vertraut ist. Viele Studien zur Verantwortungszuschreibung (bei Laien) zeigen, dass die initiale retributive Intuition die anschließende Bewertung von relevanten Merkmalen präjudiziert. Es wird versucht, das getroffene Urteil aufrechtzuerhalten – einige Psychologen nennen dies blame validation.44 Ein entsprechendes Phänomen, der Sprung von der spontanen Bewertung eines Sachverhalts zum Ergebnis des Falles, welches die erst im Anschluss vorgenommene Prüfung der Tatbestandsmerkmale beeinflusst, ist aus jedem Anfängertutorium im Strafrecht bekannt.45 Der Forschung zufolge ist diese Form des Denkens weit verbreitet, auch wenn sie Denkenden nur selten bewusst wird, sie vollzieht sich unter einer „Illusion der Objektivität“.46 Betroffene halten sich für unvoreingenommen und ergebnisoffen, auch wenn sie bloß eine bereits gefasste Meinung rationalisieren.47 Man mag einmal an sich selbst beobachten, wie häufig man die eigene Meinung ändert, als wie stark man den inneren Widerstand gegen die Aufgabe einer einmal bezogenen Position erlebt, und wie sich diese psychologische Revisionsfestigkeit zur Qualität der ursprünglichen Überzeugungsbildung verhält.48 Bemerkenswerterweise scheinen übrigens Menschen mit höheren kognitiven Fähigkeiten verstärkt zu Rationalisierungen zu neigen.49 Die Philosophen Schwitzgebel und Ellis ziehen aus der aktuellen Rationalisierungsforschung folgenden Schluss: „It is untenable, we think, for a philosopher or scientist to maintain with confidence that his or her moral or philosophical reasoning is not substantially impacted by rationalization. […] We invite you to consider the possibility that the ethical and philosophical reasoning of even the very best philosophers is rife with rationalization.“50

Und die Psychologin Sood beschließt ihr umfangreiches Review zu motiviertem Denken im Recht:

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Alicke (Fn. 24). Leider sind die psychologischen Entwicklungen durch das Jura Studium nicht untersucht. Das Insistieren auf dem Subsumtionsstil ist vermutlich eine System 2 Aktivierung. 46 Stanley et al., Reasons Probably Won’t Change Your Mind: The Role of Reasons in Revising Moral Decisions. Journal of Experimental Psychology, 2018, 962 – 987. 47 Sood, Motivated Cognition in Legal Judgments – An Analytic Review. Annual Review of Law and Social Science 9 (1), 2013, 307 – 325; Pronin/Lin/Ross, The bias blind spot: Perceptions of bias in self versus others. Personality and Social Psychology Bulletin 28 (3), 2002, 369 – 381. 48 Es ist gewiss nicht irrational, an einer wohlüberlegten Ansicht festzuhalten. Doch Rationalisierungen betreffen flüchtig gebildete Ansichten, vgl. Haidt (Fn. 16). 49 Kahan, Ideology, motivated reasoning, and cognitive reflection. Judgment and Decision Making 8 (4), 2013, 18; West/Meserve/Stanovich, Cognitive sophistication does not attenuate the bias blind spot., Journal of Personality and Social Psychology 103/3 (2012), 506 – 519. 50 Schwitzgebel/Ellis, Rationalization in moral and philosophical thought. In: Bonnefon/ Trémolière (Hrsg.): Moral inferences, Current issues in thinking and reasoning. Routledge, 2017, 170 – 182. 45

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„In stark contrast to the blindfolded ideal of the Goddess of Justice holding up her objective scales, legal decision makers may engage in judgment processes with imbalanced scales, blinded only to their own biases. Unaware of the legally extrinsic factors that are motivating their cognitive functioning, they might believe they are engaging in neutral perceptions, evaluations, and reasoning—and most significantly, the legal system seems to assume so as well. With the fallibility of these assumptions having been demonstrated, it is essential for experimental researchers to now turn their focus toward remedying the covert operation of motivated cognition in legal judgments.“51

Für die Psychologie steht die Wirksamkeit von Intuitionen und Rationalisierungen im Recht demnach nicht in Frage. Zusammenfassend: Retributive Intuitionen werden angesichts von konkreten Fällen spontan und automatisiert durch System 1 Mechanismen erzeugt. Sie sind in der Regel stark und störrisch. Aus ihnen bilden sich retributive Überzeugungen. Desweiteren motivieren sie das Festhalten an diesen, auch durch post hoc Rationalisierungen, und mitunter selbst dann, wenn keine Gründe für die Überzeugung mehr angeführt werden können.52 Gleichwohl ist dies kein unüberwindbarer Vorgang: Viele Menschen verwerfen ihre retributiven Neigungen. Doch bei allen, die dieses nicht tun, können diese Vorgänge entscheidenden Einfluss haben. Man mag einwenden, dieses Modell sei zu simplistisch und betreffe allenfalls folk psychology, nicht die Überzeugungsbildung von Experten. Gewiss liefert es keine umfängliche Beschreibung von Überzeugungsbildungsprozessen. Dennoch ist unwahrscheinlich, dass rechtsphilosophisches Denken von solchen Gravitationskräften frei ist. Zum einen schneiden Experten in Studien häufig nicht deutlich besser als Laien ab, schätzen sich aber deutlich besser ein.53 Dies führt zu overconfidence und dem sog. bias blind spot.54 Zum anderen liefern Auffälligkeiten der Debatte um Vergeltung Hinweise auf die Wirksamkeit solcher Vorgänge. Dazu später; für die folgende normative Erörterung kommt es auf darauf nicht an. Es reicht, dass einige retributive Überzeugungen maßgeblich durch Zusammenspiel von Intuition und Rationalisierung zustandekommen. Bei Laien, mit denen die meisten Studien durchgeführt wurden, dürfte dies der Regelfall sein; und damit sind wenigstens weite Teile der öffentlichen Meinung vom folgenden Argument betroffen.

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Sood (Fn. 48). So etwa auch Prooijen (Fn. 24), S. 75. 53 Schwitzgebel/Cushman, Expertise in Moral Reasoning? Order Effects on Moral Judgment in Professional Philosophers and Non-Philosophers. Mind & Language 2012, 135 – 153; Wistrich/A. Rachlinski/J. Rachlinski, Implicit Bias in Judicial Decision Making: How it affects judgment and what judges can do about it. In: Redfield (Hrsg.), Enhancing Justice. American Bar Association 2018, 87 – 130. 54 Pronin/Lin/Ross (Fn. 47); West/Meserve/Stanovich (Fn. 49). 52

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III. Zur normativen Prämisse (iii) 1. Normativer Maßstab Wenden wir uns nun der normativen Prämisse (iii) zu. Ihr zufolge sind einige Überzeugungsbildungsvorgänge epistemisch unzuverlässig, mit der Konsequenz, dass ihren Resultaten nicht zu trauen ist. Dies setzt Kriterien zur Beurteilung der Zuverlässigkeit von Überzeugungsbildungsprozesse voraus. Wie lassen sie sich finden und begründen? Am einfachsten wäre ein an die Naturwissenschaften angelehntes Vorgehen: Überzeugungsbildungsprozesse wären empirisch daraufhin zu überprüfen, ob sie regelmäßig richtige Ergebnisse liefern (so wie man etwa die Tauglichkeit eines neuen Messgeräts prüfen würde). Voraussetzung dafür ist jedoch die Kenntnis richtiger Ergebnisse, und zwar aus unabhängigen Gründen. Das ist bei rechtsphilosophischen Kontroversen nicht gegeben. Alternativ lassen sich Verfahrensvoraussetzungen für Überzeugungsbildungsprozesse aufstellen. Einige prozedurale normative Theorien wie die Diskurstheorie tun genau das; sie erklären das Einhalten der Prozedur zur notwendigen Bedingung der Richtigkeit des Ergebnisses. Allerdings werden sich für rechtsphilosophische Ansichten solche prozeduralen Richtigkeitsbedingungen kaum finden lassen. Debunking-Argumente setzen solche nicht voraus, denn sie sind schwächer: Sie präsupponieren nicht, dass das Einhalten einer bestimmten Prozedur die Richtigkeit eines Ergebnisses notwendig ist, sondern nur, dass bestimmte Verfahrensfehler die Möglichkeit richtiger Ergebnisses deutlich verringern. Das Urteil des würfelnden Richters ist demnach nicht deswegen falsch, weil Würfeln ein per se unzulässiges Verfahren ist, sondern weil es häufig unzutreffende Ergebnisse liefert. Debunking ist ein epistemisches Argument. Die Strategie im Folgenden ist daher, Kriterien für gute bzw. schlechte rechtliche Argumente zu identifizieren. Diese wiederum haben psychologische Voraussetzungen, anhand derer konkrete Überzeugungsbildungsprozesse beurteilt werden können. Was sind diese Kriterien? Sie können sich nach Thema und Ebene des Arguments, nach Recht und Philosophie unterscheiden. Gegenwärtiges Interesse gilt der Rechtfertigung von Vergeltung als staatlicher Strafzweck in westlich-liberalen Rechtsordnungen. Somit ist weder eine rein moralphilosophische Ebene, noch die des positiven Rechts entscheidend, sondern so etwas wie eine rechtsprinzipielle.55 Auf dieser wirken allgemeine Rechtsgrundsätze, Kerngehalte der Menschenrechte und Grundsätze eines fairen Verfahrens, v. a. das Recht auf Gehör, die faire Verteilung von Begründungslasten sowie die Unvoreingenommenheit des Urteilenden. Verstöße gegen letztere stellen nicht allein Verletzungen prozessualer Rechte dar (die auf dieser prä-positiven Ebene nicht vorauszusetzen sind), sondern widerlaufen epistemischen Bedingungen überzeugender rechtlicher Argumente: Verfahren, in denen nicht alle Seiten gehört werden, liefern regelmäßig keine guten Ergebnisse, auditatur et altera pars. 55 Ob sie eine rechtsprinzipielle ist, liegt daran, was genau ein Rechtsprinzip ausmacht. Dies sei hier offengelassen. Jedenfalls muss diese Ebene auch außerrechtliche Erwägungen, etwa meta-ethischer Art, berücksichtigen können (s. u.).

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Diese Verfahrensgrundsätze werden hier als ins Recht eingeschriebene epistemische Kriterien verstanden. Nicht bloß unerhebliche Verstöße gegen sie lassen an der Richtigkeit des Ergebnisses ernste Zweifel aufkommen. Somit lässt sich der Begriff der Unzuverlässigkeit in Prämisse (iii) so fassen: Prämisse (iii*): Unzuverlässig ist ein Überzeugungsbildungsvorgang, wenn er epistemischen Kriterien allgemeiner Verfahrensgrundsätze in nicht nur unerheblichem Maße widerläuft.

Im Grundsatz entspricht dies der Wertung im Verfahrensrecht: Bei groben Verstößen sind Entscheidungen prozedural fehlerhaft.56 Die im Folgenden zu erörternde Frage ist nun, ob sich mit diesem Grundbestand an Normen Interessantes über Überlegungsbildungsprozesse aussagen lässt. Einzunehmen ist die Perspektive eines Richters, dem auf der Suche nach dem besten Argument alle Gründe für und wider den Retributivismus vorgelegt werden. Am Ende muss er eine Entscheidung treffen, die erga omnes wirkt. Der relevante Maßstab liegt im besten Argument, d. h. in der Position, für welche die besten Gründe sprechen, all-things-considered. Was genau Gründe besser als andere macht, kann selbst zum Gegenstand der Debatte werden.57 Da in dieser Frage jedenfalls prima facie gute Gründe für beide Seiten, also für und wider Vergeltung sprechen, und auch der jahrzehntelange Austausch unter Gelehrten kein Ergebnis hervorbrachte, können epistemische Erwägungen entscheidungserheblich werden. 2. Retributive Intuitionen & Straftheorien Diese vorpositive Ebene kann zudem nicht frei von allgemeinen Erwägungen der Ethik und der politischen Philosophie bleiben. Insbesondere die hier relevanten Meta-Fragen, ob Emotionen in Rechtfertigungen eine Rolle spielen dürfen oder wie sich Gründe zu Ursachen verhalten, kann das Recht nicht aus eigener Kraft beantworten. Es muss auf philosophische Überlegungen zurückgreifen. Sie fundieren Rechts- und Verfassungsprinzipien und werden zugleich durch jene beschränkt. Daher lässt sich also nicht jeder emotionale oder intuitive Einfluss auf Überzeugungen a limine als unzulässig zurückweisen. Dies wäre zu begründen. In der (Meta-) Ethik werden dazu verschiedene Theorien vertreten, die auch in der Straftheorie Nachhall gefunden haben. Sie lassen sich grob in drei Klassen unterteilen: Einige Straftheorien nehmen ausdrücklich affirmativen Bezug auf retributive Intuitionen, etwa durch Variationen folgender Aussage: Weil der Mensch retributive Emotionen 56 Genauer auszuarbeiten wäre der Schwellenwert der Zuverlässigkeit. Kaum erhellend wäre es, alle non dealen psychischen Bedingungen als unzuverlässig auszuweisen. Es muss sich demnach um erhebliche Abweichungen handeln. 57 Eine Vorfestlegung sei hier getroffen: Auf die Frage, ob retributive Strafe gerechtfertigt ist, existiert keine vom menschlichen Denken unabhängige Antwort als Faktum der Welt. Das Recht ist ein soziales Konstrukt. Dies schließt die Richtigkeit eines moralischen Realismus nicht aus. Doch auch dann wären moralische Normen nicht automatisch rechtliche, sondern nur eine von mehreren zu berücksichtigenden Tatsachen.

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verspürt (sie gar in seiner Natur liegen), soll das Recht ihnen entsprechen bzw. könne sich ihnen nicht entziehen (Strawson)58. Oder sentimentalistisch: Moralische Urteile beruhen auf Emotionen und sind deswegen notwendigerweise Teil von Strafbegründungen (jüngst Shaun Nichols).59 Schließlich intuitionistisch, etwa im Stile Michael M. Moores: Es sei self-evident, unmittelbar einsichtig, dass Straftäter Vergeltung verdienen.60 Viele klassische retributive Theorien hingegen meiden solche Bezugnahmen. Manche erwähnen Strafbedürfnisse in Abgrenzung – die eigene Position beruhe gerade nicht auf Gefühlen, sondern auf Gründen (Rationalismus). Eine Spielart ist die These, Gründe und Ursachen lägen auf unabhängigen Ebenen; emotional beeinflusste Urteile seien schlicht keine genuinen moralischen (eine kantianische Position). Diese Theorien könnten durch den empirischen Nachweis, dass die Genese von Überzeugungen in sie auf emotionalen Prozessen beruht, in Bedrängnis gebracht werden. Dies wäre in gewisserweise self-defeating. Andere klassische Vergeltungslehren legen sich zur Rolle von Emotionen nicht fest, in ihrem Argument tauchen Strafbedürfnisse o. ä. nicht auf (etwa sozialvertragliche Begründungen). Bei ihrer Rechtfertigung werden die o. a. Zuverlässigkeitskriterien relevant. Dies gilt auch für die zunächst neutrale Position, nach der Intuitionen und Emotionen zulässige Eingaben in eine umfassende Abwägung sind, in der sie im Lichte zahlreicher anderer Erwägungen bestätigt oder verworfen werden (so ein weites Rawlsches Überlegungsgleichgewicht).61 Dies sind die wesentlichen Theorieoptionen, die in der Ethik in unzähligen Verästelungen ausgebaut wurden. Sie beurteilen Zulässigkeit und Zuverlässigkeit von Emotionen und Intuitionen unterschiedlich, und keine dieser Theorien kann ohne weitere Begründung verworfen werden. Das Recht geriert sich traditionell als rationalistisch. Zum Ausdruck kommt dies in Dicta wie lex est ratio summa, law as the artifical perfection of reason oder der Idee des Vernunftrechts, welche die Entwicklung des Rechts über Jahrhunderte prägten.62 Betont wird die Rationalität der Überzeugungsbildung, hierzulande mit subjektivistischen Freiräumen, etwa im Rahmen der richterlichen Überzeugungsbildung.63 Die dort mitunter zum Ausdruck kommende Betonung der Rationalität samt einer Geringschätzung von Emotionen und Intuitionen dürfte jedoch oft legitimitätswahrende

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Strawson (Fn. 3). Nichols (Fn. 6). 60 Moore, Justifying Retributivism. Israel Law Review 27 (1 – 2), 1993, 15 – 49. 61 Daniels, Wide Reflective Equilibrium and Theory Acceptance in Ethics. The Journal of Philosophy 76 (5), 1979, 256. 62 Die Zitate stammen von Cicero, De legibus, I. vi. 18 sowie Sir Edward Coke, beide zitiert nach Sellers, Law, Reason, Emotion. In: Sellers (Hrsg.), Law, Reason, and Emotion, Cambridge University Press, 2017, 11 – 31. 63 Ausführlich: Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß: Rationalität und Intuition. Mohr Siebeck 2015. 59

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Rhetorik darstellen, mehr Behauptung als empirische Feststellung.64 Denn: jenseits des Ausschlusses von Partikularismen und willkürlich Subjektivem ist alles andere als klar, zu welchem Maße streng rationalistische normative Entscheidungen überhaupt möglich sind, insbesondere bei vorpositiven (Wert-)Fragen. Es ist ja gerade die zentrale These von Intuitionisten und Sentimentalisten, dass tiefere normative Begründungen ohne entsprechende Einflüsse nicht zu haben seien. Für Intuitionisten gründet alles Normative letztlich auf Aussagen folgender Art: Menschen Schmerzen zuzufügen sei prima facie schlecht, Gleichheit sei gut, Kohärenz rechtfertigend. Solche Sätze ließen sich nicht weiter begründen, nur intuitiv einsehen. An ihnen biegt sich – im Bild Wittgensteins – der Spaten der Begründung zurück: Tiefer lässt sich nicht graben. Ohne Intuitionen drohen sich alle Begründungen in infiniten Regressen zu verlaufen. Pointiert: Entweder Intuitionismus oder (moralischer) Skeptizismus. Vielleicht beginnt die moderne Verfassungsgeschichte nicht zufällig mit den Worten: We hold these truth to be self-evident … Für Sentimentalisten sind Emotionen der menschliche Zugang zu Werten, etwa weil sie auf das Richtige hinweisen oder moralische Urteile konstituieren. In Nietzsches Worten (aber ohne seine Polemik): Die Moral ist die Zeichensprache der Affekte.65 Ohne sie, rein rationalistisch, bliebe die Welt der Werte verschlossen. Sentimentalistische Ansätze erleben durch die Auflösung der Dichotomie von Vernunft und Gefühl und durch empirische Zusammenhänge von moralischen und emotionalen Defiziten derzeit eine Konjunktur.66 Und wenn das oben skizzierte neuropsychologische Modell zutrifft, sind emotionale Prozesse an normativen Bewertungen von Handlungen stets beteiligt. Beide Theoriefamilien gehen davon aus, dass Intuitionen oder Emotionen den Boden der Normativität bilden. Das rationalistische Selbstverständnis des Rechts ist auf dieser Ebene also zu hinterfragen; intuitionistische und emotionale Einflüsse lassen sich jedenfalls nicht ex cathedra als epistemisch unzuverlässig zurückweisen.

IV. Zuverlässigkeit und Ätiologie retributiver Intuitionen 1. Retributive Intuitionen Im Lichte dieser (noch zu präzisierenden) Kriterien sollen nun typisierte Entstehungsprozesse retributiver Überzeugungen betrachtet werden, beginnend mit der einfachen Intuition. Es mag selbstverständlich erscheinen, dass Täter wie Harris 64 Einige sprechen auch von einem „kulturellen Skript“ der emotionsfreien Justiz, etwa Mindus, The Wrath of Reason and The Grace of Sentiment: Vindicating Emotion in Law. In: Sellers (Fn. 62). Die empirische Literatur zu richterlichen Entscheidungen stützt eine stark rationalistische Sicht nicht, etwa Wistrich/Rachlinski, Heart Versus Head: Do Judges Follow the Law or Follow Their Feelings. Texas Law Review 93, 2015, 855 – 923. 65 Nietzsche (Fn. 5). 66 Siehe nur: Prinz (Fn. 26).

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Strafe verdienen. Als Begründung für die Zulässigkeit von Strafe reichen entsprechende Intuitionen aber nicht aus. Warum nicht? Man mag antworten, Menschen hätten eben divergierende Intuitionen, weswegen diese zur Begründung allgemeiner Prinzipien ungeeignet seien. Doch bei kulturübergreifend geteilten, robusten Intuitionen wie der retributiven verfängt dieser Einwand nicht. In den vergangenen Jahren ist der Intuitionismus v. a. durch psychologische Studien unter Druck geraten, die ihre Anfälligkeit für moralisch irrelevante Faktoren zeigen.67 Am Harrisfall lässt sich dies exemplifizieren: Harris wurde als Frühchen geboren, da sein Vater seine Mutter verprügelte. Beide waren Alkoholiker und fremdelten mit ihrem Sohn, es gab keinen körperlichen Kontakt. Seine als verzweifelt beschriebene Suche nach Nähe blieben unerwidert, auch wurde er wiederholt missbraucht.68 Schon diese knappe Schilderung lässt retributive Intuitionen spürbar verblassen. Der irrationale Zug liegt darin, dass die Reihenfolge der Schilderung von Tat und Biographie diese Intuition unterschiedlich verändert (ein sog. order-effect).69 Sachlich müsste die Wirkung pfadunabhängig sein, psychologisch ist sie es offenbar nicht. An der Anfälligkeit für solche „irrelevanten Faktoren“ entspinnt sich die gegenwärtige philosophische Debatte über Intuitionen.70 Doch im Folgenden seien andere epistemische Probleme speziell der retributiven Intuition herausgearbeitet. Eine betrifft die spärliche Datengrundlage, auf der sie gebildet wird. Als System 1 Prozess hat der auslösende Mechanismus weder Zugriff auf große Teile des Wissens der Person, noch auf höherstufige kognitive Prozesse wie kontrafaktisches Denken. Und noch grundsätzlicher zeigt das neuropsychologische Modell, dass der Mechanismus hinter der Intuition keine Gründe für und wider retributive Strafe berücksichtigt, sondern bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen die Intuition auslöst. Mangels Auseinandersetzung mit relevanten Gründen und Gegenargumenten kann das Haben der Intuition also keine Überzeugung rechtfertigen. Zudem steht die objektiv unzureichende Grundlage in bemerkenswertem Kontrast zur Gewissheit, mit der die retributive Intuition erscheint: firm, nicht vorläufig. Angesichts der Datengrundlage ist dieser Gewissheitsgrad überzogen. Die Intuition verführt also zu übersteigertem Vertrauen in die Richtigkeit ihres Inhaltes. Das ist epistemisch bedenklich. 67

Maßgeblich: Sinnott-Armstrong, Moral Intuitionism Meets Empirical Psychology. In: Timmons/Horgan (Hrsg.), Metaethics after Moore, 2006, 339 – 365. Vgl. auch Tersman, The reliability of moral intuitions: A challenge from neuroscience. Australasian Journal of Philosophy 86 (3) 2008, 389 – 405; Paulo, Moral Intuitions between Higher-Order Evidence and Wishful Thinking. In: Klenk (Hrsg.), Higher-Order Evidence and Moral Epistemology. Routledge (forthcoming). 68 Auch hierzu die Schilderung von Watson (Fn. 14). 69 Dieser Punkt ist wird in der phil. Literatur als gegeben angenommen, speziell mit Blick auf retributive Emotionen scheint er noch nicht experimentell nachgewiesen, siehe Olatunji/ Puncochar, Delineating the Influence of Emotion and Reason on Morality and Punishment. Review of General Psychology 18 (3), 2014, 186 – 207. Generell: Wiegmann/Okan/Nagel, Order effects in moral judgment. Philosophical Psychology 25 (6), 2012, 813 – 836. 70 Greene, Beyond Point-and-Shoot Morality: Why Cognitive (Neuro)Science Matters for Ethics. Ethics 124 (4), 2014, 695 – 726 (dt. Übersetzung in Paulo/Bublitz, Fn. 1).

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Trügerisch ist die Intuition auch in der Hinsicht, dass ihre Nicht-Inferentialität eine inhaltliche Unbedingtheit suggeriert. Die Intuition erscheint als etwas, das nicht durch Anderes bedingt ist und folglich auch nicht durch Anderes verändert werden kann. Dies lässt die Idee absoluter, von weiteren Erwägungen gelöster Strafzwecke, plausibel erscheinen. Allerdings liegen jeder Intuition Berechnungen und Bedingungen zugrunde, nur bleiben sie introspektiv uneinsichtig. Diese Uneinsichtigkeit wird als Unbedingtheit fehlgedeutet. Auch das ist ein epistemischer Fehler. Somit drängt die Offenlegung des Mechanismus hinter der Intuition auf ihre Rechtfertigung: Ist eine retributive Reaktion auf Grundlage der wenigen verarbeiteten Informationen gerechtfertigt? Der Intuitionist kann sich auf diese Frage einlassen und die Reaktion rechtfertigen – doch dann benötigt er die Intuition nicht mehr, der Regress geht weiter. Oder er bestreitet ihre Rechtfertigungsbedürftigkeit, denn dass Intuitionen prima facie zutreffen, ist ja Kernthese des Intuitionismus. Sie verliert angesichts der Diskrepanz zwischen Input und Output jedoch an Plausibilität. Als Ausweg verbleibt in solchen Fällen auch für Intuitionisten nur das Senken ihrer argumentativen Kraft. Intuitionen stehen dann vielleicht noch im Rang widerlegbarer Vermutungen.71 Das ist eine erhebliche argumentative Schwächung: We hold these claims to be defeasible seemings … 2. Deliberative Phase – Rationalisierungen Hier interessierende Überzeugungen werden freilich nicht bloß auf Intuitionen gestützt, sondern durch Erwägen von Gründen gebildet. Dabei werden Gegenargumente berücksichtigt. Verschafft dieser Vorgang epistemische Rechtfertigung? Voraussetzung wäre die ergebnisoffene Deliberation. Hier erlangt die Störrigkeit der Intuition Bedeutung. Wenn, wie in der Studie von Aharoni, Überzeugungen bei besseren Gründen für ihr Gegenteil nicht aufgegeben werden, sind sie nicht reason-responsive und widerlaufen einem Gebot der Rationalität: Überzeugungen sind im Lichte besserer Gründe zu revidieren. Ein störrischer Überzeugungsbildungsprozess ist zum Finden der am besten begründeten Position ungeeignet. Rechtlich lässt sich diese Kraftlosigkeit von Gründen etwa im Lichte des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs problematisieren. Dieser verlangt die Würdigung des Gehörten, und zwar auf eine Weise, die eine Beeinflussung der Entscheidung ermöglicht. In den Worten des BVerfG: „Der Anspruch auf rechtliches Gehör fordert, dass das erkennende Gericht die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis nimmt und in Erwägung zieht. Maßgebend für diese Pflichten des Gerichts ist der Gedanke, dass der Verfahrensbeteiligte Gelegenheit haben muss, durch einen sachlich fundierten Vortrag die Willensbildung des Gerichts zu beeinflus71 So etwa Van Roojen, Moral Intuitionism, Experiments, and Skeptical Arguments. In: Booth/Rowbottom (Hrsg.), Intuitions, Oxford University Press 2014, 148 – 164. Das Argument betrifft nicht alle Intuitionen, insbesondere nicht erlernte und durch Feedbackschliefen verfeinerte.

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sen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Rechtsfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben“.72

In diesen Worten klingt das hier vorgeschlagene Verständnis epistemischer Unzuverlässigkeit an. Möglicherweise überzeichnet die Studie von Aharoni die Störrigkeit retributiver Intuitionen. Doch auch schwächere Einflüsse von Intuitionen auf Deliberationen sind nicht unproblematisch, etwa die (unbemerkt) einseitige Suche nach intuitionsstützenden Gründen. Dann mag es für gegenläufige Gründe zwar prinzipiell möglich sein, sich durchsetzen, doch müssen diese schon von erheblichem Gewicht sein. Im Allgemeinen verbleiben Rationalisierungen innerhalb der Grenzen des prima facie Vertretbaren. Nicht alles lässt sich rationalisieren. Beispiele finden sich in den bereits erwähnten Studien zu blame validation: Die Auslegung von Tatbestandsmerkmalen wird gemäß der initialen Intuition bis zu ihren Grenzen gedehnt, aber nicht überschritten. Eine ähnliche Form der Rationalisierung dürfte auf viele Straftheorien zutreffen. Am Anfang steht die retributive Intuition, für die sie eine Begründung zu liefern suchen; die Theorie fängt die Intuitionen ein. Dies kann bewusst oder unbewusst geschehen. Häufig gelingt dies nicht, weil die Theorien nicht passgenau, zu breit oder eng sind. Wenn dies aber gelingt dies, entsteht eine als widerspruchsfrei und richtig empfundene Ansicht. Dennoch ist dieses Vorgehen bloß eine Rationalisierung von etwas bereits Feststehendem, intuition chasing, bei dem Kontraintuitives keine Rolle spielt. Deswegen ist ein solches Vorgehen epistemisch bedenklich, es ist einseitig, verleitet zu verfrühten Festlegungen und unzureichender Würdigung des Widersprechenden. (Idealiter müsste mit gleichem Aufwand für kontraintuitive Positionen argumentiert und die Bewertung der Gründe nicht durch Intuitionen beeinflusst werden).73 Folglich verleihen diese Prozesse trotz Deliberation und dem Erwägen von Gegengründen keine Berechtigung, an die Richtigkeit ihrer Resultate zu glauben. Obwohl sich Denker auf einer unvoreingenommenen Suche nach den besten Gründen wähnen, können sie Rationalisierungen unterliegen.

3. Emotionale Einflüsse & Beweislasten Schauen wir schließlich auf epistemisch bedenkliche affektive Faktoren.74 Zu ihnen zählen Beeinträchtigungen kognitiver Prozesse und Fähigkeiten sowie die einseitige emotionale Färbungen von Gründen. Dies gilt insbesondere für sog. „heiße“, also mit starker Erregung (Arousal) einhergehende Emotionen wie Wut und Empö72

St. Rspr., etwa BVerfG NVwZ-RR 2002, 802. Hier liegt der Unterschied zu einem weiten Überlegungsgleichgewicht: Auch dieses versucht aus einzelnen Elementen, zu denen auch Intuitionen zählen, ein Kohärentes Ganzes zu finden. Einzelne Intuitionen werden dabei nicht nur bestätigt, sondern auch verworfen. Dennoch trifft die Kritik an Intuitionen auch die Methode des Überlegungsgleichgewichts, siehe Tersman (Fn. 68). 74 Ein umfassendes Review über den Einfluss von Emotionen auf Strafentscheidungen bei Olatunji/Puncochar, (Fn. 70). 73

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rung. Ein einfaches Beispiel für Effekte ersterer Art: In einer Studie von Nichols und Joshua Knobe wurden Probanden die Eigenschaften einer deterministischen Welt samt Auswirkungen auf die Willensfreiheit geschildert und anschließend der Sachverhalt einer Straftat vorgelegt. Sie wurden gebeten, Freiheit und Strafbarkeit der Protagonisten in jener Welt einzuschätzen. Bei einer Steuerhinterziehung hielten Probanden die Täter mangels Freiheit im Determinismus mehrheitlich für nicht strafbar; bei körperlichem Missbrauch hingegen schon. Der entscheidende Unterschied lag darin, dass Missbrauch stärkere retributive Emotionen hervorrief. Diese machten Probanden offenbar zu Kompatibilisten. Doch da die Frage nach Freiheit jener nach Strafbarkeit logisch vorgeht, interpretieren die Autoren dieses Ergebnis als Folge eines durch retributive Emotionen ausgelösten kognitiven Denkfehlers (performance error).75 In anderen Studien wurden weitere kognitive Beeinträchtigungen durch retributive Emotionen experimentell nachgewiesen.76 Derartige Beeinträchtigungen schlagen auf die epistemische Rechtfertigung so gebildeter Überzeugungen durch. Pointiert formuliert Peter Goldie eine epistemische Wirkung von Emotionen: „[E]motional feelings tend to skew the epistemic landscape to make it cohere with the emotional experience: … we seek out and ,find‘ reasons … that are supposed to justify what is in reality an emotional ascription.“77 Manche Emotionen geben so dem Verstand den Inhalt vor, sie werden zu idées fixes. Im Recht können Emotionen außerdem auf Abwägungen einwirken. Dabei dürfte gelten: Je stärker der emotionale Einfluss, umso schwerer ist es für Gegengründe, sich durchzusetzen. „Gründe mit Gefühlen“ überwiegen also regelmäßig gegenüber solchen ohne affektive Unterstützung. Ein einschlägiges Beispiel ist die affektive Präjudizierung möglicher Reaktionen auf Straftaten: Retributive Intuitionen sinnen auf Heimzahlen, nicht auf Täter-Opfer-Ausgleich. Ein auf Vergeltung zielendes Argument findet daher in retributive Intuitionen Resonanz, ein abolitionistisches hingegen nicht. Normativ lassen sich derartige Einflüsse wohl am besten als Verteilung von Begründungslasten verstehen. Emotionen verschieben diese regelmäßig zu Lasten der Gegenposition. Rechtlich ließe sich eine solche Verschiebung als Voreingenommenheit verstehen. Epistemisch sind so beeinflusste Vorgänge unzuverlässig. Fassen wir zusammen: Die retributive Intuition verleiht keine Rechtfertigung für eine entsprechende Überzeugung. Sie wird auf einer spärlichen Datengrundlage gebildet, die objektiv zur Strafbegründung unzureichend ist, da relevante Erwägungen nicht berücksichtigt werden. Zudem ist sie trügerisch, weil der von ihr vermittelte Grad der Gewissheit häufig überzogen ist und weil ihr (nicht-inferentieller) Schein zu der ungedeckten Annahme verleiten kann, ihr Inhalt gelte bedingungslos. Auch 75 Nichols/Knobe, Moral Responsibility and Determinism: The Cognitive Science of Folk Intuitions, Nous 41 (4) 2007, 663 – 685. 76 Goldberg/Tetlock, Rage and reason: the psychology of the intuitive prosecutor. European Journal of Social Psychology 1999, 15. 77 Goldie, Emotion, Feeling, and Knowledge of the World. In: Solomon (Hrsg.), Thinking about feeling: contemporary philosophers on emotions, Series in affective science, Oxford University Press 2004, 91 – 102, Zitat S. 99.

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nachfolgende deliberative Prozesse sind anfällig für ihre verzerrenden Einflüsse. Die Intuition ist störrisch und wirkt auch dann weiter, wenn sie inhaltlich nicht geteilt wird oder bessere Gründe gegen sie sprechen. Sie motiviert post hoc Rationalisierungen. Außerdem können affektive Prozesse auf Deliberationen einwirken, kognitive Fähigkeiten beeinträchtigen oder Gründe einseitig färben. Auch diese Einflüsse sind epistemisch bedenklich, soweit sie die Suche nach dem besten Argument auf Abwege führen; insbesondere Gegenargumente benachteiligt werden. Solche Überzeugungsbildungsprozesse sind unzuverlässig. Daraus folgt: (i) D hat die Überzeugung RÜ (Vergeltung ist gerechtfertigt). (ii-r) RÜ wurde auf Grundlage einer retributiven Intuition gebildet. In nachfolgenden Deliberationen stützte diese Intuition die Überzeugung. (iii*-r): Unzuverlässig ist ein Überzeugungsbildungsvorgang, wenn er epistemischen Kriterien allgemeiner Verfahrensgrundsätze in nicht nur unerheblichem Maße widerläuft. Dazu zählt insbesondere die Würdigung aller Seiten. (iv-r) Retributive Intuitionen werden durch einen psychischen Mechanismus erzeugt, der nicht sensibel für Gegenargumente ist. Die Intuition vermittelt eine objektiv nicht gerechtfertigte Gewissheit. In nachfolgenden Deliberationen werden der Intuition entsprechende Gründe übervorteilt, das Denken in diese Richtung verzerrt. (v-ri): Sofern diese Effekte nicht nur unerheblich sind, ist der Überzeugungsbildungsvorgang unzuverlässig. (vi) Unzuverlässige Prozesse verleihen keine Berechtigung, an die Richtigkeit ihrer Resultate zu glauben. Konklusion aus (i) – (vi): D ist nicht berechtigt, RÜ für richtig zu halten.

Als Konsequenz ist die Überzeugungen zu suspendieren oder aufzugeben (oder durch epistemisch zuverlässigere Prozesse neu zu bilden). Das Debunking-Argument ist erfolgreich. 4. Sentimentalistische Perspektive Es ist noch darzulegen, ob auch (Neo-)Sentimentalisten dieses möglicherweise rationalistisch anmutende Verdikt cum grano salis teilen können. Sind solche Einflüsse auch unter sentimentalistischen Vorzeichen epistemisch fehlerhaft? Da es sich um eine heterogene Theorienfamilie handelt, lassen sich zwar keine allgemeinen Aussagen treffen, aber doch grobe Linien ziehen. Ausgangspunkt ist die These, dass Emotionen für moralische Urteile wesentlich und ihre Einflüsse epistemisch nicht per se fehlerhaft sind. Manche sentimentalistische Theorien halten eine gewisse Distanz zu normativen Rechtfertigungen, etwa weil sie moralische Urteile eher wie Geschmacksurteile betrachten. Diese sind bei der hiesigen Suche nicht weiterführend.78 Die meisten sentimentalistischen Theorien räumen das Offensichtliche ein: Emotio78 Prinz hält etwa moralische Urteile für Geschmacksurteilen ähnlich, ders., Neo-Classical Sentimentalism. In: Debes/Stueber (Hrsg.), Ethical Sentimentalism, Cambridge University Press 2017, 32 – 51.

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nen können fehlgehen, Falsches suggerieren, zu Unmoralischem verleiten. Daher heiße Sentimentalismus nicht, alles Gefühlte zu beglaubigen, sondern Emotionen reflexiv zu bestätigen. Nur angemessene oder passende emotionale Reaktionen sollen in evaluativen Fragen maßgebend sein.79 Im Einzelnen sind zwei Fragen zu unterscheiden: Die Rechtfertigung von Emotionen und die emotionale Rechtfertigung von Strafe. Erstere fragt, ob Wut oder Empörung angesichts der sie auslösenden Umstände fitting attitudes sind. Als Reaktion auf Missachtung und Verletzung können sie das durchaus sein.80 Allerdings müsste auch die ihnen innewohnende Handlungstendenz angemessen sein, und zwar gemäß ihrer eigenen Logik.81 Dazu müsste also der Vollzug der Handlung die auslösende Ursache aufheben, hier also die Leidzufügung das Gefühl der Missachtung negieren. Ob Strafe das bewirkt, ist eine viktimologische Frage, die sich nicht einheitlich beantworten lässt: Für einige Verletzte trifft das zu, für andere nicht. Im ersten Fall ist die Emotion angemessen, im letzteren nicht.82 Die zweite Frage ist, ob angemessene retributive Emotionen Strafe zu rechtfertigen vermögen. Angesichts ihres Fehlgeh- und Verführungspotentials wird die Notwendigkeit von Korrekturen anerkannt.83 Moore verweist auf „Pathologien von Emotionen“, die sie heuristisch unbrauchbar machen würden.84 Nichols hält tief verwurzelte retributive Emotionen zwar nicht für rechtfertigungsbedürftig, räumt jedoch ein, dass sie gegenüber dem neminem laedere Gebot gegebenenfalls zurücktreten müssen.85 Sentimentalisten erkennen Konflikte zwischen Emotionen und die Notwendigkeit des Austarierens also an. Psychologisch drohen „heißere“ Emotionen entgegenstehende „kältere“ Normen wie neminem laedere zu übertrumpfen. Normativ hingegen hält niemand die affektive Stärke für entscheidend; ebenso wie niemand das ungeprüfte Ausleben emotionaler Handlungstendenzen für richtig hält.86 Allgemeiner: Auch Sentimentalisten betrachten Verzerrungen, affektive Biases oder kognitive Beeinträchtigungen als übergriffige und unzulässige Einflüsse auf das Den79

D’Arms, Sentiment and Value. Ethics 110 (4), 2000, 722 – 748. Aus der umfangreichen Debatte verneinend etwa Nussbaum (Fn. 13); bejahend: Shoemaker, You Oughta Know! Defending Angry Blame. The Moral Psychology of Anger, 2018, 67 – 88.; vgl. auch Frijda (Fn. 23). 81 D’Arms/Jacobson, The Moralistic Fallacy: On the ,Appropriateness‘ of Emotions. Philosophy and Phenomenological Research 61 (1), 2000, 65 – 90. 82 Vermutlich sind eher Einsicht und Reue des Täters sowie die öffentliche Unterstützung, nicht das Zufügen von Strafe, für die positiven psychischen Folgen ursächlich. Dann wäre eine auf Rache sinnende Emotion irrational. Zu den negierenden Kräften von Strafe Frijda (Fn. 23). 83 Kauppinen, Moral Sentimentalism. In: Zalta (Hrsg.), Stanford Encyclopedia of Philosophy, Metaphysics Research Lab. Stanford University 2018. 84 Moore, The moral worth of retribution. Responsibility, character, and the emotions: New essays in moral psychology, 1987, 179 – 219, hier S. 191. 85 Nichols (Fn. 6). 86 Für eine theoretische Möglichkeit hält dies Königs (Fn. 6). 80

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ken.87 Dies widerspricht ihrer Kernthese nicht. Diese lautet nicht, Rationalität verzerre das Denken, sondern dieses bedürfe emotionaler Werte als Input. Punitive Emotionen sind für Sentimentalisten eben solche zulässige Inputs – aber noch keine endgültigen Entscheidungen. Daher dürften die hier inkriminierten Einflüsse auch von vielen Sentimentalisten als verzerrend angesehen werden.

V. Drei Einwände 1. Vermeintliche Unentziehbarkeit Abschließend seien drei Einwände angesprochen. Zum einen der theoretisch langweilige aber beliebte Einwand, retributive Intuitionen seien als anthropologische Konstante unüberwindbar. In der Tat sollte das Recht keine psychologischen Impossibilia fordern. Retributive Intuitionen sind tief verankert, weit verbreitet, stark und störrisch. Doch das macht sie nicht unüberwindbar. Im Allgemeinen wird die empirische These der Unüberwindbarkeit angesichts des ihr beigelegten argumentativen Gewichts überraschend wenig untermauert. In hiesigem Zusammenhang sind nur ihre negativen Einflüsse auf die Überzeugungsbildung relevant. Es geht nicht um die Leugnung punitiver Emotionen, die ein jeder hegen mag, oder ihre Verbannung aus der Psyche, sondern darum, ihre Einflüsse auf das eigene Denken zu erkennen, bewusst zu reflektieren – und sich ihnen zu entziehen. Wenn letzteres unmöglich ist, sollte man jedenfalls den resultierenden Überzeugungen keinen Glauben schenken. Doch dass das prinzipiell nicht möglich sein sollte, ist alles andere als offensichtlich. Zahlreiche psychologische Studien beschäftigen sich mit der Stärkung oder Schwächung emotionaler Einflüsse, der Aktivierung von System 2 Denken, oder allgemeiner: Dem De-Biasing.88 Dazu ein letzter Blick in die Forschung: Studien von Gollwitzer sowie Aharoni zeigen, dass der Einfluss retributiver Intuitionen auf Entscheidungen verblasst, wenn gegenläufige Gesichtspunkte angemessen berücksichtigt werden. Aharoni erhöhte dafür die Sichtbarkeit der Kosten von Inhaftierungen.89 Das Ergebnis: Probanden verhängten durchschnittlich bis zur Hälfte verringerte Strafen. (Aufgrund dieses Effekts sind Staatsanwälte in Philadelphia neuerdings gehalten, Kosten der Inhaftie-

87 Siehe dazu etwa D’Arms/Jacobson, Sentimentalism and Scientism. Moral psychology and human agency: philosophical essays on the science of ethics. Oxford University Press, 2015. 88 Etwa: Feinberg et al., Liberating Reason From the Passions: Overriding Intuitionist Moral Judgments Through Emotion Reappraisal. Psychological Science 23 (7), 2012, 788 – 795; Soll/Milkman/Payne, A User’s Guide to Debiasing. In: Keren/Wu (Hrsg.), The Wiley Blackwell Handbook of Judgment and Decision Making. Wiley 2015, 924 – 951. 89 Aharoni et al., Justice at any cost? The impact of cost-benefit salience on criminal punishment judgments. Behavioral Sciences & the Law 37 (1), 2019, 38 – 60.

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rung bei Strafanträgen anzugeben).90 Gollwitzer zeigt, dass retributive Haltungen nachlassen, sobald das durch Bestrafung entstehende Leid ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.91 Beide Studien zeigen, dass die Deutlichmachung gegenläufiger Gesichtspunkte die Wirkung retributiver Emotionen abschwächt. 2. Verwechslung von Gründen und Ursachen Zum anderen könnte man der Argumentation das Verwechseln von Gründen und Ursachen vorwerfen. Die Qualität einer Ansicht bemesse sich an den sie stützenden Gründen, nicht an Eigenschaften ihrer Entstehung – ein Kategorienfehler, ein Rückfall in den Psychologismus. Dieser Einwand missversteht die Natur des Arguments. Es bestreitet nicht, dass Gründe maßgebend sind, sondern beruht darauf, dass bei ihrem Finden und Bewerten epistemisch unzuverlässige Vorgänge am Werk sein können. Auch wenn sich normative Fragen letztlich allein im viel beschworenen „Raum der Gründe“ entscheiden und auch wenn dieser von naturalistischen, also psychologisch-biologischen Prozessen vollständig entkoppelt ist (auch wenn der platonische Ideenhimmel dann nicht fern sein kann): Dennoch verlaufen alle tatsächlichen Möglichkeiten menschlichen Zugangs zu ihm durch physikalisch-physische Akte des Denkens, und diese sind fehleranfällig. Das ist alles, was das Argument benötigt. Anders: Lägen alle Gründe für eine Überzeugung offen, samt der ihr zugrundeliegenden Wertungen und Hintergrundannahmen, könnte sich ein Bild ergeben, in dem Intuitionen, Emotionen oder Rationalisierungen nicht vorkommen. Doch solange ihre Wirkung psychologisch nachweisbar ist, und das wird hier angenommen, würden diese Faktoren anderweitig in die Darstellung eingehen, etwa in der Gewichtung eines Grundes. Die psychologische Ebene würde dann zu Gründen nichts Weiteres hinzufügen. Doch ohne diese Transparenz vermag die Psychologie Hinweise auf verdeckte Faktoren bei der Überzeugungsbildung oder etwa der Gewichtung von Gründen zu liefern. Somit besteht Raum für epistemische Erwägungen, ohne ein Primat der Gründe zu leugnen. 3. Relevanz für rechtswissenschaftliche Theorienbildung Kehren wir zur Frage zurück, welche Relevanz dies für die rechtswissenschaftliche Überzeugungsbildung haben mag. Ihre Spezifika sind empirisch nicht untersucht. Selbstverständlich sind die Bahnen, auf denen sich Ansichten in jahrzehntelanger wissenschaftlicher Auseinandersetzung bilden, verschlungener und komplexer als das hier Beschriebene. Doch das heißt nicht, dass sie solchen Einflüssen ent90

Austen, In Philadelphia, a progressive district attorney tests the power – and learns the limits – of his office. New York Times Magazine vom 04. 11. 2018, S. 42. 91 Gollwitzer et al., People as Intuitive Retaliators: Spontaneous and Deliberate Reactions to Observed Retaliation. Social Psychological and Personality Science 7 (6), 2016, 521 – 529.

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zogen sind. Dagegen sprechen zum Beispiel Idiosynkrasien des Strafbegründungsdiskurses: So klafft eine auffallende argumentative Leerstelle bei den entscheidenden Fragen, warum Strafe verdient sei oder was sie ausgleiche. Für einige ist dies selbsteinsichtig, für andere unverständlich, Versuche der Vermittlung scheitern. Dies ist für eine Fachdiskussion atypisch, gemeinhin werden tangierte Interessen von allen Beteiligten verstanden und bloß anders gewichtet. Psychologisch lässt sich dieser Befund jedoch erklären: Dass Strafe verdient werde, ist der Inhalt der retributive Intuition, der sich aufgrund ihrer nicht-inferentiellen Natur jedoch nur schwer begründen lässt. Daher verbleibt, auch wenn keine stimmige Begründung gelingen mag, ein Gefühl, es müsse eine solche dennoch geben. Einige Autoren lassen sich von diesem intuitiven Gefühl leiten und suchen nach Gründen, andere verwerfen es. Die argumentative Leerstelle liegt also genau dort, wo die Intuition psychologisch störrig wird. Diese Störrigkeit spiegelt sich auch in der historischen Störrigkeit, der Kontinuität der Strafpraxis, auf die bereits Nietzsche hinwies: Die Praxis bleibt grosso modo bestehen, nur werden ihr wechselnde zeitgemäße Gründe untergelegt, sie wird rationalisiert.92 Auch die zweite zentrale retributivistische These, Strafe stelle ein Gleichgewicht wieder her oder gleiche etwas – wenngleich schwer Greifbares – aus, lässt sich nur mit großer Anstrengung plausibilisieren, jedoch recht einfach psychologisch erklären. Das retributive Gefühl verblasst, wenn die Handlung, auf die sie drängt, umgesetzt wird.93 Zudem ist aus der Ersten-Person-Perspektive bekannt, dass Tadel und Strafe kathartische Wirkungen bei Schuldgefühlen zeigen können.94 Psychologisch gleicht Strafe also Schuld aus, sie negiert ein Gefühl. Die These ist nun: Das Verblassen des Gefühls wird als Ausgleich gedeutet. Und da in der realen Welt nichts ausgeglichen wird, muss das Ausgeglichene außerhalb dieser liegen: In der Metaphysik der Schuld.95 Die Idee des Strafausgleichs ist demnach die Rationalisierung eines nachlassenden Gefühls. Dies ist eine jedenfalls teilweise empirisch überprüfbare These, die das Explanandum, die Plausibilität der Idee von Strafe als Negation einer Negation, besser (und anspruchsloser) zu erklären scheint als substantielle Begründungen.96 In anderen Worten: Stellen wir uns vor, eine komplizierte Argumentation, die nachzuvollziehen vielen schwer fällt, führt bzgl. einer Frage zu Ergebnis A. Zudem führt eine intuitiv-emotionale psychische Reaktion ebenfalls zu A, und 92

Nietzsche (Fn. 5), S. 72. Sollte sich die Praxis ändern, dann aus humanistischen Gründen, nicht aus Strafzwecken. 93 Zu emotional ausgleichenden Wirkungen durch Strafe Frijda (Fn. 23). 94 Bastian/Jetten/Fasoli, Cleansing the Soul by Hurting the Flesh: The Guilt-Reducing Effect of Pain. Psychological Science 22 (3), 2011, 334 – 335; Inbar et al., Moral masochism: On the connection between guilt and self-punishment. Emotion 13(1), 2013, 14 – 18. 95 Das ist wohl die Idee u. a. von Mackie, Morality and the retributive emotions. Criminal Justice Ethics 1 (1), 1982, 3 – 10. 96 Im Übrigen erklärt dies ebenfalls ein weiteres zentrales Element des Retributivismus: Nur der Schuldige darf bestraft werden. Denn das intentionale Objekt der retributiven Intuitionen ist der Verursacher, der Täter, und kein Dritter. Letzterem Leid zuzufügen führt also nicht zu einem Nachlassen der Emotion.

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solche Reaktionen sind im Allgemeinen geeignet, Gründe und Überzeugungen zu beeinflussen. Was für eine wundersame Koinzidenz wäre es, wenn beide nichts miteinander zu tun hätten? Diese Gesichtspunkte legen die Wirksamkeit von Intuitionen und Rationalisierungen im Strafbegründungsdiskurs nahe. Bei Experten dürften retributive Intuitionen gewiss subtiler wirken, etwa wie ein Prüfstein, an den das Sinnieren über Strafe immer wieder zurückkehrt. Obgleich gute Gründe gegen Vergeltung sprechen, stößt sich das Denken an der Vorstellung, der Täter eines konkreten Falles komme ohne Strafe davon. Dies wird als unerträglich empfunden – dieses Ergebnis darf nicht sein. Auf diese Weise bleibt die retributive Intuition auch dann wirksam, wenn sie nicht mehr lebendig verspürt wird. Anzeichen für eine solche Wirkung finden sich in der Literatur, etwa in der Beschreibung der Entwicklung seines Denkens von Jeffrie Murphy, einem prominenten Vergeltungstheoretiker. Seine retributiven Argumente haben für ihn im Laufe der Zeit an Überzeugungskraft verloren. Gleichwohl vermochte er seine Position nicht aufzugeben. Warum? – „I still had very strong retributivist intuitions“.97 Ihretwegen sei er nunmehr ein „reluctant retributivist“. Auch die jahrzehntelange philosophische Auseinandersetzung immunisiert vor den hier beschriebenen Prozessen also nicht. Ein solches Selbstzeugnis verdient Anerkennung, es bedarf der rationalisierungsfreien Selbstbeobachtung. Inhaltlich offenbart sich darin jene Störrigkeit der Intuitionen, die auch Aharonis Studie zeigte: Sie bleiben auch ohne Gründe bestehen. Nun mag man einwenden: Dann sei das eben so. Doch damit verlässt man den Bereich der rationalen Überzeugungsbildung, denn der gegenläufigen Norm wird kein angemessenes Gewicht eingeräumt. Die Enthüllung der Mechanismen hinter der Intuition zeigt, dass diese außen stark, aber innerlich weitgehend substanzlos sein können. Die von ihr vermittelte Gewissheit ist auch in intuitionistischen Augen überzogen. Sie kann eine widerlegbare Vermutung rechtfertigen, einen Anschein, nicht aber den Ankerpunkt für jahrzehntelanges Nachdenken bilden – die Intuition wird zur idée fixe. Hätte Murphy die Kraft der Intuition auf das Maß einer widerlegbaren Vermutung gesenkt, wäre er vermutlich kein Retributivist wider Willen, sondern gar keiner. Letztlich ist die retributive Überzeugung das Resultat eines störrischen Mechanismus, der sich vermutlich als evolutionär vorteilhaft erwiesen hat. Mehr nicht. Nur bedarf es Muts, die Radikalität der Konsequenz auch für das eigene Denken zu ziehen.

VI. Zusammenfassung Die Untersuchung legte einige psychische Prozesse dar, die bei der Bildung retributiver Überzeugung eine Rolle spielen können: Intuitionen, Emotionen, Rationalisierungen (empirische Prämisse ii). Ihr Einfluss kann Überzeugungsbildungsprozes97 Murphy, Some Second Thoughts on Retributivism. In: White (Hrsg.), Retributivism: essays on theory and policy, Oxford University Press, 2011, 93 – 106.

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se unzuverlässig machen. Das Ziel liegt im Finden des besten Arguments, all-thingsconsidered. Dies setzt eine angemessene Würdigung der für und wider eine Position streitenden Gründe voraus. Diese Idee drückt sich auch in rechtlichen Verfahrensordnungen aus. Überzeugungsbildungsprozesse, die ihr nicht nur unerheblich widerlaufen, sind epistemisch unzuverlässig. Dazu zählen v.a die Überhöhung oder Überschatzung einer Position sowie andersherum, die diminutive Geringschätzung einer anderen. Ob dies der Fall ist, wird anhand von Eigenschaften der ihnen vorausgehenden psychischen Vorgänge oder Mechanismen nachzuweisen versucht: Sie sind vielfach nicht hinreichend sensibel für gegenläufige Erwägungen. Retributive Intuitionen werden auf spärlicher Datengrundlage gebildet, bei ihrer Entstehung werden Gegenargumente dem neuropsychologischen Modell zufolge nicht berücksichtigt. Gleichwohl haben sie häufig den Anschein großer Gewissheit und Unbedingtheit. Dieser Schein ist trügerisch und überzogen. Ebenfalls können Rationalisierungen und emotionale Einflüsse das Denken verzerren. Gemeinsam ist diesen Vorgängen, dass sie der Zuverlässigkeitsvoraussetzung, Gründe angemessen zu würdigen, widerstreben. Sie verschaffen Vergeltung befürwortenden Argumenten ungerechtfertigte Vorteile gegenüber gegenläufigen Gründen wie neminem laedere (normative Prämisse iii). In Verbindung mit der hier vorausgesetzten Prämisse (iv) – unzuverlässige Prozesse verleihen keine epistemische Berechtigung – sind so gebildete Überzeugungen epistemisch nicht gerechtfertigt und müssen suspendiert werden.98 Damit ist ein Debunking-Argument für rechtsphilosophische Fragen aufgezeigt. Grob lässt sich das Vorgehen wie folgt zusammenfassen: Epistemische Kriterien, wie sich in den Grundlagen von Verfahrensordnungen sedimentiert haben, werden in Anbetracht aktueller psychologischer Forschung konkretisiert und auf rechtsphilosophische Überzeugungsbildungsprozesse angewendet. Hinzuweisen ist auch auf die Grenzen des Arguments: Es bezieht sich nur auf die speziellen Eigenschaften retributiver Intuitionen – nicht alle Intuitionen sind störrisch, trügerisch oder verleiten zu Rationalisierungen;99 auch betrifft es nur Überzeugungen, in deren Ätiologie solche Faktoren eine maßgebliche Rolle spielen. Und dennoch: Sofern die dargelegten normativen Kriterien und empirischen Befunde cum grano salis zutreffen, dürfte dieses Argument hinreichen, um jedenfalls die retributiven Überzeugungen von Laien regelmäßig zu unterminieren. Sie sind also epistemisch nicht berechtigt, an die Richtigkeit der aus ihren Strafempfindungen und –bedürfnissen hervorgehenden Überzeugungen zu glauben. Hieraus erwachsen erhebliche Zweifel an Straftheorien, die sich affirmativ auf Strafbedürfnisse der Bevölkerung beziehen. Ein Wert solcher Empfindungen für Rechtfertigungen, der über das bloße Faktum ihrer Existenz hinausweist, ist nicht ersichtlich. Im Gegenteil: Epistemisch bedenklich gebildete, aber 98 Zu diskutieren wären hier v. a. Schwellenwerte, um von einer Unzuverlässigkeit sprechen zu können. 99 Insb. erlernte Intuitionen können verlässlich sein. Dazu Railton, The Affective Dog and Its Rational Tale: Intuition and Attunement. Ethics 124 (4), 2014, 813 – 859; Sauer, Moral judgments as educated intuitions. MIT Press 2017.

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affektiv aufgeladene Massenüberzeugungen sind in Demokratien brandgefährlich. Statt sie auch nur indirekt zu beglaubigen, gilt es über sie aufzuklären und die kritische Distanz zu ihnen einzuüben. Inwieweit Überzeugungen von Experten von den inkriminierten Vorgängen geprägt werden, ist eine offene empirische Frage. Vermutlich sind sie nicht vollständig frei von ihnen. Nietzsche riet in Zarathustra, allen zu misstrauen, „in denen der Trieb zu strafen mächtig ist“.100 Ein spätes Echo fanden seine Worte in einer Besprechung einer der ersten neurowissenschaftlichen Untersuchungen des Strafens: „[S]tories about severe crimes may well cause arousing emotional responses that may be associated with a strong desire to punish. … However, the demands of impartiality often require overriding these impulses in order to produce a reasonable judgment … [O]ne might speculate … that the mental processes motivating judicial verdicts involve the suppression of prepotent emotional reactions in favor of impartial and objective verdicts. Thus, this new result might … elucidate the neural source of judicial impartiality.“101

Gutes und gerechtes Denken über Strafe erfordert das Unterdrücken retributiver Intuitionen. Rechtsphilosophische Auseinandersetzungen mit dem Strafzweck der Vergeltung sollten ihren Ausgangspunkt in der Psychologie entsprechender Intuitionen nehmen. Wer sich affirmativ auf sie bezieht, trägt die Last, ihren Wert für Rechtfertigungen entgegen der hier skizzierten Zweifel darzulegen. Wer sich nicht auf sie bezieht, aber gleichwohl Vergeltung für einen zulässigen Strafzweck hält, sieht sich angesichts der Forschungslage jedenfalls dem Anfangsverdacht ausgesetzt, dass die eigene Überzeugungsbildung von derartigen Einflüssen nicht frei ist, sondern diese nur unbemerkt bleiben. Nichtsdestotrotz mag es retributive Überzeugungen geben, die nicht durch solche Prozesse gebildet und vom vorherigen Argument nicht berührt werden. Nicht alle Intuitionen sind störrisch, nicht alles Nachdenken eine post hoc Rationalisierung. Einige Forscher vermuten, dass solche epistemisch zuverlässigen Überzeugungsbildungsprozesse inhaltlich nicht zur Bejahung sondern Ablehnung von Vergeltung führen.102 Ob dem so ist, ist eine offene Frage. Aber, und das ist das besondere, sie ist eine empirische und damit überprüfbare Frage. Mit ihrer Untersuchung könnte psychologische Forschung die rechtswissenschaftliche Theorienbildung also voranbringen. Hierin deutet sich an, wie eine künftige empirisch informierte, vielleicht sogar experimentelle Strafrechtsdogmatik beschaffen sein könnte. Denn auch viele rechtsdogmatische Argumente beruhen und berufen sich auf Intuitionen.103 Jedes überzeugende rechtliche Argument dürfte auf die ein oder andere Weise psychische Reso100 Nietzsche, Also sprach Zarathustra. In: Colli/Montinari (Hrsg.), Sämtliche Bände, Bd. IV, 2. Aufl. 1999, de Gruyter, S. 123. 101 Haushofer/Fehr, You Shouldn’t Have: Your Brain on Others’ Crimes. Neuron 60 (5), 2008, 738 – 740, hier S. 739. 102 So wohl Greene (Fn. 11). 103 Beispielhaft die beiläufigen Bemerkungen Puppes, Strafrechtsdogmatische Analysen. V & R, 2006, S. 102.

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nanz finden (müssen). Mehr noch: Diese Erörterung brachte eine Reihe von Koinzidenzen zu Tage: Zwischen psychischen Verarbeitungsschritten, Tatbestandsmerkmalen und dem Prüfungsaufbau, oder allgemeiner, zwischen der Struktur von Emotionen und Normen. Vermutlich hat insbesondere das Strafrecht eine psychologische Tiefenstruktur, die in Begriffen wie „Schuld“ noch zum Ausdruck kommt, aber durch Idealisierungen und Rationalisierungen verschüttet wurde. Ihre Freilegung dürfte lohnenswert sein. Jedenfalls sollte die Ergründung der empirischen Bedingungen des juristischen Denkens zu den Kerninteressen der Rechtswissenschaft zählen. Schließlich lassen sich die hier entwickelten Kriterien zum Unterminieren von Überzeugungen positiv zu Desiderata für gutes juristisches Denken wenden: Dieses ist (i) sich des trügerischen Einflusses retributiver Intuitionen bewusst und senkt deren argumentative Kraft. (ii) Es würdigt das Kontraintuitive und die andere Ansicht besonders wohlwollend, denn vermutlich sind solche Positionen stärker als sie zunächst erscheinen. Es versucht (iii) Rationalisierungen sowie Illusionen der Objektivität im eigenen Denken zu erkennen, und es (iv) fördert die Bereitschaft, eigene Ansichten zu revidieren. Die emotionale Stärke (v) einer Position wird nicht als Zeichen ihrer Richtigkeit, sondern als potentielle Verzerrung gedeutet. Diese Desiderata werfen sogleich die Frage auf, wie sie sich denn erreichen ließen. Welche mentalen Strategien sind etwa anzuwenden, um Intuitionen zu schwächen, Gegenansichten zu stärken oder Rationalisierungen zu vermeiden? Antworten liegen keinesfalls auf der Hand und bieten Stoff für neue juristisch-psychologische Kooperationen. Eines lässt sich bereits heute sagen: Wenigstens erfordern die Desiderata Misstrauen gegenüber dem intuitiv Einleuchtenden, dem affektiv Ansprechenden und dem Gefühl der eigenen Unvoreingenommenheit, im Grunde gegenüber weiten Teilen des eigenen Denkens. Dafür, solche Verunsicherungen immer wieder in mir hervorgerufen zu haben, möchte ich dem Jubilar von Herzen danken.

Wert und Grenzen der expressiven Theorie der Strafe Zugleich eine Skizze über Begriff und Zweck staatlicher Strafe Von Gerhard Seher

I. Problembefund und Gedankengang In den letzten Jahren ist in eine scheinbar festgefahrene, fruchtlos gewordene Debatte überraschend Bewegung gekommen: Es gibt wirklich neue Gedanken zu der alten Frage nach Grund und Zweck staatlichen Strafens.1 Dazu hat vor allem eine Erkenntnis beigetragen, die sich – erstaunlicherweise – erst langsam in den Fokus wissenschaftlicher Wahrnehmung kämpfen musste: dass man grundlegend unterscheiden muss zwischen dem Begriff der Strafe und ihrem Zweck. Theorien, die die Vergeltung von Unrecht und Schuld zur Begründung der Strafe in den Mittelpunkt stellten, konnten sich zwanglos über den Vorgang des Strafens äußern, denn dass Strafe eine Antwort auf die begangene Tat ist, war stets intuitiv klar. Schwieriger ist es dagegen für Theorien präventiver Strafzwecke, den Vorgang des Strafens mit seinem legitimierenden Zweck zu harmonisieren, denn Strafe lässt sich beim besten Willen nicht als präventive Maßnahme deuten: Der Täter wird nicht deshalb einer Strafe unterworfen, damit er selbst oder andere künftig keine Straftaten begehen, sondern weil er eine Straftat begangen hat. Wenn jemand erfährt, dass ein Anderer bestraft wurde, dann fragt er: „weswegen?“, niemals aber: „zu welchem Zweck?“ Wenn aber „Strafe“ offensichtlich schon intuitiv etwas Retrospektives ist, nämlich die autoritative Antwort auf einen vorwerfbaren Normbruch: Wie lässt sie sich dann durch ihre – behauptete oder erhoffte – präventive Wirkung legitimieren? Um eine Erklärung für diese Spannung zwischen der retrospektiven, repressiven Struktur der Strafe und ihrer prospektiven Sinngebung bemühen sich die Vertreter präventiver Straftheorien entweder gar nicht oder nur vereinzelt. Stattdessen wird die Ausgestaltung der Strafe vielfach vom präventiven Zweck her unternommen: Eine spezialpräventiv orientierte Strafe solle danach bemessen werden, was für eine straffreie Zukunft des Täters erforderlich ist; eine generalpräventiv legitimierte Strafe habe so auszufallen, dass sie der Akzeptanz der Normgeltung diene; eine abschreckende Strafe müsse so hoch angesetzt werden, dass sie die angestrebte Wir1

So auch der aktuelle Befund von Frisch, GA 2019, 185.

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kung auch zuverlässig erreiche. Durch diese Deutung der Strafe von ihrem präventiv verstandenen Zweck her sind Verwerfungen zwischen dem Begriff und den gesetzlichen Regelungen zur Strafe einerseits und den mit dieser verbundenen präventiven Ambitionen andererseits entstanden, die bis heute nicht aufgelöst werden konnten. In einer vom Präventionsgedanken dominierten Epoche bedurfte es einigen Mutes, diese Spannungen zu thematisieren, indem wieder an den vergeltenden Begriff der Strafe erinnert wurde. Dazu hat vor allem eine Denkrichtung beigetragen, die als „expressive Theorie der Strafe“ firmiert. Der aktuelle Gedankenstrang dieses Ansatzes lässt sich bis in das Jahr 1965 zurückverfolgen, aber er beansprucht, dass der Akt staatlichen Strafens schon viel länger auf expressive Weise begriffen wurde – vielleicht gar jede ernst zu nehmende Theorie das Strafen auf diese Weise begreifen müsse. Was aber besagt die expressive Theorie der Strafe? Worin besteht ihre diskussionstreibende Pointe? Und wie verhält sie sich zu den beiden maßgeblichen Fragen, was „Strafe“ ist und welchem Zweck sie dient? Es ist an der Zeit, diese Fragen zu stellen, um die Bedeutung des expressiven Denkens über die Strafe zu bestimmen. Die Antworten, die dieser Beitrag anbietet, verfolgen zugleich die Hoffnung, Klärendes über den Begriff der Strafe und eine treffende Perspektive des Diskurses über die Legitimation staatlichen Strafens zutage zu fördern. Dies berührt ein Thema, mit dem sich auch Reinhard Merkel immer wieder befasst: In seinen prägenden Beiträgen zur Diskussion um Willensfreiheit und Determinismus stieß er unausweichlich auf die Frage, wie angesichts der Unsicherheit über ein Andershandelnkönnen der Begriff der Schuld zu fassen sei – und gelangte so zu der Frage, was es eigentlich sei, das legitimerweise bestraft werden könne.2 Dabei hat er sich explizit auf die Seite einer expressiven Theorie der Strafe geschlagen, so dass die jetzigen Überlegungen unmittelbar an die seinen anschließen. Der gedankliche Weg dorthin soll in vier Schritten entfaltet werden: (1) Begründungsdefizite einer präventiven Deutung der Strafe, (2) Der expressive Gehalt des staatlichen Strafens, (3) Die strafende und die das Strafen legitimierende Ebene und (4) Der legitimierende Zweck staatlichen Strafens.

II. Begründungsdefizite einer präventiven Deutung der Strafe Strafe ist als belastender Eingriff in die Rechte des Verurteilten legitimationsbedürftig; das ist ein fester rechtsstaatlicher Standard. Über viele Jahrzehnte hinweg war der Legitimationsdiskurs geprägt von einem einmütigen Bekenntnis zu den Präventionstheorien, unter denen sich spätestens seit den 1990er Jahren die positive Generalprävention als Favoritin herausschälte. Aus präventiver Perspektive galt es vor 2 S. z.B. Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, Baden-Baden 2008, S. 110 ff.; ders., Ist „Willensfreiheit“ eine Voraussetzung strafrechtlicher Schuld?, in: Gerhard Roth, Stefanie Hubig, Heinz Gerd Bamberger (Hrsg.), Schuld und Strafe. Neue Fragen, München 2012, S. 39 ff. (insbes. S. 53 ff.).

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allem, retributive Gründe für die Strafe abzuweisen. Zu diesem Zweck wurde eine „absolute“ Vergeltungstheorie als Feindbild aufgebaut, die vor allem Kant und Hegel zugeschrieben wurde und derzufolge die Strafe losgelöst von jedem denkbaren Ziel oder Zweck zu verhängen sei, weil es eine apriorische Idee der Gerechtigkeit oder ihr Begriff so fordere. Ob Kant und Hegel eine solche „absolute“ Strafphilosophie tatsächlich vertreten haben, wurde dabei kaum je genauer geprüft – und inzwischen mehren sich Stimmen, die das mit sehr guten Gründen bestreiten.3 Hat es aber zumindest seit der Zeit der Aufklärung kaum absolute Vergeltungstheorien gegeben, haben die Präventionstheoretiker ein Scheingefecht geführt, aus dem sie nur insoweit als Sieger hervorgegangen sind, als sie herausstreichen konnten, dass jeder rational vertretbare Zweck staatlichen Strafens darin liegt, für die Zukunft Kriminalität zu reduzieren. Dass jegliches vergeltende Denken eine scharfe Ablehnung erfuhr4, hatte nun aber eine Konsequenz, die für erhebliche konzeptionelle Verwirrung gesorgt hat: Nicht nur der Zweck staatlicher Strafe, sondern auch die Prozedur des Strafens wurde unter präventiven Gesichtspunkten interpretiert. Während eine retributive Straftheorie die Strafe zwanglos auf die begangene Tat zurückbeziehen und vor allem auch die Strafzumessung anhand von Tatunrecht und Tatschuld vornehmen konnte, wirkt dieser strafende Blick zurück auf die Tat aus Sicht der präventiven Theorien auf mehrfache Weise wie ein Fremdkörper. 1. – Zumindest die Strafzumessung wurde schon seit langem vom Präventionsgedanken vereinnahmt – prominent durch Franz von Liszt, der beispielsweise für den „besserungsfähigen“ Täter geradezu drakonische Abschreckungsstrafen vor3 Diese Frage kann hier nicht vertieft werden. Daher nur in aller Kürze: Hinsichtlich der Strafphilosophie von Kant ist bis heute vieles umstritten. Aber es würde mit seiner formalen Konstruktion der Bestrafung als eines kategorischen Imperativs (Kant, Metaphysik der Sitten, Werkausgabe, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. VIII, Frankfurt 1968, A 197/B 226) nicht zusammenpassen, dass er eine materiale Gerechtigkeitstheorie vertreten hätte, die inhaltlich hätte begründen können, warum durch Strafe eine kategorische Forderung der Gerechtigkeit erfüllt werden könnte. Näherliegend ist die Deutung, dass es ihm vor allem darauf ankam, dass die angedrohten Strafen bedingungslos verhängt werden, weil nur so die Autorität des Rechts, die Glaubwürdigkeit des Staates und die Sicherheit der Bürger gewährleistet werden können; s. dazu Byrd, Kant’s Theory of Punishment: Deterrence in its Threat, Retribution in its Execution, Law and Philosophy 8 (1989), S. 151 ff.; andeutungsweise auch Wohlers/Went, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Strafe – Warum?, Baden-Baden 2011, S. 173, 174 f. m.w.N. Dass Hegel eine absolute Philosophie des Strafens formuliert hätte, ist noch unplausibler, denn er hat sehr genau gesehen, dass der Staat sich des Strafens nur insoweit bedienen muss, als es der Negation des Normbruchs bedarf: Ist die bürgerliche Gesellschaft ihrer selbst sicher geworden, kann sie sich eine milde Reaktion auf ein Verbrechen erlauben. So seien Strafkodices immer zeitabhängig (s. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt/Main 1972, § 218). 4 Es wurde wahlweise als „metaphysisch“ (Roxin, AT Bd. I, 4. Aufl., München 2006, 3/8), „irrational“ oder „mystisch“ (beides bei Klug, Abschied von Kant und Hegel, in: Baumann [Hrsg.], Programm für ein neues Strafgesetzbuch, Frankfurt am Main 1968, S. 39 und 40) tituliert.

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sah5, aber auch bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei Karl Ludwig Grolman, der – spezialpräventiv – mittels der Strafe einer kriminellen Neigung begegnen wollte, welche durch die begangene Tat hervorgetreten sei, und daher das Strafmaß verlangte, das diese Neigung zuverlässig zu bekämpfen versprach6. Dadurch aber geht der Sinn von Strafe verloren. Indem alles Vergeltende aus der Betrachtung der Strafe ausgeschieden und der strafende Blick einzig in die Zukunft gerichtet wird, verflüchtigt sich der eigentlich so enge Bezug zwischen der begangenen Tat und der für diese Tat verhängten Strafe.7 Der Strafe ist der Rückbezug auf die begangene, strafwürdige Handlung immanent; sein Gehalt wird daraus gespeist, dass „Strafe“ eine Antwort auf etwas Geschehenes ist. Eine belastende Maßnahme dagegen, die verhängt wird, damit der Betroffene oder gar ein Dritter sich in Zukunft besser verhält als bisher, kann man als erzieherischen oder als prophylaktischen Eingriff kennzeichnen – aber sie „bestraft“ nichts. Ein potentielles künftiges Fehlverhalten, das verhindert werden soll, kann schon nach dem normalsprachlichen Verständnis des Wortes8 nicht Gegenstand einer „Strafe“ sein. 2. – Von diesem rückbezüglichen Wortverständnis geht erkennbar auch das Grundgesetz aus, wenn es in Art. 103 Abs. 3 GG verbietet, dass jemand wegen derselben Tat mehrmals bestraft wird.9 In gleicher Weise ist Art. 103 Abs. 2 GG zu lesen: Es ist nur dann aus Fairness geboten, die Strafbarkeit für eine Tat vorab gesetzlich anzukündigen, wenn diese Tat dann auch den Grund dafür liefert, gegenüber dem Handelnden einen Schuldvorwurf zu erheben und ihn mit einer Strafe wegen dieser Tat und für diese Tat zu belegen. Das aber hat wiederum Auswirkungen auf die legislative Ermächtigung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG: „das Strafrecht“, für das dem Bund die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit eingeräumt wird, bedeutet das Recht, Taten, die als strafwürdig erachtet werden, mit einer belastenden Sanktion zu versehen, durch die diese Taten geahndet, nicht aber unbestimmte künftige Taten 5

von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, ZStW 3 (1883), S. 1 – 47, u. a. 40 f. Grolman, Grundsätze der Criminalwissenschaft, 3. Aufl., Gießen 1818, prägnant in § 77 (S. 80). 7 Mosbacher, ARSP 2004, S. 210, 219, spricht treffend von einer „strukturbedingten Blindheit der allein zukunftsgewandten Prävention für die vergangene Tat, an die die Strafe begrifflich als Reaktion anknüpft“. 8 Laut Duden ist Strafe „etwas, … was jemandem zur Vergeltung, zur Sühne für ein begangenes Unrecht, eine unüberlegte Tat (in Form des Zwangs, etwas Unangenehmes zu tun oder zu erdulden) auferlegt wird“ (https://www.duden.de/rechtschreibung/Strafe – zuletzt abgerufen am 27. 10. 2019). – Prägnant Neumann, Hat die Strafrechtsdogmatik eine Zukunft? in: Prittwitz/Manelodakis (Hrsg.), Strafrechtsprobleme an der Jahrtausendwende, Baden-Baden 2000, S. 119, 124: Strafe sei „begriffsnotwendig Strafe für etwas … Das reaktive Moment ist insofern konstitutiv … für alle Auffassungen, die beanspruchen, eine Theorie der Strafe zu formulieren.“ 9 Das Wort „wegen“ weist semantisch auf einen ursächlichen Zusammenhang hin: Der Duden nennt als Bedeutungen: „stellt ein ursächliches Verhältnis her; aufgrund von, infolge“ (https://www.duden.de/rechtschreibung/wegen_infolge_bezueglich – zuletzt abgerufen am 27. 10. 2019). 6

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Dritter verhindert werden. In diesen verfassungsrechtlichen Bezugnahmen auf das staatliche Strafen erscheint die künftige Rechtstreue des Täters oder gar unbestimmter Dritter nirgends als legitimierender Zweck. 3. – Der ethisch und verfassungsrechtlich gewichtigste Einwand soll nur kurz wiederholt werden, denn er gehört zum argumentativen Standardrepertoire: Jedenfalls bei einer generalpräventiven Begründung dient die Bestrafung allein einer Kommunikation mit der Gesamtheit der Bevölkerung, so dass der Verurteilte die Strafe zu tragen hat, damit an andere die Botschaft übermittelt werden kann, dass keine Straftaten begangen werden sollen. Dies instrumentalisiert ihn – menschenwürdewidrig – für staatliche Allgemeininteressen. 4. – Jedenfalls das verbreitete generalpräventive Verständnis des Strafens sieht sich auch einer normtheoretischen Begründungslücke ausgesetzt. Straftatbestände in gesetzessystematischem Sinne bestehen nach gut begründeter Auffassung aus einer Verhaltensnorm, die das ver- oder gebotene Verhalten beschreibt, und einer Sanktionsnorm, die für den Fall der Verletzung der Verhaltensnorm eine Strafdrohung ausspricht.10 Straftatbestände verbieten also bestimmte Handlungen und drohen eine Strafe an, wenn und weil die Verhaltensnorm verletzt worden ist. Die Sanktionsnorm ist strikt auf die Verletzung der Verhaltensnorm hin orientiert. Mit dieser Ausrichtung korreliert § 46 StGB, der die Tatschuld des Täters zur Grundlage der Strafzumessung macht. Straftatbestände werden erlassen, damit Personen, die eine Verhaltensnorm verletzen, einer strafenden Sanktion überantwortet werden, die als angemessene Antwort auf den Schuldvorwurf gilt, welchen sie aufgrund des Normbruchs verdienen. Kein Gesetzgeber hat jemals Straftatbestände formuliert, damit im Falle ihrer Verletzung Dritte davon abgehalten werden, in irgendeiner Zukunft gleichartige Verletzungen zu begehen. In dem normtheoretischen Gehalt der Straftatbestände liegt gar nichts, das jenseits der potentiellen Täter und ihrer potentiellen Taten auf unbeteiligte Dritte gerichtet wäre. 5. – Zusammenfassend: Eine unmittelbar präventive Deutung der Strafe kann nicht erklären, warum „Strafe“ normalsprachlich, verfassungsrechtlich, strafrechtlich und normtheoretisch auf die unrechte Tat zurückverweist, um deretwegen sie verhängt wird, ihre Legitimation aber durch einen Zweck erfahren soll, der auf die Zukunft gerichtet ist. Hier klafft eine perspektivische Begründungslücke zwischen der Struktur des Strafens und seiner Legitimation. „Präventives Strafen“ ist – dogmatisch, verfassungsrechtlich und normtheoretisch – ein Oxymoron.

10 S. dazu Renzikowski, Die Unterscheidung von primären Verhaltens- und sekundären Sanktionsnormen in der analytischen Rechtstheorie, in: Dölling/Erb (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinz Gössel, Heidelberg 2002, S. 3 ff.; ders., Normentheorie und Strafrechtsdogmatik, ARSP-Beiheft 104, Stuttgart 2005, S. 115 ff.

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III. Der expressive Gehalt des staatlichen Strafens Was vermag die expressive Theorie der Strafe dazu beizutragen, diese Spannungen zwischen der Strafe und dem zu ihrer Legitimation unentbehrlichen, präventiven Zweck aufzulösen? Dieser Argumentationsstrang – der sich analog dem linguistic turn in der Philosophie und der Juristischen Hermeneutik als Rechtsfindungstheorie in der Strafphilosophie etabliert hat11 – betrachtet das staatliche Bestrafungsverfahren als kommunikativen Akt und stellt die Bedeutung dieser Kommunikation innerhalb der Verhältnisse der an ihm Beteiligten (Staat, Angeklagter, Opfer) bzw. der Allgemeinheit in den Mittelpunkt der Überlegungen. Als sein Ursprung darf der Aufsatz The Expressive Function of Punishment von Joel Feinberg aus dem Jahre 1965 gelten.12 Daran anknüpfend hat sich in der deutschen Diskussion eine Richtung entwickelt, die von ihrer Protagonistin, Tatjana Hörnle, als „personenorientierte“ expressive Theorie bezeichnet wird13 (dazu sogleich u. 1.). Unabhängig davon besteht eine zweite Richtung, die ihre Wurzeln in der Systemtheorie Niklas Luhmanns hat und die Strafe als an die Allgemeinheit gerichtete Antwort auf den in der Straftat liegenden Normbruch sieht (sog. „normorientierte“ Konzeption; dazu anschließend u. 2.). 1. Die „personenorientierte“ Konzeption der expressiven Theorie a) Der ursprüngliche Ansatz von Feinberg Feinberg gewinnt die Idee der spezifisch kommunikativen Bedeutung der Bestrafung durch eine Abgrenzung der Strafe von anderen hoheitlichen Sanktionen (z. B. Geldbußen für Ordnungswidrigkeiten oder belastende bzw. ablehnende Verwaltungsakte) und erkennt das Charakteristikum der Strafe in der förmlichen und ernsten Missbilligung (reprobation) der Handlung des Täters.14 Dabei betont er, dass nicht allein die Verurteilung, sondern speziell die „unangenehme Behandlung“ (unpleasant treatment) durch den Vollzug der ausgeurteilten Strafe diese Missbilligung zum Ausdruck bringe: die Art der Sanktionierung verkörpere den spezifischen Unterschied zwischen diversen unerwünschten und belastenden staatlichen Maßnahmen und einer Strafe. Speziell die Freiheitsstrafe („physical treatment“) sei der überkommene Ausdruck des Strafens – so wie Champagner der Ausdruck der Feier eines

11 Klaus Günther, in: Simester/du Bois-Pedain/Neumann (Hrsg.), Liberal Criminal Theory. Essays for Andreas von Hirsch, Oxford/Portland, Oregon 2014, S. 124 spricht vom „communicative turn“ in der Straftheorie. 12 Feinberg, The Expressive Function of Punishment, The Monist 49 (1965), S. 397 – 423; wieder abgedruckt in und im Folgenden zitiert aus: ders./Hyman Gross (Hrsg.), Philosophy of Law, 4. Aufl. 1991, S. 635 ff. 13 Hörnle, Straftheorien, 2. Aufl. 2017, S. 34. 14 Feinberg (wie Fn. 12), S. 637.

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großen Ereignisses und schwarz der Ausdruck von Trauer sei.15 Diese Vergleiche sind keineswegs verfehlt, sondern weisen auf den wesentlichen kommunikativen Aspekt des staatlichen Bestrafens hin: Der Staat bedient sich etablierter – und daher allgemein verständlicher – Mittel, um die Schwere des Rechtsbruches zum Ausdruck zu bringen. Und dabei bilden Verurteilung und Bestrafung eine kommunikative Einheit, mittels derer die die Tat verdammende Reaktion der Rechtsgemeinschaft geäußert wird. Feinberg beschreibt damit nicht nur eine Form staatlicher Missbilligung, sondern zugleich ihren kommunikativen Gehalt: Verurteilung und Bestrafung antworten missbilligend auf die Straftat. Auf diese Weise ist zwar umrissen, wie der Akt der Bestrafung zu vollziehen ist, damit er vom Verurteilten und von Dritten als „Strafe“ verstanden wird. Aber es ist noch nichts darüber gesagt, warum Strafe in Gestalt von Verurteilung und „harter Behandlung“ eine sinnvolle oder gar notwendige kommunikative Antwort auf eine Straftat ist. Diese Frage lag jenseits von Feinbergs unmittelbarem Anliegen – aber sie ist es ja, die im Mittelpunkt des Legitimationsdiskurses steht. Feinberg bietet gleichwohl Antworten darauf an, die er allerdings – interessanterweise – als „sekundäre Funktionen“ (derivative functions) der Bestrafung qualifiziert. Als wesentlich formuliert er dabei den Widerspruch gegen die Handlung des Täters: Durch die geäußerte Missbilligung positioniere sich der Staat, indem er das Tatgeschehen autoritativ interpretiere und ihm die Anerkennung als rechtskonformes Verhalten verweigere.16 Es komme also darauf an, dass die Tat auf verbindliche Weise als Unrecht gedeutet werde. Darin liegt einerseits eine Präzisierung und Fortentwicklung des Rechts, das nun jeden Fall, der dem entschiedenen gleicht, schon vorab als Unrecht brandmarkt, und andererseits – so betont Feinberg – eine wichtige Positionierung des Staates gegen derartige Handlungen (symbolic nonacquiescence). Die förmliche Stellungnahme gegen die Verletzung einer strafbewehrten Norm sei deshalb wichtig, weil mit der Verletzung des Rechts Belange des Staates (als des Gesetzgebers) unmittelbar betroffen sind. Schwiege der Staat dazu oder äußerte er sich nur zurückhaltend, brächte er seine Autorität in Gefahr, die unerlässlich sei, um die kategorische Geltung rechtlicher Verhaltensnormen zu garantieren.17 b) Der Anschluss durch von Hirsch und Hörnle An die Argumentation von Feinberg knüpfen vor allem von Hirsch und Hörnle an.18 In verschiedenen Beiträgen haben sie die grundlegend kommunikative Struktur 15

Feinberg (wie Fn. 12), S. 636. Vgl. Feinberg (wie Fn. 12), S. 637. 17 In diesem Sinne ist, wie Feinberg (wie Fn. 12, S. 638) zutreffend anmerkt, auch Kants Straftheorie zu verstehen. 18 Direkte Bezugnahmen von Hirschs und Hörnles auf Feinbergs frühen Beitrag habe ich nicht finden können. Aber ich zweifle nicht daran, dass beide Autoren diesen Beitrag kennen. 16

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der Bestrafung dargelegt.19 Dabei folgen sie der inzwischen etablierten Erkenntnis, dass Verurteilung und Strafvollstreckung getrennt voneinander zu betrachten, zu deuten und zu legitimieren sind.20 aa) Das Strafurteil Einig sind beide zunächst darin, den Akt der Verurteilung wesentlich als eine an den Täter adressierte Äußerung des Tadels („sozialethisches Unwerturteil“) zu verstehen. Indem der kommunikative Gehalt des Strafurteils zudem ethisch gefasst wird21, vermeidet dieser Ansatz die generalpräventiv unvermeidliche Distanz zwischen Schuldprinzip und Strafzweck und will stattdessen gerade erklären, wie der Täter in der Verurteilung als moral agent ernst – also bei seiner Schuld und Verantwortlichkeit – genommen werden kann.22 Diese Ansprache an den Täter hat eine zuverlässige Aussicht, verstanden zu werden, denn ein Tadel für Fehlverhalten ist Bestandteil unseres alltagsmoralischen kommunikativen Repertoirs.23 Der auf diese Weise persönlich Angesprochene hat dadurch die Möglichkeit zu antworten und sich selbst zu dem gegen ihn geäußerten Tadel zu positionieren. Die damit vorgeschlagene Sinngebung des Tadels qua Verurteilung liegt – kommunikativ – in der Einbeziehung des Betroffenen und seiner Anerkennung als Rechtsperson (trotz Begehung der Straftat) sowie der rechtlich und moralisch gebotenen Einbindung dieses Tadels in ein gesellschaftlich anerkanntes Verständnis strafrechtlicher Schuld.24 Ergänzt wird diese Konzeption durch den Hinweis auf zwei weitere kommunikative Dimensionen des Strafurteils. Nicht nur der Täter, auch das Opfer der Tat wird durch das Strafurteil angesprochen. Ihm wird vermittelt, dass ihm kein Unglück, sondern Unrecht widerfahren ist.25 Wie wichtig der förmliche Ausspruch dieser Wertung für den Umgang des Opfers mit der Erinnerung an das ihm Widerfahrene ist, wird zu 19 von Hirsch/Hörnle, Positive Generalprävention und Tadel, GA 1995, S. 249 ff. (wieder abgedruckt in: von Hirsch, Fairness, Verbrechen und Strafe, Berlin 2005, S. 19 – 39); von Hirsch, Die Existenz der Institution Strafe: Tadel und Prävention als Elemente einer Rechtfertigung, in: ders., Fairness, Verbrechen und Strafe, Berlin 2005, S. 41 – 66; von Hirsch, Warum soll die Strafsanktion existieren?, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Strafe – Warum?, Baden-Baden 2011, S. 43 – 68; Hörnle (wie Fn. 13), S. 31 – 45. 20 Dies war bei Feinberg noch nicht so – was sich dadurch erklärt, dass sein Blick zuvörderst auf die Bestrafung gerichtet war und von dort aus die Verurteilung als kommunikativer Bestandteil des bestrafenden Aktes erschien. 21 von Hirsch/Hörnle (wie Fn. 19), S. 29, sprechen von einer „ethisierten Version“ des strafrechtlichen Tadels. 22 von Hirsch (wie Fn. 19, 2005), S. 49. – Ebenso von Hirsch/Hörnle (wie Fn. 19), S. 31: „Anerkennung des Handelnden als Person mit autonomer moralischer Selbstbestimmung“. 23 Darauf wird unter Verweis auf den wegweisenden Aufsatz von Strawson, Freedom and Resentment, in: ders., Freedom and Resentment and Other Essays, London 1974, S. 1 ff., regelmäßig hingewiesen. 24 S. zu letzterem insbesondere von Hirsch (wie Fn. 19, 2011), S. 53 f. 25 von Hirsch (wie Fn. 19, 2005), S. 49.

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Recht vielfach hervorgehoben.26 Und zugleich intendiere jedes Strafurteil die Botschaft an die Allgemeinheit, dass strafbare Handlungen unterlassen werden sollen, weil sie rechtlich (und in den meisten Fällen auch moralisch) falsch sind.27 bb) Die Bestrafung Hinsichtlich des Bestrafungsaktes setzen Hörnle und von Hirsch dagegen unterschiedliche Schwerpunkte. Während Hörnle – wie Feinberg – die harte Behandlung als essentiellen Bestandteil der strafenden Kommunikation ansieht, weil nur durch einschneidend spürbare Maßnahmen das Gewicht des Tadels angemessen verdeutlicht werden könne28, weist von Hirsch dem Vollzug der Strafe eine Doppelfunktion zu: Er sei einerseits Bestandteil des Tadels – und adressiere insoweit den Täter als moral agent –, zugleich aber eine Maßnahme mit generalpräventiver Zielrichtung, um die Menschen dort anzusprechen, wo sie durch „Instinkte und Neigungen“ getrieben werden.29 Da die Menschen weder engelsgleiche Tugendwesen seien, die allein durch gute normative Gründe motiviert würden, noch „wie Tiere“, die nur auf Drohungen reagieren, bedürfe es gleichzeitig der Auferlegung eines Übels als angemessenen Ausdrucks des Tadels und einer „Antwort“ auf die Straftat, die als „Entmutigung“ gegen die Begehung weiterer Straftaten wirkt.30 Für diese doppelte Deutung des Bestrafungsaktes sei „gerade die Verflechtung der Elemente der Missbilligung und der Übelszufügung“ entscheidend.31 von Hirsch erblickt darin die adäquate rechtliche Antwort auf das von ihm vorgestellte dichotomische Menschenbild: Der vernünftige Teil des Menschen wird mit der tadelnden Missbilligung konfrontiert; dem schwachen, zur Triebhaftigkeit neigenden Teil wird das Strafübel auferlegt, um gegen künftige Versuchungen Vermeidungsgründe aufzurichten. So passend dieses Modell auf den ersten Blick für die komplexe Doppelnatur des Menschen (die hier nicht in Zweifel gezogen werden soll) zu sein scheint, so deutlich zeigen sich bei näherem Hinsehen innere Spannungen. Der zu tadelnde homo rationalis müsse – so von Hirsch – nicht zwingend mit einem Strafübel belegt werden.32 26

S. dazu Hörnle (wie Fn. 13), S. 36 ff. mit weiterführenden Nachweisen. von Hirsch (wie Fn. 19, 2011), S. 52. – Deutlich zurückhaltender insoweit Hörnle (wie Fn. 13), S. 43: Dritte seien nicht Adressaten des Urteils, sondern hätten einzig das „Allgemeininteresse an der Bestätigung missachteter Normen, das allen Bürgern zusteht“. – Günther (wie Fn. 11, S. 133) betont ebenfalls die Ansprache an den Täter als vernünftige, verantwortliche Person und zugleich an das Opfer und die Allgemeinheit, orientiert sich aber hinsichtlich des Inhalts der kommunizierten Botschaft eher an der sogleich im Text thematisierten „normorientierten“ Variante der expressiven Theorie. 28 Hörnle (wie Fn. 13), S. 43 – 45. 29 von Hirsch (wie Fn. 19, 2005), S. 53, 55. 30 von Hirsch (wie Fn. 19, 2011), S. 54 f. 31 von Hirsch (wie Fn. 19, 2005), S. 59. 32 von Hirsch (wie Fn. 19, 2005), S. 58. 27

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Wenn er als moral agent ernst genommen wird, muss man sogar erwarten, dass die verbale Form der Missbilligung ausreicht, um in ihm eine innere Auseinandersetzung mit dem begangenen Normbruch auszulösen. Damit aber wird die Notwendigkeit der „harten Behandlung“ durch Strafvollzug letztlich vor allem darauf gestützt, dass der seinen Neigungen unterliegende „homo fallibilis“ (wie ich ihn nennen möchte) des fühlbaren Übels bedarf, um künftigen kriminellen Neigungen zu widerstehen. Das aber setzt von Hirsch aller Kritik aus, die gegen eine Deutung der Bestrafung als unmittelbar präventives Sanktionsinstrument geltend gemacht wurde (s. o. II.) – und widerspricht auch seiner eigenen, zustimmenden Übernahme von Hegels Diktum, die Bestrafung sei dann nichts anderes als „eine Art Tierdressur“.33 Die als „Verflechtung“ zweier Aspekte beschriebene Sinngebung der Bestrafung setzt sich aus zwei Elementen zusammen, die, je für sich genommen, das Ganze dieser Sinngebung nicht legitimieren können: Der homo rationalis bedarf der Übelszufügung nicht zwingend – wodurch Tadel (durch das Urteil) und nachfolgendes Strafübel nur in unverbindlicher Beziehung zueinander stehen; und dem homo fallibilis darf man das Strafübel nicht auferlegen, weil dies die Würde des Bestraften als moral agent missachtete. Wie aber soll aus der „Verflechtung“ zweier für sich insuffizienter Begründungsaspekte eine insgesamt überzeugende Begründung für den Bestrafungsakt erwachsen? Die Einbeziehung generalpräventiver Elemente in diese expressive Theorie des Strafens bleibt also ein Fremdkörper.

2. Die „normorientierte“ Konzeption von Jakobs und Frisch Ganz unabhängig von der eben dargestellten, auf persönliche Kommunikation ausgerichteten Konzeption hat Jakobs eine „normorientierte“ expressive Theorie formuliert, die sich bekanntermaßen systemtheoretischer Argumentationsmuster bedient. Wie auch die „personenorientierte“ expressive Theorie unterscheidet seine Konzeption zwischen der kommunikativen Bedeutung der Strafe, dem Sinn des mit ihr verbundenen Zwangs und dem Zweck dieser aus Verurteilung und Zwang zusammengesetzten Institution. „Gesellschaft“ sei, so Jakobs, wesentlich durch ein normatives Gefüge definiert. Die Verständigung darüber, welche Normen als zentral angesehen werden, konstituiere überhaupt erst eine Gesellschaft.34 Daher stelle ein Normbruch einen Angriff auf dieses Normgefüge dar, der ihren Wesenskern gefährde. Lasse die Gesellschaft – bzw. der sie repräsentierende Staat – einen solchen Normbruch unbeantwortet, drohe die Gefahr einer Erosion ihres Zusammenhalts. Daher sei es notwendig, auf den Normbruch ablehnend zu reagieren – mittels Strafe.35 Die Bedeutung der Strafe 33

von Hirsch (wie Fn. 19, 2005), S. 59. Bei Hegel (wie Fn. 3, § 99 Zusatz) heißt es, der Mensch werde wie ein Hund behandelt, gegen den man den Stock erhebt. 34 Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 3. Aufl., Berlin 2008, S. 61 ff. 35 S. etwa Jakobs, System der strafrechtlichen Zurechnung, 2012, S. 13 – 15; ausführlich ders. (wie Fn. 34); ders., Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, Paderborn 2004.

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liege im „Widerspruch gegen die [Norm-]Geltungsverneinung durch den Verbrecher“; ihr Zweck in der „kognitiven Sicherung der Normgeltung“.36 Die Strafe wird dadurch formalisiert und zu einem rein kommunikativen Instrument umfunktioniert, dessen sich der Staat bedient, um gegenüber allen Rechtsunterworfenen die Aufrechterhaltung der gebrochenen Norm zu betonen. In der Konsequenz dieses formalisierten Verständnisses von Strafe wird auch das Wesen der Straftat umgedeutet: Wenn die Strafe den Zweck habe, künftige Normtreue zu fördern, müsse die Straftat als Verstoß gegen die Normbefolgungspflicht begriffen werden – was nichts anders bedeutet, als dass der Begriff der Straftat rein formal als Normbefolgungsverweigerung formuliert wird.37 Dies sei das heute angemessene Verständnis der Straftat, da der Staat längst dazu übergegangen sei, das Strafrecht als allgemeines Instrument der Verhaltenssteuerung einzusetzen und das klassische Kernstrafrecht, das auf die Ahndung von Fremdschädigungen ausgerichtet war, längst hinter sich gelassen habe.38 Dass aber die verbale Äußerung des Widerspruchs gegen den Normbruch nicht ausreicht, um die künftige Normanerkennung hinreichend zu sichern, erklärt Jakobs letztlich (wenn auch etwas versteckt) mit der abschreckenden Wirkung von Strafdrohung und -vollstreckung: Man könne – hier schimmert Luhmann durch – die Normbefolgung der Anderen nur mit adäquater Gewissheit erwarten, wenn deren Normbruch einigermaßen unwahrscheinlich sei; also müsse der Normbruch so unattraktiv gemacht werden, dass er höchstwahrscheinlich nicht eintrete. Dies geschehe durch die „Zufügung eines Strafschmerzes“.39 Der expressive – d. h. kommunizierende – Charakter der Strafe liegt nach dieser Theorie in einer Art öffentlicher Verlautbarung des Inhalts, dass der Normbruch Unrecht war, dass staatlicherseits an der Normgeltung entschlossen festgehalten werde und sich daher alle Bürger auch künftig darauf verlassen könnten, dass ihnen derartige Normbrüche nicht jederzeit widerfahren werden. Die Art der Kommunikation unterscheidet sich damit wesentlich von der zuvor dargestellten, „personenorientierten“ Konzeption, denn dort wurde der Täter direkt – als moralisch Verantwortlicher – angesprochen und das Echo dieser Ansprache sollte auch vom Opfer deutlich gehört werden. Über einen für die Allgemeinheit wahrnehmbaren Nachhall dieser in den Gerichtssälen stattfindenden Kommunikation wurde recht wenig gesagt. Für Jakobs dagegen ist gerade die Allgemeinheit der Bürger der unmittelbare Adressat. Nur so

36 Jakobs, Staatliche Strafe (wie Fn. 35), S. 29 (Einfügung von mir; Hervorhebung im Original). 37 So aktuell Frisch, GA 2019, 185, insbes. S. 191 ff., unter expliziter Berufung auf Jakobs. 38 So Frisch, GA 2019, 185, 191 ff. 39 S. Jakobs, Staatliche Strafe (Fn. 35), S. 26 und 28 f. – Merkel (wie Fn. 2, 2008), S. 130 mit Fn. 205, beschreibt den Zusammenhang zwischen Normbruch und erforderlichem „Strafschmerz“ zutreffend als „tief verankert in einem komplexen Netz reaktiver Einstellungen“; es gebe ein „unaufhebbares Element von Vergeltung in jeder Schuldstrafe“.

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lasse sich die „kognitive Sicherung der Normgeltung“ innerhalb der Gesellschaft befördern.40 Jakobs nennt dies neuerdings „geltungserhaltende Generalprävention“.41 Diese Theorie verbindet in unvergleichlich eleganter Weise die normative Bedeutung des Bestrafungsaktes mit seinem Zweck: Es wird – durch Strafe – dem Normbruch widersprochen, weil (das ist die verbindende These) dies das allgemeine Bewusstsein der Normgeltung stärke und dadurch Normtreue fördere. Aber diese Strafe kommuniziert über die Köpfe der Betroffenen hinweg. Der Täter selbst wird gar nicht angesprochen; er wird nur verurteilt, damit alle anderen es hören – was unmittelbar den seit Kant und Hegel bekannten Instrumentalisierungsvorwurf heraufzwingt. Das Tatopfer, um dessentwillen ursprünglich und eigentlich der Staat das Strafen übernommen hatte42, kommt überhaupt nicht vor. Und die These, dass die öffentlich gesprochenen Urteile das allgemeine Gefühl der Normgeltung bestärken, fordert die Frage heraus, wie sich diese Wirkung empirisch zeigen lasse. Auch eine in der theoretischen Soziologie wurzelnde Theorie kann sich – gerade angesichts der notorischen Methodenunklarheit dieser Disziplin43 – dem Nachweis nicht entziehen, dass sie das Funktionieren der sozialen Wirklichkeit adäquat beschreibe.44 3. Erträge: Bedeutung und Grenzen der expressiven Theorie der Strafe Erstaunlich lange wurden zwei Argumentationsstränge unkritisch miteinander verwoben: derjenige über die Beschreibung der Strafe als tadelnde Sanktion für schuldhaft verwirklichtes Unrecht und derjenige über die Legitimation des strafenden Eingriffs in Rechtsgüter oder Interessen des Verurteilten. Strafe wurde vor allem auf ihre präventiven Effekte hin betrachtet und deshalb wie ein präventives Zwangsinstrument des Staates behandelt, obwohl zugleich gesehen wurde, dass der Akt der 40

Zustimmend Merkel (wie Fn. 2, 2012), S. 57. Jakobs, System der strafrechtlichen Zurechnung (Fn. 35), S. 15. 42 Die Ursprünge des staatlichen Strafrechts sind noch nicht zureichend erforscht. Aber es gilt als recht sicher, dass das staatliche Strafmonopol von Anfang an vor allem auch dem Ziel diente, private Rache in ihrer ungezähmten Radikalität verhindern, so dass der Staat das Strafen als Stellvertreter für das geschädigte Opfer übernahm. 43 Die Arbeitsweise der theoretischen Soziologie ist tatsächlich ein Phänomen: Soweit sie sich von der empirischen Soziologie abgrenzen will, kann sie auf erfahrungswissenschaftliche Befunde nicht rekurrieren. Und von der Philosophie als der Wissenschaft des richtigen Denkens und Argumentierens über die Grundfragen des Menschen und der Welt will sie sich ebenfalls als eigenständig abheben. Woher gewinnt sie dann ihre Aussagen und Begründungen? Es liegt der Verdacht nahe, sie arbeite vor allem mit Intuitionen und Plausibilitätsbehauptungen. Gerade dann aber schuldet sie an zentralen Stellen den Nachweis, dass sie die soziale Wirklichkeit abbildet und nicht allein systemtheoretische Abstraktionen konstruiert. 44 Merkel (wie Fn. 2 [2008], S. 125 f., insbes. in Fn. 199), sieht das im Anschluss an Jakobs anders: Empirischen Nachweis fordernde „Beschwerden“ lägen neben der Sache, weil es allein um die symbolisch-institutionelle „Bedeutung“ der Strafe gehe, die eben in der symbolischen Wiederherstellung des verletzten Normgeltung liege. Aber gerade als symbolisch begriffene Akte bedürfen eines besonders gewissenhaften Nachweises, dass ihre Symbolik die erwünschten Konsequenzen hat. 41

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Bestrafung nichts Präventives in sich trägt, sondern vom Gesetz und in der Rechtsprechung auf die begangene Straftat zurückbezogen wird. Diese unaufgelöste Dichotomie findet sich derzeit in zahlreichen Lehrbüchern des Strafrechts.45 Vor allem die expressive Theorie der Strafe trägt nun dazu bei, das Phänomen einer schuldvergeltenden Sanktion mit präventivem Zweck zu erhellen, indem sie den Fokus von der Strafdrohung bzw. der Strafvollstreckung weg auf den Akt der Bestrafung selbst legt. In diesem Akt richtet der Staat seine Botschaften an die Beteiligten und Betroffenen der Tat. Die Verurteilung ist das zentrale Ereignis der gesamten Bestrafungsprozedur: das Einlösen der Strafdrohung und die Entscheidung über Art und Höhe der zu vollstreckenden Strafe. Und sie ist der einzige Moment, in dem der Staat zu der begangenen Tat von Amts wegen Stellung nimmt, das einschlägige Ereignis verbindlich als Straftat deutet und damit dem Täter wie dem Opfer mitteilt, wie beide das zu verarbeitende Geschehen zu verstehen haben. Außerdem ist es gerade die Verurteilung, die einschneidend in die Rechte des Verurteilten eingreift und daher eigenständig legitimationsbedürftig ist. Daher ist es rechtsstaatlich geboten, sich mit diesem Akt gründlich auseinanderzusetzen und darzulegen, welcher Sinn in ihm liegt. Der maßgebliche Fortschritt – und damit die Leistung – der expressiven Theorien liegt darin, den genuin repressiven Gehalt der Bestrafung wieder anerkannt und plausibel gemacht zu haben. Bestrafung ist – was bei aller Verschiedenheit der personenund der normorientierten Richtungen beide Varianten der expressiven Theorien anerkennen – ein retributives Instrument: der Vorwurf ob der schuldhaft begangenen Tat bzw. die öffentliche Brandmarkung des Normbruchs. Damit formulieren die expressiven Theorien ausdrücklich einen retributiven Begriff der Bestrafung. Nur dieses Verständnis des Strafens als einer vergeltenden Antwort auf den Rechtsbruch wird der Vorstellung gerecht, die die Menschen vom Vorgang jeden Strafens haben.46 Und das ist entscheidend für das Gelingen der Kommunikation, die in der bestrafenden Verurteilung liegt. Und doch sind mit beiden expressiven Konzeptionen Schwierigkeiten verbunden. Die „personenorientierte“ Theorie intendiert von vornherein nur eine treffende Beschreibung des Bestrafungsaktes, liefert aber nach Hörnles eigenen Worten „keinen eigenständigen Zweck für Strafe“.47 Das gilt besonders dort, wo die Kommunikation 45 S. etwa Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht Allgemeiner Teil, 12. Aufl., Bielefeld 2016, § 2 Rn. 20 ff., 53 ff.; Heinrich, Strafrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl., Stuttgart 2016, Rn. 13 ff., 19 f.; Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 10. Aufl., München 2018, § 3 Rn. 21 ff.; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 47. Aufl., Heidelberg 2017, Rn. 21 ff; Hoffmann-Holland, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl., Tübingen 2015, § 1 Rn. 12 ff., 20. 46 Dazu noch genauer sogleich u. IV. 47 Hörnle (Fn. 13), S. 35. – Von daher erstaunt es, dass Hörnle grundlegend differenzieren will zwischen präventiven und expressiven Theorien (a.a.O., S. 3 und passim), denn dies stellt beide auf dieselbe argumentative Stufe. Das wäre aber nur dann richtig, wenn auch die expressive Theorie Aussagen zur Legitimation des Rechtsinstituts „Strafe“ träfe – was aber die personenorientierte Variante gerade nicht tut.

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mit dem Tatopfer betont wird – denn es gibt ja auch opferlose Straftaten (welche sich gegen Rechtsgüter der Allgemeinheit oder des Staates richten), bei denen dieser Kommunikationsstrang notwendigerweise fehlt.48 Anders als Hörnle bemüht sich von Hirsch explizit um eine Verbindung jedenfalls zwischen der Übelszufügung und einem generalpräventiv verstandenen Strafzweck – allerdings ohne eine generalpräventive Zielrichtung der Bestrafung schlüssig in seine Theorie integrieren zu können. Der Wert der „personenorientierten“ expressiven Theorie liegt mithin in ihrem Fokus darauf, was geschieht, indem verurteilt und bestraft wird; sie präsentiert sich als eine Theorie über den Begriff der Strafe. Zu der Frage dagegen, warum Strafe erforderlich und legitim ist, trägt sie von ihrem Ansatz her nichts bei. Umgekehrt setzt die „normorientierte“ Theorie Jakobsscher Prägung bei der Legitimationsfrage an und deutet von dort aus – also vom Ziel der Normgeltungsbekräftigung und der Normtreue in der Bevölkerung her – die Kommunikation durch Bestrafung. Dabei hatte sich aber gezeigt, dass die Deutung der Strafe als nur allgemein-öffentlicher Verlautbarung rechtsstaatlich unzulänglich ist. Dieser Ansatz vermag also zwar eine nachvollziehbare Legitimation für das Strafen anzubieten, aber keine nachvollziehbare Deutung des kommunikativen Gehalts von Verurteilung und Bestrafung. So ergibt sich ein noch ergänzungsbedürftiges Bild des expressiven Zugangs zur Strafe: Die „personenorientierte“ Konzeption beschreibt den Vorgang des Strafens adäquat, trägt aber nichts zur Legitimation bei. Die „normorientierte“ Konzeption erklärt den Strafzweck plausibel, entwirft aber ein inadäquates, obrigkeitsstaatlich-arrogantes Bild des Bestrafungsaktes.

IV. Die strafende und die das Strafen legitimierende Ebene Dass die Strafe keine polizeirechtlich-präventive Maßnahme ist – und auch bei präventiver Legitimation nicht als solche gedeutet werden kann –, wird heute recht einhellig so gesehen. Gleichwohl aber wird die inhaltliche Ausgestaltung der Strafe sehr verbreitet von ihrem präventiven Zweck her vorgenommen. Roxin etwa formuliert das ausdrücklich: Die Strafe habe keinerlei „Wesen“ jenseits ihres präventiven Zwecks49– mit anderen Worten: sie sei unmittelbar von ihrem präventiv 48 Hörnle (Fn. 13), S. 36. – Indem aber die expressive Theorie freilegt, dass die mit der Bestrafung verbundene Kommunikation bei klassischen Schädigungsdelikten anders verläuft als bei abstrakten Gefährdungs- und Gemeinschaftsschutzdelikten, macht sie darauf aufmerksam, dass opferlose Straftaten ganz anders strukturiert sind und daher einer eigenen, gründlicheren Legitimation bedürfen (s. dazu schon umfassend Feinberg, Harmless Wrongdoing, Oxford 1988). Diese wichtige Erkenntnis wird in der deutschen Diskussion dadurch erschwert, dass zur Rechtfertigung aller Arten von Straftatbeständen immer nur die Standardfrage gestellt wird, ob sie denn „ein Rechtsgut schützen“ (s. zu dieser Kritik bereits Seher, Prinzipiengestützte Strafnormlegitimation und der Rechtsgutsbegriff, in: Hefendehl/ von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, Baden-Baden 2003, S. 39, 44 f.). 49 Roxin (wie Fn. 4), 3/45: Rechtliche „Einrichtungen“ hätten kein von ihren Zwecken unabhängiges „Wesen“, „sondern dieses ,Wesen‘ wird durch das Ziel bestimmt, das man damit erreichen will“.

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verstandenen Zweck her zu begreifen und auszugestalten. Und die „normorientierte“ expressive Theorie macht die Deutung von Straftat und Strafe von ihrem funktionalistischen Verständnis her offiziell zum Programm: Ausgehend von der Überzeugung, dass die Bekräftigung der Normgeltung den legitimierenden Sinn des Strafens liefert, wird der Boden des tradierten Verständnisses der Straftat als Verletzung materieller Güter oder Interessen und der Strafe als ausgleichender Sanktion vollständig verlassen und an seine Stelle ein rein formales Konzept gesetzt, dass die Straftat nur als Normbruch betrachtet und die Strafe als autoritative Antwort darauf deutet. Eine solche präventive Deutung der Strafe verfehlt die Begriffe von Straftat und Strafe fundamental. Strafe ist kein Instrument, dessen Charakter zur Disposition soziologisch inspirierter oder rechtsdogmatisch willkürlicher Theoriebildung stünde. Vielmehr ist es ein Mittel sozialer Kommunikation und Verhaltenssteuerung, das in einer über Jahrtausende gewachsenen sozialen Alltagspraxis wurzelt und dessen Struktur vergeltend geprägt ist. Daran hat Tonio Walter in einem mutigen Beitrag erinnert.50 Vergeltung ist – anders als Rache – eine Antwort des Angemessenen, die ebenso tadelnd wie belohnend auftritt.51 Immer geht es um den Gedanken des Ausgleichs für eine vorangegangene Handlung – belohnend, wenn sie gut war; schmälernd, wenn sie schädigend war. Eine solche Reaktion erwarten wir alltäglich für all unser Tun – und wenn eine solche bewertende Reaktion ausbleibt, wird unsere normative Wahrnehmung der einschlägigen Handlung gestört: Wir werden unsicher darüber, ob diese Handlung (sei es unsere eigene, sei es die Handlung eines anderen) das wert ist, was wir gedacht hatten. Eine Heldentat ohne nachfolgendes Lob wirkt wie nicht geschehen; eine Schandtat ohne nachfolgende Ahnung wirkt wie gebilligt. Walter nennt dies eine „ethische Werkseinstellung des Menschen“.52 Es handelt sich dabei nicht um metaphysische Ideen einer absoluten Gerechtigkeit, sondern um eine uns allen innewohnende, sehr irdische Intuition von Fairness. Und die Antwort, die diese Intuition erwartet, hat nichts mit bösartiger Rache zu tun, sondern mit einer fairen Zuteilung dessen, was die Handlung wert war. Deshalb hilft es der wissenschaftlichen Diskussion erheblich, wenn statt des pejorativ konnotierten Wortes „Vergeltung“ von „Retribution“ gesprochen wird: der ausgleichenden „Rückzahlung“ dessen, was durch die Tat als Veränderung in die Welt gesetzt wurde. Wer strafen will, muss diese anthropologische Konstante beachten. Er muss das tun, was „Strafen“ eben bedeutet: Dem Handelnden das „zurückgeben“, was seine Handlung „wert“ war. Diese Retribution in ihrer eigentlichen Bedeutung53 ist der 50

Walter, ZIS 2011, 636 ff. Süddeutsche wissen das bis heute aus der alltäglichen Floskel „Vergelt’s Gott“, die nach einer mildtätigen Gabe wertschätzend gemeint ist: s. Walter, ZIS 2011, 636, 637. 52 Walter, ZIS 2011, 636, 642. – Merkel (wie Fn. 2, 2008), S. 131, spricht, die äußere Erscheinung betrachtend, von einem „Element der institutionellen Struktur unserer gesellschaftlichen Lebensform“. 53 Retribuere = zurückgeben, -erstatten und jmdm. das ihm Gebührende zukommen lassen, s. Online-Lexikon Pons: https://de.pons.com/%C3%BCbersetzung?q=retribuere&l=dela&in =la&lf=la&qnac= (zuletzt abgerufen am 06. 11. 2019). 51

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Sinn jedes strafenden Aktes. Sein kommunikativer Gehalt liegt in der – lobenden oder tadelnden – Bewertung der Handlung, auf die er antwortet.54 Wer die Strafe nach präventiven Gesichtspunkten zumessen will, verzerrt diese Kommunikation durch sinnwidrige Einstreuung von Erwägungen, die mit der Antwort auf die Tat nichts zu tun haben. Es ist schlicht nicht logisch, dem Täter zu sagen: „Weil du dich durch deine Tat in bestimmter Höhe schuldig gemacht hast, wirst du nun mit dem Strafmaß X bestraft, damit die Allgemeinheit ihr Vertrauen in die Geltung des von dir verletzten Tatbestandes behält und ihre Normtreue gestärkt wird.“ Die kommunikative Bedeutung der Strafe und ihr Zweck lassen sich nicht in ein gemeinsames argumentatives Kausalgefüge bringen. Offensichtlich liegt genau hier der strukturelle Fehler der zahlreichen Spielarten präventiver Theorien. Er kann nur dadurch vermieden werden, dass man in der Theorie des Strafens strikt zwischen zwei Ebenen unterscheidet. Auf der primären, rechtspraktischen Ebene werden das Strafverfahren geführt, das Urteil gesprochen und die Strafe verhängt. Diese Prozedur folgt dem retributiven Ritual, mit dem der Staat tief verwurzelte soziale Praktiken übernimmt, die offensichtlich erfolgreich sind, weil sie mit einer menschlichen Intuition von Fairness kongruieren, die sich seit Urzeiten nachweisen lässt. Auf dieser Ebene geht es darum, was Strafe ist: eine tadelnde, retributive Antwort auf gravierendes Fehlverhalten. – Auf einer davon strikt getrennten zweiten, theoretischen Ebene wird die Prozedur, die auf der ersten Ebene abläuft, kritisch betrachtet. Allein hierher gehören die legitimatorischen Fragen, die sich rechtsstaatlich stellen: Warum wird (auf der Primärebene) gestraft? Welche rechtsstaatlichen Ziele können dadurch gefördert werden? Gibt es – jetzt oder in einer nahen oder fernen Zukunft – rechtliche Alternativen zum Einsatz des Strafrituals? Diese strikte Trennung zweier Ebenen des Nachdenkens über Strafe befolgt einen Ratschlag, den die wissenschaftliche Debatte immer wieder bekommen55 – aber leider zu oft überhört – hat und den erst kürzlich Wohlers nachdrücklich in Erinnerung gerufen hat: dass es von entscheidender Wichtigkeit ist, zwischen dem Begriff der Strafe und ihrer Legitimation zu unterscheiden.56 Dieselbe Intention verfolgt Tonio Walter, wenn auch mit anderer Begrifflichkeit: Er beschreibt die Strafe unmittelbar als eine Maßnahme, die „als Übel wirkt“ und „eine sozialethische Missbilli-

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Dies gilt auf allen Ebenen des sozialen Zusammenlebens: Eltern geben ihren Kindern eine materiell spürbare Belohnung für eine gelungene Leistung und verbieten z. B. das Fernsehen, wenn das Kind seine Aufgaben nicht erfüllt hat; Geschäftspartner vereinbaren Vertragsstrafen bei verantwortbarer Verspätung einer zugesagten Leistung; Vereine drohen mit Ausschluss, wenn ein Mitglied seine Beiträge nicht bezahlt – die Beispiele ließen sich unbegrenzt vermehren. 55 Beispielsweise von Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, hrsg. und mit einer Einleitung versehen von Eric Hilgendorf, Nachdruck der 2. Auflage 1971, 2004, S. 51; Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straftheorie, Berlin 2009, S. 278. 56 Wohlers, GA 2019, 425, 426.

Wert und Grenzen der expressiven Theorie der Strafe

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gung unterstreicht“, und unterscheidet davon „Sekundärzwecke“, die mit der so strukturierten Maßnahme intendiert werden.57 Für die strafrechtsphilosophische Diskussion bedeutet dies: Auf der primären, strafenden Ebene sind die Fragen angesiedelt, wie (schuld)angemessen zu strafen ist, welche kommunikative Bedeutung die Akte der Verurteilung und Bestrafung haben und wann Strafe eine angemessene Reaktion auf einen Normbruch ist (Legitimität von Strafnormen). Auf der zweiten, straftheoretischen Ebene ist die Frage beheimatet, warum die Durchführung der strafenden Prozedur auf der primären Ebene geboten ist.

V. Der legitimierende Zweck staatlichen Strafens Dass auf der rechtspraktischen Ebene vergeltend gestraft wird, erfordert eine gründliche Legitimation durch Erwägungen auf der theoretischen Ebene. Scheinbar herrschte hier über Jahrhunderte ein heftiger Disput zwischen Konzeptionen, die in der Vergeltung nicht nur den Begriff der Strafe verkörpert sahen, sondern in ihr zugleich die erschöpfende Begründung für das staatliche Strafen erblickten. Es wurde bereits angedeutet – und kann hier nicht weiter entfaltet werden –, dass intrinsisch vergeltende Straftheorien nur sehr selten vertreten wurden und jedenfalls seit der Aufklärung nicht mehr plausibel gemacht werden können. Weder eine objektiv wahre Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit noch eine Vergeltung zur Erfüllung eines göttlichen Auftrages kommen als Legitimation in Betracht. Es ist also längst entschieden, dass auf der theoretischen Ebene allein präventive Erwägungen in Betracht kommen: Jemandem ein Strafübel aufzubürden, ist nur dann sinnvoll, wenn dies für die Zukunft irgendeinen positiven Effekt verspricht. Solche Effekte sind vielfältig – wie die Varianten der Präventionstheorien herausgearbeitet haben: Eine schuldangemessene Strafe kann den Bestraften von der Begehung weiterer Straftaten abschrecken oder ihn zur Rechtstreue bekehren (Spezialprävention), und eine hinreichend zuverlässige Strafverfolgung und Aburteilung begangener Straftaten stärkt das Vertrauen der Allgemeinheit darin, dass das Recht „funktioniert“ und man sich also darauf verlassen kann, dass es auch künftig beachtet werde – und dass es vernünftig ist, sich selbst rechtstreu zu verhalten (Generalprävention). Dass die gesetzlichen Strafdrohungen vor einer begangenen Tat allein durch negativ-generalpräventive Erwägungen legitimierbar sind, ist sogar common sense. Es zeigt sich, dass die zahlreichen Spannungen und Brüche in der Diskussion um die staatliche Strafe und ihre Legitimation bereinigt werden können, wenn man sich dem Gedanken öffnet, dass in dieser Diskussion in zwei strikt voneinander zu trennenden Ebenen gedacht werden muss, denen je eigene Aspekte des Erklärens und Legitimierens von Strafe zuzuweisen sind. 57 Walter, ZIS 2011, 636, 637. – Ebenso interessanterweise schon Feinberg (wie Fn. 12), S. 637 (s. o. III. 1. a)).

Das Ideal des Bürgerstrafrechts vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Fragmentierung Von Tatjana Hörnle

I. Einleitung Wenn das Stichwort „Bürgerstrafrecht“ genannt wird, werden die meisten Leser damit umgehend „Feindstrafrecht“ assoziieren.1 Die zweipolare Terminologie hat Günther Jakobs geprägt2 und damit eine heftige Diskussion ausgelöst. Kritische Stimmen stören sich an der Verwendung des Begriffs Feind3 sowie der Affirmation eines Feindstrafrechts4 und warnen vor der Anwendung auf relativ harmlose Gruppen.5 Luís Greco argumentiert, dass sich die Kategorie des Feindstrafrechts weder für deskriptive Zwecke (zu emotionsbeladen) noch für Kritik (zu abwertend gegenüber konträren kriminalpolitischen Ansichten) gut eigne.6 Reinhard Merkel, dem ich diesen Beitrag in alter Verbundenheit und Freundschaft widme, hat hingegen darauf verwiesen, dass unter engen Voraussetzungen die Einordnung eines Täters als Feind durchaus zu begründen sei, nämlich dann, wenn sich die Tat „gegen die rechtlich verfasste Gemeinschaft als ganze“ richte, also bei terroristischen Delikten.7 Mein Beitrag konzentriert sich auf den anderen Pol: die in der (Straf-)Rechtstheorie zu findenden Vorstellungen von Bürgern und Bürgerstrafrecht. Es lohnt sich, den Fokus von der Debatte über den Begriff des Feindes, die Existenz und Legitimität

1 Dies zeigen auch Verknüpfungen an, die Suchmaschinen im Internet herstellen: Wer „Bürgerstrafrecht“ eintippt, findet fast ausschließlich Texte zum Feindstrafrecht aufgelistet. 2 Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 755 ff.; ders., HRRS 2004, 88 ff.; ders., HRRS 2006, 289 ff.; ders., in: Rosenau/Kim (Hrsg.), Straftheorie und Strafgerechtigkeit, 2010, S. 167 ff. 3 S. z.B. Hörnle, GA 2006, 80, 95; Paeffgen, FS für Amelung, 2009, S. 81, 88. 4 Unter anderem: Prittwitz, in: Pilgram/Prittwitz (Hrsg.), Kriminologie. Akteurin und Kritikerin gesellschaftlicher Entwicklungen, 2005, S. 215, 224 ff.; Saliger, JZ 2006, 756, 761 ff.; Neumann, in: Uwer (Hrsg.), Bitte bewahren Sie Ruhe. Leben im Feindstrafrecht, 2006, S. 299 ff.; Ambos, ZStrR 124 (2006), 1, 18 ff.; Arnold, HRRS 2006, 304 ff.; Bung, HRRS 2006, 63 ff.; Greco, Feindstrafrecht, 2010, S. 50 ff.; Paeffgen, FS für Amelung, 2009, S. 81 ff. 5 Jasch, in: Uwer (Fn. 4), S. 267, 273 ff. 6 Greco (Fn. 4), S. 53 ff. 7 Merkel, in: Kindhäuser u. a. (Hrsg.), Strafrecht und Gesellschaft: Ein kritischer Kommentar zum Werk von Günther Jakobs, 2019, S. 327, 345 ff.

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eines Feindstrafrechts zu den normativen Idealen8 „Bürger“ und „Bürgerstrafrecht“ zu verschieben. Dabei gilt mein Interesse empirischen Bedingungen, die hinter diesen Idealen stehen. Dieser Ansatz ist in der Strafrechtstheorie wenig gebräuchlich. Auch ausführlich entwickelte Entwürfe zum Thema Bürgerstrafrecht9 interessieren sich nicht für Empirie, da Bezugswissenschaften und Ziele normativ sind. Die Figur des Bürgers als Konstrukt von Staatstheorie und politischer Philosophie ist nicht mit empirisch beschreibbaren Menschen gleichzusetzen. Kriminalpolitische Kritik benötigt normative Ziele, um eine Veränderung des empirisch Beschreibbaren einzufordern. Hieraus ist aber nicht zu folgern, dass Ideale sich von realen Umständen abkoppeln lassen. Auch normative Konstrukte setzen einen gewissen Wirklichkeitsbezug voraus10 – jedenfalls dann, wenn daraus ernst zu nehmende rechtspolitische Forderungen abgeleitet werden sollen. Der Rekurs auf ein Bürgerstrafrecht wäre wenig überzeugend, wenn dies mit dem Eingeständnis verbunden würde, dass es sich um eine realitätsferne, schwärmerische Utopie handle. Für die Strafrechtstheorie bedeutet dies, dass es nicht damit getan ist, emphatisch normative Leitbilder zu unterstreichen. Vielmehr sollten wir, was auch Reinhard Merkel betont hat,11 die Komfortzone der idealen Theorie gelegentlich verlassen und tatsächliche Rahmenbedingungen zur Kenntnis nehmen. Die Idealfigur des Bürgers ist mit Verhaltenserwartungen verbunden, und das Ideal eines Bürgerstrafrechts impliziert bestimmte sozialpsychologische Einstellungen bei Reaktionen auf Straftaten. Eine Aufgabe für die Strafrechtswissenschaft liegt darin, die Differenz zwischen diesen Idealen und tatsächlichen psychologischen wie sozialpsychologischen Gegebenheiten auszuleuchten (dazu unten III.). Diese Differenz verdient besonders dann Aufmerksamkeit, wenn Änderungen der sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen befürchten lassen, dass sie zunimmt. Meine Hypothese ist, dass sich gesellschaftliche Entwicklungen, die als zunehmende Fragmentierung beschrieben werden können, auf die psychologische und sozialpsychologi8 Jakobs bezeichnet sein Konzept eines Bürgerstrafrechts als Idealtypus (Jakobs, HRRS 2004, 88; ders., in: Rosenau/Kim [Fn. 2], S. 177). Max Weber, der den Begriff Idealtypus geprägt und für seine soziologischen Überlegungen vielfach benutzt hat (s. die in Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1922, enthaltenen Untersuchungen), betonte, dass ein Idealtypus ausschließlich zu heuristischen Zwecken konstruiert werde. Er beinhalte weder normative Wertungen (schließlich gebe es „Idealtypen von Bordellen so gut wie von Religionen“, a.a.O., S. 200) noch Aussagen zur Zweckmäßigkeit. Typische Bezugnahmen auf ein Bürgerstrafrecht sind dagegen stark normativ aufgeladen: Sie verweisen auf eine eindeutig positiv bewertete Zielvorstellung. Im Folgenden spreche ich deshalb nicht (mehr) von Idealtypen (anders noch Hörnle, GA 2006, 80, 81), sondern von Idealen. 9 S. für Entwürfe, die beim Begriff des Bürgers ansetzen oder ihn mit großer Selbstverständlichkeit verwenden, z. B. Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012; Rostalski, Der Tatbegriff im Strafrecht, 2019; sowie das Lebenswerk von Antony Duff und Sandra Marshall, z. B. Duff, The Realm of Criminal Law, 2018, Kap. 3, 4 und ibid.; Duff/Marshall, Criminal Law and Philosophy 2018, 27 ff. 10 Jakobs: „nicht rein kontrafaktisch“, sondern „im großen und ganzen kognitiv unterfangen“, HRRS 2004, 88, 91. 11 Merkel (Fn. 7), S. 356.

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sche Basis des Bürgerstrafrechts ungünstig auswirken (dazu unten IV.). Faktoren, die ein Bürgerstrafrecht schwächen können, sind variationsreicher und komplexer als eine Engführung auf „Feinde“ suggeriert, wenn man mit Reinhard Merkel davon ausgeht, dass diese Bezeichnung allenfalls für terroristische Aktivitäten angemessen ist.12 Die Fixierung auf ein bipolares Bürger-Feind-Analyseschema verstellt den Blick auf soziale und kulturelle Entwicklungen, die zu einer breiteren Kluft zwischen dem Ideal von Bürgern und Bürgerstrafrecht und der Realität führen können.

II. Idealbilder 1. Der Bürger a) Der normgebundene Bürger Welche Fähigkeiten und Verhaltensdispositionen werden der Figur des Bürgers zugeschrieben? Für unser strafrechtliches Thema betrifft eine wesentliche Dimension die Fähigkeit und Bereitschaft, das eigene Verhalten an allgemeinen Verhaltensnormen auszurichten und auf die situationsspezifische Orientierung am persönlichen Nutzen zu verzichten. Jakobs schreibt hierzu: Bürger seien Personen, die „im großen und ganzen“ die Gewähr bieten, sich rechtstreu zu verhalten. Anders als eine Person sei ein Individuum ein „nach Lust und Unlust kalkulierendes Wesen“.13 Sein Ausgangspunkt ist ein sozialpsychologisches Phänomen, nämlich wechselseitiges Vertrauen in die Normtreue anderer – eine zentrale Voraussetzung für die weitgehend anonymen, nicht auf individueller Kenntnis beruhenden Interaktionen in hochkomplexen, arbeitsteilig organisierten Gesellschaften.14 Dieses Vertrauen hat dann eine stabile Basis, wenn man sich darauf verlassen kann, dass Mitbürger das Konzept einer normativen Verpflichtung nicht nur abstrakt-intellektuell verstehen, sondern sich auch unmittelbar gebunden fühlen. Dem Idealbild des Bürgers entsprechen Menschen, für die Begründungen wie „Das gehört sich nicht“ oder „Das darf man nicht“ eigenständige Handlungsgründe sind, die auch ohne zusätzliche Anreize oder kognitiv verarbeitete Klugheitsregeln (Vermeidung von negativen Konsequenzen) verhaltensleitend wirken. Eine zentrale Frage ist, wie Normen zu eigenständigen Handlungsgründen werden können. In der demokratietheoretischen politischen Philosophie werden dazu rationalistische Vorstellungen vertreten, die betonen, dass Bürger in Demokratien Normen mitgestalten können.15 Allerdings dürfte selbst ausgeprägtes Verständnis für die Bedeutung von Wahlen nur bedingt geeignet sein, die Verbindung zur Verhaltensebene hinreichend verlässlich zu sichern, zumal selbst für diejenigen, die regelmäßig an 12

Merkel (Fn. 7), S. 345 ff. Jakobs, HRRS 2004, 88, 91. 14 Merkel (Fn. 7), S. 343. 15 Günther, Jahrbuch für Recht und Ethik 2 (1994), 143. 13

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Wahlen teilnehmen, Einflussmöglichkeiten offensichtlich extrem verdünnt sind. Stabile Verhaltensmuster entstehen nicht durch rationales Nachdenken über die Vorzüge der Demokratie, sondern durch langjährige, durch kulturelle Rahmenbedingungen geprägte Sozialisationsprozesse. Entscheidend sind sozialisationsbedingte Verhaltensdispositionen, die im individuellen Bewusstsein als Pflichtgefühl aufscheinen, als primär affektive, nicht mehr rational hinterfragte Bindung an Sollenssätze wie „Das macht man nicht“. Diese Pflichtgefühle sichern nicht nur das vorrechtliche Ideal des moralisch Handelnden, sondern auch das Ideal des Rechtsnormen als verbindlich erlebenden Bürgers. Den Gegensatz bilden Individuen, die sich situationsspezifisch, orientiert am konkreten Nutzen und den zu erwartenden Kosten entscheiden, ob sie sich an Verhaltensnormen halten oder dies nicht tun.16 Für andere Menschen hat diese Entscheidungsstrategie zwei entscheidende Nachteile. Erstens ist situationsspezifisches Verhalten nur beschränkt vorhersehbar und berechenbar, vor allem deshalb, weil Präferenzen und Abwägungen eine individuelle Komponente haben: sowohl Nutzen als auch Kosten werden unterschiedlich gewichtet. Zweitens führt in manchen Situationen eine rationale, nicht durch Pflichtgefühle eingeschränkte Kalkulation zum Ergebnis, dass die Nichtbeachtung von (informellen oder in Gesetzesform vorliegenden) Verhaltensnormen sinnvoll wäre. Dies gilt insbesondere in modernen Wirtschafts- und Sozialsystemen, die Trittbrettfahrern unzählige Möglichkeiten bieten, sich durch unfaires, regelwidriges Verhalten Vorteile zu verschaffen. Unsere Institutionen und Organisationen zur sozialen Sicherung, Daseinsvorsorge und sonstigen geteilten Anliegen sowie hochkomplexe wirtschaftliche Zusammenhänge geben Anreize zu ausbeuterischem Verhalten. Die Möglichkeiten, diese Anreize durch die Androhung von erhöhten Kosten für Trittbrettfahrer zu neutralisieren, sind beschränkt. Wer rational Wahrscheinlichkeiten berechnet, wird oft erkennen, dass das Risiko einer tatsächlichen Belastung mit Kosten gering ist, weil die Chancen, unentdeckt zu bleiben, sehr hoch sind. Ausbeuterisches Verhalten ist nur dann in vertretbaren Grenzen zu halten, wenn eine hinreichend große Zahl an Menschen dem Ideal des Bürgers mit internalisierter, durch Pflichtgefühle gesicherter Normbefolgungsbereitschaft entspricht. b) Der selbstbestimmt und eigenverantwortlich sein Leben organisierende Bürger Eine zweite zentrale Eigenschaft, die den Status als Bürger charakterisiert, ist die Fähigkeit, eigenständig und eigenverantwortlich, ohne staatliche Anleitung und Überwachung, Lebensbereiche selbst zu organisieren. Das Bundesverfassungsgericht bringt dies mit der Formel „Selbstbestimmung und Eigenverantwortung“ zum Ausdruck.17 Die ideengeschichtlichen Wurzeln sind bekannt,18 etwa bei 16

S. zur Modellierung von rational choice und dazu, dass Menschen sich teilweise so verhalten Paternoster, Journal of Criminal Law and Criminology 100 (2010), 765, 782 ff., 811 ff. 17 BVerfGE 41, 29, 58; 108, 282, 300.

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Hegel in der Unterscheidung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat angelegt19 oder bei John Stuart Mill mit der Begründung, warum die Respektierung von Privatsphären sowohl für das Individuum wertvoll als auch kollektiv sinnvoll ist.20 Basis der normativen Festlegung, Selbstbestimmung zu achten, ist eine anthropologische Prämisse, nämlich die Annahme, dass erwachsene Menschen im Regelfall selbstbestimmt und kompetent gestalten können – ohne die Unterstellung eines solchen Könnens würde das Pochen auf Freiheitssphären wenig Sinn ergeben. Das Attribut der Eigenverantwortlichkeit sichert dabei, dass sich die vorausgesetzten Kompetenzen in Grenzen halten: Nicht erforderlich ist der Nachweis, dass selbstbestimmtes Handeln zu einem Optimum an (wie auch immer bestimmbarer) Lebensqualität führt. c) Der kommunikative Bürger Nur kurz angerissen werden kann hier die Frage, ob zum Bild des Bürgers neben Selbstbestimmungsfähigkeit und Motivierbarkeit durch Normen weitere Fähigkeiten und Verhaltensdispositionen gehören. Es gibt Entwürfe eines Bürgerstrafrechts, die von einem gehaltvolleren Ideal ausgehen. In Duffs idealer Theorie eines Strafverfahrens ist die Vorstellung des „zur Verantwortung ziehen“ (calling to account) von zentraler Bedeutung, was nicht als einseitiger Vorwurf zu verstehen ist, sondern als Dialog mit dem Angeklagten.21 Die empirischen Voraussetzungen sind noch gehaltvoller als beim Ideal des normgebundenen Bürgers. Vorausgesetzt wird eine Sozialisation, die mehr einfordert, als nur bestimmte Handlungen zu unterlassen: Es müssen noch intensivere Pflicht- und Verantwortungsgefühle verankert werden. 2. Das Bürgerstrafrecht Schon im Begriff des Bürgerstrafrechts kommt zum Ausdruck, dass die Verhaltensdispositionen von Menschen dem Ideal nicht entsprechen. Bei einer tief ausgeprägten inneren Bindung an Normen blieben zwar in komplexen Gesellschaften formelle, also rechtliche Verhaltensnormen sinnvoll, aber Sanktionsnormen wären überflüssig. Als normative Zielvorgabe spielt das Idealbild des Bürgers auf verschiedenen Ebenen dennoch eine Rolle: für die Kriminalisierung von Verhalten, die Sanktionierung individueller Normverstöße und die Gestaltung des Strafverfahrens.

18 S. Schneewind, The Invention of Autonomy: A History of Modern Moral Philosophy, 2010; zur These, dass Individualisierung Wurzeln im Christentum habe, Siedentop, Inventing the Individual. The Origins of Western Liberalism, 2014. 19 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1820, 3. Teil. 20 Mill, On Liberty (1859), in: ders., On Liberty and Other Essays, Oxford 2008, S. 5 ff. 21 Duff, The Realm of Criminal Law, 2018, S. 33 ff.; Duff u. a., The Trial on Trial, Bd. 3: Towards a Normative Theory of the Criminal Trial, 2007, S. 127 ff. S. zu Beteiligungsrechten und dem Recht auf Schweigen als Signal der Distanzierung, Duff u. a., a.a.O., S. 203 ff.

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a) Bürgerstrafrechtliche Verbotsnormen Das Ideal der selbstbestimmten, mit entsprechenden Freiheitssphären ausgestatteten Person ist das Fundament einer bürgerstrafrechtlichen Kriminalisierungstheorie. Die zentrale Annahme ist, dass es Lebensbereiche geben muss, die nicht durch (straf-)rechtliche Verhaltensnormen reguliert werden dürfen. Der Verweis auf Selbstbestimmung bildet den Ausgangspunkt für die Kritik an paternalistischen und moralistischen Strafnormen. Soweit Handlungen in der eigenen Sphäre bleiben und weder die Rechte anderer noch wichtige Kollektivinteressen tangieren, sollten sie nicht mit dem Argument verboten werden, dass sie den „wahren“ oder langfristigen Eigeninteressen des Handelnden zuwiderlaufen oder mit moralischen Wertungen unvereinbar seien.22 Was langfristig der eigenen Lebensqualität zuträglich sein dürfte, müssen selbstbestimmt und eigenverantwortlich entscheidende Bürger selbst definieren. Außerdem wird das Ideal eines Bürgerstrafrechts angeführt, um sog. Vorfeldkriminalisierung zu kritisieren (in diesem Kontext hat Jakobs erstmals Überlegungen zum Kontrast von Bürger- und Feindstrafrecht entwickelt).23 Eindeutig mit dem Ideal unvereinbar wäre die Pönalisierung von Einstellungen und Gedanken. Solche Überlegungen haben aber (jedenfalls gegenwärtig) mangels Feststellbarkeit des nicht nach außen Manifestierten keine praktische kriminalpolitische Relevanz: Ernsthafte Kandidaten für Kriminalisierung sind nur Verhaltensweisen, die zu beobachten sind. Die entscheidende Frage ist, ob Verhalten der Sozial- oder der Privatsphäre zuzuordnen ist. An diesem Punkt ist manche Diagnose des Typus „Vorsicht, Feindstrafrecht!“ zu hinterfragen. Nicht überzeugend ist es etwa, ein Abrücken vom Bürgerstrafrecht schon in Gesetzesüberschriften zu sehen, die auf eine „Bekämpfung“ bestimmter Delikte verweisen.24 Wenn die verbotenen Handlungen tatsächlich die Rechte anderer Personen verletzen, kommt es nicht auf derartige rhetorische Floskeln an. Genauso wenig wäre es angemessen, pauschal alles der Privatsphäre zuzuordnen, was phänomenologisch-kriminologisch als Vorbereitung eines späteren Delikts zu beschreiben ist.25 Zu beachten ist insbesondere, dass eine zeitgenössische Strafrechtstheorie die Grenze zwischen Privat- und Sozialbereich nicht anhand von Vorstellungen einer räumlichen Privatsphäre ziehen sollte – das Kriterium kann, anders als nach traditionellen pater familias-Konzepten26 nicht sein, ob etwas „im eigenen Haus“ geschieht. Auch Jakobs’ These, dass die Verabredung eines Verbrechens „unter Freunden“, ja generell „soziale Beziehungen“ in der Privatsphäre verblieben,27 ist diskussionswürdig: „Freund“ dürfte nicht leichter zu definieren sein als „Feind“, und auch bei freundschaftlichen Beziehungen ist nicht ausgemacht, dass der 22 S. Joel Feinbergs bahnbrechendes Werk „The Moral Limits of the Criminal Law“, Bd. 1 – 4, 1987 – 1990. 23 Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 753 ff. 24 Jakobs, HRRS 2004, 88, 92. 25 So auch Jäger, FS für Roxin zum 80. Geburtstag, 2011, S. 71, 81 ff. 26 Dazu Siedentop (Fn. 18), S. 7 ff. 27 Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 756 f.

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seine Meinung ändernde Part auch eine Meinungsänderung beim anderen bewirken kann. Sobald eigenes Verhalten eine Gefahr begründet hat, die nicht mehr zu beherrschen ist, liegt nicht auf der Hand, dass dieses Verhalten im Privatbereich angesiedelt sei.28 b) Bürgerstrafrechtliche Sanktionsnormen Sanktionsankündigungen bedeuten, wie bereits festgestellt, ein Abrücken von idealistischen Visionen. Trotzdem kann auch ein Sanktionen vorsehendes Strafrecht als Bürgerstrafrecht bezeichnet werden, solange das Niveau der gesetzlichen Strafen moderat bleibt. Die Ankündigung einer moderaten Strafe bringt zum Ausdruck, dass lediglich ein kleiner, zusätzlicher abschreckender Effekt erzielt werden solle. Der an instrumentelle Klugheit statt an genuine innere Normeinsicht appellierende Anreiz kann so interpretiert werden, dass prinzipiell normtreue Bürger angesprochen werden sollen, die gelegentlich, für antizipierte Momente der Schwäche, einer verstärkenden Motivierung bedürfen.29 Ein Appell an die Klugheitsregel, negative Folgen für die eigene Person besser zu vermeiden, ist in dieser unterstützenden Funktion mit der reinen Lehre eines Bürgerstrafrechts vereinbar (weil auch das Idealbild des Bürgers berücksichtigen sollte, dass Menschen keine Engel sind). Problematisch werden Sanktionsandrohungen erst dann, wenn ihre Höhe zum Ausdruck bringt, dass die Normadressaten ausschließlich auf (drastische) Abschreckung reagieren.30 c) Bürgerstrafrechtliche Sanktionsverhängung Zum Ideal eines Bürgerstrafrechts gehören vor allem auch Beschränkungen bei den tatsächlich verhängten Rechtsfolgen, die moderat ausfallen müssen. Problematisch wird es, wenn verhängte Strafen so drakonisch sind, dass sie die normative Botschaft völlig überlagern. Rechtsfolgen dürfen insbesondere nicht auf eine dauerhafte Exklusion der Verurteilten hinauslaufen.31 Der Verzicht auf exkludierende Reaktionen ergibt sich erstens aus der Annahme, dass Bürger grundsätzlich durch Normen motivierbar sind. Vor diesem Hintergrund ist normwidriges Verhalten als temporäres Sich-Überwältigen-Lassen von egoistischen Gegenmotiven, Schwäche oder Impulsivität zu interpretieren, ohne aber ein unumstößliches Indiz auch für zukünftiges Fehlverhalten zu sein. Zweitens ist die Rolle eines Bürgers mit der Vorstellung verbunden, dass unabhängig von den Prognosen zukünftigen Verhaltens ein bestimmtes Mindestmaß an Respekt wechselseitig geschuldet wird, was auch im verfassungs28 Ähnlich Saliger, JZ 2006, 756, 760. S. für eine differenzierte Analyse der Zulässigkeit abstrakter Gefährdungsdelikte Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik „moderner“ Gefährdungsdelikte, 2000, S. 305 ff. 29 von Hirsch, Censure and Sanctions, 1993, S. 12 ff. 30 Jakobs’ Verdikt gegen Strafnormen, die Tatvorbereitung erfassen (Fn. 23), überzeugt, wenn die extreme Höhe einer Sanktionsandrohung auf „Abschreckung pur“ deutet, nicht aber, wie oben ausgeführt, wegen einer pauschalen Zuordnung zum Privatbereich. 31 Zu dieser Kernforderung eines Bürgerstrafrechts Jakobs, HRRS 2004, 88, 90.

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rechtlichen Menschenwürdegrundsatz zum Ausdruck kommt. Vernichtung und dauerhafte Exklusion sind damit nicht vereinbar, deshalb das Verbot der Todesstrafe (Art. 102 GG) und einer genuin lebenslangen Inhaftierung (Strafe oder Sicherungsverwahrung) ohne Überprüfungsmöglichkeit.32 Ebenso sind Nebenfolgen zu vermeiden, die in ihrem Symbolcharakter die Bürgerrolle besonders deutlich verneinen. Hierzu gehört der in den USA verbreitete dauerhafte Ausschluss von Wahlrechten nach der Verurteilung wegen eines Verbrechens.33 Hinter dem Ideal bürgerstrafrechtlicher Sanktionierung stehen ebenfalls empirische, nämlich sozialpsychologische Voraussetzungen. Die Bereitschaft zu verhaltensunabhängigem Minimalrespekt und zur Zügelung reaktiver Emotionen muss ein reales Substrat haben, das man als empfundene Grundsolidarität mit allen Mitmenschen beschreiben kann, also auch mit denjenigen, die gravierendes Unrecht begangen haben. Wie bei allen Idealen ist keine Deckungsgleichheit mit empirischen Gegebenheiten vorauszusetzen – der springende Punkt bei allen normativen Anforderungen (etwa beim Verweis auf Menschenrechte) ist schließlich, eine Korrektur real abweichender Tendenzen zu bewirken. Dass manche Individuen auf Straftaten mit unreflektierten negativen Emotionen und Ausgrenzung reagieren, ist kein Grund, das Ideal eines Bürgerstrafrechts in Frage zu stellen. Aber vollkommen abgekoppelt von einer sozialpsychologisch feststellbaren Grundsolidarität auch mit straffällig gewordenen Menschen und der darauf beruhenden Bereitschaft, diese weiterhin als Bürger zu behandeln, hat das Ideal „keine Exklusion“ kaum rechtspolitische Relevanz. d) Bürgerstrafrechtliche Strafverfahren Schließlich wäre zu überlegen, wie Ermittlungsverfahren und Hauptverhandlungen auszugestalten wären. Man darf vermuten: nicht so, wie es geltenden Verfahrensordnungen entspricht. Sowohl das Verhalten von Beschuldigten und Angeklagten als auch das Verhalten der Strafverfolgungsorgane wären anders zu modellieren. Nach einem idealistischen Modell (s. oben 1. c)) könnte von kommunikativen, Verantwortung für eigenes Fehlverhalten übernehmenden Bürgern in der Regel Kooperation bei der Wahrheitsermittlung erwartet werden oder jedenfalls das Unterlassen von aktiven Störungen (Verdunkelung) und Flucht.34 Gleichzeitig wäre Transparenz und vertrauensvolles Vorgehen (insbesondere: Ernstnehmen der Unschuldsvermutung)35 bei den Ermittlungsbehörden zu erwarten.36 Auch in der Hauptverhandlung würde die Erwartung von Dialog und Verantwortungsübernahme ersichtlich von Strafverfahrensordnungen modernen Zuschnitts abweichen. Die interessante, den hiesigen Rahmen 32

S. zu Überprüfungspflichten im deutschen Recht §§ 57, 57a, 67a StGB. Dazu Manza/Uggen, Locked Out: Felon Disenfranchisement and American Democracy, 2006; Chiao, Criminal Law in the Age of the Administrative State, 2018, S. 81 ff. 34 In diese Richtung auch Jakobs, HRRS 2004, 88, 93. 35 Dazu Jäger, FS für Roxin zum 80. Geburtstag, 2011, S. 71, 84 ff. 36 Jakobs, HRRS 2004, 88, 93, ordnet geheime Ermittlungen als prozessuales Feindstrafrecht ein. 33

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allerdings sprengende Frage ist, wie viel Realitätsnähe eingebaut werden kann, damit eine Verfahrensordnung insgesamt noch als Bürgerstrafverfahren gelten könnte.

III. Abgleich mit der Realität Aus der Charakterisierung der Rolle des Bürgers als Ideal und aus dem Eingeständnis, dass Strafrecht auch im Reich der Bürger vorstellbar ist, ergibt sich zwangsläufig die Annahme, dass das reale Verhalten von Menschen dem Ideal vielfach nicht entspricht. Diese analytische Feststellung beseitigt nicht die Notwendigkeit, sich mit dem Ausmaß des Abstands von Ideal und Realität zu beschäftigen. Je realitätsfremder Modelle sind, umso dringlicher stellt sich die Frage, ob das normative Bekenntnis zu einem Bürgerstrafrecht noch zu verteidigen ist (s. unten V.). 1. Verantwortungsvolle Beschuldigte und Angeklagte? Am deutlichsten dürfte die Differenz für das Strafverfahren ausfallen. Ohne empirische Studien lässt sich zwar nicht verlässlich sagen, wie viele Beschuldigte und Angeklagte ausschließlich in strategischer Weise agieren, um eine (objektiv angemessene) Verurteilung abzuwenden. Aber es dürfte eine plausible Vermutung sein, dass die meisten oder jedenfalls viele Menschen durch (nachvollziehbare) Furcht angetrieben werden und mit allen Mitteln, auch solchen, die dem Ideal des Bürgers nicht entsprechen, versuchen, Verfahren zu torpedieren. 2. Selbstbestimmt handelnde Menschen? Wie sieht es mit dem Ideal des selbstbestimmt handelnden, Lebensbereiche eigenverantwortlich organisierenden Bürgers aus? Zwei Fragen sind zu unterscheiden: ob Menschen entsprechend handeln können, und ob sie es wollen. Meine These ist, dass sich im Hinblick auf das Können keine fundamentale Kluft zwischen Ideal und Realität auftut. Natürlich wird darüber gestritten, ob bestimmte Verhaltensweisen als selbstbestimmt gelten können, vor allem, wenn es um Existentielles geht (etwa: dem eigenen Leben ein Ende zu setzen) oder um unangenehme oder gesundheitsgefährdende Entscheidungen in fragilen sozialen Lagen (zum Beispiel: Sex gegen berufliche Vorteile37 oder Leihmutterschaft38). Solche Debatten stellen Selbstbestimmung aber nicht grundlegend in Frage. Ein ernsthaftes Problem würde nur dann entstehen, wenn für einen signifikanten Anteil an erwachsenen Menschen festzustellen

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Dazu Hörnle, ZStW 127 (2016), 851, 883 ff. Dazu Baier, in: Mitra/Schicktanz/Patel (Hrsg.), Cross-Cultural Comparisons on Surrogacy and Egg Donation: Interdisciplinary Perspectives from India, Germany and Israel, 2018, S. 255 ff. 38

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wäre, dass sie generell, nicht nur in schwierigen Grenzsituationen, unfähig seien, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Das ist keine realistische Annahme.39 Eine andere Frage ist, inwieweit Menschen von ihrer Selbstbestimmungsfähigkeit Gebrauch machen wollen. Zeitdiagnostische Beschreibungen gehen davon aus, dass die Notwendigkeit von Entscheidungen als Last empfunden werde.40 Diese beziehen sich allerdings in der Regel auf zu unübersichtlich oder zu anspruchsvoll gewordene Wahlmöglichkeiten bei Lebensstilen und Konsum in westlichen Gesellschaften. Man kann aus postmodernem Unbehagen nicht unmittelbar ableiten, dass Menschen es in dieser Situation vorziehen würden, durch rechtliche Verhaltensnormen mit dem damit verbundenen Zwang eingeschränkt zu werden. Dafür dürfte vielmehr ein Zwischenschritt erforderlich sein, der zunächst von Gefühlen der Überforderung zur freiwilligen Einpassung in ein enges außerrechtliches Normensystem führt (religiöser Art, aber auch metaphysikfreie Glaubenssysteme). Soweit Glaubenssysteme den Anspruch auf absolute Verbindlichkeit erheben und den Unterschied zwischen Privatund Sozialbereich nicht anerkennen, sind auch vermehrt Forderungen nach rechtlicher und strafrechtlicher Verhaltensregulierung zu erwarten. 3. Normgebundene Menschen? Für unser Thema ist eine zentrale Frage, in welchem Ausmaß die Entscheidungsprozesse realer Menschen dem Ideal des pflichtgebundenen Bürgers entsprechen, für den das Wissen um eine Verhaltensnorm bereits ein hinreichender Handlungsgrund ist. Man darf davon ausgehen, dass es nicht wenige Menschen gibt, die dem Bild tatsächlich nahekommen. Für diese Individuen genügt entweder schon die konventionelle Vorgabe „Das gehört sich so“ oder jedenfalls eine als begründet eingestufte Verhaltensnorm, um entsprechend zu handeln. Eine realistische Beschreibung muss allerdings von großer Heterogenität ausgehen und davon, dass andere Menschen diesem Bürgerideal nicht entsprechen. Es gibt unterschiedliche Gründe, warum Normkenntnis nicht immer verhaltenssteuernde Wirkung entfaltet. Eine erste Problemgruppe besteht aus impulsiven, willensschwachen Menschen. Diese mögen zwar den Normappell nachvollziehen und aufgrund ihrer Sozialisation auch als grundsätzlich verpflichtend einordnen, wobei 39

Überlegungen zur Selbstbestimmungsfähigkeit sind nicht davon abhängig, was unter den Stichworten „Willensfreiheit/Schuld“ verhandelt wird. Ein traditioneller Schuldvorwurf, der Anders-Entscheiden-Können unterstellt (BGHSt 2, 194, 200), impliziert, dass ein Mensch, der eine Entscheidung gefällt hat, zum selben Zeitpunkt auch eine andere Entscheidung hätte fällen können. Das ist keine gut begründete Annahme. Grundlegend Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2008. S. zu meiner eigenen, ebenfalls skeptischen Position Hörnle, Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf, 2013. Selbstbestimmt bedeutet aber nur, persönlichkeitsadäquat zu entscheiden (was sich physiologisch in neuronalen Zuständen abbildet). 40 Ehrenburg, Das erscho¨ pfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, 2008. Von einer „Überforderung des Subjekts“ spricht auch Koppetsch, Die Wiederkehr der Konformität: Streifzüge durch die gefährdete Mitte, 2013, S. 70.

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dann aber persönliche, in der konkreten Situation verhaltenswirksame Bedürfnisse den Normappell überlagern. Besorgniserregend im Sinne einer grundlegenden Gefährdung des Bürgerstrafrechts ist diese Abweichung vom Ideal des Bürgers dann nicht, wenn sie das Verhalten des Einzelnen nur punktuell oder jedenfalls das Verhalten aller Menschen nur partiell betrifft. Es ist bekannt, dass Sozialisation und Pflichtgefühle gegenüber Sollensnormen keine perfekte Normkonformität garantieren, weil sich Triebe, Impulse und Emotionen hier und da als stärker erweisen können. In Maßen schadet Normabweichung der Existenz eines Bürgerstrafrechts nicht. Ähnliches gilt für die zweite Problemgruppe: situationsspezifisch kalkulierende Nutzen-Optimierer, die rational choice-Modellen entsprechend entscheiden. Das gelegentliche Auftreten zweckrational-egoistischer Kalkulationen ist noch kein Grund, das Ideal eines Bürgerstrafrechts prinzipiell in Frage zu stellen. Schließlich sollen auch (wie oben ausgeführt: moderate) Sanktionsankündigungen Kalkulationen mitbeeinflussen. Zwar muss bei realistischer Betrachtung davon ausgegangen werden, dass auch durch Sanktionsnormen nur in Maßen normkonformes Verhalten bewirkt werden kann. Manche am Eigennutz orientierte Menschen vermuten oder ahnen, dass die Wahrscheinlichkeit einer tatsächlichen Sanktionierung oft sehr niedrig ausfällt, was die abschreckende Wirkung herabsetzt.41 Solange sich aber insgesamt die Zahl der Nutzen-Optimierer und vor allem die Zahl der auch durch Sanktionsandrohungen nur bedingt zu beeindruckenden Trittbrettfahrer in Grenzen hält, kann auch dies ein Strafrechtssystem verschmerzen, ohne dass grundlegende Revisionen erforderlich werden. Die Differenz ist kein Grund, das Ideal des Bürgerstrafrechts in Frage zu stellen, wenn man davon ausgeht, dass zwar nicht alle, aber doch die meisten Menschen die elementaren, durch Strafrecht geschützten Verhaltensnormen tatsächlich verinnerlicht haben.42 Trotzdem sollten Abweichungen vom Bürgerideal in ihrem Umfang beobachtet werden. Problematisch wird die Kluft zwischen Ideal und Realität, wenn sich große Teile der Bevölkerung vom Bürgerideal entfernen und die beiden eben beschriebenen Phänomene (emotionsgesteuerte oder am Eigennutzen orientierte Entscheidungen) signifikant zunehmen. Im strafrechtlichen Schrifttum finden sich vorsichtige Andeutungen dazu, dass Bürgerstrafrecht „eine gewisse gesellschaftliche und kulturelle Homogenität“43 voraussetze. Dieser Konnex verdient mehr Aufmerksamkeit. Zunehmende Heterogenität könnte, so eine zentrale Hypothese dieses Beitrags, psychologische und sozialpsychologische Einstellungen und Verhaltensdispositionen in der Bevölkerung in einer Weise beeinflussen, für die sich auch die Strafrechtswissenschaft interessieren sollte (dazu unten IV.).

41 42

187.

Paternoster, Journal of Criminal Law and Criminology 100 (2010), 765, 780. Davon geht Streng aus, in: Vormbaum (Hrsg.), Kritik des Feindstrafrechts, 2009, S. 181,

43 Streng (Fn. 42), S. 189; andeutungsweise auch Jakobs, in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 47, 52 f.

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4. Bereitschaft zu moderaten, nicht exkludierenden Rechtsfolgen? Die Bereitschaft, auf das rechtswidrige Verhalten anderer in emotional kontrollierter, nicht exkludierender Weise zu reagieren, darf nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Lehrreich ist die Beobachtung der US-amerikanischen Verhältnisse mit sehr hohen Inhaftierungszahlen und exkludierenden Reaktionen auf Straftaten.44 Auch für die deutsche Bevölkerung deuten empirische Studien auf punitiver gewordene Einstellungen hin.45 Bislang zeigt sich dies nicht in den von deutschen Gerichten verhängten Sanktionen, aus organisationssoziologischen Gründen: Die bürokratische Organisation der deutschen Justiz (bürokratisch im Vergleich zu den demokratischen Wahlen für Richter in den USA) wirkt puffernd und konserviert ein niedriges Sanktionsniveau.46 Fraglich ist aber, wie nachhaltig diese isolierende Wirkung längerfristig ausfallen wird, wenn sich wachsende gesellschaftliche Heterogenität in Form von weiter zunehmender Entsolidarisierung auswirkt.

IV. Zunehmende Fragmentierung Richtet man den Blick in die Zukunft, stellt sich die Frage, in welchem Ausmaß sich die Einstellungen und Verhaltensdispositionen von Menschen vom Ideal des Bürgers entfernen werden, wenn Fragmentierungsprozesse anhalten. Zwar ist es zu vermeiden, in romantisierend-verklärender, ahistorischer Weise einen Zeitpunkt X zu unterstellen, zu dem es kulturelle und soziale Homogenität gegeben habe – Heterogenität dürfte historisch (und ländervergleichend) der Normalfall sein, wenn Gemeinschaften eine gewisse Größe erreicht haben. Genauso wenig wäre es für unser Thema weiterführend, pauschal auf zunehmende Heterogenität abzustellen. Sicherlich gibt es Formen der kulturellen (und vielleicht auch der sozialen) Heterogenität, mit denen keine schlüssige Hypothese zu verbinden ist, warum sie das Ideal des normgebundenen und auf Straftaten anderer besonnen reagierenden Bürgers tangieren könnten. Aber es gibt Entwicklungen in Richtung wachsende Heterogenität, mit denen solche Befürchtungen zu verbinden sind. Fragmentierung kann auch die Grundlagen des Bürgerstrafrechts erodieren, das ein Mindestmaß an Solidarität, Respekt, Toleranz und Vertrauen über Gruppen, Klassen und Schichten hinweg erfordert. Diese positiven Haltungen sind in mehrfacher Hinsicht wichtig. Sie sichern erstens die Bereitschaft, die vielfältigen Optionen, sich zu bereichern und zu begünstigen, nicht zu nutzen (und zwar auch dann nicht, wenn das Sanktionsrisiko gering ist). 44 S. zu den hohen Inhaftierungsziffern Redburn/Travis/Western (Hrsg.), The Growth of Incarceration in the United States: Exploring Causes and Consequences, 2014; Pfaff, Locked In. The True Causes of Mass Incarceration and How to Achieve Real Reform, 2017. 45 Streng (Fn. 42), S. 189; ders., Kriminalitätswahrnehmung und Punitivität im Wandel. Kriminalitäts- und berufsbezogene Einstellungen junger Juristen, 2014. 46 S. zum stabilen Strafniveau Weigend, in: Tonry (Hrsg.), Sentencing Policies and Practices in Western Countries: Comparative and Cross-National Perspectives, 2016, S. 83 ff.; zu den Ursachen Hörnle, GA 2019, 282 ff.

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Zweitens setzt die Zuerkennung von Freiheitssphären für selbstbestimmte Gestaltung, also die Basis einer liberalen Kriminalisierungstheorie, Respekt und Vertrauen in die Kompetenz anderer voraus. Drittens ist Grundsolidarität erforderlich, um Straftäter als Mitbürger wahrzunehmen, die moderat und nicht exkludierend zu bestrafen sind. 1. Fragmentierung innerhalb westlicher Gesellschaften Ein (zahlenmäßig begrenztes) Teilphänomen sind einheimische Gruppen, die sich konsequent aus der Gemeinschaft der Personen, die Normen in Pflichtgefühl verbunden sind, separieren. Als bekanntes Beispiel wären die sog. Reichsbürger zu nennen.47 Wichtiger für unser Thema dürften breitere Entwicklungen sein, die Zusammenhalt und Grundsolidarität schwächen. Zeitdiagnostische soziologische Analysen konstatieren zunehmende Fragmentierung innerhalb von westlichen Gesellschaften. Heinz Bude fasst Einschätzungen mit folgenden Worten zusammen: Der „prinzipielle Kohäsionsoptimismus“ sei einem „prinzipiellen Pessimismus über die Einigungs- und Ausgleichsfähigkeit von Gesellschaften unserer Art gewichen“.48 Facetten der Fragmentierung werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln geschildert. Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz beschreibt den Abstieg traditioneller, an allgemeinen Maßstäben orientierten Mittelschichten und den Aufstieg sowie die kulturelle Dominanz von Gruppen, deren Lebensstil durch konsequente Individualisierung, d. h. die Orientierung am Besonderen statt an allgemeinen Standards geprägt ist.49 Andere Analysen betonen Effekte der Globalisierung, die sich innerhalb westlicher Gesellschaften in unterschiedlicher territorialer und nationaler Verwurzelung auswirken (schlagwortartig: als Gegensatz von „anywheres and somewheres“).50 Erklärungen des Rechtspopulismus51 und der Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland52 beleuchten Prozesse und Hintergründe von Fragmentierungen. Wenn der Befund richtig ist, dass neue Trennlinien nicht lediglich ältere ersetzen, sondern insgesamt mit einer Zunahme von Fragmentierungslinien zu rechnen ist, dürfte sich dies auch auf die Realisierungschancen eines Bürgerstrafrechts auswirken. Einstellungen und Verhaltensdispositionen von Menschen sind abhängig von Sozialisationsprozessen, die durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen geprägt werden. Es ist nicht selbstverständlich, dass Menschen sich innerlich an rechtliche Verhaltensnormen gebunden fühlen, anderen selbstbestimmte Lebensbereiche zugestehen und bereit sind, im Fall von Straftaten auf harte Reaktionen und Exklusion zu 47 Der Verfassungsschutz geht davon aus, dass 2018 ca. 19.000 Individuen dieser Szene angehörten: Bundesamt für Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2018, S. 95. 48 Bude, in: Mau/Schöneck (Hrsg.), (Un-)Gerechte (Un-)Gleichheiten 2015, S. 16, 17. 49 Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 2017. 50 Goodhart, The Road to Somewhere, 2017. 51 Koppetsch, Gesellschaft des Zorns, 2019. 52 Mau, Lütten Klein – Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, 2019.

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verzichten. Die erforderlichen emotionalen Grundlagen (Pflichtgefühl gegenüber Normen, Solidaritätsgefühl gegenüber allen, also jenseits der eigenen Bezugsgruppe, Toleranz abweichender Lebensstile) sind veränderbar. Es liegt nahe, dass eine schärfere Ausdifferenzierung in Gruppen zur Folge hat, dass sich für eine wachsende Zahl an Individuen Gemeinschaftsbindung und Solidaritätsgefühle auf Bezugsgruppen beschränken, während im Übrigen Nutzenoptimierung und Ausgrenzung zunehmen. 2. Auswirkungen von Einwanderung Die folgenden Überlegungen sind auf makrosoziologischer Ebene angesiedelt. Sie können nicht auf Allgemeinaussagen heruntergebrochen werden, die auf alle Einwanderer (eine in jeder Dimension heterogene Gesamtheit) oder auf jedes Mitglied einer Gruppe an Migranten zutreffen. Jeder Gruppenbeschreibung lassen sich Individuen zuordnen, für die das Beschriebene nicht zutrifft. Das muss betont werden, weil Aussagen, die sich auf Gruppen und auf Wahrscheinlichkeiten beziehen, oft missverstanden werden. Für unser Thema relevante, mögliche Folgen von Migration können hier nur skizziert werden. Erstens gibt es Hinweise darauf, dass zunehmende ethnische Heterogenität jedenfalls kurz- und mittelfristig zu einer Abnahme von wechselseitigem Vertrauen führt.53 Dies schwächt (unter anderem) die für moderates, nicht exkludierendes Strafen erforderliche Grundsolidarität.54 Zweitens stellt sich die Frage, ob es innerhalb der großen, in sich sehr heterogenen Gruppe aller Migranten Untergruppen mit größerer Distanz zum Bürgerideal gibt. In der öffentlichen Diskussion über Einwanderung nimmt das Thema Religion, oder genauer: der Islam großen (teilweise zu großen) Raum ein. In zwei Punkten ist es grundsätzlich plausibel, Differenzen zwischen islamisch geprägter Sozialisation und den hier zu untersuchenden Idealen zu vermuten, wobei aber zu beachten ist, dass genauere Aussagen eine Differenzierung der heterogenen islamisch geprägten Kulturen und Gesellschaften erfordern.55 Zum einen erfordert Bürgerstrafrecht die Bereitschaft zu moderaten Sanktionen, während islamische Texte und Rechtspraktiken für bestimmte Formen abweichenden Verhaltens drakonische, exkludie-

53

Anderson/Just, The Journal of Politics 68 (2006), 783, 793; Putnam, Scandinavian Political Studies 30 (2007), 123 ff. 54 Zu vermuten ist, dass jenseits allgemeiner Studien zum Konnex von Heterogenität und Vertrauen weiter differenziert werden müsste. Die vertrauensschwächenden Effekte wachsender Heterogenität dürften sich in Gesellschaften, in denen größere Teile der einheimischen Bevölkerung anhaltende Zuwanderung skeptisch sehen, stärker auswirken als in traditionellen Einwanderungsgesellschaften – unter diesen Bedingungen trägt Migration zur Binnenfragmentierung bei. 55 S. zum Thema Pluralität und Einheit Krämer, in: Gethmann/Graf (Hrsg.), Identität – Hass – Kultur, 2019, S. 172, 184 ff.

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rende und demütigende Strafen vorsehen.56 Es ist nicht fernliegend, dass die Einstellungen von Teilen der Zuwanderer aus islamischen Ländern entsprechend geprägt wurden. Zum anderen widersprechen eine strikte Trennung von Privatsphäre und Sozialsphäre und das Pochen auf selbstbestimmtes Entscheiden in der Privatsphäre Überzeugungen, die alle traditionellen monotheistischen Religionen mit das ganze Leben erfassenden Verhaltensnormen prägen. Eine bürgerstrafrechtliche Kriminalisierungstheorie ist damit nicht vereinbar. Nicht plausibel wäre dagegen die Vermutung, dass die Bindung an ein islamisches (oder anderes traditionell-religiöses) Glaubensbekenntnis negative Effekte für Pflichtgefühle gegenüber säkularen Verhaltensnormen haben könnte. Näher liegt vielmehr die umgekehrte Hypothese, dass starke religiöse Bindungen die Wahrscheinlichkeit einer Sozialisation erhöhen, die generell (auch mit positiven Auswirkungen für Verhaltensnormen jenseits des religiösen Katalogs) „Das macht man nicht“-Einstellungen verankert. Zum Verständnis von psychologischen und sozialpsychologischen Faktoren dürfte vor allem ein genauerer Blick auf politische und soziale Verhältnisse in den Herkunftsländern beitragen. Der oft in Debatten über Migration, auch von Reinhard Merkel,57 angeführte Topos der „kulturellen Identität“ lässt sich so besser konturieren. Politische und soziale Bedingungen sind deshalb relevant, weil davon auszugehen ist, dass Einstellungen und Verhaltensdispositionen, die Individuen in ihrer Sozialisation annehmen, an diese Umwelt angepasst sind. Zur Erfassung von Unterschieden in den Rahmenbedingungen könnte auf die Differenzierung zwischen segmentären und arbeitsteiligen Gesellschaften zurückgegriffen werden, die Emile Durkheim in „Über soziale Arbeitsteilung“ entwickelt hat.58 Die Grundidee ist, dass in segmentären Gesellschaften Integration mit mechanischer Solidarität funktionieren kann, während arbeitsteilige Gesellschaften durch organische Solidarität integriert werden. Die Stimmigkeit des Konzepts der organischen Solidarität wird zwar in der neueren soziologischen Literatur kritisch gesehen,59 und wie bei allen bipolaren Analyseschemata ist vor vereinfachenden Urteilen zu warnen, die der Komplexität zeitgenössischer Gesellschaften nicht gerecht werden. Für unser Thema ist jedoch Durkheims These von Interesse, dass die Solidaritäten von Menschen aus segmentär organisierten Gesellschaften vorwiegend Bezugsgruppen gelten, die nach dem Ähnlichkeitsprinzip funktionieren.60 Für einen nicht unbedeutenden Teil der in Deutschland ankommenden Migranten dürfte es nicht fernliegend sein, den Kontext im Herkunftsland mit dem Begriff der segmentären Gesellschaft zu erfassen. Faktoren, die zum Länderwechsel motivieren (wirtschaftliche Rückständigkeit, gewaltsame Konflikte zwischen konkurrierenden Gruppen, Staatenzerfall) bedeuten auch, dass diese Her56 Peters, Crime and Punishment in Islamic Law, 2005; Khodadadi, Theocratic Criminal Law, Diss. Münster 2019 (noch unveröff.). 57 In seinem grundlegenden Essay in der Frankfurter Zeitung v. 22. 11. 2017. 58 Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung (Original 1893), Suhrkamp Taschenbuch 2016. 59 S. Pope/Johnson, American Sociological Review 48 (1983), 681 ff. 60 Durkheim (Fn. 58), S. 230 ff.

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kunftsgesellschaften näher am Pol der segmentären Gesellschaft angesiedelt sind bzw. durch disruptive Ereignisse in diese Richtung zurückgeworfen wurden. Distanz zum Bürgerideal kann entstehen, wenn Menschen unter Bedingungen sozialisiert wurden,61 die gruppenbezogene Kosten-Nutzen-Analysen nahelegten. Solche Sozial- und Überlebensstrategien sind zu erwarten, wenn in ineffektiven oder gescheiterten Staaten, unter bürgerkriegsähnlichen Zuständen oder sonst in feindlichen Umgebungen das Wohl der eigenen Familie oder des eigenen Stammes, Clans etc. das einzig sinnvolle Entscheidungskriterium ist. Für unser Thema ist relevant, dass sich die Gewöhnung an mechanische, auf Gruppenähnlichkeit beruhende Solidarität auch nach erfolgter Migration auswirken kann. Auch dieser Gedankengang erfordert weitere Differenzierung: Natürlich ist nicht von einem absolut determinierenden, bei allen zwangsläufig durchschlagenden Faktor auszugehen. Migrationsforscher, die sich mit postmigrantischen Biographien beschäftigen, beschreiben die Bildung von hybriden Identitäten.62 Gleichzeitig wäre es aber auch nicht plausibel, Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit von Verhaltensdispositionen und Einstellungen von einem Blick auf die Umstände während der Sozialisation ganz zu trennen.

V. Folgerungen 1. Die Fragmentierungen innerhalb der deutschen Gesellschaft und die Auswirkungen von Einwanderung (sowie Wechselwirkungen dieser Phänomene) werden wahrscheinlich die Distanz zwischen dem Ideal des Bürgers und den tatsächlichen Einstellungen und dem Verhalten von Menschen vergrößern. 2. Auf strafrechtstheoretischer Ebene ist wesentliches Anliegen meines Beitrags, zu betonen, dass die bipolare Entgegensetzung von Bürger- und Feindstrafrecht irreführend ist. Die Faktoren, die von den Idealen des Bürgers und des Bürgerstrafrechts wegführen können, sind wesentlich komplexer. Mit der Fixierung auf Feinde und Terroristen droht in Vergessenheit zu geraten, dass ein Bürgerstrafrecht von alltäglichen, weitgehend unreflektierten Einstellungen und Leistungen vieler Menschen abhängt, die als staunenswerte,63 aber auch fragile Errungenschaften eingeordnet werden müssen. 61 Und Erfahrungen an die nächste Generation der nicht mehr selbst Eingewanderten weitergeben. 62 S. z.B. Foroutan/Schäfer, Aus Politik und Zeitgeschichte 5/2009, 11 ff.; Foroutan, in: Brinkmann/Uslucan (Hrsg.), Dabeisein und Dazugehören, 2013, S. 85 ff. 63 Ein Beispiel in Referenz an Joel Feinbergs berühmtes Bus-Beispiel (bei ihm ging es um die Veranschaulichung von grob anstößigem Verhalten, Feinberg, Offense to Others. The Moral Limits of the Criminal Law, Bd. 2, 1988, S. 10 ff.): Die Berliner Verkehrsgesellschaft lässt gelegentlich in Bahnen, aber sehr selten in Bussen Fahrscheine kontrollieren. Für Fahrgäste, die das System kennen, ergeben sich zwei Optionen: Bürger, die das Gebot „Kaufe ein Ticket“ verinnerlicht haben, steigen vorne ein; Trittbrettfahrer sind nicht auf das Trittbrett angewiesen, sondern nutzen die hinteren Eingänge und fahren kostenfrei. Staunenswert ist die

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3. Welche Konsequenzen sind für Strafrechtstheorie und Kriminalpolitik zu ziehen, wenn man die Befürchtung einer zunehmenden Differenz von Ideal und Realität als grosso modo (vermutlich) zutreffend einordnet? Eine mögliche Folgerung ist, das Idealbild des Bürgers und der Vision eines Bürgerstrafrechts aus unserem Bestand an normativen Leitvorstellungen zu streichen. Klaus Gärditz hat sich jüngst dagegen ausgesprochen, Strafrechtstheorie ausgehend vom Bild einer idealisierten Bürgergesellschaft zu betreiben. Anstatt in einer „heilen Wohnzimmer-Bürgerwelt, die es niemals gab“ Zuflucht zu suchen, sei „mehr Bodenständigkeit und Wirklichkeitsnähe“ zu empfehlen.64 Ein realistisches Menschenbild müsse davon ausgehen, dass Menschen eigennützige Interessen verfolgen, und Strafrecht sei überhaupt nur deshalb erforderlich, weil das Verhalten von Individuen zu regulieren ist, die „(situativ oder allgemein) keine Normtreue erwarten lassen“.65 Gärditz verdient in drei Punkten Zustimmung. Erstens ist das bipolare Analyseschema „Bürger-Feind“ unterkomplex.66 Zweitens sollten Rechtswissenschaftler nicht die Realität ausblenden. Drittens ist es nicht überzeugend, Überlegungen zur Prävention sozialschädlicher Verhaltensweisen prinzipiell kritisch zu sehen. In fragmentierten Gesellschaften sollte insbesondere nicht unterstellt werden, dass die Neigung zu Trittbrettfahren ein zu vernachlässigendes Phänomen wäre. Entscheidend ist, ob Verhaltensregulierung zum Schutz der Rechte anderer oder wichtiger kollektiver Interessen notwendig und erfolgversprechend wäre, und wie sich dieses Anliegen in einer verhältnismäßigen Weise umsetzen lässt, die sowohl Freiheitssphären als auch öffentliche Ressourcen so weit wie möglich schont.67 Auf den ersten Blick spricht manches dafür, einer konsequent realistischen Herangehensweise den Vorzug zu geben. Auf den zweiten Blick gibt es aber doch Gründe, die Maßstabsfigur des Bürgers und das Ideal eines Bürgerstrafrechts nicht kurzerhand in der Schublade „Träumereien“ abzulegen. Zu fordern ist zwar ein klareres Bewusstsein dafür, dass zwischen Ideal und Realität unterschieden werden muss und erste Kategorie, d. h. die Passagiere, die ein Ticket erwerben: Sie tun anstandshalber oder aus Fairnessgründen etwas, was bei instrumentell-nüchterner Kalkulation überflüssig ist. 64 Gärditz, in: Kindhäuser u. a. (Hrsg.), Strafrecht und Gesellschaft. Ein kritischer Kommentar zum Werk von Günther Jakobs, 2019, S. 709, 732, mit Verweis auf Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 20. Generell skeptisch gegenüber der deutschen idealistischen Tradition Gärditz, Staat und Strafrechtspflege, 2015, S. 40. 65 Gärditz, in: Kindhäuser u. a. (Fn. 64), S. 729 (Kursivsetzung durch mich). 66 Gärditz, in: Kindhäuser u. a. (Fn. 64), S. 731. 67 S. zur Orientierung am Verhältnismäßigkeitsprinzip als Filterkriterium, wenn Kriminalisierung von Verhalten erwogen wird, Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht, 2014, S. 351 ff. Debattiert wird darüber, ob sich zudem die Art der geschützten Interessen und Güter eingrenzen lässt. Wenig tauglich als Eingrenzungskriterium ist der Begriff Rechtsgut (dazu Hörnle, Grob anstößiges Verhalten. Strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus, S. 11 ff.; Engländer, ZStW 127 [2015], S. 616 ff.), aber mit der von mir präferierten Begrenzung auf Rechte anderer und wichtige kollektive Interessen sind moralische und paternalistische Erwägungen am Anfang der Prüfung, schon vor Eingreifen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, auszuschließen.

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es eine wichtige Aufgabe für Rechts- und Sozialwissenschaften bleibt, das Ausmaß der Differenz zu beobachten. Aber Ideale erfüllen ebenfalls eine Funktion. „Bürger“ und „Bürgerstrafrecht“ sind Schlagworte, die in Kurzform ausdrücken, was aus normativer Sicht wünschenswert ist. Hervorzuheben ist, dass sich das normativ Erstrebenswerte und das funktional Erforderliche überschneiden. Das Funktionieren unseres Strafrechtssystems hängt davon ab, dass eine hinreichende Zahl an Menschen in ihren Einstellungen und in ihrem Verhalten tatsächlich dem nahekommt, was das Schlagwort „Bürger“ zusammenfasst. Verhaltensregulierung, die auf den Mechanismus der Sanktionsandrohung angewiesen ist, stößt auf faktische Grenzen.68 Sanktionsankündigungen bleiben nur dann wirksam, wenn mit hinreichender Regelmäßigkeit Vollstreckung wahrgenommen wird.69 Spätestens bei einem realistischen Blick auf die Zahl qualifizierter Bewerber für Polizei- und Strafverfolgungsaufgaben zeigt sich, dass die Möglichkeiten, Sanktionen tatsächlich zu verhängen, erheblich beschränkt sind. Zweitens sind die sozialpsychologischen Einstellungen, die ein zurückhaltendes Strafniveau tragen, ebenfalls von funktionaler Bedeutung. Auch bei der Vollstreckung von Sanktionen, vor allem von Freiheitsstrafen, gibt es Grenzen des Machbaren. An dieser Stelle könnte vorgebracht werden, dass Argumente, die in nüchtern-rationaler Weise auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip verweisen, genauso zielführend seien wie das Evozieren des Ideals eines Bürgerstrafrechts. Rationale Abwägungen haben allerdings weniger Überzeugungsmacht als emotional getragene Visionen. Diese Folgerung legt ein Blick auf die US-amerikanischen Verhältnisse nahe, wo die wohlbegründeten Hinweise auf die enormen Kosten hoher Inhaftierungszahlen sich gegen punitiv-exkludierende Einstellungen nicht wirklich durchsetzen können.70 Im Ergebnis ist davon abzuraten, die normativen Ideale zu verabschieden, die mit den Begriffen Bürger und Bürgerstrafrecht zum Ausdruck gebracht werden. Das Verhältnis von normativen Idealen und dem Verhalten realer Menschen muss zwar als distanziert eingestuft werden, was aber nicht dasselbe ist wie gänzlich unverbunden. Die normativen Wertungen, die Rechtsordnungen zugrunde liegen, und ihre Affirmation in öffentlichen Diskursen und Rechtspraktiken, dürften einen gewissen Einfluss auf die Sozialisation von Menschen haben und deshalb Einstellungen sowie Verhaltensdispositionen beeinflussen. Rückkoppelungseffekte dieser Art sind schwierig zu messen oder gar zu quantifizieren, aber die Grundannahme ihrer Existenz erscheint hinreichend plausibel. Es ist deshalb sinnvoll, dass Rechtsordnungen auf anthropologische, psychologische und sozialpsychologische Annahmen setzen, die ein wenig zu optimistisch sind.

68

Darauf weist auch Pawlik hin (Fn. 9, S. 105 f.). S. zur Bedeutung polizeilicher Reaktionen Paternoster, Journal of Criminal Law and Criminology 100 (2010), 765, 789 ff.; Durlauf/Nagin, Criminology & Public Policy 10 (2011), 13, 37. 70 Dazu Chiao (Fn. 33), S. 111 ff. 69

Das Strafrecht einer fragmentierten Gesellschaft Von Michael Kubiciel

I. Einleitung „Es ist eine vielleicht unpopuläre, aber wichtige Einsicht, daß die Funktion des rechtsstaatlichen Strafrechts nicht ganz selten gerade darin besteht, gerechte und vernünftige Einzelfalllösungen zu verhindern.“1 Auf diesen Satz läuft eine Untersuchung hinaus, in der Reinhard Merkel vor 25 Jahren in intellektuell scharfsinniger wie politisch unerschrockener Weise der Frage nachgegangen ist, ob der ehemalige Vorsitzende des Staatsrates der DDR wegen der Tötung von Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze zur Verantwortung gezogen werden kann. Merkel verneint diese Frage mit einem Argument, dessen Aussagekraft nicht auf den von ihm behandelten historischen Ausnahmefall begrenzt ist: Strafe als „symbolische Demonstration des Rechts“2 setze die Verletzung einer Rechtsnorm voraus, die zur Tatzeit „wenigstens in einem erkennbaren Grad sozial wirksam ist.“3 Da das Recht der DDR weder Flüchtlinge vor tödlichen Schüssen geschützt noch das Staatsoberhaupt adressiert habe, scheide eine Bestrafung Erich Honeckers aus. Auf überpositive Normen der Gerechtigkeit könne man zur Korrektur dieses Ergebnisses nicht zurückgreifen, zumal es sich bei naturrechtlichen Gerechtigkeitsvorstellungen um „ein in Einzelheiten unklares, umstrittenes, jedem Wandel der Geschichte und jedem Druck der Ideologien preisgegebenes Gebiet moralischer und politischer Überzeugungen“ handele.4 Diese Sätze enthalten in nuce das strafrechtstheoretische Denken Merkels: Das Strafrecht dient der symbolischen Bestätigung der vom Täter verletzten Rechtsnorm, die sich nicht durch ihre Kompatibilität mit abstrakten, überpositiven Gerechtigkeitsvorstellungen auszeichnet, sondern vor allem sozial wirksam sein muss.5

1

nal). 2

Merkel, in: Unseld (Hrsg.), Politik ohne Projekt, 1993, S. 298, 328 (Sperrung im Origi-

Ebd., S. 330. Ebd., S. 324. 4 Ebd., S. 302. 5 Übertragen hat Merkel diesen Ansatz auch auf die Frage, ob dem ungeborenen Leben ein eigener Würdeanspruch sowie ein eigenes Lebensrecht zugeschrieben werden kann, wenn zugleich ein nicht-indizierter Schwangerschaftsabbruch straffrei möglich ist. Merkel (Forschungsobjekt Embryo, 2002, S. 64 ff.) verneint dies. Eine an der symbolisch-kommunikativen Wirkung ansetzende Straftheorie kann jedoch auch auf den Umstand hinweisen, dass das 3

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II. Kontingenz strafrechtstheoretischer Leitbilder Wirklichkeitsmächtig werden strafrechtlich garantierte Normen, indem sich die Adressaten normgemäß verhalten und Gerichte auf Normverletzungen reagieren. Indes lassen sich beide Vorgänge nicht von den vorherrschenden moralischen und politischen Überzeugungen einer Gesellschaft trennen. Auf der einen Seite können strafrechtlich garantierte Normen nur dann auf eine latente Befolgungsbereitschaft hoffen, wenn sich der Inhalt der Verhaltensnormen nicht zu weit von den Angemessenheits- und Richtigkeitsvorstellungen der Adressaten entfernt.6 Auf der anderen Seite – die der rechtsdurchsetzenden Sanktionsinstanzen – wird die Anwendung des Rechts mitgeprägt von den Wertüberzeugungen und Plausibilitätsmaßstäben jener Gesellschaft, die den Interpreten umgibt und für die er das Recht durchsetzt.7 So kommt es, dass sich der Bedeutungsgehalt von Straftatbeständen und das Verständnis zentraler Begriffe – oft schleichend, gelegentlich disruptiv – mit dem gesellschaftlichen Großklima ändert. Die genuine Aufgabe der Strafrechtswissenschaft besteht darin, jene Vorverständnisse und Grundannahmen zu explizieren, die Juristen stets mitverwenden und voraussetzen, wenn sie Recht auslegen und anwenden.8 Diese außerrechtlichen Wertüberzeugungen und Richtigkeitsvorstellungen beeinflussen nicht nur die Dogmatik, sondern auch die Rechtspolitik. Die Strafrechtswissenschaft muss daher die Entwicklungen der Gesellschaft stets mitreflektieren, wenn sie den von ihr traditionell beanspruchten dogmatischen und kriminalpolitischen Funktionen gerecht werden will.9 Das erfordert in einem ersten Schritt die Freilegung des gesellschaftstheoretischen Grundes, auf dem strafrechtliche Begriffe und Systementwürfe ruhen.10 In einem zweiten Schritt muss die Strafrechtswissenschaft fragen, ob dieser Grund die von ihr verwendeten strafrechtstheoretischen Prämissen und Leitbilder (noch) zu tragen vermag. Beide Schritte vollzieht die Strafrechtswissenschaft nur selten; zumeist hält sie schlicht am Tradierten fest.11 Dies dürfte daran liegen, dass das Bewusstsein für die Kontingenz von Theorien in dem Maße schwindet, in dem sich diese in das institutionelle Gedächtnis einer Profession eingeschrieben und den Status einer (scheinbar) voraussetzungslosen Gültigkeit erlangt haben. Strafrecht die Handlung weiterhin als rechtswidrig erachtet und die Straflosigkeit an zusätzliche prozedurale Voraussetzungen knüpft (§§ 218a Abs. 1, 219 StGB). 6 Dazu etwa Baurmann, Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 35 (2005), 164, 170, 173; Kubiciel, ZStW 120 (2008), 429, 439. 7 Pawlik, in: Kindhäuser u. a. (Hrsg.), Strafrecht und Gesellschaft, 2019, S. 217, 235, unter Verweis auf Lennartz, Dogmatik als Methode, 2017, S. 101. 8 So Bumke, Rechtsdogmatik, 2017, S. 2, 10 ff.; ebenso Jansen, AöR 143 (2019), 623, 624. 9 So Jakobs, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 105; ders., ZStW 107 (1995), 844; Pawlik, FS v. Heintschel-Heinegg, 2014, S. 364, 365 f. Siehe auch Jansen, AöR 143 (2019), 623, 631. 10 Jakobs, FS Hirsch, 1999, S. 48. 11 Siehe dazu Hörnle, in: Dreier (Hrsg.), Rechtswissenschaft als Beruf, 2018, S. 183, 197, 213.

Das Strafrecht einer fragmentierten Gesellschaft

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Wird beispielsweise fünf Jahrzehnte lang der Satz wiederholt, dass das Strafrecht (nur) Rechtsgüter schützen dürfe, geraten jene ideengeschichtlichen, sozialen und wissenschaftstheoretischen Umstände in Vergessenheit, die dieser Prämisse zu ihrem Erfolg verholfen haben. Strafrechtstheoretische Konzeptionen lösen sich damit schleichend von der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die sie hervorgebracht hat, ohne dass dies der Strafrechtswissenschaft überhaupt bewusst wäre. Dazu trägt auch eine Art metaphysischer Kurzschluss bei, auf den Carl Schmitt aufmerksam gemacht hat. Danach entspricht das metaphysische Bild, das sich ein Zeitalter von der Welt macht, jener Struktur, die den Betrachtern als Form der politischen Organisation ohne weiteres einleuchtet.12 Auf die Strafrechtswissenschaft übertragen ließe sich sagen: Wenn die Wissenschaft das Strafrecht als ein Mittel betrachtet, mit dem der Staat die Freiheit des Einzelnen und die Integrität personaler Rechtsgüter schützt, stützt dies ein hintergründig wirksames Weltbild, das Maß am Individuum und seiner Ausstattung mit Gütern nimmt. Und umgekehrt gilt: Versteht man die Gesellschaft als einen Ort, an dem Individuen bei der Verfolgung eigener Interessen miteinander interagieren, muss das Strafrecht zuallererst die äußeren Freiheitssphären von Personen trennen und die Güter einer Person schützen. Auf diese Weise stabilisieren sich eine nicht mehr hinterfragte Vorstellung von der Funktion des Strafrechts und ein unreflektierter Blick auf die Gesellschaft gegenseitig.13 Auch die Rechtsgüterschutzlehre verdankt ihren Siegeszug nicht allein einer theoretischen Überlegenheit gegenüber den seinerzeitigen verbrechenstheoretischen Konkurrenzangeboten. Ihr Durchbruch basiert auch auf einem gesellschaftlichen Umfeld, das den Einzelnen als „letztgültige Instanz des Sinnhaften“ begreift und die überindividuellen Sinngehalte der Gesellschaft sowie ihre Institutionen in den Hintergrund drängt.14 In den letzten Jahrzehnten hat sich jedoch zunehmend gezeigt, dass dieser Blick auf die Gesellschaft zu einseitig ist. Die deutsche Gesellschaft hat sich durch eine Reihe von Ursachen – die von der Wiedervereinigung über die Zuwanderung bis hin zu einer Ökonomisierung und Digitalisierung der Lebenswelt reichen – erheblich verändert: Sie ist von anderer Gestalt als jene Gesellschaft, auf deren Rezeptionsboden die Rechtsgüterschutzlehre entwickelt wurde und ihren Durchbruch erlebte. In den fünfzig Jahren seit Beginn des Siegeszugs der Rechtsgüterschutzlehre und der darauf aufbauenden Dogmatik hat sich aber nicht nur das gesellschaftliche Umfeld des Strafrechts erheblich verändert, sondern auch das Strafrecht selbst. Beide Tendenzen – die Fragmentierung der Gesellschaft und des Strafrechts – sollen im Folgenden beschrieben werden, da sie der Strafrechtswissenschaft Anlass geben, ihren Blick auf die Gesellschaft und ihre strafrechtstheoretischen Grundlagen zu revidieren.

12

C. Schmitt, Politische Theologie, 9. Aufl. 2009, S. 50 f. Vgl. Pawlik (Fn. 7), S. 236: „unreflektiertes Vertrauen auf eine Kongruenz zwischen Gesellschaft und geltendem Recht“. 14 Vgl. zu diesem Blick auf die Gesellschaft Pawlik (Fn. 7), S. 217 f. 13

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III. Von der formierten zur fragmentierten Gesellschaft Gesetzgebung werde, so Lepsius, „in Deutschland bisweilen mit romantischen Vorstellungen assoziiert.“ Danach sollen gute Gesetze „beständig, systematisch, neutral, sachgerecht und bestimmt“ sein.15 Dazu passt die verbreitete Annahme, dass die Wissenschaft dem Gesetzgeber vorarbeiten müsse, dass sie ihm „große“ Konzeptionen vorzulegen habe, die nicht „auf subjektiv-beliebigen, legislatorisch irrelevanten Ansichten“ beruhen, sondern die „Ergebnisse der internationalen Reformdiskussion konkretisierend ausarbeiten“, wie Roxin um den Jahrtausendwechsel schrieb.16 Kriminalpolitik wird demzufolge verstanden als die planvolle und in sich stimmige Gestaltung der strafrechtlichen Sozialkontrolle, die anerkannten kriminalpolitischen Grundsätzen folge.17 1. Strafrecht in einer Gesellschaft der Individuen Diese Art der Gesetzgebung prägte die Große Strafrechtsreform der 1960er und 1970er Jahre. Sie hatte nicht nur erhebliche Konsequenzen für die Ausgestaltung des StGB. Man kann diese kriminalpolitische Epoche auch als Sattelzeit bezeichnen, da sich zwischen zwei Gipfelpunkten einer gesellschaftlichen Entwicklung auch das Strafrecht und dessen Sinndeutung veränderten.18 Auf der einen Seite steht der Entwurf eines Strafgesetzbuches von 1962 (E 62), der wie das Spätwerk einer formierten Gesellschaft erscheint.19 Die formierte Gesellschaft soll – einer berühmten Rede Ludwig Erhards zufolge – vom Bewusstsein der schicksalhaften Verbundenheit aller mit allen getragen und daher gerade nicht von „sozialen Kämpfen und von kulturellen Konflikten zerrissen“ werden; stattdessen sollten sich die gesellschaftlichen Gruppen zu einer „großen Willenseinheit“ formieren.20 Dementsprechend sah man Mitte der 1960er Jahre die Sozialpolitik als integrierenden Bestandteil einer „großangelegten Infrastrukturpolitik“21. In diesem Programm der sozialen Infrastrukturpolitik sollte das Strafrecht Fälle ethisch verwerflichen Verhaltens sanktionieren,22 Institutionen schützen, kurz: „sittenprägende und sittenerhaltende Wirkung“ entfal15

Lepsius, JZ 2018, 295. Roxin, in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 369, 387 f. 17 Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl. 1996, § 99 Rn. 11; dazu Putzke, FS Schwind, 2006, S. 111, 114. 18 Zum Begriff „Sattelzeit“ Koselleck, Einleitung, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, 1972, S. XV. 19 Dazu Kubiciel, in: Löhnig/Preisner/Schlemmer (Hrsg.), Reform und Revolte, 2012, S. 217, 219 ff. S. auch bereits F. C. Schroeder, JZ 1970, 393, 394. 20 So Ludwig Erhard, in: Hohmann (Hrsg.), Ludwig Erhard – Gedanken aus fünf Jahrzehnten, 1988, S. 915, 916 f. S. ferner R. Altmann, Abschied vom Staat, 1998, S. 61 ff. (Wiederabdruck des 1965 verfassten Textes). 21 Erhard (Fn. 20), S. 917. 22 Entwurf eines Strafgesetzbuchs (StGB) E 1962, BT-Drs. 4/650, S. 376. 16

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ten.23 Dementsprechend hielt der Entwurf an der Kriminalisierung des Ehebruchs und der Homosexualität ebenso fest wie an einer weitgehenden Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs. Als der Bundestag Ende der 1960er Jahre über die Strafrechtsreform zu entscheiden hatte, war die Zeit über derart „perfektionierte Ordnungsvorstellungen“24 hinweggegangen.25 Eine Gesellschaft, die sich durch weitgehende Homogenität politischer Interessen und soziokultureller Wertüberzeugungen sowie das Fehlen politischer Konflikte auszeichnet, galt nicht mehr als erstrebenswert, sondern als Hemmnis des gesellschaftlichen Fortschritts. Stellvertretend für viele begriff Ralf Dahrendorf kulturelle Konflikte nicht als politisch-gesellschaftlichen Problemfall, sondern sah in ihnen die Antriebskräfte sozialen Wandels und Manifestationen individueller Freiheit.26 Disziplin, Gehorsam, Unterordnung und andere „Plicht- und Akzeptanzwerte“ traten in den Hintergrund, „Selbstentfaltungswerte“ wie Emanzipation und Selbstbestimmung in den Vordergrund.27 Infolgedessen orientierten sich die Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre entstandenen Alternativ-Entwürfe zum StGB am Bild eines selbstbestimmten Menschen, dessen Rechtsgüter geschützt werden sollten; Sittlichkeit und Institutionen galten hingegen nicht mehr oder allenfalls als nachrangig schutzwürdig.28 Das ist konsequent: Für eine „Gesellschaft der Individuen“29 bildet die Gewährleistung individueller Sicherheit bei gleichzeitig größtmöglichem Freiraum für individuelle Selbstentfaltung auch den Ideenhorizont der Strafgesetzgebung. Ist die Gesellschaft der Ort, an dem Individuen bei der Verfolgung eigener Zwecke interagieren, eint die Einzelnen der Wunsch nach größtmöglicher Freiheit zur Selbstentfaltung. Mehr Gemeinsamkeit als der Wunsch, von dieser Freiheit möglichst interferenzfrei Gebrauch machen zu können, verbindet die Individuen nicht. Strafe darf dann nur eine „Störung der äußeren Friedensordnung – deren gewährleistende Elemente als Rechtsgüter bezeichnet werden – (…) nach sich ziehen“.30 Dementsprechend kann sich auch der Staat nicht mehr als „Bewahrer dichter, ethisch aufgeladener Orientierungsmuster“ verstehen, in denen sich die Gemeinschaft seiner Bürger wiederfinden soll.31 Ihren dogmatischen Ausdruck findet dieser Blick auf die Gesellschaft in der von Roxin systematisch ausgearbeiteten Rechtsgüterlehre. Dieser zufolge soll das Straf23

Entwurf 1962 (Fn. 23), S. 348. Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, 2000, S. 386. 25 Treffend Wolfrum, Die geglückte Demokratie, 2007, S. 219: „Dem Geist der Zeit, der unruhiger wurde, stand ein solcher Antipluralismus diametral entgegen.“ 26 Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, 1965, S. 173 f. Instruktiv dazu Wolfrum (Fn. 25), S. 241 ff. Biographisch Meifort, Ralf Dahrendorf, 2017, S. 118 ff. 27 Treffend Wolfrum (Fn. 25), S. 254. 28 Kubiciel (Fn. 19), S. 221 ff.; Greco, JZ 2016, 1125, 1126. 29 Nolte (Fn. 24), S. 406. 30 So Roxin, ZStW 81 (1969), 613, 622, der darüber hinaus darauf hinweist, dass Moral und Sittlichkeit keine Bedeutung für Sicherheit und Bestand der Gesellschaft hätten (624). 31 Vgl. Nettesheim, Liberaler Verfassungsstaat und gutes Leben, 2017, S. 20. 24

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recht Rechtsgüter schützen, die der freien Entfaltung des Einzelnen, der Verwirklichung seiner Grundrechte und dem Funktionieren eines daran orientierten Staates dienen.32 Zu dieser kriminalpolitisch-straftheoretischen Aufgabenbeschreibung passt eine Verbrechenslehre, die auf das vollendete vorsätzliche Erfolgsdelikt abhebt, sowie eine Zurechnungslehre, die maßgeblich auf die Erhöhung eines Risikos für ein Rechtsgut sowie dessen Realisierung in Gestalt einer Rechtsgutsverletzung abstellt. Dieser verbrechenstheoretische Ansatz überwindet zwar den auf den Täter und dessen Handlung fokussierten Finalismus.33 Jedoch tauscht er nur einen einseitigen Blickwinkel gegen einen anderen, ebenso einseitigen, aus: An die Stelle der Täterperspektive tritt jene des (potenziellen) Opfers, d. h. eine Konzentration auf dessen Rechtsgüter, die vor Schädigungen bzw. einer rechtlich missbilligten Gefährdung bewahrt werden sollen. Insofern geht die Überwindung des Finalismus nicht mit einer „Wiederentdeckung von Gesellschaft und Politik“34 einher. Die Verfasser des Alternativ-Entwurfes betonten zwar die Mitverantwortung der Gesellschaft. Damit ist aber weder die gesellschaftliche Präformierung der Zurechnung noch der Einfluss gesellschaftlicher Moralvorstellungen auf Kriminalisierungsentscheidungen gemeint, sondern eine (unklare) „Mitschuld“ der Gesellschaft für das „Schicksal“ des Einzelnen, das diesen zum Straftäter gemacht habe.35 Daher müsse der Staat Verantwortung für den Straftäter übernehmen, indem er ihm im Strafvollzug Hilfe zur Besserung anbietet. Indes verfolgen solche „Hilfsangebote“ keinen humanistisch-altruistischen Zweck, sondern sollen die Gesellschaft – diese verstanden als Ensemble von Rechtsgutsträgern – vor künftigen Gefährdungen schützen.

2. Das Strafrecht der Risikogesellschaft Als Mitte der 1980er Jahre die gesellschaftliche Sensibilität für sogenannte „Großrisiken mit Katastrophenpotenzial“ wuchs, veränderte sich mit dem Sicherheitsbewusstsein der Bürger auch der Blick auf das Strafrecht. Zum einen erkannte man, dass eine Störung der äußeren Friedensordnung schon in der Schaffung (abstrakter) Gefahren gesehen werden muss, wenn man die Rechtsgüter der Einzelnen vor Handlungen schützen will, deren Risiken und Folgen sich nur schwer beherrschen bzw. kalkulieren lassen. Zum anderen zeigte sich, dass der Schutz vor Eingriffen in personale Rechtsgüter noch keine hinreichende Bedingung für eine freie Entfaltung des Einzelnen darstellt. Dieser benötigt neben einem Bestand an personalen Gütern auch eine intakte natürliche, gesellschaftliche und staatliche Umwelt, d. h. neben natürlichen Ressourcen auch Institutionen wie den Wettbewerbsmarkt als Ort des Austausches von Waren und Dienstleistungen oder ein funktionierendes Kre32

Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 3 Rn. 7. Roxin, GS Armin Kaufmann, 1989, S. 237 ff. 34 Pawlik (Fn. 7), S. 240. 35 Vgl. dazu und zum Folgenden Roxin, ZStW 81 (1969), 613, 647 f. 33

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dit- und Versicherungswesen und dergleichen mehr. Infolgedessen überführte der Gesetzgeber vorhandene Straftatbestände zum Schutz der Umwelt in das StGB und schuf neue. Zudem führte er Straftatbestände ein, die Verhaltensweisen im Vorfeld von Betrug oder Untreue kriminalisieren, um Gefahren für den Bestand des Kredit- oder Versicherungswesens und anderer Institutionen entgegenzutreten.36 Prittwitz fasste diese gesellschaftlichen und kriminalpolitischen Tendenzen unter dem Stichwort „Strafrecht der Risikogesellschaft“ zusammen.37 Dieses schütze „mehr und andere Rechtsgüter und das früher, also schon im Vorfeld einer Verletzung.“38 Damit versuche der Gesetzgeber, sowohl werterhaltend als auch wertprogressiv zu wirken. Zum einen stabilisiere er gesellschaftliche Erwartungen;39 zum anderen versuche er mit einem wertprogressiven Recht, den Ursachen der sozialen Verunsicherung zu begegnen40 und im Bereich des Umwelt- und Wirtschaftsrechts sittenbildend zu wirken.41 Diese auf positive Generalprävention zielenden Tatbestände seien der „Antwortversuch“ des Gesetzgebers auf die Verunsicherungen der Risikogesellschaft, lautet Prittwitz’ vielfach geteilte These. 3. Funktional differenzierte und fragmentierte Gesellschaft So unterschiedlich die eben skizzierten kriminalpolitischen Konzeptionen und die ihnen zugrunde liegenden Gesellschaftsmodelle auch sind; sie gehen alle von einem konzeptionell einheitlichen Orientierungspunkt aus: der ideologisch und politisch homogenen Gesellschaft, dem vornehmlich an individueller Autonomie interessierten Einzelnen bzw. der nach Sicherheit verlangenden Gesellschaft. Derart konzentrierte, um nicht zu sagen: reduzierte Gesellschaftsmodelle haben den Vorteil, dass sie die Gegenstandsbereiche der Kriminalpolitik vergleichsweise klar hervortreten lassen. Eine formierte Gesellschaft muss Angriffen auf ihre Sitten und Institutionen begegnen, ein am Einzelnen maßnehmendes Strafrecht personale Rechtsgüter schützen und das Strafrecht der Risikogesellschaft Sicherheit vermitteln. Auf dieser Grundlage kann die Wissenschaft dem Gesetzgeber vergleichsweise klare Vorgaben machen und verfügt über konturenscharfe Prüfsteine, die sie an die Arbeit des Gesetzgebers anlegen kann. Indes weisen all diese Konzeptionen blinde Flecken auf. Sie sind eng geführt und können jene Teile der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht erfassen, die neben ihren Orientierungsmustern liegen. Bis zu einem gewissen Grad ist dies zwar die Folge jedes systematischen Argumentierens. Je größer aber der nicht erfasste Teil der ge36 Zu deren Legitimation Kubiciel, in: Jahn et al. (Hrsg.), Strafverfolgung in Wirtschaftsstrafsachen, 2015, S. 158 ff. 37 Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993, S. 56 ff., 160 ff. (Zitat auf S. 61). 38 Prittwitz (Fn. 37), S. 245. 39 Prittwitz (Fn. 37), S. 234. 40 Prittwitz (Fn. 37), S. 265. 41 Prittwitz (Fn. 37), S. 263.

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sellschaftlichen Wirklichkeit ist, desto mehr schwindet die Überzeugungskraft kriminalpolitischer Positionen und der ihnen zugrundeliegenden Maximen. Das zeigt sich exemplarisch im Lehrbuch Roxins. Dieses verweist auf nicht weniger als neun Straftatbestände bzw. Tatbestandstypen, die sich nicht mit dem konzeptionellen Ausgangspunkt des Lehrbuchs – dem an der Freiheit des Einzelnen maßnehmenden Rechtsgutsdogma – vereinbaren lassen und von denen Roxin sodann einige (Tierquälerei) als zulässig anerkennt, während er andere (etwa das Verbot, den Holocaust zu leugnen) ablehnt.42 Inzwischen stellt sich bei ganzen Deliktsfeldern die Frage, ob diese einen gemeinsamen materiellen Unrechtskern aufweisen und ob die auf den Rechtsgutsbegriff bezogene, an einfach gelagerten Erfolgsdelikten entwickelte und um die Erfolgszurechnung kreisende Dogmatik jene Auslegungsfragen bewältigen kann, die Tatbestände des Wirtschafts-, Medizin- und Nebenstrafrechts aufwerfen. Das Strafrecht hat offenbar eine Komplexität erreicht, die tradierte kriminalpolitische Begriffe und Kernbestandteile der gängigen Dogmatik nicht mehr oder kaum noch bewältigen können. Die Komplexitätssteigerung des Strafrechts hat ihre Hauptursache in gesellschaftlichen Veränderungen, die sich in den letzten Jahren beschleunigt haben. Dazu zählt zunächst die rasche Veränderung von Lebens- und Wirtschaftsbereichen wie beispielsweise die Ökonomisierung des Gesundheitsmarktes und des Sports oder die Digitalisierung des Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Meinungsmarktes. Schutz und rechtliche Steuerung dieser veränderten Lebens- und Wirtschaftsbereiche übernehmen Rechtsnormen, die besonderen Bereichslogiken folgen und deren Auslegung daher nur noch lose mit den im Kern(straf)recht entwickelten Theorienangeboten verbunden ist.43 Zudem ist aus einer individualisierten Gesellschaft eine fragmentierte geworden. Denn der oben beschriebene Zugewinn an Freiheit auf der Seite des Einzelnen hat dazu geführt, dass die Möglichkeit des Staates abnimmt, die einzelnen Formen der Selbstentfaltung und die ihnen zugrundeliegenden Maximen miteinander zu „versöhnen“.44 An die Stelle dessen, was Hegel als Einheit von subjektivem und objektivem Willen verstanden und als Sittlichkeit bezeichnet hat, ist in der heutigen Gesellschaft eine Vielzahl von „Lebensstilen“ getreten.45 Indes gerät eine Gesellschaft, die sich auf das Besondere konzentriert, in eine Krise des Allgemeinen.46 Verschärft wird diese Krise dadurch, dass sich neue Formen des Sozialen in unserer 42 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 3 Rn. 43 ff. Siehe dazu Kubiciel, Die Wissenschaft vom Besonderen Teil des Strafrechts, 2013, S. 74 f. 43 Vgl. Paulus, ZaöRV 67 (2007), 695, 707, der meint, dass jedes neue Teilsystem sein Recht neu erfinden müsse und nicht ohne weiteres auf die Lösungspotenziale und Theorieangebote anderer Teilsysteme zurückgreifen könne. 44 Dazu Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 2011, S. 332, 338. 45 Nolte, Die Ordnung der Gesellschaft, S. 406; Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, 2017, S. 9, 433. S. auch Vesting, AöR 122 (1997), 337, 352: „Buntes Patchwork unterschiedlichster Lebensformen“ jenseits von Stand, Klasse und Schicht. 46 Reckwitz (Fn. 45), S. 434. Vgl. auch Di Fabio, Schwankender Westen, 2015, S. 58, der meint, moderne Gesellschaften seien kaum mehr in der Lage, das „Ganze“ zu sehen.

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Gesellschaft etabliert haben, die den Einzelnen besondere nationale, religiöse, ideologische oder kulturelle Identifikationsangebote unterbreiten.47 Nicht wenige dieser Gruppen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich auf Grundlage einer Ideologie, politischer Überzeugungen, partikularer Interessen oder schlicht eines Lebensstils nach außen abschließen.48 Die diskursive Ausmittlung eines Kompromisses zwischen solchen Gruppen bzw. zwischen diesen und anderen Teilen der Gesellschaft ist dann nur noch schwer möglich. Dies trifft, nicht nur, aber vor allem auf sog. „Ad-hoc-Öffentlichkeiten“49 zu, die sich themenspezifisch innerhalb und außerhalb von sozialen Netzwerken bilden. Diese Gruppen wirken auf die Politik nicht nur als „Dynamisierungsfaktor“50, da sie schnell, laut und medienwirksam Druck auf politische Entscheidungsträger ausüben können. Die Fragmentierung verändert auch ganz grundsätzlich die Bedingungen, unter denen Politik operiert und der Gesetzgeber Lösungen erarbeitet.

IV. Kriminalpolitik in einer fragmentierten Gesellschaft 1. Nebeneinander von systematischer und situativer Gesetzgebung Mit Blick auf die Kriminalpolitik stellt sich daher die Frage, ob der Gesetzgeber weiterhin der Erwartung gerecht werden kann, dass seine Gesetze in Form und Inhalt rational und vernünftig sind.51 Verschwunden ist die rationale, systematisch-konzeptionelle und wissenschaftlich beratene Strafgesetzgebung jedenfalls noch nicht.52 Als Beispiele können die Reform des Korruptionsstrafrechts sowie die Neuordnung des Rechts der Vermögenabschöpfung gelten, denen man – bei aller Kritik an einzelnen Aspekten – zugestehen muss, dass sie im Wege intensiver Beratungen mit Vertretern von Wissenschaft und Praxis versuchen, praktische Ziele mit den Vorgaben des internationalen und europäischen Rechts zu verbinden. Für die laufende Legislaturperiode hat sich die Große Koalition ausdrücklich einer rationalen und evidenzbasierten Kriminalpolitik verschrieben.53 Die Reform des Unternehmenssanktionenrechts

47

Kersten, Schwarmdemokratie, 2017, S. 129; Reckwitz (Fn. 45), S. 10, 394 f. Di Fabio (Fn. 46), S. 22 f. 49 Ingold, Der Staat 56 (2017), 491, 524. 50 Kersten (Fn. 47), S. 28 f. 51 An dieser Forderung festhaltend Di Fabio (Fn. 46), S. 170. Siehe hingegen FischerLescano/Teubner, in: Albter/Stichweh (Hrsg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit, 2007, S. 37, 60 f., die eine Rechtsfragmentierung als notwendige Folge einer Fragmentierung der Gesellschaft erachten. 52 Zur Kritik an der Kriminalpolitik der letzten großen Koalition Kubiciel, JZ 2018, 171 ff. 53 Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode, 2018, Rz. 6289 – 6298. 48

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scheint ein Beispiel für eine systematische Gesetzgebung klassischen Stils zu werden. Häufiger anzutreffen ist jedoch eine unsystematisch-sprunghafte Rechtspolitik, die – nicht selten aus Anlass aktueller Fälle – zu kleinräumigen Änderungen des Strafrechts führt.54 So wurde in Folge der „Böhmermann“-Affäre der Tatbestand „Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten“ kurzerhand gestrichen, obgleich sich für ihn außerhalb eines satirischen Kontextes berechtigte Anwendungsfälle finden ließen und der artverwandte Tatbestand der Verunglimpfung des Bundespräsidenten erhalten blieb.55 Gegenteilige Folgen hatte die sog. Kölner Silvesternacht 2015/2016, war sie doch ausschlaggebend dafür, dass die ohnehin geplante Reform des Sexualstrafrechts in kürzester Zeit abgeschlossen wurde, noch bevor die zur Vorbereitung der Reform eingesetzte Expertenkommission ihre Ergebnisse vorlegen konnte. Die Gesetzgebung im Schnellverfahren bescherte dem Strafgesetzbuch unter anderem den Tatbestand der „Straftaten aus Gruppen“ (§ 181j StGB), dessen Wortlaut und Unrechtsgehalt – vorsichtig formuliert – schillern. Aktuelle Beispiele für eine am Einzelfall orientierte Rechtspolitik sind die Forderungen, den Diebstahl von in Abfallbehältern entsorgten, aber noch nicht derelinquierten Lebensmitteln (sog. Containern) zu entkriminalisieren56 bzw. das sog. Upskirting mittels eines weiteren Spezialtatbestandes (§ 184k StGB, Bildaufnahme des Intimbereichs) unter Strafe zu stellen,57 anstatt die Lösung in einer umfassenden Reform der Tatbestände des 15. Abschnitts des StGB zu suchen. Ein wesentlicher Grund für diese Tendenz zur Einzelfallgesetzgebung dürfte sein, dass sich für kleinräumige Lösungen mehr Aufmerksamkeit bei potenziellen Wählern generieren und auch leichter parlamentarische Mehrheiten organisieren lassen als für größere (und damit auch rechtstechnisch kompliziertere) Reformvorhaben.58 So kommt es, dass die Legalordnung des Strafrechts zunehmend zerfasert, weil Tatbestände wie § 103 StGB aus dem StGB herausgebrochen oder neue einzelfallbezogene bzw. sektorspezifische Tatbestände wie die §§ 263c, 263d, 299a, 299b, 315d StGB hinzugefügt werden. Dennoch lassen sich für die Tendenz zur Kurzatmigkeit und Kleinräumigkeit in der Strafrechtspolitik nicht (allein) der Gesetzgeber bzw. die politischen Parteien verantwortlich machen.59 Vielmehr spiegelt sich in der Zerfaserung des Strafrechts auch der Zustand der fragmentierten Gesellschaft. In einer sol54

117. 55

Kritisch dazu schon Kubiciel, ZStW 131 (2019) Heft 4; Putzke, FS Schwind, S. 111,

Treffend Scheerer, KJ 2019, 131: „zufallsgenerierte“ Entkriminalisierung. Hierbei ist jedoch im Unklaren geblieben, wie das geschehen sollte. Der Hamburger Justizsenator Till Steffen deutete an, entweder den „Eigentumsbegriff im Bürgerlichen Gesetzbuch oder die Straftatbestände“ mit Blick auf dieses Phänomen ändern zu wollen. Für eine kritische Analyse s. Lorenz, jurisPR-StrafR 10/2019 Anm. 1. 57 BR-Drs. 443/19; dazu Berghäuser, ZIS 2019, 463 ff. 58 Kritisch zum „Medien- und Twitterpopulismus der Berufspolitiker“ Walter, JZ 2019, 649, 651. 59 Zutreffend Silva-Sanchez, Die Expansion des Strafrechts, 2003, S. 3, 10, 13. 56

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chen Gesellschaft ist es umso schwerer, einen Interessenausgleich und Kompromiss auszuhandeln, je kleiner der normative Kern ist, um den sich die Gesellschaft versammeln kann.60 Dementsprechend kompromisslos sind die an den Gesetzgeber gerichteten Forderungen, dementsprechend konfrontativ stehen sich zunehmend die Parteien bzw. Flügel der Parteien gegenüber. Auf die Öffentlichkeit erregende Fälle oder Gerichtsentscheidungen kann die Politik fast gar nicht mehr mit einer planvollen und in sich stimmigen Gesetzgebung reagieren. Ad-hoc-Gesetze mit kleinräumigen Lösungen sind die Folge. 2. Strafrechtspolitik zur Stabilisierung von Institutionen Manche dieser Tatbestände lassen ein weiteres Element der Kriminalpolitik einer fragmentierten Gesellschaft aufscheinen: die wachsende Bedeutung des Schutzes von Institutionen. So sichert der Strafgesetzgeber mit den Vorschriften gegen Doping, Sportwettbetrug und der Manipulation berufssportlicher Wettbewerbe eine der wenigen Institutionen, die sich einer großen gesamtgesellschaftlichen Anerkennung erfreut und daher eine gesellschaftsintegrierende Aufgabe hat: den organisierten Sport. Der Gesetzgeber versucht also – zumindest symbolisch und unter Inkaufnahme von Widersprüchen61 – eine der letzten weithin anerkannten Institutionen zu schützen, die für die Integration der Gesellschaft und die Vermittlung von Werten von besonderer Bedeutung ist. Mit der Schaffung der Tatbestände gegen tätliche Angriffe auf Vollstreckungsbeamte und vergleichbare Personengruppen reagiert der Gesetzgeber nicht nur auf eine gestiegene Gewaltbereitschaft. Man kann darin auch einen Impuls sehen, der sich gegen jene anti-institutionellen Affekte richtet, die eine fragmentierte Gesellschaft kennzeichnen. Da der Staat die Anerkennung von tradierten Institutionen immer weniger als selbstverständlich voraussetzen kann, ist der Schutz der Angehörigen dieser Institution nicht nur faktisch wichtig, sondern verdeutlicht in symbolisch-rechtskommunikativer Weise den Wert solcher Institutionen, vor allem gegenüber den Angehörigen dieser Institutionen selbst. Das Strafrecht ist folglich ein Mittel, das – über seine generellen generalpräventiven Funktionen hinaus – Institutionen die notwendige gesellschaftliche Anerkennung nach außen und innen vermitteln soll.62 3. Strafrechtspolitik und Sittlichkeit Ein weiteres Kennzeichen der Kriminalpolitik der fragmentierten Gesellschaft ist die Tendenz zur Stabilisierung tradierter oder neu entstandener Sittlichkeitsvorstel60

Vgl. Di Fabio (Fn. 46), S. 49. Zu Widersprüchen durch die Kriminalisierung des Dopings Merkel, in: Kubiciel/Hoven (Hrsg.), Korruption im Sport, 2018, S. 109 ff. 62 Gärditz, FS Fischer, 2018, S. 963, 976; Scheerer, KJ 2019, 131, 133: Strafgesetzgebung mit „Überhang“ an symbolisch-expressiver Bedeutung. 61

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lungen. In dieser „Remoralisierung“ der Kriminalpolitik wird der Versuch gesehen, unter den Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaft Konformität zu fördern63 und die schwindende integrative Kraft der Sozialmoral funktional durch Normen des Strafrechts zu ersetzen.64 Plausibler scheint indes die Annahme, dass die Kriminalisierung „bloß anstößigen“ Verhaltens keine Reaktion auf die Erosion der Sozialmoral ist, sondern im Gegenteil die gestiegene Bedeutung von Werten und Moralvorstellungen in einer re-politisierten und re-ideologisierten Gesellschaft ist, deren Mitglieder sich ihrer (kulturellen, religiösen, ethnischen) Identitäten wieder stärker bewusst sind. Das Strafrecht soll hier also nicht – in der Art eines „Kulturhebels“65 – die abschüssige gesellschaftliche Entwicklung ausgleichen, sondern verdeutlicht vielmehr die gestiegene Bedeutung der Sozialmoral. Dementsprechend lässt sich auch die Ausweitung des Wirtschafts- und Korruptionsstrafrechts nicht (nur) als Antwort auf einen angeblich fortschreitenden Sittenverfall im Wirtschaftsleben deuten. In ihr spiegeln sich (auch) die gewachsenen wirtschaftsethischen Anforderungen an Manager und Unternehmen, die nicht nur als rationale Nutzenmaximierer agieren sollen, sondern auch als good (corporate) citizen.66 Zu dieser Moralisierung des Wirtschaftsstrafrechts passt es, dass die Kriminalisierung transnationaler Korruption (§ 335a StGB) mit dem Ziel gerechtfertigt wird, unsere (westlichen) Vorstellungen von good governance in den Ländern des Globalen Südens durchzusetzen.67 Da dies weder faktisch möglich ist noch zu dem begrenzten Geltungsbereich des deutschen Strafrechts passt, ist dieser Schritt des Gesetzgebers vor allem als eine auf das Inland zielende symbolische Affirmation von Normen und Werten zu deuten.68 Die Bedeutung von Wirtschaftsethik, Sexual- und Sozialmoral für die Kriminalpolitik wird mit dem Veränderungsdruck, der auf die Gesellschaft einwirkt, weiter zunehmen. Globalisierung, Migration, steigender Wettbewerbsdruck und andere Entwicklungen werden von vielen als Bedrohung erlebt. Auf ein solches Gefühl der Bedrohung reagiert eine Gesellschaft typischerweise damit, dass sie sich enger zusammenschließt und sich gleichsam um geteilte Werte und Normen versammelt.69 Gerade in einer fragmentierten Gesellschaft wächst damit der von Gruppen auf den Gesetzgeber ausgeübte Druck, die Bedeutung der ihnen wichtigen Werte und Normen symbolisch und faktisch anzuerkennen. Das der Normstabilisierung dienende Strafrecht eignet sich dazu in besonderer Weise. Von vornherein unzulässig

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Weigend, FS Frisch, 2013, S. 25. Kindhäuser ZStW 129 (2017), 382, 385; Zabel ZRP 2016, 202, 204. 65 von Liszt ZStW 38 (1917), 1, 3; s. dazu Kubiciel JZ 2015, 64, 68. 66 Vgl. dazu Kubiciel ZStW 129 (2017), 473, 491. 67 Maas, NStZ 2015, 305, 307; in diese Richtung auch Pieth, FS Fuchs, 2014, S. 367, 375; Hoven, Auslandsbestechung, 2018, S. 532. 68 Kubiciel, in: Hoven/ders. (Hrsg.), Das Verbot der Auslandsbestechung, 2016, S, 45 ff. 69 Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, 1977, S. 144 f.; vgl. ferner Canetti, Masse und Macht, S. 23 ff. 64

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ist der (straf-)rechtliche Schutz ethisch imprägnierter Normen jedenfalls nicht.70 Auch in einem liberalen Staat müssen Rechtsnormen nicht ethisch neutral sein.71 Sie können auch Konzeptionen des Guten schützen, die eine Mehrheit der Gesellschaft für schützenswert erachtet und die daher einen Beitrag zur Integration der Gesellschaft leisten.72 In einer fragmentierten Gesellschaft werden sich einzelne Konzeptionen des Guten und die sie schützenden Tatbestände aber nur noch schwer auf einen einheitlichen Begriff bringen lassen.

V. Strafrechtstheorie einer fragmentierten Gesellschaft Wagt man einen Ausblick auf die kommenden Jahre, dürfte sich die Kriminalpolitik durch ein Nebeneinander von systematisch angeleiteter und einzelfallorientierter Gesetzgebung auszeichnen. Straftatbestände werden auch weiterhin subjektive Rechte garantieren, zunehmend aber auch gesellschaftliche Institutionen und ethisch-kulturell imprägnierte Konzeptionen des Guten stabilisieren. Verstärken wird sich auch die Aufgliederung des Strafrechts in Teildisziplinen (Staatsschutz-, Wirtschafts-, Medizin-, Unternehmensstrafrecht), in denen sich eine eigene Dogmatik entwickelt, die mit der tradierten Dogmatik des Allgemeinen Teils nicht mehr deckungsgleich ist. All dies führt zu einer Fragmentierung und De-Systematisierung des Strafrechts. Vorbei scheinen die Zeiten großer Systementwürfe und Meistererzählungen von „dem“ Strafrecht. Die Wissenschaft wird lernen müssen, mit Fragmenten zu arbeiten. Dabei dürfte auch dem Satz Merkels größere Bedeutung zukommen, dem zufolge die symbolische Wiederherstellung der verletzten Normgeltung Aufgabe und Bedeutung des Strafrechts ist.73 Dieser Satz eint Vertreter moderner Vergeltungstheorien74 und Anhänger einer normorientierten-expressiven Variante der positiven Generalprävention.75 Da er die Straflegitimation von materiell-inhaltlichen Vorgaben (Rechtsgüterschutz) löst und an den jeweiligen Bestand an Rechtsnormen knüpft,76 weist er eine besondere Nähe zur demokratischen Gesetzgebung auf.77 Offen für Norminhalte jedweder 70

Jakobs, Rechtsgüterschutz? Zur Legitimation des Strafrechts, 2012, S. 28 ff.; Nettesheim (Fn. 31), S. 64, 87 ff.; Kubiciel/Weigend, KriPoZ 2019, 35, 36 f.; Pawlik, Festschrift für Urs Kindhäuser, 2019, S. 351, 362 f. Zurückhaltender Hörnle, in: Dreier/Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, 2008, S. 315 ff. A. A. Scheerer, KJ 2019, 131, 140. 71 Nettesheim (Fn. 31), S. 87 ff. 72 Nettesheim (Fn. 31), S. 64. 73 Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2. Aufl. 2014, S. 126. Im Anschluss an Jakobs, Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004, S. 26 ff. 74 Pawlik, Normbestätigung und Identitätsbalance, 2017, S. 51 ff. 75 Zur letztgenannten Theorie Hörnle, Straftheorien, 2. Aufl. 2017, S. 32 ff. 76 Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, Rn. 18; Wohlers, GA 2019, 425, 440. 77 Gärditz, Der Staat 49 (2010), 331, 357.

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Art sind die positive Generalprävention und moderne Vergeltungstheorien dennoch nicht. Denn im Unterschied zur negativen Generalprävention adressieren sie nicht potentiell tatgeneigte Personen und versuchen auch nicht, deren Verhalten mit der „hydraulischen Wirkung“ der Strafandrohung zu lenken. Sie sehen die Aufgabe der Strafe vielmehr darin, das Recht sowie das Vertrauen rechtstreuer Personen in die Geltung der Normen zu bestätigen. Da der Staat zur Steuerung gesellschaftlicher Prozesse qua Befehl und Gehorsam nur begrenzt legitimiert und befähigt ist,78 können in der Regel nur solche Normen strafrechtlich garantiert werden, die in einer konkreten Gesellschaft tatsächlich Orientierung bieten, weil sie sozial wirksam sind.79 Letzteres setzt voraus, dass die an die Allgemeinheit der Bürger gerichteten Normen sich nicht zu weit vom Inhalt gesellschaftlich wirksamer, außerstrafrechtlicher Orientierungsnormen und den hinter diesen stehenden Wertüberzeugungen entfernen. Nur wenn dem so ist, lässt sich die Strafe auch als ein kommunikativer Akt deuten, der den Adressaten nicht etwas Fremdes aufzwingt, sondern der auf die Verletzung des Rechts mit einer symbolischen Wiederherstellung des Rechts dieser Gesellschaft antwortet. In einer fragmentierten Gesellschaft muss der Gesetzgeber daher besonders gründlich prüfen, ob die Werte und Normen, die er strafrechtlich schützen will, noch eine hinreichende soziale Verankerung haben. Ist dies nicht (mehr) der Fall, sollte er von ihrer strafrechtlichen Erzwingung absehen. Umgekehrt kann er aber auch gestiegene Wertsensibilitäten und neue soziale Normen in bestehende oder neu geschaffene Straftatbestände integrieren. Für die Strafrechtswissenschaft bedeutet das zweierlei. Wenn der Bezugspunkt einer für diese Gesellschaft aussagekräftigen Straftheorie nicht mehr ein materielles Unrecht (Rechtsgutsverletzung) ist, sondern der Widerspruch zu einer Norm, muss wieder jener Aspekt in den Vordergrund der Dogmatik rücken, den die Strafrechtswissenschaft über Jahrzehnte in die Hinterzimmer der Verbrechenslehre verbannt hat: die Verletzung einer Norm bzw. die Pflichtwidrigkeit. Wichtiger als die Lehre von der objektiven Erfolgszurechnung werden dann die Kategorien der Zuständigkeitsbegründung, d. h. die Voraussetzungen, unter denen eine Person strafrechtlich überhaupt in die Pflicht genommen werden kann.80 Soweit die Strafrechtswissenschaft kriminalpolitisch arbeitet, muss sie versuchen, der Gesellschaft ihre Normen abzulauschen – auch mit den Methoden empirischer Sozialforschung.81 Anstatt den Gesetzgeber auf naturrechtliche Gerechtigkeitskonzeptionen zu verpflichten, sollte sie Gesetzgebungsvorschläge auf die Vereinbarkeit mit den vorherrschenden sozialen Wertüberzeugungen überprüfen. Eine solche Prüfung könnte beispielsweise zeigen, dass der Schutz des institutionalisierten Sports gegen Doping und Korruption 78

Treffend Scheerer, KJ 2019, 131, 143. Gärditz, Der Staat 49 (2010), 331, 358; Kubiciel, ZStW 120 (2008), 429, 442 f. 80 Grundlegende systematische Ausarbeitung dieser Verbrechenslehre von Pawlik, Das Unrecht des Bürgers, 2012. 81 Vgl. auch die Forderung nach einer stärkeren Einbeziehung der Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft bei Walter, JZ 2019, 649, 654 (indes im Theorierahmen einer soziologischen Vergeltungstheorie). 79

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gesellschaftlich akzeptiert wird,82 während das ausnahmslose Verbot der geschäftsmäßigen Suizidförderung dem differenzierten Blick der Mehrheit auf die Sterbehilfe zuwiderläuft.83 In dem Maße aber, in dem die Gesellschaft in Fragmente zerfällt und gemeinsame Wertüberzeugungen schwinden, wird es der Strafrechtswissenschaft schwerfallen, den Strafgesetzgeber mit eindeutigen Befunden zu versorgen bzw. zu konfrontieren. In diesen Situationen kann sie sich nicht den Forderungen einzelner Gruppen anschließen, ohne vom Bezugsrahmen der Wissenschaft in den der Politik zu wechseln. Als Wissenschaft muss sie entweder die Entscheidung des demokratischen Gesetzgebers abwarten oder nach Kompromisslinien suchen. Die Minimalaufgabe einer Strafrechtswissenschaft besteht jedenfalls darin, vor scheinbar einfachen und glatten Lösungen zu warnen. Ein simples und systematisch-stringentes Strafrecht kann es in einer komplexen Gesellschaft nicht geben.

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Vgl. die repräsentative Umfrage von YouGov zum Doping vom 31. 1. 2017, abrufbar unter: https://yougov.de/news/2017/01/31/doping-legalisieren-deutsche-sind-entschieden-gege/. 83 Vgl. etwa Nationaler Ethikrat, Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende, 2006, S. 19 ff. – Zudem widerspricht das ausnahmslose Verbot der geschäftsmäßigen Suizidförderung den vom Recht anerkannten Fällen, in denen straffrei täterschaftliche Sterbehilfe geleistet werden kann, vgl. dazu Kubiciel, NJW 2019, 3033, 3035 f.

Zur Demokratisierung des Strafrechts Von Tonio Walter

I. Reinhard Merkel, Karl Kraus und Franz von Liszt Reinhard Merkel ist meines Wissens bislang der einzige, dem es gelungen ist, dass gleich zwei seiner Werke zu „juristischen Büchern des Jahres“ erkoren wurden, und dies mit bester Berechtigung: seine Dissertation über Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus im Jahre 1995 (erschienen 1994) und, dreizehn Jahre später, seine Monografie Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung. Diese an scharfen Gedanken und schlagenden Argumenten reiche, wie stets klar und kurzweilig geschriebene Untersuchung hat jeder gelesen und muss jeder gelesen haben, der sich mit dem Problem der Entscheidungsfreiheit des Menschen befasst, so auch ich. Aber Reinhard Merkels Dissertation hatte ich bis vor kurzem nur aus der Ferne bewundert und im Geiste in die Reihe jener Bücher gestellt, die ich zwar unbedingt lesen würde, aber zu gegebener Zeit – irgendwann einmal. Dann wurde ich Zeuge, wie ein älterer, bereits emeritierter Kollege in kleinem Kreise gestand, er habe eigentlich nie wieder etwas wissenschaftlich so Profundes geleistet wie in seiner Dissertation. Mich erstaunte dieses Geständnis im ersten Moment vor allem deshalb, weil jener Kollege auf ein breites, vielfältiges und anerkanntes Œuvre zurückblicken konnte und vom eigenen Schaffen auch selbst keine allzu niedrige Meinung zu haben schien. Dann dachte ich an die eigene Dissertation und die Arbeit an ihr und hatte innerlich zuzugestehen, dass ich nie wieder so ununterbrochen lange und intensiv über einzelne rechtliche Probleme nachgedacht habe wie damals. Und ich vermute, dass es vielen so gegangen ist und geht; dass viele, ohne sich dessen bewusst zu werden, bei der Arbeit an ihrer Dissertation so lange und tief in einem Thema versinken, wie sie es später kaum noch einmal tun; vor allem weil sie es kaum noch einmal können, da andere Pflichten und Herausforderungen Zeit und Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Und das brachte mich auf die Idee, bei der Suche nach einem Gegenstand für diesen Beitrag endlich Reinhard Merkels Dissertation über Karl Kraus, die Satire und das Strafrecht in die Hand zu nehmen. Dies fiel umso leichter, als ich mich ihrem Thema nahe fühle: weil es mich geistig ins Wien des frühen 20. Jahrhunderts zieht, in dem Karl Kraus gewirkt hat, in dieses Miteinander von Geist, Kunst und Geschmack, von Tradition und Erneuerung. Außerdem kann man Reinhard Merkels Dissertation noch immer als neues Buch kaufen,

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denn ihr ist etwas geglückt, was nicht viele – wenn überhaupt – strafrechtliche Dissertationen geschafft haben dürften: Sie ist nach ihrer ersten Veröffentlichung bei Nomos auch noch als Sachbuch im Suhrkamp-Verlag erschienen, dem intellektuellen Flaggschiff der deutschen Verlage.1 Und im Gegensatz zu manch anderem Suhrkamp-Buch macht Reinhard Merkels Werk auf jeder der gut 500 Seiten Text Lesefreude und weitet den Horizont – wie alles, was er schreibt. Das erste Kapitel von Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus behandelt die Strafrechtsentwicklung im 19. Jahrhundert in ihren wichtigsten Zügen sowie deren politische und ideengeschichtliche Hintergründe, besonders den Liberalismus. Das zweite Kapitel nimmt das Verhältnis des Politischen und der Satire in den Blick, die sich Karl Kraus in seiner Fackel zum Programm gemacht hatte; dem Periodikum, dessen 37 Jahrgänge sein Hauptwerk sind und im Zentrum von Reinhard Merkels Untersuchung stehen. Und im dritten Kapitel geht es um Franz von Liszt und Heinrich Lammasch als den beiden Strafrechtsgelehrten, die auf Kraus den stärksten Einfluss hatten. Auf den rund dreißig Seiten, die Franz von Liszt gewidmet sind, erfährt man Erhellendes über die – auch persönliche – Bekanntschaft zwischen ihm und Karl Kraus und bekommt manch originellen O-Ton zu lesen. Allein der Brief von Liszts an Kraus vom 4. Oktober 1901, in dem von Liszt die Bitte um einen Gastbeitrag ablehnt, lässt das Herz jedes Stilisten höherschlagen, weil er derart schlank, lebendig und prägnant ist, dass er nahezu unverändert auch heute noch so hätte geschrieben werden können. Außerdem wird ein weiteres Mal deutlich, welch ungeheuren und fortwirkenden Einfluss von Liszt auf das strafrechtliche Denken hatte. Hier breche ich meinen kurzen Bericht über Reinhard Merkels Buch schon wieder ab. Zwar ließe sich dieser Aufsatz problemlos in eine begeisterte Rezension umgestalten, aber die käme nicht nur leicht verspätet, sondern wäre kaum der Zweck eines Festschriftenbeitrages. Zudem haben eine solche Rezension bereits andere geschrieben.2 Mich hat Reinhard Merkels Abriss über die Bedeutung Franz von Liszts für Karl Kraus und über das Verhältnis der beiden dazu gebracht, in der aktuellen Ausgabe der ZStW, die Franz von Liszt begründet hat, mit besonderem Interesse einen Aufsatz von Arnd Koch über das Spätwerk von Liszts zu lesen, dessen 100. Todestag in das Jahr 2019 fällt.3 Dieser Aufsatz macht deutlich, wie sehr von Liszt die Demokratisierung des Strafrechts ein Anliegen war.4 Und dieses Stichwort ist dann zum Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen geworden. Ich widme sie Reinhard Merkel in freundschaftlicher Verbundenheit und der Hoffnung, dass sie wenn nicht auf seine Billigung, so doch auf sein Interesse stoßen. 1

Merkel, Reinhard, Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus, 2. Auflage 2016. Etwa Dilcher, Gerhard, Die juristischen Bücher des Jahres – Eine Leseempfehlung, NJW 1993, 3256 – 3261 (3260 f.). 3 Koch, Arnd, Der unbekannte Franz v. Liszt (02. 03. 1851 – 21. 06. 1919) – Schlaglichter auf das Spätwerk anlässlich des 100. Todestages, ZStW 131 (2019) S. 451 – 483. 4 Koch (Fn. 3) S. 451, 452 (mit wörtlichem Zitat von Liszts zur „Demokratisierung unserer Strafgesetzgebung“), 462, 482. 2

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II. Zum Ziel einer (weiteren) Demokratisierung des Strafrechts 1. Demokratie – was soll das eigentlich heißen? Diese Frage liegt deutlich unter dem Niveau des Destinatärs der Festschrift. Dass ich sie gleichwohl aufgreife, hat die Großzügigkeit zur Ursache, mit der man die Worte „Demokratie“ und „demokratisch“ neuerdings im Munde führt. Sie werden nämlich nicht nur von Politikern, sondern auch von Professoren und anderen, die es besser wissen sollten, als verschwimmende Synonyme für „rechtsstaatlich“ und vieles einzelne gebraucht, was sich als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips betrachten lässt: Transparenz und Überprüfbarkeit staatlicher Entscheidungsfindung, Meinungs- und Pressefreiheit, richterliche Unabhängigkeit und einiges mehr. Seinem Ursprung nach heißt „Demokratie“ aber nicht mehr als Herrschaft durch das Volk: „demos“ ist altgriechisch das (Staats-)Volk, „kratein“ das Herrschen. Nun wäre es naiv zu meinen, die ursprüngliche Bedeutung eines Wortes bliebe durch die Jahrhunderte hindurch und bis in alle Ewigkeit die gleiche und allein richtige – auch wenn viele Sprachkritiker diesen etymologischen Holzweg gerne beschreiten.5 Vielmehr unterliegen Wortbedeutungen schleichendem, mitunter auch abruptem Wandel und können Wörter sogar von Anfang an etymologisch irreführend sein, etwa weil sie wie das Wort „Sirene“ bewusst ironisch gewählt worden sind: Sirenen singen nicht betörend, wie es die namengebenden Damen der griechischen Mythologie taten, sondern machen infernalischen Lärm. Aber es gibt Fälle, in denen es die Verständigung erleichtert, wenn man sich an eine ursprüngliche Bedeutung hält, weil der freihändige Gebrauch des Wortes unklar machte, was es denn im Einzelfall eigentlich bezeichnen solle. Ein solcher Fall sind auch die Worte „Demokratie“ und „demokratisch“. Wer meint, dass eine staatliche Behörde ihre Befugnisse überschreite oder dass die Äußerung eines Fernsehkomikers zu Unrecht als Beleidigung verfolgt werde, der möge dies genau so und möglichst genau zum Ausdruck bringen – doch das Verdikt „undemokratisch“ ruhen lassen, denn mit der Frage, inwieweit das Volk an einer Entscheidung beteiligt wird oder wurde, hat das nichts zu tun. 2. Warum Demokratie? Aus soziologischen Studien wissen wir, dass Selbstbestimmung die Lebenszufriedenheit hebt und stressbedingte Krankheiten vermindert.6 Das gilt sogar noch für das demokratischste Land Europas und der Welt, die Schweiz: Je stärker deren Bürger in einem Kanton auf die Verhältnisse vor Ort in Abstimmungen unmittelbar Einfluss nehmen können, desto zufriedener sind sie im Vergleich mit den Bewohnern anderer Kantone. Amartya Sen, Träger des Nobelpreises für Wirtschaft (1998), schließt dar5

Zu ihm mit Beispielen in meiner „Kleinen Stilkunde für Juristen“, 3. Auflage 2017, S. 28 f. 6 Hierzu und auch zum Folgenden mein Buch „Die Kultur der Verantwortung“, 2007, S. 12 f. mit Nachweisen.

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aus, dass es das wichtigste Ziel gesellschaftlicher Entwicklung sei, die Selbstbestimmung der Menschen zu stärken. Alles andere, auch die Erhöhung des materiellen Wohlstands, sei weniger wichtig. Das überzeugt mich. Ich halte es für das Ziel alles menschlichen Strebens, inneres Wohlergehen zu erreichen – im Sinne eines Wohlseins und well being, wie es Erich Fromm in Haben oder Sein beschreibt.7 Ob man das nur als Lebenszufriedenheit bezeichnet oder, wie üblicher, als „Glück“, ist eigentlich bloß eine Frage des sprachlichen Geschmacks. Allerdings ist immer wieder die Erfahrung zu machen, dass der Gebrauch des Wortes „Glück“ den Irrtum provoziert, es gehe um Vergnügen oder kurzzeitige Ekstase oder Euphorie. Betrachtet man es als Ziel alles menschlichen Strebens, jene Lebenszufriedenheit zu erreichen, die durch Selbstbestimmung gefördert wird, liegt es nahe, dem Staat die Aufgabe zuzuweisen, er möge die äußeren Bedingungen des Zusammenlebens nach Möglichkeit so gestalten, dass seine Bürger diese Zufriedenheit erlangen können. Allerdings enthält das zwei willentlich gesetzte und nicht vorgefundene oder durch vernunftrechtliches Räsonieren ermittelte Setzungen (Prämissen): dass es im Leben der Menschen darum gehe, inneres Wohlergehen zu erreichen und zu erhalten; und dass auch der Staat im Dienste dieses Zieles zu stehen habe. Das ist insgesamt eine humanistische und utilitaristische Ausgangsposition. Niemand braucht sie zu teilen. Aber wer dies tut, wird eine weitgehende Demokratisierung der Gesellschaft verlangen – und damit auch ihres Rechts und Strafrechts. Gängig ist es wohl, die Vorzugswürdigkeit der Demokratie gegenüber anderen Staatsformen abweichend zu begründen, etwa mit der inhaltlichen oder sittlichen Qualität ihrer Ergebnisse oder mit den Freiheitsrechten des einzelnen. Auf solche ergänzenden Begründungen verzichte ich. Zu ihnen wären andere weitaus berufener. Außerdem bin ich solchen Begründungen gegenüber skeptisch, weil sie auf metaphysische Beweise hinauszulaufen pflegen, die keine sind. Auf eines ist allerdings mit Yuval Harari hinzuweisen: Demokratie funktioniert nur in einer Gemeinschaft, die sich auf alles Wesentliche bereits geeinigt hat.8 Sie setzt einen Grundkonsens voraus. Nur er macht es den überstimmten Minderheiten erträglich, den Willen der Mehrheit als Gesetz und Anweisung zu akzeptieren. Das Verhältnis von Deutschland und Russland zum Beispiel, die gegenseitigen Rechte und Pflichten könnten nicht in Abstimmungen geregelt werden, an denen alle Russen und alle Deutschen mit je einer Stimme teilnähmen. Das wäre zwar dem Prinzip nach vollendet demokratisch, doch könnten die Deutschen die Abstimmungsergebnisse nie als demokratisch legitimiert akzeptieren. Denn sie betrachten sich nicht als Teil einer Gemeinschaft mit den Russen, die sich über alles Wesentliche – Menschenund Minderheitenrechte, Rechtsstaat und so fort – bereits geeinigt hätte. Zu diesem Wesentlichen zählen auch kulturelle und nationale Selbstdefinitionen. 7 Fromm, Erich, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, 1976, S. 14 und öfter (hier zitiert nach der Taschenbuchausgabe von 1979). 8 Harari, Yuval, Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, 8. Auflage 2015, S. 385 f.

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III. Schauplätze einer weiteren Demokratisierung des Strafrechts 1. Kriminalpolitik Selbstverständlich ist in einer Demokratie auch die Kriminalpolitik demokratisch, wenn sich alle an die Regeln halten. Doch gibt es unterschiedliche Grade des Demokratischen, unterschiedliche Intensitäten demokratischer Legitimation. Ein unmittelbar vom Volk gewählter Schweizer Richter hat eine stärkere demokratische Legitimation als ein deutscher Richter, der von der Exekutive ausgesucht wird (und dann zum Teil noch pro forma einen halbparlamentarischen Richterwahlausschuss passieren muss). Eine direktdemokratische Abstimmung hat eine stärkere demokratische Legitimation als ein Gesetz, das Abgeordnete beschließen, die repräsentativ und zur Hälfte über Landeslisten gewählt worden sind. Das geben Abgeordnete zwar selten zu, richten sich aber danach, da sie gegenüber Entscheidungen früherer Parlamente in der Regel geringeren Respekt haben als – soweit vorhanden – gegenüber solchen des Volkes. Eine Möglichkeit, kriminalpolitische Entscheidungen weiter zu demokratisieren, liegt darin, empirisch zu ermitteln, welche Strafen die Bürger für gerecht erachten: für welches Verhalten sie Kriminalstrafen als verdiente Sanktion betrachten und in welcher Höhe. An diese Möglichkeit kann indes nur denken, wer den Sinn solcher Strafen darin sieht, für Gerechtigkeit zu sorgen, und wer zugleich bereit ist, die Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft darüber entscheiden zu lassen, was gerecht sei. Dass ich beides tue, habe ich an anderen Stellen ausgeführt und beschränke mich hier darauf, dies in Erinnerung zu rufen.9 Allerdings lässt sich dagegen einwenden, die repräsentative Demokratie, die wir haben, sei bereits die demokratisch beste aller Welten, und es bedürfe für die Entscheidungen der Abgeordneten keiner weiteren demokratischen Zusatzlegitimation. Sie würden vom Grundgesetz lediglich dazu angehalten, ihren Überzeugungen, ihrem Wissen und Gewissen zu folgen; um die Überzeugungen ihres Wahlvolkes zu einzelnen Fragen bräuchten sie sich nicht zu kümmern und sollten es auch nicht. Allerdings ist schwer zu übersehen, dass sie dies tun. Alle Berufspolitiker sperren ihre Ohren weit auf, um dem Stimmengewirr, das unsere Welt füllt, eine Vox populi abzulauschen; und sei es auch nur eine, die sich auf bestimmte Bevölkerungsgruppen beschränkt, weil sie diese Gruppen als ihre alten oder potentiell neuen Wähler betrachten. Alle Politiker, die sich öffentlich äußern, tun dies in der Absicht, mindestens Hoffnung, damit bei möglichst vielen Wahlberechtigten auf Zustimmung zu stoßen. Nur überaus selten kommt es dazu, dass Abgeordnete Gesetze sehenden 9 Siehe den als Einzelschrift veröffentlichten Vortrag „Strafe und Vergeltung – Rehabilitation und Grenzen eines Prinzips“, 2016; ferner die Aufsätze „Die Vergeltungsidee als Grenze des Strafrechts“, JZ 2019, 649 – 656, und „Grundlagen einer empirisch begründeten Vergeltungstheorie“, in: Johannes Kaspar/Tonio Walter (Hg.), Strafen „im Namen des Volkes?“. Zur rechtlichen und kriminalpolitischen Relevanz empirisch feststellbarer Strafbedürfnisse der Bevölkerung, 2019, 49 – 60.

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Auges gegen eine Bürgermehrheit beschließen – wie es wohl beim neuen § 217 StGB geschehen ist sowie bei § 1631d BGB.10 Das passiert eigentlich nur, wenn die Verantwortlichen die Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerung falsch einschätzen oder von den Umfrageergebnissen zu einem Zeitpunkt überrascht werden, zu dem es für eine Umkehr ohne Gesichtsverlust zu spät ist. Zudem mögen Politiker Äußerungen in ihrem persönlichen Umfeld und in ihrer politischen Peergroup – wenn auch irrational – für repräsentativer halten als Umfrageergebnisse oder sich eher nach solchen Äußerungen richten, weil sie den tatsächlichen und sicheren Konflikt mit deren Urhebern stärker scheuen als das Grummeln anonymer Massen in der Ferne. Es gibt ihn also auch in einer rein repräsentativen Demokratie, den Populismus, und es gibt ihn dort unabhängig davon, ob es zur Gründung sogenannter populistischer Parteien gekommen ist. Man könnte sogar auf die Idee kommen, dass Demokratie und Populismus zusammengehören – wenn Demokratie Herrschaft durch das Volk heißt und Populismus bedeutet, dass man dem Willen des Volkes, lateinisch populus, Geltung verschafft. Und am Ende ist dies vielleicht gar nicht so furchtbar; weil der tatsächliche Wille der Mehrheit nicht immer dem entspricht, was die lautesten Schreihälse verlangen, und weil er nicht immer so schwankend, triebgesteuert und kurzsichtig ausfällt, wie die meisten deutschen Politiker und Intellektuellen noch immer glauben. Doch das mag an dieser Stelle auf sich beruhen. Hier genügt es festzuhalten, dass Politiker und Abgeordnete auch in einer rein repräsentativen Demokratie sehr genau darauf achten und in ihrem Handeln bis hin zur Gesetzgebung berücksichtigen, was eine reale oder vermutete Mehrheit der Bevölkerung will. Dann jedoch läuft die Empfehlung, bei der Ermittlung dieses Willens auf belastbare empirische Studien zurückzugreifen, lediglich darauf hinaus, die Bildzeitungslektüre durch Wissenschaft zu ersetzen. Man mag einwenden, dann müssten doch zu sämtlichen Sachfragen ständig derartige Studien in Auftrag gegeben werden, was niemand organisieren noch gar bezahlen könne. Und ein solcher Ansatz führe die repräsentativ-demokratische Idee ad absurdum; dann könne man doch gleich eine umfassend direkte (Basis-)Demokratie einführen, was aber niemand wolle und praktisch undurchführbar wäre. Aber ganz so ist es nicht. Zum einen erscheint es mir berechtigt, für das Strafrecht, also für den Einsatz des schärfsten staatlichen Schwertes, eine engere Anbindung an die Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung zu emp10 Zu § 217 StGB eine infratest-dimap-Umfrage aus dem November 2014, im Netz unter https://www.infratest-dimap.de/de/umfragen-analysen/bundesweit/umfragen/aktuell/sterbehil fe-hohe-akzeptanz-in-der-bevoelkerung-ukraine-konflikt-mehrheit-gegen-ausweitung-der-sank/ (abgerufen am 21. Januar 2020). 83 % der Befragten sind für eine Legalisierung mindestens der Beihilfe zur Selbsttötung, davon befürwortet ein Großteil, und zwar 37 Prozentpunkte sogar aktive Sterbehilfe. Zu § 1631d BGB eine infratest-dimap-Umfrage aus dem Dezember 2012, im Netz unter https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/umfragen/ aktuell/bewertung-der-gesetzlichen-regelung-zu-beschneidungen/ (abgerufen am 21. Januar 2020). Knapp 70 % der Befragten halten die vom Bundestag im Dezember 2012 beschlossene gesetzliche Regelung zur Beschneidung von Jungen nicht für richtig; weitere Umfrageergebnisse in meinem Beitrag „Der Gesetzentwurf zur Beschneidung – Kritik und strafrechtliche Alternative“, JZ 2012, 1110 – 1117 (1115 in Fußnote 23).

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fehlen als für andere Instrumente staatlichen Handelns. Zum zweiten geht es nicht um verbindliche Entscheidungen der Bevölkerung über Gesetze oder auch nur einzelne Rechtsfragen: Die Entscheidungen bleiben beim verfassungsmäßig berufenen Gesetzgeber. Und der hat auch in jener Straftheorie, für die ich werbe, nicht allen Gerechtigkeitswünschen, hier: Vergeltungswünschen einer Bevölkerungsmehrheit, Folge zu leisten.11 Auch dann nicht, wenn diese Mehrheit klar ist und diese Wünsche nachhaltig sind. Zum einen verpflichtet ihn das Ultima-ratio-Prinzip, lediglich Mindestwünschen Rechnung zu tragen, das heißt der Untergrenze des Spektrums von „schon gerecht“ bis „noch gerecht“. Zum anderen ist der Gesetzgeber immer befugt und verpflichtet, das Ziel, für Gerechtigkeit zu sorgen, mit anderen berechtigten Zielen staatlichen Handelns abzuwägen und die Gerechtigkeit dort und in dem Maße zurücktreten zu lassen, wie ihm anderes wichtiger erscheint. Dieses andere kann fast alles sein, was sich der Staat legitimerweise zur Aufgabe macht, vom Umweltschutz über den Schutz der Familie und der Beziehung zu ausländischen Staaten bis hin zur inneren Sicherheit. Und gerade diese innere Sicherheit kann es sinnvoll machen, bei bestimmten Tätern, vor allem Ersttätern, Abstriche vom Maß des gerechten Schuldausgleichs zu machen und auf eigentlich gerechte, aber besonders desozialisierende Strafen, namentlich Freiheitsstrafen, vorerst zu verzichten und auf eine Besserung zu hoffen; das nennt man Bewährung. Abwägungen dieser Art sind das Geschäft der Politik, ihr Geschäft schlechthin – und sollen dies auch nach meiner Ansicht bleiben. Aber wenn sich der Gesetzgeber entscheidet, etwas unter eine bestimmte Strafe zu stellen – dann sollte er sicher sein, sich damit nach Grund und Maß, gerade im Verhältnis zu anderen Strafdrohungen, auf die Gerechtigkeitsbedürfnisse der Bevölkerung stützen zu können. 2. Rechtsanwendung a) Der Wille des Gesetzgebers als Auslegungsziel Gestützt wird die Auslegung von Gesetzen bekanntlich seit Jahr und Tag auf einen Kanon von „Auslegungsarten“, will sagen Gesichtspunkten, die man – mit zweifelhafter Berechtigung – auf den Titan der Zivilrechtswissenschaft zurückführt, auf Savigny:12 die Auslegung nach dem Wortlaut (grammatische Auslegung), nach der Gesetzessystematik (systematische Auslegung), nach der Gesetzesgeschichte (historische, insbesondere genetische Auslegung) und nach dem Gesetzeszweck (teleologi11 Näher mein Beitrag „Die Vergeltungsidee als Grenze des Strafrechts“, JZ 2019, 649 – 656 (656). 12 Siehe Savigny, Friedrich Carl von, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 206 ff., und dazu Adomeit, Klaus/Hähnchen, Susanne, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 7. Auflage 2018, Rn. 66; Hohmann, Hanns, in: Gerd Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Niemeyer 1998, Stichwort „Juristische Rhetorik“ unter B. IV.; meine „Kleine Rhetorikschule für Juristen“, 2. Auflage 2017, S. 215 ff.

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sche Auslegung). Hinzu kommen die völkerrechts-, europarechts- und verfassungskonforme und -freundliche Auslegung, die darin bestehen, dass bestimmte, zunächst denkbare Auslegungsergebnisse ausgeschlossen werden, weil sie höherrangigen Normen aus den genannten Rechtsordnungen widersprächen. Ein traditioneller Streit der Methodenlehre wird darüber geführt, welchem Auslegungsgesichtspunkt im Konfliktfall Vorrang gebühre. Die herrschende Antwort dürfte sein: dem teleologischen Gesichtspunkt.13 Ich halte sowohl diese Antwort als auch den Streit für unglücklich. Das ist am einfachsten mit dem Hinweis zu erklären, dass es keine Auslegungsprobleme gibt und auch nicht empfunden werden, wenn der Gesetzgeber in den Materialien ausdrücklich gesagt hat, ob er den Fall, um den es geht, mit seiner Norm erfassen will oder nicht. Denn dann haben das Grübeln über den Wortlaut, das Wühlen in der Gesetzesgeschichte, das Durchmustern anderer Normen sowie Gedankenspiele zum wie auch immer ermittelbaren „objektiven“ Sinn und Zweck der Norm schlagartig ein Ende, der Fall ist klar. Das halte ich auch für richtig. Denn in einem Staat mit demokratisch gut legitimierter Legislative, aber demokratisch schwach legitimierter Judikative, die diese Legitimation überdies wieder nur über die Legislative herstellen kann (vermittelt über die Exekutive und zum Teil über Richterwahlausschüsse), in einem solchen Staat sollte sich die Judikative als denkender Diener des demokratischen Souveräns: des Gesetzgebers begreifen. Das ist allerdings erneut eine gewillkürte Setzung, die auf einer wiederum gewillkürten Wertung beruht; und zwar auf jener, dass Demokratie eine gute Sache sei. Man könnte das Ganze auch anders sehen und ein Modell für vorzugswürdig halten, in dem die Richter als Rechtsexperten berufen wären, dem Gesetzgeber als juristischem Laien notfalls Contra zu geben im Sinne eines „checks and balances“. Auch Zwischenformen sind denkbar, etwa dergestalt, dass man die Gerichte nur dort für berechtigt hält, sich als autonome Rechtssetzer zu verstehen, wo kein klarer Wille des Gesetzgebers ermittelbar ist. Und wieder anders sieht es aus, wenn die Richter, wie in den Schweizer Kantonen, unmittelbar vom Volk gewählt werden. Denn dann haben sie eine mindestens ebenso gute demokratische Legitimation wie die Parlamentarier, und das machte es leichter begründbar, ihnen gegenüber dem Gesetzgeber eine konkurrierende Rechtsgestaltungsbefugnis einzuräumen, aufgrund deren sie auch eigene Wertungen offen gegen die erklärten Absichten des Gesetzgebers in Stellung bringen dürften. Doch das ist nicht der bundesdeutsche Fall. Und unter der Herrschaft des Grundgesetzes halte ich für richtig, was in vielen Fällen längst praktiziert wird, siehe oben: dass sich die Gerichte am Willen des Gesetzgebers orientieren (und allenfalls nach Artikel 100 GG vorlegen, wenn sie diesen Willen für verfassungswidrig halten, oder den allgemeinen Regeln des Völkerrechts gemäß Artikel 25 GG Vorrang geben). Lediglich tun sie das nach meinen Beobachtungen nicht konsequent genug, nicht immer 13 Für das deutsche Strafrecht etwa Jescheck, Hans-Heinrich/Weigend, Thomas, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 5. Auflage 1996, § 17 IV 1 b (S. 156).

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mit der wünschenswerten Sorgfalt – und vergessen es manchmal auch ganz. Verdeutlicht habe ich das an anderer Stelle anhand eines Beispiels aus dem Nebenstrafrecht, des § 42 Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG).14 Bei der Suche nach dem gesetzgeberischen Willen können die klassischen „Auslegungsarten“ Indizien liefern, wenn es keine klare oder gar keine Äußerung in den Gesetzesmaterialien gibt. Allein das ist, meine ich, ihre Funktion. Eine gründliche Suche nach solchen Indizien hat auch die Tätigkeit des Gesetzgebers an anderer Stelle einzubeziehen sowie die Begründungen, die der Gesetzgeber dort für seine Entscheidungen gibt. Manchmal lassen sie auf Wertungen und Haltungen schließen, die bei der Auslegung anderer Gesetze herangezogen werden können. Gleiches gilt für Analogien und teleologische Reduktionen. Ein Beispiel bieten die noch jungen §§ 1901a ff. BGB. Aus ihnen und ihrer Begründung in den Materialien lässt sich ersehen, dass der moderne Gesetzgeber über Patientenautonomie und das Verhältnis von Arzt und Patient anders denkt als der Gesetzgeber des Reichsstrafgesetzbuches von 1871. Daher hat man den § 216 StGB heute immer dann teleologisch zu reduzieren, wenn eine Heilbehandlung aktiv abgebrochen wird (Abschalten von Apparaten und dergleichen) und dies nach den §§ 1901a ff. BGB zulässig ist. (Streiten lässt sich dann noch darüber, ob dafür auch deren Vorschriften zu Form und Verfahren Beachtung verlangen – was entgegen wohl herrschender Lehre zu bejahen ist.)15 Oft sind aber auch die klassischen Topoi der Auslegung keine Hilfe bei der Suche nach dem Willen des Normgebers. Dann bleibt dem Rechtsanwender nichts anderes übrig, als das „objektiv“ Sinnvolle zu tun. Die Anführungszeichen verdanken sich hier wie schon oben der Überzeugung, dass es untunlich ist, von einem „objektiven Sinn“ zu sprechen. Denn das Wort „Sinn“ sollte man den inneren Stellungnahmen geistbegabter Wesen reservieren. Für rein äußere Zwecke gibt es in hinreichender Zahl andere Wörter, etwa „Wirkung“ und „Funktion“: Es ist die Wirkung der Blätter einer fleischfressenden Pflanze, Insekten zu fangen; ihr Sinn wird dies erst, wenn ein Mensch die Pflanze in sein Zimmer stellt, um einer Fliegenplage zu begegnen. Und wenn ein Nachmieter als Insektenfreund den Speiseplan der Pflanze missbilligt, sie aber gleichwohl behält, weil er sie schön findet – dann ist ihr Sinn fürderhin allein die optische Erscheinung, während das Fliegenfangen zum unangenehmen und lediglich in Kauf genommenen Nebeneffekt wird. Kann ein Rechtsanwender nicht ermitteln, was der Normgeber gewollt hat oder mutmaßlich gewollt haben würde, muss er sich selbst an dessen Stelle setzen. 14 In meinem Beitrag „Der Wille des Gesetzgebers als höchstes Auslegungsziel, verdeutlicht anhand des § 42 StAG“, ZIS 2016, 746 – 755. 15 BGH NJW 2011, 161 (Rn. 12, 14); mein Beitrag „Sterbehilfe: Teleologische Reduktion des § 216 StGB statt Einwilligung! Oder: Vom Nutzen der Dogmatik, Zugleich Besprechung von BGH, Urteil vom 25. Juni 2010 – 2 StR 454/09“, ZIS 2011, 76 – 82 (76 ff.); für die wohl herrschende Lehre Fischer, StGB, 66. Auflage 2019, Vor § 211 Rn. 53a; Pawlik, Michael, in: Ulrich Becker/Markus Roth (Hg.), Recht der Älteren, 2013, § 7 Fn. 43 mit zahlreichen weiteren Nachweisen.

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Auch das kann mit unterschiedlichen Überlegungen geschehen. Das Spektrum reicht von einem Rechtsanwender, der wie ein Pascha nur noch das eigene Belieben sprechen lässt, über einen Philosophenrichter, der seiner Weltanschauung folgt, bis hin zu einem Rechtsanwender, der herauszufinden versucht, was wohl in einer Volksabstimmung herauskäme. Und an dieser Stelle können auch Straftheorien ihren Weg in die Rechtsanwendung finden: b) Die Straftheorie als Hilfsmittel, wenn sich kein legislativer Wille ermitteln lässt Scheitern alle Bemühungen eines Strafrechtsanwenders – er muss übrigens kein Richter sein –, für seinen Fall die tatsächlichen oder mutmaßlichen Wünsche des Normgebers zu ermitteln, so besteht eine seiner Möglichkeiten darin zu überlegen, welches Ergebnis gemäß der Straftheorie richtig wäre, die er für vorzugswürdig hält. Dieser Schnittpunkt von Methodenlehre und Straftheorie scheint mir als solcher bislang unterbelichtet zu sein. Als Beispiel die Auslegung der Tatvariante einer „Unterdrückung wahrer Tatsachen“ in § 263 StGB; bei ihr geht es um die Tatbestandsmäßigkeit sogenannter konkludenter Täuschungen, das heißt von Täuschungen durch Erklärungen, die einen konkludenten Teil haben und in diesem Teil falsch sind. Das Problem besteht darin zu wissen, welche Erklärungen welche konkludenten Teile haben. Die herrschende Meinung versucht herauszufinden, was im Rechtsverkehr bei einer bestimmten ausdrücklichen Äußerung als konkludent miterklärt gilt.16 Andere suchen nach Aufklärungspflichten, die auch aufgrund ausdrücklicher Äußerungen entstehen oder anlässlich einer solchen Äußerung aktuell werden können.17 Beides ist nicht falsch, führt aber nicht stets zu einer überzeugenden und manchmal zu überhaupt keiner Lösung. So soll die Vertragsgemäßheit einer Leistung oder Sache in der Regel nicht als „miterklärt“ gelten, wenn jemand sie zur Erfüllung des Vertrages anbietet.18 Und dann ordnet auch das Zivilrecht keine Aufklärungspflicht an. Vielmehr bleibt es zivilrechtlich im Grundsatz Sache des anderen Vertragspartners, den Mangel oder die Unzulänglichkeit zu entdecken und entweder, wenn er selbst noch nicht geleistet hat, die (volle) Gegenleistung zu verweigern oder Gewährleistung oder eine Garantie geltend zu machen. Er wird durch das lächelnde Schweigen des Anbieters nach herrschender Ansicht nicht betrogen. Das dürfte aber mit den Gerechtigkeitsintuitionen der meisten Menschen nicht zusammenpassen. Vielmehr 16 Für die herrschende Meinung BGHSt. 46, 196 (199 ff.); BGH NStZ 2007, 151 Rn. 4 ff., 10 (Fall Hoyzer); je mit weiteren Nachweisen. 17 Maaß, Wolfgang, Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen beim Betrug, GA 1984, 264 – 284 (266); Seelmann, Kurt, Betrug beim Handel mit Rohstoffoptionen, NJW 1980, 2546 – 2551 (2546 f.); Volk, Klaus, Täuschung durch Unterlassen beim Betrug, JuS 1981, 880 – 883 (881 f.). So auch in meinem „Betrugsstrafrecht in Frankreich und Deutschland“, 1999, S. 48 ff. 18 Vgl. Fischer (Fn. 15) § 263 Rn. 35; Perron, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, bearb. v. Albin Eser u. a., 30. Auflage 2019, § 263 Rn. 17b.

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gehen sie vermutlich davon aus, dass ein Vertragspartner, wenn er die Erfüllung des Vertrages anbietet, „miterklärt“, das Angebotene sei auch tatsächlich zur Erfüllung tauglich, also vertragsgemäß und frei von Mängeln. Und wer so denkt, hält den unlauteren Vertragspartner nicht weniger für einen Betrüger als jenen, der schon beim Vertragsschluss schummelt. Das lässt sich bei der Auslegung des § 263 StGB berücksichtigen. c) Der allgemeine Sprachgebrauch als Grenze der Auslegung aa) Grenzen der Auslegung im Überblick Unstreitig hat die Auslegung unabhängig davon Grenzen, was man zu ihrem Leitstern erklärt. Eine wurde oben (a)) bereits gestreift: Höherrangiges Recht kann den Willen des Gesetzgebers brechen. Solches Recht sind Verfassungs- und Völkerrecht, in der Europäischen Union gehört auch ein Teil des Europarechts dazu. Voraussetzung dafür, dass sich ein Rechtsanwender auf diese Grenzen berufen darf, um dem Willen des Gesetzgebers die Gefolgschaft zu versagen, sind die unmittelbare Anwendbarkeit des höherrangigen Rechts sowie die Befugnis des Rechtsanwenders, dieses Recht eigenhändig anzuwenden, also nicht verpflichtet zu sein, das einer anderen Instanz zu überlassen – wie es zum Beispiel Artikel 100 GG von den Gerichten verlangt, wenn sie meinen, dass ein Gesetz oder die zugehörigen Auslegungswünsche des Gesetzgebers der Verfassung widersprechen. An eine weitere Grenze stößt die Auslegung wiederum unstreitig dort, wo der Wortlaut endet: Er bildet gemäß einer sprachlich etwas unglücklichen Formulierung die „äußerste Grenze“ der Auslegung. bb) Bedeutung und Natur der Wortlautgrenze Diese Wortlautgrenze hat methodisch eine klare Funktion – zumindest in der Theorie: Sie trennt die Auslegung von der Rechtsfortbildung in Form von Analogien und teleologischen Reduktionen. Jenseits des Wortlauts sind nur noch Analogien möglich. Das heißt: Lässt sich ein Sachverhalt mit dem Wortlaut eines Tatbestandes (der kein Straftatbestand sein muss) nicht mehr erfassen, ganz gleich, wie man diesen Wortlaut auch dreht und wendet, so kann man nur noch mit einer analogen Anwendung der Norm zu ihrer Rechtsfolge gelangen. Entsprechendes gilt auf der anderen Seite im sogenannten Begriffskern: Erfasst der Wortlaut eines Tatbestandes, wie man ihn auch dreht und wendet, einen Sachverhalt, dann lässt sich die Rechtsfolge der Norm nur noch mit einer teleologischen Reduktion verhindern. Ein einfaches Beispiel bietet § 212 StGB. Dessen Tatbestand lautet: „Wer einen Menschen tötet …“ Diese Formulierung erfasst unausweichlich auch den Suizid. Denn wie man es sprachlich auch dreht und wendet: Der Suizident ist ein Mensch. Daran ist nicht vorbeizukommen. Die Rechtsfolge seiner Bestrafung im Falle eines misslungenen Suizidversuchs lässt sich daher nur vermeiden, indem man den Tatbestand um den Fall

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der Selbsttötung reduziert. Das entspricht auch dem Telos der Norm, denn der historische Gesetzgeber wollte den Suizid tatbestandslos lassen, und der aktuelle Gesetzgeber will dies auch. Telos, also Sinn und Zweck des § 212 StGB ist allein die Bestrafung von Fremdtötungen. So klar all dies im Grundsatz ist, so schwierig wird es, die Wortlautgrenze zu definieren. Sprachwissenschaftler halten das meist von vornherein für aussichtslos, und auch mancher Jurist zweifelt, ob es eine solche Grenze tatsächlich in dem Sinne gebe, dass ein Wort sie um sich herum trage wie eine Rokoko-Dame ihren Reifrock. So meint etwa Hans Kudlich, die Grenzen eines Wortlautes ließen sich nur durch Auslegung ermitteln.19 Zur Begründung führt er an, dass Straftatbestände zum Teil das Handlungsobjekt nur im Plural nennen, obwohl zweifellos auch Taten mit nur einem Handlungsobjekt erfasst werden sollen. So in §§ 152a und 152b StGB, die das Fälschen von Zahlungskarten und Schecks unter Strafe stellen – was aber nach ganz herrschender Meinung auch die Fälschung nur einer Zahlungskarte und nur eines Schecks erfasst.20 Kudlich schließt daraus, es seien offenbar nicht allein die Regeln unserer Sprache und Grammatik, von denen die Grenzen des Wortlautes bestimmt würden. Folglich habe man sie ebenfalls im Wege einer Auslegung zu ziehen. Aber so muss man es nicht sehen. Zunächst ist es fachbegrifflich verwirrend, die Wortlautgrenze per Auslegung definieren zu wollen, wenn diese Grenze doch gerade die Auslegung einschränken soll. Dürften die Grenzen der Auslegung durch Auslegung bestimmt werden, hätte sie keine. Was wie ein Wortspiel klingt, hat einen handfesten Interessengegensatz zum Hintergrund; zumindest dann, wenn man die Auslegung wie hier als Verwirklichung des gesetzgeberischen Willens betrachtet und den Wortlaut als Bastion der Rechtssicherheit, die im Strafrecht nicht zum Nachteil der Bürger überrannt werden darf. Denn dann dient die Auslegung den Interessen des Normgebers, die Wortlautgrenze hingegen den Interessen der Normunterworfenen. Und so sieht man es im deutschen Strafrecht; das ist der Gehalt seines Analogieverbots. Der Interessengegensatz bleibt strukturell der gleiche, wenn man die Auslegung nicht unter den Leitstern des gesetzgeberischen Willens stellt, sondern einen wie auch immer zu ermittelnden objektiven Normzweck als maßgeblich erachtet. Auch dann steht ein solches Interesse des objektiven Normzwecks dem Interesse der Normunterworfenen gegenüber, denen das Analogieverbot garantiert, nur diesseits der Wortlautgrenze in Anspruch genommen zu werden. Diese Garantie hat Franz von Liszt in seine berühmten Worte gekleidet, das Strafgesetzbuch – will sagen: der Wortlaut seiner Normen – sei die „Magna Charta des Verbrechers“;21 glücklicher wäre es indes, statt vom „Verbrecher“ vom Bürger zu sprechen, denn 19 Kudlich, Hans, „Regeln der Grammatik“, grammatische Auslegung und Wortlautgrenze, in: Hans-Ullrich Paeffgen u. a. (Hg.), Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion. Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag, 2011, S. 123 – 136 (129 f.). 20 Grundlegend BGHSt. 46, 147 (150 f.). 21 von Liszt, Franz, Ueber den Einfluss der soziologischen und anthropologischen Forschungen auf die Grundbegriffe des Strafrechts, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Band 2, 1905, S. 75 – 93 (80).

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unter der Herrschaft des Analogieverbots gibt es nun einmal jenseits des Wortlautes keine Verbrechen: nullum crimen sine lege. Ferner kann es in die Irre führen, die Sprache auf bestimmte grammatische Regeln festlegen zu wollen, die vorgeblich keine Ausnahmen kennten, um alsdann Abweichungen von den Regeln als sprachlich falsch zu betrachten. Zwar hat jede Sprache grammatische Regeln und betrachtet man Abweichungen von ihnen als Fehler – aber nur dann, wenn sie sich nicht als anerkannte Ausnahmen etabliert haben. So sagen wir „studierter Herr“ und „studierte Medizinerin“, obwohl weder der Herr noch die Medizinerin studiert worden sind, sprechen von „Tausendundeiner Nacht“, obwohl es doch „Nächte“ heißen müsste, und umgekehrt gestattet uns der Duden zu sagen, dass eine „Reihe von Bürgern mehr Mitbestimmung wollen“, obschon die Reihe im Singular steht. Und bei einer regelbesessenen Betrachtung sind natürlich auch sämtliche unregelmäßigen Verben „falsch“. Die Liste sprachlicher Ungereimtheiten ist lang; jeder, der eine Fremdsprache zu lernen hat, muss das leidvoll erfahren. Und so hat sich im Deutschen für abstrakt-generelle Regelungen, will sagen Normen, die sprachliche Übung herausgebildet, Tatobjekte auch dann in den Plural zu setzen, wenn der Singular mitgemeint ist: Wer das Betreten einer Moschee „mit Schuhen“ verbietet, schließt auch solche Personen vom Moscheebesuch aus, die nur an einem Fuß einen Schuh tragen, und wer vor einem Schaufenster „Fahrräder abstellen“ untersagt, will dort auch kein einzelnes Fahrrad sehen – was jedes Mitglied der deutschen Sprachgemeinschaft auch ohne Nachhilfe in Grammatik sofort genau so und nur so versteht. Richtig ist allerdings, dass auch die Wortlautgrenze oft unscharf ist – unabhängig davon, wie man sie zu definieren versucht. Aber das ist kein schlagender Einwand gegen ihre Existenz. Auch Tag und Nacht existieren, obwohl es die Dämmerung gibt; Rot und Blau existieren, obwohl sie übers Violette vermittelt einen fließenden Übergang haben, und Forte und Piano sind keine musikalischen Chimären, obwohl auch der Weg von Laut nach Leise durch eine Schallregion führt, die weder das eine noch andere ist. In der Philosophie stehen alle diese Beispiele für das sogenannte Haufenproblem, das ist die Frage, wie viele Sandkörner nötig seien, damit man von einem Sandhaufen sprechen könne.22 Doch ändert dieses Problem nichts daran, dass es Sandhaufen gibt, die jeder als solche bezeichnet, und einzelne Sandkörner, für die niemand auf diese Idee käme. Und so gibt es auch für jedes Wort Sachverhalte, die klar außerhalb seiner Bedeutungsgrenzen liegen, und andere, die es ebenso klar erfasst. Und daraus folgt, dass es zwischen diesen Sachverhalten eine Grenze gibt; mag sie auch weniger scharf sein als die Grenzlinien im Grundbuch. Richtig ist ferner, dass die Wortlautgrenze vom Kontext abhängt. So mag das Wort „Asche“ für sich betrachtet nicht erlauben, auch Goldklumpen darunter zu subsumieren, in der Zusammensetzung „Asche eines Verstorbenen“ aber doch, wenn diese 22 Vgl. Pardey, Ulrich, Unscharfe Grenzen. Über die Haufen-Paradoxie, den Darwinismus und die rekursive Grammatik, Journal for General Philosophy of Science, Volume 33, Issue 2, S. 323 – 348 (326 ff.).

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Goldklumpen sehr klein und das Zahngold des Toten sind. Denn wenn von der „Asche eines Verstorbenen“ die Rede ist, wird damit die Gesamtheit der Rückstände bezeichnet, die das Krematorium vom Leichnam übrig lässt; zumindest ist das gut möglich und verstößt gegen keine Sprachkonvention.23 Und diese Rückstände umfassen jedenfalls auch unverbrannte Knochen und Zähne – die man bei isolierter Betrachtung so wenig als „Asche“ bezeichnen könnte wie Gold. Schließlich noch ist zuzugestehen, dass die Wortlautgrenzen wandern. Eine Sprache ist etwas sich ununterbrochen Entwickelndes: Alte Wörter verschwinden aus ihrem Gebrauch, neue kommen hinzu – und die fortexistierenden ändern ihre Bedeutung. Nichts davon geschieht über Nacht, aber auf lange Sicht kann der Wandel radikal sein. Um das zu erkennen, muss man nur einen Text in die Hand nehmen, der einige hundert Jahre alt ist. So sprach etwa das Allgemeine Landrecht Preußens von der „Wartung“ der Kinder durch ihre Mutter; eine Behandlung, die im heutigen Deutsch nur noch an technischem Gerät vollzogen werden kann: Die Fürsorge für Kinder ist ein Sachverhalt, der jetzt jenseits der Grenzen des Wortes „Wartung“ liegt. All dies zwingt aber nicht dazu, sich von der Vorstellung zu verabschieden, dass Wörter Bedeutungsgrenzen haben. Hätten sie die nicht, so hätten sie überhaupt keine Bedeutung. Denn sobald ein Zeichen eine Bedeutung hat, muss diese Bedeutung umgrenzt sein. Sonst könnte es für alles stehen und für nichts. Müsste die Bedeutung eines Wortes von Fall zu Fall im Sprachspiel der Kommunizierenden neu ausgehandelt werden, hätte es von Hause aus überhaupt keinen Erklärungswert, und Verständigung könnte nur mit sehr viel Zeit und vor allem Glück gelingen. In jeder Kommunikation wäre zunächst einmal deren Sprache neu zu erfinden. So schlimm ist es dann doch nicht. cc) Die Wortlautgrenze als allgemeiner Sprachgebrauch Die Einsicht, dass es Wortlautgrenzen gibt, beantwortet allerdings noch nicht die Frage, wie sie sich ermitteln lassen. Sie führt zu zwei Unterfragen, erstens: Welche Sprache ist zu untersuchen – die Fachsprache? Die Standardsprache? Die Umgangssprache? Zweitens: Welches ist das richtige Instrument, um die Wortlautgrenze zu ermitteln – ein Wörterbuch? Eine Umfrage? Die eigene Sprachkompetenz? Die erste Unterfrage nach der – wie Sprachwissenschaftler sagen – Sprachvarietät ist, was nahe liegt, in Abhängigkeit davon zu beantworten, an wen sich eine Norm wendet, wer also ihr Adressat ist.24 Handelt es sich um verwaltungsinterne Texte, darf man auf die juristische Fachsprache abstellen. Geht es um Gesundheitsrecht, das Ärzte beachten müssen, können medizinische Fachbegriffe herangezogen werden. 23 So BGH NJW 2015, 2901 = Beschluss vom 30. Juni 2015 – 5 StR 71/15 Rn. 4 ff.; OLG Bamberg NJW 2008, 1543 ff.; anderer Ansicht OLG Nürnberg NJW 2010, 2071 ff. 24 BVerfGE 126, 170 (197); 92, 1 (12); Lorenz, Jörn/Pietzcker, Manja/Pietzcker, Frank, Empirische Sprachgebrauchsanalyse – Entlarvt ein neues Beweismittel Verletzungen des Analogieverbots (Art. 103 II GG)?, NStZ 2005, 429 – 434 (430).

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Steht die Norm hingegen als Allgemeindelikt im Strafgesetzbuch – und nicht als Sonderdelikt, das nur bestimmte Personen, etwa Amtsträger verwirklichen können –, so muss sich ihr Wortlaut nach ganz herrschender und zutreffender Ansicht an der Standardsprache messen lassen, und zwar an jener der Gegenwart.25 Mit anderen Worten, und das ist kräftig zu unterstreichen, sind Wortlautgrenzen in der Strafrechtsdogmatik grundsätzlich gemäß der allgemeinen, von normalen Bürgern verwendeten Sprache zu ziehen. dd) Die empirische Ermittlung des allgemeinen Sprachgebrauchs Die zweite Unterfrage nach dem Instrument, das Wortlautgrenzen aufzeigen kann, beantworten deutsche Gerichte bislang mit großen Wörterbüchern: dem Duden, dem Wahrig, dem Grimmschen Wörterbuch sowie großen Enzyklopädien.26 Früher taten dies auch die US-amerikanischen Gerichte.27 Diese Methode begegnet aber durchgreifenden Bedenken. Denn Wörterbücher sind herkömmlich das Werk einzelner Autoren, die nicht offenlegen, wie sie zu ihren Definitionen und Beispielen kommen. Und sie wollen lediglich positive Beispiele für den Wortgebrauch nennen, haben aber nicht den Anspruch, damit die Wortbedeutung abschließend festzulegen, das heißt auch negativ zu definieren in dem Sinne, dass alle nicht aufgeführten Bedeutungen ausgeschlossen werden sollten.28 Umgekehrt können auch die positiven Beispiele Trouvaillen etwa aus dem Kanon klassischer Literatur sein, von denen schon immer zweifelhaft war oder heute geworden ist, ob sie für den Sprachgebrauch als repräsentativ gelten können. Aufgrund dieser Schwächen der Wörterbücher ist die US-amerikanische Rechtsprechung dazu übergegangen, ein anderes Hilfsmittel 25

BVerfGE 130, 1 (43); 73, 206 (235 f.); 71, 108 (115) („aus der Sicht des Bürgers“); Dannecker, in: Heinrich Wilhelm Laufhütte u. a. (Hg.), Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, Band 1, 12. Auflage 2007, § 1 Rn. 51 ff., 250 („der aus der Sicht des Bürgers mögliche Wortsinn“); Hecker, in: Schönke/Schröder (Fn. 18), § 1 Rn. 54 („Alltagsgebrauch eines Begriffes“); Fischer (Fn. 15) § 1 Rn. 21 („allgemeiner Sprachgebrauch der Gegenwart“); Krey, Volker, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht. Eine Einführung in die Problematik des Analogieverbots, 1977, S. 154 ff. („Sprachgebrauch des täglichen Lebens“); Lorenz/Pietzcker/Pietzcker (Fn. 24) S. 430; Rengier, Rudolf, Strafrecht Allgemeiner Teil, 10. Auflage 2018, § 5 Rn. 5; Roxin, Claus, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 4. Auflage 2006, § 5 Rn. 26 ff., 28 („umgangssprachlicher Wortsinn“); Schulze-Fielitz, in: Horst Dreier (Hg.), Grundgesetz, Kommentar, Band III, 2. Auflage 2008, Art. 102 Rn. 46 („aus Sicht des Bürgers“); wohl auch BGHSt. 52, 89 Rn. 8 („allgemeines Sprachverständnis“). 26 Vgl. BVerfGE 73, 206 (243) (Duden); BGHSt. 52, 89 Rn. 8 (Duden und Grimmsches Wörterbuch); 22, 14 (16) (Grimmsches Wörterbuch und Das deutsche Wort [1953] von Richard Pekrun [als „Perkun“ zitiert]); BGH (Z) NJW 1967, 343 (346) (Grimmsches Wörterbuch, Etymologisches Wörterbuch von Kluge/Götze, Trübners Deutsches Wörterbuch, Der große Brockhaus, Bülows Wörterbuch der Wirtschaft sowie Gablers Wirtschaftslexikon – jeweils zur sogenannten grammatischen Auslegung). 27 Vgl. zu einer ähnlichen Frage wie der in BGHSt. 52, 89 entschiedenen Muscarello vs. United States 524 U. S. 125 (1998). 28 Siehe schon Lorenz/Pietzcker/Pietzcker (Fn. 24) S. 430.

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zu verwenden: die Korpuslinguistik.29 Sie zieht eine möglichst große und repräsentativ zusammengestellte Textmenge heran, das sogenannte Textkorpus, und ermittelt dann rechnergestützt mit einem speziellen Suchprogramm, wie dort die Wörter verwendet werden.30 Das ist die eine Möglichkeit der empirischen Sprachgebrauchsanalyse. Eine andere Möglichkeit sind umfrageartige Erhebungen zum Sprachverständnis, das heißt demoskopische Untersuchungen. Dass sie als Hilfsmittel der Rechtsfindung nicht abwegig sind, zeigen das Wettbewerbs- und das Markenrecht. Dort sind sie jedenfalls bis vor kurzem gang und gäbe gewesen, etwa um die Bekanntheit einer Marke zu ermitteln oder die Gefahr der Verwechslung mit einer anderen.31 Mittlerweile schreiben sich die Gerichte in Deutschland allerdings mindestens in einem Teil dieser Fälle selbst die Fähigkeit zu, zum Beispiel die „Sicht des Durchschnittsverbrauchers“ zu kennen.32 Eine demoskopische Pionierstudie im Strafrecht – wenn auch keine repräsentative – verdanken wir Jörn Lorenz sowie Manja und Frank Pietzcker.33 Die Korpuslinguistik wird heute auch von den großen Wörterbüchern praktiziert, namentlich vom Duden. Es fragt sich indes weiterhin, ob die Art, in der dies geschieht, zugleich rechtsverbindlich sein muss – oder ob Richter in Zweifelsfällen eigene korpuslinguistische Gutachten in Auftrag geben sollten, zum Beispiel um bei einem Sonderdelikt den Kreis der Normadressaten besser zu berücksichtigen, indem man das Textkorpus anders zusammenstellt. Und es bleibt die Frage, ob wahl29 Im Anschluss an Mouritsen, Stephen C., The Dictionary Is Not a Fortress: Definitional Fallacies and a Corpus-Based Approach to Plain Meaning, BYU Law Review, Vol. 2010 Nr. 5, S. 1915 – 1979, obergerichtlich erstmals in In re Baby E. Z., Utah 266 P. 3d 702; später obergerichtlich in People v. Harris, Michigan 885 N. W. 2d 832. 30 Vgl. Hamann, Hanjo, Der „Sprachgebrauch“ im Waffenarsenal der Jurisprudenz, in: Friedemann Vogel (Hg.), Zugänge zur Rechtssemantik. Interdisziplinäre Ansätze im Zeitalter der Mediatisierung, 2015, S. 184 – 204; Lukas, Christoph, Tagungsbericht: The Fabric of Law and Language, ARSP 2017, 136 – 143; Vogel, Friedemann/Pötters, Stephan/Christensen, Ralph, Richterrecht der Arbeit – empirisch untersucht. Möglichkeiten und Grenzen computergestützter Textanalyse am Beispiel des Arbeitnehmerbegriffs, 2015, S. 72 – 79; Vogel, Friedemann/Hamann, Hanjo/Gauer, Isabelle, Computer-Assisted Legal Linguistics: Corpus Analysis as a New Tool for Legal Studies, Law and Social Inquiry 2017, im Netz unter http:// onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/lsi.12305/abstract;jsessionid=7403EECD525C279A 6352584826C285B8.f04t04, abgerufen am 21. Januar 2020. 31 Umfassend Eichmann, Helmut, Gegenwart und Zukunft der Rechtsdemoskopie, GRUR 1999, 939 – 955; ders., in: Gordian N. Hasselblatt (Hg.), Münchener Anwaltshandbuch Gewerblicher Rechtsschutz, 4. Auflage 2012, § 9 (S. 238 – 290); Stiel, Daniel, Die Verkehrsdurchsetzung von Marken nach § 8 Abs. 3 MarkenG unter dem Blickwinkel der Demoskopie, Diss. Augsburg 2015, S. 5 ff.; siehe auch Benda, Ernst/Krenzer, Karl, Demoskopie und Recht, JZ 1972, 497 – 501; alle mit weiteren Nachweisen. 32 Für die „Sicht des Durchschnittsverbrauchers“ OLG München, Urteil vom 27. September 2018, 6 U 1304/18 unter II A 2 a ff; FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13. Oktober 2016, 7 K 7248/14, DStRE 2017, 1067 – 1070 (1069). 33 Wie Fn. 24.

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weise oder ergänzend eine demoskopische Herangehensweise gewählt werden sollte. Ferner fragt sich für alle Formen der empirischen Sprachgebrauchsanalyse, mit welchen Schwellenwerten man die Grenzen des Wortlauts bestimmen will: Reicht es, dass überhaupt jemand dem Wort eine bestimmte Bedeutung beilegt oder dass es irgendwo einmal mit dieser Bedeutung verwendet wurde? Wohl kaum, denn die sprachliche Innovationsfreude eines Einzelnen oder einiger weniger ist noch kein allgemeinsprachlicher, heißt allgemeiner Sprachgebrauch. Folglich hat man Mindesthäufigkeiten festzulegen. Deren exakte Höhe ist eine wichtige Detailfrage – doch nicht mehr. Entsprechendes gilt für die Anforderungen, die an demoskopische Erhebungen zu stellen sind sowie an die Zusammenstellung und Größe untersuchter Textkorpora. Zudem gibt es für die deutsche Standardsprache schon ein großes und lege artis zusammengestelltes Textkorpus: das DeReKo, das ist das Deutsche Referenzkorpus mit über 43 Milliarden Wörtern.34 Die Grundfrage lautet allerdings, ob es überhaupt nötig sei, in der Rechtswissenschaft die Wortlautgrenze über empirische Sprachgebrauchsanalysen zu bestimmen. Immerhin denkbar wäre der Einwand, dass empirische Untersuchungen zum Sprachgebrauch nie das ermitteln könnten, worauf Juristen abstellten, nämlich den bloß „möglichen Wortsinn“35 : Was gewöhnlich gesprochen werde, bleibe hinter dem zurück, was die Sprachgemeinschaft einem Wort in ungewöhnlichen Fällen als Ausnahmebedeutung zugestehe. Dieser Einwand ist aber nicht überzeugend: Kommt eine bestimmte Bedeutung im realen Wortgebrauch einer Sprachgemeinschaft so gut wie überhaupt nicht vor, dann gibt es sie dort auch nicht. Es handelt sich dann entweder um eine historische, doch abgestorbene Bedeutung oder um eine bloß hypothetisch mögliche, aber (noch) nicht existierende. Beide Fälle sind für die Rechtsanwendung in der Gegenwart irrelevant. Wenn Wortlautgrenzen in den Normen des Strafrechts gemäß dem allgemeinen Sprachgebrauch zu ziehen sind – und das sind sie, siehe oben –, dann ist ihr Verlauf empirisch zu bestimmen. Was das in der Praxis bedeuten kann, lässt sich anhand des Wortes „geschäftsmäßig“ im neuen § 217 StGB zeigen. Der Gesetzgeber wollte diesen Begriff fachsprachlich verstanden wissen, und in der juristischen Fachsprache hat er lediglich die Bedeutung „mit der Absicht, das Verhalten zu einem wiederkehrenden Gegenstand der eigenen Beschäftigung zu machen“.36 Nach einer korpuslinguistischen Studie indes, die kürzlich der Siegener Sprachwissenschaftler Friedemann Vogel und seine Mitarbeiter durchgeführt haben, wird das Wort „geschäftsmäßig“ in der Allgemeinsprache mit einer deutlich anderen Bedeutung gebraucht; so anders, dass die Autoren der Studie deren Ergebnis pointiert wie folgt zusammenfassen:

34 Näher unter http://www1.ids-mannheim.de/kl/projekte/korpora.html, abgerufen am 21. Januar 2020. 35 Siehe nur BGHSt. 52, 89 Rn. 7 (ohne die Hervorhebung). 36 BT-Drs. 18/5373, 17.

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„Aus […] [diesen] Beobachtungen ko¨ nnte man vorsichtig die (zugespitzte) These ableiten, dass sich die fachsprachlich-terminologischen und gemeinsprachlichen Bedeutungen von ,gescha¨ ftsma¨ ßig‘ tendenziell gegenseitig ausschließen.“37

Denn in der Allgemeinsprache hat „geschäftsmäßig“ die Bedeutung von „sachlich, nüchtern, emotionslos“. Nun ist sicherlich zu berücksichtigen, dass auch einfache Bürger, wenn sie einen Gesetzestext lesen, nicht glauben, ein jedes seiner Wörter hätte jene Bedeutung, die ihm standardsprachlich zukommt. Und so dürfte ein durchschnittlicher, juristisch ungeschulter Leser des § 217 StGB wohl ahnen, dass es dort nicht lediglich um eine sachlich, nüchtern und emotionslos ausgeübte Beihilfe zum Suizid gehen soll. Wahrscheinlich vermutete er, dass der Begriff des Geschäftsmäßigen das bezeichnen solle, was Juristen mit dem Beiwort gewerbsmäßig erfassen; also ein Tun, das Geld erwirtschaften soll. So ist der neue Straftatbestand der Öffentlichkeit auch verkauft worden: mit dem Slogan „keine Geschäfte mit dem Tod“.38 Und jedenfalls käme der juristisch ungeschulte Leser mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht auf die Idee, dass die „Geschäftsmäßigkeit“ des Handelns nichts, überhaupt nichts mit Geld und wirtschaftlichem Interesse zu tun haben soll. Wenn das so ist und wenn man dies als Definition der Wortlautgrenze akzeptiert – dann darf niemand gemäß § 217 StGB bestraft werden, der ohne geschäftliches Interesse im Sinne der Allgemeinsprache, also ohne jedes wirtschaftliche Interesse Beihilfe zu einer Selbsttötung leistet. Folglich darf niemand gemäß § 217 StGB bestraft werden, der als Mitglied einer Non-Profit-Organisation ehrenamtlich und allenfalls gegen eine angemessene Aufwandsentschädigung Hilfe zu einer Selbsttötung leistet; gegenwärtig tun dies zum Beispiel Sterbebegleiter des Schweizer Vereins Exit. Mit anderen Worten haben die Gerichte in solchen Fällen die Möglichkeit, dem Willen des Gesetzgebers den Gehorsam zu verweigern, indem sie sich auf die Grenzen des Wortlauts und damit auf das Analogieverbot aus Artikel 103 Absatz 2 GG berufen – wenn man diese Grenzen, wie es die ganz herrschende Meinung zutreffend verlangt, gemäß dem allgemeinen Sprachgebrauch festlegt und dabei bereit ist, sich einer empirischen Betrachtung zu öffnen. Auf diese Art ließen sich die übelsten Folgen des § 217 StGB schon de lege lata eindämmen, also bevor das Bundesverfassungsgericht diesen Tatbestand für verfassungswidrig erklärt. Und immerhin diese Aussicht mag auch Reinhard Merkel einen neugierigen Blick auf die skizzierten empirischen Methoden der Sprachgebrauchsermittlung werfen lassen; denn wenige haben so klar, zutreffend und nachhaltig wie

37 Veröffentlicht in LeGes – Gesetzgebung & Evaluation 30 (2019) unter dem Titel „Die Bedeutung des Adjektivs geschäftsmäßig im juristischen Fach- und massenmedialen Gemeinsprachgebrauch – Eine rechtslinguistische Korpusstudie als Beispiel für computergestützte Bedeutungsanalyse im Recht“. 38 Vgl. etwa die Pressemitteilung des damaligen CDU-Generalsekretärs Peter Tauber, https://www.cdu.de/artikel/bundestag-setzt-wichtiges-signal-kein-geschaeft-mit-dem-tod (abgerufen am 21. Januar 2020).

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er den Missgriff gegeißelt, den sich der Gesetzgeber mit § 217 StGB geleistet hat.39 Eine Demokratisierung des Strafrechts lässt sich in jenen Methoden erkennen, weil auch sie nach den Entscheidungen, in diesem Fall den sprachlichen Entscheidungen des Volkes fragen: Sprache ist Sprachgebrauch, und Sprachgebrauch ist Basisdemokratie. Das ist natürlich eine Zuspitzung, da nicht alle Mitglieder der Sprachgemeinschaft auf die Sprachentwicklung den gleichen Einfluss haben: Nicht jede Stimme hat das gleiche Gewicht und die gleiche Wirkung. Aber im Vergleich mit allen bestehenden staatlichen und juristischen Herrschaftsstrukturen entfaltet sich die Sprache doch in einem sehr freien Raum, in dem grundsätzlich jeder auch ohne besonderes Amt, ohne besondere Würde und ohne staatliche Ermächtigung an dieser Entfaltung mitwirken kann.

IV. Indirekte, direkte und repräsentative Demokratie Reinhard Merkel nutzt diese Mitwirkungsmöglichkeit auf überaus wohltuende Weise, seit er sich öffentlich äußert: Er gehört zu den wenigen Strafrechtslehrern, ja Juristen, die gut schreiben können. Eine der Regeln solchen Schreibens verlangt, sich kurz zu fassen und Weitschweifiges, erst recht Abschweifendes zu vermeiden. Der Schlussteil eines Textes bietet die Chance, dies in einer Zusammenfassung noch einmal mit größerem Erfolg zu versuchen als in den voraufgegangenen Abschnitten: Dieser Beitrag möchte für drei Demokratisierungen des Strafrechts werben. An erster Stelle steht der Vorschlag, schon in der Kriminalpolitik die Gerechtigkeitsintuitionen der Bürger zu berücksichtigen, die auf dem Gebiet des Strafrechts die Form von Vergeltungsbedürfnissen haben (oben III. 1.). Wer sie, wie empfohlen, empirisch ermittelt und zur Grundlage der Kriminalpolitik macht, bewirkt im Ergebnis – nur im Ergebnis – eine basisdemokratische Grundierung des Strafrechts. Das ließe sich auch als indirekte direkte Demokratie bezeichnen, da der Einfluss jener Gerechtigkeitsintuitionen ein mittelbarer bliebe. Ähnlich verhält es sich bei einer weiteren hier beworbenen Demokratisierung des Strafrechts, und zwar der Definition der Wortlautgrenzen des geschriebenen Strafrechts durch empirische, insbesondere korpuslinguistische Sprachgebrauchsanalysen (oben III. 2. c)). Auch auf diesem Weg fließen mittelbar Mehrheitsentscheidungen, hier sprachliche Mehrheitsentscheidungen des Volkes in die Rechtsschöpfung ein. Anders hingegen bei der dritten Demokratisierung des Strafrechts, für die ich werben will, das ist eine konsequentere Ausrichtung der Auslegung am ermittelten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers (oben III. 2. a), b)). Sie stärkt in der repräsentativen Demokratie, in der wir leben, zwangsläufig einen repräsentativ-demokra39 Siehe namentlich seine Stellungnahme für den Rechtsausschuss des Bundestages unter https://www.bundestag.de/resource/blob/388404/ad20696aca7464874fd19e2dd93933c1/mer kel-data.pdf (abgerufen am 21. Januar 2020) und sein Interview mit der taz vom 31. Januar 2016 unter https://taz.de/!5267393/ (abgerufen am 21. Januar 2020).

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tischen Gesetzgeber. Spätestens das mag zeigen, dass es mir nicht um einen politischen Paradigmenwechsel geht oder um eine Unterhöhlung der bestehenden Ordnung mit rechtswissenschaftlichen Mitteln. Reinhard Merkel widme ich diese Gedanken mit zwei großen Wünschen: einem herzlichen Glückwunsch zu seinem Geburtstag und dem Wunsch, dass dieses Datum für das, was er ist, und das, was er schreibt, ohne Belang bleiben möge. Die Strafrechtswissenschaft und die Kriminalpolitik brauchen ihn!

Strafrecht und Verfassung: Gibt es einen Anspruch auf Strafgesetze, Strafverfolgung, Strafverhängung? Von Kai Ambos* Als Strafrechtler und Rechtsphilosoph befasst sich Reinhard Merkel nicht zuletzt mit Themen, die an das Grundsätzliche rühren, so etwa mit der Rechtsstellung von Embryonen1, mit der ewigen Frage nach dem Wesen der (Schuld-)Strafe2 und derjenigen danach, inwieweit der Schutz der Menschenwürde staatliche/hoheitliche Eingriffe in Drittrechtssphären zu rechtfertigen vermag3. Ich möchte ihn ehren mit einem Text zu einer Themenstellung, die Bezüge zu allen drei genannten Problemfeldern aufweist: Das ius puniendi des Staates lässt sich auf grund- bzw. menschenrechtliche Gewährleistungen, etwa solche zugunsten des ungeborenen Lebens zurückführen; derselbe Bezug steht im Raum, wo es um die Folgefrage geht, ob bzw. inwieweit eine obligatio puniendi existiert. Zum Ende hin werde ich aufzeigen, dass sich Ansprüche Verletzter auf den staatlichen Einsatz des Strafrechts aus dem Wesen eines Schuldstrafrechts bzw. seiner durch das Klageerzwingungsverfahren abgesicherten Genugtuungsfunktion ableiten lassen.

I. Ius puniendi und Verfassung Der Gedanke einer „axiologische[n] Verknüpfung zwischen Straf- und Staatsfunktion“4, der in der Ansicht Gustav Radbruchs, die Existenz des Staates umfasse sein Recht, (zu dem Zweck seiner Bewahrung) zu strafen, eine – durchaus autoritäre5 – Verdichtung erfahren hat6, findet sich bemerkenswerterweise nicht lediglich im * Ich danke Herrn apl. Prof. Dr. Peter Rackow für viele weiterführende und kritische Hinweise und Ergänzungen. 1 Merkel, DriZ 2002, 184; ders. ZfL 2008, 38. 2 Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2. Aufl. 2014; ders., in: Schmidt-Quernheim/Sax-Schoppenhorst (Hrsg.), Praxishandbuch forensische Psychiatrie, 3. Aufl. 2018, S. 77. 3 Merkel, in: FS Jakobs, 2007, S. 375 (zur „Rettungsfolter“). 4 Mir Puig, ZStW 95 (1983), 413 (413). 5 Der staatsbezogen autoritär-positivistische Unterton des in der folgenden Fn. wiedergegebenen Zitats ist im (begrenzenden) Kontexts der Radbruch’schen Vorstellung vom Recht als Gerechtigkeit zu sehen (vgl. Ambos, Nationalsozialistisches Strafrecht, 2019, S. 83 ff. m.w.N.). 6 Radbruch, Rechtsphilosophie, 1932, zit. nach Studienausgabe (hrsg. v. Dreier/Paulson), 2. Aufl. 2003, S. 151 ff., insbes. S. 152: „Die staatsfremde Rechtfertigung der Strafe gehört …

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Civil-Law-Rechtskreis, sondern klingt bspw. auch in der kanadischen Rechtsprechung7, mitunter sogar mit hegelianischem Unterton8, an. Nicht selten wird in diesem Zusammenhang (insbesondere hierzulande) von den das Strafrecht betreffenden Kompetenznormen9 darauf geschlossen, dass seine Existenz von Verfassungs wegen vorausgesetzt sei10. Neben Zuständigkeitsregelungen finden sich diverse weider Vergangenheit an. Der auf den Volkswillen, sei es auf die arithmetische Mehrheit, sei es auf eine andere Art der ,Integration‘, gegründete Staat ist dem Einzelnen gegenüber nicht mehr ,ein Anderer‘, ist vielmehr ,wir alle‘. Die Rechtfertigung des so verstandenen Volksstaates schließt die Berechtigung der zu seiner Erhaltung notwendigen Strafe in sich ein. Die Lehre vom Grunde der Strafe geht also auf in der Lehre von der Rechtfertigung des Staates und übrig bleibt nur die Lehre vom Zweck der Strafe, d. h. von der Notwendigkeit der Strafe für den Staat oder, genauer gesprochen, für den Staat, die Gesellschaft oder die Staatsordnung“. Dem folgend Schütz, Strafe und Strafrecht im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, 1997, S. 13; Wilfert, Strafe und Strafgesetzgebung im demokratischen Verfassungsstaat, 2017, S. 30. 7 So haben das Judicial Committee of the Privy Council (JCPC) – in seiner Funktion als oberstes Berufungsgericht für brit. Überseegebiete und Commonwealth-Staaten – und später der Supreme Court of Canada (SCC) – 1875 gegründet und seit 1933 Berufungsinstanz in Strafsachen – das Strafrecht seinem Wesen nach mit staatlicher Autorität verknüpft (Proprietary Articles Trade Ass’n v. A.-G. Can. [1931], 2 DLR, 1 (9) [„Criminal law connotes only the quality of such acts or omissions as are prohibited under appropriate penal provisions by authority of the State.“]; R. v. Miller and Cockriell [1975], 63 DLR [3d], 193 (272) [„… undoubted right of the State to punish infractions of the law …“]. Aus der Lit. vgl. etwa Binder, Univ. of Toronto LJ 63 (2013) 278 (289) (die Bedeutung einer institutionalisierten „punishing authority“ betonend, bei welcher es sich typischerweise um den Staat handele); ferner Chehtman, Law and Philosophy 29 (2010) 127 (131) („necessary link between a legal system being in force and a particular body holding the power to punish offenders“). Vor diesem Hintergrund stünde dem Parlament im strafrechtlichen Bereich eine praktisch uneingeschränkte Gesetzgebungsbefugnis zu, vgl. Proprietary Articles Trade Ass’n v. A.-G. Can. [1931], 2 DLR, 1 (9) unter Bezugnahme auf A.-G. Ont. v. Hamilton Street Railway [1903], 7 Can. C.C. 326 (Gesetzgebungsbefugnis zum Erlass von „criminal law in its widest sense“, insbesondere „to make new crimes“); Goodyear Tire & Rubber Co. of Canada Ltd. et al. v. R. [1956], SCR 303 (308) (Gesetzgebungsbefugnis „for the prevention of crime as well as punishing crime“); R. v. Smith [1987], 1 S.C.R. 1045 (1070) („… broad discretion in proscribing conduct as criminal and in determining proper punishment“). Die zitierte Rspr. ist verfügbar auf der Webseite des Canadian Legal Information Institute: https:// www.canlii.org/en/. 8 In Sauvé wird das ius puniendi auf das Menschsein bzw. die Staatsbürgereigenschaft des Beschuldigten und die aus deren Anerkennung folgenden Pflichten zurückgeführt (Sauvé v. Canada [Chief Electoral Officer] [2002], 3 S.C.R. 519, para. 47: „… right of the state to punish and the obligation of the criminal to accept punishment is tied to society’s acceptance of the criminal as a person with rights and responsibilities“). In diesem Sinne auch Duff, in: Besson/Tasioulas (Hrsg.), The Philosophy of International Law, 2010, S. 589 (595): Verantwortlichkeit gegenüber der Gesellschaft/dem Gemeinwesen für „,public‘ wrongs“. 9 Vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG oder bspw. Section 91 no. 27 der kanadischen Verfassung. 10 Sax, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 3, Hbd. 2, Rechtspflege und Grundrechtsschutz, 1959, S. 954 („geht davon als selbstverständlich aus …“); Schütz (Fn. 6), S. 13; Stächelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998, S. 82 („Grundgesetz setzt … das Strafrecht als existierend voraus“); auf derselben Linie Wilfert (Fn. 6), S. 31; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 1 („Bestehen eines staatlichen Bestrafungsrechts vorausgesetzt“); vgl. auch Klose, ZStW 86 (1974), 33 (55 ff.),

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tere Verfassungsvorschriften11, die das Strafrecht erwähnen bzw. sich auf dieses beziehen und es damit in Rechnung zu stellen scheinen, ohne ihm freilich – so wenig wie die Kompetenznormen – ein materielles verfassungsrechtliches Fundament zu verschaffen12, aus dem sich (Sach-)Grund und Grenzen eines staatlichen Rechts (bzw. eventuell sogar einer Pflicht), für bestimmtes Verhalten Strafe vorzusehen, diesbezügliche Taten zu ermitteln und Strafe zu verhängen, ersehen ließe13. Im Gesamtbild stellt sich daher, wenn man sich nicht im Radbruch’schen Sinne damit zufrieden gibt, dass sich (zumindest) das ius puniendi des (demokratisch legitimierten) Staates letztlich „von selbst versteht“14, (nach wie vor) die Frage einer der (expliziten) Verfassungsebene vor- bzw. eingelagerten Basis des staatlichen ius puniendi15 (bzw. gar einer obligatio puniendi).

II. Abwehrrechte und (strafrechtliche) Schutzpflichten? – Die „Schild-Schwert-Dichotomie“ 1. Das BVerfG und der verfassungsrechtliche Rahmen des Schwangerschaftsabbruchs So naheliegend es nun an dieser Stelle auch erscheinen mag, strafrechtliche Schutzrechte bzw. sogar -pflichten des Staates – auf der Linie der Rechtsprechung des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch16 – aus verfassungsrechtlich verankerten der in Art. 74 Nr. 1 GG [a.F.] eine Norm mit lediglich „formale[m] Kompetenzregelungscharakter“ erblickt (59), resümiert, dass nach wie vor das „ius puniendi … als ein ,eminentes‘, vorgegebenes, autonomes Staats-Recht, das sich angeblich von selbst versteht und keiner weiteren Rechtfertigung bedarf, als Hoheitsrecht des Staates, dem bei Lichte betrachtet noch manches vom Untertanenstaat anhaftet“, in Geltung ist (67) und (ebd.) auf die Ersetzung des Strafrechts durch „ein erfolgreicheres, humaneres Maßnahmenrecht“ hofft. Aus der kanadischen Literatur etwa Bryant, Canadian Encyclopedic Digest, Constitutional Law VIII.9.[e], §§ 266 ff. mit Schwerpunktsetzung auf der Abgrenzung von Bundes- und Provinzkompetenzen; Funston/Meehan, Canada’s Constitutional Law in a nutshell, 4. Aufl. 2013, S. 88 ff. (das Parlament könne Strafrecht schaffen „as it sees fit“ [89]). 11 Vgl. etwa Art. 9 Abs. 2; 46 Abs. 2; 102; 103 Abs. 2; 103 Abs. 3 GG. 12 Deutlich und überzeugend Klose, ZStW 86 (1974), 33 (60). Die in der deutschen Verfassung vorgesehene Pflicht zur Pönalisierung des Angriffskrieges (Art. 26 GG) bildet insoweit eine Ausnahme, die sich bekanntlich vor ihrem historischen Hintergrund erklärt (so auch Stächelin [Fn. 10], S. 83). 13 Vgl. Stächelin (Fn. 10), S. 82: „Das Grundgesetz benennt kein ius puniendi des Staates und folglich auch keine expliziten Grenzen desselben“. 14 Vgl. erneut Klose, ZStW 86 (1974), 33 (67). 15 Sax, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (o. Fn. 10), S. 955 meint freilich, dass eine solche i.S.e. „Grundprinzips“, das Strafe „unangesehen ihrer zeitbedingten Bezüge zum einzelnen und zur Gemeinschaft“ gar nicht existiert und will letztlich (957) analog der Notwehr („Verbrechen als Angriff“) die Strafe als „Sozialverteidigung“ erklären. 16 BVerfGE 39, 1 = NJW 1975, 573 (573), Leitsatz a): „Das sich im Mutterleib entwickelnde Leben steht als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung (Art. 2 II 1,

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(gewichtigen) Individual-/Grundrechten17 abzuleiten18, wirft dieser Ansatz bei näherer Betrachtung doch nach wie vor nicht abschließend gelöste Probleme auf: Bereits unsicher ist es, an welche Gewährleistungen sich entsprechende Schutzpflichten anschließen sollen. Eine diesbezügliche Klärung, die über die Aussage hinausführt, dass eine strafrechtliche Schutzpflicht umso eher in Betracht kommt, je gewichtiger das fragliche verfassungsrechtlich gewährleistete (und damit durch den Staat zu schützende) Recht bzw. Rechtsgut ist19, ist nicht ersichtlich; die Unsicherheit verstärkt sich, wenn Schutzpflichten aus der unscharfen Menschenwürdegarantie20 gefolgert werden sollen21. Hinzu kommt, dass das BVerfG selbst – schon in seiner ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch – erklärt hat, dass der Rückgriff auf das Strafrecht lediglich eine von verschiedenen Optionen des Staates bilde, um einer etwaigen Schutzpflicht gerecht zu werden.22 So ist es eine gesetzgeberische Entscheidung, welche konkreten Schutzmaßnahmen geboten seien23, und insbesondere ob Art. 1 I GG). Die Schutzpflicht des Staates verbietet nicht nur unmittelbare staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen.“; NJW 1993, 1751 (1751), Leitsatz 6: „Der Staat muß zur Erfüllung seiner Schutzpflicht ausreichende Maßnahmen normativer und tatsächlicher Art ergreifen, die dazu führen, daß ein – unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter – angemessener und als solcher wirksamer Schutz erreicht wird (Untermaßverbot). Dazu bedarf es eines Schutzkonzepts, das Elemente des präventiven wie des repressiven Schutzes miteinander verbindet.“; detaillierter noch auf, S. 1755 ff. 17 Der Problematik der überindividuelle Rechtsgüter schützenden Strafgesetze kann im gegebenen Rahmen nicht nachgegangen werden. Vgl. bspw. zur Legitimation des Staatsschutzstrafrechts Wilfert (Fn. 6), S. 185 ff. 18 Letztlich bedürfen Rechte eines Schutzes, um volle Effektivität und Wirksamkeit, um also soziale Relevanz zu entfalten (in den Worten des SCC: um „meaningful“ zu sein, Dunmore v. Ontario [Attorney General] [2001], 3 S.C.R. 1016 [1043]). 19 Vgl. nur BVerfG NJW 1975, 573 (575) („Die Schutzverpflichtung des Staates muß um so ernster genommen werden, je höher der Rang des in Frage stehenden Rechtsgutes innerhalb der Wertordnung des Grundgesetzes anzusetzen ist.“). 20 Dass sich ein supranationales ius puniendi prinzipiell auf die Vorstellung universeller Menschenrechte im Sinne des kantischen Menschenwürdeverständnisses stützen lässt (vgl. Ambos, Oxf.J.L.S. 33 [2013], 293 [304 ff.]), ändert nichts an der gegebenen Trennschärfeproblematik. 21 Zur Ableitung konkreter Schutzpflichten unter Bezugnahme auf Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG mit Blick auf Gewaltverbrechen und vergleichbare Straftaten gegen die körperliche Integrität, die Freiheit und sexuelle Selbstbestimmung vgl. BVerfG, Beschl. v. 26. 06. 2014 – 2 BvR 2699/10, Rn. 8 u. 10; BVerfG StV 2015, 203 (204); JZ 2015, 890 (891); ferner BVerfG NStZ-RR 2015, 347 (348). 22 BVerfG NJW 1975, 573 (573), Leitsatz d) („Der Gesetzgeber kann die grundgesetzlich gebotene rechtliche Mißbilligung des Schwangerschaftsabbruchs auch auf andere Weise zum Ausdruck bringen als mit dem Mittel der Strafdrohung.“). 23 BVerfG NJW 1975, 573 (576) („Wie der Staat seine Verpflichtung zu einem effektiven Schutz des sich entwickelnden Lebens erfüllt, ist in erster Linie vom Gesetzgeber zu entscheiden. Er befindet darüber, welche Schutzmaßnahmen er für zweckdienlich und geboten hält, um einen wirksamen Lebensschutz zu gewährleisten.“); auf derselben Linie BVerfG NJW 1993, 1751 (1754) („Art und Umfang des Schutzes im einzelnen zu bestimmen, ist

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Rechtsgüterschutz mit dem Mittel des Straf- oder Ordnungswidrigkeitenrechts zu betreiben ist24. Aus grundsätzlicher Sicht ist zu konstatieren, dass die Vorstellung verfassungsrechtlich begründeter Pflichten des Staates zum strafrechtlichen Rechtsgüterschutz das klassische liberale Verständnis der Verfassungsgewährleistungen als Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber staatlichen Eingriffen erkennbar auf den Kopf stellt. Deutlich ausgesprochen im Minderheitsvotum zur ersten Abtreibungsentscheidung25, findet sich der diesbezügliche prinzipielle Zweifel noch wesentlich stärker im anglo-amerikanischen Verfassungsrechtsdiskurs26, was sich mit unterschiedlichen Verfassungstraditionen erklären lassen dürfte27. Das insoweit im Raum stehenAufgabe des Gesetzgebers. Die Verfassung gibt den Schutz als Ziel vor, nicht aber seine Ausgestaltung im einzelnen.“). 24 Vgl. die Entscheidung zum EGOWiG von 1968 BVerfGE 27, 18, (29 f.), in der das Gericht erklärt: „die exakte Grenzlinie zwischen dem Kernbereich des Strafrechts und dem Bereich der bloßen Ordnungswidrigkeiten […] unter Berücksichtigung der jeweiligen konkreten historischen Situation im einzelnen verbindlich festzulegen, ist Sache des Gesetzgebers.“ 25 Abw. M. der Richter Rupp-v. Brünneck und Simon (NJW 1975, 573 [581 f.]: „verkehrt die Funktion der Grundrechte in ihr Gegenteil“). Auf derselben Linie Schütz (Fn. 6), S. 62. 26 Charakteristisch etwa die Entscheidung des US-amerikanischen Supreme Courts in DeShaney v. Winnebago County Department of Social Services, U.S. 489 (1989), 189 (195) („nothing in the language of the Due Process Clause itself requires the State to protect the life, liberty, and property of its citizens against invasion by private actors“). Hierzu Grimm, in: Nolte (Hrsg.), European and US Constitutionalism, 2005, S. 137 (138 ff.). Eine vorsichtige Öffnung gegenüber der Schutzpflichtidee weist dagegen bemerkenswerterweise die Rspr. des SCC zur kanadischen Charta der Rechte und Freiheiten auf: vgl. Delisle v. Canada, [1999] 2 S.C.R. 989 (991) („The fundamental freedoms protected by s. 2 of the Charter do not impose a positive obligation of protection or inclusion on Parliament or the government, except perhaps in exceptional circumstances which are not at issue here.“); des Weiteren Dunmore v. Ontario (Attorney General) [2001], 3 S.C.R. 1016 (1018) („Ordinarily, the Charter does not oblige the state to take affirmative action to safeguard or facilitate the exercise of fundamental freedoms. There is no constitutional right to protective legislation per se. However, history has shown and Canada’s legislatures have recognized that a posture of government restraint in the area of labour relations will expose most workers not only to a range of unfair labour practices, but potentially to legal liability under common law inhibitions on combinations and restraints of trade. In order to make the freedom to organize meaningful, in this very particular context, s. 2(d) of the Charter may impose a positive obligation on the state to extend protective legislation to unprotected groups.“). Die beiden Entscheidungen sollten in ihrer Bedeutung freilich auch nicht überschätzt werden, zumal der Supreme Court den Ausnahmecharakter einer Schutzpflicht („except perhaps in exceptional circumstances“) bzw. die Besonderheiten des die Vereinigungsfreiheit betreffenden Dunmore-Falles betont hat („very particular context“). Eingehend (vor dem Hintergrund der BVerfG-Rspr.) zur kan. Rechtslage bzw. Rspr. MacDonnell/Hughes, Osgoode Hall L.J. 50 (2013), 999 (1022 ff.), die das Bestehen von Schutzpflichten de lege lata für möglich halten („it might be argued that the state is constitutionally obligated to identify threats to Charter-protected interests posed by private actors and to address those threats in some way, whether by criminal prohibition, regulation, or administrative action“). Vgl. auch Weinrib, Nat’l J.Const.L. 17 (2005), 325 ff. (Schutzpflichtableitung aus Menschenwürde). 27 Instrukt. Grimm, in: Nolte (Fn. 26), S. 137 (139 f.) zu dem Bedürfnis der amerikanischen Kolonien der englischen Krone nach Freiheitsräumen gegenüber (englischen) Parlamentsgeset-

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de „Schild-Schwert-Dilemma“28 lässt sich bei alldem auf die Frage zuspitzen, weshalb objektive Wertentscheidungen des (Verfassungs-)Gesetzgebers29 die Beschneidung subjektiver Rechte rechtfertigen können sollen, etwa des Rechts auf Freiheit des Verurteilten (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) im Falle der Verhängung von Freiheitsstrafe. Trotz dieser Bedenken hat das BVerfG bekanntlich durchaus Zustimmung darin erfahren, dass der Gesetzgeber von Verfassungs wegen zumindest in denjenigen Fällen auf das Mittel der Kriminalisierung verwiesen sei, in denen andere geeignete bzw. angemessene Mittel zum (Rechtsgüter-)Schutz fehlen, sodass das Strafrecht unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und des Ultima-ratio-Gedankens als einzige Option verbleibt30, soll nicht unter Verstoß gegen das Untermaßverbot der (verfassungsrechtlich) gebotene Minimalschutzstandart verfehlt werden31. Betont wird dabei in der Literatur indes die Ablehnung aus dem Grundgesetz abgeleiteter genereller Kriminalisierungspflichten32 (diesseits der Fälle der Untermaßverbotsverletzung33) sowie zudem das Gebotensein eines weiten gesetzgeberischen Ermessens34. zen (140: „To fulfill this function negative rights were sufficient“) und dazu, dass die Verfassungen der deutschen Partikularstaaten des 19. Jahrhunderts den Untertanen im Sinne eines politischen Entgegenkommens der Monarchen Bürgerrechte gewährten (141 f., 143: „mere expression of political intent“). Krieger, in: Nolte (Fn. 26), S. 181 (192 f.) verweist auf den unterschiedlich stark ausgeprägten Sozialstaatsgedanken. Ganz auf der angelsächsischen Linie indes der österr. VfGH Slg. Nr. 7400/1974, 221 (224) mit dem Hinweis, „daß der Grundrechtekatalog des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 142, über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger … von der klassischen liberalen Vorstellung getragen ist, dem Einzelnen Schutz gegenüber Akten der Staatsgewalt zu gewähren“. Hierzu vgl. Grimm a.a.O. 28 Der Begriff Schild-Schwert-Dichotomie wird Judge Christine van den Wyngaert zugeschrieben, vgl. Tulkens, JICJ 9 (2011), 577 (577). Van den Wyngaert bestätigte dem Autor per E-Mail v. 24. 8. 2018, dass sie die Dichotomie „in a presentation at Louvain on the occasion of the Journees Jean Dabin in … 1982“ entwickelt hat. 29 Vgl. BVerfG NJW 1975, 573 (577) („wertentscheidende Grundsatznorm“); insoweit abweichend Rupp-v. Brünneck u. Simon, NJW 1975, 573 (582). 30 BVerfG NJW 1975, 573 (573), Leitsatz d) („Im äußersten Falle, wenn der von der Verfassung gebotene Schutz auf keine andere Weise erreicht werden kann, ist der Gesetzgeber verpflichtet, zur Sicherung des sich entwickelnden Lebens das Mittel des Strafrechts einzusetzen.“); vgl. auch S. 576 f. 31 BVerfG NJW 1993, 1751 (1751), Leitsatz 8 („Das Untermaßverbot läßt es nicht zu, auf den Einsatz auch des Strafrechts und die davon ausgehende Schutzwirkung für das menschliche Leben frei zu verzichten.“), vgl. auch S. 1754. 32 So streicht Appel,Verfassung und Strafe, 1998, S. 68 heraus, dass das BVerfG keine „Aussagen darüber, daß der ,grundgesetzlichen Wertordnung‘ Gemeinschaftsbelange entnommen werden könnten, die per se ,strafschutzwürdig‘ sind“, getroffen habe; anders insoweit freilich Vogel, StV 1996, 110 (111 f.) („Zweifellos strafschutzwürdige … Gemeinschaftsbelange sind solche, die Teil der grundgesetzlichen Wertordnung selbst sind.“); vgl. ferner Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996, S. 445 f.; Stächelin (Fn. 10), S. 82 f; Schütz (Fn. 6), S. 62. 33 Eingehend zum Untermaßverbot Lagodny (Fn. 32), S. 254 ff., dabei S. 262 ff. zu den Kriterien unter dem Aspekt des Untermaßverbots „zwingende[r] Verhaltensvorschriften“; vgl. auch Appel (Fn. 32), S. 72; Wilfert (Fn. 6), S. 33.

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2. Die Schärfung des Schwertes Neben der durch die BVerfG-Rechtsprechung zum Schwangerschaftsabbruch vorgespurten Linie existierten weitere (neuere) Ansätze35, die eine Kriminalisierungspflicht bzw. ihre prozeduralen Spiegelungen – Pflichten also, zu ermitteln und abzuurteilen – aus der Verfassung ableiten wollen. Gemeinsamer Nenner ist dabei, dass weniger der pflichtige Staat als vielmehr das (Straftat-)Opfer, welches ein Recht auf effektiven staatlichen Schutz gegenüber (schwerwiegenden) Rechtsgutsverletzungen bzw. auf (Wieder-)Herstellung seines Vertrauens in die normative Ordnung habe36, ins Zentrum der Überlegungen zu stellen ist. Nicht mehr geht es infolgedessen (nur) um das Schild-Schwert-Dilemma, sondern, um im Bild zu bleiben, darum, ob das Schwert nun auch noch dadurch geschärft werden soll, dass man Ansprüche des Einzelnen gegenüber dem Staat auf Strafrechtsanwendung entstehen lässt. Unterschiedliche Akzentuierungen finden sich dann hinsichtlich der konkreten verfassungsrechtlichen Radizierung derartiger Opferrechte (bzw. der mit diesen korrespondierenden staatlichen Pflichten). Während Weigend Ermittlungs- und Strafpflichten und diesen entsprechende Opferrechte im (aus der allgemeinen Handlungsfreiheit [Art. 2 Abs. 1 GG] und der Menschenwürde [Art. 1 Abs. 1 GG] abzuleitenden) allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Straftatopfers verankern möchte37, operiert Holz im Rahmen eines mehrstufigen Argumentationsgangs mit einer umfassend (objektiv-subjektiv) gedachten staatlichen Sicherheitsgewährungspflicht, welcher Opferrechte auf Kriminalisierung und Strafverfolgung korrespondieren sollen38. Last but not least, wählt Hörnle einen straftheoretisch unterlegten „vergangenheitsorientiert-normativ[en]“ Ansatz, der das „,berechtigte[]‘ Genugtuungsinteresse“ des Opfers in den Mittelpunkt rückt, um dann für den weiteren Schritt hin zu einer entsprechenden „verfassungsrechtliche[n] Pflicht des Staates“ und (weiter noch) zu einem „subjektiven Recht[] auf effektive Strafverfolgung“ im Wesentlichen auf Holz und Weigend zu verweisen39.

34 Appel (Fn. 32), S. 70 ff.; Lagodny (Fn. 32), S. 257 ff., 417, 446, 448 (wo zutreffend betont wird, dass der Gesetzgeber nur zur „Herbeiführung eines bestimmten Schutzerfolgs“ verpflichtet ist, sich hierzu also der Mittel bedienen darf, die er für sachgerecht erachtet), prägnant dann S. 541 („Das Verfassungsrecht verweist das Strafrecht letztlich also wieder dorthin, wo Gesetze gemacht werden: in die gesellschaftliche Diskussion, die im Parlament entschieden wird.“). Vgl. schließlich auch Wilfert (Fn. 6), S. 33 f. 35 Holz, Justizgewährungsanspruch des Verbrechensopfers, 2007, S. 52 ff., 200 ff.; Weigend, RW 2010, 39 (50 ff.); Hörnle, JZ 2015, 893 (895 f.). 36 Zur Schutzfunktion von Opferrechten auch schon Lagodny (Fn. 32), S. 420, 448 ff. 37 Weigend, RW 2010, 39 (50 ff.). 38 Holz (Fn. 35), S. 54 ff., 61, 97 ff., 109 ff., 217 f., 221 f. Holz weist die h.M., die den Justizgewähranspruch im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verankert sieht, zurück, vgl. S. 53 ff., 61, m.w.N. 39 Hörnle, JZ 2015, 893 (895 f.).

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Betrachtet man nun deren Modelle genauer, so ergibt sich das folgende Bild: Weigend erblickt dort eine Persönlichkeitsrechtsverletzung und, wichtiger noch, eine Verletzung der Menschenwürde, wo der Staat das Opfer einer (schweren) Straftat alleinlässt, wo also Staatsorgane nicht ermitteln bzw. sich gegenüber dem Schicksal des Opfers desinteressiert zeigen40. Von einer schweren Straftat betroffen zu sein, könne „Teil der Persönlichkeit“ des Opfers werden41. Wo dies nun geschehen ist, liege eine Menschenwürdeverletzung vor, wenn die Behörden dem „Opferstatus“ der betreffenden Person nicht dadurch Rechnung tragen, dass sie diese „mit der gebührenden Achtung behandel[n]“. Dies bedeute, dass, worauf dem Opfer ein Recht zustehe, die staatlichen Organe den Fall ernst nehmen und sachangemessen ermitteln müssen. Zwar betreffe dann die Frage, ob gegen einen bestimmten Beschuldigten Anklage zu erheben ist, „nicht mehr die persönliche Rechtsstellung des Opfers“, jedoch habe dieses, kommt es zur Feststellung der Schuld des Angeklagten, einen Anspruch auf „unrechtsangemessene Sanktionierung des Täters“42. Eine unrechtsunangemessene Sanktionierung stelle nämlich (vor dem Hintergrund des Opferstatus) eine grundrechtsrelevante „Missachtung der Person“ dar, wenn „das Urteil – ausnahmsweise – durch Tenor und Begründung eine Geringschätzung des Opfers deutlich macht“43. Holz wiederum entwickelt seinen Ansatz, wie erwähnt, in mehreren Einzelschritten. Zunächst macht er sich den Schutzpflichtengedanken44 unter Akzentsetzung auf eine (die Basis staatlicher Legitimität45 bildende) Staatspflicht, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten, zu eigen. Dieser Pflicht, den Bürgern (objektiv) Sicherheit zu gewährleisten, korrespondiere eine staatliche Pflicht, die subjektive Sicherheit, also das (subjektive) Sicherheitsgefühl der Bürger, zu schützen46. Diese umfassende (auf Objektives wie Subjektives) gerichtete Sicherheitsgewährpflicht des Staates zöge sodann eine staatliche Pflicht nach sich, (jedenfalls in einem gewissen Umfang47) rechtsverletzendes Verhalten zu kriminalisieren48, mit welcher wiederum

40 Weigend, RW 2010, 29 (51) („dass die Würde eines Menschen verletzt sein kann, wenn ihm, nachdem er Opfer einer schweren Straftat geworden ist, von staatlichen Organen ohne nähere Untersuchung bedeutet wird, dieser Vorgang interessiere niemanden, er habe sich seinen Schaden allein selbst zuzuschreiben oder er sei der eigentlich Schuldige“). 41 Weigend, RW 2010, 29 (52). 42 Weigend, RW 2010, 29 (52 f.). 43 Weigend, RW 2010, 29 (53). 44 Holz (Fn. 35), S. 61 ff., insbes. S. 62 f. („Verfassungsrechtlich verhakt ist die staatliche Pflicht zur Sicherheitsgewähr in den Freiheitsgrundrechten.“) u. ebd. Fn. 55. 45 Holz (Fn. 35), S. 63 („als Kehrseite zum Gewaltmonopol [hat] fortan der Staat für Sicherheit zu sorgen“). 46 Holz (Fn. 35), S. 64 ff., 79. Für Holz folgt dies aus der Janusköpfigkeit des Begriffs der Sicherheit (70 ff.). 47 Holz (Fn. 35), S. 92. 48 Holz (Fn. 35), S. 80 ff. u. 88 ff.

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ein subjektives (Bürger-)Recht auf entsprechende Strafgesetze korrespondiere49. Der (umfassende) „Anspruch auf strafrechtliche Sicherheitsgewährleistung“50 werde dann einfachrechtlich durch die jeweils einschlägige individualrechtsgutsschützende Strafnorm konkretisiert51, welche wiederum dem „realen Verletzten … ein subjektives öffentliches Recht auf Restitution dieser Norm in Form des Ausspruchs eines sozialethischen Unwerturteils zu[ge]steht“52 ; die Möglichkeit, dass dieses Recht im konkreten Fall verletzt ist, aktiviere schlussendlich den Justizgewähranspruch des Art. 19 Abs. 4 GG53. Sozusagen hinter dem subjektiven öffentlichen Recht auf Genugtuung sieht Holz bei alldem ein (Opfer-)„Interesse an der Restitution seines Normvertrauens“54. Eine Verwandtschaft weisen diese Überlegungen mit mehreren neueren (Kammer-)Entscheidungen des BVerfG auf, welche zwar (nach wie vor) davon ausgehen, dass grundsätzlich kein Recht auf Strafverfolgung besteht55, dann jedoch erklären, ein solches könne (ausnahmsweise) in Fällen sowohl schwerwiegender Straftaten gegen das Leben, die körperliche Integrität, die sexuelle Selbstbestimmung und die Freiheit als auch solchen, die von Amtsträgern begangen werden oder sich gegen im Freiheitsentzug befindliche Opfer richten, gegeben sein56. Bemerkenswert ist insoweit die mehrfache Bekräftigung eines „Anspruchs [!] auf effektive Strafverfolgung“, nämlich: „… dort, wo der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter – Leben, körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung und Freiheit der Person – abzuwehren und ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen kann. In solchen Fällen kann, gestützt auf Art. 2 Abs. 2 Sätze 1 und 2 i.V. mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, ein Tätigwerden des Staates und seiner Organe auch mit den Mitteln des Strafrechts verlangt werden.“57 49

Holz (Fn. 35), S. 92 ff. Holz (Fn. 35), S. 97. 51 Holz (Fn. 35), S. 109, 109 ff. 52 Holz (Fn. 35), S. 204. 53 Holz (Fn. 35), S. 109, 109 ff., insbes. 114 ff. 54 Holz (Fn. 35), S. 135. 55 BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 2014 – 2 BvR 2699/10, Rn. 8; BVerfG StV 2015, 203 (203 f.); JZ 2015, 890 (891); NStZ-RR 2015, 347 (348). 56 BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 2014 – 2 BvR 2699/10, Rn. 8; BVerfG StV 2015, 203 (204); JZ 2015, 890 (891); NStZ-RR 2015, 347 (348). 57 BVerfG JZ 2015, 890 (891); zuvor bereits auf dieser Linie BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 2014 – 2 BvR 2699/10, Rn. 10; BVerfG StV 2015, 203 (204); NStZ-RR 2015, 347 (348), die sämtlich hinzufügen, dass ein solches Recht (bei Kapitaldelikten) gem. Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG auch durch enge Verwandte ausgeübt werden kann. Krit. insoweit Sachs, JuS 2015, 376 (378) eine tragfähige Begründung vermissend. Von Interesse ist, dass BVerfG EuGRZ 2010, 145 (147) über den Bezug auf ein „allgemeine[s] Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt“ hinaus mit der Situation einer „im Einzelfall zu einer Gefahrenlage für Leben und Gesundheit“ führenden Lage argumentiert hat. 50

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Ein solcher kann sich ferner ergeben: „… aus einer spezifischen Fürsorge- und Obhutspflicht des Staates gegenüber Personen …, die ihm anvertraut sind. Vor allem in strukturell asymmetrischen Rechtsverhältnissen, die den Verletzten nur eingeschränkte Möglichkeiten lassen, sich gegen strafrechtlich relevante Übergriffe in ihre Rechtsgüter aus Art. 2 Abs. 2 GG zu wehren (z. B. im Maßregel- oder Strafvollzug), obliegt den Strafverfolgungsbehörden eine besondere Sorgfaltspflicht bei der Durchführung von Ermittlungen und der Bewertung der gefundenen Ergebnisse“58. „… Ein Anspruch … kommt ferner in Fällen in Betracht, in denen der Vorwurf im Raum steht, dass Amtsträger bei Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben Straftaten begangen haben. Ein Verzicht auf eine effektive Verfolgung solcher Taten kann zu einer Erschütterung des Vertrauens in die Integrität staatlichen Handelns führen. Daher muss bereits der Anschein vermieden werden, dass gegen Amtswalter des Staates weniger effektiv ermittelt wird oder dass insoweit erhöhte Anforderungen an eine Anklageerhebung gestellt werden.“59

Ich werde mich mit dieser Rspr. im Rahmen der Entwicklung meines Standpunkts (u. III.) kritisch auseinandersetzen. Zustimmung verdient das BVerfG jedenfalls darin, dass zumindest kein subjektives Recht auf bestimmte Ermittlungsmaßnahmen anzuerkennen ist. Die Vorstellung, dass Straftatopfer (bzw. im Falle von Tötungsdelikten deren Angehörige) bspw. einen Anspruch auf Verhängung von Untersuchungshaft gegen einen Beschuldigten (gerichtlich) durchsetzen können, fügt sich bei aller Aufwertung, die der Verletzte/das Opfer erfahren hat60, offensichtlich nicht in das Verfahrensmodell der StPO ein.61 Anderseits ergibt sich – ganz im Holz’schen Sinne – aus Art. 19 Abs. 4 GG,62 dass ein Recht auf effektive Strafermittlung/-verfolgung gerichtlicher Kontrolle unterliegen muss63. 58

BVerfG JZ 2015, 890 (891 f.); NStZ-RR 2015, 347 (348); StV 2015, 203 (204): zuvor schon BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 2014 – 2 BvR 2699/10, Rn. 12. 59 BVerfG JZ 2015, 890 (892). Bereits zuvor auf dieser Linie BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 2014 – 2 BvR 2699/10, Rn. 11; BVerfG StV 2015, 203 (204); auch BVerfG NStZ-RR 2015, 347 (348). 60 Vgl. etwa Weigend, RW 2010, 39 (39 ff. m.w.N.). 61 I. E. zutreffend insoweit auch Hörnle, JZ 2015, 893 (894), wobei deren Hinweis auf die fehlende „emotionale Distanz“ potenzieller Anspruchsinhaber problematisch erscheint, da sich eine emotionale Aufgewühltheit bzw. ggf. (zudem) eine fehlende Sachkunde auch i.R. des de lege lata vorgesehenen Klageerzwingungsverfahrens auswirkt, welches darauf ausgerichtet ist, die Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung zu verpflichten (vgl. § 175 StPO), so dass sich zudem (entgegen Hörnle a.a.O.) durchaus über die Existenz eines Rechts auf Anklageerhebung diskutieren lässt (vgl. u. Haupttext zu Fn. 118 ff.). 62 Interessanterweise existiert in Form von s. 24(1) der Charter ein funktional entsprechendes Recht auch in Kanada. Werden Charter-Rechte kan. Bürger im Ausland verletzt, etwa in Form einer unrechtmäßigen Freiheitsentziehung oder inhumaner Behandlung durch einen anderen Staat, so obliegt es – infolge des Justizgewähranspruchs nach s. 24(1) of the Charter (vgl. Canada [Prime Minister] v. Khadr [2010], 1 S.C.R. 44, (47)) – dem kan. Staat, seinen Bürger aktiv zu schützen (vgl. Khadr v. Canada [Prime Minister] [2009], FC (Federal Court) 405, paras. 50 ff. [64: „Canada had a duty to protect Mr. Khadr from being subjected to any torture or other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment, from being unlawfully detained, and from being locked up for a duration exceeding the shortest appropriate period of

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3. Ius und obligatio puniendi: Ansprüche auf strafrechtlichen Schutz und die Menschenrechte Die Ableitung von Kriminalisierungs-, Ermittlungs-, Strafverfolgungs- und Bestrafungspflichten (bzw. entsprechenden subjektiven Rechten) aus verfassungsrechtlich verankerten opferbezogenen Rechtsgewährungen stößt auf Parallelen in der Menschenrechtsrechtsprechung. Zwar enthalten die einschlägigen Menschenrechtskonventionen, also der Internationale Pakt für bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966 (IPbPR)64, die Amerikanische Konvention zum Schutz der Menschenrechte vom 22. November 1969 (AMRK)65 sowie die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK)66, nicht anders als nationale Verfassungen, keine ausdrücklich auf Kriminalisierung etc. ausgerichteten Normen, doch haben der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IAGMR), der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und der UN-Menschenrechtsausschuss (Human Rights Committee – HRC) entsprechende Pflichten in die „ensure“- und „right-to-remedy“-Klauseln der jeweiligen Konventionen bzw. auch in deren Fair-Trial-Regelungen hineingelesen67; zudem werden Schutzpflichten bisweilen auch von den Menschenrechtsgewährleistungen selbst abgeleitet68. Auch die (Menschenrechts-)Rechtsprechung hat sich insoweit von der Schild- kontinuierlich zur Schwertfunktion fortentwickelt69, was – wie schon im Zusammenhang mit dem nationalen Verfassungsrecht zu den Grundrechten angemerkt – die herkömmliche Abwehrfunktion der Menschenrechte auf den Kopf stellt: Menschenrechte begrenzen nicht mehr das ius puniendi, sondern sollen stattdessen

time.“], 71 ff. [Schutzpflicht als „principle of fundamental justice“]). Hierzu (unter besonderer Berücksichtigung des Völkerrechts) Orange, Nat.’l J.Const.L. 28 (2011), 207 (208 u. 232: „the courts should acknowledge that a new model of ,sovereignity as responsibility provides a constitutional obligation for states to act to protect individuals‘“); zurückhaltender noch Forcese, U.N.B.L.J. 57 (2007) 102 (112 ff.) mit der Einschätzung, dass „no clear legal obligation to protect exists in Canadian public law“. 63 Vgl. §§ 172 ff. StPO und den Hinweis des BVerfG auf die Möglichkeit, das Klageerzwingungsverfahren zu betreiben: BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 2014 – 2 BvR 2699/10, Rn. 11; BVerfG StV 2015, 203 (204); JZ 2015, 890 (892); NStZ-RR 2015, 347 (348 f.). 64 BGBl 1973 II, S. 1534. 65 OAS Treaties Series B-32. 66 European Treaties Series Nr. 5. 67 Art. 2 Abs. 1 Alt. 2, 3 u. 14 IPbpR; Art. 1 Abs. 1 Alt. 2, 25 u. Art. 8 Abs. 1 AMRK; Art. 1, 13 u. 6 EMRK. 68 Eingehende Analyse der Rspr. bei Seibert-Fohr, Prosecuting Serious Human Rights Violations, 2009. Für eine völkergewohnheitsrechtliche Pflicht der Tatortstaaten zur Bestrafung der core crimes bspw. Werle/Vormbaum, Transitional Justice, 2018, S. 43 f. Vgl. auch Ambos, in: Haldemann/Unger (Hrsg.), The UN Principles to Combat Impunity, 2018, Principle 19 Rn. 18 ff.; ders., AVR 37 (1999), 318 (319 ff.). 69 Vgl. o. Fn. 28.

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Pflichten des Staates zur Betreibung strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes bzw. sogar diesbezüglicher Opferansprüche begründen70. Wegweisend war insoweit zunächst das Urteil des IAGMR im Fall Velasquez-Rodriguez71, demzufolge die „ensure“-Klausel des Art. 1 Abs. 1 AMRK dazu verpflichtet, „den Regierungsapparat und alle Strukturen, durch die öffentliche Gewalt ausgeübt wird, so zu organisieren“, dass es möglich ist, „jede Verletzung der in der Konvention anerkannten Rechte [zu] verhindern, untersuchen und bestrafen“; ferner müsse versucht werden, „das verletzte Recht wiederherzustellen und die erforderliche Entschädigung für aus der Verletzung resultierende Schäden zur Verfügung“ zu stellen72. Der IAGMR hat sein Verständnis im Weiteren in einer Reihe von Folgeentscheidungen bekräftigt73, die sich (neben Art. 1 Abs. 1) auch auf Art. 8 Abs. 1 und 25 AMRK stützen74. Von größter Bedeutung ist schließlich seine Rechtsprechung zu Strafverfolgungspflichten in Fällen des Verschwindenlassens, der extralegalen Hinrichtungen und Folter75. Insoweit hat das Gericht etwa in dem Fall Rodríguez Vera et al. v. Colombia76 entschieden, dass die staatliche Pflicht, die in der Konvention geschützten Menschenrechte zu respektieren und ihre Ausübung zu gewährleisten (Art. 1 Abs. 1 und 2 AMRK), die Vertragsstaaten verpflichte, strafrechtliches, konventionswidriges Unrecht zu verfolgen77. Auch der EGMR hat in ähnlicher Weise sein ursprünglich konservativeres Verständnis der EMRK – ganz im Sinne der Schild-Funktion lediglich negative Rechte gegenüber dem Staat gewährleistend – dahingehend weiterentwickelt, dass den Ver70 Malarino, in: Gil/Maculan (Hrsg.), La influencia de las víctimas en el tratamiento jurídico de la violencia colectiva, 2017, S. 23 (24). 71 IAGMR, Judg., 29. 7. 1988 (Velásquez-Rodríguez v. Honduras). Eingehend zu dieser Rspr. Ambos/Malarino (Hrsg.), Sistema interamericano de protección de los derechos humanos y derecho penal internacional, 3 Bde., 2010, 2011 u. 2013), verfügbar unter: http://www. cedpal.uni-goettingen.de/index.php/investigacion/grupo-latinoamericano-de-estudios-sobre-der echo-penal-internacional; Ambos, AVR 37 (1999), 318 (319 f.). 72 IAGMR, Judg., 29. 7. 1988 (Velásquez-Rodríguez v. Honduras), para. 166; deutsche Übersetzung in: EuGRZ 1989, 157 (171). 73 Vgl. nur IAGMR, Judg., 14. 3. 2001 (Barrios Altos v. Peru), paras. 41 ff.; Judg., 25. 10. 2012 (Massacres of El Mozote and nearby Places v. El Salvador), paras. 143 ff.; Judg., 26. 11. 2013 (Osorio Rivera y Familiares v. Perú), para. 177; Judg., 19. 5. 2014 (Veliz Franco y otros v. Guatemala), paras. 183, 250 f. 74 So kürzlich: IAGMR, Judg., 15. 3. 2018 (Herzog y otros v. Brasil), para. 312; hierzu eingehend Coelho de Andrade, Mandados Implícitos de Criminalização, 2019, S. 191 ff.; zur älteren Rspr. siehe Seibert-Fohr (Fn. 68), S. 55 ff. 75 Ferrer Mac-Gregor/Pelayo Möller, in: Steiner/Uribe (Hrsg.), Convención Americana sobre Derechos Humanos. Comentario, 2014, 42 (48). 76 Nach Beendigung einer Geiselnahme der FARC durch die Armee „verschwanden“ 11 Personen, die sich im Justizpalast aufgehalten hatten (1985). 77 IAGMR, Judg., 14. 11. 2014 (Rodríguez Vera et al. v. Colombia), para. 459 („In light of Articles 1(1) and 2 of the Convention, States have a general obligation to ensure respect for the human rights protected by the Convention, and the duty to prosecute wrongful acts that violate rights recognized in the Convention is derived from this obligation“).

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tragsstaaten positive Schutzpflichten im Sinne der Schwert-Funktion unter Einschluss des Erlasses von Strafgesetzen78 und der Durchführung effektiver staatlicher Ermittlungen mit dem Ziel der Identifizierung und Bestrafung der Verantwortlichen79 zukommen sollen. Von besonderem Interesse ist in unserem Zusammenhang, dass sich nach Ansicht des Gerichtshofs in diesen staatlichen Pflichten in Fällen schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen eine effektive Rechtsgewähr und damit ein Recht des Opfers verwirklicht80. Während die frühe EGMR-Rechtsprechung das Recht auf ein faires Verfahren als Grundlage von Opferrechten noch zurückgewiesen hatte81, hat sich der EGMR im Jahre 2009 bezüglich des Anhörungsrechts gerade auf diese berufen82. Konkreter noch hat das Straßburger Gericht dann entschieden, dass eine Strafermittlung, um „effektiv“ zu sein, fallangemessen zu sein hat, was voraussetze, dass „it must be capable of leading to the establishment of the facts and, where appropriate, the identification and punishment of those responsible“83. Im Gesamtbild stellt die Anerkennung von Schutzpflichten in Fällen schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen und die Forderung nach effektiven Ermittlungen inzwischen eine Konstante der relevanten Rechtsprechung des EGMR dar84.

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EGMR, Urt. v. 26.3. 1985 (X und Y v. Niederlande), Rn. 27; Urt. v. 28. 3. 2000 (Kaya v. Türkei), Rn. 85; Urt. (Große Kammer) v. 17. 1. 2002 (Calvelli und Ciglio v. Italien), Rn. 51; Urt. v. 24. 6. 2008 (Issak v. Türkei), Rn. 106; Urt. (Große Kammer) v. 12. 11. 2013 (Söderman v. Schweden), Rn. 82. Vgl. zu alldem auch Holz (Fn. 35), S. 89; Ambos, AVR 37 (1999), 318 (321 f.). 79 Vgl. nur EGMR, Urt. v. 27. 9. 1995 (McCann et al. v. Großbritannien), Rn. 161; Urt. v. 28. 3. 2000 (Kaya v. Türkei), Rn. 102; Urt. v. 13. 12. 2012 (El-Masri v. ehem. jugosl. Republik Mazedonien), Rn. 182; Urt. (Große Kammer) v. 12. 11. 2013 (Söderman v. Schweden), Rn. 83; Urt. v. 27. 5. 2014 (Margusˇ v. Kroatien), Rn. 125, 127; Urt. v. 24. 6. 2014 (Husayn [Abu Zubaydah] v. Polen), Rn. 540 ff. und passim. Vgl. auch Ambos, European Criminal Law, 2018, S. 120, 123 (mit Bezug auf Art. 2, 3 EMRK) m.w.N. 80 EGMR, Urt. v. 19. 2. 1998 (Kaya v. Türkei), Rn. 107; Husayn (Abu Zubaydah) v. Polen, (oben Fn. 79), Rn. 540 ff. 81 EGMR, Entsch. v. 16. 5. 1985 (Wallén v. Schweden), Nr. 10877/84, Rn. 185 („Accordingly, the applicant has no right under Article 6 para 1 of the Convention to have criminal proceedings instituted against the artist in question.“); Urt. v. 5. 10. 1999 (Grams v. Deutschland), Nr. 33677/96 (keine Rn. [„That requirement can be distinguished from those under Article 6 of the Convention, which does not guarantee the right to bring a prosecution against third parties“]). 82 EGMR, Urt. v. 3. 10. 2009 (Kart v. Türkei), Nr. 8917/05, Rn. 87 u. 111, wo vor dem Hintergrund parlamentarischer Immunität, „the applicant’s right to have his case heard by a court as secured under Article 6 § 1“ betont wird. 83 EGMR, Urt. v. 26. 4. 2016 (Cangöz et al. v. Türkei), Rn. 114; vgl. auch Urt. v. 30. 3. 2016 (Armani da Silva v. Großbritannien), Rn. 229; vorgehend Urt. v. 14. 4. 2015 (Mustafa Tunç and Fecire Tunç v. Türkei), Rn. 172; Urt. v. 24. 3. 2011 (Giuliani und Gaggio v. Italien), Rn. 301. 84 Zur neuesten Rspr. vgl. EGMR, Urt. v. 17. 11. 2015 (M. Özel et al. v. Türkei), Rn. 187 ff.; Urt. v. 15. 10. 2015 (Abakarova v. Russland), Rn. 70 (sect. V); Entsch. v. 29. 9. 2015 (Zoltai v. Ungarn und Irland), Rn. 27 ff.; Urt. v. 14. 4. 2015 (Mustafa Tunç und Fecire Tunç v. Türkei), Rn. 171 ff.; Urt. v. 24. 3. 2015 (Association for the Defence of Human Rights in Romania –

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Der UN-Menschenrechtsausschuss schließlich geht ebenfalls von einer positiven staatlichen Verpflichtung aus, in Fällen mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen zu ermitteln und Täter zu bestrafen85. Fehlende Ermittlungen könnten als solche einen Bruch des Paktes darstellen. Ferner hat der Ausschuss festgestellt, dass ein lediglich administratives Verfahren in Fällen schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen nicht ausreiche, sondern ein Strafverfahren erforderlich sei86. Auch wenn der Ausschuss – im Gegensatz zum EGMR – kein Opferrecht auf Strafverfolgung sieht, anerkennt er zumindest implizit gewissenhafte Ermittlungen als Form eines Justizgewähranspruchs87. In der jüngeren Vergangenheit hat er unter Bestätigung seiner Position zum Recht auf „effective remedy“ entschieden, dass eine Menschenrechtsverletzung unverzüglich, gewissenhaft und unparteiisch durch die zuständigen Behörden ermittelt und die sachgerechten Maßnahmen gegen den Verantwortlichen ergriffen werden müssten88. Dies umfasse als effektive Abhilfe für unmittelbare Opfer und deren Familienangehörige Strafermittlungen, die dazu führen, dass dem Verantwortlichen ein rechtsstaatlicher Prozess gemacht werde89. Trotz aller prinzipiellen Bedenken lässt sich nach alldem festhalten, dass die auf die BVerfG-Rechtsprechung zurückführbare Ableitung (strafrechtlicher) Schutzpflichten90 von Grund- bzw. Menschenrechten im nationalen und auch im internationalen Rahmen (abgesehen insbesondere vom Common-Law-Rechtskreis) inzwischen eine feste Größe darstellt. Namentlich die EGMR-Rechtsprechung lässt dabei gegenüber der nationalen Verfassungsrechtspraxis eine sozusagen subjektivere Tendenz erkennen91, wobei der Gerichtshof für die „Subjektivierung“ der „Schutzpflichtendimension der EMRK-Garantien“ die Rechtsschutzgarantie des Helsinki Committee on behalf of Ionel Garcea v. Rumänien), Rn. 67; Urt. v. 27. 1. 2015 (Asiye Genç v. Türkei), Rn. 68 ff. 85 Z. B. HRC, General Comment No. 20 (1992), paras. 13 ff.; General Comment No. 31 (2004), paras. 15, 18; Nijaru v. Cameroon, Communication No. 1353/2005, para. 8; Saker v. Algeria, Communication No. 992/2001, para. 11. Zur Entwicklung der HRC-Rechtsprechung Seibert-Fohr (Fn. 68), S. 11 ff. 86 Vgl. z. B. HRC, Bautista de Arellana v. Colombia, Communication No. 563/1993, paras. 8.2, 10; Coronel et al. v. Colombia, Communication No. 778/1997, paras. 6.2, 10. 87 Vgl. Seibert-Fohr (Fn. 68), S. 22 ff., insbes. 25 („Committee regularly distinguishes between the right to an effective remedy pursuant to art. 2[3], including an investigation and compensation, and the general State party obligation to prosecute the crimes and prevent similar violations“). 88 S. z. B. HRC, MacCallum v. South Africa, Communication No. 1818/2008, para. 6.7.; Sathasivam/Saraswathi v. Sri Lanka, Communication No. 1436/2005, paras. 6.3, 6.4. 89 S. z. B. HRC, Ernesto Benitez Gamarra v. Paraguay, Communication No. 1829/2008 paras. 7.5, 9; Zyuskin v. Russian Federation, Communication No. 1605/2007, para. 13. 90 Vgl. Michelman, in: Nolte (Fn. 26), S. 156 (167): Schutzpflichtgedanke „appears to be of mainly German origin“. Zur „Schutzpflichtdimension“ der EGMR-Rechtsprechung Holz (Fn. 35), S. 98 ff. 91 Vgl. Holz (Fn. 35), S. 100 („Schutzpflichtendimension der EMRK-Garantien vollständig subjektiviert … keine Unterscheidung zwischen objektiv-rechtlichen und subjektiv-rechtlichen Schutzpflichten“).

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Art. 13 EMRK als wesentlich erachtet92, die letztlich dieselbe Funktion wie die nationalen Justizgewähransprüche hat93. Angesichts dessen kann es nicht überraschen, dass sowohl die oben erwähnten neueren BVerfG-Entscheidungen94 als auch die Lehre95 im gegebenen Zusammenhang auf die Rechtsprechung des EGMR Bezug nehmen.

III. Kritische Bewertung/Schlussfolgerungen 1. Vorfragen Tritt man nach alldem nun ein wenig zurück und betrachtet das große Bild, so dürfte die grund- bzw. menschenrechtliche Ableitung staatlicher Pflichten zum strafrechtlichen Rechtsgüterschutz und, mehr noch, deren Subjektivierung von gewissen Grundwertungen bzw. Vorbedingungen abhängen, die die einschlägigen gerichtlichen Entscheidungen zumindest implizit prägen: - Zunächst von der Vorstellung, dass das strafrechtliche „Schwert“ ein effektives Mittel zur Verwirklichung von Grund- bzw. Menschenrechten sein kann96 und dass strafrechtliche Schutzpflichten aus Individualrechten abgeleitet werden können, obwohl diese herkömmlich als strafrechtsbegrenzend gedacht sind. - Weiterhin von einer Bereitschaft, innerhalb der durch das Gewaltenteilungsprinzip markierten Grenzen, d. h. unter Wahrung der Stellung bzw. Funktion der Legislative97, richterrechtliche Fortentwicklungen zu akzeptieren, die – man bedenke das Schild-Schwert-Dilemma! – durchaus grundlegende Fragen betreffen98. Diese Vorbedingungen – die selbst von rechtspolitischen, dogmatisch nicht vollständig hinterfragbaren Wertungen abhängen – als gegeben unterstellt, soll nun im 92

Ähnlich Holz (Fn. 35), S. 104. S. insoweit zur identischen Reichweite des Art. 13 EMRK einerseits und des Art. 19 Abs. 4 GG andererseits Frowein, NVwZ 2002, 29 (30): „Art. 13 EMRK enthält dasselbe Grundrecht wie Art. 19 IV GG“. 94 BVerfG, Beschl. v. 26. Juni 2014 – 2 BvR 2699/10, Rn. 15; BVerfG StV 2015, 203 (204); NStZ-RR 2015, 347 (348). 95 Holz (Fn. 35), S. 89, 98 ff.; krit. Weigend, RW 2010, 39 (46 ff.). 96 Krit. insoweit etwa Gärditz, JZ 2015, 896 (899). 97 R. v. Mills [1999], 3 SCR 668 (712) („… this court has an obligation to consider respectfully Parliaments attempt to respond to such voices.“); s. auch Irwin Toy v. Quebec (Attorney General) [1989], 1 SCR 927 (993) („Thus, as courts review the results of the legislature’s deliberations, particularly with respect to the protection of vulnerable groups, they must be mindful of the legislature’s representative function.“). Zur Sicht des Appeals Court vgl. R. v. Miller and Cockriell, 63 D.L.R. (3d) 193 (246) („… not open to this Court, or any other Court, to substitute its opinion on a matter of fact for that of ,Her Majesty, by and with the advice and consent of the Senate and House of Commons of Canada‘…“). 98 MacDonnell/Hughes, Osgoode Hall L.J. 50 (2013), 999 (1037). 93

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Weiteren die eigene Sicht der Dinge hinsichtlich der Schlüsselfrage entfaltet werden, nämlich ob und ggf. wie ein subjektives Recht auf Kriminalisierung/Strafverfolgung/ Bestrafung begründbar ist. 2. Mängel der verfassungs- und menschenrechtlichen Rechtsprechung Der Rückgriff der erwähnten BVerfG-Kammerentscheidungen auf die „Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates“ bzw. ein „allgemeine[s] Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt“, auf deren Abwehr ein subjektives Recht bestehen soll99, ist insoweit aus mehreren Gründen nicht überzeugend. Erstens werden hiermit reichlich diffuse100 Voraussetzungen für die Entstehung subjektiver Rechte formuliert. Auf der Ebene eines potentiell weltweiten Rechtsvergleichs dürfte ein „allgemeine[s] Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt“ Formen genereller Gesetzlosigkeit bzw. Zustände in (teilweise) gescheiterten Staaten beschreiben; ein solches entsteht – begreift man den Anknüpfungspunkt des BVerfG als empirisch – jedenfalls nicht bereits durch eine gewisse Anzahl von (selbst schwerwiegenden) Straftaten101. Zweitens muss die Anknüpfung an ein allgemeines (Unsicherheits-)Gefühl die Frage nach sich ziehen, wem diesbezüglich subjektive Rechte zukommen sollen. In letzter Konsequenz müsste jedem Bürger eines Gemeinwesens, das von einem derartigen (allgemeinen) Klima der Unsicherheit beherrscht wird, unabhängig von seinem Opferstatus bzw. einer konkreten Betroffenheit, ein Recht auf Strafverfolgung zugesprochen werden. Dies wäre ersichtlich unpraktikabel und unsinnig102. Last but not least fehlt eine Erklärung dafür, dass Opferrechte (lediglich) im Fall von Straftaten gegen das Leben und die Freiheit entstehen sollen, nicht dagegen z. B. im Fall von Taten gegen das Eigentum103. Werden nämlich (etwa in einer Bürgerkriegssituation) massenhaft Eigentumsdelikte begangen, so dürfte durchaus ein Klima der Unsicherheit die Folge sein. Soweit das BVerfG weiterhin mit dem Unvermögen des Einzelnen argumentiert, „erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter … abzuwehren“104, lässt sich auch insoweit ein subjektives Recht (des Einzelnen konkret betroffenen Opfers) auf Strafverfolgung nicht überzeugend begründen. Denn in dem Zeitpunkt in dem sich die Frage eines Rechts (des Opfers) auf Strafverfolgung stellt, sind dessen Interessen bereits verletzt. Besonders augenfällig ist dies bei Tötungsdelikten, wie sie drei der Kammerentscheidungen zugrunde 99 Oben Fn. 57 und des Weiteren Fn. 59 („… Erschütterung des Vertrauens in die Integrität staatlichen Handelns …“); auf einer ähnlichen Linie Holz (o. Haupttext zu Fn. 44 ff.). 100 Letztlich bleibt völlig unklar, ob ein Zustand gemeint ist, der empirischer Feststellung zugänglich ist, oder ob es um eine ideell-(straf-)theoretische Normdestabilisierung gehen soll. Zutreffend Gärditz, JZ 2015, 896 (897); vgl. auch Weigend, RW 2010, 39 (48). 101 Krit. auch Hörnle, JZ 2015, 893 (895) („erstaunlich“, „Unrechtsstaat“). 102 Krit. Hörnle, JZ 2015, 893 (895) („Denkfehler“); Gärditz, JZ 2015, 896 (897). 103 Krit. insoweit auch Gärditz, JZ 2015, 896 (898). 104 O. Fn. 57.

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lagen. Das Lebensrecht des Opfers ist nicht wiederherzustellen und das seiner Verwandten durch die Tat nicht berührt105. Eine fortwirkende (strafrechtliche) Schutzpflicht kann nur gegeben sein in Bezug auf fortbestehende Gefahren106, wie sie etwa in den ebenfalls vom BVerfG behandelten Haft-Fällen107 und zudem dort plausibilisierbar sind, wo ein die Tat überlebendes Opfer fortdauernd unter den (psychologischen) Auswirkungen des Angriffs leidet und daher sein Vertrauen in die normative Ordnung bzw. eigene Sicherheit wiederhergestellt werden muss108. Was die letztgenannte Fallgruppe anbelangt, ist allerdings freilich keineswegs gesichert, dass das Strafrecht bzw. Strafverfahren geeignet ist, bei der Überwindung traumatischer Opfererfahrungen entscheidend zu helfen109. Hintergrund der Schwächen der Argumentation der einschlägigen BVerfG-Entscheidungen scheint bei alldem zu sein, dass diese im Gegensatz zu einer weiteren (Kammer-)Entscheidung, die zwischen einer Schutz- und einer Ermittlungspflicht unterschied110, nicht hinreichend differenzieren zwischen staatlicher Verpflichtung, präventiv vor Gefahren zu schützen, und einer etwaig (zum entsprechenden Anspruch subjektivierten) Pflicht, repressiv gerade mit dem Mittel des Strafrechts Rechtsgüterschutz zu betreiben111. Beide Ebenen werden insoweit vermengt als nebeneinander, d. h. scheinbar gleichzeitig bzw. gleichgewichtig auf die Abwendung (das Prävenieren) schwerwiegender Straftaten gegen persönliche Interessen und auf die Wiederherstellung des Vertrauens in die normative Ordnung und die allgemeine Sicherheit durch Anwendung des Strafrechts abgestellt wird112. Eine vollauf befriedigende Erklärung subjektivierter Pflichten zum strafrechtlichen Rechtsgüterschutz bietet (bei Lichte betrachtet) aber auch die einschlägige

105 Krit. auch Weigend, RW 2010, 39 (48 f.); Hörnle, JZ 2015, 893 (894) („Eingriff in das höchstpersönliche Rechtsgut … beendet …“); ferner mit Bezug auf die IAGMR-Rechtsprechung Malarino (Fn. 70), S. 43. 106 Hörnle, JZ 2015, 893 (894). 107 O. Fn. 58. 108 Vgl. Weigend, RW 2010, 39 (49). 109 Krit. auch Weigend, RW 2010, 39 (50): „Letztlich wird man wohl zu dem Ergebnis kommen müssen, dass die Einleitung eines Strafverfahrens jedenfalls in der großen Mehrzahl der Fälle nicht das Mittel der Wahl ist, um ein beeinträchtigtes Sicherheitsgefühl des Verletzten zu restituieren“. 110 BVerfG EuGRZ 2010, 145 (147) („… vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren … Davon unterscheidet sich aber ein Anspruch gegen den Staat auf effektive Untersuchung von verdächtigen Todesfällen.“). Beachte insoweit aber auch Hörnle, JZ 2015, 893 (894) mit dem Hinweis, dass die a.a.O. zunächst hervorgehobene Differenzierung im Weiteren nicht konsequent durchgehalten wird. 111 Krit. auch Hörnle, JZ 2015, 893 (894) sowie Sachs, JuS 2015, 376 (377), der darauf hinweist, dass die Merkmale einer Gefahrenlage bzw. eines Klimas der Rechtsunsicherheit in BVerfG EuGRZ 2010, 145 (147) noch alternativ, im Weiteren dann aber kumulativ nebeneinandergestellt werden. 112 O. Fn. 57.

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Menschenrechtsrechtsprechung nicht113, bleibt sie doch letztlich im Vagen, was die genaue Ableitung entsprechender Rechte anbelangt, die jedoch erforderlich ist, um die Reichweite etwaiger Opferansprüche bestimmen zu können. Eine der erörterten neueren BVerfG-Rechtsprechung ähnliche Verschleifung der präventiven und der repressiven Perspektive ist dabei bereits darin angelegt, dass der EGMR retrospektiv über die Verletzung von Konventionsgewährleistungen zu entscheiden hat114. Die einschlägigen Entscheidungen wechseln bei alldem zwischen der Perspektive objektiver „Gewährleistungs“-Pflichten und derjenigen subjektiver Opferrechte, ohne dies näher auszuarbeiten115. In einer dogmatisch nicht hinreichend abgesicherten, letzten Endes pragmatischen Weise scheinen sie vor allem auf einen „präventiven Abschreckungseffekt“ staatlicher Ermittlungen in Fällen des Todes Inhaftierter abzuzielen, welche (ergebnisorientiert) durch die im Wege der Subjektivierung geschaffene Beschwerdemöglichkeit gewährleistet werden sollen116 und berufen sich einigermaßen beliebig auf deontologische wie auch auf konsequentialistische Argumente117. 3. Kombination von opferorientierter Argumentation und effektiver Justizgewährung Letztlich kann eine subjektivierte obligatio puniendi ihre Stütze nur in einer Kombination aus einer opferorientierten und an effektiver Justizgewährung ausgerichteten Argumentation finden. Auf dieser Grundlage erweist sich die Möglichkeit einer Klageerzwingung – wie sie hierzulande nach den §§ 172 ff. StPO vorgesehen ist118 – als weiterführend119. In dieser drückt sich nämlich richtigerweise kein ausschließlich objektives Rechtsprinzip aus,120 hängt die Einleitung eines solchen Verfahrens doch allei113

Eine allgemeine Kritik des IAGMR liefert Malarino (Fn. 70), S. 23 ff. (37 ff.); eingehend Coelho de Andrade (Fn. 74), S. 277 ff. mit einer systematischen Untersuchung der Bedenken gegenüber einer subjektivierten obligatio puniendi bis hin zum Rechtstatsächlichen (drohende Überlastung des Gefängnissystems); bzgl. des EGMR s. Weigend, RW 2010, 39 (47 f.); Hörnle, JZ 2015, 893 (894). 114 Vgl. Weigend, RW 2010, 39 (47) („Herleitung und Inhalt des ,Anspruchs‘ … dunkel“). 115 Malarino (Fn. 70), S. 39 f. 116 Prägnant Gärditz, JZ 2015, 896 (899): „Die subjektivierende Verknüpfung mit Art. 2 EMRK dient vor allem der Eröffnung einer Beschwerdebefugnis und ist insoweit eher ein prozessualer Kunstgriff, um in Fällen des ,Verschwindenlassens‘ oder der Tötung überhaupt judizieren zu können, weil anderenfalls allgemeine Rechtlosigkeit und staatliche Willkür in justizfreien Dunkelkammern drohen würde“. 117 Malarino (Fn. 70), S. 42. 118 Vgl. schon o. Fn. 63 f. Zum Entstehungshintergrund der § 172 ff. StPO vgl. Machalke, Die Funktion des Oberlandesgerichts im Klageerzwingungsverfahren, 1996, S. 35 ff. und im gegebenen Zusammenhang insbes. Hall/Hupe, JZ 1961, 360 (362); vgl. auch u. Fn. 123. 119 Vgl. Hörnle, JZ 2015, 893 (894). 120 Wollte man dies anders sehen, bestünde dringender Reformbedarf, zumal das Klageerzwingungsverfahren äußerst selten vorkommt und (bzgl. der Zahl der Verfahrenseinstellungen) i.E. praktisch nie erfolgreich ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Klageerzwingungsverfahren insbes. nicht überzeugend als (ausschließliche) Sicherung des Legalitätsprinzips erklären.

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ne von der subjektiven Entscheidung des (ggf. unverständigen) Verletzten ab.121 So kann man im Klageerzwingungsverfahren ein am Gedanken des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) ausgerichtetes Instrument sehen, das sich als dessen strafrechtsspezifische Vorwegnahme in das normative Koordinatensystem des Grundgesetzes einfügt und dem Schutz subjektiver Rechte des Verletzten dient, welche sich wiederum vom Legalitätsprinzip und Anklagemonopol des Staates her ableiten lassen.122 Eine Verfahrensordnung, die wie die StPO ein solches Recht vorhält, stellt damit gewissermaßen in Rechnung, dass sich – kommt es zu einer Straftat – der diesbezügliche staatliche Strafanspruch mit subjektiven Rechtspositionen des Verletzten/Opfers überschneidet123. Sie erkennt ein subjektives Recht auf die Durchführung von (Straf-)Ermittlungen124 und auf die Erhebung der öffentlichen Klage125, hinter dem gerade aus der Straftat erwachsende subjektive Rechte stehen, an. Geht man damit davon aus, dass einem Klageerzwingungsverfahren ein subjektives Recht auf Ermittlungen bzw. Klageerhebung zugrunde liegt, spiegelt die Suche nach einer – vom Gesetz gerade nicht gelieferten – sachgerechten Umschreibung des „Verletzten“, der das Klageerzwingungsverfahren betreiben kann, die Frage nach der Inhaberschaft des zugrundeliegenden (materiellen) subjektiven Rechts: Dies dürfte sich dann dahingehend wenden lassen, dass ein (zumindest auch) subjektiv unterlegtes Recht des Staates auf Strafe dort gegeben ist, wo jemand – d. h. eine natürliche oder juristische126 Person – unmittelbar in

Vgl. insoweit insbes. Kirstgen, Das Klageerzwingungsverfahren, 1989, S. 49 („Es ist doch kaum anzunehmen, daß der Gesetzgeber, hätte er wirklich ausschließlich eine effektive Sicherung des Legalitätsprinzips beabsichtigt, nur ein derart unvollkommenes Element wie das KEV bereitgestellt hätte.“); ferner Gössel, in: FS Dünnebier, 1982, S. 121 (143 m.w.N.). 121 Vgl. Maiwald, GA 1970, 33 (51 f.) (keine Orientierung „an einer objektiv wirksamen Kontrolle der Einhaltung des Legalitätsprinzips“, „da der Verletzte das Betreiben der Strafverfolgung ja aus gänzlich unsachlichen und willkürlichen Motiven heraus unterlassen mag …“). 122 Überzeugend Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 29. Aufl. 2017, § 41 Rn. 2. 123 Hall/Hupe, JZ 1961, 360 (362) („… Parallelität der Strafansprüche des Staates und des Verletzten …“); des Weiteren deutlich Kalsbach, Die gerichtliche Nachprüfung von Maßnahmen der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren, 1967, S. 96 („Innerhalb der Grenzen des Legalitätsprinzips hat der Verletzte ein materielles öffentliches Recht darauf, daß die StA seinem Antrag auf Erhebung der öffentlichen Klage stattgibt, wenn die Ermittlungen genügenden Anlass hierzu bieten [§ 170 I]. Dieses Recht ist grundsätzlich bereits in § 172 anerkannt.“); Maiwald, GA 1970, 33 (52) (Verletzter habe „einen über den gleichsam anonymen Strafanspruch des Staates hinausgehenden, persönlichen Genugtuungsanspruch“); etwas vage Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, 14. Aufl. 2018, Rn. 344 (auch „Schutz des Verletzten, der ein Interesse daran hat, dass die Straftat, deren Opfer er geworden ist, tatsächlich auch verfolgt wird“) u. ähnl. Jans, Die Aushöhlung des Klageerzwingungsverfahrens, 1990, S. 12 (auch „Durchsetzung der Interessen des Verletzten“). 124 Arg. ex § 173 Abs. 3 StPO: Das OLG kann Ermittlungen zum hinreichenden Tatverdacht anordnen (vgl. etwa HK-GS/Pflieger/Ambos, 4. Aufl. 2017, § 173 Rn. 2). Soweit ersichtlich ist, dass diese den hinreichenden Tatverdacht erwarten lassen, wird das OLG Ermittlungen veranlassen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 173 Rn. 3 m.w.N.). 125 Vgl. § 175 StPO. 126 Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 124), § 172 Rn. 10.

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einem Rechtsgut verletzt127 bzw. „in … berechtigten Interessen so beeinträchtigt ist, dass sein Verlangen nach Strafverfolgung einem als berechtigt anzuerkennenden Vergeltungsbedürfnis entspringt“128. So geht auch die jüngere höchstrichterliche Rechtsprechung davon aus, dass die aktuelle Verfassungsrechtsprechung dazu „verpflichtet …, bei der Durchführung des Klageerzwingungsverfahrens nach den §§ 172 ff. StPO die Erfüllung“ eines „Anspruch[s] des Bürgers auf effektive Strafverfolgung“, der eine „Konkretisierung der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 und 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG dar[stellt]“, „zu kontrollieren“.129 Soweit demgegenüber nicht selten recht apodiktisch, jedenfalls aber in einer sachlich-verkürzenden Weise behauptet wird, das Klageerzwingungsverfahren diene (ausschließlich) der Absicherung des Legalitätsprinzips,130 lässt sich so weder erklären, weshalb lediglich ein begrenzter Personenkreis das Klageerzwingungsverfahren in Gang setzen kann, noch, weshalb für die Fälle der Delikte ohne individuellen Verletzten kein Popularklageverfahren vorgesehen ist.131 Was nun die Qualität dieser im Raum stehenden Rechte angeht, so erscheint es notwendig, von verfassungsrechtlichen subjektiven Rechten auszugehen. Denn ein vorfindliches subjektives Recht auf Ermittlungen bzw. Klageerhebung konkurriert mit den (subjektiven), verfassungsrechtlich garantierten Freiheitsrechten des Straftäters132. Es muss, denkt man es sich als den Klageerzwingungsverfahrensregeln vorgelagert und insoweit unabhängig von diesen, vor den Rechten des Beschuldigten als solches bestehen können. Begründen lassen sich solche Rechte jedoch nicht generalpräventiv. Alle diesbezüglichen Ansätze müssen auf kaum überwindbare Schwierig127

Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 124), § 172 Rn. 9 m.w.N. Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO II, 1957, § 171 Rn. 12 m.w.N.; zust. Roxin/ Schünemann (Fn. 122), § 41 Rn. 5 („heute überwiegende Meinung“); krit. LR/GraalmannScheerer, StPO, 27. Aufl. 2018, § 172 Rn. 48. Vgl. hier unter rechtshistorischer Perspektive noch Hall/Hupe, JZ 1961, 360 (362) mit Bezug auf die Materialien zur StPO (Hahn, Die gesamten Materialien zur StPO, 1888). Des Weiteren Maiwald, GA 1970, 33 (52), der die oben im Haupttext genannte Definition als Umschreibung eines in der rechtsgüterschützenden Funktion der Strafrechtsordnung wurzelnden „persönlichen Genugtuungsanspruch[s]“ sieht. 129 OLG Bremen StV 2018, 268 (270) auf BVerfG NJW 2015, 150 (= StV 2015, 203) u. 3500; NStZ-RR 2015, 347 bezugnehmend; zust. Zöller, StV 2018, 274 (275) unter vergleichendem Verweis auf die „,positive obligations‘“, die der EGMR aus Art. 2 Abs. 1 EMRK ableitet (hierzu näher ders., in: FS Kühne, 2013, S. 629 [632 ff.]). Vgl. schließlich auch BVerfGE 116, 1 (11) („Das Grundgesetz garantiert umfassenden Rechtsschutz nur zu dem Zweck des Schutzes subjektiver Rechte …“) sowie v. Münch/Kunig/Krebs, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 19 Rn. 64 ff. u. Maunz/Dürig/Schmidt/Aßmann, GG, 72. Lfg. Juli 2014, Art. 19 Abs. 4 Rn. 116 dazu, dass aus verfassungsrechtlicher Perspektive die Einräumung einer Gerichtsschutzgarantie i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG ein subjektives Recht voraussetzt. 130 Vgl. etwa LR/Graalmann-Scheerer (Fn. 128), § 172 Rn. 1: „Nach allgemeiner Auffassung dient es [das Klageerzwingungsverfahren] der Kontrolle des Legalitätsprinzips.“). 131 Vgl. insoweit nur MüKo/Kölbel, StPO, 1. Aufl. 2016, § 172 Rn. 2 m.w.N. 132 Dieser Gedanke erinnert an das Schild-Schwert-Problem, s. o. Haupttext bei Fn. 28 und passim. 128

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keiten stoßen, wenn es darum geht, den Kreis der potenziellen Rechteinhaber nachvollziehbar zu begrenzen133. Bereits dieser Aspekt deutet darauf hin, dass es keinen Rückschritt darstellen muss, wenn man im gegebenen Zusammenhang die retrospektive Sicht heranzieht und subjektive Rechte auf Ermittlungen/Strafverfolgung/Anklageerhebung/Bestrafung im Ausgangspunkt auf das – hierzulande in Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG verankerte134 – Schuldprinzip stützt: Nur soweit dem Straftäter seine Tat zum Vorwurf gemacht werden kann, darf der Staat eine Strafe gegen ihn verhängen (nulla poena sine culpa)135. Und gleichzeitig kann nur dort von einem „als berechtigt anzuerkennenden Vergeltungsbedürfnis“136 die Rede sein, wo Vorwerfbarkeit gegeben ist. Die These lautet damit: Bereits dem Schuldprinzip kommt eine subjektive Seite zu, weil seine sachliche Anforderung – Vorwerfbarkeit der Rechtsverletzung (als Voraussetzung staatlicher Strafe) – den rechtfertigenden Grund eines subjektiven Rechts auf Strafermittlung/Strafverfolgung/Anklageerhebung/Bestrafung bildet; eben dieser sachliche Gehalt wird dann prozessual (insbesondere durch das Legalitätsprinzip) weitervermittelt und schließlich durch den (gleichfalls verfassungsrechtlich verankerten) Justizgewährungsanspruch (Art. 19 Abs. 4 GG) in Gestalt eines Klageerzwingungsverfahren aktiviert137. Leitet man nun subjektive Rechte gerichtet auf Ermittlung und eventuell Anklageerhebung vom Schuldprinzip, vermittelt insbesondere über Legalitätsprinzip und Klageerzwingung, ab, so muss ein solches Modell allerdings in der Lage sein, die Beschränkungen von Legalitätsprinzip und Klageerzwingungsverfahren (auf verfassungsrechtlicher Ebene) erklären zu können. Insoweit lassen sich mehrere Fallgruppen unterscheiden. So kann zunächst bei Einstellungsvorschriften, die – wie §§ 153, 153a StPO – auf dem Gedanken geringer oder (anderweitig) kompensierter Schuld beruhen, nicht bzw. nicht mehr von einem berechtigten Vergeltungsbedürfnis des Verletzten gesprochen werden. Umgekehrt verbietet sich eine Bagatelleinstellung (nach § 153 StPO) insbesondere dann, wenn die Schuld sich nach dem Ausmaß der Pflichtwidrigkeit bzw. der verschuldeten Auswirkungen der Tat nicht mehr als erheblich unterdurchschnittlich darstellt138 oder wenn – trotz geringer Schuld – ein öffentliches Verfolgungsinteresse gegeben ist, weil namentlich außergewöhnliche Tatfolgen eingetreten sind, die dem Beschuldigten nicht als verschuldet zuge-

133 Warum sollte bspw. den Angehörigen eines bei einem Raubüberfall ermordeten Geldtransportfahrers ein subjektives Recht auf Ermittlungen etc. zustehen, nicht aber den Kollegen des Toten, die jeden neuen Tag die mit ihrem Beruf verbundenen gesteigerten Gefahren, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, auf sich nehmen? Vgl. schon o. Haupttext zu Fn. 102. 134 BVerfGE 25, 269 (285); auch BVerfGE 20, 323 (331); 50, 125 (133); 50, 205 (214 f.); 128, 326 (376); 123, 267 (413); 133, 168 (197). 135 Vgl. etwa Frisch, NStZ 2013, 249 (250) m.w.N. 136 Oben Haupttext zu Fn. 128. 137 Vgl. erneut Roxin/Schünemann (Fn. 122), § 41 Rn. 2. 138 Vgl. HK-GS/Pfordte (Fn. 124), § 153 Rn. 2.

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rechnet werden können139. Diese Kriterien korrelieren mit einem berechtigten oder zumindest nachvollziehbaren Vergeltungsinteresses des Verletzten. Was § 153a StPO anbelangt, dürfte ein ursprünglich „als berechtigt anzuerkennende[s] Vergeltungsbedürfnis“140 hinfällig werden, wenn der Beschuldigte sich bestimmten Sanktionen unterwirft, die zwar nichtstrafrechtlicher Natur sind, jedoch „der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen“141. Die Privatklage betrifft andererseits Fälle, in denen von dem Verletzten nach Lage der Dinge verlangt werden kann, die Umsetzung seines Genugtuungsinteresses selbst in die Hand zu nehmen.142 Lassen sich die vorstehend in den Blick genommenen Konstellationen auf den gemeinsamen Nenner einer Reduzierung des berechtigten Interesses an staatlicher Strafverfolgung bringen, kommen bei einer Vorschrift wie § 153c StPO dem (staatlichen) Interesse an Strafverfolgung entgegenstehende (überwiegende) öffentliche Interessen ins Spiel, die z. T. „jenseits der Strafrechtspflege liegen“143. Insoweit lassen sich allerdings Vorschriften wie etwa auch § 153d StPO strafprozessual nicht erklären und müssen daher unter strafprozessualem Blickwinkel zwangsläufig auf Bedenken stoßen144. Insbesondere lassen sich Fälle der „Rücksichtnahme auf außerstrafrechtliche, politische Belange, die selbst bei schweren Straftaten durchschlagen können145, nur dann als Frage der Verhältnismäßigkeit der Strafverfolgung146 auswei139 BGHSt 10, 259 (263 f.); HK-GS/Pfordte (Fn. 124), § 153 Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 124), § 153 Rn. 7. 140 O. bei Fn. 128. 141 Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt (Fn. 124), § 153a Rn. 12. 142 Dies tritt besonders klar in Nr. 86 Abs. 2 RiStBV zutage, wo auf die Betroffenheit des „Lebenskreis[es] des Verletzten bzw. darauf abgestellt wird, ob es diesem „zugemutet werden kann“, die Privatklage zu erheben. Ist dies der Fall, kann man nicht davon sprechen, dass die Umsetzung eines subjektiven Rechts auf durch den Staat betriebene Strafverfolgung erforderlich ist. 143 Vgl. SK-StPO/Weßlau/Deiters, 5. Aufl. 2016, § 153c Rn. 1; Bock, GA 2010, 589 (591). 144 Deutlich etwa Rüping, Das Strafverfahren, 3. Aufl. 1997, Rn. 342: „rechtsstaatlich zweifelhaft[]“. 145 Vgl. Bock, GA 2010, 589 (590). 146 Ob die Verfolgung einer ggf. schweren Straftat nach Lage der Dinge die diplomatischen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland oder bestimmte außenpolitische Ziele der Bundesregierung zu stören geeignet ist (vgl. SK-StPO/Weßlau/Deiters [Fn. 143], § 153c Rn. 1), hat nichts damit zu tun, ob die Strafverfolgung des Beschuldigten erforderlich ist oder ob weniger einschneidende Maßnahmen (bspw. ein Disziplinarverfahren) hinreichen; ebenso wenig geht es um das Übermaßverbot: unter Abwägung aller (insoweit einschlägiger) Umstände kann es ohne Weiteres für den Beschuldigten zumutbar sein, mit einem Strafverfahren belastet zu werden (zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Strafverfahren vgl. etwa LR-StPO/ Kühne, 27. Aufl. 2016, Einl. I, Rn. 97 m.w.N.); dass dem Verfahren keine außenpolitischen Erwägungen entgegenstehen, ist damit aber natürlich nicht gesagt. Dass (außen-)politische und rechtliche Erwägungen durchaus auseinanderfallen können, zeigt sich etwa in der Drohnen-Entscheidung des OVG Münster, Urt. v. 19. 3. 2019 – 4 A 1361/15 (mündliche Urteilsbegründung: http://www.ovg.nrw.de/behoerde/presse/pressemitteilungen/11_190319/Muendli che_Urteilsbegruendung.pdf), S. 6 („Die Frage, ob und ggf. in welchen Grenzen Völkerrecht bewaffnete Drohneneinsätze im Jemen zulässt, ist deshalb keine politische Frage, sondern eine

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sen, wenn man erklärt, dass das Anliegen, Gefährdungen des Rechtsfriedens zu vermeiden, auf einer Linie liegt mit der Vermeidung (außen-)politischer Unzuträglichkeiten147. Überzeugender dürfte es sein, dem Umstand, dass strafverfahrensfremde Gesichtspunkte den Ausschlag geben (können), dadurch Rechnung zu tragen, dass man den Betrachtungshorizont konsequent erweitert, um strafrechtliche und außerstrafrechtliche Interessen miteinander ins Verhältnis setzen zu können148. Dies läuft dann auf eine auf das „Interessenabwägungsprinzip“ als „allgemeine[r] Rechtsgrundsatz, der mit sachlogischer Notwendigkeit gilt“149, aufsetzende „überstrafrechtliche Interessenabwägung [hinaus], die gewissen Belangen der staatlichen Ordnung vor kriminalpolitischen Zielsetzungen den Vorrang einräumt“150. Wo dies dann der Fall ist, muss es der Verletzte hinnehmen, dass sein ggf. an sich berechtigtes Interesse an Strafverfolgung durch den Staat nicht umgesetzt wird. Man mag dies (bei verletzten Staatsbürgern) auf staatsvertraglicher Basis bereits damit begründen, dass der Verletzte zwangsläufig auch ein Interesse an der Wahrung der „staatlichen Ordnung“ hat bzw. haben muss, von der er ja schließlich auch profitiert. Insoweit lässt sich eine grundsätzliche Parallelität der auf dem Spiel stehenden staatlichen und individuellen Interessen151 plausibilisieren. Schwerer fällt die Parallelisierung der überstrafrechtlichen Abwägung öffentlicher Interessen auf der Ebene subjektiver Rechte bzw. individueller Interessen, wo es – wie bspw. in der Drohnen-Entscheidung des OVG Münster vergleichbaren (Straf-)Rechtsfällen – um gesellschaftsexterne Verletzte geht. Insoweit wird man jedenfalls das Kriterium der entgegenstehenden überwiegenden Interessen restriktiv zu handhaben haben, um eine substanzielle Entwertung verfassungs- bzw. auch menschenrechtlicher Positionen Verletzter zu vermeiden152. Die Einordnung der Einstellungsoptionen, denen außerstrafrechtliche Belange zugrunde liegen, weist bei alldem eine gewisse Schnittmenge mit der weiteren Rechtsfrage.“) u. passim. Vgl. nunmehr auch die etwas vorsichtigere Schriftfassung bei ebd., (juris-)Rn. 561: „Die Qualifizierung einer Person oder eines Objekts als legitimes militärisches Ziel im Rahmen eines bewaffneten Konflikts oder in Wahrnehmung des Selbstverteidigungsrechts ist keine politische Entscheidung, die einer gerichtlichen Kontrolle von vornherein entzogen wäre, sondern eine Frage des Völkerrechts“. 147 So Rieß, NStZ 1981, 2 (5 f.); anders freilich ders., in: FS Dünnebier, 1982, S. 149 (156). 148 Vgl. insoweit hier nun Rieß, in: FS Dünnebier, 1982, S. 149 (156), wo (einleuchtend) ausgeführt wird, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip „als Bezugspunkt eines individuellen Betroffenen“ bedürfe, „an dessen Belastung sich die ,Verhältnismäßigkeit‘ messen läßt“. 149 Rieß, in: FS Dünnebier, 1982, S. 149 (156 f.). 150 So Bloy, GA 1980, 161 (178); LR-StPO/Beulke, 26. Aufl. 2008, § 153d Rn. 1 m.w.N. spricht von einer „Ausprägung des Notstandsgedankens“. 151 Strafverfolgungsinteresse/-anspruch vs. Interesse an Wahrung staatlicher Ordnung (von der auch der Verletzte profitiert). 152 Somit wird der Rückgriff etwa auf § 153d StPO eher dort angängig sein, wo es um Einzelfallgestaltungen mit Notstandscharakter geht, etwa um die Ermöglichung von Freilassungsaktionen zugunsten Dritter, deren Rechtsgüter bzw. Grund- und Menschenrechte auf dem Spiel stehen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt [Fn. 124], § 153d Rn. 1 i.V.m. § 153c Rn. 15), weniger aber dort, wo dieser letztlich auf die Sanktionierung fortlaufender rechtswidriger Praktiken hinausläuft.

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Frage auf, inwieweit sich aus dem Schuldprinzip subjektive Rechte nicht nur auf Strafverfolgung, sondern auch auf Pönalisierung herleiten lassen. Denn hier wie da stehen Gesichtspunkte im Raum bzw. ggf. entscheidend im Vordergrund, die – anders als bei Einstellungsentscheidungen nach den §§ 153, 153a StPO – nichts mit dem konkreten Fall zu tun haben. Was insoweit die Frage eines subjektiven Anspruchs auf Pönalisierung anbelangt, kommt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zum Tragen: ein bislang noch nicht unter Strafe gestelltes Verhalten, kann mit Blick auf den hierin liegenden Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit von vornherein nur dann mit staatlicher Strafe belegt werden, wenn dies wegen seiner Gefährlichkeit zum Zwecke des Gesellschaftsschutzes unerlässlich ist153. Wesentlich ist dann ferner insbesondere der Rang des vermeintlich zu schützenden Rechtsguts: ist dieses von besonders hohem Rang, steht es dem Gesetzgeber eher offen, insbesondere in Form von Verletzungs-/Gefährdungserfolgsdelikten alle möglichen Begehungsformen unter Strafe zu stellen; geht es um weniger bedeutsame Rechtsgüter oder eher unscharfe Rechtsgüter, ist besonderes Gewicht auf den Handlungsunwert zu legen und es werden dann ggf. nur gesteigert gefährliche Angriffsweisen unter Strafe gestellt werden können154. Aus der Sicht von Personen, die von entsprechenden Verhaltensweisen betroffen sind (und damit im Falle der Pönalisierung Verletzte wären), bedeutet dies, dass ein subjektives Recht auf Pönalisierung jedenfalls dort nicht zum Zuge kommen kann, wo dem Staat nach dem Vorstehenden bereits die Möglichkeit zur Pönalisierung fehlt. Umgekehrt lassen sich die vorstehenden, aus dem Anliegen des Rechtsgüterschutzes anhand von Strafwürdigkeit und -bedürftigkeit unter Begrenzung durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip abgeleiteten (strafrechtlichen) Kriterien als Indiz für die grundsätzliche Richtigkeit eines Verfassungsverständnisses lesen, das davon ausgeht, dass sich die Möglichkeit legitimer Strafrechtssetzung im Bereich des Rechtsguts Leben bzw. menschenwürdebezüglicher Rechtsgüter zu einer Pönalisierungspflicht verdichten kann: Ist die Unerlässlichkeit der Kriminalisierung eines bestimmten Verhaltens festgestellt155, mag die damit eröffnete staatliche Option, durch Androhung von Strafe zu reagieren, etwa dann in eine entsprechende Pflicht umschlagen, wenn das fragliche Verhalten „unverhandelbare“ Rechtsgüter verletzt bzw. gefährdet156 und der einzelne (potenziell) Verletzte dem besonders schutzlos gegenübersteht157. 153

Vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 50 f. Vgl. zum Beispiel Stalking Rackow, GA 2008, 552 (556 ff.) m.w.N. 155 Vgl. o. Fn. 153. 156 In den Fällen der Abwägungsfestigkeit (insbes. auch i.R.d. § 34 StGB) bzw. menschenwürdebezüglichen Rechtsgüter muss die Handlungsfreiheit des Täters nämlich von vornherein zurücktreten. 157 Dieser Gedanke tritt bei konstitutionsbedingter Schutzlosigkeit (Abtreibungsrechtsprechung des deutschen BVerfG) besonders augenfällig hervor, mag aber auch für Fälle organisatorisch-struktureller Unterlegenheit zu plausibilisieren sein, etwa bei Taten von Amtsträgern oder bei Formen organisierter bzw. politischer Kriminalität, die dem Einzelnen aus Machtgefügen heraus gegenübertritt, welche die staatliche Ordnung und damit den – wenn man so will – „Basisschutz“ des Rechts zu erodieren in der Lage sind. 154

Der EuGH und die Strafrechtsdogmatik Grund und Grenzen einer Harmonisierung des Allgemeinen Teils Von Martin Böse

I. Einleitung „Ich bin überzeugt, dass der Gesetzgeber mit Art. 1 Abs. 1 Buchst. 1 der Richtlinie 2002/90 nicht jene unter Strafe stellen wollte, die das Risiko eingehen, einer illegal aufhältigen Person Beihilfe bei der Einreise in das Hoheitsgebiet zu leisten (dolus eventualis) … Diese Form von Vorsatz zielt auf eine Person ab, die die Zuwiderhandlung nicht in vollem Umfang ausführen wollte … Der französische Begriff „sciemment“, der mit den Termini „vorsätzlich“, „absichtlich“ oder auch „willentlich“ ohne Abweichung in die anderen Sprachfassungen der Richtlinie übersetzt wurde, verdrängt per se den Begriff dolus eventualis …“1 Mit diesen Worten skizziert Generalanwalt Yves Bot eine unionsrechtliche Konzeption des Vorsatzes, die das deutsche Strafrecht auf den ersten Blick in seinen Grundfesten erschüttert, indem sie den bedingten Vorsatz (dolus eventualis) aus dem Vorsatzbegriff herausnimmt. Wenngleich der EuGH diese Begriffsbestimmung in seinem Urteil nicht aufgegriffen hat, zeigen die Ausführungen des Generalanwalts, dass sich die unionsrechtlichen Einflüsse auf das Strafrecht der Mitgliedstaaten keineswegs auf die Tatbestände des Besonderen Teils beschränken, sondern auch auf den Allgemeinen Teil erstrecken. Die – zumindest in der Regel vorgenommene – Beschränkung der sekundärrechtlichen Pönalisierungspflicht auf vorsätzliches Verhalten ist ebenso wie die Erfassung von Teilnahme und – zum Teil – auch Versuch zu einem Standardbestandteil von Richtlinien zur Strafrechtsangleichung geworden.2 Vor diesem Hintergrund scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis der EuGH von einem nationalen Gericht ersucht wird, sich zum Inhalt dieser Regelungen im Wege der Vorabentscheidung zu äußern und damit zu klären, ob und inwieweit die unionsrechtlichen Vorgaben es zulassen, dass die Mitgliedstaaten in Bezug auf 1 Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 6. September 2018, Verb. Rs. C-412/17 und C-474/17, Touring Tours und Travel GmbH und Sociedad de Transportes SA, Rn. 137, 138, 142. 2 Überblick bei Stuckenberg, in: Böse (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. 9: Europäisches Strafrecht mit polizeilicher Zusammenarbeit, 2013, § 10 Rn. 8 ff., 20 ff., 36 ff., 44 ff.

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harmonisierte Straftatbestände weiterhin an den Regelungen „ihres“ Allgemeinen Teils festhalten. Der folgende Beitrag geht dieser Frage nach und beginnt mit einer Darstellung des Verfahrens, aus dem das Eingangszitat stammt und das die Probleme einer Harmonisierung des Allgemeinen Teils durch die Unionsgerichte exemplarisch vor Augen führt (II.). Anschließend wird die These, wonach die in den Richtlinien zur Strafrechtsangleichung verwendeten Begriffe aus dem Allgemeinen Teil autonom, d. h. unabhängig von den nationalen Strafrechtsordnungen, auszulegen seien, kritisch hinterfragt und für eine Auslegung der unionsrechtlichen Vorgaben plädiert, die den Mitgliedstaaten substantielle Spielräume bei der Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben zum Allgemeinen Teil belässt (III.).

II. Das Verfahren „Touring Tours“: „Dolus eventualis“ – kein Vorsatz? Ausgangspunkt der weitreichenden Aussagen des Generalanwalts zum Vorsatz war nicht etwa ein Strafverfahren, sondern ein Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht, das dem EuGH mehrere Fragen zur Auslegung des Schengener Grenzkodex3 vorgelegt hatte. Im Kern ging es dabei um die Frage, ob es gegen den Grenzkodex und die darin vorgesehene Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen verstößt, Beförderungsunternehmen zu verpflichten, Ausländer nicht ohne den erforderlichen Pass oder Aufenthaltstitel in das Bundesgebiet zu befördern und zu diesem Zweck vor der Fahrt die Grenzübertrittspapiere aller Fahrgäste zu kontrollieren (vgl. § 63 AufenthG).4 Um diese Verpflichtung unionsrechtlich zu rechtfertigen, hatte der Vertreter der Bundesregierung auf die Richtlinie 2002/90/EG5 und die in dem zugehörigen Rahmenbeschluss 2002/946/JI6 enthaltene Verpflichtung der Mitgliedstaaten hingewiesen, die Beihilfe zur unerlaubten Einreise unter Strafe zu stellen; sei der betreffende Unternehmer von der zuständigen Behörde davon unterrichtet worden, dass seine Busverbindungen bereits zur unerlaubten Einreise genutzt worden seien, und befördere er gleichwohl Ausländer in das Bundesgebiet, ohne die erforderlichen Kontrollmaßnahmen durchzuführen, so verwirkliche er mit bedingtem Vorsatz den Tatbestand der Beihilfe zur unerlaubten Einreise.7 Den Bestimmun3

Verordnung (EG) 562/2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen vom 15. 3. 2006, ABl. EU L 105 vom 13. 4. 2006, S. 1; s. nunmehr Verordnung (EU) 2016/399 vom 9. 3. 2016, ABl. EU L 77 vom 23. 3. 2016, S. 1. 4 BVerwG, Beschl. v. 1. 6. 2017 – 1 C 23/16 [juris]; s. insoweit EuGH, Urt. v. 13. 12. 2018, Verb. Rs. C-412/17 und C-474/17, Touring Tours und Travel GmbH und Sociedad de Transportes SA, Rn. 32. 5 Richtlinie 2002/90/EG zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt vom 28. 11. 2002, ABl. EG L 328 vom 5. 12. 2002, S. 17. 6 Rahmenbeschluss 2002/946/JI zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt vom 28. 11. 2002, ABl. EG L 328 vom 5. 12. 2002, S. 1. 7 Schlussanträge des Generalanwalts (Fn. 1), Rn. 121.

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gen des Grenzkodex wurde mithin die unionsrechtliche Pflicht zur Ahndung der (vorsätzlichen) Einschleusung von Ausländern (vgl. § 96 AufenthG) entgegengehalten. Diesem Argument ist der Generalanwalt seinerseits mit dem Einwand begegnet, ein vorsätzlicher Verstoß liege in derartigen Fällen gar nicht vor, da die unionsrechtliche Kriminalisierungspflicht nur Zuwiderhandlungen erfasse, die mit der Absicht begangen worden seien, die verbotene Handlung vorzunehmen (dolus specialis), nicht aber ein Verhalten, bei dem der Täter nur bewusst ein entsprechendes Risiko eingegangen sei (dolus eventualis).8 Mit dieser Unterscheidung knüpft der Generalanwalt an die französische Doktrin an, wonach der dolus eventualis für eine Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Begehung nicht ausreichend ist, sondern nur eine Strafbarkeit wegen Fahrlässigkeit begründet.9 Das der Argumentation des Generalanwalts zugrunde liegende Verständnis wird in den nachfolgenden Ausführungen deutlich, wonach ein Handeln mit dolus eventualis dadurch gekennzeichnet sei, dass der Täter „aus Leichtsinn, Unvorsichtigkeit oder fahrlässig handelt“10, während der Vorsatz bzw. die verbrecherische Absicht (dolus specialis) zu verneinen sei, wenn der Täter die unrechtmäßige Einreise eines Drittstaatsangehörigen „nur fahrlässig in Kauf nimmt“11. Mit dieser Gleichstellung von dolus eventualis und Fahrlässigkeit wird jedoch die in der deutschen Strafrechtsdogmatik anerkannte Unterscheidung von bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit ignoriert, so dass der Hinweis auf den (vermeintlich) in allen Sprachfassungen eindeutigen Wortlaut12 fehlgeht, denn der deutsche Begriff „vorsätzlich“ schließt auch den bedingten Vorsatz ein.13 Aus den gleichen Gründen verfängt auch der Verweis auf die Systematik (Parallele zu Versuch und Teilnahme, Art. 2 Richtlinie 2002/90) nicht, denn diese Begriffe knüpfen wiederum an die jeweilige Vorsatzkonzeption an, und die These, eine abschreckende Wirkung könnten die vom Rahmenbeschluss geforderten Sanktionen (negative Generalprävention) nur auf denjenigen Täter haben, der die Absicht habe, die verbotene Handlung zu begehen14, erscheint wenig überzeugend, zumal das Unionssekundärrecht an anderer Stelle

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Schlussanträge des Generalanwalts (Fn. 1), Rn. 137. Lelieur/Pfützner/Volz, in: Sieber/Cornils (Hrsg.), Nationales Strafrecht in rechtsvergleichender Darstellung, Allgemeiner Teil, Teilband 3, 2008, S. 678, 681 f.; s. ferner Bouloc, Droit pénal général, 22e édition 2012, Rn. 283. Auch im englischen Recht unterfällt der dolus eventualis nicht dem Vorsatz („intent“), sondern der eigenständigen Kategorie „recklessness“, s. dazu Blomsma, Mens rea and defences in European criminal law, 2012, S. 8 ff., 134 ff.; zur recklessness: Ormerod/Laird, Smith, Hogan and Ormerod‘s Criminal Law, 15th edition, 2018, S. 101 ff. 10 Schlussanträge (Fn. 1), Rn. 138. 11 Schlussanträge (Fn. 1), Rn. 142. 12 Schlussanträge (Fn. 1), Rn. 140 ff. 13 Dies gilt entsprechend für den niederländischen Begriff „opzettelik“, s. zum bedingten Vorsatz im niederländischen Strafrecht: Kelk/de Jong, Studieboek materieel strafrecht, 5. Aufl. 2013, S. 261. 14 Schlussanträge (Fn. 1), Rn. 143. 9

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auch für Fahrlässigkeitstaten abschreckende Sanktionen fordert15. Im Ergebnis ist dem Generalanwalt allerdings darin zuzustimmen, dass nicht jeder Busunternehmer, der seine Fahrgäste in das Bundesgebiet verbringt, ohne vorher deren Reisedokumente zu kontrollieren, zwangsläufig den Tatbestand der Schleusung (§ 96 AufenthG) erfüllt.16 Mit seinen allgemeinen Ausführungen zum dolus eventualis geht der Generalanwalt indes weit über diese – grundsätzlich berechtigten (s. dazu sogleich) – Bedenken gegen die Strafbarkeit des verfahrensgegenständlichen Verhaltens der betreffenden Busunternehmer hinaus. Der EuGH hat von einer Stellungnahme zum strafrechtlichen Vorsatzbegriff abgesehen, da er sich an den Vorlagebeschluss des Bundesverwaltungsgerichts gebunden sah.17 Dieses hatte in Bezug auf die Richtlinie und den zugehörigen Rahmenbeschluss keinen Klärungsbedarf gesehen, weil nach den Grundsätzen der neutralen Beihilfe allein aufgrund der unterbliebenen Kontrolle der Reisedokumente keine Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Schleusung begründet werden könne.18 Auf diese Weise kam es glücklicherweise nicht zu einer Entscheidung, die ein unionsrechtliches Begriffsverständnis zum Vorsatz geprägt hätte, das sich mit dem in einer Reihe von Mitgliedstaaten vorherrschenden Einordnung des dolus eventualis19, aber auch mit einem früheren Urteil des EuGH nicht vereinbaren ließe, wonach auch vorsätzlich handelt, wer den Erfolgseintritt für möglich hält und diesen billigend in Kauf nimmt20. Das Verfahren führt damit deutlich die Gefahren vor Augen, die mit einer Übernahme von Begrifflichkeiten aus den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in das Unionsrecht verbunden sind; dies gilt insbesondere, wenn in einigen Sprachfassungen der Begriff aus der jeweiligen Rechtssprache übernommen wird („vorsätzlich“), in anderen hingegen nicht („sciemment“).21 Derartige begriffliche Unklarheiten finden sich nicht nur in Bezug auf den Vorsatz, sondern auch in

15 Art. 3, 5 Richtlinie 2008/99/EG über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt vom 19. 11. 2008, ABl. EU L 328 vom 6. 12. 2008, S. 28. 16 Schlussanträge (Fn. 1), Rn. 145 f. 17 EuGH (Fn. 4), Rn. 37. 18 BVerwG, Beschl. v. 1. 6. 2017 – 1 C 23/16 [juris] Rn. 24; s. zum Vorsatzausschluss bei neutralen Handlungen: Bergmann, in: Huber (Hrsg.), AufenthG, 2. Aufl. 2016, § 96 Rn. 12, unter Hinweis auf BGHSt 46, 107, 112. 19 S. etwa § 5 Abs. 1 des österreichischen StGB; Cornils in: Sieber/Cornils (Fn. 9), S. 759, 762 f. (Schweden); Jarvers, ebenda, S. 685, 698 (Italien); Manso Porto, ebenda, S. 773, 776 (Spanien); Weigend, ebenda, S. 740, 742 (Polen); Rankinen, European Criminal Law Review 2016, 117, 122 f. (Finnland). 20 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011, Rs. C- 72/11, Afrasiabi, Slg. 2011, I-14308 Rn. 67. Es ist bemerkenswert, dass Generalanwalt Yves Bot auch an diesem Verfahren beteiligt war und in seinen Schlussanträgen die Auffassung vertreten hatte, dass mit den Begriffen „vorsätzlich“ und „wissentlich“ sowohl die vorsätzliche als auch die fahrlässige Begehung erfasst werden sollte, Schlussanträge vom 16. 11. 2011, Rn. 86 ff. 21 Der Code pénal verwendet für Vorsatz den Begriff „intention“ (Art. 121 – 3); in der Doktrin ist daneben der Begriff „dol“ üblich, s. Bouloc (Fn. 9), Rn. 269.

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Bezug auf andere Begriffe des Allgemeinen Teils.22 Das Verfahren und die Schlussanträge des Generalanwalts wecken damit auch grundsätzliche Zweifel, ob es einer Entwicklung unionsrechtlicher Vorgaben zum Allgemeinen Teil des Strafrechts bedarf oder ob die mit der Strafrechtsangleichung verfolgten Ziele nicht auch erreicht werden können, wenn die Regelungen über Vorsatz, Irrtum, Versuch, Anstiftung, Beihilfe etc. nach Maßgabe des jeweils anwendbaren nationalen Strafrechts ausgelegt werden. Mit anderen Worten, die den Ausführungen des Generalanwalts zugrunde liegende Prämisse, wonach diese unionsrechtlichen Begriffe autonom und einheitlich auszulegen sind23, ist auf ihre Tragfähigkeit zu überprüfen.

III. Autonome Begriffsbestimmung oder Verweisung auf das nationale Strafrecht? Auf den ersten Blick erscheint es folgerichtig, dass die in den Rechtsakten zur Strafrechtsangleichung verwendeten Begriffe unionsweit einheitlich ausgelegt werden, denn eine Anknüpfung an die jeweilige nationale Strafrechtsordnung liefe dem mit dem betreffenden Rechtsakt verfolgten Ziel zuwider, das Strafrecht der Mitgliedstaaten zu harmonisieren.24 Mit der Rechtsprechung des EuGH wird gewissermaßen nur das nachgeholt, was eigentlich Aufgabe des Unionsgesetzgebers ist, nämlich für die harmonisierten Deliktsbereiche eine unionsrechtliche Dogmatik des Allgemeinen Teils zu entwickeln.25 Nach Auffassung des EuGH folgen aus dem Gebot zur Wahrung der Einheitlichkeit des Unionsrechts und dem Gleichheitsgrundsatz, dass die Begriffe des Unionsrechts in der Regel in der gesamten Union autonom und einheitlich auszulegen sind, es sei denn, die betreffende Vorschrift26 verweist ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten.27 So hat der EuGH den in einer EU-Verordnung zu Sanktionen gegen den Iran verwendeten Begriff „vorsätzlich“ als unionsrechtlichen Begriff qualifiziert, der autonom auszulegen sei und nach dieser Auslegung auch den bedingten Vorsatz einschließe.28 Andererseits hat der EuGH 22

S. die weiteren Beispiele bei Maiwald, in: Freund/Murmann/Bloy/Perron (Hrsg.), FS Frisch, 2013, S. 1375, 1383 ff. 23 Schlussanträge (Fn. 1), Rn. 141; ebenso Blomsma (Fn. 9), S. 8; Keiler, Actus reus and participation in European criminal law, 2013, S. 3; Satzger, ZIS 2016, 771, 774. 24 Blomsma (Fn. 9), S. 8; Grünewald, JZ 2011, 972, 976; Keiler (Fn. 23), S. 3 f.; Satzger, ZIS 2016, 771, 774. 25 Satzger, ZIS 2016, 771, 774 f., der insoweit für den Erlass einer Rahmenrichtlinie zum Allgemeinen Teil plädiert. 26 S. etwa Art. 3 Abs. 1 Richtlinie (EU) 2017/541 zur Terrorismusbekämpfung vom 15. 3. 2017, ABl. EU L 88 vom 31. 3. 2017, S. 6 („entsprechend ihrer Definition als Straftaten nach den nationalen Rechtsvorschriften“). 27 EuGH, Urt.v. 18. 1. 1984, Rs. C-327/82, Ekro, Slg. 1984, 107 Rn. 11; Urt. v. 19. 9. 2000, Rs. C-287/98, Linster, Slg. 2000, I-6917 Rn. 43; Urt. v. 18. 10. 2011, Rs. C-34/10, Brüstle, Slg. 2011, I-9849 Rn. 25 m.w.N. 28 EuGH, Urt. v. 21. 12. 2011, Rs. C-72/11, Afrasiabi, Slg. 2011, I-14308 Rn. 63 ff.

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in einem anderen Verfahren, in dem es um die Begriffe Vorsatz, Leichtfertigkeit und grobe Fahrlässigkeit bei der Einleitung von Schadstoffen in das Küstenmeer ging, darauf hingewiesen, dass diese Begriffe nicht durch das Gemeinschaftsrecht definiert würden, sondern in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen integriert seien, und sich darauf beschränkt, die grobe Fahrlässigkeit als eine qualifizierte Sorgfaltspflichtverletzung zu definieren und damit den Mitgliedstaaten insoweit einen Umsetzungsspielraum zu belassen.29 Bei dieser Lesart wäre das Fehlen eines unionsrechtlichen Allgemeinen Teils also nicht als Versäumnis, sondern im Sinne einer Selbstbeschränkung des Unionsgesetzgebers zu verstehen, welche die strafrechtsdogmatische Konzeption des Allgemeinen Teils der Gesetzgebung und Rechtsprechung in den Mitgliedstaaten überlässt. Ob und inwieweit das Unionssekundärrecht es den Mitgliedstaaten erlaubt, bei dessen Umsetzung in das innerstaatliche Recht an den bestehenden Regelungen zum Allgemeinen Teil festzuhalten, ist in erster Linie eine Frage der Auslegung der jeweiligen Richtlinie bzw. der darin enthaltenen Vorschriften. Aus der vertraglichen Ermächtigung und der darin angelegten Funktion der Strafrechtsharmonisierung, der bisherigen Gesetzgebungspraxis und dem Vergleich mit der völkervertraglichen Strafrechtsangleichung lassen sich jedoch grundsätzliche Aussagen zur normativen Reichweite der unionsrechtlichen Vorgaben zum Allgemeinen Teil ableiten; aufgrund der unterschiedlichen Ziele der Strafrechtsharmonisierung ist dabei zwischen der Bekämpfung der schweren grenzüberschreitenden Kriminalität (Art. 83 Abs. 1 AEUV) und der Durchsetzung von Unionsrecht (Art. 83 Abs. 2 AEUV) zu unterscheiden. 1. Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität (Art. 83 Abs. 1 AEUV) Das Postulat einer autonomen Auslegung unionsrechtlicher Begriffe wird im Wesentlichen aus dem mit der Strafrechtsangleichung verfolgten Ziel abgeleitet, die Einheitlichkeit des Unionsrechts zu wahren.30 Diese Begründung ist jedoch nichtssagend bzw. zirkelschlüssig, solange offen bleibt, aus welchem Grund eine Vereinheitlichung des Strafrechts (einschließlich des Allgemeinen Teils) anzustreben ist.31 Die Strafrechtsangleichung ist kein Selbstzweck, sondern die insoweit bestehenden Kompetenzen der Union sind funktional auf bestimmte Ziele bezogen. Eine Auslegung der sekundärrechtlichen Vorgaben sollte daher an diesen Zielen ansetzen und fragen, inwieweit ein einheitliches (bzw. harmonisiertes) Verständnis zentraler Begriffe des Allgemeinen Teils erforderlich ist, um diese Ziele zu erreichen. 29 EuGH, Urt. v. 3. 6. 2008, Rs. C-308/06, Intertanko, Slg. 2008, I-4100 Rn. 73 ff.; s. auch die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 20. 11. 2007, ebenda, Rn. 144 (zur Konkretisierung der Sorgfaltspflichten durch das nationale Recht). 30 Grünewald, JZ 2011, 972, 976; Klip, in: ders. (Hrsg.), Substantive Criminal Law of the European Union, 2011, S. 15, 16. 31 Stuckenberg, in: Böse (Fn. 2), § 10 Rn. 70; Vogel, in: Böse (Fn. 2), § 7 Rn. 21.

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Art. 83 Abs. 1 AEUV ermächtigt die Union zur Festlegung eines strafrechtlichen Mindeststandards in Bereichen besonders schwerer Kriminalität, die aufgrund der Art oder der Auswirkungen der Straftaten oder aufgrund der besonderen Notwendigkeit, sie auf einer gemeinsamen Grundlage zu bekämpfen, eine grenzüberschreitende Dimension haben. Der Strafrechtsangleichung wird damit die Funktion zugewiesen, eine gemeinsame Grundlage für die grenzüberschreitende Strafverfolgung innerhalb der Union zu schaffen und dadurch bestehende Hindernisse in der strafrechtlichen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten abzubauen.32 Dieser Zusammenhang zeigt sich besonders deutlich in den Rechtsakten zur Umsetzung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung, in denen auf eine Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit verzichtet wird, soweit der betreffende Deliktsbereich bereits durch unionsrechtliche (oder ggf. auch völkervertragliche) Vorgaben harmonisiert worden ist33, oder auf andere Weise auf harmonisierte Kriminalitätsbereiche Bezug genommen wird34. Die Ausübung der Ermächtigung setzt allerdings nicht zwingend voraus, dass die Harmonisierung zur Verbesserung der grenzüberschreitenden Strafverfolgung notwendig ist, sondern lässt es alternativ genügen, dass die betreffenden Straftaten aufgrund ihrer Art oder Auswirkungen eine grenzüberschreitende Dimension haben. Beide Aspekte lassen sich indes nur schwer trennen, da bei derartigen Taten in der Regel auch ein besonderes Bedürfnis bestehen wird, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu verbessern.35 Dessen ungeachtet folgt aus der Eigenständigkeit beider Alternativen, dass eine Strafrechtsangleichung auch allein auf Art und Auswirkungen der jeweiligen Straftaten gestützt werden kann; die Funktion der Strafrechtsangleichung bestünde in diesem Fall darin, übergreifende Unionsinteressen (gemeinsame fundamentale Werte, z. B. die in der Grundrechte-Charta garantierten Rechte) zu schützen und „sichere Häfen“ für Straftäter zu beseitigen.36 Die Strafrechtsangleichung nach Art. 83 Abs. 1 AEUV entspricht damit in ihrer Finalität weitgehend der entsprechenden Ermächtigung im Rahmen der früheren „dritten Säule“ (Art. 31 EUVa.F.), die ihrerseits auf dem Grundgedanken der völkerrechtlichen Strafrechtsharmonisierung durch deliktsspezifische Übereinkommen

32 F. Meyer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 83 AEUV Rn. 3; Satzger, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 83 AEUV Rn. 3. 33 Art. 2 Abs. 2 Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten vom 13. 6. 2002, ABl. EU L 190 vom 18. 7. 2002, S. 1; Art. 11 Abs. 1 g) i.V.m. Anhang D Richtlinie 2014/41/EU über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen vom 3. 4. 2014, ABl. EU L 130 vom 1. 5. 2014, S. 1. 34 Art. 4 Abs. 1 Rahmenbeschluss 2006/960/JI über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 18. 12. 2006, ABl. EU L 386 vom 29. 12. 2006, S. 89. 35 BVerfGE 123, 267, 410 f. 36 F. Meyer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Fn. 32), Art. 83 Rn. 14 ff.; Vogel, in: Böse (Fn. 2), § 7 Rn. 24.

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(„crime control treaties“) beruhte.37 Zwar zielen diese Verträge in erster Linie darauf ab, die strafrechtliche Zusammenarbeit zwischen den Vertragsstaaten zu erleichtern38, werden aber (zumindest zum Teil) auch von dem Ziel getragen, universelle Werte (Menschenrechte) effektiver zu schützen39. Die materiell-rechtlichen Vorgaben dieser Übereinkommen beziehen sich dabei mitunter auch auf den Allgemeinen Teil, indem die Vertragsstaaten verpflichtet werden, in Bezug auf die harmonisierten Straftaten auch die Teilnahme (Anstiftung, Beihilfe) und den Versuch unter Strafe zu stellen.40 Diese Verpflichtung wird jedoch zum Teil dadurch eingeschränkt, dass sie nur vorbehaltlich der Grundzüge der Rechtsordnung des jeweiligen Vertragsstaates gilt.41 Auf diese Weise soll den Unterschieden der nationalen Strafrechtsordnungen, etwa bei der Abgrenzung von Versuch und (strafloser) Vorbereitung, Rechnung getragen werden.42 Besonders deutlich kommt diese ratio in dem UN-Übereinkommen gegen Korruption zum Ausdruck, wonach der Vertragsstaat Teilnahme und Versuch „in Übereinstimmung mit seinem innerstaatlichen Recht“ als Straftat zu umschreiben hat.43 Allerdings werden die völkerrechtlichen Vorgaben zum Allgemeinen Teil nicht durchgängig derartigen Einschränkungen unterworfen.44 Indes liegt auch nicht ausdrücklich unter einen Vorbehalt gestellten Vorgaben die Vorstellung zu Grunde, dass zentrale strafrechtsdogmatische Begriffe des Allgemeinen Teils nicht durch das Übereinkommen, sondern durch das jeweils anwendbare nationale Recht definiert

37 Böse, in: ders. (Fn. 2), § 4 Rn. 7; F. Meyer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Fn. 32), Art. 83 Rn. 16. 38 Art. 1 Übereinkommen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität vom 15. 11. 2000 (Palermo-Konvention), BGBl. 2005 II S. 956. 39 Art. 2 Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, zum UN-Übereinkommen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität vom 15. 11. 2000, BGBl. 2005 II S. 995. 40 Art. 6 Abs. 1 b) ii) Palermo-Konvention (Fn. 38); s. auch Art. 5 Abs. 2 a) Zusatzprotokoll zum Menschenhandel (Fn. 39). 41 Art. 6 Abs. 1 b) Palermo-Konvention (Fn. 38), Art. 5 Abs. 2 a) Zusatzprotokoll zum Menschenhandel (Fn. 39). 42 McClean, Transnational Organized Crime – A Commentary on the UN Convention and its Protocols, 2007, S. 83 (zu Art. 6 Palermo-Konvention, Fn. 38); s. zu den Zusatzprotokollen: Report of the Ad Hoc Committee on the Elaboration of a Convention against Transnational Organized Crime on the work of its first to eleventh sessions, Addendum, Interpretative notes for the official records (travaux préparatoires) of the negotiation of the United Nations Convention against Transnational Organized Crime and the Protocols thereto, A/55/383/ Add.1, S. 13, 17; s. ferner zu Art. 3 Abs. 1 c) iv) UN-Suchtstoff-Übereinkommen: Commentary on the United Nations Convention against Illicit Traffic in Narcotic Drugs and Psychotropic Substances, New York, 1998, S. 75 f. 43 Art. 27 UN-Übereinkommen gegen Korruption vom 31. 10. 2003, BGBl. 2014 II S. 763. 44 S. zur Teilnahme: Art. 5 Abs. 2 b) Zusatzprotokoll zum Menschenhandel (Fn. 39); Art. 21 des Europarats-Übereinkommens zum Menschenhandel vom 16. 5. 2005, BGBl. 2012 II S. 1108.

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werden.45 Mit anderen Worten, die Vertragsstaaten werden verpflichtet sicherzustellen, dass der Versuch, die Teilnahme etc. nach innerstaatlichem Recht mit Strafe bedroht sind; es bleibt aber Sache des nationalen Gesetzgebers festzulegen, wie diese Begriffe (und damit auch die Reichweite der Strafbarkeit) nach Maßgabe der nationalen Strafrechtsordnung inhaltlich ausgestaltet werden. Der Vergleich mit den völkerrechtlichen Vorgaben zum Allgemeinen Teil lässt es zweifelhaft erscheinen, dass eine unionsrechtliche Harmonisierung des Allgemeinen Teils notwendig ist, um auf der Grundlage von Art. 83 Abs. 1 AEUV weitgehend ähnliche Ziele zu erreichen, vor allem die strafrechtliche Zusammenarbeit zu erleichtern.46 Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass bereits die Harmonisierung der Straftatbestände zu einer Erleichterung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit geführt hat (Verzicht auf die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit). Gegen die Parallele zu der völkervertraglichen Strafrechtsharmonisierung lässt sich freilich einwenden, dass dieser Vergleich die Unterschiede zwischen der völkerrechtlichen Zusammenarbeit und einer supranationalen Kompetenz zur Strafrechtsangleichung nicht angemessen berücksichtigt und die Einbeziehung der „dritten Säule“ in den supranationalen Rahmen und den Integrationsprozess mit einer weitergehenden Strafrechtsharmonisierung verbunden ist, die auch den Allgemeinen Teil einschließt. Allerdings scheint auch der Unionsgesetzgeber der Auffassung zu sein, dass eine Vereinheitlichung insoweit nicht zwingend geboten ist.47 So heißt es in den Schlussfolgerungen des Rates über Musterbestimmungen als Orientierungspunkte für Beratungen im Bereich des Strafrechts in Bezug auf Vorgaben zu Anstiftung, Beihilfe und Versuch: „Die verschiedenen Regelungen der nationalen Rechtsordnungen sollten berücksichtigt werden.“48 Die Entschließung des Europäischen Parlaments zu einem EU-Ansatz im Strafrecht verhält sich zu dieser Frage nicht, erkennt aber ausdrücklich an, dass die Mitgliedstaaten bei Richtlinien über einen gewissen Umsetzungsspielraum verfügen, so dass nicht nur das Unionssekundärrecht, sondern auch dessen Umsetzung in nationale Gesetzgebung den Anforderungen des Be45 S. zur Strafbarkeit der Beteiligung an Korruptionsdelikten (Art. 8 Abs. 3 Palermo-Konvention, Fn. 38) den Legislative Guide for the United Nations Convention against Transnational Organized Crime and the Protocols thereto, S. 62, abrufbar unter https://www.unodc. org/unodc/en/treaties/CTOC/legislative-guide.html (4. 6. 2019); s. zum Vorsatz den erläuternden Bericht zum Europarats-Übereinkommen gegen Menschenhandel, Rn. 228, abrufbar unter https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documen tId=09000016800d3812 (4. 6. 2019). 46 Stuckenberg, in: Böse (Fn. 2), § 10 Rn. 70; s. dagegen Keiler (Fn. 23), S. 4. 47 Rankinen, European Criminal Law Review 2016, 117, 126, 140, mit dem Hinweis, dass die vereinzelte Forderung nach einer präzisen Vorsatzdefinition keinen Widerhall gefunden hat, s. insoweit die Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem Vorschlag für eine Richtlinie zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie, SOC/377 – 15. 20. 2010, S. 9. 48 Rats-Dok. 16542/2/09 REV 2, S. 6.

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stimmtheitsgebotes (lex certa) entsprechen muss.49 Diese Erwägungen sind beispielsweise dadurch aufgegriffen worden, dass der deutsche Gesetzgeber als Tatbestandsmerkmal für den qualifizierten Menschenhandel nicht den unionsrechtlichen Begriff des „schweren Schadens“50 in das deutsche Recht übernommen hat, sondern insoweit an bestehende Qualifikationen (z. B. § 250 Abs. 2 Nr. 3 a) StGB) angeknüpft und das Merkmal über den Begriff der schweren körperlichen Misshandlung präzisiert hat (§ 232 Abs. 3 Nr. 2 StGB).51 Demgegenüber wurde der Begriff des „schweren Schadens“ bei Angriffen auf Informationssysteme52 im materiellen Sinne verstanden und über den „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ (§ 303b Abs. 4 S. 2 Nr. 1 StGB) umgesetzt. Da das Unionsrecht nach dem gegenwärtigen Stand keinerlei Maßstäbe bzw. Ansatzpunkte bereithält, um diese unbestimmten Rechtsbegriffe zu konkretisieren, kann dem Bestimmtheitsgebot nur durch eine Bezugnahme auf das nationale Strafrecht Rechnung getragen werden. Dies ist bei Vorgaben zu erschwerenden Umständen auch deshalb angezeigt, weil die Höhe bzw. Zumessung der Strafe in weiten Teilen in der Regelungskompetenz der Mitgliedstaaten verbleibt. Zum Teil werden den Mitgliedstaaten aber auch bei der Festlegung des strafwürdigen Unrechts kriminalpolitische Spielräume belassen, indem „leichte Fälle“ von der Kriminalisierungspflicht ausgenommen werden.53 Ausweislich der Präambel können die Mitgliedstaaten insoweit festlegen, was nach dem innerstaatlichen Recht als „leichter Fall“ gilt und aus diesem Grund kein Strafunrecht darstellt.54 Diese Erwägungen lassen sich ohne Weiteres auch auf den Allgemeinen Teil übertragen55, so dass für den nationalen Gesetzgeber nicht nur eine Befugnis, sondern sogar eine Pflicht besteht, die im jeweiligen Rechtsakt verwendeten Begriffe (Versuch, Anstiftung, Beihilfe etc.) nach Maßgabe der eigenen Rechtsordnung zu konkretisieren und zu präzisieren. In der Regel verbürgt die Orientierung an der nationalen Strafrechtsdogmatik sogar ein höheres Maß an Rechtssicherheit als eine unionsrechtliche Begriffsbestimmung, da das zuständige Gericht bei der Auslegung und Anwendung an ein gefestigtes und ausdifferenziertes Begriffssystem anknüpfen kann. 49 Entschließung vom 24. 4. 2012 – 2010/2310(INI), A7/0144/2012, unter L.; s. auch Generalanwältin Kokott, Schlussanträge vom 20. 11. 2007, Rs. C-308/06, Intertanko, Rn. 144. 50 Art. 4 Abs. 2 d) Richtlinie 2011/36/EU zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels, ABl. EU L 101 vom 15. 4. 2011, S. 1 51 BT-Drucks. 18/9095, S. 31; s. dazu Böse, KriPoZ 2018, 16, 18. 52 Art. 9 Abs. 4 lit. b) Richtlinie 2013/40/EU über Angriffe auf Informationssysteme vom 12. 8. 2013, ABl. EU L 218 vom 14. 8. 2013, S. 8. 53 Art. 3, 4, 5 und 6 Richtlinie 2013/40/EU über Angriffe auf Informationssysteme vom 12. 8. 2013, ABl. EU L 218 vom 14. 8. 2013, S. 8. 54 Erwägung (11) der Richtlinie, mit Beispielen. 55 Vgl. Klip, European Criminal Law, 3. Aufl. 2016, S. 42 (in Bezug auf den in derselben Bestimmung verwendeten Begriff „vorsätzlich“).

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Dieses Verständnis der unionsrechtlichen Vorgaben, das es den Mitgliedstaaten ermöglicht, auch für die harmonisierten Straftaten an der nationalen Dogmatik des Allgemeinen Teils festzuhalten, wird auch dadurch bestätigt, dass die vertragliche Ermächtigung (Art. 83 Abs. 1 AEUV) auf das Instrument der Richtlinie begrenzt ist, das den Mitgliedstaaten einen Umsetzungsspielraum belässt (Art. 288 Abs. 3 AEUV). Den Mitgliedstaaten wird damit die Möglichkeit eingeräumt, die unionsrechtlichen Vorgaben so umzusetzen, dass es nicht zu inneren Widersprüchen und Verwerfungen innerhalb derselben nationalen Strafrechtsordnung kommt (vertikale Kohärenz).56 In dem kürzlich von der rumänischen Ratspräsidentschaft vorgelegten Bericht zur Zukunft des EU-Strafrechts wird denn auch die Bedeutung dieses Handlungsspielraums und die daraus folgende Notwendigkeit betont, den Mitgliedstaaten eine ausreichende Umsetzungsfrist von mindestens zwei Jahren einzuräumen.57 Zudem ist zum Schutz von wesentlichen Grundsätzen der nationalen Strafrechtsordnung ein Notbremsemechanismus vorgesehen (Art. 83 Abs. 3 AEUV), der nicht dadurch unterlaufen werden darf, dass die dogmatische Begriffsbildung nicht im Wege der Gesetzgebung (die möglicherweise nach Art. 83 Abs. 3 AEUV gescheitert wäre), sondern durch unionsrichterliche Rechtsfortbildung vorgenommen wird.58 Wenngleich der Begriff der „grundlegenden Aspekte“ einer Strafrechtsordnung nicht überdehnt werden darf, so liegt es doch auf der Hand, dass die Lehren des Allgemeinen Teils in einem engen Zusammenhang mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen stehen und aus diesem Grund für die nationale Strafrechtsordnung eine fundamentale Bedeutung haben können.59 Schließlich ist die Strafrechtsangleichung auf den Erlass von „Mindestvorschriften“ beschränkt (Art. 83 Abs. 1 AEUV). Dies bedeutet, dass der Unionsgesetzgeber – und damit auch der EuGH im Wege der Auslegung – nur eine Untergrenze dafür festlegen kann, was nach dem Recht der Mitgliedstaaten „mindestens“ von dem jeweiligen Begriff (Versuch, Anstiftung etc.) umfasst sein muss.60 Die Mitgliedstaaten wären aber weiterhin frei, über dieses Minimum hinauszugehen, indem sie an einer weitergehenden („punitiveren“) Begriffskonzeption festhalten. Dies würde für die zu Beginn zitierten Ausführungen des Generalanwalts bedeuten, dass ein unionsrechtlicher (restriktiver) Vorsatzbegriff, der den dolus eventualis nicht einschließt, die Bundesrepublik Deutschland nicht daran hinderte, im Bereich der Schleusungsdelikte (§§ 96, 97 AufenthG) an dem herkömmlichen, auch den beding-

56 S. das Manifest zur Europäischen Kriminalpolitik, ZIS 2009, 697, 699, 705 f., allerdings vor allem mit Bezug auf die unionsrechtlichen Vorgaben zur Rechtsfolgenseite (Strafrahmen); s. im vorliegenden Zusammenhang Brons, Binnendissonanzen im AT, 2013, S. 165 ff. 57 Rats-Dok. 9318/19, S. 10. 58 Vgl. Böse, Common Market Law Review 48 (2011), 189, 200 f. 59 S. zur Straflosigkeit des untauglichen Versuchs nach italienischem Recht: Maiwald in: FS Frisch (Fn. 22), S. 1381. 60 Weißer, GA 2014, 433, 451.

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ten Vorsatz umfassenden Begriffsverständnis des deutschen Strafrechts festzuhalten.61 Die an der bisherigen Gesetzgebungspraxis geübte Kritik, die formelhafte Verwendung allgemeiner Begriffe des Allgemeinen Teils führe nur zu einer „Scheinharmonisierung“62, geht daher in zweifacher Hinsicht fehl: Einerseits wird verkannt, dass – wie im Völkerrecht – dem nationalen Gesetzgeber vorgegeben wird, dass die innerstaatlichen Vorschriften über den Versuch, die Teilnahme etc. auf den harmonisierten Deliktsbereich Anwendung finden und die Entscheidung über das „Ob“ der Strafbarkeit nicht mehr im Belieben des nationalen Gesetzgebers steht. Andererseits wird bei dieser Kritik ausgeblendet, dass harmonisierte Mindestvorgaben nicht zu einem einheitlichen Begriffsverständnis führen, solange die Mitgliedstaaten über die unionsrechtliche Konzeption hinausgehen können.63 Die systembildende Kraft einer solchen „Untergrenze“ ist vielmehr von vornherein begrenzt, da sie aufgrund ihrer Offenheit „nach oben“ zu einer trennscharfen Begriffsbildung nicht in der Lage ist. Soweit der Unionsgesetzgeber von Begriffsbestimmungen abgesehen hat, müsste auch die Auslegung durch den EuGH an einer rechtsvergleichenden Analyse der Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten ansetzen64, so dass sich die Frage nach dem Mehrwert stellt, die eine auf dieser Grundlage gewonnene „Untergrenze“ gegenüber einer Auslegung hat, die von vornherein auf die einschlägigen Regelungen des jeweiligen Mitgliedstaates verweist. Dabei ist einzuräumen, dass eine einheitliche Auslegung dogmatischer Begriffe im Einzelfall dazu führen mag, dass ein Mitgliedstaat im harmonisierten Bereich nicht mehr an dem innerstaatlichen Begriffsverständnis festhalten kann. In diesem Fall stellt sich allerdings wiederum die Frage, ob eine solche Vorgabe tatsächlich notwendig ist, um die mit der Strafrechtsangleichung verfolgten Ziele zu erreichen. Konkret: Ist die unionsweite Strafbarkeit des untauglichen Versuchs65 notwendig, um die grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei der Verfolgung der betreffenden Straftaten zu erleichtern? Auch wenn dem Unionsgesetzgeber bei der Beurteilung, inwieweit eine Harmonisierung notwendig ist, ein Spielraum zusteht, sollte die Bedeutung des Allgemeinen Teils für die Effektivität der Verfolgung der grenzüberschreitenden Kriminalität nicht überschätzt werden.66 61

Dies bestätigt zugleich die These des BVerwG sowie des EuGH, dass die (strafbewehrten) Pflichten des Busunternehmers nicht durch die Richtlinie, sondern allein durch den Schengener Grenzkodex begrenzt werden können (s. oben II.). 62 Satzger, in: Böse (Fn. 2), § 2 Rn. 38. 63 S. auch Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. 2015, § 8 Rn. 38, § 11 Rn. 6. 64 Ambos, in: Klip (Fn. 30), S. 227, 229 ff.; s. beispielhaft die Arbeiten von Blomsma (Fn. 9) und Keiler (Fn. 23). 65 Vgl. das Beispiel bei Satzger, in: Böse (Fn. 2), § 2 Rn. 38. 66 Stuckenberg, in: Böse (Fn. 2), § 10 Rn. 70, mit dem überdies berechtigten Hinweis, dass Unterschiede im Strafprozessrecht einen ungleich größeren Einfluss auf die Strafverfolgungspraxis haben.

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Abschließend spricht noch die folgende Überlegung gegen eine Auslegung der Rechtsakte zur Strafrechtsangleichung, wonach der EuGH den Mitgliedstaaten über die Auslegung autonomer Begriffe des Unionsrechts Vorgaben für die nationale Strafrechtsdogmatik entwickeln kann. Eine solche Auslegung nähme den Mitgliedstaaten nicht nur den Ermessensspielraum, die Voraussetzungen für eine Versuchsstrafbarkeit nach dem innerstaatlichen Recht festzulegen, sondern auch die Befugnis, Ausnahmen von der Versuchsstrafbarkeit (z. B. den Rücktritt, § 24 StGB) vorzusehen.67 Ein solches Verständnis widerspricht indes der bisherigen Umsetzungspraxis, wonach auch für den harmonisierten Bereich davon ausgegangen wird, dass die unionsrechtliche Kriminalisierungspflicht die Anwendung der allgemeinen Rechtfertigungs-, Entschuldigungs- und Strafaufhebungsgründe keineswegs ausschließt.68 Für eine solche Auslegung der sekundärrechtlichen Vorgaben spricht auch der Umkehrschluss aus den Bestimmungen, mit denen diese nationalen Vorschriften etwa dadurch modifiziert werden, dass das Einverständnis des Opfers mit Blick auf das tatbestandliche Unrecht für unerheblich erklärt wird.69 Noch deutlicher zeigen sich die den Mitgliedstaaten belassenen Spielräume bei den Regelungen zur Teilnahme, die sich gleichermaßen an Rechtsordnungen mit einem Einheitstätermodell wie an solche richtet, die nach der Art der Tatbeteiligung differenzieren.70 Auf diese Weise können die harmonisierten Straftatbestände in die nationalen Strafrechtsordnungen eingebettet werden71, während ein unionsrechtlicher Allgemeiner Teil für den harmonisierten Bereich zu erheblichen Verwerfungen und unter Umständen sogar dazu führen könnte, dass in ein und demselben Strafverfahren zwei Allgemeine Teile Anwendung fänden.72

67

Zweifelnd Satzger, in: Böse (Fn. 2), § 2 Rn. 38. Klip, European Criminal Law (Fn. 55), S. 229; Miettinen, Criminal Law and Policy in the European Union, 2013, S. 135. 69 Art. 2 Abs. 4 Richtlinie 2011/36/EU zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels vom 5. 4. 2011, ABl. EU L 101 vom 15. 4. 2011, S. 1; s. dagegen Art. 8 Richtlinie 2011/93/EU zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornographie vom 13. 12. 2011, ABl. EU L 335 vom 17. 12. 2011, S. 1, berichtigt durch ABl. L 18 vom 21. 1. 2012, S. 7. Dort wird den Mitgliedstaaten bei sexuellen Handlungen Minderjähriger, die auf gegenseitigem Einverständnis beruhen, ein Ermessensspielraum zugestanden und die in den vorangehenden Vorschriften begründete Kriminalisierungspflicht insoweit eingeschränkt. 70 Vgl. die entsprechende Kritik bei Grünewald, JZ 2011, 972, 975; Satzger, ZIS 2016, 771, 774; Weißer, GA 2014, 433, 451. 71 Tiedemann, NJW 1993, 23, 27; Sieber, ZStW 121 (2009), 1, 47 f. 72 Stuckenberg, in: Böse (Fn. 2), § 10 Rn. 70; Weigend, in: Schünemann/Achenbach/Bottke/Haffke/Rudolphi (Hrsg.), FS Claus Roxin, 2001, S. 1375, 1380 f.; s. auch Grünewald, JZ 2011, 972, 976. 68

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2. Durchsetzung von Unionssekundärrecht (Art. 83 Abs. 2 AEUV) Eine weitergehende Harmonisierung, die sich auch auf eine Vereinheitlichung des Allgemeinen Teils erstreckt, könnte sich aus Rechtsakten ergeben, die auf die strafrechtliche Annexkompetenz gestützt worden sind, um die wirksame Durchführung der Unionspolitiken zu gewährleisten (Art. 83 Abs. 2 AEUV). Dafür könnte zum einen sprechen, dass die Annexkompetenz an bereits harmonisierte Verhaltensnormen anknüpft und sich daraus auch eine größere Harmonisierungsdichte für die strafrechtlichen Vorgaben ergeben könnte. Eine weitergehende Angleichung des Allgemeinen Teils könnte aber auch auf das mit der Annexkompetenz verfolgte Ziel gestützt werden, das Unionsrecht effektiv durchzusetzen.73 Was den ersten Punkt angeht, so ist zunächst festzuhalten, dass die Strafrechtsangleichung nach Art. 83 Abs. 2 AEUV akzessorisch zu Verhaltensnormen ist, die bereits auf der Grundlage einer anderen Unionskompetenz normiert worden sind. Diese sekundärrechtlichen Verhaltensnormen können unmittelbar in einer Verordnung festgelegt worden sein74, unter Umständen aber auch in einer Richtlinie, die erst durch die Umsetzung in innerstaatliches Recht für den Einzelnen verbindlich wird. Jedenfalls soweit sich diese unionsrechtlichen Verbote aus einer Verordnung ergeben, ist es den Mitgliedstaaten grundsätzlich verwehrt, die Verbotsnorm durch innerstaatliches Recht zu erweitern, d. h. es handelt sich insoweit nicht um einen Mindeststandard, sondern um eine „Vollharmonisierung“, die konsequenterweise auch den Erlass weitergehender nationaler Strafvorschriften ausschließt.75 Exemplarisch sei an dieser Stelle nur auf die Frage verwiesen, ob und inwieweit die abschließende Festlegung der unionsrechtlichen Verbote im Bereich des Kapitalmarktrechts es ausschließt, nach deutschem Recht auch die Marktmanipulation durch Unterlassen (§ 119 Abs. 1 WpHG i.V.m. § 13 StGB) mit Kriminalstrafe zu ahnden.76 Das Unionsrecht legt also nicht nur eine Untergrenze (strafrechtlicher Mindeststandard), sondern auch eine Obergrenze (Harmonisierung der tatbestandlichen Verbotsnorm) fest. Der Spielraum des nationalen Strafgesetzgebers beschränkt sich mithin darauf festzulegen, unter welchen Voraussetzungen ein Verstoß gegen das unionsrechtliche Verbot so schwer wiegt, dass es mit Kriminalstrafe zu ahnden ist.77 73 Vgl. insoweit zu den Unterschieden zu Art. 83 Abs. 1 AEUV: F. Meyer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Fn. 32), Art. 83 AEUV Rn. 63 f. 74 S. etwa die Verordnung (EU) Nr. 596/2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung) vom 16. 4. 2014, ABl. EU L 173 vom 12. 6. 2014, S. 1. 75 S. auch zur früheren Marktmissbrauchsrichtlinie Klip, European Criminal Law (Fn. 55), S. 182. 76 S. dazu einerseits Bator, BKR 2016, 1 ff., andererseits Böse, wistra 2018, 22 ff. 77 Vgl. Art. 3 Abs. 1, 4 Abs. 1, 5 Abs. 1 Richtlinie 2014/57/EU vom 16. 4. 2014 über strafrechtliche Sanktionen bei Marktmanipulation vom 16. 4. 2014 (Marktmissbrauchsrichtlinie), ABl. EU L 173 vom 12. 6. 2014, S. 179, wonach eine unionsrechtliche Kriminalisierungspflicht bei schweren und vorsätzlichen Zuwiderhandlungen besteht.

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Die größere Harmonisierungsdichte, die sich aus der Bezugnahme auf sekundärrechtliche Verhaltensnormen ergibt, lässt indes nicht die Schlussfolgerung zu, dass auch die im Rahmen der Annexkompetenz angenommenen Rechtsakte und die darin enthaltenen Vorgaben zum Allgemeinen Teil einen stärkeren Grad an Harmonisierung oder sogar eine einheitliche strafrechtsdogmatische Begriffsbildung erfordern. Der Grund dafür liegt schlicht und einfach darin, dass sich die größere Harmonisierungsdichte nicht aus der nach Art. 83 Abs. 2 AEUV erlassenen Richtlinie ergibt, sondern aus dem Rechtsakt, mit dem die jeweils einschlägige Verhaltensnorm festgelegt worden ist.78 So ist es zwar keineswegs ausgeschlossen, dass sich auch aus der Auslegung der tatbestandlichen Verbotsnorm Konsequenzen für das – insoweit akzessorische – Strafrecht und dessen Allgemeinen Teil ergeben.79 Die Auslegung der nach Art. 83 Abs. 2 AEUV erlassenen Vorgaben für das Strafrecht der Mitgliedstaaten vermögen sie indes nicht zu determinieren. Dies gilt auch in den Politikbereichen, in denen der Vollzug des Unionsrechts nicht allein den Mitgliedstaaten, sondern ausnahmsweise (auch) der Union obliegt. So ist bei einer Befugnis der Kommission, Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht (Art. 101, 102 AEUV) durch Verhängung einer Geldbuße zu ahnden, die Entwicklung eines Allgemeinen Teils nur folgerichtig, um auf dieser Grundlage eine konsistente und vorhersehbare Sanktionspraxis zu entwickeln.80 Soweit diese Grundsätze aus einer Auslegung des materiellen Unionsrechts gewonnen werden, sind sie auch von den Behörden und Gerichten der Mitgliedstaaten zu beachten; beispielhaft sei insoweit nur auf die strengen Anforderungen des EuGH an einen unvermeidbaren Verbotsirrtum im Wettbewerbsrecht verwiesen.81 Solange die Union noch keine eigene Strafgerichtsbarkeit ausübt, besteht eine solche Notwendigkeit allerdings nicht für das Kriminalstrafrecht, da die entsprechenden Sanktionen weiterhin allein durch die Gerichte der Mitgliedstaaten auf der Grundlage des innerstaatlichen Straf- und Strafverfahrensrechts verhängt werden. Mit der Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft ändert sich daran nichts:82 Zwar wird die sachliche Zuständigkeit für Straftaten gegen die finanziellen Interessen der Union per Verweisung auf die einschlägige Richtlinie festgelegt83, aber das auf die Anklageerhebung folgende Hauptverfahren findet vor dem zuständigen nationalen Gericht nach dem Straf- und Straf78

S. am Beispiel der Marktmanipulation: Böse, wistra 2018, 22, 23 f. Vgl. z. B. zum fehlenden Vorsatzerfordernis bei Verstößen gegen das unionsrechtliche Insiderhandelsverbot: EuGH, Urt. v. 23. 12. 2009, Rs. C-45/08, Spector Photo Group, Rn. 32 ff., und dazu Klip, European Criminal Law (Fn. 55), S. 182. 80 S. dazu Vogel/Brodowski, in: Sieber/Satzger/von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2016, § 5 Rn. 42 ff. m.w.N. 81 EuGH, Urt. v. 18. 6. 2013, Rs. C-681/11, Schenker, NJW 2013, 3083 Rn. 36 ff. 82 S. dagegen Blomsma (Fn. 9), S. 13 f.; Grünewald, JZ 2011, 972, 975 f.; Keiler (Fn. 23), S. 5; Klip, European Criminal Law (Fn. 55), S. 539 f. 83 Art. 22 Abs. 1 Verordnung (EU) 2017/1939 zur Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft vom 12. 10. 2017 (EUStAVO), ABl. EU L 283 vom 31. 10. 2017, S. 1. 79

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verfahrensrecht des betreffenden Mitgliedstaates statt.84 Eine vom nationalen Recht der Mitgliedstaaten unabhängige Sanktionsbefugnis der Europäischen Staatsanwaltschaft besteht hingegen nicht. Um eine unionsweite Vereinheitlichung der Vorgaben zum Allgemeinen Teil zu begründen, ist daher bei der Funktion der Annexkompetenz anzusetzen, mit dem Einsatz des Strafrechts zu einer wirksamen Durchsetzung des Unionsrechts beizutragen. Dass dieser Zweck auch eine weitergehende Harmonisierung gebieten kann als eine Strafrechtsangleichung nach Art. 83 Abs. 1 AEUV, zeigt sich in Vorgaben, die z. B. auch Regelungen zur Verjährung enthalten, um sicherzustellen, dass für die Aufklärung und Verfolgung von Betrügereien zum Nachteil der Union ein ausreichender Zeitraum zur Verfügung steht.85 Soweit sich der Richtlinie keine derartigen Vorgaben entnehmen lassen, bleibt es indes grundsätzlich Sache des nationalen Gesetzgebers zu entscheiden, auf welche Weise er die Richtlinie in das innerstaatliche Strafrecht umsetzt.86 Die Vorgaben zum Allgemeinen Teil (Strafbarkeit von Versuch, Teilnahme etc.) lassen daher auch in diesem Kontext Raum für eine Auslegung, welche es den Mitgliedstaaten ermöglicht, an den dogmatischen Grundlagen ihrer Strafrechtsordnung festzuhalten. In diesem Sinne wurde in dem erläuternden Bericht zu dem Übereinkommen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union, dem Vorläufer der oben genannten Richtlinie, ausdrücklich darauf hingewiesen, dass für die Vorschriften zu Versuch und Beteiligung die Definitionen gelten, die in den strafrechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten enthalten sind.87 Der Umsetzungsspielraum wird allerdings nicht nur durch die sekundärrechtlichen Vorgaben, sondern auch durch die allgemeine Pflicht der Mitgliedstaaten zur effektiven Durchsetzung des Unionsrechts begrenzt. Mit Blick auf den Schutz der finanziellen Interessen der Union ist diese Pflicht in Art. 325 Abs. 1 AEUV dahingehend präzisiert worden, dass die Mitgliedstaaten Betrügereien und andere gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrigen Handlungen mit Maßnahmen bekämpfen, die abschreckend sind und einen wirksamen Schutz bewirken. In der Rechtssache „Taricco“ hat der EuGH festgestellt, dass ein Mitgliedstaat gegen diese Pflicht verstößt, wenn in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen Taten, die einen schweren Betrug zum Nachteil der Union begründen, wegen Eintritts der Verfolgungsverjährung nicht strafrechtlich geahndet werden können.88 Diese Recht84 Art. 36 EUStA-VO; s. auch zur Einstellung und alternativen Verfahrensabschlüssen: Art. 39, 40 EUStA-VO. 85 Art. 12 Richtlinie (EU) 2017/1371 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug vom 5. 7. 2017, ABl. EU L 198 vom 28. 7. 2017, S. 29. 86 EuGH, Urt. v. 5. 12. 2017, Rs. C-42/17, M.A.S. und M.B., Rn. 44 f. 87 Erläuternder Bericht zum Übereinkommen über den Schutz der Finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, ABl. EU C 191 vom 23. 6. 1997, S. 1, 5. 88 EuGH, Urt. v. 8. 9. 2015, Rs. C-105/14, Taricco, Rn. 47; s. auch EuGH, Urt. v. 5. 12. 2017, Rs. C-42/17, M.A.S. und M.B., Rn. 35. Auf die Frage, ob der Vorrang des Unionsrechts (Art. 325 AEUV) damit eine Verjährung nach Maßgabe des innerstaatlichen Strafverfahrens-

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sprechung wurde in der Folgezeit auf eine Regelung im nationalen Strafverfahrensrecht übertragen, wonach ein Ermittlungsverfahren auf Antrag des Beschuldigten einzustellen ist, wenn dieses nicht innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen ist.89 Andererseits hat der EuGH es nicht beanstandet, wenn eine nationale Regelung die Nichtabführung von Umsatzsteuer, für die bereits eine Erklärung abgegeben worden ist, nur mit Sanktionen gegen die steuerpflichtige juristische Person ahndet, ohne zugleich auch deren Organ als natürliche Person zu sanktionieren; der den Mitgliedstaaten insoweit verbleibende Spielraum wurde mit deren verfahrensrechtlicher und institutioneller Autonomie begründet.90 Aus ähnlichen Erwägungen hat es der EuGH abgelehnt, aus Art. 325 Abs. 1 AEUV eine unionsrechtliche Pflicht zur Verwertung von Erkenntnissen aus einer rechtswidrigen Telefonüberwachung abzuleiten, mit der ein strafprozessuales Verwertungsverbot verdrängt würde, da dieses seinerseits auf der unionsrechtlichen Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und zur Wahrung eines rechtsstaatlichen Verfahrens beruhe.91 Die Pflicht zur wirksamen Durchsetzung des Unionsrechts gilt also nicht „um jeden Preis“92, sondern nur dann, wenn die betreffende Regelung des nationalen Rechts die systemische Gefahr begründet, dass Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union ungeahndet bleiben.93 Solche systemischen Mängel weisen die Bestimmungen des Allgemeinen Teils (und die ihnen zu Grunde liegende Dogmatik) in aller Regel nicht auf, was sich wiederum darin bestätigt, dass der Unionsgesetzgeber bislang davon abgesehen hat, die in den einschlägigen Richtlinien verwendeten Begriffe sekundärrechtlich zu konkretisieren. Mit der Aufnahme dieser Begriffe (Versuch, Anstiftung etc.) in das Sekundärrecht werden zwar Ansatzpunkte für die Entwicklung einer unionsrechtlichen Dogmatik des Allgemeinen Teils geschaffen, und darin liegt ein Unterschied zu den allgemeinen Vorgaben, die dem nationalen Gesetzgeber durch das Effektivitätsprinzip gesetzt sind.94 Letztlich ist die strafrechtliche Annexkompetenz (Art. 83 Abs. 2 AEUV) jedoch ebenso wie die allgemeine Loyalitätspflicht (Art. 4 Abs. 3 EUV) als Grundlage des Effektivitätsprinzips auf die Durchsetzung des Unionsrechts bezogen, so dass die oben genannten Erwägungen auch auf die nach Art. 83 Abs. 2 AEUV erlassenen Rechtsakte übertragen werden können. rechts ausschließt oder einer Nichtanwendung der Verjährungsvorschriften das Rückwirkungsverbot entgegensteht, kommt es im vorliegenden Zusammenhang nicht an, s. dazu EuGH, Rs. C-105/14, Rn. 54 ff., und EuGH, Rs. C-42/17, Rn. 45, 58 ff.; s. dazu Wegner, wistra 2018, 107 ff. m.w.N. 89 EuGH, Urt. v. 5. 6. 2018, Rs. C-612/15, Kolev, Rn. 63, 76. 90 EuGH, Urt. v. 2. 5. 2018, Rs. C-574/15, Scialdone, Rn. 51. 91 EuGH, Urt. v. 17. 1. 2019, Rs. C-310/16, Dzivev, Rn. 38 f. 92 Vgl. die pointierte Zuspitzung bei Generalanwalt Bobek, Rs. C-310/16, Rn. 122 f. 93 EuGH, Urt. v. 5. 6. 2018, Rs. C-612/15, Kolev, Rn. 65. 94 S. im vorliegenden Zusammenhang zu den indirekten Kollisionen des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht, in denen sich Ersteres als „Umsetzungsverhinderungsrecht“ erweist: Classen, in: Dünkel/Fahl/Hardtke/Harrendorf/Regge/Sowada (Hrsg.), GS Joecks, 2018, S. 9, 10 f. m.w.N.

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IV. Fazit Nach alledem besteht also Grund, bei der Auslegung unionsrechtlicher Begriffe des Allgemeinen Teils Zurückhaltung walten zu lassen und den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der jeweiligen Richtlinie zur Strafrechtsangleichung einen Ermessensspielraum zu belassen, der es ihnen ermöglicht, an den Grundsätzen und Begriffen der nationalen Strafrechtsdogmatik festzuhalten. Diese Forderung widerspricht dem vom EuGH entwickelten Postulat, dass unionsrechtliche Begriffe einheitlich und autonom auszulegen sind, und es deutet wenig darauf hin, dass der EuGH diese Position aufgeben und die unionsrechtlichen Vorgaben als Verweisungen auf das nationale Recht interpretieren wird. Es wäre aber bereits viel gewonnen, wenn mit einer unionsrechtlichen Begriffsbildung nicht der Anspruch erhoben wird, auf jede Auslegungsfrage zur Dogmatik des Allgemeinen Teils eine unionsweit einheitliche Antwort zu geben, sondern stattdessen einer Auslegung der Vorzug gegeben wird, die den jeweiligen Mitgliedstaat nicht zur Übernahme dogmatischer Begriffe zwingt, die seiner Strafrechtsordnung fremd sind. Dies muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass sich der EuGH jedweder inhaltlichen Aussage zu zentralen Begriffen des Allgemeinen Teils enthält. Es geht vielmehr darum, dass bei der unionsrechtlichen Begriffsbildung die unterschiedlichen Traditionen der Mitgliedstaaten nicht aus dem Blick geraten. Dass die deutsche Strafrechtsdogmatik zur internationalen Diskussion um Grundfragen des Allgemeinen Teils einen substantiellen Beitrag leisten kann, hat Reinhard Merkel für das Völkerstrafrecht mit Recht betont und zugleich angemahnt, die Unterschiede zwischen den Regelungen im Statut über den Internationalen Strafgerichtshof und dem deutschen Völkerstrafrecht offen zu diskutieren und sie nicht durch die vordergründige Behauptung weitgehender inhaltlicher Parallelen zu überdecken.95 Auch im europäischen (besser: europäisierten) Strafrecht können die Standardelemente der nach Art. 83 AEUV erlassenen Rechtsakte nicht darüber hinwegtäuschen, dass man noch weit von einer einheitlichen Strafrechtsdogmatik entfernt ist. Anders als im Völkerstrafrecht, das von dem Internationalen Strafgerichtshof ausgelegt und angewandt wird, ergibt sich daraus jedoch nicht zwangsläufig ein Handlungsbedarf für den Unionsgesetzgeber oder den EuGH. Mit anderen Worten: Bevor darüber diskutiert wird, wie die Voraussetzungen des Versuchs, der Anstiftung, der Beihilfe etc. im Unionsrecht auszugestalten sind, sollte man sich fragen, ob es einer solchen Festlegung durch den Unionsgesetzgeber bedarf. Solange dieser den Mitgliedstaaten einen weiten Umsetzungsspielraum belässt, ist zu hoffen, dass der EuGH auch weiterhin der Versuchung widersteht, sich in strafrechtsdogmatischen Grundsatzfragen mit einer autonomen Begriffsbildung zu positionieren.

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Merkel, ZStW 114 (2002), 437, 447, 454.

IV. Strafrecht Allgemeiner Teil

Auslandsrechtsanwendung, Auslandsrechtsprüfung, Auslandsrechtsberücksichtigung und Auslandsrechtsermittlung im deutschen Strafverfahren Von Peter Mankowski

I. Einleitung Anwendung ausländischen Rechts, Fremdrechtsanwendung im Strafverfahren und durch Strafgerichte? Das muss in den Augen echter Strafrechtler zuerst wie eine große Provokation aussehen. Ist denn nicht die Kognitionskompetenz der deutschen Strafgerichte durch die Anwendung des deutschen Strafrechts begrenzt? Wird nicht gemeinhin1 die Zuständigkeit der deutschen Strafgerichte daran gekoppelt, dass nach §§ 3 – 7 StGB deutsches Strafrecht anwendbar ist,2 weil §§ 3 – 7 StGB Grundlage sowohl für die jurisdiction to prescribe als auch für die jurisdiction to adjudicate seien3 ? Ist damit die causa Fremdrechtsanwendung im Strafprozess nicht schon beendet, bevor sie überhaupt begonnen hat? Indes wissen auch Strafrechtler um das immer stärkere Zusammenwachsen der Welt. Globalisierung und Internationalisierung machen vor dem Strafrecht nicht halt. Straftaten und Strafverfolgung machen an der Grenze des einzelnen Staates nicht halt. Wer wüsste das besser als Strafrechtler? Vor allem aber: Wenn die Fragestellung denn eine Provokation wäre – umso besser und umso geeigneter für eine Festschrift zu Ehren von Reinhard Merkel! Denn der Jubilar hat sich immer einen offenen und erfrischenden Geist bewahrt. Grenzen waren und sind ihm nichts. Er liebt Provokationen nachgerade. Denn sie regen ihn zum Nachdenken und zur gedanklichen Aus1

Zu einem Alternativkonzept mit internationaler Zuständigkeit als eigenständiger Kategorie im Strafprozessrecht Mankowski/Stefanie Bock, JZ 2008, 555. 2 Siehe nur BGHSt 20, 22; BGHSt 34, 1, 3; BGH NStZ-RR 1997, 257; OLG Saarbrücken NJW 1975, 406; Jeßberger, Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts, 2011, S. 115 f.; Löwe/Rosenberg/Heiner Kühne, StPO, Bd. 1: Einl.; §§ 1 – 47 StPO, 27. Aufl. 2016, Einl. E Rn. 5; Ambos, Internationales Strafrecht, 5. Aufl. 2018, § 1 Rn. 4; Bertram Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, Einl. Rn. 211; Thomas Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, Vor §§ 3 – 7 StGB Rn. 1. 3 Deutlich insbesondere Brutscher, Zivilrechtsakzessorietät des Strafrechts bei Sachverhalten mit Auslandsbezug – am Beispiel des § 242 StGB, 2014, S. 41.

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einandersetzung an. Nichts ist für den Jubilar langweiliger als Routine. Einstimmigkeit und allgemeines Konformgehen wären ihm nachgerade verdächtig. Mich verbindet mit Reinhard Merkel ein Jahrzehnt nettester Flurnachbarschaft im zweiten Stock des Hamburger Rechtshauses. Aus dieser langjährigen Verbundenheit heraus hoffe ich auf sein Wohlwollen für die hier versuchte Grenzüberschreitung im doppelten Sinne (zum einen geographisch, zum anderen thematisch).

II. Der Unterschied zwischen Anwenden einerseits und Prüfen bzw. Berücksichtigen ausländischen Rechts andererseits 1. Grundsätzliches Zuerst ist eine Abgrenzung geboten: Man muss deutlich zwischen der eigentlichen, echten Anwendung einerseits und der bloßen Prüfung bzw. Berücksichtigung ausländischen Rechts andererseits unterscheiden.4 Als tragendes Recht ist ausländisches Recht nur dann im eigentlichen Sinne anwendbar, wenn es von einer Rechtsanwendungsnorm, einer Kollisionsnorm, des deutschen Rechts für anwendbar erklärt wird.5 Ohne Rechtsanwendungsbefehl des forumeigenen Kollisionsrechts kann es keine echte Anwendung fremden Rechts geben. Ausländisches Recht ist dem deutschen Recht nur dann Recht, wenn das deutsche Recht selber dieses ausländische Recht als Recht beruft. Als Recht berufen heißt: in Tatbestand und Rechtsfolge berufen.6 Prüfen bzw. Berücksichtigen ausländischen Rechts7 vollzieht sich dagegen inzident und gleichsam „akzessorisch“ im Rahmen des Tatbestands der im eigentlichen Sinne anwendbaren Norm.8 Prüfen ausländischen Rechts ist daher keine Anwendung ausländischen Rechts im strengen, engeren Sinne.9 Berücksichtigen ausländischen Rechts10 4 Siehe nur Dannemann, FS Hans Stoll, 2001, S. 417, 419; Bollée, Mélanges Bertrand Ancel, 2018, S. 203, 205 f. 5 Siehe nur Ohler, Die Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 42 – 47; Böse, in: Nomos Kommentar StGB, Bd. 1: §§ 1 – 79b StGB, 5. Aufl. 2017, Vor §§ 3 ff. StGB Rn. 63. 6 Auf den Punkt Dannemann, Die ungewollte Diskriminierung in der internationalen Rechtsanwendung, 2004, S. 77 f., 92 f.; Bollée, Mélanges Bertrand Ancel, 2018, S. 203, 205. Außerdem Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, S. 349; Jochen Schröder, Die Anpassung von Kollisions- und Sachnormen, 1961, S. 63; Jayme, GS Albert Ehrenzweig, 1976, S. 35, 45; Hans Stoll, FS Kurt Lipstein, 1980, S. 259, 260; Heßler, Sachrechtliche Generalklausel und internationales Familienrecht, 1985; S. 149, 169; Schlechtriem, IPRax 1996, 184. 7 Eingehend dazu Fohrer, La prise en considération des normes étrangères, 2008. 8 Siehe nur Böse, in: Nomos Kommentar StGB, Bd. 1: §§ 1 – 79b StGB, 5. Aufl. 2017, Vor §§ 3 ff. StGB Rn. 63; Marc-Philippe Weller, RabelsZ 81 (2017), 747, 775 f.; Bollée, Mélanges Bertrand Ancel, 2018, S. 203, 205 f.; Matthias Lehmann/Ungerer, YbPIL 19 (2017/2018), 53, 75. 9 Entgegen Mosiek, StV 2008, 94, 98.

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heißt Heranziehen, Einfließenlassen gerade nicht im strengen Sinne anwendbarer Rechtsnormen.11 Art. 17 Rom II-VO macht dies im geltenden IPR deutlich, indem er das Berücksichtigen sogar zum „faktisch Berücksichtigen“ deklariert.12 Auch Art. 9 III Rom I-VO mit seiner besonderen Rechtsfolge „kann Wirkung verliehen werden“ eröffnet Ermessen und zwingt nicht zur unbedingten Anwendung von Eingriffsnormen eines forumfremden Erfüllungsorts.13 Berücksichtigen ist also in der Rechtsfolge ein deutliches Minus zur Anwendung im strengen Sinne.14 Anwenden, Prüfen und Berücksichtigen sind verschiedene Kategorien. Dies ist nicht nur eine terminologische Unterscheidung, sondern sogar zuvörderst eine sachliche. Die Terminologie vollzieht nur nach und setzt nur um, was die Sache gebietet.

Terminologisch unglücklich Ambos, in: Münchener Kommentar StGB, Bd. 1: §§ 1 – 37 StGB, 3. Aufl. 2017, § 7 StGB Rn. 8: Prüfung sei Fremdrechtsanwendung, aber nur deutsches Strafrecht werde angewendet. Ähnlich wie hier Werle/Jeßberger, in: Leipziger Kommentar StGB, Bd. I, 13. Aufl. 2019, Vor § 3 StGB Rn. 350: „Fremdrechtsanwendung in einem weiteren Sinne“ (Hervorhebung hinzugefügt). 10 Noch jenseits dessen ist das etwaige Berücksichtigen ausländischer Rechtsvorstellungen und kultureller Prägungen eine weitere Kategorie. Gerade dem Strafrecht ist sie nicht fremd, besonders prominent mit der Berücksichtigung kultureller Prägungen beim Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe; BGH NJW 1980, 537 einerseits; BGH NJW 1995, 602 andererseits; Versuch eines theoretischen Überbaus bei Grundmann, NJW 1985, 1251; Marc-Philippe Weller, in: Die Person im Internationalen Privatrecht – Liber amicorum Erik Jayme, 2019, S. 53, 65 f. 11 Dannemann, Die ungewollte Diskriminierung in der internationalen Rechtsanwendung, 2004, S. 78. 12 Begründung der Kommission zum Vorschlag für eine Verordnung über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, KOM (2003) 427 endg. S. 25; Betlem/ Bernasconi, (2006) 122 LQR 124, 150; v. Hein, VersR 2007, 440, 446; Leible/Matthias Lehmann, RIW 2007, 721, 725; Dickinson, Rome II Regulation, 2008, Rn. 15,33; Peter Huber/ Bach, Rome II Regulation, 2011, Art. 17 Rome II Regulation Rn. 6; v. Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht II: Besonderer Teil, 2. Aufl. 2019, § 2 Rn. 421; siehe auch Thomas Pfeiffer, Liber amicorum Klaus Schurig, 2012, S. 229, 233 – 236. 13 Siehe nur Freitag, IPRax 2009, 109, 114; Kurt Siehr, RdA 2014, 206, 209 f.; Thomale, EuZA 2016, 116, 124; v. Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht II: Besonderer Teil, 2. Aufl. 2019, § 1 Rn. 966 – 969. Anders indes Thomas Pfeiffer, EuZW 2008, 622, 628; Leible/Matthias Lehmann, RIW 2008, 528, 542; Remien, FS Bernd v. Hoffmann, 2011, S. 334, 345. 14 Thomas Pfeiffer, Liber amicorum Klaus Schurig, 2012, S. 229, 235; Marc-Philippe Weller, in: Die Person im Internationalen Privatrecht – Liber amicorum Erik Jayme, 2019, S. 53, 78.

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2. § 7 I und II Nr. 1 StGB als Beispiele für die Bedeutsamkeit der Unterscheidung Für § 7 I und II Nr. 1 StGB ist die Strafbarkeit nach dem Recht eines ausländischen Tatorts Anwendungsvoraussetzung15 (es sei denn, der Tatort unterläge überhaupt keiner staatlichen Strafgewalt). Ein deutsches Strafgericht ist also gehalten, zu prüfen, ob das ausländische Tatortrecht im konkreten Fall eine Strafbarkeit bejahen würde.16 Es muss das ausländische Tatortrecht dabei aber nicht im strikten, engen Sinn anwenden.17 Denn es prüft das ausländische Tatortrecht eben nur hypothetisch, stützt seinen eigenen Ausspruch jedoch allein auf Normen des deutschen Rechts, niemals auf Normen des ausländischen Tatortrechts.18 Die deutsche Strafnorm ist gleichsam Transformationsregel für die ausländische Strafnorm.19 Sie ist die eigentliche, genauer: die einzige zur Anwendung kommende Sanktionsnorm.20 Dabei ist sie nicht Sekundärnorm,21 sondern Primärnorm. § 7 StGB wiederum ist – wie seine Schwesternormen aus §§ 3 – 6 StGB – einseitige Kollisionsnorm des deutschen Strafrechts.22 Bejaht das deutsche Strafgericht eine hypothetische Strafbarkeit unter dem ausländischen Tatortrecht, so hat es damit noch nicht mehr getan, als eine Tatbestandsvoraussetzung in einem Tatbestand des deutschen Strafanwendungsrechts zu bejahen. Es hat den nötigen, weil vom deutschen Strafanwendungsrecht vorgeschriebenen Abgleich mit dem betreffenden ausländischen Recht vorgenommen.23 Die eigentliche Rechtsanwendung steht dann noch bevor, und diese eigentliche Rechtsanwendung ist Anwen15 Siehe nur Werle/Jeßberger, in: Leipziger Kommentar StGB, Bd. I, 13. Aufl. 2019, § 7 StGB Rn. 23. 16 Mustergültig geschehen durch den GBA in BGH NStZ-RR 2016, 213 = NZFam 2016, 576 m. Anm. Rentsch. Außerdem z. B. RGSt 5, 424; RGSt 27, 135, 136 f.; RGSt 40, 402, 403 f.; RGSt 42, 330, 331 f.; RGSt 54, 249; RGSt 70, 324, 325 f.; BGH NJW 1954, 1086; BGHSt 27, 5, 6 f.; BGH NJW 1997, 334; OLG Celle NJW 2001, 2734; LG Krefeld StV 1984, 317; Ambos, in: Münchener Kommentar StGB, Bd. 1: §§ 1 – 37 StGB, 3. Aufl. 2017, § 7 StGB Rn. 6; Schönke/ Schröder/Eser/Weißer, StGB, 30. Aufl. 2019, § 7 Rn. 4; Werle/Jeßberger, in: Leipziger Kommentar StGB, Bd. I, 13. Aufl. 2019, § 7 StGB Rn. 29. 17 Werle/Jeßberger, in: Leipziger Kommentar StGB, Bd. I, 13. Aufl. 2019, § 7 StGB Rn. 23. 18 Vorbildlich OLG Hamm NStZ 2018, 292 = MMR 2019, 53. 19 Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 1991, S. 112; Böse, in: Nomos Kommentar StGB, Bd. 1: §§ 1 – 79b StGB, 5. Aufl. 2017, § 7 StGB Rn. 14. 20 BGH NJW 1997, 334; Dietrich Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 1993, S. 152; Böse, in: Nomos Kommentar StGB, Bd. 1: §§ 1 – 79b StGB, 5. Aufl. 2017, Vor §§ 3 ff. StGB Rn. 10; Eser/Weißer, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 7 StGB Rn. 18; Werle/ Jeßberger, in: Leipziger Kommentar StGB, Bd. I, 13. Aufl. 2019, § 7 StGB Rn. 23 sowie Pawlik, ZIS 2006, 286 (286 f.); Deiters, ZIS 2006, 472. 21 So aber Böse, in: Nomos Kommentar StGB, Bd. 1: §§ 1 – 79b StGB, 5. Aufl. 2017, Vor §§ 3 ff. StGB Rn. 10. 22 Siehe nur Mankowski/Stefanie Bock, ZStW 120 (2008), 704, 720 mwN. 23 Beispielhaft OLG Hamm NStZ 2018, 292 = MMR 2019, 53 (dazu Lilie-Hutz, FD-StrafR 2018, 407453; Tausch, NJW-Spezial 2018, 538).

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dung allein des jetzt ja kraft § 7 II StGB anwendbaren deutschen Strafrechts. Dies untermauert das Prinzip: Fremdrechtsanwendung im Sinne der unmittelbaren Anwendung ausländischer Strafrechtsnormen ist im geltenden deutschen Strafrecht und vor deutschen Strafgerichten nicht vorgesehen.24 Verneint das deutsche Strafgericht dagegen eine hypothetische Strafbarkeit unter dem ausländischen Tatortrecht, so muss es in der Konsequenz die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts verneinen und nach herrschendem Verständnis die Anklage abweisen. Denn nach herrschendem Verständnis fehlt es bei Nichtanwendbarkeit deutschen Strafrechts an einer Voraussetzung für einen Strafprozess in Deutschland: Das herkömmlich verstandene Zuständigkeitsrecht des deutschen Strafprozesses koppelt die internationale Zuständigkeit der deutschen Strafgerichte eben an die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts und sieht ein Prozesshindernis, wenn deutsches Strafrecht nicht anwendbar ist.25 Anderes kann sich nur ergeben, wenn man die internationale Zuständigkeit als eigenständige Kategorie versteht und – entsprechend dem Grundsatz der Doppelfunktionalität, bekannt aus dem deutschen Internationalen Zivilprozessrecht – mit einer Analogie zu den Regeln über die örtliche Zuständigkeit ausfüllt.26 Im schlussendlichen Ergebnis, dass ein deutsches Strafgericht keine Verurteilung aussprechen würde, trifft man sich dabei wieder mit dem herrschendem Verständnis. Nur würde man nicht durch Prozessurteil abweisen, sondern ein Sachurteil begründen.

III. Anwendungsfelder für eine echte Anwendung ausländischen Rechts in Strafverfahren vor deutschen Strafgerichten 1. Zivilrechtliche Vorfragen a) Materielles Strafrecht Nicht wenige Straftatbestände enthalten indes zivilrechtliche Vorfragen. Die entsprechenden Merkmale des Straftatbestands sind zivilrechtlich determiniert, und das Strafrecht enthält sich einer eigenen, genuin strafrechtlichen Ausfüllung, sondern akzeptiert die Vorgaben des Zivilrechts. Die Beispiele für solche Straftatbestände mit zivilrechtlichen Vorfragen sind zahlreicher, als man intuitiv annehmen würde: §§ 242, 246 StGB („fremd“), § 170 StGB (Unterhaltspflicht), § 172 StGB (Ehe), § 235 StGB (Sorgerecht),27 § 266 StGB (Pflichtenpositionen), § 283 StGB (Insolvenz), § 283b StGB (Buchführungspflicht), § 288 StGB (Pfändung), ja selbst § 263 StGB 24

Werle/Jeßberger, in: Leipziger Kommentar StGB, Bd. I, 13. Aufl. 2019, Vor § 3 StGB Rn. 349; Dannemann, Die ungewollte Diskriminierung in der internationalen Rechtsanwendung, 2004, S. 43. 25 Nachweise in Fn. 1. 26 Mankowski/Stefanie Bock, JZ 2008, 555. 27 BGH NStZ-RR 2016, 213 = NZFam 2016, 576 m. Anm. Rentsch.

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(Forderung als Vermögensbestandteil; Rechtswidrigkeit der beabsichtigten Bereicherung) sind nur die prominentesten im StGB selber.28 Das Nebenstrafrecht wimmelt gar von solchen Straftatbeständen mit zivilrechtlichen Vorfragen, insbesondere im Gesellschaftsrecht.29 Man denke nur an die Diskussion, ob sich Directors einer Limited nach § 266 StGB, § 266a StGB oder § 84 GmbHG strafbar machen können.30 Fremdrechtsanwendung in deutschen Strafverfahren darf man deshalb in der notwendigen Folge nicht unbesehen mit „Anwendung fremden Strafrechts in deutschen Strafverfahren“ gleichsetzen. Denn auch die Anwendung fremden Zivilrechts ist, ganz wörtlich verstanden, Fremdrechtsanwendung. Die Anwendung fremden Zivilrechts muss nicht die entscheidende Hürde überwinden, dass die deutsche Strafjustiz keine Strafansprüche ausländischer Staaten durchsetzt. Denn bei einer Anwendung bloß ausländischen Zivilrechts steht überhaupt kein Strafanspruch eines ausländischen Staates in Rede. Gegen sie gibt es keine Sperrwirkung aus §§ 3 – 7 StGB.31 Vielmehr folgt aus der Einheit der Rechtsordnung: Was zivilrechtlich erlaubt ist, soll nicht strafrechtlich verboten sein;32 und zivilrechtlich erlaubt ist, was die Rechtsordnung unter Einschluss des Internationalen Privatrechts und des nach diesem berufenen Rechts erlaubt.33 b) Strafprozessrecht Zivilrechtliche Vorfragen können sich jedoch nicht nur in Tatbeständen des materiellen Strafrechts stellen. Vielmehr können sie auch in Normen des deutschen Strafprozessrechts auftreten, wie eine vor kurzem erschienene Hamburger Dissertation ein-

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Siehe nur Mankowski/Stefanie Bock, ZStW 120 (2008), 704, 705; Böse, in: Nomos Kommentar StGB, Bd. 1: §§ 1 – 79b StGB, 5. Aufl. 2017, Vor §§ 3 ff. StGB Rn. 63. 29 Siehe nur Mankowski/Stefanie Bock, ZStW 120 (2008), 704, 753 – 757. 30 Siehe nur BGH NStZ 2010, 632 = ZIP 2010, 1233; Rönnau, ZGR 2005, 832; Altenhain/ Wietz, NZG 2008, 569; Radtke, GmbHR 2008, 729; Ransiek/Hüls, ZGR 2009, 157; Weiß, Strafbare Insolvenzverschleppung durch den Director einer Ltd., 2009; Worm, Die Strafbarkeit eines directors einer englischen Limited nach deutschem Strafrecht, 2009; Wietz, Vermögensbetreuungspflichtverletzung gegenüber einer im Inland ansässigen Auslandsgesellschaft, 2009; Pattberg, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Directors einer englischen Limited in Krise und Insolvenz, 2010; Edward Schramm/Hinderer, ZJS 2010, 494; Beckemper, ZJS 2010, 554; Schlösser/Mosiek, HRRS 2010, 424; Rubel/Nepomuck, EWiR 2010, 761; Wegner, GWR 2010, 267; Niels Hoffmann, StRR 2010, 432; Mankowski/Stefanie Bock, GmbHR 2010, 822; Kraatz, JR 2011, 58; Radtke/Rönnau, NStZ 2011, 556. 31 Eingehend Brutscher, Zivilrechtsakzessorietät des Strafrechts bei Sachverhalten mit Auslandsbezug – am Beispiel des § 242 StGB, 2014, S. 71 – 77. 32 BVerfG NJW 2010, 3209 Rn. 96, 130, 139 – 142; LG Düsseldorf NJW 2004, 3275, 3276; Günther Tiedemann/Harro Otto, ZStW 111 (1999), 673, 695; Spickhoff, FS Erwin Deutsch zum 80. Geb., 2009, S. 907, 914; Kraatz, ZStW 123 (2011), 447, 449 f.; Gössl, in: Effer-Uhe/ Hoven/Kempny/Rösinger (Hrsg.), Einheit der Prozessrechtswissenschaft, 2016, S. 127, 128. 33 Gössl, in: Effer-Uhe/Hoven/Kempny/Rösinger (Hrsg.), Einheit der Prozessrechtswissenschaft, 2016, S. 127, 128.

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drucksvoll belegt hat.34 Prominentestes Beispiel sind die Zeugnis- bzw. Aussageverweigerungsrechte für Ehegatten,35 Verlobte und Verwandte. Auch insoweit erfolgt keine eigene strafprozessuale Ausfüllung, sondern macht sich das Strafprozessrecht die Vorgaben des Zivilrechts zu eigen. Typischerweise geht es bei diesen Vorfragen um Statusverhältnisse oder Verwandtschaftsverhältnisse. Es wäre merkwürdig und nicht zu begründen, wenn diese Fragen im Strafprozessrecht eigenständig und anders beurteilt würden als im Zivilrecht. Die Vorstellung, dass es etwas so Kurioses geben könnte wie ein nach Rechtsgebieten getrenntes Verheiratetsein (man könnte dann für die Zwecke des Unterhaltsrechts verheiratet sein, für jene des Strafprozessrechts aber nicht), hat etwas Erheiterndes36 und ist in den Kategorien der Methodenlehre gesprochen ein valides argumentum ad absurdum. Status hat einheitlich Status zu sein, rechtsgebietsübergreifend. 2. Adhäsionsverfahren Eine Sonderrolle spielt wegen seiner zivilrechtlichen Zusammenhänge das Adhäsionsverfahren, das hier dementsprechend gesonderte und besondere Aufmerksamkeit verdient. Denn das Adhäsionsverfahren ist seinem Charakter nach ein zivilrechtliches Schadensersatzverfahren, verlagert vor ein Strafgericht. Bezweckt ist, die Prozessökonomie zu erhöhen, indem ein gesonderter Zivilprozess vor einem Zivilgericht, das sich in den Fall mit entsprechendem Zeit- und Arbeitsaufwand einarbeiten müsste, vermieden wird.37 Außerdem soll so der Opferschutz gefördert werden.38 Die Prozessökonomie kommt aber auch dem Angeklagten und dem Gerichtswesen insgesamt zugute.39 Obendrein wird die Gefahr einander widersprechender straf- und zivilgerichtlicher Entscheidungen zu demselben Sachverhalt vermindert.40 Der Sachzusammenhang wird besser abgebildet.41 Die Trennung zwischen straf- und zivilrechtlicher Erledigung ein und desselben Sachverhalts erscheint vielen Laien sowieso künstlich und unorganisch; das Adhäsionsverfahren überwindet sie.42 Das Strafgericht übt im Adhäsions-

34 Strobel, Internationales Privatrecht in der Strafprozessordnung am Beispiel der §§ 52, 395 und 406 StPO, 2019. 35 Z. B. BGH NStZ-RR 2018, 20 = StV 2018, 557; Ebner/Martin Müller, NStZ 2010, 657. 36 Vgl. Staudinger/Mankowski, BGB, HUP, 2016, Vorbem. HUP Rn. 33. 37 Dölling/Duttge/Stefan König/Rössner/Weiner, Gesamtes Strafrecht, 4. Aufl. 2017, § 403 StPO Rn. 1; Satzger/Schluckebier/Widmaier/Schöch, StPO, 3. Aufl. 2018, Vor § 403 StPO Rn. 1; Dauer, Das Adhäsionsverfahren im Rechtsvergleich, 2018, S. 20, 45; Grau, in: Münchener Kommentar zur StPO, Bd. 3/1: § 333 – 349 StPO, 2019, § 403 StPO Rn. 1. 38 Insbesondere Dauer, Das Adhäsionsverfahren im Rechtsvergleich, 2018, S. 20, 45. 39 Klaus Schroth, Die Rechte des Verletzten im Strafprozess, 3. Aufl. 2018, Rn. 317; Satzger/Schluckebier/Widmaier/Schöch, StPO, 3. Aufl. 2018, Vor § 403 StPO Rn. 1. 40 KMR/Stöckel, StPO, Losebl., Vor § 403 StPO Rn. 1 (Mai 2013). 41 Dauer, Das Adhäsionsverfahren im Rechtsvergleich, 2018, S. 20. 42 Satzger/Schluckebier/Widmaier/Schöch, StPO, 3. Aufl. 2018, Vor § 403 StPO Rn. 1.

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verfahren gleichsam stellvertretende Zivilrechtspflege aus.43 § 404 II 1 StPO misst der Antragstellung im Adhäsionsverfahren die Wirkungen einer Klagerhebung in einem Zivilprozess bei; § 405 I 1 StPO erlaubt den Parteien des Adhäsionsverfahrens sogar einen Vergleich; § 406 II StPO erlaubt ein Anerkenntnis des Angeklagten und führt damit – neben § 405 I 1 StPO – ein weiteres Element der Dispositionsmaxime ein;44 § 406 III 1 StPO stellt die Entscheidung im Adhäsionsverfahren einem zivilgerichtlichen Urteil gleich. Im eigentlichen Adhäsionsverfahren selber kommt es45 nicht zur Anwendung materiellen Strafrechts. Niemand wird aufgrund einer Norm des StGB als Anspruchsgrundlage (dieser Begriff ist hier notwendig in strikt zivilrechtlicher Terminologie zu verstehen) zu Schadensersatz verurteilt. Das StGB enthält überhaupt keine Anspruchsgrundlagen für Schadensersatz. Auch deshalb gibt es § 823 II BGB als Scharniernorm im deutschen Deliktsrecht, damit Straftaten Schadensersatzansprüche des Opfers nach sich ziehen. Selbst eine Verurteilung zur Wiedergutmachung als jugendstraffolgenrechtlicher Wiedergutmachung des Täters gegenüber dem Opfer nach § 15 I 1 Nr. 1 JGG beruht nicht auf einem eigenen, einklagbaren Wiedergutmachungsanspruch des Opfers,46 der mit etwaigen zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen konkurrieren würde. Im Adhäsionsverfahren gelten daher für die Frage, welches Recht bei Auslandsberührung anwendbar ist, die Kollisionsregeln des Internationalen Privatrechts und nicht jene des Internationalen Strafrechts. Das Adhäsionsverfahren koppelt als Zivilprozess die internationale Zuständigkeit nicht an die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts, sondern folgt den eigenen Zuständigkeitsregeln des Internationalen Zivilverfahrensrechts. Artt. 7 Nr. 3 Brüssel Ia-VO; 5 Nr. 4 LugÜbk 2007 statuieren dafür sogar einen eigenen besonderen Gerichtsstand als zusätzliche Option neben dem allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten in dessen Wohnsitzstaat aus Artt. 4 I Brüssel Ia-VO; 2 I LugÜbk 2007.47

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Theresa Wilhelmi, IPRax 2005, 236, 237 (in Anlehnung an Krey); Mankowski, FG Rudolf Machacek und Franz Matscher, 2008, S. 785, 786. 44 BGH 15. 1. 2014 – 4 StR 532/13 Rn. 4; BGH 21. 1. 2014 – 2 StR 434/13 Rn. 12 f.; BGH 7. 11. 2018 – 4 StR 353/18 Rn. 7. 45 Anders als in dem Anklage- oder Privatklageverfahren, an das sich das Adhäsionsverfahren anschmiegt. 46 Siehe nur BGH StV 2017, 713; LG Zweibrücken NStZ 1997, 283; Eisenberg, Jugendgerichtsgesetz (20. Aufl. 2018) § 15 Rn. 6. 47 Zu Artt. 7 Nr. 3 Brüssel Ia-VO; 5 Nr. 4 LugÜbk 2007 näher Christian Kohler, in: Will (Hrsg.), Schadensersatz im Strafverfahren, 1990, S. 74; Schoibl, FS Rainer Sprung, 2001, S. 321; Mankowski, FG Rudolf Machacek und Franz Matscher, 2008, S. 785; ders., in: Magnus/ Mankowski, Brussels Ibis Regulation, 2016, Art. 7 Brussels Ibis Regulation Rn. 399 – 406.

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IV. Ermittlung anzuwendenden oder zu berücksichtigenden ausländischen Rechts Soweit ausländisches Recht eine Rolle spielen kann, stellen sich Folgefragen: Wie ist dieses ausländische Recht zu ermitteln? Welche Quellen sind dafür heranzuziehen? Welche Intensität und welche Tiefe müssen walten? Im Zivilprozess versucht sich § 293 ZPO an Antworten auf diese Fragen. Die Fragen haben Einfluss auf die praktische Durchführbarkeit einer Fremdrechtsanwendung im Strafverfahren.48 1. Anklageverfahren a) Keine ausdrückliche Verweisung der StPO auf die ZPO und § 293 ZPO in Anklageverfahren Die StPO verweist indes nirgends für Anklageverfahren, also gleichsam „echte“ Strafverfahren, auf die ZPO. Nirgends beruft sie insoweit die ZPO explizit zur Ergänzung. Darin unterscheidet sie sich fundamental von VwGO, FGO, SGG und ArbGG. Alle diese Prozessordnungen berufen nämlich ergänzend die ZPO (und als deren Teil § 293 ZPO49), wenn sie selber eine Lücke enthalten: § 173 S. 1 VwGO; § 155 S. 1 FGO; § 202 S. 1 SGG; § 46 II 1 ArbGG. Die StPO enthält dagegen keine solche Brückennorm.50 Mangels Verweisung auf die ZPO überhaupt kann in einem Anklageverfahren daher auch § 293 ZPO als Teil der ZPO nicht direkt zur Anwendung kommen. Andererseits hat der BGH Fragen nach der Rechtslage in einem ausländischen Staat als Rechtsfragen eingestuft, welche der eigenständigen Beurteilung durch den BGH als deutsches Revisionsgericht unterliegen.51 Daraus wird eine Revisibilität ausländischen Rechts unter § 337 StPO abgeleitet.52 Ob das Revisionsgericht zur Überprüfung der Anwendung und Feststellung ausländischen Rechts berechtigt ist oder nicht, hängt stets davon ab, ob nach der Formulierung der jeweiligen Prozessnorm die Revision nur auf die Verletzung von Bundesrecht oder – ganz allgemein – auf die Verletzung

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Vgl., kritisch, Mosiek, StV 2008, 94, 99. Siehe nur BFHE 260, 312 Rn. 33 mwN = BStBl. II 2018, 444 = BB 2018, 687 m. zust. Anm. Sebastian Heß = HFR 2018, 324 m. zust. Anm. Baldauf; BFH BFH/NV 2018, 440 Rn. 37; Binnewies/Estevez Gomez, AG 2018, 219; Norbert Mückl, DStR 2018, 119; Böing/ Dokholian, EStB 2018, 87; Michael Wendt, BFH/PR 2018, 123; Aweh, AO-StB 2018, 119; Florian Haase, BB 37/2018, I. 50 Siehe nur Strobel, Internationales Privatrecht in der Strafprozessordnung am Beispiel der §§ 52, 395 und 406 StPO, 2019, S. 327 mwN. 51 BGHSt 52, 67 Rn. 45 = NJW 2008, 595 m. Anm. Rübenstahl = JZ 2008, 366 m. Anm. Heger (dazu Schlegel, jurisPR-SozR 5/2008 Anm. 6; Trüg, IBR 2008, 298). 52 Vallender/Felix Fuchs, FS Bruno M. Kübler, 2015, S. 731, 735; Gössl, in: Effer-Uhe/ Hoven/Kempny/Rösinger (Hrsg.), Einheit der Prozessrechtswissenschaft, 2016, S. 127, 136 – 138. 49

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einer Rechtsnorm gestützt werden kann.53 Im letzteren Sinn ist § 337 StPO formuliert (ebenso wie § 73 ArbGG). Im Strafprozessrecht54 wird daraus jeweils ganz konsequent auf die Revisibilität heranzuziehenden ausländischen Privatrechts geschlossen (ebenso wie parallel im Arbeitsprozessrecht55). § 293 ZPO befasst sich vorrangig mit den Modalitäten für die Ermittlung anwendbaren ausländischen Rechts.56 Er weist im Zivilprozess einem anwendbaren Auslandsrecht eine Art Zwitterstellung zu: Zwar ist ihm dieses Auslandsrecht Recht, nicht Tatsache.57 Aber trotzdem ist Auslandsrecht zu beweisen. Es ist sozusagen „besonderes“ Recht. Bei ihm kann man nicht mit der Unterstellung „iura novit curia“ arbeiten.58 Bei ihm kann man nicht voraussetzen, dass die an einem Prozess in Deutschland Beteiligten es kennen, weil sie es gelernt haben und weil es ihnen sprachlich wie systematisch zugänglich ist.59 Indes greift keine objektive oder subjektive Beweislast im strikten Sinne.60 Es waltet ein Freibeweisverfahren,61 und die Parteien eines Zivilprozesses trifft 53 Mankowski, in: Christian v. Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht I: Allgemeine Lehren, 2. Aufl. 2003, § 5 Rn. 107. 54 RGSt 10, 285, 287; RGSt 57, 48; BGH GA 1976, 218; BayObLG VRS 29, 354; BayObLG NJW 1972,1222; KMR-Momsen, StPO (Losebl.) § 337 StPO Rn. 3; Franke, in: Löwe/ Rosenberg, StPO, Bd. 7/2 §§ 312 – 373a StPO 26. Aufl. 2013, § 337 StPO Rn. 8; Kuckein, in: Karlsruher Kommentar zur stopp (8. Aufl. 2019) § 337 StPO Rn. 8; Temming, in: Heidelberger Kommentar zur StPO (6. Au, 6. Auflage 2019) § 337 StPO Rn. 4; Schmitt, in: MeyerGoßner/Schmitt, StPO (62. Aufl. 2019), § 337 StPO Rn. 2; Gerd Pfeiffer, StPO (5. Aufl. 2005), § 337 StPO Rn. 2. 55 BAGE 27, 99 = AP Int. Privatrecht Arbeitsrecht Nr. 12 m. zust. Anm. Beitzke, ebd., Bl. 7, 8R (Jan. 1976) = MDR 1975,874; BAGE 63, 17; RAG ARS 15, 307, 309 f. m. zust. Anm. Dersch, ebd., 319, 320; RAG ARS 17, 28 m. zust. Anm. Volkmar, ebd., 34, 35; Gamillscheg, Internationales Arbeitsrecht, 1959, S. 330 Nr. 371; ders., AP Int. Privatrecht Arbeitsrecht Nr. 10 Bl. 3 R. 4 R (März 1968); Grunsky, ArbGG (8. Aufl. 2014) § 73 ArbGG Rn. 12; Matthias Jacobs/Frieling, ZZP 127 (2014), 137, 142; Müller-Glöge, in: Germelmann/ Matthes/Prütting, ArbGG, 9. Aufl. 2017, § 73 ArbGG Rn. 6; Düwell, in: Düwell/Lipke, Arbeitsgerichtsverfahren, 3. Aufl. 2012 (3. Aufl. 2012) § 73 ArbGG Rn. 23; vgl. auch BAG NZA 2016, 473 Rn. 41. 56 Dazu monographisch zuletzt Michael Stürner/Franziska Krauß, Ausländisches Recht im deutschen Zivilverfahren, 2018. 57 Siehe nur BGHZ 36, 348, 353; Mankowski, in: v. Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht I: Allgemeine Lehren, 2. Aufl. 2003, § 5 Rn. 75; Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Auf. 2006, S. 212; Trautmann, Europäisches Kollisionsrecht und ausländisches Recht im nationalen Zivilverfahren, 2011, S. 165. 58 Siehe nur Kindl, ZZP 111 (1998), 177, 180; Trautmann, Europäisches Kollisionsrecht und ausländisches Recht im nationalen Zivilverfahren, 2011, S. 167. 59 Siehe nur Flessner, in: 30 Jahre österreichisches IPR-Gesetz, 2009, S. 35, 39; Rudolf Hübner, Ausländisches Recht vor deutschen Gerichten, 2014, S. 25 f. 60 Siehe nur BGHZ 120, 334, 342; BGH NJW 1978, 496, 498; Huber, in: Musielak/Voit, ZPO, 16. Aufl. 2019 (16. Aufl. 2019), § 293 ZPO Rn. 13; Prütting, in: Münchener Kommentar zur ZPO, Bd. 1: §§ 1 – 354 ZPO, (5. Aufl. 2016), § 293 ZPO Rn. 14; Saenger, in: Saenger, Zivilprozessordnung, (8. Aufl. 2019), § 293 ZPO Rn. 11. 61 Siehe nur BGH NJW-RR 2017, 902, 903; Huber, in: Musielak/Voit, ZPO (16. Aufl. 2019), § 293 ZPO Rn. 1, 4 – 6; Prütting, in: Münchener Kommentar zur ZPO, Bd. 1: §§ 1 –

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keine strikte Beweisführungslast für ein anwendbares ausländisches Recht.62 Andererseits trifft die Parteien im Zivilprozess eine Mitwirkungslast nach § 293 S. 2 ZPO. Wer sich auf einen bestimmten Inhalt eines bestimmten ausländischen Rechts beruft, ist stärker zur Mitwirkung bei der Ermittlung von Inhalten ebendieses Auslandsrechts gehalten (und kann durch Auflagenschluss zu solcher Mitwirkung angehalten werden) als derjenige, der dies nicht tut.63 Wer einfachen Zugang zum ausländischen Recht hat, soll diesen nutzen.64 Dass es sich um einen Freibeweis handelt, befreit von der Beschränkung auf das Quintett der normalerweise unter der ZPO zulässigen Beweismittel für den Strengbeweis (SAPUZ – Sachverständige, Augenschein, Parteivernehmung, Urkunden, Zeugen).65 Vielmehr kann das Gericht auf alle ihm zielführend erscheinenden Mittel zurückgreifen oder sich selbst kundig machen, z. B. durch eigene Bibliotheksoder Internetrecherche.66 Mögliches Mittel sind auch Anfragen an deutsche diplomatische oder konsularische Stellen im Staat des anzuwendenden Rechts oder Anfragen an ausländische Stelle nach dem Londoner Auskunftsübereinkommen von 1968.67 Zu ermitteln ist das in einem anderen Staat tatsächlich praktizierte Recht, die dortige Rechtswirklichkeit.68 Denn die deutsche Entscheidung soll derjenigen so nahe wie möglich kommen, die im Lande der lex causae gefällt werden würde, wenn das Verfahren dort stattfinden würde.69 Der deutsche Richter soll so entscheiden, als säße er

354 ZPO (5. Aufl. 2016), § 293 ZPO Rn. 23; Saenger, in: Saenger, Zivilprozessordnung (8. Aufl. 2019), § 293 ZPO Rn. 14. 62 Siehe nur BGHZ 120, 334, 342; BGH NJW-RR 2005, 1071, 1072; Mankowski, in: v. Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht I: Allgemeine Lehren, 2. Aufl. 2003, § 5 Rn. 98; Schilken, FS Ekkehard Schumann, 2001, S. 373, 379; Jansen/Michaels, ZZP 116 (2003), 3, 53. 63 Siehe nur KG IPRspr. 1962/63 Nr. 202 S. 658; OLG Frankfurt MDR 1983, 410; OLG Koblenz MDR 2003, 894; Huzel, IPRax 1990, 77, 80. 64 Siehe nur BGH NJW 1976, 1581, 1583; BGHZ 118, 151, 164; BGHZ 118, 321, 329 f.; BGH NJW 1995, 1032 f.; BGH IPRspr. 1996 Nr. 177 S. 422 f.; BGH IPRspr. 2011 Nr. 3 S. 1, Huzel, IPRax 1990, 77, 80; Rudolf Hübner, Ausländisches Recht vor deutschen Gerichten, 2014, S. 294 f. 65 Siehe nur BGH NJW 1961, 410, 411; BGH NJW 1963, 252, 253; BGH NJW 1966, 296, 298; BGH NJW 1976, 1581, 1583; Gerhard Wagner, ZEuP 1999, 6, 16; Schilken, FS Ekkehard Schumann, 2001, S. 373, 377; Mankowski, in: v. Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht I: Allgemeine Lehren, 2. Aufl. 2003, § 5 Rn. 101; Trautmann, Europäisches Kollisionsrecht und ausländisches Recht im nationalen Zivilverfahren, 2011, S. 169. 66 Siehe nur Kindl, ZZP 111 (1998), 177, 186; Edward Schramm/Hinderer, ZIS 2010, 494, 499; Brutscher, Zivilrechtsakzessorietät des Strafrechts bei Sachverhalten mit Auslandsbezug – am Beispiel des § 242 StGB, 2014, S. 80 f. 67 Europäisches Übereinkommen betreffend Auskünfte über ausländisches Recht vom 7. 6. 1968, BGBl. 1974 II 938. 68 Siehe nur BGH ZIP 2001, 675, 676 m.w.N. = IPRax 2002, 302 (dazu Hüßtege, IPRax 2002, 292); BGH NJW 2003, 2685; BVerwGE 87, 52, 59; BVerwG Buchholz 130 § 3 RuStAG Nr. 2. 69 BGH IPRspr. 1968/69 Nr. 3; BGH IPRax 1981, 130, 134; BayObLGZ 1972, 204; Günter Otto, FS Karl Firsching, 1985, S. 209, 213.

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an der Stelle eines in dem betreffenden Recht heimischen Richters.70 Diese Zielvorgabe schließt auch die Pflicht zur Ermittlung ausländischen Kollisionsrechts ein, sofern das deutsche IPR nicht von vornherein nur eine Sachnormverweisung (Verweisung direkt auf das ausländische Sachrecht unter Ausschluss einer Verweisung auf ausländisches IPR) ausspricht. Gelegentlich hat der deutsche Richter auch auf höherrangiges ausländisches Verfassungsrecht zu achten, wenn dieses die jeweils anwendbare Norm des einfachen Rechts überlagern, modifizieren oder verdrängen könnte.71 b) Analogie zu § 293 ZPO in Anklageverfahren Das Fehlen einer direkten Verweisung auf § 293 ZPO schließt dessen analoge Anwendung in strafprozessualen Anklageverfahren nur dann zuverlässig aus, wenn darin ein beredtes Schweigen liegt, das einen Umkehrschluss zu tragen vermag. Im normalen Strafverfahren steht der Strafanspruch des Staates ganz im Vordergrund. Im deutschen Strafverfahren geht es als eigentlichen Gegenstand nur und ausschließlich um den Strafanspruch des deutschen Staates. Schon zivilrechtliche Vorfragen in Straftatbeständen des deutschen Strafrechts geraten nicht spezifisch in den Blick. Sachverhalte mit Auslandsbezug sind eine Querschnittskategorie, der sich der Gesetzgeber des deutschen Strafprozessrechts ebenfalls nicht spezifisch zugewendet hat. Eine Lücke kombiniert sich mit einer weiteren Lücke. Beide liegen am Rande des strafrechtlichen Wahrnehmungshorizonts. Für eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers der StPO gegen eine Analogie speziell zu § 293 ZPO ist nichts ersichtlich. Vielmehr besteht eine planwidrige Lücke. An der weiteren Voraussetzung für eine Analogie, nämlich Rechtsähnlichkeit und Vergleichbarkeit der zu regelnden Sachverhalte, besteht kein grundsätzlicher Zweifel.72 Allerdings ist eine Analogie zu § 293 ZPO im Strafprozess insoweit ausgeschlossen, als § 293 ZPO im Zivilprozess Mitwirkungslasten Privater bei der Ermittlung ausländischen Rechts nach sich ziehen würde.73 Eine Mitwirkungslast der Staatsanwaltschaft dagegen erscheint mindestens diskutabel, da diese ja den Strafanspruch des deutschen Staates „einklagt“ und die Verantwortung für dessen Bestehen auch hinsichtlich aller Tatbestandsmerkmale etwaiger zivilrechtlicher Vorfragen trägt.74 Dies kann sogar

70 Siehe nur ebenso für die Schweiz BGE 126 III, 492, 495 und vorbildlich § 3 östIPRG: „Ist fremdes Recht maßgebend, so ist es von Amts wegen und wie in seinem ursprünglichen Geltungsbereich anzuwenden.“ 71 Siehe OLG Bremen IPRspr. 1958/59 Nr. 7 A S. 760; grundlegend zu diesem Fragenkreis Niboyet, Rev. dr. int. lég. comp. 1928, 753; Neumayer, RabelsZ 23 (1958), 573. 72 Im Ergebnis übereinstimmend Gössl, in: Effer-Uhe/Hoven/Kempny/Rösinger (Hrsg.), Einheit der Prozessrechtswissenschaft, 2016, S. 127, 130. 73 Ebenso Gössl, in: Effer-Uhe/Hoven/Kempny/Rösinger (Hrsg.), Einheit der Prozessrechtswissenschaft, 2016, S. 127, 131. 74 Ganz ähnlich Gössl, in: Effer-Uhe/Hoven/Kempny/Rösinger (Hrsg.), Einheit der Prozessrechtswissenschaft, 2016, S. 127, 132.

Auslandsrechtsanwendung, -prüfung, -berücksichtigung und -ermittlung

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so weit gehen, dass – anders als grundsätzlich75 im Zivilprozess – keine Grenze der Unwirtschaftlichkeit in Relation zum Streitwert greift, denn im Strafprozess gibt es keinen Streitwert und zählt die Wahrheitsermittlung.76 Da § 293 ZPO schon im Zivilprozess keine objektive und subjektive Beweislast, also auch keine Beweisführungslast, kennt,77 kann es jedoch im Strafprozess erst recht keine echte Beweislast für ausländisches Recht geben. Trotzdem sollten jedem Beteiligten Beweisanträge zum Inhalt eines kollsionsrechtlich berufenen ausländischen Rechts gestattet sein.78 Das Aufklärungs- oder Inquisitionsprinzip des Strafprozesses schließt indes eine Bindung des Gerichts an etwaige Beweisanträge als Obergrenze aus.79 Die Formvorschriften der §§ 243 ff. StPO sind nur zu wahren, wenn ein Rückgriff auf Beweismittel des Strengbeweises erfolgt.80 Ist der Inhalt des anzuwendenden ausländischen Rechts nicht zu ermitteln, so erscheint es problematisch, ein Ersatzrecht heranzuziehen und nicht freizusprechen.81 c) Rechtsmittelfähigkeit der Analogie zu § 293 ZPO in Anklageverfahren § 293 ZPO ist eine Norm des deutschen Rechts, nämlich des deutschen Zivilverfahrensrechts. Im Zivilprozess lässt sich daher ein Rechtsmittel erfolgreich auf eine Verletzung des § 293 ZPO stützen, wenn auch nur unter der einengenden Voraussetzung der konkreten Ergebnisrelevanz, dass also konkret ein anderes Ergebnis erzielt worden wäre, wenn § 293 ZPO beachtet worden wäre.82 Wendet man § 293 ZPO analog im 75

Siehe im Zivilprozess aber auch BGH NJW 2014, 1245. Gössl, in: Effer-Uhe/Hoven/Kempny/Rösinger (Hrsg.), Einheit der Prozessrechtswissenschaft, 2016, S. 127, 133. 77 Oben IV. 1. a) a.E. 78 Gössl, in: Effer-Uhe/Hoven/Kempny/Rösinger (Hrsg.), Einheit der Prozessrechtswissenschaft, 2016, S. 127, 133. 79 Siehe nur Strobel, Internationales Privatrecht in der Strafprozessordnung am Beispiel der §§ 52, 395 und 406 StPO, 2019, S. 327. 80 Gössl, in: Effer-Uhe/Hoven/Kempny/Rösinger (Hrsg.), Einheit der Prozessrechtswissenschaft, 2016, S. 127, 132. 81 Siehe (mit Unterschieden im Einzelnen) Mankowski/Stefanie Bock, ZStW 120 (2008), 704, 742 und Gössl, in: Effer-Uhe/Hoven/Kempny/Rösinger (Hrsg.), Einheit der Prozessrechtswissenschaft, 2016, S. 127, 135. 82 BGH NJW 1991, 2214; allgemein zur Ergebnisrelevanz BGH NJW 1995, 1841, 1842; BGH NJW 2016, 3092, 3095; Ball, in: Musielak/Voit, ZPO (16. Aufl. 2019), § 545 ZPO Rn. 11; Krüger, in: Münchener Kommentar zur ZPO, Bd. 2: §§ 355 – 945b ZPO (5. Aufl. 2016), § 293 ZPO Rn. 14. Ebenso für eine Missachtung deutscher Kollisionsnormen Mankowski, TranspR 1991, 253, 254; ders., LAGE Art. 30 EGBGB Nr. 4, S. 4, 5 (Okt. 1999); ders., in: Christian v. Bar/ Mankowski, Internationales Privatrecht I: Allgemeine Lehren, 2. Aufl. 2003, § 5 Rn. 64 sowie BGH WM 1988, 1433, 1434 f. = NJW-RR 1988, 814, 815; RGZ 24, 383, 391; RGZ 167, 274, 280; Lewald, Das deutsche internationale Privatrecht, auf Grundlage der Rechtsprechung, 1931, S. 229; Bülow-Buschbeck, WuB VII A. § 549 ZPO 1.89, 119, 120. 76

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strafprozessualen Anklageverfahren an, so ergibt sich die notwendige Folgefrage, ob ein strafprozessualer Rechtsbehelf Erfolg hat, wenn den Maßstäben des § 293 ZPO analog nicht genügt wurde. Auch diese Analogie wäre Teil des deutschen Rechts, nämlich diesmal des deutschen Strafverfahrensrechts. Ausländisches Recht wäre nur Gegenstand des Freibeweises.83 Umfang und Tiefe der Ermittlung orientieren sich grundsätzlich an den zu § 293 ZPO entwickelten Maßstäben.84 Dass die Analogie kein geschriebenes Strafverfahrensrecht ist, kann kein entscheidender Faktor sein. Für die Rechtsmittelfähigkeit strafprozessualer Regeln gibt es kein Pendant zu nulla poena sine lege scripta. Das ultimative Beweismittel unter § 293 ZPO ist ein Sachverständigengutachten. Die StPO gibt dem Strafgericht mit § 244 IV 1 StPO ein freibeweisähnliches Mittel an die Hand, um bei eigener Sachkunde auf ein Sachverständigengutachten zu verzichten. 2. Adhäsionsverfahren Das Adhäsionsverfahren ist auch hier ein gesondert zu betrachtender Spezialfall. Funktional ist es zwar ein vor Strafgerichte verlagerter Zivilprozess. Das heißt aber nicht, dass es automatisch zivilprozessualen Regeln oder allen Regeln der ZPO unterliegen würde. Vielmehr erheben §§ 403 ff. StPO grundsätzlich einen eigenen Regelungsanspruch. Im Adhäsionsverfahren gelten neben diesen Modifikationen für das Verfahrensrecht sogar grundsätzlich, soweit diese passen, lückenfüllend die allgemeinen Regeln des Strafprozesses.85 Dies meint insbesondere das Amtsprinzip des Strafprozesses, die Beweisaufnahme und die Formen ihrer Durchführung.86 Das Amtsermittlungsprinzip kommt dem Verletzten zugute, denn diesen trifft im Adhäsionsverfahren keine Beweisführungslast.87 Eine Ausnahme ist für die Schadenshöhe zu machen, bei der § 287 ZPO und nicht das Amtsuntersuchungsprinzip greift.88 Auch im Übrigen ist so weit wie möglich eine Orientierung an der zivilrechtlichen Beweislastverteilung veranlasst, um nicht mit zweierlei Maß zu messen und das Adhäsionsverfahren nicht zu

83 Mindestens im Ergebnis übereinstimmend BGH NStZ 1983, 181; BGH NJW 1994, 3364; Strobel, Internationales Privatrecht in der Strafprozessordnung am Beispiel der §§ 52, 395 und 406 StPO, 2019, S. 332 mwN. 84 Strobel, Internationales Privatrecht in der Strafprozessordnung am Beispiel der §§ 52, 395 und 406 StPO, 2019, S. 333. 85 Siehe nur Löwe/Rosenberg/Hilger, StPO, Bd. 8, §§ 374 – 448 StPO, 26. Aufl. 2009, § 403 StPO Rn. 10; Zander, Das Adhäsionsverfahren im neuen Gewand, 2011, S. 76 f.; Grau, in: Münchener Kommentar zur StPO, Bd. 3/1: § 333 – 349 StPO, 2019, § 403 StPO Rn. 18. 86 Löwe/Rosenberg/Hilger, StPO, Bd. 8: §§ 374 – 448 StPO, 26. Aufl. 2009, Vor § 403 StPO Rn. 6. 87 Gehrke/Karl-Peter Julius/Dieter Temming/Mark A. Zöller/Kurth, StPO, 6. Aufl. 2019, § 403 StPO Rn. 1; Grau, in: Münchener Kommentar zur StPO, Bd. 3/1: § 333 – 349 StPO, 2019, § 403 StPO Rn. 7. 88 Zander, Das Adhäsionsverfahren im neuen Gewand, 2011, S. 79.

Auslandsrechtsanwendung, -prüfung, -berücksichtigung und -ermittlung

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einer zu günstigen Option gegenüber dem isolierten zivilrechtlichen Schadensersatzprozess werden zu lassen.89 Materielle Anspruchsgrundlage ist im Adhäsionsverfahren, wenn er Geldeswert hat,90 ein deliktsrechtlicher Schadensersatz- oder Schmerzensgeldanspruch, ein presserechtlicher Widerrufsanspruch, ein vertragsrechtlicher Anspruch auf Feststellung der Unwirksamkeit eines Vertrags, ein deliktsrechtlicher Unterlassungsanspruch oder ein bereicherungsrechtlicher Anspruch, vorzugsweise auf Herausgabe.91 Die Anspruchsgrundlage ist und bleibt zivilrechtlich.92 Ausdrücklich auf die ZPO verweisen die §§ 403 ff. StPO nur ganz vereinzelt und selektiv in §§ 404 V 2; 406 I 3; 406 III 2; 406b I 2 StPO. Unter den dort verwiesenen Normen der ZPO findet sich § 293 ZPO nicht. Dies sollte aber keine Basis für einen strikten Umkehrschluss sein, dass eine Verweisung auf § 293 ZPO bewusst ausgeschlossen wäre. Denn an die am Rande gerade des strafverfahrensrechtlichen Horizonts liegende Konstellation des Auslandsbezugs und der möglichen Einschlägigkeit ausländischen Rechts wird auch der Gesetzgeber der §§ 403 ff. StPO kaum gedacht haben. Insoweit dürfte er vielmehr überhaupt keinen Willen gebildet haben, erst recht keinen, der einer Anwendung des § 293 ZPO strikt entgegenstünde. Die Gesetzesmaterialien zum Adhäsionsverfahren, sowohl die zur Ursprungsfassung93 als auch die zur novellierten Fassung,94 lassen jedenfalls keine gesetzgeberische Willensbildung spezifisch für diesen Punkt erkennen. Der Gesetzgeber hat vielmehr den Normalfall Inlandssachverhalt gedanklich verabsolutiert. In methodischer Hinsicht handelt es sich wiederum um eine planwidrige Lücke, die einem Umkehrschluss aus dem engen Zuschnitt der in der StPO vorfindlichen Verweisungen auf die ZPO entgegensteht. § 293 ZPO heranzuziehen ist vielmehr sachgerecht.

89 LG Berlin NZV 2006, 389, 390; Zander, Das Adhäsionsverfahren im neuen Gewand, 2011, S. 78. 90 Löwe/Rosenberg/Hilger, StPO, Bd. 8: §§ 374 – 448 StPO, 26. Aufl. 2009, Vor § 403 StPO Rn. 6. 91 Siehe nur Velten, in: Systematischer Kommentar zur StPO, Bd. 8: §§ 374 – 495 StPO, 4. Aufl. 2013, § 403 StPO Rn. 8; KMR/Stöckel, StPO, Losebl., § 403 StPO Rn. 8 (Mai 2013); Graf/Ferber, StPO, 3. Aufl. 2018, § 403 StPO Rn. 11. 92 Siehe nur LG Hamburg NZI 2019, 137 m. Anm. Köllner. 93 Dritte Verordnung zur Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 29. Mai 1943, RGBl. 1943 I 342, Art. 5. Hierzu lässt sich keine amtliche Begründung finden (so auch Brokamp, Das Adhäsionsverfahren (1990), S. 12, Fn. 43), siehe aber für die Gründe und Erläuterungen die Darstellung des damaligen Ministerialrats im Reichsjustizministerium Grau, DJ 1943, 331 sowie den Überblick bei Brokamp, Das Adhäsionsverfahren (1990), S. 12 – 15. 94 Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Verletzten im Strafverfahren (Opferrechtsreformgesetz – OpferRRG) vom 24. Juni 2004, BGBl. 2004 I 1354; siehe hierzu den Gesetzentwurf vom 11. 11. 2003, BT-Drucks. 15/1976; Plenarprotokoll 15/75 vom 13. 11. 2003, S. 6462C-6475D; Beschlussempfehlung und Bericht Rechtsausschuss vom 3. 3. 2004, BTDrucks. 15/2609; Plenarprotokoll 15/94 vom 4. 3. 2004, S. 8400 A-8409C, 8465B-8466 A/ Anl. 2.

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Es ist umso sachgerechter, weil eine deliktsrechtliche Anspruchsgrundlage und damit materielle Grundlage im Adhäsionsverfahren bei ausländischem Erfolgsort und Fehlen einer Rechtswahl über Art. 4 I Rom II-VO (vorbehaltlich Art. 4 II, III Rom I-VO) aus einem ausländischen Deliktsrecht stammen kann; wenn es eine Rechtswahl gibt, geht man über Art. 14 Rom II-VO. Bei bereicherungsrechtlichen Anspruchsgrundlagen ist Art. 10 Rom I-VO das internationalprivatrechtliche Zwischenglied, bei presserechtlichen (wegen der Ausnahme in Art. 1 II lit. g Rom II-VO) Artt. 40 – 42 EGBGB. Der vor die Strafgerichte verlagerte Zivilprozess des Adhäsionsverfahrens arbeitet eben definitions- und bestimmungsgemäß mit zivilrechtlichen Anspruchsgrundlagen. Für die zivilrechtlichen Anspruchsgrundlagen gelten deren eigene Regeln, soweit dies irgend möglich ist. § 293 ZPO ist zwar eine zivilprozessuale Regel, und liegt deshalb außerhalb des sachlichen Anwendungsbereichs des Internationalen Privatrechts. Trotzdem gilt auch im deliktischen Bereich die prägende, das ganze IPR durchziehende Hypothese95 von der Gleichwertigkeit und funktionellen Austauschbarkeit der Privatrechte. Ausländisches Recht ist eben Recht, sofern es von deutschen Kollisionsnormen berufen ist, und keine bloße Tatsache.96

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Grundlegend v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. VIII, 1849, S. 24 f. Außerdem z. B. Vitta, Riv. trim. dir. proc. civ. 1947, 1578, 1585 f.; Helmut J. Weber, Die Theorie der Qualifikation, 1986, S. 9; v. Hoffmann/Thorn, Internationales Privatrecht, 9. Aufl. 2007, § 1 Rn. 13; Matthias Weller, (2015) 11 JPrIL 64, 72 f. 96 Oben IV. 1. a).

Die Expansion des Strafens durch § 9 II 2 StGB Drohende Friktionen und vorsichtige Einhegungsversuche Von Hans Kudlich

I. Hinführung An mein erstes (jedenfalls näheres persönliches) Zusammentreffen mit dem Jubilar habe ich noch eine sehr intensive Erinnerung: Im Sommer 2002 war Reinhard Merkel externes Mitglied einer Berufungskommission an der Bucerius Law School, an der ich mich kurz vor Fertigstellung meiner Habilitationsschrift zur neutralen Beihilfe um einen Lehrstuhl beworben hatte. Ich habe keine Ahnung, ob sich der Jubilar innerhalb dieser Kommission besonders für mich stark gemacht hat (und ich daher mit umso größerer Dankbarkeit an dieser Festschrift mitwirken darf), ob die Kommission sich letztlich nur gegen seinen erbitterten Widerstand für mich entschieden hat (sodass ich hier eigentlich gar nichts schreiben sollte) oder wie es sich sonst verhalten hat. Sehr wohl erinnern kann ich mich aber an die erste inhaltliche Frage, die er mir im Rahmen der meiner Probevorlesung nachfolgenden Aussprache gestellt hat. Reinhard Merkel nahm Bezug auf meine der Berufungskommission in einem sehr weit fortgeschrittenen Entwurf vorliegende Habilitationsschrift und bildete den Fall eines Gynäkologen, der seiner Patientin nach Ablauf der 12-Wochen-Frist des § 218a I StGB den Rat gibt, einen gewünschten Schwangerschaftsabbruch in dort legaler Weise im Ausland vornehmen zu lassen, und ihr auch die Adresse einer entsprechenden Klinik gibt. Problematisch war hier nicht nur, ob eine solche Auskunft gegebenenfalls noch ein neutrales, berufsbedingtes Verhalten darstellen könnte, sondern darüber hinaus auch, ob im Falle eines im Ausland vorgenommenen Schwangerschaftsabbruchs auf einen präsumtiv gehilfenschaftlichen Rat des deutschen Arztes überhaupt deutsches Strafrecht anwendbar ist – eine Frage, die im Ausgangspunkt durch § 9 II StGB beantwortet wird. Mit dieser Kombination aus Problemen der Teilnahmestrafbarkeit für inländische Teilnahmehandlungen an Auslandstaten und einer Restriktion der Beihilfestrafbarkeit über die Figur einer „neutralen Beihilfe“ hat der Jubilar nicht nur intuitiv zwei Fragen zusammen gespannt, die nur scheinbar auf unterschiedlichen Ebenen

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liegen, tatsächlich aber durchaus (auch innere1) Berührungspunkte miteinander haben; vielmehr hat er durchaus auch zutreffend die praktische Relevanz der Kombination gerade dieser beiden Fragestellungen erkannt, die gut zehn Jahre später in einer Entscheidung des OLG Oldenburg deutlich zu Tage trat: Dort hatte ein Gynäkologe seiner Patientin, die in der 17. Woche schwanger war und das Kind abtreiben wollte, einen Zettel mit der Adresse einer niederländischen Abtreibungsklinik ausgehändigt, woraufhin diese in den Niederlanden die Schwangerschaft abbrechen ließ. Während das Amtsgericht sowie auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hin auch das Landgericht den Arzt vom Vorwurf der Beihilfe zum unerlaubten Schwangerschaftsabbruch frei gesprochen hatte, hob das OLG auf die Revision der Staatsanwaltschaft hin den Freispruch auf.2 Voraussetzung hierfür musste – obgleich in der Entscheidung nicht thematisiert – sein, dass nicht nur eine (auf Grund der leichten anderweitigen Auffindbarkeit solcher Adressen) fehlende Gefahrsteigerung oder strafbarkeitsausschließende Sozialadäquanz abgelehnt wird, sondern dass auf das Verhalten des Arztes trotz der Straflosigkeit der Haupttat im Ausland nach § 9 II 1, 2 StGB deutsches Strafrecht anwendbar ist.

II. Der Wirkmechanismus des § 9 II 2 StGB und seine fragwürdigen Auswüchse 1. Regelungsgehalt des § 9 II 2 StGB Die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts wird durch die §§ 3 ff. StGB geregelt. Zentral ist hierbei das so genannte Territorialitätsprinzip nach den §§ 3, 9 StGB, wonach deutsches Strafrecht auf Inlandstaten anwendbar ist, d. h. auf solche Taten, deren Tathandlung oder aber Tatort in Deutschland liegt. Für die Teilnahme wird dieses Prinzip in doppelter Hinsicht erweitert: Zum einen gilt als Tatort nicht nur der Ort der Haupttat, sondern auch derjenige der Teilnahmehandlung, vgl. § 9 II 1 StGB; eine Teilnahmestrafbarkeit ist daher auch für ausländische Haupttaten nach deutschem Recht möglich. Darüber hinaus beurteilt sich für den inländischen Teilnehmer an einer Auslandstat seine Strafbarkeit nach deutschem Strafrecht, auch wenn die Haupttat nach dem Recht des Tatorts nicht mit Strafe bedroht ist (§ 9 II 2 StGB). 1

Diese Berührungspunkte bestehen darin, dass sowohl bei der neutralen Beihilfe als auch bei der strafbaren Teilnahme an einem am Tatort gerade straflosen Verhalten das Strafrecht weit in den Bereich zumindest vermeintlicher gesellschaftlicher Normalität hineingreift. 2 Vgl. OLG Oldenburg BeckRS 2013, 04777 m. Anm. Kudlich, JA 2013, 791. Vgl. zu einem weiteren Beispiel aus dem medizinrechtlichen Bereich etwa zur Frage einer Kinderwunschbehandlung im Ausland Magnus NStZ 2015, 57. Dass die Vorschrift gerade bei solchen Delikten bedeutsam wird, über deren Verhaltensnorm gesellschaftlich kein breiter Konsens besteht, ist nicht überraschend, sind hier deutsche Bürger vielleicht in besonderer Weise geneigt, ein bestimmtes (dann als ausländische Haupttat außerhalb des Anwendungsbereich deutschen Strafrechts relevantes) Angebot eben im Ausland in Anspruch zu nehmen, wenn es im Inland pönalisiert wird. Vgl. hier sogleich auch das Fallbeispiel des Suizid-Tourismus.

Die Expansion des Strafens durch § 9 II 2 StGB

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Eine solche Ausweitung der Strafbarkeit ist nun evident zumindest bemerkenswert. Dies weniger deshalb, weil grundsätzlich bei einer unterschiedlichen rechtspolitischen Bewertung eines Verhaltens diejenige des deutschen Strafrechts derjenigen einer ausländischen Rechtsordnung vorgezogen wird – dieses Recht hat jedenfalls im Geltungsbereich seiner eigenen Jurisdiktion erst einmal jede einzelne Strafrechtsordnung. Beachtenswert ist aber die Abweichung von der rechtlichen Bewertung am Tatort im Allgemeinen sowie hinsichtlich der Haupttat im Besonderen, vermittelt doch die Teilnahmestrafbarkeit grundsätzlich einen akzessorischen Rechtsgüterschutz zur Haupttat;3 aus diesem Grund ist zumindest nicht selbstverständlich, dass ein von der für die Haupttat zuständigen Rechtsordnung insoweit schutzlos gestelltes Rechtsgut jedenfalls noch des akzessorischen Schutzes durch das deutsche Teilnahmestrafrecht teilhaftig werden soll. So konstatiert etwa Kai Ambos, dass eine „konsequente Anwendung von Abs. 2 S. 2 (…) zu einer erheblichen Erweiterung der Strafbarkeit auf jegliche Teilnahmehandlungen im Inland (führt), unabhängig von der Strafbarkeit der ausländischen Haupttat und der Staatsangehörigkeit des Teilnehmers. (…). Auch wenn der Verzicht auf das Erfordernis der identischen Strafnorm (…) aus generalpräventiven Gründen nachvollziehbar ist, stellt Abs. 2 S. 2 eine mit dem Nichteinmischungsgrundsatz kaum vereinbare Ausdehnung der deutschen Strafgewalt dar.“4 Darüber könnte man nun viel Kritisches oder Affirmatives schreiben – letztlich handelt es sich hier um eine (in den Grenzen des völkerrechtlichen Nichteinmischungsgrundsatzes) hinzunehmende kriminalpolitische Entscheidung, ebenso wie etwa über den Inhalt des Katalogs der §§ 5 und insbesondere 6 StGB, den man auch nicht überall für zwingend halten, letztlich aber de lege lata mehr oder weniger anwenden muss.5 In einzelnen Fällen freilich scheint die ohnehin nicht ganz glückliche Regelung jedoch zu erheblichen Restriktionen zu führen bzw. über das Ziel hinaus zu schießen. Im Folgenden soll anhand von zwei Beispielen untersucht werden, woran dies liegt und ob nicht für solche Fälle eine einschränkende Auslegung möglich erscheint.

3

H.M., vgl. statt vieler nur m.w.Nachw. BeckOK-StGB/Kudlich, 43. Ed . 2019, § 26 Rn. 3. Vgl. MüKo-StGB/Ambos, Bd. I, 3. Aufl. 2017, § 9 Rn. 39 f. Zur Kritik auch LK/Werle/ Jeßberger, Bd. Abs. 1 2007, § 9 Rn. 52: „Es liegt auf der Hand, dass der Gesetzgeber (…) mit der Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 2 teilweise übers Ziel hinausgeschossen ist“; Nomos-Kommentar zum StGB/Böse, Bd. I, 5. Aufl. 2017, § 9 Rn. 22 („konsequente Umsetzung des Ubiquitätsprinzip[s] bei der Teilnahme z. T. bedenklich“). 5 „Mehr oder weniger“ insoweit, als die Rechtsprechung davon ausgeht, dass das Weltrechtsprinzip des § 6 StGB dadurch einzuschränken sei, dass ein gewisser „Inlandsbezug“ der Tat erforderlich ist, vgl. nur Münchener Kommentar zum StGB/Ambos, Bd. I, 3. Aufl. 2017, § 6 Rn. 4 und Vor § 3 Rn. 13. 4

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2. Suizid-Tourismus a) Die problematische Einführung des § 217 StGB Im November 2015 ist die Vorschrift zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Unterstützung beim Suizid in § 217 StGB n.F. eingeführt worden. Die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift erscheint in hohem Maße zweifelhaft,6 da das Leben des akut betroffenen Suizidenten keines Schutzes vor sich selbst bedarf und die Sorge vor einem „suizidfreundlichen Klima“ in der Gesellschaft empirisch deutlich zu wenig abgesichert sein dürfte, um die massiven Beschränkungen des Selbstbestimmungsrechts am Lebensende zu rechtfertigen.7 Nicht auflösbare Wertungswidersprüche liegen etwa zur Regelung des § 1901a BGB auf der Hand, nach der – unter im Wesentlichen nicht überprüfbaren Voraussetzungen errichtete – Patientenverfügungen für Zeitpunkte und Situationen möglich sind, die im Moment der Verfügung noch gar nicht bedacht werden konnten. Gleichwohl: Unter der Geltung des § 217 StGB dürften sich Personen oder Institutionen, die bislang eine Suizidassistenz in Deutschland angeboten haben, an der Fortsetzung ihrer Unterstützung gehindert sehen.8 Daher liegt die Annahme nicht fern, dass suizidwillige Personen eine Reise in Länder mit liberaleren und autonomiefreundlicheren Regelungen, wie etwa der Schweiz, antreten. Hier stellt sich die Frage, wie solche Fälle – gerade auch mit Blick auf einen etwaigen Gehilfen in Deutschland – vom deutschen Strafrecht erfasst werden.9 b) Die Verschärfung der Problematik durch § 9 II 2 StGB Der Schweizer Suizidhelfer, der ausschließlich in seinem Heimatland tätig wird, dürfte keine größeren Schwierigkeiten mit dem deutschen Strafrecht haben. Dies sollte selbst für vorbereitende Telefonate aus der Schweiz nach Deutschland gelten. Hier ist bereits fraglich, ob eine telefonische Beratung tatbestandlich als Gewährung einer Gelegenheit eingestuft werden kann. Ferner wird keine Gelegenheit „in 6 Krit. aus der Kommentarliteratur MüKo-StGB/Brunhöber, Bd. IV, 3. Aufl. 2017, § 217 Rn. 25 ff.; Fischer, StGB, 66. Aufl., 2019, § 217 Rn. 3a; Momsen, in: Satzger/Schluckebier/ Widmaier (Hrsg.), StGB, 4. Aufl., 2019, § 217 Rn. 2; BeckOK-StGB/Og˘ lakcıog˘ lu, 43. Ed. 2019, § 217 Rn. 12a; Saliger, in: Nomos Kommentar zum StGB, 5. Aufl., 2017, 37 § 217 Rn. 6. Dass auch der Jubilar der Strafdrohung des § 217 StGB gegenüber kritisch ist, ist kein Geheimnis. U. a. unter dem Aktenzeichen 2 BvR 2347/15 wird gegen das Gesetz eine Verfassungsbeschwerde geführt, die bereits im Dezember 2015 eingegangen ist; der damit verbundene Antrag auf einstweilige Anordnung wurde mit Beschluss vom 21. 12. 2015 (NJW 2016, 558) abgelehnt, eine mündliche Verhandlung fand im April 2019 statt; der Ausgang des Verfahrens ist zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Manuskripts noch offen. 7 Eingehend zur Problematik Hoven, ZIS 2016, 1; vgl. ferner Duttge, NJW 2016, 120. 8 Vgl. etwa die Pressemitteilung des Vereins Sterbehilfe Deutschland, Abruf etwa unter: http://www.sterbehilfedeutschland.de/sbgl/files/PDF/2015 - 11 - 27 Bundesrat billigt %A7 217 StGB.pdf (29. 2. 2016). 9 Vgl. Zu Folgenden auch bereits Kudlich/Hoven, ZIS 2016, 345 (347 f.).

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Deutschland“ gewährt, sondern es werden Rahmenbedingungen in der Schweiz geschaffen. Nicht plausibel begründbare Strafbarkeitsrisiken drohen jedoch solchen Personen, welche dem Suizidwilligen bei seiner Reise ins Ausland helfen. Denn darin könnte nicht nur eine Unterstützung des deutschen Suizidenten, sondern – je nach Lage des Einzelfalles – auch des schweizerischen Haupttäters gesehen werden. Soweit dies der Fall ist, greift § 9 II 2 StGB ein, nach welcher die Teilnahme an einer im Ausland begangenen Haupttat auch dann verfolgt werden kann, wenn die Haupttat am Tatort selbst nicht unter Strafe steht. Dies droht zu schwer erklärbaren Wertungswidersprüchen zu führen, wenn etwa ein Freund des Suizidwilligen (der nicht unter den privilegierten Personenkreis des § 217 II StGB fällt) der lebensmüden Person in Deutschland zwar (sofern er nicht geschäftsmäßig handelt) die Mittel für einen Suizid verschaffen, nicht hingegen die Reise zu einem Schweizer Sterbehilfeverein organisieren dürfte.10 Im Zusammenspiel der tendenziellen Überkriminalisierung11 durch § 217 StGB wird dann auch der in problematischer Weise strafbarkeitsausweitende Charakter des § 9 II 2 StGB deutlich, der im konkreten Fall auch kriminalpolitisch nicht überzeugen kann. Denn der vom Gesetzgeber vorgeblich verfolgte Zweck des Schutzes vor einem „suizidfreundlichen Klima“ in der deutschen Gesellschaft dürfte – unabhängig davon, wie man generell zu diesem Zweck steht – jedenfalls kaum erfordern, dass Privatpersonen bestraft werden, die (nicht geschäftsmäßig) suizidwillige Personen unterstützen, welche infolge der restriktiven deutschen Regelung Hilfe im Ausland suchen.12 3. Förderungshandlungen für ausländische Glücksspielaktivitäten a) Ausländische Glücksspielangebote und Zahlungsauslösungsdienste aa) Ein weiteres Beispiel für ein erstaunlich anmutendes (wenigstens) Strafbarkeitsrisiko liegt in der Unterstützung von in Deutschland nicht zertifizierten Glücksspielangeboten. Colorandi causa mag man hier etwa an die Dienstleistungen eines 10 Hoven, ZIS 2016, 1 (8). Eine Gegenüberstellung strafloser und strafbarer Teilnahmehandlungen am Suizid findet sich auch bei Og˘ lakcıog˘ lu, KriPoZ 2019, 73 (76). 11 Eindrucksvoll wird diese auch dadurch, dass nach allgemeinen dogmatischen Grundsätzen davon ausgegangen werden müsste, dass den Suizidwilligen, der bei einem Anderen um die Gewährung der Gelegenheit zum Suizid bittet, insoweit eine Anstiftungsstrafbarkeit trifft; glücklicherweise hat hier das BVerfG (Beschl. v. 21. 12. 2015 @ 2 BvR 2347/15) mit einer dogmatisch zwar vielleicht nicht ganz einwandfreien Argumentation, aber mit einem guten Judiz eine – auch historisch-genetisch fundierte (vgl. BT-Drs. 18/5373) – Restriktion des Tatbestandes angenommen. 12 In den Fällen, in denen es dann um einen Suizid im Ausland geht, ist offensichtlich, dass den Betroffenen vom Gesetzgeber ein Bärendienst erwiesen worden ist, wenn sie ihr Selbstbestimmungsrecht nur durch eine beschwerliche Reise trotz im Einzelfall gesundheitlich prekärer Verhältnisse und fern der Heimat verwirklichen können.

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Zahlungsauslösedienstleisters (vgl. § 1 I 2 Nr. 7 und Abs. 33 ZAG) denken. Dieser stößt Zahlungsvorgänge mittels Datenübermittlung bei einem kontoführenden Zahlungsdienstleister an und informiert sogleich in Echtzeit den Zahlungsempfänger – in unserem Beispiel also einen ausländischen Glücksspielveranstalter – darüber, dass der Zahlungsauftrag an die Bank übermittelt worden ist.13 Diese Nachricht, die den Veranstalter viel schneller erreicht als die Gutschrift auf seinem Konto, kann für diesen Grund genug sein, seinem Kunden seine Leistung zur Verfügung zu stellen, also etwa eine bestimmte Spielteilnahme zu ermöglichen. Auf den ersten Blick mag man hierin nun eine Förderung (§ 27 StGB) eines Glücksspielangebotes sehen, das in Deutschland nicht lizensiert und damit i.S. des § 284 StGB unerlaubt ist. bb) Nun mag man an einer Strafbarkeit einer solchen Unterstützung aus verschiedenen Gründen – etwa auch mit Blick auf den Topos der „neutralen Beihilfe“14 – zweifeln. Unter anderem hat das Beispiel aber auch eine strafanwendungsrechtliche Dimension, bei der § 9 II 2 StGB und seine Auslegung eine Rolle spielen: Wenngleich höchstrichterlich noch nicht entschieden, spricht nämlich viel dafür, dass auf das Veranstalten des Glücksspiels im Ausland (etwa auf einem Server auf Malta oder in Gibraltar) selbst deutsches Strafrecht keine Anwendung findet. Dass die Tathandlungen allein in dem Land stattfinden, in dem der Spielserver steht und in dem auch die entsprechenden Inhalte erstellt werden, dürfte auf der Hand liegen. Aber auch ein Erfolgsort i.S. des § 9 I Var. 3 StGB dürfte nach der neueren Rechtsprechung des BGH nicht vorliegen. In Abkehr von dem extensiven Verständnis des Erfolgsortes bei Gefährdungsdelikten insbesondere in der Toeben-Entscheidung15 hat etwa der 2. Strafsenat des BGH bereits im Jahr 2013 zum abstrakten Gefährdungsdelikt des § 261 II Nr. 1 StGB bei einer im Ausland begangenen Geldwäsche festgestellt, dass § 261 II Nr. 1 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt keinen inländischen Erfolgsort i.S. von § 9 I StGB aufweist.16 Diese Auslegung bestätigte der 3. Strafsenat des BGH in einer Entscheidung aus dem Jahr 2014, in welcher er die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts auf einen Fall ablehnte, in dem von Tschechien aus ins Internet eingespeiste Bilder von Hakenkreuzen in Deutschland abrufbar sind;17 der Senat argumentiert insoweit zutreffend nicht maßgeblich in den Kategorien unterschiedlicher Gefährdungsdelikte, sondern stellt orientiert am Wortlaut des § 9 I StGB die Frage nach dem Verständnis des Begriffs Erfolg, für den er „eine von 13 In der „offline-Welt“ könnte man die Dienstleistung mit einem Boten vergleichen, der ein ausgefülltes Überweisungsformular des Bankkunden entgegennimmt, dieses dann für Dritte nicht einsehbar vertraulich an die Empfängerbank übergibt. 14 Vgl. hierzu vertiefend für solche Fälle Kudlich, in: Böse/Schumann/Toepel (Hrsg.), Kindhäuser-FS, 2019, S. 231 ff. 15 BGHSt 46, 212. Zu den nachfolgend skizzierten neuen Entwicklungen vgl. ausf. Kudlich/Berberich, NStZ 2019, 633 ff. 16 BGH NStZ-RR 2013, 253. 17 Vgl. BGH NStZ 2015, 81 (82): „Das abstrakte Gefährdungsdelikt des § 86a StGB (…) umschreibt keinen zum Tatbestand gehörenden Erfolg, so dass eine Inlandstat über § 9 Abs. 1 Var. 3 oder 4 StGB nicht begründet werden kann.“

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der tatbestandsmäßigen Handlung räumlich und/oder zeitlich abtrennbare Außenweltsveränderung“ fordert, so dass „jedenfalls an dem Ort, an dem die hervorgerufene abstrakte Gefahr in eine konkrete umgeschlagen ist oder gar nur umschlagen kann“ nicht automatisch auch ein „zum Tatbestand gehörender Erfolg eingetreten“ ist. Endgültig vollzogen18 wird die Abkehr von der Toeben-Entscheidung dann in einer Entscheidung aus dem Jahr 2017 (ebenfalls zu § 130 StGB), in dem zwar eine auf § 7 StGB gestützte Anwendbarkeit deutschen Strafrechts angenommen, zuvor aber dezidiert klargestellt wird, dass eine solche auf § 9 StGB nicht gestützt werden könne.19 b) § 9 II 2 StGB bei verwaltungsakzessorischen Strafvorschriften? aa) Aber auch, wenn man die Veranstaltung des Glücksspiels nicht dem deutschen Strafrecht unterwirft, könnte durch Unterstützungshandlungen der Veranstaltung im Inland (hier: Erbringung der Zahlungsauslösungsdienstleistungen) nach Maßgabe des § 9 II StGB eine nach deutschem Recht strafbare Beihilfe begangen werden. Insbesondere scheint nach § 9 II 2 StGB dabei unschädlich zu sein, dass für das Angebot des Glücksspiels im Ausland jeweils Lizenzen vorliegen und daher die Auslandstat selbst am Tatort nicht mit Strafe bedroht ist. bb) Indes ist fraglich, ob § 9 II 2 StGB auch bei verwaltungsakzessorischen Tatbeständen wie § 284 StGB in dieser Weite verstanden werden kann. Zwar lässt trotz verschiedener völkerrechtlicher und kriminalpolitischer Bedenken (vgl. bereits oben II.1.) der Wortlaut des § 9 II 2 StGB in vielen Fällen, in denen kontrovers diskutierte Rechtsfragen im Ausland anders beantwortet werden als in Deutschland und eine Anknüpfung an die deutsche Bewertung für die Unterstützung für Auslandstaten zunächst erstaunt, kaum eine Auslegung zu, die diese Ergebnisse verhindert, so dass Lösungen dann ggf. auf prozessualem Wege (insbesondere über § 153c I 1 Nr. 1 StPO) gesucht werden müssten.20 Bei verwaltungsakzessorischen Straftatbeständen könnte sich die Situation aber anders darstellen. Die nachfolgend diskutierte Frage ist – soweit ersichtlich – in dieser Form in Rechtsprechung und Literatur noch nicht vertieft behandelt worden21 und geht im 18 Vgl. auch auch Müko-StGB/Ambos, 3. Aufl. 2017, § 9 Rn. 32 (noch „abwartend“ formuliert). 19 Vgl. BGH NStZ 2017, 146 (147): „Unabhängig von der Frage, ob die Regelung (sc. des § 9 I Var. 3) nicht nur auf Erfolgsdelikte im Sinne der allgemeinen Deliktslehre abstellt, ist jedenfalls an dem Ort, an dem – wie hier – die hervorgerufene abstrakte Gefahr in eine konkrete lediglich umschlagen kann, kein zum Tatbestand gehörender Erfolg eingetreten (ebenso Schönke/Schröder/Eser, StGB, 29. Aufl., § 9 Rn. 6 a m.w.N.; Satzger, NStZ 1998, 114 f.; a.A. BGH Urt. v. 12. 12. 2000 – BGHSt 46, 212, 221).“. 20 Vgl. LK/Werle/Jeßberger, § 9 Rn. 52 f. 21 Beiläufig und ohne Auseinandersetzung mit dem Problem oder gar Begründung streift die zivilrechtliche Entscheidung OLG Bremen v. 11. 11. 2004 – 2 U 39/2004 – juris Rn. 35 a.E. den Punkt (eine Strafbarkeit bejahend und damit im Ergebnis der Klage stattgebend); aller-

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Kern darum, ob bei der durch § 9 II 2 StGB letztlich für ausschlaggebend erachteten Beurteilung der Auslandstat nach deutschem Strafrecht22 - allein das im Ausland ausgeübte Verhalten samt Fehlen einer deutschen verwaltungsrechtlichen Erlaubnis oder aber - das Verhalten mit einer hypothetischen deutschen Erlaubnis an Stelle der vorliegenden ausländischen Erlaubnis zugrunde zu legen ist. Oder anders gewendet: Betrachtet man die Auslandstat aus dem Blickwinkel der fehlenden deutschen Erlaubnis? Oder prüft man, ob nach den Wertungen des deutschen Rechts im Ausland das Verhalten mit einer wirksamen nationalen Erlaubnis auch strafbar wäre? Obwohl die enge Orientierung am deutschen Recht in § 9 II 2 StGB auf den ersten Blick dafür sprechen könnte, das Vorliegen gerade einer deutschen Genehmigung zu verlangen, würde dies für verwaltungsakzessorische Straftatbestände ersichtlich zu abenteuerlichen Ergebnissen führen: Für praktisch alle Vorgänge, für die nach den Wertungen des deutschen Rechts Genehmigungen oder andere Hoheitsakte erforderlich sind, also neben der Veranstaltung eines Glücksspiels etwa auch der Betrieb verschiedenster Anlagen, und für die verwaltungsakzessorische Straftatbestände bestehen, müsste dann nämlich eine hypothetische Prüfung mit Erfordernis gerade einer wirksamen deutschen Genehmigung zu einer Teilnahmestrafbarkeit desjenigen führen, der etwa durch die Lieferung von Rohstoffen, Arbeitsmaterialien etc. dieses Verhalten im Ausland unterstützt. Gleiches würde etwa für denjenigen gelten, der einen Arzt in Österreich mit Praxisbedarf beliefert, welcher dort zulässigerweise den Titel „Arzt“ führt, obwohl er dazu nur eine österreichische, nicht aber eine deutsche Befugnis hat (§ 132a StGB). Das kann als Ergebnis kaum gewollt sein, und eine nahezu flächendeckende materiell-rechtliche Kriminalisierung lässt sich auch nicht im Lichte etwaiger strafprozessualer Lösungen mittels des Opportunitätsprinzips legitimieren. Denn über die – schon per se fragwürdige – Wertung des § 9 II 2 StGB hinaus, im Ausland ungeschützten Rechtsgütern akzessorischen Schutz gegen eine Unterstützung ihrer Verletzung zukommen zu lassen, müssten dann regelmäßig, wenn ein Handeln ohne verwaltungsrechtliche Erlaubnis unter Strafe steht, auch Unternehmen und Personen außerhalb Deutschlands zusätzlich noch immer deutsche Genehmigungen einholen. dings wurde diese Entscheidung durch BGH v. 14. 02. 2008 – Abs. 1 ZR 187/04 gerade aufgehoben und die Klage abgewiesen. In der Kommentarliteratur findet sich bei LK/Böse, § 9 Rn. 22 i.V.m. Vor § 3 Rn. 63 ff. ein Hinweis, der bei aller Ausdifferenziertheit im Ergebnis als Indiz gegen eine Strafbarkeit gelesen werden könnte. Ebenso – losgelöst von § 9 II 2 StGB – allgemein zur (außerstrafrechtlichen) Fremdrechtsanwendung im Strafanwendungsrecht LK/ Werle/Jeßberger, Vor § 3 Rn. 330 ff. 22 Vgl. zu dieser Beschreibung der Funktionsweise des § 9 Abs. 2 S. 2 StGB Jung, JZ 1979, 325 (328) sowie dem Grunde nach zustimmend LK/Werle/Jeßberger, § 9 Rn. 50.

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Es dürfte aber nicht Ziel des Gesetzgebers sein, Details (etwa wirtschafts-)verwaltungsrechtlicher Regelungsmechanismen in ausländischen Rechtsordnungen mittelbar kontrollieren zu wollen. Dann kann sich aber der durch § 9 II 2 StGB angeordnete „Gleichklang“ mit dem deutschen Recht beim strafrechtlichen Schutz gegen inländische Teilnahmehandlungen als akzessorische Rechtsgutsverletzungen nur auf den strafrechtlichen Kern der verwaltungsakzessorischen Strafnorm beziehen, oder anders gewendet: Es liegt zwar eine hinreichende ausländische Haupttat zu einer Inlandsbeihilfe vor, wenn das Verhalten im Ausland nach den Vorschriften des deutschen Strafrechts gegen ein strafbewehrtes Verbot mit Erlaubnisvorbehalt verstoßen würde; ob aber die eine Strafbarkeit ausschließende Erlaubnis für die Auslandstat vorliegt, muss sich nach dem jeweiligen nationalen (ausländischen) Recht richten. Würde man das anders sehen, könnte u. U. trotz Einhaltung des am Handlungsort vorgesehenen Verfahrens und (hypothetischer) materieller Genehmigungsfähigkeit des Verhaltens nach Maßstäben des deutschen Rechts die ohnehin als zumindest teilweise als zu weitgehend erachtete Vorschrift des § 9 II 2 StGB vor Auslandstaten einen weitergehenden strafrechtlichen Schutz gewähren als für Inlandstaten. cc) Das alles spricht dafür, bei verwaltungsakzessorischen Straftatbeständen eine einschränkende Auslegung vorzunehmen und für die hypothetische Betrachtung nach deutschem Strafrecht gleichwohl zu fragen, ob ein Glücksspiel durch eine Erlaubnis am Tatort „erlaubt“ ist. Eine – angesichts der überschießenden Weite des § 9 II 2 StGB rechtspolitisch gebotene – Einschränkung ist hier auch (anders als möglicherweise in anderen Fällen einer überbordenden Pönalisierung durch deutsches Strafrecht) mit dem Wortlaut unproblematisch zu vereinbaren, ordnet § 9 II 2 StGB doch für die Teilnahme nur die Anwendung „deutschen Strafrechts“, nicht aber deutschen Verwaltungsrechts23 an.24 Dieses Auslegungsergebnis findet schließlich dadurch Bestätigung, dass nach dem ausländischen Verwaltungsrecht gerade eine grenzüberschreitende Veranstaltung über das Internet lizenziert wird, wenn das veranstaltende Unternehmen die lo23

Zur Anwendung ausländischen Verwaltungsrechts bei verwaltungsakzessorischen Tatbeständen vgl. auch Cornils, Die Fremdrechtsanwendung im Strafrecht, 1978, S. 99 (Ausdruck des Respekts vor fremder Hoheitsgewalt). Ob dies auch dann gelten sollte, wenn im Ausland möglicherweise nicht einmal ein Erlaubnisvorbehalt besteht, mag man noch näher diskutieren – besteht aber auch dort das Erfordernis eines Genehmigungsverfahrens, hieße es ein Stück weit, das ausländische Verfahren zu desavouieren, wenn man ein dort genehmigtes Verhalten als „unerlaubt“ einstufen würde. 24 Nur ergänzend sei bemerkt, dass in Konstellationen wie der vorliegenden auch nicht der in der Literatur (vgl. etwa LK/Werle/Jeßberger, § 9 Rn. 53; NK/Böse, § 9 Rn. 21) angeführte Aspekt für eine Anwendung von § 9 II 2 StGB ins Feld geführt werden kann, dass bei einer mittäterschaftlichen Begehung der im Inland tätige Mittäter schon nach allgemeinen Grundsätzen (§§ 3, 9 I StGB) dem deutschen Strafrecht unterfallen würde und die Abgrenzung zwischen Mittäterschaft und Teilnahme schwierig sein könne. Denn dass die bloße Erleichterung der Abwicklung von Zahlungsflüssen jedenfalls kein mittäterschaftliches Veranstalten des Glücksspiels, sondern geradezu prototypisch „nur“ (bzw. allenfalls) eine Teilnahme sein kann, liegt auf der Hand.

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kalen Vorgaben bzw. Lizenzbedingungen erfüllt. Aufgrund des Gebots der Respektierung fremder Hoheitsgewalt erscheint es deshalb geboten, autonom nach dem ausländischen Verwaltungsrecht zu klären, ob am Tatort ein Handeln „ohne behördliche Erlaubnis“ zu bejahen ist. Soweit daher am jeweiligen Handlungsort im Ausland eine entsprechende behördliche Erlaubnis vorliegt und diese auch eine grenzüberschreitende Veranstaltung zulässt, ist deshalb in (scheinbarer) Abweichung vom Wortlaut des § 9 II 2 StGB keine Strafbarkeit für inländische Teilnahmehandlungen anzuerkennen bzw. deutsches Strafrecht auch für mögliche Beihilfehandlungen in Deutschland schon nicht anwendbar.25

III. Problem-Dimensionen des § 9 II 2 StGB und Lösungsbedarfe 1. Ausgangspunkt Die unter II. skizzierten Beispiele haben bestätigt, dass es sich bei § 9 II 2 StGB um eine problematische Vorschrift handelt, die im Einzelfall zu fragwürdigen Ergebnissen führen kann. Auf den ersten Blick mag sie ihren berechtigten Anwendungsbereich haben, zum einen weil ein nationaler Strafgesetzgeber Verhaltensweisen eben typischerweise nach seinem Rechtsverständnis regelt, und zum anderen weil möglicherweise Fälle einer „Umgehung“ deutschen Strafrechts oder auch einer rein zufälligen Verlagerung der Haupttat ins Ausland damit aufgefangen werden können. Wirklich zwingend erscheint diese Regelung jedoch auch unter diesem Gesichtspunkt nicht, und die grundsätzliche Anwendbarkeit deutschen Rechts im Sinne einer Unterwerfung der deutschen Strafgerichtsbarkeit wie in § 9 II 1 StGB würde durchaus genügen; immerhin mag es ja auch ein sehr deutliches Indiz 25

Eine ähnliche Argumentation erscheint nebenbei auch angebracht, wenn es um die Frage nach einer Strafbarkeit deutscher Spieler an einer im Ausland angebotenen Veranstaltung geht: Auf den ersten Blick würde auch für § 285 StGB gelten, dass die Tathandlung hierzu im Inland stattfindet, selbst wenn das Glücksspiel selbst im Ausland veranstaltet wird und dabei nach vorzugswürdiger Auffassung eine reine Auslandstat darstellt. Das zumindest kontraintuitive Ergebnis der Strafbarkeit eines deutschen Spielers an einem Glücksspiel, das im Ausland nicht von deutschem Strafrecht reglementiert wird, lässt sich mit einem ähnlichen Argument vermeiden: Da der Anbieter im Ausland für sein Angebot explizit eine Lizenz innehält, ist das Angebot (dort) gerade nicht „unerlaubt“. Wenn ein Spieler von Deutschland aus an einem allein im Ausland bzw. vom Ausland aus organisierten Glücksspiel teilnimmt, bezieht sich seine Tathandlung mithin auf ein Glücksspiel, welches explizit lizenziert ist, er nimmt also an keinem „unerlaubten Glücksspiel“ teil. Man könnte auch formulieren: Der Umstand, dass es für das Spiel als solches keinen (strafrechtlichen) Veranstaltungsort im Inland gibt, mag für das Strafanwendungsrecht des Spielers irrelevant sein, nicht aber für die tatbestandliche Reichweite des § 285 StGB. Nach seinem Schutzzweck und seiner akzessorischen Gestaltung kann er sinnvollerweise nur bei der Teilnahme an einem Glücksspiel erfüllt sein, das auch nach strafrechtlicher Wertung verboten ist. Findet das Spiel aber ausschließlich im Ausland statt und begründet keinen Tatort und damit keinen Anknüpfungspunkt für eine strafrechtliche Bewertung im Inland, kann es für die Frage, ob das Glücksspiel „erlaubt“ oder „unerlaubt“ veranstaltet wird, nur auf die Rechtslage im Ausland ankommen.

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dafür sein, dass das konkrete Verhalten jedenfalls an der Grenze der Strafwürdigkeit liegt, wenn es im Ausland nicht unter Strafe steht. Konstruktiv müsste man sich natürlich angesichts des akzessorischen Charakters der Teilnahmestrafbarkeit dann die Frage stellen, nach welchem Recht dann die Haupttat bewertet werden soll. Indes könnte dies ja durchaus deutsches Strafrecht sein, soweit es jedenfalls auch eine vergleichbare Strafbarkeit im Ausland gibt; ein entsprechender Mechanismus ist dem Strafanwendungsrecht des StGB etwa aus § 7 StGB durchaus bekannt. 2. Problemebenen des § 9 II 2 StGB Die Probleme des § 9 II 2 StGB liegen auf durchaus unterschiedlichen Ebenen: a) So ist ganz generell und unabhängig vom konkreten Einzelfall und vom konkreten Delikt fraglich, warum akzessorischer Rechtsgüterschutz gewährt werden muss, wenn ein Verhalten am Tatort nicht unter Strafe steht. Dies betrifft freilich die kriminalpolitische Grundentscheidung, und wollte man hier Abhilfe schaffen, so müsste § 9 II 2 StGB aufgehoben werden, was allein Sache des Gesetzgebers ist. b) Eine vielleicht nicht qualitativ, aber doch zumindest quantitativ neue Ebene erreicht die Vorschrift, wenn es sich um kriminalpolitisch ohnehin fragwürdige Strafdrohungen handelt. Hier könnte es nämlich zum einen legitime, zumindest aber nachvollziehbare Gründe dafür geben, warum von Täter- bzw. Opferseite das Ausland aufgesucht wird; zum anderen könnte sich der Haupttäter im Ausland bei einer als Anstiftung oder Beihilfe in Betracht kommenden vorhergehenden Teilnahmehandlung in Deutschland zumindest mittelbar zum Schutz im Interesse des potentiellen Teilnehmers gedrängt sehen, sein Verhalten zu unterlassen, obwohl es an seinem Aufenthaltsort und in seiner Heimatrechtsordnung erlaubt ist. Indes ist zuzugeben, dass die Kategorie der „problematischen“ oder „fragwürdigen“ Strafdrohung, für die oben § 217 StGB geradezu als Paradebeispiel angeführt wurde, wahrscheinlich nicht weiterhilft. Denn Fälle, in denen ein in Deutschland strafbares Verhalten im Ausland gerade straflos ist, werden sehr häufig Tatbestände betreffen, welche rechtskulturell und rechtspolitisch unterschiedlich bewertet werden können und daher von zumindest Teilen der Bevölkerung als „fragwürdig“ empfunden werden. Auch hier erscheint daher eine generelle Restriktion anhand eines solchen Kriteriums nicht zielführend, ohne dass damit die Grundentscheidung des § 9 II 2 StGB weitgehend konterkariert würde. Im hier erwähnten Fall des § 217 StGB besteht freilich eine Besonderheit, denn selbst dann, wenn man das nach dem Willen des Gesetzgebers von der Vorschrift vorgeblich geschützte Rechtsgut der Verhinderung eines „suizidfreundlichen Klimas“ zur Stärkung der Autonomie am Lebensende26 anerkennt, droht durch die Möglichkeit einer Suizidbeihilfe im 26 Gemeint ist selbstverständlich nicht die Autonomie des Sterbewilligen, die durch § 217 StGB unzweifelhaft gerade auf das Massivste eingeschränkt wird, sondern eine Autonomie dahingehend, dass niemand durch die Existenz geschäftsmäßiger Suizidförderer einen latenten Druck zum Suizid verspüren kann, obwohl er selbst an einen solchen nicht denken würde.

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Ausland ein entsprechendes Klima innerhalb von Deutschland nicht ernsthaft zu entstehen (bzw. es zumindest nicht Sache des deutschen Gesetzgebers ist, eventuelle grenzüberschreitende Effekte der Rechtslage im Ausland regeln zu wollen). Deshalb würde auch die Teilnahme an solchen Auslandstaten dieses (hier einmal unterstellte) Rechtsgut jedenfalls nicht in rechtlich signifikanter Weise berühren. c) Strukturell am ehesten einer spezifischen Strafbarkeitseinschränkung zugänglich erscheint die hier zuletzt behandelte Fallgruppe der verwaltungsakzessorischen Straftatbestände. Wenn eine Strafbarkeit in Deutschland nur bei einem unerlaubten Verhalten in dem Sinne besteht, dass es an einer erforderlichen Genehmigung bzw. Lizenz fehlt, droht in solchen Fällen, in denen für das Verhalten eine Lizenz im Ausland vorliegt, in Deutschland dagegen fehlt, jedenfalls bei reinen Auslandstaten (ohne Handlungs- oder Erfolgsort im Inland) eine Erschwerung eines im Ausland explizit erlaubten Verhaltens dadurch, dass seine Unterstützung von Deutschland aus verboten wird. Das ist (abgesehen von einem engen Kreis von Straftaten, bei denen schon nach §§ 5 und 6 StGB das deutsche Strafrecht unabhängig vom Recht des Tatorts gilt) problematisch. Dogmatisch ließe sich hier eine unsachgemäße Ausdehnung des deutschen Strafrechts dadurch vermeiden, dass man entsprechend dem Wortlaut des § 9 II 2 StGB eben nur auf das deutsche Strafrecht, nicht aber auf das deutsche Verwaltungsrecht abstellt, sondern die verwaltungsrechtlichen Vorfragen konsequent nach dem Recht des Tatorts beurteilt. Dies erscheint insoweit auch wertungsmäßig stimmig, als die ohnehin nicht unproblematische Ausweitung der deutschen Strafbarkeit nach § 9 II 2 StGB dann bei solchen Delikten eingeschränkt wird, die nicht per se verbotene Verhaltensweisen unter Strafe stellen, sondern durchaus die Legalisierungsmöglichkeit durch ein verwaltungsrechtliches Verfahren vorsehen.

IV. Fazit Die Frage, wie weit ein nationaler Gesetzgeber den Anwendungsbereich seines Strafrechts ausdehnt, ist zunächst eine kriminalpolitische. Dabei ist er zwar dennoch nicht ganz frei, sondern insbesondere durch das völkerrechtliche Gebot der Nichteinmischung gebunden. Indes dürfte dieses letztlich keine unüberwindbare Hürde sein, soweit es „nur“ um eine Strafbarkeit inländischer Teilnahmehandlungen nach Maßgabe von § 9 II 1, 2 StGB geht. Eine andere Frage ist aber, ob es schon allein deshalb (immer) überzeugend ist, ein Verhalten mit Strafe zu belegen, weil man dies als nationaler Gesetzgeber ohne Jurisdiktionskonflikte oder Verstoß gegen völkerrechtliche Grundsätze könnte. Hier ist die Regelung des § 9 II 2 StGB durchaus Zweifeln ausgesetzt: Die kurzen Beispiele oben haben einerseits Konstellationen beschrieben, in denen die Anwendung der Norm – aus verschiedenen Gründen – zu fragwürdigen Ergebnissen führt; andererseits erscheint aber auch jenseits solche Sonderfälle der Bedarf dafür, bei der Teil-

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nahme an einem am Tatort straflosen Verhalten pauschal und ohne Beschränkung etwa auf die Verletzung besonders zentraler Rechtsgüter deutsches Strafrecht anzuwenden, jedenfalls nicht übermäßig groß. Der Rechtsanwender muss die Gesetzeslage zwar zunächst einmal so hinnehmen. Er sollte aber nicht zögern, nach Argumenten zu suchen, um in besonders zweifelhaften Konstellationen auch die Normanwendung – freilich lege artis – vermeiden zu können. Wie der Jubilar den eingangs erwähnten Fall, den er mir in dem Berufungsverfahren gestellt hat, selbst lösen würde, ist damals nach meiner Erinnerung nicht explizit von ihm mitgeteilt worden (wenngleich man hier eine Vermutung haben kann, welches Ergebnis ihm „vernünftig“ vorkommen würde). Dass ich mich aber jenseits der Entscheidung von ganz konkreten Fällen in meinem Interesse an einem kritischen Umgang mit fragwürdigen gesetzgeberischen Leistungen mit ihm einig wähnen darf, wird in seinen Publikationen bis in die jüngste Vergangenheit deutlich.27

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Vgl. zuletzt nur Merkel, ZfL 2018, 114.

Garantenstellung bei tätiger Verletzung negativer Pflichten Von Günther Jakobs

I. Begehung als Verletzung der Verkehrssicherungspflicht Die Erörterung einer Garantenstellung beim Begehungsdelikt (durch Tun!) wird bei negativen Pflichten1 in der Regel für überflüssig gehalten, und zwar weil die vermeidbare Schädigung eines anderen generell verboten sei und nicht nur besonders verpflichteten Personen. Diese Sicht verkürzt das Problem doppelt: Sie bezieht sich allenfalls (!) auf einen Kernbereich des Begehens und klärt auch für diesen nicht den Grund der Haftung. Zunächst zum Haftungsgrund! Lässt man positive Pflichten, also solche zu helfender Zuwendung,2 beiseite, so bleibt bei einem Unterlassungsdelikt als Haftungsgrund die Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht mit ihren „Ingerenz“ und „Übernahme“ genannten Verlängerungen. Wenn einer Person ein Organisationskreis3 zur ungestörten Gestaltung zugewiesen wird, so folgt daraus bei einem – zumindest praktisch – unentrinnbar dichten Nebeneinander vieler Personen die Notwendigkeit, bei der Verwaltung des Kreises auf den Bestand der Kreise anderer Personen Rücksicht zu nehmen; denn ohne diese Rücksicht ließe sich das ungestörte Gestalten nicht dulden. Bei diesem Synallagma von ungestörtem Gestalten und Rücksicht handelt es sich um eine Notwendigkeit, deren trivialer Name „Verkehrssicherungspflicht“ lautet.

1 Jakobs, Negative Pflichten, in: Charalamis (Hrsg.), jus, ars, philosophia et historia. Festschrift für Johannes Strangas, 2017, S. 245 ff.; jüngst auch ders., Der Organisationskreis. Versuch einer systematischen Bestimmung, in: Barton u. a. (Hrsg.), Festschrift für Thomas Fischer, 2018, S. 115 ff. – Auch historisch grundlegend zur Pflichtenlehre: Pawlik, „Das dunkelste Kapitel der Dogmatik des Allgemeinen Teils“. Bemerkungen zur Lehre von den Garantenpflichten, in: Heinrich u. a. (Hrsg.) Strafrecht als Scientia Universalis. Festschrift für Claus Roxin, 2011, Bd. 1, S. 931 ff.; ders., Das Unrecht des Bürgers. Grundlinien der Allgemeinen Verbrechenslehre, 2012, S. 162 ff., 174 ff. 2 Dazu Pawlik, „Das dunkelste Kapitel“ (Fn. 1), S. 942 ff.; ders., Unrecht (Fn. 1), S. 174 ff.; Jakobs, Positive Pflichten, in: Faria Costa u. a. (Organisadores), Estudos em Homenagem ao Prof. Doutor Manuel da Costa Andrade, Volume I, Direito Penal, Coimbra 2017, S. 689 ff. 3 Jakobs, Organisationskreis (Fn. 1).

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Fälle bestehender Verkehrssicherungspflichten sind allgemein bekannt und decken alle Gestaltungen eines Organisationskreises ab, von der Pflicht zur Sicherung eines aggressiven Tiers über diejenige zur Sicherung der Ziegel auf dem Dach bis hin zur Pflicht, beim Betrieb eines Chemiewerkes für die sichere Verwahrung von giftigen Stoffen zu sorgen. Der Grund für solche Pflichten ist, abstrakt gesehen, stets derselbe: Wer andere Personen von der Verwaltung dessen, was ihm selbst „eigen“ ist, ausschließen kann, ist die „geborene“, in erster Linie stehende Person, die für die Schadlosigkeit des Verwaltungszustands des „Eigenen“, eben des Organisationskreises, zu sorgen hat. Insoweit lassen sich gewiss noch Konkretisierungen anbringen (etwa dazu, wann der potenziell Geschädigte selbst die Gefahr abwenden muss), aber prinzipieller Widerspruch gegen den – im Kern ja auch simplen – Gedankengang ist wohl nicht zu erwarten. Nun darf man sich einen Organisationskreis nicht als Summe von Gütern vorstellen, die um einen beseelten Leib lagern und von diesem gelenkt werden, vielmehr besteht er aus denjenigen Rechten, die eine Person konstituieren; eine Person als Trägerin von Rechten (und Pflichten)4 entsteht gleichursprünglich mit ihrem Organisationskreis. Insbesondere ist der Wille zum Gestalten des Kreises keine seelische Regung außerhalb des Kreises, keine externe Lenkung, sondern ein dem Kreis zugeschriebener Teil seiner selbst, sodass sich die Verwaltung eines Organisationskreises – genau formuliert – als Selbstverwaltung darstellt. – Dass allein ein Wille, gleich welchen Inhalts, nicht in den Organisationskreis eines anderen eingreift,5 hindert seine Eigenschaft als Akt der Verwaltung nicht; denn es mag auch Akte ohne Außenwirkung geben, die sozial so irrelevant sind wie ein Wimpernschlag (wenn dieser nicht ein Zeichen bildet) oder zwar sozial relevant, aber nicht eingreifend, etwa supererogatorischer Art wie eine wohltätige Spende. Nicht jede Verwaltung eines Organisationskreises führt zu Außenwirkungen, aber jede Außenwirkung ist das Ergebnis der Verwaltung des Kreises und bei einer deliktischen Außenwirkung eben das Ergebnis rechtlich fehlerhafter Verwaltung. Was daraus folgt, liegt auf der Hand: Der sich verwaltende Organisationskreis verwaltet sich auch, wenn er einen Willen zum Tun oder Unterlassen bildet, und er trägt deshalb für die Willensbildung eine Verkehrssicherungspflicht.6 Deliktisches Handeln oder Unterlassen ist bei Personen ohne einen besonderen (positiven) Status 4

Th. I. Tit. I. § 1 ALR. Beim Versuch muss die Externalisierung des Willens in verstehbarer Art und Weise erfolgen; dazu Jakobs, Der Versuch des Versuchs, in: Safferling u. a. (Hrsg.), Festschrift für Franz Streng, 2017, S. 37 ff. 6 Dagegen insbesondere mit seinem dogmatikinternen und gesellschaftsfernen Logizismus Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S. 228 Fn. 301: „Der vom Verwirklichungswillen getragene Handlungsablauf kann nicht die Grundlage einer Garantenpflicht zur Verhinderung dieser Handlung sein.“ – Aber darum geht es so wenig, wie beim Unterlassungsdelikt der mangelnde Wille zur Schadensverhütung Grundlage der Garantenpflicht ist. Vielmehr ist die rechtlich garantierte Selbstverwaltung Grundlage der Garantenpflicht zur Rücksicht auf andere. 5

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nichts anderes als die (externalisierte) Verletzung der Verkehrssicherungspflicht für sich selbst, mit anderen Worten, der Haftungsgrund für aktives Tun oder Unterlassen findet sich in der Verletzung der Verkehrssicherungspflicht, für die eigene Unschädlichkeit zu sorgen.7 Dadurch verliert die These, ein Begehungsdelikt bedürfe keiner Garantenstellung, jede Plausibilität. Auch beim Tun geht es um die Verletzung der Pflicht eines Garanten,8 nämlich der Verkehrssicherungspflicht. Die Verletzung dieser Pflicht liegt allerdings häufig solchermaßen evident vor, dass sie keiner Erörterung bedarf, was aber nichts am Bestand dieser Pflicht als Haftungsgrund ändert.

II. Ingerenz. Abbruch rettender Verläufe Vom Unterlassungsdelikt her ist bekannt, dass jedenfalls ein rechtswidriges Verhalten, vielleicht sogar ein zwar rechtmäßiges, aber besonders riskantes,9 die Pflicht 7 Dass eine rechtliche Beurteilung von Verwaltungsvorgängen ohne deren Externalisierung nicht erfolgt, da ein nichttotalitärer Staat an die isolierten Interna einer Person (eines Organisationskreises) keine Konsequenzen knüpft, hindert es nicht, bei gegebenem Anlass (bei einer Externalisierung oder dem Verdacht einer solchen) zur Gewichtung des Verwaltungsfehlers darauf zurückzugreifen. 8 So bereits Herzberg, Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 1972, S. 174: „Handlung ist das vermeidbare Nichtvermeiden eines Erfolges in Garantenstellung“ (Hervorhebung nicht original). – Explikationen finden sich S. 174 ff.; teils korrigierend Herzberg, Gedanken zum strafrechtlichen Handlungsbegriff und zur „vortatbestandlichen“ Deliktsverneinung, GA 1996, S. 1 ff. – Der hiesige Begriff lautet in größtmöglicher Allgemeinheit: Handlung ist das Sich-zuständig-Machen für ein Ereignis (und solches kann auch ein lobenswertes Werk sein; dann hat der Verkehrssicherungspflichtige seinen Bereich eben lobenswert verwaltet). Immerhin hat Herzberg die Koinzidenz von – bei ihm – deliktischem Tun und Unterlassung in einer Garantenstellung erkannt (dazu Walter, Der Kern des Strafrechts. Die allgemeine Lehre vom Verbrechen und die Lehre vom Irrtum, 2006, S. 36 f.; NKPuppe, Kindhäuser u. a. (Hrsg.), NomosKommentar Strafgesetzbuch, Bd. 1, 5. Auflage 2017, vor § 13 Rn. 52; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1, Grundlagen. Der Aufbau der Verbrechenslehre, 4. Auflage, 2006, 8/33 ff.). – Wenn Herzberg – seinerzeit naheliegend – die „kleinen“ echten Unterlassungsdelikte (die allerdings auch durch Aktivität begangen werden können) mangels einer Garantenstellung aus dem Handlungsbegriff ausklammert (Unterlassung, S. 176), so erfolgt das – was hier allerdings nicht vertieft werden kann – voreilig: Auch diese Delikte sind Garantendelikte, nur gilt die Garantie nicht einzelnen Personen als potenziellen Opfern, vielmehr dem Schutz der Erträglichkeit einer liberalen Ordnung durch den Ausschluss ihres exzessiven und deshalb anstößigen Gebrauchs, durchaus vergleichbar dem Wucher; siehe dazu unten Fn. 12. – Zur normativen Gleichstellung von Begehung (Tun) und Unterlassung Pawlik, „Das dunkelste Kapitel“ (Fn. 1), S. 938 ff.; Freund, Jakobs und die Unterlassungsdelikte, in: Kindhäuser u. a. (Hrsg.), Strafrecht und Gesellschaft. Ein kritischer Kommentar zum Werk von Günther Jakobs, 2019, S. 379 ff., 390 ff.; schon ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Auflage, 2009, S. 216 ff. 9 Die Möglichkeit einer Ingerenzhaftung wird vereinzelt überhaupt abgelehnt, so insbesondere bei Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 231 ff., 313 ff.; weitere Nachweise bei Jakobs, Die Ingerenz in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in: Roxin u. a. (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Bd. IV, 2000, S. 29 ff. Fn. 4, S. 33 Fn. 18. – Die Rechtsprechung hat, was die Qualifikation des Vorverhal-

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erzeugt, als Folge dieses Verhaltens drohende Gefahren zu inhibieren. Es handelt sich, wie leicht zu erkennen ist, um das Zurechnungsinstitut der Ingerenz, bei dem es sich um eine Verlängerung der Verkehrssicherungspflicht in eine Zeit handelt, zu der eine Gefahr den Organisationskreis des Sicherungspflichtigen bereits verlassen hat. Klassisches Beispiel, wer als Fahrer eines Kraftfahrzeugs wegen eines Fahrfehlers einen sich korrekt verhaltenden Fußgänger verletzt (rechtswidriges Vorverhalten; bei korrektem Verhalten bleibt das Sonderrisiko der Benutzung eines Kraftfahrzeugs),10 hat die dem Fußgänger drohenden weiteren Schäden abzuwenden, also die geschehene Usurpation gering zu halten. Das Vorverhalten begründet also das Gebot,11 Schadensfolgen zu mindern. Dieses Gebot hat nicht eine helfende Zuwendung, also keine positive Pflicht zum Inhalt, verpflichtet vielmehr dazu, Ausreißer der eigenen Organisation zurückzuholen. Grund für die Pflicht ist die ausschließliche Zuständigkeit für die Genese der Gefahrenlage im eigenen Organisationskreis. Das Gebot folgt also aus der Zuständigkeit für die eigene Organisation: eine negative Pflicht. Das betrifft jedoch nur einen phänotypisch bestimmten Ausschnitt des Ingerenzinstituts. Abstrakt formuliert geht es darum, dass Gefahren mit Leistungen desjenigen Organisationskreises zu revozieren sind, aus dessen rechtswidriger oder doch sonderriskanter Verwaltung sie resultieren. Die Leistungen bestehen in den üblicherweise behandelten Fällen in einer gebotsgemäßen tätigen Rücknahme, sie mögen aber auch durch eine verbotsgemäße Verkleinerung des Handlungsspielraums erbracht werden, also durch die Pflicht, an sich zustehende Potenziale nicht zu nutzen. – Eine vergleichbare Verkleinerung zeigt sich übrigens nicht weniger im Fall eines Gebots: Gebotserfüllung verkleinert den Bereich freier Selbstverwaltung. Eine Verbote generierende Ingerenz liegt vor, wenn das rechtswidrige oder sonderriskante Vorverhalten Gefahren erzeugt, die vom Opfer selbst oder einer dritten Person mit Mitteln des Kreises, aus dem die Gefahr stammt, neutralisiert werden können. Hier ist es dem Inhaber des Kreises verboten, die Nutzung seiner Potenziale tens betrifft, zumindest verbal stets geschwankt. Kristallisationspunkte waren bislang die Beteiligung des von der Ehefrau beklagten Ehebrechers an der Falschaussage seiner Partnerin (etwa BGHSt 2, 129 ff.; weitere Nachweise bei Jakobs, a.a.O., S. 32 ff.), die Haftung des Gastwirts für die Straftat eines betrunkenen Gastes (sehr weit BGHSt 4, 20 ff.; einengend BGHSt 19, 152 ff., 155), Verkehrsunfälle mit Kraftfahrzeugen (gut abwägend BGHSt 25, 218 ff.), der Rückruf schädigender Industrieprodukte (BGHSt 37, 106 ff.) und die Beteiligtenhaftung, insbesondere bei einem Exzess des Ausführenden (BGH NStZ 1998, 83 ff., mit überflüssiger Festlegung auf ein rechtswidriges Vorverhalten). – Eingehendere Darstellung bei Jakobs, a.a.O., S. 31 ff. 10 Eine Variante von BGHSt 25, 218 ff. 11 Simples Beispiel für ein Verbot: Der gestürzte Fußgänger richtet sich an dem Fahrzeug auf, von dem er angefahren wurde: Es ist dem Fahrer verboten, dieses fortzubewegen. Hat der Fahrer den Unfall durch ein Unterlassen herbeigeführt, folgt aus der Gebotsverletzung (oder aus der Nutzung eines besonderen Risikos) ein Verbot. – Ist der Fußgänger betrunken gegen das korrekt geführte Fahrzeug getorkelt, bestehen für dessen Fahrer nur Pflichten gemäß § 323c StGB.

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zu verhindern: Die Verhinderung wäre ein garantenpflichtwidriges Begehungsdelikt mit der Folge der Haftung für die Konsequenzen. Das heißt, die Verhinderung wäre als garantenpflichtwidriges Verhalten nicht davon abhängig, ob sich die gefahrreduzierende Person im Rahmen der Proportionalität des aggressiven Notstands12 hält oder nicht, vielmehr darf diese Person auch dann nicht gehindert werden, wenn sie zur Vermeidung einigermaßen geringer Schäden in einigermaßen gewichtige Güter eingreift. Das heißt weiterhin, hier erübrigten sich Überlegungen, ob wegen der Verwandtschaft der Pflicht zur Duldung eines aggressiven Notstandseingriffs mit der unterlassenen Hilfeleistung nach § 323c StGB13 die Strafe zu reduzieren ist, wenn das ausersehene Eingriffsopfer (oder eine dritte Person) den Eingriff inhibiert. Vielmehr handelt es sich im Fall der Ingerenz schlicht um eine Verletzung des in der Gefahr Belassenen durch ein Tun, im Fall mangelnder Verwirklichung der Gefahr um einen entsprechenden Versuch. Dagegen lässt sich nicht einwenden, diese Verletzung durch Tun sei nichts als ein Fall der Hinderung eines rettenden Verlaufs und damit eine Variante der Erfolgskausierung; denn der Abbruch eines rettenden Verlaufs führt nur dann zu einem Verletzungsunrecht, wenn er in einen fremden Organisationskreis eingreift. Allein dass die Welt für eine Person günstig gestaltet ist, gibt dieser nicht das Recht, von allen anderen den Verzicht auf eine Umgestaltung dieser Welt zu verlangen. Vielmehr muss, soll der Abbruch zu einem Verletzungsunrecht führen, dem dadurch Geschädigten

12 Zu diesem Rechtfertigungsgrund eingehend Merkel, Zaungäste?, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1996, S. 171 ff. Merkel verwirft jede utilitaristische Deutung, beziehe sie sich auf einen addierten Gesamtnutzen oder den Nutzen einer Gesamtheit (S. 178 ff., 187 ff.). Auch in anderem Zusammenhang (Notwehrfolter) verwirft Merkel das utilitaristische Argument, die Werthaltung der Gesamtheit werde durch die Zulassung solchen Verhaltens pervertiert (Merkel, Folter und Notwehr, in: Pawlik u. a. [Hrsg.], Festschrift für Günther Jakobs, 2007, S. 375 ff., 380): „Wer mit einem Durchgriff auf solche Argumente (,Gesamtheit‘, G. J.) die Klärung individueller Rechte überspringt oder präjudiziert, der folgt – bewusst oder nicht – einer unrechtlichen Maxime.“ – Beim aggressiven Notstand soll es sich vielmehr um ein „moralisches Prinzip“ mit rechtlicher Auszeichnung handeln (Zaungäste, S. 185, Hervorhebung original). Das Strafrecht müsse „seine tragenden Grundsätze auf das Fundament der Ethik stellen“ (Zaungäste, S. 174). – Hier wird eher Pawlik gefolgt (Pawlik, Der rechtfertigende Notstand. Zugleich ein Beitrag zum Problem der strafrechtlichen Solidaritätspflichten, 2002, S. 113 ff.), der den Duldungspflichtigen pro magistratu dulden lässt. – Mehr noch, es dürfte zu erörtern sein, ob bei einer nicht einmal kleinen Gruppe von Delikten das Unrecht darin liegt (und damit der Strafgrund darin besteht), dass der Täter eine die Gesellschaft prägende Institution an ihren Rändern zur Fratze verzerrt und damit ihre Geltung gefährdet: etwa der eine Duldung Verweigernde beim aggressiven Notstand (§ 34 StGB), der im Katastrophenfall Hilfe Verweigernde (§ 323c StGB), der bestimmte schwere Straftaten, die bevorstehen, nicht Anzeigende (§ 138 StGB), der wucherisch Drohende (§ 240 StGB) oder Wuchernde (§ 291 StGB). – Zu den beiden letztgenannten Tatbeständen eingehender Jakobs, Nötigung. Darstellung der gemeinsamen Wurzel aller Delikte gegen die Person, 2015, S. 25 ff. 13 Diese Verwandtschaft ist Merkel sehr wohl bekannt: Zaungäste (Fn. 12), S. 184 und passim; dazu auch Pawlik, Notstand (Fn. 12), S. 152 ff. und passim.

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garantiert sein, dass die für ihn günstige Gestaltung der Welt erhalten bleibt.14 Niemand muss darauf verzichten, seine Geschäfte zu besorgen oder sonstige Interessen zu verfolgen, nur weil dies für einen anderen nützlich wäre.15 Im Fall des hindernden Ingerenzpflichtigen bedarf es also zur Begründung eines Verletzungsunrechts dieser Garantenpflicht.16 – Allerdings bleibt die Pflicht, auf ein bestimmtes Tun zu verzichten, als Ausprägung der Pflicht zur Hilfeleistung gemäß § 323c StGB möglich.

III. Garantenpflicht durch Übernahme Die Übertragung der Überlegungen zur Ingerenz auf die Übernahme sollte keine Schwierigkeiten bereiten, wenn die Pflicht wegen einer Übernahme streng als eine Verlängerung der negativen Pflicht verstanden wird, den eigenen Organisationskreis in einem ordnungsgemäßen Zustand zu halten. Es handelt sich um Fälle, in denen die garantierten kognitiven Bestandsbedingungen eines Organisationskreises gestört werden, wobei es nicht darauf ankommt, ob diese dem Inhaber nur faktisch den Bestand erhalten, ihm allerdings als garantiertes Recht (etwa als sein Eigentum) zustehen, oder ob es sich um Leistungen von Garanten handelt (etwa des anwesenden Hausarztes) oder um solche von Nichtgaranten, die allerdings in den Organisationskreis des Bedürftigen aktuell eingebunden und dadurch zu (auch) dessen Teil gewor-

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Eingehend behandelt von Haas, Kausalität und Rechtsverletzung. Ein Beitrag zu den Grundlagen strafrechtlicher Erfolgshaftung am Beispiel des Abbruchs rettender Kausalverläufe, 2002. Haas verneint beim Abbruch rettender Verläufe zwar eine Verursachung im engeren Sinn, stellt aber neben diese die „Rechtsfiktion“ einer Verursachung, wenn der abgebrochene Rettungszweig ein „Teil der dem Opfer dinglich zugeordneten Rechtssphäre ist und nach dessen Willen die Integrität desjenigen Teils seiner Rechtssphäre garantieren (!, G. J.) sollte, in dem der Rechtsgutsschaden eingetreten ist […]“ (S. 217). – In hiesiger Terminologie: Erfolgshaftung erfordert die Verletzung eines garantierten Rechts; eingehender Jakobs, Organisationskreis (Fn. 1), S. 118 ff. mit Fn. 11 – 13. 15 Eine Ausnahme bildet wohl das Schikaneverbot (§ 226 BGB); Haas, Kausalität (Fn. 14), S. 264 ff. – Die Vorschrift könnte allerdings auch der in Fn. 12 a. E. skizzierten Deliktsgruppe zuzuordnen sein. 16 Gewiss sind auch als Verletzungen zurechenbare Hinderungen rettender Verläufe möglich, ohne dass der Hindernde die Notwendigkeit der Rettung herbeigeführt hat (etwa, ein Passant hindert den sich aktuell mit dem Organisationskreis des Opfers verbindenden oder ohnehin als Garant verbundenen Notarzt). Aber auch in solchen Fällen muss eine Garantieverletzung dargetan werden, was nur dergestalt möglich ist, dass der Hindernde die Nutzung der dem Opfer zustehenden Potenziale unmöglich macht, und zu diesen Potenzialen gehört die Summe aller im Organisationskreis befindlichen Rechte, garantierte Rechte auf die Mitwirkung anderer eingeschlossen. – Was hingegen nur obligatorische Ansprüche angeht oder Leistungen, auf die nicht einmal ein solcher Anspruch besteht, so sind sie dem Inhaber eines Organisationskreises nicht garantiert; wenn sich der Verpflichtete allerdings aktuell in diesem Kreis bewegt, so mag man argumentieren, für dritte Personen gehöre er zu dessen Bestand. Beispielhaft, wer den Dachdecker hindert, der aktuell ein Hausdach saniert, haftet für die Folgen eines Regenschadens (Sachbeschädigung).

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den sind.17 – Irgendwelcher Vereinbarungen bedarf es nicht; beispielhaft, wer einen zerbrechlichen fremden Gegenstand ergreift, der beim Eigentümer sicher gelagert ist, übernimmt es, erneut für sichere Lagerung zu sorgen. Die aus der Übernahme resultierende Pflicht mag eine Gebotsbefolgung zum Inhalt haben, aber auch diejenige eines Verbots. Zu ersterem, wer ein kleines Kind scherzend in die Luft wirft, muss es auch wieder auffangen (Übernahme neben Ingerenz). Zu letzterem, wer eine extrem gegen Rauch empfindliche Person zu sich einlädt, darf nicht das Fenster öffnen, wenn der Nachbar grillt. Ein Beispiel für fehlende Garantie, wer eine Person, die sich, ohne ihrerseits Garantin zu sein, hilfswillig zu einem Unfallort aufmacht, durch die Erklärung aufhält, selbst die Hilfe leisten zu wollen, nimmt dadurch dem potenziellen Opfer nichts, was diesem garantiert wäre (der Hilfswillige ist allein durch seinen Willen nicht bereits in die Organisation des Hilfsbedürftigen eingegliedert), und haftet deshalb seinerseits aufgrund der tätigen (!) Abstiftung nur wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB). – Die Verwandtschaft der als verlängerte negative Pflicht verstandenen Übernahme mit der Ingerenz dürfte deutlich geworden sein, sollte aber auch nicht verwundern; denn es geht gleichermaßen um negative Pflichten.

IV. Konkretisierungen Bislang wurden Organisationskreise ohne Blick auf qualitative Besonderheiten behandelt. Auf quantitative ist hier nicht einzugehen: Der Organisationskreis eines Regierungschefs ist nun einmal größer als derjenige einer „auf der Straße“ lebenden Person. Bei den qualitativen Besonderheiten sind hier nicht alle, sondern nur diejenigen zu behandeln, die sich auf den Bestand von Garantieverhältnissen im Rahmen negativer Pflichten auswirken. Es kommen zwei Arten in Betracht: opferbezogene und täterbezogene Besonderheiten. Bei den opferbezogenen Besonderheiten wird ein Organisationskreis wegen seiner Gestalt partiell aus einer Garantie ausgenommen, genauer formuliert, insoweit wird sein Inhaber im rechtlichen Sinn überhaupt nicht Opfer. Ein Organisationskreis kann durch zurechenbar schlechte Verwaltung oder durch natürliche Vorgänge in einen solchermaßen „gebrechlichen“ Zustand geraten, dass die Berücksichtigung dieser Schwäche den Aktionsradius anderer Personen, die nur negativ verpflichtet sind, in einem Maß einschränken würde, das mit einem glatten Verlauf alltäglicher Verrichtungen unverträglich wäre. Anders formuliert, führt das Tun einer Person wegen einer solchen Schwäche einer anderen zu einem Schaden, muss das als casus und nicht als zurechenbarer Eingriff abgearbeitet werden. Beispielhaft, eine auf bestimmte Pollen extrem allergisch (körperlich verletzt) reagierende Person hat keinen Anspruch darauf, dass in einem größeren Umkreis jeder Gartenbesitzer 17 Nicht erfasst sind also nur vorbereitende und noch nicht einbindende Leistungen nach § 323c StGB; dazu Jakobs, Organisationskreis (Fn. 1), S. 116 Fn. 5.

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die Kultivierung der bestimmten Pflanzen unterlässt. Die allergische Person muss sich eben selbst schützen, und wenn das unmöglich ist, den Schaden ihrer Schwäche und nicht den Aktionen anderer Personen zuordnen: Diese haben insoweit nichts zu garantieren. Eine nur phänotypisch unterscheidbare opferbezogene Schwäche liegt vor, wenn der Bestand eines Organisationskreises von den Leistungen eines anderen Kreises abhängt und insoweit an diesem schmarotzt. Solches führt nicht zum Verbot für den Inhaber des ausgesaugten Kreises, den Leistungstransfer aktiv zu unterbinden, weil eine rein faktische Abhängigkeit rechtlich leer bleibt, also das Faktum keine Garantie erzeugt. Beispielhaft, wenn bestimmte Pflanzen einen bestimmten Dünger benötigen, um zu gedeihen, erstarkt allein deshalb der Lieferant des Düngers nicht zum Garanten. Das wohl bekannteste Beispiel lautet, die üppige Verteilung von existenznotwendigen Vorteilen, etwa das Sprengen von Wasser mit Spritzwirkung auf des Nachbars randständige Pflanzen, führe nicht zu dem Verbot, aktiv handelnd das Verteilgerät abzuschalten. Bei täterbezogenen Besonderheiten könnte der Inhaber eines Organisationskreises die Schadlosigkeit eines anderen – vielleicht sogar leichthin – erhalten, aber es fehlt eine entsprechende Pflicht. Den Grund dafür bildet folgende Überlegung: „Der Ressourcenbesitz des einen gibt einem anderen grundsätzlich keinen Rechtstitel auf einen Ressourceneinsatz zu seinen Gunsten.“18 Für Unterlassungen ist das wohl unbestritten: Kein Starker muss allein wegen seiner Stärke einen Schwachen stützen. Das gilt auch für „geistige Stärke“; wer also bei seinem Tun um eine üble Folge bei einem anderen weiß, haftet für diese nur dann, wenn er den Einsatz seines Wissens zu garantieren hat, und das ergibt sich allein aus dem psychischen Faktum des Wissens (oder der Fähigkeit, Wissen zu erlangen) gerade nicht19 – dies entgegen der üblichen Meinung, die allerdings, kategorial verfehlt, einen normativen Zusammenhang durch einen faktischen ersetzt. Wenn der Wissende dem potenziell Geschädigten nur eine rechtlich als begrenzt definierte Leistung zu erbringen hat, muss erst einmal ermittelt werden, ob der Wissende dabei seinen Ressourcenüberschuss einsetzen muss oder darauf verweisen kann, die begrenzte Leistung sei nach ihrer rechtlichen Definition korrekt erbracht worden. Beispielhaft, ein servierender Kellner hat nicht die Bekömmlichkeit der Speisen zu garantieren, der Mieter eines Leihwagens bei der Rückgabe nicht dessen Verkehrssicherheit etc. Auf die Spitze getrieben mag man sich vorstellen, die Leistung werde eingeklagt und der Titel vollstreckt (im Fall des Kellners allerdings eine sehr lebensfremde Vorstellung): Dadurch würde für das Ausbleiben eines Schadens nichts gewonnen. Das lässt erkennen, dass es nicht um die Leistung selbst geht, vielmehr um das Fehlen einer Offenbarung der Lage. Eine Offenbarungspflicht als Garantenpflicht lässt sich nicht begründen (aus nur obligatorischen Bindungen [oder solchen rein faktischer Art], also aus 18

Pawlik, Unrecht (Fn. 1), S. 343 mit Fn. 528. Eingehender Jakobs, Zuständigkeit durch Wissen?, in: Bockmühl u. a. (Hrsg.), Festschrift für Bernd von Heintschel-Heinegg, 2015, S. 235 ff. 19

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dem Anspruch gegen den Mieter auf Rückgabe, gegen der Kellner auf ein Servieren, ohne Flecken auf der Robe anzurichten) entstehen keine Garantien;20 so bleibt eine Haftung für mangelnde Hilfeleistung nach § 323c StGB durch ein Tun (!). Das Problem wird in der Literatur – praktisch spielt es keine Rolle – unter dem nur schlecht passenden Namen des „Sonderwissens“ behandelt;21 der Sache nach geht es aber um den Umfang der Garantie, die bei einer rechtlich definierten Leistung erbracht werden muss.t

V. Skizze zum Regressverbot Zum Abschluss folgen einige nur apodiktische und deshalb weiter begründungsbedürftige Bemerkungen zur Aktivitätssequenz mehrerer Personen. Das Schema lautet: Eine Person erbringt einer anderen eine Leistung; hat jene zu garantieren, dass diese damit nicht sich selbst oder eine dritte Person schädigt? Wenn die Leistung sozialadäquat ist (bildlich, sie könnte auch „unter den Augen“ der Polizei erfolgen) und auch keine bestimmte Art der Verwendung ihre Bedeutung bestimmt, erschöpft sich die Beziehung zwischen Leistendem und Empfänger in der stattfindenden Übertragung, und ihre Organisationskreise bleiben ansonsten getrennt (Regressverbot). Insbesondere ist irrelevant, ob und was der Leistende von der später stattfindenden Verwendung weiß; denn diese Fortführung vollzieht sich nicht mehr in seinem Organisationskreis, es sei denn, er habe die Leistung speziell auf eine bestimmte Fortführung hin gestaltet; dann geht es um Beteiligung an dieser Fortführung.22 Die übliche Lehre, die in ihrem nach psychischen Fakten gierenden Verständnis auf die psychische Lage abstellt, begeht erneut23 einen kategorialen Fehler. Bei großem Schaden mag die Leistung als „unterlassene“ Hilfeleistung (§ 323c StGB) zu beurteilen sein. Ein letztes Beispiel, ein Darlehnsschuldner muss fristgemäß oder nach entsprechender Aufforderung die Valuta zurückzahlen; er weiß genau, und die Schlüssigkeit dieses Wissens kann er durch Beweismittel belegen, dass der Gläubiger das Geld zur Finanzierung eines Bravos, eines verbotenen Waffengeschäfts etc. verwenden wird. Verklagt, verteidigt er sich vor Gericht mit der Einlassung, er dürfe nicht zahlen, da, wie er wisse, eine rechtswidrige Verwendung der Schuldsumme geplant sei. Das Gericht wird diese Einlassung nicht als rechtsgültig akzeptieren, vielmehr zur Zahlung verurteilen (allerdings die Beschlagnahme des Geleisteten veranlassen). Kurzum, der Schuldner ist wegen der rechtlichen Bestimmung des Umfangs des Geschuldeten nicht Garant für den Umgang des Gläubigers mit dem Geleisteten, wobei das 20

Zum Regressverbot (sogleich V.) wird bei dem Beispiel der Begleichung einer Geldschuld auf die rechtliche Beschränkung des zu Leistenden zurückzukommen sein. 21 Eingehend und kritisch Sacher, Sonderwissen und Sonderfähigkeiten in der Lehre vom Straftatbestand, 2006, S. 187 ff. 22 Jakobs, Theorie der Beteiligung, 2014, S. 28 ff. und passim. 23 Oben Text zu Fn. 19.

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Recht nicht auf das Schuldnerwissen, sondern auf den Inhalt des sozialen Kontakts zwischen Gläubiger und Schuldner abstellt.

VI. Zusammenfassung 1. Ein Begehungstäter leistet nicht die ihn verpflichtende Garantie, seinen Organisationskreis in einem verkehrssicheren Zustand zu halten. (I.) 2. Ingerenz verlängert die Verkehrssicherungspflicht und generiert nicht nur Gebote, sondern auch Verbote. (II.) 3. Der Abbruch eines rettenden Verlaufs führt nur dann zu einem Verletzungsdelikt, wenn der Bestand dieses Verlaufs dem Opfer garantiert ist. (II.) 4. Eine garantiebegründende Übernahme setzt voraus, dass aus dem garantierten Organisationskreis des potenziellen Opfers übernommen wird. (III.) 5. Die Berücksichtigung besonderer Schwächen eines potenziellen Opfers ist nicht garantiert; auf die Nutzung besonderer Ressourcen eines Täters besteht kein Anspruch. (IV.) 6. Die Verbindung mehrerer Organisationskreise erfolgt rechtlich nicht stets umfassend (etwa: Regressverbot). (V.)

Der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen und die Bedeutung von Handlungssphären Von Ralf Stoecker Klausuren im Jurastudium zu schreiben ist vermutlich nie ganz einfach. Reinhard Merkels Studierende wurden allerdings vor ein paar Jahren mit einem besonders verzwickten Fall konfrontiert, den ich hier in eigenen Worten und um viele liebevolle Details gekürzt wiedergebe: August Aschenbrenner, Besitzer eines exklusiven Modehauses, sieht, als er eines Abends als letzter seinen Laden verlässt, dass der Obdachlose Olmütz in der eisigen Nacht einen Schlafplatz auf dem Abwärmeschacht der Heizung des Geschäfts gefunden hat. Aschenbrenner befürchtet negative Reaktionen seiner Kundschaft und will, dass der ungebetene Gast verschwindet. Es gelingt ihm jedoch nicht, den stark alkoholisierten Mann dazu zu bringen, sich von der Stelle zu rühren. Also kehrt Aschenbrenner noch einmal ins Haus zurück und stellt die Heizung ab, damit die Kälte den Mann vertreibe, dann geht der Ladenbesitzer nach Hause. Doch der Obdachlose ist zu betrunken, um der Gefahr zu entgehen, und erfriert vor dem Geschäft.

Die Frage ist, ob Aschenbrenner Olmütz getötet hat oder nicht. – Dass es sich um eine besonders verzwickte Frage handelt, erkennt man daran, dass Merkel den Fall zum Ausgangspunkt von gleich zwei Aufsätzen genommen hat, in denen er auf elaborierten, mit zahlreichen Beispielen unterlegten Wegen zu zeigen versucht, dass der Modehausbesitzer den Wohnungslosen nicht getötet, sondern nur sterben gelassen hat.1 Ich glaube, dass nicht nur das Strafrecht, sondern auch die philosophische Handlungstheorie ganz erheblich von den Überlegungen Merkels profitieren kann, und dies nicht nur deshalb, weil Merkels Antwort in meinen Augen die richtige ist, sondern auch weil die Idee der individuellen Sphären, die ihr zugrunde liegt, ein wesentliches, aber häufig übersehenes Element unseres alltäglichen Handlungsverständnisses darstellt. Was damit gemeint ist, möchte ich in meinem Beitrag skizzieren. Dabei ist es mir aber wichtig, dass ich mich auch in einer anderen Hinsicht eng an Merkel orientieren werde. Einer der beiden Artikel trägt den schönen Untertitel „Altes, Neues, Ungelöstes“. Dasselbe möchte ich auch für meinen Beitrag in Anspruch neh1

Merkel, Reinhard, „Die Abgrenzung von Handlungs- und Unterlassungsdelikt. Altes, Neues, Ungelöstes“, in: Putzke et al. (Hrsg.) Strafrecht zwischen System und Telos. Festschrift für Rolf D. Herzberg, 2008, S. 193 – 223 [im weiteren: „Abgrenzung …“], und „Killing or letting die? Proposal of a (somewhat) new answer to a perennial question“, in: Journal of Medical Ethics 42 2016: 353 – 360 [im weiteren: „Killing …“].

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men. Es ist ein Versuch, die Nähe zwischen Reinhard Merkels Vorstellungen und meinen eigenen handlungstheoretischen Versuchen herauszuarbeiten, ganz ohne den Anspruch, am Ende einen klaren, in jeder Hinsicht wasserdichten Vorschlag präsentieren zu können.

I. Die Ausgangsfrage Hat Aschenbrenner Olmütz getötet? – Auf den ersten Blick scheint die Antwort einfach zu sein. Aschenbrenner ist extra in sein Geschäft zurückgekehrt, um die Heizung auszuschalten, er hat also eine ganze Reihe von Dingen getan, die letztlich den Tod des Obdachlosen verursacht haben. Wäre die Heizung hingegen weitergelaufen, wäre der Mann nicht erfroren. Wenn man davon ausgeht, dass man einen Menschen dann tötet, wenn man etwas tut, das den Tod dieses Menschen kausal zur Folge hat, dann hat Aschenbrenner Olmütz getötet. Beim genaueren Hinsehen können aber Zweifel auftreten, ob diese Bedingung tatsächlich schon ausreichend ist. Merkel weist zunächst darauf hin, dass man in ähnlich gelagerten Fällen intuitiv anders urteilen würde. In einem seiner Beispiele geraten zwei Nachbarn in Streit. Daraufhin baut der eine Nachbar die Bewässerungsanlage in seinem Garten so um, dass damit, anders als zuvor, nicht mehr stillschweigend auch noch das Beet des zweiten Nachbarn mitbewässert wird. Dieser bemerkt die Veränderung nicht und die Pflanzen verwelken. Sicherlich ist der Umbau der Bewässerungsanlage moralisch fragwürdig, aber hat der erzürnte Gärtner die Pflanzen wirklich dadurch getötet und dem Eigentum des Nachbarn damit aktiv Schaden zugefügt, dass er auf seinem eigenen Grundstück die Rasensprenger anders postiert hat? Merkel hält das jedenfalls für kontraintuitiv. Aufschlussreicher ist ein zweites Szenario. Eine Ärztin beendet die künstliche Beatmung eines Patienten, indem sie das Beatmungsgerät abstellt. Auch hier wird die Akteurin aktiv, so wie der Geschäftsinhaber an der Heizung und der Gärtner an seiner Bewässerungsanlage. Nach herrschender rechtlicher und ethischer Überzeugung ist die Beendigung einer künstlichen Beatmung, aufgrund derer der Patient dann stirbt, aber gerade kein Töten, sondern das paradigmatische Beispiel für ein Sterbenlassen. Einen Patienten sterben zu lassen, kann darin bestehen, überhaupt nicht aktiv zu werden, beispielsweise wenn eine Ärztin auf eine Reanimation verzichtet, es kann aber auch mit einer Aktivität verbunden sein, wie dann, wenn der Respirator abgestellt werden muss. Und gegeben, dass dies ebenfalls ein Fall von Sterbenlassen ist und kein Töten, dann sieht es so aus, als könne auch Aschenbrenner den Obdachlosen sterben gelassen haben, indem er die Heizung abstellte. Die Frage, ob er ihn getötet oder sterben gelassen hat, ist wieder offen. Allerdings scheint diese Unterscheidung damit insgesamt deutlich an Konturen zu verlieren. Während es zunächst den Anschein hatte, als ginge es um einen leicht fassbaren Unterschied zwischen aktivem Eingreifen in die Welt und passivem Nichtstun, fragt es sich nun, woran man den Unterschied dann festmachen könnte. Das Problem

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verschärft sich noch durch die Feststellung, dass die Einschätzung, mit welcher Art von Handlung man es zu tun habe, unter Umständen gar nicht von dem Handlungsgeschehen selbst abhängt, sondern vom jeweiligen Handlungskontext. Merkels Beispiel ist das eines Neffen des Patienten, der den Respirator mit exakt denselben Handgriffen abstellt wie die Ärztin. Wenn der Neffe es tut, ist es aber, so Merkel, kein Sterbenlassen mehr, sondern ein Töten. Irgendwie scheint es also gar nicht nur von der Handlung selbst abzuhängen, ob sie ein Töten oder ein Sterbenlassen ist. Bevor man jetzt weiter untersucht, wovon diese Unterscheidung stattdessen abhängen könnte, liegt es an dieser Stelle allerdings nahe, einen Schritt zurück zu treten und sich zu fragen, warum es überhaupt interessant ist, zwischen Töten und Sterbenlassen zu unterscheiden. Für den Juristen Merkel ist das offenkundig. Es gibt im Strafrecht Verbote, die sich ausdrücklich auf Tötungshandlungen beziehen, z. B. die fahrlässige Tötung in § 222 StGB, die im Fall von Aschenbrenner und Olmütz in Frage käme. Wenn der Geschäftsinhaber den Obdachlosen nicht getötet hat, kann er ihn auch nicht fahrlässig getötet haben. Aus Sicht des Moralphilosophen ist die Situation komplizierter. Sie führt unmittelbar in die Debatte, ob es einen moralisch signifikanten Unterschied zwischen Tun und Geschehenlassen gibt.2

II. Die moralphilosophische Debatte über die Signifikanz von Tun und Geschehenlassen Die Ausgangsfrage dieser Debatte lautet: Ist es für die moralische Bewertung einer Handlung signifikant, ob es sich bei ihr um ein Tun oder um ein Geschehenlassen handelt? Oder sind zwei Handlungen, die sich nur darin unterscheiden, dass das eine ein aktives Tun und das andere ein Geschehenlassen ist, und die ansonsten in all ihren (deskriptive) Eigenschaften übereinstimmen, moralisch äquivalent. Erstere Position wird gewöhnlich als Signifikanzthese bezeichnet, letztere als Äquivalenzthese. Die Frage ist, welche dieser beiden Thesen richtig ist. Auf den ersten Blick scheint das keine allzu schwierige Frage zu sein, denn offenkundig bildet die Signifikanzthese einen zentralen Bestandteil unseres moralischen Denkens, während die Äquivalenzthese absurd klingt. In der medizinischen Ethik ist es eine weltweit verbreitete Praxis, den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen anders zu bewerten als die Tötung von Patienten, auch dann, wenn es keine weiteren Unterschiede, beispielsweise in der Person des Akteurs oder seiner Motive gibt. Weniger offensichtlich, aber für uns alle viel wichtiger, spricht auch unser moralisches Selbstverständnis insgesamt für die Signifikanzthese. Wir geben ganz selbstverständlich den größten Teil unseres Geldes für unser Wohlergehen aus, obwohl wir es auch einsetzen könnten, Menschen in fremden Ländern vor dem Hun2 Zu dieser Debatte vgl. Steinbock, Bonnie/Norcross, Alastair (Hrsg.) Killing and letting die. New York: Fordham Univ. Press. 2. Aufl. 2007, und Birnbacher, Dieter, Tun und Unterlassen, 1995.

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gertod oder tödlichen Krankheiten zu retten. Gegeben, dass sich niemand von uns berechtigt fühlen würde, einen dieser Menschen zu töten, während wir sie guten Gewissens tatenlos sterben lassen, scheinen unsere moralischen Prinzipien offensichtlich der Signifikanzthese verpflichtet zu sein. Das gilt zudem nicht nur für den speziellen Fall von Töten und Sterbenlassen, sondern ganz generell für den Unterschied zwischen Tun und Geschehenlassen. Ein Fahrgast in der U-Bahn, der zulässt, dass ein anderer Passagier von einem Raufbold schikaniert wird, fühlt sich vermutlich nicht sehr wohl in seiner Haut, er würde aber sicher die Idee weit von sich weisen, dass er durch sein Geschehenlassen ebenso verwerflich handelte wie der aktive Raufbold. Wer die Signifikanzthese bestreitet, stellt also nicht nur unser Verhältnis zum Töten und Sterbenlassen in Frage, sondern auch unsere moralische Haltung zu vielen anderen, ganz alltäglichen Handlungsweisen. Doch trotz dieser anscheinend tiefen Verwurzelung der Signifikanzthese in unserer Praxis moralischer Bewertungen, vertreten viele Philosophinnen und Philosophen die Äquivalenzthese. Die Gründe für die Äquivalenzthese lassen sich in vier Gruppen unterteilen. Erstens gibt es Gedankenexperimente, die belegen sollen, dass die Signifikanzthese doch nicht so intuitiv einleuchtend ist, wie es zunächst den Anschein hat. So hat beispielsweise James Rachels zu zeigen versucht, dass es Situationen gibt, in denen unmoralische Taten, die sich nur darin unterscheiden, ob sie ein Tun oder Geschehenlassen sind, moralisch gleichermaßen verwerflich sind.3 Bei ihm ist es ein Onkel, der seinen Neffen in der Badewanne ertränken möchte, um dann aber festzustellen, dass dieser ohnehin gerade in der Wanne ausgerutscht und am Ertrinken ist. Also lässt er ihn sterben, anstatt ihn zu töten, was aber Rachels zufolge nichts am Ausmaß der Verwerflichkeit seiner Tat ändere. Gestützt wird diese Position durch eine zweiten Gruppe von Überlegungen, die belegen sollen, dass sich unsere alltäglichen moralischen Urteile, die vermeintlich auf der Signifikanzthese beruhen, in Wirklichkeit auf andere moralisch relevante Eigenschaften der betreffenden Handlungen stützen (dass es beispielsweise in der Regel einfacher sei, jemanden sterben zu lassen, als ihn zu töten, dass Akten des Tötens und Sterbenlassens häufig unterschiedliche Motive zugrunde lägen, dass bei ersteren die Dammbruchgefahr größer sei, etc.). In eine ganz andere, philosophischere Richtung weisen Argumente eines dritten Typs. Sie lösen sich von unseren alltagsmoralischen Vorstellungen und gründen die Äquivalenzthese stattdessen direkt in der normativen Ethik. Wenn es einen Unterschied in der Bewertung von Tun und Geschehenlassen gäbe, dann müsste sich dieser moralisch begründen lassen. Doch eine derartige Begründung existiere nicht – unabhängig davon, wie wir alltäglich urteilen. Typischerweise ist dies die Argumentationsweise konsequentialistischer (utilitaristischer) Ethiker, die nicht selten auch bereit sind, radikale Revisionen unserer moralischen Überzeugungen zu fordern. 3 Vgl. Rachels, James, „Aktive und passive Sterbehilfe“. In: Hans-Martin Sass (Hrsg.), Medizin und Ethik. 1989, S. 254 – 264.

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Kommt es allein auf die Folgen unseres Handelns an, dann gibt es tatsächlich keinen Spielraum für einen signifikanten Unterschied zwischen Tun und Geschehenlassen. Ich möchte an dieser Stelle aber nicht weiter auf diese drei Argumente gegen die Signifikanzthese eingehen4, sondern mich vielmehr ganz auf eine vierte Kritik konzentrieren. Sie besagt, dass diese These bereits handlungstheoretisch auf tönernen Füßen stehe, weil sich Tun und Geschehenlassen entweder nicht klar unterscheiden lassen oder weil sich dieser Unterschied nicht mit den paradigmatischen Beispielen für die Signifikanzthese decke. Hier wird nun deutlich, wie groß die Rolle ist, die Merkels Frage für die Philosophie spielen kann. Nicht nur ethisch, sondern auch metaphysisch, in der Handlungstheorie, ist es interessant, ob es eine einleuchtende Unterscheidung zwischen Tun und Geschehenlassen und folglich zwischen Töten und Sterbenlassen gibt.

III. Handlungstheoretische Probleme mit dem Geschehenlassen Im Zentrum der philosophischen Handlungstheorie steht die Frage, was Handlungen sind. Eine naheliegende Antwort lautet: Wenn jemand handelt, dann greift diese Person absichtlich, willentlich in den Lauf der Welt ein. Nach der weithin geteilten Standardkonzeption bedeutet dies, dass ein Ereignis geschieht, das die Handlung dieser Person ist und das weitere Ereignisse nach sich zieht, die dann jeweils die Welt verändern. Das Besondere von Handlungen wird dann zumeist darin gesehen, dass sie von den Absichten der handelnden Person hervorgerufen werden. Akzeptiert man diese Antwort aber, dann steht man unmittelbar vor dem Problem, dass es auch Handlungen des Geschehenlassens gibt, obwohl doch eine Person, die etwas geschehen lässt, gerade nicht in den Lauf der Welt eingreift. Ihre Handlung, möchte man sagen, besteht vielmehr darin, nicht einzugreifen. Das zeigt sich vielleicht am besten daran, dass eine Person, während sie etwas geschehen lässt, mit ganz anderen Dingen beschäftigt sein kann. Ein Mann, der sich einen Vollbart wachsen lässt, denkt wahrscheinlich stundenlang nicht an sein Gesicht und macht auch nichts damit, trotzdem ist es seine Handlung, dass er sich den Bart stehen lässt. Immerhin rasiert er sich nicht. Man könnte also annehmen, dass ein Geschehenlassen darin besteht, dass etwas in der Welt geschieht, das der Handelnde zwar nicht aktiv hervorruft, das er aber verändern könnte. Problematisch ist an dieser Idee allerdings zweierlei. Zum einen lassen wir nicht alles geschehen, was wir ändern könnten. Wenn ich eine Freundin besuche, die eine sehr nette Katze hat, dann wäre ich vermutlich in der Lage, diese Katze umzubringen. Das bedeutet aber sicher nicht, 4

Ich habe diese Argumente an anderer Stelle ausführlich diskutiert: Stoecker, Ralf, „Töten, Sterbenlassen und die Mehrdimensionalität moralischen Werts“. In: Bluhm, R./Nimtz, C. (Hrsg.), Ausgewählte Beiträge zu den Sektionen der GAP.5, 2004. Vgl. auch: Stoecker, „Tun und Lassen – Überlegungen zur Ontologie menschlichen Handelns. Erkenntnis. 1998; 48(2 – 3):395 – 413.

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dass ich bei meinem Besuch zwei Handlungen vollziehe: erstens die Katze zu streicheln und zweitens sie am Leben zu lassen. Es reicht für eine Handlung des Geschehenlassens also nicht aus, dass ich das Geschehen (z. B. das Katzenleben) auch verhindern könnte. Was aber muss hinzukommen? Interessanterweise thematisiert Merkel dieses Problem nicht. Er setzt vielmehr voraus, dass der Ladeninhaber, wenn er den Clochard nicht tötet, ihn jedenfalls sterben lässt. Zumindest bei dem Gärtner ist diese Annahme aber nicht selbstverständlich. Lässt er Nachbars Blumen wirklich vertrocknen, nur weil er sie anders als früher nicht noch nebenbei mitbewässert?! Auf diese Frage werde ich weiter unten zurückkommen. Das zweite Problem für die These, dass Handlungen des Geschehenlassens darin bestehen, etwas nicht zu tun, das man tun könnte, liegt darin, dass dadurch nicht viel gewonnen zu sein scheint. Denn damit wird nur eine enge Verbindung zwischen dem Geschehenlassen und einer weiteren Gruppe von Handlungen hergestellt, die handlungstheoretisch nicht weniger problematisch sind, den Unterlassungen. Auch Unterlassungen sind zweifellos Handlungen. Wer beispielsweise eine Kollegin nicht grüßt, scheint gerade nicht in die Welt einzugreifen, und dennoch ist es manchmal eine durch und durch bewusste, willentliche Handlung, jemanden nicht zu grüßen. Aber Unterlassungen sind keine Ereignisse. Wenn jemand eine Kollegin nicht grüßt, geschieht nichts, das die Handlung des Nichtgrüßens wäre. Das Verhältnis von Töten und Sterbenlassen wirft also offenkundig nicht nur ethische, sondern auch metaphysische Fragen auf. Wie könnte man dieses Verhältnis befriedigend beschreiben? – An diesem Punkt möchte ich zunächst versuchen, die Grundidee Merkels herauszuarbeiten.

IV. Die Bedeutung von Organisationskreisen Im Zentrum von Merkels Lösung steht eine Idee, die auf einen Vorschlag Günther Jakobs’ zurückgeht.5 Personen haben so etwas wie Sphären der Zuständigkeit, innerhalb derer eine Person ein Alleinverfügungsrecht und auch ein Recht auf Ausschluss aller anderen hat. Er bezeichnet sie im Anschluss an Jakobs als „Organisationskreise“, also als Sphären, in denen es Sache der betreffenden Person ist, das Geschehen und Handeln zu organisieren. Ich werde deshalb im Weiteren auch manchmal von „Handlungssphären“ sprechen. Zu den Organisationskreisen zählen z. B. der eigene Körper, der eigene Besitz, unter Umständen auch das Lebensnotwendige, selbst wenn es einem nicht gehört. Ob jemand getötet oder sterben gelassen wird, hängt nun nach Merkel davon ab, ob eine Handlung in den Organisationskreis eines anderen eindringt oder ob sie sich nur im eigenen Organisationskreis des Handelnden bewegt. Sterbenlassen kann man 5 Vgl. Jakobs, Günther, Die strafrechtliche Zurechnung von Tun und Unterlassen. Vorträge/Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften 344, 1996.

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jemanden nur dann, wenn man im eigenen Organisationskreis verbleibt, während man jemanden tötet, sobald man aus dem eigenen in dessen Organisationskreis eingreift. Dieses Bild der Kreise, aus denen ein Akteur heraus in andere Kreise eingreift oder nicht, illustriert Merkel mit weiteren Beispielen. Ein Motorbootfahrer, der aus der Ferne einen Ertrinkenden sieht, aber ungerührt weiterfährt, ohne zu helfen, begeht eine Unterlassung (der Hilfeleistung). Wie sich das Boot bewegt, ist Sache des Organisationskreises des Motorbootfahrers, deshalb ist sein Tun nur ein Geschehenlassen (was allerdings nichts daran ändert, dass er für seine hartherzige Unterlassung moralisch und rechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann). Klammert sich der Ertrinkende aber bereits an die Bordwand und der Fahrer entzieht sich ihm dadurch, dass er Gas gibt, dann tötet er ihn, denn dann war das Boot schon im Organisationskreis des Opfers (als Lebensnotwendigkeit) und es ihm zu entreißen war ein Übergriff in diesen Kreis. Wie aktiv oder passiv der Akteur innerhalb seines Kreises ist, spielt dafür keine Rolle. Wie lässt sich dieser Lösungsvorschlag auf den paradigmatischen Fall der künstlichen Beatmung übertragen? Hier lohnt es sich, Merkel etwas ausführlicher zu zitieren: „What is decisive for the question whether switching off a respirator and thereby bringing about a patient’s death is a form of active killing is not the obvious fact that the switching-off is an activity; nor is it that this action (arguably) is causal for the ensuing death. Rather, what’s decisive is whether it amounts to transgressing the boundaries of the victim’s own domain by positively causing harmful effects. This is not so, if it is done by the provider of the respirator’s function. What such a person does is to actively make his or her sphere hermetic so that no more helpful effects originating from within–that is, the respiratory air diffusing from the machine–can cross those boundaries to the benefit of someone outside: a case of actively organising ones omission. In contrast, any third party who switches the respiratory off intervenes in a life-sustaining causal circuit set up by others, hence transgresses the bounds of their own domain by transferring harmful effects into that of another: a clear case of active killing. […] The boundaries of rights and duties, be they legal or moral, that delineate personal domains are not necessarily congruent with the lines that divide natural states of affairs.“ („Killing …“, S. 360, Hervorhebungen RS)

Den Patienten sterben zu lassen bedeutet also abermals, keine lebenserhaltenden Wirkungen (mehr) aus dem eigenen Organisationskreis herauszulassen. Ihn zu töten bedeutet hingegen, in einen anderen Organisationskreis einzudringen und dadurch den Tod des Patienten zu verursachen. Dabei hängen die Organisationskreise, wie Merkel am Ende deutlich sagt, nicht von natürlichen Umständen, sondern von Rechten und Pflichten ab. Diese Feststellung zeigt schon, dass Merkels Konzeption eng mit der Signifikanzthese verbunden ist, aber sozusagen in umgekehrter Richtung. Handlungen werden nicht unterschiedlich bewertet, weil die einen aktiv und die anderen passiv sind, sondern sie sind aktiv oder passiv, weil sie unterschiedliche evaluative Rollen spielen. Die so verstandene Signifikanzthese setzt dann nicht bei einer vorausgesetzten handlungstheoretischen

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Unterscheidung zwischen Tun und Geschehenlassen an, sie bildet vielmehr die Grundlage dieser Unterscheidung. Es gibt in dem Zitat allerdings auch eine Unklarheit. Welche Rolle spielen die Organisationskreise genau? Sterbenlassen ist dadurch gekennzeichnet, dass eine bestimmte Wirkung den eigenen Organisationskreis des Handelnden nicht verlässt, Töten besteht hingegen darin, dass eine bestimmte Wirkung in den Organisationskreis des Opfers eindringt. Man könnte sich nun fragen, ob es nicht auch denkbar wäre, dass eine Handlung in den Organisationskreis des Opfers eindringen könnte, ohne den eigenen Organisationskreis zu verlassen. Ein mögliches Beispiel wäre das Abschalten des Beatmungsgeräts. Offenkundig gehört die Beatmung zum Organisationskreis des Patienten, sonst wäre es nicht übergriffig, wenn der Neffe die Maschine abschaltet. Andererseits scheint sie auch zum Organisationskreis der Ärztin bzw. der Klinik zu gehören, sonst könnte sie den Patienten nicht dadurch sterben lassen, dass sie das Gerät ausschaltet. Letzteres sagt Merkel auch an anderer Stelle ausdrücklich: „Die Quelle der atemspendenden Leistung [also der künstlichen Beatmung, R.S.] verbleibt im Organisationskreis der Klinik, auch wenn sich ihre Wirkung unmittelbar am und im Körper des Patienten entfaltet. […] Wohl liegen Quelle und Mündung der Leistung räumlich eng beieinander.“ („Abgrenzung …“ S. 222)

Es entsteht das Bild von aneinandergrenzenden Organisationskreisen, bei denen die künstliche Beatmung in den Kreis der Klinik fällt und deshalb beendet werden kann, ohne in einen anderen Organisationskreis einzudringen. Doch das passt, wie gesagt, nicht zu der Analyse der Handlung des Neffen. Dieser tötet seinen Onkel nicht deshalb, weil er in den Organisationskreis der Klinik eingreift („transferring harmful effects“, s. o.), sondern in den des Onkels. Nicht irgendeine Überschreitung des eigenen Organisationskreises macht die Handlung zu einem aktiven Töten, sondern ein Übergriff in den Organisationskreis des Opfers. (Der Gärtner tötet ja nicht schon deshalb Nachbars Blumen, weil er mit seiner neuen Bewässerungsanlage die Scheiben einer benachbarten Bäckerei vollspritzt, also, anstatt die Nachbarsblumen weiter zu bewässern, in den Organisationskreis der Bäckerei eingreift.) Merkels Beschreibung des Unterschieds zwischen Töten und Sterbenlassen im Fall der künstlichen Beatmung kann also nur dann zutreffen, wenn man bereit ist, ein Überlappen der Organisationskreise zuzulassen. Und das ist auch unmittelbar einleuchtend. Man muss nur daran denken, dass Organisationskreise nicht dadurch gekennzeichnet sind, dass niemand in sie eingreifen darf, sondern dadurch, dass die betreffende Person ein Privileg hat, Eingriffe zu steuern und auch zu verwehren. Man darf also durchaus in den Organisationskreis eines Menschen eingreifen, wenn man nur die entsprechende Erlaubnis dafür hat. Medizinische Behandlungen sind typische Beispiele für derartige Eingriffe. Die hohen Vorbedingungen für die Legitimität medizinischer Behandlungen (in der Regel: aufgeklärte Einwilligung) basieren darauf, dass hier ärztlich in einen stark privilegierten Bereich eingedrungen wird. Sobald diese Behandlung aber begonnen hat, dehnt sie den Organisationskreis der Behan-

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delnden entsprechend in den Kreis des Patienten hinein. Denn mit der Behandlung ergeben sich eine Vielfalt von Handlungsoptionen und Verbindlichkeiten. In diesem Sinne bildet auch die künstliche Beatmung einen Eingriff in den Organisationskreis des Patienten, der zugleich eine Ausdehnung des Organisationskreises der Ärztin erzeugt. Bildlich gesprochen ist das Abschalten des Beatmungsgeräts also deshalb kein Übergriff in den Organisationskreis des Patienten, weil sich die Ärztin ohnehin schon dort aufhält. Der Neffe hingegen, der den Respirator abstellt, befindet sich noch nicht im Organisationskreis des Onkels, er greift erst dort ein, insofern tötet er seinen Onkel. Eine weniger bildliche Beschreibung stützt dieses Verständnis. Handlungen setzen sich häufig aus Teilhandlungen zusammen. Wir handeln, indem wir erst das eine tun, dann etwas anderes, usw. Das gilt auch für medizinische Behandlungen, zum Beispiel für eine künstliche Beatmung, und nicht zuletzt auch für den Abschluss einer derartigen Behandlung. Die künstliche Beatmung insgesamt ist eine aktive Handlung; als die Beatmung aufgenommen wurde und der Patient an den Respirator angeschlossen wurde, hat die Ärztin in dessen Organisationskreis eingegriffen. Wenn sie nun den Respirator abstellt, dann bildet das die letzte Teilhandlung der Beatmung. Sie greift nicht erneut in den Organisationskreis des Patienten ein, sondern handelt dort ohnehin schon, durch die künstliche Beatmung, zu der auch der letzte Akt, das Beenden der Behandlung zählt. Stellt hingegen der Neffe den Respirator ab, dann ist das keine Teilhandlung einer laufenden Handlung des Neffen, sondern eine Intervention in die ärztliche Handlung, die im Organisationskreis des Patienten stattfindet. Deshalb lässt die Ärztin den Patienten sterben, der Neffe hingegen tötet ihn. Ich bin nicht sicher, ob Reinhardt Merkel dieser Erläuterung letztlich genau so zustimmen würde.6 Jedenfalls lässt sie sich aber auch gut auf das Ladenbeispiel übertragen und macht dabei deutlich, wie weitreichend ihre Folgen sind. – Zunächst scheint der Blick auf die Organisationskreise allerdings den entgegengesetzten Schluss nahezulegen, dass Aschenbrenner, anders als die Ärztin den Patienten, Olmütz durchaus getötet hat. Als der Ladenbesitzer den Obdachlosen entdeckt, nutzt dieser schon eine Zeit lang die Wärmezufuhr und erhält sich dadurch am Leben (auch wenn er sich dessen wegen seiner Trunkenheit kaum bewusst ist). Die Wärmezufuhr gehört damit zu Olmütz’ Organisationskreis. Dadurch, dass Aschenbrenner die Wärmezufuhr unterbricht, scheint er also in diesen Organisationskreis einzugreifen, und weil daraus der Tod des Wohnungslosen resultiert, scheint er ihn getötet zu haben. Diese Beschreibung wäre wohl auch richtig, wenn nicht Aschenbrenner, sondern ein Nachbar auf den Clochard aufmerksam geworden wäre und aus Sorge über den guten Ruf der Wohngegend in den Laden eingestiegen und die Heizung ausgeschaltet hätte. Sein Übergriff in den Organisationskreis des Betrunkenen hätte seine Tat zu einer Tötungshandlung gemacht.

6 Merkels eigene Falllösungen finden sich in „Abgrenzung …“ S. 221 f. und „Killing …“ S. 359 f.

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Für den Geschäftsinhaber Aschenbrenner gilt dies aber nicht. Anders als der Nachbar hat er zu dem Zeitpunkt, als er Olmütz vor seinem Schaufenster findet, bereits eine Beziehung zu ihm. Ohne es selbst zu wissen, ist er schon eine Zeit lang dabei, den Obdachlosen zu wärmen, und ist damit bereits in dessen Organisationskreis involviert. Von seinem Organisationskreis, zu dem auch die Heizung seines Geschäfts gehört, ging die Wärme aus, die für Olmütz so lebenswichtig war, dass sie einen Teil von dessen Organisationskreis bildete. Deshalb greift Aschenbrenner nicht in Olmütz’ Organisationskreis ein, wenn er ihm jetzt die Wärme entzieht. Er ist bereits drin. Die Heizung abzustellen ist der letzte Akt der Handlung, die darin besteht, den Obdachlosen zu wärmen. Aschenbrenner lässt Olmütz deshalb sterben, während sein übereifriger Nachbar ihn getötet hätte. Ein Problem scheint allerdings darin zu liegen, wie sich diese Diagnose zu dem oben erwähnten Bootsbeispiel verhält. Wenn sich ein Ertrinkender an der Bordwand festklammert, dann scheint auch hier der Bootsbesitzer diesen zunächst über Wasser zu halten, genauso wie Aschenbrenner Olmütz gewärmt hat. Warum soll man also nicht auch sagen, dass er, wenn er das Boot durchstartet und dadurch von dem Ertrinkenden losreißt, diesen nur sterben lässt und nicht tötet, wie Merkel behauptet. Warum soll das Wegfahren des Bootes, anders als das Abstellen der Heizung, eine Tötungshandlung sein? Die Antwort Merkels findet sich in beiden der genannten Artikel, bezogen auf eine analoge Überlegung zum Beatmungsfall: „Das rechtswidrige, aber heimliche Abschalten seitens des Arztes während des Schlafs des Patienten wäre (noch immer) ein durch Unterlassen begangener Totschlag. Das gewaltsame Abschalten gegen den Widerstand des Patienten, der den Respirator vergeblich vor dem Zugriff des Arztes zu schützen versuchte, wäre dagegen als aktives Begehen strafbar.“ („Abgrenzung …“ S. 223) „By breaking this resistance and actively shutting the respirator off, D actively intervenes into a domain of external legal authority though the respirator may be his own or property of the hospital he works for.“ („Killing …“ S. 360)

Erstens zeigt es sich, dass ein ärztliches Sterbenlassen durchaus nicht immer moralisch erlaubt sein muss. Der Unterschied zwischen Sterbenlassen und Töten deckt sich sicher nicht mit dem zwischen erlaubten und verbotenen Handlungen, die einen Tod zur Folge haben. Der Arzt, der heimlich und aus niederen Beweggründen die Behandlung beendet und den Patienten sterben lässt, handelt nicht nur rechtswidrig, sondern auch moralisch verwerflich. Vor allem wird aber deutlich, wie aus einem Sterbenlassen ein Töten werden kann: durch einen mit der Handlung verbundenen neuen, weiteren Übergriff in den Organisationskreis des Patienten. Indem eine Ärztin den letzten Akt ihrer Beatmungsbehandlung (das Abschalten) gegen den Widerstand des Patienten durchsetzt, greift sie zwar insofern nicht in den Organisationskreis des Patienten ein, als sie Änderungen an der Behandlung vornimmt, wohl aber durch die Art und Weise, in der sie dies tut, nämlich dadurch, dass sie Gewalt gegen den Patienten ausübt und damit auf eine neue, weitere Art in seinen Organisationskreis (ins-

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besondere sein Selbstbestimmungsrecht) eingreift. Entsprechendes müsste man auch über das Bootsbeispiel sagen. Das Boot durchzustarten und dadurch dem Griff des Ertrinkenden zu entreißen, tut diesem körperlichen Zwang an und greift damit noch auf andere Weise in seinen Organisationskreis ein als dadurch, dass man ihn mit dem eigenen Boot am Ertrinken hindert. Das zeigt, so anschaulich die Rede von Organisationskreisen ist, sie darf nicht überinterpretiert werden. Man kann sich mit einer Handlung im Organisationskreis eines Menschen befinden und zugleich mit einer anderen Handlung oder sogar mit der Art und Weise der Handlung selbst in dessen Organisationskreis eingreifen. Es ist deshalb sinnvoll, den Organisationskreisen noch etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Ihre Bedeutung zeigt sich gerade in einem wichtigen Unterschied zwischen dem medizinischen und dem Bootsbeispiel auf der einen und dem Ladenbeispiel auf der anderen Seite. Die Ärztin hat den Patienten bewusst und absichtlich beatmet, der Bootsführer den Ertrinkenden zumindest wissentlich kurz über Wasser gehalten (bis er dies dann gewaltsam beendet hat). Aschenbrenner hatte dagegen lange Zeit keine Ahnung, dass er dabei war, Olmütz zu wärmen. Dass er ihn gewärmt hat, war eine ihm zunächst ganz unbekannte Nebenfolge seiner Handlung, das Haus zu beheizen. Indem er das Haus heizte, sorgte er für Abwärme, die wiederum den Frierenden wärmte. Das sieht nach einem sehr weiten und entsprechend unplausiblen Handlungs-Verständnis aus. Es sieht so aus, als würden wir immer dann, wenn aus unserem Organisationskreis Folgen nach außen dringen, handeln, unabhängig davon, ob wir die Folgen beabsichtigen oder als Nebenfolgen in Kauf nehmen oder überhaupt keine Ahnung von ihnen haben. Doch ich glaube weder, dass Merkel das sagen möchte, noch dass es plausibel wäre. Man stelle sich beispielsweise vor, es ist ein herrlicher Sonntag im Sommer und Olmütz interessiert sich nicht für die Heizungsabwärme, sondern nutzt die ausgerollte Markise des Geschäfts für ein Schläfchen im Schatten. Abermals möchte Aschenberger den ungebetenen Gast vertreiben und rollt deshalb die Markise ein. Olmütz schläft aber weiter und wacht mit starken Kopfschmerzen auf, hervorgerufen durch die Sonne. War dieser Sonnenstich etwas, das Aschenberger dadurch hat geschehen lassen, dass er seine Handlung beendet hat, Olmütz Schatten zu spenden? Ich glaube nicht. Die Tatsache, dass das Geschäft zu Aschenbergers Organisationskreis gehörte und die Markise eine Zeit lang als Schattenspender fungierte, reicht für eine unabsichtliche Handlung des Ladenbesitzers, Schatten zu spenden, noch nicht aus. Was aber muss hinzukommen? Reinhard Merkel illustriert den Unterschied abermals anhand des Motorboot-Beispiels. Wenn der Motorbootfahrer es nicht mit einem Ertrinkenden zu tun hat, der sich an sein Boot klammert, sondern mit einer Frau auf einer Luftmatratze, deren Handy Gefahr läuft, vom einsetzenden Regen ruiniert zu werden, ist es keine Sachbeschädigung, wenn sich der Bootsbesitzer statt dessen brüsk losreißt und Gas gibt. Die Gefahr für das Handy ist nicht wichtig genug, um das Boot in den Organisationskreis der Handybesitzerin zu integrieren (während die Lebensgefahr das Boot

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zu einem Teil des Organisationskreises des Ertrinkenden gemacht hat). Ob wir etwas tun, das in den Organisationskreis eines Menschen eingreift, kann also davon abhängen, wie wichtig dieser Eingriff für diesen Menschen ist. Wichtig im Heizungsbeispiel ist die existentielle Bedeutung der ungewollten Handlung Aschenbergers, doch nicht jede Folge dessen, was der Ladenbesitzer tut, konstituiert eine unabsichtliche Handlung. Bei Aschenberger, der Ärztin und dem Bootsführer liegt diese existentielle Bedeutung in der rettenden Funktion der jeweiligen Handlung. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, wenn die Folgen, die aus dem eigenen Organisationskreis erwachsen, für jemanden so bedrohlich sind, dass sie ein Tun konstituieren. Das ist zumindest die These in einem weiteren Artikel Merkels, in dem es nicht um den Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen geht, sondern stattdessen um Umstände, unter denen es zulässig ist, getötet zu werden. In seinem Beitrag zur Debatte um die ursprünglich geplante Fassung von § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz und das anschließende Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2006 versucht Merkel zu zeigen, inwiefern der staatlich befohlene Abschluss einer Passagiermaschine, die von fest entschlossenen Terroristen auf ein voll besetztes Fußballstadion gelenkt wird, nicht mit Art. 1 GG vereinbar ist.7 Den Kern von Merkels Beitrag bildet die Feststellung, dass der Staat nur dann einen Menschen töten dürfe, wenn von diesem eine sehr große Gefahr für andere Menschen ausgehe. Von den Passagieren im Flugzeug gehe aber keine Gefahr aus. Schießt der Staat trotzdem die Maschine ab, dann nähme er den Tod dieser Menschen im Tausch für das Leben vieler Stadionbesucher in Kauf, und eine derartige Abwägung stehe ihm nicht zu. An dieser These ließe sich vieles diskutieren, für die Zwecke meines Beitrags ist aber nur die Feststellung wichtig, dass sich die Situation ändern würde, wenn die Betroffenen zugleich eine Quelle der Gefahr wären, und zwar auch dann, wenn sie es nicht wollen und nicht einmal wissen, welche Gefahr von ihnen ausgeht. Sein Beispiel ist ein ahnungsloses Kind auf dem Weg in den Kindergarten, dem Terroristen eine Sprengstoffweste angezogen haben, um sie dann in der Einrichtung zu zünden. Das Kind, so Merkel, bedroht den Kindergarten, während die Passagiere nicht das Fußballstadion bedrohen. Deshalb dürfe das Kind zur Not getötet werden, um die anderen Kinder zu retten, nicht aber das Flugzeug abgeschossen werden, um die Fußballfans zu retten. Und wenn die Terroristen Erfolg haben, müsste man vermutlich sagen – auch wenn Merkel dies nicht ausdrücklich tut –, dass das Kind den Kindergarten (unwissentlich) gesprengt hat, die Passagiere aber nicht das Stadion zerstört haben. Das Handlungsverständnis, das Merkel in diesen drei Aufsätzen entwickelt, setzt also zunächst ganz breit an. Natürlich liegt nicht alles, was auf der Welt passiert, an uns. Manchmal sind aber wir selbst oder unser Nahbereich, unser Organisationskreis, auf eine Weise in ein Geschehen involviert, dass man geneigt ist, uns als eine Quelle 7 Merkel, Reinhard, „§ 14 Absatz 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten?“, in: Juristenzeitung 62 (2007), S. 373 ff.

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dieses Geschehens zu betrachten. Meistens ist das eine belanglose Redeweise. Manchmal ist das betreffende Geschehen aber wichtig und dann kann es unsere rechtliche und moralische Situation verändern. Weil wir die Quelle des Geschehens sind, stehen wir anders da, als andere Menschen. Wir haben beispielsweise eine stärkere Verantwortung als diese. Und vielleicht, wenn Merkel recht hat, müssen wir auch mehr mit uns machen lassen. Unser handlungstheoretisches Vokabular dient dazu, diese besondere Situation auszudrücken, indem wir sagen, jemand tue etwas – absichtlich, wissentlich, oder auch ohne es zu ahnen. Bevor ich im folgenden Abschnitt versuche zu skizzieren, wie sich dieses Handlungsverständnis in die philosophische Handlungstheorie überführen lässt, möchte ich es noch mit einem eigenen Beispiel illustrieren, das vielleicht plausibler ist als die schwierigen Fälle von Töten und Sterbenlassen. B, der Besucher eines Biergartens, möchte gerne aufstehen und gehen, da wird ihm klar, dass auf der anderen Seite der ansonsten leeren Bank Zecher Z so sitzt, dass die Bank unweigerlich hochwippen und Z zu Boden stürzen wird, wenn B aufsteht. B versucht Z darauf aufmerksam zu machen, doch der Mann ist sichtlich betrunken und schläft mit dem Kopf auf der Tischplatte. Alles Rufen und Anstoßen führt zu nichts. Dem Mann ist bislang nichts passiert, weil B ihn im Gleichgewicht gehalten hat. Wenn B aufsteht, wird der Mann höchstwahrscheinlich schmerzhaft stürzen, sich vielleicht sogar verletzen. Ich glaube, hier ist es noch offensichtlicher als in anderen der genannten Fälle, dass B den Z bislang unbeabsichtigt und ohne es zu wissen gestützt hat. Würde er jetzt aufstehen, dann würde er seine Unterstützung beenden und Z dadurch von der Bank stürzen lassen. Die Gefahr, in der Z schwebt, lässt B’s Hocken am Biertisch zu einer Stabilisierungsmaßnahme für Z werden, und das heißt zumindest, dass er nicht einfach aufstehen kann. Er muss sich irgendwie darum kümmern, was mit Z geschieht.

V. Merkels relationales Handlungsverständnis Welche Konsequenzen ließen sich aus Merkels Überlegungen zum Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen für die Handlungstheorie ziehen? – Grundlegend scheint mir zu sein, dass die Überlegungen für ein relationales Handlungsverständnis sprechen, dem zufolge Handlungen nicht als Ereignisse betrachtet werden sollten, die von Akteuren hervorgebracht werden, um dann weitere Handlungsfolgen nach sich zu ziehen, sondern als das Hervorbringen der Handlungsfolgen selbst. Eine Handlung, kann man grob sagen, ist das Hervorbringen der Folgen. Was das heißt und inwiefern es etwas Besonders ist, lässt sich zunächst gut am Beispiel der Ärztin illustrieren. Wie oben schon gesagt, kann eine Ärztin mehr oder weniger aktiv darin sein, einen Patienten sterben zu lassen. Wenn es nur darum geht, auf eine Widerbelebung zu verzichten, muss sie überhaupt nichts tun. Soll hingegen die Beatmung beendet werden, muss sie den Respirator abstellen. Was beides zu einem Akt des Sterbenlassens macht, so Merkel im Anschluss an Ja-

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kobs, ist nicht das damit verbundene Ausmaß an Aktivität, sondern dass die Handlungsfolgen (also der Tod des Patienten) im Organisationskreis der Ärztin liegen. Sie liegen im Organisationskreis der Ärztin, weil es der Aufgabenbereich der Ärztin ist, sich um Gesundheit und Wohlergehen des Patienten und vor allem um seine Lebenserhaltung bzw. den Verzicht darauf zu kümmern. Weil es ihre Aufgabe ist, sich um das Geschehen in diesem Bereich zu kümmern, liegt das, was dort geschieht, an ihr. Sie ist die Akteurin in diesem Bereich, ob sie aktiv ist oder nichts tut, weil wir, um zu verstehen, was dort geschieht, auf sie schauen können. Wenn wir verstehen wollen, warum der Patient gestorben ist, dann können wir die Erklärung bei ihr finden, in der Art und Weise, wie sie ihre Verantwortung ausgeübt hat. Von X zu sagen, sie habe Y sterben gelassen, bedeutet also so etwas zu sagen wie: Wenn Du verstehen willst, wieso Y gestorben ist, schau bei X nach, denn sie hatte die Aufgabe, sich um das Leben von Y zu kümmern. Dabei drückt der erste Teil („schau bei X nach“) aus, dass es eine Handlung des X ist, und der zweite („denn sie hatte die Aufgabe …“), dass es eine Handlung des Sterbenlassens ist. In welchem Sinn versteht man den Tod des Patienten, wenn man erfährt, dass die Ärztin ihn hat sterben lassen? – An dieser Stelle kommt eine weitere wichtige Einsicht Merkels ins Spiel. Organisationskreise sind normativ charakterisiert, durch Rechte und Pflichten, z. B. durch die Pflicht, sich um den Patienten zu kümmern. Dieses normative Gerüst hat aber wiederum Auswirkungen auf die Erwartungen an die betreffende Person und macht es im Normalfall wahrscheinlicher, dass sie ihrer Verpflichtung nachkommt. Zu sagen, die Ärztin habe den Patienten sterben gelassen, bedeutet deshalb häufig, dass sich sein Tod gut aus ihren Absichten, Überlegungen etc. erklären ließe, und das wiederum ist letztlich eine Spielart kausaler Erklärungen.8 Und selbst dort, wo sich der Tod nicht auf diese Weise als beabsichtigte Handlungsfolge erklären lässt, greifen wir auf Erklärungen zurück, die sich speziell auf die Ärztin beziehen, wie beispielsweise, dass sie ihn sterben gelassen hat, weil sie nicht aufgepasst und deshalb übersehen habe, dass er dringend ein weiteres Medikament benötigte. Hier wird nun auch deutlich, wie z. B. das Abstellen des Respirators mit dem Sterbenlassen zusammenhängt. Indem wir sagen, die Ärztin hätte den Patienten dadurch sterben gelassen, dass sie seine Beatmung beendet hat, geben wir eine nähere Erläuterung für die Aussage, dass man bei der Ärztin nachschauen sollte, um den Tod des Patienten zu verstehen. Man erfährt nun, dass es beispielsweise nicht daran lag, dass sie fahrlässig ein Medikament nicht eingesetzt hat. Die Grundlage für das Geschehenlassen ist aber immer noch die gleiche: ihre Verantwortung für den Patienten. Schaltet hingegen der Neffe die Beatmung ab, dann wollen wir zwar auch sagen, dass man bei ihm nachschauen sollte, um den Tod des Patienten zu verstehen. Die Erklärungsgrundlage ist aber dieses Mal nicht die Aufgabe, sich um Leben und Tod des Onkels zu kümmern, denn diese Aufgabe hat der Neffe nicht. Erklärungs8 Zur näheren Erläuterung vgl. Stoecker, Ralf, „Wie erklären Handlungserklärungen?“ Internationale Zeitschrift für Philosophie. 2008 (1):38 – 66.

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grund sind hier vielmehr die Organisationskreise, in die der Neffe eingreift. Indem er die künstliche Beatmung unterbricht, greift er auf jeden Fall in den Organisationskreis des Onkels ein, und da es sich um eine medizinische Behandlung durch die Ärztin handelt, greift er auch in ihren Organisationskreis ein. Da die Organisationskreise aber, wie gesagt, normativ geschützt sind, gibt es abermals eine Erwartung, dass man sich daran hält, und folglich ist es explanatorisch erhellend zu erfahren, dass jemand sich nicht daran gehalten hat. Das sagen wir, so Merkel, wenn wir behaupten X habe Y getötet. Wenn Du verstehen willst, wieso Y gestorben ist, schau bei X nach, denn er war übergriffig gegenüber Y’s Recht auf die Unversehrtheit seines Lebens. Und abermals können wir diese Behauptung dadurch verstärken, dass wir Details der Übergriffigkeit spezifizieren: Er hat die Beatmung abgeschaltet (anstatt ihm beispielsweise ein Messer zwischen die Rippen zu stoßen). (Auch ein Arzt hätte den Patienten, wie schon angesprochen, töten können, beispielsweise wenn er die Beatmung gegen dessen Sträuben beendet hätte. Dem Patienten Zwang anzutun, war auf jeden Fall jenseits seines Aufgaben- und Verantwortungsbereichs, es wäre also ebenso übergriffig gewesen wie die Tat des Neffen.) Die Idee, dass es das Kennzeichen des Tötens ist, in den Organisationskreis des Opfers einzugreifen, erklärt nun auch die prima facie befremdliche Unterscheidung zwischen dem Kind mit der Sprengstoffweste und den Flugzeugpassagieren. Wenn die Terroristen Erfolg haben, dann tötet das Kind seine Spielkameraden, weil man deren Tod im Rückgriff auf das Eindringen des Kindes in die Unversehrtheit ihres Lebens erklären kann. Es ist eben mit der Sprengstoffweste in den Kindergarten gelaufen, die dort dann explodiert ist, deshalb erklärt sein Tun den Tod der Kinder, anders als man den Tod der Fußballfans durch die Passagiere erklären könnte. Ein Aspekt des relationalen Handlungsverständnis, das sich aus Merkels Überlegungen extrahieren lässt, ist allerdings noch nicht angesprochen. Er führt zurück zu seinem Heizungsbeispiel. Warum lässt Aschenbrenner Olmütz sterben, anstatt ihn zu töten? Die Antwort lautete: Weil sich Olmütz bereits in Aschenbrenners Organisationskreis aufhielt, dieser also nicht übergriffig handelte, als er die Heizung abstellte. In meinen Augen steht dahinter die wichtige Einsicht, dass wir nicht nur dadurch, dass wir z. B. explizit ärztliche Aufgaben übernehmen, unseren Organisationskreis erweitern, sondern dass vieles von dem, was wir tun, zugleich auch unseren Organisationskreis so erweitert, dass wir neue Verpflichtungen erwerben, uns zu kümmern, die wir vorher nicht hatten. Handlungen, die in andere Organisationskreise eingreifen, haben häufig Auswirkungen auf unsere zukünftigen Verantwortlichkeiten. Wenn ich netterweise dem Nachbarjungen bei den Schulaufgaben helfe, bin ich nicht mehr so frei darin, plötzlich aufzustehen und ihn allein zu lassen, wie es mir vorher freistand, gar nicht erst mit der Nachhilfe anzufangen. Was Merkel mit dem Heizungsbeispiel deutlich gemacht hat, ist nun, dass dies u. U. auch dann gilt, wenn ich gar nicht merke, was ich tue. Aschenbrenner hat dadurch, dass er die Heizung betreibt, ohne es zu merken, in das Leben von Olmütz eingegriffen, er hat es ihm (eine Zeit lang) gerettet. Wie die Überlegungen Merkels gezeigt haben, ist das aber eine Art und Weise, den eigenen Verantwortungsbereich (ungewollt) auszudehnen. Die (unbe-

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merkte) Nähe, die zwischen Aschenbrenner und Olmütz entstanden ist, hat zu Folge, dass wir von Aschenbrenner erwarten, sobald er sich dieser Beziehung bewusst wird, bei ihm Aufschluss darüber zu erhalten, was mit Olmütz weiter geschieht. Verantwortung kann man nicht nur übernehmen, sie kann einem eben auch zufallen. Noch deutlicher wird das im Biergartenbeispiel. Hier ist es, wie gesagt, offenkundiger als im Heizungsfall, dass Besucher B Zecher Z die ganze Zeit, ohne sich dessen bewusst zu sein, im Gleichgewicht gehalten hat. Das unterscheidet ihn von einem unbeteiligten Biergartenbesucher U*, der sieht, dass an einer der anderen Bänke ein Besucher B* aufzustehen droht und dadurch dessen Bankgenossen Z* gefährdet. Dadurch dass B ohne es zu wissen Z vor dem Sturz bewahrt hat, hat er eine stärkere Verantwortung dafür, die Situation glimpflich für Z zu beenden, als der bloße Zuschauer U* gegenüber Z*. Ich glaube, man sollte es so sagen: B hat die Verantwortung, sich um die Lösung zu kümmern, U* hat die Verantwortung nicht, aber es wäre gut, wenn er Verantwortung übernehmen und sich ebenfalls kümmern würde, z. B. indem er den aufbrechenden Besucher B* warnt. Er könnte z. B. rufen: „Achtung, wenn Sie aufstehen, kippt die Bank um und der Mann fällt.“, und sich damit einmischen. – Allerdings könnte es ihm daraufhin auch geschehen, dass B* unwirsch antworten: „Was geht Sie das an?! – Dem Suffkopp geschieht das ganz recht!“. Sich solchen Reaktionen nicht auszusetzen, sich herauszuhalten, ist ein Motiv gegen eine Einmischung, das es im Fall von U* normativ zu bewerten gälte, nicht aber bei B. Für eine Handlungstheorie, die auf Verantwortungsbereichen aufbaut, macht es einen interessanten Unterscheid aus, ob jemand in seinem Verantwortungsbereich agiert oder ob er Verantwortung für etwas übernimmt, wofür er sie bislang nicht hatte.9 Das also ist ganz grob das handlungstheoretische Bild, das sich meines Erachtens gut an Merkels Überlegungen zum Töten und Sterbenlassen anschließt. Von jemandem zu sagen, er handele, setzt ihn in Beziehung zu einem Geschehen und behauptet, dass dieses Geschehen entweder daraus erklärlich sei, dass es im Verantwortungsbereich des Handelnden stattfinde (dann ist es z. B. ein Sterbenlassen) oder dass es in den Verfügungsbereich des Betroffenen eingreift (dann ist es z. B. ein Töten). Diese Erklärungen sind deshalb möglich, weil diese Bereiche jeweils normativ charakterisiert sind und von den Akteuren erwartet werden kann, dass sie sich normkonform verhalten. Deshalb ist es interessant, im Fall des Sterbenlassens zu erfahren, dass sich das Geschehen daraus erklären lässt, dass jemand unter der speziellen Verpflichtung stand, sich zu kümmern, und im Fall des Tötens daraus, dass es jemanden gab, der der generellen Pflicht nicht gefolgt ist, sich nicht einzumischen. Der Umfang dieser Handlungssphären hängt von verschiedenen Faktoren ab. Manche haben wir einfach deshalb, weil wir Menschen sind, mit körperlicher Integrität, einem Recht auf eine Intim- und Privatsphäre und Selbstbestimmungsrechten. 9 Vgl. Stoecker, Ralf, „Das Pilatus-Problem und die Vorzüge eines dynamischen Verantwortungsbegriffs“. In: Berendes, J. (Hrsg.), Autonomie durch Verantwortung: Impulse für die Ethik in den Wissenschaften, 2007: 147 – 160.

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Manche können wir gezielt beeinflussen, z. B. dadurch, dass wir uns als Ärztin auf die Behandlung eines Patienten einlassen. Wieder andere fallen uns zu, wie z. B. spezielle Fürsorgeverpflichtungen, die entstehen, wenn wir gewollt oder unbeabsichtigt etwas tun, das stark in das Leben eines anderen Menschen eingreift. Nicht jeder Eingriff zieht aber eine solche Ausweitung des Verantwortungsbereichs nach sich. Im Fall der schattenspendenden Markise ist die Bedeutung für Olmütz zu gering, um Aschenbrenner die Verpflichtung zuzuschreiben, ihn vor dem Sonnenstich zu bewahren, und ähnlich würde ich es auch (anders als Merkel) für die Bewässerung von Nachbars Garten sehen. Allein die prinzipielle Möglichkeit, irgendwo Einfluss zu nehmen, ist jedenfalls keine hinreichende Bedingung dafür, dass wir uns kümmern müssen, auch wenn es gelegentlich gut wäre, wenn wir Verantwortung übernehmen und uns auf diese Weise verpflichten würden (z. B. gegenüber der Not vieler Menschen weltweit).

VI. Fazit „Altes, Neues, Ungelöstes“ lautet, wie gesagt, der Untertitel eines der Artikel, mit denen ich mich in meinem Beitrag auseinandergesetzt habe. Ich hoffe, es ist mir gelungen zu zeigen, dass Reinhard Merkels Verständnis des Unterschieds zwischen Töten und Sterbenlassen sehr gut zu einem relationalen Handlungsverständnis passt und dass diese Kombination insgesamt sehr attraktiv ist. Gleichwohl lässt meine Darstellung noch vieles ungelöst. Man möchte erstens genauer verstehen, wie diese individuellen Sphären (Organisationskreise, Verantwortungsbereiche) genau funktionieren und inwiefern der Rückgriff auf sie tatsächlich dazu passt, dass Akteure die Welt kausal beeinflussen. Zweitens gilt es, die charakteristischen psychischen Handlungsmerkmale – Absichten, Gründe, Motive – in das Bild einzubauen. Und drittens bleibt die moralphilosophische Skepsis, dass auch die Feststellung, wie eng die Signifikanzthese mit unserer handlungstheoretischen Zuschreibungspraxis verwoben ist, nichts daran ändern könnte, dass es ungerechtfertigt sei, eine Handlung für sich gesehen anders zu bewerten, weil sie ein Töten ist und kein Sterbenlassen. Ich habe in den letzten Jahren versucht, in diesen Fragen in der einen oder anderen Hinsicht weiter zu kommen10, und würde mich sehr freuen, wenn die skizzierten Gemeinsamkeiten Reinhard Merkel motivieren könnten, sich diesem Projekt ebenfalls wieder zuzuwenden. Schließlich hat er mit diesem wichtigen Thema vor gut zehn Jahren angefangen – und wie wir von ihm gelernt haben, kann so etwas leicht in der Verpflichtung münden weiterzumachen.11

10

Vgl. auch Stoecker, Ralf, „Acting for Reasons – a Grass Root Approach“. In: Sandis, C. (Hrsg.), New Essays on the Explanation of Action. Basingstoke, UK: Palgrave Macmillan, 2009. 11 Ich danke Jens Kulenkampff für viele hilfreiche Anmerkungen.

Causa efficiens Von Sebastian Simmert und Joachim Renzikowski

I. Einleitung In der Festschrift für Ingeborg Puppe hat Reinhard Merkel dafür plädiert, dem Begriff der „causa efficiens“, den er als „physikalistischen Kausalbegriff“ bezeichnet, mehr Aufmerksamkeit zu schenken.1 Nun genießt zwar in der deutschen Strafrechtswissenschaft und -praxis die sog. „Äquivalenztheorie“ seit langem die uneingeschränkte Vorherrschaft.2 Aber immer wieder wurden abweichende Konzepte vertreten, von den sog. „individualisierenden Kausalitätstheorien“3 bis heute. Dazu gehört neben dem von Volker Haas mit der Reichweite des subjektiven Rechts begründeten Begriff der Kausalität als Bewirken4 die neuerdings von Kindhäuser vorgestellte Formel der conditio per quam.5 Beide Konzepte beruhen letztlich auf der causa efficiens, die nicht in einem bloß physikalischen Sinn verstanden wird. 1 Merkel, Über einige vernachlässigte Probleme des Kausalitätsbegriffs im Strafrecht und Ingeborg Puppes Lehren dazu, in: Paeffgen u. a. (Hrsg.), Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion. Festschrift für Ingeborg Puppe, 2011, S. 151 (166 ff.). 2 Vgl. RGSt 66, 181 (184); 69, 44 (47); BGHSt 39, 195 (197 f.); Eisele, in: Schönke/ Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 30. Aufl. 2018, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 76 m.w.N. 3 S. etwa Birkmeyer, Ueber Ursachenbegriff und Causalzusammenhang im Strafrecht, GS 37 (1885), 257 (272 ff.) – Ursache als wirksamste Bedingung für den Erfolg; Ortmann, Zur Lehre vom Kausalzusammenhang, GA 1875, 268 ff. – Ursache als letzte Bedingung für einen Erfolg; Kohler, Studien aus dem Strafrecht. I, 1890, S. 83 ff. – Lehre von der qualitativ bestimmenden Bedingung; sowie die Gleichgewichtstheorie von Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, 2. Aufl. 1890, S. 113 ff., und die Lehre von der ausschlaggebenden Bedingung von Nagler, in: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 7. Aufl. 1954, S. 26 ff.; dazu gehört auch die Lehre vom „Regressverbot“ von Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 18. Aufl. 1931, S. 14 f.; näher dazu Diel, Das Regressverbot als allgemeine Tatbestandsgrenze im Strafrecht, 1996, S. 31 ff.; Ling, Die Unterbrechung des Kausalzusammenhangs durch willentliches Dazwischentreten eines Dritten, 1996, S. 44 ff., 101 ff. et passim. Diese Lehren werden heute zumeist nicht mehr für erwähnungswürdig gehalten und tauchen daher in den Lehrbüchern nicht mehr auf. 4 Haas, Kausalität und Rechtsverletzung, 2002, S. 185 ff.; ablehnend Puppe, in: Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 2018, Vor §§ 13 ff. Rn. 180; dies., Zum gegenwärtigen Stand der Lehre von der Verursachung im Recht, RW 2011, 411 ff., 419 ff.; Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 11 Rn. 46 Fn. 105. 5 Kindhäuser, Zur Kausalität im Strafrecht, in: Albrecht u. a. (Hrsg.), Festschrift für Kargl 2015, S. 253 (270); ders., Verursachen und Bedingen, in: Stuckenberg/Gärditz (Hrsg.), Strafe

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Eine nähere Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Wirkursache“ lohnt sich schon deshalb, weil die üblicherweise auf Aristoteles zurückgeführte causa efficiens gerade kein bloß physikalischer Kausalbegriff ist. Sein Potential dürfte also noch viel größer sein. Im Folgenden soll daher ausgehend von einer Analyse der Herkunft des Wortes ,Kausalität‘ (II.) und ihres Begriffs (III.) gezeigt werden, dass wahrheitsdefinite6 Kausalurteile auf Einzeldinge in der Welt und ihren Zusammenhang referieren (III.–V.). Anders formuliert: Kausalität bezeichnet einen singulären Vorgang. Gleichwohl müssen Kausalurteile begründet werden, und da Begründungen verallgemeinerbar sein müssen, haben dort die Naturgesetze und andere Gesetzmäßigkeiten ihren Platz (VI.). Der Beitrag schließt mit einer kurzen Bemerkung zu Kausalaussagen über menschliches Verhalten (VII.).

II. Die Herkunft des Wortes ,Kausalität‘ Gemeinhin leitet man das Wort ,Kausalität‘ vom lateinischen causa ab. Heutzutage übersetzt man es als ,Ursache‘. Doch besteht diese Bedeutung nicht unabhängig von einem Wort anderen Ursprungs. Dieses Wort ist das altgriechische aQt_a, welches neben der Bedeutung ,Ursache‘ auch die Bedeutungen ,Schuld‘, ,Grund‘ oder ,Beschuldigung‘ aufwies. Erst als Übersetzung von aQt_a erlangte das Wort causa die Bedeutung ,Ursache‘.7 Dabei scheint es ,Übersetzung‘ nicht richtig zu treffen. Ethymologen sahen bis zum 19. Jahrhundert in causa ein lateinisches Lehnwort des altgriechischen jaOsir,8 dem neben der Bedeutung ,das Verbrennen‘ die Bedeutung ,die Anregung zum Tätigsein‘ zukommt.9 Zwar ist gegenüber solchen Annahmen grundsätzlich Zurückhaltung geboten, sofern keine zeitgenössischen Schriftstücke existieren, die die Abstammung oder Entlehnung eines Wortes aus einem anderen belegen. Allerdings legen einige von Caelius Aurelianus (ca. 500 n. Chr.) erhalten gebliebene lateinische Übersetzungen der altgriechisch medizinischen Schrift „peq· an]ym ja· wqom_ym pah_m“10 des Soran von Ephesos (98 – ca. 138 n. Chr.) nahe, dass sich die Bedeutungen von jaOsir und causa überschneiden.11 Die lateinische Sprache kennt und Prozess im freiheitlichen Rechtsstaat. Festschrift für Paeffgen 2015, S. 129 (142 f.); zur Kritik s. Puppe, Und führen, wohin du nicht willst, ZIS 2015, 426 ff. 6 Wahrheitsdefinit heißt, das eine Aussage war oder falsch ist. 7 Vgl. Broadie, The Ancient Greeks, in: Beebee/Hitchcock/Menzies (Hrsg.), The Oxford Handbook of Causation, 2012 , S. 21 f.; Vanicˇ ek, Griechisch-Lateinisches Etymologisches Wörterbuch. Erster Band, 1877, S. 79. 8 Vgl. Vossius, Etymologicon Linguae Latinae. Editio Nova, 1695, S. 141. 9 Vgl. Valpy, A Manual of Latin Etymology, from the Greek Language, 2. Aufl. 1852, S. 25. 10 Aurelianus’ Übersetzung ist das einzige überlieferte Zeugnis von Sorans Schriften: „peq· an]ym ja· wqom_ym pah_m“ [Über akute und chronische Krankheiten]. 11 Vgl. Aurelianus, in: Bendz (Hrsg.), Corpus Medicorum Latinorum, Bd. VI 1, Caelii Aureliani Celerum passionum libri III, Tardarum passionum libri V, edidit in linguam germanicam transtulit Ingeborg Pape, 1990, lib. 1 cap. 2, §§ 31 – 33.

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mehrere Wörter für ,das Verbrennen‘ bzw. für Arten des Verbrennens (adustio, crematio, exustio, flammatus), die jedoch nicht zugleich auch ,Anregung zum Tätigsein‘ bedeuten. Betrachtet man das Wort jaOsir in seiner vermeintlich ursprünglichen Bedeutung im Vergleich mit der Vielzahl lateinischer Wörter für ,Verbrennen‘, wird die Verkürzung der Bedeutung von causa durch die Gleichsetzung mit aQt_a deutlich. Das zeigt der Blick auf die Vier-Ursachen-Lehre des Aristoteles, hinsichtlich der aQt_a und causa für gewöhnlich gleichgesetzt werden. Aristoteles unterscheidet zwischen vier aQt_ai, nach denen die artspezifische Seinsweise eines Einzeldings in der Welt12 bestimmt ist.13 Diese sind die vkg (causa materialis), eXdor (causa formalis), !qwµ t/r jim^seyr (causa efficiens), und t¹ t]kor (causa finalis). Eine causa materialis bezeichnet das, woraus etwas besteht (z. B. das Erz des Standbilds);14 eine causa formalis die Gestalt, die etwas aufweist („was es wirklich ist“);15 eine causa efficiens, was die Veränderung von etwas ermöglicht, aufrecht erhält oder herbeiführt;16 eine causa finalis, weshalb bzw. in Bezug worauf eine Veränderung besteht.17 Wenn und insoweit diese aQt_ai als Ganzes bestimmt sind, kann ein Einzelding als solches von anderen Einzeldingen in der Welt unterschieden werden. Denn seine artspezifische Seinsweise in der Welt ist zwangsläufig von der Seinsweise anderer Einzeldinge aufgrund der Bestimmtheit seiner causa finalis verschieden. Schließlich ist durch sie bestimmt, in Bezug worauf die Einheit aus causa materialis, causa formalis und causa efficiens bestimmt ist, was letztlich wiederum nur selbst etwas Bestimmtes sein kann. Das Wort causa bezeichnet somit dasjenige, wodurch man erkennt, dass etwas in der Welt in bestimmter Weise ist oder wurde. Die Erkenntnis über das Tätigsein eines Einzeldings ist die Erkenntnis seiner artspezifischen Seinsweise in der Welt. Diese Gleichsetzung rechtfertigt sich dadurch, dass ein Einzelding nur in der Weise tätig sein kann, wie seine artspezifische Seinsweise es gestattet. Daher kann die artspezifische Seinsweise nicht vom Tätigsein eines Einzeldings getrennt werden, sofern es in der Welt ist.

12 Dabei wird die artspezifische Seinsweise eines Einzeldings in der Welt mit seinem Tätigsein gleichgesetzt, was bei Aristoteles gleichbedeutend mit seiner artspezifischen Bewegung (j_mgsir) ist. 13 Aristoteles, Metaphysik, I A 983 a25 – 27; ders., Physik,. II 194b 16 – 24; eingehend dazu Aichele, Ontologie des Nicht-Seienden, 2009, S. 121 ff. 14 Aristoteles, Physik, II 194b 25 – 27. 15 Ibid., 27 – 29. Aristoteles nennt als ein Beispiel das Verhältnis von 2 zu 1 beim Oktavklang. 16 Ibid., 30 – 32. 17 Ibid., 32 – 35.

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III. Zum Begriff der Kausalität In diesem Sinn lässt sich das Wort ,Kausalität‘ als die Bezeichnung für einen Zustand von etwas in der Welt bzw. der Welt selbst verstehen, der durch das bestimmt ist, was man Ursache nennt. Ohne Ursache also auch keine Kausalität. Dass dieses Verständnis nicht unproblematisch ist, haben die Leibniz-Wolff’sche Philosophie der Aufklärung sowie ihre Kritiker gezeigt.18 Was auch immer man durch causa aussagt, lässt sich vielfach durch die Begriffe ratio oder principium aussagen und umgekehrt. Alle drei Termini wurden zur damaligen Zeit gleichermaßen als ,Grund‘ übersetzt. Deshalb war unklar, ob diese Ausdrücke Unterschiedliches bedeuten. Zwar haben Leibniz und Wolff zu einer inhaltlichen Ausdifferenzierung der Begriffe beigetragen.19 Doch erst Kant konnte auf der Grundlage seiner Auseinandersetzung mit der wolffschen Metaphysik und mit Crusius‘ Kritik an Wolff und Leibniz herausstellen, dass der Begriff des Grundes (ratio) die anderen Begriffe enthält oder m.a.W.: dass Ursachen als Arten von Gründen zu verstehen sind. Ein Grund ist, so Kant, „[q]uod determinat subiectum respectu praedicati (…).“20 Subjekt und Prädikat haben hierbei eine allgemeine Bedeutung, die sich jeweils auf ihre Funktion bezieht. Das Subjekt ist, was einer Prädikation unterliegt, und das Prädikat ist, was etwas bestimmt. Subjekt und Prädikat sind dabei nicht nur logische oder metaphysische Begriffe. Diese Einschränkung ist erst zu machen, wenn man einen Begriff in Zusammenhängen verwendet, in denen es um Wahrheit oder Existenz geht. Im Hinblick auf die Existenz kann ein Grund eine ,Ursache‘ genannt werden, weil man durch sie das bezeichnet, was das Dasein – in Form einer bestimmten Prädikation – von etwas – dem Subjekt – in der Welt bestimmt.21 Daraus folgt, dass die Erkenntnis der Ursachen den Erkenntnissen von den Dingen in der Welt vorgelagert ist, weil sie ohne sie nicht bestehen würden. Ohne eine Ursache gäbe es schlicht kein Ding, das man in der Welt erkennen könnte. Aus dieser begrifflichen Präzisierung heraus lässt sich genauer auf einzelne Kausalitätslehren eingehen. Sie lassen sich idealtypisch entsprechend der möglichen Kausalitätsaussagen einteilen, die von ihnen behandelt werden, in singuläre oder allgemeine Kausalitätsaussagen. Singuläre Kausalitätsaussagen sagen einen Zusam18 Allen voran Christian August Crusius, Ausführliche Abhandlung von dem rechten Gebrauch und der Einschränkung des sogenannten Satzes vom zureichenden oder besser determinierenden Grunde, 1744. 19 Wolff, Deutsche Metaphysik, § 29, S. 15 (GW I .2.2); ders., Cosmologia, §§ 18, 23, 24, S. 16, 19, 20 (GW II 4); ders., Philosophia prima, § 887, S. 654 (GW II 3); Leibniz, Monadologie, in: Die philosophischen Schriften, hrsg. v. Carl Immanuel Gerhardt, 6. Bd., 1885, §§ 30 – 32, 35, 36 (S. 612 f.); ders., Essais de Théodicée, ibid., § 44 (S. 127). 20 Kant, Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio (1755), in: Kants gesammelte Schriften. Hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste Abteilung, Band 1, 1902, S. 385 (391) (Sec. II, Prop. IV): „Was ein Subjekt in Hinsicht auf ein Prädikat bestimmt …“. 21 Vgl. Kant, AA I, S. 394 (Sec. II, Prop. VI).

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menhang zwischen zwei Aussagen über singuläre Weltzustände bzw. deren Bestandteile aus. Sie werden grammatikalisch mit „weil“ gebildet: „Weil x war, ist y gewesen.“ Allgemeine Kausalitätsaussagen geben hingegen einen gesetzmäßigen Zusammenhang an, der sich als Konditionalaussage ausdrücken lässt: „Immer wenn etwas der Klasse X auftritt, dann tritt auch etwas der Klasse Y auf.“ Bei beiden Arten von Aussagen sagt man aus, dass ein y bzw. etwas der Klasse Y seine Bestimmtheit durch ein x bzw. etwas der Klasse X erlangt, wobei y und Y Platzhalter für die Bezeichnung des Verursachten und x bzw. X für eine Ursache sind. Jedoch ist der Gültigkeitsbereich des Begriffes des Verursachten und der Ursache jeweils verschieden, denn singuläre Kausalitätsaussagen beziehen sich auf Singuläres und allgemeine Kausalitätsaussagen auf Universales. Dementsprechend können drei Arten von Kausalitätslehren gemäß der idealtypischen Einteilung der Kausalitätsaussagen unterschieden werden: Kausalitätslehren können entweder nur singuläre22 oder nur allgemeine Kausalitätsaussagen23 oder beide zugleich24 zum Gegenstand haben. Freilich sind diese Überlegungen sehr allgemein. Doch verdeutlichen sie, was spätestens seit Mackies Auseinandersetzung mit Hume bekannt ist:25 Die Auseinandersetzung mit Kausalitätslehren umfasst drei Analyseebenen. Kausalitätsaussagen können zunächst logisch analysiert werden, denn Aussagen haben stets logische Eigenschaften, entweder von sich aus oder in Bezug zu anderen Aussagen. Entspricht der Kausalaussage etwas in der Welt, so ist dieses Etwas einer metaphysischen Analyse zugänglich. Denn solche Analysen beschäftigen sich mit den Eigenschaften des Seienden, sofern es in der Welt ist, d. h. mit Eigenschaften, die sich über etwas Seiendes in der Welt in bestimmter Weise aussagen lassen. Da die begriffliche Erkenntnis bzw. das Wissen davon nicht unmittelbar besteht, ist fraglich, wie und ob man überhaupt davon Erkenntnis und Wissen erlangen kann. Antworten darauf liefern epistemologische Auseinandersetzungen. Alle drei Ebenen greifen ineinander, denn ohne metaphysische Untersuchung ist nicht ersichtlich, ob einer Aussage irgendetwas in der Welt entsprechen kann. Ohne epistemologische Untersuchung ist nicht begründet, wie man von den Dingen in der Welt Erkenntnis oder Wissen haben kann, das Gegenstand einer Aussage ist. Ohne logische Analyse bleibt dunkel, ob das durch die Aussagen Ausgesagte überhaupt den Dingen in der Welt oder der Erkenntnis und dem Wissen von ihnen entsprechen kann. Diese drei Analyseebenen sollten daher bei der Untersuchung von Kausalitätslehren nicht unabhängig voneinander betrachtet werden.

22 Z. B. Russell, On the Notion of Cause, in: Proceedings of the Aristotelian Society 1912/ 13, 1 – 26; Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Historisch-kritisch dargestellt, Nachdruck der 9. Auflage 1933, 1991, S. 459. 23 Z. B. Mackie, The Cement of the Universe, 1974, S. 59 – 87. 24 Z. B. Kant, Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl. 1787), in: Kants gesammelte Schriften, Band 3, Berlin 1911, B 560 – 562. 25 Vgl. Mackie (Fn. 23), S. 29 – 142.

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IV. Einzeldinge in der Welt Puppe spricht in ihrer Kommentierung den philosophischen Streit zwischen Singularisten und Generalisten an.26 Dem regularitätstheoretischen Ansatz, wie er auch von Puppe favorisiert wird,27 steht die Sichtweise gemäßigter Nominalisten bzw. Konzeptualisten wie etwa Ockham, Leibniz, Boole oder Kant28 gegenüber, dass Kausalgesetze bzw. -gesetzmäßigkeiten das Resultat der Interaktion verschiedener Entitäten untereinander bzw. miteinander bezeichnen. Das bedeutet, dass die Bestimmtheit von Kausalgesetzen von der Interaktion von Einzeldingen abhängt, aber die Interaktion von Einzeldingen nicht durch Kausalgesetze bestimmt ist. Denn Kausalgesetze sind (nur) begriffliche Zuschreibungen, die die Interaktion zwischen Einzeldingen verstandesgerecht aussagen. Diese Position impliziert bestimmte metaphysische Annahmen über die Welt. Eine Grundannahme regularitätstheoretischer Ansätze für das Bestehen von Kausalbeziehungen ist, dass Regularitäten als Universale irgendwie geartete unveränderliche Eigenschaften der Welt bzw. eines ihrer essentiellen Bestandteile darstellen. Dadurch kann die Welt als Menge aller Regularitäten definiert werden, die die Möglichkeit des Seins determiniert, ohne dadurch zugleich dessen Wirklichkeit zu bestimmen. In dieser Weise sind die Eigenschaften der Welt also nicht davon abhängig, dass überhaupt irgendeine Entität in ihr gegeben ist, die die Möglichkeiten des Seins verwirklicht. Für ihre Erkenntnis kann das aber nicht gelten, denn ohne Entitäten, durch die Möglichkeiten Wirklichkeit werden, blieben die Eigenschaften der Welt unerkennbar. Somit kann man nur induktiv auf Regularitäten schließen.29 Wie spätestens seit Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica ersichtlich ist, lassen sich auf dieser Grundlage viele mögliche Phänomene der Veränderung in der Welt erfolgreich mathematisch beschreiben und erklären.30 Doch stößt man bei dieser Grundlage auch in ihrer modernen weiterentwickelten Form, worauf Merkel zu Recht hinweist, an Grenzen der Erklärbarkeit von Kausalbeziehungen. Das ist immer dann der Fall, wenn man aufgrund von Regularitäten einen Kausalzusammenhang zwischen verschiedenen Gliedern einer Kausalkette nicht vollständig beschreiben kann.31 Das betrifft etwa den Transfer der physikalischen Erhaltungsgrößen von aktiv bewegbaren Körpern auf passiv bewegbare Körper zu aktiv bewegbaren Körpern – Merkel nennt als Beispiel das Durchschneiden der Tragseile eines Las26

Puppe (Fn. 4), Vor §§ 13 ff. Rn. 109. Ibid., Rn. 82. 28 Vgl. Swoyer, Conceptualism, in: Strawson/Chakrabati (Hrsg.), Universals, Concepts and Qualities. New Essays on the Meaning of Predicates, 2006, S. 131 ff.; Di Bella, Some Perspectives on Leibniz’s Nominalism and Its Sources, in: Di Bella/Schmaltz (Hrsg.), The Problem of Universals in Early Modern Philosophy, 2017, S. 207 ff. 29 Vgl. auch Puppe (Fn. 4), Vor §§ 13 ff. Rn. 82 m. Fn. 71. 30 Vgl. Newton, Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, Editio tertia aucta & emendate, 1726, XIII-XV. 31 Vgl. Merkel (Fn. 1), S. 165 – 169. 27

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tenaufzugs, der alsdann abstürzt und einen anderen erschlägt – oder mentale Verursachungen.32 Diese Probleme bestehen, weil hierbei die Veränderung der Dinge in einer vordefinierten Welt passieren,33 da die Welt unabhängig von den Dingen zu denken und somit selbst unveränderlich ist. In einer solchen Welt können Kausalketten zwischen den Dingen nur bestehen, wenn sie durch Regularitäten als Relata singulärer Kausalbeziehungen definit sind. Daraus folgt, dass überhaupt nur solche veränderlichen Dinge in der Welt sein können, die durch Regularitäten definit sind. Merkels Beispiele enthalten unmögliche Kausalbeziehungen für solche Welten, weil sie lückenhafte Kausalketten exemplifizieren. Geht man hingegen davon aus, dass die aktuale Welt mit allen aktual eineindeutig bestimmten Einzeldingen identisch ist, ist jede Eigenschaft der Welt auf die Beschaffenheit der Einzeldinge selbst zurückzuführen. Denn die Identität der Welt konstituiert sich durch die eineindeutig bestimmten Einzeldinge. Eineindeutig bestimmt sind nur solche Einzeldinge, die sowohl artspezifische Eigenschaften aufweisen als auch zu allen anderen Einzeldingen durch relationale Eigenschaften bestimmt sind. Denn erst dann sind sie von allen anderen Einzeldingen unterschieden und zugleich unter allen Einzeldingen identifizierbar. Ein solches Verständnis von Einzeldingen impliziert bestimmte Annahmen über die Möglichkeit von Veränderung. Sofern ein Einzelding artspezifische Eigenschaften aufweist, ist seine Veränderbarkeit bei Beibehaltung seiner Artzugehörigkeit begrenzt. Denn nur solche Veränderungen können stattfinden, die durch die jeweiligen artspezifischen Eigenschaften der Einzeldinge möglich sind. So wird eine Gans aufgrund ihrer körpereigenen Merkmale fliegen können, während einem Bär dies aufgrund seiner körpereigenen Merkmale nicht möglich ist. Veränderungen, die mit den aktualen artspezifischen Eigenschaften eines Einzeldings nicht vereinbar sind, müssen folglich zum Wechsel der Artzugehörigkeit des Einzeldings führen. Denn sofern ein Einzelding eine Veränderung vollzieht, die mit seiner Artzugehörigkeit nicht vereinbar ist, ist dies nur möglich, sofern es einer anderen Art zugehörig wird. Damit kann letztlich nicht mehr von ein und demselben Einzelding gesprochen werden, sondern von zwei Einzeldingen, obwohl die relationalen Eigenschaften identisch sind. Schließlich lassen sich beide entsprechend ihrer Artzugehörigkeit unterscheiden. So kann zwischen einem Menschen auf einem Bett und seiner Leiche auf demselben Bett unterschieden werden, obwohl der Mensch und die Leiche hinsichtlich ihrer Bestimmtheit zum Bett identisch sind. Besteht die Welt nur aus Einzeldingen, ist Veränderung nur durch andere Einzeldinge möglich. Veränderung umfasst dabei nur artspezifische oder relationale Eigenschaften von Einzeldingen und kann nur aufgrund dieser Eigenschaften bestehen. Damit müssen Kausalbeziehungen auf die artspezifischen Eigenschaften von Einzel32

Ibid., S. 166 – 168. ,Welt‘ wird hier im üblichen Sprachgebrauch der Physik verstanden, nämlich als mathematisch-physikalistisches Modell, welches auf der Grundlage vordefinierter Begriffe und Regeln zur Verknüpfung dieser Begriffe die Beschreibung von Phänomenen ermöglicht. 33

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dingen zurückgeführt werden. Schließlich sagt eine Kausalbeziehung eine bestimmte Art der Relation zwischen Einzeldingen aus, die nicht bestehen könnte, wenn sie keine artspezifischen Eigenschaften aufweisen würden. Ein Einzelding ohne artspezifische Eigenschaften wäre formal unbestimmt und könnte damit nicht einmal als ein mögliches Seiendes gedacht werden.

V. Kausalität in der Welt voll Einzeldinge Wie bereits erwähnt, bezeichnet Kausalität einen Zustand von etwas in der Welt bzw. der Welt selbst, der durch das bestimmt ist, was man Ursache nennt. Dabei wird durch eine Ursache das bezeichnet, von dem die Anregung zum Tätigsein ausgeht. Da das Tätigsein identisch mit der artspezifischen Seinsweise eines Einzeldings in der Welt ist, ist unter Kausalität der Zustand der artspezifischen Seinsweise eines Einzeldings in der Welt selbst zu verstehen, wie er aufgrund von Ursachen besteht. Eine Kausalbeziehung zwischen Einzeldingen kann damit nur dann wahrheitsdefinit ausgesagt werden, wenn die Einzeldinge ihre artspezifischen Eigenschaften aufweisen. Damit scheinen Ursachen artspezifische Eigenschaften von Einzeldingen zu sein,34 sofern sie als solche in der Welt sind. Andernfalls bestünde kein Einzelding in der ihm artspezifischen Weise in der Welt und somit könnten auch keine Kausalbeziehungen zwischen bestimmten Einzeldingen wahrheitsdefinit ausgesagt werden. Es könnte schlicht kein vollkommen unterscheidbares und identifizierbares Einzelding in der Welt gefunden werden, welches ein Referenzobjekt einer Aussage sein könnte. Kurz: Erst aufgrund der Ursache hat ein Einzelding eine Identität in der Welt, die ausschließlich ihm zukommt. Deshalb sind die artspezifischen Eigenschaften eines Einzeldings singuläre Eigenschaften, auch wenn sie der Mensch aufgrund seines endlichen Verstandes zumeist durch Artbegriffe und somit als Universale zu erfassen versucht.35 Auf den ersten Blick erscheinen diese Ausführungen widersprüchlich zu sein, denn sie scheinen die Annahme zu implizieren, dass die Einzeldinge selbstursächlich für ihre artspezifischen Seinsweisen sind, schließlich ist eine ihrer artspezifischen Eigenschaften die Ursache für ihre jeweilige artspezifische Seinsweise. Dies würde die Gegebenheit der Ursache voraussetzen, bevor das Einzelding seine artspezifische Seinsweise aufweist, aber zugleich kann die Ursache erst dann gegeben sein, wenn ein Einzelding in artspezifischer Weise ist. Dieser scheinbare Widerspruch lässt sich auflösen, wenn man die artspezifische Seinsweise der Einzeldinge nicht losgelöst voneinander betrachtet. Dann lässt sich sagen, dass die artspezifische Seinsweise eines Einzeldings aufgrund des Tätigseins eines anderen Einzeldings besteht, indem das letztere das erstere kausiert. Kausieren bedeutet, dass ein Einzelding bestimmte Umstände hervorbringt oder bereitstellt, sodass ein Einzelding in artspe34 35

Vgl. O’Connor, Person & Causes: The Metaphysics of Free Will, 2000, S. 73. Entgegen O’Connor, ibid., S. 73.

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zifischer Seinsweise sein kann. Indem die Eigenschaft ,Ursache-sein-zu-können‘ aktualisiert wird, wird ein Einzelding in einen kausierenden Zustand versetzt, wobei die Bestimmtheit dieses Zustands maßgeblich durch die Umstände bedingt ist, innerhalb derer das Einzelding bestimmt sein kann.36 Denn wie ein Einzelding aktual artspezifisch ist oder sein kann, hängt unter anderem davon ab, inwiefern die Umstände, in denen es sich befindet, sein artspezifisches Sein ermöglichen. So mag ein Mensch im Winter in einem See schwimmen gehen wollen. Doch wird das nicht funktionieren, wenn der See vollständig zugefroren ist. In diesem Sinne lässt sich Kausalität als ein Zustand von Einzeldingen verstehen, der in zweierlei Hinsicht bestimmt ist. So ist er zum einen durch die Eigenschaft eines Einzeldings ,Ursache-sein-zu-können‘ bestimmt wie auch durch die Umstände, die die artspezifische Seinsweise eines Einzeldings ermöglichen. Dabei liegt die Eigenschaft ,Ursache-sein-zu-können‘ nur dann aktual vor, wenn auch die Umstände vorliegen, dass ein Einzelding in einer seiner artspezifischen Seinsweisen sein kann. Insofern ist für die artspezifische Seinsweise eines Einzeldings beides als Ursache anzusehen. Betrachtet man diese Ausführungen philosophiegeschichtlich, so ist klar, dass es sich bei diesen Ursachen um causae efficientes handelt, also nicht lediglich entsprechend einem verbreiteten Irrtum um eine Wirkkraft.37 Ein Blick in die Logique de Port-Royal der Jansenisten Arnauld (1612 – 1694) und Nicole (1625 – 1695) gibt jedoch Aufschluss, dass man sehr viel mehr unter einer causa efficiens zu verstehen hat. Insgesamt verzeichnen die beiden Jansenisten 23 causae efficientes.38 Darunter fällt alles, was ein Ding bzw. eine Entität als solches hervorbringt bzw. erkennbar macht.39 Dieses Verständnis einer causa efficiens ist also nicht gleichzusetzen mit dem Verständnis einer Kraft, wie sie etwa seit Newton Eingang in den naturwissenschaftlichen Diskurs gefunden hat. Denn ,Kraft‘ ist ein abstrakter physikalischer Begriff, der dazu dient, die Veränderungen eines Körpers im Rahmen eines physikalischen Modells zu beschreiben.40 Diese Beschreibung besteht in der Angabe des mathematischen Verhältnisses von Massewert und Beschleunigungswert. Sie ist folglich rein begrifflicher Natur.

36

S. Dretske, Explaining Behavior. Reasons in a World of Causes, 1991, S. 39 f. So aber Puppe (Fn. 4), Vor §§ 13 ff., Rn. 81; Hilgendorf, Fragen der Kausalität bei Gremienentscheidungen am Beispiel des Lederspray-Urteils, NStZ 1994, 561 (564). 38 Arnauld/Nicole, Logique de Port-Royal, 1854 [1662], S. 216 f. 39 Ibid., S. 216. Es sei darauf hingewiesen, dass sich das Wort produit im modernen Französisch zwar mit ,hervorbringen‘ übersetzen lässt, entsprechend dem zeitgenössischen Sprachgebrauch aber seit 1643 als ,erkennbar machen‘ bzw. ,erfahrbar machen‘ übersetzbar ist, vgl. Wartburg, Französisches etymologisches Wörterbuch : Eine Darstellung des galloromanischen Sprachschatzes, Bd. 9: Palacabilis-Pyxis, 1959, S. 424. 40 Vgl. Mahnken, Lehrbuch der Technischen Mechanik – Statik: Grundlagen und Anwendungen, 2012 , S. 13 – 17. 37

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VI. Was sagt eine Kausalitätsaussage aus? In ihrer Antrittsvorlesung in Cambridge verweist Anscombe darauf, dass „causality consists in the derivativeness of an effect from its causes. This is the core, the common feature, of causality in its various kinds. Effects derive from, arise out of, come of, their causes.“41 Entsprechend dem Verständnis der causa efficiens ist eine Wirkung (effect) identisch mit der artspezifischen Seinsweise eines Einzeldings. Die Möglichkeiten eines Einzeldings, in artspezifischer Weise zu sein, sind durch seine artspezifischen Eigenschaften bestimmt. Welche Möglichkeiten aktual werden, sodass die artspezifische Seinsweise eines Einzeldings bestimmt ist, ist durch die causa efficiens eines Einzeldings in Hinsicht auf die causae efficientes aller anderen Einzeldinge definit. Also lässt sich Anscombe zufolge bei der Kenntnis der möglichen artspezifischen Eigenschaften eines Einzeldings unter Berücksichtigung bestimmter Umstände ableiten, welche artspezifischen Seinsweisen es aktualisieren könnte. Mit einer retrospektiven Sichtweise auf eine aktualisierte artspezifische Seinsweise könnte indes aus der Kenntnis der möglichen artspezifischen Eigenschaften des Einzeldings sowie der Umstände, in denen es sich befunden hat, nur abgeleitet werden, was seine artspezifische Seinsweise ermöglicht hat. Demnach kann durch eine Kausalitätsaussage zweierlei ausgesagt werden. Entweder wird ausgesagt, was die artspezifische Seinsweise eines Einzeldings ermöglicht hat oder wodurch die Aktualisierungen von möglichen artspezifischen Seinsweisen eines Einzeldings ermöglicht werden könnten. Im ersten Fall wird eine Aussage über die Art und Weise getroffen, wie bestimmte Einzeldinge durch ihre artspezifische Seinsweise die Aktualisierung der artspezifischen Eigenschaften eines Einzeldings bedingt haben, sodass es in artspezifischer Weise sein konnte. Das hängt maßgeblich von der Eigenschaft eines jeden Einzeldings ,Ursache-sein-zu können‘ ab, da ohne diese Eigenschaft überhaupt kein Einzelding artspezifisch sein würde und somit auch nichts über die artspezifische Seinsweise eines bestimmten Einzeldings ausgesagt werden könnte. Im zweiten Fall sagt man indes nur etwas über die Möglichkeit aus, wie bestimmte Einzeldinge durch ihre artspezifische Seinsweise die Aktualisierung der artspezifischen Eigenschaften eines Einzeldings bedingen könnten.

VII. Die Begründung von Kausalurteilen Entgegen Puppes Einwand42 hat Hume in seiner berühmten „Untersuchung über den menschlichen Verstand“ aus dem Jahr 1748 mitnichten gezeigt, dass der Begriff der causa efficiens zirkelschlüssig ist. Die entsprechende Passage lautet wörtlich: „It appears that, in single instances of the operation of bodies, we never can, by our ut41

(92). 42

Anscombe, Causality and Determination, in: Sosa/Tooley (Hrsg.), Causation, 1993, S. 88 Puppe (Fn. 4), Vor §§ 13 ff. Rn. 81.

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most scrutiny, discover anything but one event following another, without being able to comprehend any force or power by which the cause operates, or any connexion between it and its supposed effect. (…) So that, upon the whole, there appears not, throughout all nature, any one instance of connexion which is conceivable by us. All events seem entirely loose and separate. One event follows another; but we never can observe any tie between them. They seem conjoined, but never connected.“43 Die kausale Verknüpfung zweier Ereignisse kann nicht beobachtet („observe“) werden, ist also kein Gegenstand der Erfahrung, sondern beruht auf einer Vorstellung („idea“).44 Über die nähere Ausgestaltung dieser ,Idee‘ macht sich Hume keine Gedanken, weil er es ablehnt, über den Begriff ,Kausalität‘ a priori überhaupt nachzudenken.45 Humes Kritik richtet sich daher nicht, wie Puppe meint, nur gegen die Vorstellung der causa efficiens, sondern gegen jede Kausalitätstheorie überhaupt.46 Interessant ist aber eine weitere Bemerkung Humes. Er meint nämlich, dass wir aus der Häufigkeit des (aus seiner Sicht zufälligen) zeitlichen und räumlichen Zusammentreffens von Ereignissen dazu neigen, das frühere Ereignis die Ursache und das spätere Ereignis die Wirkung zu nennen. Diese Redeweise beruhe auf dem Glauben an die Gleichförmigkeit der Natur.47 Oder m.a.W.: Die Vorstellung einer gewissen Gleichförmigkeit der Einzeldinge in der Welt ist eine metaphysische Annahme, die eine notwendige Voraussetzung für die Möglichkeit von Erkenntnis und Erfahrung ist.48 Diese metaphysische Voraussetzung weist allen möglichen Gesetzmäßigkeiten ihren Platz in der Begründung von Kausalurteilen zu: Sie bezeichnen die Anwendungsbedingungen, unter denen eine Kausalaussage auf Einzeldinge in der Welt bezogen werden kann. Das erste, erkenntnistheoretische, Problem besteht hierbei darin, wie generelle Sätze, in denen Begriffe auf verschiedene Weise miteinander verknüpft werden, auf Einzeldinge in der Welt angewendet werden können. Während es nämlich in der Wirklichkeit immer um Einzelnes geht, sind Begriffe zwangsläufig allgemein-abstrakt, weshalb nur ein gesetzmäßiger Zusammenhang zwischen Ereignistypen formuliert werden kann. Üblicherweise wird ein generelles Gesetz benannt, 43 Hume, An Enquiry Concerning Human Understanding (1748), Nachdruck der Ausgabe von 1777, 3. Aufl. 1975, S. 73 (Hervorh. hier). 44 Ibid., S. 73 f. 45 Ibid., S. 27: „I shall venture to affirm, as a general proposition, which admits of no exception, that the knowledge of this relation is not, in any instance, attained by reasonings a priori.“ 46 Vgl. hierfür auch: Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Band I. Erklärung. Begründung. Kausalität. Zweite, verbesserte und erweiterte Auflage, 1983, S. 512 f. 47 Hume, Enquiry, S. 78. 48 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781), in: Kants gesammelte Schriften, Band 4, 1911, A 112: Ursache bezeichnet „eine Synthesis (dessen, was in der Zeitreihe folgt, mit anderen Erscheinungen) nach Begriffen (…), die ihre Regel a priori hat.“

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unter das ein konkreter Geschehensablauf subsumiert werden kann.49 Hierbei handelt es sich jedoch nicht um einen gültigen Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere. Gewissheit kann allein bei universalen Urteilen durch eine Analyse des Subjektterms erreicht werden, während die Wahrheit von singulären synthetischen Urteilen wie dem Kausalurteil nicht logisch bewiesen werden kann. Der Subsumtionsschluss kann daher nur eine Hypothese mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit generieren, deren Grad sich aus einem Vergleich des Inhalts der Aussage mit der konkreten Vorstellung des in Bezug genommenen Einzeldings ergibt. Stimmen Aussage und Vorstellung in dem Sinn überein, dass vernünftige und nicht bloß auf denktheoretischen Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht mehr aufkommen50, dann kann die Aussage als wahr behandelt werden; es besteht – subjektive – „praktische Gewissheit“.51 Allerdings können dabei nicht beliebige Regularitäten herangezogen werden. Ein zweites Problem liegt in der Unterscheidung von Verursachung und Regularität. Jede Bewegung und jede Veränderung setzt einen bestimmten Ausgangszustand voraus, und die bloße Beschreibung des Ausgangszustands besagt über die Verursachung noch gar nichts. So liegt etwa die Ursache dafür, dass sich der Mond in einer kreisförmigen Bahn um die Erde dreht, nicht in dem Ort, an dem er sich auf dieser Bahn vor fünf Stunden befunden hat, sondern in der Schwerkraftwirkung der Erde. Nur solche Gesetzmäßigkeiten sind also für Kausalurteile relevant, die eine causa efficiens ausweisen. Darauf läuft letztlich auch Puppes Kritik am hier vorgestellten Konzept hinaus. Sie verweist auf ein berühmtes Beispiel von Mackie: Wenn in Manchester um sechs Uhr die Sirenen heulen, legen die Arbeiter in London ihre Arbeit nieder und gehen nach Hause.52 In der Tat sprechen wir hier nicht von Kausalität, aber wenn „ein Gesetz, wonach die Arbeiter von London auf die Sirene von Manchester reagieren, (…) nicht zu allgemeinen Gesetzen der Akustik [passt]“, wie Puppe zutreffend meint,53 dann referiert sie auf eine causa efficiens, an der es in Mackies Beispiel fehlt. Warum sollte es sonst darauf ankommen, dass die Arbeiter die Sirene hören?54 49 Vgl. Puppe (Fn. 4), Vor § 13 Rn. 82; sog. „Hempel-Oppenheim-Schema“, s. Hempel, Studies in the Logic of Explanation, in: Philosophy of Science 15 (1948), S. 135 ff. 50 Vgl. BGH, NStZ 1988, 236; NStZ-RR 2008, 350. 51 Das damit verbundene Problem der Anwendung von Begriffen auf einen Sachverhalt wird seit der Aufklärung unter dem Stichwort „species facti“ diskutiert, näher dazu Hruschka, Die species facti und der Zirkel bei der Konstitution des Rechtsfalles in der Methodenlehre des 18. Jahrhunderts, in: Schröder (Hrsg), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik, 2001, S. 203 ff.; Aichele, Enthymematik und Wahrscheinlichkeit. Die epistemologische Rechtfertigung singulärer Urteile in Universaljurisprudenz und Logik der deutschen Aufklärung: Christian Wolff und Alexander Gottlieb Baumgarten, Rechtstheorie 42 (2011), 495 ff.. 52 Mackie (Fn. 23), S. 83 ff. 53 Puppe (Fn. 4), Vor §§ 13 ff. Rn. 82 Fn. 71. 54 Bemerkenswerterweise behandelt Aristoteles den Ratschlag als causa efficiens, s. Fn. 15. Dabei wird – erneut – deutlich, dass aQt_a mehr bedeutet, als ,Ursache‘ in unserem heutigen Sprachgebrauch, nämlich ,Grund‘. Heutzutage würden wir von einem ,Handlungsgrund‘ sprechen. Zur Erklärung von Handlungen durch Gründe s. Renzikowski, Ist psychische Kausalität dem Begriff nach möglich?, in: Festschrift für Puppe, 2011, S. 201 (212 ff.).

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Die letzte Schwierigkeit, die hier angesprochen werden soll, besteht in der Art der anzuwendenden Gesetze. Eben wurde schon geklärt, dass nur solche Regularitäten herangezogen werden dürfen, mit denen ein praktischer Schluss auf eine causa efficiens möglich ist. Die Schwierigkeiten, entsprechende Kausalgesetze zu formulieren,55 sollen hier dahinstehen; wir haben halt nichts anderes als derartige Kausalvermutungen. Auch ein Rückgriff auf statistische Gesetze ist dabei nicht von vornherein ausgeschlossen.56 Allerdings ist zunächst darauf hinzuweisen, dass aus einer Wahrscheinlichkeitsaussage über Ereignistypen kein singuläres Urteil abgeleitet werden kann,57 sondern bestenfalls dieselbe Wahrscheinlichkeit für das einzelne Ereignis. Eine probabilistische Verursachung ist schlicht nicht möglich. Freilich mag man damit im besonderen Fall ein Kausalurteil begründen, wenn alle denkbaren Alternativen ausgeschlossen werden können. Auch dann behauptet man, mit welchen zusätzlichen Annahmen auch immer, eine causa efficiens. So ist der BGH im LedersprayUrteil verfahren.58 Eine Zurechnung nach Wahrscheinlichkeitsgesetzen unter der Voraussetzung nicht vollständig determinierter Prozesse, für die Puppe plädiert,59 ist nicht dasselbe wie ein Urteil über die wahrscheinliche Abfolge von zwei Ereignissen, und insoweit greift der Grundsatz „in dubio pro reo“ ein.60 Man kann also durchaus angeben, wann man ein bestimmtes Ereignis als causa efficiens für ein anderes, dadurch bewirktes Ereignis ansehen darf.61

VIII. Kausalaussagen über das menschliche Handeln? Bei Menschen setzt man die Eigenschaft ,Ursache-sein-zu können‘ für gewöhnlich mit dem Willen gleich. Denn durch ihn bestimmt ein Mensch im Rahmen seiner Möglichkeit seine artspezifische Seinsweise und damit auch die artspezifische Seinsweise anderer Einzeldinge, sofern die Aktualisierung ihrer artspezifischen Eigenschaften durch die Bestimmtheit seines Willens ermöglicht ist. 55 S. nur Cartwright, How the Laws of Physics Lie, 1983; näher dazu Keil, Handeln und Verursachen, 2000, S. 151 ff. 56 Vgl. Puppe (Fn. 4), Vor § 13 Rn. 135; s. ferner Hilgendorf, Der „gesetzmäßige Zusammenhang“ im Sinne der modernen Kausallehre, Jura 1995, S. 514 (519 f.); Dencker, Kausalität und Gesamttat, 1996, S. 36 ff.; Hoyer, Kausalität und/oder Risikoerhöhung, in: Rogall u. a. (Hrsg.), Festschrift für Rudolphi, 2004, S. 95 (102). 57 S. etwa Davis, Probabilistic Theories of Causation, in: Fetzer (Hrsg.), Probability and Causality, 1988, S. 133 (145); Menzies, Probabilistic Causation and the Preemption Problem, Mind 105 (1996), S. 85 ff.; weitere Einwände bei Keil (Fn. 54), S. 213 ff. 58 BGHSt 37, 106 (111 ff.); zustimmend etwa Hilgendorf, Strafrechtliche Produzentenhaftung in der „Risikogesellschaft“, 1993, S. 121 ff.; auf die damit verbundenen Schwierigkeiten hat Puppe, Naturgesetze vor Gericht, JZ 1994, 1149 f. hingewiesen. 59 Puppe (Fn. 4), Vor §§ 13 ff. Rn. 135 ff. 60 Das verkennt Puppe in ihrer Erwiderung (Fn. 4), Vor §§ 13 ff. Rn. 147, weil sie nicht zwischen Verursachung und bloßer Sukzession unterscheidet. 61 Dem Einwand von Puppe (Fn. 4), Vor §§ 13 ff. Rn. 81 wird damit Rechnung getragen.

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Versteht man unter einer menschlichen Handlung die Ermöglichung der Aktualisierung von artspezifischen Eigenschaften aufgrund des Willens eines Menschen, sagt eine Kausalaussage über menschliche Handlung aus, wie aufgrund der Aktualisierung bestimmter artspezifischen Eigenschaften des Menschen durch seinen Willen dieser selbst in artspezifischer Weise war, welche Umstände diese Aktualisierung durch seinen Willen ermöglicht haben und welche artspezifischen Seinsweisen von Einzeldingen er dadurch ermöglicht hat. Dass hierbei Kausalaussagen keine endlosen temporalen Kausalketten aussagen können,62 ist leicht zu sehen. Denn letztlich sagt man nach dem geschilderten Verständnis allein etwas über die Bestandteile aus, die die Aktualität eines bestimmten Ist-Zustand der Welt bzw. eines Teils der Welt ermöglicht haben.63 Inwiefern für die Gegebenheit dieser Bestandteile andere Ist-Zustände der Welt innerhalb einer bestimmten Abfolge vorausgesetzt werden müssen, ist eine vollkommen andere Frage. Ihre Antwort zielt darauf ab, die Ordnung der Abfolge von Ist-Zuständen der Welt zu erklären bzw. zu erklären, inwiefern ein Ist-Zustand selbst eine bestimmte Ordnung einer Abfolge umfassen kann; nicht aber, wie die Bestimmtheit der IstZustände der Welt erklärt werden kann. Nach dem hier vorgestellten Weltverständnis erfolgt durch eine Kausalaussage genau letzteres, während man ersteres wohl eher durch Temporalaussagen im Sinne der Zeitlogik Priors leisten würde.64

IX. Schluss Der hier vorgestellte Begriff der causa efficiens hat in Puppes Augen den Nachteil, dass er die Kausalität durch Informationen, durch Anwendung von Rechtsverfahren, bei Verhinderung rettender Kausalverläufe oder von Unterlassungen nicht erklären kann.65 Im Gegenteil ist es ein Vorzug, zwischen verschiedenen Arten von ,Gründen‘ unterscheiden zu können, statt alle unter einen Unbegriff zu mengen.

62

So aber die h.L., vgl. statt vieler Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor §§ 13 ff. Rn. 77 m.w.N. 63 S. auch die Bestimmung der Ursache als conditio per quam von Kindhäuser, Zur Kausalität im Strafrecht, in: Albrecht u. a. (Hrsg.), Festschrift für Kargl, 2015, S. 253 ff., insbes. S. 266 ff.; ders., Verursachen und Bedingen, in: Stuckenberg/Gärditz (Hrsg.), Strafe und Prozess im freiheitlichen Rechtsstaat. Festschrift für Paeffgen, 2015, S. 129 ff., insbes. S. 136. 64 S. einführend Prior, Time and Modality, 1957, S. 8 – 28 sowie ders., Papers on Time and Tense, 1968. S. 1 – 14, 116 – 134. 65 Puppe (Fn. 4), Vor §§ 13 ff. Rn. 81.

Über einige Probleme des Kausalitätsbegriffs im Strafrecht und Merkels Lehren dazu Von Ingeborg Puppe

I. Einleitung In seinem Aufsatz über einige vernachlässigte Probleme des Kausalitätsbegriffs im Strafrecht und Puppes Lehren dazu1, diskutiert Merkel drei Kausalitätsbegriffe, den kontrafaktischen, also die Lehre von der notwendigen Bedingung, den sog. NESS- oder INUS-Test, also die Lehre von der Ursache als notwendiger Bestandteil einer hinreichenden Mindestbedingung und den physikalistischen Ursachenbegriff, wonach Ursache der „Transfer einer physikalischen Erhaltungsgröße“, also Transfer von Energie oder Masse ist. Sein Fazit ist, dass keiner dieser Begriffe alle Anforderungen an einen Kausalitätsbegriff erfüllt und wir daher einen kausalitätstheoretischen Pluralismus anwenden müssen, also einmal diesen, ein andermal jenen Kausalitätsbegriff.2 Eine solche Lösung des Problems kommt nur dann in Betracht, wenn wir zugleich allgemeine Regeln darüber angeben können, wann wir den einen und wann wir den anderen Begriff anwenden. Es sind nun zwei kontrafaktische Kausalitätsbegriffe zu unterscheiden, ein singularistischer und ein regularistischer. Merkel diskutiert nur den letzteren, also diejenige Version der Conditio-sine-qua-non-Formel, wonach anhand allgemeiner Kausalgesetze zu entscheiden ist, ob eine Tatsache (nach anderer Auffassung ein Ereignis) wirklich notwendige Bedingung einer anderen Tatsache (bzw. eines anderen Ereignisses) ist. Die Einwände, die Merkel gegen diesen Begriff erhebt, beziehen sich auf das Problem, dass es Bedingungssätze gibt, die offensichtlich keine Kausalgesetze sind, sodass sich die Frage stellt, wie wir solche Bedingungsätze von den Kausalgesetzen unterscheiden und aussondern können. Da Merkel den gleichen Einwand gegen die NESS-Theorie erhebt, können wir seine Kritik an beiden Theorien zusammenfassen.

1 Merkel, Über einige vernachlässigte Probleme des Kausalitätsbegriffs im Strafrecht und Ingeborgs Lehren dazu, Puppe-FS (2011), 150 ff. 2 Merkel (Fn. 1), 169.

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II. Kausale und nicht kausale Regularitäten Seine These, dass wir keine Möglichkeit haben, Kausalgesetze von anderen Regularitäten zu unterscheiden, obwohl wir intuitiv erkennen, dass bestimmte Regularitäten keine Kausalgesetze sind, demonstriert Merkel zunächst an vier Beispielen: 1. Wäre gestern nicht Freitag gewesen, dann wäre heute nicht Samstag. Dieser Satz bezeichnet eine nach allgemeinen Regeln notwendige Bedingung für die Tatsache, dass heute Samstag ist. Trotzdem wird niemand behaupten, dass die Tatsache, dass gestern Freitag war, die Tatsache, dass heute Samstag ist verursacht hat.3 2. Wäre Sokrates nicht gestorben, dann wäre Xanthippe nicht zur Witwe geworden. Auch dieser Satz bezeichnet eine Bedingungsbeziehung zwischen Sokrates Tod und dem Witwewerden der Xanthippe, trotzdem wäre die Behauptung befremdlich, dass der Tod des Sokrates die Ursache für den Witwenstand der Xanthippe ist.4 3. Wäre der Schlüssel nicht von mir gedreht worden, dann hätte ich die Tür nicht aufgeschlossen. Nach Merkel ist das Drehen des Schlüssels zwar notwendige Bedingung für das Ausschließen der Tür, „trotzdem ist mein Drehen des Schlüssels nicht die Ursache meines Aufschließens der Tür“.5 4. Wäre das Barometer nicht abrupt und stark gefallen, so hätte es kein Unwetter gegeben.6 Auch dieser Bedingungssatz ist richtig, aber es wäre falsch, daraus zu schließen, dass das Fallen des Barometers die Ursache des Sturmes war. Beide haben vielmehr eine gemeinsame Ursache, nämlich den plötzlichen Abfall des Luftdrucks. Gegen die NESS-Theorie, also den Begriff der Ursache als notwendiger Bestandteil einer hinreichenden naturgesetzlichen Bedingung erhebt Merkel nun noch drei weitere Einwände. 1. Immer wenn Wasserstoff und Sauerstoff in hinreichender Menge und im Verhältnis H2O zusammenkommen, entsteht ein Stoff mit den Makroeigenschaften des Wassers.

3

Merkel (Fn. 1), 157. Merkel (Fn. 1), 157. 5 Merkel (Fn. 1), 158. 6 Merkel (Fn. 1), 158. 4

Probleme des Kausalitätsbegriffs im Strafrecht und Merkels Lehren dazu

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Trotzdem hält es Merkel für unsinnig, zu behaupten, „die Mikrostruktur H2O verursache das Wasser (permanent aufs Neue?). Wohl aber konstituiert, determiniert, bedingt sie es.“7 Naturgesetzliche Korrelationen erlauben nicht nur einen Schluss von der Ursache auf die Wirkung, sondern unter bestimmten Bedingungen auch einen Schluss von der Wirkung auf die Ursache, sodass die Wirkung die Ursache erklärt und nicht umgekehrt. Als Beispiel dient ihm folgender Satz: 2. „Ein Turm der Höhe H wirft nachmittags um 16:00 Uhr im Sonnenschein einen Schatten der Länge L.“ Messen wir um 16:00 Uhr an einem bestimmten Tag den Schatten des Turms, so können wir mithilfe physikalischer, astronomischer und mathematischer Gesetze aus der gemessenen Länge des Schattens die Höhe des Turms errechnet.8

III. Tatsachen oder „konkrete“ Ereignisse als Ursachen Das seiner Ansicht nach wohl schlagendste Argument gegen die Lehre von der kausalen Erklärung mithilfe allgemeiner Kausalgesetze diskutiert Merkel an folgendem Beispiel: Ein Autofahrer fährt auf einer Straße, auf der 90 km/h als Höchstgeschwindigkeit zugelassen ist, mit einer Geschwindigkeit von 70 km/h. Er kommt von der Fahrbahn ab und verursacht einen Unfall. Da auf der Straße durch Regen und herabgefallene Blätter ein schmieriger Belag entstanden ist, wäre maximal eine Geschwindigkeit von 50 km/h angemessen, also nach § 9 StVO erlaubt gewesen. Man könne nun zwei verschiedene Erklärungen des Unfalls formulieren, die das gleiche „Ereignis“ beschreiben, von denen aber nur die eine richtig, die andere aber unsinnig ist. Die richtige lautet: A hat den Unfall dadurch verursacht, dass er 20 km/h schneller gefahren ist, als wegen des schmierigen Straßenbelages erlaubt war. Die unsinnige lautet: A hat den Unfall dadurch verursacht, dass er 20 km/h langsamer gefahren ist, als auf dieser Strecke generell erlaubt war. Mit dieser Argumentation möchte ich mich sofort auseinandersetzen, weil sie von gänzlich anderer Art ist, als die übrigen, die miteinander zusammenhängen. Außerdem möchte ich es vermeiden, diesen gesamten Gedankengang nochmals zu wiederholen.

7

Merkel (Fn. 1), 161. Merkel (Fn. 1), 162, dazu auch Töpel, Hinreichende Mindestbedingung, Puppe-FS 289 (292 f.). 8

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Merkel bezeichnet hier als Ursachen nicht Tatsachen, sondern Ereignisse und behauptet, der Ausdruck, A ist 20 km/h schneller gefahren, als unter den gegebenen Umständen erlaubt war, und der Ausdruck, A ist 20 km/h langsamer gefahren, als auf der Strecke generell erlaubt war, bezeichnen das gleiche Ereignis, nämlich „A‘s konkretes Fahren“ und seien daher in der kausalen Erklärung des Unfalls gegeneinander austauschbar.9 Das erinnert mich an den Begriff vom Erfolg in seiner ganz konkreten Gestalt, mit dessen Hilfe die Lehre von der notwendigen Bedingung Ersatzursachen ausscheiden will.10 Was ist das Ereignis, das sowohl durch den Satz A ist 20 km/h langsamer gefahren, als auf der Strecke generell zulässig, als auch durch den Satz, A ist 20 km/h schneller gefahren als in der Situation zulässig, gleichermaßen bezeichnet wird? Was gehört zu diesem Ereignis, beispielsweise auch die Tatsache, dass A während der Fahrt schwarze Halbschuhe trug?11 Die Tatsache, dass A 20 km/h langsamer gefahren ist, als auf dieser Strecke generell erlaubt, ist für die Erklärung des Unfalls gänzlich uninteressant. Man kann die Tatsache, dass A 20 km/h schneller gefahren ist, als in der konkreten Situation angemessen, in der kausalen Erklärung nicht durch sie ersetzen, ebensowenig wie durch irgendeinen anderen wahren Satz.12

IV. Empirische und analytische Regularitäten Ein Kriterium kausaler Regularitäten ist, dass sie empirischer Natur und nicht analytisch sind. Um festzustellen, ob eine bestimmte Verknüpfung, etwa eine wenn dann Verknüpfung analytisch oder empirisch ist, müssen wir den Sinn der verknüpften Relater genau ermitteln. Wir wollen das anhand der von Merkel gegebenen Beispiele versuchen. Beginnen wir mit dem Satz, wäre gestern nicht Freitag gewesen, dann wäre heute nicht Sonnabend. Dieser Satz enthält zwei Eigennamen, Freitag und Sonnabend. Eigennamen dürfen in kausalen Regularitäten nicht vorkommen. Ersetzen wir nun aber diese Eigennamen durch allgemeine Beschreibungen, so erhalten wir für Freitag den fünften Tag der Woche und für Samstag den sechsten Tag der Woche. Der Satz, wenn 9

Merkel (Fn. 1), 163 f. Kritisch dazu Puppe, Der Erfolg und seine kausale Erklärung, ZStW 92 (1980), 863 (871 ff.); dies., Die Beziehung zwischen Sorgfaltspflichtverletzung und Erfolg bei den Fahrlässigkeitsdelikten, GA 1987, 595 (595 ff.). 11 Die Unbestimmtheit des Begriffs Ereignis ist ein prinzipieller Grund dafür, nicht Ereignisse als Relata der Kausalbeziehung anzuerkennen, sondern nur Tatsachen. Auch wenn Tatsachen etwas über die Welt und nicht etwas in der Welt sind, ist die Formulierung eines Satzes doch unsere einzige Möglichkeit, etwas Wohlbestimmtes über die Welt auszusagen, näher dazu Grosse-Wilde, Die Relata eines juristischen Kausalbegriffs und der juristische Syllogismus, in: Bäcker/Ziemann (Hrsg.), Junge Rechtsphilosophie, ARSP-Beiheft 135 (2012), 45 (48 ff.). 12 Eine kausale Erklärung ist eben kein extensionaler Kontext, sondern ein intensionaler. 10

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gestern nicht der fünfte Tag der Woche gewesen wäre, dann wäre heute nicht der sechste Tag der Woche, ist analytisch.13 Auch der nächste Satz enthält Eigennamen. Wäre Sokrates nicht gestorben, dann wäre Xanthippe nicht zur Witwe geworden. Ersetzen wir diese durch allgemeine Begriffe, so lautet der Satz: Wäre der Ehemann nicht gestorben, dann wäre die Ehefrau nicht zur Witwe geworden. Aber was bedeutet nun der Ausdruck Witwe? Wenn wir ihn beispielsweise so definieren: Eine Witwe ist eine Frau, deren Ehemann während der Ehe verstorben ist, so ist der Satz, wenn der Ehemann nicht verstorben wäre, dann wäre die Ehefrau nicht Witwe geworden, analytisch. Wir können aber den Ausdruck Witwe auch ganz anders verstehen, nämlich als Sammelbegriff für die Rechte und Pflichten, die eine Witwe nach dem BGB hat, beispielsweise den Erbanspruch oder den Anspruch auf Zugewinnausgleich, das alleinige Sorgerecht für minderjährige eheliche Kinder oder das Recht, den ehelichen Namen weiterzuführen. Dann ist der Satz, wenn der Ehemann stirbt, wird seine Frau zur Witwe synthetisch, aber man kann ihn durchaus als Beschreibung einer Kausalregulariat auffassen, die allerdings nicht von der Physik, sondern vom Recht bestimmt ist. Das wäre dann auch ein Beispiel für einen Kausalzusammenhang, der gar nichts mit Energieübertragung zu tun hat. Dasselbe gilt auch für das Zustandekommen eines Gremien-Beschlusses, eines Gesetzes, einer Wahl oder eines Gerichtsurteils. Auch bei seiner Erläuterung des Satzes: Wäre der Schlüssel nicht von mir gedreht worden, dann hätte ich die Türe nicht aufgeschlossen, spricht Merkel von Ereignissen und nicht von Tatsachen. Er behauptet, dass das Drehen des Schlüssels und das Öffnen der Tür verschiedene Ereignisse seien. Das hängt aber davon ab, was man unter Öffnen der Tür versteht. Versteht man darunter allein den Erfolg, dass die Tür aufgeht, so handelt es sich um einen schlichten Kausalsatz. Indem ich den Schlüssel im Schloss drehe, verursache ich, dass der Riegel zurückweicht, und das ist das Öffnen der Tür als Erfolg. Versteht man aber unter dem Ausdruck ich öffne die Tür dasselbe wie etwa ich drehe den Schlüssel und verursache dadurch das Aufgehen der Tür, so erhalten wir wieder einen analytischen Satz, in dem das Konsequenz das Antezedens enthält, was dadurch etwas verschleiert wird, dass beide in einen Begriff, Öffnen der Tür, zusammengefasst werden. Der Satz würde etwa lauten: Wenn ich den Schlüssel nicht gedreht hätte, so hätte ich nicht die Tür durch Drehen des Schlüssels geöffnet. Aus Gründen des Zusammenhangs übergehe ich zunächst das 4. Beispiel und wende mich dem 5. zu. Der Satz, „immer wenn Wasserstoff und Sauerstoff in hinreichender Menge und im Verhältnis H2O zusammenkommen, entsteht ein Stoff mit den Makroeigenschaften von Wasser“ ist eine kausale Regularität. Wenn ich eine Menge Sauerstoff und Wasserstoff im Verhältnis 1:2 mische, sog. Knallgas, dann entsteht eben Wasser. Merkel setzt aber diesen Satz gleich mit dem Satz „die Mikrostruktur H2O verursacht Wasser (permanent aufs Neue?)“. Nun ist es si13 Hart/Honoré, Causation in the Law, 2. Aufl. 1985, 114 f.; Puppe, Zum gegenwärtigen Stand der Lehre von der Verursachung im Recht, Rechtswissenschaft 2011, 400 (421 f.).

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cherlich möglich, bestimmte Eigenschaften eines Stoffes mit bestimmten anderen Eigenschaften des gleichen Stoffes im Sinne einer Regularitätsbeziehung zu erklären, aber eine Kausalbeziehung besteht nicht zwischen zwei gleichzeitigen Tatsachen, sondern zwischen einem Antezedens und einem Konsequenz.14

V. Epiphänomene oder die kausale Verzweigung Mit Beispiel 4 spricht Merkel einen alten Einwand gegen die Regularitätsthese an. Das Beispiel, wäre das Barometer nicht abrupt und stark gefallen, so hätte es kein Unwetter gegeben, ist bekannt.15 Es stellt ein Bedingungsverhältnis zwischen zwei Tatsachen dar, das empirisch begründet und trotzdem keine kausale Regularität ist, denn dass das Konsequenz dem Antezedens stets folgt, liegt hier nicht daran, dass letzteres die Ursache von ersterem ist, sondern daran, dass beide eine gemeinsame Ursache haben, sog. kausale Verzweigung und das Antezedens vor dem Konsequenz auftritt. Aber allein mithilfe des Erfordernisses der Regularität können wir die kausale Verzweigung weder begrifflich aus der Kausalität ausscheiden, noch faktisch feststellen. Auf die Frage, wie diese Regularität begrifflich auszuscheiden ist, würde Merkel wohl antworten, indem man den Energiefluss untersucht. Das Fallen des Barometer ist mit dem Auftreten des Sturmes eben nicht direkt durch einen Vorgang der Energieübertragung verbunden, sondern der Energiefluss verzweigt sich gewissermaßen in einen Strom, der vom Luftdruckabfall zum Sinken des Barometers führt und einen anderen, der vom Luftdruckabfall zum Sturm führt. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten, festzustellen, ob ein empirisches Bedingungsverhältnis ein Kausalverhältnis ist oder darauf beruht, dass Antezedens und Konsequenz eine gemeinsame Ursache haben. Kann man etwa in einem Experiment die übrigen Bedingungen bestehen lassen und nur das Antezedens beseitigen, ohne dass das Konsequenz entfällt, so ist das Antezedens kein notwendiger Bestandteil der gegebenen hinreichenden Bedingung des Konsequenz, es sei denn, es sind mehrere hinreichende Bedingungen des Konsequenz erfüllt. Ist dies der Fall, so muss man die mehreren hinreichenden Bedingungen zunächst gedanklich oder experimentell voneinander trennen. Wenn wir beispielsweise das Barometer zerstören und der Sturm trotzdem kommt, so zeigt sich, dass das Fallen des Barometers nicht die Ursache des Sturms war. Beobachten wir, dass der Schatten des Turmes seine Länge mit dem Lauf der Sonne verändert, aber der Turm seine Höhe nicht und verschwindet der Schatten am Ende bei Sonnenuntergang, während der Turm immer noch dasteht, so wissen wir, dass die Länge des Schattens nicht die Ursache der Höhe des Turmes ist.16

14

Mackie, The cement of the Universe (1974), 85; Toepel, Puppe-FS (Fn. 8), 289 (293 ff.). Vgl. z. B. Furmerton/Kress, Causation and the Law, in: Law and Contemporary Problems, Vol. 64 (2001), 83 (93). 16 Puppe (Fn. 13), Rechtswissenschaft 2011, 400 (422 ff.). 15

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VI. Der physikalistische Kausalbegriff Merkel kommt zu dem Ergebnis, dass die Lehre von der Ursache als notwendiger Bestandteil einer gesetzmäßigen Bedingung zwar nicht falsch, aber unvollständig ist. Wir brauchen „noch etwas dazu“, nämlich ein Kriterium, anhand dessen wir die Kausalgesetze von anderen Regularitäten unterscheiden können.17 Dieses Kriterium findet Merkel im physikalistischen Kausalbegriff. Danach ist eine Ursache allein die Übertragung einer physikalischen Erhaltungsgröße, also von Masse oder Energie.18 Für die Lösung eines Problems scheint allerdings die Vorstellung von der Verursachung als eine Übertragung von irgendetwas oder einer Art Fluss unerlässlich zu sein. Das ist die Unterscheidung zwischen Ursachen und Ersatzursachen. Auch eine Ersatzursache ist eine nach Kausalgesetzen hinreichende Minimalbedingung für den Eintritt des Erfolges, die im Einzelfall auch erfüllt ist. Aber der Energiefluss, der von dieser Bedingung zum Erfolg hin führen würde, wird an irgendeiner Stelle unterbrochen. Trotzdem brauchen wir uns nicht auf einen Kausalbegriff der Energieübertragung festzulegen, um die Unterscheidung zwischen Ursachen und Ersatzursachen begrifflich zu bestimmen und faktisch festzustellen. Wir benötigen dazu lediglich eine Eigenschaft, die auch ein Energiefluss aufweist, die zeitliche Kontinuität einer Kette kausaler Verknüpfungen. In der Wissenschaftstheorie spricht man von Nahwirkungen und Nahwirkungsgesetzen. Die Kausalkette wird dadurch gebildet, dass das jeweils vorausgehende Glied der Kausalkette eine hinreichende Minimalbedingung des folgenden Gliedes ist. Ein Antezedens erweist sich als bloße Ersatzursache dadurch, dass bestimmte Glieder der kausalen Kette, durch die es mit dem Konsequenz gesetzmäßig verknüpft ist, in der Wirklichkeit fehlen.19 Ein physikalistisches Kausalmodell bietet bei einer vollständigen Kette von Energieübertragungen eine begrifflich einfache und oft auch technisch einfache Methode, einen Kausalzusammenhang festzustellen oder auszuschließen, indem wir eine Energieübertragung feststellen und verfolgen. Aber der moderne physikalistische Ursachenbegriff ist nicht der Begriff der Kraft oder der causa efficiens, mit dem sich Hume auseinandergesetzt hat. Energie, Impuls und Masse sind hochtheoretische Begriffe und außer dem letzteren bezeichnen sie nicht etwas, was unmittelbar sinnlich wahrnehmbar ist. Auch um einen Energietransfer im Einzelfall zu verfolgen, benötigen wir Kausalgesetze, die wir von anderen Regularitäten unterscheiden müssen, und Messgeräte, deren Konstruktion auf Kausalgesetzen beruht. Wenn wir also 17

Merkel (Fn. 1), 159 und 161 f. Merkel (Fn. 1), 164 f. 19 Puppe (Fn. 10), ZStW 92 (1980), 863 (888 ff.). Dass Merkel mir nun mit einem gewissen Recht vorhalten kann, diese Methode der Ausscheidung von Ersatzursachen beruhe auf dem von mir selbst abgelehnten Begriff der Ursache als Energiefluss ,Puppe-FS‘ (Fn. 1), 150 (165), liegt an einem Druckfehler in einer späteren Veröffentlichung, der mir leider entgangen ist, ZStW 99 (1987), 595 (610). Dort hätte es nicht „kinetische Kausalerklärung“ heißen sollen, sondern „genetische Kausalerklärung“. Gegen den Einwand, dass die genetische Kausalerklärung notwendig auf einen physikalistischen Kausalbegriff hinausläuft, hatte ich mich schon 1980 zur Wehr gesetzt (Fn. 10), ZStW 92, 863 (888). 18

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davon ausgehen, dass wir entweder keine Kausalgesetze besitzen oder sie nicht von kausal irrelevanten Regularitäten unterscheiden können, so können wir auch keine Energieübertragungen feststellen. Merkel räumt selbst ein, dass nicht jede kausale Verknüpfung eine Energieübertragung ist. Er demonstriert das an dem einfachen Beispiel eines Aufzugs, dessen Absturz dadurch verursacht wird, dass man die Seile anschneidet. Wenn nun der Aufzug mit einem zulässigen Gewicht beladen wird, die Seile reißen und die Gondel abstürzt, so sind an diesem Vorgang verschiedene Übertragungen von Energie beteiligt, aber es führt keine Kette von Energieübertragungen von der Energie, die der Täter aufgewandt hat, um die Seile anzuschneiden, zu der Energie, die die Gondel zum Absturz gebracht hat. Die Energie, die der Täter aufgewandt hat, um die Seile anzusägen, überträgt sich beim Absturz nicht auf die Gondel. Die Energie, die erst die Seile zerreißt und dann die Gondel abstürzen lässt, ist die Schwerkraft.20 Das Kriterium der Energieübertragung kann also nicht das allgemeingültige Kriterium sein, um Kausalregularitäten von anderen Regularitäten zu unterscheiden. Wir müssen das also auf andere Weise versuchen. Die begriffliche Grundlage der Erfolgszurechnung im Strafrecht bietet ein physikalistischer Ursachenbegriff aber schon deshalb nicht, weil er jede Zurechnung von Erfolgen wegen Unterlassens ausschließen würde. Da hilft auch das Wort Quasikausalität wenig. Auch beschränken sich unsere Möglichkeiten, Kausalverläufe durch positives Tun zu beeinflussen, nicht auf die Initiierung oder Steuerung von Energieflüssen. Wir können auch eine nicht energetische Bedingung dafür herstellen oder auch beseitigen, dass ein bestimmter Kausalverlauf abläuft. Das können wir an Merkels Aufzugsbeispiel gut demonstrieren. Die Seile des Aufzugs verhindern den Kausalverlauf, dass die Gondel abstürzt. Indem der Täter die Seile ansägt, stellt er eine Bedingung dafür her, dass der Kausalverlauf Absturz der Gondel stattfinden kann. Genau genommen handelt es sich hier um eine Kausalität durch Verhinderung eines rettenden Kausalverlaufs. Auch diese Form der Kausalität lässt sich mit einem physikalistischen Kausalmodell nicht erfassen. Jede Tötung eines Menschen lässt sich als Verhinderung eines rettenden Kausalverlaufs, beispielweise des Blutkreislaufs oder des Atemkreislaufs beschreiben, nicht aber als ein geschlossener Energiefluss von der Handlung des Täters zum Tod des Opfers. Letztendlich stirbt jeder wegen des Fehlens von etwas, nämlich der ausreichenden Versorgung der Gehirnzellen mit Sauerstoff.21 Wenn wir stattdessen die genauen Zerfallsprozesse der Gehirnzellen beschreiben, die mangels Sauerstoffs stattfinden, so erhalten wir eine perfekte physikalistische Kausalerklärung für den Tod des Opfers, die in einer lückenlosen Kette gesetzlich determinierter Energieübertragungen besteht. Nur der Mord kommt darin nicht vor.

20 Merkel (Fn. 1), 166, mit anderen Beispielen Puppe (Fn. 13), Rechtswissenschaft 2011, 400, 414 ff. 21 Puppe (Fn. 13), Rechtswissenschaft 2011, 400 (413 ff.).

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Auch das Problem der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung, genauer der Kausalität der sorgfaltswidrigen Eigenschaften der Handlung, können wir mit Hilfe eines physikalistischen Kausalbegriffs nicht lösen. Der BGH hat zu Recht verlangt, dass nicht nur die Handlung als solche, also etwa die Energieübertragung durch Bewegung des Körpers, kausal für den Erfolg sein muss, sondern gerade diejenigen Eigenschaften dieser Handlung, die mit einer Sorgfaltsnorm unvereinbar sind, beispielsweise die überhöhte Geschwindigkeit eines Autofahrers, das Schneiden eines anderen Fahrzeugs in zu knappem Abstand oder das Überholen eines Radfahrers durch einen Lkw in einem zu geringen Seitenabstand.22 Der BGH hat diese seine Erkenntnis allerdings sofort wieder verdorben, indem er die Kausalität mit Hilfe der sog. Wegdenkt-Methode geprüft hat, wobei es nicht genügen kann, dass man sich die rechtswidrige Handlung oder deren rechtswidrige Eigenschaften aus dem wirklichen Kausalverlauf wegdenkt, man vielmehr anstelle der sorgfaltswidrigen Handlung eine sorgfaltsgemäße hinzudenken muss.23 Genauso müsste man bei Anwendung eines physikalistischen Kausalbegriffs verfahren. Dabei wäre dieses Verfahren nicht einmal eindeutig, weil man je nachdem, welche sorgfaltsgemäße Handlung man hinzudenkt, zur Bejahung oder Verneinung der Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung kommen kann.24 Nach der Lehre von der hinreichenden Minimalbedingung kommt man aber zu einer eindeutigen und auch richtigen Entscheidung der Frage nach der Kausalität der sorgfaltswidrigen Eigenschaften des Täterhandelns, indem man prüft, ob deren Erwähnung in der wahren Kausalerklärung des Unfalls erforderlich ist.25

VII. Drei Kausalitätskonzepte Den Anspruch, der allein gültige allgemeine Begriff der Ursache zu sein, könnte der Begriff des notwendigen Bestandteils einer gesetzmäßigen Minimalbedingung aber nur dann erheben, wenn wir voraussetzen könnten, dass alle Veränderungen in der Welt kausalgesetzlich determiniert sind, jedenfalls all diejenigen, mit denen wir es im Strafrecht zu tun haben. Diese Voraussetzung können wir aber nicht ohne weiteres machen. Nicht nur in der Quantenphysik, sondern auch in der Biologie und damit in der Medizin setzt man eine solche kausale Determiniertheit aller Prozesse nicht mehr voraus. Die These, dass menschliche Entscheidungen durch physikalische Vorgänge im Gehirn, insbesondere Energieübertragungen, vollständig de22

BGHSt 11, 1, dazu Puppe, Die Beziehung zwischen Sorgfaltswidrigkeit und Erfolg bei den Fahrlässigkeitsdelikten, ZStW 99 (1987), 595 (601 f.). 23 Puppe, Die Lehre von der objektiven Zurechnung und ihre Anwendung, ZJS 2008, 488 (493); dies., NK/Puppe, 5. Aufl. 2017, Vor § 13 Rn. 202. 24 NK/Puppe, 5. Aufl. 2017, Vor § 13 Rn. 212; dies. (Fn. 22), ZJS 2008, 488 (493). 25 Puppe, ZStW 99 (1987), 595 (601); Honoré, „Necessary and Sufficient Conditions in Tort Law“, in: ders., Responsibility and Fault (1999), 94, 104 f.; Wright, Causation in Tort Law, California Law Review 73 (1985), 1735 (1768); ders., „The Grounds and Extent of Legal Responsibility,“ San Diego Law Review 40 (2003), 1425 (1494 ff.).

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terminiert sind, hat zwar in neuerer Zeit viele Anhänger26, aber noch können wir diese Gesetze nicht namhaft machen. Auf das Zustandekommen von Handlungsentschlüssen, etwa beim Betrug, bei der Nötigung oder bei der Anstiftung können wir also die Lehre von der gesetzmäßigen Minimalbedingung als Ursache auch nicht anwenden. Merkel ist also darin zuzustimmen, dass wir uns „an den Gedanken gewöhnen müssen“, dass wir zur Begründung der Zurechnung eines Erfolges zu einer Handlung (oder Unterlassung) verschiedene Kausalbegriffe anwenden müssen, uns aber darüber einigen müssen „in welchen Zusammenhängen der eine oder der andere die besseren Dienste leistet“.27 Ob wir diese verschiedenen Begriffe zur Grundlegung der Zurechnung alle als Kausalbegriffe bezeichnen, oder uns andere Ausdrücke dafür ausdenken, ist von untergeordneter Bedeutung. Aber jedenfalls können wir nicht so verfahren, wie es die h.L. tut, in dem sie von einem kontrafaktischen Kausalbegriff im Sinne der Wegdenk-Methode ausgeht und sich auf einen Begriff der Wirkursache beruft, wenn die Wegdenk-Methode nicht das Ergebnis hat, das man intuitiv für richtig hält.28 Wir müssen vielmehr für jedes der drei oben genannten Anwendungsgebiete einen eigenen Begriff der Ursache als Grundlage von Zurechnung festlegen. Bei makrophysikalischen Prozessen, die wir uns trotz der Quantenphysik immer noch als durch allgemeine Naturgesetze vollständig determiniert vorstellen, können wir die Ursache als notwendigen Bestandteil einer nach Naturgesetzen hinreichenden und wahren Minimalbedingung des Erfolges bestimmen. Für Prozesse, von denen wir annehmen, dass sie durch Wahrscheinlichkeitsgesetze regiert werden, wie etwa die Entwicklung einer Infektionskrankheit oder eines Krebses, benötigen wir die Risikoerhöhungstheorie, wonach eine menschliche Handlung dann kausal für den Erfolg ist, wenn sie das objektive Risiko seines Eintritts erhöht.29 Denn wenn ein Prozess nicht vollständig durch strikte Gesetze bestimmt ist, so ist die Frage, wie er sich mit Gewissheit entwickelt hätte, wenn einer der beteiligten Kausalfaktoren, eben die beteiligte menschliche Handlung, nicht stattgefunden hätte, nicht sinnvoll. Sie lässt sich nicht beantworten und darüber liegt auch kein Zweifel 26

Vgl. dazu Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), 80 ff. Merkel (Fn. 1), 151 (169). 28 BGHSt 39, 195, 197 = NStZ 1993, 386 (387); Spendel, Kausalitätsformel der Bedingungstheorie für die Handlungsdelikte (1947), 38 (44 ff.); E. A. Wolff, Der Handlungsbegriff in der Lehre vom Verbrechen (1965), 14; Erb, Rechtmäßiges Alternativverhalten und seine Auswirkungen auf die Erfolgszurechnung im Strafrecht (1991), 46; Murmann, Die Nebentäterschaft im Strafrecht (1993), 148 ff.; S/S-Eisele, 30. Aufl. 2019, Vor § 13 Rn. 75; MüKoStGB/Freund, 3. Aufl. 2017, Vor § 13 Rn. 333 f.; Otto, Lampe-FS (2003), 491 (493), ders., AT 6/22 ff.; Roxin, AT/1 11/21; Jakobs, 7/13u. 21; Köhler, AT 140; Rotsch, Roxin-FS (2011), 377 (382 f.), Haas (2002), 19 f.; Pérez-Barberá, Kausalität und Determiniertheit, ZStW 114 (2002), 600 (608). 29 Stratenwerth, Bemerkungen zum Prinzip der Risikoerhöhung, Gallas-FS (1973), 227 (233); Puppe, Zurechnung und Wahrscheinlichkeit, ZStW 95 (1983), 287 (293 ff.) = (2006), 143 (149 ff.); dies., Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, 4. Aufl. (2019), 2/20 ff.; dies., Brauchen wir eine Risikoerhöhungstheorie, Roxin-FS (2001), 287 (302 f.). 27

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im Sinne des Zweifelsgrundsatzes des Prozessrechts vor. Deshalb verstößt unter diesen Voraussetzungen die Anwendung der Risikoerhöhungstheorie entgegen der h.L. nicht gegen den Grundsatz in dubio pro reo.30 Schließlich gibt es einen Bereich, in dem wir eine zurechnungsbegründende Kausalität weder auf strikte Kausalgesetze noch auf Wahrscheinlichkeitsgesetze gründen können. Das ist die Beeinflussung menschlicher Entschlüsse.

VIII. Motivationskausalität Um das Problem der Verursachung menschlicher Handlungsentschlüsse zu lösen, für deren Zustandekommen wir keine allgemeinen Kausalgesetze zur Verfügung haben, hat der BGH zwei verschiedene Kausalbegriffe angewandt. Der eine ist der kontrafaktischen Kausalbegriff, wonach die Verursachung eines Handlungsentschlusses durch psychische Beeinflussung nur dann gegeben ist, wenn der Beeinflusste sich nicht so entschlossen hätte, wenn der Einfluss nicht stattgefunden hätte, wobei auf die Beantwortung dieser von mir sog. Hätte-Frage, der Zweifelsgrundsatz anzuwenden ist. So hat der BGH noch vor nicht allzu langer Zeit die Verurteilung eines Arztes wegen Betruges an seinen Patienten mit der Begründung aufgehoben, es sei nicht feststellbar, dass die Patienten sich anders verhalten hätten, wenn sie von dem Arzt richtig informiert worden wären. Es handelte sich um austherapierte Krebspatienten, denen der Arzt vorspiegelte, dass das Medikament Galavit in Russland erfolgreich an Krebspatienten getestet worden sei. Auch ließ er in einer Fernsehsendung einen Schauspieler auftreten, der wahrheitswidrig bekundete, er sei allein durch Galavit von einem Prostatakrebs geheilt worden. Er verkaufte nun dieses Medikament, das in Deutschland nicht zur Krebsbehandlung zugelassen war, zu einem weit überhöhten Preis an diese Patienten. Der BGH sah den Nachweis eines Betruges durch dieses Verhalten des Arztes deshalb als nicht erbracht an, weil nicht ausgeschlossen sei, dass die Patienten das Medikament auch dann gekauft hätten, wenn der Arzt ihnen keinen Wirksamkeitsnachweis vorgespiegelt hätte, auf die bloße Hoffnung hin, dass das Medikament gleichwohl wirksam sei. Denn, austherapierte Krebspatienten müssten „nach jedem Strohhalm greifen“.31 In einem früheren Fall hatte der BGH die Verteidigung des Angeklagten, dass der Getäuschte auch ohne die Täuschung zu seinen Gunsten verfügt hätte, als irrelevant zurückgewiesen, obwohl der Getäuschte als Zeuge dies selbst versichert hatte. Denn es komme nicht darauf an, welcher Kausalverlauf abgelaufen wäre, wenn die Täuschung nicht erfolgt wäre, sondern darauf, welcher tatsächlich abgelaufen ist.32 Hat also die Falschinformation des Opfers bei seiner Entscheidung eine motivierende Rolle gespielt, so war die Falschinformation für diese ursächlich. 30

NK/Puppe, 5. Aufl. 2017, Vor § 13 Rn. 141 ff.; dies., AT (Fn. 29), 2/21. BGH NStZ 2010, 88 (89). 32 BGHSt 13, 13 (14 f.). 31

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Dies von der Frage abhängig zu machen, ob das Opfer sich bei richtiger Information anders entschieden hätte, verbietet sich aus zwei Gründen, einem erkenntnistheoretischen und einem rechtspolitischen. Der erkenntnistheoretische besteht darin, dass wir darüber, wie eine Person sich verhalten hätte, wenn sie in einer anderen Situation gestanden hätte, als sie wirklich gestanden hat, keine belastbaren Aussagen machen können. Das führt dann dazu, dass man, sofern man diese Frage als zulässig erachtet, sie konsequenterweise in allen Fällen nach dem Grundsatz in dubio pro reo verneinen müsste.33 Der rechtspolitische Grund ist das Recht des Täuschungsopfers, über sein Schicksal selbst bestimmen zu können. Dieses Selbstbestimmungsrecht des Opfers verletzt der Täter, indem er es dazu veranlasst, unter anderen tatsächlichen Voraussetzungen seine Entscheidung zu treffen, als die wirklich gegebenen. Indem nun der Richter seine Entscheidung über die Kausalität der Täuschung von der Frage abhängig macht, ob das Opfer sich ebenso oder anders entschieden hätte, wenn der Täter ihm die Wahrheit gesagt bzw. es nicht getäuscht hätte, ersetzt er die fehlende selbstbestimmte Entscheidung des Opfers durch eine fiktive. Das stünde ihm selbst dann nicht zu, wenn er tatsächlich positiv feststellen könnte, wie das Opfer sich in diesem Fall entschieden hätte. Denn dadurch nimmt er dem Opfer das Recht auf eine selbstbestimmte Entscheidung.34 Da die Ersetzung des nicht abgelaufenen freien Entscheidungsprozesses des Opfers durch einen fiktiven um des Selbstbestimmungsrechts des Opfers Willen unzulässig ist, ist dieses Ergebnis auch unabhängig davon gültig, ob wir an eine vollständige kausale Determination psychischer Entscheidungsprozesse durch allgemeine Gesetze oder durch Energieübertragungen im mikrophysikalischen Bereich glauben oder nicht. Es geht um die äußere, nicht um die innere Entschlussfreiheit. Die äußere Entschlussfreiheit ist verletzt, wenn der Entschluss unter falschen Voraussetzungen gefasst wird. Auch die Anwendung einer Wahrscheinlichkeitstheorie der Kausalität, die erkenntnistheoretisch möglich wäre, verbietet sich hier deshalb. Wir haben es hier mit einem singularistischen Kausalbegriff zu tun, der nicht auf allgemeine Gesetze der Verursachung rekurriert, sondern auf Einzelvorgänge. Die Verursachung eines Entschlusses durch psychische Beeinflussung, also etwa durch Täuschung, Vorenthaltung einer Information, Drohung oder Anstiftung besteht darin, dass man dem anderen einen Grund gibt, einen bestimmten Entschluss zu fassen und der andere den Entschluss aus diesem Grunde, wenn auch nicht notwendig allein aus diesem fasst.35 Nur das Opfer der Täuschung oder Drohung oder auch der Angestiftete kann Auskunft darüber geben, ob die falsche Information, die Ankün33

Puppe, in: NK, 30. Aufl. 2017, Vor § 13 Rn. 130. Puppe, Die psychische Kausalität und das Recht auf die eigene Entscheidung, JR 2017, 513 (517); dies., Die hypothetische Einwilligung und das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, ZIS 2016, 366 (367). 35 Puppe, in: NK, Vor § 13 Rn. 131; dies., Der objektive Tatbestand der Anstiftung, GA 1984, 101 (109 f.); Renzikowski lehnt die Anwendung dieses Begriffs auf die Beeinflussung menschlicher Entscheidungen ab. Ist psychische Kausalität dem Begriff nach möglich?, Puppe-FS (2011), 201 (212 ff.). 34

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digung des Übels oder die Verbrechensanregung durch den Täter bei seiner Entscheidung eine Rolle gespielt hat oder nicht, d. h. ob er sie als Grund seiner Entscheidung, wenn auch nicht als einzigen, anerkennt. Ob wir die Lieferung eines solchen Handlungsgrundes Verursachung des Handlungsentschlusses nennen wollen36 oder nicht, ist eine terminologische Frage. Jedenfalls kann sie von Rechts wegen Verantwortung für den Entschluss und seine Folgen begründen.

36

Dagegen Renzikowski (Fn. 35), 201 (214 f.).

Zurechnung zu künstlicher Intelligenz? Von Kurt Seelmann Zugerechnet werden in Moral und Recht gewöhnlich Handlungen,1 die einen bestimmten Taterfolg zumindest kausal verursacht haben. Als Zurechnungsadressat gilt gewöhnlich ein Mensch, allerdings in der Regel nicht als biologisches Individuum, sondern bereits als ein auf die moralische oder juridische Funktion abstrahierter Träger von Rechten und Pflichten, meist „Person“ genannt. Davon, dass diese Person zugleich auch ein einzelner Mensch ist, gibt es im Recht bereits bisher eine Ausnahme: die sog. „juristische Person“, eine mit eigener Personalität ausgestattete Personenmehrheit, die als solche, und nicht nur in den einzelnen ihr angehörenden Menschen, Rechtsgeschäfte tätigen kann.2 Auch wenn es noch viel Streit über die Frage insbesondere einer strafrechtlichen Zurechnung zu „juristischen Personen“ gibt, ist diese Rechtsfigur heute doch im Prinzip anerkannt. Korrekt muss man deshalb bei jeder Zurechnung von der Zurechnung zu einer Person sprechen – denn auch sog. „juristischen Personen“ können Handlungen oder Unterlassungen zugerechnet werden. Denkt man jedoch an die Voraussetzungen einer Zurechnung, so orientiert man sich in der Zurechnungsdebatte nach wie vor primär am einzelnen Menschen,3 dessen für die Zurechnung erforderliche Eigenschaften dann mehr oder weniger fiktiv auf andere Entitäten übertragen werden. Sind diese anderen Entitäten im geltenden Recht nur Personengesamtheiten, so hat man doch auch schon bisher über weitere mögliche Zurechnungsadressaten nachgedacht. In der Rechtsgeschichte finden sich oft Hinweise auf Tierprozesse, die ja eine Zurechnung von Handlungen zu Tieren voraussetzen würden. Hier hat sich allerdings inzwischen Skepsis verbreitet, eine wirkliche Zurechnung zu Tieren scheint

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Mitunter, im Fall einer Pflicht zum Handeln, auch Unterlassungen, wenn sie hypothetisch kausal sind, also ein Handeln den Taterfolg (wahrscheinlich) verhindert hätte. 2 Zu ihrer ideengeschichtlichen Entwicklung vgl. Martin Lipp, „persona moralis“, „Juristische Person“ und „Personenrecht“ – Eine Studie zur Dogmengeschichte der „Juristischen Person“ im Naturrecht und frühen 19. Jahrhundert, in: Quaderni Fiorentini 11/12 (1982/83) – Itinerari moderni della persona giuridica, Tomo 1, S. 217 – 262. 3 Zur Geschichte und zum systematischen Umfang der Debatte über die individuelle Zurechnung zu Personen vgl. Kurt Seelmann, Personalität und Zurechnung von der Aufklärung bis zur Philosophie des Idealismus, in: Marianne Heer u. a. (Hrsg.), Toujours agité – jamais abattu, Festschrift für Hans Wiprächtiger, Basel 2011, S. 575 – 585.

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es auch in Prozessen früherer Jahrhunderte nicht gegeben zu haben,4 eher Tötungen aus rituellen oder symbolischen Gründen. Das ändert natürlich nichts daran, dass man über „subjektive Rechte“ von Tieren und damit ihren Status als „moral patients“ diskutieren kann, „moral agents“ und damit zurechnungsfähig (vgl. unten I. 2.) werden sie dadurch aber nicht. Die Debatte darüber, wem man, über menschliche Personen hinaus, Handlungen moralisch oder rechtlich sollte zurechnen können, breitet sich heute mehr in Richtung künstliche Intelligenz und „e-person“ aus.5 So hat etwa das Europäische Parlament die Kommission aufgefordert, jedenfalls für weit entwickelte Roboter einen speziellen rechtlichen Status als elektronische Person zu schaffen.6 Bei künstlicher Intelligenz sind wir uns zwar gegenwärtig noch darüber einig, dass den jeweiligen Agenten, seien es Computer, lernfähige Drohnen oder selbstfahrende Autos, ihr Verhalten nicht zugerechnet werden kann. Das könnte sich aber nach Meinung vieler Autoren in Zukunft ändern – und das wiederum wirft die Frage auf, welche Anforderungen wir an künstliche Agenten stellen müssten, damit auch sie als Zurechnungsadressaten gelten könnten. Der Jubilar, dem diese Zeilen gewidmet sind, formuliert die Frage an einer Stelle ganz grundsätzlich: „Warum bestrafen wir überhaupt und was genau passt davon nicht mehr auf das Verantwortlichmachen eines solchen Systems?“7 Dieser Frage ist nachzugehen. Zu ergründen ist in einem ersten Teil, worin die gewöhnlich genannten Bedingungen für die Zurechnung von Handlungen zu Personen bestehen (I.), und zwar im Hinblick auf mentale Eigenschaften der jeweiligen Menschen, auf ihre Kommunikation miteinander und auf die ihr Verhalten betreffenden Normen. In einem zweiten Teil gilt es dann zu klären, wie frei der Gesetzgeber darin ist, auch anderen Entitäten, und hierbei insbesondere Robotern oder „e-persons“, ebenfalls etwas zuzurechnen – oder ob es gute Gründe dafür gibt, Zurechnung auf Wesen zu beschränken, die bestimmte für Menschen typische insbesondere mentale Elemente (und ggf. welche?) aufweisen (II.)

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Gut belegt bei Eva Schumann, „Tiere sind keine Sachen“ – Zur Personifizierung von Tieren im mittelalterlichen Recht, in: Bernd Hermann (Hrsg.), Beiträge zum Göttinger umwelthistorischen Kolloquium 2008 – 2009, Göttingen 2009, S. 181 – 207. 5 Wieweit sie in ihrer Funktion, vergleichbar der „Juristischen Person“, auch nur „ein künstliches, ausschliesslich des Vermögens fähiges Subjekt“ (M. Lipp, o. Fn. 2, S. 262) wäre, kann hier offen gelassen bleiben. 6 Entschliessung des Europäischen Parlaments vom 16. 3. 2017 (2015/2013 (INL)) sub 59 lit. f. 7 Reinhard Merkel, Stellungnahme in: Deutscher Ethikrat, Jahrestagung 2017, Autonome Systeme. Wie intelligente Maschinen uns verändern – Forum A: Selbstfahrende Autos, S. 51 – 54, 52.

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I. Gewöhnliche Zurechnungserfordernisse Die für eine Zurechnung beim Zurechnungsadressaten zu stellenden Anforderungen sollen im Folgenden in drei Sphären unterteilt werden. Zum einen geht es offenbar um gewisse mentale Fähigkeiten beim Zurechnungsadressaten, die wir für eine Zurechnung praktisch unstreitig fordern und die schon einer Handlung als Zurechnungsgegenstand zugrunde liegen (1.). Zum anderen bedarf es für eine gelingende Zurechnung offenbar auch bestimmter Anforderungen an die kommunikative Relation zwischen Zurechnendem und Zurechnungsadressaten (2.). Und drittens schliesslich ist zwischen diesem Adressaten und der Normordnung ihrerseits eine bestimmte Beziehung erforderlich (3.). Diese drei Voraussetzungen für eine Zurechnung sollen im Folgenden kurz angesprochen werden. 1. Zurechnung und mentale Fähigkeiten Betrachten wir zunächst die nötigen mentalen Fähigkeiten des Adressaten, ohne die eine Zurechnung leer liefe. Wenn Zurechnung heisst, den Anderen zum Urheber eines bestimmten Erfolgs oder als verantwortlich für dessen Ausbleiben zu erklären, so setzt dies, wie schon zu Beginn erwähnt, zuerst einmal das kausale Handeln des Zurechnungsadressaten (bzw., bei Unterlassen, dessen hypothetische Kausalität und eine Rechtspflicht zum Handeln) voraus.8 Für die meisten Fälle moralischer oder rechtlicher Zurechnung reicht uns aber diese blosse (ggf. hypothetische) Kausalität noch nicht, sondern wir erwarten auch eine innere Beziehung des Wissens und Wollens auf Seiten des Zurechnungsadressaten im Verhältnis zum Geschehen. Schon im Begriff des Handelns sehen wir gewöhnlich einen denkenden Vorgriff – im Sinne des Vorhersehens und des Beabsichtigens – auf das Resultat des Handelns als darin enthalten an. Nur wer sich kognitiv und volitiv selbst bestimmt, autonom verhält und somit Herr seiner Entschlüsse ist, kann als Handelnder verstanden werden.9 Eine innere mentale Beziehung beim Adressaten der Zurechnung ist also für eine Zurechnung vorausgesetzt. Worin aber diese innere Beziehung genau zu beste8

Sandra Ausborn-Brinker, Person und Personalität – Versuch einer Begriffserklärung, Tübingen 1999, geht davon aus, in der gegenwärtigen Philosophie werde unter Person „nahezu übereinstimmend ein Wesen verstanden, welchem man Handlungen zurechnen kann“, vgl. S. 139. 9 Frauke Rostalski, Verantwortung und künstliche Intelligenz. Wer ist für den Einsatz von auf künstlicher Intelligenz basierenden Systemen verantwortlich – und wofür wollen und können wir als Gesellschaft die Verantwortung übernehmen?, in: REthinking Law 2019, 37 – 32, 37. Unter welchen Voraussetzungen von einer künstlichen Intelligenz gesprochen werden kann, sucht Gabriel Hallevy, The Criminal Liability of Artificial Intelligence Entities – from Science Fiction to Legal Social Control, Akron Intellectual Property Journal, vol. 4, 2010, S. 171 – 201, 175 f., in fünf Fähigkeiten zusammenzufassen: „communication“, „internal knowledge“ (Selbsbezüglichkeit), „external knowledge“ (Bewusstsein), „goal-driven behaviour“(zweckorientiertes Handeln) und „creativity“(im Sinne der Fähigkeit, beim Scheitern eines Plans einen anderen Plan zugrunde zu legen).

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hen habe, das ist, seit man im 17. Jahrhundert ausführliche Zurechnungslehren entwickelt hat, nicht ganz unumstritten. Man hat darüber noch keine Klarheit gewonnen, obwohl schon das römische Recht und Aristoteles einen subjektiven Bezug des Täters auf seine Tat für die Zurechnung voraussetzten10 und die Verantwortung allein für die kausale Verursachung des Erfolgs („Erfolgshaftung“) nur in der Frühzeit der europäischen Antike, insbesondere im Mythos, eine zentrale Rolle spielte. Samuel von Pufendorf verlangt für eine Zurechnung die Fähigkeit zum Wissen vom Geschehen und zum Wollen des Geschehens, also die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit. John Locke legt den Schwerpunkt auf die innere Einheit des Zurechnungsadressaten über die Zeit hinweg, streicht also besonders die Bedeutung des Erinnerungsvermögens für die Zurechnung heraus, da sich für ihn aus diesem Erinnerungsvermögen die Identität der Person ergibt.11 Henry Frankfurt sieht die entscheidende Voraussetzung für die Zurechenbarkeit in „second order volitions“, einem durch den Willen zweiter Ordnung kontrollierten Willen. Die von Locke wie von Frankfurt genannten Kriterien sind allesamt Elemente von Selbstbezüglichkeit, bei Locke reflexiv in Bezug auf das Wissen, bei Frankfurt reflexiv bezogen auf das Wollen, bei beiden also wird die Reflexivität ausdrücklich zum Thema. Bei Pufendorf werden mit intellectus und voluntas, Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, Fähigkeiten genannt, die formell auf der Ebene von Bewusstsein angesiedelt sind, aber unvermeidlich präreflexiv doch auch, also wie bei Locke und bei Frankfurt, auf das Selbst-Bewusstsein Bezug nehmen. Zurechnung setzt also nach verbreiteter, in den Einzelheiten allerdings nicht identischer Meinung ein Selbstverhältnis beim Adressaten voraus. In den juristischen Zurechnungsmodellen werden die mentalen Erfordernisse beim Zurechnungsadressaten in der Regel auf zwei Ebenen aufgeteilt: Handlung und Schuld. Für die Handlung setzt man als Minimalvoraussetzung eine Prägung durch ein Normverstehen voraus, für die Schuld ein Andershandelnkönnen (man hätte die Handlung auch unterlassen oder anders ausführen können) oder eine problematisierende Stellungnahme zur Normgeltung.12 Ob solche Fähigkeiten als mentale Gegebenheiten tatsächlich vorliegen müssen (was eine Stellungnahme zur Willensfreiheit erfordern würde) oder ob es genügt, sie als gesellschaftliche Interaktionen lediglich zuzuschreiben, wird unterschiedlich betrachtet. Mindestens die Zuschreibung solcher Fähigkeiten muss aber gegeben sein.

10 Dazu Robert Spaemann, Nebenwirkungen als moralisches Problem, in: Philosophisches Jahrbuch 82 (1975), S. 323 ff., 324. 11 Zu Pufendorf und Locke vgl. ausführlich Seelmann (o. Fn. 3), S. 581 f. bzw. 576 ff. 12 Ausführlich dazu Gerhard Seher, Intelligente Agenten als „Personen“ im Strafrecht?, in: Sabine Gless/Kurt Seelmann (Hrsg.), Intelligente Agenten und das Recht, Baden-Baden 2016, S. 45 – 60, 48 ff., 56 ff.

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2. Zurechnung unter der Voraussetzung eines bestimmten Verhältnisses zwischen Zurechnungsadressat und Zurechnendem Eine weitere Voraussetzung der Zurechnung, die teilweise auf der eben genannten Voraussetzung mentaler Fähigkeiten aufbaut, kommt noch hinzu: Die Antwort auf die Frage, ob jemandem etwas zugerechnet werden kann, hängt auch von Voraussetzungen im Verhältnis zwischen dem Zurechnenden und dem Zurechnungsadressaten ab, ist also von deren Kommunikation bestimmt. Zugerechnet wird nur unter „moral agents“, also den Mitgliedern einer moralischen Gemeinschaft i.S. von Personen, die sich in ihrem Handeln an der Moral orientieren und nicht nur als „moral patients“ Nutzniesser der Moral anderer sind. Unbelebter Natur, Pflanzen und Tieren sowie Kindern bis zu einem bestimmten Alter rechnen wir deshalb nichts zu, nur „Unseresgleichen“ rechnen wir etwas zu.13 Zurechnung setzt also nicht einfach nur bestimmte Eigenschaften beim Zurechnungsadressaten voraus, sondern verlangt zudem notwendig ein Element des Kommunikativen: Als Personen werden gewöhnlich nur Entitäten eingeschätzt, die ihrerseits anderen Entitäten Personalität zuschreiben.14 Die Einschätzung eines Objekts als eine Person hängt davon ab, welche Haltung ihm gegenüber eingenommen wird und ob dieses Objekt seinerseits diese Haltung auch uns gegenüber einnehmen kann.15 Die gemeinsame Inklusion von Personen in diese moralische Gemeinschaft hat allerdings etwas Ambivalentes: Wir respektieren einen Teil unserer lebendigen Umwelt (in der Regel Menschen) als Unseresgleichen und machen diesen Respekt doch zugleich zur Voraussetzung dafür, dass wir andere für ihre Handlungen tadeln. Anders formuliert: Indem wir tadelnd zurechnen, nehmen wir den Anderen für „voll“, behandeln ihn nicht als einen „Kranken“, dem etwas zuzurechnen sinnlos ist. Der von uns bestrafte Verbrecher wird nach Hegel in der Zurechnung „als Vernünftiges geehrt“16, wir nehmen, um mit Strawson zu sprechen, ihm gegenüber

13 „For identification to operate there must be some sense of ,likeliness‘ that leads us to emphatic understanding,“ Joanna J. Bryson/Philip P. Kime, Just an Artifact: Why Machines are Perceived as Moral Agents (Conference Paper, Barcelona, 16 – 22 July 2011, S. 1641 – 1646, 1644). 14 Sandra Ausborn-Brinker (o. Fn. 8), S. 134. Zum Erfordernis der Kommunikation im Zurechnungsprozess vgl. auch Frauke Rostalski, Legal Tech now and then. Sollte Technik den Menschen in der Rechtsfindung ersetzen?, in: REthinking law 2019, 1 – 13, 12 f. 15 Daniel C. Dennett, Conditions of Personhood, in: Amélie Oksenberg Rorty (Hrsg.), The Identities of Persons, Berkeley 1976, S. 175 ff.; dazu Jonathan Erhardt/Martino Mona, Rechtsperson Roboter – Philosophische Grundlagen für den rechtlichen Umgang mit künstlicher Intelligenz, in: Sabine Gless/Kurt Seelmann (Hrsg.), Intelligente Agenten und das Recht, Baden-Baden 2016, S. 61 – 93, 79. 16 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Rechtsphilosophie. Die „Rechtsphilosophie“ von 1820. Edition Ilting, Bd. 2, Stuttgart-Bad Cannstatt 1973/74, § 100, Anmerkung 2, S. 364.

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eine Teilnehmer- und nicht nur eine Beobachterperspektive ein17 – ja indem wir mit ihm über die Zurechnung in eine Kommunikation treten und ihn tadeln und ihn nicht einfach nur psychiatrisch behandeln, zählen wir ihn zu uns. Tadelnde Zuschreibung und Wahrung von Achtungsansprüchen bedingen einander offenbar gegenseitig.18 „Die Entwicklung ist janusköpfig. Während der Person auf der einen Seite Schuld zugeschrieben werden kann, vermag sie auf der anderen Achtungsansprüche zu erheben.“19 Das Kriterium dafür, warum wir jemand für unsere Kommunikation zu uns zählen, dürfte allerdings, wenn nicht unmittelbar so doch mittelbar, in erster Linie wieder von den Fähigkeiten, wie sie im vorherigen Kapitel beschrieben werden, herrühren. Dafür spielen individuelle Fähigkeiten eine Rolle – Zurechnungsunfähige werden individuell ausgeschieden aus dem Zurechnungsprozess. Vorausgesetzt für die Zurechnung ist aber vorher schon, dass man der Gattung angehört, der im Prinzip zugerechnet wird, man nach gegenwärtiger Situation also eine natürliche oder juristische Person ist. Das zeigt erneut: Wir rechnen jemanden zu uns, erklären ihn zu „Unseresgleichen“, wenn wir ihn zu denjenigen Wesen zählen, die Pflichten haben und nicht nur Rechte, also unter eben die „moral agents“ und nicht unter die, deren Status sich auf den von „moral patients“ beschränkt, wie eben beispielsweise die Tiere.

3. Zurechnung und Normordnung Aus diesem Gedanken des Verantwortlichen als eines Pflichtenträgers erwächst nun eine weitere, dritte Voraussetzung für die Zurechnung, neben derjenigen bestimmter Fähigkeiten und derjenigen einer Zugehörigkeit zur moralischen Gemeinschaft: Zurechnung erfordert auch die Fähigkeit zur Orientierung an gemeinsamen Normen.20 Das hat einen anthropologischen und einen pragmatischen Grund. Betrachten wir zuerst den anthropologischen Grund. Eine Orientierung an einer Norm, also an einer sicheren gesetzlichen Grundlage, scheint die Identität der Person überhaupt erst zu gewährleisten. Eine solche persönliche Identität lässt sich nicht einrichten, wenn „das heute Erlaubte oder Gebotene morgen verboten wird“ oder wenn gar der Mensch nur „ein in sich zerrissenes, den jeweiligen Augenblickserwartungen unterworfenes Naturwesen“ wäre, „dem es verwehrt ist, den Sprung vom biologi17 P. F. Strawson, Freedom and Resentment, in: ders., Freedom and Resentment and other Essays, London/New York 2008, S. 1 ff. 18 Lorenz Schulz, Strukturen von Verantwortung in Recht und Moral, in: ders. (Hrsg.), Verantwortung zwischen materialer und prozeduraler Zurechnung, Stuttgart 2000, S. 175 ff., 189; Kurt Seelmann, Strafe als Ehre?, in: Basler Juristische Mitteilungen, Nr. 6, November 2014, S. 285 – 301. 19 Schulz (o. Fn. 18), S. 189. 20 Dazu auch Erhardt/Mona (o. Fn. 15), S. 89.

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schen Menschen zur sittlichen Person zu tun.“21 Die (oben 2.) erwähnte Kommunikation über die Zurechnung würde also von vornherein fehlgehen, wenn nicht beide, der Zurechnende und der Zurechnungsadressat, sich an einer (gemeinsamen) Norm orientieren würden. Daneben gibt es noch einen pragmatischen Grund, den Vorgang des Zurechnens mit einer Norm zu verbinden: Wenn wir jemandem etwas zurechnen, hat dies meist damit zu tun, dass wir davon ausgehen, er schade mit der ihm zuzurechnenden Tat einer Norm – nämlich derjenigen Norm, die er durch sein Verhalten übertritt. Denn er verletzt nicht nur die Norm im Einzelfall, sondern vergrössert durch sein von der Norm abweichendes Verhalten auch das generelle Risiko, dass andere, die diese Abweichung zur Kenntnis nehmen, sich ihrerseits infolge dessen nicht mehr an die Norm halten. Aber wann ist dies der Fall? Offenbar auch nur, wenn eine gewisse beispielgebende Kompetenz beim Handelnden besteht. Ein Naturgeschehen würde unser Normvertrauen nicht beeinträchtigen – so wenig wie ein Mensch, den wir als psychisch krank definieren können, unser Vertrauen in die Geltung der Norm beeinträchtigen könnte. Wir rechnen nur dann zu, „wenn ein Ereignis als Normwiderspruch einer zur Äusserung im öffentlichen Raum kompetenten Person zu verstehen ist“.22 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass wir, um zurechnen zu können, erstens bestimmte Fähigkeiten eines Selbstverhältnisses beim Zurechnungsadressaten voraussetzen müssen. Zweitens setzen wir für die Zurechnung voraus, dass der Adressat zusammen mit den Zurechnenden einer moralischen Gemeinschaft angehört, die zugleich eine Pflichtengemeinschaft ist, in der beide Seiten Pflichten einzuhalten haben. Und drittens verlangt eine Zurechnung, dass jemand durch ein pflichtwidriges Verhalten eine Norm schädigt, indem er als kompetente Person etwas tut, was von Dritten als Widerspruch gegen die Norm verstanden werden kann.

II. Wie normativ und bedürfnisabhängig sind unsere Zurechnungen? Eine Reihe von Voraussetzungen, wie sie für die Zurechnung zum menschlichen Handeln vorliegen müssen, sind im Fall von künstlicher Intelligenz nicht gegeben – weder die beschriebenen mentalen Eigenschaften noch die angeführte Kommunikation oder die Reaktion auf Normen existieren im Fall von künstlicher Intelligenz. Die Beschreibungen menschlichen Verhaltens wie eines Handelns „lassen sich … nicht adäquat auf die Wahrnehmungen von Maschinen übertragen.“23 Es ist umstritten, ob 21 Reinhard Brandt, John Lockes Konzept der persönlichen Identität. Ein Resümee, in: Aufklärung – Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte, Bd. 18 (2006), S. 37 ff., S. 46. 22 Günther Jakobs, System der strafrechtlichen Zurechnung, Frankfurt a.M. 2012, S. 15 f. 23 Susanne Beck, Der rechtliche Status autonomer Maschinen, Archiv für juristische Praxis (AJP) 2017, S. 183 – 191, 187.

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sich an dieser Situation je grundlegend etwas ändern wird – ob also irgendwann in der Zukunft künstliche Intelligenz diese Voraussetzungen aufweisen könnte. Jedenfalls für die Gegenwart lässt sich sagen: „Existierende künstliche Intelligenzen sind noch keine Rechtspersonen und haben auch noch keinen Personenstatus.“24 Möglicherweise aber kommt es auf derlei Übereinstimmungen in den Zurechnungsvoraussetzungen gar nicht wirklich an, sondern eine Zurechnung zu künstlicher Intelligenz kann bereits bei geringeren Voraussetzungen erfolgen. Künstliche Intelligenz wäre dann entweder nicht im vollständigen Sinn eine Rechtsperson, sondern nur so etwas wie ein „Bote“ oder „Vertreter“ oder nur teilweise rechtsfähig.25 Ihr würde, insoweit vergleichbar mit der „juristischen Person“, als Vermögensmasse eine Zahlungspflicht auferlegt, deren Ausgleichung wie im Fall der „juristischen Person“ letztlich den beteiligten Menschen (Aktionären etc.) zur Last fiele. Man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehen und gänzlich in der Kategorie von Fiktionen denken: Es wäre in der Kompetenz des Rechts, sich von den für Menschen geltenden Voraussetzungen der Zurechnung zu lösen und aus dem einen oder anderen guten Grund auch anderen Entitäten, wie etwa der künstlichen Intelligenz, etwas zuzurechnen.

1. Die Normativität des Rechts und ihre Grenzen Diese Abstraktion von mentalen Eigenschaften, Kommunikation und Normorientierung bei der Zurechnung wird nicht selten getragen durch die Auffassung, Begriffsdefinitionen stünden generell dem Recht frei, auch wenn es um die Zurechnung und die Anerkennung als Person gehe. „Diese Anerkennung des Menschen als Rechtsperson“, so die wohl herrschende Auffassung, „erfolgt durch die Rechtsordnung, ist also ein Rechtsakt. Sie ergibt sich deshalb nicht unmittelbar aus bestimmten, tatsächlich vorhandenen Eigenschaften des konkreten Menschen …“26 Es steht danach der Rechtsordnung prinzipiell frei, vom dogmatischen Bedürfnis her, also „normativ“, den Begriff zu bestimmen. Der Gedanke der Konstruktion von Personalität und Zurechnung auf funktionaler Grundlage wird noch verstärkt in der modernen Systemtheorie. Personalität dient dort primär der Ordnung von Verhaltenserwartungen. Die Person wird zur „Adresse innerhalb der Kommunikation“27. Welche Kollektive man zurechnungs- und damit rechtsfähig mache, sei „eine Frage sinnvoller Regelung, bei der dem Rechtssystem 24

Erhardt/Mona (o. Fn. 15), S. 87. Zu solchen Modellen vgl. Stefan Klingbeil, Schuldnerhaftung für Roboterversagen, JZ 2019, 718 – 725, 26 Volker Lipp, Freiheit und Fürsorge: Der Mensch als Rechtsperson, Tübingen 2000, S. 44. Ähnlich Klingbeil (o. Fn. 25), 721. 27 Stephan Kirste, Dezentrierung, Überforderung und dialektische Konstruktion der Rechtsperson, in: Verfassung – Philosophie – Kirche. FS Hollerbach, Berlin 2001, S. 319 ff., 325 f. 25

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weitgehende Freiheit eingeräumt wird“28. Das Rechtssystem müsse „die rechtlich relevante Grenze zwischen instrumentalisiertem und autonomem Handeln selbst festlegen.“29 Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass die Anerkennung des Menschen als eine Rechtsperson durch einen Rechtsakt erfolge und nicht schon durch das Menschsein als solches determiniert sei,30 die „attribution of legal personhood“ sei ein „performative act“.31 Grundsätzlich muss das Recht diese Befugnis zur Askription von Rechtsfähigkeit und damit auch der Zurechnungsvoraussetzungen haben – denn wer sonst hätte diese Befugnis? Aber führt dies zu einer Beliebigkeit der Zurechnungsadressaten? Sollen wir schon immer dann zurechnen, wenn wir aus praktischen Gründen einen Zurechnungspunkt brauchen, selbst wenn dieser Zurechnungspunkt bestimmte traditionell typische Merkmale eines Zurechnungsadressaten nicht erfüllt? Mit anderen Worten geht es um die Frage, “wie normativ“ Zurechnung sein darf. Wie sehr darf sich der Zurechnungsadressat unterscheiden von einem traditionellen, am Menschen orientierten Verständnis als selbstbezüglicher, mit anderen Personen kommunizierender und Normen unterworfener „moral agent“?32 Diese Frage bewegt sich auf einer Metaebene zu der Frage, welche Eigenschaften ein Zurechnungsadressat normalerweise braucht. Es geht nämlich nun um das Problem, ob in bestimmten Fällen eine Zurechnung auch im Fall des Fehlens dieser traditionell verlangten Eigenschaften vorgenommen werden darf. Dass dieses Problem besteht, nämlich das Problem einer Grenze der „Normativität“ an den Gegebenheiten der biologischen und sozialen Realität, wurde durchaus auch früher schon gesehen. Wenn es um Vorgegebenheiten für die rechtliche Einschätzung ging, sprach man von der „Natur der Sache“ oder von „sachlogischen Strukturen“33. So hat man auch im Hinblick auf Zurechnung und Personalität konstatiert, dass etwa die mit der Mündigkeit verbundene Rechtsposition eines Menschen „auf seine tatsächliche Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Entscheidung be28

Kirste (o. Fn. 27), S. 325. Günther Teubner, Digitale Rechtssubjekte? Zum privatrechtlichen Status autonomer Softwareagenten, Ancilla Iuris 2018, S. 35 – 78, 51. 30 V. Lipp (o. Fn. 26), S. 44 f.; zu dieser „Definitionsmacht des positiven Rechts und dessen Konstruktions- und Fiktionspotentials“ schon bei v. Savigny vgl. auch Susanne Beck/Benno Zabel, Person, Persönlichkeit, Autonomie, in: Orsolya Friedrich/Michael Zichy, Persönlichkeit. Neurowissenschaftliche und neurophilosophische Fragestellungen, Münster 2014, S.49 – 82, 58. 31 Mireille Hildebrandt, Criminal Liability and „smart“ Environments, in: R. A. Duff/ Stuart Green, Philosophical Foundations of Criminal Law, Oxford 2013, S. 507 – 532, 513. 32 Zur Person als „ens morale“ in der mittelalterlichen Diskussion vgl. Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Freiburg i.Br. 1997, S. 23 ff. 33 Dazu Kurt Seelmann, Hans Welzels „sachlogische Strukturen“ und die Naturrechtslehre, in: Wolfgang Frisch u. a. (Hrsg.), Lebendiges und Totes in der Verbrechenslehre Hans Welzels, Tübingen 2015, S. 7 – 19. 29

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zogen“ ist und diese Fähigkeit voraussetzt.34 Der Gesetzgeber, so wird zu Recht gesagt, „orientiert sich … an den vorhandenen Erkenntnissen über die menschliche Entwicklung und den gesellschaftlichen Verhältnissen,…“.35 Aber auch „vor dem interdisziplinären Diskussionsstand“ solle das gewählte Autonomiekriterium „vertretbar sein“.36 Denn Normativität enthebe nicht von der Notwendigkeit anzugeben, worauf ein Begriff sich beziehe.37 Die Einbettung der Rechtsordnung in eine bestimmte Gesellschaft setze nämlich Grenzen für normative dogmatische Konzeptionen, die in der Gesellschaft verständlich sein sollten, um operabel und akzeptabel zu sein.38 Auch wenn der Gesetzgeber also eine grosse Freiheit bei der Begriffsbildung hat, so gibt es doch eine Reihe von Klugheitsregeln, die es angemessen erscheinen lassen, sich wo möglich nicht zu weit vom üblichen Sprachgebrauch zu entfernen. Wenn wir also im Fall der Zurechnungsvoraussetzungen gewisse mentale, kommunikative und normbezogene Voraussetzungen für alle Zurechnungsadressaten aufstellen, so sollten wir dies zunächst einmal schon aus solchen allgemeinen Erwägungen heraus tun. Aber genauer betrachtet kommen bei der Zurechnung noch zwei spezielle Gründe (unten 2. und 3.) für die Anwendung der üblichen Voraussetzungen hinzu: 2. Zurechnung von Handlungen: durch Gründe motivationsfähig sein Wir sollten zunächst einmal bei allen Akten von Zurechnung deshalb auf die üblichen Voraussetzungen für Zurechnungen abstellen, weil wir nur so die Zurechnung an die Motivationsfähigkeit knüpfen können. Ohne Motivationsfähigkeit aber würde Zurechnung nicht „sinnvoll“ sein.39 Es wäre nicht klar, warum jemand eine spezielle Verantwortung für einen bestimmten Bereich überhaupt haben sollte, also z. B. schadensersatzpflichtig sein sollte, wenn er zur Befolgung der primären Handlungspflicht gar nicht motiviert hätte werden können. Motivationsfähigkeit heisst, dass der Adressat der Zurechnung durch das Vorbringen von Gründen beeinflussbar und nicht einfach nur ein Glied in der Kausalkette des Geschehens ist. Eben diese Motivierbarkeit muss ich ihm deshalb bei einer Zurechnung unterstellen. Wenn ich ihm ein Handeln zurechne, muss ich ihm mithin eine Absicht unterstellen. Rechnet man also zu, ohne eine Handlung eines mit sich identischen und Absichten verfolgenden Wesens vor sich zu haben, so gibt es keinen vernünftigen („sinnvollen“) Grund dafür, jemanden mehr als einen beliebigen anderen Kausalfaktor als zuständig 34

V. Lipp (o. Fn. 26), S. 44. V. Lipp (o. Fn. 26), S. 44. 36 Teubner (o. Fn. 29), S. 51 f. 37 Carl Friedrich Stuckenberg, Vorstudien zu Vorsatz und Irrtum im Völkerstrafrecht, Berlin 2007, S. 45 f. 38 Stuckenberg (o. Fn. 37), S. 46 f. 39 Susanne Beck (o. Fn. 23), S. 186: „Die Möglichkeit einer gesetzgeberischen Zuschreibung eines rechtlichen Status sagt noch nichts darüber aus, dass bzw. wann diese Zuschreibung sinnvoll ist.“ 35

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für ein bestimmtes Ergebnis anzusehen und ihm einen Einfluss auf das Handlungsereignis40 zuschreiben – ich darf, um einem anderen zurechnen zu können, das von ihm erzielte Handlungsergebnis nicht an ihm vorbei zu erklären versuchen. Diese schon lange kontrovers erörterte Differenz von Ursachen und Gründen zugrunde zu legen macht nicht nur Sinn, wenn man beide Grössen kategoral unterschiedlichen Sphären zuweist, sondern auch dann, wenn man Gründe als eine Unterart der Ursachen erfasst: In beiden Fällen muss man eingestehen, dass Gründe eine besondere Bedeutung für die Zurechnung haben. Auch wenn die Attribution von Verantwortlichkeit zunächst einmal Kausalität voraussetzt, erfordert sie doch in der Zuordnung von subjektiven Taterfordernissen mehr als nur Kausalität im naturgesetzlichen Sinn.41 3. Tadel für schuldhaftes Unrecht Eine Zurechnung, wenn sie mit tadelnden Sanktionen verbunden ist, setzt weiter voraus, dass die zugerechneten Handlungen tadelnswert sind. Tadelnswert ist aber eine Handlung nur dann, wenn wir sie jemandem zur Schuld zurechnen können. Wir entnehmen dann aus dieser Schuld, der Freiheit zugrunde liegt, die erhöhte Zuständigkeit des Zurechnungsadressaten. Auch hierfür brauchen wir wieder „Gründe“, denn was von Natur abläuft, lässt sich nicht nur nicht beabsichtigen, sondern auch nicht tadeln. Zurechnung gibt sogar in aller Regel nicht nur eine Deskription einer absichtlichen Handlung mit Einfluss des Handelnden auf das Handlungsergebnis, sondern sie gibt auch ein Urteil über diese Handlung ab, sie rechnet diese Handlung entweder zum Lob oder zum Tadel zu. Der Tadel richtet sich im rechtlichen Kontext auf einen schuldhaften Verstoss gegen eine Rechtsnorm, also auf die Rechtswidrigkeit und Schuld einer Handlung. Tadel als Grundlage der Zurechnung setzt deshalb Autonomie, das heisst ein selbstbestimmtes Handeln des Zurechnungsadressaten voraus. Dies bedeutet weiter, dass der Zurechnungsadressat die Tat auch hätte unterlassen können – sei es tatsächlich oder sei es in der gesellschaftlichen Wahrnehmung – da andernfalls die Zurechnung wieder keinen Sinn ergäbe.

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Christoph Möllers, Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität, Berlin 2015, S. 32. Diese Erfordernisse gelten jedenfalls für die im Strafrecht sog. „finale Handlungslehre“ – ob auch für die „kausale Handlungslehre“ kann hier offen bleiben, da es bei Nichtvorhandensein der Finalität dann zumindest an der Schuld fehlen würde, vgl. Sabine Gless/Thomas Weigend, Intelligente Agenten und das Strafrecht, ZStW 126 (2014), S. 561 – 591, 573. 41 Vgl. etwa die Übersicht zur Thematik bei Klaus Günther, Schuld und kommunikative Freiheit. Studien zur personalen Zurechnung strafbaren Unrechts im demokratischen Rechtsstaat, Frankfurt a.M. 2005, S. S. 137 ff.

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Rechnet man also ein Tun eines Anderen diesem tadelnd zu, ohne das Geschehen einerseits als Handlung und andererseits als schuldhaftes Unrecht kennzeichnen zu können, so hat man keinen sinnvollen Grund, einen Handelnden mehr als einen anderen Handelnden für organisatorisch zuständig zur Behebung eines Schadens zu halten.42

IV. Ergebnis Zurechnungslehren, wie sie sich im Lauf der Entwicklung herausgebildet haben, stellen gewöhnlich Anforderungen an die mentale Situation beim Zurechnungsadressaten, an die kommunikative Situation zwischen Zurechnungsadressat und Zurechnendem und schliesslich an die normative Situation, unter der die zuzurechnende Handlung erfolgt. Dem Recht steht es frei, für die Zurechnung an andere, weniger weit gehende Anforderungen anzuknüpfen, wie dies bei der „juristischen Person“ bereits geschehen ist und wie es von einigen Autoren für die „e-Person“, insbesondere für künstliche Intelligenz, auch gefordert wird. Sinnvoll wäre eine solche Ausweitung der Zurechnungsadressaten nicht wirklich: Bei einem „Nicht-Handelnden“, dem die Motivation für sein Tun fehlt, wäre nicht verständlich, warum er mehr als andere zuständig sein sollte für ein bestimmtes Geschehen oder sein Ergebnis. Umso mehr muss dies für jemanden gelten, der generell gar keine Motivationsfähigkeit besitzt. Desgleichen wäre, ohne dass zusätzlich ein schuldhaftes Unrecht beim Handelnden vorliegt, ebenfalls die gesteigerte Zuständigkeit fraglich. Mit der Androhung des Tadels für schuldhaftes Unrecht soll nämlich die Motivation in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Eine „künstliche Intelligenz“ müsste also grosso modo die bei Menschen üblichen Zurechnungsvoraussetzungen aufweisen, wenn man sie sinnvoll zu einem Zurechnungsadressaten machen wollte.

42 Für weder handlungs- noch schuldfähig halten deshalb auch Nora Markwalder und Monika Simmler die künstliche Intelligenz, vgl. Nora Markwalder/Monika Simmler, Roboterstrafrecht. Zur strafrechtlichen Verantwortung von Robotern und künstlicher Intelligenz, AJP 2017, S. 171 – 181, 173.

Der Irrtum als Seismograph des Strafrechts Ein Fallbeispiel Von Lorenz Schulz In der modernen Gesellschaft wächst die Regelungsdichte systematisch. Nicht nur kognitive Risiken wachsen, sondern auch normative Risiken nehmen kontinuierlich zu.1 Um diese letzteren Risiken geht es hier. Im ersten Schritt (I.) wird sub specie Irrtumsregeln der Frage nachgegangen, wer diese Risiken tragen soll. Im zweiten Schritt (II.) wird dies an einem Fallbeispiel illustriert.

I. Die Verteilung des genannten Risikos in der parlamentarischen Demokratie ist Aufgabe des demokratischen Gesetzgebers. Dem entspricht rechtsphilosophisch insbesondere das Verständnis von Jürgen Habermas.2 Die Rechtsprechung ist dann Rechtsanwendung, die dem „Sinn für Angemessenheit“ (Klaus Günther) anheim steht.3 Unabhängig von der Frage des Verhältnisses von Begründungs- und Angemessenheitsdiskurs4 und der Frage, in welchem Maß und in welcher Weite dabei der Anspruch einer einzig richtigen Entscheidung zur Geltung kommt, bleiben die Bedenken, ob diese Konzeption von Begründungs- und Angemessenheitsdiskurs rechtsvergleichend allgemeine Geltung beanspruchen kann und ob sie den komplexen Prozess der Rechtskonkretisierung begrifflich abbildet. Rechtsvergleichend besteht die Schwierigkeit darin, dass die weitgehend konsentierte Dreigliederung der Gewalten unterschiedlich akzentuiert wird.5 Im Hinblick auf die Konkretisierung bedarf es, selbst wenn hier nur das deutsche Rechtssystem der Ausgangspunkt ist, einer 1

Grundlegend Prittwitz, Strafrecht und Risiko, 1993. Faktizität und Geltung, 4. Aufl. 1994. 3 Günther, Der Sinn für Angemessenheit, 1998. Diese Konzeption wurde von Habermas übernommen, siehe ders. (Fn. 2), Kap. V, 238 ff. 4 Kritisch zu Günther Alexy, Normenbegründung und Normanwendung, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie, 1995, 52 – 71; siehe auch ders., Justification and Application of Norms, Ratio Juris 6 (1993), 157 als Replik auf Günther, Ratio Juris 6 (1993), 143. 5 Möllers, Gewaltengliederung. Legitimation und Dogmatik im nationalen und internationalen Rechtsvergleich, 2005. Einigkeit besteht immerhin darin, dass die Staatsgewalt (rechtsstaatlich) dreifach zu gliedern ist. 2

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differenzierten Betrachtung. Dafür muss man nicht Niklas Luhmann folgen, der die Rechtsprechung als Herz des Rechtssystems betrachtet und ihr die verbindliche Grenzziehung zwischen Recht und Unrecht überträgt.6 Es genügt, auf das allseits bekannte Gebrechen des Gesetzgebers hinzuweisen. Er unterliegt nicht dem Gebot optimaler Präzisierung, anders als die Rechtsprechung.7 Im politischen Betrieb sind die Fälle Legion, in denen sich der Gesetzgeber nicht wirklich entscheidet und zu Formelkompromissen greift. Dafür soll ein Beispiel genügen. Der 1. Strafsenat des BGH hatte am 20. Mai 2010 eine scharfe Beschneidung des Instituts der strafbefreienden Selbstanzeige im Steuerstrafrecht (§ 371 AO) bewirkt.8 Dieses Institut wurde damit praktisch ins weite Feld von Strafbarkeitsrisiken verlagert, in dem auch darauf spezialisierte Anwälte nicht mehr mit Sicherheit Auskunft über die Strafbarkeit geben können. Beim Gesetzgeber stand zu Beginn die Beibehaltung des Instituts als solches in Frage. Im Ergebnis behielt man es bei, regelte es aber überaus komplex, mit der vielleicht beabsichtigten Folge starker Rechtsunsicherheit.9 Davon lassen sich Fälle unterscheiden, in denen der Gesetzgeber sich vergleichsweise unbeschwert an einer Regulierung versuchen kann. Aber auch hier sind normative Risiken programmiert. Davon zeugt, um auch hierfür ein Beispiel zu geben, das Bemühen, den vorgeblichen Missbrauch von Werkverträgen, manchmal auch Scheinselbständigkeit genannt, zu bekämpfen. Am 16. Nov. 2015 legte die damalige Arbeitsministerin Nahles einen Gesetzesentwurf vor, mit der Behauptung, er würde die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung abbilden. Nach einer geharnischten Stellungnahme des Bundes der Richterinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit10 folgte schon am 17. Febr. 2016 ein gravierend überarbeiteter Entwurf.11 Erst mit ihm wurde nun tatsächlich die ständige Rechtsprechung des BAG abgebildet. Um die Grenze zwischen abhängiger und selbständiger Beschäftigung zu präzisieren, wurde § 611a ins BGB eingefügt.12 Demnach gilt: „Durch den Arbeitsvertrag wird der Arbeitnehmer im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet.“ (Abs. 1 S. 1). Die angestrebte Präzisierung blieb gleichwohl in einer zentralen Hinsicht Stückwerk. Der Gesetzgeber regelte nicht, in welchem Verhältnis die Regelungen von § 7 Abs. 1 6

Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993. BVerfGE 126, 196, hierzu s. u. 8 BGH, Beschl. v. 20. 5. 2010 – 1 StR 577/09 = NStZ 2010, 642. 9 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Selbstanzeige. In der Praxis führte es dazu, dass Steuerberater jedenfalls unter der Hand dem Mandanten empfehlen, das Risiko der Entdeckung mit den Risiken einer Selbstanzeige abzuwägen (dazu gehören nicht nur das Risiko, dass sie am Ende nicht wirksam ist, sondern auch, dass das Finanzamt bei künftigen Steuererklärungen genauer hinblicken dürfte). 10 NZA 2016, H. 3, VIII-X. 11 Der im Kabinett und unter den Parteien schnell auf Zustimmung stieß. Die zeitweise Ablehnung seitens der CSU diente vornehmlich dazu, bei der Gesetzgebung im Erbrecht zum Ziel zu kommen. 12 Rechtshistorisch ein Markstein, weil damit nach 117 Jahren erstmals der Arbeiter in den Text des BGB Eingang fand. 7

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SBG IV13 und § 611a BGB stehen. Damit entfaltet § 611a BGB nur indirekt Folgen für die Frage, ob § 266a Abs. 1 StGB sozial- oder arbeitsrechtsakzessorisch ist.14 Die Frage einer Akzessorietät des Tatbestands zu anderen Rechtsgebieten ist bei § 266a StGB zwar komplexer, sofern noch weitere Rechtsgebiete betroffen sind, aber der Streit zwischen einer Sozialrechts- und Zivilrechtsakzessorietät steht mit Recht im Vordergrund.15 Für eine Reduzierung normativer Risiken ist es methodisch eindeutig vorzugswürdig, den Begriff des Arbeitgebers (resp. Arbeitnehmers) einheitlich zu bestimmen.16 Deshalb verdienen hier die Konfliktlinien Aufmerksamkeit, zumal der Streit darüber Aufschluss geben könnte, welcher Gerichtsbarkeit der Primat zukommt. Wenngleich nach häufiger Auffassung der Arbeitgeberbegriff sozialrechtlich bestimmt werden soll,17 halten manche Vertreter dieses Lagers den Streit für praktisch folgenlos, weil § 7 Abs. 1 SGB IV auf das Dienst- und Arbeitsrecht abstelle, so dass wieder andere auf eine Positionierung verzichten.18 Die Schwäche der Sozialrechtsakzessorietät erweist sich in der Frage der Verjährung von § 266a StGB.19 Für die Arbeitsrechtsakzessorietät spricht neben einigen Vorzügen, die sich aus dem zu Lasten der abweichenden Auffassung Gesagten auch, dass sie dem Wortlaut des § 266a StGB gerecht wird.20 Die Akzessorietät disponiert das Verhältnis der Gerichtsbarkeiten von Sozial- und Arbeitsrecht und verdient deshalb große Aufmerksamkeit. Bei näherem Zusehen determiniert seine Bestimmung dieses Verhältnis jedoch nicht. Wie im Strafrecht generell, ist das Prozessrecht zum Leidwesen des in Deutschland materiell geprägten Common Sense nicht einfach die Magd des materiellen Rechts. Das erweist sich an dem Umstand fehlender (formaler) Bindungswirkungen von Entscheidungen der Gerichtsbarkeiten untereinander. Deshalb hätte hier eine ausdrückliche Maßgabe des Gesetzgebers normative Risiken mindern können. Weil diese ausblieb, bleibt die Bestimmung des Verhältnisses von Sozial- und Arbeitsrecht bis auf Weiteres der Rechtsprechung überlassen. Diese folgt aber weitgehend dem Eigensinn des je befassten Gerichtsgebiets und seiner Gerichtsbarkeit. Konflikte waren und sind hier deshalb 13 „Beschäftigung ist die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.“ 14 Siehe Schulz, Im Kreisverkehr des Rechts, FS Neumann, 2018, 1215 m.N. 15 So wird i.W. weder die Anknüpfung an das Steuerrecht vertreten noch ein strafrechtlicher Arbeitgeberbegriff. 16 Dem folgt die h.M., siehe ErfK-Preis, § 611 BGB Rn. 35 m.N. 17 Siehe nur MüKo-Radtke, 3. Aufl. 2019, § 266a Rn. 9 und Perron, in: Schönke/Schröder, 31. Aufl. 2019, § 266a Rn. 11, jeweils m.w.N. 18 Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 266a Rn. 4, 9a m.N. 19 Weil im Sozialrecht die Annahme des Vorsatzes die Beitragspflicht einer Verjährung von 30 Jahren unterwirft (§ 25 Abs. 1 S. 2 SGB IV), bewirkt die Engführung von Straf- und Sozialrecht, dass es praktisch keine Verjährung mehr gibt, siehe Schulz (Fn. 14) m.N. 20 Für viele Esser, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller (Hrsg.), AnwaltKommentar StGB, 2011, § 266a Rn. 14 m.w.N.

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programmiert.21 Auch hierfür ein Beispiel: Das BSG hat jüngst in mehreren Urteilen vom 4. Juni 2019 zum Status von Honorarärzten22 zwar eingeräumt, dass der vertragsrechtliche Status der Honorarärzte im Krankenhaus durch die Rechtsprechung des BSG nicht vorgeprägt sei und dass Honorarärzte in dieser Hinsicht in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung als Selbständige tätig sind. Um davon abweichen zu können, berief es sich jedoch auf unterschiedliche Wertungen des BAG und des BSG. Im Arbeitsrecht gehe es, so das Gericht, im Wesentlichen um die privatautonome Entscheidung der Vertragsparteien, während bei der Sozialversicherung neben der sozialen Absicherung des Einzelnen der Schutz der Solidargemeinschaft maßgeblich sei. Weil die Träger der Sozialversicherung Einrichtungen des öffentlichen Rechts seien, wäre es ausgeschlossen, „dass über die rechtliche Einordnung einer Tätigkeit allein die von den Vertragschließenden getroffenen Vereinbarungen entscheiden (Rn. 19)“. Damit adelt das Gericht zwar die Praxis der Sozialversicherungsträger, im Zweifel auch gegen arbeitsrechtliche Wertungen eine abhängige Beschäftigung anzunehmen und dabei § 266a StGB nicht als ultima, sondern als effektive prima ratio zu handhaben.23 Dogmatisch kohärent ist dies nicht,24 soweit zutrifft, dass wie erwähnt bei allem Streit um die Akzessorietät weitgehende Einigkeit darüber besteht, dass auch § 7 Abs. 4 SGB IV auf das Arbeitsrecht verweist. Die Harmonisierung der Divergenzen zwischen den Gerichtsbarkeiten dürfte aufgrund der fehlenden formalen Bindungswirkung von Entscheidungen untereinander sich allenfalls ,in the long run‘ ergeben.25 Die Beispiele sollen genügen. Im Ergebnis mag es dahinstehen, ob der Gesetzgeber es nicht besser kann oder die Lösung des „Kreisverkehrs des Rechts“26 den Gerichten überlässt, zum Nachteil der Normadressaten, die ihre Entscheidungen ex ante zu treffen haben und keine rechtskräftige Entscheidung abwarten können, weil schon vorher erhebliche Strafbarkeitsrisiken auftreten.27 Die Verteilung der normativen Risiken ist zwar eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit, doch kann dafür nicht auf das Schema von Aristoteles zurückgegriffen werden. Aristoteles unterscheidet nämlich nicht einfach, wie oft angenommen, die Ge21

Schulz (Fn. 14). Leitfall BSG, Urt. v. 4. 6. 2019, – B 12 R 11/18 R, NZA 2019, 1583. 23 Vgl. Schulz, ZIS 2014. Näheres zur Praxis des Rechts der Rentenversicherung siehe Schulz (Fn. 14). 24 Zutr. Hanau, NZA 2019, 1552, 1553. 25 Der Verweis auf den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) würde nur beschwichtigen. Er ist nur on paper dafür eingerichtet, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten; siehe Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes. 26 Schulz (Fn. 14). 27 In der Folge der zivilrechtlichen Vorsatztheorie, wonach der Wille vorauszusetzen ist, die Abführung der Beiträge bei Fälligkeit zu unterlassen, hat das LG Bochum am 28. 05. 2014 (I-4 O 39/14) mit Bezug auf § 266a StGB mutig auf das Vorliegen einer rechtskräftigen Entscheidung abgestellt. 22

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rechtigkeit als solche mit dem Schema von kommutativer und distributiver Gerechtigkeit, sondern bezieht die Unterscheidung auf die spezielle, nicht generelle Gerechtigkeit.28 Eben diese vorgängige, generelle Gerechtigkeit besteht im Normgehorsam. Gerade hier tritt aber das Problem der normativen Ungewissheit auf. Was nämlich ist die Folge, wenn dem Normadressaten nicht klar ist, worin der Normbefehl besteht?29 Dem Prüfschema im Unterricht folgend, das dem dreigliedrigen Tatbestandsaufbau entspricht, folgt die Antwort auf die Frage nach der Folge fehlender Normkenntnis bei unklarer Rechtslage der Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit. Damit wird das Problem objektiviert. Hier ist zunächst zu fragen, ob der Tatbestand überhaupt hinreichend bestimmt ist. Wäre das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) verletzt, käme es auf die subjektive Seite nicht mehr an, der Einzelne wäre zu Lasten des Staates entlastet. Für eine solche Lösung ist die bereits erwähnte Entscheidung des BVerfG vom 23. Juni 2010 der Ausgangspunkt.30 Demnach ist zwar nicht der Gesetzgeber, aber die Rechtsprechung dem Gebot optimaler Präzisierung unterworfen. Der Witz dieser Konzeption ist, dass damit das Rückwirkungsverbot mehr oder weniger auch auf die Rechtsprechung bezogen wird.31 Dies ist der Fall, weil die Rechtsprechung zur Bestimmtheit einer Norm wesentlich beiträgt. Sie ist, mit anderen Worten, für den Schritt von der Bestimmbarkeit zur Bestimmtheit verantwortlich und kann deshalb in die Pflicht genommen werden, soweit rückwirkend belastende Entscheidungen ergehen. Diese hat sie, gewissermaßen als Nebenpflicht, rechtzeitig anzukündigen. Das kann etwa in Form des obiter dictum erfolgen.32 Wie weit diese Lösung, die so auch im Schrifttum vertreten wird,33 praktisch trägt, bleibt abzuwarten, insbesondere seit der Berichterstatter der Entscheidung und zugleich Anwalt des klassischen Schuldprinzips, Herbert Landau, aus dem Gericht ausgeschieden ist. Gewiss ist eine objektivierende Lösung vorzugswürdig, zumal die realitätsnahe Lösung des BVerfG das klassische Verständnis des nullum crimen Satzes, wonach die gesetzgeberische Norm bestimmt und nicht nur bestimmbar zu sein hat, strapaziert. Schon weil praktisch eine Verletzung von Art. 103 Abs. 2 GG regelmäßig verfassungsgerichtlich nicht festgestellt wird,34 muss auf subjektive Lösungen eingegangen werden, die auch im Normalfall bestimmter Tatbestände die Gerichte beschäftigen. 28

NE, 5. Buch. Dabei mag die bereits differenzierte Behandlung des Irrtums bei Aristoteles dahinstehen, der zwar der modernen Zurechnungslehre den Weg weist, aber weder auf die moderne Unterscheidung von Ethik und Recht zurückgreifen kann noch auf den uns geläufigen Aufbau der Straftat; hierzu Meyer, Martin F., Wissen und Zurechenbarkeit bei Aristoteles, Ancilla Iuris 2010 (www.anci.ch/articles/ancilla2010_15_meyer.pdf). 30 BVerfGE 126, 196, hierzu Schulz, Neues zum Bestimmtheitsgebot, FS für Klaus Roxin zum 80. Geburtstag, 2011, 305. 31 Diese Lösung entspricht der Judikatur des EGMR im Hinblick auf Common Law-Mitgliedsstaaten. 32 Details hierzu bei Schulz (Fn. 14). 33 So Cornelius, Kai, Die Verbotsirrtumslösung zur Bewältigung unklarer Rechtslagen – ein dogmatischer Irrweg, GA 2015, 101, der allerdings über das BVerfG hinausgeht. 34 Wofür auch die genannte Entscheidung vom 24. Juni 2010 steht. 29

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Hier wird die Frage der Verantwortlichkeit bei unklaren Rechtslagen zumeist beim Verbotsirrtum gestellt und beantwortet.35 Hier ist man sich, so im Schrifttum, weithin einig, dass die Vermeidbarkeit von der Rechtsprechung zu restriktiv gehandhabt wird und damit die unklare Rechtslage nicht dem Staat, sondern dem Bürger angelastet wird. Die Herauslösung des Vorsatzes aus der Schuld im Gefolge des Finalismus hat eben dazu geführt, dass die Normkenntnis bereits im subjektiven Tatbestand, d. h. beim Vorsatz zum Problem werden konnte. Der Irrtum über Tatumstände nach § 16 StGB umfasst auch den Irrtum bei den (so genannten)36 normativen Tatbestandsmerkmalen. Diese sind genau besehen eine der zentralen Arenen, in denen um die Verteilung normativer Risiken gerungen wird.37 Vor allem in der Rechtsprechung ist, wie das nachfolgende Beispiel illustrieren wird, die Neigung erkennbar, den Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale als Verbotsirrtum zu qualifizieren.38 In diesem Fall habe dann der Einzelne eben falsch subsumiert. Blickt man genauer hin, betrifft der Subsumtionsirrtum wie der Verbotsirrtum generell den Irrtum über eine Regel, nicht den fallbezogenen Irrtum.39 Beim Irrtum über ein normatives Tatbestandsmerkmal enthält der fallbezogene Irrtum auch einen Regelbezug. Dies lässt sich begrifflich besser fassen, wenn man den Begriff der institutionellen Tatsache im Sinne von John Searle heranzieht.40 Nicht nur verführt er 35 Hier sei exemplarisch nur die Festschrift für Ulfrid Neumann genannt, in der in mehreren Beiträgen (Naucke, Pawlik u. a.) das unklare Recht im Kontext des Verbotsirrtums erörtert wird. 36 NK-Puppe, 4. Aufl. 2013, § 16 Rn. 31, 45 ff., spricht durchweg von so genannten „normativen Tatbestandsmerkmalen“, da damit vielfach die Vorstellung einhergeht, ihre Feststellung sei mit einem separaten Akt der Wertung verknüpft (Rn. 50). Sie zieht deshalb den Begriff der institutionellen Tatsache vor. 37 Nach Rechtsprechung und noch überwiegender Meinung sei dieser Irrtum zu unterscheiden vom Irrtum über Merkmale eines Blankett- oder Verweisungstatbestands, der in der Tendenz dem Verbotsirrtum unterfallen soll. Diese Unterscheidung wirkt etwas künstlich und die Ansätze hierzu führen kaum darüber hinaus, dass bei Verweisungstatbeständen dem strafrechtlichen Tatbestand etwas „Neues“ hinzugefügt werde, bei normativen Tatbestandsmerkmalen dies nicht der Fall sei und nur eine konkludente Verweisung erfolge. Die Verweisungstatbestände, die mit dem Bestimmtheitsgebot in Konflikt geraten, sobald die Verweisung dynamischer Natur ist, sollen hier auf sich beruhen. 38 Dies gilt dann nicht, wenn man insbesondere in finalistischer Tradition die Vermeidbarkeit bei § 17 StGB restriktiv handhabt, d. h. auch hier das Individuum ins Recht setzt; so gegenwärtig Bung, Handbuch des Strafrechts, § 34 Der subjektive Tatbestand, (im Erscheinen). 39 Neumann, Regel und Sachverhalt in der strafrechtlichen Irrtumsdogmatik, FS Puppe 2011, 171; zum Begriff der institutionellen Tatsachen im Recht allgemein siehe bereits ders., Das Problem der Rechtsgeltung, in: ders., Recht als Struktur und Argumentation. 2008, 224 – 240. 40 Siehe Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 5 Rn. 92. Kühl verweist hier auf Jakobs und Puppe, die wiederum an Searle anknüpft; explizit bei Popp, Andreas, Pflichtenakzessorietät

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nicht dazu, bei der Feststellung dieser Tatsache einen genuinen Akt der Bewertung zu postulieren. Es kommt hinzu, dass bei Searle diese Tatsache gerade durch Regeln konstituiert ist. Die Auslegung des § 16 StGB, wonach dieser auch für institutionelle Tatsache zuständig ist, wirkt gelegentlich skandalös,41 besonders im Wirtschaftsstrafrecht. Dass dies anstößig ist, zeigt eben die genannte Tendenz der Rechtsprechung, dieses Privileg im Zweifel anzutasten. Auch in der Strafrechtswissenschaft gibt es Versuche, dieses Privileg zugunsten des Staates auszuräumen oder es wenigstens einzuschränken. Ingeborg Puppe hat diesen Weg früh beschritten und den Vorsatz objektiviert und damit im Ergebnis normativiert.42

II. Ein praktisch hochbedeutsames Fallbeispiel soll die skizzierte Problematik illustrieren. Weithin bekannt ist, dass dem 1. Strafsenat unter dem Vorsitz von Armin Nack eine punitive Sonderrolle zukam.43 Im Jahr 2000 übernahm er den stellvertretenden Vorsitz und ab 1. November 2002 den Vorsitz des 1. Strafsenats, den Nack bis zum Eintritt in den Ruhestand am 30. April 2013 ausübte. Beachtung fanden nicht wenige Leitentscheidungen des Senats. Erwähnt wurde bereits die Judikatur zur Selbstanzeige. Davor hatte sich der Senat, nachdem er die Zuständigkeit für Steuerstrafsachen erhalten hatte, auf strengere Grundsätze für die Strafzumessung bei Steuerhinterziehung festgelegt. Nicht gelungen ist es ihm, die Steueranspruchstheorie zu kippen, nach der die Kenntnis des Steueranspruchs zum Vorsatz gehört und der Irrtum nach § 16 StGB zu behandeln ist.44 Aber bereits sein entsprechendes obiter dictum in der Entscheidung vom 8. Sept. 2011 hatte große Verunsicherung ausgelöst. Was im Steuerstrafrecht nicht gelang, erreichte der Senat jedoch bei § 266a StGB. und Irrtumslehre – Die neuere Rechtsprechung des BGH zu § 266a Abs. 1 StGB, in: Steinberg, Valerius, Popp (Hrsg.), Das Wirtschaftsstrafrecht des StGB, 2011, 125 Fn. 45. Der Begriff wurde in der Philosophie prominent, weil dieser in der Sprechakttheorie Searles an zentraler Stelle zur Erläuterung illokutionärer Sprechakte benutzt wird, an die wiederum KarlOtto Apel und Jürgen Habermas angeschlossen haben. 41 Hier heißt es dann, dass nicht der Verbotsirrtum zu hart sei, sondern der Tatbestandsirrtum zu weich gehandhabt werde, weil er die Gleichgültigkeit prämiere; vgl. Tonio Walter, Der Kern des Strafrechts. Die allgemeine Lehre vom Verbrechen und die Lehre vom Irrtum, 2006, 408 ff. 42 Weitere Nachweise für normativierende Ansätze bei Gaede, Auf dem Weg zum potentiellen Vorsatz, ZStW 121 (/2009), 239. Die Normativierung fällt gerade dann leicht, wenn das Normative soziologisch als selektive Konstruktion des Faktischen begriffen wird. 43 Der Strafverteidiger Ali B. Norouzi berichtete bei einem Vortrag auf dem 34. Strafverteidigertag 2010, dass sein früherer Referendarausbilder am LG Tübingen stets sagte, „sein“ Senat sei „wie Oliver Kahn – der hält alles, was zu halte isch“; ders., Vom Rekonstruktionsverbot zum Dokumentationsgebot, in: Schriftenreihe der Strafverteidigervereinigungen Bd. 34, 2011, 215, 228 Fn. 10. 44 Hierzu Kuhlen, Vorsätzliche Steuerhinterziehung trotz Unkenntnis der Steuerpflicht? FS Kargl 2015.

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Ohne Not in der Sache kassierte der Senat eine Entscheidung des LG Ravensburg zum Vorsatz beim Merkmal „Arbeitgeber“ und statuierte, dass § 16 StGB nur die Kenntnis der Tatumstände erfasse und jegliche irrige Bewertung ein schlichter Subsumtionsirrtum nach § 17 StGB sei. Das wurde prozedural eingebettet: Der Normadressat könne die normative Ungewissheit beseitigen, indem er die Statusfeststellung gem. § 7a SGB IV beantrage. Dies entspricht nur auf den ersten Blick prozeduraler Gerechtigkeit. Bei näherem Zusehen wird es eine zudem wenig praxisnahe Verteilung des normativen Risikos zu Lasten des Individuums. Das Statusfeststellungsverfahren betrifft eine Entscheidung im Einzelfall bei zweifelhafter Generalisierbarkeit. Hinzu kommt der Zeitfaktor bei wirtschaftlichen Entscheidungen. Das Feststellungsverfahren dauert lange, da die Entscheidung durch einen Versicherungsträger erfolgt, dessen Entscheidungsverhalten stark wirtschaftlich motiviert ist. Ist der Normadressat, der wirtschaftliche Akteur, wie unter diesen Umständen nicht selten, mit der Entscheidung nicht einverstanden, steht ihm der Rechtsweg offen. Beginnt der Vorsatz aber erst, wenn eine rechtskräftige Entscheidung darüber ergangen ist? Das möchte man annehmen. Praktisch ist dies nicht der Fall, weil bereits nach dem ersten Bescheid des Versicherungsträgers ein für unternehmerische Entscheidungen wichtiges Strafbarkeitsrisiko entsteht. Schon die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen § 266a StGB durch den Zoll hat die Wirkung einer Strafe, weil sie zumeist mit einer Durchsuchung verbunden wird, die regelmäßig mitunter auf Betreiben der Staatsanwaltschaft öffentlich bekannt wird. Sollte schließlich am Ende doch kein Irrtum nach § 16 StGB anerkannt werden, ist der Schaden immens. Das Sozialrecht eröffnet dann die Möglichkeit einer Bruttoberechnung und von Verspätungszuschlägen, all das unter dem Damoklesschwert von § 266a Abs. 1 StGB. Mit dieser Entscheidung flankierte der Senat die ungefähr zeitgleich einsetzende Verschärfung im Vorgehen der Deutschen Rentenversicherung gegen die „Scheinselbständigkeit“. Die Vorsatzprüfung lief hier leer, weil in den Fällen der ursprünglich nicht von § 266a StGB erfassten „Scheinselbständigkeit“ im Regelfall nicht über tatsächliche Umstände getäuscht wird, auf deren Kenntnis der Irrtum von § 16 StGB reduziert wurde.45 So wurde es den Versicherungsträgern leichtgemacht, in der Praxis bei einer fehlenden Statusfeststellung einfach den Vorsatz zu unterstellen, mit desaströsen Folgen in strafrechtlicher Hinsicht. Wie erwähnt, sind die Folgen dieser Unterstellung im Sozialrecht drastisch, weil die Annahme des Vorsatzes hier eine pauschalierende Bruttoberechnung mit erheblichen Säumniszuschlägen erlaubt und die Beitragspflicht einer Verjährung von 30 Jahren unterwirft.46 45 Erst spät erhielt der Tatbestand mit dem Gesetz zur Intensivierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit vom 23. Juli 2004 die übergreifende Funktion, jede illegale Beschäftigung zu erfassen, und verlor den Charakter der Untreue. Soweit nun auch die ,Scheinselbstständigen‘ als Fall der Schwarzarbeit angesehen wurden, diente der Tatbestand auch ihrer ,Bekämpfung‘. 46 § 25 Abs. 1 S. 2 SGB IV.

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Inzwischen ist der 1. Strafsenat dabei, sich vom Erbe Armin Nacks zu verabschieden.47 Dafür steht exemplarisch die Rechtsprechungsänderung beim Irrtum. Die in Frage stehende Entscheidung des 1. Strafsenats datiert vom 24. Sept. 2019 und betrifft den Vorsatz bei § 266a Abs. 1 StGB. Für die Änderung bedurfte es, Thomas S. Kuhn lässt grüßen, eines neuen Vorsitzenden und einer neuen Zusammensetzung des 1. Senats. Auch ein neuer Vorsitzender braucht einen Senat, der nicht mehr von Richtern geprägt ist, die der früheren Linie verhaftet sind, sondern von Richtern, die ihm Raum für eine Neuausrichtung geben. So war erst einige Jahre nach dem Ausscheiden von Armin Nack die Zeit der Wende gekommen. Zunächst sattelte der 1. Senat im Weg eines obiter dictum seine Pferde neu.48 Dabei erwies sich gerade der Umstand, dass die Steueranspruchstheorie ihre obiter dictum-Belagerung überstand, als günstig, um der Wende ein dogmatisch unwiderstehliches Gewand zu geben: „Da für die Differenzierung kein sachlicher Grund erkennbar ist und es sich jeweils um (normative) Tatbestandsmerkmale handelt, erwägt der Senat – insoweit entgegen den Überlegungen in dem Beschluss des Senats vom 8. September 2011 – 1 StR 38/11, NStZ 2012, 160, 161 Rn. 23 ff. –, zukünftig auch die Fehlvorstellung über die Arbeitgebereigenschaft in § 266a StGB und die daraus folgende Abführungspflicht insgesamt als (vorsatzausschließenden) Tatbestandsirrtum zu behandeln.“

Dieses obiter dictum wurde allenthalten mit Erleichterung aufgenommen.49 Schon nach nicht einmal zwei Jahren hat nun der Senat Nägel mit Köpfen gemacht, indem die Änderung der Vorsatzrechtsprechung eine tragende Rolle übernahm, was sich in der Veröffentlichung der Entscheidung in der Literatur in einem Leitsatz (der Redaktion) niedergeschlagen hat.50 Mit allseits zustimmenden Urteilsanmerkungen kann wieder gerechnet werden. Da die damit zurückgenommene Rechtsprechung zum Vorsatz gerade vom 1. Senat ausgegangen ist, ist schwerlich damit zu rechnen,

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Und wird unter den Strafsenaten allgemein nicht mehr als der „Olli Kahn“-Senat angesehen (vgl. oben Fn. 43). 48 Entscheidung vom 24. Jan. 2018. 49 Siehe nur MüKo-Radtke, 266a Rn. 90. Die zustimmenden Urteilsanmerkungen sind Legion. 50

1. Vorsätzliches Handeln ist bei pflichtwidrig unterlassenem Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen (§ 266 a I und II StGB) nur dann anzunehmen, wenn der Täter auch die außerstrafrechtlichen Wertungen des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts – zumindest als Parallelwertung in der Laiensphäre – nachvollzogen hat, er also seine Stellung als Arbeitgeber und die daraus resultierende sozialversicherungsrechtliche Abführungspflicht zumindest für möglich gehalten und deren Verletzung billigend in Kauf genommen hat. 2. Irrt der Täter über seine Arbeitgeberstellung oder die daraus resultierende Pflicht zum Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen, liegt ein Tatbestandsirrtum vor; an seiner entgegenstehenden, von einem Verbotsirrtum ausgehenden Rechtsprechung hält der Senat nicht fest.

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dass ein anderer Senat den Großen Senat anrufen wird.51 Während im Entstehungshorizont die Entwicklung auf gewisse Weise dramatisch verlaufen ist, verhält es sich im Begründungshorizont geradezu unspektakulär. Hier ist der 1. Strafsenat zu einer Rechtsprechung zurückgekehrt, die nun allen einleuchtet. Die genauen Folgen der Entscheidung für die Praxis bleiben abzuwarten.52 Bekanntlich ist die Vorsatzfeststellung eines Gerichts mit großen Spielräumen verknüpft. Insbesondere Puppe hat dies herausgestellt.53 Auch wenn man mit ihr von einem „Leerbegriff“ sprechen möchte, muss man sich nicht ihrer Folgerung anschließen. In der Praxis ist nämlich nicht zu erkennen, dass die Rechtsprechung damit vor einem „prinzipiell unlösbaren“ Problem stehe.54 Das illustriert im hiesigen Kontext der 5. Strafsenat in einer Entscheidung zum Vorsatz bei § 266a StGB, bei der er eine Anfrage beim 1. Senat wegen des erwähnten obiter dictum vom 24. Jan. 2018 vermeiden wollte, so dass auch nach der Kehrtwende des 1. Senats im Einzelfall harte Entscheidungen möglich sind.55 Das nimmt der Kehrtwende allerdings nicht ihre Wirkung. Zu beobachten bleibt auch die nicht unerhebliche Ausstrahlungswirkung auf andere Straftatbestände. Nicht zuletzt ist zu hoffen, dass die Renaissance des Irrtums nach § 16 StGB auch auf den Irrtum bei Verweisungstatbeständen ausstrahlt.56

Epilog Nach Erinnerung des Verfassers hat sich der Jubilar jenseits von strafrechtlichen Arbeitsgemeinschaften substantiell mit der juristischen Welt der Irrtümer erstmals befasst, als er als Assistent von Arthur Kaufmann das Angebot der „Zeit“ annahm, als Journalist für die Wochenzeitung zu arbeiten. Das erste „Dossier“, für das er verantwortlich war, galt dem mit dem Dossier berühmt gewordenen Fall des „Katzenkönigs“.57 Obiter dictu gesprochen wäre es erfreulich, wenn er einen weiteren Beitrag zur Irrtumsproblematik leisten würde. Dafür könnte er, seit Münchner Zeiten gleichfalls wohlvertraut mit der angloamerikanischen Philosophie, an den Beitrag des einstigen Münchner Weggefährten Ulfrid Neumann anschließen, um das normative Potential der Philosophie von Searle sub specie Irrtum bei institutionellen Tatsachen weiter auszuloten. Ad multos annos. 51 Man darf damit rechnen, dass die Anmerkungen zum obiter dictum fortgeschrieben werden und dass alsbald auch die Kommentarliteratur der geänderten Rechtsprechung folgen wird. 52 Siehe die Beiträge von Naucke, Pawlik und Roxin, in: FS Neumann, 201, 955, 985 und 1023. 53 Puppe, ZStW 103 (1991), 1 ff. 54 So bereits Prittwitz, 1993, und nochmals ders., Risikovorsatz und Vorsatzgefahr. Zum Verständnis und zur strafrechtlichen Relevanz des Verdrängens, FS Puppe, 2011, 819. 55 Urt. v. 13. Dez. 2018, GmbHR 2019, 278, 282. 56 So auch Brand, Urteilsanmerkung, NJW 2019, 3536. 57 Die Zeit, 23. Sept. 1988.

Was für ein Irrtum Von Heinz Koriath Als Putativnotwehr oder Erlaubnistatbestandsirrtum (im Folgenden möchte ich das Kürzel „Etbi“ verwenden) wird der folgende einfache Sachverhalt bezeichnet: Ein Aktor glaubt, er werde von einer Person angegriffen und verteidigt sich angemessen. Tatsächlich wurde er aber gar nicht angegriffen; wäre er aber, wie angenommen, angegriffen worden, dann wäre seine Verteidigungshandlung gerechtfertigt gewesen. Als Beispiel für einen „Etbi“ soll uns dieser Fall dienen: Frau A verweilt allein in ihrer geräumigen Villa, als sie plötzlich und unerwartet zur mitternächtlichen Stunde unklare Geräusche an der Haustür wahrnimmt. Wer um alles in der Welt versucht da in ihr Haus einzudringen? Ihr Gatte kann es doch nicht sein, den erwartet sie erst morgen von einer Geschäftsreise zurück. Also muss es ein Einbrecher sein, der weiß Gott welche Absichten verfolgt! Soeben öffnet diese ungebetene Person die Tür zum Wohnraum, da schießt Frau A gezielt auf den unerkannten Eindringling. (Für solche Fälle hat Frau A stets einen Revolver griffbereit1.) Er bricht schwer verletzt zusammen. Erst jetzt erkennt Frau A, dass sie ihren Gatten verwundet hat, der früher als erwartet von seiner Geschäftsreise zurückgekommen ist. Ist Frau A einer gefährlichen Körperverletzung (§ 224 StGB) schuldig? Die besondere Eigenschaft dieser Fälle liegt darin, dass ein Aktor sich über eine wesentliche Bedingung (oder einen wesentlichen Umstand) seiner Handlung irrt: Er setzt einen Sachverhalt, nämlich einen (rechtswidrigen) Angriff, voraus, der aber in Wirklichkeit nicht besteht. Und deshalb glaubt der Aktor (der „Defensor“), er dürfe sich verteidigen. Das würde er aber nicht glauben, wenn er sich über eine tatsächliche Bedingung („Angriff“) seiner „Verteidigungshandlung“ nicht geirrt hätte. Vielleicht ist es möglich, die besondere Eigenschaft der Fälle, die unter den „Etbi“ fallen, auch noch anders (oder besser) zu beschreiben. Doch in jeder Beschreibung müssen – m. E. – diese beiden Elemente enthalten sein: Weil ein Aktor sich über eine (empirische) Bedingung seiner „Verteidigungshandlung“ („Angriff“) irrt, nimmt er an, er dürfe sich verteidigen. Eigentlich besteht also der „Etbi“ aus zwei Irrtümern oder noch etwas genauer: Aus einer Art „Grundirrtum“ über einen empirischen Sachverhalt („Angriff“) und einem daraus resultierenden – sagen wir – „Folgeirrtum“ über das Erlaubtsein der „Verteidigungshandlung“.

1 Dass der „Etbi“ durchaus kein Fall aus der umfänglichen Lehrbuchkriminalität ist, zeigt der kürzlich vom BGH entschiedene „Hells Angels“-Fall; BGH NStZ 2012, 272 ff.

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Für Irrtümer dieser Art gibt es keine gesetzliche Regelung; ausdrücklich hatte der Gesetzgeber in der jüngeren Vergangenheit eine legislative Regelung offen gelassen, um die wissenschaftliche Lösung des „Etbi“, die damals wie heute äußert umstritten war und ist, nicht zu präjudizieren.2 Der Streit geht im Kern – und zunächst grob formuliert – um die Frage, ob Fälle dieser Art eher den Tatbestandsirrtümern (§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB) oder den Verbotsirrtümern (§ 17 S. 1 StGB) zugeordnet werden könnten; (wenn meine obige Beschreibung nicht ganz falsch sein sollte, dann sind – prima facie – beide Zuordnungen nicht ganz unplausibel; vielleicht erklärt das schon die Heftigkeit und Langwierigkeit des Streits). Von den – kaum noch überschaubaren3 – „Lösungsvorschlägen“ sind aber allenfalls vier Ansätze einer ernsthaften Prüfung würdig. Im Streit befinden sich die „strenge“ (II.) und die „eingeschränkte“ (I.) Schuldtheorie, die „rechtfolgenverweisende Schuldtheorie“ (III.) und die „Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen“ (IV.). Aber auch diese vier „Theorien“ sollte man nicht – wie es in der Sekundärliteratur leider vielfach üblich ist – einfach aneinanderreihen. Tatsächlich haben nur die Theorien (I.) – (III.) eine gemeinsame (Grund-)Prämisse, nämlich den dreigliederigen Deliktsaufbau; Theorie (IV.) konstruiert den Verbrechensbegriff anders, nämlich zweigliederig. Und daraus folgt: die Theorien (I.) – (III.) und (IV.) widersprechen sich gar nicht. Und noch ein weiterer Punkt verdient vorab Beachtung: Die Kontroverse verläuft direkt („konträr“) zwischen (I.) und (II.) der „eingeschränkten“ und der „strengen“ Schuldtheorie. (III.) ist dagegen – sagen wir es ruhig ganz deutlich – leider nur mehr ein fauler Kompromiss.4 Die eigentliche Frage lautet also: Wenn wir von dem dreigliederigen Deliktsaufbau ausgehen sollen (und das sollen wir ja nach ganz h.M.5), ist dann (I.) oder (II.) vorzugswürdig?

I. Die eingeschränkte Schuldtheorie Nach der Mehrheitsmeinung schließt ein „Etbi“, wie bekannt, den Vorsatz des Aktors aus. Danach hat Frau A ihren Gatten nicht vorsätzlich verletzt und ist daher einer Körperverletzung auch nicht schuldig. Insoweit besteht Konsens. Nicht recht klar ist aber die Begründung dieses Konsenses. Die stetig wiederholte, gleichwohl lapidare Bemerkung, in der Situation des „Etbi“ verhalte sich der sich irrig Vertei2 Nachweise bei C. Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, S. 622 Rn. 53. 3 Einen vorzüglichen Überblick über den Streitstand gibt C. Roxin (Fn. 2), S. 622 – 626; Roxin hatte den Streit um den „Etbi“ bereits 1973 (!) als „Theorienwirrwarr“ (Fn. 2), S. 626 Fn. 88 abgewertet. In den folgenden Jahrzehnten hat sich die Lage nicht verbessert. 4 B. Schünemann drückt sich, wie so häufig, ein wenig deutlicher aus: Für ihn ist dieser Theorietyp eine „dogmatische Missgeburt“ (Nachweis bei C. Roxin (Fn. 2), S. 630 Fn. 103). 5 Obwohl Roxin die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen logisch und dogmatisch für gut vertretbar hält, plädiert er aber schlussendlich doch (m. E. aus traditionellen Gründen) für einen dreigliedrigen Deliktsaufbau; C. Roxin (Fn. 2), S. 286 ff.

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digende (also Frau A) „an sich rechtstreu“6 ist zu vage, trifft nicht den Kern des Irrtums. Ich möchte ein anderes Argument konstruieren, das in einer Analogie zweier Figuren besteht, nämlich derjenigen, die eine Handlung vollzieht und dabei einen „Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört“ (sich also nach § 16 Abs. 1 S. 1 StGB in einem Tatbestandsirrtum befindet) und derjenigen, die in Putativnotwehr handelt, die sich also verteidigt, weil sie annimmt, sie werde angegriffen. Der Analogieschluss geht so: So wie man voraussetzt, dass ein Aktor seine inkriminierte Handlung nicht vollzogen hätte, wenn er gewusst hätte, dass sie eine schlimme Folge haben würde (der also in einem Tatbestandsirrtum befangen ist), so hätte auch der „Defensor“ sich nicht „verteidigt“, wenn er erkannt hätte, dass er gar nicht angegriffen wurde. Hätte Frau A also erkannt, dass der „Einbrecher“ gar kein Einbrecher ist, sondern ihr Gatte, dann hätte sie ihn selbstverständlich nicht so übel verletzt. Das Argument ist ebenso schlüssig wie überzeugend; die Analogie wird begründet durch dieselbe psychische Disposition (Irrtum über eine wesentliche tatsächliche Bedingung einer Handlung) der Aktoren. Hinzu kommt noch eine konstruktiv-methodische Nachbemerkung. Nach der Lehre vom dreigliederigen Deliktsaufbau bezieht sich § 16 Abs. 1 S. 1 StGB (direkt) auf die Verbotsnorm. Weil aber, wie hoffentlich gezeigt, zwischen den Irrtümern der zwei Figuren eine hinreichende Analogie besteht, so kann auf den „Etbi“ § 16 Abs. 1 S. 1 StGB analog angewendet werden. Schließlich ist auch aus rechtsethischen („nullum crimen, nulla poena sine lege stricta“) und methodischen Gründen gegen eine Analogiebildung kein Einwand zu erheben. Aus rechtsethischen nicht, weil die Analogie in diesem Fall den Aktor ja nicht belastet, sondern im Gegenteil, für ihn günstig ist („Vorsatzausschluss“) und aus methodischen Gründen nicht, weil die Voraussetzung für eine Analogiebildung, die sog. planwidrige Gesetzeslücke, hier offensichtlich gegeben ist, weil der Gesetzgeber die Lösung des „Etbi“ der dogmatischen Wissenschaft zugewiesen hat. Ich fasse zusammen: Die von der Mehrheitsmeinung vertretene sog. eingeschränkte Schuldtheorie hat eine plausible Lösung des „Etbi“ anzubieten. Bevor wir uns aber endgültig für sie entscheiden, sollten wir noch einen (genaueren) Blick auf die konkurrierenden Ansätze werfen.

II. Die strenge Schuldtheorie Das (konträre) Gegenstück zu (I.) bildet die sog. strenge Schuldtheorie. Danach fällt der „Etbi“ unter § 17 S. 1 StGB. Der prominenteste und konsequenteste Vertreter dieser Lehre, ja ihr Begründer, war H. Welzel. Zu der Frage nach dem Wesen und der strafrechtlichen Würdigung des „Etbi“ hat Welzel außerordentlich viele Arbeiten 6

Nachweis bei K. Kühl, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2012, S. 465 Rn. 72.

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publiziert.7 Auch hat sich seine Ansicht hierzu von der zweiten bis zur letzten Auflage seines bedeutenden Lehrbuches um kein Jota verändert.8 Weil die Kontroverse nicht nur auf ihrem Höhepunkt mit „scholastischem Raffinement“9 ausgetragen worden ist, ist auch die Rekonstruktion der Welzelschen Argumentation nicht ganz leicht. Eine faire Würdigung seiner Position – leider ist die Sekundärliteratur in diesem Punkt nicht selten viel zu oberflächlich10 – setzt aber eine möglichst vollständige Beschreibung, Analyse und schließlich Kritik seiner Argumentation voraus. Das möchte ich in drei Schritten tun. Begonnen sei mit Welzels Beschreibung des „Etbi“ (1.). Die in (1.) gesetzte These wird aber noch doppelt (argumentativ) abgesichert: durch Welzels Lehre vom Tatbestand (2.) und durch seinen aufwendigen Versuch, die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen („LnT“), zu widerlegen (IV.). Die Dinge hängen logisch zusammen: Wer Welzels Kritik an der „LnT“ und außerdem seine Tatbestandskonstruktion akzeptiert, der hat auch einen guten Grund Welzels Lösung des „Etbi“ zu akzeptieren. 1. Welzels „Etbi“ Welzel schreibt: „Wer einen anderen körperlich verletzt, weil er sich von ihm angegriffen wähnt (Putativnotwehr) … begeht … eine vorsätzliche Körperverletzung in der Meinung, zu ihr berechtigt zu sein. Er handelt nicht in Tatbestandsunkenntnis, sondern lediglich im Verbotsirrtum.“11 Das ist Welzels stetig wiederholtes ceterum censeo. In meinem Demonstrationsfall verletzt Frau A ihren Gatten danach vorsätzlich („exakt juristisch“, wie Welzel gelegentlich betont), indem sie einen gezielten Schuss gegen ihn abfeuert. Welzel muss – vorbehaltlich der beiden noch folgenden „Absicherungen“ – diese Eigenschaft des „Etbi“ für evident gehalten haben. Aber ist es wirklich so einfach? 7 Ich habe folgende Quellen studiert: H. Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems (1951), S. 51 (Fn. 2) – 54; den Erlaubnistatbestandsirrtum betreffend ist diese „Fn. 2“ die vermutlich wichtigste Quelle; ders., Nochmals der Verbotsirrtum, NJW 1951, S. 577 – 579 (578); ders., Anmerkung, JZ 1952, S. 340 – 344 (343); ders., Anmerkung, JZ 1952, S. 596 – 599; ders., Der Irrtum über einen Rechtfertigungsgrund, NJW 1952, S. 564 – 566 (564); ders., Die Regelung von Vorsatz und Irrtum im Strafrecht als legislatorisches Problem, ZStW 67 (1955), S. 196 – 228 (208 – 214); ders., Der übergesetzliche Notstand und die Irrtumsproblematik, JZ 1955, S. 142 – 144 (143, 144); ders., Diskussionsbemerkungen zum Thema „Die Irrtumsregelung im Entwurf“, ZStW 76 (1964), S. 619 – 632 (630, 631). 8 Vgl. H. Welzel, Der Allgemeine Teil des deutschen Strafrechts, 2. Aufl. 1943, S. 95; ders., Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 168. 9 So bewertet K. Engisch, Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum bei Rechtfertigungsgründen, ZStW 70 (1958), S. 566 – 615 (567) die hin und her wogende Kontroverse. 10 So begnügt sich sogar H.-H. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 1988, S. 417 mit der Bemerkung, dass Welzels Lösung „zu Ergebnissen führt, die mit dem Rechtsgefühl mitunter nicht vereinbar sind“. 11 H. Welzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems, 1951, S. 51; ders., Lb11, S. 168; Hervorh. von H. K.

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Natürlich ist es trivial wahr, dass Frau A sich nicht über die Folgen ihrer Handlung (die Wirkung des Schusses) geirrt hat, sie irrte sich aber sehr wohl über die Voraussetzungen (ich werde angegriffen) ihrer tragischen „Verteidigungshandlung“. Gehören nicht aber auch die Voraussetzungen (der Handlungskontext) ebenso wie die Folgen zu den empirischen „Umständen“ einer individuellen Handlung? In der philosophischen Handlungstheorie ist dieser Punkt ganz unstrittig. Nach Welzel aber offenbar nicht! Meine Vermutung ist: Entweder beschreibt Welzel den „Etbi“ unvollständig oder er gewichtet eine wesentliche Eigenschaft dieses Irrtums nicht angemessen, nämlich den Irrtum des „Defensors“ über eine empirische Bedingung seiner Handlungssituation, des „Angriffs“. Wenn der Aktor glaubt, dass er zur Verteidigung berechtigt ist (hier liegt Welzels Verbotsirrtum), so doch nur, weil er auch glaubt, dass er angegriffen wird. Der Verbotsirrtum ist nur eine Folge des „Tatbestandsirrtums“ – jedenfalls die Folge eines Irrtums über etwas Tatsächliches. Der Schwerpunkt des Irrtums liegt im Faktischen. Vielleicht hat Welzel selbst bemerkt, dass seine Begründung etwas defizitär ausgefallen ist, denn er hat anschließend noch ein weiteres Argument vorgetragen, nämlich dies: „Wenn man schon die These der Schuldtheorie akzeptiert, daß der Tatbestandsvorsatz die Anregung gibt, über Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit der Tat nachzudenken, so muß für denjenigen, der über das strafrechtliche Verbot nicht einmal im Unklaren ist, sondern glaubt, wegen des Vorliegens eines rechtfertigenden Sachverhalts dennoch den Verbotstatbestand verwirklichen zu dürfen, erst recht gelten, daß er die sachlichen Voraussetzungen seiner Annahme prüfe.“12 Aber dieses Argument verbessert Welzels Position nicht. Ihm ist stets entgegengehalten worden (z. B. von K. Engisch13), dass die Verbotsnorm („Du sollst nicht töten!“) auf denjenigen Aktor keine psychische Wirkung entfaltet, der – wenn auch irrig – annimmt, er befände sich in einer Situation, in der er zum Vollzug einer „an sich“ verbotenen Handlung berechtigt sei. Ob es sich hierbei um einen vermeidbaren oder unvermeidbaren Irrtum handelt, spielt an dieser Stelle gar keine Rolle, weil auch ein vermeidbarer Irrtum das Handeln des Aktors determiniert. Es gibt in diesem Zusammenhang aber noch ein Problem, das in der Literatur wenig bis gar nicht beachtet wird: Passt der „Etbi“ eigentlich strukturell-dogmatisch zum Verbotsirrtum? Natürlich hat Welzel dieses Problem klar erkannt. Er schreibt: „Man muß sich … hüten, aus dem Wort ,Verbotsirrtum‘ zu schließen, der Irrtum über die Rechtswidrigkeit betreffe lediglich den Irrtum über die abstrakten, allgemeinen Regeln des Handelns und nicht auch über die konkrete Rechtswidrigkeit der Tat.“14 Tatsächlich ist aber der Gegenstand eines indirekten Verbotsirrtums eine generelle Norm. Doch begründet Welzel – soweit ich wiederum die Literatur übersehe – an keiner Stelle seines Werkes diese Erweiterung des Verbotsirrtums. Es bleibt bei der apodiktischen Rede. Ja, Welzel hält diese Erweiterung nur mehr für eine „termi12

H. Welzel, Lb11, S. 168/169. K. Engisch (Fn. 9), S. 599. 14 H. Welzel, Lb11, S. 167. 13

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nologische Klarstellung“. Das ist sie gewiss nicht. Auch hat Welzel an anderer Stelle15 das genaue Gegenteil vertreten, dass nämlich Gegenstand des Verbotsirrtums nicht die normative Eigenschaft einer individuellen Handlung, sondern generelle Normen sind. Dieser Punkt muss weiterhin als offene Frage behandelt werden. 2. Welzels Begriff des Tatbestandes Beginnen wir wieder mit dem entscheidenden Zitat. Welzel schreibt: „Da die Rechtfertigungsgründe nicht die Tatbestandsmäßigkeit, sondern nur die Rechtswidrigkeit beseitigen, wird auch durch die irrige Annahme eines Rechtfertigungsgrundes nicht der Tatvorsatz […] ausgeschlossen.“16 Zum Hintergrund dieser originellen These gehört – abgesehen von der noch zu thematisierenden Polemik gegen die „LnT“ – Welzels Lehre über das Verhältnis von Tatbestand und Rechtswidrigkeit. Zusammen mit der Verbotsnorm17 („Du sollst nicht töten!“) bildet der objektive und subjektive Tatbestand – „[…] die konkrete Beschreibung des verbotenen Verhaltens […]“18 – die sog. Norm-19 oder Verbotsmaterie20. Diese (problematische) Ordnung ist aber in diesem Kontext nicht das Entscheidende, sondern eine bestimmte Eigenschaft dieser „Verbotsmaterie“. Sie ist nämlich – nach Welzels Lehre – hochresistent gegen Rechtfertigungsgründe: „die Notwehr hebt nicht die Verbotsmaterie […] auf.“21 Daraus kann man unschwer den Schluss folgern, dass der Vorsatz als Element des Tatbestandes (Welzels notorische Rochade) und dieser wiederum als Teil der resistenten Normmaterie weder durch Rechtfertigungsgründe noch gar durch die irrige Annahme eines „Etbi“ tangiert wird. Ich vermute, dieses war Welzels wichtigstes Argument gegen den Vorsatzanschluss. Bevor man diese Konstruktion akzeptiert, sollte freilich dreierlei beachtet werden: (i) Nur en passant sei bemerkt, dass Welzels imperativische Fassung der Strafrechtsnorm der modernen Normlogik nicht mehr entspricht. (ii) Dasselbe gilt für seine Deutung des Verhältnisses von tatbestandsmäßig und rechtswidrig. In der Normlogik gilt, dass die Erlaubnisnorm (Notwehr) die Verbotsnorm (Tötungsverbot) derogiert, sodass der Tötungsakt erlaubt, freigestellt ist. Nach Welzels „Resistenztheorie“ jedoch bleibt auch der durch Notwehr gedeckte Tötungsakt verboten, weil tatbestandsmäßig – das ist ein deontischer Widerspruch. (iii) Schließlich enthält diese Konstruktion wohl noch einen Zirkel: Wenn die Rechtfertigungsgründe nicht 15 H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl. 1962, S. 36 – 37; ders., Der Irrtum über die Rechtswidrigkeit des Handelns, in: ders.; Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie, 1975, S. 250 – 257 (251). 16 H. Welzel (Fn. 11), S. 51; ders., Lb11, S. 169. 17 H. Welzel, Lb11, S. 50. 18 H. Welzel, Lb11, S. 51. 19 H. Welzel, Lb11, S. 50. 20 H. Welzel, Lb11, S. 51. 21 H. Welzel, Lb11, S. 81.

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den Tatbestand, sondern nur die Rechtswidrigkeit ausschließen – schließen die Rechtfertigungsgründe sich dann selbst aus?

III. Die rechtsfolgenverweisende Schuldtheorie Jescheck beschreibt sie so: „Richtig ist dagegen die im Vordringen begriffene Lehre, wonach der Irrtum über die Voraussetzungen eines anerkannten Rechtfertigungsgrundes allein in den Rechtsfolgen dem § 16 untergeordnet wird, so daß der Täter, obwohl er vorsätzliches Handlungsunrecht verwirklicht, nur wegen Fahrlässigkeit bestraft wird […] Der Grund für die Privilegierung […] ergibt sich aus dem Rechtfertigungsbewußtsein des Täters, das hier auf einen anerkannten Rechtfertigungsgrund bezogen ist (der Täter glaubt, rechtmäßig […] zu handeln). Zum anderen ist auch der Schuldgehalt der Tat deutlich herabgesetzt: die Motivation, die zur Bildung des Tatvorsatzes geführt hat, beruht nicht auf mangelhafter Rechtsgesinnung, sondern auf unsorgfältiger Prüfung der Situation. Wenn der Täter irrig die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes annimmt, fehlt es an dem für Vorsatzdelikte so typischen Abfall von den Wertvorstellungen der Rechtsgemeinschaft […]“22 Auch zu diesem „Theorietyp“ gibt es inzwischen zahlreiche Variationen.23 Empfehlenswert ist dieser Ansatz aber nicht und zwar aus den folgenden Gründen. Wie leicht zu sehen ist, besteht die sog. rechtsfolgenverweisende Schuldtheorie zunächst ja nur aus einer Kombination der in der Literatur gängigen Argumente der strengen und eingeschränkten Schuldtheorie. Eine solche Kombination begründet aber nicht schon eine neue Theorie. Auch sind ja die Proponenten beider Theorien der Ansicht, sie ständen konträr zueinander, schlössen sich aus! Welcher Logik folgt dann aber die hier vorgelegte „Kombinationstheorie“? Sodann ist die Folge dieser Theorie – „so daß der Täter, obwohl er vorsätzliches Handlungsunrecht verwirklicht, nur wegen Fahrlässigkeit bestraft wird“ – nicht zu akzeptieren, weil (ebenfalls) widersprüchlich. Entweder Vorsatz oder Fahrlässigkeit. Zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit besteht nach h. L. ein großer Graben, ein aliud, kein Kontinuum. Der (vermeintliche) Grund für diese verworrene Konstruktion liegt in der Teilnahmelehre, vor allem im Akzessorietätsprinzip. Dazu abschließend noch einige Bemerkungen. Nehmen wir an, Frau A hat den Revolver, mit dem sie den „Einbrecher“ schwer verletzte, von ihrem Liebhaber L bekommen. (L trägt in „bestimmten Situationen“ immer einen Revolver bei sich.) Wie könnte L sich strafbar gemacht haben? Falls man L z. B. der Beihilfe (§ 27 StGB) schuldig sprechen möchte, so setzt der Vorwurf nach dem Akzessorietätsprinzip konstruktiv voraus, dass Frau A ihrerseits einer sog. rechtswidrigen Haupttat (§ 224 StGB) schuldig ist. Das ist unproblematisch, wenn man A’s Irrtum – wie es die strenge Schuldtheorie vorschlägt – als 22 23

H.-H. Jescheck (Fn. 10), S. 418. Nachweise bei Roxin (Fn. 2), S. 624.

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Schuldproblem, als Verbotsirrtum (§ 17 StGB) einordnet. Auch wenn A in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum gehandelt haben sollte, so wird A zwar nicht selbst bestraft, aber das, was sie getan hat – den „Einbrecher“ schwer zu verletzen – bleibt dennoch, so will es die strenge Schuldtheorie, eine vorsätzliche und selbstverständlich rechtswidrige Tat. Daran ist eine Teilnahmehandlung konstruktiv möglich. Die Frage, ob L sich einer Beihilfe (§ 27 StGB) schuldig gemacht haben könnte, ist jedenfalls konstruktiv (dogmatisch, das Akzessorietätsprinzip) möglich. Das ändert sich grundlegend, falls man A’s Irrtum nach der Regel der eingeschränkten Schuldtheorie behandelt. A’s Irrtum führt dann ja zum Vorsatzausschluss. Ein Verhalten, das wohl den objektiven, nicht aber den subjektiven Tatbestand einer Verbotsnorm erfüllt, ist aber nach dem Akzessorietätsprinzip (scil.: vorsätzliche und rechtswidrige Haupttat) keine Haupttat, an der eine Teilnehmerhandlung konstruktiv möglich wäre. Die Frage, ob L sich einer Beihilfe (§ 27 StGB) schuldig gemacht haben könnte, wäre quasi per se falsch gestellt. Die Proponenten der sog. rechtsfolgenverweisenden Schuldtheorie finden diese Konsequenz geradezu unerträglich; sie befürchten Strafbarkeitslücken. Wenn andererseits auch die Lösung der strengen Schuldtheorie bei diesen Autoren keine Akzeptanz finden kann, dann gilt es offenbar nach einer Art konstruktivem Kompromiss zu suchen. Das ist die rechtsfolgenverweisende Schuldtheorie, die aber – m. E. – wegen der eklatanten Widersprüche zu verwerfen ist. Die Sorge einiger Autoren, die eingeschränkte Schuldtheorie führe zu Strafbarkeitslücken, ist ebenfalls eher akademischer Art. Es gibt zwei Möglichkeiten: Falls auch L – wie Frau A – glaubte, der „Einbrecher“ sei ein Einbrecher, dann unterliegt er demselben Irrtum wie A. Falls L aber – anders als Frau A – den wahren Sachverhalt durchschaute und A dennoch den Revolver in die Hand gab – aus Gründen, denen nachzugehen die Phantasie keine weitere Probleme haben wird –, dann ist L nicht nur ein (vergleichsweise) harmloser Gehilfe, sondern ein raffinierter Täter, dogmatisch: ein sog. mittelbarer Täter (§ 25 Abs. 1, 2. Variante StGB). Wo also soll eine Strafbarkeitslücke sein?

IV. Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen Nach der „LnT“ wird der Tatbestand einer strafrechtlichen Sekundär- oder Sanktionsnorm (Wenn T, soll R sein) aus einer Verbots- und einer Erlaubnisnorm gebildet. Nur der Aktor, der tötet ohne gerechtfertigt zu sein, erfüllt den Tatbestand des Tötungsverbots. Wer dagegen in Notwehr tötet, erfüllt per se nicht den Tatbestand des Tötungsverbots. Dann: Die Formulierung in § 16 Abs. 1 S. 1 StGB „Wer […] einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört […]“ bezieht sich gleichzeitig auf den objektiven Tatbestand der Verbotsnorm und den objektiven Tatbestand der Erlaubnisnorm („Angriff“). Auf die irrige Annahme einer Notwehrsituation direkt bezogen: Wenn der Aktor annimmt, er werde angegriffen, so ver-

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kennt er einen „Umstand […], der zum […] Tatbestand gehört“ (§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB), denn nach der „LnT“ sind ja Erlaubnisnormen – also auch die tatsächlichen Voraussetzungen der Erlaubnisnormen, um es zu wiederholen – Teile des Tatbestandes. Indem die „LnT“ den „Etbi“ unter § 16 Abs. 1 S. 1 StGB subsumiert, führt sie im Ergebnis zum Vorsatzausschluss. Frau A wäre danach also eines Körperverletzungsdeliktes nicht schuldig. Die „LnT“ ist in sich völlig stimmig; vor allem ist das Verhältnis von „verboten“ und „erlaubt“ ohne deontischen Widerspruch (Derogation). Auch die Lösung des „Etbi“ ist nach dieser Lehre dogmatisch einwandfrei. Aber Welzel hält die „LnT“, so wörtlich, für „offenkundig falsch“. Warum ist die Konstruktion falsch? Welzel vermutet zunächst, dass die „LnT“ eine Folge („späte Nachblüte“)24 der rechtspositivistischen Imperativentheorie ist. Ihr wesentlicher Mangel ist, dass in dieser oberflächlichen rechtspositivistischen Normtheorie wesentliche „sachlogische“ Unterschiede verloren gehen. Dem oberflächlichen Rechtspositivismus setzt Welzel mit hinreichender Deutlichkeit eine naturrechtliche Position entgegen. Er schreibt: „Das geschichtlich geprägte soziale Leben trägt schon vor jeder gesetzlichen Vertypung Regel und Ordnung in sich […]“25 Bezogen auf das von der „LnT“ falsch konstruierte Verhältnis von Tatbestand und Rechtfertigung schreibt er dies: „Hinter der Tatbestandsmäßigkeit und den Rechtfertigungsgründen des Strafrechts stehen materiale Unterschiede, die der Gesetzgeber nicht schafft, sondern weitgehend vorfindet und die nicht etwa bloß technische oder gar bloß sprachliche Zufälligkeiten sind […]“26 Direkt auf die „LnT“ bezogen liegt „(i)hr Fehler […] im Folgenden: Sie verkennt eine besondere Wertungsstufe des Rechts, nämlich die Sphäre des Erlaubten gegenüber der des rechtlich Irrelevanten.“27 Das ist Welzels Hauptargument, das er anschließend noch mit einigen Metaphern ausschmückt,28 die aber die beabsichtigte Wirkung, den Wert- oder materialen Unterschied zu verdeutlichen, eher verfehlen. Über den großen Kontext, Naturrecht oder Rechtspositivismus, in den Welzel seine Kritik an der „LnT“ (polemisch zugespitzt) eingebettet hat, möchte ich hier nicht diskutieren. Welzels These von der „besonderen Wertungsstufe des Rechts“ möchte ich an dieser Stelle nur die in der Normlogik übliche Rekonstruktion einer strafrechtlichen Norm, bestehend aus einer Primär- und einer Sekundärnorm entgegensetzen. In der Sekundär- oder Sanktionsnorm („Wer einen anderen Menschen (vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft) tötet, soll bestraft werden“) sind „Wertungsstufen“ nicht enthalten. Es geht, viel profaner, um Zurechnung. Alle Bedingungen des sog. Bedingungsnormsatzes (insbesondere auch Tatbestand und Rechtfertigung) stehen auf logisch gleicher Ebene. 24

H. Welzel, Lb11, S. 82. H. Welzel (Fn. 11), S. 52; Hervorh. von H. W. 26 H. Welzel (Fn. 11), S. 52; Hervorh. von H. W. 27 H. Welzel (Fn. 7), S. 211; Hervorh. von H. W. 28 H. Welzel (Fn. 11), S. 52; ders., Lb11, S. 81.

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Noch ein letzter Punkt scheint mir wichtig zu sein. Welzels Entgegensetzung des Erlaubten gegenüber dem rechtlich Irrelevanten ist – schief. Das Gegenstück zu einer strafrechtlich irrelevanten Handlungsweise, also einer Handlungsweise, die weder geboten noch verboten ist (z. B. die Lektüre juristischer Lehrbücher), ist eine Handlungsweise, die (strafrechtlich) geboten oder verboten ist (z. B. stehlen oder lügen). Das ist der direkte Gegensatz. Die Erlaubnisnorm bezieht sich auf rechtlich Relevantes. Eine Erlaubnisnorm für rechtlich Irrelevantes ist sinnlos. Ich fasse zusammen: Welzel hat die „LnT“, entgegen seinem Anspruch, nicht widerlegt. Die Lehre ist gut vertretbar. Aber die ganz h.M. geht nun einmal von einem dreigliederigen Deliktsaufbau aus. Unter diesen offenbar zu akzeptierenden Voraussetzungen ist die Kontroverse auf die eingeschränkte und strenge Schuldtheorie begrenzt; in dieser Alternative ist die eingeschränkte Schuldtheorie vorzugswürdig. Ich wünsche Reinhard Merkel alles Glück der Welt! Vielleicht darf ich noch einen bescheidenen, persönlichen Wunsch hinzufügen: Ich wünsche mir, dass Reinhard Merkel, ein Meister der deutschen Sprache, noch viele, viele Schriften publiziert. Ad multos annos!

Tatentschluss und Legitimation der Versuchsstrafbarkeit Von Uwe Murmann

I. Einleitung Es ist ein gewagtes Unterfangen, einen Festschriftenbeitrag zu einem Thema zu verfassen, das, soweit ersichtlich, nie im besonderen Fokus des Jubilars stand. Zur Rechtfertigung oder zumindest Entschuldigung mag darauf verwiesen werden, dass die gewählte Fragestellung doch immerhin Grundfragen der Legitimation von Strafbarkeit im Vorfeld der Tatbestandsverwirklichung betrifft. Da sich der Geehrte stets besonders für Grund- und Grenzfragen des Strafrechtseinsatzes interessiert hat, ist das Thema vielleicht doch nicht ganz unpassend, auch wenn es in handfester dogmatischer Einkleidung daherkommt. Die h.M. erblickt den Strafgrund des Versuchs bekanntlich nach der „gemischt subjektiv-objektiven Theorie“ in einer Manifestation des rechtsfeindlichen Willens.1 Dabei markiert die Grenze zwischen Vorbereitung und Versuch das objektive, wenn auch auf der Grundlage der Tätervorstellung zu beurteilende unmittelbare Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung. Dahinter steht ein Bild, wie es auch dem üblichen gutachterlichen Prüfungsaufbau entspricht: In subjektiver Hinsicht wird das Vorliegen eines Tatentschlusses vorausgesetzt, dessen Bestehen in zeitlicher Hinsicht unabhängig vom Versuchsbeginn gedacht wird. Der Vorsatz wird also nicht etwa deshalb in Frage gestellt, weil sich auf der nächsten Stufe zeigt, dass die Tat nicht bis in das Stadium des unmittelbaren Ansetzens gediehen ist.2 Diese Sichtweise vergibt das strafbarkeitsbegrenzende Potential, das in einer angemessenen Bestimmung des Vorsatzes enthalten ist. Eine präzisere Bestimmung des Vorsatzes in seiner Bedeutung für das Strafunrecht erlaubt dagegen eine Grenzziehung zwischen strafloser Vorbereitung und Versuch, die auch dem subjektiven Ausgangspunkt bei der Bestimmung des Versuchsunrechts gerecht wird.

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BGHSt 11 324 (326 f.); LK/Hillenkamp, 12. Aufl. 2007, Vor §§ 22 ff. Rn. 60 ff.; SSWStGB/Kudlich/Schuhr, 4. Aufl. 2019, § 22 Rn. 6; Murmann, Grundkurs Strafrecht, 5. Aufl. 2019, § 28 Rn. 31 f. 2 Dezidiert in diesem Sinne LK/Hillenkamp, § 22 Rn. 50.

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II. Zur Bestimmung des Vorsatzunrechts Die häufig zu findende Behauptung, der Vorsatz beim Versuch sei mit demjenigen bei vollendeter Tat identisch,3 bedarf zu ihrer Überprüfung zunächst einer Vergewisserung darüber, was den spezifischen Unrechtsgehalt vorsätzlichen Verhaltens ausmacht. Es ist dies die Entscheidung des Täters gegen das Rechtsgut.4 Diese Bestimmung erhält ihre Tragfähigkeit für die Begründung von Unrecht freilich erst eingebettet in ein Rechtsverständnis, bei dem der Täter als Mitkonstituent der Rechtsgüter verstanden werden kann. Es geht also nicht primär um die Entscheidung zugunsten der Verletzung eines konkreten Rechtsgutsobjekts5 – durch diese wird der Verletzungssinn vielmehr nur vermittelt. Rechtsgüter sind in diesem Zusammenhang „Daseinselemente der Freiheit“, die „in einem Prozess wechselseitiger Anerkennung konstituiert“ werden.6 In diesem Kontext kommt der „Entscheidung“ des Täters zugunsten der Tatbestandsverwirklichung eine Verletzungsmacht zu, die sich nicht nur auf äußere Objekte beschränkt, sondern das Verhältnis zum Opfer (wie auch zur Allgemeinheit) gerade in seiner Rechtlichkeit betrifft.7 Es zeichnet den Vorsatz (in Abgrenzung zur Fahrlässigkeit) also aus, dass der Täter bei Vornahme der rechtlich missbilligten Handlung den Anerkennungsanspruch, der von dem geschützten Rechtsgut (letztlich von dem dahinter stehenden Träger des jeweiligen Rechtsguts) ausgeht, nicht nur vernachlässigt, sondern negiert. Die vorstehenden Überlegungen basieren auf der Annahme, dass der Täter auch dazu in der Lage gewesen wäre, die Rechtsgutsverletzung zu unterlassen; der Begriff der „Entscheidung“ legt diese Möglichkeit zumindest nahe. Auf der Ebene des Unrechts wird diese Fähigkeit überwiegend generalisierend unterstellt; deren ausnahmsweises Fehlen wird als Frage der Schuld thematisiert. Mit der Teilhabe an der Rechtsgutskonstitution, die die Verletzbarkeit des Rechtsguts erst plausibel macht, ist ersichtlich ein voraussetzungsreicheres Verständnis von Freiheit vorausgesetzt, als es mit der Fähigkeit zur Entscheidung zwischen Alternativen angesprochen ist. Darin liegt eine Abweichung von der Position Reinhard Merkels, der schon der Möglichkeit des Andershandelnkönnens wie auch der Möglichkeit einer „mentalen Verursachung“ eher ablehnend als agnostisch gegenübersteht.8 Freilich hat Merkel diesen Standpunkt mit Blick auf die Schuld entfaltet und mehr beiläufig darauf ver3 LK/Hillenkamp, § 22 Rn. 31, 38; Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 15 Rn. 23 f.; Roxin, Strafrecht AT II, 2003, § 29 Rn. 71; SK-StGB/Stein, 9. Aufl. 2017, § 16 Rn. 27. A.A. Dold, Eine Revision der Lehre vom Rücktritt vom Versuch, 2017, S. 12 f., 63 ff.; Haas, ZStW 123 (2011), 257. 4 Roxin, JuS 1964, 58; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2011, § 8 Rn. 66; MüKo-StGB/Joecks, 3. Aufl. 2017, § 16 Rn. 12; Murmann, Grundkurs, § 24 Rn. 7; ferner – dezidiert zweckrational – Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 111. 5 Ebenso Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2. Aufl. 2014, S. 124. 6 Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, S. 165; Kahlo, FS Hassemer, 2010 S. 410 ff. 7 Grundlegend Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, S. 126 ff. 8 Vgl. Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, S. 9, 86 f., 114, 134.

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wiesen, dass es schon bei der Willenssteuerung der Handlung, also „beim Handlungsmerkmal im Tatbestand“ eine „überzeugende Antwort pro libertate“ nicht gebe.9 Bezogen auf den Vorsatz stellt sich die Frage freilich ebenso, jedenfalls dann, wenn sich der Vorsatz nicht darin erschöpft, dass der Täter sich bei seinen Verhaltensvollzügen gleichsam selbst zusieht, sondern man den Vorsatz als Teil eines Unrechthandelns versteht, das als Gegenstand eines persönlichen Vorwurfs in Betracht kommt. Damit ist noch nicht ausgeschlossen, dass den hier angestellten Überlegungen auch in einem Konzept Bedeutung zukommt, in dem den Möglichkeiten einer Willenssteuerung von Verhalten wie auch der Fähigkeit zum Andershandeln Absagen erteilt werden. Da ein solches Konzept freilich in hohem Maße kontraintuitiv ist, nämlich der „subjektive(n) Erfahrung menschlicher Entscheidungsmacht“10 zuwiderläuft, kann es nicht weiter erstaunen, wenn ein vom Alltagsverständnis geprägter Begriff wie der der „Entscheidung“ dann nicht die Bedeutung behalten kann, die ihm im Rahmen des geläufigen Weltbildes zukommt. In einem funktionalen, an faktischen Normstabilisierungsbedürfnissen orientierten Unrechtsverständnis,11 wird man es als „Entscheidung“ einer Person ausreichen lassen müssen, dass ihr ein normwidriges Verhalten zugeordnet werden kann. Ex post ist diese Zuordnung – nicht anders als bei einer als frei gedachten Entscheidung – unproblematisch möglich. Künftiges menschliches Verhalten bleibt freilich – und dieser Aspekt erlangt für den Versuch Relevanz – nie mit letzter Zuverlässigkeit prognostizierbar. Deshalb bleibt jeder Versuchsvorwurf zu Lasten eines Täters, der die Ausführungshandlung noch nicht vorgenommen hat, mit einem besonderen Legitimationsproblem belastet. Allerdings stellt sich die Legitimationsfrage völlig unterschiedlich in Abhängigkeit davon, ob die Ungewissheit daraus resultiert, dass der Täter als freie Person angesehen wird, oder ob sie daraus resultiert, dass ein determiniertes Entscheidungsverhalten aufgrund seiner Komplexität und der Unübersehbarkeit der Einflussfaktoren zwar theoretisch, aber nicht praktisch zuverlässig vorhergesagt werden kann. Während im ersten Fall eine kategoriale Ungewissheit besteht und damit der Versuchsbeginn mit Rücksicht auf die Entscheidungsfreiheit des Täters eng an das Ausführungsstadium herangerückt werden muss, steht die praktische Unaufklärbarkeit im zweiten Fall einer Vorverlagerung rechtlicher Reaktion nicht prinzipiell entgegen. Freilich wäre die Reaktion in einer gedachten Welt, in der die künftige Tatbegehung aufgrund der Kenntnis der Determinationsprozesse zuverlässig prognostizierbar wäre, wohl nicht strafrechtlicher Natur, da das Gefahrenpotential durch das Setzen anderer Determinanten, gewissermaßen durch „Umprogrammierung“, beherrschbar wäre. Es liegt auf der Hand – und ist Gegenstand der unterschiedlichen Theorien zu den an den Vorsatz zu stellenden Anforderungen –, dass man im Einzelnen darüber strei9

Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, S. 86 f. Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, S. 35. 11 In diesem Sinne Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, S. 124 ff. 10

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ten kann, welche Anforderungen an die den Vorsatz charakterisierende Entscheidung gegen das Rechtsgut zu stellen sind.12 Insbesondere kann man unterschiedlicher Auffassung hinsichtlich der Beantwortung der Frage sein, ob sich der Täter bereits dann gegen das Rechtsgut entschieden hat, wenn er trotz Kenntnis der Gefahr die unerlaubte Handlung vornimmt (kognitive Theorien), oder ob darüber hinaus auch eine voluntative Beziehung zur Verwirklichung der Tatumstände zu fordern ist (voluntative Theorien). Fordert man letzteres, so mag man ferner die Frage unterschiedlich beantworten, ob die Entscheidung bereits bei (im Rechtssinne) billigender Inkaufnahme der Verwirklichung der Tatumstände vorliegt oder etwa erst dann, wenn der Täter der Tatverwirklichung gleichgültig gegenübersteht. Unabhängig von der Diskussion um die Anforderungen an den Vorsatz im Einzelnen reicht es jedenfalls nicht aus, wenn der Täter eine rechtsgutsfeindliche innere Haltung einnimmt. Eine „Entscheidung“ verlangt vielmehr danach, dass der Täter seiner Haltung zum Rechtsgut durch eine Handlung Ausdruck verleiht,13 deren Vornahme gerade zum Schutz des betreffenden Rechtsguts verboten und unter Strafe gestellt ist. Erst damit hat sich der Täter für eine konkrete Situation auf die Missachtung des Rechtsguts verbindlich festgelegt, also eine abschließende Entscheidung gegen das Rechtsgut getroffen.14 Der Gesetzgeber bestimmt durch die Tatbestände, welche Entscheidungen des Täters als geistige Verletzungen des Anerkennungsverhältnisses zu werten sind.15 Zuvor bleibt die Einstellung des Täters lediglich vorläufig und im Grundsatz rechtlich irrelevant, auch wenn sie sich in straffreien Vorbereitungshandlungen manifestieren mag. Freilich lässt sich umgangssprachlich auch dann von einer „Entscheidung“ sprechen, wenn eine Person sich bereits vor Eintritt in das Stadium von deren Realisierung auf eine Position festgelegt hat. Aber hier bleibt stets die – normativ zu erwartende – Option, von dem gefassten deliktischen Plan wieder abzurücken. Der innerlich gebliebene oder lediglich in straffreien Vorbereitungshandlungen manifestierte Entschluss ist im Recht ohne Relevanz. Diese Einsicht wird mit dem Hinweis auf das geltende Tatstrafrecht nochmals betont; ihre Begründung reicht freilich tiefer und betrifft das Recht als solches.

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Überblick dazu etwa bei Murmann, Grundkurs, § 24 Rn. 21 ff. Vgl. Merkel, Willensfreiheit und strafrechtliche Schuld, S. 15 f. 14 Gegenüber der von Frisch, Vorsatz und Risiko, S. 112, für maßgeblich gehaltenen Schaffung „sozialpsychologische(r) Gefahren für die Rechtsgüterwelt“ ist ein solches Verständnis nicht zuletzt deshalb präziser, weil es nicht auf die Befindlichkeiten der anderen Mitglieder der Gesellschaft abhebt. Den Mangel an Präzision der Formulierung von der „Entscheidung gegen das Rechtsgut“ hatte Frisch (a.a.O., S. 111) zuvor selbst gerügt. 15 Insofern kommt dem Gesetzgeber eine Definitionsmacht darüber zu, welchen Verhaltensweisen als Ausdruck einer Entscheidung gegen ein Rechtsgut Relevanz zukommen kann. Es liegt auf der Hand, dass von dieser Warte aus gewisse Vorverlagerungen der Strafbarkeit kritisch gesehen werden können. Diese Kritik setzt üblicherweise an der noch geringen objektiven Gefährlichkeit solcher Verhaltensweisen an. Sie kann aber auch an der Frage ansetzen, ob der Täter in einem frühen Stadium bereits eine Entscheidung gegen das Rechtsgut getroffen hat. 13

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§ 16 Abs. 1 S. 1 StGB bringt das Erfordernis einer durch die Tathandlung manifestierten Entscheidung jedenfalls für das vollendete Delikt zum Ausdruck, wenn es dort heißt, dass der Täter nicht vorsätzlich handelt, wenn er „bei der Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört“. Damit ist nicht nur das Erfordernis des Vorliegens des Vorsatzes bei Vornahme der Ausführungshandlung zum Ausdruck gebracht, sondern zugleich klargestellt, dass ein Vorsatz jenseits des Ausführungszeitpunkts nicht vorliegt. Für das vollendete Delikt kann damit festgehalten werden, dass der Täter seine Entscheidung gegen das Rechtsgut durch einen Vorsatz trifft, der bei Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlung vorliegen muss und dieser Handlung das spezifische Gepräge gibt. Der „dolus antecedens“ ist demnach überhaupt kein Vorsatz.16 Auf den ersten Blick spielt die Einsicht, dass sich der Vorsatz in der Ausführungshandlung nicht nur manifestiert, sondern überhaupt erst seinen Charakter als Entscheidung erhält, bei der Vollendung keine Rolle, weil insoweit letztlich kein Zweifel daran bestehen kann, dass der Täter das Entscheidungsstadium durchlaufen hat. Ihre volle Relevanz entfaltet die Bestimmung des Zeitpunktes, zu dem der Täter seine Entscheidung gegen das Rechtsgut trifft, erst und gerade beim Versuch. Ohne jede Relevanz ist sie aber auch jenseits dieses Bereiches nicht. Verkannt wird das Fehlen eines rechtlich relevanten Tatentschlusses im Vorbereitungsstadium in der Lehre vom omnimodo facturus, derzufolge der bereits zur Tat Entschlossene nicht mehr angestiftet werden kann. Diese Lehre impliziert eine Selbstfestlegung der Person, die weder empirisch zutreffend noch normativ angemessen ist.17 Der „omnimodo facturus“ hat sich ersichtlich noch nicht abschließend auf die Tatbegehung festgelegt. So fest er auch entschlossen sein mag, gehört doch die Möglichkeit einer Änderung seiner Pläne zu seiner Freiheit.18 Ein abschließendes Urteil darüber, ob die Aufforderung des Anstifters die Entscheidung des Haupttäters beeinflusst hat, lässt sich erst fällen, wenn der Haupttäter seine Entscheidung tatsächlich getroffen hat, also im Stadium der Ausführung der Haupttat. Hier stellt sich die Frage, ob sich die Aufforderung im konkreten Tatentschluss realisiert hat. Der sogenannte omnimodo facturus kann danach – entgegen der ganz h.M. – durchaus angestiftet werden. Das wird anschaulich, wenn der zum Zeitpunkt der Aufforderung zur Tat Entschlos-

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Zutreffend Kühl, Strafrecht AT, § 5 Rn. 21. Zur Kritik SSW-StGB/Murmann, § 26 Rn. 6; Puppe, GA 1984, 117 ff.; eingehend Steen, Die Rechtsfigur des omnimodo facturus, 2011, S. 18 ff. 18 Satzger, JURA 2017, 1169 ff., wendet sich (S. 1170) gegen die Kritik an der Figur des omnimodo facturus mit dem Hinweis, auch bei § 30 StGB liege ein fester Entschluss vor. Das trifft es deshalb nicht, weil sich ein Entschluss im Sinne von § 30 StGB gerade nicht durch die Tatausführung in seiner Festigkeit erwiesen hat. Der Umstand, dass der Gesetzgeber auch vorläufige Entscheidungen wegen der mit ihnen verbundenen Gefahren unter Strafe stellt, bedeutet nicht, dass eine solche Entscheidung einen Tatentschluss im Sinne der §§ 16, 22 StGB darstellt. Demensprechend soll § 30 StGB die abstrakte Gefährlichkeit gruppendynamischer Prozesse kriminalisieren; SSW-StGB/Murmann, § 30 Rn. 1. 17

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sene es sich zunächst wieder anders überlegt, die Tat aber schließlich doch unter dem Eindruck der Aufforderung begeht.19

III. Der Vorsatz bei der versuchten Tat 1. Zum Zusammenhang von Vorsatz und Legitimation der Versuchsstrafbarkeit Das Unrecht der versuchten Tat wird üblicherweise in einer Manifestation der rechtsfeindlichen Gesinnung oder eines rechtsfeindlichen Willens des Täters erblickt.20 Dahinter steht in aller Regel das Bild eines Täters, der irgendwann – regelmäßig noch im Vorbereitungsstadium – einen rechtsfeindlichen Willen gefasst hat. Dieser rechtsfeindliche Wille manifestiert sich dann möglicherweise in unterschiedlichen, regelmäßig strafrechtlich noch irrelevanten Vorbereitungshandlungen, bis er schließlich zur Grundlage eines Verhaltens wird, das mit dem Prädikat „unmittelbares Ansetzen“ versehen den Eintritt in das Stadium des strafbaren Versuchs markiert.21 Die objektive Komponente komplettiert gleichsam das Versuchsunrecht und legitimiert in Verbindung mit dem zuvor bereits vorhandenen rechtsfeindlichen Willen, der nunmehr Vorsatz oder Tatentschluss genannt wird, die Versuchsstrafbarkeit. Die Eindruckstheorie fügt sich in dieses Bild ein: Rechtserschütternd wirkt der äußere Akt, wenn er – nach der Tätervorstellung – eine gewisse Nähe zur Tatbegehung erreicht hat. Dieses geläufige Bild verfehlt nach den bisherigen Überlegungen die unrechtskonstitutive Relevanz des Vorsatzes und damit auch dessen Relevanz für die Legitimation der Versuchsstrafbarkeit. Denn die den Vorsatz charakterisierende Entscheidung gegen das Rechtsgut liegt im Vorbereitungsstadium noch nicht vor. Freilich könnte man auf den ersten Blick annehmen, die Fehlvorstellung eines bereits im Vorbereitungsstadium vorliegenden Vorsatzes sei unschädlich, da die Versuchsstrafbarkeit jedenfalls erst im Stadium des unmittelbaren Ansetzens begründet ist. Aber die Annahme, der Entschluss zur Tatbegehung liege bereits im Vorbereitungsstadium vor und bedürfe zur Begründung der Strafbarkeit lediglich noch des Erreichens einer gewissen Nähe zur Tatverwirklichung, vergibt das den Umfang der Versuchsstrafbarkeit begrenzende Potential, das in einem zutreffend bestimmten Vorsatz enthalten ist. Die Orientierung an dem Gewicht des äußeren Beitrags, wie es insbesondere die Eindruckstheorie auszeichnet, verfehlt die Begründung und damit auch die Begrenzung der Versuchsstrafbarkeit. Dabei ist die Unterbestimmung der subjektiven Tatseite freilich schon in der herkömmlichen Umschreibung der subjektiven Versuchstheorie angelegt, wonach Strafgrund des Versuchs die betätigte „rechtsfeindliche Gesinnung“ sei. Diese Formulierung legt das Missverständnis nahe, es gehe bei 19

Steen, Die Rechtsfigur des omnimodo facturus, S. 164 ff. Siehe schon die Nachweise in Fn. 1. 21 In diesem Sinne etwa LK/Hillenkamp, § 22 Rn. 50. 20

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der subjektiven Seite der Tat um eine bestimmte geistige Haltung des Täters, deren praktischer Wirkmacht keine entscheidende Bedeutung zukommt. Vor diesem Hintergrund ist auch der häufig gegen die subjektive Versuchstheorie erhobene Vorwurf nachvollziehbar, diese tendiere zu einer unangemessenen Ausdehnung der Versuchsstrafbarkeit.22 Denn nimmt man an, dass der „endgültige Tatentschluss bereits Tage vor der Tat fallen“ könne,23 so vermag er das Versuchsstadium ersichtlich nicht zu begrenzen. Kombiniert man diesen Ansatz etwa mit der Eindruckstheorie, so hängt der Versuchsbeginn vom Empfinden der anderen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft ab, die auf die verbleibende Freiheit zur Abstandnahme von dem geplanten Vorhaben wenig Rücksicht nehmen werden. Eine angemessene Bestimmung der inneren Tatseite vermag also die gemischt subjektiv-objektive Theorie in ihrem subjektiven Ausgangspunkt entscheidend zu stärken. Damit wird schon deshalb ein berechtigtes Anliegen verfolgt, weil diese Theorie der gesetzlichen Regelung und auch den Vorstellungen des Gesetzgebers entspricht.24 Akzeptiert man die subjektive Begründung des Versuchsunrechts, so liegt das Legitimationsproblem beim Versuch nicht darin, dass die Tat nicht zur Vollendung kommt oder sogar objektiv völlig ungefährlich ist, sondern darin zu begründen, dass der Täter die erforderliche Entscheidung gegen das Rechtsgut getroffen hat. Die subjektive Theorie impliziert, dass bereits der sich selbst als verletzungsmächtig verstehende Wille im Falle seiner Objektivierung das Rechtsgut (des Opfers oder der Allgemeinheit oder des Staates) zu verletzen vermag.25 Nicht anders als beim Vollendungsunrecht kann die Entscheidung, die als Grundlage einer Versuchsstrafbarkeit in Betracht kommt, nicht ohne eine objektive Tatseite gedacht werden.26 Treffend schreibt Puppe: „Der strafrechtlich relevante Tatentschluss entsteht also erst mit und in der Tat. Wie der Wille die Tat, so macht erst die Tat den Willen.“27 Versteht man die subjektive Theorie in diesem Sinne, so ist die Sorge vor einer unangemessenen Ausweitung der Versuchsstrafbarkeit nicht berechtigt. Im Gegenteil: Weitaus zuverlässiger als eine an den Befindlichkeiten der anderen Mitglieder der Rechtsgemeinschaft orientierte Eindruckstheorie rückt sie „den Versuch hart an die Grenze der Tatbestandshandlung“.28 Denn der Täter muss seine Einstellung auch noch in einer Phase durchgehalten haben, in der es praktisch kein Zurück gibt und in der deshalb berechtigt gesagt werden kann, er habe sich für die Verletzung des Rechtsguts entschieden (näher unten 2. b)). Der Eintritt in das 22

So etwa Schönke/Schröder/Eser/Bosch, 30. Aufl. 2019, Vor §§ 22 ff. Rn. 21. LK/Hillenkamp, Vor §§ 22 ff. Rn. 50. 24 Eingehend LK/Hillenkamp, Vor §§ 22 ff. Rn. 60. 25 Dabei ist die grundsätzliche Bedeutung der subjektiven Tatseite kein Spezifikum des Versuchs, sondern liegt darin begründet, dass jede Veränderung der (sozialen) Wirklichkeit ihren Charakter als Versuchs- oder Vollendungsunrecht nur auf der Grundlage der Einstellung des Täters erhalten kann; vgl. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, S. 233. 26 Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, S. 246. (zum Begriff des „Tatentschlusses“). 27 Puppe, GA 1984, 117. 28 Roxin, Einführung in das neue Strafrecht, 1974, S. 15 f. 23

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Versuchsstadium muss von der vom Täter getroffenen Entscheidung her gedacht werden. Die äußeren Abläufe, also die Frage nach den erforderlichen Zwischenschritten, erhalten ihre Relevanz aus ihrer Aussagekraft darüber, wie weit der Täter ein Tatvorhaben durchgehalten und sich selbst auf dessen Realisierung festgelegt hat. Formulierungen wie die „Feuerprobe der kritischen Situation“29 oder die „Schwelle zum Jetzt geht es los“30 bringen den entscheidenden Punkt insofern besser zum Ausdruck als das Fehlen wesentlicher Zwischenschritte,31 wobei freilich zu betonen ist, dass die Versuchshandlung die Entscheidung nicht nur manifestiert, sondern Teil der Entscheidung selbst ist.32 Das ändert nichts daran, dass die Zwischenakttheorie gute Dienste leistet – sofern man ihre Aussagekraft hinsichtlich des Stadiums der Selbstfestlegung in den Blick nimmt. Für die Interpretation des Kriteriums der „Wesentlichkeit“ der Zwischenschritte stellt der Bezug zur Entscheidung des Täters eine deutliche Präzisierung und einen Schutz vor Fremdbestimmung dar. Schon aus dem Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 Abs. 2 GG) folgt, dass die gesetzlichen Straftatbestände vorgeben müssen, durch welche Verhaltensvollzüge sich der Täter auf eine Rechtsgutsverletzung verbindlich festlegt, also seine Entscheidung gegen das Rechtsgut trifft. Das gilt im Grundsatz auch für den Versuch. Freilich ist die Bindung an den Tatbestand in zweierlei Hinsicht zu modifizieren. Zum einen folgt aus der Maßgeblichkeit der subjektiven Tatseite, dass der Täter seine Entscheidung auch mit Handlungsvollzügen treffen kann, die nur auf der Grundlage der Tätervorstellung als tatbestandsmäßig anzusehen wären (so liegt es insbesondere beim untauglichen Versuch). Zum anderen erweitert § 22 StGB den Bereich des Versuchs über den Tatbestand hinaus auf die Phase des unmittelbaren Ansetzens. An dieser Stelle ist es erforderlich, nach dem Stadium zu differenzieren, in dem sich die Verwirklichung des Tatvorhabens befindet: 2. Zum Verhältnis von Vorsatz und Versuchsstadium Ausgehend von der Einsicht, dass der Vorsatz als Entscheidung gegen das Rechtsgut nicht ohne Bezug zur äußeren Tatseite gedacht werden kann, ist hier bereits festzuhalten, dass sich die Unterschiede im Verwirklichungsstadium auch auf die subjektive Tatseite auswirken müssen. Um diese Unterschiede genauer herauszuarbeiten, ist danach zu differenzieren, ob der Täter die tatbestandsmäßige Handlung bereits vorgenommen oder hierzu unmittelbar angesetzt hat. 29

Bockelmann JZ 1954, 473, der den maßgeblichen Zeitpunkt sodann dahingehend weiter charakterisiert, dass es der „Augenblick“ sei, „in dem die letzte maßgebliche Entscheidung über das Ob der Tat gefällt wird“. 30 BGHSt 26, 201, 203. 31 Freilich sind auch die subjektivierenden Formulierungen anfällig für Missverständnisse, insbesondere für die Vorstellung, der Täter müsse sich tatsächlich über eine Schwelle Gedanken machen und diese gleichsam definieren. Insofern geht es vielmehr um Fragen der rechtlichen Bewertung. 32 Puppe, GA 1984, 117.

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Diese Unterscheidung ist nicht (vollständig) identisch mit der in unbeendeten und beendeten Versuch beim Rücktritt. Naheliegend ist freilich die Intuition, dass der unbeendete Versuch das Stadium markiert, in dem der Täter (immer: auf der Grundlage seiner Vorstellung) die Ausführungshandlung noch nicht vorgenommen hat, während der beendete Versuch die Situation nach Vornahme der Ausführungshandlung betrifft.33 Ein solches Verständnis entspricht aber nicht dem im Rahmen von § 24 StGB zugrunde gelegten Verständnis der Begriffe. Zwar kann ein beendeter Versuch nicht vorliegen, wenn der Täter nach seiner Vorstellung die Ausführungshandlung noch nicht vorgenommen hat. Aber umgekehrt liegt ein beendeter Versuch (im Sinne der Rücktrittsdogmatik) nicht notwendig deshalb vor, weil der Täter die Ausführungshandlung vorgenommen hat. Denn hält man mit der Gesamtbetrachtungslehre für die Unterscheidung von unbeendetem und beendetem Versuch den Rücktrittshorizont für maßgeblich, so mag sich nach der Vornahme der Ausführungshandlung deren Ungefährlichkeit ergeben – und damit ein unbeendeter Versuch im Sinne von § 24 StGB vorliegen. a) Der Vorsatz bei Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlung Hat der Täter die tatbestandsmäßige Handlung vorgenommen, so besteht hinsichtlich des Handlungsunwerts kein Unterschied zum vollendeten Delikt.34 Der Täter hat seine Entscheidung gegen das Rechtsgut mit der Vornahme der Ausführungshandlung getroffen. Damit ist er zwingend in das Versuchsstadium eingetreten. Das wird verschiedentlich für Konstellationen bestritten, in denen zwischen dem Verhalten des Täters und der Tatvollendung noch eine größere Distanz liegt. So hat der BGH im „Salzsäure-Fall“ den Versuchsbeginn des mittelbaren Täters nach Vornahme der tatbestandsmäßigen Einwirkungshandlung davon abhängig gemacht, dass der Tatmittler „alsbald“ zur Tatausführung schreiten soll.35 Für die – der mittelbaren Täterschaft strukturell entsprechende36 – Fallkonstellation einer vom Täter eingeplanten irrtumsbedingten Selbstschädigung des Opfers hat der BGH im „Apotheker-Fall“ die Höhe des vom Täter vorgestellten Risikos der Vornahme der selbstschädigenden Handlung für ausschlaggebend gehalten. Beim Stellen einer Giftfalle liege das unmittelbare Ansetzen noch nicht vor, wenn der Erfolgseintritt nach den Erwartungen des Täters noch zu unwahrscheinlich gewesen sei.37 Schließlich hat die Recht33

In diesem Sinne etwa BGHSt 43, 177, 179. Ebenso Dold, Eine Revision der Lehre vom Rücktritt vom Versuch, 2017, S. 97; Wege, Rücktritt und Normgeltung, 2011, S. 70, 73 (die allerdings die Bedeutung des Erfolgsunwerts verkennt). 35 BGHSt 30, 363, 365; 40, 257, 268 f.; BGH, StV 1997, 632 f.; siehe auch BGH, NStZ 2001, 475, 476; BGHSt 43, 177 = JZ 1998 209 mit kritischer Anm. Roxin = NStZ 1998, 241 mit zustimmender Anm. Otto; dazu auch Rengier, Strafrecht AT, 10. Aufl. 2018, § 36 Rn. 14; Wolters, NJW 1998, 578. 36 BGHSt 43, 177, 180. 37 BGHSt 43, 177, 182 f. 34

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sprechung verschiedentlich angenommen, dass Täuschungshandlungen, die dem Täter dazu dienen sollen, sich etwa in das Vertrauen des Opfers einzuschleichen oder sonst den Boden für weitere Täuschungen zu bereiten, zwar bereits den Tatbestand des § 263 StGB erfüllen, aber dennoch nicht in das Versuchsstadium führen, „wenn nämlich der Täter damit noch nicht zu der die Strafbarkeit – oder eine erhöhte Strafbarkeit – begründenden Rechtsverletzung angesetzt hat“.38 Zu all diesen Fallkonstellationen findet sich also die Auffassung, der Täter habe zwar die tatbestandsmäßige Ausführungshandlung vorgenommen, aber noch nicht im Sinne von § 22 StGB unmittelbar angesetzt. Richtig ist das nicht. Denn wenn der Täter sich mit der Vornahme der Ausführungshandlung gegen das Rechtsgut entschieden hat, so liegen sowohl die subjektiven als auch die objektiven Voraussetzungen des Versuchsunrechts vor. Eine ganz andere Frage ist freilich, ob der Täter tatsächlich eine Handlung vorgenommen hat, die als Ausführungshandlung zu bewerten ist. Das ist eine Frage der Auslegung des objektiven Tatbestandes. Skizzenhaft: Hat der Täter das Geschehen aus der Hand gegeben, so steht die Zeitspanne bis zur Realisierung der Gefahr deren Bewertung als rechtlich missbilligt und tatbestandsmäßig nicht entgegen („Salzsäure-Fall“).39 Behält der Täter das Risiko in der Hand, weil er die Gefahrenquelle jederzeit und risikolos entfernen kann, so greift es zu kurz, die letzte aktive Handlung des Täters als Ausführungshandlung anzusehen.40 Die tatbestandsmäßige Ausführungshandlung liegt in einer solchen Konstellation nicht bereits im aktiven Bereitstellen des Giftes, sondern im ingerenzgarantenpflichtwidrigen Nichtbeseitigen des Giftes, also in einem Unterlassen.41 Im vorliegenden Zusammenhang von Interesse ist die Position von Frister, der im Stellen der Giftfalle eine versuchsbegründende Ausführungshandlung erblickt und dies mit der Überlegung begründet, dass es angesichts der einmal arrangierten Situation keiner weiteren Entscheidung des Täters bedürfe, um den

38 BGHSt 31, 178, 182; ebenso OLG Schleswig, SchlHAnz 1987, 101. Zustimmend LK/ Hillenkamp, § 22 Rn. 94; MüKo-StGB/Hoffmann-Holland, 3. Aufl. 2017, § 22 Rn. 107; Küper, JZ 1992, 345; ähnlich schon Burkhardt, JuS 1983, 426 ff. A.A. BGHSt 37, 294, 296; BGH, NStZ 2011, 400; 2002, 433, 435; OLG Karlsruhe, NJW 1982, 59; Bloy, JR 1984, 124 f; Bosch, Jura 2011, 911; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, 5. Aufl. 1996, S. 521; Kühl, Strafrecht AT, § 15 Rn. 55; Murmann, Versuchsunrecht und Rücktritt, S. 13 ff.; kritisch auch Maaß, JuS 1984, 28. 39 Dieses Kriterium, das nach einer verbreiteten Lehre für die Bestimmung des Versuchsbeginns ausschlaggebend sein soll (z. B. BGH, NStZ 1986, 547; Lackner/Kühl/Kühl, 29. Aufl. 2018, § 22 Rn. 9; Rengier, Strafrecht AT, § 36 Rn. 10 ff.; Rönnau, JuS 2014, 111 f.; Roxin, FS Maurach, 1972, 227; ders., JuS 1979, 11; ders., JZ 1998, 211 f.; SK-StGB/Jäger, § 22 Rn. 39), betrifft also richtigerweise die Auslegung des Tatbestandes. 40 So aber Frister, FS Wolter, 2013, S. 384 f.; Hoffmann, JA 2016, 196 f.; Scheinfeld, Der Tatbegriff des § 24 StGB, 2006, S. 77 f. 41 Murmann, Versuchsunrecht und Rücktritt, S. 16 ff; Streng, GS Zipf, 1999, S. 338, 343, 346 f. Vgl. auch Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 25/72; Roxin, FS Maurach, 1972, S. 221 f.

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Erfolg herbeizuführen.42 Das überzeugt deshalb nicht, weil so das Anstoßen eines Geschehensverlaufs als abschließende Selbstfestlegung überinterpretiert wird, obwohl der äußere Akt den Entschluss in Wahrheit nicht zementiert.43 Legitime Grundlage der Strafbarkeit ist eine solche Entscheidung nur dann, wenn sie in einem Stadium vorliegt, in dem mit einer gewissen Zuverlässigkeit angenommen werden kann, dass sie auch durchgehalten wird. Solange der Täter die Gefahrenquelle in seinem Herrschaftsbereich bereitstellt, kann er sich begründet auf seine fortbestehende Freiheit berufen, die Gefahrenquelle zu entfernen. Schließlich gilt Ähnliches auch bezogen auf die vorgelagerten Täuschungshandlungen beim Betrug: Eine Verhaltensweise ist nicht schon deshalb Täuschungshandlung im Sinne von § 263 StGB, weil sie phänomenologisch als „Täuschung“ der tatbestandlichen Verhaltensbeschreibung entspricht.44 Das tatbestandsspezifische Missbilligungsurteil beim Betrug zielt nicht auf die Vermeidung der Möglichkeit ab, den Boden für weitere, vom Täter eigenverantwortlich vorzunehmende Täuschungshandlungen zu bereiten, sondern auf die Unterbindung solcher Täuschungshandlungen, die unmittelbar zur Hervorrufung des tatbestandlich vorausgesetzten Irrtums und zu einer verfügungsbedingten Beeinträchtigung des tatbestandlich geschützten Rechtsguts führen können. Zusammenfassend bleibt also festzuhalten: Der Täter, der auf der Grundlage seiner Vorstellungen die tatbestandsmäßige Handlung vornimmt, hat die den Vorsatz kennzeichnende Entscheidung gegen das Rechtsgut getroffen. Ein Unterschied hinsichtlich der subjektiven Tatseite zum vollendeten Vorsatzdelikt besteht insoweit nicht.45 Freilich bricht bei der Begründung des Versuchsunrechts ein Streit auf, der im Falle der Vollendung zumindest im Regelfall keine entscheidende Rolle spielt, nämlich die Frage, welches Verhalten als tatbestandsmäßig anzusehen ist. Denn beim Versuch kommt es auf eine präzise Bestimmung der Ausführungshandlung an: Entweder deshalb, weil sich der Täter auf der Grundlage seiner Vorstellung mit ihrer Vornahme jedenfalls im Versuchsstadium befindet oder aber deshalb, weil sich das unmittelbare Ansetzen auf die nach Tätervorstellung vorzunehmende Ausführungshandlung bezieht.

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Frister, FS Wolter, 2013, S. 385. Die meisten Autoren, die im Bereitstellen des Giftes die aktive Ausführungshandlung erblicken, gehen davon aus, dass der Versuchsbeginn der Ausführungshandlung nachfolgt; z. B. Scheinfeld, Der Tatbegriff des § 24 StGB, S. 78 f. 43 Zutreffend verweist Roxin, FS Maurach, 1972, S. 216 darauf, dass im eigenen Herrschaftsbereich zwischen Tun und Unterlassen kein relevanter Unterschied besteht. 44 BGHSt 37, 294, 296; BGH, NStZ 2011, 400; 2002, 433, 435; OLG Karlsruhe, NJW 1982, 59 (mit ablehnenden Besprechungen von Burkhardt, JuS 1983, 426 und Krüger, JA 1984, 23 f.); Bosch, Jura 2011, 911; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, S. 521; Kühl, Strafrecht AT, § 15 Rn. 55; Murmann, Versuchsunrecht und Rücktritt, S. 13 ff. 45 Es bleibt freilich der oben schon angesprochene Unterschied, dass sich der Vorsatz nicht notwendig auf ein objektiv wegen seiner Gefährlichkeit missbilligtes Verhalten richten muss.

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b) Der Vorsatz bei Vornahme einer „tatbestandsnahen Vorbereitungshandlung“ Hat der Täter die Ausführungshandlung noch nicht vorgenommen, so befindet er sich im Vorbereitungsstadium. Das entspricht zwar nicht der gängigen Sprachregelung, soll aber verdeutlichen, dass jede Handlung, die der Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlung vorausgeht, gerade nicht Ausführungshandlung ist, sondern noch der Vorbereitung dient.46 Der durch das „unmittelbare Ansetzen“ charakterisierte Versuchsbeginn hebt also eine Handlung aus den sonstigen Vorbereitungshandlungen heraus. Bezogen auf solche „tatbestandsnahen Vorbereitungshandlungen“47 besteht ein Legitimationsproblem, das durch die Auffassung, der Vorsatz entspreche dem der vollendeten Tat, eingeebnet wird: Der Vorsatz als auf die Vornahme der Ausführungshandlung bezogener Wille, steht hier notwendig unter dem Vorbehalt der freien Person, von diesem Vorhaben auch noch „in letzter Sekunde“ Abstand nehmen zu können. Diese Möglichkeit hat auch der sogenannte „fest“ zur Tat Entschlossene.48 Der Versuch, bei dem der Täter die Ausführungshandlung noch nicht vorgenommen hat, betrifft also eine Konstellation, in der zum Vorsatz noch die Freiheit gehört, die Tat nicht auszuführen. Fehlt damit ein in der Vornahme der Ausführungshandlung verwirklichter Entschluss, so ist damit eine markante Abweichung gegenüber dem Vorsatz bei der vollendeten Tat (wie auch beim Versuch nach Vornahme der Ausführungshandlung) angesprochen. Ist die Vorsatzstrafe nur legitimierbar als Ausdruck der Entscheidung des Täters gegen das rechtlich geschützte Gut, so stellt sich die Frage, inwieweit auch der Täter, der die Ausführungshandlung noch nicht vorgenommen hat, die erforderliche Entscheidung getroffen haben kann. Normativ wird vom Täter in jedem Zeitpunkt der Vorbereitungsphase noch die Abstandnahme von der geplanten Tat erwartet. Der Täter ist – wie er auch weiß – nicht auf die Tatbegehung festgelegt.49 Aber das Vertrauen in die Orientierung am Recht hängt nicht nur von normativen Erwartungen ab, sondern auch von tatsächlichen Gegebenheiten und praktischen Erfahrungen.50 Freilich können solche Erwartungen nur in engem Rahmen eine Kriminalstrafe legitimieren. Man wird verlangen müssen, dass der Ausführungswille noch so unmittelbar vor Vornahme der Ausführungshandlung durchgehalten wird, dass dies die Annahme legitimiert, dass ein Freiheitsgebrauch im Sinne einer Abstandnahme nicht mehr zu erwarten ist. Denn in einem Rechtsverhältnis, in dessen Konstitution der Täter einbezogen ist, kann vom Täter nur in diesem engen Rahmen verlangt werden zu akzeptieren, dass er das Vertrauen in die Erfüllung der grundsätzlich an ihn gerichteten nor46

Vgl. auch Armin Kaufmann, FS Welzel, 1974, S. 404; ders., ZStW 80 (1968), 52. Murmann, Versuchsunrecht und Rücktritt, S. 10 ff. 48 Vgl. auch Schlehofer, Vorsatz und Tatabweichung, 1996, S. 45. 49 Dazu, dass diese Offenheit – freilich aus anderen Gründen – auch dann besteht, wenn man die Wahlfreiheit bestreitet, oben II. 50 So liegt es auch sonst beim Vertrauensgrundsatz; vgl. Murmann, Grundkurs Strafrecht, § 23 Rn. 50 ff. 47

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mativen Erwartung rechtstreuen Verhaltens verspielt hat. Das unmittelbare Ansetzen markiert danach nicht nur das Überschreiten einer objektiven Schwelle zum Versuchsbeginn, sondern zugleich den Zeitpunkt, in dem der Wille, zur Tatausführung überzugehen, zum Tatvorsatz wird. Diesem letztgenannten Aspekt wird man in einer subjektiv fundierten Versuchslehre sogar gegenüber dem Kriterium der äußeren Nähe zur Tatausführung den Vorrang einräumen müssen. Die (auf der Grundlage der Tätervorstellung zu beurteilende) Nähe zur Tatausführung entfaltet ihre Relevanz gerade mit Blick auf die das Versuchsunrecht begründende Entscheidung des Täters. Die Bestimmung der Grenze zum Eintritt in das Versuchsstadium muss trotz des objektiven Maßstabes, den das Kriterium des „unmittelbaren Ansetzens“ setzt, material den Zeitpunkt im Blick haben, in dem sich der Täter nicht mehr auf die Möglichkeit berufen kann, die Tat nicht ausführen zu wollen. Hierfür ist die unmittelbare Nähe zur Vornahme der Ausführungshandlung freilich der zentrale Gesichtspunkt. Auch wenn sich schwerlich bestreiten lässt, dass der Täter erst mit einem Vorsatz, der sich in der Vornahme der Ausführungshandlung manifestiert, seiner Entscheidung den letzten verbindlichen Ausdruck verleiht, lässt doch auch der bis hart an die Vornahme der Ausführungshandlung herangerückte Wille praktisch kaum Raum für Zweifel daran, dass dieser Wille auch durchgehalten wird.51 Dem Gesetzgeber steht es jedenfalls frei, diesen Unterschied in der Entschlussfassung bei der Frage der Versuchsstrafbarkeit zu ignorieren (so wie es ihm auch sonst freisteht, unterschiedliche Vorsatzgrade unter einem einheitlichen Vorsatzbegriff zusammenzufassen). Die These, dass der Vorsatz bei vollendetem und versuchtem Delikt der gleiche sei, erweist sich damit für die Konstellationen als unzutreffend, in denen der Täter nicht über das Stadium der „tatbestandsnahen Vorbereitungshandlung“ hinausgekommen ist. Die Abweichung betrifft den Bezugspunkt des Vorsatzes insoweit, als die vom Vorsatz umfasste Geschehensgestaltung zunächst auf die tatbestandsnahe Vorbereitungshandlung bezogen ist. Freilich kann sich der Vorsatz nicht auf die Handlung, die das unmittelbare Ansetzen darstellt, beschränken. Aus dem in § 22 StGB genannten Erfordernis der Vorstellung der Tat wird schon deutlich, dass der Täter auch künftige Handlungsvollzüge zum Gegenstand seines Vorsatzes machen muss, nämlich etwaige weitere der Ausführungshandlung vorgelagerte Vorgänge (unwesentliche Zwischenschritte) und insbesondere die Ausführungshandlung selbst. Die subjektive Beziehung zu diesen künftigen Vorgängen lässt sich nicht als Wissen beschreiben, sondern der Täter muss mit dem Willen handeln, zur Ausführungshandlung fortzuschreiten.52 Auch für die Vertreter der voluntativen Theorien liegt darin hinsichtlich des Bezugspunktes des Vorsatzes ein Unterschied zum

51

Ähnlich Dold, Eine Revision der Lehre vom Rücktritt vom Versuch, 2017, S. 85 ff. Dold, Eine Revision der Lehre vom Rücktritt vom Versuch, 2017, S. 12, 98; Sancinetti, Subjektive Unrechtsbegründung und Rücktritt vom Versuch, 1995, S. 59; Struensee, GS für Armin Kaufmann, 1989, S. 530: „Durchhaltewille“. 52

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vollendeten Delikt. Für die Vertreter kognitiver Vorsatztheorien betrifft der Unterschied auch die Struktur des Vorsatzes.

IV. Zusammenfassung und Ausblick auf die Rücktrittslehre Es hat sich gezeigt, dass die subjektiv fundierte Begründung des Versuchs, die meist eher als gesetzlich verordnete Notlösung erscheint, einen zentralen Aspekt des Unrechts – auch der vollendeten Tat – betrifft. Die der Entscheidung gegen das Rechtsgut zukommende äußere Seite ist nicht nur die in einem Tatstrafrecht erforderliche äußere Manifestation der Entscheidung, sondern bringt die Entscheidung überhaupt erst zum Entstehen. Der Einsicht folgend, dass Begründung und Begrenzung der Strafbarkeit letztlich zwei Seiten des gleichen Gedankens sind, kommt den Überlegungen zur versuchsbegründenden Relevanz der Entscheidung gegen das Rechtsgut zugleich eine die Versuchsstrafbarkeit begrenzende Bedeutung zu. Diese resultiert aus der Einsicht, dass die Entscheidung eine Selbstfestlegung der Person verlangt, die erst mit der Vornahme der Ausführungshandlung zuverlässig zum Abschluss gekommen ist. Damit stellt sich das Legitimationsproblem beim Versuch in grundsätzlich unterschiedlicher Weise je nachdem, ob der Täter die Ausführungshandlung bereits vorgenommen hat oder sich noch im Stadium der (tatbestandsnahen) Vorbereitung befindet. Während bei Vornahme der Ausführungshandlung der Täter seine Entscheidung ebenso verbindlich getroffen hat wie beim vollendeten Delikt (freilich mit dem Unterschied, dass die objektive Gefährlichkeit der Ausführungshandlung für das Versuchsunrecht nicht konstitutiv ist), steht die Entscheidung bei Vornahme der tatbestandsnahen Vorbereitungshandlung stets unter dem Vorbehalt der Freiheit des Täters. Die Versuchsstrafbarkeit kann hier nur auf der Grundlage der tatsächlichen Erwartung begründet werden, dass es ab einem bestimmten Stadium der Realisierung eines deliktischen Vorhabens praktisch kein Zurück mehr gibt. Die Zumutung, die darin liegt, gegen den Täter einen Versuchsvorwurf zu erheben, obwohl das Durchhalten des Tatplans noch keinesfalls gewiss war, verlangt danach, den Versuchsbeginn sehr eng an die Ausführungshandlung heranzurücken. Es bleibt noch ein Nachtrag: Die Überlegungen zum unmittelbaren Ansetzen entfalten auch im Rahmen der umstrittenen Fälle des Rücktritts vom vorläufig fehlgeschlagenen Versuch ihre Relevanz und finden in der Konsistenz, mit der sie sich in die Rücktrittsdogmatik einfügen, eine gewisse Bestätigung. Auf diesen Aspekt soll noch in aller Kürze eingegangen werden. Wenn Grundlage der Versuchsstrafbarkeit die Entscheidung gegen das Rechtsgut ist, so muss auch der Rücktritt gerade an dieser Entscheidung ansetzen.53 Die für den 53 Den Zusammenhang von Versuchsunrecht und Rücktritt betonen etwa Bottke, JZ 1994 71, 73; Murmann, Versuchsunrecht und Rücktritt, S. 27 ff.; Dold, Eine Revision der Lehre

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Rücktritt vorgesehene Strafaufhebung ist nur zu begründen, wenn der Täter die mit dem Versuch getroffene Entscheidung zurücknimmt. Diese Rücknahme findet ihre deutlichste Manifestation, wenn der Täter im Stadium der „tatbestandsnahen Vorbereitungshandlung“ von der Vornahme der Ausführungshandlung Abstand nimmt. Der Täter macht hier von der fortbestehenden Freiheit zur Umkehr Gebrauch. Problematisch ist der Erklärungswert bloßen Aufgebens dagegen dann, wenn der Täter seine Entscheidung bereits mit der Vornahme der Ausführungshandlung getroffen hat, diese aber nicht zur Deliktsverwirklichung führt und der Täter sich ihm eröffnende weitere Möglichkeiten der Erfolgsherbeiführung nicht weiter verfolgt. Die Behandlung dieser Fälle ist bekanntlich umstritten. Dogmatischer Ausgangspunkt muss die Frage sein, ob die bereits vorgenommene und die weiteren, vom Täter als erfolgversprechend erkannten Ausführungshandlungen eine „Tat“ im Sinne von § 24 Abs. 1 StGB darstellen. Da der strafbefreiende Rücktritt jedenfalls eine Distanzierung des Täters von dem versuchsbegründenden Verhalten voraussetzt, muss es für eine materielle Konturierung des Tatbegriffs ausschlaggebend sein, ob dem Unterlassen weiterer Ausführungsbemühungen eine Aussagekraft dahingehend zukommen kann, dass der Täter sich von seinem in der bereits vorgenommenen Ausführungshandlung verkörperten Entschluss und der diesem zugrunde liegenden Unrechtsmaxime distanziert. Nur solange sich der Täter noch im Stadium der Ausführung der gleichen Tat befindet, kann er noch eine Änderung seiner Entscheidung bezogen auf die Tatvollendung geltend machen. Darin liegt der Unterschied zu sonstigem Nachtatverhalten.54 Die Einzelakttheorie hält einen solchen Erklärungsgehalt nicht für möglich, sofern der Täter eine aus seiner Sicht irreversible Ausführungshandlung vorgenommen hat. Damit liege ein nicht mehr änderbarer Sinnausdruck, also eine Tat, vor.55 Dagegen will die Gesamtbetrachtungslehre dem Täter eine Rücktrittsmöglichkeit auch dann einräumen, wenn eine nach seiner Vorstellung noch mögliche Ausführungshandlung mit der bereits vorgenommenen einen „einheitlichen Lebensvorgang“ bildet.56 Die Gesamtbetrachtungslehre verdient grundsätzlich Zustimmung.57 Auch wenn der Täter seine Entscheidung gegen das Rechtsgut mit der bereits vorgenommenen vom Rücktritt vom Versuch, 2017, S. 23. Abweichend Jäger, Der Rücktritt vom Versuch als zurechenbare Gefährdungsumkehr, 1996, S. 87. 54 Näher Murmann, Versuchsunrecht und Rücktritt, S. 31 ff. 55 Jedenfalls dann, wenn der Täter es für möglich hält, dass er den Erfolgseintritt nach Vornahme der Ausführungshandlung nicht mehr verhindern könnte. Schönke/Schröder/Eser/ Bosch, § 24 Rn. 21; eingehend Jakobs, ZStW 104 (1992), 82 ff. 56 Etwa BGHSt 31, 170; 33, 295; BGH, 2016, 332; 2017, 720; HK-GS/Ambos, 4. Aufl. 2017, § 24 StGB Rn. 7; Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 478; Kudlich, JuS 1999, 243; Schmidhäuser, Lehrbuch, 15/78; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, 48. Aufl. 2018, Rn. 891. 57 Vgl. schon Murmann, Versuchsunrecht und Rücktritt, S. 39 ff.

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Ausführungshandlung getroffen hat, bleibt deren Realisierung so lange defizitär, wie der Erfolg noch nicht eingetreten ist.58 Mit einem Verzicht auf die weitere Verfolgung seines deliktischen Ziels kann sich der Täter mit besonderem Nachdruck von der Unrechtsmaxime distanzieren, die der zunächst getroffenen Entscheidung zugrunde lag. Begründungsbedürftig ist freilich, ob und in welchem Umfang es als Distanzierung von der ursprünglich getroffenen Entscheidung aufzufassen ist, dass sich der Täter nicht für die Vornahme weiterer Ausführungshandlungen entscheidet. Hier ist an die Überlegungen anzuknüpfen, die zur Bestimmung des Versuchsbeginns vorgetragen wurden: Die empirische Erwartung, dass der Täter ab einem gewissen Zeitpunkt der Realisierung seines Tatvorhabens zur Ausführungshandlung fortschreitet, besteht auch (und gerade) dann, wenn er bereits eine erfolglose Ausführungshandlung vorgenommen hat und sich nun in der Lage sieht, im unmittelbaren Fortgang des Geschehens weitere Ausführungshandlungen vornehmen zu können. Nimmt der Täter die Ausführungshandlung vor, so verfolgt er weiter sein anfängliches Tatvorhaben und begeht keine neue Tat. Entscheidet er sich gegen die Vornahme der weiteren Ausführungshandlung, so zeigt die für die Versuchsbegründung maßgebliche Erwartung, dass der Täter zur Vornahme der (nächsten) Ausführungshandlung fortschreitet, gewissermaßen ihre Kehrseite. Es ist nun nämlich eine „positive Überraschung“, wenn der Täter erwartungswidrig sein deliktisches Vorhaben nicht weiter verfolgt, obwohl die vorgestellte weitere Ausführungshandlung an die fehlgeschlagene unmittelbar anschließen würde. Die erwartbare Bestätigung der Entscheidung gegen das Rechtsgut bleibt aus, was die anfänglich getroffene Entscheidung noch innerhalb des gleichen Ausführungsstadiums konterkariert. Damit sind zugleich die Grenzen einer wirkmächtigen Distanzierung von dem ursprünglich gefassten Entschluss gezogen: Vom Täter als möglich erkannte weitere Ausführungshandlungen, die sich nicht im Sinne von § 22 StGB unmittelbar an die letzte Ausführungshandlung anschließen, gehören nicht zur gleichen Tat. Der im Anschluss an die fehlgeschlagene Ausführungshandlung gefasste Plan, zu einer weiteren Ausführungshandlung unmittelbar anzusetzen, ist gerade noch nicht der für einen Versuch erforderliche Tatentschluss. Der „Verzicht“ darauf, einen Tatentschluss zur Begehung einer neuen Tat zu fassen, kann keinen qualifizierten (gegenüber sonstigem Nachtatverhalten herausgehobenen) Erklärungswert in Richtung auf die mit der ersten Ausführungshandlung realisierte Entscheidung entfalten. Die Rechtsprechung zieht den Rahmen der Einheitlichkeit des Lebensvorgangs bekanntlich deutlich weiter und bejaht die Einheitlichkeit etwa auch dann, wenn der Täter das Opfer erst verfolgen und sich geänderter Tatmittel bedienen muss oder es (in den Zielerreichungsfällen) eines neuen Motivs für die weitere Verfolgung

58 Das kann man freilich anders sehen, wenn man die Relevanz des Erfolges für das Unrecht grundsätzlich bestreitet; etwa Armin Kaufmann, FS Welzel, 1974, S. 410 ff.; Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, 1973, S. 128 ff.

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des tatbestandlichen Erfolges bedarf.59 Die Begründung bleibt intuitiv (etwa: ein einheitlicher Lebensvorgang dürfe nicht auseinandergerissen werden), verweist auf die Irrelevanz außertatbestandlicher Aspekte (obwohl jeder Gesichtspunkt, der einen Zusammenhang mehrerer Ausführungshandlungen begründen kann, notwendig außertatbestandlicher Natur ist) oder verweist auf den Gedanken des Opferschutzes (und ignoriert damit den geläufigen Einwand gegen die kriminalpolitische Rücktrittslehre, dass der Täter sich der strafbefreienden Wirkung des Rücktritts nicht bewusst ist oder diesen Aspekt zumindest nicht reflektiert).60 Wollte man der Rechtsprechung eine Begründung unter Bezugnahme auf die ratio des § 24 StGB unterlegen, so müsste sie wohl darin liegen, dass der Erklärungswert der Nichtvornahme einer weiteren Ausführungshandlung beim vorläufig fehlgeschlagenen Versuch weiter reicht als im „Normalfall“ des Versuchs.61 Dafür ließe sich immerhin zweierlei geltend machen: Zum einen könnte man anführen, dass die empirische Erwartung, dass der Täter zur Vornahme der Ausführungshandlung voranschreitet, bei einem Täter, der seine Entschlusskraft bereits unter Beweis gestellt hat, bereits bei größerem Abstand zur nächsten Ausführungshandlung begründet sei. Der zweite Aspekt betrifft die normative Relevanz einer solchen tatsächlichen Erwartung. Während die Begründung des Versuchsbeginns auf der Grundlage einer empirischen Erwartung besonderer Legitimation bedarf, weil sie dem Täter den Einwand abschneidet, dass er sich doch noch rechtmäßig motiviert hätte, wirkt sie im Kontext von § 24 StGB entlastend, weil auf ihrer Grundlage der Rahmen der rücktrittsfähigen Tat weiter gezogen werden kann. Letztlich überzeugend erscheint eine solche relative Bestimmung des Versuchsbeginns bezogen auf das jeweilige Ausführungsstadium aber nicht. Erstens findet sie keinen Anhaltspunkt im Gesetz, das lediglich im Falle des „unmittelbaren Bevorstehens“ des tatbestandsmäßigen Verhaltens der empirischen Erwartung Relevanz zumisst. Zweitens erscheint es auch in der Sache nicht angemessen, der tatsächlichen Erwartung in so weitem Umfang gerade zugunsten des besonders entschlusskräftigen Täters normative Relevanz zuzubilligen. Drittens und vor allem ist es nicht per se als günstig für einen Täter anzusehen, wenn man ihm auch jede weitere rechtswidrige Handlung zutraut. Selbst wenn ihm eine solche Erwartungshaltung eine Rücktrittsmöglichkeit eröffnen würde, wäre damit der Anerkennung des Täters als Rechtsperson kein guter Dienst erwiesen. Auch unter diesem Aspekt erscheint es sachgerecht, die Annahme, der Täter werde sein deliktisches Vorhaben weiter verfolgen, nur in dem engen Rahmen anzuerkennen, den § 22 StGB mit dem „unmittelbaren Ansetzen“ zieht.

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Vgl. etwa BGH, NStZ 1986, 264, 265; NStZ 2007, 399; NStZ 2015, 571; NStZ 2016, 332; BGHSt (GrS), 39, 221. 60 Zur Kritik an der großzügigen Bestimmung der Einheitlichkeit zutreffend Baumann/ Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht AT, 12. Aufl. 2016, § 23 Rn. 46. 61 Vgl. auch Scheinfeld, Der Tatbegriff des § 24 StGB, S. 84 ff.

Strafbarkeitseinschränkende Alternativen zur hypothetischen Einwilligung im Arztstrafrecht? Von Horst Schlehofer

I. Der zivilrechtliche Haftungsausschluss durch hypothetische Einwilligung – übertragbar auf das Strafrecht? „Aufklärungsmängel können … eine Strafbarkeit des Arztes wegen Körperverletzung nur begründen, wenn der Patient bei einer den Anforderungen genügenden Aufklärung in den Eingriff nicht eingewilligt hätte“.1 Wenn er „bei wahrheitsgemäßer Aufklärung in die tatsächlich durchgeführte Operation eingewilligt hätte“, „entfällt“ die „Rechtswidrigkeit“.2 Mit diesen lapidaren Feststellungen hat der BGH das von der Zivilrechtsprechung zum Arzthaftungsrecht entwickelte Konstrukt der hypothetischen Einwilligung auf das Strafrecht übertragen und damit eine intensive wissenschaftliche Diskussion ausgelöst. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach der Rechtsgrundlage für diesen postulierten Rechtswidrigkeitsausschluss. Soll die hypothetische Einwilligung ein Rechtfertigungsgrund sein? Oder soll eine andere Rechtswidrigkeitsvoraussetzung ausgeschlossen sein? Wenn ja, welche? Soll für die Rechtswidrigkeit wie für die Tatbestandsmäßigkeit eine normative Zurechnung – ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang – nötig sein? Und zwischen welchem Verhalten – der Aufklärungspflichtverletzung oder dem ärztlichen Eingriff – und welchem Erfolg – dem tatbestandsmäßigen oder dem strafrechtlich missbilligten – müsste er bestehen?3 Auf all diese Fragen hat die Rechtsprechung keine klare Antwort gegeben. Auch der Rückgriff auf das zivilrechtliche Arzthaftungsrecht – den Ursprung der „hypothetischen Einwilligung“ – macht die Rechtsprechung nicht klarer. Denn dort hat sie die „hypothetische Einwilligung“ ebenfalls nicht eindeutig dogmatisch verortet. Auch zivilrechtlich bleibt offen, ob die „hypothetische Einwilligung“ ein Rechtfertigungsgrund ist oder ob sie einen nötigen Pflichtwidrigkeitszusammenhang aus-

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BGH NStZ 1996, 34 (35). BGH NStZ-RR 2004, 16 (17). 3 Zur Problematik und zur Diskussion eingehend MüKo-StGB/Schlehofer, Vor § 32 Rn. 196 ff. 2

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schließen soll.4 Klargestellt wurde die Funktion der „hypothetischen Einwilligung“ allerdings in der Gesetzesbegründung zu § 630h Abs. 2 S. 2 BGB, der die zivilrechtliche Rechtsprechung zur „hypothetischen Einwilligung“ gesetzlich verankert. Darin wird ausdrücklich gesagt, dass „es an dem für die Schadensersatzhaftung erforderlichen Ursachenzusammenhang zwischen der unterbliebenen bzw. unzureichenden Aufklärung und dem eingetretenen Schaden“ „fehlt“, wenn „der Patient den Eingriff ohnehin“ „hätte … vornehmen lassen“.5 Und damit kann nur gemeint sein, dass die „hypothetische Einwilligung“ den (normativen) Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen der Verletzung der Aufklärungspflicht und dem Schaden ausschließt. Denn die Kausalität im naturgesetzlichen Sinne ist bei der hypothetischen Einwilligung gegeben. Sie bestimmt sich nur nach den tatsächlichen Umständen, nicht nach hypothetischen. Und für den tatsächlichen Verlauf ist die Aufklärungspflichtverletzung ursächlich geworden: Der Aufklärungsmangel bedingt das Informationsdefizit des Patienten, dieses die willensmangelbehaftete Einwilligung und diese den ärztlichen Eingriff und den daraus resultierenden Schaden. Damit ist allerdings nur eine Aussage für das zivilrechtliche Arzthaftungsrecht getroffen. Für das Strafrecht kann sie so nicht gelten. Denn dort steht der Pflichtwidrigkeitszusammenhang in einem anderen Kontext. Während es im Zivilrecht um den Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen Aufklärungspflichtverletzung und Schaden geht, geht es bei § 223 StGB nach dem überkommenen dreistufigen Deliktsaufbau und der Kategorisierung der Einwilligung als Rechtfertigungsgrund um den Pflichtwidrigkeitszusammenhang auf der Rechtswidrigkeitsebene. Denn im Tatbestand darf dann bei der tatbestandlichen Pflichtwidrigkeit noch nicht berücksichtigt werden, ob das Verhalten des Arztes von einer Einwilligung gedeckt ist – sonst würden Tatbestand und Rechtswidrigkeit konfundieren. Da so im Tatbestand noch nicht abschließend über die strafrechtliche Missbilligung von Verhalten und Erfolg und damit auch nicht über den Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen beidem entschieden ist, muss das auf der Rechtswidrigkeitsebene nachgeholt werden. Das heißt, für die Rechtswidrigkeit müssen gegeben sein ein strafrechtlich missbilligtes Verhalten – das Verhaltensunrecht –, ein strafrechtlich missbilligter Erfolg – das Erfolgsunrecht – und eine Verknüpfung von beidem – der Pflichtwidrigkeitszusammenhang. Anders als im Tatbestand und anders als nach der gesetzgeberischen Wertung des § 630h Abs. 2 S. 2 BGB bezieht sich der Pflichtwidrigkeitszusammenhang hier nicht nur auf den Körperverletzungserfolg, sondern auf den strafrechtlich missbilligten Körperverletzungserfolg. Dieser Pflichtwidrigkeitszusammenhang ist ausgeschlossen, wenn der strafrechtlich missbilligte Erfolg auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre. Dann wäre die strafrechtliche Missbilligung des Verhaltens zur Vermeidung dieses Erfol4 Siehe etwa BGH BeckRS 2003, 08946 („ist von einem nach hypothetischer Einwilligung nicht rechtswidrigen Eingriff auszugehen“). Näher zu den Unklarheiten der zivilrechtlichen Einordnung der hypothetischen Einwilligung Albrecht, Die „hypothetische Einwilligung“ im Strafrecht, 2010, S. 81 f. 5 BT-Drs. 17/10488, S. 29.

Alternativen zur hypothetischen Einwilligung im Arztstrafrecht?

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ges ungeeignet und verstieße damit gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot. Im Fall der hypothetischen Einwilligung wäre der strafrechtlich missbilligte Körperverletzungserfolg bei pflichtgemäßem Verhalten aber nicht eingetreten, gleich worin man das pflichtgemäße Alternativverhalten sieht, in der pflichtgemäßen Aufklärung und dem Eingriff mit wirksamer Einwilligung oder im Unterlassen des Eingriffs ohne Einwilligung. So oder so würde es nicht zu dem strafrechtlich missbilligten Erfolg kommen, zur Verletzung der körperlichen Integrität ohne wirksame Einwilligung des Patienten. Entweder wäre bei rechtmäßigem Alternativverhalten ein Körperverletzungserfolg mit wirksamer Einwilligung des Patienten gegeben oder gar kein Körperverletzungserfolg. Das heißt allerdings nur, dass die hypothetische Einwilligung den strafrechtlichen Pflichtwidrigkeitszusammenhang nicht ausschließt, nicht den im Tatbestand und auch nicht den in der Rechtswidrigkeit. Nicht gesagt ist damit, dass die Wertung des § 630h Abs. 2 S. 2 BGB für die Strafbarkeit gänzlich irrelevant ist. Es könnte systematisch geboten sein, sie bei einer anderen Strafbarkeitsvoraussetzung haftungseinschränkend zu berücksichtigen. Denn es könnte wertungswidersprüchlich sein, im Fall der hypothetischen Einwilligung gem. § 630h Abs. 2 S. 2 BGB den Arzt einerseits von einer zivilrechtlichen Haftung gem. § 280 Abs. 1 BGB freizustellen, ihn andererseits aber strafrechtlich wegen Körperverletzung gem. § 223 StGB haften zu lassen. Das könnte schon zivilrechtsintern zu einem Wertungswiderspruch führen, nämlich im Verhältnis zwischen der vertraglichen Haftung gem. § 280 Abs. 1 BGB und der deliktischen Haftung gem. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 223 StGB. Bei hypothetischer Einwilligung des Patienten ist der vertragliche Schadensersatzanspruch gem. § 630h Abs. 2 S. 2 BGB ausgeschlossen, der deliktische könnte aber gegeben sein. Denn auf ihn ist § 630h Abs. 2 S. 2 BGB jedenfalls nicht direkt anwendbar. Das ergibt sich zum einen aus dem Regelungskontext, in dem er steht – dem Recht des Behandlungsvertrages (§§ 630a – 630h BGB) – und zum andern aus den Gesetzesmaterialien. Danach soll § 630h BGB nur eine Regelung treffen für den Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1 BGB; ein Schadensersatzanspruch aus Delikt soll davon „grundsätzlich unberührt“ bleiben.6 Die Konsequenz wäre, dass die Haftungsbegrenzung des § 630h Abs. 2 S. 2 BGB wirkungslos würde, sofern ein Schadensersatzanspruch gem. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 223 StGB bestünde. Diese Regelungsdivergenz ließe sich zivilrechtlich zwar auch ohne strafrechtliche Berücksichtigung der hypothetischen Einwilligung beseitigen: durch eine entsprechende Anwendung des § 630h Abs. 2 S. 2 BGB auf den deliktischen Schadensersatzanspruch.7 Die Gesetzesbegründung ließe dafür Raum. Weil danach der deliktische Anspruch nur „grundsätzlich“ von § 630h BGB unberührt bleiben soll, kann man annehmen, dass der Gesetzgeber damit keine abschließende Regelung treffen wollte.

6 7

BT-Drs. 17/10488, S. 27. Für eine solche Anwendung in der Sache etwa Palandt/Sprau, BGB, § 823 Rn. 144, 166.

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Indes treten Widersprüche auch im Verhältnis zum Strafrecht auf, wenn man die Wertung des § 630h Abs. 2 S. 2 BGB bei § 223 StGB nicht berücksichtigt. Zwar sind die Anknüpfungspunkte für die zivilrechtliche und die strafrechtliche Haftung typischerweise verschieden: Die zivilrechtliche knüpft in der Praxis typischerweise an die Verletzung der Aufklärungspflicht an8, die strafrechtliche typischerweise an den körperlichen Eingriff. Aber auch strafrechtlich kann es so sein, dass die haftungsrelevante Handlung allein die Aufklärungspflichtverletzung ist. Ein Beispiel: P leidet unter chronischen Schmerzen und ist ihretwegen bei seinem Hausarzt H in Behandlung, bislang ohne Erfolg. Von einem befreundeten Arzt im Ausland erfährt P, dass dieser gute Erfahrungen mit einem in Deutschland nicht erhältlichen Medikament gemacht habe. Auf P.s Bitte hin schickt ihm dieser das Medikament. P will aber sichergehen und die Einnahme vom Urteil seines Hausarztes abhängig machen. Er bestätigt P, dass das Medikament im Ausland bereits erfolgreich eingesetzt worden ist, klärt ihn aber nicht darüber auf, dass es auch erhebliche Nebenwirkungen haben kann. Wie von H vorhergesehen, nimmt P das Medikament daraufhin ein. Bei ihm treten die Nebenwirkungen auf. Da das Medikament P.s Schmerzen allerdings auch erheblich lindert, hätte er es auch eingenommen, wenn H ihn über die möglichen Nebenwirkungen aufgeklärt hätte. – Hier kann sich die strafrechtliche Haftung nur aus der Aufklärungspflichtverletzung ergeben;9 durch sie könnte H die §§ 223, 25 Abs. 1 2. Alt. StGB durch P als einen „anderen“ i.S.d. § 25 Abs. 1 2. Alt. StGB verwirklicht haben. Bliebe bei ihnen unberücksichtigt, dass P das Medikament auch eingenommen hätte, wenn er über das Risiko der Nebenwirkungen aufgeklärt worden wäre, wäre H.s Verhalten wegen dieses Risikos strafrechtlich missbilligt. Zivilrechtlich ist die Aufklärungspflichtverletzung hingegen wegen dieser Gefahr nicht rechtlich missbilligt. Die unzureichende Aufklärung ist zwar gem. § 630e Abs. 1 S. 1, 2 BGB pflichtwidrig. Weil P das Medikament aber auch bei pflichtgemäßer Aufklärung eingenommen hätte, fehlt es nach der Vorstellung des Gesetzgebers am Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen der Aufklärungspflichtverletzung und dem Körperschaden. Und das heißt nichts Anderes, als dass die unzureichende Aufklärung nicht wegen der Gefahr rechtlich missbilligt ist, die sich in den Nebenwirkungen realisiert hat. Die strafrechtliche und die zivilrechtliche Bewertung eines Verhaltens dürfen zwar divergieren, aber nur derart, dass ein Verhalten zivilrechtlich, aber nicht strafrechtlich missbilligt ist. Die strafrechtliche Missbilligung schließt die rechtliche Missbilligung ein. Die strafrechtliche Miss8 Grund ist die Beweisnot des Patienten, wenn er sich auf einen Behandlungsfehler beruft. Siehe dazu Wiesner, Die hypothetische Einwilligung im Medizinstrafrecht, 2010, S. 21 f. m.w.N. 9 Ob das Medikament in Deutschland zugelassen ist oder nicht, soll für die Frage der Pflichtwidrigkeit nicht entscheidend sein: „Der individuelle Heilversuch mit einem zulassungspflichtigen, aber noch nicht zugelassenen Medikament“ werde durch das Arzneimittelgesetz nicht verboten“. „Seine Zulässigkeit“ sei „deshalb arzthaftungsrechtlich nach allgemeinen Grundsätzen zu beurteilen“ (BGH, NJW 2007, 2767 (2768)). In der Sache ebenso schon BGH, NStZ 1996, 34 mit insoweit zustimmender Anmerkung von Ulsenheimer, NStZ 1996, 132 (133).

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billigung bedeutet, dass das Verhalten verboten ist und außerdem so schwer wiegt, dass es nach dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit Strafe bedroht werden darf. Ist das Verhalten hingegen wegen der Gefahr des Körperschadens zivilrechtlich nicht verboten, darf das Verhalten wegen dieser Gefahr auch nicht strafrechtlich missbilligt werden – weil die strafrechtliche Missbilligung implizieren würde, dass das Verhalten wegen dieser Gefahr verboten ist. Die materiellrechtliche Wertung des § 630h Abs. 2 S. 2 BGB muss daher auch strafrechtlich berücksichtigt werden. Die Frage ist nur, wo sie dort zur Geltung zu bringen ist. Denn die in der Gesetzesbegründung zu § 630h Abs. 2 S. 2 BGB geäußerte Meinung, die hypothetische Einwilligung schließe den Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen Aufklärungspflichtverletzung und Schaden aus, könnte unzutreffend sein. Die Gesetzesbegründung greift insofern nur eine These aus der Rechtsprechung auf. Sie wird dort aber wie gesagt nicht hinreichend belegt.

II. Strafbarkeitseinschränkende Alternativen zur hypothetischen Einwilligung 1. Einschränkung des Tatbestandes des § 223 Abs. 1 StGB für humanmedizinische Eingriffe durch ein ungeschriebenes Verwerflichkeitsmerkmal? Als strafrechtliche Alternative zur hypothetischen Einwilligung wird zum einen vorgeschlagen, den Tatbestand der Körperverletzung bei ärztlichen Heileingriffen in Entsprechung zu den §§ 237 Abs. 1 S. 2; 240 Abs. 2; 253 Abs. 2 StGB durch Einfügung eines ungeschriebenen Verwerflichkeitsmerkmals einzuschränken.10 Über dieses seien bei ärztlichen Heileingriffen, die beim Menschen durchgeführt werden, die Fälle aus dem Tatbestand auszuscheiden, „in denen die Aufklärungspflichtverletzung durch den Arzt als Bagatelle oder die Berufung des Patienten auf die Aufklärungspflichtverletzung als ,missbräuchlich‘ erscheint“11. Maßgeblich dafür sei 1. „ob glaubhafte Indizien dafür vorliegen, dass der Patient auch bei vollständiger Aufklärung dem Eingriff zugestimmt hätte und er dabei nicht einmal in einen ernsthaften Entscheidungskonflikt geraten wäre“, 2. „ob eine Grundaufklärung des Patienten stattgefunden hat, ob der Patient also die Tragweite des Eingriffs im Großen und Ganzen zu erfassen vermochte“, 3. „ob es sich nur um einen Bagatelleingriff ohne große Risiken gehandelt hat, so dass das Körperverletzungsunrecht so gering ist, dass eine Einstellung nach § 153 StPO im Raum steht“,

10 So für ärztliche lege artis durchgeführte Eingriffe beim Menschen Swoboda, ZIS 2013, 18 (29 ff.). 11 Swoboda, ZIS 2013, 18 (31).

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4. „ob der Arzt für sein Handeln nachvollziehbare, nicht egoistische Motive vorbringen kann“.12 Das Ziel einer zusätzlichen Einschränkung des Körperverletzungsunrechts bei ärztlichen Heileingriffen lässt sich mit der systematischen Parallele zu den §§ 237 Abs. 1 S. 2; 240 Abs. 2; 253 Abs. 2 StGB indes nicht erreichen. Denn dort meint das Verwerflichkeitsmerkmal nichts Anderes als die Strafrechtswidrigkeit, dass die Tat Unrecht ist, das so schwer wiegt, dass es nach dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot bei Erfüllung der übrigen Strafvoraussetzungen mit Strafe bedroht werden darf.13 Danach würde ein solches Verwerflichkeitsmerkmal nicht mehr voraussetzen als die spezifisch strafrechtliche Rechtswidrigkeit. Denn für sie ist nicht nur bei den §§ 237 Abs. 1 S. 2; 240 Abs. 2; 253 Abs. 2 StGB, sondern für jedes strafrechtliche Unrecht mehr erforderlich als das Verbotensein der Tat. Für jedes Strafunrecht verlangt der verfassungsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass das Unrecht so schwer wiegen muss, dass die Strafdrohung geeignet, erforderlich und angemessen ist. An dieser Strafrechtswidrigkeit kann es in den für die spezielle Verwerflichkeitsprüfung vorgesehenen Fällen zwar fehlen, aber nicht mangels einer speziellen „Verwerflichkeit“, sondern weil ein allgemeiner Strafunrechtsausschließungsgrund greift. Das Strafunrecht kann wegen einer Einwilligung ausgeschlossen sein in dem Fall, wo der Patient bei vollständiger Aufklärung „nicht einmal in einen ernsthaften Entscheidungskonflikt geraten wäre“ und in dem, wo der Patient trotz des Aufklärungsmangels „die Tragweite des Eingriffs im Großen und Ganzen zu erfassen vermochte“. Betrifft der Aufklärungsmangel in diesen Fällen keinen einwilligungsrelevanten Umstand, ist auch der dadurch bedingte Irrtum nicht einwilligungsrelevant.14 In dem Fall, wo „der Arzt für sein Handeln nachvollziehbare, nicht egoistische Motive“ hat, kann das Strafunrecht gem. § 34 StGB ausgeschlossen sein – dann, wenn die Motive und ihre Gründe ein überwiegendes Interesse an dem Eingriff begründen. So ist es etwa, wenn der Arzt dem Patienten verschweigt, dass der Tumor bösartig ist, weil zu befürchten ist, dass der Patient sich bei Kenntnis des wahren Befundes das Leben nehmen würde. Ist der Aufklärungsmangel aber einwilligungsrelevant und begründen die Motive des Arztes kein überwiegendes Interesse, den Eingriff ohne die vollständige Aufklärung durchzuführen, ist kein Grund für einen Strafunrechtsausschluss gegeben. Dann ist das Interesse des Patienten an der Unversehrtheit seiner körperlichen Integrität strafrechtlich schutzwürdig und das Motiv des Arztes gem. § 46 Abs. 2 StGB nur relevant für die Strafzumessung. Ebenso wenig ist das Strafunrecht ausgeschlossen, wenn „das Körperverletzungsunrecht so gering ist, dass eine Einstellung nach § 153 StPO im Raum steht“. Denn eine Einstellung nach § 153 12

Swoboda, ZIS 2013, 18 (31). So für § 240 StGB auch BVerfG NJW 2002, 1031 (1033): „Die Verwerflichkeitsklausel ist Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.“ 14 Im Einzelnen dazu unten II. 3. 13

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StPO setzt gerade voraus, dass die Tat strafrechtswidrig ist. Ist sie das nicht, muss das Verfahren gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt werden.15 Will man die „Verwerflichkeit“ bei § 223 StGB enger verstehen als die allgemeine Strafrechtswidrigkeit, kann man sich für diese Einschränkung wie gezeigt nicht auf die systematische Parallele zu den §§ 237 Abs. 1 S. 2; 240 Abs. 2; 253 Abs. 2 StGB berufen – weil sie mit der „Verwerflichkeit“ eben nur die Strafrechtswidrigkeit meinen. Dann spricht die strafrechtsinterne Systematik vielmehr gegen eine solche Einschränkung. Denn mit einer gegenüber der allgemeinen Strafrechtswidrigkeit gesteigerten Verwerflichkeit würde der Sache nach eine gesteigerte strafrechtliche Pflichtwidrigkeit verlangt. Wo das StGB eine solche voraussetzt, sagt es das aber ausdrücklich, so etwa in den §§ 171 Abs. 1; 176b Abs. 1; 236 Abs. 1; 251, 307 Abs. 3 StGB: § 171 Abs. 1 StGB verlangt eine gröbliche Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht, die §§ 176b, 251, 307 Abs. 3 StGB verlangen eine (wenigstens) leichtfertige Todesverursachung. Daraus folgt, dass das StGB im Übrigen keine solche gesteigerte Pflichtwidrigkeit voraussetzt, sondern ein strafrechtlich missbilligtes Verhalten genügen lässt. Systemwidrig ist das in § 223 StGB hineingelesene Verwerflichkeitsmerkmal auch noch aus zwei anderen Gründen. Zum einen, weil es nicht strikt auf das tatbestandsmäßige Verhalten bezogen wird. Denn es soll ja nicht erfüllt sein in Fällen, „in denen die Aufklärungspflichtverletzung durch den Arzt als Bagatelle oder die Berufung des Patienten auf die Aufklärungspflichtverletzung als ,missbräuchlich‘ erscheint“.16 Damit bezieht es sich auf die Aufklärungspflichtverletzung und auf das Verhalten des Patienten. Die strafrechtliche Missbilligung betrifft aber das tatbestandlich erfasste Verhalten. Dieses kann zwar schon die Aufklärungspflichtverletzung sein,17 beim Vorsatzdelikt ist es aber regelmäßig erst der ärztliche Eingriff. Denn selbst wenn der Arzt, der den Aufklärungsfehler begangen hat, auch den Eingriff vornimmt, ist die Aufklärungspflichtverletzung nicht das tatbestandsmäßige Verhalten. Da das vollendete Vorsatzdelikt das Stadium des (tauglichen) Versuchs durchlaufen muss, wird der Tatbestand des Vorsatzdelikts durch die Voraussetzungen des tauglichen Versuchs eingeschränkt. Der Tatbestand des vollendeten Vorsatzdelikts erfasst danach nur ein Verhalten, das ein unmittelbares Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung i.S.d. § 22 StGB ist.18 Und das ist die Aufklärungspflichtverletzung mangels zeitlicher Nähe zum ärztlichen Eingriff regelmäßig nicht. Das Maß der tatbestandsmäßigen Pflichtwidrigkeit korreliert auch nicht notwendig mit der Schwere des Aufklärungsmangels. Überantwortet beispielsweise der Chefarzt C seinem bislang stets zuverlässigen Oberarzt O gem. § 630e Abs. 2 Nr. 1 BGB die Aufklärung des Patienten P und macht O einen gravierenden Aufklä15 Löwe/Rosenberg/Beulke, StPO, § 153 Rn. 37; MüKo-StPO/Peters § 153 Rn. 16; SKStPO/Weßlau/Deiters § 153 Rn. 15. 16 Swoboda, ZIS 2013, 18 (31). 17 S. o. I. 18 Näher dazu Schlehofer, Vorsatz und Tatabweichung, 1996, S. 34 ff.

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rungsfehler, so kann der von C durchgeführte Eingriff trotz des gravierenden Aufklärungsmangels nicht „verwerflich“ sein. Es kann dann sogar gänzlich an der strafrechtlichen Missbilligung des Eingriffs fehlen, so wenn C darauf vertrauen durfte, dass O den P im erforderlichen Umfang aufgeklärt hat und P wirksam in den Eingriff eingewilligt hat.19 Ebenso wenig korreliert das Maß der tatbestandlichen Pflichtwidrigkeit damit, ob die Berufung des Patienten auf die Aufklärungspflichtverletzung „missbräuchlich“ ist oder nicht. So kann der Arzt auch dann in gesteigertem Maße strafrechtlich missbilligt gehandelt haben, wenn der Patient sich „missbräuchlich“ auf die Aufklärungspflichtverletzung beruft. Ein Beispiel: Der Arzt A klärt seinen Patienten P vor einer Wirbelsäulenoperation nicht über das hohe Risiko einer Querschnittslähmung auf, obwohl er annimmt, dass P dieses Risiko unbekannt ist. Tatsächlich weiß P vor der Operation aus anderer Quelle um dieses Risiko, beruft sich nach der Operation aber trotzdem auf den Aufklärungsmangel. – Hier ist die Berufung auf den Aufklärungsmangel wegen des Risikowissens des P „missbräuchlich“. Dennoch hat A mit dem Eingriff aber zumindest einen Körperverletzungsversuch begangen, weil nach seiner Vorstellung die Einwilligung des P wegen eines rechtsgutsbezogenen Irrtums unwirksam war.20 Wegen der Schwere der Pflichtverletzung hat er auch „verwerflich“ gehandelt. Außerdem ist das Verwerflichkeitsmerkmal systemwidrig, weil es nur für ärztliche Heileingriffe beim Menschen gelten soll.21 Das führt zu Wertungswidersprüchen. Zum einen ergeben sie sich im Verhältnis von medizinisch indizierten und medizinisch nicht indizierten Eingriffen beim Menschen. Bei medizinisch indizierten Eingriffen beim Menschen wäre das Körperverletzungsunrecht nur bei „verwerflichem“, sprich: gesteigert strafrechtlich missbilligtem Verhalten gegeben, bei anderen körperlichen Eingriffen hingegen schon bei schlicht strafrechtlich missbilligtem Verhalten. So wäre die medizinisch nicht indizierte Schönheitsoperation schon bei einem „bagatellarischen“ Aufklärungsmangel Körperverletzungsunrecht, wenn der Aufklärungsmangel eine wirksame Einwilligung hindert und auch kein anderer Rechtfertigungsgrund greift – weil bei diesem Eingriff für das Körperverletzungsunrecht kein gesteigert „verwerfliches“, sondern nur ein strafrechtlich missbilligtes Verhalten nötig wäre. Hingegen würde ein solcher Aufklärungsmangel bei einem medizinisch indizierten Eingriff nicht für die dort geforderte „Verwerflichkeit“ reichen. Diese Ungleichbehandlung widerspricht den gesetzlichen Vorgaben, sowohl den zivilrechtlichen wie den strafrechtlichen. Für das Zivilunrecht unterscheiden die §§ 630d Abs. 2; 630h Abs. 2 S. 2 BGB nicht zwischen medizinisch indizierten und medizinisch nicht indizierten Eingriffen. Die Wirksamkeit der Einwilligung setzt nach § 630d Abs. 2 BGB für beide Fälle voraus, dass der Patient vor der Ein19

Siehe dazu MüKo-StGB/Schlehofer, Vor § 32 Rn. 94 ff. Siehe zur Rechtsfolge des sog. Fehlens des subjektiven Rechtfertigungselements MüKoStGB/Schlehofer, Vor § 32 Rn. 94, 103 f. 21 Swoboda, ZIS 2013, 18 (31 f.). 20

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willigung nach Maßgabe des § 630e Abs. 1 bis 4 BGB aufgeklärt worden ist.22 Und für beide Fälle gibt § 630h Abs. 2 S. 2 BGB dem Behandelnden das Recht, sich auf eine hypothetische Einwilligung des Patienten zu berufen. Diese Wertung ist – wie sich oben gezeigt hat23 – auch im Strafrecht zu berücksichtigen. Zudem wird für das Strafunrecht eine gesteigerte strafrechtliche Missbilligung nur dort vorausgesetzt, wo das Gesetz eine solche explizit fordert – wie etwa in § 251 StGB. Zum andern kommt es zu strafrechtlichen Wertungswidersprüchen im Verhältnis zu tiermedizinischen Eingriffen. Bei einem „bagatellarischen“ Aufklärungsfehler würde das Strafunrecht des § 223 StGB bei einem humanmedizinischen Heileingriff lege artis ausgeschlossen, nicht aber das Strafunrecht des § 303 StGB bei einem tierärztlichen Heileingriff lege artis. Das widerspräche der Wertung der §§ 223, 303 StGB: Die körperliche Integrität wäre weniger geschützt als das Eigentum am Tier, obwohl das Gesetz die körperliche Integrität nach den Strafdrohungen der §§ 223, 303 StGB stärker schützen will als das Eigentum. 2. Modifizierung der Einwilligungsvoraussetzungen für humanmedizinische Heileingriffe? Eine andere Alternative zur hypothetischen Einwilligung wird darin gesehen, für humanmedizinische Heileingriffe die Einwilligungsvoraussetzungen zu modifizieren. a) Relevanz rechtsgutsbezogener Irrtümer nur bei grober Aufklärungspflichtverletzung? Zum Teil wird dafür plädiert, rechtsgutsbezogene Irrtümer bei humanmedizinischen Heileingriffen nur noch dann einwilligungshindernd wirken zu lassen, wenn sie aus einer groben Aufklärungspflichtverletzung resultieren.24 Doch auch diese Einschränkung ist systemwidrig. Sie passt nicht zu dem Grund, aus dem eine Einwilligung die strafrechtliche Missbilligung des Erfolgs ausschließt: dem Fehlen eines strafrechtlich schutzwürdigen Interesses an der Unversehrtheit des Rechtsguts.25 Denn ob ein strafrechtlich schutzwürdiges Interesse an der Unversehrtheit des Rechtsguts besteht, hängt nicht vom Maß der Aufklärungspflichtverletzung ab. 22 Siehe BT-Drs. 17/10488, S. 23. Gegen eine Reduzierung der Aufklärungspflicht bei medizinisch nicht indizierten Eingriffen auch BGH, NJW 2006, 2108 f., NJW 1991, 2349. 23 S. o. I. 24 Sternberg-Lieben, FS Beulke, 2015, S. 299 (311); im Rahmen der hypothetischen Einwilligung im Medizinstrafrecht auch Krüger, medstra 2017, 12 (18 f.). In diese Richtung auch Edlbauer, Die hypothetische Einwilligung als arztstrafrechtliches Haftungskorrektiv, 2009, S. 472 ff. („Nur wenn sich die mit der unzureichenden Unterrichtung einhergehende Missachtung des Selbstbestimmungsrechts insgesamt als gravierend erweist, kann der Aufklärungsmangel strafrechtlich ins Gewicht fallen und zur Strafbarkeit des Arztes führen“, S. 475). 25 Siehe dazu MüKo-StGB/Schlehofer, Vor § 32 Rn. 60 f., 103 m.w.N.

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Einerseits kann es trotz eines groben Aufklärungsfehlers an einem schutzwürdigen Interesse an der Unversehrtheit des Gutes fehlen, etwa wenn der Arzt den Patienten grob pflichtwidrig nicht über ein einwilligungsrelevantes Risiko aufklärt, der Patient aber aufgrund eigenen Wissens oder aus anderer Quelle über alle entscheidungsrelevanten Risiken informiert ist. Andererseits kann ein schutzwürdiges Interesse des Patienten an seiner körperlichen Unversehrtheit auch bestehen, wenn die Aufklärung nur schlicht pflichtwidrig unterbleibt. Das ergibt sich aus den §§ 630d, e BGB. Indem sie den Arzt verpflichten, den Patienten vor dem Eingriff im gebotenen Umfang aufzuklären, wollen sie ihn auch vor schlicht pflichtwidrigen Aufklärungsfehlern schützen. Allein das schlicht pflichtwidrige Unterlassen der gebotenen Aufklärung ist auch kein Grund, wenigstens die spezifische Strafrechtswidrigkeit auszuschließen, das Unrechtsquantum, das über das Verbotensein hinaus gegeben sein muss, damit die Tat nach dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit Strafe bedroht werden darf. Für den Ausschluss des Handlungsdelikts des § 223 StGB ist das Unterlassen der Aufklärung regelmäßig schon nicht der richtige Anknüpfungspunkt. Maßgeblich ist das Gewicht des tatbestandlichen Handelns. Das ist im Fall des ärztlichen Heileingriffs ohne die gebotene Aufklärung typischerweise der Eingriff und nicht das Unterlassen der Aufklärung. Außerdem widerspricht es den gesetzlichen Vorgaben, die Strafrechtswidrigkeit schon bei Fehlen einer groben Pflichtwidrigkeit auszuschließen. Denn für die strafrechtliche Missbilligung ist eine grobe Pflichtwidrigkeit nur nötig, wo sie ausdrücklich vorausgesetzt wird.26 Ausgeschlossen sein kann die Strafrechtswidrigkeit zwar bei bagatellarischem Risiko und einer dementsprechenden bagatellarischen Pflichtwidrigkeit. Aber auch dafür kommt es bei § 223 StGB wieder auf das tatbestandliche Verhalten an, das im Regelfall im ärztlichen Eingriff und nicht im Unterlassen der gebotenen Aufklärung liegt. Und der ärztliche Eingriff ist in der Regel nicht bagatellarisch. Die Folge auch dieser systemwidrigen Einschränkung sind Wertungswidersprüche. Sie treten schon bei ärztlichen Heileingriffen auf: Derselbe Irrtum über ein rechtsgutsbezogenes Risiko ist mal einwilligungshindernd und mal nicht – je nachdem, ob er auf einem groben Aufklärungsfehler beruht oder nicht. Für die strafrechtliche Schutzbedürftigkeit des Patienteninteresses an der körperlichen Unversehrtheit macht das aber keinen Unterschied – weil sie – wie gesagt – nicht abhängig ist vom Maß der Pflichtwidrigkeit. Hinzu kommen auch hier Wertungswidersprüche im Verhältnis zu tierärztlichen Heileingriffen. Beispielsweise könnte ein leichter ärztlicher Aufklärungsfehler, der beim Rechtsgutsinhaber zu einem rechtsgutsbezogenen Irrtum führt, eine Einwilligung ausschließen, wenn es um einen tierärztlichen Eingriff bei seinem Hund geht, nicht aber, wenn es um einen Heileingriff beim Rechtsgutsinhaber geht. Damit würde das Interesse des Rechtsgutsinhabers an seinem Eigentum in weiterem Umfang geschützt als das an seiner körperlichen Integrität – obwohl seine körperliche Integrität nach der sich aus den Strafdrohungen der §§ 223 26

S. o. I.

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Abs. 1, 303 Abs. 1 ergebenden gesetzlichen Wertung gewichtiger ist als das Eigentum. b) Irrelevanz rechtsgutsbezogener Irrtümer über die Risiken des ärztlichen Eingriffs kraft nachträglicher Zustimmung? Es findet sich schließlich eine Differenzierung innerhalb des Kreises der rechtsgutsbezogenen Irrtümer danach, ob sich der Irrtum auf den Eingriff als solchen bezieht oder nur auf die Risiken, die mit ihm verbunden sind.27 Im ersten Fall soll es an einer Einwilligung fehlen, im zweiten sei sie wirksam, wenn sich nachträglich ergibt, dass der Patient auch ohne das Informationsdefizit eingewilligt hätte. Begründet wird das teils damit, dass der Patient mit der nachträglichen Zustimmung zeige, dass das rechtsgutsbezogene Informationsdefizit für seine Einwilligung nicht relevant gewesen sei,28 teils damit, dass es bei einer Aufklärungspflichtverletzung am „Kausalzusammenhang gerade des pflichtwidrigen Unterlassens … mit der … erteilten Einwilligung“ fehle.29 Die Differenzierung zwischen der Einwilligung in den Eingriff und der Einwilligung in rechtsgutsbezogene Risiken des Eingriffs sei auch notwendig, um „abwegige“ Ergebnisse zu vermeiden. Belegen soll das beispielhaft der Fall, dass ein Arzt nach ordnungsgemäßem Ablauf des Beratungsverfahrens bei der Verschreibung des oralen Abortivmittels Mifegyne die Schwangere pflichtwidrig nicht darüber aufklärt, dass die Einnahme möglicherweise auch mehrtägige Magen-Darm-Beschwerden verursacht. Hier sei es „einigermaßen abwegig, ihn wegen vollendeter Abtreibung zu bestrafen, wenn die Schwangere nachträglich bekundet, auch diese Information hätte sie ganz gewiss nicht von der Einnahme des Mittels zum Zweck des Abbruchs abgehalten“.30 Auch diese Einschränkung der Einwilligungsvoraussetzungen wird explizit nur formuliert für humanmedizinische Eingriffe. So eng verstanden führt auch sie zu strafrechtsinternen Wertungswidersprüchen im Verhältnis zu anderen einwilligungsfähigen Taten, wie sich das auch hier am Beispiel des tierärztlichen Eingriffs zeigt: Beim humanmedizinischen Eingriff würde die nachträgliche Zustimmung des Patienten den rechtsgutsbezogenen Irrtum über die Risiken des Eingriffs irrelevant machen, beim tiermedizinischen Eingriff hingegen nicht. Einen legitimen Grund für diese Ungleichbehandlung gibt es nicht. In beiden Fällen fehlt es an einer autonomen Entscheidung für die Rechtsgutsbeeinträchtigung; wenn der Rechtsgutsträger das Risiko nicht kennt, kann er sich auch nicht für dieses entscheiden. Und dieses Defizit hat – wie die Strafdrohungen der §§ 223, 303 StGB zeigen – bei § 223 StGB auch kein geringeres Gewicht als bei § 303 StGB. 27

NK-StGB/Merkel, § 218a Rn. 40 ff.; Zabel, GA 2015, 219 (229 ff.). Zabel, GA 2015, 219 (233 ff.). 29 NK-StGB/Merkel, § 218a Rn. 41. 30 NK-StGB/Merkel, § 218a Rn. 41. 28

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Aber selbst wenn man diese Einschränkung der Relevanz rechtsgutsbezogener Irrtümer verallgemeinert, ist sie nicht systemkonform. Sie erzeugt eine Friktion zu den zivilrechtlichen Vorgaben der §§ 630d Abs. 2; 630e Abs. 1; 630h Abs. 2 S. 2 BGB. Sie differenzieren nicht danach, ob die Aufklärung den Eingriff selbst oder nur mit ihm verbundene Risiken betrifft. Nach § 630d Abs. 2 BGB ist die Einwilligung nur wirksam, wenn der Patient vor der Einwilligung gem. § 630e Abs. 1 S. 2 BGB nicht nur über „Art, Umfang und Durchführung“ der medizinischen Maßnahme, sondern auch über deren „zu erwartende Folgen und Risiken“ aufgeklärt worden ist. Auch strafrechtsintern lässt sich die Differenzierung zwischen der Einwilligung in den Eingriff als solchen und in die mit dem Eingriff verbundenen Risiken nicht legitimieren. Sie führt zu Wertungswidersprüchen. Denn die rechtsgutsbezogenen Folgen des Eingriffs ergeben sich zumindest auch aus Umständen des Eingriffs selbst, etwa aus den körperlichen Eigenschaften des Patienten, den Eigenschaften verabreichter Medikamente, der Keimbelastung beim Eingriff. So hängt im Mifegyne-Fall31 das Risiko von Magen-Darm-Beschwerden von körperlichen Eigenschaften der Schwangeren und von Eigenschaften des Abortivmittels ab, bei einer Knieoperation das Risiko eines Knochenödems davon, ob Hohlräume in dem Knochen sind, in den eingegriffen wird, bei einer Injektion das Risiko eines anaphylaktischen Schocks davon, ob der Patient Antikörper gegen Allergene im injizierten Präparat gebildet hat, bei einer Operation das Risiko einer Wundinfektion davon, wie keimbelastet der Eingriff ist. Verkennt der Rechtsgutsinhaber einen solchen Umstand, erliegt er damit auch einem Irrtum über den Eingriff selbst. Der Irrtum über diesen Umstand würde damit widersprüchlich bewertet, als Irrtum über den Eingriff selbst wäre er einwilligungshindernd, als Irrtum über einen das Folgenrisiko begründenden Umstand wäre er nicht einwilligungshindernd, wenn der Rechtsgutsinhaber dem Eingriff nachträglich zustimmt. Systematisch verbietet es sich damit, den Irrtum über rechtsgutsbezogene Risiken anders zu behandeln als den Irrtum über den Eingriff selbst. Damit ist nicht gesagt, dass man beim Irrtum über rechtsgutsbezogene Risiken wie im Mifegyne-Fall als „einigermaßen abwegig“32 empfundene Ergebnisse hinnehmen müsse. Denn die Einwilligung könnte allgemein – sowohl im Hinblick auf den Eingriff selbst wie auch im Hinblick auf die mit ihm verbundenen Risiken – nur auf rechtsgutsbezogene Umstände zu beziehen sein, die entscheidungsrelevant sind. Und dann würde der Irrtum im Mifegyne-Fall eine Einwilligung nicht hindern, wenn das verkannte Risiko von Magen-Darm-Beschwerden für die Schwangere nicht entscheidungsrelevant ist.

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NK-StGB/Merkel, § 218a Rn. 41. NK-StGB/Merkel, § 218a Rn. 41.

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3. Allgemeine Beschränkung der einwilligungsrelevanten Irrtümer auf rechtsgutsbezogene Irrtümer über entscheidungsrelevante Umstände Dass von den rechtsgutsbezogenen Irrtümern nur die entscheidungsrelevanten einwilligungshindernd wirken, legt für medizinische Maßnahmen i.S.d. § 630d BGB auch § 630e Abs. 1 S. 1 BGB nahe. Er verlangt eine Aufklärung nur über die „für die Einwilligung wesentlichen Umstände“. Da dazu nach § 630e Abs. 1 S. 2 BGB insbesondere gehören „Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken der Maßnahme sowie ihre Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Diagnose oder die Therapie“ – also sämtlich rechtsgutsbezogene Umstände –, könnte man zwar meinen, dass mit der Begrenzung auf „wesentliche Umstände“ nur die nicht rechtsgutsbezogenen Umstände ausgegrenzt werden sollen. Aber so hat der Gesetzgeber das nicht gemeint. Er wollte den Behandelnden nicht zur Aufklärung über alle rechtsgutsrelevanten Umstände verpflichten. Dem Patienten soll kein „medizinisches Detailwissen“ vermittelt, sondern nur „Schwere und Tragweite eines etwaigen Eingriffs“ so weit verdeutlicht werden, „dass er eine ausreichende Entscheidungsgrundlage für die Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts erhält“.33 Da die von der Aufklärungspflicht ausgenommenen medizinischen Details der Behandlung rechtsgutsbezogene Umstände sind, verlangt der Gesetzgeber für eine selbstbestimmte Entscheidung mithin nicht die Kenntnis aller rechtsgutsbezogenen Umstände. Er begnügt sich mit der Kenntnis derjenigen rechtsgutsbezogenen Umstände, die eine „ausreichende Entscheidungsgrundlage“ bieten. § 630e Abs. 1 BGB so zu verstehen gebietet auch das verfassungsrechtliche Übermaßverbot. Würde der Gesetzgeber den Behandelnden zur Aufklärung über alle rechtsgutsbezogenen Umstände verpflichten, würde er von ihm Unmögliches verlangen. Denn der Behandelnde kann nur über die rechtsgutsbezogenen Umstände aufklären, die ihm bekannt sein können. Eine medizinische Behandlung kann aber Gesundheitsrisiken bergen, die zur Zeit der Behandlung noch unerkennbar sind. So kann ein Medikament bei einem Patienten Nebenwirkungen haben, mit denen nach dem medizinischen Forschungsstand nicht zu rechnen war. Da § 630d Abs. 2 BGB für die Wirksamkeit der Einwilligung nur die Aufklärung nach Maßgabe des § 630e BGB, also nur die über entscheidungsrelevante rechtsgutsbezogene Umstände – und nicht die über alle rechtsgutsrelevanten Umstände – voraussetzt, muss insoweit für die Wirksamkeit der Einwilligung die Kenntnis der entscheidungsrelevanten rechtsgutsbezogenen Umstände genügen. Es gibt zudem einen systematischen Grund, diese Kenntnis für die Einwilligung allgemein, auch außerhalb des Rahmens der §§ 630d, e BGB genügen zu lassen. Er erschließt sich aus dem Geltungsgrund der Einwilligung, dem durch Art. 2 Abs. 1 GG verbürgten Selbstbestimmungsrecht. Dieses garantiert, dass der Rechtsgutsträ33

BT-Drs. 17/10488 S. 24.

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ger in den Grenzen, in denen das Rechtsgut disponibel ist, selbstbestimmt entscheiden darf, ob er sein Rechtsgutsobjekt einem Risiko aussetzt oder nicht. Dazu gehört, dass er seine Entscheidung innerhalb der rechtlichen Grenzen nach den Kriterien treffen darf, die für ihn maßgeblich sind. Für eine selbstbestimmte Entscheidung ist danach zwar die Kenntnis der entscheidungsrelevanten rechtsgutsbezogenen Umstände nötig; sie bilden nach den Maßstäben des Rechtsgutsinhabers die Grundlage für eine selbstbestimmte Entscheidung. An dieser Grundlage fehlt es, wenn der Rechtsgutsinhaber einen für ihn entscheidungsrelevanten rechtsgutsbezogenen Umstand nicht kennt. Und das wirkt sich auf den Entscheidungsprozess – die Abwägung der entscheidungsrelevanten rechtsgutsbezogenen Umstände – aus; in ihn geht der verkannte entscheidungsrelevante Umstand nicht ein. Damit ist dann auch die auf diesem defizitären Abwägungsprozess beruhende Einwilligung keine selbstbestimmte. Hingegen verlangt eine selbstbestimmte Entscheidung nicht auch die Kenntnis der entscheidungsirrelevanten rechtsgutsbezogenen Umstände. Sie gehören per definitionem nicht zu der Tatsachengrundlage, auf der der Rechtsgutsinhaber seine Entscheidung trifft. Damit ist seine Entscheidungsbasis bei Unkenntnis eines entscheidungsirrelevanten Umstands die gleiche wie bei Kenntnis eines entscheidungsirrelevanten Umstands, die Entscheidung folglich in jenem Fall genauso selbstbestimmt wie in diesem. Lässt beispielsweise E seinen Hund wegen eines lebensbedrohlichen Tumors operieren und stellt er sich vor, dass der Tierarzt einen Schnitt von 5 cm machen wird, sind es aber tatsächlich 5,2 cm, so ist die Einwilligung in die Operation trotzdem wirksam. Das Risiko eines um 2 mm längeren Schnitts gehört nicht zu den entscheidungsrelevanten Risiken. E hätte sich auch bei Kenntnis dieses marginalen Umstands für die Operation entschieden. 4. Die von der Einwilligung nicht umfassten entscheidungsirrelevanten Risiken als „erlaubte“ Risiken Dass die Einwilligung, um selbstbestimmt zu sein, entscheidungsirrelevante rechtsgutsbezogene Risiken nicht abdecken muss, erklärt allein aber nicht, was die Schaffung eines für die Einwilligung entscheidungsirrelevanten Risikos für das Rechtsgut legitimiert. Die Einwilligung allein kann es nicht sein; verkennt der Einwilligende das nicht entscheidungsrelevante Risiko, hat er in dessen Schaffung nicht eingewilligt. So hat E zwar wirksam in die Operation eingewilligt, aber nicht in den Schnitt, der über 5 cm hinausgeht – weil er sich ihn nicht vorgestellt und damit in ihn auch nicht eingewilligt hat. Das dem Rechtsgutsträger unbekannte entscheidungsirrelevante Risiko ist aber bei einer im Übrigen wirksamen Einwilligung ein „erlaubtes“. Denn dieses Risiko ist kein hinreichender Grund für eine strafrechtliche Missbilligung. Die Rechtsgutsgefährdung allein genügt dafür nicht. Die Rechtsgutsobjekte werden nicht um ihrer selbst willen geschützt, sondern weil ein Mensch ein rechtlich schutzwürdiges Inter-

Alternativen zur hypothetischen Einwilligung im Arztstrafrecht?

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esse an der Unversehrtheit des Rechtsgutsobjekts hat. Das zeigt sich gerade bei der Einwilligung: Sie schließt das Strafunrecht aus, weil mit ihr ein strafrechtlich schutzwürdiges Interesse an der Unversehrtheit des Rechtsguts entfällt. Ein solches Interesse wird durch die Schaffung eines rechtsgutsbezogenen Risikos, das nicht entscheidungsrelevant ist, aber nicht beeinträchtigt. Der Dispositionsbefugte würde es auch hinnehmen, wenn er es kennen würde. Die Schaffung eines nicht entscheidungsrelevanten rechtsgutsbezogenen Risikos beeinträchtigt – wie gesagt – auch nicht das Interesse des Dispositionsbefugten an einer selbstbestimmten Entscheidung, weil es nicht zu der Entscheidungsbasis gehört, die nach den Maßstäben des Rechtsgutsträgers für eine selbstbestimmte Entscheidung nötig ist. Dass das für die Einwilligung nicht entscheidungsrelevante rechtsgutsbezogene Risiko „erlaubt“ ist, bedeutet allerdings nicht notwendig, dass die Tat insgesamt erlaubt ist. Sie kann wegen eines anderen Risikos strafrechtlich missbilligt sein. So ist es im Beispiel der Operation des Hundes, wenn dieser nicht nur im Eigentum des E, sondern auch im Eigentum seiner Frau F steht und F von dem Eingriff nichts weiß. Dann ist der Eingriff in das Miteigentum des E durch seine Einwilligung und ein „erlaubtes“ Risiko gedeckt: durch seine Einwilligung, weil er alle entscheidungsrelevanten rechtsgutsbezogenen Umstände kannte, durch ein „erlaubtes“ Risiko, weil das Risiko eines um 2 mm längeren Operationsschnitts für ihn nicht entscheidungsrelevant war. Das schließt das Strafunrecht der Sachbeschädigung aber nur partiell aus, nur soweit das Miteigentum des E betroffen ist. Der Eingriff in das Miteigentum der F ist strafrechtlich missbilligt, weil er weder durch eine Einwilligung der F noch durch ein „erlaubtes“ Risiko gedeckt ist. 5. Maßstäbe für die Entscheidungsrelevanz rechtsgutsbezogener Risiken Welche Risiken einwilligungsrelevant sind, bestimmt sich grundsätzlich nach den Maßstäben des Rechtsgutsträgers oder des sonst Dispositionsbefugten. Denn mit der Einwilligung soll ja das Selbstbestimmungsrecht verwirklicht werden. Dann muss der Dispositionsbefugte selbst entscheiden dürfen, welche rechtsgutsbezogenen Umstände für seine Entscheidung relevant sind. Hat der Dispositionsbefugte darüber keine explizite Entscheidung getroffen, muss mit Hilfe von Indizien ermittelt werden, was für ihn entscheidungsrelevant ist. Als ein solches Indiz hat die hypothetische Einwilligung ihre Berechtigung. Erklärt der Dispositionsberechtigte, dass er in die Rechtsgutsbeeinträchtigung auch eingewilligt hätte, wenn er ein ihm bei der Einwilligung unbekanntes rechtsgutsbezogenes Risiko gekannt hätte, ist das ein Indiz dafür, dass dieses Risiko für ihn nicht entscheidungsrelevant ist. Ein anderes Indiz kann das Urteil eines „vernünftigen“ Rechtsgutsinhabers sein. Gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der Einwilligende andere Präferenzen hat als er, spricht das dafür, dass auch er „vernünftig“ entscheiden würde.34 34 Entsprechend wird das bei der mutmaßlichen Einwilligung gesehen; dazu Schönke/ Schröder/Sternberg-Lieben, Vor §§ 32 ff. Rn. 57 m.w.N.

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Für spezielle Fälle der Einwilligung ist die Entscheidungsrelevanz von Umständen zudem gesetzlich vorgegeben. Beispiele sind die §§ 630e Abs. 1 BGB, 8 Abs. 1 Nr. 1b), Abs. 2 TPG, 1629, 1627 S. 1; 1626 Abs. 2 BGB. § 630e Abs. 1 BGB zählt zu den „für die Einwilligung wesentlichen“ Umständen „insbesondere Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken der Maßnahme sowie ihre Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Diagnose oder die Therapie“. § 8 Abs. 2 TPG zählt zu den Umständen, denen der potentielle Organspender „erkennbar eine Bedeutung für die Spende beimisst“ u. a. „den Zweck und die Art des Eingriffs“ (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 TPG), „Maßnahmen, die dem Schutz des Spenders dienen, sowie den Umfang und mögliche, auch mittelbare Folgen und Spätfolgen der beabsichtigten Organ- oder Gewebeentnahme für seine Gesundheit“ (§ 8 Abs. 2 Nr. 3 TPG). Die §§ 1629, 1627 S. 1; 1626 Abs. 2 BGB verpflichten die Eltern, die Vertretung des Kindes (§ 1629 BGB) zu dessen „Wohl … auszuüben“ (§ 1627 S. 1 BGB) und dabei „die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln“ zu „berücksichtigen“.

III. Fazit Es gibt damit eine systemkonforme strafbarkeitseinschränkende Alternative zum Konstrukt der „hypothetischen Einwilligung“: die Beschränkung der einwilligungshindernden Irrtümer auf Irrtümer über entscheidungsrelevante rechtsgutsbezogene Umstände und die Ergänzung des Strafunrechtsausschlusses bei Irrtümern über entscheidungsirrelevante rechtsgutsbezogene Umstände durch ein „erlaubtes Risiko“. Diese Lösung entspricht strafrechtlich genau dem, was der BGH mit der zivilrechtlichen Konstruktion der „hypothetischen Einwilligung“ und der Gesetzgeber mit ihrer Adaption in § 630h Abs. 2 S. 2 BGB erreichen will: den Ausschluss der Haftung des Arztes, wenn der Patient bei ordnungsgemäßer Aufklärung nicht „vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte“35. Denn das ist eben dann der Fall, wenn das dem Patienten bei seiner Einwilligung unbekannte rechtsgutsbezogene Risiko nicht entscheidungsrelevant ist. Weil ein Irrtum über nicht entscheidungsrelevante rechtsgutsbezogene Umstände eine wirksame Einwilligung nicht hindert und das nicht entscheidungsrelevante Risiko „erlaubt“ ist, erübrigt sich damit die Konstruktion einer „hypothetischen Einwilligung“.

35 BGHZ 90, 103 (112); 172, 1 Rn. 34; BT-Drs. 10488, S. 29. Anknüpfend an die Rechtsprechung schlägt auch Roxin, medstra 2017, 129 (135 ff.) den „Entscheidungskonflikt“ als maßgebliches Kriterium vor, allerdings ohne es systematisch in die allgemeinen Einwilligungsvoraussetzungen einzubinden.

Fiktion vs. Realität Warum nicht alle Fälle der „hypothetischen Einwilligung“ gleich zu behandeln sind Von Susanne Beck

Einleitung Klare und scharfsinnige Analysen solcher Konzepte wie „Willensfreiheit“ auf Täterseite oder „Autonomie“ auf Opferseite finden sich immer wieder im Werk von Reinhard Merkel.1 Die Analyse der Bedingungen und Prämissen einer freien bzw. freiheitlichen Entscheidung, sei es für die Tat, sei es für die Zustimmung zur Tat, sind zweifellos grundlegend für das Verständnis unseres Strafrechts und in Zeiten von Neurotechnologie2, Enhancement3, in Zeiten von Diskussionen über die zulässige Reichweite von Paternalismus im Bereich der Sterbehilfe4, aber auch im Bereich der Forschung5 am Patienten von besonderer aktueller Bedeutung. All diese Themen und viele mehr, zu denen auch Reinhard Merkel bereits zahlreiche wichtige Überlegungen veröffentlicht hat, verdienen weiterhin eine vertiefte Auseinandersetzung, was die Auswahl einer Fragestellung, die hoffentlich den Empfänger dieser Festschrift ebenso wie ihre Leser interessiert und zur wissenschaftlichen Debatte einen angemessenen Beitrag leisten kann, nicht gerade erleichtert. Im Folgenden möchte ich mich auf ein Thema fokussieren, das nicht nur mich seit einer Weile immer wieder beschäftigt:6 Die hypothetische Einwilligung. Diese Ka1

Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2. Auflage, Baden-Baden 2014. Reinhard Merkel, Neuartige Eingriffe ins Gehirn. Verbesserung der mentalen condicio humana und strafrechtliche Grenzen, in: ZStW 121 (2009), S. 919 ff.; Merkel/Bublitz, Crimes Against Minds: On Mental Manipulations, Harms and a Human Right to Mental Self-Determination, in: Criminal Law and Philosophy 8:1 (2014), S. 52 ff. 3 Reinhard Merkel, Treatment – Prevention – Enhancement: Normative Foundations and Limits, in: Reinhard Merkel et al., Intervening in the Brain. Changing Psyche and Society, Berlin/Heidelberg/New York 2007, Chap. 6, S. 289 ff. 4 Hegselmann/Merkel, Zur Debatte über Euthanasie, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1992, S. 82 ff. 5 Boos/Merkel/Raspe/Schöne-Seifert, Nutzen und Schaden aus klinischer Forschung am Menschen, Köln 2009. 6 Susanne Beck, Was ist das Hypothetische an der hypothetischen Einwilligung?, in: Windhöfel u. a. (Hrsg.), GS Tröndle, 2019. 2

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tegorie wird nicht nur derzeit besonders intensiv – auch auf rechtspolitischer Ebene – diskutiert7, sondern erlaubt zudem vertiefte Bezüge zu Grundfragen wie die nach der Natur der Einwilligung, der Reichweite der Autonomie des potentiellen Opfers, der Verwerflichkeit ärztlichen Handelns8 und nach dem Umgang mit Fiktionen bzw. Hypothesen im Strafrecht. Zudem hoffe ich, zur Debatte eine spezifische, bewusste Kategorisierung beitragen zu können und so gerade im Sinne Merkels analytisch, die bestehenden Ansichten und Argumentationen hinterfragend und einen neuen Blickwinkel eröffnend, die Diskussion um diese Rechtsfigur zu bereichern. Zu diesem Zweck wird im Folgenden zunächst in gebotener Kürze die bisherige strafrechtliche Debatte nachgezeichnet. Anschließend möchte ich eine neue Einteilung unterschiedlicher Fallkonstellationen in mehrere Kategorien vorschlagen – m. E. sind nicht alle Fälle der vermeintlichen hypothetischen Einwilligung strafrechtlich gleich zu behandeln, sondern vielmehr zwischen verschiedenen Konstellationen zu differenzieren, von denen nur einige tatsächlich als „hypothetisch“ einzuordnen sind. Dergestalt werden hoffentlich einige Unklarheiten der aktuellen Diskussion beseitigt, die sich m. E. nicht zuletzt damit erklären lassen, dass nicht alle Prämissen bezüglich der Einwilligung expliziert und eigentlich zu unterscheidende Fälle zusammen diskutiert werden. Die folgenden Überlegungen werden, wie in den meisten anderen Beiträgen, im medizinischen Kontext angesiedelt, ist das doch der Bereich, in dem die hypothetische Einwilligung regelmäßig praktische Bedeutung gewinnt.

7 Vgl. etwa Andreas Albrecht, Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht, Berlin 2010; Walter Gropp, Hypothetische Einwilligung im Strafrecht?, in: FS-Schroeder, 2006, , S. 197 ff.; Nike Hengstenberg, Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht, Berlin/Heidelberg 2013; Tobias Schwartz, Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht, Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht, Frankfurt am Main 2009; Sabine Swoboda, Die hypothetische Einwilligung – Prototyp einer neuen Zurechnungslehre im Bereich der Rechtfertigung?, in: ZIS 2013, S. 18 ff.; Brigitte Tag, Richterliche Rechtsfortbildung im Allgemeinen Teil am Beispiel der hypothetischen Einwilligung, in: ZStW 127 (2015), S. 523 ff.; Brian Valerius, Die hypothetische Einwilligung in den ärztlichen Heileingriff, in: HRRS 2014, S. 22 ff.; Benno Zabel, Die Einwilligung als Bezugspunkt wechselseitiger Risikoverantwortung, in: GA 2015, S. 219 ff. jeweils m.w.N. Derzeit werden entsprechende Debatten auch im Rahmen des KrimK geführt (www.krimialpolitischer-kreis.de). Und natürlich hat sich auch Reinhard Merkel zu der Frage bereits geäußert, in: Urs Kindhäuser, Ulfrid Neumann, Hans-Ullrich Paeffgen, StGB, 5. Auflage, Baden-Baden 2017, § 218a Rn. 39. 8 Zur Verwerflichkeit des medizinischen Eingriffs vgl. die Debatte um die Tatbestandsmäßigkeit; zustimmend: BGH NStZ 2004, S. 442; BGH NJW 2011, S. 1088 ff.; BGH NJW 2013, S. 1688 f.; Albin Eser, in: Adolf Schönke/Horst Schröder, StGB, 29. Auflage, München 2014, § 223 Rn. 47a f. mit einem Überblick zur Rechtsprechung; Knauer/Brose, in: Erwin Deutsch/Andreas Spickhoff, Medizinrecht, 4. Auflage, Berlin/Heidelberg 2014, § 223 Rn. 16 ff.; Bernhard Hardtung, in: Münchener Kommentar StGB, Band 4, 3. Auflage, München 2017, § 223 Rn. 45 ff.; Paeffgen/Zabel, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Fn. 8), § 228 Rn. 56; Rudolf Rengier, Strafrecht BT II, 19. Auflage, München 2018, § 13 Rn. 15 ff.; Rolf Schmidt, Strafrecht AT, 17. Auflage, Grasberg bei Bremen 2017, Rn. 453 ff.; Christoph Sowada, Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht, in: NStZ 2012, S. 1, 3 f., a.A. etwa: Kühl, in: Karl Lackner, Kristian Kühl, StGB, 28. Auflage, München 2014, § 223 Rn. 8.

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I. Analyse der Debatte zur hypothetischen Einwilligung Geht man von dem Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit ärztlichen Handelns aus, handelt der Arzt jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn der Patient nach umfassender Aufklärung wirksam in die Operation eingewilligt hat9 bzw. wenn der Patient nicht befragt werden konnte und nach seinem vermuteten Willen entschieden wurde (mutmaßliche Einwilligung)10. Umstritten ist bis heute die Konstellation, in der die Einwilligung zwar – etwa wegen eines Aufklärungsfehlers – unwirksam war, der Patient jedoch nach der Behandlung (etwa nach der Operation) verlautbart, dass er auch bei richtiger Aufklärung sicher eingewilligt hätte.11 So gibt es gewichtige Stimmen, etwa den BGH12, die im Ergebnis zu Straflosigkeit des Arztes gelangen. Die Begründungswege dahin sind unterschiedlich und jedenfalls nicht durchwegs von dogmatischer Konsistenz geprägt. Andere lehnen die Übertragung der ursprünglich aus dem Zivilrecht stammenden Figur in das Strafrecht dagegen umfassend ab.13 Betrachten wir zunächst in groben Zügen die Unterschiede zu anerkannten Figuren. Anders als bei der klassischen Einwilligung hat der Verletzte in den uns interessierenden Konstellationen nie eine umfassend wirksame Zustimmung erklärt. Anders als bei der mutmaßlichen Einwilligung wird seine Zustimmung aber auch nicht deshalb vermutet, weil er sich – etwa als Bewusstloser – nicht äußern kann, die Behandlung aber in seinem Interesse wäre. Der Patient hätte gefragt oder korrekt aufgeklärt werden können, dies ist aber unterblieben. Zudem basiert die hypothetische Einwilligung im Gegensatz zu tatsächlich erklärter oder mutmaßlicher Einwilligung auf einer ex post Betrachtung: Eine uneingeschränkte Strafbarkeit des Handelnden erscheint problematisch, wenn der Beeinträchtigte im Nachhinein erklärt, er hätte auch bei zutreffender Aufklärung eingewilligt. Insbesondere wenn die ursprüngliche Einwilligung etwa auf eine Aufklärung hin erfolgte, die in einem nur nebensächlichen Aspekt fahrlässig fehlerhaft erfolgte, wird von manchen Stimmen eine Strafe wegen vorsätzlicher Körperverletzung als wenig überzeugend angesehen. Das basiert nicht zuletzt darauf, dass die Anforderungen an die Aufklärung durch den Arzt in den letzten Jahren gewachsen sind; nach Ansicht 9 Schmidt (Fn. 8), Rn. 458; Jürgen Wolters, in: SK-StGB, Band IV, 9. Auflage, München 2017, § 223 Rn. 46. 10 Vgl. zu dieser etwa Wolfgang Mitsch, Die mutmaßliche Einwilligung, in: ZJS 2012, S. 38 ff. 11 Vgl. zu der Debatte im Überblick etwa Wolters (Fn. 9), § 223 Rn. 50 ff. 12 Siehe unter anderem: BGH NStZ 2004, S. 442; BGH NJW 2011, S. 1088 ff.; BGH NJW 2013, S. 1688 f. 13 Ingeborg Puppe, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Arztes bei mangelnder Aufklärung über eine Behandlungsalternative, in: GA 2003, S. 764, 768 ff.; Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 8), § 223 Rn. 40 h; Hardtung (Fn. 8), § 223 Rn. 119; Thomas Fischer, Strafgesetzbuch, 66. Auflage, München 2019, § 223 Rn. 34.

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einiger vielleicht zu stark.14 So spricht einiges dafür, eine zu weit reichende strafrechtliche Verantwortlichkeit für medizinisches Handeln einzuschränken.15 Neben der Frage, ob eine hypothetische Einwilligung die strafrechtliche Verantwortlichkeit überhaupt ausschließt oder zumindest verringert, stellt sich zudem die Frage, wie dies strafrechtsdogmatisch zu verorten wäre.16 In der aktuellen strafrechtlichen Debatte zeigt sich, dass erhebliche Uneinigkeit über die Relevanz einer nachträglichen Erklärung des Opfers besteht. Jedenfalls ist die nachträgliche Erklärung nicht ohne Weiteres mit der vorherigen Zustimmung oder der Ersetzung dieser Zustimmung im Sinne der mutmaßlichen Einwilligung gleichzusetzen17. Vielmehr ist es in unserem Fall so, dass durch den Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ohne vorherige oder mutmaßliche Zustimmung erst einmal die Freiheitssphäre des Opfers beeinträchtigt wird. Zugleich erscheint die Sanktionierung trotz der nachträglichen Zustimmung eben mit Blick auf das Unrecht der Tat – oder besser: das vermeintlich fehlende Unrecht – unangemessen. Dies zeigt bereits, dass die Antworten auf die Fragen danach, ob und wie man die hypothetische Einwilligung strafrechtlich anerkennen sollte, damit zusammenhängen, wie man die Verletzungshandlung bewertet, wie man die Verantwortungsveränderung durch eine Einwilligung generell begründet und wie man die Dispositionsbefugnis des Rechtsgutsinhabers konkret deutet. Diese Aspekte werden wir im Folgenden untersuchen. Doch zunächst sei die aktuelle rechtliche Debatte in groben Zügen nachgezeichnet. 1. Die Debatte zur hypothetischen Einwilligung Die Figur der hypothetischen Einwilligung wurde im Zivilrecht entwickelt. In diesem Rechtsgebiet geht es primär um einen angemessenen Ausgleich der betroffenen Interessen, insbesondere finanzieller Art. Der Ausgleich muss dabei nicht zwingend an einen bestimmten, in der Vergangenheit liegenden Zeitraum anknüpfen, sondern kann den Wandel des Verhältnisses zwischen den Parteien im Laufe der Zeit berücksichtigen. Das gilt für Arbeits- oder Mietverhältnisse genauso wie für das Arzt-Patient-Verhältnis. Insofern kann eben auch eine Änderung mit Blick auf die Zustimmung von Bedeutung sein. Für das Zivilrecht ist also gerade nicht vorrangig entscheidend, wie die Handlung gerade zum Zeitpunkt ihrer Durchführung zu bewerten war; der Interessenkonflikt ist vielmehr für die Zukunft zu lösen. 14 BGH NStZ 1996, S. 34 (Surgibone-Dübel-Fall), mit Anm. von Klaus Ulsenheimer, Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht, in: NStZ 1996, S. 132, 132 f. 15 Kristian Kühl, Strafrecht AT, 8. Auflage, München 2017, § 9 Rn. 47a; Thomas Rönnau, Grundwissen-Strafrecht: Hypothetische Einwilligung, JuS 2014, S. 882, 882 f.; Wessels/ Beulke/Satzger, Strafrecht AT, 47. Auflage, Heidelberg 2017, Rn. 580. 16 Gropp (Fn. 7), FS-Schroeder, S. 201 f.; Wolfgang Mitsch, Die hypothetische Einwilligung im Arztstrafrecht, in: JZ 2005, S. 279, 281. 17 Zur Vergleichbarkeit mit der mutmaßlichen Einwilligung vgl. etwa Scarlett Jansen, Die hypothetische Einwilligung im Strafrecht – Notwendiges Korrektiv oder systemwidriges Institut?, in: ZJS 2011, S. 482 ff.

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Zudem ist für die Frage der Durchsetzbarkeit nicht zuletzt die Beweisbarkeit entsprechender Ansprüche relevant, so dass auch die Beweislastverteilung in diesem Rechtsgebiet eine wichtige Rolle spielt. Hierfür ist in § 630 h Abs. 2 S. 2 BGB nun festgelegt, dass bezüglich der hypothetischen Einwilligung eine Beweislastumkehr zu Gunsten des Arztes anzunehmen ist. Sowohl der Blick in die Zukunft als auch eine Beweislastumkehr können aber aus strafrechtlicher Perspektive selbstverständlich nicht von Bedeutung sein. Deshalb ist für unsere Überlegungen die Betrachtung der strafrechtlichen Debatte fruchtbarer, da sich dieses Rechtsgebiet der sozialethischen Betrachtung eines bestimmten, vergangenen Täterverhaltens widmet. Die Rechtsprechung scheint diese Figur grundsätzlich anzuerkennen: Bereits 1990 ging der BGH in einem entsprechenden Fall fahrlässiger Aufklärungsverletzung und nachträglicher Zustimmung davon aus, der Arzt sei freizusprechen. Die Vorinstanz habe zu Recht vertreten, dass „die Pflichtwidrigkeit für die Körperverletzung nicht ursächlich gewesen sei“18. Dieser Linie ist der BGH treu geblieben; eine hypothetische Einwilligung ist nach der Rspr. u. U. sogar denkbar, wenn der Patient vor Abgabe der ursprünglichen, unwirksamen Einwilligung vorsätzlich getäuscht wurde.19 Die Dispositionsbefugnis wird hiernach – und letztlich nach allen Ansichten, die die hypothetische Einwilligung als Grundlage für Straflosigkeit ansehen – nicht durch Bezugnahme auf die tatsächliche Disposition durch das Opfer geschützt. Vielmehr wird jede Handlung, die dem Opferwillen oder auch nur einem ex post fingierten Opferwillen entspricht, als Realisierung seiner Selbstbestimmung angesehen. Die Verortung in der Straftatsystematik scheint diesem Ergebnis nachzufolgen20 – die Rede ist vom Ausschluss der Zurechnung, von rechtmäßigem Alternativverhalten oder vom Entfallen der Rechtswidrigkeit. Grundsätzlich ist diese ergebnisorientierte Argumentation nachvollziehbar, zugleich ist diese Verortung doch mehr als eine Einpassung in ein Prüfungsschema: Mit ihr werden Aussagen zum Gehalt, zur Begründung und zu den Konsequenzen der jeweiligen Rechtsfigur getroffen.21 Um uns diesbezüglich weiter voran zu tasten, sei unser Blick nun auf die Debatte in der Literatur gerichtet. Hier wird nicht nur darüber diskutiert, ob die hypothetische Einwilligung überhaupt strafrechtlich relevant ist, sondern gerade auch über die systematische Verortung:22 18

Zabel (Fn. 7), GA 2015, S. 220; vgl. krit. hierzu auch Puppe (Fn. 13), GA 2003, S. 770. BGH NStZ-RR 2004, S. 16 f., wobei hier an die Vorinstanz zurückverwiesen wurde, LG Ravensburg. 20 Vgl. hierzu die Darstellung bei Zabel (Fn. 7), GA 2015, S. 224 ff. m.w.N. 21 Dazu ähnlich auch Gunnar Duttge, Die hypothetische Einwilligung als Strafausschließungsgrund: wegweisende Innovation oder Irrweg?, in: FS-Schroeder, 2006, S. 179, 185; Hengstenberg (Fn. 7), S. 321. 22 Albrecht (Fn. 7); Gropp (Fn. 7), FS-Schroeder, S. 197 ff.; Hengstenberg (Fn. 7); Schwartz (Fn. 7); Swoboda (Fn. 7), ZIS 2013, S. 18 ff.; Tag (Fn. 7), ZStW 127, S. 523 ff.; Valerius (Fn. 7), HRRS 2014, S. 22 ff.; Zabel, GA 2015, S. 219 ff. jeweils m.w.N. 19

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Teilweise wird die hypothetische Einwilligung auf der Ebene des objektiven Tatbestands verortet, i. d. R. entweder im Rahmen der Kausalität23 oder der objektiven Zurechnung24. Dies gründet sich letztlich darauf, dass der Gestaltung der eigenen Freiheitssphäre durch das Opfer große Bedeutung zugeschrieben wird. Die nachträgliche Zustimmung des Opfers lässt nach dieser Ansicht nämlich bereits den Zusammenhang zwischen dem Risiko der unzureichenden oder gar fehlenden Einwilligung und dem tatbestandlichen Erfolg entfallen. Nach anderer Ansicht handelt es sich bei der hypothetischen Einwilligung um einen Rechtfertigungsgrund,25 d. h. dass sie tatbestandliches Unrecht neutralisiert. Hiernach spielt es letztlich keine zentrale Rolle, ob diese Neutralisierung ex ante oder ex post (bzw. als Fiktion des Opferwillens bei Kenntnis aller Umstände zum früheren Zeitpunkt) stattfindet. Teilweise wird gerade diese Fiktion mit der mutmaßlichen Einwilligung gleichgesetzt.26 Auch bei dieser sei der tatsächliche Wille des Opfers letztlich nicht bekannt und wird daher fingiert. Nicht auf einen spezifischen Rechtfertigungsgrund, sondern generell auf die Rechtswidrigkeitsebene blickt die Ansicht, nach der es bei einer hypothetischen Einwilligung an der Zurechnung – letztlich dann im Rahmen der Einwilligung – fehlt. Diese Stimmen fordern zunächst einmal grundsätzlich auch für Rechtfertigungsgründe einen Zusammenhang zwischen gesetztem Risiko und Erfolg.27 Ein solcher Zusammenhang läge aber gerade nicht vor, wenn das Geschehen sich nicht vom tatsächlichen Geschehen unterschieden hätte, wenn das Opfer informiert und gefragt worden wäre. Die Argumentation ähnelt derjenigen bei der Figur des rechtmäßigen Alternativverhaltens. Den Erfolg setzt diese Ansicht umfassend mit dem Eingriff in das von der Strafnorm geschützte Rechtsgut gleich. Ob möglicherweise nicht auch die fehlende bzw. fehlerhafte Einwilligung, also die mangelhafte tatsächliche Disposition, einen eigenständigen Erfolg begründet und insofern der Zusammenhang durchaus weiterhin besteht, wird von dieser Ansicht nicht vertieft diskutiert. Schließlich gibt es einige Stimmen, die die nachträgliche Zustimmung des Opfers als Strafausschließungs- oder Strafaufhebungsgrund betrachten bzw. auf Ebene der Strafzumessung als Milderungsgrund angesehen. Diesen Stimmen gemeinsam ist, dass sie das Verhalten ohne vorherige bzw. mutmaßliche Einwilligung unabhängig von der späteren Zustimmung zunächst einmal als Unrecht ansehen, das lediglich 23 Ulsenheimer (Fn. 14), NStZ 1996, S. 133; Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 8), § 223 Rn. 40 g; siehe zur Darstellung auch Hengstenberg (Fn. 7), S. 160 f. 24 Lothar Kuhlen, Objektive Zurechnung bei Rechtfertigungsgründen, in: FS-Roxin, 2001, S. 331, 332 f.; siehe zur Darstellung Philipp Böcker, Die „hypothetische Einwilligung“ in Zivil- und Strafrecht, in: JZ 2005, S. 925, 930. 25 BGH NJW 1962, S. 683; BGH NStZ 2012, S. 205; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 15), Rn. 584; siehe zur Darstellung Hengstenberg (Fn. 7), S. 192 f. 26 Vgl. hierzu das Urteil des LG Ravensburg vom 18. 02. 2003 (Az.: 1 KLs 11 Js 21460/00); Mitsch (Fn. 16), JZ 2005, S. 280; dazu auch Albrecht (Fn. 7), S. 252 ff.; Hengstenberg (Fn. 7), S. 192 ff. 27 Kuhlen (Fn. 24), FS-Roxin, S. 337.

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im Nachhinein aufgehoben bzw. gemindert wird bzw. das durch die nachträgliche Genehmigung an Strafwürdigkeit verliert.28 2. Das Problem des „in dubio pro reo“-Grundsatzes Die Problematik der hypothetischen Einwilligung verschärft sich zusätzlich, wenn man den Grundsatz „in dubio pro reo“ einbezieht. Der BGH betont insofern, dem Täter sei positiv nachzuweisen, dass der Verletzte bei ordnungsgemäßer Aufklärung nicht eingewilligt hätte.29 Diese Anwendung des Zweifelgrundsatzes bei der hypothetischen Einwilligung hat weitreichende Folgen: In vielen Fällen wird es fast unmöglich sein, nachzuweisen, dass das Opfer nicht eingewilligt hätte; das gilt insbesondere dann, wenn das Opfer selbst nicht mehr gefragt werden kann, etwa weil es vorher verstorben ist. Doch selbst wenn das Opfer noch befragt werden kann und es selbst verneint, dass es eingewilligt hätte, könnten in einigen Fällen Zweifel bestehen bleiben: Kann das Opfer zu einem späteren Zeitpunkt wirklich sicher wissen, wie es sich in der damaligen Situation auf Nachfrage entschieden hätte? Das Problem bei der Anwendung des „in dubio pro reo“-Grundsatzes ist hier ein grundlegendes: Eine Fiktion – und nichts anderes ist die hypothetische Einwilligung – kann weder positiv nachgewiesen noch falsifiziert, sondern immer nur mehr oder weniger plausibel vermutet werden. Letztlich ließen sich die Zweifel somit fast nie völlig ausräumen und immer dann, wenn auch nur ein vager Anhaltspunkt für eine hypothetische Einwilligung bestünde, müsste die Strafbarkeit auf dieser Basis verneint werden. 3. Fiktionen im Strafrecht An dieser Stelle haben wir also eine der Schwierigkeiten verdeutlicht, die der dogmatischen Debatte zugrunde liegen: Mit der hypothetischen Einwilligung hält eine Fiktion im Strafrecht Einzug. Denn das Opfer hat sich mit Blick auf die Rechtsgutsverletzung eben gerade keinen Willen gebildet, es hat vor der Tat gerade nicht darüber disponiert, nicht seine Freiheit bezüglich des Guts ausgeübt und nicht auf seine Interessen verzichtet.30 Die Bewertung von Unrecht mittels Fiktionen ist dem Strafrecht jedoch unbekannt und gestaltet sich schwierig. Dagegen könnte man einwenden, auch die grundsätzlich anerkannte Figur der mutmaßlichen Einwilligung basiere letztlich auf der Fiktion des Opferwillens. In den von dieser Rechtsfigur erfassten Konstellationen handelt der Verletzende auf 28

Böcker (Fn. 24), JZ 2005, S. 929; Mitsch (Fn. 16), JZ 2005, S. 279 f. BGH NStZ 1996, S. 35; NStZ-RR 2004, S. 16 f. m. Anm. Lothar Kuhlen, Ausschluss der objektiven Erfolgszurechnung bei hypothetischer Einwilligung des Betroffenen, in: JR 2004, S. 227, 227; Thomas Rönnau, Anm. zu BGH, Beschluss v. 15. 10. 2003 – 1 StR 300/03, JZ 2004, S. 801, 801 f. 30 Rönnau (Fn. 15), JuS 2014, S. 883. 29

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Basis des aus Indizien ermittelten Willens des Verletzten, weil er keine Möglichkeit hat, diesen zu befragen. Dieser Einwand basiert zunächst auf der Annahme, dass die mutmaßliche Einwilligung überhaupt anerkennenswert ist – dies wird jedoch durchaus gelegentlich bestritten; so wird etwa bezweifelt, ob der vermutete Wille des Opfers überhaupt in derselben Weise seine Selbstbestimmung verwirklicht wie der tatsächlich erklärte.31 Noch zentraler ist aber, dass zwischen der mutmaßlichen Einwilligung und der hypothetischen Einwilligung durchaus ein Unterschied besteht: Die mutmaßliche Einwilligung basiert letztlich (in den meisten klassischen Konstellationen) auf einem „internen“ Interessenkonflikt. Da das Opfer nicht rechtzeitig befragt werden kann, droht eine Verletzung eines seiner eigenen Rechtsgüter (körperliche Unversehrtheit, Leben).32 Das kann die Relevanz der Dispositionsbefugnis über das Rechtsgut, in das eingegriffen werden soll, schmälern. Deshalb ist es ausnahmsweise zulässig, dass ihm die Entscheidung über das Rechtsgut vom Handelnden abgenommen wird, und auch das nur, wenn diesem kein entgegenstehender Wille des Opfers bekannt ist. Dass die mutmaßliche Einwilligung als Rechtfertigung im Strafrecht weithin akzeptiert ist, liegt letztlich daran, dass der Wille in diesem Fall eben gerade nicht ex post fingiert, sondern ex ante vermutet wird und die Bedeutung des gefährdeten Rechtsguts die der Dispositionsbefugnis übersteigt. Bei der hypothetischen Einwilligung fehlt es an einer solchen Vermutung ex ante sowie einem vergleichbaren internen Konflikt. Es gibt im Nachhinein keine Gefährdung für ein Rechtsgut des Opfers mehr und es gab zum Zeitpunkt des Handelns keinen adäquaten Grund, in seine Dispositionsbefugnis einzugreifen. Der Wille des Opfers wird vielmehr – letztlich ausschließlich zum Wohle desjenigen, der in das Rechtsgut eingegriffen hat – rückwirkend fingiert und eine derartige, in die Vergangenheit wirkende Fiktion ist im Strafrecht nicht ohne weiteres abbildbar. Das Strafrecht bewertet die Tathandlung mit Blick auf den Moment ihrer Ausführung und die tatsächlich existierenden Situationen, Kenntnisse und Konflikte – und basiert gerade nicht auf Fiktionen. 4. Zwischenfazit Die bisherigen Überlegungen scheinen nicht für eine Anerkennung der hypothetischen Einwilligung zu sprechen – die Vergleichbarkeit mit bestehenden Konzepten ist gering, eine Fiktion stellt im Strafrecht einen Fremdkörper dar und der „in dubio pro reo“-Grundsatz führt bei dieser Rechtsfigur zu erheblichen Schwierigkeiten. Aus diesem Grund scheint es erforderlich, eine andere Herangehensweise zu wählen und 31 Mitsch (Fn. 10), ZJS 2012, S. 43; Gerfried Fischer, Die mutmaßliche Einwilligung bei ärztlichen Eingriffen, in: FS-Deutsch, 1999, S. 545, 548 f. 32 Das gilt nicht für die Konstellationen des vermuteten mangelnden Interesses – m. E. sollten diese im Rahmen der mutmaßlichen Einwilligung auch getrennt von den Konstellationen diskutiert werden, in denen der Handelnde gerade Interessen bzw. Rechtsgüter des Opfers schützen möchte. Dies ist jedoch an dieser Stelle nicht möglich, da der Fokus des vorliegenden Beitrags auf den Konstellationen der hypothetischen Einwilligung liegen soll.

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die Fallkonstellationen, in denen die hypothetische Einwilligung diskutiert wird, genauer zu betrachten.

II. Unterscheidung verschiedener Fallkonstellationen Den folgenden Überlegungen liegt die These zugrunde, dass nicht alle Konstellationen, in denen bisher die hypothetische Einwilligung diskutiert wird, gleich zu behandeln sind. Stattdessen sind Fallgruppen zu bilden und getrennt voneinander zu analysieren. Das dient nicht nur der Verdeutlichung der Problematik und deren Zusammenhang zu Grundfragen der Einwilligung, sondern auch ihrer Lösung, da diese, wie wir sehen werden, bei jeder der Konstellationen anders ausfällt. Wie wir sehen werden, basieren die Lösungen letztlich darauf, inwieweit die hinter der Einwilligung stehenden Prämissen auch in der jeweiligen Konstellation zu bejahen sind. Als solche möglichen Prämissen kommen m. E. in Betracht: (1) Die Einwilligung stellt eine aktive Ausübung des Selbstbestimmungsrechts bzw. eine gemeinsame Gestaltung des jeweiligen Rechtsguts durch Inhaber und Täter dar. (2) Die Einwilligung ist Ausdruck mangelnden Interesses bzw. Verzichts auf das Rechtsgut durch den Inhaber. (3) Die Einwilligung ist Ergebnis einer Abwägung zwischen gesellschaftlichem Interesse am Rechtsgutserhalt und den Freiheitsinteressen des Inhabers. Neben der Einbindung der relevanten Prämissen wird sich zudem im Folgenden zeigen, dass die Bildung von Fallgruppen die Relevanz des „Hypothetischen“ bei der Bewertung der hypothetischen Einwilligung reduziert. In vielen Fällen geht es nämlich eigentlich gar nicht um hypothetische, sondern um tatsächliche Umstände – und damit steht nicht mehr eine für das Strafrecht kaum zu bewältigende Fiktion im Vordergrund, sondern tatsächliche Aspekte. 1. Aufrechterhalten einer unwirksamen, aber erklärten Einwilligung Gerade im medizinischen Kontext wird es gelegentlich vorkommen, dass das Opfer tatsächlich eine Einwilligung erklärt hat, diese jedoch aufgrund von Willensmängeln unwirksam war. Nach dem Eingriff erklärt das Opfer dann, dass die Einwilligung trotzdem Gültigkeit behalten solle. Zunächst sei an dieser Stelle daran erinnert, dass nach h.M. im Strafrecht nicht jeder Willensmangel zur Unwirksamkeit einer erteilten Einwilligung führt.33 Ein Irrtum, der sich nicht auf die Gefahr für

33 Helmut Frister, Strafrecht AT, 7. Auflage, München 2015, 15. Kapitel Rn. 16 ff.; Günther Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, Die Grundlagen und die Zurechnungslehre, 2. Auflage, Berlin 2011, § 7 Rn. 116 f.; Kühl (Fn. 15), § 9 Rn. 35; Schmidt (Fn. 8), Rn. 444 f.

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das Rechtsgut bezieht, wird etwa regelmäßig als unbeachtlich angesehen.34 Wenn sich der Disponierende über Nebenaspekte irrt, hat das nach dieser Ansicht keinen Einfluss auf seine Dispositionsbefugnis. Hierzu wird eine andere Ansicht vertreten, wonach jeder Irrtum relevant sei und die Unwirksamkeit der Einwilligung zur Folge habe.35 Angesichts dessen, dass die Einwilligung im Strafrecht jedoch im Zusammenhang mit dem von der Strafnorm geschützten Rechtsgut gesehen werden muss, kann das nicht überzeugen. Es bleibt somit dabei, dass nicht jeder Irrtum in diesem Kontext relevant ist. Auf diese Grundlage lässt sich m. E. eine weitere Überlegung stützen: Die Dispositionsbefugnis des Einwilligenden beinhaltet auch, klarstellen zu können, auf welchen Aspekten die eigene Einwilligung tatsächlich basierte und auf welchen nicht, also darüber, welche Aspekte für den Erklärenden selbst zentral waren und welche Aspekte bloße Nebensache – auch wenn sie eigentlich die Gefährlichkeit eines Verhaltens für das Rechtsgut betrafen. Letztlich basiert die Möglichkeit der Einwilligung doch auf der Dispositionsbefugnis des Rechtsgutsinhabers, der bereits über das „Ob“ der Einwilligung als solches entscheiden kann – dann kann er auch darüber entscheiden, welche Informationen bezüglich der Rechtsgutsgefährlichkeit für ihn von Bedeutung sind, um die Einwilligung wirksam zu erklären. Die Relevanz der Irrtümer kann also m. E. auch daran gekoppelt werden, dass der Erklärende selbst hierüber Auskunft gibt, und nicht nur an die Rechtsgutsbezogenheit. Über diese Relevanz kann der Einwilligende zweifellos auch im Nachhinein Auskunft geben. Wenn man die Möglichkeit der Einwilligung und damit die Disposition über das eigene Rechtsgut eröffnet, muss das für den Rechtsgutsinhaber auch einen Freiraum bei der Gestaltung und Fundierung seiner Erklärung beinhalten. Dazu sollte dann auch die Möglichkeit gehören, sich nachträglich zur Bedeutung von Informationen für diese Fundierung zu erklären. Das gilt insbesondere dann, wenn der jeweilige Irrtum ohnehin bereits in einer „Grauzone“ der Rechtsgutsrelevanz zu verorten ist. So irrt ein Patient bei einem Aufklärungsmangel beispielsweise häufig nicht darüber, dass und wie massiv durch die Behandlung in seine körperliche Unversehrtheit eingegriffen wird. Er irrt meist über das damit verbundene Risiko für künftige Schäden für dieses Rechtsgut oder das Rechtsgut Leben („Risiken und Nebenwirkungen“).36 Dieses Risiko hängt zwar mit der Verletzung der körperlichen Unversehrtheit zusammen, zugleich betrifft es eben gerade nicht den vorsätzlichen Eingriff direkt. Dieser typische Irrtum befindet sich deshalb m. E. durchaus in einer solchen „Grauzone“ und ist letztlich erst indirekt für das geschützte Rechtsgut von Bedeutung. 34 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Auflage, Berlin 1996, § 34 IV; Kühl (Fn. 15), § 9 Rn. 38; Schmidt (Fn. 8), Rn. 444. 35 Urs Kindhäuser, Strafrecht AT, 8. Auflage, Baden-Baden 2017, § 12 Rn. 27; vgl. a. Amelung, ZStW 1997, S. 511 ff., der eine Unwirksamkeit jedoch nur bei Setzung eines haftungsbegründenden Tatbestandes durch den Eingreifenden bejaht. 36 Vgl. hierzu etwa auch Kühl (Fn. 15), AT, § 9 Rn. 37.

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In einem solchen Fall ist es deshalb zulässig, dass der Rechtsgutsinhaber im Nachhinein erklärt, dass er auch in Kenntnis der Umstände eingewilligt hätte und damit schlicht klarstellt, dass der betreffende Irrtum aus seiner Sicht für seine Einwilligung nicht ursächlich war. Dafür ist unerheblich, wenn der Verletzte die Klarstellung mangels Kenntnis der rechtsdogmatischen Feinheiten nicht als solche bezeichnet; die Erklärung lässt sich durch Auslegung in der Regel ohne weiteres dergestalt interpretieren. Daran kann m. E. auch die Tatsache nichts ändern, dass der Arzt eine Aufklärungspflicht hat.37 Der Patient darf vor bzw. während der Aufklärung auf bestimmte Informationen verzichten, weil er sie für seine Entscheidung als unbeachtlich ansieht – eine entsprechende Klarstellung muss deshalb auch im Nachhinein möglich sein. In diesem Fall wird gerade keine Einwilligung ersetzt oder fingiert, sondern der Patient hat ex ante über sein Rechtsgut verfügt. Er hat dies auf Basis für ihn hinreichender Informationen getan – die Informationen, die er im Nachhinein erhält, waren aus seiner Sicht für seine tatsächlich abgegebene Erklärung irrelevant.38 Diese Überlegungen lassen sich ohne Weiteres mit den bestehenden strafrechtlichen Strukturen abbilden, da das Unrecht der Tat zum Zeitpunkt ihrer Begehung davon abhängt, ob die Einwilligung wirksam war. Dies war sie bereits zu diesem Zeitpunkt, wie der Einwilligende im Nachhinein lediglich klarstellt. Es ist also keine Fiktion erforderlich – bereits zum Zeitpunkt des Eingriffs fehlt es an einem rechtswidrigen Eingriff in das Rechtsgut. Diese Überlegungen greifen jedenfalls für durch den Arzt fahrlässig herbeigeführte Aufklärungsmängel. Bei vorsätzlicher Täuschung durch den Täter könnte man dies jedoch bezweifeln. In diesen Fällen kann kaum davon ausgegangen werden, dass der Täter zur Verwirklichung der Freiheitssphären des Opfers beiträgt bzw. auf Basis der Einwilligung handelt, was aber zur Rechtfertigung seines Handelns erforderlich wäre. Somit scheint es mit Blick auf das verwirklichte Unrecht der Tathandlung nicht unplausibel, in diesen Fällen von einer Unwirksamkeit der Einwilligung auszugehen.39 Zugleich könnte man anführen, dass es eben Teil der Dispositionsbefugnis des Verletzten sei, auch vorsätzliche Täuschungen als für seine Erklärung unbeachtlich anzusehen; wenn man die Dispositionsbefugnis betont und der Unrechtsbewertung zugrunde legt, dass gerade diese umgangen worden ist, ließe sich also ebenfalls begründen, dass die nachträgliche Klarstellung auch in diesen Fällen möglich bleibt. Jedenfalls aber dann, wenn ein Arzt seinen Patienten ohne entsprechenden Vorsatz nicht über alle mit einer Operation verbundenen Risiken aufklärt, der Patient einwilligt und im Nachhinein erklärt, er hätte auch bei Kenntnis aller Risiken eingewilligt, bleibt der Arzt nach unseren Überlegungen straflos. Dies basiert jedoch gerade nicht auf einer Fiktion seines vermeintlichen Willens, sondern auf tatsächlichen Erklärungen und Umständen. Mit der nachträglichen Zustimmung stellt der Patient le37

Anders Kühl (Fn. 15), AT, § 9 Rn. 40. Vgl. hierzu etwa auch Zabel (Fn. 7), GA 2015, S. 230. 39 Zabel (Fn. 7), GA 2015, S. 231 f. 38

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diglich klar, dass seine vorherige Erklärung nicht auf der Unkenntnis des Risikos beruhte. Gerechtfertigt bleibt der Arzt also weiterhin gerade aufgrund der expliziten Einwilligung. „Hypothetisches“ findet sich nicht, strafrechtlich bewertet wird die tatsächliche Erklärung und spätere Klarstellung des Betroffenen.

2. Nachträgliche Akzeptanz bei fehlender oder eindeutig unwirksamer Einwilligung Die zweite Konstellation sei als ausdrückliche nachträgliche Akzeptanz bezeichnet. In Abgrenzung zur ersten Gruppe geht es hier um die Fälle, in denen vorab entweder überhaupt keine Einwilligung erteilt wurde oder die Einwilligung etwa aufgrund einer Drohung oder (nach der hier vertretenen Ansicht) einer vorsätzlichen Täuschung unwirksam ist. Der Verletzte erklärt nun im Anschluss an die Tat, dass er gegen die Verletzung keine Einwände hat bzw. gehabt hätte, wenn er gefragt worden wäre. Dabei sei die Freiwilligkeit der Erklärung unterstellt – zwar wird diese manchmal bezweifelt, weil der Verletzte sich in einer Drucksituation befände oder aufgrund des guten Ausgangs eine Verweigerung als unangemessen empfände. Leichtem sozialen Druck sieht sich der Einzelne jedoch häufig ausgesetzt, ohne dass wir deshalb an der Autonomie seiner Entscheidungen zweifeln40 – warum das bei einer nachträglichen Erklärung anders zu bewerten sein sollte, ist nicht erkennbar. Es handelt sich hier um den klassischen Fall der hypothetischen Einwilligung und die Aussage wird, wie erläutert, als Fiktion eines zu einem früheren Zeitpunkt bestehenden Willens interpretiert. Diese Interpretation ist jedoch nicht zwingend; so wird etwa auch vertreten, dass es sich um eine Art nachträgliche Genehmigung der Verletzung handle.41 Die letztgenannte Interpretation der Erklärung ist m. E. durchaus möglich. Für einen juristischen Laien dürfte es vermutlich keinen relevanten Unterschied machen, ob er die Verletzung nachträglich genehmigt oder ob er auf Nachfrage vorab eingewilligt hätte. Aus dieser Interpretation ergeben sich zwei Fragen: Ist eine nachträgliche Genehmigung als eine unrechtsrelevante Disposition über das Rechtsgut des Verletzten anzusehen? Ist diese Disposition im Strafrecht adäquat abbildbar? Mit Blick auf die erste Frage lässt sich zunächst anführen, dass der Verletzte idealerweise frei verantwortlich gerade erklärt, dass er damit über sein Rechtsgut disponieren möchte.42 Im Gegenteil schiene es doch eine Einschränkung seiner Disposi40 Zur Freiwilligkeit der Einwilligung im Detail etwa Knut Amelung, Grundsätzliches zur Freiwilligkeit der Einwilligung des Verletzten, NStZ 2006, S. 317 ff. 41 Schwartz (Fn. 7), S. 225, 239; nach Detlev Sternberg-Lieben, Wirksamkeit einer hypothetischen Einwilligung in eine mit einem operativen Eingriff verbundene Körperverletzungshandlung, in: StV 2008, S. 189, 190, 192 handelt es sich um eine „nachträgliche Hypothesenbildung als Rückwirkungsfiktion“. 42 Zur Freiverantwortlichkeit der Erklärung vgl. etwa Zabel (Fn. 7), GA 2015, S. 231.

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tionsbefugnis zu bedeuten, wenn er die Verletzung des Rechtsguts nicht im Nachhinein selbst bewerten könnte. Doch gibt gerade die Nachträglichkeit der Erklärung Anlass, an ihrer Einordnung als Disposition über das Rechtsgut zu zweifeln.43 Sie stellt gerade keine Freiheitsgestaltung bzw. aktive Persönlichkeitsentfaltung des Opfers dar. Im Gegenteil, es handelt sich bei der Verletzung weiterhin zunächst um eine bewusst in die Freiheitssphäre eingreifende Tat. Interpretiert man die Einwilligung primär als rechtliche Umsetzung der Gestaltungsmöglichkeiten44 des Verletzten, ist eine nachträgliche Genehmigung etwas qualitativ anderes als eine vorherige Einwilligung. In unserem Fall einer solchen nachträglichen Zustimmung wird der Umgang mit dem Rechtsgut zunächst von einem Dritten gestaltet und gerade nicht vom Rechtsgutinhaber. An dieser Stelle ist also zunächst festzuhalten, dass es sich nicht um einen spezifischen Aspekt der Einwilligung handelt, nicht um eine Klarstellung oder ähnliches, sondern um eine qualitativ andere Konstellation. Man kann durchaus diskutieren, ob sich darauf eine Neubewertung der Bestrafung des Täters stützen lässt – etwa im Sinne einer Strafmilderung – dies ist jedoch m. E. umfassend von der Rechtsfigur der Einwilligung zu trennen. An dieser Stelle soll diese Debatte nicht geführt werden, sondern lediglich darauf hingewiesen, dass es m. E. auch hier nicht um eine Fiktion gehen sollte, sondern um eine strafrechtliche Bewertung der nachträglichen Genehmigung einer ursprünglich strafbaren Handlung. Das sollte bereits durch die Wahl der Begrifflichkeit – (nachträgliche) Genehmigung statt hypothetischer Einwilligung – klargestellt werden. Anders könnte die Bewertung ausfallen, wenn man die Einwilligung als Ausdruck des mangelnden Interesses des Verletzten am Rechtsgut betrachtet.45 Dann steht gerade nicht die „ex ante Disposition“ im Vordergrund, sondern dann wäre das Unrecht möglicherweise tatsächlich verringert, weil der Verletzte kein Interesse am Schutz hatte und dies wiederum nur im Nachhinein zum Ausdruck bringt. Dieses Verständnis der Einwilligung ist von „Inhaberschaft“, von einem fast dinglichen Rechtsgutsverständnis geprägt und steht damit in vielerlei Hinsicht einer zivilrechtlichen Betrachtung nahe. Deshalb kann hiernach eine nachträgliche Zustimmung als Ausdruck des mangelnden Interesses und damit durchaus auch als Grund für eine Änderung der Handlungsbewertung angesehen werden. Eine ähnliche Einschätzung könnte sich auch aus einer die sozialen Aspekte betonenden Interpretation der Einwilligung ergeben.46 Durch die ausdrückliche nachträgliche Zustimmung wird die soziale Stö43

Hengstenberg (Fn. 7), S. 336. Claus Roxin, Strafrecht AT I, 4. Auflage, München 2006, Rn. 12. 45 Lencker/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 8), Vorbem. zu §§ 32 ff. Rn. 33 m.w.N.; Horst Schlehofer, in: Münchener Kommentar StGB, Band 1, 3. Auflage, München 2017, Vorbem. zu §§ 32 ff. Rn. 173. 46 Peter Noll, Tatbestand und Rechtswidrigkeit: Die Wertabwägung als Prinzip der Rechtfertigung, in: ZStW 77 (1965), S. 1, 19; Thomas Weigend, Über die Begründung der Straflosigkeit bei Einwilligung des Betroffenen, in: ZStW 98 (1986), S. 44, 46. 44

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rung durch die Tat gemildert, was für eine verminderte Strafwürdigkeit sprechen könnte.47 Selbst wenn man hiernach Tat und Täter aufgrund der nachträglichen Äußerung des Opfers anders bewertet, muss die Änderung in strafrechtlichen Strukturen eingehegt werden. Die Beurteilung der Strafbarkeit erfolgt regelmäßig zum Zeitpunkt der Handlung.48 In den klassischen Strukturen können sich nachträgliche Umstände durchaus auf Höhe und Art der Strafe auswirken; das „Ob“ der Strafbarkeit von späteren Ereignissen und dem Verhalten des Opfers abhängig zu machen, ist dagegen problematisch: Zum einen führt das zu einer erheblichen Zufälligkeit der Strafbarkeit als solcher, zum anderen kann es dadurch zu einer Zwischenphase kommen, in der die Strafbarkeit des Verhaltens ungewiss wäre. Beides könnte das Vertrauen der Bevölkerung in strafrechtliche Normen und den Rechtsstaat verringern. Gegen diese Zweifel könnte man andere strafrechtliche Figuren (z. B. den Rücktritt) anführen. Ohne an dieser Stelle jeden potentiellen Vergleich nachzeichnen zu können, sei hier nur zusammenfassend darauf hingewiesen, dass diese Figuren m. E. gerade nicht umfassend mit der nachträglichen Billigung vergleichbar sind. Tatsächlich vergleichbare Konzeptionen finden sich vielmehr gerade bei der Strafzumessung bzw. im Strafverfahren ähnliche Konstellationen, da hier eine Berücksichtigung von ex post Erklärungen oder Geschehnissen erfolgt – so wirkt ein Täter-Opfer-Ausgleich gelegentlich strafmildernd oder führt zur Einstellung der Strafverfolgung; manche Delikte sind nur auf Strafantrag des Verletzten verfolgbar und werden somit bei einer nachträglichen Billigung und ohne einen solchen Antrag faktisch nicht verfolgt und sanktioniert.49 Diese Ebene scheint auch für den Umgang mit der hier dargestellten Konstellation der nachträglichen expliziten Billigung angemessen.50 Denn der Täter hat auch in diesem Fall zum Zeitpunkt der Tat ein vorwerfbares Unrecht begangen, das nicht rückwirkend „neutralisiert“ werden kann. Das Unrecht wird jedoch nachträglich verringert, wenn das Opfer später sein mangelndes Interesse am Rechtsgutserhalt zum Ausdruck bringt. Das kann m. E. durchaus eine fakultative Strafmilderung, u. U. gar einen Verzicht auf Bestrafung begründen. Dagegen wird teilweise angeführt, darüber könne nur der Gesetzgeber entscheiden und ohne explizite Regelung sei eine entsprechende Strafmilderung unzulässig. Doch wenn es sogar Rechtfertigungsgründe ohne explizite Regelung gibt, scheint dies bei Strafaufhebungs- oder -milderungsgründen zweifellos ebenfalls möglich. Wenn also ein Arzt den Patienten ohne vorherige Einwilligung behandelt, etwa weil deren Einholung im Klinikalltag vergessen wurde, der Patient aber im Nachhinein seine Zustimmung erklärt, könnte der Richter die Strafe jedenfalls mildern, u. U. 47

Weigend (Fn. 46), ZStW 98, S. 46. Vgl. hierzu etwa Albrecht (Fn. 7), S. 351; Martin Böse, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Fn. 8), § 8 Rn. 2. 49 Zum Täter-Opfer-Ausgleich vgl. etwa Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder (Fn. 8), § 46a Rn. 6 f. Strafantragserfordernisse finden sich etwa in §§ 194, 205, 230, 301, 303c StGB. 50 Böcker (Fn. 24), JZ 2005, S. 929; Jansen (Fn. 17), ZJS 2011, S. 488. 48

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auch ganz von Bestrafung absehen. Auch hier findet sich nichts „Hypothetisches“, keine Fiktion. Zwar wird der Verzicht auf die Interessen nachträglich erklärt, auf dieser Basis wird aber gerade kein Wille rückwirkend fingiert. Die Bewertung knüpft vielmehr an den Zeitpunkt der Erklärung an. 3. Fiktion der Willenserklärung oder Vermutung der Genehmigung In der dritten Fallgruppe geht es nun tatsächlich um „Hypothetisches“, d. h. um eine Fiktion. Erfasst sind Fälle, in denen weder eine vorherige noch eine nachträgliche ausdrückliche Erklärung des Verletzten vorliegt, etwa weil er verstorben ist oder einwilligungsunfähig wurde. Denkbar ist auch, dass der Verletzte zur Verletzung nicht eindeutig Stellung bezieht. Da es an einer Erklärung des Verletzten fehlt, kann m. E. im Gegensatz zur gerade geschilderten zweiten Fallgruppe keine nachträgliche Billigung unterstellt werden kann. Somit könnte hier tatsächlich nur eine vorherige Zustimmung fingiert werden. Der BGH geht in diesen Fällen nach dem „in dubio pro reo“-Grundsatz vor; d. h. er behandelt sie wie andere Fälle der hypothetischen Einwilligung, weil man die hypothetische Versagung der Zustimmung nicht nachweisen könne. M. E. muss hier jedoch gerade nicht aufgrund tatsächlicher Zweifel zugunsten des Angeklagten vom Vorliegen einer hypothetischen Einwilligung ausgegangen werden. Unabhängig davon, wie man die hypothetische Einwilligung verortet, handelt es sich um eine Ausnahme von der durch die Tatbestandserfüllung indizierten Strafbarkeit. Deshalb muss ihr Nichtvorliegen jedenfalls nur dann positiv nachgewiesen werden, wenn für ihr Vorliegen konkrete Anhaltspunkte existieren. Das ist hier aber deshalb nicht entscheidend, weil der BGH zur geschilderten zweiten Fallgruppe ohnehin eine andere Ansicht vertritt und auch bei einer expliziten Erklärung die Einwilligung ex post fingiert. Es stellt sich nun die Frage, ob die Fiktion des Opferwillens bei Anhaltspunkten für eine hypothetische Zustimmung die Handlungsbewertung ebenfalls ändern sollte und was das gegebenenfalls für die Strafbarkeit bedeuten würde. Die Antwort hängt wiederum davon ab, wie man die Möglichkeit der Einwilligung als solche begründet. Stellt sich die Einwilligung als Ausdruck der aktiven Gestaltung der eigenen Rechtsgutsinhaberschaft durch das Opfer dar51, kann eine solche Fiktion nicht von Relevanz sein. Denn eine nachträgliche Erklärung ist gerade keine aktive, vorherige Gestaltung der eigenen Freiheitssphäre. Anders muss die Antwort lauten, wenn man die Einwilligung als Verzicht auf das Rechtsgut52 einordnet. In diesem Fall ist weniger entscheidend, ob das Opfer den Verzicht vorab zum Ausdruck gebracht hat oder erst im Nachhinein festgestellt wird, dass es wohl kein Interesse am Erhalt des Rechtsguts gehabt hätte, wenn man es 51 52

Lencker/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 8), Vorbem. zu §§ 32 ff. Rn. 33a. Roxin (Fn. 44), § 13 Rn. 12.

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vorab gefragt hätte. Die Fiktion eines Verzichts erscheint eher denkbar als die Fiktion einer aktiven Gestaltung. Wiederum anders fällt die Einschätzung aus, wenn man die Einwilligung letztlich als Interessenabwägung zwischen Rechtsgüterschutz und Handlungsfreiheit betrachtet.53 An dieser Stelle unterscheidet sich die rechtliche Bewertung von der oben dargestellten zweiten Gruppe. Denn m. E. wird die Bedeutung der Freiheitsaspekte durch einen nachträglich fingierten Willen nicht wesentlich erhöht und kann die Verletzung des Rechtsguts nicht ausgleichen. Diese inhaltlichen Erwägungen seien nun noch durch strukturelle Betrachtungen ergänzt. Strafrecht betreibt eine Bewertung der Tat, eine sozialethische Kategorisierung des Täterverhaltens.54 Es betreibt keinen Interessensausgleich oder Wiedergutmachung beim Opfer. Zwar ist es zutreffend, dass sich die Bewertung einer Tat, die in ein Individualrechtsgut eingreift, mit der Zustimmung des Inhabers ändern muss. Es ist jedoch nicht zwingend, vor allem wenn die Einwilligung nur gemutmaßt wird, dass die Strafbarkeit damit umfassend entfällt.55 Jedenfalls für den Zeitpunkt der Tat ändert sich aber durch nachträglich fingierte Erklärungen an Art und Maß des Unrechts gerade nichts. Somit ist es nicht plausibel, die Schuld des Täters nicht nach dem tatsächlichen Geschehen, sondern nach unterstellten, fiktionalen Annahmen zu beurteilen.56 Auch im Übrigen ist Strafrecht für den Umgang mit Fiktionen eher ungeeignet.57 Es blickt bei Bewertung der Tat regelmäßig auf den Zeitpunkt der Begehung, nicht auf spätere Zeitpunkte. Zudem lässt sich eine Fiktion, wie angedeutet, nicht positiv nachweisen, so dass hier zwangsläufig ein Konflikt mit dem Zweifelsatz entsteht. Somit ist die Möglichkeit, einen zustimmenden Willen des Opfers ex post zu fingieren, für das Strafrecht abzulehnen. Für diese Konstellationen bleibt es bei Strafbarkeit des Täters.

53

Noll (Fn. 46), ZStW 77, S. 19; Weigend (Fn. 46), ZStW 98, S. 46. Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht Allgemeiner Teil, 12. Auflage, Bielefeld 2016, § 2 Rn. 4. 55 Javier De Vincente Remesal, Die mutmaßliche Einwilligung und ihre besondere Bedeutung im Rahmen einer Operationserweiterung, in: GA 2017, S. 689, 693. 56 Albrecht (Fn. 7), S. 367 ff.; Hengstenberg (Fn. 7), S. 367 f.; Schwartz (Fn. 7), S. 236 f. 57 Vgl. hierzu etwa Albrecht (Fn. 7), S. 259 ff.; Hengstenberg (Fn. 7), S. 375 ff.; Schwartz (Fn. 7), S. 171 ff. Bei einer Fiktion wie des pflichtgemäßen Alternativverhaltens etwa wird nicht eine Erklärung (oder Handlung) an sich fingiert; die Handlung, die den strafbaren Erfolg herbeiführte, hat in diesen Fällen ja tatsächlich stattgefunden. Gleichzeitig zeigt sich gerade auch an dieser äußerst umstrittenen Figur, wie problematisch der Umgang mit Fiktionen ganz generell im Strafrecht ist. 54

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III. Fazit Die Debatte zur hypothetischen Einwilligung wurde hier anhand von Fallgruppen zu ordnen versucht: 1) Die nachträgliche Klarstellung der tatsächlich abgegebenen Einwilligungserklärung, 2) die nachträgliche, explizite Genehmigung des Rechtsgutseingriffs und 3) die Fiktion einer nie erklärten Einwilligung. Die inhaltliche Einschätzung und strukturelle Einordnung der jeweiligen Konstellation hängt nun von den Prämissen zur Einwilligung ab. So kann man die Einwilligung als aktive Ausübung des Selbstbestimmungsrechts durch Inhaber und Täter gemeinsam einordnen, als Ausdruck mangelnden Interesses am Rechtsgut durch den Inhaber oder schließlich als Ergebnis einer Abwägung zwischen gesellschaftlichem Interesse am Rechtsgutserhalt und Freiheitsinteressen des Inhabers. In der ersten Fallgruppe ist nach allen diesen Prämissen eine Klarstellung möglich. Eine nachträgliche Genehmigung erscheint dagegen zumindest dann schwer vertretbar, wenn man die Einwilligung als aktive Rechtsausübung durch den Verletzten betrachtet. Die Straflosigkeit des Täters auf Basis einer Fiktion erscheint überhaupt nur denkbar, wenn man die Einwilligungsmöglichkeit mit dem mangelnden Interesse des Opfers begründet, aber selbst dann lässt sich dies kaum in strafrechtliche Strukturen übersetzen. Das vermeintlich „Hypothetische“ der hypothetischen Einwilligung, also die Fiktion eines nicht existenten und niemals erklärten Willens nach der Fallgruppe 3), kann sich im Strafrecht nicht wiederfinden. Relevant für die strafrechtliche Bewertung des Rechtsgutseingriffs sind nur tatsächliche Erklärungen, in unserem Fall Klarstellungen oder nachträgliche Genehmigungen, nicht aber Hypothesen und Fiktionen. Wir haben durch die hier vorgenommenen Kategorisierungen die Hypothesen aus dem Bereich der Einwilligung weitgehend entfernt und für die Fälle, in denen nur eine Fiktion zur Straflosigkeit führen könnte, die Übertragung ins Strafrecht abgelehnt. So bleibt es möglich, die meisten Problemfälle, die unter der Überschrift „hypothetische Einwilligung“ diskutiert werden, adäquat zu lösen, ohne das Strafrecht für Fiktionen öffnen zu müssen.

Nothilfe für Tiere als Anthropozentrik Von Rainer Keller

I. Einleitung Die folgende Untersuchung betrifft neben der Interpretation des § 32 StGB einige Grundlagenprobleme: die Bedeutung der Unterscheidung Mensch/Tier, ihre ethische Legitimität, ihre sozialen Implikationen sowie die Konsequenzen ihrer Relativierung, insbesondere im Hinblick auf die zunehmende Verwissenschaftlichung und Technisierung von Mensch und Natur. Allerdings können diese Grundlagenprobleme vorliegend nur andeutungsweise thematisiert werden. Ihre gründliche Behandlung bleibt den Vertretern der Rechtsethik vorbehalten, insbesondere also Reinhard Merkel, der zur rechtsethischen Bestimmung des Menschseins grundlegende Beiträge geleistet hat und zweifellos weiterhin leisten wird. Ob Tieren Nothilfe geleistet werden darf, wird gegenwärtig infolge der industriellen Produktion und Verwertung von Tieren sowie der teilweise grauenhaften Ausgestaltung der Tierproduktion praktisch beispielsweise relevant, wenn Wirbeltiere in Vorbereitung ihrer Schlachtung massenhaft unter Bedingungen gehalten werden, die gemäß § 17 TierSchG als strafbare Quälerei zu bewerten sind1, und Tierschutzaktivisten in die Stallungen eindringen, um die rechtswidrige Unterbringung der Tiere in Filmaufnahmen zu dokumentieren, die sie den für Gegenmaßnahmen zuständigen Behörden zur Verfügung stellen. Mit einer derartigen Konstellation befasste sich neuerdings die Rechtsprechung2. Dass das den § 123 StGB erfüllende Verhalten der Tierschutzaktivisten ethisch positiv zu bewerten und bei Gegebensein der einschlägigen Merkmale als Notstandshilfe gemäß § 34 StGB gerechtfertigt ist, wird vorliegend ohne Diskussion der implizierten Probleme angenommen. Die im Folgenden problematisierte Rechtfertigung gemäß § 32 StGB lässt, so gegeben, weitergehende Abwehrmaßnahmen zu als der rechtfertigende Notstand: keine Pflicht auszuweichen oder polizeiliche Hilfe herbeizurufen, grundsätzlich keine Begrenzung der Verteidigung durch Verhältnismäßigkeit. Die Voraussetzung der Notwehrhilfe – ge1

Zu Einzelheiten der konkreten Unterbringung von Tieren und der strafrechtlichen Bewertung der Unterbringung vgl. Bülte, GA 2018, 35; ders., NJW 2019, 19. 2 LG Magdeburg StV 2018, 335 m. Anm. A. Keller/T. Zetsche; OLG Naumburg NJW 2018, 2064 m. Anm. Hotz; weitere Kommentierungen der Entscheidungen: Dehne-Niemann/ Greisner, GA 2019, 205; Greco, JZ 2019, 390; Scheuerl/Glock, NStZ 2018, 448; zur unzulänglichen Strafverfolgung von Tierquälerei vgl. Bülte, (Fn. 1).

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genwärtiger rechtswidriger Angriff – ist mit der rechtswidrigen Unterbringung der Tiere gegeben, wenn Tiere als ,andere‘ gemäß § 32 StGB zu bewerten sind. Darum geht es im Folgenden. 1. Ist das Tier ein ,anderer‘ gemäß § 32 StGB? In der Literatur wird dies überwiegend verneint3. Neuerdings gibt es bejahende Stellungnahmen4. – Nach dem Wortlaut des § 32 StGB bezeichnet „anderer“ einen Angehörigen der Spezies, die mit dem Bezugswort „wer“ bezeichnet wird, einen lebenden Menschen, nicht ein Tier, das auch auf die Frage „Wer?“ nicht antworten kann. Allerdings ist anerkannt, dass Rechtfertigungsgründe über ihren Wortlaut hinaus erweitert werden können. Dementsprechend wird die Nothilfebefugnis auch gewährt zur Verteidigung der Rechtsgüter von Embryonen und juristischen Personen5. Daraus kann aber nicht ohne Weiteres geschlossen werden, dass auch für Tiere eine Ausweitung über den Wortlaut ,anderer‘ hinaus angemessen sei. Denn Embryonen sind werdende Menschen und juristische Personen sind „Ausdruck freier Entfaltung der privaten natürlichen Person“6. Dass Tiere von Menschen normativ weiter entfernt sind als Embryonen und juristische Personen, bestätigt auch das GG, das nach h. M. in Art. 1 Menschen und (wenn auch gemindert) Embryonen unentziehbar (Art. 79 GG) Menschenwürde und Grundrechte zuweist7 und im Rahmen des Art. 19 Abs. 3 den juristischen Personen ebenfalls Grundrechte zuweist. Zugunsten der Tiere enthält es in Art. 20a nur eine vage Schutzorientierung, deren Umsetzung weitgehend der Gesetzgebung überlassen ist. Die Einbeziehung von Tieren kann also nicht allein in Analogie zum Embryo und zur juristischen Person angenommen werden8.

3 Dehne-Niemann/Greisner (Fn. 2); Duttge, in: HK-StGB, 4. Aufl. 2017, vor § 32 Rn. 8; Erb, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. 2017, § 32 Rn. 100; Frister, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2018, 16/ 532 Fn. 7; Günther, in: SK-StGB, 7. Aufl. 1999, § 32 Rn. 49; Mitsch, JURA 2017, 1388, 1393 f.; Eisele, in: Schönke/Schröder/Perron, Strafgesetzbuch, 30. Aufl. 2018, § 32 Rn. 8; Hecker, JuS 2018, 83 ff.; Ritz, JuS 2018, 333 ff.; Rönnau/Hohn, in: LK-StGB, 12. Aufl. 2006, § 32 Rn. 82; Scheuerl/Glock (Fn. 2), S. 449. 4 LG Magdeburg (Fn. 2); Greco (Fn. 2); Herzog, JZ 2016, 190 ff.; A. Keller/T. Zetsche (Fn. 2); Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, 29. Aufl. 2018, § 32 Rn. 12; tendenziell auch Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 15 Rn. 34. Zur Stellungnahme des OLG Naumburg s. u. Fn. 14. 5 Darauf verweist Roxin (Fn. 4). 6 BVerfGE 68, 193, 205 f. 7 BVerfGE 39, 41; 88, 203. 8 Dementsprechend verweist Roxin (Fn. 4) auf die Gesetzgebung.

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2. Probleme des zu schützenden Rechtsgutes Ist nach der gesetzlichen Systematik das Tier, wenn es durch Quälerei rechtswidrig angegriffen wird, bei der Anwendung des § 32 StGB den Menschen gleich zu behandeln? Verteidigt werden dürfen in Notwehr nach h. M., vom umstrittenen Fall der Staatsnotwehr abgesehen, Individualrechtsgüter, Rechtsgüter also, auf die der Angegriffene ein subjektives Recht hat9. Im GG und im TierSchG ist kein subjektives Recht der Tiere, von Quälerei verschont zu bleiben, statuiert.10 Gemäß Art. 20a GG sollen Tiere (auch) als einzelne geschützt werden. Aber das impliziert nicht, dass sie ein entsprechendes subjektives Recht hätten. Teilweise wird auch angenommen, Tiere müssten gemäß Art. 20a GG um ihrer selbst willen geschützt werden. Aber auch damit wird den Tieren kein subjektives Recht gewährt.11 Vielmehr wird der Allgemeinheit die Verantwortung auferlegt für den Schutz der Tiere ungeachtet menschlicher Verwertungsinteressen. Und diese staatliche Verantwortung wird mit dem TierSchG umgesetzt. Zwar schließt eine Schutzverantwortung nicht prinzipiell aus, dass das zu schützende Wesen ein subjektives Recht auf Integrität hat, wie z. B. ein Kind, für dessen Schutz die Eltern verantwortlich sind. Aber das ist nicht notwendig so. Die staatliche Schutzverantwortung bezüglich Tieren impliziert nach h. M. kein subjektives Recht der zu schützenden Tiere. Es handelt sich um einen objektivrechtlichen Schutz.12 Allerdings hat Art. 20a GG Einfluss auf die Auslegung des einfachen Gesetzesrechts. Daraus kann man erschließen, dass das Verschontbleiben von Quälerei ein Rechtsgut ist,13 das durch objektives Recht und gegebenenfalls gemäß § 34 StGB zu schützen ist, nicht jedoch, dass das TierSchG dahin auszulegen sei, dass Tiere ein entsprechendes subjektives Recht hätten, das die Anwendung des § 32 StGB begründete. Das LG Magdeburg,14 das die Anwendbarkeit des § 32 StGB auf Art. 20a GG und das TierSchG stützte, berücksichtigte dabei die dargestellten Probleme nicht. Ergänzend vertrat es die These, die Verteidigung der Tiere gemäß § 32 StGB sei zulässig, 9

Die abweichende, rein überindividualistische Deutung des § 32 StGB wird vorliegend nicht berücksichtigt. 10 Zum Folgenden Hömig, in: Hömig (Hrsg.), GG, 9. Aufl. 2010, Art. 20a Rn. 2; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 10. Aufl. 2009, Art. 20a Rn. 13; Kloepfer, Verfassungsrecht Bd. 1, 1. Aufl. 2011, § 12 Rn. 67; v. Loeper, in: Kluge (Hrsg.), Tierschutzgesetz, 2002, S. 66 ff.; Lorz/Metzger, Tierschutzgesetz, 6. Aufl. 2008, S. 43; Murswiek, in: Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 20a, Rn. 12, 31b; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. III, Stand 2018, Art. 20a, Rn. 60, 71; Ort/ Reckewell, in: Kluge (Hrsg.), Tierschutzgesetz, 2002, S. 327; Sommermann, in: v. Münch/ Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 20a Rn. 33 f. 11 Murswiek (Fn. 10), Rn. 22; zum Schutz der Tiere um ihrer selbst willen s.a. Greco (Fn. 2), S. 392. 12 Ebenso Raspé, Die tierliche Person, 2013, S. 187, tendenziell anders S. 219 ff. 13 Vgl Raspé (Fn. 12), S. 175. 14 StV 2018, 335; ähnlich Hotz (Fn. 2), S. 266, bzgl. § 34 StGB. OLG Naumburg (Fn. 2) lehnte § 32 StGB ab, weil die Geeignetheit oder die subjektive Seite der Nothilfe nicht gegeben gewesen sei.

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auch weil damit das Mitgefühl der Menschen für die Tiere geschützt werde.15 Die Relativierung des staatlichen Gewaltmonopols zum Schutz vager Gefühle zuzulassen, ist jedoch problematisch. Die dargestellte staatliche Schutzverantwortung für Tiere schließt nicht prinzipiell aus, dass das Veschontbleiben der Tiere von grundloser Quälerei auch, wie Tierrechtsvertreter16 annehmen, ein jenseits des TierSchG begründetes Individualrechtsgut jedes (leidensfähigen) Tieres sein kann, das in Nothilfe verteidigt werden kann.17 Zu klären ist also nun, ob, wie Tierrechtsvertreter annehmen, im Hinblick auf eine Menschenähnlichkeit der Tiere diesen ein rechtlicher Status zukommt, der im Kontext des § 32 StGB als subjektives Recht auf Verschontbleiben von Quälerei zu bewerten ist. 3. Zur Ähnlichkeit Mensch/Tier als Grund der Gleichbehandlung Bei der Bestimmung der Menschenähnlichkeit von Tieren werden diverse den Menschen mehr oder weniger gleiche Qualifikationen von Tieren, insbesondere Wirbeltieren, berücksichtigt.18 Bezüglich der Qualifikationen der Menschen wird teilweise besonders auf die die Menschenwürde begründenden Qualifikationen abgestellt. Die Diskussion kann vorliegend nur überblicksweise referiert werden. Für die Ähnlichkeit werden geltend gemacht u. a. die bei manchen Tierarten gegebene Selbstständigkeit, Empfindungsfähigkeit, insbesondere Leidensfähigkeit (sofern diese nicht gegeben ist, liegt keine Tierquälerei vor), ansatzweise auch Intelligenz, Fähigkeit zu Eifersucht, Angst, Mitleid, Trauer, Freude, Freundschaft. Unter den Qualifikationen der Menschen, die bei Tieren nicht oder nur wenig gegeben sind, werden berücksichtigt: Sprachkompetenz, Intelligenz, Zukunftsorientierung, Verantwortlichkeit, Kompetenz zu Weltgestaltung, Unterscheidung Recht/Unrecht und entsprechende Handlungsorientierung. Da es vorliegend um die Gleichbehandlung der Tiere mit Menschen allein bei der Bestimmung des ,anderen‘ in § 32 StGB geht, werden im Folgenden nur diesbezüglich besonders relevante Qualifikationen berücksichtigt.

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Ablehnend Greco (Fn. 2), S. 391; Herzog (Fn. 4), S. 195. Greco (Fn. 2); Herzog (Fn. 4); vgl auch Raspé (Fn. 12), S. 174 ff. 17 I. E. ebenso Greco (Fn. 2), S. 391 ff.; zu Einwänden Mitschs (Fn. 3) s. u. 5 ff. 18 Zum Folgenden: Greco (Fn. 2), S. 393; Herzog (Fn. 4), S. 191 f.; Hirt/Maisack/Moritz, Tierschutzgesetz, 3. Aufl. 2016, S. 9 ff.; Raspé, (Fn. 12), S. 87 f.; Wolf/Tuider, Tierethische Positionen, 2014, abrufbar unter: www.bpb.de, gesellschaft, umwelt, bioethik; krit. Scholz (Fn. 10), Rn. 73 ff. 16

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4. Leidensfähigkeit und Pathozentrik als Gründe der Gleichbehandlung Für Tierrechtsvertreter ist ein zentraler Grund der Gleichbehandlung Mensch/Tier bei der Bestimmung des ,anderen‘ die Leidensfähigkeit, die als Teil der Empfindungsfähigkeit bei Wirbeltieren und Menschen oft gegeben ist.19 Tierrechtsvertreter argumentieren insofern zurecht speziesorientiert, gehen also von typischerweise gegebenen Qualifikationen aus; anderenfalls könnte die Leidensfähigkeit, die bei manchen komatösen Menschen fehlt, nicht die Gleichbehandlung der Tiere eingrenzen. Als Leiden wird vorliegend das Empfinden körperlicher Schmerzen thematisiert; eine genauere Bestimmung, insbesondere ob auch unreflektierte Schmerzen relevant sind,20 ist hier nicht erforderlich. Auch in der Rechtsprechung des BVerfG,21 die eine spezifische Tierethik anerkennt, ist die Leidensfähigkeit der Tiere relevant. Für die Orientierung an diesem Kriterium wird auch die Pathozentrik geltend gemacht,22 die grundsätzlich den moralischen Anspruch auf Schutz vor Leiden den Tieren ebenso zuweist wie Menschen und eine diesbezügliche Differenzierung als Speziesismus zurückweist. Bei der Bestimmung des ,anderen‘ im Kontext des § 32 StGB kann die Leidensfähigkeit von Tieren deren Gleichstellung mit zu verteidigenden Menschen und also das subjektive Recht der Tiere begründen, wenn die Leidensvermeidung dem Zweck des § 32 StGB entspricht, d. h. wenn die Zulassung der Verteidigung gemäß § 32 StGB der Vermeidung von Leiden dient, was zunächst evident erscheint: § 32 StGB soll Menschen u. a. ermöglichen, körperliches Leiden bewirkende Quälerei abzuwenden. Allerdings verhindert der oder die Verteidigende nach dem Programm des § 32 StGB Leiden nicht nur, sondern, soweit erforderlich, bewirkt er es auch: beim Angreifer – und zwar vorsätzlich und eventuell weitaus mehr als dem Angegriffenen Leiden droht und ohne Ausweichmöglichkeiten und maßvolle polizeiliche Hilfe zu nutzen. Im Hinblick darauf ist die Annahme, in der Situation drohender Quälerei bezwecke § 32 StGB Leidensvermeidung, ungenau: Nur das Leiden des rechtswidrig Angegriffenen soll verhindert werden. Im Horizont der Pathozentrik aber erscheint dieses Programm der Trutzwehr, das alles in allem u. U. mehr Leiden bewirkt als verhindert, verfehlt. Zwar könnte mit der herrschenden dualistischen Notwehrlehre geltend gemacht werden, durch die spezifische Schneidigkeit der Notwehr solle generalpräventiv die Rechtsgeltung gewahrt und damit auch künftiges Leiden verhindert werden. Aber dieser Bezug ist hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit und Effizienz 19

Grundlegend Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. A New Edition. Vol. II, London 1828, S. 235, 236; weitere Nachweise in vorangeg. Fn. 18. 20 Dazu Michel, Die pathozentrische Position in der Tierethik, abrufbar unter: www.bpb.de/ gesellschaft/umwelt/bioethik. 21 E 101, 1 Rn. 121, 135, 139. 22 Vgl. A. Keller/T. Zetsche (Fn. 2), S. 337; Michel (Fn. 20); Raspé (Fn. 12), S. 62 ff.; zustimmend Herzog (Fn. 4), S. 192; krit. zur Pathozentrik Kloepfer (Fn. 10), § 12 Rn. 64; Sommermann (Fn. 10), § 20a Rn. 33; Scholz (Fn. 10); vgl. auch Hartmut Böhme, Aussichten auf die Natur, 2017, S. 12 ff. m.w.N.

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sehr vage. Für das Anliegen der Pathozentrik ist die Anwendung des § 34 StGB mit der grundsätzlichen Orientierung auf Verhältnismäßigkeit der Leidensverursachung, Ausweichpflicht und Vorrang der professionellen und maßvollen polizeilichen Verteidigung angemessener als die des § 32 StGB.23 Im Übrigen kann festgehalten werden, dass die Leidensfähigkeit von angegriffenen Tieren für ihre Gleichbehandlung mit Menschen bei der Anwendung speziell des § 32 StGB anstelle des § 34 StGB zwar relevant, aber keineswegs hinreichend ist. Allerdings ist im Zusammenhang der Pathozentrik noch ein weiteres Argument der Literatur24 zu berücksichtigen: Empathisch sei es, so wird angenommen, nicht nachvollziehbar, dass Menschen zur Verteidigung fremder Sachwerte Notwehrhilfe leisten dürfen, während sie zur Abwendung von Tierquälerei nur die Befugnisse des Notstands hätten. Diese Argumentation ist unspezifisch. Empathisch verallgemeinert müsste sie auch bestreiten, dass in Notwehr zur Verteidigung von Sachwerten Menschen schwer verletzt oder gar getötet werden dürfen. Diese Überschreitung der Verhältnismäßigkeit – konkret: des im Vergleich zu Sachwerten höheren normativen Gewichts von Menschen – aber gehört zum Programm des § 32: Recht muss dem Unrecht nicht weichen. Folglich kann das im Verhältnis zu Sachwerten höhere normative Gewicht von Tieren auch nicht ihren Schutz gemäß § 32 StGB begründen.25 Anders formuliert: Die Autoren müssten die Legitimität des § 32 StGB grundsätzlich bestreiten, wie im Vorangegangenen in der Perspektive der Pathozentrik gezeigt.

5. Autonomie und rechtliche Verantwortlichkeit als Bedingungen der Gleichbehandlung Die Leidensfähigkeit, die die Gleichbehandlung der Tiere begründen soll, ist eine passive Kompetenz. Zur Notwehr aber gehört auch aktive Autonomie. Die Verteidigungshandlung erfüllt einen Straftatbestand, ist nicht ausschließlich ein Abwehrrecht. Der sich Verteidigende – von der Nothilfe zunächst abgesehen – greift aufgrund einer freien Entscheidung – er könnte den Angriff auch hinnehmen – vorsätzlich – nach der Rechtsprechung absichtlich – in die Rechtssphäre des Angreifers ein,26 um das angegriffene Rechtsgut zu schützen und – so die dualistische h. M. – darüber hinausgehend vorsätzlich das objektive Recht zu wahren.27 Diese Form der Autonomie sowie die Kompetenz zur Unterscheidung von Recht und Unrecht gehören zu den Spezifika der Notwehr. Nach dem individualrechtlichen Verständnis der Notwehr ist die Ausübung der aktiven rechtlichen Autonomie des sich Verteidigenden das zentrale Element der Notwehr, denn damit wahrt der rechtswidrig Angegrif23

I. E. ebenso Eisele (Fn. 3), § 32 Rn. 8. A. Keller/T. Zetsche (Fn. 2), S. 337 f. 25 Ähnlich Dehne-Niemann/Greisner (Fn. 2), S. 205, 210. 26 Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl. 2017, § 7 Rn. 2. 27 Vgl Roxin (Fn. 4), § 15 Rn. 2, 129 m.w.N. 24

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fene seinen Freiheitsraum.28 Auch bei diesem Verständnis hat die Notwehr jedoch, wie alle subjektiven Rechte,29 auch soziale Bedeutung, denn mit ihr manifestieren verantwortliche Bürger zugleich das Recht der Gesellschaft und die Verantwortlichkeit bezüglich Abweichungen. Demgemäß wird die Notwehr als Bürgerrecht bestimmt.30 Die genannten Spezifika der Notwehr müssen grundsätzlich auch bei dem Angegriffenen gegeben sein, der durch Nothilfe verteidigt wird, denn der Gegenstand seines subjektiven Rechts wird – nach der dualistischen Lehre neben dem objektiven Recht – verteidigt; und zur Realisierung von subjektiven Rechten gehört – von unverzichtbaren Rechten abgesehen – essentiell der Wille des Rechtsinhabers. Grundsätzlich muss also dieser den rechtswidrigen Angriff als solchen erkennen und autonom sich für die Verteidigung durch den Helfer entscheiden und – so die dualistische Lehre – die Wahrung des objektiven Rechts wollen.31 Diese Konzeption wird nicht wesentlich dadurch eingeschränkt, dass gegebenenfalls der mutmaßliche Wille des Angegriffenen hinreicht (dazu unten 6.). Durch das Erfordernis autonomer Wahrnehmung und Wahrung des Rechts unterscheidet sich die Notwehrhilfe von der Notstandshilfe, bei der der zu Schützende keinen Vorsatz bezüglich des Schutzes haben muss; nur seine Einwilligung in die Realisierung der Gefahr macht die Notstandshilfe unzulässig. Die genannten subjektiven Orientierungen des zu Schützenden bei der Notwehrhilfe sind mit der Leidensfähigkeit des zu Schützenden nicht begründet und sind bei Tieren nicht gegeben. Das gilt schon bezüglich des Willens, zu dem eine Entscheidung gehört; bei Tieren ist eher ein Reflex gegeben.32 Davon abgesehen verstehen Tiere nicht das Recht als allgemein verbindliche soziale Ordnung und können sich nicht darauf bezogen verantwortlich verhalten. Dies gilt auch für einzelne vergleichsweise intelligente Tierarten wie Orang-Utans. Diese speziesorientierte Bestimmung muss hier nicht weiter begründet werden, denn sie ist im Strafrecht anerkannt: Die

28

Vgl Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT I, 6. Aufl. 2011, § 9 Rn. 61. Zum Folgenden: Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1995, § 9 II 1; s.a. Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 28), § 2 Rn. 8. 30 Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 12/42. ,Bürger‘ meint hier alle Menschen in der Gesellschaft. Zur der in der US-Rechtstheorie teilweise geforderten Integration der Tiere in das Konzept der Staatsbürgerschaft vgl. Herzog, in: Kloepfer/Kluge (Hrsg.), Die tierschutzrechtliche Verbandsklage, 2017, S. 47 (57) m.w.N. 31 Vgl. Mitsch (Fn. 3); Roxin (Fn. 4), § 15 Rn. 1, 116. 32 Zwar ist neuerdings infolge der Hirnforschung auch bezüglich der Menschen die Annahme von Willensfreiheit wieder allgemein problematisch geworden. Das schließt jedoch, wie Merkel (Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2008, S. 110 ff.) zeigt, nicht die Zuschreibung von Verantwortung aus. Voraussetzung dafür ist unter modernen Verhältnissen u. a. eine differenzierte Sozialstruktur und bei den Individuen typischerweise ein Mindestmaß an Intelligenz und reflektiertem Wirklichkeitsbezug, die bei Tieren wenig gegeben sind. 29

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Rechtsordnung ist nicht an die Tiere adressiert, weil diese nicht „taugliche Adressaten von Rechtsnormen“ sind.33 6. Ersetzbarkeit von Autonomie und rechtlicher Verantwortlichkeit des Angegriffenen? Tierrechtsvertreter halten das gezeigte subjektive Defizit bei angegriffenen Tieren in der Konstellation der Nothilfe für irrelevant, wenn und weil die genannten fehlenden Kompetenzen beim Helfer gegeben sind ebenso wie bei der Nothilfe zugunsten komatöser Menschen, sofern diese weder Bewusstsein noch Empfindungsfähigkeit haben.34 Insofern ist zu beachten, dass in der Situation der Nothilfe das beim zu Verteidigenden fehlende Bewusstsein vom rechtswidrigen Angriff und der fehlende Wille, das eigene Rechtsgut zu verteidigen und das Recht zur Geltung zu bringen, rechtlich genau genommen nicht durch den Nothelfer ersetzt werden können. Der Nothelfer bringt nicht eigenes Recht zur Geltung, sondern hat teil am – so gegeben – Recht des Angegriffenen.35 Dementsprechend hat der Nothelfer im Hinblick auf ein subjektives Defizit des angegriffenen Menschen (etwa Bewusstlosigkeit) bezüglich der Verteidigung dessen mutmaßlichen Willen zu vollziehen gemäß den Regeln der mutmaßlichen Einwilligung. Das gilt auch im Horizont der dualistischen Konzeption, denn auch diese stützt die Nothilfe – auch – auf auf den Selbstschutz.36 Die mutmaßliche Einwilligung aber setzt grundsätzlich voraus, dass der, dessen reale Einwilligung fehlt oder nicht erkennbar ist, einwilligungsfähig ist und gemäß dieser Fähigkeit, wenn er sie hätte ausüben können, mutmaßlich das für die Verteidigung Relevante erkannt und gewollt hätte. Tiere aber sind nicht einwilligungsfähig, denn sie erkennen weder den Gegenstand der potenziellen Einwilligung – die Bedeutung des Rechts – noch haben sie den Willen zur Durchsetzung des Rechts durch die spezifischen Maßnahmen des § 32 StGB. Allerdings ist die Einwilligungsfähigkeit auch bei Embryonen und manchen Menschen – kleinen Kindern, komatösen Menschen – nicht gegeben. In solchen Fällen wird abgestellt auf den wirklichen oder mutmaßlichen Willen des wirklichen oder potenziellen Stellvertreters der einwilligungsunfähigen Menschen oder Embryonen. Ist dieser mutmaßliche Wille nicht zu ermitteln, wird angenommen, mutmaßlich wolle der Angegriffene das „rechtlich Vernünftige“, also „normalerweise“ gemäß § 32 StGB verteidigt werden.37 33 Kühl (Fn. 26), § 7 Rn. 26; Roxin (Fn. 4), § 15 Rn. 6; Stratenwerth/Kuhlen (Fn. 28), § 9 Rn. 65. 34 Greco (Fn. 2), S. 393; Herzog (Fn. 4), S. 192; ähnlich ders. (Fn. 30), S. 58. 35 Jakobs (Fn. 30), 12/59 Fn. 115 m.w.N.; Kuhlen GA 2008, 283, 288; Kühl (Fn. 26), § 7 Rn. 140; Rönnau/Hohn (Fn. 3) § 32 Rn. 72. 36 Roxin (Fn. 4), § 15 Rn. 116. 37 Jakobs (Fn. 30), 12/62; Kühl (Fn. 26), § 7 Rn. 145; Seier, NJW 1987, 2476, 2478; ähnlich Roxin (Fn. 4), § 15 Rn. 120.

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Für Tiere ist Stellvertretung rechtlich nicht ermöglicht. Könnte gemäß dem Ausgeführten bei Tieren der Nothelfer entscheiden, gemäß § 32 StGB das Tier zu verteidigen? Kann ein mutmaßlicher Wille eines Tieres angenommen werden, der gerichtet ist auf das „rechtlich Vernünftige“ und Normale? Oder würde damit eine Orientierung der menschlichen Allgemeinheit zur Geltung gebracht und das Tier als ein Rechtsgut derselben behandelt? 7. Ersetzung der tierlichen durch menschliche Disposition: Anthropozentrismus Der Nothelfer der Tiere würde, wenn er entschiede, ein Tier gemäß § 32 StGB zu verteidigen, ein menschliches Programm realisieren, das der realen speziesgemäßen Disposition von Tieren nicht gerecht wird: Diese nehmen nicht selbständig, auch nicht wie entscheidungsunfähige Menschen durch Stellvertreter, am sozialen Rechtsverkehr und an der Realisierung des „rechtlich Vernünftigen“ teil. Sie richten sich zwar oft auf Hilfe, aber nicht willentlich (s. o. 5.) und nicht bewusst gegen einen rechtswidrigen Angriff auf ein ihnen rechtlich zustehendes Gut und nicht auf Wahrung der Rechtsgeltung. Möglich ist auch, dass gequälte Tiere nicht orientiert sind auf Hilfe durch Verteidigung, sondern darauf, den Quäler zu schonen, so wie sie quälende Leittiere in ihrer Spezies akzeptieren, oder darauf anstelle von Verteidigung, den Quäler ihrerseits – artkonform möglich bei Raubtieren – anzugreifen, um ihn zu fressen wie der Löwe, der den Wärter im Zoo zerfleischt. Ihnen das Programm des § 32 StGB als ihren „normalen“ mutmaßlichen Willen zuzuschreiben, bedeutet ihnen zuzuschreiben, sie seien eigentlich Menschen, mit ihrer tierlichen Eigenart seien sie anormal; dies impliziert also eine Negation ihrer tierlichen Eigenart. Diese aber wäre zu respektieren, wenn Tiere um ihrer selbst willen und als Inhaber subjektiver Rechte geschützt werden sollten. Das Gebot, Tiere grundsätzlich in ihrer Art zu respektieren, bestätigt auch das TierSchG, indem es in mehreren Hinsichten vorgibt, den Tieren ein artgemäßes Leben zu ermöglichen, soweit nicht der Schutz anderer Arten entgegensteht (vgl. §§ 2 ff. TierSchG), nicht sie an das menschlich Normale anzupassen. Demgemäß kann dieses menschliche Normale, das die Nothilfe für Menschen legitimiert,38 nicht Nothilfe für Tiere begründen. Das Programm des § 32 bei Verteidigung von Tieren zu realisieren, bedeutet der Sache nach, Tiere als Rechtsgüter der menschlichen Allgemeinheit zu behandeln, denn sie werden dabei nach menschlichen Standards behandelt, sind aber nicht menschliche Individuen; und sie werden nicht in ihrer tierlichen Eigenheit respektiert, was Essential von subjektiver Berechtigung der Tiere wäre.39 Rechtsgüter der Allgemeinheit aber dürfen nach h. M. in der Regel nicht gemäß § 32 StGB geschützt werden.

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Jakobs, Kühl, jeweils Fn. 37. Dazu Derrida, Das Tier, das ich also bin, 2. Aufl. 2016, S. 134 f.

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Das menschliche Programm des § 32 StGB bei der Verteidigung von Tieren wie gezeigt umzusetzen, würde ferner eine Ausweitung jener Anthropozentrik implizieren, die von der Tierethik im Allgemeinen kritisiert wird.40 Das hat nicht nur theoretische Bedeutung: Die Notwehrhilfe für Tiere würde durch Menschen realisiert, die dabei nie rein altruistisch orientiert wären, sondern – wie sozial agierende Menschen allemal – stets auch sich selbst legitimieren würden.41 Diese Problematik wurde in der Diskussion der Verbandsklage thematisiert.42 Bemerkenswert ist, dass einer der radikalsten Kritiker der anthropozentrischen Mensch/Tier-Differenzierung, Jacques Derrida, die Statuierung von subjektiven Rechten für Tiere ablehnt, weil damit die Macht von Menschen verdeckt würde.43 Legitim kann also der Schutz der Tiere durch Private gegen drohende Quälerei nur auf Vermeidung von Leiden orientiert werden und dies ist durch § 34 StGB angemessen ermöglicht. Gegen die hier vertretene Ablehnung der Notwehrhilfe für Tiere könnte eingewandt werden, auch bei der unstreitig zulässigen Verteidigung von Embryonen und komatösen Menschen werde das Programm des § 32 StGB deren konkreter Disposition nicht gerecht. Aber komatöse Menschen und Embryonen sind den zurechnungsfähigen Menschen normativ näher als Tiere. Die Menschenwürde geht aus vom Menschen als typischerweise eigenverantwortlichem Wesen, ist aber jedem einzelnen Menschen ungeachtet seiner individuellen Qualifikationen, also auch komatösen Menschen und – eingeschränkt (s. o. 1.) – Embryonen zugewiesen. Mit der Menschenwürdegarantie wird die Menschenspezies höher bewertet als Tiere. Deshalb kann aus der Bewertung von Menschen nicht ohne weiteres eine gleiche Bewertung von Tieren abgeleitet werden, auch nicht wenn einzelne Tiere empirisch, etwa bezüglich Intelligenz, höher qualifiziert sind als manche Menschen. Derartige Überschneidungen sind bei Speziesdifferenzierungen nie auszuschließen. Davon gehen, wie im Vorangegangenen (4.) gezeigt, auch Tierrechtsvertreter aus. Es kann also daraus, dass jedem Menschen, auch komatösen, das menschliche Programm der individuellen Verteidigung gemäß § 32 StGB als Gegenstand seiner Entscheidung oder seines mutmaßlichen Willens zugewiesen wird, nicht geschlossen werden, dass jenes Programm auch allen Wirbeltieren zugewiesen werden müsse, auch nicht wenn sie im Einzelfall besonders qualifiziert sind. Tierrechtsvertreter nehmen an, Tiere könnten gemäß § 32 StGB verteidigt werden, das normative Gewicht ihrer Rechtsgüter sei jedoch im Vergleich zu den Rechtsgütern der Menschen gemindert, so dass der subjektivrechtliche Schutz ihrer Rechtsgüter gegen menschliche Angreifer beschränkt sei; dies soll im Kontext der Gebotenheit der Notwehr oder ihrer Angemessenheit berücksichtigt werden.44 Insofern 40

Vgl Derrida (Fn. 39), S. 89 ff., 113 ff., 150 ff. Zur Autopoiesis vgl. Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, 2011, S. 75, 97 ff. 42 Vgl Kloepfer, in: Kloepfer /Kluge (Fn. 30), S. 15. 43 Derrida (Fn. 39), S. 100 f., 134 f., 159, 166. 44 Mit Differenzen im Détail: Greco (Fn. 2), S. 396 f.; Herzog (Fn. 4), S. 195; ablehnend Frister (Fn. 3), § 16 Rn. 3, 5 Fn. 7 m.w.N. 41

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wird die im Vorangegangenen kritisierte Gleichbehandlung der Tiere mit Menschen partiell vermieden. Diese Modifikation führt jedoch nicht vorbei an der dargestellten Problematik der Überschreitung der Grenzen der Notwehr durch ausschließlichen Schutz von Allgemeininteressen. Die vorliegend angenommene Differenzierung der Spezies Mensch/Tier und die Höherbewertung der Menschen sind menschliche Setzungen. Dass sie ethisch zu legitimieren seien, wird in der Tierethik teilweise bestritten.45 Darauf kann vorliegend nicht gründlich eingegangen werden. Dass die Höherbewertung der Menschen faktisch beispielsweise in der industriellen Tierproduktion grausam objektiviert wird, ist evident. Die Höherbewertung der Menschen kann jedoch in tierethischer Perspektive immerhin teilweise dadurch legitimiert werden, dass Menschen mit ihrer Selbstüberhöhung qua Menschenwürde die Verantwortung für Umwelt und Tiere übernehmen46 und rechtlich umsetzen, u. a. durch die Erhaltung von Arten und Umwelt sowie durch die (derzeit fehlende) konsequente staatliche Umsetzung des Verbots der Tierquälerei. Daran Tiere gleichrangig zu beteiligen, wäre wohl schwierig, weil sie im Allgemeinen weniger intelligent sind, die Welt weniger umfassend wahrnehmen und Kommunikation mit ihnen weniger differenziert als mit Menschen möglich ist. Wenn die Tiere dabei durch Menschen vertreten würden,47 entstünde das dargestellte Problem der Überlagerung durch menschliche Disposition. Auch die Umsetzung der menschlichen Verantwortung für Tiere setzt also die Unterscheidung Mensch/Tier voraus. 8. Beschränkung des staatlichen Gewaltmonopols und der demokratischen Öffentlichkeit Bedacht werden sollte schließlich, dass das staatliche Gewaltmonopol mit der Zulassung der Nothilfe für Tiere erheblich eingeschränkt würde,48 insbesondere da die Notwehrhilfe ausgeübt werden könnte ohne Begrenzung durch einen Willen der betroffenen Tiere, allein gestützt auf die Erwägungen der menschlichen Nothelfer, die, wie gezeigt, nie rein altruistisch motiviert agieren. Im Hinblick darauf sollte, auch wenn die im Vorangegangenen dargestellten Einwände nicht anerkannt werden, die Entscheidung über die Zulässigkeit der Nothilfe für Tiere der Gesetzgebung überlassen werden. Dafür spricht auch eine verfassungsrechtliche Problematik, die mit der im Vorangegangenen thematisierten Statuierung eines subjektiven Rechts für Tiere verbunden ist. Subjektive Rechte für die Bewältigung von sozial besonders beachteten Problemen einzurichten, entspricht derzeit einer verbreiteten Tendenz. Soziologisch könnte 45

Vgl. Derrida (Fn. 39), S. 150 ff., 196 und passim. Zu der mit der Menschenwürde begründeten Verantwortung der Menschen für Tiere und Umwelt: Caspar, Tierschutz im Recht der modernen Industriegesellschaft, 1999, S. 87; Raspé, a.a.O. Fn. 12, S. 88 f. 47 Dazu Latour, Das Parlament der Dinge, 2. Aufl. 2012, S. 116 ff. 48 Dazu Erb (Fn. 39). 46

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das u. a. mit der zunehmenden Vereinzelung zusammenhängen, die infolge der Abschwächung herkömmlicher sozialer Strukturen eingetreten ist. Juristisch sollte bedacht werden49, dass mit der Statuierung von subjektiven Rechten stets eine Zurückdrängung politischer Öffentlichkeit zugunsten einer Juridifizierung verbunden ist: Die subjektiven Rechte werden, von der Notwehr abgesehen, in justiziellen Verfahren und Entscheidungen realisiert. Auch im Hinblick darauf sollte die Statuierung subjektiver Rechte für Tiere der demokratischen Gesetzgebung überlassen werden. 9. Abschließende Bemerkungen Die Menschenähnlichkeit von Tieren ist nicht soweit gegeben, dass sich daraus im Kontext des § 32 StGB ein subjektives Recht, von Quälerei verschont zu bleiben, ergäbe, denn den Tieren fehlt die Fähigkeit, Recht zu verstehen und sich entsprechend verantwortlich zu verhalten. Dieses Fehlen wird auch nicht durch die Kompetenz eines Notwehrhelfers kompensiert. Mit der Nothilfe für Tiere würde ein menschliches Allgemeininteresse in unangemessener Weise geschützt. Die Eigenart der Tiere würde ignoriert. Die ethisch gebotene Abwendung des Leidens der Tiere ist primär eine Aufgabe des Staates, die jedoch derzeit unzulänglich erfüllt wird. Die Abwendung des Leidens der Tiere durch Private ist gemäß § 34 StGB angemessener möglich als durch Nothilfe. Die bei im Vorangegangenen zugrunde gelegte Unterscheidung der Tiere von Menschen ist – wie alle rechtlichen Gegenstandsbestimmungen – eine Setzung. Ihre Plausibilität hängt zunehmend von der Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik ab.50 Ob an ihr festgehalten werden kann, wenn künftig vermehrt das Erbgut von Tieren gentechnisch optimiert, Zellen von Menschen in Tier-Embryonen eingeschleust, Mischwesen erzeugt werden und dergleichen, ist offen, aber auch Gegenstand menschlicher Regelung.

49 Zum Folgenden Fischer-Lescano, KritJ 2017, 474 ff. m.w.N.; Kloepfer, in: Kloepfer/ Kluge, (Fn. 30), S. 15; Ladeur, Bitte weniger Rechte, 07. 12. 2016, abrufbar unter https://www. faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/gastbeitrag-weniger-rechte-bitte-weniger-rechte14563957.html. 50 Dazu R. Keller, ZStW 1995, 457.

Rechtspositionen, Rechtsgüter und Rettungsinteressen in der aktuellen Diskussion zu Problemen des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) Von Ulfrid Neumann Reinhard Merkel hat sich in zahlreichen Arbeiten mit rechtsphilosophischen Grundproblemen wie auch mit dogmatischen Details der Institution des rechtfertigenden Notstands befasst.1 Ich nutze die Gelegenheit der ihm gewidmeten Festschrift, auf einige Fragen einzugehen, die sich infolge neuerer technischer Entwicklungen (I.), aufgrund aktueller Gerichtsentscheidungen (II.) sowie aus jüngsten grundsätzlichen Stellungnahmen im Schrifttum zum Problemkreis des Notstands und der Pflichtenkollision ergeben (III.).

I. „Schadensmindernde“ Programmierung autonom fahrender Fahrzeuge 1. Irritationen der Notstandsdogmatik Die Rechtsfragen, die aus der Entwicklung und dem Einsatz intelligenter Maschinen resultieren, haben der Diskussion zu zahlreichen „klassischen“ dogmatischen Problemen neue Impulse gegeben. Im Bereich des strafrechtlichen rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) scheint die Perspektive einer „schadensmindernden“ Programmierung autonom fahrender Fahrzeuge die Dynamik zu besitzen, ein traditionelles Prinzip des rechtfertigenden Notstands ins Wanken zu bringen: den Grundsatz, dass bei der Abwägung von Interessen, wie § 34 StGB sie verlangt, die Zahl der auf 1 Reinhard Merkel, Teilnahme am Suizid – Tötung auf Verlangen – Euthanasie. Fragen an die Strafrechtsdogmatik, in: R. Hegselmann/R. Merkel (Hrsg.), Zur Debatte über Euthanasie (1991), 71; ders., Zaungäste? Über die Vernachlässigung philosophischer Argumente in der Strafrechtswissenschaft (und einige verbreitete Mißverständnisse zu § 34 S. 1 StGB), in: Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Frankfurt a.M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts (1995), 171; ders., Tödlicher Behandlungsabbruch und mutmaßliche Einwilligung bei Patienten im apallischen Syndrom, ZStW 107 (1995), 545; ders., Früheuthanasie (2001); ders., Die Abgrenzung von Handlungs- und Unterlassungsdelikt. Altes, Neues Ungelöstes, in: Herzberg-FS 2008, S. 193; ders., An den Grenzen von Medizin, Ethik und Strafrecht: Die chirurgische Trennung so genannter siamesischer Zwillinge, in: Roxin/ Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts (42010), 603; ders., Der Schwangerschaftsabbruch, a.a.O. 295; ders., § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten?, JZ 2007, 373; ders., Folter und Notwehr, in: Jakobs-FS (2007), 375.

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beiden Seiten betroffenen Menschenleben nicht berücksichtigt werden dürfe. Nach diesem Prinzip („Keine Abwägung von Leben gegen Leben!“) wäre es jedenfalls prima facie unzulässig und gegebenenfalls als vorsätzliche Tötung strafbar,2 ein Kraftfahrzeug so zu programmieren, dass bei einem unvermeidlichen Unfall weniger Menschen getötet werden, als dies ohne die programmierte Umsteuerung der Fall wäre. Beispiel: Würde im Fall einer unvermeidlichen Kollision das Fahrzeug seine Fahrtrichtung beibehalten, so würden 4 Personen (A, B, C, D) getötet, bei einer (programmierten) Umsteuerung würden 2 Personen (E und F) ihr Leben verlieren. Extrapoliert würde die Zahl der durch den Straßenverkehr verursachten Todesfälle durch eine entsprechende Programmierung deutlich sinken. Ein Rückgang der Zahl der Verkehrstoten, wie er in den letzten Jahren und Jahrzehnten in Deutschland tatsächlich erreicht werden konnte, ist aber – das dürfte unstreitig sein – nicht nur politisch, sondern auch ethisch positiv zu bewerten.3 Insofern würde das Prinzip „keine zahlenmäßige Abwägung von Leben gegen Leben“ in seiner Anwendung auf die „schadensmindernde“ Programmierung autonom fahrender Kraftfahrzeuge zu kontraintuitiven Konsequenzen führen. Die Frage, ob hier das Ende des im (deutschen) Strafrecht4 weithin anerkannten „Dogmas“ der Unabwägbarkeit von Leben gegen Leben bevorsteht,5 erscheint nur wenig übertrieben. Nun gibt es zweifellos überzeugende Gründe, die gegen eine quantitative (wie auch gegen eine qualitative) Abwägung von menschlichen Leben in Notstandssitua-

2 So Engländer, Das selbstfahrende Kraftfahrzeug und die Bewältigung dilemmatischer Situationen, ZIS 2016, 608 ff.; Sander/Hollering, Strafrechtliche Verantwortlichkeit im Zusammenhang mit automatisiertem Fahren, NStZ 2017, 193 ff. 3 Dazu schon Neumann, Die Programmierung autonomer Fahrzeuge für Dilemma-Situationen – ein Notstandsproblem?, in: Thomas Rotsch (Hrsg.), Zehn Jahre ZIS – Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, 2018, S. 393 (393). 4 Aus der (nahezu uferlosen) moralphilosophischen Diskussion zu dem Problem der (Un-) Abwägbarkeit von Leben gegen Leben vgl. etwa die bei Hörnle/Wohlers, GA 2018, 12, 17 Fn. 35 zitierten Arbeiten von Philippa Foot und Judith Thomson. Soweit in dieser Diskussion empirische Erhebungen zur alltagsmoralischen Beurteilung derartiger Konfliktsituationen einbezogen werden, zeigt sich, dass strukturell parallele Handlungsalternativen je nach Ausgestaltung der Situation höchst unterschiedlich beurteilt werden. So wären viele der Befragten bereit, eine Weiche umzustellen, damit ein herannahender Zug nicht 5 Personen, sondern „nur“ eine Person erfasst (und tödlich verletzt). Dagegen würden nur wenige einen „dicken Mann“ von einer Brücke vor einen herannahenden Zug auf ein Gleis stoßen, um so den Zug abzubremsen und eine (tödliche) Kollision mit einer Gruppe von Personen zu verhindern. Vermutlich sind es die von Seyla Benhabib betonten, nach ihrer Diagnose in den traditionellen Ethiktheorien vernachlässigten „emotionalen und affektiven Grundlagen des moralischen Urteilens und Verhaltens“ (Benhabib, Im Schatten von Aristoteles und Hegel. Kommunikative Ethik und Kontroversen in der zeitgenössischen praktischen Philosophie in: dies., Selbst im Kontext. Kommunikative Ethik im Spanungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne, 1992, S. 33), die hier zu einer unterschiedlichen Beurteilung von Situationen führen, die aus der Sicht einer rationalen Ethik strukturell parallel liegen. 5 Fahl, Anfang vom Ende des Unabwägbarkeitsdogmas „Leben gegen Leben“ durch selbstfahrende Kraftfahrzeuge?, in: Joecks-GS, 2019, S. 67.

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tionen sprechen.6 Zu fragen ist aber, ob das grundsätzliche Verbot dieser Abwägung die schadensmindernde Programmierung von Fahrzeugen tatsächlich blockieren sollte. Die Diskussion, die zu dieser Frage begonnen hat, setzt an zwei unterschiedlichen Punkten an. Zum einen wird in Zweifel gezogen, ob das Institut des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB), auf das das Verbot einer Abwägung von Leben gegen Leben zugeschnitten ist, hier dogmatisch tatsächlich die richtige Adresse ist: strukturell, so die Argumentation, gehe es eher um eine Kollision von Rettungspflichten, so dass ein Rückgriff auf die Regeln der Pflichtenkollision nahe liege.7 Zum andern wird erwogen, das Prinzip „keine zahlenmäßige Abwägung von Leben gegen Leben“ grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen und seine Reichweite gegebenenfalls zu begrenzen.8

2. Rückgriff auf die Regeln der Pflichtenkollision Was den ersteren Ansatz betrifft, so ist aus meiner Sicht hier vor allem von Bedeutung, dass das zentrale Argument für das Prinzip „Keine Abwägung von Leben gegen Leben“ in den Fällen einer schadensmindernden Programmierung von Fahrzeugen nicht greift. Dieses Argument besagt, die Lebensgefahr dürfe nicht von gefährdeten auf nicht gefährdete Personen verlagert werden – auch dann nicht, wenn dadurch die Zahl der Opfer erheblich verringert werden könnte. Die geläufige Formulierung lautet, der Täter dürfe „nicht Schicksal spielen“, indem er die Gefahr auf bisher nicht gefährdete Personen abwälze. Um eine solche Verlagerung der Gefahr von gefährdeten auf nicht gefährdete Personen geht es in dem hier als leading case dienenden Weichensteller-Fall. Die Gefahr droht hier allein den Personen, die der außer Kontrolle geratene Zug erfassen wird, lässt man dem Schicksal seinen Lauf. Der Eingriff in das Geschehen (Umstellen der Weiche) verlagert diese Gefahr auf nicht gefährdete Personen. Die betroffenen Personen sind nicht nur als numerische Größen präsent, sondern zum Zeitpunkt des möglichen Eingriffs in das Geschehen auf beiden Seiten identifizierbar. Um die Personen E, F, G, H, I, K zu retten, würden die Personen L, M, N geopfert. Dass dies nicht zulässig wäre, entspricht dem allgemeinen und gut begründeten Konsens. Bei der „schadensmindernden“ Programmierung eines autonom fahrenden Fahrzeugs ist die Konstellation eine andere. Hier kann zum Zeitpunkt der Handlung (Programmierung) nicht zwischen gefährdeten und nicht gefährdeten Personen unterschieden werden. Es kann folglich auch keine Rede davon sein, dass die Gefahr von gefährdeten Personen auf nicht gefährdete verlagert würde. Ob die konkreten Personen (A, B, L, M …) bei einem unvermeidbaren Unfall durch die programmierte 6

Zusammenfassend NK-StGB/Neumann, 5. Aufl. 2017, § 34 Rn. 74 ff. Weigend, ZIS 2017, 599, 603; Neumann, Die Programmierung autonomer Fahrzeuge für Dilemma-Situationen – ein Notstandsproblem?, in: Thomas Rotsch (Hrsg.), Zehn Jahre ZIS – Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, 2018, S. 393 ff. 8 Hörnle/Wohlers, GA 2018, 12 ff. 7

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Umsteuerung des Fahrzeugs der Lebensgefahr ausgeliefert oder aber vor ihr gerettet würden, ist völlig offen. Bei der Programmierung kommen Personen tatsächlich nur als numerische Größen, nicht aber als Individuen in Betracht. Anders formuliert: für alle Individuen bedeutet die schadensmindernde Programmierung, dass sich ihre Chancen, vor einem Verkehrsunfall bewahrt zu bleiben, erhöhen. Richtig ist natürlich, dass man in der konkreten Situation des „Umsteuerns“ zwischen gefährdeten (bei einer Geradeausfahrt von dem Fahrzeug erfassten) und nicht gefährdeten (im Falle der Änderung der Fahrtrichtung erfassten) Personen unterscheiden kann. Aber dies kann aus zwei Gründen nicht entscheidend sein. Zum einen würde dem Unterschied zwischen dem Geradeauslauf des Fahrzeugs und der Änderung seiner Fahrtrichtung sonst eine normative Bedeutung zugemessen, die bei Bewegungsabläufen, die ständig von Steuerungsvorgängen bestimmt werden, nicht plausibel ist. Zum andern aber liegt zu diesem Zeitpunkt keine Handlung vor, die an dem Maßstab des § 34 StGB gemessen werden könnte. Die Reaktion des Fahrzeugs erfolgt automatisiert; die für diese Reaktion verantwortliche Handlung (Programmierung) liegt im Vorfeld und kann sich, wie gezeigt, nicht an der Unterscheidung zwischen Gefährdeten und Nichtgefährdeten orientieren. Zum Zeitpunkt der Programmierung geht es nicht um einen Rettungs-„Eingriff“ in Integritätsinteressen, sondern um die Optimierung von Rettungschancen. Es liegt deshalb nahe, hier auf die Regeln der Pflichtenkollision zurückzugreifen.9 3. Mögliche Einschränkungen des Verbots der Abwägung „Leben gegen Leben“ Löst man das Problem der Zulässigkeit schadensmindernder Programmierung autonom fahrender Fahrzeuge in dieser Weise, dann ist zur Bewältigung dieses Problems eine Einschränkung des Verbots der Abwägung von „Leben gegen Leben“, wie es für den Anwendungsbereich des § 34 StGB anerkannt ist, nicht erforderlich. Denn in der Konstellation der Pflichtenkollision ist es dem Handlungspflichtigen (zumindest) freigestellt, sich bei seiner Entscheidung an der Zahl der jeweils zu rettenden Menschenleben zu orientieren.10 Gleichwohl gibt die Diskussion Anlass, die Reichweite dieses Verbots zu überdenken. Einen Ansatzpunkt dafür bietet die schon bisher im Schrifttum zu findende Auffassung, dass für das Verbot der quantitativen Abwägung von Menschenleben im strafrechtlichen Notstand seinerseits quantitative Begrenzungen zu erwägen seien. 9 Näher dazu Neumann, Die Programmierung autonomer Fahrzeuge für Dilemma-Situationen – ein Notstandsproblem?, in: Thomas Rotsch (Hrsg.), Zehn Jahre ZIS – Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, 2018, S. 393 ff. In der gleichen Richtung Weigend, ZIS 2017, 603; Susanne Beck, Das Dilemma-Problem und die Fahrlässigkeitsdogmatik, in: Hilgendorf (Hrsg.), Autonome Systeme und neue Mobilität, 2017, S. 117, 134: Greco, Autonome Kraftfahrzeuge und Kollisionslagen, in: Kindhäuser-FS 2019, S. 167, 171 ff. 10 Dazu NK-StGB/Neumann, 5. Aufl. 2017, § 34 Rn. 132a; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil Band I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 121.

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So wird bezweifelt, dass sich dieses Verbot auch bei „extremen Zahlendifferenzen“ durchhalten lasse.11 In der Tat verliert dieses Verbot umso mehr an Plausibilität, je größer diese Differenzen werden. Das lässt sich verdeutlichen, wenn man den Weichensteller-Fall etwas variiert: Der für den Betrieb der Schleusenanlage an einem Staudamm zuständige Techniker erkennt, dass Wassermassen, die infolge des Bruchs eines höher gelegenen Staudamms in das untere Staubecken geströmt sind, innerhalb kurzer Zeit auch diesen unteren Staudamm zerstören und dann eine Ortschaft überfluten werden, in der voraussichtlich tausende Menschen zu Tode kommen werden. Die einzige Möglichkeit, dies abzuwenden, besteht darin, ein Schleusentor zu öffnen, auf diese Weise einen Teil des Wassers in einen Seitenkanal strömen zu lassen und so Druck von dem Staudamm zu nehmen. Auf dem Seitenkanal ist allerdings ein Paddler unterwegs, der beim Öffnen des Schleusentores ums Leben kommen wird („Schleusenwärter-Fall“). Hier liegt eindeutig ein Rettungseingriff in ein Integritätsinteresse vor; der Fall ist also nicht über die Regeln der Pflichtenkollision zu lösen. Geht man davon aus, dass bei einem Bruch des Staudamms auch der Paddler ums Leben kommen würde, könnte man zu einer Rechtfertigung anhand von Regeln gelangen, die für Konstellation der „asymmetrischen Gefahrengemeinschaft“ entwickelt wurden, soweit die Dauer der Zeitspanne, um die das Leben des Paddlers verkürzt wird, nicht entgegensteht.12 Auch diese Lösung scheidet aber aus, wenn man annimmt, dass der Seitenkanal, auf dem der Paddler unterwegs ist, so verläuft, dass dieser von einem Bruch des Staudamms nicht betroffen wäre. Nach den anerkannten Regeln des rechtfertigenden Notstands käme eine Rechtfertigung nach § 34 StGB jedenfalls in der letztgenannten Konstellation nicht in Betracht. Dieses Ergebnis ist in so hohem Maße kontraintuitiv, dass es der Überprüfung durch eine detaillierte wissenschaftliche Diskussion bedarf. Das Ergebnis dieser Diskussion kann hier selbstredend nicht vorweggenommen werden. In Betracht kommen drei Möglichkeiten; (1) Man bezieht eine „heroische“ Position und nimmt in Kauf, dass der Schleusenwärter von Rechts wegen den Staudamm brechen und zahlreiche Bewohner der Ortschaft ertrinken lassen muss, um das Prinzip „keine Abwägung von Leben gegen Leben“ nicht einschränken zu müssen.

11 Joerden, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Bd. 2 (Allgemeiner Teil 1), 2019, § 39 („Rechtfertigender Notstand“) Rn. 40. Die Rede ist dort von einem Verhältnis 1 zu 1 Million. 12 Näher zu dieser Konstellation NK-StGB/Neumann, 5. Aufl. 2017, § 45 Rn. 76 ff. Beachtliche Bedenken gegen die Rechtfertigung einer „Rettungstötung“ (auch) in der Konstellation einer asymmetrischen Gefahrengemeinschaft für den Fall, dass mit ihr eine (auch geringfügige) Lebensverkürzung verbunden ist, bei K. Günther, Extreme Notstandssituationen und die Selbstaufhebung des Rechts, in: Neumann-FS 2017, S. 825.

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(2) Man versucht, dieses Prinzip dahingehend einzuschränken, dass bei einer drastischen Differenz zwischen der Zahl der zu rettenden und der der zu opfernden Personen ein „wesentliches Überwiegen“ des Rettungsinteresses zu bejahen ist. Dieses Modell stößt allerdings auf zwei Schwierigkeiten. Zum einen ist, da das Leben ein individuelles Rechtsgut ist, fraglich, ob im Rahmen der Abwägung eine Addition von Menschenleben die Waagschale zugunsten einer (auch: drastischen) Mehrzahl sinken lassen kann.13 Zum andern bliebe die intrikate und wohl kaum lösbare Aufgabe, eine Grenze zu markieren, jenseits derer eine „drastische“ zahlenmäßige Differenz anzunehmen wäre.14 (3) Die dritte Möglichkeit bestünde darin, den in der Diskussion gelegentlich auftauchenden und in der angloamerikanischen Diskussion geläufigen15 Gesichtspunkt des „kleineren Übels“ heranzuziehen und ihn in das System der strafrechtlichen Rechtfertigungsgründe zu integrieren. Anzuschließen wäre dabei an die Erwägung, dass sich die Rettungshandlung in diesen Fällen auch jenseits der Reichweite der Rechtfertigungsgründe des Notstands (§ 34 StGB) und der Pflichtenkollision als (relativ) „situationsadäquates Verhalten“ darstellen kann.16 Dieser Gesichtspunkt, der bisher zur Annahme eines entschuldigenden übergesetzlichen Notstands herangezogen wird17, bezieht sich nicht auf die Motivation des Handelnden, sondern auf die Struktur der Verhaltensalternative und wäre deshalb folgerichtig nicht im Bereich der Entschuldigung, sondern in dem der Rechtfertigung bzw. der Annahme der „Unverbotenheit“ der Rettungshandlung zu verorten. Welche dieser Lösungen sich als am besten begründbar erweisen wird, bleibt abzuwarten. Die Diskussion hat erst begonnen.

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Dazu überzeugend Merkel, Zaungäste? (Fn. 1), S. 187 ff. Nicht einschlägig erscheint mir dagegen das geläufige Argument, eine Vielzahl von Menschenleben könne schon deshalb ein einzelnes Leben nicht überwiegen, weil jedes Menschenleben einen unendlichen Wert habe und die Multiplikation von „Unendlich“ mathematisch nichts anderes als wiederum „Unendlich“ ergeben könne. Zum einen ist, beispielsweise in Hinblick auf die nach ganz herrschender Meinung auch zur Verteidigung von Sachwerten zulässige Tötung eines Angreifers in Notwehr, die Prämisse, dass die Rechtsordnung jedem Menschenleben einen unendlichen Wert zuerkenne, wenig überzeugend. Zum andern ist die Übertragung mathematischer Relationen auf die eher rechtsethisch-wertende Kennzeichnung des Menschenlebens als „unendlicher Wert“ problematisch. Schließlich kennt auch die Mathematik die Denkform des Über-Unendlichen und lässt in diesem Bereich Differenzierungen nach der „Mächtigkeit“ zu. Anhand eines schlichten Beispiels: Wenn jeder Kreis „unendlich viele“ Radien hat, ist es gleichwohl sinnvoll, zu sagen, dass die Anzahl der Radien in zwei Kreisen größer ist als die in nur einem Kreis. 15 Dazu Hörnle/Wohlers, GA 2018, 12, 17. 16 Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 20/41. 17 Dazu NK-StGB/Neumann, 5. Aufl. 2017, § 35 Rn. 60. 14

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II. Das „Tierwohl“ als notstandsfähiges Rechtsgut 1. Aktuelle Gerichtsentscheidungen Große Resonanz in der Strafrechtswissenschaft haben zwei Urteile aus den Jahren 2017 und 2018 gefunden, in denen die Anwendbarkeit des § 34 StGB auf tatbestandsmäßige (§ 123 StGB) Handlungen bejaht wurde, die dem Schutz des Tierwohls dienten.18 Tierschützer waren in die Stallungen eines Schweinemastbetriebs eingedrungen, um Aufnahmen von Verstößen gegen Tierschutzbestimmungen zu machen. Das OLG Naumburg und das LG Marburg (als Vorinstanz) bejahten eine Rechtfertigung nach § 34 StGB und damit die Notstandsfähigkeit eines (strukturell unterschiedlich verstandenen)19 Rechtsguts des Tierwohls. Unter dem letzteren Gesichtspunkt sind die Entscheidungen von besonderer Bedeutung, weil sie die umstrittene Frage betreffen, wie der Bereich der „Interessen“, die nach § 34 StGB zu berücksichtigen sind, abzugrenzen ist. In Betracht kommen zwei Alternativen: Zum einen die von individuellen und kollektiven Interessen, konkurrierend die von menschlichen Interessen und Interessen anderer Lebewesen. 2. Notstandsfähigkeit kollektiver Rechtsgüter? Nach h. M. sind kollektive Interessen in gleicher Weise notstandsfähig wie individuelle.20 Indes ist § 34 StGB sowohl nach dem zugrunde liegenden Prinzip der Solidarität als auch nach seinem Wortlaut auf den Schutz individueller Rechtsgüter zugeschnitten.21 Die Hervorhebung von Leben, Leib, Freiheit, Ehre und Eigentum in § 34 Satz 1 StGB lässt, auch wenn sie nur exemplarischen Charakter hat und deshalb die Berücksichtigung kollektiver Rechtsgüter nicht ausschließt, doch erkennen, dass

18 OLG Naumburg, Urteil vom 22. 02. 2018 – 2 Rv 157/17 = NJW 2018, 2064. Zuvor LG Magdeburg (8. Strafkammer), Urteil vom 11. 10. 2017 – 28 Ns 182 Js 32201/14 (74/17) = StV 2018, 335 = JuS 2018, 83. Aus dem Schrifttum: Greco, Tiernothilfe, JZ 2019, 390 (der vor allem § 32 StGB prüft und bejaht); Hecker, JuS 2018, 83; Hotz, NJW 2018, 2066; Scheuerl/ Glock, NStZ 2018, 448. Ferner Stam, Notstandshandlungen zugunsten von Kollektivrechtsgütern am Beispiel des Tierschutzes – Überlegungen anlässlich des Urteils des OLG Naumburg vom 22. 2. 2018 – 2 Rv 157/17, in: Stam/Werkmeister (Hrsg.), Der Allgemeine Teil des Strafrechts in der aktuellen Rechtsprechung, 2019, S. 171 ff. 19 Dazu Scheuerl/Glock, NStZ 2018, 448, 449. 20 BGH NStZ 1988, 559 (Volksgesundheit); Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Aufl. 2018, § 34 Rn. 4; Schönke/Schröder/Perron, StGB, 30. Aufl. 2019, § 34 Rn. 10; Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 34 Rn. 5; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht Allgemeiner Teil 12. Aufl. 2016, § 15 Rn. 76; Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 13/10; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2017, § 8 Rn. 21; Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, 2002, S. 181 m. Fn. 5. 21 Für den Ausschluss von Rechtsgütern der Allgemeinheit deshalb SK-StGB/Günther, 9. Aufl. 2017, § 34 Rn. 23; Matt/Renzikowski/Engländer, Strafgesetzbuch, 2013, § 34 Rn. 17.

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es jedenfalls in erster Linie um den Schutz individueller Interessen geht.22 Richtig dürfte deshalb sein, kollektive Rechtsgüter nur dann in den Schutzbereich des § 34 StGB einzubeziehen, wenn sie sich auf individuelle Rechtsgüter zurückführen lassen.23 Das gilt beispielsweise für das Rechtsgut der Verkehrssicherheit,24 das mittelbar auch Individualrechtsgüter wie Leben und körperliche Integrität schützt.25 Es erscheint naheliegend, das Problem mit dem OLG Naumburg bei der Frage der Notstandsfähigkeit von kollektiven Interessen zu lokalisieren26 (und im Sinne der herrschenden Meinung zu lösen). Tatsächlich aber liegt die Frage, ob das Tierwohl ein notstandsfähiges Rechtsgut im Sinne des § 34 StGB ist, quer zu der Alternative von individuellen und kollektiven Interessen, wie sie die bisherige Diskussion strukturiert. Denn diese Alternative bezieht sich allein auf menschliche Interessen; das Problem, um das es vorliegend geht, betrifft aber die Frage, ob auch die Interessen von Tieren als mögliche Rettungsinteressen in den Anwendungsbereich des § 34 StGB einbezogen werden sollen. 3. „Personale“ und „interessenbasierte“ Rechtsgutslehre Diese Frage liegt parallel zu dem in der Rechtsgutslehre erörterten Problem, ob und in welchem Sinne das Tierwohl als strafrechtlich schützenswertes Rechtsgut anzuerkennen ist. Insbesondere die personale Rechtsgutslehre stößt hier prima facie auf erhebliche Schwierigkeiten, die sich aber überwinden lassen, wenn man auf den Grundgedanken dieser Lehre zurückgreift. Denn es geht der personalen Rechtsgutslehre zentral darum, Rechtsgüter an individuelle Interessen zurückzubinden. Die entscheidende Frage heißt deshalb, ob die Rechtsordnung Interessen von Tieren anerkennt, die für strafrechtlich schützenswert zu erachten sind. Diese Frage ist jedenfalls nach dem heutigen Stand von Rechtsethik, Rechtsdogmatik und Gesetzgebung zu bejahen. Dass es bei dem Schutz von Tieren um individuelle Interessen geht, dürfte nicht zu bestreiten sein. Körperliche Integrität (Vermeidung von Schmerzen) und Leben sind nicht nur im Humanbereich Interessen des konkret oder potentiell betrof22

Ebenso LK-Zieschang, 13. Aufl. 2019, § 34 Rn. 48, der jedoch im Ergebnis auch kollektive Rechtsgüter als notstandsfähig anerkennt. Zweifelnd hinsichtlich der Berücksichtigungsfähigkeit kollektiver Interessen in Hinblick auf den Wortlaut des § 34 StGB Keller, Rechtliche Grenzen der Provokation von Straftaten, 1989, S. 279. 23 NK-StGB/Neumann, 5. Aufl. 2017, § 34 Rn. 22. Ebenso Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2018, 17/2; ähnl. SK-StGB/Günther, 9. Aufl. 2017, § 34 Rn. 24. 24 BayObLG NJW 2000, 888; zum Rechtsgut der Sicherheit des Luftverkehrs ebenso OLG Düsseldorf NJW 2006, 630. 25 Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil. 8. Aufl. 2017, § 8 Rn. 29. 26 So (in Bezug auf das thematisierte Urteil des OLG Naumburg zutreffend) Stam, Notstandshandlungen zugunsten von Kollektivrechtsgütern am Beispiel des Tierschutzes – Überlegungen anlässlich des Urteils des OLG Naumburg vom 22. 2. 2018 – 2 Rv 157/17, in: Stam/Werkmeister (Hrsg.), Der Allgemeine Teil des Strafrechts in der aktuellen Rechtsprechung, 2019, S. 171 ff. Zu der entsprechenden Argumentation des OLG Naumburg („Tierschutz“ als notstandsfähiges Rechtsgut) krit. Scheuerl/Glock NStZ 2018, 448, 449.

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fenen einzelnen Lebewesens. Eine interessenbasierte Rechtsgutslehre ist in der Lage, auch Interessen von Mit-Lebewesen zu berücksichtigen. Normativ könnte die Rechtsgutslehre hier auf den Gesichtspunkt der auf Empathie gegründeten Solidarität mit anderen Lebewesen zurückgreifen.27 Die seit längerer Zeit in der Strafrechtswissenschaft geführte, jetzt auch in der Rechtsprechung „angekommene“ Diskussion zum Rechtsgut der Tierschutzbestimmungen könnte somit Anlass geben, die „personale“ Rechtsgutslehre zu einer „interessenbasierten“ Rechtsgutslehre fortzuentwickeln.

III. Grenzen des Anwendungsbereichs des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) Die Diskussion zu Struktur und Anwendungsbereich des rechtfertigenden Notstands hat in den letzten Jahren insbesondere durch grundlegende Arbeiten von Wilfried Küper neue Impulse erhalten.28 Einen Schwerpunkt bildet dabei die Frage, ob die Institution des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) lediglich auf eine Tatbegehung durch aktives Handeln, oder aber auch auf Unterlassungen (unechte Unterlassungsdelikte) anzuwenden ist. Soweit es um die Kollision einer (Prima facie-) Handlungspflicht mit einer anderen (Prima facie-)Handlungspflicht geht, hängt damit die Frage der normlogischen Struktur der rechtfertigenden Pflichtenkollision und des Grenzverlaufs zwischen Pflichtenkollision und rechtfertigendem Notstand zusammen. 1. Vorbehalte gegen die Anwendung des § 34 StGB auf Unterlassungen Die Frage, ob das Institut des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) auch auf Unterlassungen anwendbar ist, ist im Schrifttum umstritten. Das Fragezeichen, das hier zu setzen ist, ergibt sich einerseits aus dem Text des § 34 StGB, andererseits aus Zweifeln an der praktischen Notwendigkeit und damit der dogmatischen Funk-

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Dazu schon NK-StGB/Hassemer/Neumann, 5. Aufl. 2017, Vor § 1 Rn. 119e. Näher Neumann, Rechtsgut, Verfassung und die Grenzen des Strafrechts, in: L. Greco/A. Martíns (Hrsg.), Direito penal como crítica da pena. Estudos em homenagem a Juarez Tavares por seu 70. aniversário, Madrid/Barcelona/Buenos Aires/São Paulo, 2012, S. 519 ff. (in portugiesischer Sprache). 28 Küper, Probleme der „defizitären“ rechtfertigenden Pflichtenkollision, JuS 2016, 1070; ders., Die Kollision von Garantenpflichten und die Rechtfertigung pflichtwidrigen Unterlassens, in: Neumann-FS 2017, S. 93 ff.; ders., Kollidierende Pflichtenmehrheit oder singuläre Pflichteneinheit? – Zur Rekonstruktion und Rehabilitierung der rechtfertigenden Pflichtenkollision, Rengier-FS 2018, S. 67; ders., Die Anwendung des rechtfertigenden Notstandes beim unechten Unterlassungsdelikt, ZStW 131 (2019), S. 1 ff.

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tionalität einer Anwendung der Notstandsbestimmung (§ 34 StGB) auf Unterlassungen. a) Wortlaut des § 34 StGB Was den Wortlaut des § 34 StGB betrifft, so ist er offensichtlich auf die Begehung einer „Tat“ durch aktives Handeln zugeschnitten.29 Das ergibt sich vor allem aus der Voraussetzung, dass die Tat geeignet sein muss, eine für ein Rechtsgut drohende Gefahr abzuwenden. Offensichtlich wird hier vorausgesetzt, dass mit der Tat „aktiv“ in einen Kausalverlauf eingegriffen wird, der ohne diesen Eingriff zu einer Schädigung eines Rechtsguts zu führen droht. Dementsprechend betreffen auch die typischen Beispiele für Notstandssituationen, die zu einer Rechtfertigung einer Tat nach § 34 StGB führen, Fälle eines aktiven Handelns. b) Dogmatische Leistungsfähigkeit Die Frage, ob die Anwendung des § 34 StGB auf Unterlassungen einen dogmatischen „Mehrwert“ ergibt (Problem der praktischen Notwendigkeit), stellt sich deshalb, weil die fraglichen Fälle jedenfalls prima facie auch in anderer Weise befriedigend gelöst werden können. Hier sind zwei Konstellationen zu unterscheiden. In der einen kollidiert eine (jedenfalls prima facie bestehende) Handlungspflicht (Rettungspflicht), deren Verletzung als Unterlassung strafbar sein könnte, mit einem Verbot, andere Rechtsgüter zu beeinträchtigen (Kollision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht). Beispiel: Ein Arzt kann das Leben eines Patienten nur durch eine Bluttransfusion retten, die eine zwangsweise Blutentnahme bei einer Praxismitarbeiterin erfordern würde. In der anderen Konstellation besteht ein Konflikt zwischen zwei Handlungspflichten, von denen nur eine erfüllt werden kann. Beispiel: Von seinen zwei Kindern, die beim Spielen in einen reißenden Fluss gestürzt sind, kann der Vater nur eines vor dem Ertrinken bewahren. aa) Kollision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht Im ersteren Fall (Bluttransfusion) liegt es nahe, die Lösung nicht bei der Frage einer Notstands-Rechtfertigung der Verletzung der (prima facie bestehenden) Rettungspflicht, sondern bei der Frage einer möglichen Rechtfertigung des Eingriffs zu suchen, der zur Erfüllung einer solchen Pflicht erforderlich wäre. Anhand des Beispiels: Der Arzt kann in dieser Situation nur dann verpflichtet sein, das Leben des Patienten durch eine Bluttransfusion zu retten, wenn er berechtigt ist, bei einer anderen Person gegen deren Willen eine Blutentnahme durchzuführen.30 29

So auch Küper, ZStW 131 (2019), S. 2. Zu dieser Streitfrage vgl. einerseits (bejahend) Roxin, Strafrecht AT/I, § 16 Rn. 48/49; andererseits (verneinend) Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 10. Aufl. 2018, § 19 Rn. 60. 30

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Die Frage heißt dann nicht, ob die Unterlassung der Bluttransfusion (und damit der Rettung des Lebens des Patienten) nach Notstandsregeln (§ 34 StGB) gerechtfertigt ist, sondern: ob der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB) zugunsten der zwangsweisen Blutentnahme eingreift. Ist dies der Fall, dann ist der Arzt als Garant zu Blutentnahme und -transfusion verpflichtet. Andernfalls wäre die Blutentnahme rechtswidrig. Die Rechtfertigung der Unterlassung (der Rettung des Patienten) ergibt sich dann nicht daraus, dass zugunsten dieser Unterlassung der Rechtfertigungsgrund des § 34 StGB eingreifen würde, sondern daraus, dass der für die Rettungshandlung erforderliche Eingriff (Blutentnahme) nicht durch § 34 StGB gerechtfertigt ist.31 Für dieses Modell spricht, dass die Anwendung des nicht modifizierten32 § 34 StGB (auch) auf die Unterlassung zu einem Widerspruch führen würde. Denn bei annähernder Gleichwertigkeit des Rettungs- und des Integritätsinteresses wäre die Unterlassung des Rettungseingriffs nicht gerechtfertigt, da das Rettungsinteresse dann nicht „wesentlich“ überwiegen würde (Anwendung des § 34 StGB auf die Unterlassung). Aus dem gleichen Grund wäre aber auch der Rettungseingriff nicht gerechtfertigt (Anwendung des § 34 StGB auf das aktive Tun). bb) Kollision zweier Handlungspflichten Im zweiten Fall (Beispiel für die Kollision zweier Handlungspflichten) kann die Unterlassung der Rettung des dann dem Tod durch Ertrinken ausgelieferten Kindes, so die nahe liegende Argumentation, schon deshalb nicht anhand der Regelung des § 34 StGB gerechtfertigt werden, weil es an der Voraussetzung eines Überwiegens (und damit erst recht: eines „wesentlichen“ Überwiegens) des geretteten „Interesses“ fehlt. Die ganz herrschende Meinung greift bei dieser Konstellation deshalb nicht auf den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB), sondern auf das Institut der Pflichtenkollision zurück. Gemäß den Regeln der Pflichtenkollision handelt nicht rechtswidrig, wer bei einer Kollision von Rettungspflichten die höher- oder jedenfalls gleichwertige33 Pflicht erfüllt. Danach wäre der Vater, der eines seiner beiden Kinder rettet (und nur eines retten kann), hinsichtlich der Nichtrettung des anderen Kindes gerechtfertigt.

31

Näher dazu unter III. 2. b) a.E. Zur notwendigen „Umkehrung“ des Abwägungsmaßstabs des § 34 StGB bei Anwendung auf Unterlassungen s. unter III. 2. b). 33 Die herrschende Auffassung lässt zur Rechtfertigung die Erfüllung einer gleichwertigen Pflicht genügen (Nachw. bei NK-StGB/Neumann, 5. Aufl. 2017, § 34 StGB Rn. 124 m. Fn. 594. Nach der Gegenmeinung soll im Fall einer Kollision gleichwertiger Pflichten nur eine Entschuldigung in Betracht kommen (Nachw. bei NK-StGB/Neumann a.a.O. Rn. 133 m. Fn. 623). 32

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cc) Zwischenbilanz zur Anwendbarkeit des § 34 StGB auf Unterlassungen Es liegt damit folgende Zwischenbilanz nahe: In den wichtigsten Konstellationen, in denen an eine Rechtfertigung von Unterlassungen durch § 34 StGB gedacht werden könnte, erweist sich der Rückgriff auf diese Bestimmung nicht als hilfreich. Geht es um die Kollision einer Rettungspflicht mit einer Unterlassungspflicht, dann entscheidet sich die Frage der Rechtswidrigkeit der Unterlassung der Rettungshandlung danach, ob der mit der Rettungshandlung notwendig verbundene, prima facie verbotene Eingriff ausnahmsweise nach den Regeln des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) erlaubt ist. Im Falle einer Kollision mehrerer Rettungspflichten erscheint ein Rückgriff auf den rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) weder weiterführend (da er ein wesentliches Überwiegen des geretteten Interesses voraussetzt) noch erforderlich, weil hier das Institut der Pflichtenkollision eine angemessene Lösung ermöglicht. Die von Küper nachdrücklich vertretene34 und auch im Schrifttum verschiedentlich zu findende35 Auffassung, dass § 34 StGB, direkt oder analog,36 auch auf Unterlassungen anwendbar sei, verdient deshalb eine nähere Prüfung. Dabei ist zwischen der Kollision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht einerseits, der Kollision zweier Handlungspflichten andererseits zu unterscheiden. 2. Kollision einer Handlungspflicht mit einer Unterlassungspflicht Die Probleme, die sich dem Versuch entgegenstellen, § 34 StGB im Falle der Kollision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht auf die (unechte) Unterlassung (= Verletzung der Handlungspflicht) anzuwenden, betreffen nach dem Gesagten einerseits die Voraussetzungen einer Notstandslage, andererseits den Maßstab der Interessenabwägung. a) Voraussetzungen einer Notstandslage Die Feststellung, dass § 34 StGB seinem Wortlaut nach auf Begehungstaten zugeschnitten ist (dazu oben), schließt es nicht aus, die Bestimmung auch auf Unterlassungen anzuwenden, soweit das sprachlich und nach der Struktur der Regelung möglich ist. Hinsichtlich des Merkmals der Begehung einer „Tat“ ergeben sich hier keine nennenswerten Probleme. Auch in anderen Bestimmungen, etwa in § 20 StGB, wird der Begriff der „Begehung der Tat“ auch auf Unterlassungen bezogen. Fraglich ist aber, ob man davon sprechen kann, dass der Unterlassende handelt, um eine „Gefahr“ von 34

Küper, ZStW 131 (2019), S. 1 ff. Ausf. Nachw. bei Küper, a.a.O., S. 3 – 15. 36 Küper plädiert im Falle einer Kollision mehrerer Rettungspflichten für eine direkte, bei einer Kollision einer Unterlassungspflicht mit einer Handlungspflicht (hinsichtlich der Rechtfertigung der Unterlassung) für eine analoge Anwendung des § 34 StGB (a.a.O. S. 19). Näher dazu unter III. 3. a) bei Fn. 53. 35

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sich oder einem anderen abzuwenden. Denn: dem Integritätsinteresse, das der prima facie Handlungspflichtige respektiert, droht in der Situation gerade keine Gefahr. Eine Gefahr besteht vielmehr für das Rettungsinteresse, das der Unterlassende aber, da er auf die Rettungshandlung verzichtet, gerade nicht vor einer Schädigung bewahrt. Anhand des Beispiels: Eine Gefahr droht dem Patienten, der ohne eine sofortige Bluttransfusion sein Leben verlieren wird, nicht aber den Personen, die in dieser Situation als potentielle Blutspender in Betracht kommen. Es geht hier nicht nur um ein semantisches Problem, das sich allenfalls durch artifizielle Auslegungstechniken bewältigen ließe. Es geht um die Struktur, um die ratio der Notstandsregelung. § 34 StGB bindet die Rechtsfolge der Rechtfertigung der Tat an die Voraussetzung, dass mit dieser Tat eine gegenwärtige Gefahr für das Erhaltungsgut abgewendet wird, also für das Gut, das durch die Tat (sei es eine aktive Handlung, sei es eine Unterlassung) geschützt werden soll. Besteht eine solche Gefahr nicht, ist die Bestimmung nicht nur nach ihrer sprachlichen Formulierung, sondern auch nach ihrer Regelungsstruktur unanwendbar. Wenn hier eine Gefahr demgegenüber gerade für das Interesse besteht, das durch die Unterlassung preisgegeben wird (im Beispielsfall: das Leben des auf eine Bluttransfusion angewiesenen Patienten), so ist das nach der Logik der Notstandsregelung selbstverständlich bedeutungslos. aa) „Gefahr“ der Vornahme einer Rettungshandlung? Es ist deshalb folgerichtig, wenn Autoren, die § 34 StGB auch auf Unterlassungen anwenden wollen, nachzuweisen versuchen, dass in den fraglichen Fällen eine Gefahr auch dem Integritätsinteresse droht, das in der Situation lediglich durch eine Handlung des prima facie Handlungspflichtigen gefährdet werden könnte. Bei Ausführung der Rettungshandlung würde, so die Argumentation, dieses Integritätsinteresse verletzt. Die Unterlassung sei geeignet, die bei Vornahme der Handlung bestehende Gefahr abzuwenden.37 Auf das obige Beispiel übertragen: Es bestehe die Gefahr, dass der Arzt zur Rettung des Lebens des Patienten bei dritten Personen zwangsweise eine Blutentnahme durchführe. Diese Gefahr werde dadurch abgewendet, dass der Arzt die Ausführung der Blutentnahme unterlasse. Dieser Auffassung ist zuzugestehen, dass man in einem bestimmten Sinn durchaus davon sprechen kann, hier habe die Gefahr bestanden, dass der Arzt gewaltsam in das Rechtsgut der körperlichen Integrität anderer Personen eingreift, um das Leben seines Patienten zu retten. Nicht aber lässt sich sagen, dass der Arzt diese Gefahr durch sein Nichthandeln „abgewendet“ habe. Eine durch eine Handlung drohende Gefahr kann vielleicht dadurch abgewendet werden, dass der potentielle Täter sich die Ausführung dieser Handlung unmöglich macht oder machen lässt, wenn er befürchtet, sein Verhalten zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht unter Kontrolle

37

SK-Stein, 9. Aufl. 2017, Vor § 13 Rn. 42 ff.; dazu Küper a.a.O. S. 11 ff.

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zu haben. Der bloße Verzicht auf eine Handlung aber ist keine „Abwendung“ einer „Gefahr“ der Ausführung dieser Handlung. Mit anderen Worten: § 34 StGB setzt eine „externe“ Gefahr voraus, die durch eine bestimmte Handlung abgewendet wird. Dort, wo eine „Gefahr“ sich in der Möglichkeit einer Rechtsgutsverletzung seitens des Täters erschöpft, also durch die bloße Nichtvornahme der „gefährdenden“ Handlung „abgewendet“ werden kann, liegen die Voraussetzungen des § 34 StGB ersichtlich nicht vor.38 bb) Unterlassung der Rettungshandlung im „Defensivnotstand“? Den gleichen Einwänden sieht sich auch der Vorschlag ausgesetzt, zur Rechtfertigung von Unterlassungen in den Fällen der Kollision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht das Institut des Defensivnotstands (§ 228 BGB analog) heranzuziehen.39 Zwar könnte der Rückgriff auf den Defensivnotstand überzeugend begründen, dass der Abwägungsmaßstab des § 34 StGB „umgekehrt“ werden muss,40 wenn man das Institut des rechtfertigenden Notstands in den fraglichen Fällen (Kollision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht) auf die Unterlassung der prima facie gebotenen Handlung anwenden will. Dass die Regeln des rechtfertigenden Notstands überhaupt auf Unterlassungen anwendbar sein sollen, lässt sich aber auch im Rahmen dieses Ansatzes nicht überzeugend begründen. Auch wenn man den zur Abwendung der Gefahr notwendigen Eingriff der „Sphäre des gefährdeten Rechtsguts“ zuordnen41 und deshalb bei der Entscheidung zwischen Aggressiv- und Defensivnotstand für letzteren plädieren kann: Die Anwendung der Notstandsbestimmungen (§ 34 StGB oder § 228 BGB [analog]) auf Unterlassungen setzt in jedem Fall voraus, dass man eine Gefahr nicht nur für das Rettungsinteresse, sondern auch für das Integritätsinteresse bejahen kann. Das aber ist, wie gezeigt, nicht zu leisten. Das bedeutet: Eine „Gefahr“ im Sinne des § 34 StGB besteht im Fall der Kollision einer Handlungs- und einer Unterlassungspflicht lediglich für das durch die Handlung zu rettende, nicht aber für das durch die Unterlassung zu wahrende Interesse (für das Rettungs-, nicht aber für das Integritätsinteresse). Die Unterlassung der Rettungshandlung kann folglich nicht mit der Argumentation gerechtfertigt werden, dass durch sie im Sinne des § 34 StGB eine Gefahr von einem Rechtsgut abgewendet werde.

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Krit. zu der referierten Konstruktion auch Küper, ZStW 131 (2019), S. 12 m. Fn. 36. Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil 8. Aufl. 2018, 22/55; dazu Küper a.a.O. S. 6. 40 Dazu unter III. 2. b). 41 So Frister a.a.O. 22/55. 39

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cc) „Nicht-anders-Vermeidbarkeit“ der Gefahr? Küper trägt dieser Einsicht Rechnung, will aber § 34 StGB in den Fällen einer Kollision einer Handlungs- und einer Unterlassungspflicht gleichwohl (analog) auf die Unterlassung der (Rettungs-)Handlung anwenden. Zwar bestehe in dieser Situation eine „Gefahr“ i. S. d. § 34 StGB in der Tat nur für das Rettungs-, nicht aber für das Integritätsinteresse; aus diesem Grund komme eine direkte Anwendung des § 34 StGB auf die Unterlassung nicht in Betracht. Es lasse sich aber eine analoge Anwendung begründen, weil es auch bei der Kollision einer Handlungs- und einer Unterlassungspflicht um das „elementare Notstandserfordernis eines unvermeidlichen Interessenkonflikts“ gehe; lediglich die Auflösung der Kollision erfolge in anderer Weise, soweit die Rechtfertigung der Unterlassung in Frage stehe.42 An die Stelle der „nicht anders abwendbaren“ Gefahr trete dann das Kriterium, dass die Beeinträchtigung des Integritätsinteresses nicht anders als durch die Nichtabwendung der Gefahr vermeidbar ist.43 Indes: Das Vorliegen eines „unvermeidlichen Interessenkonflikts“ kennzeichnet die Voraussetzungen einer Notstandslage im Sinne des § 34 StGB nur sehr unvollkommen. Denn die Bestimmung setzt weiter voraus, dass eine gegenwärtige Gefahr für ein Rechtsgut besteht, und dass diese Gefahr (nur) durch die Beeinträchtigung eines anderen, wesentlich geringwertigeren Rechtsguts abgewendet werden kann. Will man eine analoge Anwendung der Bestimmung begründen, muss man deshalb darlegen, auf welche dieser Voraussetzungen weshalb verzichtet werden kann. Küper will insoweit die Voraussetzung der „nicht anders abwendbaren Gefahr“ durch das Kriterium ersetzen, dass die Beeinträchtigung des Integritätsinteresses nur durch die Nichtabwendung der für das Rettungsinteresse bestehenden Gefahr vermeidbar ist. Es ist aber nicht ersichtlich, wie man eine Vorschrift, die – unter bestimmten Voraussetzungen – eine Rechtfertigung für eine Handlung festschreibt, mit der eine bestehende Gefahr abgewendet wird, analog auf ein Verhalten anwenden könnte, mit dem eine bestehende Gefahr nicht abgewendet wird. Komplementär: Die in § 34 StGB statuierte Voraussetzung, dass der Täter die Tat begeht, „um eine … Gefahr abzuwenden“, müsste durch das Kriterium ersetzt werden, dass der Täter nicht handelt, um die Gefahr abzuwenden, dass er also die Abwendung der Gefahr unterlässt (oder es müsste auf diese Voraussetzung schlicht verzichtet werden). Eine tragfähige Basis für eine analoge Anwendung des § 34 StGB ist hier nicht in Sicht. b) „Umkehrung“ des Abwägungsmaßstabs des § 34 StGB Will man gleichwohl an der Auffassung festhalten, dass § 34 StGB (direkt oder analog) auch auf Unterlassungen anwendbar sei, so stellt sich das Problem einer 42 43

Küper, ZStW 131 (2019), S. 19. Küper, ZStW 131 (2019), S. 20.

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„Korrektur“ des in § 34 StGB festgelegten Abwägungsmaßstabs. Würde man, entsprechend dem in § 34 StGB festgeschriebenen Maßstab, auch für die Rechtfertigung der Unterlassung ein „wesentliches Überwiegen“ des zu schützenden Interesses verlangen, so würde das, wie dargelegt, unmittelbar zu einem Widerspruch führen.44 Es besteht deshalb weithin Einigkeit, dass man diesen Maßstab „umkehren“ müsse: da ein Eingriff in das Integritätsinteresse nur bei einem wesentlichen Überwiegen des Rettungsinteresses gerechtfertigt sei, müsse die Unterlassung der Rettung auch dann gerechtfertigt sein, wenn das Integritätsinteresse von gleichem oder nicht deutlich geringerem Wert sei.45 Das ist ein in der Sache überzeugendes Ergebnis, das aber unter Rückgriff auf § 34 StGB methodisch korrekt nicht zu gewinnen ist. Man kann einen gesetzlich festgeschriebenen Maßstab nicht einfach contra legem „umkehren“. Das gilt unabhängig davon, ob die fragliche Bestimmung auf eine bestimmte Konstellation direkt oder analog angewendet werden soll. Der nahe liegende Einwand, auch im Falle eines Defensivnotstands würde der Abwägungsmaßstab des § 34 StGB eine „Umkehrung“ erfahren, wäre nicht stichhaltig. Denn methodisch korrekt ist der für den Defensivnotstand geltende Maßstab nicht durch eine „Umkehrung“ des in § 34 StGB festgeschriebenen Maßstabs zu gewinnen, sondern durch eine analoge Anwendung des § 228 BGB.46 Der von Frister beschrittene Weg wäre deshalb methodisch zielführend, ist aber aus den oben genannten Gründen gesperrt.47 Richtig ist selbstverständlich, dass die Rechtmäßigkeit der Unterlassung des Rettungseingriffs bei einer Kollision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht nicht an die Voraussetzung gebunden werden kann, dass das Integritätsinteresse das Rettungsinteresse überwiegt. Andernfalls würde sich der oben genannte Widerspruch ergeben: bei annähernder Gleichwertigkeit des Rettungs- und des Integritätsinteresses wäre weder die Unterlassung der Rettungshandlung noch deren Vornahme nach § 34 StGB gerechtfertigt. Ich habe in Hinblick auf diese Konstellation von einer „Normenfalle“ gesprochen.48 Küper hat dagegen eingewandt, eine Normenfalle bestehe nur bei (zu ergänzen: auch annähernder) Gleichwertigkeit der kollidierenden Interessen; sie verschwinde sofort, „wenn unter dem Aspekt des ,geschützten‘ Interesses dessen ,Gleichwertigkeit‘ durch ein ,wesentliches Überwiegen‘ ersetzt wird“.49 Aber das ist wenig beruhigend. Die Konsistenz einer dogmatischen Regel lässt sich nicht damit begründen, dass diese in bestimmten Fällen zu keinen widersprüchlichen Kon44

Dazu oben unter III. 1. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil Band II, 2003, § 31 Rn. 205 (dazu Küper, ZStW 131 [2019], S. 5). 46 Dazu NK-StGB/Neumann, 5. Aufl. 2017, § 34 Rn. 88. 47 Dazu oben unter III. 2. a). 48 Neumann, Zur Struktur des strafrechtlichen Instituts der „Pflichtenkollision“, Yamanaka-FS 2017, S. 171, 178. 49 Küper, ZStW 131 (2019), S. 32. 45

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sequenzen führe, dass man „nur“ die problematischen Fallkonstellationen ausblenden müsse, um die Widersprüche zu eliminieren. Wenn Küper weiter argumentiert, aus meiner Prämisse, „dass der rechtfertigende Notstand nicht zugleich auf die Vornahme und die Unterlassung der Rettungshandlung angewandt werden dürfe“, ergebe sich „nur eine alternative Anwendbarkeit und somit kein zwingender Ausschluss der Anwendung auf das Unterlassen“50, so ist das richtig. Es ist aber im Kontext der Diskussion, ob § 34 StGB auch auf Unterlassungen anwendbar ist, bedeutungslos. Denn: dass § 34 StGB auf die Vornahme von Rettungshandlungen anwendbar ist, dürfte außer Streit stehen. Gerade daraus ergibt sich die Notwendigkeit, den in § 34 StGB gesetzlich festgeschriebenen Abwägungsmaßstab „umzukehren“, wenn man die Bestimmung in den Fällen einer Kollision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht auch auf die Unterlassung der Rettungshandlung anwenden will. Diesen, wie gezeigt, methodologisch steinigen Weg zu beschreiten, besteht aber kein Anlass. Denn die Rechtmäßigkeit der Unterlassung einer Rettungshandlung ist in diesen Fällen (Kollision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht) eine Folge (logisch: eine Funktion) der Rechtswidrigkeit der Vornahme des Eingriffs, der zur Rettung des gefährdeten Rechtsguts erforderlich wäre. Ein Verhalten, das als Eingriff in ein Rechtsgut eines Dritten rechtswidrig ist, kann nicht zugleich als Rettungshandlung rechtmäßig sein. Bei einer Kollision einer Handlungs- und einer Unterlassungspflicht ist die Erfüllung der Handlungspflicht „schlicht verboten“, wenn die Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands hinsichtlich der dazu erforderlichen Verletzung des Integritätsinteresses nicht gegeben sind.51 Allein die Unterlassung der prima facie gebotenen Rettungshandlung ist dann das rechtmäßige Verhalten. Ob man die Unterlassung in diesem Fall als ein tatbestandsmäßiges, aber gerechtfertigtes Verhalten bewertet, oder aber schon die Tatbestandsmäßigkeit verneint, ist ein sekundäres Problem. Für den Ausschluss der Tatbestandsmäßigkeit könnte sprechen, dass man damit die rechtliche Unmöglichkeit der erforderlichen Rettungshandlung ihrer faktischen Unmöglichkeit gleichstellen könnte. Indes würde damit vernachlässigt, dass die Entscheidung über das Vorliegen einer rechtlichen Handlungsmöglichkeit – anders als die Feststellung der faktischen Unmöglichkeit – hier der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit (Prüfung des Rechtfertigungsgrundes des § 34 StGB) des mit der potentiellen Rettungshandlung verbundenen Eingriffs in das Integritätsinteresse folgt. Ich halte deshalb an dem Vorschlag fest, hier einen „Rechtfertigungsgrund der rechtlichen Unmöglichkeit der Rettungshandlung“ anzunehmen.52

50

Küper, ZStW 131 (2019), S. 32 m. Fn. 96. So zutreffend MüKo-Erb, 3. Aufl. 2017, § 34 Rn. 40. 52 So schon Neumann, Zur Struktur des strafrechtlichen Instituts der „Pflichtenkollision“, Yamanaka-FS 2017, S. 171, 182. 51

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3. Kollision zweier Handlungspflichten a) Anwendbarkeit des § 34 StGB? Anders als im Fall der Kollision einer Handlungs- und einer Unterlassungspflicht kommt bei einer Kollision zweier Handlungspflichten (Rettungspflichten) die Anwendung des § 34 StGB grundsätzlich in Betracht. Denn hier unterlässt der Handlungspflichtige in der Tat die Rettung des einen Interesses, „um die Gefahr von […] einem anderen abzuwenden“. Am Beispiel: Der Vater unterlässt die Rettung des Lebens des einen Sohns, um die Gefahr des Todes durch Ertrinken von dem anderen Sohn abzuwenden. Das entscheidende Argument dagegen, § 34 StGB zur Rechtfertigung der Verletzung einer Handlungspflicht heranzuziehen, die mit einer Unterlassungspflicht kollidiert, greift hier also nicht.53 Dieses Argument lautete: Hinsichtlich des Interesses, das im Falle dieser Kollision durch die Rettungshandlung verletzt würde (Integritätsinteresse), fehlt es an einer Gefahr – und damit zwangsläufig auch an der für § 34 StGB konstitutiven Voraussetzung, dass durch das Verhalten (konkret: die Unterlassung) eine „Gefahr“ abgewendet werden sollte.54 Demgegenüber liegt bei der Kollision zweier Rettungspflichten eine Gefahr sowohl auf der Seite des letztlich geretteten als auch auf der des geopferten Interesses vor. Im Beispielsfall würde eine Rechtfertigung der Unterlassung der Rettung des Lebens des einen Sohnes nach § 34 StGB allerdings daran scheitern, dass es an einem wesentlichen Überwiegen des geretteten Interesses (Leben des anderen Sohnes) fehlt. Man muss den Fall aber nur etwas variieren, um diese Hürde zu beseitigen. Nehmen wir an, dass der jüngere Sohn zu ertrinken droht, während es für den älteren, der sich als guter Schwimmer nach einiger Zeit ans Ufer des reißenden Flusses wird retten können, nur um die Gefahr eines grippalen Infekts geht. In diesem Fall wäre eine Rechtfertigung der Unterlassung der Rettung dieses Sohnes nach den Regeln des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) grundsätzlich möglich. Insofern lässt sich sagen, dass der Anwendung des § 34 StGB auf die Fälle der Kollision zweier Handlungspflichten nichts entgegensteht, soweit die tatbestandlichen Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands erfüllt sind.55 b) Alternative: „Pflichtenkollision“ Allerdings ist der rechtfertigende Notstand für die Fälle einer Kollision zweier Handlungspflichten gleichwohl kein „passgenaues“ Institut. Denn § 34 StGB greift 53 Deshalb will Küper auf die Fälle der Kollision zweier Rettungspflichten § 34 StGB direkt (und nicht nur – wie auf die Kollision einer Handlungs- mit einer Unterlassungspflicht – analog) anwenden (ZStW 131 [2019], S. 19). 54 Dazu oben unter III. 2. a). 55 So Küper, JuS 2016, 1074 f.; Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Aufl. 2018, § 34 Rn. 15. Ebenso noch Neumann, Der Rechtfertigungsgrund der Kollision von Rettungsinteressen, Roxin-FS 2001, 421, 428. Ich modifiziere die dort vertretene Auffassung in dem nachfolgend vertretenen Sinne.

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im Hinblick auf die Voraussetzung eines „wesentlichen Überwiegens“ in den Fällen einer annähernden (erst recht: einer vollständigen) Gleichwertigkeit der kollidierenden Rettungsinteressen nicht. In diesen Fällen lässt sich eine Rechtfertigung nur über das Institut der Pflichtenkollision begründen. Es ist aber methodisch fragwürdig, zur Rechtfertigung einer Unterlassung in der Konstellation kollidierender Handlungspflichten eine Bestimmung heranzuziehen, die diese Rechtfertigung von Umständen abhängig macht, die nach einhelliger56 bzw. herrschender57 Meinung für die rechtliche Bewertung (Rechtfertigung) dieser Unterlassung irrelevant sind. Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass der Rückgriff auf § 34 StGB in den Fällen, in denen die Voraussetzungen der Bestimmung gegeben sind, zu „falschen“ Ergebnissen führen würde.58 Gegen einen Rückgriff auf § 34 StGB in den Fällen einer Kollision mehrerer Rettungspflichten spricht ferner, dass das Prinzip, das der Institution des rechtfertigenden Notstands zugrunde liegt, in dieser Konstellation nicht trägt. Die Rechtfertigung eines Notstandseingriffs (§ 34 StGB) beruht auf dem Prinzip der Solidarität: Ist der Schaden, der dem Rettungsinteresse droht, erheblich gewichtiger als der, der dem Integritätsinteresse durch den Rettungseingriff erwachsen würde, so ist der Inhaber des Integritätsinteresses verpflichtet, diesen Eingriff „solidarisch“ zu dulden.59 Die Rechtfertigung des Rettungseingriffs korrespondiert mit der Duldungspflicht des Inhabers des Eingriffsgutes. Demgegenüber beruht die Rechtfertigung in den Fällen einer Kollision von Handlungspflichten auf dem Prinzip, dass die Rechtsordnung niemanden zu einem Verhalten verpflichten kann, dessen Ausführung dem Verpflichteten unmöglich wäre („impossibilium nulla obligatio“). Es geht hier, anders als bei der Solidaritätspflicht des rechtfertigenden Notstands, nicht um ein materiales, sondern um ein normlogisches Prinzip. Natürlich können die kollidierenden Handlungspflichten ihrerseits auf dem Gedanken der Solidarität (Beispiel: § 323c StGB) oder dem der Loyalität (Beschützer-Garantenpflichten) beruhen.60 Aber das Institut der Pflichtenkollision leistet 56

Für die Fälle eines leichten Überwiegens des geretteten Interesses. Für die Fälle einer vollständigen Gleichwertigkeit der kollidierenden Interessen. In diesem Sinne BGHSt 48, 307, 311; Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Aufl. 2018, § 34 Rn. 15; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor §§ 32 ff. Rn. 73; Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 118. Abw. (lediglich für Entschuldigung) etwa NK-StGB/Paeffgen/Zabel, 5. Aufl. 2017, Vor § 32 Rn. 174. 58 So ausdrücklich Neumann, Zur Struktur des strafrechtlichen Instituts der „Pflichtenkollision“, Yamanaka-FS 2017, S. 171, 178 („unschädlich“). 59 So die heute überwiegende Interpretation des Instituts des rechtfertigenden Notstands. Vgl. etwa Merkel, Zaungäste? Über die Vernachlässigung philosophischer Argumente in der Strafrechtswissenschaft (und einige verbreitete Missverständnisse zu § 34 S. 1 StGB), in: Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Frankfurt a.M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts (1995), 171, 180, 184. 60 Zur Unterscheidung näher Neumann, Die rechtsethische Begründung des „rechtfertigenden Notstands“ auf der Basis von Utilitarismus, Solidaritätsprinzip und Loyalitätsprinzip, in: v. Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, S. 155 ff. 57

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keine Begründung dieser Pflichten, sondern setzt sie voraus. Es beschränkt sich darauf, auf der Meta-Ebene Regeln zur Lösung der Kollision zwischen anderweitig begründeten rechtlichen Handlungspflichten bereitzustellen. Die ratio der Rechtfertigung ist im Falle der Pflichtenkollision eine andere als in der des rechtfertigenden Notstands. Auch in der deontologischen Funktion ergeben sich, jenseits der übereinstimmenden Rechtsfolge (der Rechtfertigung), Unterschiede. Der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB) eröffnet Handlungsbefugnisse (zu Rettungseingriffen in Rechtsgüter anderer), das Institut der Pflichtenkollision befreit von (einer der) prima facie bestehenden Handlungspflichten. c) Das Verhältnis von Pflichten und Interessen bei der Pflichtenkollision aa) Dominanz der Interessen Eine strukturelle Gemeinsamkeit weisen beide Institute insofern auf, als es jeweils um einen Konflikt zwischen Interessen geht, die nicht kumulativ, sondern nur alternativ geschützt bzw. gewahrt werden können. Der Begriff der „Pflichtenkollision“ bringt diesen Bezug auf Interessen allerdings nicht zum Ausdruck. Er ergibt sich aber zwingend daraus, dass eine rationale Rechtsordnung Handlungspflichten nicht um ihrer selbst willen, sondern zum Schutz von Interessen statuiert.61 Diese „Akzessorietät“ von Pflichten im Verhältnis zu Interessen hat die Konsequenz, dass sich das Gewicht der jeweiligen Pflicht grundsätzlich aus dem Gewicht des durch sie geschützten Interesses ergibt.62 bb) Relevanz von Garantenpflichten bei gleichgewichtigen Rettungsinteressen Fraglich und umstritten ist allerdings, ob sich das relative Gewicht einer Handlungspflicht im Falle einer Pflichtenkollision ausschließlich nach dem Gewicht des von ihr geschützten Interesses bestimmt, oder ob bei der Abwägung auch der Grad der Pflichtenbindung in die Waagschale zu werfen ist. Es geht um das Problem, ob bei Gleichgewichtigkeit der Rettungsinteressen dem Interesse der Vorzug gegeben werden muss, zu dessen Wahrung eine Garantenpflicht besteht. Die ganz überwiegende Auffassung bejaht diese Frage.63 Am Beispiel: Kann der Vater eines vom Er61 Otto, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Bd. 2 (Allgemeiner Teil 1), 2019, § 41 („Pflichtenkollision“) Rn. 4; MüKo-StGB/Schlehofer, 3. Aufl. 2017, Vor § 32 Rn. 237; NK-StGB/Neumann, 5. Aufl. 2017, § 34 Rn. 125. Instruktiv zum Nebeneinander von „Pflichtenebene“ und „Interessenebene“ bei der rechtfertigenden Pflichtenkollision Küper, JuS 2016, 1072 f. 62 Ebenso LK-StGB/Rönnau, 13. Aufl. 2019, Vor § 32 Rn. 115; Otto, Jura 2005, 470, 471. 63 LK-StGB/Rönnau, 13. Aufl. 2019, Vor § 32 Rn. 125; NK-StGB/Neumann, 5. Aufl. 2017, § 34 Rn. 129; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor § 32 Rn. 75; Schönke/Schröder/Perron, 30. Aufl. 2019, § 34 Rn. 5; Otto, in: Hilgendorf/Kudlich/

Rechtspositionen, -güter und -interessen in der aktuellen Diskussion

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trinken bedrohten Kindes nur entweder sein Kind oder aber dessen gleichfalls in Todesgefahr schwebenden Freund retten, so muss er sich danach für die Rettung seines Sohnes entscheiden. Die Mindermeinung64 misst dagegen der Garantenstellung, die der Vater gegenüber seinem Sohn hat, bei der Bestimmung des jeweiligen Gewichts der Rettungspflichten keine Bedeutung bei. Der Vater sei frei, entweder seinen Sohn oder aber dessen Freund zu retten. In jüngster Zeit hat die Mindermeinung in Wilfried Küper einen engagierten Verteidiger gefunden.65 Küper wendet sich vor allem gegen meine Argumentation, dass die Garantenpflicht dem durch sie geschützten Interesse den Status einer Rechtsposition verleihe.66 Den Hintergrund dieser Argumentation bildet, wie Küper zutreffend rekonstruiert, die Unterscheidung zwischen einer Rechtsposition, wie sie im Falle des § 34 StGB auf der Seite des Integritätsinteresses besteht (weshalb zum Eingriff in dieses Interesse ein „wesentliches“ Überwiegen des Rettungsinteresses erforderlich ist), und einem „bloßen“ Rettungsinteresse, das keinen Vorrang gegenüber einem identischen Rettungsinteresse eines anderen beanspruchen kann. Küper wendet gegen diese Argumentation ein, sie verkenne die Relativität der Rechtsposition, die durch die Garantenpflicht geschaffen werde. Diese Rechtsposition betreffe nur das „Innenverhältnis“ zwischen dem Garantenpflichtigen und dem Destinatär der Garantenpflicht: es sage über das „Außenverhältnis“ zwischen dem Interesse des Destinatärs der Garantenpflicht und dem Interesse des Dritten nichts aus. Letzteres ist insofern richtig, als das Bestehen einer Garantenpflicht dem durch sie geschützten Interesse des Destinatärs dieser Pflicht – selbstverständlich – kein generelles Übergewicht über ein ceteris paribus gleichwertiges Rettungsinteresse eines Dritten verleiht. Am Beispiel: Selbstredend ist das Leben des Freundes nicht weniger „wert“ als das Leben des Sohnes. Insoweit ist die Rechtsposition, die die Garantenpflicht dem Destinatär dieser Pflicht einräumt, in der Tat „relativ“; sie erschöpft sich in einer besonderen rechtlichen Beziehung zu dem Garanten. Gerade um diese Beziehung aber geht es bei der Frage, ob der Garant bei einer Kollision ansonsten gleichwertiger Rettungsinteressen das Interesse bevorzugen muss, zugunsten dessen seine Garantenpflicht besteht. Wiederum anhand des Beispiels: Es geht nicht um die Frage, ob das Lebensinteresse des Sohnes das seines Freundes grundsätzlich überwiegt. In dem (von Küper so genannten) „Außenverhältnis“, im Verhältnis zwischen dem Lebensinteresse des Sohnes einerseits, des Freundes andererseits, spielt die Garantenpflicht des Vaters selbstverständlich keine Rolle. Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Bd. 2 (Allgemeiner Teil 1), 2019, § 41 („Pflichtenkollision“) Rn. 73. 64 Freund, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2008, § 6 Rn. 98; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil. 8. Aufl. 2017 § 18 Rn. 137. 65 Küper, ZStW 131 (2019), S. 1, 28 ff. 66 NK-StGB/Neumann, 5. Aufl. 2017, § 34 Rn. 129.

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Bei der Frage, wie der Vater in der konkreten Situation handeln soll, geht es aber um die vergleichende Gewichtung zweier „Innenverhältnisse“ – des Verhältnisses des Vaters zu seinem Sohn einerseits, zu dessen Freund andererseits. Hier nun ist von Bedeutung, dass gegenüber dem Sohn, nicht aber gegenüber dessen Freund eine besondere Handlungspflicht (Garantenpflicht) besteht. Von den beiden „Innenverhältnissen“ ist nur eines „aufgewertet.“ Dies rechtfertigt es, jedenfalls bei sonstiger Gleichwertigkeit der konkurrierenden Interessen den Garanten auf die Rettung des Interesses zu verpflichten, für dessen Wahrung er im Sinne des § 13 StGB „einzutreten“ hat. Ich widme diese – notwendig kursorischen – Überlegungen dem alten Freund, hochgeschätzten Kollegen und (Mit-)Streiter im Kampf um ein rationales und humanes Strafrecht.

Das Grundrecht auf Leben als Tötungsverbot für den Staat und als Schutzanspruch gegen den Staat Von Andreas Hoyer

I. Einführung in die Thematik Meine folgenden Anmerkungen sollen einem Thema gelten, über das Reinhard Merkel und ich bereits während unserer gemeinsamen Assistentenzeit an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts wiederholt miteinander diskutiert haben, wie ich mich gut erinnere, und das Reinhard Merkel dann im Jahre 2007 aus (damals) aktuellem Anlass zum Gegenstand eines wiederum diskussionswürdigen Aufsatzes1 erhoben hat: der Frage, „wann und warum darf der Staat töten?“ bzw. wann und warum darf der Staat Tötungshandlungen Privater erlauben? Reinhard Merkel erörtert diese Frage ausgehend von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts2 zur Verfassungswidrigkeit des § 14 Abs. 3 LuftSiG in dessen Fassung vom 11. 01. 2005, geht aber mit seinen Ausführungen weit über diesen Spezialfall einer gesetzlichen Tötungslizenz zugunsten des Staates hinaus, indem er nach Grund und Grenzen einer Rechtfertigbarkeit vorsätzlicher Tötungen insgesamt fragt.

II. Merkels drei Legitimationsgründe für staatliche Tötungserlaubnisse Im Ergebnis erachtet Merkel es ausnahmslos für staatstheoretisch unzulässig und daher verfassungswidrig, die Rechtfertigung einer vorsätzlichen Tötung aus deren (überwiegendem) Nutzen für „das große Ganze“ oder „die Belange anderer“ abzuleiten.3 Zwar dürfe der Staat jedem seiner Bürger ein gewisses Quantum an „(Minimal-)Solidarität mit anderen“ rechtlich abverlangen,4 dieses Quantum sei aber eindeutig überschritten, wenn dem Staatsbürger „das solidarische Hingebenmüssen des 1

Merkel, JZ 2007, 373 ff. BVerfGE 115, 118 ff. 3 Merkel, JZ 2007, 373 (378). 4 Merkel, JZ 2007, 373 (384). 2

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eigenen Lebens“ zugemutet werde, möge dies auch „zur Rettung (noch so vieler) anderer“ beitragen.5 Diese Grenze gegenüber der Auferlegung einer Aufopferungspflicht leitet Merkel nicht etwa aus der Menschenwürde ab,6 auch nicht aus einer angeblichen Unabwägbarkeit von „Leben gegen Leben“,7 sondern allein daraus, dass der Getötete an dem aus seiner Tötung für die Überlebenden resultierenden Nutzen selbst konkret nicht partizipiert und abstrakt nicht einmal partizipieren kann. Ein positiver „fremdnütziger Abwägungssaldo“8 auf Kosten des Lebens eines Einzelnen könne dessen Tötung niemals legitimieren – und wäre der damit verbundene Vorteil für alle anderen unermesslich.9 Eine Legitimation für die Tötung eines Staatsbürgers – sei sie „von Staats wegen vorgenommen, veranlasst oder als rechtmäßige Privathandlung de lege akzeptiert“10 – könne stets nur „mit Blick auf das Eingriffsopfer“ gesucht und allenfalls dort auch gefunden werden,11 während die Verhältnismäßigkeit dieses Eingriffs mit Blick auf andere „a limine nicht zur Legitimation gegenüber dem Getöteten tauge“.12 Merkel zufolge lassen sich drei Grundformen der legitimen Tötung mit (ausschließlichem) Blick auf das Eingriffsopfer unterscheiden: Den ersten „Eingriffstitel“13 bilde die tatsächliche oder mutmaßliche Einwilligung des Getöteten, deren Legitimationskraft sich aus dessen „Autonomie“ ergebe.14 Die beiden anderen möglichen Rechtstitel für einen Eingriff in das Leben erkennt Merkel einerseits in der Notwehr sowie andererseits im defensiven Notstand. Die Rechtfertigung einer Notwehrtötung des rechtswidrigen Angreifers beruhe darauf, dass dieser „normativ betrachtet einen Suizid in mittelbarer Täterschaft“ dadurch begehe, dass er dem unmittelbaren Täter die zur Verteidigung gegen den Angriff erforderliche Tötungshandlung aufnötige.15 Die dem Verteidiger abgenötigte Tötungshandlung sowie deren Folgen könnten dem Angreifer daher „genauso zugerechnet werden, als hätte er sie selber aus- bzw. herbeigeführt“.16 Ebenso wenig wie der Staat in das Grundrecht auf Leben eines de facto-Suizidenten eingreife, indem er dessen Suizid erlaube (unverboten lasse), so wenig greife er in das Grundrecht auf Leben eines de iure-Suizidenten (rechtswidrigen Angreifers) ein, indem er dessen 5

Merkel, JZ 2007, 373 (384). Merkel, JZ 2007, 373 (379 f.). 7 Merkel, JZ 2007, 373 (380 f.). 8 Merkel, JZ 2007, 373 (375). 9 Merkel, JZ 2007, 373 (381). 10 Merkel, JZ 2007, 373 (375). 11 Merkel, JZ 2007, 373 (384). 12 Merkel, JZ 2007, 373 (375). 13 Merkel, JZ 2007, 373 (382). 14 Merkel, JZ 2007, 373 (384). 15 Merkel, JZ 2007, 373 (377). 16 Merkel, JZ 2007, 373 (377). 6

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Notwehrtötung gestatte.17 In beiden Fällen sei die Tötung als „adäquate Folge eigenen Handelns“ des Getöteten legitimiert,18 ohne dass es dazu auf die Verhältnismäßigkeit dieser Tötung mit Blick auf die Belange anderer oder die Allgemeinheit ankomme. Dass es im Defensiv- anders als im Aggressivnotstand erlaubt sei, zwecks Gefahrenabwehr erforderlichenfalls auch Tötungshandlungen vorzunehmen, ergebe sich ebenfalls aus einem bloßen „Blick auf das Eingriffsopfer“ und dessen „Verantwortlichkeit oder wenigstens Zuständigkeit für eine Gefahrenquelle“.19 Es entspreche einem „Gebot der Fairness, also der Gerechtigkeit“,20 mit der Gefahrbeseitigung denjenigen zu belasten, den dessen „eigenes gefahrkausales Handeln“ zum Ursprung oder auch nur „ein böses Schicksal“ selbst zu einer Gefahr habe werden lassen.21 Im Falle der durch § 14 Abs. 3 LuftSiG a.F. geregelten Gefahrenlage sei die gezielte und massenhafte Tötung der im Flugzeug befindlichen unschuldigen Bürger aber nicht durch einen defensiven Notstand rechtfertigbar, da diese die Gefahrenlage weder durch ihr Handeln geschaffen hätten noch selbst durch ihre bloße Anwesenheit im Flugzeug zu einer „Erhöhung der Gefahr“ beigetragen hätten.22 Da auch eine Rechtfertigung ihrer Tötung aufgrund von Einwilligung oder Notwehr ausscheide, sei eine gesetzliche Abschusserlaubnis in Bezug auf das Flugzeug, wie sie § 14 Abs. 3 LuftSiG a.F. erteilt hat, „innerhalb der geltenden Verfassungsordnung nicht legitimierbar“.23

III. Zur Menschenwürdegarantie als Schranke für staatliche Tötungserlaubnisse Bemerkenswert erscheint mir zunächst, dass Reinhard Merkel dieses Ergebnis nicht aus der in Art. 1 Abs. 1 GG verankerten Menschenwürdegarantie ableiten will, sondern aus dem durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten Recht auf Leben24 – obwohl dieses im Unterschied zur Menschenwürde gerade nicht „unantastbar“ ist, sondern gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann. Zwar müssen sich derartige Einschränkungen stets sowohl am allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als auch an Art. 19 Abs. 2 GG messen lassen, wonach „in keinem Falle“ der Wesensgehalt eines Grundrechts angetastet werden darf. Den Wesensgehalt jedes Grundrechts bildet aber eben dessen von der 17

Merkel, JZ 2007, 373 (377). Merkel, JZ 2007, 373 (377). 19 Merkel, JZ 2007, 373 (384). 20 Merkel, JZ 2007, 373 (384). 21 Merkel, JZ 2007, 373 (384). 22 Merkel, JZ 2007, 373 (383). 23 Merkel, JZ 2007, 373 (373). 24 Merkel, JZ 2007, 373 (383 Fn. 65). 18

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Menschenwürdegarantie umfasster Kernbereich25 – und eine Verletzung der Menschenwürde will Reinhard Merkel in § 14 Abs. 3 LuftSiG a.F. im Unterschied zum Bundesverfassungsgericht ausdrücklich nicht erblicken: Völlig zu Recht bestreitet Merkel, dass die Flugzeugpassagiere durch „ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt“26 und dadurch im Sinne der Dürig’schen Formel27 zu Art. 1 Abs. 1 GG zum bloßen Objekt degradiert und verdinglicht werden. Als Mittel zur Rettung anderer würden die Passagiere nur missbraucht, wenn ihr Tod „empirisch notwendiges Glied in der Kausalkette zwischen Handlung (Abschuss) und intendiertem Zweck (Rettung) wäre“.28 Die am Boden vom Flugzeug bedrohten Menschenleben werden aber gerettet „nicht indem (oder dadurch dass) die Passagiere sterben“, und „auch das Flugzeug stürzt nicht dadurch ab, dass die Passagiere sterben, sondern dadurch, dass es abgeschossen wird“.29 Um eine Menschenwürdeverletzung im Sinne der Dürig’schen Formel zu konstruieren, müsste man die Tatsituation im Falle eines Terroranschlags mit dem Flugzeug so variieren, dass durch die Tötung bestimmter Personen am Boden einer Forderung der Terroristen entsprochen wird, um diese von ihrem Anschlag abzuhalten. Eine solche unzweifelhaft menschenwürdewidrige Tötung gestattete § 14 Abs. 3 LuftSiG a.F. aber nicht – und die von § 14 Abs. 3 LuftSiG a.F. gestatteten Tötungen verletzten umgekehrt nicht die Menschenwürde. Jenseits der Menschenwürde müsste sich jede Einschränkung des Rechts auf Leben zwar weiterhin am allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz messen lassen; falls sie diesem Maßstab genügt, wäre sie aber gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG (materiell) verfassungsgemäß.

IV. Zur staatstheoretischen Unmöglichkeit „verhältnismäßiger“ Tötungen Reinhard Merkel bestreitet dies allerdings vehement („Es gibt nicht eine einzige Form der legitimen Tötung […], die ihre Rechtfertigung gerade aus ihrer Verhältnismäßigkeit bezöge“),30 und macht dafür grundsätzliche staatstheoretische Erwägungen geltend: Der Staat sei „nur so weit, wie er seinen Bürgern […] Schutz gewährt, auch berechtigt, ihren Gehorsam gegenüber seinen Normen zu erzwingen“.31 Soweit 25

Hömig/Wolff, GG, 12. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 6; v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 19 Rn. 121; v. Münch/Kunig/Krebs, GG Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 19 Rn. 20; vgl. BVerwGE 47, 330 (357). 26 So aber BVerfG NJW 2006, 751 (758 Rn. 124). 27 Maunz/Dürig, GG, 86. Aufl. 2019, Art. 1 Rn. 36; vgl. BVerfGE 9, 89 (95); BVerfGE 27, 1 (6); BVerfGE 28, 386 (391); BVerfGE 87, 209 (228); BVerwG NJW 1982, 664 (665). 28 Merkel, JZ 2007, 373 (380). 29 Merkel, JZ 2007, 373 (380). 30 Merkel, JZ 2007, 373 (375). 31 Merkel, JZ 2007, 373 (375).

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der Staat es also erlaube, einen seiner Bürger zu töten, schulde dieser ihm keinen Normgehorsam mehr und könne ihn daher auch keine „rechtliche Pflicht treffen, seine eigene Tötung zu dulden“.32 So sympathisch mir diese Beschränkung staatlicher Legitimität erscheint, so wenig kann sie m. E. gegen § 14 Abs. 3 LuftSiG a.F. argumentativ ins Feld geführt werden: Der Zweck der Vorschrift besteht allein darin, die Tötung der an der Gefahrschaffung unbeteiligten und in diesem Sinne unschuldigen Flugzeugpassagiere zu rechtfertigen, nicht darin, ihnen darüber hinaus eine Pflicht zur Duldung ihrer eigenen Tötung aufzuerlegen. Dass Tötungserlaubnis für die Streitkräfte der Bundeswehr und Duldungspflicht für die Passagiere nicht notwendig miteinander zusammenhängen, zeigt sich bereits daran, dass ein Passagier, dem es etwa gelungen wäre, sich rechtzeitig mit einem Fallschirm aus dem Flugzeug zu retten, damit selbstverständlich nicht gegen eine „rechtliche Pflicht“ verstoßen hätte, „seine eigene Tötung zu dulden“. Hätte es sich bei dem entführten um ein Militärflugzeug gehandelt, so hätten dessen unschuldige Insassen ihrer eigenen Tötung durch die Streitkräfte der Bundeswehr sogar zuvorkommen dürfen, indem sie ihrerseits die von dessen Streitkräften verwendeten Flugzeuge abgeschossen hätten: Wem der Staat keinen normativen Schutz vor Tötungen gewährt, der schuldet den staatlichen Normen auch seinerseits keinen Gehorsam mehr.33 Auch in einem mit Einwilligung beider Kombattanten durchgeführten Boxkampf sind schließlich die gegenseitig unternommenen Körperverletzungen jeweils gerechtfertigt. Die Rechtfertigung jedes Kombattanten zu bejahen, heißt im Boxkampf- ebenso wenig wie im Militärflugzeugbeispiel, dass der jeweils andere zur Duldung der an ihm unternommenen Rechtsgutsverletzungen verpflichtet wäre – er büßt infolge des zugunsten beider eingreifenden Rechtfertigungsgrundes lediglich seinen staatlichen Rechtsgüterschutz ein und ist daher bei der Verteidigung seiner Rechtsgüter auf die ihm verfügbaren Selbstschutzmöglichkeiten zurückgeworfen.34

V. Notwehr als Legitimationsgrund für staatliche Tötungserlaubnisse Unter Inkaufnahme, dass er dadurch „sein Rechtsverhältnis zu jenen Geopferten in toto liquidiert“,35 kann der Staat unter Umständen auch deren Tötung gestatten oder sogar gebieten – soweit dem nicht die Menschenwürdegarantie oder der allgemeine Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entgegensteht. Unstreitig und unabhängig von § 14 Abs. 3 LuftSiG a.F. wäre beispielsweise die Tötung der einen Terroranschlag durchführenden Flugzeugentführer durch Notwehr gerechtfertigt gewesen. In ihrer 32

Merkel, JZ 2007, 373 (378). Merkel, JZ 2007, 373 (375). 34 SK-StGB/Hoyer, 9. Aufl. 2017, § 34 Rn. 56. 35 Merkel, JZ 2007, 373 (381). 33

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Menschenwürde verletzt wären diese Flugzeugentführer durch die auf sie bezogene in § 32 StGB gesetzlich erteilte Tötungslizenz schon deswegen nicht, weil sie nicht „als Mittel zur Rettung anderer benutzt“ und missbraucht, sondern lediglich als Gefahrenquelle für andere bekämpft und ausgeschlossen werden sollen – ebenso wie dies auch im defensiven Notstand aufgrund von § 228 BGB erlaubt sein kann.36 Sowohl in einer Notwehrlage als auch im defensiven Notstand kann daher nur fraglich sein, ob durch die mit der Gewährung des entsprechenden Rechtfertigungsgrundes erteilte staatliche Tötungslizenz nicht unzulässig in das Grundrecht auf Leben der Betroffenen eingegriffen wird. Für die durch § 32 StGB gegenüber einem rechtswidrigen Angreifer eingeräumte Tötungserlaubnis verneint Reinhard Merkel diese Frage mit der Begründung, die Notwehrtötung eines Angreifers bedeute bereits „keinen Eingriff in das Grundrecht auf Leben“ gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.37 Daher bedürfe es auch weder des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG noch einer Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines etwaigen Grundrechtseingriffs, um die Notwehrtötung des rechtswidrigen Angreifers zu legitimieren. Diese Begründung basiert darauf, dass Merkel die Notwehrtötung eines rechtswidrigen Angreifers normativ als „Suizid in mittelbarer Täterschaft“ einordnet.38 Ebenso wenig wie es einen Eingriff in das Grundrecht auf Leben bedeute, wenn der Staat einen de facto-Suizid unverboten geschehen lassen, ebenso wenig sei der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG berührt, wenn der Staat den de iure-Suizid eines rechtswidrigen Angreifers erlaubtermaßen geschehen lasse.39 Dass der de facto-Suizid nicht als staatlicher Eingriff in das Grundrecht auf Leben betrachtet wird, beruht allerdings im Unterschied zur Tötung eines rechtswidrigen Angreifers darauf, dass der Todeseintritt im erstgenannten Fall direkt einer darauf gerichteten autonomen Entscheidung des Getöteten entspringt. Die staatlicherseits in § 32 StGB erteilte Erlaubnis, einen rechtswidrigen Angreifer zu töten, lässt sich dagegen nicht auf die Autonomie des Getöteten als Legitimationsgrund zurückführen. Merkel zufolge sollen aber die Regeln der mittelbaren Täterschaft es gestatten, dem getöteten rechtswidrigen Angreifer seinen eigenen Tod normativ ebenso zuzurechnen, wie es die Autonomie des Getöteten im Falle eines tatsächlichen Suizids bewirkt. Für Drei-Personen-Konstellationen, in denen der Hintermann den rechtswidrigen Angriff seines rechtlich unverantwortlich handelnden Vordermanns auf das Leben eines Dritten provoziere, stehe es schließlich „strafrechtlich außer Zweifel“,40 dass die für den Vordermann tödliche Verteidigungshandlung des angegriffenen Dritten letztlich dem Hintermann als mittelbarem Täter zuzurechnen sei – dieselbe „normative Logik der Zurechnung“41 müsse dann aber auch für Zwei-Personen36

Merkel, JZ 2007, 373 (384). Merkel, JZ 2007, 373 (377). 38 Merkel, JZ 2007, 373 (377). 39 Merkel, JZ 2007, 373 (377). 40 Merkel, JZ 2007, 373 (377). 41 Merkel, JZ 2007, 373 (377). 37

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Konstellationen gelten, in denen sich lediglich der rechtswidrige Angreifer und der diesen sodann durch seine Verteidigungshandlung tötende Angegriffene gegenüberstehen. Ob aber tatsächlich jeder rechtswidrige Angriff sich für den Verteidiger als ihn zu seiner Verteidigung „nötigende (unfrei machende) Handlung“42 darstellt, erscheint mir durchaus zweifelhaft. Ist etwa auch der selbst gar nicht angegriffene Nothelfer zu seiner (möglicherweise für ihn selbst lebensgefährlichen) Verteidigungshandlung zugunsten eines Dritten genötigt und deshalb „unfrei“, obwohl ihm das Recht diese Verteidigungshandlung doch gerade freistellt? Und wie ist es, wenn der rechtswidrige Angriff etwa „nur“ erheblichen Sachwerten gilt, beispielsweise (anknüpfend an ein von Merkel angeführtes Beispiel) einem Diamantring,43 den der Angreifer wegzunehmen droht, wenn der Angegriffene nicht sogleich einen Dritten tötet? Ebenso wenig wie hier die Tötung des unbeteiligten Dritten gem. § 35 StGB als „unfrei“ entschuldigt wäre und sie deshalb dem rechtswidrigen Angreifer als mittelbarem Täter zugerechnet werden könnte, ebenso wenig dürften doch die Voraussetzungen einer mittelbaren Täterschaft auch dann erfüllt sein, wenn mit derselben Motivation im Zwei-Personen-Verhältnis ein rechtswidriger Angreifer zwecks Angriffsabwehr getötet würde. Wenn aber die Tötung des rechtswidrigen Angreifers nicht diesem selbst „wie eine Selbsttötung zugerechnet“44 werden kann, weil es dafür an den Voraussetzungen einer mittelbaren Täterschaft fehlt, dann liegt insoweit eben doch ein Eingriff in dessen Recht auf Leben vor, der gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG einer gesetzlichen Grundlage bedarf, die ihrerseits dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen muss. Letzteres bedeutet nicht, dass die von der einzelnen Notwehrhandlung ausgehenden und abgewehrten Gefahren zueinander ins Verhältnis gesetzt werden müssen. Da es um die Legitimation des staatlichen Eingriffs in das Recht auf Leben geht, muss vielmehr die Verhältnismäßigkeit einer Notwehrnorm geprüft werden, durch die der Staat auch unverhältnismäßige Verteidigungshandlungen zugunsten des rechtswidrig angegriffenen Gutes erlaubt. Bei dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung kann nun allerdings auf die staatstheoretischen Überlegungen Reinhard Merkels zurückgegriffen werden: Der Staat ist „nur so weit, wie er seinen Bürgern […] Schutz gewährt, auch berechtigt, ihren Gehorsam gegenüber seinen Normen zu erzwingen“.45 Dem rechtswidrig angegriffenen Gut aber hat der Staat mit seinen Normen gerade keinen Schutz zu leisten vermocht, sodass er seinen Bürgern gegenüber umgekehrt auch nicht länger dazu berechtigt ist, ihnen Gehorsam vor seinen Normen und Respekt vor seinem Gewaltmonopol bei der Verteidigung des angegriffenen Gutes abzuverlangen. Die Legitimation zur (erforderlichenfalls auch unverhältnismäßigen) Verteidigung des angegriffenen Gutes er42

Merkel, JZ 2007, 373 (377 Fn. 21). Merkel, JZ 2007, 373 (376). 44 Merkel, JZ 2007, 373 (378). 45 Merkel, JZ 2007, 373 (375). 43

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wächst also daraus, dass der Verteidiger dem Staat infolge dessen Schutzversagens im Gegenzug auch den Normgehorsam versagen darf. Während sich der Legitimationsgrund für eine etwaige Bestrafung des rechtswidrigen Angreifers allein in dessen Verhältnis zum Staat finden lässt, ergibt sich der Legitimationsgrund für eine etwaige Notwehrhandlung des Verteidigers allein aus dessen Verhältnis zum Staat. Der staatliche Eingriff in das Recht auf Leben des rechtswidrigen Angreifers durch Erlaubnis der Notwehrtötung diesem gegenüber wiegt somit weniger schwer als die staatliche Pflicht, den Verteidiger des rechtswidrig angegriffenen Gutes von den normativen Fesseln zu befreien, die ihn sonst an dessen Schutz anstelle des daran gescheiterten Staates hinderten.

VI. Defensivnotstand als Legitimationsgrund für staatliche Tötungserlaubnisse Dass schließlich auch der Defensivnotstand als Rechtfertigungsgrund auf einer Abwägung zwischen den Interessen des Eingriffsopfers und des Verteidigers beruht, drückt sich bereits im Wortlaut des § 228 BGB aus, wonach der „Schaden nicht außer Verhältnis zu der Gefahr“ stehen darf. Merkel kann aber immerhin geltend machen, dass die Umkehrung des Verhältnismäßigkeitsmaßstabs gegenüber dem Aggressivnotstand „allein mit Blick auf das Eingriffsopfer“ begründbar ist,46 nämlich auf dessen Eigenschaft, Ursprung der Gefahrenquelle oder gar selbst (Teil der) Gefahrenquelle zu sein. Anders als in einer Konstellation des Aggressivnotstands, wie sie etwa gegenüber den Flugzeugpassagieren in den durch § 14 Abs. 3 LuftSiG a.F. geregelten Fällen vorliege, könne im Defensivnotstand sogar die Tötung desjenigen gerechtfertigt sein, der die Gefahr geschaffen oder zumindest erhöht habe.47 Es soll für einen Defensivnotstand also bloße Kausalität für die Gefahr hinreichend und keine Verantwortlichkeit dafür notwendig sein, wie Merkel an mehreren Beispielen vorführt: Zwecks Rettung des Lebens von ihm Gefährdeter getötet werden dürften erforderlichenfalls etwa ein Kind, dem ohne dessen Wissen ein Sprengstoffgürtel umgelegt wurde,48 eine Autofahrerin, die am Steuer ihres Wagens plötzlich bewusstlos geworden sei,49 und ein eingeschlafener Mann, der von Dritten auf einen Rodelschlitten gehievt und auf einen steilen Rodelhang geschoben wurde.50 Variiert man das Beispiel einer Flugzeugentführung dahingehend, dass der Eigentümer eines Privatflugzeugs zunächst an dessen Steuer sitzt und dann während des Fluges von seinem terroristisch gesinnten Begleiter mit Gewalt aus seiner Pilotenposition verdrängt wird, dann wären Abschuss des Flugzeugs sowie damit verbundene 46

Merkel, JZ 2007, 373 (384). Merkel, JZ 2007, 373 (377). 48 Merkel, JZ 2007, 373 (377). 49 Merkel, JZ 2007, 373 (384). 50 Merkel, JZ 2007, 373 (383). 47

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Tötung (auch) seines Eigentümers Merkel zufolge wohl ebenfalls infolge Defensivnotstands gerechtfertigt. Denn wenn es auch ein „böses Schicksal“ war, das den Eigentümer des Flugzeugs durch dessen Starten zum Ursprung einer Gefahrenquelle gemacht hat, so begründen doch sein eigenhändiges Starten des Flugzeugs und auch sein Eigentum daran im Sinne Merkels eine besondere „Zuständigkeit“ für die Gefahrenquelle,51 die bloßen Flugzeugpassagieren nicht zukommt. Während der besagte Flugzeugeigentümer also im Defensivnotstand erforderlichenfalls getötet werden dürfte, soll dies gegenüber den Flugzeugpassagieren im Aggressivnotstand in jedem Fall rechtswidrig bleiben. Meines Erachtens kann aber allein die Kausalität einer Person für die Gefährdung bestimmter Rechtsgüter nicht hinreichen, um deshalb unterschiedliche strafrechtliche Konsequenzen an ihre Tötung zu knüpfen52 – weder auf Tatbestandsebene, indem der Gefahrverursacher dort wegen seines Verursachungsbeitrags bereits als grundsätzlich strafwürdig eingestuft wird, noch auf Rechtfertigungsebene, indem der Gefahrverursacher dort wegen seines Verursachungsbeitrags bereits als nicht mehr strafrechtsschutzwürdig eingestuft wird. Wer etwa mit vis absoluta gegen eine andere Person oder eine fremde Sache gestoßen wird, verhält sich mit einem Verursachungsbeitrag ebenso wenig tatbestandsmäßig gegenüber Dritten wie ohne einen solchen Verursachungsbeitrag – und er kann aufgrund dieses Verursachungsbeitrags ebenso wenig seinen strafrechtlichen Schutz vor Dritten einbüßen wie ohne einen solchen Verursachungsbeitrag. Die Rechtsgüter des Gefahrverursachers bleiben sogar dann noch unverändert schutzwürdig, wenn er die Gefahr für das Erhaltungsgut durch erlaubt riskantes Verhalten bewirkt hat. Wem die Rechtsordnung die Schaffung eines bestimmten Risikos erlaubt hat, dessen allgemeine Handlungsfreiheit bewertet sie höher als jenes dadurch geschaffene Risiko. Es wäre dann aber wertungswidrig, wenn wegen der Risikoerlaubnis zwar nicht in die Freiheit des Verursachers zu der gefahrursächlichen Handlung eingegriffen werden dürfte, wohl aber trotz der Erlaubnis in wertvollere Rechtsgüter des Gefahrverursachers unter erleichterten Voraussetzungen eingegriffen werden dürfte. Die mit der Erlaubnis bewirkte rechtliche Gleichstellung eines erlaubt riskanten mit einem nicht riskanten Verhalten muss nicht nur auf der Tatbestands-, sondern ebenso auf der Rechtfertigungsebene gelten. Führt verkehrsregelgerechtes Autofahren aufgrund unvorhersehbarer Umstände zur Gefährdung eines anderen, so muss der Schutz sämtlicher Eingriffsgüter des Autofahrers relativ zu den gefährdeten Erhaltungsgütern aufgrund der Risikoerlaubnis unverkürzt erhalten bleiben: Würde der strafrechtliche Schutz der Eingriffsgüter quasi als Sanktion für die Risikoschaffung verkürzt, sobald sich das erlaubte Risiko zu verwirklichen droht, dann handelte es sich gar nicht um eine wirkliche Erlaubnis. Im Ergebnis kann daher erst ein unerlaubt riskantes Verhalten des Gefahrverursachers dazu führen, dass sich die Schutzwürdigkeit von dessen Eingriffsgütern relativ 51 52

Merkel, JZ 2007, 373 (384). Zum Folgenden SK-StGB/Hoyer, 9. Aufl. 2017, § 34 Rn. 84 ff.

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zum Erhaltungsgut verringert. Dementsprechend kann auch erst ein unerlaubt riskantes Verhalten dazu führen, dass den Gefahrverursacher eine Garantenstellung aus Ingerenz zur Ausschaltung der von ihm geschaffenen Gefahrenquelle trifft.53 An einem solchen unerlaubt riskanten Verhalten fehlt es aber, wenn sich der Gefahrverursachungsbeitrag des Privatflugzeugeigentümers im obigen Beispiel darauf beschränkt, dass er sein Flugzeug zunächst startet und dann ordnungsgemäß lenkt. Dass er Eigentümer des gefährlichen Privatflugzeugs ist, führt zwar dazu, dass er aufgrund eines Defensivnotstands in seinem Eigentum verletzt werden darf, nicht aber dazu, dass auch für seine Tötung ein Defensivnotstand als Rechtfertigungsgrund in Betracht käme. In den Worten Reinhard Merkels entspricht es einem „Gebot der Fairness, also der Gerechtigkeit“,54 dass der Staat, nachdem er den rechtswidrigen Angriff des Flugzeugentführers seinem grundrechtlichen Schutzauftrag entgegen nicht zu verhindern vermochte, daraus nicht umgekehrt eine Legitimation dafür ableiten kann, den zunächst rechtswidrig Angegriffenen nunmehr von Rechts wegen unter erleichterten Voraussetzungen (Defensiv- statt Aggressivnotstand) zu töten zu erlauben.

VII. Aggressivnotstand als Legitimationsgrund für staatliche Tötungserlaubnisse Wie bei der Tötung eines bloßen Flugzeugpassagiers kommt damit auch gegenüber dem Flugzeugeigentümer (sowie dem auf den Rodelhang geschobenen Eingeschlafenen in Merkels Beispiel)55 allenfalls ein Aggressivnotstand als Rechtfertigungsgrund in Betracht. Dass eine Abwägung „Leben gegen Leben“ unserer Rechtsordnung nicht in jedem Fall fremd ist, macht Merkel selbst am Beispiel der Kollision mehrerer Lebensrettungsgebote deutlich.56 Dasselbe gilt, wenn mehrere Tötungsverbote miteinander kollidieren, wie in folgender Fallkonstellation: Bei der Love-Parade ist eine Massenpanik ausgebrochen, aufgrund derer A von hinten so nach vorne gestoßen wird, dass er nur alternativ entweder das eine oder das andere seiner beiden bereits gestürzten und vor ihm am Boden liegenden Kinder mit seinen Tritten zu Tode bringen kann. In den Flugzeugentführungsfällen kollidieren nun allerdings nicht zwei gleichgerichtete Verhaltensnormen miteinander (entweder zwei Rettungsgebote oder zwei Verletzungsverbote), sondern zwei einander entgegengesetzte Verhaltensnormen, nämlich einerseits ein Rettungsgebot gegenüber den durch das Flugzeug bedrohten Menschen am Boden sowie andererseits ein Verletzungsverbot gegenüber den im Flugzeug befindlichen entführten Menschen. 53

SK-StGB/Stein, 9. Aufl. 2017, § 13 Rn. 50. Merkel, JZ 2007, 373 (384). 55 Vgl. Merkel, JZ 2007, 373 (383). 56 Vgl. Merkel, JZ 2007, 373 (380): Die Feuerwehr kann nur alternativ entweder die Bewohner des einen oder des anderen in Brand gesetzten Hauses retten. 54

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Merkel formuliert für eine derartige Kollision einander entgegengesetzter Pflichten die Regel, dass „die negativen (Unterlassungs-)Pflichten des Staates“, also die Verletzungsverbote, gegenüber „den positiven, den Schutzpflichten“ bzw. Rettungsgeboten „in jeder direkten Kollision zwischen beiden ausnahmslos vorgehen“.57 Demnach dürften die entführten Fluginsassen keinesfalls aktiv geopfert werden, um das Leben noch so vieler anderer Menschen am Boden zu schützen. Aber ein derartiger absoluter Vorrang der Verletzungsverbote gegenüber den Rettungsgeboten soll in unserer Rechtsordnung deren Regeln zum Aggressivnotstand zufolge gerade nicht bestehen. „Seiner vorrangigen Aufgabe nach“58 soll der Staat zwar verhindern, dass seine Bürger in ihrer Rechtssphäre aktiv verletzt werden; das gilt gem. § 34 StGB aber nicht, wenn das „geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt“, bzw. gem. § 904 BGB nicht, wenn der „drohende Schaden gegenüber dem aus der Einwirkung […] entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß ist“. Bei einer Kollision zwischen Verletzungsverbot und Rettungsgebot müssen deswegen gem. § 34 StGB „namentlich die betroffenen Rechtsgüter und der Grad der ihnen drohenden Gefahren“ gegeneinander abgewogen werden. Wenn es jeweils um Lebensgefahren geht, dann kann also der Gesichtspunkt, dass es sich auf der einen Seite um eine konkrete, auf der anderen um eine abstrakte Lebensgefahr handelt, dazu führen, dass die Rettungspflicht zugunsten des konkret gefährdeten Lebens gegenüber dem Verletzungsverbot zugunsten des abstrakt gefährdeten Lebens „wesentlich überwiegt“.59 Dass auch die Anzahl der auf der einen und auf der anderen Seite mit derselben Gefahr konfrontierten Menschenleben im Rahmen der Abwägung bedeutsam sein kann, hat Merkel in seinem Beispiel zur rechtfertigenden Pflichtenkollision60 überzeugend gezeigt. Schließlich darf dabei auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass das Leben der Flugzeugpassagiere selbst bei Einhaltung des Abschussverbots binnen Kurzem aufgrund derselben Gefahr unrettbar verloren ginge, vor der die am Boden befindlichen Menschen durch Einhaltung der Schutzpflicht ihnen gegenüber immerhin auf unabsehbare Dauer bewahrt werden könnten. Bezogen auf den Fall einer chirurgischen Trennung siamesischer Zwillinge hat Reinhard Merkel selbst betont, dass es ihm nicht einleuchte, „um der minimalen Verlängerung eines unrettbar verlorenen Lebens willen ein vollständig zu rettendes anderes preisgeben“ zu sollen.61

57

Merkel, JZ 2007, 373 (381). Merkel, JZ 2007, 373 (381). 59 Roxin, AT Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 24. 60 Merkel, JZ 2007, 373 (380). 61 Merkel, in: Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 603 (S. 603 ff.). 58

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VIII. Aggressivnotstand als Legitimationsgrund für Tötungen durch Amtsträger Wenn aber der Staat eine Tötung durch Private unter der Voraussetzung erlauben darf, dass das geopferte Leben ohnehin nur „um wenige Augenblicke länger erhalten werden könnte“, dann muss er eine entsprechende Erlaubnisnorm auch zugunsten seiner eigenen Amtsträger schaffen können:62 Die Kollision zwischen den Interessen der durch das Tötungsverbot geschützten Flugzeugpassagiere einerseits und den durch das Rettungsgebot begünstigten Menschen am Boden andererseits ist jeweils dasselbe – und der Staat löst diese Kollision jeweils zugunsten des Rettungsgebots auf, indem er den Flugzeugabschuss erlaubt. Merkel meint demgegenüber, der Staat in seiner „fundamentalen Rolle als Normgarant“ dürfe Durchbrechungen des Tötungsverbots „eher einer Privatperson gestatten als selbst begehen“.63 Eine Sonderrolle als Normgarant kommt dem Staat aber nicht nur für die Aufrechterhaltung des Tötungsverbots zu, sondern auch für den Schutz seiner Bürger vor rechtswidrigen Angriffen auf ihr Leben. Wenn sich für den Staat aufgrund der primär „abwehrrechtlichen Funktion der Grundrechte“64 insoweit die Aufrechterhaltung des Tötungsverbots als vorrangig darstellte, dann dürfte er die Geltung dieses Tötungsverbots weder dadurch durchbrechen, dass er sich selbst zur Tötung ermächtigt, noch dadurch, dass er die Verbotsschranke gegenüber Tötungen durch Private hebt. Letzteres vertritt aber auch Merkel nicht, wenn es bei einer „asymmetrischen Chancenverteilung“ um die Rettung desjenigen siamesischen Zwillings geht, dessen Leben auf Kosten des anderen allenfalls gerettet werden kann.65 Eine entsprechende asymmetrische Chancenverteilung liegt jedoch auch im Verhältnis zwischen den entführten Flugzeugpassagieren und den am Boden von einem Terroranschlag mit dem Flugzeug Bedrohten vor. Erlaubt es der Staat in einer solchen Konstellation Privaten, das Flugzeug unter Tötung unschuldiger Passagiere abzuschießen, müsste diese Erlaubniserteilung Merkel zufolge also staatstheoretisch legitimierbar, die Tötung selbst demnach als Aggressivnotstand rechtfertigbar sein. Wenn aber ein Privater sich zur Rechtfertigung seines straftatbestandsmäßigen Verhaltens auf einen Aggressivnotstand (gegenüber den Flugzeugpassagieren) oder auf Nothilfe (gegenüber den Flugzeugentführern) berufen könnte, dann soll dies nach herrschender Auffassung auch für Amtsträger in derselben Notstands- bzw. Nothilfesituation gelten. Strittig ist innerhalb dieser herrschenden Auffassung lediglich, ob §§ 32, 34 StGB auch dazu hinreichen, als „Superermächtigungsgrundlage“ zu einer öffentlichrechtlichen Gefahrenabwehr die Verwaltungsrechtswidrigkeit des Amts62 A.A. Merkel, in: Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 603 (S. 633 Fn. 75). 63 Merkel, in: Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 603 (S. 633 Fn. 75). 64 Merkel, in: Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 603 (S. 633 Fn. 75). 65 Merkel, in: Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 603 (S. 633).

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trägerhandelns auszuschließen,66 oder ob sich ihre Wirkung auf das Strafrecht beschränkt, an der Verwaltungsrechtswidrigkeit aber nichts zu ändern vermag.67 Merkels differenzierende Stellungnahme, der Staat könne eine Durchbrechung des Tötungsverbots „eher einer Privatperson gestatten als selbst begehen“,68 deutet aber darauf hin, dass er bereits die Möglichkeit einer strafrechtlichen Rechtfertigung der einseitig tödlichen Trennung siamesischer Zwillinge (und also auch der Tötung der Flugzeugpassagiere) nur Privatpersonen zugestehen will, während Amtsträger insoweit trotz § 34 StGB strafrechtswidrig handelten. Der Staat müsste es dann allerdings der Bereitschaft und Fähigkeit von Privaten zur Vornahme der gerechtfertigten Rettungshandlung überlassen, ob diese überhaupt und ob sie erfolgreich durchgeführt wird. Wenn es darum geht, ein Flugzeug abzuschießen, dann verfügt der Staat in Form seiner Streitkräfte im Vergleich zu Privaten aber über die weit besseren sachlichen und personellen Voraussetzungen, eine etwaige Rettungsaktion erfolgreich durchzuführen. Zudem bräuchte sich der Staat seinen Streitkräften gegenüber nicht mit einer bloßen Abschusserlaubnis zu begnügen, sondern könnte den Abschuss durch seinen Verteidigungsminister auch positiv anordnen lassen, wie dies für § 14 Abs. 3 LuftSiG a.F. auch vorgesehen war. Zwecks Erfüllung seiner Schutzpflicht gegenüber dem Leben derjenigen Menschen, die am Boden durch einen Terroranschlag ums Leben kämen, wäre also eine Selbstermächtigung zum Flugzeugabschuss deutlich geeigneter als eine Tötungserlaubnis allein zugunsten Privater, die zwar theoretisch gälte, aber praktisch weitgehend leerliefe. Dass der Staat gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG zwar durch Erteilung einer Abschusserlaubnis in das Recht der Flugzeugpassagiere auf Leben eingreifen darf, dabei aber auf die Installation eines bloßen „Papiertigers“ beschränkt bleiben soll, entspräche nicht der Auslegungsmaxime, dass Grundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und Grundrechtsschranke (§ 34 StGB) in ein Verhältnis praktischer Konkordanz zueinander gesetzt werden müssen.69 § 34 StGB so auszulegen, dass Flugzeugabschüsse zwar rechtlich vornehmen darf, wer sie faktisch nicht vornehmen kann, aber rechtlich nicht vornehmen darf, wer sie faktisch vornehmen könnte, würde dieser Maxime nicht gerecht. Indem § 34 StGB für eine Rechtfertigung voraussetzt, dass das geschützte Interesse das beeinträchtigte „wesentlich überwiegt“, wird der primär „abwehrrechtlichen 66 So insbesondere die Rechtsprechung; vgl. RGSt 61, 216 (217); BGH NJW 1958, 1405 (1406); OLG Celle NJW-RR 2001, 1033 (1035 f.); SK-StGB/Hoyer, 9. Aufl. 2017, § 32 Rn. 101. 67 So die sog. Spaltungslösung; vgl. SK-StGB/Hoyer, 9. Aufl. 2017, § 32 Rn. 103; MüKoStGB/Erb, 3. Aufl. 2017, § 32 Rn. 189; NK-StGB/Paeffgen/Zabel, 5. Aufl. 2017, Vor §§ 32 ff. Rn. 151. 68 Merkel, in: Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 603 (S. 633 Fn. 75). 69 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 72; siehe auch BVerfGE 28, 243 (260 f.); BVerfGE 41, 29 (50); BVerfGE 129, 78 (102).

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Funktion der Grundrechte gegen den Staat“70 bereits entsprochen71 – würden schutzund abwehrrechtliche Funktion als gleichwertig eingestuft, müsste es für einen Unrechtsausschluss bereits hinreichen, wenn das geschützte Interesse das beeinträchtigte „im Wesentlichen ausgleicht“. Eine vollständige Vernachlässigung der schutz- relativ zur abwehrrechtlichen Funktion der Grundrechte, wie sie eine Beschränkung der Erlaubnis zum Flugzeugabschuss auf Private bedeutete, ist andererseits durch die Forderung nach einem wesentlichen Überwiegen in § 34 StGB auch nicht angelegt.

IX. Fazit Vielleicht lassen sich sogar die gesamten obigen Ausführungen in der Kurzformel zusammenfassen, dass ich die Grenze zwischen abwehr- und schutzrechtlicher Funktion der Grundrechte weniger abwehr- und stärker schutzbetont zu ziehen geneigt bin, als es Reinhard Merkel in seinem Grundlagenaufsatz zum Verhältnis von Recht, Staat und Individuum getan hat. Wahrscheinlich sind daher die Schlussfolgerungen, die Du, Reinhard, aus Deinem liberaleren Staatsverständnis ziehst, von Deinem Ausgangspunkt aus nicht weniger konsequent als meine, von einem eher sozialstaatlichen Staatsverständnis ausgehend. Mit diesem versöhnlichen Resümee verbinde ich die Hoffnung, dass Du dennoch nicht alle hier angeführten Argumente einfach ungeprüft „abwehrst“ und ich mich andererseits gegen etwaige Gegenargumente von Dir zumindest halbwegs „geschützt“ habe.

70 71

Merkel, in: Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 603 (S. 633 Fn. 75). Vgl. SK-StGB/Hoyer, 9. Aufl. 2017, § 34 Rn. 40.

Die Weigerung ein menschlicher Schutzschild zu sein Von Wolfgang Mitsch

I. Einleitung In meiner persönlichen Hitliste der Texte von Reinhard Merkel, die ich gelesen habe,1 steht auf dem ersten Platz der Beitrag zur Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg: „Die Abgrenzung von Handlungs- und Unterlassungsdelikt, Altes, Neues, Ungelöstes“.2 Dieser Aufsatz macht die Faszination spürbar, die von kleinteiligen Erscheinungsformen menschlichen Daseins in schlichten Alltagssituationen ausgeht,3 wenn diese auf die Dogmatik unseres Strafrechts treffen. Mitunter entsteht daraus eine schwierige Problematik, an deren Bewältigung man sich die Zähne ausbeißen kann. „Ungelöstes“ in diesem Zusammenhang zu erwähnen, ist wirklich berechtigt, weil vieles, worüber Merkel schreibt, in der Literatur kaum behandelt, geschweige denn gelöst wird.4 Besonders angetan hat es mir der Fall des in der Warteschlange vor der Kasse stehenden Kinobesuchers.5 Über Fälle dieser Art denke ich seit Jahrzehnten immer wieder einmal nach, ohne dabei jemals das Gefühl zu haben, sie richtig in den Griff zu bekommen und eine befriedigende Lösung zu finden. Als Pennäler bin ich im Winter selbst einmal einer nicht geringfügigen Verletzung dadurch entgangen, dass ich mich auf dem Schulhof vor einem scharf geworfenen mir entgegen fliegenden harten Schneeball schnell abgeduckt habe. Die Beschädigung meiner Brille wäre wohl noch eine harmlosere Folge gewesen, die durch die Reaktion abgewendet werden konnte. Hätte hinter mir ein Mitschüler gestanden, wäre dieser im Gesicht getroffen und sicher erheblich an der Gesundheit geschädigt worden. Reinhard Merkels Text hat das Gefühl der Ratlosigkeit gelindert, aber nicht vollständig beseitigt. Zu dem den Fall prägenden Muster „Wegducken“ hatte ich bisher in der Literatur allein die Schrift „Notwehr und Notstand“ von Arthur Baumgarten aus dem Jahr 1911 gefunden.6 Merkel erörtert den Fall, ohne Baumgarten zu zitieren. Schon aus diesem 1

Leider habe ich es bei Weitem nicht geschafft, alle zu lesen. Merkel, FS Herzberg, 2008, S. 193 ff. 3 Herzberg, FS Röhl, 2003, S. 270 (277): „Unauffällig-Alltägliches“, „der kleine Handgriff“. 4 Merkel, FS Herzberg, S. 193 (211). 5 Merkel, FS Herzberg, S. 193 (214). 6 Baumgarten, Notstand und Notwehr – Eine Studie im Hinblick auf das künftige Strafrecht, 1911, S. 91 ff. 2

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Grund erscheint es mir lohnend, erneut auf das Thema einzugehen und neben allen vor allem Reinhard Merkel zu animieren, das (Streit-)Gespräch darüber fortzusetzen.7

II. Der Warteschlangen-Fall Hier noch einmal der Sachverhalt: X steht am Ende einer längeren Schlange vor einer Kinokasse, als er hinter sich seinen Namen gezischt hört. Er dreht sich um und sieht in etwa 10 m Entfernung seinen Todfeind Z, die Pistole im Anschlag und auf ihn, X, gerichtet, den Finger am Abzug. X duckt sich reflexhaft tief zu Boden – im selben Moment fällt der Schuss. Die Kugel fliegt über X hinweg und tötet den in der Schlange vor ihm stehenden Y. Hätte sich X nicht geduckt, wäre er von der Kugel getroffen und wahrscheinlich getötet, zumindest verletzt worden. Y hingegen wäre unverletzt geblieben. Nicht Gegenstand eingehenderer Erörterung soll die strafrechtliche Würdigung des Verhaltens des Z sein. Ganz frei von Problemen wäre auch diese nicht, da auf der Vorsatzebene an aberratio ictus und error in persona zu denken wäre.8 Hätte X nicht in einer Warteschlange, sondern vor einer Schaufensterscheibe gestanden, wäre Z wohl allein wegen versuchten Totschlags oder Mordes strafbar, §§ 211, 212, 22 StGB. Für die Zerstörung der Scheibe könnte er mangels Sachbeschädigungsvorsatzes strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden, §§ 303, 15 StGB. Die Analyse des Falles und die ganze hiesige Abhandlung soll – ebenso wie die von Reinhard Merkel in der Herzberg-Festschrift – ausschließlich dem Verhalten des sich duckenden X gelten. Hat dieser den Tatbestand eines vollendeten Tötungsdelikts (§§ 211, 212, 222 StGB)9 erfüllt, weil er der von Z abgefeuerten Kugel den Weg zum getöteten Opfer Y freigab? Das Gericht, von dessen „kurioser Entscheidung“ Arthur Baumgarten berichtete,10 hätte wahrscheinlich – je nach subjektiver Einstellung des X bezüg7

Wie ertragreich diese Kommunikationsform sein kann, bestätigt ja Reinhard Merkels Abhandlung selbst, in die gewiss Anregungen eingeflossen sind, die der Autor durch den Briefwechsel mit Rolf Dietrich Herzberg empfangen hat. In umgekehrter Richtung Herzberg, FS Röhl, 2003, S. 270 (273). 8 Vgl. die Ähnlichkeit des Falles mit dem des sich in die Schussbahn werfenden Leibwächters bei Hardtung/Putzke, Examinatorium Strafrecht AT, 2016, Rn. 409. Freilich ist das Verhalten des zwischen Schütze und Opfer die Kugel (nicht) aufhaltenden Menschen in beiden Fällen genau entgegengesetzt. 9 Ob X Täter oder Gehilfe wäre, soll dahingestellt bleiben. Diese Abgrenzungsfrage stellte sich nicht, wenn Y nicht durch eine von einem Menschen abgefeuerte Kugel, sondern durch einen Gegenstand, den der technische Defekt einer Anlage zum tödlichen Flugobjekt gemacht hätte, getötet worden wäre. 10 Baumgarten, S. 91: „A hat nach B einen Stein geworfen, B hat sich, um nicht getroffen zu werden, gebückt und der Stein hat die Spiegelscheibe des C zertrümmert. Das Urteil erklärt B für der Sachbeschädigung schuldig, denn hätte er sich nicht gebückt, so wäre er und nicht das Fenster beschädigt“.

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lich der Tötung des Y – Totschlag oder fahrlässige Tötung bejaht. Auch Baumgarten räumte ein, dass der Spruch „nicht so unsinnig“ sei, „wie es auf den ersten Blick den Anschein haben könnte“. Gleichwohl sei die Verurteilung „zweifellos falsch, denn zum mindesten konnte B sich auf Notstand berufen“.11 Merkel erachtet das Ergebnis als „ganz gewiss abwegig“,12 obwohl er nicht wie Baumgarten auf den – wie sich noch zeigen wird – sekundären Aspekt des Notstandes verweist.13 Seine Beurteilung beruht auf der Prämisse, dass das Verhalten des X nicht die strafrechtlich erhebliche Qualität des aktiven Tuns hat, sondern allenfalls unter den Voraussetzungen des Unterlassungsdelikts tatbestandsmäßig sein könne: „Das aktive Wegducken ist kein tatbestandlich aktives Töten.“ Welche Qualität das Verhalten des X stattdessen hat, teilt Merkel sogleich auch mit: Er unterlässt die Gewährung (des Fortbestands) der eigenen Schutzschildfunktion. Mangels Schutzschildgewährungspflicht ist diese Unterlassung nicht strafbar.14 Man beachte die genaue Wortwahl des Jubilars: Das Verhalten sei schon eine Aktivität, nämlich „aktives Wegducken“. Nur im Kontext des Tötungstatbestandes, also z. B. des § 212 StGB, sei es kein aktives Tun, nämlich keine aktive Tötung oder – noch genauer – keine tatbestandliche aktive Tötung. Ob ein und dieselbe Bewegung des menschlichen Körpers aktives Tun ist oder nicht ist, hängt demnach wohl davon ab, welcher Tatbestand als Maßstab zugrunde gelegt wird. Gäbe es einen Straftatbestand, der unter bestimmten Rahmenbedingungen das „Wegducken“ mit Strafe bedroht, wäre dieses „Wegducken“ aktives Tun. Bezogen auf das Tatbestandsmerkmal „Tötung“ soll dieselbe Körperbewegung hingegen kein aktives Tun sein. Wenn das richtig ist, ist die Abgrenzung von Tun und Unterlassen keine Vorfrage, die der Tatbestandsprüfung vorgelagert – vielleicht sogar eine völlig „vorrechtliche“ Thematik15 – ist, sondern eine in die Auslegung des Tatbestandes und Subsumtion unter dessen Merkmale integrierte Wertung.16 Die Einordnung von Verhalten in die beiden Grundkategorien „aktives Tun“ und „Unterlassen“ hat demnach keinen absoluten Charakter, sondern ist eine Kategorisierung relativ zum jeweils einschlägigen Tatbestand. Dann müsste ernsthaft überlegt werden, ob es sinnvoll ist, die Unterscheidung von Tun und Unterlassen überhaupt als ein Thema des Allgemeinen Teils zu behandeln, wie wir das zu tun gewohnt sind.17 Möglicherweise muss man aber nicht einmal 11

Baumgarten, S. 92. Merkel, FS Herzberg, S. 193 (214). 13 Auch Baumgarten schiebt sogleich eine Fallabwandlung nach, bei der nicht die Fensterscheibe, sondern deren Eigentümer von dem Stein getroffen und verletzt wird. Dass unter diesen Umständen jedenfalls rechtfertigender Notstand ausgeschlossen ist, bringt ihn nicht davon ab, eine von dem sich duckenden begangene Körperverletzung abzulehnen. 14 Zur Frage des „Unterlassens“ von Stehenbleiben unten IV. 15 Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil 2, 8. Aufl. 2014, § 45 Rn. 21 ff. 16 Merkel, FS Herzberg, S. 193 (197). 17 Es dürfte schwer sein, ein Lehrbuch zum Strafrecht Allgemeiner Teil zu finden, das nicht in seinem Kapitel „Unterlassungsdelikte“ auch einen Abschnitt zu „Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen“ enthält, vgl. z. B. Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2018, 12

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von der These abrücken, dass das Verhalten des X eine „aktive Tötung“ ist. Mit Reinhard Merkel im Einklang befindet sich auch derjenige, der darlegen kann, dass das Verhalten zwar aktive Tötung, jedoch nicht „tatbestandlich“ ist. Sodann muss Merkels Kritik an den „Kriterien der h. L.“ von deren Anhängern gar nicht als Aufforderung zur Räumung des eingenommenen Standpunktes verstanden werden. Sofern deren Kriterien nämlich die Funktion haben, Tun und Unterlassen auf einer allgemeinen Ebene vor dem konkreten Tatbestandsmerkmal abzugrenzen, ist mit ihrer Anerkennung noch keine endgültige Festlegung getroffen, die bei der nachgelagerten Prüfung des Tatbestandsmerkmals (Subsumtion) zur Rutschpartie auf einer mit Schmierseife präparierten abschüssigen Bahn zwingt, an deren Ende das unerwünschte Ergebnis einer durch aktives Tun begangenen Straftat steht.18 Mir erscheint es daher sinnvoll, auch bei der strafrechtlichen Würdigung von problematischen Fällen wie dem Wegducken zunächst einmal von dem auszugehen, was das Verhalten des seine eigene Schutzschildposition aufhebenden Menschen der natürlichen Anschauung nach ist: eine Aktivität.19 Denn es sollte erst aufgedeckt werden, ob der Weg von diesem Ausgangspunkt zu befriedigenden Ergebnissen führt und – wenn das nicht der Fall ist – in einem zweiten Schritt nach einer alternativen Lösung gesucht werden.20 Diese kann eventuell darin bestehen, das aktive Tun in ein Unterlassen umzudeuten.21 Vielleicht hilft aber auch das nicht und es ist die Sache des Gesetzgebers durch Einschränkungen des Tatbestandes die unerwünschte Strafbarkeit auszuschließen (dazu kurz unten V.).

III. Tatbestandsverwirklichung durch aktives Tun Zunächst noch ein kleiner Exkurs in die wunderbare Welt des Fußballs: Der Schiedsrichter gibt zwei Meter vor der Strafraumgrenze direkten Freistoß für die angreifende Mannschaft TSG Hoffenheim. Die Spieler der gegnerischen Mannschaft – nennen wir sie FC Bayern München – bilden im Strafraum eine Mauer. Dem TSG-Spieler Florian Grillitsch gelingt es, sich in die Mauer zwischen die BayernSpieler Niklas Süle und Jerome Boateng zu quetschen. Andrej Kramaric´ läuft an und schießt genau in Richtung des Kopfes seines Teamkameraden Florian Grillitsch. Dieser duckt sich blitzschnell, der Ball rauscht über ihn hinweg direkt in das Tor des Gegners. Torwart Manuel Neuer hat keine Abwehrchance.

22. Kap. Rn. 6 ff.; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 58 II; Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 2017, § 18 Rn. 13 ff.; Maurach/ Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil 2, § 45 Rn. 1 ff.; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil II, 2003, § 31 Rn. 69 ff. 18 Struensee, FS Stree/Wessels, 1993, S. 133 (146). 19 Ebenso Kuhlen, FS Puppe, 2011, S. 669 (681): „naturalistischer Kern“. 20 Stein, in: Systematischer Kommentar zum StGB, 9. Aufl. 2017, vor § 13 Rn. 77. 21 Kuhlen, FS Puppe, S. 669 (683).

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Derartige Kunstschüsse sind selten, kommen aber vor. Was hat diese Fußballszene mit unserem Strafrechtsthema zu tun? Folgendes: Schütze des Freistoßtores ist unzweifelhaft Andrej Kramaric´.22 Kein Mensch, der etwas vom Fußballsport versteht, käme auf die Idee, den Treffer dem Torschützenkonto von Florian Grillitsch gutzuschreiben. Zwar hat Grillitsch gewiss durch seine aktive Körperbewegung nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass der Ball im gegnerischen Tor gelandet ist. Hätte er sich nicht geduckt, wäre der Ball gegen seinen Kopf geprallt und nicht ins Tor geflogen. Grillitsch hat dieses Tor also (mit)verursacht. Aber er hat das Tor nicht „geschossen“.23 Ebenso wenig würde man von einem „Eigentor“ sprechen, wenn Kramaric´ auf den in der Mauer stehenden Bayern-Verteidiger Mats Hummels gezielt und dieser sich vor dem heranfliegenden Ball geduckt hätte, woraufhin die Lederkugel ihren Weg in das Tor gefunden hätte. Was will uns dieser Ausflug auf den Fußballplatz sagen? Ein und dasselbe Verhalten eines Menschen kann zugleich Aktivität und Nicht-Aktivität sein, je nachdem, welchem konkreten handlungsbeschreibenden Wort das Verhalten zugeordnet wird. Kein Zweifel besteht daran, dass Florian Grillitsch sich aktiv „geduckt“ hat. Aber er hat kein „Tor geschossen“, obwohl sein aktives Handeln ursächlich dafür war, dass der Torschuss seines Teamkollegen ein Treffer wurde. Den Tor-Erfolg hat Grillitsch mitverursacht, aber zum „tatbestandsmäßig“ handelnden Torschützen wurde er dadurch nicht. Dem für den Torerfolg mitursächlichen Verhalten fehlt der spezifische „Handlungswert“ des Torschusses. Ich denke, das entspricht voll und ganz der Feststellung Merkels zum Verhalten des Menschen in der Warteschlange: „das aktive Wegducken ist kein tatbestandlich aktives Töten“. Kurz: aktiv ja, aber aktive Tötung nein. Reinhard Merkel vermutet, dass niemand das abwegige Ergebnis akzeptieren würde, den sich wegduckenden X wegen Totschlags oder fahrlässiger Tötung zu verurteilen. Indessen gebe es einige, die sich zu dem richtigen Ergebnis nur unter punktueller Abkehr von den grundsätzlich präferierten Kriterien der Abgrenzung von Tun und Unterlassen bekennen könnten. Also sollten sie doch besser gleich ihren Ausgangspunkt komplett korrigieren. Diese Anregung ist angesichts der nicht wenigen Problemfälle gewiss ernst zu nehmen. Aber bevor man diesen Schritt tut, empfiehlt sich die Schaffung eines etwas breiteren Urteilsfundaments durch Bildung einiger Fallabwandlungen, bei denen das Ergebnis vielleicht nicht mehr ganz so abwegig erscheint wie in unserem Ausgangsbeispiel. Die starke Sympathie für die Einschätzung, dass es vollkommen unangemessen wäre, dem unfreiwillig zum Schutzschild gewordenen Wegducker das Stigma des Totschlägers aufzuprägen, empfängt gewiss erheblichen Auftrieb von der Rechtfertigungsnähe der Gefahrabwendungskomponente und der Bedeutung des Rechtsgutes, das auf dem Spiel steht. Sich selbst aus 22

Erinnert sei an das wunderschöne Freistoßtor am 18. 5. 2019 zum zwischenzeitlichen Spielstand 0:2 im Spiel FSV Mainz 05 gegen TSG Hoffenheim (Endstand 4:2). 23 Anders fiele die Torschützenentscheidung möglicherweise aus, wenn Grillitsch angeschossen worden wäre und dem Ball eine andere Richtung ins gegnerische Tor gegeben hätte.

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der Schusslinie nehmen ist nichts weniger als Abwendung gegenwärtiger und nicht anders abwendbarer Lebensgefahr. Letztendlich wäre die Tat – wenn sie denn eine rechtswidrige aktive Tötung wäre – gem. § 35 Abs. 1 S. 1 StGB entschuldigt. Jedenfalls aus diesem Grund müsste ein auf strafbare Tötung lautender Schuldspruch nicht nur als abwegig, sondern falsch bezeichnet werden. Ob bereits die Qualifikation des Täterverhaltens als tatbestandsmäßige Tötung ein abwegiges oder falsches Ergebnis ist, bedarf der Prüfung an einem Fall, in dem die Lage des Schutzschildmenschen weniger dramatisch ist. Entfernt man die Lebensgefahr aus dem Sachverhalt, indem man den „menschlichen Schutzschild“ mit einer „Panzerung“ ausstattet, die vor Tötung und sogar nennenswerter Gesundheitsbeschädigung schützt, fällt zugleich die Möglichkeit weg, den Täter wegen Rechtfertigung oder Entschuldigung vor Strafbarkeit und Bestrafung zu bewahren.24 Im Karnevalsgetümmel am Rosenmontag ist T als Ritter verkleidet mit einer schweren Rüstung aus Metall unterwegs. Als T plötzlich in 10 Meter Entfernung einen als Indianer verkleideten Mann M sieht, der in seiner rechten Hand einen Tomahawk hält, den er im Begriff ist sogleich auf den T zu werfen, duckt sich T so schnell es mit der Rüstung geht. Der von M geschleuderte Tomahawk fliegt dicht über den Kopf des T hinweg und trifft den hinter T stehenden O am ungeschützten Kopf. Dieser trägt eine schwere Kopfverletzung davon bzw. wird getötet. T wäre hingegen nur ganz leicht verletzt worden, wenn der Tomahawk seinen durch eisernen Helm geschützten Kopf getroffen hätte. T hat die Verletzung des O mitverursacht. Eine Rechtfertigung gemäß § 34 StGB kommt auf Grund des erheblichen Missverhältnisses zwischen der Schwere der Schädigung des O und der geringfügigen Gefahr für die Gesundheit des T nicht in Betracht. Auch nach § 35 Abs. 1 StGB ist T nicht entschuldigt, da die Gefahr bloß völlig unerheblicher Gesundheitsbeeinträchtigungen anerkanntermaßen nicht notstandsfähig ist.25 Die herrschende Lehre muss hier also Farbe bekennen, ob sie eine Strafbarkeit des T über die – von Reinhard Merkel gewiss bejahte – Unterlassene Hilfeleistung gem. § 323c StGB hinaus26 – also §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB oder § 229 StGB bzw. § 212 StGB oder § 222 StGB – für das richtige Ergebnis hält. Das Wegducken des T ist aktives Tun. Dies stellt auch Reinhard Merkel nicht in Abrede. Möglicherweise ist diese Aktivität aber – erste Variante – keine aktive körperliche Misshandlung/Gesundheitsbeschädigung bzw. Tötung oder – zweite Variante – keine aktive tatbestandsmäßige körperliche Misshandlung/Gesundheitsbeschädigung bzw. Tötung. Obwohl beide Varianten zum selben Ergebnis führen – keine tatbestandsmäßige Körperverletzung, kein tatbestandsmäßiger Totschlag, keine tatbestandsmäßige fahrlässige Tötung – gefällt mir die zweite besser. Das Wegducken des 24 Selbstverständlich sollte auch bei gerechtfertigten und entschuldigten Taten stets auf der Stufe des objektiven Tatbestandes geklärt werden, ob sie Begehungs- oder Unterlassungstaten sind, Kuhlen, FS Puppe, S. 669 (672). 25 Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 35 Rn. 6/7. 26 Im Warteschlangen-Fall lehnt Merkel Strafbarkeit aus § 323c StGB wegen Unzumutbarkeit ab, Merkel, FS Herzberg, S. 193 (214).

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T ist aktive Gesundheitsbeschädigung und aktive Tötung des O. Es dürfte dem Laien kaum begreiflich zu machen sein, dass T mit seiner Aktivität nicht „die Körperverletzung einer anderen Person verursacht“ oder „den Tod eines Menschen verursacht“ hat, wie der Wortlaut des § 229 StGB und des § 222 StGB das tatbestandsmäßige Verhalten beschreibt. Wer Gegenteiliges behauptet, muss den Vorwurf gewärtigen, dass er die Volkstümlichkeit und Allgemeinverständlichkeit der Gesetzessprache um des richtigen Ergebnisses willen opfert, was der „Bürgernähe“ unseres Strafgesetzbuches nicht zuträglich wäre.27 Die Entfernung vom „natürlichen Wortsinn“ sollte im Strafrecht auch bei einer täterbegünstigenden Rechtsanwendung ultima ratio sein, also unterbleiben, wenn die Dogmatik einen anderen Zugang zum gewünschten Ergebnis öffnet.28 Das ist meines Erachtens der Vorzug der Lehre, die ausgehend von der vorläufigen Feststellung eines aktiven Tuns im naturalistischen Sinne anschließend die rechtliche Relevanz als tatbestandsmäßiges aktives Tun bestreitet, weil die aktive Handlung wertungsmäßig einem Nichtstun, also Unterlassen, gleichzustellen ist.29 Ich denke, darin bin ich mit Reinhard Merkel einig.30 Der – mögliche – Dissens im Ergebnis verlagert sich also auf die Ebene, wo um die Gründe für den normativierenden Schritt vom naturalistischen Ausgangspunkt zum unterlassungsgleichen Tun gerungen wird. Die Umdeutung einer Aktivität in strafrechtliches Unterlassen bezweckt die Begründung einer Straflosigkeit, die auf der Basis des Begehungsdelikts nicht zu begründen ist. Vorsicht ist daher geboten in Bezug auf Fallgestaltungen, in denen nicht Strafbarkeit, sondern umgekehrt Straflosigkeit ein intuitiv unerwünschtes Ergebnis wäre.31 Eine kleine Abwandlung des „Warteschlangen-Falles“ möge einen Denkanstoß in diese Richtung geben: X steht vor der Kinokasse direkt hinter Y und verdeckt diesem dadurch den Blick in den Bereich hinter dem Ende der Warteschlange, wo Z – ein Freund des X und Feind des Y – lauert. Den Z kann Y daher auch dann nicht sehen, wenn er sich umdreht. Dies will Z ausnutzen, indem er eine Stahlkugel in die Richtung des X wirft. X soll sich blitzschnell ducken, damit die über ihn hinwegfliegende Kugel den Y am Kopf trifft. Z ruft den Namen des X und gibt dem sich Umdrehenden durch Gesten 27 Gropp, GedSchr Schlüchter, 2002, S. 173 (187); Maurach/Gössel/Zipf, AT II, § 45 Rn. 24; T. Walter, ZStW 116 (2004), 555. 28 Das ist der Fall, wenn ein Rechtfertigungsgrund eingreift. Nur scheinbar ist gleichwohl die Klassifikation als aktives Tun oder Unterlassen notwendig, weil wir die Tatbestandsmäßigkeit vor der Rechtswidrigkeit zu prüfen gewohnt sind. Aber diese Reihenfolge ist nicht zwingend. 29 Herzberg, FS Röhl, S. 270 (274). 30 Merkel, FS Herzberg, S. 193 (197): „Für die vorrechtliche Bedeutung dieser Begriffe [gemeint sind die Begriffe ,Tun‘ und ,Unterlassen‘, W.M.] ist das gewiss richtig.“ 31 Zweifellos ist es richtig, dass man sich davor hüten muss, sich „von moralischen Intuitionen überwältigen zu lassen“, Merkel, FS Herzberg, S. 193 (194). Aber zur Suche nach dogmatischen Lösungen in eine bestimmte Richtung darf man sich durch Gefühle schon anstoßen lassen.

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die Anweisung, er solle stehen bleiben und sich vor der heranfliegenden Kugel ducken. X antwortet mit einem Kopfnicken. Danach wirft Z. X duckt sich, die Kugel fliegt über ihn hinweg und trifft den Y am Kopf. Dass Z und X Beteiligte einer gefährlichen Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2, 4 StGB) zum Nachteil des Y sind, dürfte nicht zu bezweifeln sein. Z ist Täter und X zumindest sein Gehilfe (§ 27 StGB). Diskutieren lässt sich gewiss auch über eine Mittäter-Rolle (§ 25 Abs. 2 StGB) des X.32 Allerdings ist sowohl die Beihilfe als auch die Mittäterschaft vom Bestehen einer Garantenstellung (§ 13 Abs. 1 StGB) abhängig, wenn das Beteiligungs-Verhalten des X nicht als aktives Tun, sondern als Unterlassen zu qualifizieren ist. Aus welchem rechtlichen Grund X eine Garantenstellung haben könnte, ist aber nicht zu erkennen. Wieso auch sollte X eine Garantenstellung haben, nicht aber Z, der zweifellos kein Garant ist, aber ebenso zweifelsfrei Täter einer gefährlichen Körperverletzung? Die Strafbarkeit des X muss deshalb auf seinem aktiven Tun beruhen und auch die rechtliche Qualität eines Begehungsdelikts haben. Zwar könnte man darauf verweisen, dass diese Qualität ja das Verhalten des Z hat und – sofern X Mittäter ist – diesem gemäß § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet wird. Aber damit diese Zurechnung begründet ist, muss erst einmal ein ausreichender Mittäterbeitrag des X festgestellt sein. Für Strafbarkeit wegen Beihilfe gilt entsprechendes. Notwendig ist ein tatunterstützender Gehilfenbeitrag. Wenn dieser kein aktives Tun ist, dann bedarf es wieder einer Garantenstellung.33 Man kommt also nicht daran vorbei, das Verhalten des X in die Kategorie des aktiven Tuns einzuordnen, anderenfalls bliebe er straflos. Diese Einordnung halte ich für unproblematisch, da vom Ausgangspunkt der h. M. nicht derjenige die Last der Begründung trägt, der tatsächliches aktives Tun auch strafrechtlich als aktives Tun behandeln will. Die h. M. setzt in der Regel aktives Tun mit tatbestandsmäßigem aktiven Handeln gleich und braucht nur hin und wieder Ausnahmen, um dem Protest des Rechtsgefühls, das eine auf die Regeln des Begehungsdelikts gestützte Strafbarkeit nicht hinnehmen will, durch Umwertung des aktiven Tuns in „Unterlassen durch Tun“ Rechnung zu tragen. Diese Umwertung bedarf der Begründung, nicht der Verzicht auf sie. In unserem Beispiel drängt das Rechtsgefühl nicht nach einer Behandlung des Tuns als Unterlassen. Also kann es bei der Qualifikation als tatbestandsmäßiges aktives Tun bleiben. Wer – wie Reinhard Merkel – die naturalistische Sichtweise schon im Ansatz für verfehlt hält, müsste nun darlegen, in wessen „Organisationskreis“34 der mit Z zusammenarbeitende X sich bewegt hat. Ich sähe mich außerstande, anhand dieses Kriteriums eine Strafbarkeit zu begründen.35 Gleichwohl bin ich in Bezug auf den nicht abgewandelten Ausgangsfall „Warteschlange“ derselben Ansicht wie Merkel: Das Verhalten des sich duckenden X kann in Relation zu der Verletzung des Y strafrechtlich nur als Unterlassen gewürdigt werden. Dazu brauchen wir aber nicht die Kreation einer neuen 32

SKStGB-Stein, vor § 13 Rn. 60. SKStGB-Stein, vor § 13 Rn. 61. 34 Merkel, FS Herzberg, S. 193 (206 ff.). 35 Auch Herzberg, FS Röhl, S. 270 (276) wendet ein, „dass der Gedanke des ,Organisationskreises‘ eher irreführt als richtig leitet.“ 33

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Ausnahme.36 Der Fall lässt sich in dem bis jetzt noch nicht ausufernden überschaubaren System platzieren.

IV. Aufhebung der Schutzschildposition als Unterlassen 1. Der Abbruch eines rettenden Kausalverlaufs Wer einen Schritt zur Seite macht oder seinen Kopf einzieht und so einem Flugobjekt freie Bahn zur Verursachung eines straftatbestandsmäßigen Erfolges schafft, zieht durch Körperbewegungen die Aufmerksamkeit des Strafrechts auf sich.37 Wahrscheinlich wird jeder als erstes eine Strafbarkeit des Verhaltens als Begehungsdelikt erwägen. Jedoch zwingt die naturalistische Feststellung aktiven Tuns nicht zu einer Festlegung des strafrechtlich zu würdigenden Verhaltens auf die Kategorie des Begehungsdelikts. Das normativierende Umschalten vom aktiven Tun zum Unterlassen genießt in bestimmten Fällen weite Anerkennung und soll auch hier den weiteren Erörterungen zugrunde gelegt werden. Die Frage ist deshalb, ob die aktive Aufhebung der Schutzschildposition als „unterlassungsgleiches Handeln“38 einer der Fallgruppen des „Unterlassens durch Tun“39 zugeordnet werden kann, die sich in der Strafrechtslehre schon etabliert haben. Das ist möglich, die Antwort ist also „ja“. Stellt man sich vor, der Kinobesucher hat sich in Voraussicht eines Anschlags auf den in der Warteschlange vor ihm Stehenden schützend hinter ihm postiert, diesen Platz aber im letzten Moment – als der gefährliche Gegenstand auf ihn zuflog – geräumt, wird die Zugehörigkeit zu einer Fallgruppe sofort augenfällig: die ursprüngliche Einnahme des Schutzschildpostens war die Einleitung eines rettenden Kausalverlaufs, den der hilfsbereite Beinahe-Retter aber wieder abgebrochen hat. Er hat sich aktiv in seine ursprüngliche Position eines Nicht-Retters zurückversetzt und durch diese Aktivität die zwischenzeitliche Aussicht des Verletzten auf Unversehrtbleiben zerstört. Maßstab für die Strafbarkeit des aktiven Abbruchs eines vom Täter selbst ausgelösten rettenden Kausalverlaufs sind gleichwohl die Regeln des Unterlassungsdelikts. Denn der Täter soll nicht anders behandelt werden, als es der Fall wäre, wenn er niemals eine rettende Aktivität entfaltet, sich also die ganze Zeit auf reines Untätigbleiben beschränkt hätte.40 Dann käme von vornherein nichts anderes als die Würdigung im Lichte strafbaren Unterlassens in Betracht.41 Im Warte36 Dass der Kreis solcher Ausnahmen offen und erweiterbar ist, trifft zu, Kuhlen, FS Puppe, S. 669 (683). Ich sehe darin keinen Nachteil. 37 „Sichtbare“ Handlung nach Bung, ZStW 120 (2008), 526 (531). 38 T. Walter, ZStW 116 (2004), 555 (561). 39 Roxin, AT II, § 31 Rn. 99. 40 Jäger, ZStW 115 (2003), 765 (768); Roxin, FS Engisch, 1969, S. 380 (383); ders., AT II, § 31 Rn. 109; T. Walter, ZStW 116 (2004), 555 (561, 567); diff. Herzberg, FS Röhl, S. 270 (279). 41 Maßgebend für die rechtliche Beurteilung des Unterlassens sind freilich die tatsächlichen Umstände nach dem aktiven Rücktritt von der Retter-Position. Denn die vorherige Ein-

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schlangen-Fall hat der das spätere Opfer zunächst abschirmende Kinobesucher zwar seinen Platz ohne Vorstellung von einer bevorstehenden Gefahr und somit ohne Rettungswillen eingenommen. Aber das kann kein Grund sein, ihn nicht der einschlägigen Fallgruppe zuzurechnen.42 Denn objektiv ist das Stehen in der Schlange als Schutzschild eine vom Stehenden selbst eingeleitete Verletzungsabwehrmaßnahme.43 2. Aufhebung des Schutzschilds – ein Verstoß gegen eine Handlungspflicht? Wer nicht in der Warteschlange, sondern dicht neben ihr steht und durch einen einzigen Sidestep die verletzungsverhindernde Schutzschildposition einnehmen könnte, macht sich allenfalls wegen eines Unterlassungsdelikts strafbar, wenn er diesen Schritt nicht vollzieht. Wer am Ende der Schlange steht und diesen Platz verlässt, soll nach Reinhard Merkel und nach hiesiger Ansicht ebenfalls nur unter den Voraussetzungen eines Unterlassungsdelikts strafbar sein. Zwar bewegt er sich aktiv, aber das ist rechtlich nicht ahndungswürdiger als das untätige Verharren neben der potentiellen Schutzschild-Position.44 Wer sich von dieser Position entfernt, bricht einen zuvor von ihm selbst durch Aufsuchen des Ortes in Gang gesetzten rettenden Kausalverlauf wieder ab (oben 1.). Die gemäß § 13 Abs. 1 StGB erforderliche Garantenstellung wäre z. B. gegeben, wenn die in der Warteschlange gefährdete Person ein minderjähriges Kind und der dahinter als Schutzschild stehende Mann dessen Vater wäre.45 Dennoch ist zweifelhaft, ob der Vater die Voraussetzungen eines Unterlassungsdelikts erfüllen kann. Ein Unterlassungsdelikt begeht, wer die Vornahme einer bestimmten Handlung unterlässt. Tatbestandsmäßiges Unterlassen ist Nichterfüllung einer Handlungspflicht. Der Vater, der einen Schritt zur Seite macht und damit sein vor ihm stehendes Kind schutzlos der Wirkung des gefährlichen Flugobjekts aussetzt, müsste, um wegen Unterlassens strafbar zu sein, dadurch eine Handlungspflicht verletzt haben. Das ist fraglich, da er nur die Pflicht hatte, stehen zu bleinahme des Postens als Schutzschild könnte eine zuvor noch nicht existente Garantenstellung aus Übernahme begründet haben, z. B. weil andere hilfeleistungswillige Anwärter auf die Schutzschild-Position angesichts des schon vorhandenen Inhabers dieses Postens ihre Hilfeleistungsbereitschaft zurückgezogen haben; Schönke/Schröder/Bosch, § 13 Rn. 27; SKStGBStein, § 13 Rn. 88; Stree, FS H. Mayer, 1966, S. 145 (155, 158); T. Walter, ZStW 116 (2004), 555 (568). 42 Samson, FS Welzel, 1974, S. 579 (600). 43 Ebenso Baumgarten, S. 95: „Aber die Rettungsmöglichkeit entstammt ja erst der Rechtssphäre des Handelnden. Wenn er also diese Möglichkeit wieder zu nichte macht, dann ist das Endresultat einfach, daß von ihm keine Rettung ausgegangen ist.“ 44 Schon bei Baumgarten, S. 93 findet sich die Empfehlung, „Unterlassungen mit jenen ihnen gleichstehenden Fällen der Verursachung“ zu vergleichen. 45 Die Zumutbarkeit hinge davon ab, wie schwer die dem Kind und dem Vater drohenden Verletzungen wären. In dem obigen Karnevals-Beispielsfall (III.) wäre die Entscheidung leicht: der Vater hätte eine ihm zuzumutende Rettung seines Kindes unterlassen.

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ben. Zu darüber hinausgehenden Körperbewegungen – z. B. Auffangen des Flugobjekts mit den Händen, Hochspringen – war er nicht verpflichtet, wenn solche Handlungen gar nicht möglich, nicht zumutbar oder nicht erforderlich waren. Das Stehenbleiben müsste also eine Handlung sein, anderenfalls wäre die Pflicht zum Stehenbleiben keine Handlungspflicht und das Nicht-Stehenbleiben wäre keine Verletzung einer Handlungspflicht. Ohne Verletzung einer Handlungspflicht gibt es aber kein Unterlassungsdelikt. Die Entscheidung hängt also davon ab, welche physiologischen Anforderungen man an die „Handlung“ im strafrechtlichen Sinne stellt. Wird als Handlung nur ein Vorgang aktiver willensgesteuerter Körperbewegung(en) anerkannt,46 kann die bloße statische Anwesenheit des menschlichen Körpers an einer Stelle – das „Dasein“47 – nicht als Handlung bezeichnet werden. Zwar mag auch zur Bewahrung einer aufrechten Haltung des Körpers eine Anspannung der Muskulatur, also aktiver Energieeinsatz, erforderlich sein.48 Aber das ist keine „Bewegung“ des Körpers, zumal man sich Situationen vorstellen kann, in denen nicht einmal diese muskuläre Arbeit notwendig ist. Wer in einem bequemen Sessel sitzend selbst im Schlaf seine Position beibehält, braucht auch im Wachzustand keine Kraft zur Verhinderung des Umfallens aufzuwenden.49 Wenn er schwer genug ist, braucht er nicht einmal zur Verursachung einer Beschädigung des Stuhls Kraft aufzuwenden.50 Und wie verhält es sich mit François Cluzet, dessen Rollstuhl auf Schutzschildposition steht und der seinem „ziemlich besten Freund“ Omar Sy zuruft: „Schieb mich weg!“?51 Verletzt er eine Handlungspflicht, wenn er Garant ist? Umgekehrt: Erfüllt er als Garant eine „Handlungspflicht“, wenn er sich nicht wegschieben lässt? Andererseits soll zur Verwirklichung eines Begehungsdeliktstatbestandes sogar die Entfaltung „innerer Energie“ bei äußerlicher Regungslosigkeit ausreichen52: ostentatives Schweigen des Fahrgastes auf die Frage des Fahrkartenkontrolleurs „Noch jemand zugestiegen?“53 als Täuschung durch Begehen i. S. d. § 263 StGB.54 Wenn 46

Frister, AT, 22. Kap. Rn. 6. Nach Roxin, AT II, § 31 Rn. 92 begründet das „Dasein“ keine „Begehungskausalität“. Es geht aber nicht um Kausalität, sondern darum, ob überhaupt eine „Begehung“ stattfindet. Daran fehlt es, wenn jemand nur „da ist“. Dass dadurch ein „positiver Äußerungswert“ (der nach Roxin, AT II, § 31 Rn. 95 für eine aktive Täuschung ausreicht, bei Motivierung eines „imponiersüchtigen“ Freundes zu Sachbeschädigungen indessen nicht vorhanden sein soll, a.a.O. Rn. 92) erzeugt wird, ändert am Fehlen einer Handlung nichts. 48 Struensee, FS Stree/Wessels, 1993, S. 133 (144). 49 Anders Struensee, FS Stree/Wessels, S. 133 (145). 50 Herzberg, FS Röhl, S. 270 (281), der zutreffend Sachschadensverursachung durch Unterlassen – rechtzeitigen Aufstehens – annimmt. 51 Frei nach dem Spielfilm „Ziemlich beste Freunde“. 52 Nach Herzberg, FS Röhl, 2003, S. 270 (272) kann es Gegenstand eines Gebots sein, der Versuchung, einen bestimmten Handlungsentschluss zu bilden, zu widerstehen. Daher sei jedes Handlungsdelikt zugleich ein Unterlassungsdelikt. 53 Die Frage „Noch jemand ohne gültigen Fahrausweis?“ (so das Beispiel bei Roxin, AT II, § 31 Rn. 95) würde ein Bahnbediensteter so sicher nicht stellen. Welcher Schwarzfahrer würde auf diese Frage wohl wie ein ehrlicher Mensch reagieren? Zudem muss man in Anbe47

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das stimmt, dann erzeugt auch der mit offenen Augen schlafende Fahrgast gegenüber dem Kontrolleur einen „positiven Äußerungswert“, der den Tatbestand des § 263 StGB erfüllen würde, wenn der Schlafende keine Fahrkarte hat. Ich halte das alles nicht für richtig.55 Sitzen ist keine Handlung,56 Stehen auch nicht. Wir scheinen uns also wieder an einer Grenzlinie zu befinden, wo einer winzigen faktischen Differenz die Wirkung zukommt, für einen erheblichen rechtlichen Unterschied ausschlaggebend zu sein. Wenn das Stehen bzw. Stehenbleiben keine Handlung ist, kann ein zum Stehenbleiben verpflichteter Schutzschild-Mensch keine Handlungspflicht verletzen. Unterlassenes Stehenbleiben ist folglich nicht Unterlassung einer Handlung. Wenn es also eine Pflicht zum Stehenbleiben gäbe, würde diese zwar durch Weggehen oder Abducken verletzt werden. Daraus ließe sich aber keine Unterlassungsstraftat ableiten. Letztendlich wäre jeder der beiden Wege zur Strafbarkeit versperrt, da aktives Tun ja von vornherein ausgeschlossen wurde. Die Überzeugung davon, dass dies nicht sein darf, hat sich im Laufe der Erörterung verfestigt.57 Sie hat zunächst eine Gleichbehandlung des in der Schlange auf Schutzschildposition stehenden mit dem neben der Schlange stehenden dahingehend veranlasst, dass das Austreten aus der Schlange strafrechtlich als Nichteintreten in die Schlange, also als unterlassener Schutzschildaufbau, zu behandeln ist. Sie muss jetzt dazu drängen, dem Stehen(bleiben) als Schutzschild die Qualität einer Handlung zuzuschreiben, damit das aktive Verlassen der Position als Verletzung einer Handlungspflicht und folglich als Unterlassen im strafrechtlichen Sinne behandelt werden kann. Anderenfalls würde sich zwar der dicht neben der Schlange stehende Vater wegen eines unechten Unterlassungsdelikts strafbar machen, wenn er den sein Kind vor Verletzung schützenden Schritt nicht vollzieht. Dagegen bliebe der bereits in der Schlange die Schutzschildposition innehabende Vater straflos, weil sein Verhalten weder aktives Tun noch Unterlassen wäre. Dieses Ergebnis kann nicht richtig sein.

tracht der extensiven Anwendung des § 265a StGB durch die Rechtsprechung eine derart formulierte Frage als unzulässige Aufforderung zur Selbstbelastung (nemo tenetur …) zurückweisen. 54 Roxin, AT II, § 31 Rn. 95. 55 Ebenso Herzberg, FS Röhl, S. 270 (282). 56 Gewissermaßen das Thema verfehlt die Begründung des BGH in der Entscheidung 4 StR 652/17 Rn. 15: „Das bloße Sitzen im unbewegten Fahrzeug fällt auch dann nicht unter den Begriff des Führens eines Kraftfahrzeugs, wenn der Motor in Betrieb ist.“ Nicht die Bewegungslosigkeit der Person, sondern die Bewegungslosigkeit des Fahrzeugs ist der Grund, vgl. BGHSt 35, 390 (393). Interessant wird der Fall also erst, wenn das Fahrzeug sich von selbst – z. B. auf abschüssiger Strecke – in Bewegung setzt und der Insasse in Regungslosigkeit verharrt. „Führen durch Unterlassen“? 57 Siehe bereits Baumgarten, S. 92: „Dürfen Strafbarkeit und Straflosigkeit so nahe aneinander grenzen?“

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Ein Ausweg aus dem Dilemma wäre die Anerkennung einer dritten Kategorie menschlicher Lebendigkeit58 neben Tun und Unterlassen, der das starre bewegungslose Stehen, Sitzen oder Liegen zugeordnet werden könnte. Dass es etwas Ähnliches im geltenden Strafrecht sogar schon gibt, bestätigen die gar nicht wenigen „Besitzdelikte“, also Straftatbestände, die auf das Besitzen einer Sache abstellen, z. B. § 184b Abs. 3 Alt. 2 StGB.59 Bei diesen bereitet die Positionierung im dualen System aus Tun und Unterlassen Schwierigkeiten,60 denen durch Erfindung einer neuen Kategorie „Zustandsdelikt“ ausgewichen werden könnte.61 Die h.M. bemüht sich freilich, das „Besitzen“ den Begehungsdelikten zuzurechnen, da anderenfalls eine Strafbarkeit ohne Garantenstellung wohl nicht zu begründen wäre.62 Damit nimmt sie in Kauf, dass jemandem ein Tun vorgeworfen werden kann, obwohl dieser sich überhaupt nicht in einer für den Tatbestand relevanten Weise bewegt hat. Für das vorliegende Thema ist den Besitzdelikten zwar nichts Weiterführendes abzugewinnen. Ihre Existenz ist aber eine Ermutigung, sich gedanklich von dem numerus clausus „Handlung oder Unterlassung – tertium non datur“63 zu lösen. Wenn der pure Aufenthalt eines Menschen an einem Ort strafrechtliche Relevanz hat, dann sollte die Unmöglichkeit einer klaren und eindeutigen Qualifikation als aktives Tun oder Unterlassen nicht daran hindern, diese Relevanz als Bestandteil des geltenden positiven Rechts anzuerkennen. Deshalb bietet es sich hier an, einen Vorschlag von Franz Streng aufzugreifen, der bisher noch wenig Resonanz ausgelöst hat: Zwischen aktivem Tun und Unterlassen liege eine „dritte Handlungsform“, die man „passives Tun“ nennen könne. Es handele sich dabei um eine „willensgesteuerte Untätigkeit, welche selbst unmittelbar kausal für die Tatbestandsverwirklichung wird“.64 Beispielsweise könne die bloße Anwesenheit als „im Wege stehen“ eine tatbestandsmäßige Freiheitsberaubung sein.65 Die rechtliche Bedeutung des passiven Tuns gleiche der des aktiven Tuns. Wer durch passives Tun den tatbestandsmäßigen Erfolg verursacht, erfülle den objektiven Tatbestand des Begehungsdelikts, ohne dass es für dieses Ergebnis einer Garantenstellung bedürfe. Streng beleuchtet das passive Tun allein in seiner Funktion als Verbotsgegenstand, also zu dem Zwecke, die Erfüllung des Tatbestandes eines Begehungsdelikts zu begründen. Danach liegt z. B. dem Straftatbestand § 239 StGB nicht nur das Verbot zugrunde, einen anderen einzusperren oder aktiv festzuhalten, sondern auch das Verbot, einen anderen durch statisches „im Wege stehen“ an der Fortbewegung zu hindern. Wenn man dem folgt, ist es konsequent, pas58 Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. 2006, § 8 Rn. 44: „Persönlichkeitsäußerung“. 59 Schönke/Schröder/Eisele, § 184b Rn. 37 60 Struensee, FS Grünwald, 1999, S. 713 (716 ff.). 61 Eckstein, Besitz als Straftat, 2001, S. 227 ff.; Schroeder, ZIS 2007, 444 (449). 62 Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, vor § 13 Rn. 4; anders Schönke/Schröder/Eisele, vor § 13 Rn. 42: Nichtaufgabe des Besitzes als echtes Unterlassungsdelikt. 63 Struensee, FS Grünwald, 1999, S. 713 (715). 64 Streng, ZStW 122 (2010), 1 (4). 65 Streng, ZStW 122 (2010), 1 (6); a.A. Struensee, FS Stree/Wessels, S. 139 (142).

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sives Tun auch als Gebotsgegenstand, also als Inhalt eines Handlungsbefehls („Steh!“) gelten zu lassen. Eine Garantenpflicht kann somit je nach den Umständen des konkreten Falles außer aktiven Erfolgabwehrhandlungen auch die Beibehaltung des aktuellen Standortes bzw. einer bestimmten Körperhaltung (aufrecht, statt gebückt) beinhalten. Da die Verletzung dieser Pflicht durch Weggehen oder Bücken eine Gebotswidrigkeit ist, ist die Bewertung des Täterverhaltens als Unterlassungsdelikt schlüssig. 3. Pflichtenkollision Da jede Art von Verhalten desjenigen, der eine Schutzschildposition innehat oder sie einnehmen könnte, ausschließlich am Maßstab des Unterlassungsdelikts bewertet wird, sind Situationen von Gefahrenmehrheit möglich, in denen die Straflosigkeit mit rechtfertigender Pflichtenkollision begründet werden kann. Das hat erhebliche Auswirkungen, da die Möglichkeit der Rechtfertigung bei Zugrundelegung aktiven Tuns eingeschränkt wäre. Der Rechtfertigungsgrund Pflichtenkollision wäre nicht anwendbar66 und der allein in Betracht kommende rechtfertigende Notstand hat höhere Anforderungen als die Pflichtenkollision.67 Ein normaler Fall der Pflichtenkollision liegt vor, wenn der Täter noch keine Schutzschildposition innehat, diese aber durch einen Schritt nach links oder nach rechts einnehmen könnte: Eine Gruppe gewaltbereiter Männer wirft mit Steinen in Richtung einer anderen Gruppe aus mehreren Menschen (Opfergruppe). Zwischen beiden Gruppen steht T, dessen aktuelle Position sich aber nicht in der „Schusslinie“ der Werfer befindet. Macht T einen Schritt nach links, bewahrt er dadurch den in der Opfergruppe stehenden A vor Verletzung. Macht T einen Schritt nach rechts, bewahrt er dadurch den in der Opfergruppe stehenden B vor Verletzung. T kann nur entweder nach links oder nach rechts den rettenden Schritt machen. Wenn T den Schritt nach links macht, erfüllt er zugleich die auf § 323c StGB oder § 13 StGB (z. B. T ist Vater des B) beruhende Pflicht gegenüber B nicht. Er unterlässt also das Eingreifen zugunsten des B. Bestand eine zumindest gleichrangige Hilfeleistungspflicht gegenüber A (z. B. T ist auch Vater des A), ist die Tatbestandserfüllung zum Nachteil des B durch Pflichtenkollision gerechtfertigt.68 Um einen „normalen“ Unterlassungsfall handelt es sich, weil der aktive Schritt, der den A rettet, keine Lageverschlechterung zum Nachteil des B bewirkt. Denn T war noch kein Schutzschild. B wäre auch verletzt worden, wenn T sich überhaupt nicht bewegt hätte. Bleibt T einfach stehen, also unterlässt er sowohl den Schritt nach links als auch

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Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, vor § 32 Rn. 71. Vgl. die Beispiele bei Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 10. Aufl. 2018, § 49 Rn. 43 – Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, vor § 32 Rn. 73.

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den Schritt nach rechts, ist wegen der Kollisionslage eine der beiden Unterlassungen gerechtfertigt, die andere ist rechtswidrig.69 Einer „Umwertung“ einer Aktivität in ein Unterlassen, mit der erst der Anwendungsbereich der Pflichtenkollision eröffnet wird, bedarf es, wenn der Täter bereits eine Schutzschildposition innehat. Gibt er diese auf, um Schutzschild zugunsten eines anderen Opfers zu werden, trägt er aktiv zu der Verletzung des ursprünglich von ihm abgeschirmten Opfers bei. Der Standort des zwischen der Gruppe der Werfer und der Opfergruppe stehenden T liegt genau zwischen einem Werfer und dem Opfer A. Durch einen Schritt nach rechts macht sich T zum Schutzschild zugunsten des B. A wird von einem Stein getroffen und verletzt. B bleibt unversehrt, weil der in seine Richtung fliegende Stein den T trifft. Wäre T stehen geblieben, wäre B verletzt worden und A unversehrt geblieben. Der Schritt nach rechts ist aktives Tun. Das ist eine naturalistische Feststellung, die der normativen Korrektur bedarf, da diese Körperbewegung die Bedeutung des Abbruchs eines zuvor selbst eingeleiteten rettenden Kausalverlaufs hat. Die strafrechtliche Würdigung hat sich daher an den Bedingungen des Unterlassungsdelikts zu orientieren. Deshalb kann das Zulassen der Verletzung des A durch Pflichtenkollision gerechtfertigt sein. Müsste man die Rechtfertigungsentscheidung auf der Grundlage aktiven Tuns treffen, hätte dies erheblich abweichende Ergebnisse zur Folge: Rechtfertigende Pflichtenkollision wäre nicht anwendbar. Eine Rechtfertigung nach § 34 StGB wäre nicht begründbar, da kein wesentlich überwiegendes Gefahrabwendungsinteresse besteht, wenn sich die Gefahren für die beiden Opfer nicht oder nur unwesentlich unterscheiden. Daher käme z. B. dem Vater, der seinen den A schützenden Posten verlässt, um sich als Schutzschild für das eigene Kind B zu opfern, allenfalls eine Entschuldigung gem. § 35 StGB zugute. Das wäre ein unbefriedigendes Ergebnis. Gegen den Schritt des Vaters weg von der ursprünglichen Schutzschildposition wäre Nothilfe zugunsten des A zulässig.70 Welche Bedeutung die Anerkennung der Kategorie „passives Tun“ (oben 2.) für die rechtfertigende Pflichtenkollision hat, verdeutlicht folgende Abwandlung des obigen Beispiels: Der Standort des zwischen der Gruppe der Werfer und der Opfergruppe stehenden T liegt genau zwischen einem Werfer und dem Opfer A. Durch einen Schritt nach rechts könnte T sich zum Schutzschild zugunsten des B machen. T bleibt aber stehen. Der in die Richtung des A geworfene Stein trifft T, A bleibt deswegen unverletzt. Verletzt wird B durch einen anderen geworfenen Stein. Hätte T einen Schritt nach

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Dazu, dass dies für eine Verortung der Kollision auf der Tatbestandsebene spricht, Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, vor § 32 Rn. 73. 70 Beispiel: Die Mutter der beiden Kinder zwingt ihren Ehemann mit vorgehaltener Schusswaffe, auf seinem Schutzschild-Posten zu bleiben.

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Wolfgang Mitsch

rechts gemacht, wäre B unversehrt geblieben und A wäre von dem Stein, den T durch sein Stehenbleiben aufgehalten hat, verletzt worden. Sofern T Beschützergarant sowohl gegenüber A als auch gegenüber B ist, hat er in Bezug auf B den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung durch Unterlassen (§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2, 13 StGB) erfüllt.71 Die Unterlassung zum Nachteil des B kann durch Pflichtenkollision gerechtfertigt sein. Voraussetzung dafür ist, dass die Handlungspflicht zum Schutze des B mit einer zumindest gleichwertigen Handlungspflicht zum Schutze des A kollidiert.72 Von einer Pflicht zum Handeln gegenüber A zu sprechen, ist aber problematisch, da es zum Schutz des A in der konkreten Tatsituation keiner Aktivität des T bedurfte. Erforderlich war lediglich, dass er seinen Standort nicht verlässt. Daran die rechtfertigende Pflichtenkollision scheitern zu lassen, wäre aber offensichtlich verfehlt. Das passive Stehenbleiben des T als „passives Tun“ zu qualifizieren, ist ein vertretbarer Vorschlag zur Begründung des richtigen Ergebnisses.

V. Schluss Wer nicht verpflichtet ist, einem anderen seinen eigenen Körper als Schutzschild zur Verfügung zu stellen, ist nicht strafbar, wenn der andere nur deswegen verletzt wird, weil kein fremder Körper als Schutzschild zur Verfügung stand. Dabei spielt es keine Rolle, ob der „Inhaber“ des schutzschildtauglichen Körpers es unterlassen hat, sich auf die Schutzschild-Position zu stellen oder sie, nachdem er zunächst dort stand, vor Eintritt des Verletzungserfolgs verlassen hat. In dem zweiten Fall zwingt die Erwünschtheit des Ergebnisses freilich zu einer kontrafaktischen Volte, nämlich zur normativen Behandlung als Unterlassen, was tatsächlich aktives Tun ist. Dies reizt zur Suche nach einer Lösung, die der Aktivität auch in der strafrechtlichen Würdigung noch ihren Charakter als Aktivität bewahrt und dennoch auf das Ergebnis der Straflosigkeit hinausläuft. Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand in der Strafrechtswissenschaft ist eine solche Lösung nicht in Sicht. Wie sie dem Gesetzgeber zumindest punktuell gelingen kann, zeigte bis 1998 die alte Fassung des Aussetzungstatbestandes § 221 Abs. 1 Alt. 2 StGB a.F.: „[…] oder wer eine solche Person, wenn sie unter seiner Obhut steht oder wenn er für ihre Unterbringung, Fortschaffung oder Aufnahme zu sorgen hat, in hilfloser Lage verläßt, […]“. Hier wurde ein Täterverhalten, das zweifellos ein aktives Tun ist,73 mit einer Garantenstellung verknüpft, was 71 Ob das Unterlassen des T im Verhältnis zu dem Steinwerfer Täterschaft oder Beihilfe ist, sei hier dahingestellt. 72 Roxin, AT II, § 31 Rn. 204. 73 Erledigung der Kontroverse um die Erfüllbarkeit des Tatbestandsmerkmals „Verlassen“ durch passive Vorenthaltung von Hilfe seitens eines die räumliche Nähe zum Hilfebedürftigen nicht aufhebenden Garanten (vgl. z. B. BGHSt 38, 78, 81) war bekanntlich der Grund für den Tausch von „verlässt“ gegen „im Stich lässt“ im 6. Strafrechtsreformgesetz; vgl. Jäger, JuS 2000, 31 (33).

Die Weigerung ein menschlicher Schutzschild zu sein

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zur Folge hatte, dass der aktiv sich vom hilflosen Opfer wegbewegende Täter allein unter den Voraussetzungen strafbar war, unter denen auch ein das Opfer passiv „im Stich“74 lassender Täter strafbar war. Diese Strafbarkeitseinschränkung, die dem Aussetzungstatbestand in Bezug auf die nicht verhinderte konkrete Lebensgefährdung immanent ist, erstreckt sich auf den Totschlagstatbestand, wenn es nicht bei der Lebensgefährdung bleibt und die Gefahr sich im Lebensverletzungserfolg „Tod“ realisiert: Wer nicht verpflichtet ist, dem Opfer in der hilflosen Lage beizustehen, der haftet auch nicht für den Todeserfolg, wenn das Opfer stirbt, weil er sich von ihm entfernt und deshalb den tödlichen Kausalverlauf nicht mit seinem Körper als Schutzschild aufgehalten hat. Fügt man diese Tatbestandsrestriktion gedanklich der in puncto Verhaltensunrecht komplett unkonkreten Tatbeschreibung des § 212 StGB hinzu, braucht die Straflosigkeit eines vom Opfer weggehenden Nichtgaranten nicht mehr mittels Umdeutung seiner Aktivität in ein Unterlassen begründet zu werden.75

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So jetzt § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB nach dem 6. StrRG. Das ist auch die Lösung für das Beispiel der sich entfernenden Nachbarin bei Herzberg, FS Röhl, S. 270 (274). Es ist verwunderlich, dass der Autor § 221 StGB nicht erwähnt. 75

Der Lebensnotstand bei siamesischen Zwillingen Von Volker Erb

I. Einführung Angesichts zahlreicher Berichte nicht nur in medizinischen Fachorganen, sondern auch in den Allgemeinmedien, die Operationen zur Trennung miteinander verwachsener „siamesischer Zwillinge“ weltweit zum Gegenstand haben, ist es erstaunlich, dass das Thema in der deutschen Strafrechtswissenschaft bis heute nur geringe Aufmerksamkeit erfahren hat. Zu den Ausnahmen gehören Beiträge des verehrten Jubilars, der sich wiederholt mit der Problematik befasst hat.1 Daran anknüpfend werden im vorliegenden Beitrag Eingriffe diskutiert, bei denen der Tod eines Zwillings bewusst in Kauf genommen wird, um den andernfalls früher oder später unabwendbaren Tod beider zu verhindern. Außer Betracht bleiben sollen hier Trennungsoperationen, die im Interesse beider Kinder vorgenommen werden (und dabei freilich ebenfalls schwierige rechtliche Probleme aufwerfen können, speziell dort, wo es einer Entscheidung bedarf, welcher von beiden Zwillingen am Ende mit den gravierenderen Verstümmelungen leben muss).2 Nicht behandelt wird auch die – einer Rechtfertigung wohl schlechthin unzugängliche3 – Variante, in der ein ungetrennt langfristig lebensfähiges Zwillingspaar unter bewusster Aufopferung eines von beiden getrennt wird, um den anderen von den schweren Einschränkungen seiner Lebensqualität zu befreien. Die vorliegend interessierenden Eingriffe, die für einen Zwilling absehbar tödlich verlaufen, dabei jedoch die einzige Möglichkeit darstellen, den andernfalls ebenso absehbaren Tod beider zu verhindern, können (abgesehen von den ebenfalls sehr verschiedenen medizinischen Ursachen des Dilemmas) in unterschiedlichen Lebenslagen zur Debatte stehen. So wird der Eingriff zwar meistens in einem frühkindlichen Stadium erfolgen, könnte aber zumindest theoretisch auch zu einem späteren Zeitpunkt anstehen, in dem die Kinder bereits zu einer Selbstreflexion fähig sind. Ferner ist zu differenzieren zwischen Fällen, in denen der Tod beider Kinder zeitlich unmit1 Reinhard Merkel, Früheuthanasie, 2001, S. 630 ff.; ders., An den Grenzen von Medizin, Ethik und Strafrecht: Die chirurgische Trennung so genannter siamesischer Zwillinge, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 603 ff. 2 Dazu eingehend Merkel, in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (609 f., 613 ff.). 3 So auch Merkel, Früheuthansie (Fn. 1), S. 635 f. unter Hinweis auf einen entsprechenden Fall in England und auf ein unter Kinderchirurgen wohl durchaus verbreitetes Motiv.

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telbar bevorsteht, wenn der Eingriff unterbleibt, und solchen, in denen er erst geraume Zeit später droht, im Extremfall wiederum erst in einer späteren Entwicklungsphase nach zwischenzeitlicher Erlangung der Fähigkeit zur Selbstreflektion. Unabhängig davon könnte es eine Rolle spielen, ob die Ursache für den drohenden Tod beider Zwillinge in der spezifischen Disposition eines von ihnen zu finden ist. Besonderes Augenmerk verdient schließlich die Frage, ob von vornherein nur einer oder zunächst einmal beide Zwillinge eine Chance haben, auf Kosten des anderen gerettet zu werden, weil der Arzt im letztgenannten Fall eine deutlich weitergehende Auswahlentscheidung über Leben und Tod trifft. Im Folgenden soll zunächst untersucht werden, ob zumindest in einem Teil dieser Varianten eine Rechtfertigung auf der Grundlage umstrittener, aber durchaus verbreiteter notstandsdogmatischer Ansätze in Betracht kommt (II.). Sodann ist zu überlegen, ob im vorliegenden Zusammenhang Besonderheiten bestehen, die evtl. eine Erweiterung der Rechtfertigung über diesen Rahmen hinaus dogmatisch und kriminalpolitisch legitimieren könnten (III.). Davon abzugrenzen bleiben diejenigen Konstellationen, in denen die Notstandsfestigkeit des Rechtsguts „Leben“ eine Rechtfertigung entsprechender Eingriffe zwingend ausschließt und auch eine Entschuldigung richtigerweise ausscheiden muss (IV.).

II. Allgemeine Ansätze zur Rechtfertigung tödlicher Notstandshandlungen Eine Notstandsrechtfertigung von Eingriffen der vorliegenden Art stößt im Hinblick auf den Grundsatz der notstandsrechtlichen Unabwägbarkeit menschlichen Lebens schnell an ihre Grenzen. Sie muss bei konsequenter Betrachtung generell ausscheiden, wenn man diesem Grundsatz mit einer verbreiteten bzw. wohl sogar herrschenden Ansicht4 absolute und ausnahmslose Geltung beimisst. Im Schrifttum werden insoweit allerdings Ausnahmen diskutiert, die in bestimmten Konstellationen der für seinen Betroffenen tödlichen Trennung siamesischer Zwillinge einschlägig sein könnten. 1. Defensivnotstand Einer dieser Ansätze beruht auf der Annahme, wonach sich die für den aggressiven Notstand geltenden Maßstäbe im Defensivnotstand generell umkehren sollen, weil der Eingriffsadressat hier kein Unbeteiligter ist, sondern selbst die Gefahrenquelle für andere bildet.5 Hiernach dürfte – genauso wie es der Gesetzgeber für 4 Ausf. etwa LK/Zieschang, Bd. 3, 13. Aufl. 2019, § 34 Rn. 141 ff. mit umfassenden Nachweisen. 5 Dabei spielt es im Ergebnis keine Rolle, ob diese Annahme auf eine analoge Anwendung von § 228 BGB gestützt wird (so etwa NK-StGB/Neumann, Bd. 1, 5. Aufl. 2017, § 34 Rn. 86 ff. m.w.N.), oder ob man der Herkunft der Gefahr im Rahmen der – ausdrücklich nicht

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die Abwehr gefährlicher Sachen in § 228 BGB geregelt hat – die Notstandshandlung im Defensivnotstand größeren Schaden anrichten als die Gefahr, die man abwenden will, solange der Schaden nur nicht außer Verhältnis gerät. Um eine Tötung zu rechtfertigen, wäre dann keine (angesichts der qualitativen und quantitativen Unabwägbarkeit menschlichen Lebens unmögliche) Begründung dafür erforderlich, warum das Lebensrecht des Geretteten als solches höheres Gewicht haben sollte als dasjenige des Eingriffsadressaten. Es bedürfte im Gegenteil einer (ebenso unmöglichen) Begründung des Gegenteils, um die Rechtfertigung der Tat zu versagen. Notstandsfest wäre das Tötungsverbot hiernach nur im Sinne einer absoluten Grenze der Aufopferungspflicht Unbeteiligter, nicht aber als Begrenzung der Duldungspflichten von „Störern“. a) Hält man diese Annahme allgemein für zutreffend und ist es im Einzelfall tatsächlich möglich, dem getöteten Zwilling eine solche Störerrolle zuzuweisen, dann lassen sich die hier zur Debatte stehenden Eingriffe in weitem Umfang rechtfertigen. Dabei ist es unerheblich, ob sich die Betroffenen zum Zeitpunkt des Eingriffs noch in einem frühkindlichen oder in einem (beliebig) späteren Entwicklungsstadium befinden. Ob ohne den Eingriff der Tod beider im unmittelbaren zeitlichen Anschluss oder erst später droht, ist nur relevant, solange der Eingriff ohne maßgebliche Schmälerung der Erfolgsaussichten aufgeschoben werden kann. Sobald ein (weiterer) Aufschub den Rettungserfolg gefährden würde, ist die Gefahr im notstandsrechtlichen Sinn nämlich bereits gegenwärtig,6 so dass die – insofern auch unmittelbar erforderliche – Notstandshandlung (d. h. die Trennungsoperation) nunmehr jederzeit durchgeführt werden dürfte.7 Die Zulässigkeit des Eingriffs würde im Übrigen auch nicht daran scheitern, dass es medizinisch möglich wäre, wahlweise einen von beiden Zwillingen zu retten, der bei der Operation getötete zuvor also noch nicht „rettungslos verloren“ war, wenn letzterer nur derjenige ist, den man als Gefahrenquelle für das Leben des anderen identifizieren kann. b) Eine Festlegung, welcher von beiden siamesischen Zwillingen für den anderen eine Gefahr darstellt, erscheint freilich in mehrfacher Hinsicht problematisch. So hat der Jubilar zutreffend darauf hingewiesen, dass ja letzten Endes die „biologische Fusion der Grund für die kurze Lebenserwartung beider Zwillinge“ ist und mithin „die Existenz jedes von ihnen die des jeweils anderen in gleichem Maß“ bedroht.8 Selbst für den Fall, dass man die Lebensgefahr auf einen bestimmten, in den zusammengeauf den Rang der beteiligten Rechtsgüter und die Gefahrengrade beschränkten – Interessenabwägung nach § 34 StGB entsprechendes Gewicht beimisst (Günther, FS Amelung, 2009, 147 [150 ff.]; Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 34 Rn. 29). 6 Allgemein NK-StGB/Neumann (Fn. 5), § 34 Rn. 57; SK/Hoyer, Bd. I, 9. Aufl. 2017, § 34 Rn. 23; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 20, jew. m.w.N. 7 Konsequent A. Koch, GA 2011, 129 (143 f.), Wu/Wuschko, rescriptum 2016, 110 (111). 8 Merkel, Früheuthansie (Fn. 1), S. 634; die Annahme eines Defensivnotstands nicht mehr generell ablehnend, aber mit Bedenken im Hinblick auf „ein gewisses Risiko des Missbrauchs ärztlicher Definitionsmacht über die Frage des ,Gefahrenursprungs‘“ ders., in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (637).

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Volker Erb

wachsenen Körpern genau lokalisierbaren „Defekt“ (etwa auf das Fehlen oder die Funktionslosigkeit eines lebenswichtigen Organs oder auf einen Infektionsherd in einem der parallelen, jeweils mit einem Kopf korrespondierenden Organsysteme) zurückführen kann, hat Joerden der Annahme eines Defensivnotstands9 entgegengehalten, bei ungetrennten siamesischen Zwillingen könne man prinzipiell nicht von getrennten Rechtssphären sprechen, von denen eine aus der anderen heraus bedroht wird.10 Auch dieser Einwand lässt sich nicht ohne weiteres von der Hand weisen: Bei einem zusammenhängenden Körper, der aus einem niemals vollständig aufgeteilten Zellverband entstanden ist und in dieser Einheit ein (wenn auch zeitlich stark limitiertes) Leben beider Zwillinge ermöglicht, solange er insgesamt funktioniert, ist die räumliche Lage des „Defekts“ möglicherweise ein allzu vordergründiges Kriterium, um einem der Kinder die Eigenschaft einer „Gefahrenquelle“ für das andere zuzuschreiben. Die Fragwürdigkeit einer solchen Zuschreibung offenbart sich im Übrigen auch in den kontraintuitiven Ergebnissen, die der Jubilar bei Anwendung dieses Kriteriums auf einen realen Fall aus den USA aufgezeigt hat: Dort lag die Ursache des drohenden Todes in dem unterentwickelten Anteil eines Zwillings am gemeinsamen Herzkomplex, wobei aber nur für diesen Zwilling (bei Übertragung des gesunden Herzteils auf ihn) eine Überlebenschance bestand, da ausschließlich in dem ihm zuzuordnenden Körperbereich ein funktionsfähiges System von Gallengängen existierte. Eine Rechtfertigung der Operation, die auf seine – einzig mögliche – Rettung abzielte, könnte also nicht auf das Vorliegen eines Defensivnotstands gestützt werden.11 Wirklich eindeutig, unzweifelhaft und im Ergebnis überzeugend dürfte die Annahme eines Defensivnotstands nur in dem Sonderfall sein, in dem einer der Zwillinge unmittelbar vor dem Hirntod steht, dessen Eintritt dann wenig später zwangsläufig auch den Tod des anderen verursachen wird.12 Bei einer so dramatischen Zuspitzung des Gesundheitszustands, die in der medizinischen Realität kaum jemals nur die Sphäre des einen Zwillings betreffen wird, dürfte es für eine erfolgversprechende Operation zur Rettung des anderen aber ohnehin zu spät sein. c) Abgesehen davon, dass die Figur des Defensivnotstands hiernach allenfalls mit erheblichen Einschränkungen geeignet ist, die hier interessierenden Konstellationen zu erfassen, sei an dieser Stelle noch einmal betont, dass sie für sich genommen auch kaum dazu taugt, eine Ausnahme von der Notstandsfestigkeit des Tötungsverbots zu legitimieren. Die Schwäche entsprechender Ansätze liegt in der Annahme, in einem durch Menschen ausgelösten Defensivnotstand sei die Situation umgekehrt gelagert wie beim Aggressivnotstand, was eine Umkehr der für letzteren geltenden Abwägungsmaßstäbe erlaube. Eine nähere Betrachtung zeigt, dass diese Überlegung nicht zutrifft: In Konstellationen des Aggressivnotstands hat allein denjenigen, dem die Notstandstat helfen soll, quasi das Schicksal getroffen, während derjenige, 9

Diese wiederum verteidigend A. Koch, GA 2011, 129 (141). Joerden, Menschenleben, 2003, S. 119 (128). 11 Merkel, in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (638). 12 Hinweis auf diese Konstellation bereits bei Merkel, Früheuthansie (Fn. 1), S. 634. 10

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gegen den sich die Tat richtet, mit der Notlage zunächst einmal überhaupt nichts zu tun hat. Demgegenüber ist der Eingriffsadressat beim Defensivnotstand zwar kein Unbeteiligter. Letzteres ist bei demjenigen, dem die Notstandsgefahr droht, hier aber ebenso wenig der Fall. Betrachten wir dazu das verbreitete Beispiel eines unverschuldet ins Rutschen geratenen Autofahrers, der einen Rollstuhlfahrer zu überfahren droht, der sich nicht rechtzeitig aus dem Gefahrenbereich entfernen kann, dessen Rettung aber dergestalt möglich ist, dass ein LKW-Fahrer den Autofahrer von der Straße rammt: Hier wird man schwerlich sagen können, letzterer sei jemand, den das Pech des Lebens quasi schon vorher getroffen hat, der Rollstuhlfahrer hingegen ein Unbeteiligter, auf den man kein fremdes Schicksal überwälzen dürfe. Hier sind vielmehr von vornherein beide Seiten durch Zufall in einen gefährlichen Kausalverlauf verwickelt. Dabei ist der Autofahrer ebenso ein Opfer unglücklicher Umstände wie der Rollstuhlfahrer. Deshalb muss er zwar weitergehende Maßnahmen zur Gefahrenabwehr dulden als ein Unbeteiligter, weshalb die Annahme einer Verschiebung der Abwägungsmaßstäbe im Vergleich zum Aggressivnotstand durchaus zutrifft. Es gibt aber keinen Grund, nun umgekehrt den Rollstuhlfahrer so weit zu bevorzugen, daß der Autofahrer zu seiner Rettung getötet werden dürfte.13 Für die siamesischen Zwillinge, bei denen die gemeinschaftliche Verstrickung in ein schicksalhaftes Geschehen besonders offensichtlich ist, kann an dieser Stelle nichts anderes gelten. 2. Gefahrengemeinschaften mit einseitiger Verteilung der Rettungschancen Auf den ersten Blick erfolgversprechender erscheint für einen Teil der in Betracht kommenden Fälle ein Rückgriff auf die Figur der Gefahrengemeinschaft mit einseitiger Verteilung der Rettungschancen.14 Diese hat Situationen zum Gegenstand, in denen der durch die Notstandshandlung Getötete zu einer Gruppe von Menschen gehört, die ohne die Notstandshandlung alle ums Leben kommen werden („Gefahrengemeinschaft“), wobei die Besonderheit besteht, dass eine Rettung des Getöteten im Gegensatz zu derjenigen anderer Mitglieder von Anfang an unmöglich war und dieser deshalb ohnehin in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang in der betreffenden Gefahr umgekommen wäre (einseitige Verteilung der Rettungschancen). a) Es würde den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen, hier noch einmal eine Auseinandersetzung mit den zahlreichen Stimmen im Schrifttum zu führen, die eine Rechtfertigung von Notstandstötungen auch in dieser Konstellation kategorisch ablehnen.15 An dieser Stelle sei nur noch einmal kurz der (vom Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Defensivnotstands völlig unabhängige) maßgebliche Gesichtspunkt 13 Eingehend zum Ganzen Otte, Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand, 1998, S. 97 ff.; MüKoStGB/Erb, Bd. 1, 4. Aufl. 2020, § 34 Rn. 208 ff. m.w.N. 14 Diesen Aspekt in die Betrachtung einbeziehend auch Merkel, in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (632 ff.); im Ergebnis ähnlicher Ansatz, aber mit dem Versuch einer Rechtfertigung über die Figur einer „Pflichtenkollision“ Wu/Wuschko, rescriptum 2016, 110 (117 f.). 15 Näher dazu MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 161 ff. m.w.N.

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genannt, der in dieser Fallgruppe für eine abweichende Sichtweise spricht. Dieser besteht darin, dass der Getötete hier erstens untrennbar mit der Gefahrenquelle verbunden ist, und dass er deshalb zweitens schon unrettbar verloren erscheint.16 Deshalb weist ihm der Notstandstäter letzten Endes kein tödliches Schicksal zu, sondern verhindert nur, daß der Getötete um den Preis des Todes aller Beteiligten noch für kurze Zeit von der tödlichen Gefahr verschont bleibt, aus der er ohnehin nicht mehr entkommen kann.17 Diese Überlegung beruht auch nicht auf einer unzulässigen Abwägung zwischen den unterschiedlichen verbleibenden Lebenszeiten der Beteiligten oder nach dem Zahlenverhältnis zwischen den getöteten und den geretteten Personen.18 Ausschlaggebend ist vielmehr nur die Wertung, daß eine Gefahrenquelle, die das Schicksal eines Teils der Betroffenen bereits besiegelt hat, nicht weitere und insofern vermeidbare Opfer fordern soll, nur um eine geringfügige Beschleunigung des tragischen Verlaufs für erstere zu vermeiden.19 Darin liegt keine unzumutbare Ausweitung von deren Solidaritätspflicht, es liefe vielmehr umgekehrt auf eine Überdehnung der Solidaritätspflicht der anderen hinaus, müssten sie sich in einer solchen Situation mit in den Tod reißen lassen.20 b) Wie der Jubilar zutreffend aufgezeigt hat, eröffnen diese Überlegungen für die Rechtfertigung von Trennungsoperationen bei siamesischen Zwillingen im Ergebnis allerdings nur geringe Spielräume. Abgesehen davon, dass sie von vornherein nur dort greifen, wo unabänderlich feststeht, welches Kind durch einen solchen Eingriff gerettet werden kann und welches von Anfang an todgeweiht erscheint,21 setzt ihre Anwendung voraus, dass der Tod zeitlich unmittelbar bevorsteht, da sie eine nennenswerte Verkürzung der ohne die Notstandshandlung verbleibenden Lebensspanne des Getöteten nicht zu legitimieren vermögen.22 Damit bleiben als mögliche Anwendungsfälle nur Notoperationen bei akut drohendem Todeseintritt (dies allerdings unabhängig vom Entwicklungsstadium der Zwillinge, also ggf. auch dann noch, wenn diese bereits ein Ich-Bewusstsein erlangt haben). Abgesehen von Fällen, in denen eine solche Situation unvermittelt eintritt,23 hätte dies zur Konsequenz, dass die Ärzte mit dem Eingriff immer bewusst warten müssten, bis sich die Lage entsprechend zuspitzt, was die Chancen auf ein Gelingen des Eingriffs im Sinne einer Rettung des nicht todgeweihten Zwillings erheblich verschlechtern würde.24 16

Hirsch, FS Küper, 2007, 149 (160 ff.). Spendel, RuP 2006, 131 (134); Hirsch, FS Küper, 2007, 149 (161); Isensee, FS Jakobs, 2007, 205 (230); NK-StGB/Neumann (Fn. 5), § 34 Rn. 77e. 18 Hirsch, FS Küper, 2007, 149 (161, 165); MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 162. 19 Ähnlich Isensee, FS Jakobs, 2007, 205 (230). 20 NK-StGB/Neumann (Fn. 5), § 34 Rn. 77; MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 159; zustimmend Merkel, ZStW 114 (2002), 437 (452 f.); ders., in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (633). 21 Zutr. NK-StGB/Neumann (Fn. 5), § 34 Rn. 78a. 22 Merkel, in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (633 f.); NK-StGB/Neumann (Fn. 5), § 34 Rn. 78a; Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 473 ff.; MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 216. 23 Zum Vorkommen solcher „Nottrennungen“ Merkel, Früheuthansie (Fn. 1), S. 631. 24 Merkel, in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (634). 17

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III. Zur Bedeutung der spezifischen Situation neugeborener siamesischer Zwillinge Die geläufigen Figuren der Notstandsdogmatik eröffnen im vorliegenden Zusammenhang somit nur sehr beschränkte Handlungsoptionen. Belässt man es bei dieser Betrachtung, wären Trennungsoperationen, bei denen der Tod eines Zwillings notgedrungen, aber bewusst in Kauf genommen wird, de lege lata fast durchweg zwangsläufig rechtswidrig.25 Der Umstand, dass trotz des wiederholten Bekanntwerdens solcher Eingriffe im In- und Ausland offenbar noch niemals Strafverfolgungsmaßnahmen eingeleitet wurden, spricht freilich für die weite Verbreitung einer Intuition, ein derartiges ärztliches Handeln sei legitim.26 Angesichts dieser auch vom Jubilar als unbefriedigend bewerteten Diskrepanz27 wollen wir im Folgenden überlegen, ob die vorliegenden Fälle vielleicht Besonderheiten aufweisen, aus denen sich ein rechtsdogmatisch und kriminalpolitisch tragbarer Rechtfertigungsansatz ableiten lässt.28 1. Die untrennbare Verflechtung des Lebensinteresses Das Lebensinteresse des Menschen folgt normalerweise entweder aus dem aktuellen Vorhandensein eines Ich-Bewusstseins oder (im frühkindlichen Stadium, aber auch bei Komapatienten mit Aussicht auf Besserung) aus der Möglichkeit, ein solches (wieder) zu entwickeln. Darüber hinaus ist auch bei Menschen, die individuell nicht über eine solche Möglichkeit verfügen (als schwerstbehinderte Neugeborene oder als dauerhafte Komapatienten) zu konstatieren, dass sie als Angehörige der Spezies „homo sapiens“ immerhin abstrakt an der – für diese typischen – diesbezüglichen Potentialität teilhaben. Diese Potentialität zur Entfaltung einer eigenen Persönlichkeit besteht (ungeachtet der durch die Eigenschaft als soziales Wesen bedingten, ggf. existenziellen Abhängigkeiten) bei allen Menschen grundsätzlich in selbständiger Form. Das bildet für human ausgestaltete Rechtsordnungen den zwingenden Anlass (und ist essentieller Bestandteil der Menschenwürdegarantie nach Art. 1 Abs. 1 GG), ihnen jeweils eine eigene autonome Interessensphäre und als deren wichtigste Komponente das unbedingte Recht auf den Fortbestand der eigenen Existenz zuzugestehen. Bei ungetrennten siamesischen Zwillingen ist jene Potentialiät in jeweils eigenständiger Form indessen nur dann gegeben, wenn eine Chance besteht, dass sie ein Alter erreichen, in dem in jedem der beiden Gehirne tatsächlich ein Ich-Bewusstsein entsteht. Werden sie zwangsläufig früher sterben, ändert dies zwar nichts am ab25 Für diese Konsequenz Merkel, Früheuthansie (Fn. 1), S. 635; ders., in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (638); Joerden (Fn. 10), S. 119 (131); NK-StGB/Neumann (Fn. 5), § 34 Rn. 78a. 26 Ebenso bereits Zimmermann (Fn. 22), S. 472; MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 217. 27 Merkel, in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (638). 28 Entsprechende Überlegungen bereits bei MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 218 ff.; vgl. im Übrigen Zimmermann (Fn. 22), S. 475 ff.

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strakten Vorliegen der speziestypischen Eigenschaften, weshalb ihr Lebensrecht ebenso wenig wie dasjenige anderer schwerstbehinderter Neugeborener gegen Interessen Dritter abgewogen werden darf.29 In diesem Fall mangelt es jedoch an voneinander entflechtbaren autonomen Interessensphären, die Träger von wechselseitigen Abwehransprüchen gegen Störungen der Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit sein könnten. Wird nach Kriterien der medizinischen Zweckmäßigkeit eine Entscheidung getroffen, nach der einer von beiden die einzige unteilbare Lebenschance erhält, erfolgt mithin keine Überschreitung der Grenzen autonomer Rechtssphären, wie sie bei der Verrechnung von Lebensinteressen in Notstandslagen normalerweise erfolgt, was im Regelfall die Unerträglichkeit entsprechender Notstandshandlungen begründet.30 Deswegen bedeutet die Zulassung des hier diskutierten Vorgehens bei siamesischen Zwillingen auch keine allgemeine Lockerung der Notstandsfestigkeit des Rechtsguts „Leben“ und keine Erschütterung des Vertrauens der Bürger, dass ihr Lebensrecht niemals zugunsten wie auch immer gearteter anderer Interessen zur Disposition stehen wird. Nur aus diesem Grund ist im Übrigen auch nachvollziehbar, warum die Legitimität entsprechender Eingriffe bei siamesischen Zwillingen sowohl in der Ärzteschaft als auch in der Medienöffentlichkeit kaum in Frage gestellt wird.31 2. Mögliche Konsequenzen für die Anwendung von § 34 StGB Auf der Grundlage dieser Überlegungen kann man sich bei der Anwendung von § 34 StGB auf den Standpunkt stellen, dass das längerfristige Überleben eines Zwillings das Interesse an einem das frühkindliche Stadium keinesfalls überschreitenden Weiterleben beider im Sinne dieser Vorschrift „wesentlich überwiegt“.32 Hiernach ließen sich einschlägige Fälle unabhängig davon erfassen, ob der Tod beider Kinder ohne den Eingriff zeitlich unmittelbar bevorsteht oder erst geraume Zeit später (nicht jedoch erst nach Erlangung der Fähigkeit zur Selbstreflektion) droht, wenn ein längeres Abwarten die Erfolgsaussichten des Eingriffs schmälert – mit dem Ergebnis, dass die Notstandsgefahr auch im letztgenannten Fall bereits jetzt gegenwärtig33 und die alsbaldige Vornahme des Eingriffs zu ihrer Abwendung erforderlich ist.34 Unerheblich wäre ferner die (ohnehin zweifelhafte, s. o. II.1.b)) Verortung der Gefahrenquelle bei einem der Zwillinge. Auch auf die Frage, ob der bei der Operation geopferte Zwilling von Anfang an todgeweiht war, käme es nicht mehr an, da die Ausnahme von der Notstandsfestigkeit des Tötungsverbots unabhängig von den Grund29 Insoweit findet anders als von Zimmermann (Fn. 22), S. 477 f. befürchtet keine Relativierung des Lebensrechts neugeborener siamesischer Zwillinge statt. 30 Vgl. auch Zimmermann (Fn. 22), S. 476 f. 31 Insoweit ebenso Zimmermann (Fn. 22), S. 477; zum Ganzen bereits MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 218 f. 32 So bereits MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 220. 33 S. o. Fn. 6. 34 MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 223.

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sätzen der Gefahrengemeinschaft mit einseitiger Verteilung der Rettungschancen (und mithin auch unabhängig von den mit dieser verbundenen spezifischen Streifragen) begründet wird. In Situationen, in denen für beide Zwillinge insofern zwar keine kumulative, aber eine alternative Rettungschance besteht, geht das überwiegende Interesse dahin, den Eingriff so vorzunehmen, dass nach Möglichkeit überhaupt ein Kind überlebt, d. h. er ist auf Rettung des Kindes mit den besseren Überlebenschancen anzulegen. Bei gleichmäßiger Verteilung der Rettungschancen haben die Verantwortlichen entsprechend der Situation bei einer rechtfertigenden Pflichtenkollision35 eine Wahlfreiheit.36

IV. Unübersteigbare Grenzen Nach alledem bleiben freilich Grenzen, die bei jedem denkbaren Rechtfertigungsansatz zu beachten sind: Besteht nach Lage der Dinge die Möglichkeit, dass das Zwillingspaar ungetrennt bis zu einem Alter überlebt, in dem die beiden zur (insofern notwendigerweise jeweils eigenständigen) Selbstreflektion fähig sind,37 dann haben wir es – im Hinblick auf das Vorhandensein eines entsprechenden Potentials von Anfang an – mit autonomen Interessensphären zu tun. Dies gilt natürlich erst recht, wenn ein entsprechendes Entwicklungsstadium zum Zeitpunkt des Eingriffs bereits erreicht sein sollte. In diesen Fällen kommen die Bedenken, die einer Verrechnung des Lebensrechts von Menschen allgemein entgegenstehen, somit in vollem Umfang zum Tragen.38 Diese stehen einer entsprechenden Ausweitung des unter III. vorgeschlagenen Rechtfertigungsmodells also zwingend entgegen. In solchen Fällen ist die Möglichkeit einer Rechtfertigung hiernach auf die (in der medizinischen Praxis indessen wohl kaum relevanten) Fälle beschränkt, in denen erstens einer der Zwillinge von vornherein keine Überlebenschance hat und zweitens der Tod beider ohne Vornahme des Eingriffs zeitlich unmittelbar bevorsteht (s. o. II.2.b)). Eine über diesen Rahmen hinausgehende Vornahme von Eingriffen, bei denen der Tod eines Zwillings bewusst in Kauf genommen wird, sollte auch nicht unter Berufung auf einen Entschuldigungsgrund oder auf übergesetzliche Rechtsfiguren39 möglich sein: Wie der Jubilar überzeugend ausgeführt hat, sind die handelnden Ärzte keiner persönlichen Zwangslage ausgesetzt, in der das von der Rechtsordnung geforderte 35

Vgl. Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor §§ 32 ff. Rn. 76. Im Ergebnis ebenso (unter Einschluss der Möglichkeit eines Losverfahrens) für den Fall eines ohne den Eingriff unmittelbar bevorstehenden Todes beider auf der Grundlage eines anderen Ansatzes Zimmermann (Fn. 22), S. 474. 37 Was gerade in den wohl praktisch besonders bedeutsamen Fällen von Zwillingen mit fusionierten Herzkammern anscheinend jedoch nicht der Fall ist, vgl. Merkel, in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (632) m.w.N. aus dem medizinischen Schrifttum. 38 MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 222. 39 Für deren Heranziehung – allerdings mit Blick auf Fälle, für die im vorliegenden Beitrag eine Rechtfertigung befürwortet wird, A. Koch, GA 2011, 129 (136 ff.); NK-StGB/Neumann (Fn. 5), § 34 Rn. 78a; Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 34 Rn. 16 a.E. 36

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Unterlassen des Eingriffs eine unerträgliche Zumutung bedeuten würde.40 Der Rechtsstaat muss von den professionellen Akteuren des Gesundheitssystems – auch unter Androhung von Strafe – verlangen können, bestehende rechtliche Vorgaben zu beachten.41 Die Einhaltung der hier vorgeschlagenen Grenzen sollte im Übrigen auch nicht sonderlich schwerfallen, weil es kaum jemanden geben dürfte, der Eingriffe, die jenseits des hiernach strafrechtlich Akzeptablen angesiedelt sind, intuitiv als legitim bewertet, jedenfalls nicht in einer Eindeutigkeit, die ihn dazu verleiten könnte, sich bewusst über entgegenstehendes Recht hinwegzusetzen. So meinte denn auch der Jubilar, es sei „schwer vorstellbar“, „dass irgendein Chirurg der Welt an eine einseitig tödliche Trennung erwachsener siamesischer Zwillinge auch nur denken würde.“42

V. Schlussbemerkung Vor diesem Hintergrund soll der vorliegende Beitrag und der entsprechende Vorschlag zur Behandlung der Fallgruppe im Münchener Kommentar zum StGB zugleich als Versuch verstanden werden, eine offenbar ganz vorherrschende ethische Intuition nicht nur stillschweigend zu tolerieren, sondern – gemäß einer vom Jubilar erhobenen Forderung43 – mit strafrechtlichen Kategorien in Einklang zu bringen. Dabei geht es nicht darum, ethisch-moralischen Überlegungen unmittelbaren Eingang in die Interessenabwägung nach § 34 StGB zu verschaffen. Aufgezeigt werden sollte vielmehr, dass in den Extremkonstellationen, in denen sich die Intuition gegen die rigorose Durchsetzung eines notstandsfesten Tötungsverbots sperrt, in Ermangelung entflechtbarer Interessensphären eine wesentliche Voraussetzung fehlt, die eben dieses Verbot in allen anderen Varianten des Lebensnotstands in maßgeblicher Hinsicht mitträgt. Dem Fehlen dieser Voraussetzung bei der Auslegung von § 34 StGB in gleicher Weise Rechnung zu tragen, wie das bei der intuitiven ethisch-moralischen Bewertung solcher Fälle offenbar in einhelliger Weise geschieht, wird man angesichts der entsprechend offen gehaltenen gesetzlichen Fassung der Norm nicht als dogmatisch unvertretbar bezeichnen können. Dabei erscheint wichtig, dass es sich insofern nicht um eine unbestimmte „Aufweichung“ der Unabwägbarkeit des Lebensrechts im rechtfertigenden Notstand handelt, sondern um eine besonders begründete Ausnahme, deren argumentative Basis gerade keine Erweiterung auf „alle möglichen Grenzfälle des Rechts“ zu tragen vermag.44 Wenn eine solche Lösung dogmatisch und kriminalpolitisch vertretbar ist, dann sollte sie im Ernstfall herangezogen 40

Merkel, Früheuthansie (Fn. 1), S. 636; ders., in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (635). MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 221. 42 Merkel, in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (639). 43 Merkel, in: Handbuch (Fn. 1), S. 603 (639); zur möglichen Funktion von § 34 StGB „als Verbindungsnorm par excellence zwischen Recht und Ethik“ bereits ders., Früheuthansie (Fn. 1), S. 639. 44 Dazu Merkel, Früheuthansie (Fn. 1), S. 640. 41

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werden, damit sich das Strafrecht in einer derartigen medizinischen Extremsituation nicht ohne Not gegen die nachvollziehbare und einleuchtende Gewissensentscheidung der betreffenden Ärzte wendet.45 Die Annahme einer Rechtfertigung nach § 34 StGB verdient dabei den unbedingten Vorzug gegenüber einer Behelfslösung mit übergesetzlichen Rechtsfiguren jenseits von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit.46 Es ist nämlich auch in Grenzfällen des Rechts Aufgabe der Rechtsordnung, für die Betroffenen klare Anweisungen bereitzuhalten, wie sie sich verhalten sollen, und es wäre ein Armutszeugnis, wenn sie vor dieser Aufgabe aus dem Eigeninteresse kapituliert, nicht zu unangenehmen Wahrheiten verbindlich Stellung nehmen zu müssen. Da sich an § 34 StGB anknüpfende Überlegungen der Strafrechtswissenschaft in solchen Konstellationen zwangsläufig auf schwankendem Grund bewegen, wäre es freilich angezeigt, diese Anweisungen der Rechtsordnung durch eine gesetzliche Regelung der Fallgruppe auf eine solide Basis zu stellen.47

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MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 219 a.E.; ähnlich bereits Merkel, Früheuthansie (Fn. 1), S. 640. 46 S. o. Fn. 39. 47 MüKoStGB/Erb (Fn. 13), § 34 Rn. 221; eine gesetzliche Regelung anmahnend auch Joerden, Menschenleben, 2003, S. 119 (133).

Tötung im Notstand? – Überlegungen zur Reichweite des Notstandsrechts insbesondere im Völkerstrafrecht Von Elisa Hoven Meine erste Begegnung mit Reinhard Merkels Werk fand in der Rechtswissenschaftlichen Bibliothek der Freien Universität Berlin statt. Bei der Recherche für eine Seminararbeit war ich auf sein Buch „Forschungsobjekt Embryo“ gestoßen. Ich erinnere mich noch gut, wie sehr mich die klare und rationale Gedankenführung beeindruckte; jeder Satz in dem Buch überzeugte mich. Seitdem habe ich keinen Text von Reinhard Merkel gelesen, der mich nicht zum Nachdenken gebracht hat. Ob in der Diskussion um den Lebensschutz, die Grenzen von Satire im Fall Böhmermann oder die aktuelle Zuwanderungspolitik – Reinhard Merkels Haltungen sind progressiv, mutig und lassen sich politisch in keine Schublade stecken. Und man merkt seinen Arbeiten die Erfahrungen als Journalist der ZEIT an: Anders als man es in manchen rechtsphilosophischen Texten findet, hat Reinhard Merkel es nicht nötig, den Leser durch Unverständlichkeit zu beeindrucken.1 Für meinen Beitrag habe ich eines der sehr wenigen Themen ausgewählt, bei dem ich der Auffassung des Jubilars zumindest in einigen Punkten vorsichtig widersprechen möchte. Behandelt werden sollen Fragen des Notstandsrechts im Völkerstrafrecht und im nationalen Strafrecht, mit denen sich Reinhard Merkel in seinen grundlegenden Aufsätzen aus den Jahren 20022 und 20073 auseinandergesetzt hat.

I. Notstandstötungen im Kontext des Völkerrechts Im nationalen Recht stellt die Notstandslage meist eine Ausnahmesituation dar: Der Täter wird in aller Regel unverhofft und einmalig mit einer Gefahr für ein Rechtsgut konfrontiert, die er nur auf Kosten eines anderen rechtlichen Interesses abwenden kann. Im Völkerstrafrecht sieht es anders aus: Während gewaltsamer Auseinandersetzungen sind Gefahren für eigene und fremde rechtliche Interessen allgegenwärtig – und häufig systembedingt. In staatlichen oder militärischen Machtappa1 Wie Marcel Reich-Ranicki bereits sagte: „Unverständlichkeit ist noch lange kein Beweis für tiefe Gedanken.“, 1996 CICERO-Rednerpreis. 2 Merkel, ZStW 114 (2002), 437. 3 Merkel, JZ 2007, 373.

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raten ist der Angriff auf Rechtsgüter meist nicht nur oder nicht primär Folge einer individuellen Entscheidung für das Unrecht, sondern Bestandteil gehorsamer Aufgabenerfüllung. Während einige den Befehlen bereitwillig folgen – oder sie selbst geben –, beugen sich andere ihnen nur unter Druck. Ein solcher Druck kann sich zu einer Notstandssituation verdichten, wenn dem Betroffenen im Falle einer Weigerung erhebliche Gefahren drohen. Ist der Einzelne – etwa als Soldat oder Wachmann – in seiner Rolle leicht ersetzbar, so liegt es nicht fern, dass sein „Funktionieren“ im System notfalls mit Gewalt erzwungen wird. Im Angesicht schwerer und oft grausamer völkerstrafrechtlicher Verbrechen mag man intuitiv davor zurückschrecken, das Handeln eines Täters für gerechtfertigt oder entschuldigt zu erklären.4 Jedoch entbindet der Blick auf die Folgen der Tat nicht von einer genauen strafrechtlichen Prüfung, die allein die individuelle Verantwortlichkeit des Täters zum Gegenstand haben darf. Mitte der neunziger Jahre brachte der vor dem Jugoslawien-Tribunal (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia) verhandelte Fall Drazˇ en Erdemovic´ die Fragen nach Voraussetzungen und Grenzen des Notstands auf die Agenda der Völkergemeinschaft.5 Seitdem haben sich verschiedene Angeklagte vor internationalen Strafgerichten auf einen äußeren Zwang zum Handeln berufen.6 Im ersten Verfahren an den Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia räumte der Angeklagte Duch, Leiter des Foltergefängnisses S-21, die Taten zwar ein, berief sich aber zugleich darauf, dass im Falle eines Zuwiderhandelns das Leben seiner Familie gefährdet gewesen wäre: „I am just a scapegoat and a person who were put to play a role of killing in that regime. […] In those times I regarded the lives of my family are more important than those who were detained at S-21. […] Although I know that the order was criminal, I never dare to even think about it.“7 Im derzeit laufenden Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof gegen Dominik Ongwen macht die Verteidigung das Vorliegen eines Notstandes („duress“) ausdrücklich als „defence“ gegen die Tatvorwürfe geltend: „Duress is the fundamental defence in this case. […] We submit that the threats against Mr Ongwen were imminent and continuing.“8 In diesem Beitrag werden zunächst knapp die Entscheidungsgründe des ICTY im Fall Erdemovic´ in Erinnerung gerufen (II.). In diesem Lichte sollen sodann Systematik und Voraussetzungen der Notstandsregelung im ICC-Statut skizziert und einer kritischen Würdigung unterzogen werden (III.). Anschließend sollen einige Gedan4

„We identify with the actor’s dilemma, but we are repulsed by his actions.“, Joyce, Leiden Journal of International Law 28 (2015), 623, 642. 5 ICTY, Erdemovic´ (IT-96-22); bereits vor den Militärgerichten nach dem 2. Weltkrieg beriefen sich Angeklagte auf eine Notstandssituation, siehe hierzu etwa Ambos, Treatise on International Criminal Law, Volume I, 2013, S. 348. 6 Vgl. Bond/Fougere, ICLR 14 (2014), 471, 483 f. m.w.N. 7 ECCC, Duch, Statement by the defendant, Transcript of Proceedings, 001/18-07-2007/ ECCC/TC, Trial Chamber, 31 March 2009, p. 68 paras 18 ff., p. 69 para. 1. 8 ICC, Ongwen, Opening Statement of the Defence, Transcript, ICC-02/04-01/15-T-179Red-ENG, Trial Chamber, 18 September 2018, p. 86 para. 1, p. 85 paras 14 f.

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ken zum rechtlichen Umgang mit Notstandstötungen – auch, aber nicht nur im Völkerstrafrecht – formuliert werden (IV.). Eine maßgebliche Rolle wird dabei die von Reinhard Merkel auch für das Völkerstrafrecht angemahnte klare Unterscheidung von Rechtswidrigkeit und Schuld spielen.9

II. Notstandstötungen in der Erdemovic´-Entscheidung des ICTY Während des Jugoslawienkriegs war Drazˇ en Erdemovic´ einfacher Soldat in der Armee der Republika Srpska. Nach Angaben von Zeugen stand Erdemovic´ dem Krieg kritisch gegenüber und hatte sich der Einheit nur angeschlossen, um seine Familie zu ernähren. Am 16. Juli 1995 nahm Erdemovic´ an der Erschießung von etwa 1200 unbewaffneten bosnischen Männern und Jungen auf der Pilica Farm teil. Nach eigenen Schätzungen tötete er selbst 70 Menschen. Erdemovic´ brachte vor, dass er die Ausführung des Befehls zunächst verweigert habe. Daraufhin sei ihm mit seiner eigenen Erschießung gedroht worden. Er habe die Drohung ernst genommen, da ein anderer Soldat, der die Teilnahme an den Tötungen abgelehnt hatte, erschossen worden sei.10 Wörtlich beschrieb Erdemovic´ seine Situation wie folgt: „Your Honor, I had to do this. If I had refused, I would have been killed together with the victims. When I refused, they told me: ,If you are sorry for them, stand up, line up with them and we will kill you too‘. I am not sorry for myself but for my family, my wife and son who then had nine months, and I could not refuse because then they would have killed me.“11

1. Die Position der Kammermehrheit: Keine Berufung auf Notstand im Völkerstrafrecht Erdemovic´ wurde von der Hauptverfahrenskammer zunächst zu einer Freiheitsstrafe von 10 Jahren verurteilt. Die Berufungskammer lehnte eine strafbefreiende Berufung auf Notstand mit 3 zu 2 Stimmen ab, forderte jedoch eine strafmildernde Berücksichtigung der Tatumstände. Das Urteil gegen Erdemovic´ wurde auf fünf Jahre Haft reduziert. Die Mehrheit der Berufungskammer lehnte eine Anerkennung von Notstand als Straffreistellungsgrund für die Tötung Unschuldiger grundsätzlich ab.12 Das Statut 9

Merkel, ZStW 114 (2002), 437, 454. Siehe ausführlich Oellers-Frahm/Specht, ZaöRV 58 (1998), 389, 390 f. 11 ICTY, Erdemovic´, Statement by the defendant, Transcript of Proceedings, IT-96-22-PT, Pre-Trial Chamber, 31. Mai 1996, p. 32 para. 6. 12 ICTY, Erdemovic´, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber, 7 October 1997, para. 19; in der Strafzumessungsentscheidung wurde der Notstand als Strafmilderungsgrund berücksichtigt, ICTY, Erdemovic´, Sentencing Judgement, IT-96-22-Tbis, Trial Chamber, 5 March 10

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des ICTYenthielt keine Regelung zur „defence“ des Notstandes, das Völkergewohnheitsrecht ergab kein einheitliches Bild und auch allgemeine Rechtsgrundsätze ließen – aufgrund der unterschiedlichen Ansätze im kontinentaleuropäischen und anglo-amerikanischen Recht – keinen eindeutigen Schluss auf den rechtlichen Umgang mit Notstand bei völkerstrafrechtlichen Verbrechen zu.13 Die Richter McDonald und Vohrah, die das Urteil gemeinsam mit Richter Li trugen, stellten nun eine – zumindest für den deutschen Strafrechtsdogmatiker14 – recht ungewöhnliche Überlegung an. Völkerstrafrechtliche Tribunale hätten zur Aufgabe, dem humanitären Völkerrecht zur Durchsetzung zu verhelfen. Dessen oberstes Gebot sei der Schutz der Schwachen und Verletzlichen; mit diesem Ziel sei eine Straffreiheit der Täter nicht vereinbar – auch wenn sie in Notstand handelten.15 Solche „Policy“-Erwägungen der Richter sind bei der Auslegung des geltenden Rechts nicht angebracht. Sie können bei der Gestaltung von Recht – also bei der Formulierung von Gerichtsstatuten – eine Rolle spielen, jedoch nicht eine Interpretation der Rechtslage zu Lasten des Angeklagten stützen.16 In seiner Dissenting Opinion bringt Richter Cassese die Kritik am Vorgehen der Kammermehrheit auf den Punkt: „Our International Tribunal is a court of law; it is bound only by international law. […] It should refrain from relying […] on policy considerations“17. 2. Die Dissenting Opinion von Antonio Cassese: Anerkennung von Notstandstötungen im Völkerstrafrecht Auch Cassese setzt sich intensiv mit der bisherigen Praxis in völkerstrafrechtlichen Verfahren auseinander. Ebenso wie die Kammermehrheit gelangt er zu dem Schluss, dass eine klare völkerrechtliche Regel zum Notstand bei internationalen Verbrechen nicht existiere. Er zieht hieraus jedoch eine andere Konsequenz: Da die Rechtsfigur des Notstands als solche grundsätzlich anerkannt und ein Ausschluss für die Tötung Unschuldiger völkerrechtlich nicht belegt sei, bleibe es bei der allge-

1998, para. 17. Vgl. hierzu auch Haenen, ICLR 16 (2016), 547, 555 ff.; Moran, Yearbook of International Humanitarian Law 18 (2015), 205, 211 ff.; van Sliedregt, Individual Criminal Responsibility in International Law, 2012, S. 255 ff. 13 So die Ausführungen bei ICTY, Erdemovic´, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber, 7 October 1997, Joint Separate Opinion of Judge McDonald and Judge Vohrah, paras. 41 ff. 14 Hierzu Weigend, JICJ 10 (2012), 1219, 1222. 15 ICTY, Erdemovic´, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber, 7 October 1997, Joint Separate Opinion of Judge McDonald and Judge Vohrah, para. 75. 16 Anders als die Kammermehrheit sind McDonald und Vohrah der Auffassung, es sei naiv zu glauben, dass das Völkerrecht völlig getrennt von politischen Erwägungen operiere; ICTY, Erdemovic´, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber, 7 October 1997, Joint Separate Opinion of Judge McDonald and Judge Vohrah, para 78. 17 ICTY, Erdemovic´, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber, 7 October 1997, Separate and Dissenting Opinion of Judge Cassese, para. 11.

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meinen Geltung des Notstandsrechts.18 Internationale Strafgerichte müssten den Straffreistellungsgrund des Notstands in jedem Einzelfall nach den üblichen Voraussetzungen prüfen: „(1) a severe threat to life or limb; (2) no adequate means to escape the threat; (3) proportionality in the means taken to avoid the threat; (4) the situation of duress should not have been self-induced“19. Ins Zentrum seiner nachfolgenden Überlegungen stellt Cassese die Frage, ob die Tötung unschuldiger Menschen überhaupt verhältnismäßig („proportional“) sein kann.20 Im Fall Erdemovic´ scheinen bereits die Zahlen gegen ein verhältnismäßiges Vorgehen zu sprechen: Auf den ersten Blick steht der Tötung von 70 unschuldigen Zivilisten die Rettung nur eines Lebens – des Täters – gegenüber. Die Besonderheit des Falles liegt jedoch darin, dass das Leben der Zivilisten nicht zu retten war. Hätte Erdemovic´ den Befehl verweigert, so wäre ein Kamerad an seine Stelle getreten. Damit ist die Rechnung eine andere: Der Täter hat in einer solchen Situation nicht die Wahl zwischen 70 Leben oder dem eigenen, sondern kann lediglich entscheiden, ob er zusätzlich zu den 70 Personen den Tod findet. Cassese argumentiert, dass die Rechtsordnung eine solche Aufopferung des eigenen Lebens ohne die Chance auf Rettung anderer nicht erwarten könne. Von niemandem könne verlangt werden, sein Leben für einen heroischen, symbolischen Akt zu lassen und zum Märtyrer für die Idee von Frieden und Menschlichkeit zu werden: „Were he to comply with his legal duty not to shoot innocent persons, he would forfeit his life for no benefit to anyone and no effect whatsoever apart from setting a heroic example for mankind (which the law cannot demand him to set): his sacrifice of his own life would be to no avail. […] The victims […] will certainly die in any event. Can society reasonably expect […] in these circumstances to sacrifice his life? In such situations it may be too demanding to require of the person under duress that they do not perpetrate the offence.“21

Die Hauptverfahrenskammer hätte daher, so Cassese weiter, das Vorliegen der vierten Notstandsvoraussetzung prüfen müssen: Eine Berufung auf Notstand sei versagt, wenn Erdemovic´ sich freiwillig einer Einheit angeschlossen hätte, von der er wusste oder hätte wissen müssen, dass sie völkerrechtliche Verbrechen begeht.22

18 ICTY, Erdemovic´, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber, 7 October 1997, Separate and Dissenting Opinion of Judge Cassese, para. 41. Vgl. zu Casseses Dissenting Opinion auch Moran, Yearbook of International Humanitarian Law 18 (2015), 205, 215 f. 19 ICTY, Erdemovic´, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber, 7 October 1997, Separate and Dissenting Opinion of Judge Cassese, para. 41. 20 Vgl. auch van Sliedregt, Individual Criminal Responsibility in International Law, 2012, S. 258: „In essence, the problem with duress and international crimes is the same as the problem with duress and murder: the concept of proportionality is incompatible with the weighing of human lives.“ 21 ICTY, Erdemovic´, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber, 7 October 1997, Separate and Dissenting Opinion of Judge Cassese, para. 44, para. 47 (Hervorh. im Original). 22 ICTY, Erdemovic´, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber, 7 October 1997, Separate and Dissenting Opinion of Judge Cassese, para. 17, para. 50.

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3. Offene Fragen nach der Erdemovic´-Entscheidung Die Entscheidung der Hauptverfahrenskammer ist im Schrifttum zu Recht auf Kritik gestoßen.23 Die von Reinhard Merkel monierte „Unhaltbarkeit“24 des Urteils gründet sich nicht nur auf seine methodischen Schwächen, sondern zeigt sich auch in seinem Ergebnis. Brooks fasst die Konsequenz der Erdemovic´-Entscheidung so zusammen: „At Srebrenica, the only way to be innocent was to be dead.“25 Die für den ICTY zentrale Frage, ob im internationalen Strafrecht eine Rechtfertigung wegen Notstandes überhaupt zulässig ist, hat die Völkergemeinschaft mit Einführung von Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut in das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs bejaht. Weiterhin interessant bleiben jedoch Voraussetzungen und Grenzen des Notstandsrechts. Bei der nachfolgenden Betrachtung der Regelung im ICCStatut sollen insbesondere drei der im Erdemovic´-Verfahren diskutierten Punkte in den Blick genommen werden: Kann die Tötung eines Menschen durch Notstand gerechtfertigt sein? Verschiebt sich die Bewertung, wenn die Tötung der Menschen nicht zu verhindern war? Und ist das Notstandsrecht ausgeschlossen, wenn die Notstandslage für den Täter vorhersehbar war?

III. Notstandstötungen nach Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut Die Ausgestaltung der „defences“ war in den Verhandlungen der Rom-Konferenz zwischen den Vertragstaaten hoch umstritten. Saland beschreibt die Verhandlungen über Art. 31 ICC-Statut angesichts der grundlegend verschiedenen nationalen Modelle als die „schwierigsten im Bereich der allgemeinen Grundsätze“.26 Im Ergebnis setzte sich weitgehend der Entwurf der kanadischen Delegation durch.27 Die Notstandsregelung in Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut lautet:

23

Ambos, in: Lu¨ derssen, Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse?, Bd. III: Makrodelinquenz, 1998, S. 377, 391; ders., in: Brown, Research Handbook on International Criminal Law, 2011, S. 315 f.; Janssen, ICLR 4 (2004), 83, 90 ff.; Joyce, Leiden Journal of International Law 28 (2015), 623, 631; Kreß, ZStW 111 (1999), 597; Knoops, Defenses in Contemporary International Criminal Law, 2. Aufl. 2008, S. 50 ff.; Oellers-Frahm/Specht, ZaöRV 58 (1998), 389; Simon, The Applicability of the Defence of Duress to Unlawful Killing in International Criminal Law, 2019, S. 17 ff.; Warbrick/McGoldrick/Turns, International and Comparative Law Quarterly 47 (1998), 461; Weigend, JICJ 10 (2012), 1219. 24 Merkel, ZStW 114 (2002), 437, 452. 25 Brooks, VJIL 43 (2003), 861, 868. 26 Saland, in: Lee, The International Criminal Court: the making of the Rome Statute, 1999, S. 189, 206. 27 Zur Entstehung der Norm Ambos, Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts, 2. Aufl. 2004, S. 838; Eser, in: Triffterer/Ambos, The Rome Statute of the International Criminal Court, 3. Aufl. 2016, Art. 31 Rn. 49; Scaliotti, ICLR 1 (2001), 111, 150 ff.

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Article 31 Grounds for excluding criminal responsibility (1) In addition to other grounds for excluding criminal responsibility provided for in this Statute, a person shall not be criminally responsible if, at the time of that person’s conduct: … d) The conduct which is alleged to constitute a crime within the jurisdiction of the Court has been caused by duress resulting from a threat of imminent death or of continuing or imminent serious bodily harm against that person or another person, and the person acts necessarily and reasonably to avoid this threat, provided that the person does not intend to cause a greater harm than the one sought to be avoided. Such a threat may either be: (i) Made by other persons; or (ii) Constituted by other circumstances beyond that person’s control.

1. Grundlegendes zu Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut Mit der Einführung eines Notstandsrechts haben die Vertragsstaaten des ICC eine Abkehr von den Grundsätzen der Erdemovic´-Entscheidung vollzogen. Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut erkennt den Notstand als „defence“ für alle Völkerstraftaten an („The conduct which is alleged to constitute a crime within the jurisdiction of the Court“).28 Die Möglichkeit eines Strafausschlusses wegen Notstandes ist, um in den Worten Reinhard Merkels zu sprechen, gegenüber der undifferenzierten Rechtsprechung des ICTYein „erfreulicher Fortschritt“.29 Allerdings weist auch Art. 31 Abs. 1 lit. d ICCStatut, wie noch zu zeigen sein wird, einige systematische und grammatische Schwächen auf. Zunächst unterscheidet die Vorschrift nicht zwischen rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand, sondern formuliert als Rechtsfolge einen generellen Ausschluss „strafrechtlicher Verantwortlichkeit“. Auch die im anglo-amerikanischen Recht übliche Unterscheidung zwischen duress (Bedrohung durch eine Person) und necessity (Bedrohung durch äußere Umstände) hat – obwohl sie sich in (i) und (ii) der Regelung wiederfindet – für die Bewertung des Notstandsrechts keine Bedeutung.30 Voraussetzung für die Straffreistellung ist zunächst das Vorliegen einer Notstandslage in Form einer „ihm selbst oder einem anderen unmittelbar drohenden Gefahr für das Leben oder einer dauernden oder unmittelbar drohenden Gefahr schweren körperlichen Schadens“.31 Im Fall Ongwen hat die Vorverfahrenskammer eine 28 Bond/Fougere, ICLR 14 (2014), 471, 487 f.; Moran, Yearbook of International Humanitarian Law 18 (2015), 205. 29 Merkel, ZStW 114 (2002), 437, 453. 30 Joyce, Leiden Journal of International Law 28 (2015), 623, 640; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, 4. Aufl. 2016, Rn. 663 m.w.N. 31 Amtliche Übersetzung Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut: „wegen einer ihm selbst oder einem anderen unmittelbar drohenden Gefahr für das Leben oder einer dauernden oder un-

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Berufung auf Notstand bereits aufgrund einer fehlenden Notstandslage abgelehnt.32 Dass dem Beschuldigten möglicherweise spätere Sanktionsmaßnahmen durch seine Organisation drohten, sei nicht ausreichend, da diese Gefahr nicht unmittelbar („imminent“) bevorstehe.33 Der Täter muss zur Abwehr einer unmittelbar drohenden Gefahr „erforderlich und angemessen“ handeln. In subjektiver Hinsicht verlangt Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut, dass der Täter zur Abwehr der Gefahr tätig wird und dabei „nicht größeren Schaden zuzufügen beabsichtigt als den, den er abzuwenden trachtet“.

2. Straffreiheit für die Tötung Unschuldiger? Ob Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut die Möglichkeit einer Straffreiheit in Fällen der Tötung Unschuldiger eröffnet, ist nach dem Wortlaut der Vorschrift nicht eindeutig zu beantworten. Der Blick auf das subjektive Element „does not intend to cause a greater harm than the one sought to be avoided“ legt nahe, dass ein Leben für ein anderes geopfert werden darf.34 Im Vergleich zu § 34 StGB oder auch Sec. 3.02. MPC35 kehrt die Norm die Abwägung der Rechtsgüter um: Der Täter muss kein höherrangiges Rechtsgut schützen, er darf lediglich keinen größeren Schaden bewirken wollen als er verhindern möchte. Unabhängig davon, ob man eine Quantifizierung von Menschenleben für zulässig erachtet, bewirkt der Täter jedenfalls keinen „größeren“ Schaden, wenn er eine Person tötet, um zwei Menschen zu retten. Gleiches würde auch dann gelten, wenn der Täter Person A tötet, um Person B zu retten, da die Tötung von „A“ kein größerer, sondern ein gleich großer Schaden ist.36 Zur Möglichkeit einer nummerischen Abwägung von Leben wird man sich jedoch im umgekehrten Fall bekennen müssen: Tötet der Täter 100 Personen, um eine Person zu schützen, so wird ein Notstand nach Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut an der Bereitschaft des Täters scheitern, mittelbar drohenden Gefahr schweren körperlichen Schadens zu einem Verhalten genötigt ist, das angeblich den Tatbestand eines der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechens erfüllt, und in notwendiger und angemessener Weise handelt, um diese Gefahr abzuwenden, sofern er nicht größeren Schaden zuzufügen beabsichtigt als den, den er abzuwenden trachtet. Eine solche Gefahr kann entweder i) von anderen Personen ausgehen oder ii) durch andere Umstände bedingt sein, die von ihm nicht zu vertreten sind.“ 32 ICC, Ongwen, Decision on the confirmation of charges, ICC-02/04-01/15-422-Red, PreTrial Chamber, 23 March 2016, paras 153 f. 33 Auf diesen Aspekt soll hier nicht näher eingegangen werden. Instruktiv dazu: Bond/ Fougere, ICLR 14 (2014), 471, 500 ff. 34 So auch Ambos, Treatise on International Criminal Law, Volume 1, S. 363; ders., Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts, S. 867; Heim, Cornell Int’l L.J. 46 (2013), 165, 180; Scaliotti, ICLR 1 (2001), 111, 157; Simon, The Applicability of the Defence of Duress to Unlawful Killing in International Criminal Law, S. 159; Weigend, JICJ 10 (2012), 1219, 1224. 35 Sec. 3.02. MPC: „the harm or evil sought to be avoided by such conduct is greater than that sought to be prevented“. 36 So auch Joyce, Leiden Journal of International Law 28 (2015), 623, 640.

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einen größeren Schaden zu bewirken.37 Eine Sonderregel für die Bedrohung des eigenen Lebens oder des Lebens naher Angehöriger enthält Art. 31 Abs. 1 lit. d ICCStatut nicht. Auch in diesen Fällen darf der Täter also keinen größeren Schaden verursachen als er verhindert. Zur Rettung des Sohnes wäre es dem Vater also gestattet, einen Zivilisten zu erschießen, nicht aber zwei.38 Für den Umgang mit „todgeweihten“ Opfern lässt die Regelung des Statuts Interpretationsspielraum. Die Tötung von 70 sicher dem Tode geweihten Personen kann gegenüber der zusätzlichen Tötung des Täters (70 plus 1) als der geringere Schaden anzusehen sein.39 Die hier skizzierten Ergebnisse erscheinen nicht durchweg überzeugend. Die Regelung geht einerseits sehr weit, indem sie dem Täter – ohne Vorliegen einer besonderen Nähebeziehung – gestattet, ein Opfer gegen ein anderes auszutauschen. Andererseits reicht sie nicht weit genug, wenn der Täter zur Rettung des eigenen Lebens oder des Lebens eines nahen Angehörigen handelt; in einer solchen Situation muss der Täter auch straffrei bleiben, wenn er einen größeren Schaden bewirkt [hierzu ausführlich IV. 2. a)]. Ein deutlich engeres Verständnis des Notstandsrechts (und damit eine Korrektur zumindest der erstgenannten Konsequenz) würde sich ergeben, wenn Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut neben der subjektiven Güterabwägung noch ein objektives Verhältnismäßigkeitselement enthielte. In diesem Sinne interpretiert Eser die Formulierung „duress resulting from a threat“: Eine Berufung auf Notstand setze den Nachweis eines tatsächlichen Zustandes der „duress“ voraus.40 „Duress“ sei jedoch nicht gegeben, wenn eine vernünftige Person in derselben Situation von der Verletzung der Rechtsgüter abgesehen hätte. Die Beurteilung der Situation durch einen objektiv-rationalen Dritten würde dadurch zum Maßstab für die Abwägungsentscheidung des Täters. Nach dem Wortlaut von Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut wird man „duress“ allerdings nicht als eigenes Tatbestandsmerkmal verstehen können. Der Begriff hat keinen selbstständigen Regelungsgehalt, sondern dient der terminologischen Zusammenfassung der normativ beschriebenen Situation. „Duress“ ist – ähnlich wie „self-defense“ – die Bezeichnung einer Kategorie, deren Inhalt abschließend durch die nachfolgend festgelegten Voraussetzungen bestimmt wird. 37 Für die Möglichkeit der Tötung einer Vielzahl von Personen zur Rettung eines Menschenlebens Simon, The Applicability of the Defence of Duress to Unlawful Killing in International Criminal Law, S. 126 ff., 160; Scaliotti, ICLR 1 (2001), 111, 157 ff. 38 Hierzu ebenfalls kritisch Kreß, ZStW 111 (1999), 597, 622 f.; Merkel, ZStW 114 (2002), 437, 453; Nill-Theobald, „Defences“ bei Kriegsverbrechen am Beispiel Deutschlands und der USA, 1998, S. 228; Weigend, in: Joecks/Miebach, Münchener Kommentar zum StGB, Band 8, 3. Aufl. 2018, VStGB, § 2 Rn. 21. 39 Für die Anwendbarkeit von Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut auf diese Fälle: Joyce, Leiden Journal of International Law 28 (2015), 623, 640. 40 Eser, in: Triffterer/Ambos, The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary, Art. 31 Rn. 57: „Thus, a threat results in ,duress’ only if it is not otherwise avoidable, i. e. if a reasonable person in comparable circumstandes would not have submitted and would not have been driven to the relevant criminal conduct.“

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Bedeutende Stimmen im Schrifttum erkennen in der Formulierung „does not intend to cause a greater harm than the one sought to be avoided “ das Erfordernis einer objektiven Güterabwägung.41 Auch Reinhard Merkel scheint Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut auf diese Weise zu lesen, wenn er – allerdings dezidiert kritisch – der Norm eine „strikte Verhältnismäßigkeitsklausel“ entnimmt.42 Ambos hingegen möchte zwischen „duress“ und „necessity“ differenzieren und eine objektive Verhältnismäßigkeitsprüfung nur für Fälle der „necessity“ vornehmen, da er „duress“ als bloßen Entschuldigungsgrund versteht.43 Der Wortlaut gibt eine unterschiedliche Behandlung der beiden Konstellationen allerdings nicht her; die Vorschrift beschreibt zwar in (i) und (ii) die Situationen von „duress“ und „necessity“, formuliert aber gerade keine unterschiedlichen Anforderungen an die Straffreistellung.44 Denkbar wäre es auch, aus dem Ausdruck „reasonably“ ein Erfordernis der Verhältnismäßigkeit zu entnehmen. Eser weist jedoch zu Recht darauf hin, dass „reasonable“ bereits aus systematischen Erwägungen nicht als Verhältnismäßigkeitsgebot verstanden werden kann.45 Dies zeigt ein Rückschluss aus Art. 31 Abs. 1 lit. c ICCStatut: „The person acts reasonably to defend himself or herself or another person (…) in a manner proportionate to the degree of danger to the person or the other person or property protected.“ Die hier formulierte Notwehrregel setzt ein Handeln voraus, das sowohl „reasonable“ als auch „proportionate“ ist. Werden zwei Merkmale innerhalb eines Normtextes verwendet, müssen sie Unterschiedliches bedeuten. „Reasonable“ kann somit nicht im Sinne von Verhältnismäßigkeit interpretiert werden. Durch die Fassung von Art. 31 Abs. 1 lit. c ICC-Statut hat der Normsetzer deutlich gemacht, dass er für die Beschreibung eines objektiven Verhältnismäßigkeitserfordernisses den Begriff der „Proportionality“ verwendet. Überzeugender scheint es daher, der Voraussetzung „reasonable“ eine ähnliche (geringe) Bedeutung beizumessen wie der Angemessenheitsklausel in § 34 Abs. 1 S. 2 StGB und sie insbesondere auf Fälle der Verletzung der Menschenwürde zu beschränken.46 Damit bleibt es bei den eingangs formulierten Ergebnissen: (1) Die Tötung einer Person zur Rettung von zwei Personen kann straffrei sein. (2) Die Tötung einer Person zur Rettung einer anderen Person kann straffrei sein. (3) Die Tötung von zwei Personen zur Rettung einer Person kann nicht straffrei sein, selbst wenn der Täter 41 Kittichaisaree, International Criminal Law, 2001, S. 264; Knoops, Defenses in Contemporary International Criminal Law, S. 86; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 8. Aufl. 2018, S. 369; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Rn. 672. 42 Merkel, ZStW 114 (2002), 437, 453. 43 Ambos, in: Cassese/Gaeta/Jones, The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary, Volume I, 2002, S. 1036 f.; krit. hierzu Weigend, GA 2018, 297, 303. 44 So auch Joyce, Leiden Journal of International Law 28 (2015), 623, 639. 45 Eser, in: Triffterer/Ambos, The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary, Art. 31 Rn. 59. 46 Siehe hierzu Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 2017, § 34 Rn. 118; Zieschang, JA 2007, 679, 684 sieht die Angemessenheitsklausel sogar als überflüssig an.

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zur Rettung des eigenen Lebens oder des Lebens eines nahen Angehörigen handelt. (4) Die Tötung einer größeren Anzahl von Personen, deren Leben nicht zu retten ist, kann zur Rettung anderer straffrei sein. 3. Keine Straffreiheit bei selbstverschuldeter Notstandslage? Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut enthält keine explizite Regelung zum Ausschluss des Notstandsrechts bei selbstverschuldeter Notstandslage. Bereits Cassese hatte in seiner Dissenting Opinion eine Straffreiheit des Täters in Zweifel gezogen, wenn dieser von der Begehung völkerrechtlicher Verbrechen durch seine Einheit gewusst und sich ihr trotzdem angeschlossen hat.47 Auch das deutsche Recht kennt für den entschuldigenden Notstand einen entsprechenden Ausschlussgrund: Hat der Täter die Gefahr selbst verursacht, so kann ihm regelmäßig ein Hinnehmen der Gefahr zugemutet werden (§ 35 Abs. 1 S. 2 StGB). Im Ongwen-Verfahren hat die Vorverfahrenskammer den Gedanken der selbstverschuldeten Notstandslage aufgegriffen. Die Kammer lehnte die Berufung Ongwens auf Notstand auch deshalb ab, weil die notstandsbegründenden Umstände nicht außerhalb seiner Kontrolle gelegen hätten („Constituted by other circumstances beyond that person’s control.“).48 Zwar war Ongwen nicht freiwillig der Lord’s Resistance Army beigetreten, sondern als Kindersoldat rekrutiert worden; doch ist er später – so die Argumentation der Kammer – freiwillig innerhalb der Organisation aufgestiegen und hat eine zentrale Rolle für die Umsetzung ihrer militärischen Ziele übernommen.49 Ob ein Täter, der – durch den freiwilligen Beitritt oder ein besonderes Engagement in der Einheit – seine Notstandssituation selbst verantworten muss, damit auch die konkreten notstandsbegründenden Umstände unter Kontrolle hat, kann man zumindest bezweifeln. In jedem Fall würde diese Einschränkung nach dem Wortlaut von Art. 31 lit. d ICC-Statut nur für die in (ii) beschriebene Konstellation der „necessity“ gelten. Für Drohungen durch eine andere Person (i) findet das Kriterium „beyond that person’s control“ nach dem Wortlaut keine Anwendung. Weshalb eine selbstverschuldete Notstandslage einer Straffreiheit jedoch nur entgegenstehen soll, wenn die dem Täter drohende Gefahr durch „Umstände“ und nicht durch eine „andere Person“ verursacht wird, ist nicht begründbar. Art. 31 lit. d ICC-Statut enthält damit keine schlüssige Vorgabe zum Umgang mit selbstverschuldeten Notstandslagen.

47 ICTY, Erdemovic´, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber, 7 October 1997, Separate and Dissenting Opinion of Judge Cassese, paras 17, 41, 50. 48 ICC, Ongwen, Decision on the confirmation of charges, ICC-02/04-01/15-422-Red, PreTrial Chamber, 23 March 2016, para. 154. 49 Zum Werdegang von Ongwen in den LRA-Strukturen Nortje, ICLR 17 (2017), 186, 200 f.

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4. Die Hintertür in Art. 31 Abs. 2 ICC-Statut Eine wichtige Hintertür haben die Vertragsstaaten dem Gericht in Art. 31 Abs. 2 ICC-Statut offengelassen. Die Vorschrift lautet: „The Court shall determine the applicability of the grounds for excluding criminal responsibility provided for in this Statute to the case before it.“ Soll Abs. 2 nicht nur völlig Selbstverständliches wiedergeben – denn natürlich muss das Gericht stets über die Anwendbarkeit einer Norm auf den vorgelegten Einzelfall entscheiden –, muss er weit verstanden werden und dem Gericht das Recht einräumen, die in Art. 31 Abs. 1 ICC-Statut formulierten Voraussetzungen nach eigenem Ermessen einzuschränken oder zu ergänzen.50 Auf diesem Wege wäre es den Richtern des ICC möglich, einen Ausschlussgrund bei selbstverschuldetem Notstand anzunehmen51 und die oben gefundenen Abwägungsergebnisse – etwa die Tötung eines Menschen zur Rettung eines anderen – zu korrigieren. Damit büßt das Statut den durch die Formulierung der Straffreistellungsgründe erreichten Gewinn an Rechtssicherheit wieder ein.52 Stehen die Voraussetzungen der „defences“ letztlich zur Disposition des Gerichts, stellt Art. 31 Abs. 1 ICC-Statut eher einen Vorschlag als eine verbindliche – und dadurch verlässliche – Vorgabe dar. Auf dieser rechtlichen Basis ist für den Angeklagten regelmäßig nicht vorhersehbar, ob die Richter sein Handeln als strafbar oder straflos bewerten werden. Art. 31 Abs. 2 ICC-Statut öffnet das Notstandsrecht für politische Erwägungen, wie sie Cassese bereits im Erdemovic´-Urteil zu Recht kritisiert hatte. Die Entscheidung der Vorverfahrenskammer im Ongwen-Verfahren lässt erahnen, dass auch die Richter des ICC geneigt sein könnten, den Wortlaut von Art. 31 lit. d ICC-Statut aus politischen Gründen zu korrigieren. Wenn die Kammer formuliert: „Duress is not regulated in the Statute in a way that would provide blanket immunity to members of criminal organisations which have brutal systems of ensuring discipline as soon as they can establish that their membership was not voluntary“53,

50 Eser, in: Triffterer/Ambos, The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary, Art. 31 Rn. 64 f.; Saland, in: Lee, The International Criminal Court; the Making of the Rome Statute, S. 189, 208; Simon, The Applicability of the Defence of Duress to Unlawful Killing in International Criminal Law, S. 141; kritisch Schabas, The International Criminal Court: A Commentary on the Rome Statute, 2. Aufl. 2016, S. 647; vermittelnd Joyce, Leiden Journal of International Law 28 (2015), 623, 640. 51 Bond/Fougere erklären den Verzicht auf eine Regelung des Notstandsausschlusses damit, dass die Vertragsstaaten über Art. 31 Abs. 2 ICC-Statut dem Gericht die Entscheidung über Anwendung und Voraussetzungen eines Ausschlussgrundes überlassen wollten, ICLR 14 (2014), 471, 488; Cassese, in: Cassese (Hrsg.), International Criminal Law, 3. Aufl. 2013, S. 216. 52 Eser, in: Triffterer/Ambos, The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary, Art. 31 Rn. 64. 53 ICC, Ongwen, Decision on the confirmation of charges, ICC-02/04-01/15-422-Red, PreTrial Chamber, 23 March 2016, para. 153.

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so schließt das zumindest nicht aus, dass sie die Anwendung des Notstandsrechts nicht von einer strengen Subsumtion unter Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut abhängig machen, sondern an der jeweils befürworteten rechtspolitischen Vorstellung orientieren wird. 5. Kritik Eser hat das Notstandsrecht in Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut als eine der „am wenigsten überzeugenden Regelungen“54 des Statuts bezeichnet. Die größten Schwächen der Norm sind ihre Unbestimmtheit [a)] sowie die fehlende Differenzierung zwischen Rechtfertigung und Schuld [b)]. a) Rechtsunsicherheit durch unklare Vorgaben Um ein hinreichend bestimmtes und für den Normadressaten vorhersehbares (Völker-)Strafrecht zu schaffen, hätten die Vertragsstaaten des ICC nicht nur die Voraussetzungen der Straftatbestände, sondern in gleicher Weise auch die Bedingungen für einen Strafausschluss abschließend regeln müssen.55 Für die zentrale Frage, ob ein Handeln von der Völkergemeinschaft als strafbar oder straflos angesehen wird, sind die „defences“ nicht weniger entscheidend. Die verhandlungstaktisch motivierte56 Entscheidung für Art. 31 Abs. 2 ICC-Statut zeigt ein Grundproblem völkerrechtlicher Normsetzung. Vertragstexte folgen nicht notwendig einer systematischen und inhaltlichen Logik, sondern sind häufig das Ergebnis diffiziler Aushandlungsprozesse. Gerade wenn die beteiligten Akteure auf nationaler Ebene grundlegend verschiedene Regelungsmodelle anwenden, bedarf die Einigung auf einen gemeinsamen Text wechselseitiger Zugeständnisse. Die Konsequenz ist, im schlechtesten Fall, ein mosaikhaftes Kompromissmodell ohne schlüssiges dogmatisches Gesamtkonzept.57 b) Fehlende Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut zieht, wie bereits ausgeführt, die Grenzen des Notstands einerseits zu eng, andererseits zu weit (oben III. 2.). Reinhard Merkel führt die wenig stimmige Ausgestaltung des Notstandsrechts auf das Fehlen einer klaren Un54

Eser, in: Triffterer/Ambos, The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary, Art. 31 Rn. 49; Weigend, in: Schünemann u. a., Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag am 15. Mai 2001, 2001, S. 1376, 1386 bezeichnet die Artt. 22 – 33 ICC-Statut als „völkerstrafrechtliches Rohmaterial“. 55 Rowe, YIntlHL 1 (1998), 210, 228. 56 Saland, in: Lee, The International Criminal Court: the Making of the Rome Statute, S. 189, 208 f. 57 Hierzu auch Hoven, Rechtsstaatliche Anforderungen an völkerstrafrechtliche Verfahren, 2013, S. 170 ff.

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terscheidung zwischen Unrecht und Schuld im Völkerstrafrecht zurück. Merkel formuliert hier in gewohnter Klarheit: „Wer in jedem Fall der Straflosigkeit einer Tat im Sinne des Strafgesetzes eine Art Rückzug der Verbotsnorm selbst vermutet, der wird jeden Strafausschluss zögerlicher und skeptischer beurteilen als jemand, der anerkennt, dass es eine Sache ist, die Geltung einer Norm auch für den konkreten Fall zu unterstreichen, eine andere aber, deswegen unbedingt auch auf einer Bestrafung des Normbrechers zu bestehen. Eine Entschuldigung des Täters nach klaren, aus den Schuldprinzipien entwickelten Kriterien bedroht die Geltung der Verbotsnorm nicht.“58

Dem ist wenig hinzuzufügen. Ist ein Verhalten gerechtfertigt, so steht es im Einklang mit der Rechtsordnung und gilt nicht als sozialschädlich.59 Eine rechtfertigende Wirkung kann das Notstandshandeln also nur dann entfalten, wenn die Rechtsordnung das Vorgehen des Täters billigt; etwa, wenn der Täter eine Scheibe einwirft, um das Leben eines Kindes zu retten. Wird das Handeln des Täters hingegen nur entschuldigt, so bleibt die Tat Unrecht, wird ihm aufgrund besonderer Umstände jedoch nicht vorgeworfen.60 Ein entschuldigender Notstand ermöglicht die Straflosigkeit des in einer moralischen Grenzsituation handelnden Täters, ohne dabei die Geltung der Verhaltensnorm als solche in Frage zu stellen. Hierdurch wäre auch den politischen Bedenken der Richter zu begegnen: Ein Angeklagter könnte freigesprochen werden, ohne dass durch das Urteil die Grundsätze des humanitären Völkerrechts aufgegeben würden.61 Hinter dem rechtfertigenden und dem entschuldigenden Notstand stehen also grundlegend unterschiedliche Erwägungen. Ein überzeugendes Notstandsmodell muss daher für die Ebenen Unrecht und Schuld unterschiedliche Regelungen treffen. In dem Plädoyer für eine differenzierende Lösung liegt keine „Anmaßung der deutschen Strafrechtsdogmatik“62, sondern der Versuch, „der Komplexität schwieriger Notstandsfälle gerecht zu werden“.63 58

Merkel, ZStW 114 (2002), 437, 454. Vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 425; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 1, 4. Aufl. 2006, § 14 Rn. 41, § 19 Rn. 1. 60 Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, S. 425; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 1, § 22 Rn. 2; Hruschka, NJW 1980, 21, 23. 61 So auch Joyce, Leiden Journal of International Law 28 (2015), 623, 636: „While as an excuse, one can accept more readily that the accused is seeking forgiveness for having committed an act, which, although it is wrong, is not one which he would, in circumstances absent a threat, have committed.“; für einen Entschuldigungsgrund argumentieren ebenfalls Ambos, Internationales Strafrecht, 5. Aufl. 2018, § 7 Rn. 96; Nill-Theobald, „Defences“ bei Kriegsverbrechen am Beispiel Deutschlands und der USA, 1998, S. 229 und Olásolo, Unlawful Attacks in Combat Situations, 2007, S. 242. 62 So die Befürchtung Merkels, der sich allerdings „optimistisch“ zeigt, dass der Vorschlag sachlich überzeugt ZStW 114 (2002), 437, 454. 63 Hörnle, in: Putzke u. a. (Hrsg.), Strafrecht zwischen System und Telos. Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg zum siebzigsten Geburtstag, 2008, S. 555, 574. Für eine generelle Differenzierung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung im nationalen sowie internationalen Strafrecht plädiert beispielsweise auch Haenen, ICLR 16 (2016), 547. 59

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IV. Gedanken zum rechtlichen Umgang mit Notstandstötungen Im Folgenden sollen einige Grundlagen für die schwierige Frage nach dem Umgang mit Notstandstötungen – auch, aber nicht nur im Völkerstrafrecht – skizziert werden. Das ICC-Statut, aber auch nationale Rechtsordnungen (so etwa §§ 34, 35 StGB) verweisen in der Regelung ihres Notstandsrechts weitgehend auf allgemeine Vernünftigkeits- oder Verhältnismäßigkeitskriterien und legen keine ausdrücklichen Voraussetzungen für Notstandstötungen fest. Die Wertung, welches Handeln jedoch als vernünftig oder verhältnismäßig gilt und damit Straffreiheit begründet, sollte der Normsetzer durch die tatbestandliche Umschreibung selbst treffen. Insbesondere kann er die elementare Frage nach Eingriffen in das Leben eigentlich nicht unbeantwortet lassen. Im Fokus meiner Überlegungen soll die Frage stehen, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Rechtsordnung für Notstandstötungen eine Rechtfertigung (IV. 1.) bzw. eine Entschuldigung (IV. 2.) vorsehen sollte. An dieser Stelle möchte ich noch eine Vorbemerkung übernehmen, die Reinhard Merkel in seinem Beitrag zu den „Gründen für den Ausschluss der Strafbarkeit im Völkerstrafrecht“ (ZStW 114 [2002], 437) gemacht hat: „Auf den Versuch eines auch nur annähernd vollständigen Nachweises der inzwischen ins Riesenhafte angewachsenen einschlägigen Literatur habe ich bewusst verzichtet – nicht nur aus platzökonomischen Gründen, sondern vor allem, um die Konzentration auf die vorgetragenen Argumente zu erleichtern.“64 1. In welchen Fällen können Eingriffe in das Leben durch ein Notstandsrecht gerechtfertigt sein? a) Wider das Dogma „Keine Abwägung von Leben gegen Leben“ Betrachtet man das Verbot der aktiven Tötung eines Menschen als absolut, so darf ein Leben auch nicht genommen werden, um Leben zu retten.65 Der Satz „Du darfst nicht töten“ ist jedoch unterkomplex. Bereits die allgemein anerkannte Möglichkeit der Tötung in Notwehr zeigt, dass der Kontext einer Handlung im Rahmen der rechtlichen Bewertung nicht ausgeblendet werden kann. Zugleich ist die freiheitsrechtliche Begründung eines absoluten Tötungsverbots einseitig, da sie allein die Freiheit des Getöteten, nicht aber die Freiheit der Geretteten in den Blick nimmt. Dennoch wird in Diskussionen um Notstandstötungen immer wieder das vermeintliche Dogma „Eine Abwägung von Leben gegen Leben ist nicht möglich“ bemüht –

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Merkel, ZStW 114 (2002), 437. Zur Ablehnung des Notstandsrechts bei Kant siehe: Kant, in: Weischedel, Die Metaphysik der Sitten (1797/98), Bd. IV, 1956, S. 341 ff. sowie die Analysen von Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, 2002 und Küper, JZ 2005, 105. 65

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einst in den Diskussionen um das Luftsicherheitsgesetz,66 später im Zuge des medienwirksam inszenierten Theaterstücks „Terror“.67 Auch von Studierenden wird die Formel oft wie ein feststehender Rechtssatz gebetsmühlenartig wiedergekäut. Doch allen Regeln, die für sich in Anspruch nehmen, absolut zu gelten, sollte mit Skepsis begegnet werden. Denn jedes unbedingte Dogma kommt, so Merkel, an „Grenzen seiner Plausibilität“, so dass „seine weitere Verteidigung dann ins Abwegige, ja moralisch Verwerfliche umschlagen kann.“68 Gegen die Möglichkeit einer Rechtfertigung aktiver Tötungen in Notstandssituationen wird teilweise eingewandt, dass der „Gedanke einer personenübergreifenden ,Maximierung‘ oder ,Verrechnung von Gütern und Interessen‘ im Notstandsfall ein ,grundlegendes freiheitstheoretisches Defizit‘ aufweise, da ,die Rechtsordnung nicht einen Bestand an Gütern maximieren, [sondern] vielmehr Freiheitsrechte garantieren‘ solle; sie sei ,eine Gerechtigkeits- und keine Versicherungsordnung‘.“69 Diese unversöhnliche Gegenüberstellung von Freiheit und Gütermaximierung beruht allerdings auf einem verkürzten Freiheitsverständnis. Denn „Güter“ sind nichts anderes als Ausdruck und Bedingung menschlicher Freiheit. Die Freiheit des Einzelnen steht daher nicht in Konflikt zu den Belangen einer abstrakten Gemeinschaft, sondern zu den Freiheiten anderer. Konkret: Wenn T vor der Entscheidung steht, den A zu töten, um B und C zu retten, so ist er hier notwendig mit der Freiheit und dem Recht auf Leben aller drei Personen konfrontiert. Aufgabe der Rechtsordnung muss es daher sein, Freiheit durch eine gerechte Abwägung nach den Überzeugungen der Rechtsgemeinschaft [hierzu unter IV. 1. b)] zu maximieren.70 Ein weiterer Einwand gegen die Notstandstötung wird in Funktion und Aufgabe des Staates gesehen. Der Staat sei nicht primär dafür verantwortlich, möglichst viel an Schaden von seinen Bürgern abzuwenden, sondern in erster Linie verpflichtet, nicht selbst in deren Rechte einzugreifen. Die Rechtsordnung sei eine „Selbstschutzgemeinschaft der Handlungsmächtigen“ und nicht eine „Solidargemeinschaft der Bedürftigen“.71 Man kann bereits zweifeln, ob diese Argumentation auch für den 66

Diese „Argumentation“ findet sich sogar in der Presseerklärung des damaligen Bundespräsidenten Köhler, 12. 01. 2005, http://www.bundespraesident.de/DE/Amt-und-Aufgaben/ Wirken-im-Inland/Amtliche-Funktionen/Entscheidung-Januar-2005.html (zuletzt abgerufen am 17. 11. 2019). 67 von Schirach, Terror: Ein Theaterstück und eine Rede, 2015; hierzu instruktiv: Schild, Verwirrende Rechtsbelehrung, 2016. 68 Merkel, ZStW 114 (2002), 437, 453 in Fn. 32. 69 Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, S. 53. 70 Anders Roxin, der eine Notstandstötung auch todgeweihter Personen mit dem – selbstverständlichen, aber nicht hinreichenden – Hinweis darauf verneint, dass auch eine kurze verbleibende Lebensspanne dem verfassungsrechtlichen Lebensschutz untersteht; ZIS 2011, 552, 555 f. Die letzten Lebensminuten müssen schließlich gegen die Rettung der Leben anderer Menschen abgewogen werden. 71 Kersting, Politik und Recht, 2000, S. 318; ders., Wohlgeordnete Freiheit – Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, 1993, S. 97 f.; Küper, Immanuel Kant und das Brett des Karneades – Das zweideutige Notrecht in Kants Rechtslehre, 1999, S. 6.

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Fall gilt, dass nicht unmittelbar staatliches Handeln (wie im Falle des Luftsicherheitsgesetzes) legitimiert, sondern die strafrechtliche Bewertung des Tuns von Bürgern geregelt wird.72 In jedem Fall aber ist die Annahme einer staatlichen Primärpflicht zum Nichteingreifen eine höchst anfechtbare These, der ein bestimmtes Staatsverständnis zugrunde liegt. Das Primat staatlicher Zurückhaltung mag zu Zeiten Kants richtig gewesen sein. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Erwartungen der Bürger an den Staat und damit auch sein Selbstverständnis gewandelt.73 Die Sorge vor einer Übermacht des Staates ist der Angst vor seiner Untätigkeit gewichen; der Staat erscheint vielen nicht mehr als Leviathan, sondern als Schutzgarant gegen die Bedrohungen durch Terrorismus und Kriminalität.74 „Der Staat des Grundgesetzes“, so formuliert es Hillgruber, soll „Sicherheit und Freiheit gleichermaßen garantieren“.75 Das Verbot, in Rechtsgüter (selbst in das Leben) einzugreifen, wiegt daher nicht stets und nicht ausnahmslos schwerer als die Pflicht, Rechtsgüter zu schützen. Das Tötungsverbot ist als „soziale Norm“, wie Merkel treffend ausführt, „ein Schutzgut von hohem Rang; aber es ist ein kollektives, also im Prinzip abwägbares Schutzgut. Daher darf es unter genau definierten Ausnahmebedingungen in Abwägungen mit dem Überlebensinteresse von Menschen, die gerettet werden können, gezogen werden.“76 Der Möglichkeit einer Abwägung von Leben gegen Leben wird verschiedentlich – so auch durch das BVerfG – die Achtung der Menschenwürde entgegengehalten. Durch die Tötung einer Person zur Rettung anderer werde der Mensch zum „Zählposten einer Abwägung“77 und zu einer „bloßen Rechengröße“78 gemacht. Merkel hat hierauf erwidert, dass es „selbstverständlich […] in bestimmten Situationen zulässig, 72 So auch das Bundesverfassungsgericht BVerfGE 115, 118, 157. Auch auf das Völkerstrafrecht lassen sich die Erwägungen nur unter Vorbehalt übertragen, da das Gerichtsstatut Ausdruck der rechtlichen Überzeugungen der Völkergemeinschaft ist und nicht einem einzelnen Staat zugerechnet werden kann. 73 Bereits das deutsche Grundgesetz beschreibt Deutschland als einen Sozialstaat (Art. 20 Abs. 1 GG) und dokumentiert damit die Bedeutung von Schutz und Fürsorge, Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber, BeckOK Grundgesetz, 41. Ed. 2019, Art. 20 GG Rn. 211. 74 Hoven, ZStW 129 (2017), 334, 336; kritisch zur geänderten Einstellung gegenüber dem Staat Greco, GA 2007, 628, 641 f. 75 Hillgruber, JZ 2007, 209, 211. Das absolute Eingriffsverbot auch zum Zweck der Lebensrettung ist keine überzeugende „Verantwortungsethik der politischen Gemeinschaft“, Hillgruber, JZ 2007, 209, 217. 76 Merkel, ZStW 114 (2002), 437, 453 in Fn. 32. Ebenso Hillgruber: „Er [der Verfassungsstaat], der seine Existenzberechtigung gerade seinem Schutzversprechen verdankt, muss unter Umständen auch und gerade Schutz durch Eingriff leisten, darf in ultima ratio menschliches Leben durch Tötung anderen menschlichen Lebens retten, in dieser Pflichtenkollision also der Schutzpflicht Vorrang vor dem Abwehranspruch einräumen“, JZ 2007, 209, 217. Die Existenz von Ausnahmen in moralischen und rechtlichen Argumentationen verneinend Greco, GA 2007, 628, 633 ff. 77 Pieroth/Hartmann, Jura 2005, 729, 730. 78 Baumann, DÖV 2004, 853, 858.

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ja geboten sein [kann], eine Entweder-oder-Entscheidung zur Lebensrettung ausschließlich von einem ,abzählenden‘ Kalkül abhängig zu machen.“79 Merkel bildet das Beispiel eines Feuerwehrmannes, der sich für die Rettung von 5 oder von 50 Kindern entscheiden muss. Die Entscheidung für die Rettung von 50 Kindern wird von der Rechtsordnung zweifellos nicht beanstandet (im Gegenteil: Merkel geht davon aus, dass die gegenteilige Entscheidung strafbar wäre). Merkel resümiert: „Sicher ist jedenfalls, dass F trotz seines ,abzählenden Kalküls‘ nicht die Menschenwürde der umkommenden fünf Opfer verletzt hat. Und dennoch hat er diese allein deshalb umkommen lassen, weil sie in der Minderzahl waren. Mehr noch: Allein wegen dieses Kalküls ist seine Handlung die richtige gewesen.“80 Der Fall des Feuerwehrmannes würde – zumindest von einer klaren Mehrheit in der Strafrechtswissenschaft – deshalb anders bewertet als die hier diskutierten Notstandstötungen, weil er keine aktive Tötungshandlung vornimmt, sondern (nur) seine Rettungspflicht verletzt.81 Diese normative Differenzierung berührt die Frage einer Abwägung „Leben gegen Leben“ allerdings nicht. Merkels Beispiel zeigt also, dass ein „Vergleich der Quantitäten der zu rettenden und der dem Verderben preiszugebenden Menschen“ vom Recht nicht per se ausgeschlossen wird.82 Das BVerfG hat gleichwohl in dem staatlich veranlassten Abschuss eines von Terroristen gekaperten Flugzeugs zur Rettung von Menschen in den anvisierten Kollisionszielen einen Verstoß gegen die Menschenwürde gesehen. Auch wenn das Gericht betont, dass es nicht zu entscheiden habe, „wie ein gleichwohl vorgenommener Abschuss und eine auf ihn bezogene Anordnung strafrechtlich zu beurteilen wäre“83, so würde die Annahme eines Würdeverstoßes für die Beurteilung – und erst recht für eine ausdrückliche gesetzliche Regelung – auch des individuellen Notstandsrechts schwer wiegen. Das Urteil des BVerfG zum Luftsicherheitsgesetz ist im Schrifttum in ungewohnt heftiger Weise kritisiert worden. Isensee bezeichnet die Entscheidung als „die Unvernunft selbst. Der grundrechtlich gebotene Lebensschutz wird so in sein Gegenteil

79

Merkel, JZ 2007, 373, 380; ausführlich zur Zulässigkeit einer quantitativen Betrachtung Zimmermann, Rettungstötungen. Untersuchungen zur strafrechtlichen Beurteilung von Tötungshandlungen im Lebensnotstand, 2009, S. 36 ff. m. umf. N. 80 Merkel, JZ 2007, 373, 380. 81 Die Beantwortung der Frage, ob ein Unterlassen tatsächlich stets weniger schwer wiegt als ein Tun (auch bei Bestehen einer Garantenstellung), würde hier zu weit führen. Siehe dazu statt vieler: Gropp, in: Weigend/Küpper, Festschrift für Hans Joachim Hirsch zum 70. Geburtstag am 11. April 1999, 1999, S. 207, 212 ff.; Küper, Grund und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht, 1979, S. 32 ff.; Neumann, FS Roxin, S. 421, 425. 82 Merkel, JZ 2007, 373, 381. 83 BVerfGE 115, 118, 157. Zur Beantwortung dieser Frage aus strafrechtlicher Sicht siehe exemplarisch: Gropp, GA 2006, 284; Jäger, ZStW 115 (2003), 765, 781 ff.; Jerouschek, in: Amelung, Strafrecht, Biorecht, Rechtsphilosophie. Festschrift für Hans-Ludwig Schreiber zum 70. Geburtstag, 2005, S. 185; Merkel, JZ 2007, 373, 378 ff.; Mitsch, GA 2006, 11, 23 f.; Rönnau, JuS 2017, 113, 114 ff.; Roxin, ZIS 2011, 552; Stübinger, ZStW 123 (2011), 403.

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verkehrt“84, Hillgruber nennt ihr Ergebnis „widersinnig“85 und für Rogall ist sie „in wesentlichen Punkten falsch“86.87 Die Kritik ist aus vielen Gründen berechtigt, insbesondere auch wegen der – von Hillgruber zu Recht als „lapidar“ bezeichneten88 – Annahme einer Menschenwürdeverletzung. Wenn die Würde tatsächlich noch über dem Leben stehen soll,89 so muss die Annahme ihrer Verletzung auf die Verneinung des menschlichen Selbstwertes, eine „willkürliche Missachtung“ und „verächtliche Behandlung“90 beschränkt sein.91 Die Idee der Menschenwürde wird entwertet, wenn man sie durch eine minimale Lebensverkürzung zum Zwecke der Rettung anderer vor einem tödlichen Angriff berührt sieht.92 Weiter ist zu bedenken: Angesichts des real drohenden Leids – man denke an die Tausenden von Opfern und deren Angehörige in den Twin Towers – erscheint ein Rettungsverbot hier nicht weniger als unmenschlich. Eine Norm muss sich – soll sie nicht nur theoretisches Gedankenspiel, sondern die rechtliche Antwort auf gesellschaftliche Fragen sein – an ihren realen Folgen messen lassen. Dass der Tod Tausender in den Hochhäusern in keinem Verhältnis zu einer Lebenserhaltung der Flugzeuginsassen von wenigen Minuten steht, dürfte rational niemand bezweifeln. Das Hochhalten einer Idee unter Ausblendung tatsächlicher Konsequenzen hat nur vordergründig den Charme des dogmatisch und intellektuell Überlegenen. In Wahrheit liegt hierin die Diktatur eines Prinzips. Eine Rechtsordnung, die Menschen einem – abstrakten und hier durchaus bezweifelbaren – Wert opfert, ist fundamentalistisch und inhuman. Der rechtliche Umgang mit Notstandstötungen ist im Ergebnis weder verfassungsrechtlich noch rechtsdogmatisch determiniert. Die Tatsache, dass die Möglichkeit der Tötung zur Rettung von Leben seit Jahrhunderten und in allen Rechtsordnun-

84 Isensee, in: Pawlik u. a., Festschrift für Günther Jakobs zum 70. Geburtstag am 26. 7. 2007, 2007, S. 205, 229. 85 Hillgruber, JZ 2007, 209, 217. 86 Rogall, NStZ 2008, 1, 5. 87 Merkel hat sich hier vorsichtiger geäußert, Merkel, JZ 2007, 373. 88 Hillgruber, JZ 2007, 209, 214. 89 An dieser Prämisse wird in Deutschland kaum gezweifelt. In anderen Ländern findet die Idee einer Absolutheit der Würde allerdings kaum Entsprechung (siehe ausführlich dazu Schulze-Fielitz, in: Blankenagel/Pernice/Schulze-Fielitz, Verfassung im Diskurs der Welt – Liber Amicorum für Peter Häberle zum siebzigsten Geburtstag, 2004, S. 355, 364 ff.). Und das Primat der Würde – aber das soll hier nicht vertieft werden – ist zumindest nicht auf den ersten Blick plausibel, bildet das Leben doch die notwendige Bedingung für alle menschlichen Freiheiten und auch seine Würde. 90 BVerfG NJW 1971, 275, 279. 91 Die gängige Objektformel ist nicht nur denkbar unbestimmt, sie trägt auch der Gemeinschaftsgebundenheit des Menschen nicht hinreichend Rechnung; Becker, Das ,Menschenbild des Grundgesetzes‘ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1996, S. 58. 92 In diese Richtung auch Hörnle, FS Herzberg, S. 555, 568.

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gen93 kontrovers diskutiert wird, zeigt, dass es eine eindeutig richtige Lösung nicht geben kann. Damit bleibt die Frage, wie weit das Notstandsrecht reichen soll, eine weitgehend rechtspolitische, die jede Rechtsgemeinschaft für sich beantworten muss. Nachfolgend soll überlegt werden, an welchem Maßstab eine solche Entscheidung auszurichten ist. b) Maßstab für die Rechtfertigung von Notstandshandlungen Dass die Tötung eines Menschen zur Rettung anderer legitim sein kann, wird häufig mit dem Argument verneint, dass es keine Pflicht gebe, „das eigene Leben zur Rettung anderen Lebens aufzuopfern“.94 Die „bewusste Aufgabe des eigenen Lebens“ liege „außerhalb dessen, was der Einzelne dem Gemeinwesen schuldet.“95 Auch Reinhard Merkel schreibt, dass „niemand rechtlich verpflichtet sein [kann], aus Solidarität das eigene Leben für noch so viele andere herzugeben, die er nicht bedroht“.96 In vorsichtigem Widerspruch zum Jubilar möchte ich bezweifeln, dass die Rechtsordnung dies nicht bereits an anderer Stelle tut – und das weitgehend unwidersprochen. Außerhalb einer Notwehrsituation billigt es die deutsche Rechtsordnung nicht, wenn der Täter einen anderen tötet, um sein eigenes Leben zu retten; hier kommt allein eine Entschuldigung in Betracht. Die Rechtsordnung erwartet hier also von T (anderenfalls ist sein Handeln rechtswidrig), dass er sein Leben opfert, wenn eine Rettung nur durch die Tötung eines anderen möglich wäre. In jedem Fall aber wird an die Bewertung der Notstandstötung ein falscher Maßstab angelegt, wenn sie von einer Loyalitätspflicht des Opfers abhängig gemacht wird. Der Fehler dieser Betrachtung liegt in ihrer Opferzentriertheit. Tatjana Hörnle hat treffend herausgearbeitet, dass die Zustimmung zur Notstandstötung maßgeblich davon abhängt, welche Perspektive der Betrachter einnimmt:97 Wer aus dem Blick des Täters urteilt, wird die Tötung eher rechtfertigen als derjenige, der die Position der Opfer einnimmt. Das Opfer wird auf sein Leben nicht verzichten; einige würden vermutlich nicht einmal ihre letzten fünf Minuten geben, um andere zu retten.98 Die 93 Aus der internationalen Diskussion siehe statt aller: Foot, Oxford Review 5 (1967), 5; Thomson, The Yale Law Journal 94 (1985), 1395; Quinn, Philosophical Review 98 (1989), 287; Rakowski, Columbia Law Review 93 (1993), 1063. 94 Statt aller: Roxin, ZIS 2011, 552, 553; ders., in: Vogler, Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag, 1985, S. 457, 471 f.; Weigend, JICJ 10 (2012), 1219, 1228. 95 Höfling/Augsberg, JZ 2005, 1080, 1082. 96 Merkel, Zeit Online vom 08. 07. 2004, https://www.zeit.de/2004/29/Abschussgesetz (zuletzt abgerufen am 17. 11. 2019). Anders – und durchaus hörenswert – noch in ZStW 114 (2002), 437, 452 f.: „Nur in einem solchen Fall der de-facto-Reduktion des verbleibenden Lebens auf einen für den noch Lebenden selbst bedeutungslosen Rest kann die Pflicht zur gesellschaftlichen Solidarität in Notfällen sogar die ,Hergabe‘ dieses Lebensrestes beanspruchen, wenn allein damit das Leben anderer zu retten ist.“ Vgl. zum Umfang der Solidaritätspflicht auch Roxin, FS Jescheck, S. 457, 471. 97 Hörnle, FS Herzberg, S. 555, 559. 98 Hörnle, FS Herzberg, S. 555, 567.

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Entscheidung darüber, ob Notstandstötungen im Einklang mit der Rechtsordnung stehen können, darf daher nicht einseitig von der – notwendig egoistischen – Perspektive der konkret Betroffenen abhängig gemacht werden. Die Fokussierung auf das Opfer der Notstandstötung lässt den zugrundeliegenden Interessenkonflikt außer Acht und ignoriert die Belange derjenigen, die im Falle eines Nichthandelns zu Opfern werden. Als alleiniges Kriterium für eine gerechte Abwägung und eine allgemeingültige rechtliche Lösung ist die Frage nach der Haltung der konkret bedrohten Opfer also ungeeignet. Den überzeugenden Weg für die Auflösung solcher Konfliktlagen hat bereits Rawls beschrieben. Eine rationale Entscheidung für oder gegen eine Handlungsalternative kann nur in Unkenntnis der eigenen Betroffenheit gefällt werden: „If a knowledge of particulars is allowed, then the outcome is biased“99. Eine objektive Würdigung der Situation muss von Person und Situation abstrahieren und hinter dem „Schleier des Nichtwissens“100 erfolgen. Die richtige Frage lautet hier nicht: „Sind die Personen im Flugzeug bereit, ihr Leben für die Menschen in den Hochhäusern zu opfern?“, sondern: „Wie würde eine vernünftige Person entscheiden, die nicht weiß, ob sie zu den Menschen im Flugzeug oder zu den Menschen in den Hochhäusern gehören wird?“. Erst wenn Partikularinteressen ausgeblendet werden, kann eine allgemeine Regel entstehen, die alle involvierten Rechtsgüter in einen gerechten Ausgleich bringt. Durch die erzwungene Unparteilichkeit wird hinter dem Schleier des Nichtwissens die Entscheidung getroffen, die in der Notstandssituation den größtmöglichen Nutzen bringt und den geringsten Schaden verursacht.101 Wird unter diesen Voraussetzungen eine Notstandstötung akzeptiert – ob dies der Fall ist, erörtere ich sogleich unter c) –, so ist sie nicht Ausdruck moralischer Solidarität, sondern Folge einer, so formuliert es Reinhard Merkel, „rational egoistischen“102 Entscheidung. Hörnle hat hiergegen eingewandt, dass von niemandem verlangt werden könne, sich im Angesicht einer eigenen Lebensbedrohung an die hypothetische Absprache zu halten.103 Auch diese Entgegnung beruht jedoch auf dem Fehler der einseitigen Opferzentriertheit. Für eine Bewertung der Notstandstötung durch die Rechtsordnung kann es nicht darauf ankommen, wie der konkret Betroffene die Situation erlebt (dass er, wenn er sich gegen seine Tötung zur Wehr setzt, entschuldigt wäre, steht auf einem anderen Blatt). Wenn die Rechtsordnung eine allgemeine Regel zur bestmöglichen Wahrung aller Interessen trifft, so muss sie hieran selbstverständlich auch im „Ernstfall“ konsequent festhalten.

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Rawls, A Theory of Justice, 1971, S. 141. Rawls, A Theory of Justice, S. 136: „veil of ignorance“. 101 Weigend, ZIS 2017, 599, 601. 102 Merkel, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a.M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 171, 185. 103 Hörnle, FS Herzberg, S. 555, 566. 100

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c) Konsequenzen für die Rechtfertigung von Notstandstötungen Welche Folgen ergeben sich aus den soeben angestellten Überlegungen für die Rechtfertigung von Notstandstötungen? Auf den ersten Blick könnte man annehmen, dass die „rational egoistische“ Entscheidung hinter dem Schleier des Nichtwissens zu einem schlichten Abzählen von Menschenleben führt. Das ist jedoch – auch aus einer utilitaristischen Perspektive – zu kurz gedacht. Das hier vertretene Modell geht über eine bloße Rechenleistung hinaus und lässt Raum für weitergehende gesellschaftliche Erwägungen. aa) Tötung weniger zur Rettung vieler? Dieser Gedanke soll am bekannten Weichensteller-Fall104 verdeutlicht werden. Bei mathematischer Betrachtung müsste die Entscheidung hinter dem Schleier für das Umstellen der Weiche ausfallen.105 Weiß der Entscheider nicht, zu welcher der beiden Gruppen – etwa: zwei Menschen auf Gleis A, zwanzig Menschen auf Gleis B – er gehören wird, so ist die Überlebenswahrscheinlichkeit höher, wenn nur zwei statt 20 Menschen getötet werden (die Chance zu überleben ist dann 10:1, bei Untätigkeit nur 1:10). Im Organspende-Fall – der Arzt tötet einen gesunden Patienten, um fünf kranken Personen durch die Transplantation der Organe des Opfers das Leben zu retten –106 gilt nur vordergründig dasselbe. Zwar sinkt auch hier das eigene Sterberisiko, wenn man sich für die Rettung der fünf auf Kosten des einen entscheidet. Die Verengung auf eine reine Wahrscheinlichkeitsrechnung würde dem „rationalen Egoisten“ allerdings ein sehr kurzsichtiges Verständnis des geringsten Schadens attestieren. Denn mit der Entscheidung für die Tötung der unbeteiligten Person würde für jedermann die Gefahr entstehen, zur Rettung anderer getötet zu werden.107 Hörnle hat diese Erwägung auf den Punkt gebracht: „Die Vorstellung […] jederzeit und unabwendbar vorsätzlich getötet werden zu können, [würde] ein Gefühl der Bedrohung verursa-

104

Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1930, S. 288; Welzel, ZStW 63 (1951), 47. 105 Hierzu Huster, merkur 2004, 1047, 1049. 106 Thomson, The Yale Law Journal 94 (1985), 1395. 107 Auf ähnliche Weise lassen sich die von Neumann erhobenen Einwände gegen utilitaristische Konzepte Rechnung tragen. Neumann bildet das Beispiel des Eigentümers, der bei utilitaristischer Sichtweise nicht verhindern könne, dass sein Besitz zum Nutzen aller kollektiviert werde; Neumann, in: Hirsch/Neumann/Seelmann, Solidarität im Strafrecht, S. 155, 162. Tritt man jedoch hinter den Schleier des Nichtwissens, so wird man – jedenfalls in unserer Gesellschaftsform – das Eigentum als Institution anerkennen und damit seinen Schutz für richtig halten. Eine Aufteilung der Güter des Eigentümers wäre damit nicht von größerem Nutzen für die Gemeinschaft, da hierdurch das Institut des Eigentums aufgegeben würde. Auf eine solche Lösung würden sich rationale Personen hinter dem Schleier des Nichtwissens zumindest in einer freien Marktwirtschaft nicht einigen.

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chen und sich tief greifend auf das Leben nach der Vereinbarung auswirken.“108 Der rationale Entscheider hinter dem Schleier würde diese Überlegungen einbeziehen. Der Preis für die Rettung der 10 bzw. 5 Menschen wäre dann nicht nur das Leben eines anderen, sondern auch eine empfindliche Einbuße an individuellem Sicherheitsgefühl. Nach dem hiesigen Modell kann die Tötung einer unbeteiligten Person zur Rettung einer größeren Zahl anderer also nicht grundsätzlich gerechtfertigt werden. Das Umlenken des Zugs mag moralisch richtig sein und auch zur Entschuldigung des Täters führen [hierzu unter IV. 2. b)]; die Rechtsordnung kann die Entscheidung gleichwohl nicht billigen. bb) Tötung von Todgeweihten Zu einem anderen Ergebnis gelangt man jedoch in Fällen, in denen das Leben der Opfer auch ohne das Handeln des Täters beendet worden wäre. Die Situation todgeweihter Opfer ist eine besondere: Ihr Leben ist in allernächster Zukunft unrettbar verloren;109 der Täter nimmt ihnen nicht Jahre des Lebens bis zu einem natürlichen Tod, sondern verkürzt lediglich eine zu vernachlässigende Lebensspanne um geringe Zeit.110 Im Schrifttum ist eine Rechtfertigung für solche Fälle auf deutlichen Zuspruch gestoßen. So geht etwa Neumann davon aus, dass in Fällen, in denen „nicht die Schutzwürdigkeit, wohl aber die Schutzmöglichkeit des einen Rechtsguts nahezu auf Null reduziert ist, […] die Rettung des anderen gerechtfertigt [ist].“111 Auch Merkel, der ein utilitaristisches Kalkül von Menschenleben an sich ablehnt, sieht – jedenfalls in seinem Beitrag in der ZStW 114 (2002), zurückhaltender äußerte er sich in JZ 2007, 373 – eine Notstandstötung durch die asymmetrischen Rettungschancen für die Beteiligten als gerechtfertigt an. Zu Recht verweist Hillgruber darauf, dass es sich in Wahrheit nicht um eine Abwägung „Leben gegen Leben“ handelt.112 Da allein die Personen in den Hochhäusern gerettet werden können, opfert der Notstandstäter nicht das eine Leben für das andere, sondern tut das einzige, was in seiner Macht steht, um Leben zu erhalten. Der Täter hat hier also nicht die Wahl zwischen der Rettung des Lebens verschiedener Gruppen von Menschen, sondern kann lediglich entscheiden, ob er Leben rettet oder es unterlässt. 108

Hörnle, FS Herzberg, S. 555, 564. Hirsch, in: Hettinger u. a., Festschrift für Wilfried Küper zum 70. Geburtstag, 2007, S. 149, 160; Merkel, ZStW 114 (2002), 437, 452. 110 Vgl. Hirsch, FS Küper, S. 149, 161; ebenso Erb, in: Joecks/Miebach, Münchener Kommentar zum StGB, Band 1, 3. Aufl. 2017, § 34 Rn. 127 sowie ders., JuS 2010, 108, 111 f. jew. m.w.N., der in diesem Umstand zugleich die enge und trennscharfe Eingrenzung der Fallgruppe sieht: Nur wenn und soweit der Todgeweihte untrennbar mit der Gefahrenquelle verbunden ist oder diese selbst darstellt, soll eine Rechtfertigung der Tötung möglich sein. 111 Neumann, NK-StGB, § 34 Rn. 77; s.a. Zieschang, JA 2007, 679, 683. 112 Hillgruber, JZ 2007, 209, 217. 109

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Nach dem hier favorisierten Modell ist die Lösung eindeutig. Im Fall des entführten Flugzeugs steht der rationale Entscheider hinter dem Schleier des Nichtwissens vor der Wahl, ob die Leben von hundert Passagieren um wenige Minuten verkürzt werden oder tausende Menschen in den Hochhäusern sterben sollen. Weiß man nicht, ob man Passagier des Flugzeugs oder Bewohner des Hochhauses sein wird, so wird sich jeder Vernünftige für die Rettung der Tausenden entscheiden. Schwierigkeiten bereitet allerdings die Grenzziehung. Vergegenwärtigt man sich im Flugzeug-Fall die Folgen einer gegenteiligen Entscheidung – das Sterbenlassen von tausenden Menschen und das Leid der Angehörigen zur Wahrung von wenigen Minuten (einer von Todesängsten überschatteten) Lebenszeit der Flugzeuginsassen – so ist das Ergebnis moralisch alternativlos. Als ethisch weniger eindeutig stellt sich die Entscheidung dann dar, wenn die Zahlen umgekehrt sind; wenn also etwa 100 Todgeweihte zur Rettung eines Einzelnen getötet werden. Noch kritischer wird es, wenn – wie im Fall Erdemovic´ – der Gerettete der Täter selbst ist. Doch für die rechtliche Bewertung der Notstandshandlung können beide Aspekte keinen Unterschied machen. Angesichts einer vergleichsweise geringen Freude an wenigen Minuten des Lebens vor dem sicheren Tod einerseits und des hohen Werts einer tatsächlichen Lebensrettung andererseits wird die Entscheidung hinter dem Schleier des Nichtwissens auch hier für die Notstandstötung ausfallen. Die Zahlen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Leben der Opfer in jedem Fall verloren gewesen wäre. Ob der Täter dabei zur Rettung eines Unbekannten, eines Angehörigen oder seiner selbst handelt, muss aus Sicht des Rechts irrelevant sein. Denn die Rechtsordnung belohnt durch die Annahme eines Rechtfertigungsgrundes nicht altruistisches oder moralisch überlegenes Verhalten, sondern stellt lediglich fest, ob das Handeln im Einklang mit den von ihr festgelegten Grundsätzen steht. Auch wenn der Täter zu eigenen Gunsten handelt, bleibt es dabei, dass durch seine Tat ein Leben gerettet wird, das anderenfalls verloren wäre.113 113 Eine weitere Konstellation soll hier nicht vertieft erörtert, wohl aber angesprochen werden. Wie verhält es sich mit der Tötung eines Sterbenskranken, der nur noch wenige Stunden zu leben hat, um das Leben von fünf Personen zu retten, die auf seine Spenderorgane angewiesen sind? Auch hier wiegen die wenigen Lebensstunden des einen an sich weniger schwer als die Lebensrettung der anderen. Man wird den Fall allerdings gleichwohl anders beurteilen und die Tötung als rechtswidrig einstufen. Der intuitive Unterschied lässt sich damit erklären, dass hier kein Angriff auf die fünf Personen abgewehrt, sondern ihnen eine zusätzliche, „unverdiente“ Lebenschance eröffnet werden soll. In Anbetracht des herrschenden Verständnisses von einem menschenwürdigen Sterben würde auch hinter dem Schleier des Nichtwissens die reine Kalkulation (fünf Leben gegen einige Lebensstunden) hinter den Gedanken zurücktreten, nicht in einer Rechtsgemeinschaft leben zu wollen, in der Sterbende als „Organlieferanten“ missbraucht werden. Man wird auf eine zusätzliche Lebenschance verzichten, wenn der Preis hierfür die Gefahr ist, jederzeit getötet werden zu können, um anderen eine Lebenschance zu eröffnen. Auch verfassungsrechtlich zeigt sich ein Unterschied zwischen dem Flugzeug- und dem Organspende-Fall. Der Staat hat eine besondere Pflicht, seine Bürger vor tödlichen Angriffen zu schützen, jedoch eine deutlich geringere Pflicht, ihren natürlichen Tod herauszuzögern. Die Unfähigkeit des Staates, so hat Reinhard Merkel einmal gesagt, seine Bürger vor tödlichen Verbrechen zu schützen, würde die Fundamente seiner Legitimität als zwangsrechtliche Ordnung berühren und ggf. desavouieren.

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Schwer zu lösen ist hingegen die Grenzziehung in zeitlicher Hinsicht. Weigend hat das Problem durch eine Abwandlung des Erdemovic´-Falles verdeutlicht: „Assume that Erdemovic´ is one of very few specialists in a technique requisite to kill 70 innocent men hiding away in a subterranean cave. If Erdemovic´, who is threatened with his own death, refuses to apply that technique, the commanders need two weeks to find and fly in another specialist. Would we then still readily accept Erdemovic´’s plea that ‘the victims would have died anyway, so I was justified in killing them in order to save my life’? We would at least have doubts, and these doubts may increase the longer the remaining life span of the victims becomes.“114 Eine allgemeingültige Lösung ist hier auch hinter dem Schleier des Nichtwissens nicht zu finden. Das Beispiel zeigt eine Schwäche der Methode: in Grenzfällen wie diesem können „vernünftige Entscheider“ zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen gelangen, je nachdem wie hoch sie eine Lebenszeit von zwei Wochen bewerten (eine Wertung, die rationaler Betrachtung kaum zugänglich ist). Da hinter dem Schleier des Nichtwissens unterschiedliche Lösungen denkbar sind, könnte sich der Normsetzer für verschiedene Regelungen entscheiden. Denkbar – aber nicht alternativlos – wäre es, eine Notstandstötung nur dann für rechtmäßig zu erachten, wenn der Tod der Betroffenen unmittelbar bevorstand. 2. Entschuldigender Notstand Wie bereits erörtert, liegt die wesentliche Schwäche des völkerstrafrechtlichen Notstandskonzepts in der fehlenden Differenzierung zwischen Unrecht und Schuld. Eine Lösung auf Schuldebene stellt den Unwert der Tat nicht in Frage, erkennt aber die Zwangslage des Täters an. a) Tötung zur Rettung des eigenen Lebens oder des Lebens naher Angehöriger Zu den Voraussetzungen des (übergesetzlichen) entschuldigenden Notstandes sollen hier nur einige knappe Erwägungen angestellt werden. Ein Handeln in Notstand muss zunächst stets dann zur Entschuldigung führen, wenn das Leben des Täters oder das eines nahen Angehörigen bedroht ist. Einem Menschen ist es – selbst wenn die Rechtsordnung es von ihm verlangt (siehe oben IV.1.) – nicht zumutbar, das eigene Leben aufzugeben; selbst dann nicht, wenn er für seine Rettung aktiv einen anderen Menschen töten muss.115 Gleiches gilt für den Schutz naher Angehöriger: Einer Mutter kann nicht vorgeworfen werden, wenn sie einen anderen Menschen Eine andere Argumentationslinie bietet Erb: Der Todgeweihte sei weder mit der Gefahrenquelle untrennbar verbunden noch stelle er selbst eine Gefahr dar; JuS 2010, 108, 111 f. 114 Weigend, JICJ 10 (2012), 1219, 1230. 115 ICTY, Erdemovic´, Judgement, IT-96-22-A, Appeals Chamber, 7 October 1997, Separate and Dissenting Opinion of Judge Stephen, para. 54.

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tötet, um das Leben ihres Kindes zu retten.116 Das Gesetz kann eine solche Tat für rechtswidrig erklären; es kann aber nicht leugnen, dass ein Handeln wider die natürlichen Selbsterhaltungs- und Schutzinstinkte für den Einzelnen außerhalb des Zumutbaren liegt.117 In Fällen der Lebensbedrohung muss dieses Ergebnis unabhängig von jeder Verhältnismäßigkeitserwägung gelten. Einem Menschen ist es weder zuzumuten, für einen anderen, noch für zehn oder hundert andere zu sterben. Eine Verurteilung des Täters würde hier keine der legitimen Funktionen des Strafrechts erfüllen. Vergeltung wird man gegenüber jemandem, der nachvollziehbaren Schutzinstinkten folgt, kaum üben wollen. Und auch Präventionsgesichtspunkte scheiden aus: Wer den eigenen Tod oder den Tod eines Angehörigen vor Augen hat, wird sich durch die Aussicht auf eine spätere Bestrafung nicht abschrecken lassen.118 b) Tötung in einer moralischen Dilemma-Situation Ein entschuldigender Notstand sollte darüber hinaus auch dann anerkannt werden, wenn sich der Täter in einem moralischem Dilemma befindet und hier das „kleinere Übel“ wählt.119 Lenkt der Täter im Weichensteller-Fall den Zug so um, dass anstelle von hundert Personen nur eine Person stirbt, so ist sein Handeln jedenfalls nach den hier vertretenen Prämissen zwar rechtlich falsch, moralisch jedoch zweifellos vertretbar – und aus streng utilitaristischer Sicht sogar zwingend.120 Anders als Neumann meint, löst die Rechtsordnung hier keinesfalls jede „denkbare moralische Patt-Situation […] durch die Markierung rechtmäßiger und rechtswidriger Verhaltensalternativen auf“.121 Die Rechtsordnung nimmt schließlich nicht nur eine konkrete Konfliktsituation in den Blick, sondern muss allgemeingültige Regeln für das gesellschaftliche Zusammenleben treffen. So wählt der rationale Entscheider hinter dem Schleier des Nichtwissens die geringere Opferzahl nur deshalb nicht, weil mit der Verallgemeinerbarkeit dieser Entscheidung erhebliche gesellschaftliche Unsicherheitsgefühle verbunden wären [siehe oben IV. 1. c) aa)]. Für denjenigen, der in der Situation selbst über Leben und Tod konkreter Menschen entscheiden muss, spielen solch allgemeine Erwägungen hingegen keine Rolle. Die Grundlagen für eine Entscheidung im Einzelfall und für die Formulierung einer all116

Neumann, NK-StGB, § 35 Rn. 6. Hörnle, FS Herzberg, S. 555, 572; ausf. zur Entschuldigung eines aus existentieller Not handelnden Täters Frister, JuS 2013, 1057, 1062 ff. m.w.N. Zu keinem anderen Ergebnis gelangt man, wenn man nicht auf einen psychischen Druck, sondern, wie etwa Neumann, auf eine „relative Situationsadäquanz“ und die Existenz besonderer Solidaritätsverhältnisse abstellt; Neumann, NK-StGB, § 35 Rn. 6. 118 Roxin, GA 2011, 1 ff. 119 Welzel, ZStW 63 (1951), 47, 51; s.a. Hörnle, FS Herzberg, S. 555, 573. 120 Foot, Oxford Review 5 (1967), 5; Kamm, Philosophical Studies 57 (1989), 227, 228; Quinn, Philosophical Review 98 (1989), 287, 304; Rakowski, Columbia Law Review 93 (1993), 1063, 1063; Thomson, The Realm of Rights, 1990, S. 176. 121 Neumann, NK-StGB, § 35 Rn. 57. 117

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gemeinen Regelung sind damit unterschiedlich: Was als Gesetz richtigerweise anerkannt wird, muss in der Situation moralisch nicht zwingend sein. Dass die Entscheidung im Weichensteller-Fall122 eine moralisch höchst komplizierte ist, dürfte angesichts der intensiven Diskussionen in Wissenschaft123 und Öffentlichkeit124 nicht zu bestreiten sein. Sie wird für den Täter nicht dadurch gelöst, dass der Gesetzgeber Vorgaben in die eine oder andere Richtung macht.125 Jeder Mensch mit Verantwortungsbewusstsein wird sich angesichts des drohenden Todes von 100 Personen nicht auf ein Gesetz zurückziehen (wenn ihm dieses überhaupt bekannt ist), sondern eine eigene moralische Entscheidung treffen müssen. Die Anerkennung einer Entschuldigung gerät hier auch nicht „in einen unauflösbaren Widerspruch zu dem Verbot, menschliche Leben zahlenmäßig miteinander zu verrechnen“.126 Denn hier geht es nicht um die Anerkennung einer „Verrechnung“ durch die Rechtsordnung (etwa als Rechtfertigungsgrund), sondern um die Berücksichtigung der drohenden Schäden in der moralischen Entscheidung des Einzelnen. Nicht nur für strenge Utilitaristen, sondern für jedermann werden die tatsächlichen Folgen des eigenen Handelns ein maßgeblicher Faktor für die ethische Bewertung der Situation sein.127 Zu behaupten, dass es keinen Unterschied mache, ob zwei oder zweitausend Menschen sterben, wäre realitätsblind. Auch der häufig bemühte Einwand, ein Mensch dürfe in einer Dilemma-Situation nicht „Schicksal“ spielen,128 ist wenig überzeugend.129 Ihm fehlt nicht nur die normative Basis,130 er beschreibt auch die Lage des Täters nicht angemessen. Der Vorwurf des „Schicksalspielens“ insinuiert, dass sich der Betroffene (erst) durch ein aktives 122

Geht zurück auf Welzel, ZStW 63 (1951), 47, 51. Nur exemplarisch: Jäger, ZStW 115 (2003), 765, 778 ff.; Mitsch, GA 2006, 11; Rönnau, in: Cirener u. a., Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 3, 13. Aufl. 2019, Vor § 32 Rn. 357 ff.; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 1, § 22, Rn. 161 ff.; Zimmermann, Rettungstötungen, S. 25 ff. m. umf. N.; darauf aufbauend zum Notstandsrecht bei selbstfahrenden Autos Weigend, ZIS 2017, 599; Wörner, ZIS 2019, 41. 124 Siehe etwa die Internetseite „Moral Machines“, auf der Nutzer über Varianten des Weichensteller-Falles (hier im Kontext selbstfahrender Kraftfahrzeuge) abstimmen können – und dies mit höchst unterschiedlichen Ergebnissen tun: http://moralmachine.mit.edu (zuletzt aufgerufen am 17. 11. 2019). 125 Wobei für das deutsche Recht mehr als fraglich ist, ob der Gesetzgeber überhaupt eine klare moralische Vorgabe gemacht hat. Aus dem Wortlaut von § 34 StGB selbst ergibt sich nicht, ob 100 Leben nicht ein Leben „wesentlich überwiegen“; diese Deutung ist erst Folge der herrschenden Interpretation (die nicht selten auf der falschen Prämisse eines absoluten Abwägungsverbots beruht); siehe Delonge, Die Interessenabwägung nach § 34 StGB und ihr Verhältnis zu den übrigen strafrechtlichen Rechtfertigungsgründen, 1987, S. 122; Silva Sánchez, Jahrbuch für Recht und Ethik 13 (2005), 681, 695. 126 Neumann, NK-StGB, § 35 Rn. 61. 127 Hörnle, FS Herzberg, S. 555, 572 f. 128 So etwa Jäger, ZStW 115 (2003), 765, 779. 129 Die Argumentation setzt voraus, dass man von der wenig rationalen Vorstellung eines vorherbestimmten Schicksals ausgeht – und ist daher schon im Grundsatz abzulehnen. 130 So Hörnle, FS Herzberg, S. 555, 573. 123

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Handeln die Entscheidung über Leben und Tod der Gleisarbeiter anmaßt. Dies verkennt allerdings, dass sich der Täter bereits in einer Situation befindet, in der er – ungewollt – über Rettung oder Sterbenlassen entscheiden muss. Denn sowohl ein Eingreifen als auch ein Untätigbleiben verlangen von ihm eine Entscheidung. Egal wie er wählt, bestimmt er über das Schicksal der Personen auf den Gleisen. Wer vor der Wahl steht, Menschen zu opfern, um eine größere Anzahl von Personen zu retten, steht damit vor einer Frage, auf die eine Jahrhunderte dauernde moralphilosophische Diskussion keine eindeutige Antwort gefunden hat. Entscheidet sich der Betroffene in einem solchen Dilemma für das Umstellen der Weiche, so muss ihm von der Rechtsordnung „so weit Verständnis entgegengebracht werden, dass entsprechendes Handeln entschuldigt wird“131. Vertreter der Gegenauffassung müssen sich bewusst sein, welche Konsequenzen die Ablehnung eines Entschuldigungsgrundes hätte: Der Weichensteller – der in der Notsituation das „kleinere Übel“ wählt – würde wegen Mordes132 zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt werden; ein offensichtlich grob ungerechtes Ergebnis.

V. Fazit Reinhard Merkel hat den Umgang mit Notstandstötungen als eine „Grundfrage von Recht, Staat und Individuum“ beschrieben.133 Das Völkerstrafrecht hat auf diese Frage bislang keine überzeugende Antwort gefunden. Als rechtspolitische Kompromisslösung leidet die Regelung in Art. 31 Abs. 1 lit. d ICC-Statut unter ihrer Unbestimmtheit und der fehlenden Differenzierung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung. Doch auch das deutsche Recht gibt keine klaren Voraussetzungen für die Behandlung von Notstandstötungen vor. Stattdessen wird die Entscheidung über die Grenzen des Notstandsrechts einer kaum mehr überschaubaren wissenschaftlichen Diskussion überantwortet, deren Protagonisten sich weitgehend unversöhnlich gegenüberstehen. Es wäre Aufgabe des Normsetzers – im Völkerstrafrecht wie im nationalen Recht – durch ausdrückliche Regelungen für Klarheit zu sorgen. In diesem Beitrag habe ich einige erste Vorschläge für die Gestaltung des Notstandsrechts gemacht. Nach der hier vertretenen Methode der Entscheidung hinter dem Schleier des Nichtwissens wäre sowohl der Abschuss eines entführten Flugzeugs als auch das Handeln von Erdemovic´ gerechtfertigt gewesen. Die Tat des fiktiven Weichenstellers wäre hingegen rechtswidrig, aber entschuldigt.

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Hörnle, FS Herzberg, S. 555, 572. Der Zug dürfte ohne weiteres ein gemeingefährliches Mittel darstellen. 133 Merkel, JZ 2007, 373, 385. 132

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Zieht man die Grenzen des Notstandsrechts auf diese Weise weit, so muss den Ausschlussgründen eine größere Bedeutung zukommen.134 Gerade im Völkerstrafrecht kann die Anerkennung einer Notstandsrechtfertigung nicht dazu führen, dass Organisationen für ihre Mitglieder Straffreiheit schaffen, indem sie ein drakonisches internes Sanktionssystem etablieren: „If impunity could be so secured a wide door would be open to collusion, and encouragement would be given to associations of malefactors, secret or otherwise.“135 Wer sich wissentlich einer Einheit anschließt, die von ihren Mitgliedern die Begehung völkerrechtlicher Verbrechen verlangt, kann sich nicht zur Rettung des eigenen Lebens auf Notstand berufen.136 Zwar bleibt in der Situation selbst eine Selbstaufopferung unzumutbar, doch muss dem Täter – nach dem Gedanken von actio libera in causa137 – der Schuldvorwurf bereits bei freiwilligem Eintritt in die Organisation gemacht werden.138 Dies näher auszuführen, muss jedoch einer Festschrift zum nächsten runden Geburtstag des Jubilars vorbehalten bleiben.

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S. hierzu Küper, Der „verschuldete“ rechtfertigende Notstand, 1993; Hirsch, FS Küper, S. 149, 163; Bernsmann, „Entschuldigung“ durch Notstand, 1989, S. 201 ff., 398; Beck, ZStW 124 (2012), 660, 683. 135 Stephen, History of the Criminal Law of England, Vol. 2, 1883, S. 107, 108. 136 Hingegen ist es wenig überzeugend, dass ein altruistisches Notstandsrecht ausgeschlossen werden soll (so ist es jedoch in § 35 Abs. 1 S. 2 StGB angelegt). 137 Perron, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 30. Aufl. 2019, § 35 Rn. 19; kritisch Neumann, NK-StGB, § 35 Rn. 31. 138 Siehe auch Weigend, JICJ 10 (2012), 1219, 1235; Joyce, Leiden Journal of International Law 28 (2015), 623, 641.

Roboterprogrammierung im Dilemma Neue Verhaltensnormen für tödliche Notstandssituationen mit Unbeteiligten? Von Milan Kuhli

I. Einführung Mit dem geschätzten Jubilar verbinde ich unter anderem zwei Situationen, die mich nachhaltig beeindruckt haben. Zunächst hatte ich bei „meiner ersten“ Strafrechtslehrertagung (Hamburg 2009) die Gelegenheit, einen Vortrag von Reinhard Merkel zu hören – ein Referat, in dem er sich aus einer Grundlagenperspektive den strafrechtlichen Problemen sogenannter Neuroenhancements widmete.1 Einige Jahre später durfte ich an der juristischen Fakultät der Universität Hamburg den Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie vertreten – denjenigen Lehrstuhl also, den der verehrte Jubilar zuvor innehatte. Aus der Vertretungszeit erinnere ich mich noch gut daran, dass mir Reinhard Merkel stets unterstützend zur Seite stand. Es ist mir daher eine besondere Freude, mich mit einem Aufsatz an dieser Festgabe beteiligen zu dürfen. Ich unternehme dies mit einem Text, der einen Ansatz aufgreift, welcher dem oben genannten Hamburger Vortrag und anderen Werken aus Merkels umfangreichem Œuvre2 zugrunde liegt – die Betrachtung der rechtlichen Grundlagen neuartiger Entwicklungen und Erkenntnisse. Die Digitalisierung erfasst gegenwärtig nicht nur weite Bereiche unseres alltäglichen Lebens, sondern zeitigt möglicherweise auch fundamentale Auswirkungen auf das Recht selbst. Dies gilt allerdings weniger für den Umstand, dass nun neue Sachverhalte auftreten, die in rechtlicher Hinsicht regelungsbedürftig erscheinen. Ein solcher Aspekt stellt nämlich eine lediglich ubiquitäre Herausforderung dar, vor die die Rechtsordnung ständig und in vielen Bereichen steht.3 Stattdessen betrifft die eben ausgesprochene Überlegung die Frage, ob grundlegende Rechtsprinzipien 1 Zur schriftlichen Fassung: Merkel, Neuartige Eingriffe ins Gehirn. Verbesserung der mentalen condicio humana und strafrechtliche Grenzen, in: ZStW 121 (2009), S. 919 ff. 2 Genannt sei etwa nur Merkels im Jahre 2008 erschienenes Buch: Willensfreiheit und rechtliche Schuld. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung. 3 Vgl. etwa zum strafprozessualen Umgang mit technischen Entwicklungen: Schlegel, Normative Grenzen für internetbasierte Ermittlungsmethoden. Zugleich ein Beitrag zur Technikoffenheit strafprozessualer Ermächtigungsgrundlagen, 2019.

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im Zuge der Digitalisierung einen signifikanten Bedeutungswandel durchlaufen. Allerdings ist es evident, dass auch eine solche Frage im Format eines Aufsatzes kaum in angemessener Weise beantwortet werden kann und deshalb der nochmaligen Konkretisierung bedarf: In Bezug auf die Programmierung von Robotern soll daher im Folgenden unter anderem die strafrechtliche Tragfähigkeit der These diskutiert werden, wonach die Aktivitäten4 in Notstandssituationen nicht mehr von einer Entscheidung zwischen menschlichen Leben abhängen, sondern ausschließlich von einer reinen Risiko-Nutzen-Abwägung.5 Zugrunde gelegt wird dem Beitrag dabei folgender Beispielsfall: Ein selbstfahrendes (fahrerloses) Auto fährt auf einer Straße. Ein vor ihm fahrender Radfahrer, der ein Kind in einem Kindersitz transportiert, wird plötzlich bewusstlos und fällt mitsamt dem Kind vor das Auto. Der selbstfahrende Wagen könnte einen Zusammenstoß mit dem bewusstlosen Radfahrer und dem Kind nur durch ein Ausweichmanöver verhindern, durch das voraussichtlich ein auf dem Bürgersteig laufender Spaziergänger getötet würde. Würde das selbstfahrende Auto nicht ausweichen, so würde dies mit Sicherheit zum Tod des Bewusstlosen und des Kindes führen.

Es handelt sich hierbei um eine Notstandssituation, die einen voraussichtlich tödlichen Ausgang haben wird und in der ein Unbeteiligter (Spaziergänger) involviert ist und in der keiner der anwesenden Personen ein Pflichtwidrigkeitsvorwurf gemacht werden kann. Zugebenermaßen stellt dies nur eine von vielen denkbaren Konstellationen dar, die gegenwärtig in der Robotik diskutiert werden.6 Allerdings besteht das Ziel des vorliegenden Beitrags nicht in einer systematischen Durchdringung aller in Betracht kommenden Szenarien, sondern in der Diskussion grundsätzlicher Fragen, die den vorliegenden Einzelfall betreffen, gleichzeitig jedoch auch für andere Konstellationen Bedeutung haben dürften: Die erste – eben bereits angedeutete – Frage betrifft die Auswirkung der Digitalisierung auf den Rechtsmaßstab. Bezogen auf die hier interessierende Konstellation wird sich der Beitrag daher mit der in der Literatur7 anzutreffenden These auseinandersetzen, wonach der Einsatz von Robotern zur Änderung des Kontextes menschlicher Entscheidungen führt und deshalb eine grundle4

Ausgeblendet bleibt dabei die Frage, ob technisch überhaupt sichergestellt werden kann, dass Roboter alle maßgeblichen Parameter von Notstandssituationen erkennen (vgl. hierzu Hörnle/Wohlers, The Trolley Problem Reloaded. Wie sind autonome Fahrzeuge für Lebengegen-Leben Dilemmata zu programmieren?, in: GA 2018, S. 12 [22 f.]). 5 Vgl. zu einer solchen These aus moralphilosophischer Sicht: Hevelke/Nida-Rümelin, Selbstfahrende Autos und Trolley-Probleme: Zum Aufrechnen von Menschenleben im Falle unausweichlicher Unfälle, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 19 (2015), S. 5 (10 ff.). 6 Vgl. hierzu etwa Sander/Hollering, Strafrechtliche Verantwortlichkeit im Zusammenhang mit automatisiertem Fahren, in: NStZ 2017, S. 193 ff.; Hilgendorf, Dilemma-Probleme beim automatisierten Fahren. Ein Beitrag zum Problem des Verrechnungsverbots im Zeitalter der Digitalisierung, in: ZStW 130 (2018), S. 674 ff.; Hörnle/Wohlers, GA 2018, S. 12 ff.; Engländer, Das selbstfahrende Kraftfahrzeug und die Bewältigung dilemmatischer Situationen, in: ZIS 2016, S. 608 ff.; Weber, Dilemmasituationen beim autonomen Fahren, in: NZV 2016, S. 249 ff. 7 Vgl. hierzu (mit Unterschieden): Hevelke/Nida-Rümelin, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 19 (2015), S. 5 ff.; Hörnle/Wohlers, GA 2018, S. 12 (23).

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gend andere normative Einordnung notwendig macht. Zweitens, wenngleich mit dem eben genannten Aspekt durchaus zusammenhängend, geht es vorliegend darum, ob Roboter bei ihrer Tätigkeit Verhaltensnormen anwenden. Es wird diesem Beitrag also eine normentheoretische Betrachtung zugrunde gelegt. Die Beantwortung der angesprochenen Fragen verlangt im Folgenden zunächst einige Begriffsbestimmungen (Roboter, Notstandssituation mit Unbeteiligten und Verhaltensnorm – Abschnitt II.). Es folgen Überlegungen zu den Fragen, welche maßgeblichen Entscheidungen einem Robotereinsatz zugrunde liegen bzw. im Kontext mit einem Robotereinsatz getroffen werden (Abschnitt III.). Hieran anknüpfend ist der Blick sodann darauf zu richten, welche situativen Verhaltensnormen in der hier interessierenden Konstellation einschlägig sind (Abschnitt IV.). Toleriert man an dieser Stelle eine gewisse Vereinfachung, so lässt sich sagen, dass die hiermit angesprochene strafrechtliche Beurteilung gleichsam aus einer Criminal-Compliance-Perspektive vorgenommen wird: Es geht also nicht primär um die strafrechtliche Bewertung eines (tatsächlich stattfindenden oder fiktiven) Verhaltens, sondern um die Frage, welche strafrechtlichen Anforderungen an eine Roboterprogrammierung im Hinblick auf künftig möglicherweise eintretende Notstandssituationen zu stellen sind.8

II. Begriffsbestimmungen 1. Roboter Eine einheitliche Definition dessen, was unter einem Roboter zu verstehen ist, sucht man vergebens.9 Bereits im Duden werden mehrere Umschreibungen offeriert, zum einen als eine „(der menschlichen Gestalt nachgebildete) Apparatur, die bestimmte Funktionen eines Menschen ausführen kann“, zum anderen als ein „(mit Greifarmen ausgerüsteter) Automat, der ferngesteuert oder nach Sensorsignalen bzw. einprogrammierten Befehlsfolgen anstelle eines Menschen bestimmte mechanische Tätigkeiten verrichtet“.10 Allerdings ist für die Zwecke des vorliegenden Bei8 Vgl. zu einer solchen Perspektive auch Rotsch, der im „Wechsel des Blickwinkels – vom rückwärtsgewandten Blick eines traditionell-reaktiven Strafrechts hin zum vorwärtsgewandten eines im Schwerpunkt modern-präventiven Steuerungssystems – […] ein Wesensmerkmal […] von Criminal Compliance“ sieht (Rotsch, Criminal Compliance, in: Achenbach u. a., Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl., 2019, Teil 1 Kap. 4 Rn. 10 [im Original mit Hervorhebungen]); vgl. in Bezug auf das automatisierte Fahren auch Hörnle/Wohlers, GA 2018, S. 12 (22); Hilgendorf, ZStW 130 (2018), S. 674 (689); vgl. überdies zur Zukunftsgerichtetheit von Verhaltensnormen: Haffke, Die Bedeutung der Differenz von Verhaltens- und Sanktionsnorm für die strafrechtliche Zurechnung, in: Schünemann u. a., Bausteine des europäischen Strafrechts. Coimbra-Symposium für Claus Roxin, 1995, S. 89 (92). 9 Vgl. hierzu auch Beck, Grundlegende Fragen zum rechtlichen Umgang mit der Robotik, in: JR 2009, S. 225 (226). 10 Abrufbar unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/Roboter (abgerufen am 2. September 2019).

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trags auch keine exakte Klassifikation notwendig. Stattdessen dürfte es ausreichen, folgende Umstände und Aspekte zu nennen, die durchaus charakteristisch für bestimmte Roboter sein dürften: - Es handelt sich ausschließlich11 um ein Gerät, eine Maschine oder eine Software. - Es führt eine anspruchsvolle Tätigkeit durch. - Es führt die betreffende Tätigkeit aus, ohne dass im näheren zeitlichen Kontext12 ein unmittelbarer aktiver13 menschlicher Eingriff erfolgt. Eine weitere Konkretisierung des Untersuchungsgegenstandes ergibt sich daraus, dass es in diesem Beitrag nur auf solche Roboter ankommt, die voraussichtlich (oder zumindest möglicherweise) in Notstandssituationen geraten können. Gleichwohl ist es evident, dass die in Betracht kommenden Maschinen vielfältig sind: Man denke etwa nur an Pflegeroboter im Haushalt, Schweißroboter in der Industrie oder an Transportdrohnen im Flugverkehr. Soweit bei einem weiteren wichtigen Beispiel – den selbstfahrenden Autos – vom Start bis zum Ziel kein menschlicher Fahrer erforderlich ist, sind auch die Termini des fahrerlosen Fahrens14 bzw. des autonomen Fahrens15 gebräuchlich. Verwendung findet der Begriff der Autonomie in der Literatur auch in Bezug auf sonstige Geräte, die vorliegend als Roboter klassifiziert werden.16 Ein solcher Terminus der Autonomie ist im vorliegenden Kontext dann unproblematisch, wenn er nicht im Sinne eines Kantischen Autonomieverständnisses („Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein“17) verstanden wird. Die Übertragbarkeit eines solchen Autonomieverständnisses auf Roboter lässt sich nämlich bereits aus technischen Gründen infrage 11

Ausgeblendet werden damit Mensch-Maschine-Verbindungen (vgl. hierzu Beck, JR 2009, S. 225 [228 f.]). 12 Ein ferngesteuertes Modellflugzeug würde damit nicht unter dieser Gruppe fallen, da der Mensch hier über die Fernsteuerung unmittelbaren Einfluss auf das Flugverhalten nimmt. Hieraus ergibt sich auch eine Abweichung zur oben zitierten zweiten Dudendefinition. Allerdings spricht letztlich auch nichts dagegen, ferngesteuerte Geräte in bestimmten Kontexten unter den Roboterbegriff zu fassen. 13 Eine bloße Überwachung durch einen Menschen schadet daher grundsätzlich nicht. Allerdings werden die Fälle einer Echtzeitüberwachung an späterer Stelle dieses Beitrags ausgeblendet. 14 Ethikkommission „Automatisiertes und Vernetztes Fahren“ (eingesetzt durch den Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur), Bericht Juni 2017, S. 14 (abrufbar unter: https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Publikationen/DG/bericht-der-ethik-kommission.pdf?__ blob=publicationFile [abgerufen am 12. November 2018]). 15 Lin, Why Ethics Matters for Autonomous Cars, in: Maurer u. a., Autonomous Driving. Technical, Legal and Social Aspects, 2016, S. 69 ff.; Feldle, Notstandsalgorithmen. Dilemmata im automatisierten Straßenverkehr, 2018, S. 44. 16 Vgl. etwa Beck, Google-Cars, Software-Agents, Autonome Waffensysteme – neue Herausforderungen für das Strafrecht?, in: dies. u. a., Cybercrime und Cyberinvestigations, 2015, S. 9 ff.; Hilgendorf, ZStW 130 (2018), S. 674 (676). 17 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (text- und seitenidentisch mit Werkausgabe Bd. VII), 8. Aufl., 2014, S. 81.

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stellen.18 Sie erscheint aber auch deshalb zweifelhaft, da die entscheidende Frage der menschlichen Verantwortlichkeit für maschinelles Handeln letztlich gerade davon abhängt, ob bzw. zu welchem Grad die betreffende Maschine eigenständig agiert. Die Verwendung des Autonomiebegriffs darf hier also nicht zu einem vorschnellen Urteil verleiten. Es bietet sich daher an, in Anknüpfung an Hilgendorf ein technisches Autonomieverständnis zugrunde zu legen: Danach gilt ein technisches System dann als autonom, wenn es „auf Probleme unabhängig von menschlichem Input situationsangemessen und in diesem Sinne ,intelligent‘ reagieren kann“.19 Nach hiesigem Verständnis impliziert dies allerdings nur, dass der betreffende Roboter nicht auf unmittelbare menschliche Kommandos angewiesen ist. Hingegen ist es nicht ausgeschlossen, dass es irgendwelche menschlichen Vorgaben (in Form einer Programmierung etc.) geben kann. Dementsprechend sieht Maurer das Charakteristikum autonomer Fahrzeuge in einer Selbstbestimmung, die im Rahmen eines von Menschen vorgegebenen Gesetzes stattfindet.20 Ein so verstandener Begriff der technischen Autonomie ist letztlich indifferent im Hinblick auf die Frage der menschlichen Verantwortlichkeit für maschinelles Handeln – eine Frage, die hier noch näher zu beleuchten sein wird. 2. Notstandssituation mit Unbeteiligten Eine strafrechtlich relevante Notstandssituation besteht bekanntlich in einer Konstellation gegenwärtiger Gefahr für rechtlich geschützte Interessen, die nur durch eine tatbestandsmäßige Verletzung oder Gefährdung anderer rechtlich geschützter Interessen abgewendet werden kann.21 Im Zusammenhang mit dem Einsatz von Robotern dürften allgemein vor allem solche Notstandssituationen von Relevanz sein, in denen eine Gefahr für Leib, Leben und Eigentum besteht. Nach dem eingangs Gesagten wird der Blick dabei vorliegend auf solche Konstellationen gerichtet, in denen der Täter einen Unbeteiligten schädigt, um die Gefahr von einem Dritten abzuwenden. Unter einem Unbeteiligten i. d. S. werden hier solche Personen verstanden, die drei kumulative Voraussetzungen erfüllen: Erstens haben sie die Notstandssituation nicht selbst pflichtwidrig herbeigeführt,22 zweitens handeln sie auch im Übrigen 18

Vgl. etwa Feldle (Fn. 15), S. 47 f. Hilgendorf, ZStW 130 (2018), S. 674 (675); vgl. in dieser Hinsicht auch Lenzen, Künstliche Intelligenz. Was sie kann & was uns erwartet, 2018, S. 124. 20 Maurer, Einleitung, in: ders. u. a., Autonomes Fahren. Technische, rechtliche und gesellschaftliche Aspekte, 2015, S. 1 (3 f.), unter Bezugnahme auf die Rezeption des Kantischen Autonomieverständnisses bei Feil, Antithetik neuzeitlicher Vernunft. „Autonomie – Heteronomie“ und „rational – irrational“, 1987. 21 Nach Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., 2019, Vor §§ 32 ff. Rn. 67 (m.w.N.). 22 Hörnle und Wohlers nennen als Beispiel für die (hier ausgeblendete) Konstellation der pflichtwidrigen Herbeiführung folgenden Fall eines menschlichen Fahrers: „O hat eine andere Person auf die Straße gestoßen, das Ausweichmanöver des Fahrers tötet O“ (Hörnle/Wohlers, GA 2018, S. 12 [16]; vgl. zu dieser und anderen Fallkonstellationen: ebd., S. 12 [16]). 19

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nicht rechtswidrig,23 drittens bestand für sie bis zur Vornahme der Notstandshandlung keine aus der Notstandssituation resultierende konkrete Gefahr.24 Im jüngeren Schrifttum werden entsprechende und ähnliche Konstellationen auch unter dem Terminus der Dilemmata oder Dilemma-Situationen diskutiert.25 3. Verhaltensnorm Nach hiesigem Verständnis bestehen strafrechtlich relevante Verhaltensnormen in solchen rechtlichen Geboten oder Verboten, deren Verletzung gemäß einer Sanktionsnorm mit Strafe bedroht ist. Dem liegt ein normentheoretisches Verständnis zugrunde, das zwischen Sanktionsnormen und Verhaltensnormen im Strafrecht differenziert.26 Letztere haben etwa den Inhalt „Du sollst nicht töten!“ oder „Verursache nicht die Verletzung eines anderen Menschen!“ Sie sind an den potenziellen Täter gerichtet, wohingegen Sanktionsnormen (z. B. die Bestrafungsanordnung gemäß § 212 Abs. 1 StGB) spezifische Verhaltensnormen27 darstellen, die vom zuständigen Justizorgan umzusetzen sind.28 Die Strafbarkeit eines Verhaltens setzt demnach einen Verstoß gegen eine Verhaltensnorm voraus,29 an den durch eine Sanktionsnorm eine Strafe geknüpft wird.30 Diese Unterscheidung zwischen beiden Normtypen ändert aber nichts daran, dass sich der Inhalt einer Verhaltensnorm durchaus auch aus der entsprechenden Sanktionsnorm ableiten lässt.31 Die hier skizzierten normentheoretischen Erwägungen folgen aus der Überlegung, dass strafbares Verhalten rechtlich verboten ist.32 Zu betonen ist in diesem Kontext allerdings, dass die Strafwürdigkeit eines Verhaltens nicht aus einem reinen Ge23 Man denke etwa an eine Notstandshandlung zum Schaden eines Motorradfahrers, der keinen Helm trägt und hierdurch diejenige Verhaltensnorm verletzt, die der Regelung nach § 21a Abs. 2 StVO zugrunde liegt (vgl. zu entsprechenden Konstellationen etwa Feldle [Fn. 15], S. 167 ff.). 24 Damit bleiben hier die Fälle einer sogenannten symmetrischen Gefahrenlage ausgeblendet, in denen mehrere Personen gleichzeitig gefährdet sind und in denen die Beteiligten entweder alternativ oder kumulativ geschädigt werden müssen (vgl. hierzu Hilgendorf, ZStW 130 [2018], S. 674 [695 f.]). 25 Hilgendorf, ZStW 130 (2018), S. 674 ff.; Engländer, ZIS 2016, S. 608 ff.; Feldle (Fn. 15); Hevelke/Nida-Rümelin, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 19 (2015), S. 5 (8). 26 Vgl. hierzu Ast, Normentheorie und Strafrechtsdogmatik, 2010, S. 10 (m.w.N.). 27 Kindhäuser, Strafrecht AT, 8. Aufl., 2017, § 2 Rn. 4. 28 Renzikowski, in: Matt/Renzikowski, StGB, 1. Aufl., 2013, Einl. Rn. 3. 29 Schneider/Wagner, Vorwort, in: Schneider u. a., Normentheorie und Strafrecht, 2018, S. 5. 30 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Freund, Strafrecht AT. Personale Straftatlehre, 2. Aufl., 2009, § 1 Rn. 12. 31 Vgl. zur Ableitbarkeit: Ast, Die normentheoretische Analyse des Betrugs, in: Schneider u. a., Normentheorie und Strafrecht, 2018, S. 201. 32 Ast (Fn. 31), S. 201.

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horsamspflichtverstoß resultieren darf,33 sondern einzig aus dem Umstand, dass eine Person ein legitimes Rechtsgut verletzt hat.34 Ein normentheoretisches Verständnis darf also nichts daran ändern, dass der Inhalt der betreffenden Verhaltens- und Sanktionsnormen stets hinterfragbar bleiben muss.35 Unter Zugrundelegung dieses Verständnisses impliziert die hier interessierende Frage, welche Verhaltensnormen für die Programmierung von Robotern einschlägig sind, unter anderem die Frage, welche Programmierungen nicht rechtlich verboten sind. Nach dem eingangs Gesagten können beim Robotereinsatz vor allem solche Notstandssituationen entstehen, in denen Gefahren für Leib, Leben und Eigentum eintreten – Rechtsgüter also, in Bezug auf deren Verletzung Sanktionsnormen bestehen (u. a. §§ 212, 223, 303 StGB). Unabhängig von der (im Einzelnen umstrittenen) Frage der konkreten Ausgestaltung der zugrunde liegenden Verhaltensnormen36 ist hier davon auszugehen, dass sich die Anforderungen an die betreffende Roboterprogrammierung vor allem nach der Frage der objektiven Zurechnung eines hypothetischen tatbestandlichen Erfolges und nach der Einschlägigkeit von Rechtfertigungsgründen richtet. Unter der Annahme nämlich, dass die Aussage „Verursache nicht die Verletzung eines anderen Menschen!“ einen normativen Gehalt aufweist, hängt das Vorliegen eines Verstoßes gegen diese Norm nicht nur vom entsprechenden Erfolgseintritt und von der Kausalität ab, sondern grundsätzlich auch von der Frage, ob bestimmte Handlungsnormen eingehalten wurden.37 Eine Roboterprogrammierung hat demnach grundsätzlich so zu erfolgen, dass die betreffende Maschine in Notstandssituationen in einer Weise agiert, die

33 Vgl. zu dieser Erwägung bereits: Kuhli, Vorsatz und Rechtsverweisung. Zur Bedeutung der Normentheorie bei Blankettelementen und rechtsverweisenden normativen Merkmalen, in: Schneider u. a., Normentheorie und Strafrecht, 2018, S. 119 (120); vgl. in diese Zusammenhang auch Freund (Fn. 30), § 1 Rn. 11: „Nur eine legitimierbare Verhaltensnorm kann übertreten werden“ (im Original mit Hervorhebungen). 34 Vgl. Kindhäuser (Fn. 27), § 2 Rn. 5 f.; vgl. auch zu einer Einordnung des Begriffs der Verhaltensnorm in eine personenbezogene materielle Rechtslehre: Zaczyk, Kritische Bemerkungen zum Begriff der Verhaltensnorm, in: GA 2014, S. 73 ff. 35 Demgegenüber ist etwa Bindings Normbegriff rein formal, die Frage einer inhaltlichen Legitimität wird als zwecklos verworfen. Es sei schlicht sinnlos zu fragen, ob eine Norm auch vernünftig oder gerecht sei, da diese Frage niemals eindeutig beantwortet werden könne (Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 2: Schuld und Vorsatz, Hälfte 1, 2. Aufl., 1914 [Neudr. 1965], S. 156, 159). So schreibt Binding: „[H]inter Verbot und Gebot beginnt aber für den, der nach der Rechtswidrigkeit sucht, tiefster undurchdringlicher Nebel“ (ebd., S. 160 f.). Die eigentliche Bedeutung einer Norm bestehe gerade darin, jeglichen Dissens über die Zulässigkeit menschlichen Verhaltens zu unterbinden (ebd., S. 157 – 159). 36 Vgl. hierzu die Darstellung bei Ast (Fn. 31), S. 201 (202) (m.w.N.). 37 Diese Überlegung knüpft an einzelne Erwägungen aus Asts normentheoretischer Interpretation an (Ast [Fn. 26], S. 56 ff., 60 ff.); vgl. darüber hinaus aber auch zum terminologischen Unterschied zwischen Asts normentheoretischer Sichtweise und der strafrechtsdogmatischen Lehre der objektiven Zurechnung: Ast (Fn. 26), S. 69.

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nicht in einem tatbestandlichen Erfolg resultiert, der rechtswidrig ist und dem Programmierer38 objektiv zurechenbar ist. Demgegenüber können andere Strafbarkeitsvoraussetzungen im Folgenden weitgehend ausgeblendet bleiben. Dies gilt etwa für den Bereich des Vorsatzes, und zwar unabhängig von der Frage, ob man das Vorsatzerfordernis überhaupt als Bestandteil einzelner Verhaltensnormen ansieht. Selbst wenn man dies nämlich bejaht, spricht im hier interessierenden Fall einiges dafür, dass das Vorliegen des Vorsatzes eines Programmierers nach gängigen Grundsätzen zu beurteilen wäre.39 Entsprechendes gilt für die Frage der Tatbeteiligung.40 Auch Entschuldigungsgründe, deren Eingreifen lediglich zu einer Herabsetzung des Schuldgehalts der Tat führt,41 müssen hier nicht näher betrachtet werden: Da der Täter bei Eingreifen eines solchen Entschuldigungsgrundes (z. B. demjenigen des entschuldigenden Notstands42 gemäß § 35 StGB43) normativ noch ansprechbar ist,44 bleibt er durchaus ein tauglicher Adressat strafrechtlich relevanter Verhaltensnormen.45 Ebenfalls außer Betracht bleiben hier Schuldausschließungsgründe: Die Frage, inwieweit Verhaltensnormen auch gegenüber schuldlos handelnden Personen gelten, ist zwar äußerst umstritten,46 muss an dieser Stelle allerdings nicht weiter vertieft werden. Im Rahmen der Programmierung von Robotern dürften jedenfalls die Schuldausschließungsgründe47 der Schuld38 Aus Gründen der Vereinfachung wird hier und im Folgenden von einem einzelnen Programmierer ausgegangen, wohingegen es sich in der Praxis häufig um ganze Teams handeln dürfte, die spezifische Herstellervorgaben umzusetzen haben. 39 Vgl. in diesem Kontext etwa Sander/Hollering, NStZ 2017, S. 193 (202). 40 Wird ein Roboter in Verkehr gebracht, ohne dass sein weiterer Einsatz im Einzelnen kontrolliert wird, und kommt es zu einer programmierungsbedingten Schädigung durch den Roboter, so besteht die unmittelbare Tathandlung (§ 25 Abs. 1 S. 1 StGB) in der Aktivierung des programmierten Roboters. 41 Vgl. Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts AT, 5. Aufl., 1996, S. 477. 42 Vgl. zur Einordnung als Entschuldigungsgrund: Müssig, in: MüKo-StGB, Band 1, 3. Aufl., 2017, § 35 Rn. 1; Jescheck/Weigend (Fn. 41), S. 480. 43 Losgelöst hiervon ist aber auch fraglich, ob der von § 35 StGB geforderte persönliche Gefahrbezug bei einem Programmierer oder Roboterhersteller in einer signifikanten Anzahl von Fällen gegeben sein wird (vgl. in diesem Kontext aber auch den Ansatz von Feldle [Fn. 15], S. 95 ff.). 44 Vgl. im Hinblick auf die praktische Relevanz von § 35 StGB: Roxin, Strafrecht AT 1, 4. Aufl., 2006, § 22 Rn. 4. 45 Vgl. zu Letzterem: Freund (Fn. 30), § 4 Rn. 26. 46 Gegen die Möglichkeit schuldloser Verhaltensnormverstöße im Bereich des Strafrechts: Rostalski, Zur objektiven Unmöglichkeit schuldlosen Verhaltensunrechts im Strafrecht, in: Schneider u. a., Normentheorie und Strafrecht, 2018, S. 105 ff. (m.w.N.); Freund (Fn. 30), § 4 Rn. 25; a.A. Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht, 2014, S. 407; Greco, Wider die jüngere Relativierung der Unterscheidung von Unrecht und Schuld, in: GA 2009, S. 636 (645); vgl. zu dieser Frage auch Kuhli, Unrecht und Schuld bei Binding, in: Kubiciel u. a., „Eine gewaltige Erscheinung des positiven Rechts“. Karl Bindings Normen- und Strafrechtstheorie (i. E.). 47 Vgl. zu dieser Einordnung: Jescheck/Weigend (Fn. 41), S. 476.

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unfähigkeit (§§ 19, 20 StGB) und des unvermeidbaren Verbotsirrtums (§ 17 S. 1 StGB) keine Besonderheiten aufweisen.

III. Rechtsgutsrelevante Entscheidungen Es ist evident, dass es sowohl generelle als auch situative Verhaltensnormen geben kann.48 Beispielsweise lassen sich aus der generellen Norm „Verursache nicht den Tod eines anderen Menschen!“ konkrete Handlungsverbote und Handlungsgebote ableiten,49 deren Ausgestaltung sich nach bestimmten Lebenssituationen (z. B. dem Autofahren oder dem Skilaufen) richtet. Eine solche Situationsabhängigkeit entfaltet auch für die vorliegende Untersuchung Relevanz: Ehe nämlich die Frage zu beleuchten ist, welche strafrechtlichen Anforderungen an eine Roboterprogrammierung für Notstandssituationen zu stellen sind (Abschnitt IV.), muss zunächst bestimmt werden, in welchem Kontext überhaupt rechtsgutsrelevante Entscheidungen beim Robotereinsatz getroffen werden. Dabei wird der Begriff der rechtsgutsrelevanten Entscheidung nicht nur auf Menschen beschränkt, sondern soll auch Reaktionen und Urteile von Robotern bzw. Computern umfassen.50 1. Entscheidungsbegriff Der hier zugrunde gelegte weite Entscheidungsbegriff ändert nichts daran, dass vorliegend ausschließlich die Frage der Strafbarkeit eines Menschen beleuchtet werden soll. Zugleich verhält sich der Terminus der Entscheidung aber auch indifferent zu dieser Frage. Er ist nämlich unabhängig von einer möglichen Determination des betreffenden Roboters. Der Begriff der Entscheidung ist bezüglich der hier interessierenden Maschinen daher insbesondere auch dann adäquat, wenn man von der Annahme ausgeht, dass sie in Notstandssituationen nicht losgelöst von menschlichen Vorgaben agieren. Die in der Wissenschaft umstrittene Frage, ob Roboter zumindest in Zukunft einen Verstand haben können,51 kann vorliegend ausgeblendet werden, da 48

Vgl. in diesem Kontext Ast (Fn. 26), S. 20; vgl. überdies ebd., S. 16 ff., in Bezug auf sonstige Unterscheidungen von Normarten. 49 Vgl. zur teleologischen Deduktion eines Handlungsverbotes aus einem Verursachungsverbot: Ast (Fn. 26), S. 16. 50 Vgl. auch Hilgendorf, der im Hinblick auf autonome Systeme von „Entscheidungen“ spricht (Hilgendorf, ZStW 130 [2018], S. 674 [680]); demgegenüber gehen Hevelke und Nida-Rümelin in Bezug auf autonome Fahrzeuge davon aus, dass „in der eigentlichen Situation unmittelbar vor dem Unfall keine Entscheidungen mehr getroffen werden können. Die eigentliche Entscheidung über das Verhalten eines autonomen Autos wird getroffen, wenn über seine Programmierung entschieden wird“ (Hevelke/Nida-Rümelin, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 19 [2015], S. 5 [8]). 51 Kaplan fasst diesen Streit „unter dem Gesichtspunkt der starken und der schwachen KI [Künstlichen Intelligenz, M.K.] zusammen. Kurz gesagt postuliert die starke KI, dass Maschinen über einen Verstand verfügen oder zumindest verfügen werden, wohingegen die

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es jedenfalls überzeugende Gründe dafür gibt, dass die hier interessierenden Maschinen, die in Notstandssituationen geraten können, keinesfalls einen eigenen Verstand haben sollten. Die generelle Verhaltensnorm „Du sollst nicht töten!“ lässt sich nämlich mit guten Gründen in eine Norm folgenden Inhalts konkretisieren: „Bringe keinen Roboter in Verkehr, der Menschen töten kann und dessen Aktivität Du nicht determinieren kannst!“ Der Einsatz einer solchen Maschine im Alltag wäre nämlich aufgrund der damit verbundenen Unvorhersehbarkeit äußerst riskant – eine Problematik, die letztlich bei der Frage der Zulassung solcher Roboter52 bzw. bei der Begründung entsprechender Überwachungspflichten Berücksichtigung finden müsste. Aus diesem Grund kann im Folgenden der Blick allein auf solche Roboter gerichtet werden, deren Aktivitäten durch Menschen determiniert sind. Eine solche Determination kann etwa durch die Programmierung erfolgen, ist aber auch in Form einer Überwachung möglich. Allerdings dürften sich im Hinblick auf eine in Echtzeit stattfindende Überwachung eines Roboters in strafrechtlicher Hinsicht keine substanziellen Besonderheiten im Vergleich zu anderen Überwachungspflichten ergeben. Aus diesem Grund werden im Folgenden nur solche Roboter betrachtet, die ohne menschliche Überwacher tätig sind.53 2. Entscheidungen im Beispielsfall Zur Betrachtung der Frage, welche rechtsgutsrelevanten Entscheidungen bei einem Robotereinsatz erfolgen, sei an den eingangs genannten Beispielsfall54 angeknüpft: Man stelle sich vor, dass das selbstfahrende Auto in diesem Fall zur Verhinderung des Unfalls mit zwei Menschen ein Ausweichmanöver durchführt und hierdurch den Tod eines anderen Menschen verursacht. a) Programmierung Im eben genannten Fall folgt das schädigende Ausweichmanöver letztlich daraus, dass das selbstfahrende Auto in Verkehr gebracht wurde, nachdem es zuvor in ent-

schwache KI behauptet, dass Maschinen echte Intelligenz lediglich simulieren […]“ (Kaplan, Künstliche Intelligenz. Übers. v. Lenz, 2017, S. 82 f.). 52 Vgl. auch im Hinblick auf lernfähige Maschinen, deren Lernvorgang nicht überwacht wird: Hilgendorf, ZStW 130 (2018), S. 674 (680 f.). 53 Aus dem Bereich der selbstfahrenden Autos werden daher vorliegend nur diejenigen betrachtet, die nach der Klassifikation der vom Bundesverkehrsministerium eingesetzten Ethikkommission „Automatisiertes und Vernetztes Fahren“ den höchsten Automatisierungsgrad des automatisierten Fahrens aufweisen (vgl. hierzu den Kommissionsbericht [Fn. 14], S. 14). 54 In Kurzform lautet der Sachverhalt wie folgt: Ein selbstfahrendes Auto könnte einen tödlichen Zusammenstoß mit zwei Menschen nur durch ein Ausweichmanöver verhindern, durch welches ein anderer Mensch getötet würde. Keiner der drei Menschen handelt pflichtwidrig.

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sprechender Weise programmiert wurde.55 In der Regel erfolgt die Programmierung eines solchen Roboters durch die Erstellung eines in Computersprache gefassten Algorithmus, der Handlungsanweisungen zur Lösung bestimmter Probleme enthält.56 Beim maschinellen Lernen wiederum wird einem Computer die Fähigkeit vermittelt, anhand eines großen Datensatzes bestimmte Muster und Regelmäßigkeiten zu erkennen, um mithilfe dieser Erkenntnis neue Daten selbständig einzuordnen.57 So kann etwa der Computer eines selbstfahrenden Autos anhand einer großen Anzahl von Ampelfotos lernen, neue Ampeln selbständig zu erkennen. Die Programmierung eines Roboters steht in Beziehung zu anderen Entscheidungen bzw. Normen: Einerseits zeichnen sich die hier relevanten Roboter dadurch aus, dass ihre Aktivität durch die Programmierung determiniert wird. Andererseits lässt sich eine Programmierung aber noch in Bezug zu strafrechtlich relevanten Verhaltensnormen setzen: Der Mensch, der die Programmierung vornimmt, setzt sich durch sein Verhalten in Relation zu einschlägigen Verhaltensnormen. Losgelöst von der Frage, ob er Normkenntnis hat, legt er nämlich ein Verhalten an den Tag, dass entweder normwidrig oder normkonform ist. Soweit ein Programmierer im Einklang mit einschlägigen Verhaltensnormen agieren will, steht er also vor einer doppelten Aufgabe: Er muss zunächst Verhaltensnormen konkretisieren und sodann die hieraus entstehenden einzelfallbezogenen Anweisungen in Computersprache fassen. b) Situative Entscheidung Bei Robotern erfolgen rechtsgutsrelevante Entscheidungen aber nicht nur in Form der Programmierung, sondern auch während des Einsatzes, etwa in einer konkreten Verletzungs- oder Gefährdungssituation. Sobald ein Roboter (z. B. durch seine Sensoren) erfasst, dass eine bestimmte Situation gegeben ist, für welche eine Handlungsanweisung in Form eines Algorithmus58 besteht, wird er in entsprechender Weise tätig.59 Die maßgebliche Entscheidung des Roboters (für bzw. gegen eine bestimmte Aktivität) besteht dabei in der Zuordnung der festgestellten Situationsdaten zu dem betreffenden Algorithmus. Eine solche situative Entscheidung mag im konkreten Fall dazu führen, dass kein straftatbestandlicher Erfolgt eintritt. Gleichwohl bedeutet dies nicht, dass der Roboter hierdurch eine Verhaltensnorm anwendet. Die jeweilige Norm – etwa die dem Totschlagstatbestand (§ 212 StGB) zugrunde liegende Verhaltensnorm – richtet sich an Menschen, nicht an Maschinen.60 Soweit in der Literatur 55

So auch Hevelke/Nida-Rümelin, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 19 (2015), S. 5 (8). Vgl. zum Programm: Lenzen (Fn. 19), S. 43. 57 Vgl. Alpaydin, Maschinelles Lernen. Übers. v. Linke, 2008, S. 1 – 3; Kaplan (Fn. 51), S. 44; Lenzen (Fn. 19), S. 50. 58 Vgl. Lenzen (Fn. 19), S. 43. 59 Vgl. Weigend, Notstandsrecht für selbstfahrende Autos?, in: ZIS 2017, S. 599 (602). 60 Selbst wenn es roboteradressierte Verhaltensnormen gäbe, könnten Maschinen diese Normen nur dann in menschengemäßer Weise anwenden, wenn sie in der Lage wären, einen internen Standpunkt einzunehmen (vgl. zum internen Standpunkt innerhalb der Normanwen56

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die Roboterprogrammierung mit der Setzung einer allgemeinen Sollregel gleichgesetzt wird,61 kann dem hier also nur in einem technischen Sinne gefolgt werden: Unter Zugrundelegung eines solchen Verständnisses setzt der Programmierer eine Wenn-Dann-Regel, mithin keine Rechtsnorm.62 In der Konsequenz wird der Roboter also bei der Anwendung der Regel nicht prüfen, ob diese im Einzelfall angemessen ist.63 Eine solche Prüfung erfolgt ausschließlich in der Programmierung. 3. Zwischenergebnis Die eigentliche Anwendung der strafrechtlich relevanten Verhaltensnorm erfolgt nur durch die Programmierung. Darüber hinaus ist sie aber auch insoweit Regelsetzung,64 als sie eine Wenn-Dann-Regel in Form eines Algorithmus begründet. Der Roboter folgt lediglich dieser Wenn-Dann-Regel, betreibt aber keine Anwendung einer strafrechtlich relevanten Verhaltensnorm.

IV. Neue Verhaltensnormen? Was folgt aus dem bisher Gesagten im Hinblick auf die Frage, welche Verhaltensnormen für die hier interessierende Roboterprogrammierung einschlägig sind? Es steht fest, dass es hinsichtlich der situativen Verhaltensnorm jedenfalls auf die Situation ankommt, in welcher der Programmierer entscheidet. Damit ist aber noch nicht gesagt, ob bzw. inwieweit er hierbei auch diejenige Situation zu berücksichtigen hat, in welcher der Roboter im späteren Zeitpunkt agieren wird. Zur Beantwortung dieser Frage sei wiederum an den eingangs genannten Beispielsfall65 angeknüpft. Blendet man an dieser Stelle die Frage der Entscheidungssituation kurz aus, so wird deutlich, dass der Beispielsfall starke Ähnlichkeiten mit einer Konstellation aufweist, die seit langem in der Strafrechtsdogmatik diskutiert wird – dem sogenannten Weichensteldung: Kuhli/Günther, Judicial Lawmaking, Discourse Theory, and the ICTY on Belligerent Reprisals, in: v. Bogdandy/Venske, International Judicial Lawmaking. On Public Authority and Democratic Legitimation in Global Governance, 2012, S. 365 [382]); vgl. darüber hinaus in diesem Kontext auch Schuhr, Neudefinition tradierter Begriffe (Pseudo-Zurechnungen an Roboter), in: Hilgendorf, Robotik im Kontext von Recht und Moral, 2014, S. 13 [18 f.]). 61 So in Bezug auf selbstfahrende Autos: Engländer, ZIS 2016, S. 608 (613). 62 Vgl. auch Schuhr (Fn. 60), S. 13 (18 f.), dem zufolge die Annahme, dass sich ein selbstfahrender Lkw an Verkehrsregeln halten soll, sinnlos ist. 63 Vgl. zur Berücksichtigungsfähigkeit der Angemessenheit im Normanwendungsdiskurs: Günther, Ein normativer Begriff der Kohärenz. Für eine Theorie der juristischen Argumentation, in: Rechtstheorie 20 (1989), S. 163 (168 ff.). 64 Vgl. insoweit auch Engländer, ZIS 2016, S. 608 (613). 65 In Kurzform lautet der Sachverhalt wie folgt: Ein selbstfahrendes Auto könnte einen tödlichen Zusammenstoß mit zwei Menschen nur durch ein Ausweichmanöver verhindern, durch welches ein anderer Mensch getötet würde. Keiner der drei Menschen handelt pflichtwidrig.

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lerfall. Aus diesem Grund wird der Blick im Folgenden zunächst auf die normative Behandlung dieses Falles gerichtet, ehe der Frage nachzugehen ist, ob die spezifische Entscheidungssituation bei der Roboterprogrammierung eine abweichende rechtliche Behandlung verlangt. 1. Weichenstellerfall als Bezugspunkt Der Weichenstellerfall wurde bereits 1930 von Engisch diskutiert.66 In den 1950er Jahren umschreibt Welzel den Sachverhalt wie folgt: „Auf einer steilen Gebirgsstrecke hat sich ein Güterwagen gelöst und saust mit voller Wucht ins Tal auf einen kleinen Bahnhof zu, auf dem gerade ein Personenzug steht. Würde der Güterwagen auf dem bisherigen Gleise weiterrasen, so würde er auf den Personenzug stoßen und eine große Anzahl von Menschen töten. Ein Bahnbeamter, der das Unheil kommen sieht, reißt in letzter Minute die Weiche um, die den Güterwagen auf das einzige Nebengleis lenkt, auf dem gerade einige Arbeiter einen Güterwagen entladen. Durch den Anprall werden, wie der Beamte voraussah, drei Arbeiter getötet.“67

Ein Konsequentialist, dem zufolge die Frage der moralischen Richtigkeit einer Handlung von der Qualität ihrer Folgen abhängt,68 würde das Verstellen der Weiche möglicherweise damit rechtfertigen, dass hierdurch eine größere Anzahl von Personen gerettet wird.69 Allerdings ließen sich im Rahmen dieser Bewertung auch andere gesellschaftliche Folgen berücksichtigen, die durchaus zu einer abweichenden konsequentialistischen Einschätzung führen könnten: Stellt man etwa mit Hilgendorf auf die Folgen ab, die „die faktische Opferung Unschuldiger (oder gar eine entsprechende Normierung!) auf die Gesellschafts- und Rechtsordnung im Ganzen hätte“,70 so können an der Richtigkeit des Verstellens der Weiche tatsächlich Zweifel bestehen. Merkel legt dies in einem anderen Kontext pointiert dar: „Welcher Utilitarist würde denn in einer Welt leben wollen, in der er jederzeit gegen seinen Willen als Organspender für fünf andere zwangsgeschlachtet werden dürfte?“71 Argumentiert man im Weichenstellerfall hingegen von vornherein non-konsequentialistisch, so könnte 66 Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1930 (Neudr. 1964), S. 288. 67 Welzel, Zum Notstandsproblem, in: ZStW 63 (1951), S. 47 (51). 68 Vgl. zu dieser Umschreibung und zu den unterschiedlichen Ausprägungen des Konsequenzialismus: Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, 3. Aufl., 2013, S. 173 ff. 69 Vgl. Lin (Fn. 15), S. 69 (78). 70 Hilgendorf, ZStW 130 (2018), S. 674 (686); vgl. auch zu den gesellschaftlichen Folgewirkungen im hypothetischen Fall einer Lebensrettung durch Organentnahme bei einem anderen Menschen: Hörnle, Töten, um viele Leben zu retten. Schwierige Notstandsfälle aus moralphilosophischer und strafrechtlicher Sicht, in: Putzke u. a., Strafrecht zwischen System und Telos, FS Herzberg, S. 555 (559). 71 Merkel, Das Elend der Beschützten. Rechtsethische Grundlagen und Grenzen der sog. humanitären Intervention und die Verwerflichkeit der NATO-Aktion im Kosovo-Krieg, in: ders., Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, 2000, S. 66 (91); vgl. hierzu auch Feldle (Fn. 15), S. 136.

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man das Verstellen der Weiche deshalb als falsch ablehnen, weil es eine aktive Tötung darstellt, wohingegen die Nichtveränderung der Weichenstellung ein bloßes Sterbenlassen impliziert.72 Wirft man einen Blick auf die strafrechtlich relevanten Verhaltensnormen, so kommt ein entsprechendes Ergebnis in Betracht: Die Notstandsregelung gemäß § 34 StGB lässt die Rechtswidrigkeit einer Rettungshandlung bekanntlich nur dann entfallen, wenn das geschützte Interesse das beeinträchtigte Interesse wesentlich überwiegt. Legt man hier die Auffassung zugrunde, der zufolge jedes individuelle Leben einen absoluten Höchstwert besitzt,73 so müsste ein wesentliches Überwiegen i. S. d. § 34 StGB auch dann verneint werden, wenn durch das Verstellen der Weiche eine größere Anzahl von Menschenleben gerettet wird. Auch in der Literatur wird vertreten, dass das Umlenken der Güterwagen (zum Nutzen der vielen Menschen in dem Personenzug und zum Schaden der drei Arbeiter) eine verbotene Handlung darstellt.74 (Ob diese Handlung strafbar ist, ist eine andere Frage.75) Demgegenüber wird das Unterlassen des Weichenstellens mitunter für rechtmäßig erklärt,76 da das Recht andernfalls Widersprüchliches fordern würde, nämlich gleichzeitig das Verbot des Weichenstellens und das Verbot des ungehinderten Durchfahrenlassens des Zuges.77 Jedoch stellt sich das Problem, warum der Widerspruch zwischen derartigen Verboten nicht auch dahingehend aufgelöst werden könnte, dass der Weichensteller ein Wahlrecht hat. Mit anderen Worten ist zu fragen, wie sich die eben implizierte unterschiedliche rechtliche Bewertung des aktiven Tötens im Verhältnis zum Sterbenlassen legitimieren lässt. Merkel leitet die Begründung einer solchen Differenzierung aus der Grundfunktion des Rechts her: „Es soll nicht (wie die Ethik) primär ,das gute Handeln‘ der Bürger gewährleisten, sondern die wechselseitige Sicherung ihrer persönlichen Freiheit garantieren. Paul Johann Anselm von Feuerbach hat das […] in den Satz gefasst, ,die ursprüngliche Verbindlichkeit‘ des Staatsbürgers gehe ,nur auf Unterlassungen‘“.78 Nach einer solchen Lösung fordert also das Recht vom Weichensteller, dem Geschehen seinen Lauf zu lassen (durch das Unterlassen der Weichenstellung) und da72

Vgl. Lin (Fn. 15), S. 69 (78). Mitsch, Flugzeugabschüsse und Weichenstellung. Unlösbare Strafrechtsprobleme in ausweglosen Notstandssituationen, in: GA 2006, S. 11 (13); Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., 2019, § 34 Rn. 23; Feldle (Fn. 15), S. 243. 74 Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl., 1991, Abschnitt 13 Rn. 21; Mitsch, GA 2006, S. 11 (13). 75 Vgl. zur Frage einer Entschuldigung: Hörnle/Wohlers, GA 2018, S. 12 (15 f.). 76 Mitsch, GA 2006, S. 11 (14); a.A. Gallas, Pflichtenkollision als Schuldausschließungsgrund, in: Engisch u. a., FS Mezger, S. 311 (331). 77 Mitsch, GA 2006, S. 11 (14). 78 So in Bezug auf die 2006 ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Merkel, § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten? Über taugliche und untaugliche Prinzipien zur Lösung eines Grundproblems des Rechts, in: JZ 2007, S. 373 (381) unter Bezugnahme auf Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 1801, § 24. 73

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durch das Sterben von Menschen zuzulassen, soweit die einzig andere mögliche Handlung in einer aktiven Tötung (in Form der Weichenstellung) besteht. Die entsprechende situative Verhaltensnorm, die sich an den Weichensteller richtet, lautet beispielsweise: „Du darfst die Weiche nicht umstellen!“ An dieser Lösung des Weichenstellerfalles zeigt sich zugleich, dass der oben apostrophierte Höchstwertcharakter des menschlichen Lebens keineswegs in einem umfassenden Verbot der Todesverursachung resultieren muss.79 2. Übertragbarkeit auf Programmierungsentscheidungen? Die eben skizzierte Lösung des Weichenstellerfalles wird in der Literatur durchaus auch kritisch gesehen,80 teilweise wird sie sogar gänzlich abgelehnt.81 Allerdings soll die Frage der dogmatischen Behandlung dieser Konstellation im Folgenden nicht weiter vertieft werden. Stattdessen dient der Weichenstellerfall als eine Art Blaupause, vor deren Hintergrund der Blick wieder auf den obigen Beispielsfall zu richten ist, in dem ein Roboter (nämlich ein selbstfahrendes Auto) in die Situation involviert ist. Inwiefern ändert sich nun also die strafrechtliche Bewertung, wenn die Entscheidung über Leben und Tod nicht erst in der konkreten Notstandssituation getroffen werden kann, sondern bereits bei der Programmierung des selbstfahrenden Autos erfolgt? Der reine Umstand der zeitlichen Vorverlagerung dürfte dabei jedoch keine normativen Implikationen aufweisen. Allerdings sind im Folgenden drei Aspekte der Programmierungsentscheidung in den Blick zu nehmen, die gegebenenfalls zu einer geänderten rechtlichen Bewertung im Vergleich zum Weichenstellerfall führen könnten: Erstens könnte es sich bei der Programmierungsentscheidung um eine durchdachte Entscheidung handeln, zweitens um eine Entscheidung zwischen zwei Handlungen und drittens um eine bloße Risiko-Nutzen-Abwägung.

79 Das Gesagte trifft sich auch mit der an anderer Stelle von Merkel geäußerten Kritik an der Formel „der (angeblich) von Art. 1 Abs. 1 GG verbotenen ,Abwägung Leben gegen Leben‘“ (Merkel, JZ 2007, S. 373 [380]). Der Umstand, dass es kein absolutes Abwägungsverbot dieses Inhalts gibt, zeigt sich schon anhand der von Merkel in Bezug genommenen Fälle kollidierender Handlungspflichten (ebd., S. 373 [380]), in denen der Verpflichtete nach gängiger Ansicht freie Wahl hat (vgl. Roxin [Fn. 44], § 16 Rn. 118). Allerdings kann es in sonstigen Konstellationen durchaus gute Gründe für die Annahme geben, dass eine quantitative Abwägung zwischen verschiedenen Menschenleben unzulässig ist. 80 Vgl. etwa Hörnle/Wohlers, GA 2018, S. 12 (15), die unter anderem aufgrund technischer Erwägungen Kritik übt, aber im Ergebnis gleichwohl davon ausgeht, dass das geltende Recht (in einer dem Weichenstellerfall ähnlichen Konstellation) ein Unterlassen fordert. 81 Vgl. etwa Welzel, ZStW 63 (1951), S. 47 (51), dem zufolge der „Beamte, der das Umstellen der Weiche unterläßt, […] nicht nur rechtlich, sondern auch ethisch eklatant unrichtig“ handelt.

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a) Durchdachte Entscheidung? Die wenigsten Menschen werden für sich verbindlich im Vorhinein festlegen, wie sie sich in einer Notstandssituation verhalten würden. Eine Entscheidung über das Verhalten dürfte in aller Regel erst innerhalb einer solchen Konstellation erfolgen. Demgegenüber muss der Programmierer eines Roboters nicht in einer stressbedingten Ausnahmesituation handeln, sondern kann überlegt tätig werden. Allerdings hat diese Frage der Entscheidungssituation grundsätzlich keinen Einfluss darauf, welche strafrechtlich relevanten Verhaltensnormen einschlägig sind:82 Einer möglicherweise gegebenen emotionalen Reaktion auf eine Stress- und Paniksituation wird in aller Regel auf der Schuldebene Rechnung getragen (z. B. im Rahmen von § 35 StGB83). b) Entscheidung zwischen zwei Handlungen? Zum Teil wird ein signifikanter Unterschied zwischen der Situation des Weichenstellers und der Situation des Programmierers darin gesehen, dass nur jener zwischen einem Handeln (Weichenstellen) und einem Unterlassen (Durchfahrenlassen des Zuges) zu entscheiden habe. Im Unterschied hierzu stehe der Programmierer, der einen Algorithmus für eine Notstandssituation festlegt, ausschließlich vor der Entscheidung zwischen verschiedenen Aktivitäten (Eingabe von Algorithmen unterschiedlichen Inhalts).84 Dementsprechend handele es sich bei der Frage der Programmierung um die Kollision verschiedener Unterlassungspflichten,85 auf welche die obigen Überlegungen zur Kollision zwischen einer Handlungs- und einer Unterlassungspflicht beim Weichensteller nicht ohne weiteres übertragbar sind. Allerdings überzeugt die genannte Prämisse nicht. Die Wirkung der Programmierungsentscheidung entfaltet sich stets nur unter der zusätzlichen Voraussetzung, dass es später tatsächlich zu einer Notstandssituation kommt. Der Eintritt einer solchen Konstellation ist im Zeitpunkt der Programmierung höchstens statistisch prognostizierbar, hängt also in keiner Weise vom Verhalten des Programmierers ab. Dieser kann lediglich für den Fall des Eintritts der Bedingung „Notstandssituation“ festlegen, ob das eintretende Geschehen weiterhin unbeeinflusst bleiben soll86 oder ob es aktiv zu verändern ist. Der maßgebliche Inhalt der Programmierung besteht also durchaus in der

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Vgl. aber Hörnle/Wohlers, GA 2018, S. 12 (23 f.). Vgl. hierzu Hörnle/Wohlers, GA 2018, S. 12 (14), die den Grund der von § 35 StGB normierten Entschuldigung in den in Paniksituationen „typischen erheblichen kognitiven und emotionalen Verzerrungen“ sehen, zugleich aber zutreffend darauf hinweisen, dass eine Entschuldigung auch dann eintreten kann, „wenn bei einem ungewöhnlich besonnenen Menschen keine stressbedingten Entscheidungsdefizite vorlägen“. 84 Vgl. Weigend, ZIS 2017, S. 599 (602 f.); Hörnle/Wohlers, GA 2018, S. 12 (23); Schuster, Strafrechtliche Verantwortlichkeit der Hersteller beim automatisierten Fahren, in: DAR 2019, S. 6 (11). 85 So explizit: Schuster, DAR 2019, S. 6 (11); Weigend, ZIS 2017, S. 599 (603). 86 Vgl. aber Weigend, ZIS 2017, S. 599 (602). 83

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Entscheidung zwischen einem Tun und einem Unterlassen.87 In dieser Hinsicht entspricht die Programmierungssituation auch der Konstellation im Weichenstellerfall. c) Risiko-Nutzen-Abwägung? Aus einer moralphilosophischen Perspektive betonen Hevelke und Nida-Rümelin jedoch eine andere Besonderheit der Entscheidungssituation des Programmierers: Während in einer Konstellation nach Art des Weichenstellerfalles die Identität der betroffenen Personen im Entscheidungszeitpunkt feststeht, sei dies bei der Programmierung eines selbstfahrenden Autos gerade nicht der Fall.88 Im maßgeblichen Entscheidungszeitraum – also bei der Programmierung – werde für jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft lediglich ein Risiko festgelegt, im Fall einer Notstandssituation getötet zu werden.89 Mit anderen Worten werde im Zeitpunkt der Programmierung keine Abwägung zwischen individualisierbaren Leben vorgenommen, sondern es werden Chancen und Risiken aller Gesellschaftsmitglieder festgelegt. Eine Programmierung, der zufolge in einer Notstandssituation die geringstmögliche Opferanzahl herbeizuführen ist, sei dabei im Interesse eines jeden Gesellschaftsmitglieds, soweit die Risiken aller hierdurch in gleicher Weise gesenkt werden. Aufgrund der im Entscheidungszeitpunkt fehlenden Identifizierbarkeit späterer Opfer liege die Programmierung – im Zeitpunkt der Entscheidung – auch im Interesse derjenigen Person, die später aufgrund der Programmierung in einer Notstandssituation zu Schaden kommt.90 In dieser Hinsicht erinnert der Ansatz an Rawls’ gerechtigkeitstheoretisches Gedankenexperiment des Schleiers des Nichtwissens.91 Was ist von dieser Risiko-Nutzen-Überlegung zu halten? Zunächst ist festzustellen, dass Hevelke und Nida-Rümelin grundsätzlich unabhängig von rechtlichen Regelungen argumentieren.92 Allerdings lässt sich ihre Behauptung einer Risikosenkung93 in strafrechtsdogmatischer Hinsicht unter anderem als Annahme eines erlaubten Risikos übersetzen.94 In Anknüpfung an Roxin wird vorliegend unter einem er87

Vgl. auch Feldle (Fn. 15), S. 161. Hevelke/Nida-Rümelin, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 19 (2015), S. 5 (10 f.). Auf den Aspekt der fehlenden Identifizierbarkeit rekurriert auch die vom Bundesverkehrsministerium eingesetzte Ethikkommission „Automatisiertes und Vernetztes Fahren“, allerdings lehnt sie es ab „daraus zu folgern, das Leben von Menschen sei in Notstandssituationen mit dem anderer Menschen ,verrechenbar‘“ (Bericht [Fn. 14], S. 18); vgl. zur fehlenden Identifizierbarkeit auch Schuster, DAR 2019, S. 6 (11). 89 Hevelke/Nida-Rümelin, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 19 (2015), S. 5 (10 f.). 90 Ebd., S. 5 (11 f.). 91 Vgl. hierzu Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit. Übers. v. Vetter, 2019, S. 159 ff.; auf den Zusammenhang zwischen dem Schleier des Nichtwissens und dem Ansatz von Hevelke und Nida-Rümelin weisen bereits hin: Feldle (Fn. 15), S. 190; Hilgendorf, ZStW 130 (2018), S. 674 (694). 92 Vgl. auch Engländer, ZIS 2016, S. 608. 93 Hevelke/Nida-Rümelin, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 19 (2015), S. 5 (11 f.). 94 Vgl. Schuster, DAR 2019, S. 6 (11). 88

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laubten Risiko ein Verhalten verstanden, „das ein rechtlich relevantes Risiko schafft, aber generell (unabhängig vom Einzelfall!) erlaubt ist und daher anders als die Rechtfertigungsgründe schon die Zurechnung zum objektiven Tatbestand ausschließt“.95 In Bezug auf die hier interessierende Frage der Roboterprogrammierung bedeutet dies in normentheoretischer Hinsicht Folgendes: Wäre eine aufgrund einer Programmierung eingetretene Schädigung eines Verkehrsteilnehmers dem Programmierer objektiv nicht zurechenbar, so bestünde jedenfalls kein Verbot einer solchen Programmierung. Allerdings wurde bis hierhin offengelassen, ob die dargestellte Risiko-Nutzen-Erwägung überzeugen kann. Zu hinterfragen ist diesbezüglich zunächst die Prämisse, der zufolge eine auf Minimierung der Opferzahl gerichtete Programmierung die Risiken aller Gesellschaftsmitglieder tatsächlich reduzieren kann. Eine derartige Senkung kommt von vornherein nämlich nur in Betracht, wenn man die autonome Mobilität in Relation zum gegenwärtigen Automobilverkehr96 setzt.97 Zieht man hingegen einen Vergleich mit einer autofreien Gesellschaft, so darf die Frage der Risikosenkung durchaus bezweifelt werden. Allerdings gibt es einen guten Grund, als Bezugspunkt auf eine Gesellschaft mit Automobilverkehr abzustellen: Bei aller Problematik des gegenwärtigen Automobilverkehrs kann eine Lösung nicht in der Abschaffung dieser Fortbewegungsart liegen. Eine autofreie Gesellschaft wäre nicht wünschenswert, da hiervon auch gesellschaftlich notwendige Einrichtungen (wie beispielsweise die Feuerwehr) betroffen wären.98 Zieht man im vorliegenden Kontext also einen Vergleich zwischen autonomer Mobilität und dem gegenwärtigen Straßenverkehr, so ist es keineswegs auszuschließen, dass jene tatsächlich zu einer Reduktion des Risikos führen kann.99 Gegen die oben dargestellte Risiko-Nutzen-Überlegung lässt sich jedoch einwenden, dass das Risiko und der Nutzen autonomer Mobilität in einer Gesellschaft keineswegs gleichmäßig verteilt sind, da Art und Umfang der Teilnahme am Straßenverkehr von Mensch zu Mensch erheblich variieren können.100 Allerdings ist zu be95

Roxin (Fn. 44), § 11 Rn. 66; vgl. darüber hinaus aber auch Roxins Überblick zu den weiteren Ansichten zur dogmatischen Behandlung erlaubter Risiken: ebd., § 11 Rn. 65 (m.w.N.). 96 Soweit in diesem Kontext von Autos oder Automobilen die Rede ist, werden damit auch Motorräder, Lastkraftwagen etc. gemeint. 97 Vgl. hierzu die vom Bundesverkehrsministerium eingesetzte Ethikkommission „Automatisiertes und Vernetztes Fahren“: Die Zulassung von automatisierten Systemen ist nur vertretbar, wenn sie im Vergleich zu menschlichen Fahrleistungen zumindest eine Verminderung von Schäden im Sinne einer positiven Risikobilanz verspricht.“ (Bericht [Fn. 14], S. 10). 98 Zutreffend Jakobs (Fn. 74), Abschnitt 7 Rn. 35: „Wenn man als Passant vor restlos jeglicher Gefährdung durch Kraftfahrzeuge verschont sein will, kann ein auf dem Dorf wohnender Kranker nicht erwarten, daß der Arzt trotz Glatteisgefahr zur Hausvisite kommt. Schon zur Erhaltung eines differenzierten Angebots an Möglichkeiten sozialen Kontakts müssen also einige Enttäuschungsmöglichkeiten in Kauf genommen werden.“ 99 Dass sich gegenwärtig noch erhebliche technische Hürden stellen, ändert hieran nichts. 100 Hilgendorf, ZStW 130 (2018), S. 674 (694).

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rücksichtigen, dass dieser Umstand grundsätzlich von eigenverantwortlichen Entscheidungen der Betroffenen abhängt. Er ändert also nichts daran, dass jedes Gesellschaftsmitglied zumindest im Prinzip die gleiche Möglichkeit hat, am Straßenverkehr teilzunehmen. Allerdings ließen sich hiergegen wiederum Einwände fehlender Chancengleichheit erheben, denen nur durch eine Normativierung begegnet werden kann.101 Hierauf muss aber im Folgenden nicht weiter eingegangen werden, da die dargestellte Risiko-Nutzen-Erwägung bereits aus einem anderen Grund abzulehnen ist. Die Annahme eines bloßen Risikos weist einen personellen und einen temporären Bezugspunkt auf: Sie rekurriert nämlich auf die Perspektive des potenziellen Opfers, und zwar im Zeitpunkt der Programmierung. Ein solcher temporärer Bezugspunkt dürfte vorliegend durchaus maßgeblich sein, da die Anwendung der situativen Verhaltensnorm im Zeitpunkt der Programmierung stattfindet. Allerdings überzeugt der von Hevelke und Nida-Rümelin gewählte personelle Bezugspunkt nicht: Stellt man nämlich stattdessen auf die Perspektive des Programmierers ab, so muss konstatiert werden, dass er im Zeitpunkt der Programmierung durchaus eine Entscheidung zwischen verschiedenen menschlichen Leben vornimmt. In dieser Hinsicht ist es unerheblich, dass die Identität derjenigen Personen unbekannt ist, die in Zukunft von der Programmierungsentscheidung betroffen sein werden. Diejenigen Aspekte nämlich, die für die (oben beim Weichenstellerfall beleuchtete) Frage der strafrechtlichen Rechtfertigung bedeutsam sind, sind im Zeitpunkt der Programmierung durchaus bekannt.102 Eine Programmierungsentscheidung, stets die geringstmögliche Anzahl von Opfern auszuwählen, würde nämlich in entsprechenden Notstandskonstellationen auch die Tötung Unbeteiligter implizieren. Durch eine solche Programmierungsentscheidung fände aber im Einzelfall gerade eine – mit diesem Ergebnis unzulässige – Abwägung103 zwischen dem menschlichen Leben eines Unbeteiligten104 und dem menschlichen Leben einer bereits gefährdeten Personengruppe statt.105 Das eben Gesagte impliziert zugleich auch die Annahme, dass der einzig verbliebene Unsicherheitsfaktor – die Frage nämlich, ob es überhaupt beim späteren Robo101

Soweit man etwa einwendet, dass nicht alle Menschen in gleicher Weise am Straßenverkehr teilnehmen dürfen (z. B. Kinder, die nicht Autofahren dürfen), wäre zu entgegnen, dass die Gleichheit der Möglichkeit der Straßenverkehrsteilnahme auf den Lebenslauf bezogen ist. Allerdings verlangt auch diese Annahme eine Normativierung, die etwa Fragen der unterschiedlichen körperlichen Konstitution und Lebenserwartung vernachlässigt. 102 Vgl. auch Feldle (Fn. 15), S. 191; Hilgendorf, ZStW 130 (2018), S. 674 (693). 103 Dieser Abwägungscharakter begründet einen entscheidenden Unterschied zu den von Hevelke/Nida-Rümelin (Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 19 [2015], S. 5 [11]) vergleichend herangezogenen Konstellationen, in denen ein Patient bei einer Impfung zu Schaden kommt (vgl. auch Feldle [Fn. 15], S. 191 f.; vgl. überdies in Bezug auf fehlzündende Airbags: Hörnle/Wohlers, GA 2018, S. 12 [20]; vgl. aber auch Hilgendorf, ZStW 130 [2018], S. 674 [699 ff.]). 104 Im eingangs gewählten Beispielsfall ist das der auf dem Bürgersteig laufende Spaziergänger. 105 Dies sind im obigen Beispielsfall der bewusstlose Radfahrer und das Kind.

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tereinsatz zu einer Notstandssituation kommt – im vorliegenden Kontext unerheblich ist. Jedenfalls die entsprechende Handlungsnorm („Gestalte das Programm in einer Weise, dass X passiert!“) wird hierdurch nicht berührt, mag ein Verstoß gegen diese Norm auch nur im Fall eines tatbestandlichen Erfolges sanktionierbar sein. Damit lässt sich also feststellen, dass bei der Programmierung letztlich keine rechtlich relevante Unsicherheit besteht, auf die eine Risiko-Nutzen-Abwägung gestützt werden könnte. Tatsächlich geht es stets um die bewusste Abwägung zwischen Menschenleben, die nicht zulasten eines Unbeteiligten ausfallen darf.106

V. Schlussbetrachtung Die Kontexte, in denen ein Roboterprogrammierer und ein Weichensteller Entscheidungen treffen, weichen im Hinblick auf Notstandssituationen nicht signifikant voneinander ab. Erstens entscheiden beide Personen zwischen einer Handlung und einem Unterlassen, zweitens treffen beide eine Entscheidung zwischen menschlichen Leben. Die einzigen Unterschiede der jeweiligen Entscheidungssituation betreffen die zeitliche Vorverlagerung der Programmierung im Vergleich zur Entscheidung des Weichenstellers sowie den Umstand, dass der Weichenstellerfall eine Panikreaktion implizieren kann, wohingegen dies beim Programmierer in der Regel nicht der Fall sein dürfte. Allerdings führen diese Umstände nicht zur Anwendbarkeit divergierender Verhaltensnormen:107 Einer emotionalen Reaktion auf eine Stressund Paniksituation wird in aller Regel erst auf der Schuldebene Rechnung getragen.108 Es ist daher festzuhalten, dass die Programmierung eines Roboters für Notstandssituationen mit Unbeteiligten derjenigen Entscheidung entsprechen muss, die die Rechtsordnung im Weichenstellerfall verlangt.109 Es bleibt zuzugeben, dass die hier vorgestellte Notstandskonstellation in der Praxis höchst selten auftreten dürfte. Jedoch ändert dieser Umstand nichts an der Notwendigkeit einer Entscheidungsfindung. Der Einsatz von Robotern nötigt sogar dazu, bereits im Stadium der Programmierung Entscheidungen zu treffen, die andernfalls von einem Menschen erst in einer Notstandssituation gefällt werden müssten.110 Es wäre jedoch ein vorschnelles Urteil, wollte man aus den vorstehenden Aus106

Eine solche Abwägung könnte auch nicht unter die Rechtsfigur des erlaubten Risikos gefasst werden (vgl. Feldle [Fn. 15], S. 250; a.A. Schuster, DAR 2019, S. 6 [11]); vgl. in diesem Kontext auch oben Fn. 103. 107 Vgl. aber Hörnle/Wohlers, GA 2018, S. 12 (23 f.). 108 Vgl. hierzu oben Fn. 83. 109 Vgl. auch Engländer, ZIS 2016, S. 608 (613). 110 Möglicherweise ist dies der Grund für den von Hilgendorf festgestellten Umstand, wonach „sich die öffentliche Diskussion um das automatisierte und vernetzte Fahren nicht […] an den dadurch eröffneten Möglichkeiten weitreichender paternalistischer Eingriffe in die Freiheit der Mobilität oder an den Gefahren von Cyberangriffen auf den vernetzten Straßenverkehr entzündete, sondern an […] dem Dilemma-Problem“ (Hilgendorf, ZStW 130 [2018], S. 674 [681 f.]).

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führungen die Schlussfolgerung ziehen, dass die Programmierung von Robotern keine signifikanten neuen Herausforderungen für das Strafrecht und das Strafprozessrecht begründet. Ein solcher Befund würde nämlich mindestens drei Aspekte vernachlässigen: Die erste Herausforderung gilt den normativen Anforderungen an die Sorgfaltsplichten bei der Programmierung von Robotern, insbesondere in Bezug auf den Vorgang des maschinellen Lernens. Die zweite Herausforderung betrifft die Frage der Beweisbarkeit von Roboterprogrammierungen – ein Problem, das sich möglicherweise aber durch die Einführung einer einheitlichen Standardprogrammierung entschärfen ließe. Dem Grunde nach zu begrüßen ist deshalb auch der in der Vergangenheit vom Bundesverkehrsministerium eingeschlagene Weg, eine Ethikkommission im Bereich des automatisierten Fahrens einzusetzen111 – mögen die dort entwickelten Leitlinien mitunter auch kritikwürdig erscheinen.112 Die dritte Herausforderung betrifft die Aspekte der Internationalisierung und Globalisierung.113 In dem Maße nämlich, in dem Roboter grenzüberschreitend eingesetzt werden, erscheint es notwendig, die Rechtmäßigkeit einer Programmierungsentscheidung in jedem betroffenen Land sicherzustellen. Es spricht jedoch einiges dafür, dass auch diese Herausforderung bewältigt werden kann.

111 Ethikkommission „Automatisiertes und Vernetztes Fahren“ (vgl. hierzu den Bericht [Fn. 14]). 112 Vgl. etwa in Bezug auf die ethische Regel Nr. 9 (Ethikkommission „Automatisiertes und Vernetztes Fahren“, Bericht [Fn. 14], S. 11) die Kritik bei: Hörnle/Wohlers, GA 2018, S. 12 (20 ff.). 113 Vgl. hierzu Feldle (Fn. 15), S. 215 f., 249.

Die Haftungsfreistellung des „Whistleblowers“ nach § 5 Nr. 2 GeschGehG – eine gelungene Regelung? Von Thomas Rönnau

I. Problemaufriss Einen thematischen Anknüpfungspunkt zum wissenschaftlichen Lebenswerk des Jubilars zu finden, fällt nicht schwer. Reinhard Merkel ist Strafrechtler und Philosoph (mit zuletzt starkem Fokus auf die Bio-/Neuroethik), der als journalistisch geschulter Autor in fesselndem Stil in all seinen Forschungsgebieten tiefschürfende und weiterführende Beiträge verfasst hat und sich auch nicht scheut, in der Diskussion einmal unbequeme Positionen zu beziehen. Natürlich hat er auch zu Unrecht und Schuld als Grundvoraussetzungen der Strafbarkeit geschrieben. Bei seinem Interesse an der Unrechtslehre möchte ich einhaken und den Blick auf ein Thema lenken, das in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat – das Whistleblowing! Angesprochen ist das Verhalten von behörden- bzw. unternehmensangehörigen Personen, die „in die Pfeife blasen“, um im Wege organisationsinterner oder -externer Weitergabe von Informationen in ihrem Arbeitsbereich auf Missstände unterschiedlichster Art aufmerksam zu machen1 – und damit regelmäßig hohe persönliche und wirtschaftliche Risiken eingehen (Kündigung, strafrechtliche Verfolgung, finanzieller Ruin). Das Phänomen des Whistleblowing begegnet nicht nur in spektakulären (staatsgeheimnisbezogenen) Enthüllungsfällen à la Edward Snowden (NSA-Abhörskandal) oder Chelsea Manning (Offenlegung vertraulicher Militär- und Diplomatenunterlagen)2, sondern auch und gerade im behördlichen und unternehmerischen Alltag. Verfahren zur Annahme von Meldungen über potenzielle oder tatsächliche Verstöße gegen geltendes Recht oder über sonstiges Fehlverhalten finden sich mittlerweile in vielen Bereichen des wirtschaftlichen Lebens und der Verwaltung. Hinweisgebersysteme werden dabei einmal als ein wichtiges Mittel korporativer Selbstregulierung, darüber hinaus aber auch als ein viel1

Näher zu Begriff und Definition des Whistleblowing Soppa, Die Strafbarkeit des Whistleblowers, 2017, S. 27 ff. und Rotsch/Wagner, in: Rotsch (Hrsg.), Handbuch Criminal Compliance, 2014, § 34 C Rn. 2 ff. 2 Dazu und zu weiteren einschlägigen Fallbeispielen Soppa (Fn. 1), S. 13 ff.; auch Ullrich, NZWiSt 2019, 55 sowie Gorris/Pfister u. a., in: Der Spiegel 47/2019, 12 ff. („Die fünfte Macht“).

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versprechendes Instrument effektiver Rechtsdurchsetzung verstanden.3 Im Spannungsfeld der durch Whistleblowing berührten Interessen von Unternehmen, Staat, Medien und Bürger/Zivilgesellschaft ist der Schutz des Hinweisgebers aber weiterhin international recht verschieden und national häufig defizitär ausgestaltet.4 Das Bild wird bestimmt durch vereinzelte sektorspezifische Vorschriften, die – am Beispiel Deutschlands – etwa im Kapitalmarktrecht, Kartellrecht oder Geldwäschegesetz verankert sind.5 Es verwundert nicht, dass bei diesem Befund die (Reform-)Diskussion über die Ausweitung und Vereinheitlichung der Whistleblowing-Regelungen angesichts verschiedener Affären (Finanzkrise, „Dieselgate“, Massenüberwachung durch Geheimdienste) andauert.6 Jüngste Frucht der unionsweiten Forderung nach einem verbesserten Hinweisgeberschutz ist eine Vorschrift aus der Geschäftsgeheimnisschutzrichtlinie 2016/943/EU7 (im Weiteren: Know-how-RL), die in Deutschland durch das Gesetz zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen (GeschGehG)8 umgesetzt wurde.9 Allein um die darin jeweils enthal3 Meyer, HRRS 2018, 322; Rahimi Azar, JuS (Sonderheft Compliance) 2017, 930; Maume/ Haffke, ZIP 2016, 199, 200 m. w. Nachw. 4 Nachweise bei Meyer, HRRS 2018, 322 in Fn. 1. Dort auf den S. 324 ff. auch instruktiv zum im Hintergrund stehenden mehrpoligen Grundrechtsverhältnis und den betroffenen Interessen; s. weiterhin Gerdemann, RdA 2019, 16, 19. Bei der Bewertung von Whistleblowing darf zudem die Kultur und Historie des jeweiligen Landes nicht unberücksichtigt bleiben, die Einschätzungen von „zivilgesellschaftlichem Heros“ bis hin zum „Denunzianten“, „Verräter“ oder „Nestbeschmutzer“ vorprägt. 5 Vgl. Schiemann, in: FS Wessing, 2015, S. 569 f., 574; Schmitt, RdA, 2017, 365, 372; Garden/Hiéramente, BB 2019, 963, 965; Gerdemann, RdA 2019, 16, 19; Thüsing/Rombey, NZG 2018, 1001, 1002. Als Beispiele seien nur genannt § 25a Abs. 1 S. 6 Nr. 3 KWG; § 4d Abs. 6 S. 6 FinDAG; § 53 Abs. 5 GWG; §§ 16 Abs. 1, 17 Abs. 2 ArbSchG; § 84 BetrVG; § 67 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BBG; § 37 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BeamtStG. 6 Nachw. zu bisherigen (gescheiterten) deutschen Gesetzesvorhaben zur Regelung des Whistleblowing bei Eufinger, ZRP 2016, 229, 230; Garden/Hiéramente, BB 2019, 963, 965; Reinhardt-Kasperek/Kaindl, BB 2018, 1332; Soppa (Fn. 1), S. 90 ff., 228. 7 Richtlinie (EU) 2016/943 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. 6. 2016 über den Schutz vertraulichen Know-hows und vertraulicher Geschäftsinformationen (Geschäftsgeheimnisse) vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung, ABl. L 157 v. 15. 6. 2016, S. 1; in Kraft getreten am 5. 7. 2016. 8 Als Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/943 zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung v. 18. April 2019, BGBl. I, S. 466; in Kraft getreten am 26. 4. 2019. 9 Mittlerweile ist auf europäischer Ebene auch der Gesetzgebungsprozess zur Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden („WhistleblowerRichtlinie“, nachfolgend: WBRL), abgeschlossen. Nach intensiven Diskussionen hatten sich hier Parlament und Rat am 11. 3. 2019 auf einen vorläufigen Kompromiss geeinigt; am 16. 4. 2019 hat das Europaparlament die Richtlinie verabschiedet (COM [2018] 0218 – C8-0159/ 2018 – 2018/0160 [COD]). Nach Zustimmung der EU-Staaten am 7. 10. 2019 ist die WBRL (Richtlinie [EU] 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23. 10. 2019 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, ABl. L 305 v. 26. 11. 2019, S. 17) am 16. 12. 2019 in Kraft getreten. Ihr Ziel ist die unionsweite Neuregelung des Whistleblower-Schutzes für unionsrechtsbezogene Verstoßmeldungen. Einen Überblick und erste Bewertungen zur WBRL von Dilling, CCZ 2019, 214 ff., Gerdemann, RdA 2019, 16 ff. und

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tene Whistleblower-Regelung (Art. 5 lit. b) Know-how-RL bzw. § 5 Nr. 2 GeschGehG) soll es im Folgenden gehen.10 Dabei wird sich zeigen, dass schon die einschlägige Richtlinien-Vorgabe, jedenfalls aber die korrespondierende deutsche Umsetzungsnorm, erhebliche Probleme aufweist. In diesem Zusammenhang ist auch der vorgesehene Whistleblower-Entlastungsmechanismus (Tatbestandsausschluss- oder Rechtfertigungsgrund?) – und damit die Unrechtslehre – zu behandeln. Bevor diese Besonderheiten (unter IV.) in den Blick genommen werden, müssen aber zum besseren Verständnis kurz das Grundkonzept des GeschGehG skizziert (unter II.) und im Weiteren die Voraussetzungen eines Geschäftsgeheimnisses (als Zentralbegriff der Regelungsmaterie) geklärt werden (unter III.). Ein Fazit unter V. schließt den Beitrag.

II. Der Geschäftsgeheimnisschutz im neuen Gewande – eine Skizze Das mit breiter Mehrheit am 21. 3. 2019 vom Bundestag beschlossene und am 26. 4. 2019 in Kraft getretene GeschGehG setzt – mit deutlicher Verspätung11 – die Know-how-RL 2016/943 vom 8. 6. 2016 um. Letztere reagiert auf einen auf europäischer Ebene vorfindlichen zersplitterten Geheimnisschutz12 und verpflichtet die Mitgliedstaaten zu einem einheitlichen zivilrechtlichen Mindeststandard für den Schutz von Geschäftsgeheimnissen13; gleichzeitig adressiert sie aber auch die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Offenbarung von Geschäftsgeheimnissen zur Aufdeckung illegaler oder regelwidriger Aktivitäten zulässig ist.14 Ziel ist die Schaffung eines regulatorischen Umfeldes im europäischen Binnenmarkt, das Anreize zur Aufnahme grenzüberschreitender Innovationstätigkeiten setzt. Angestrebt wird damit

Garden/Hiéramente, BB 2019, 963 ff. Die Vorgaben der Richtlinie müssen durch den deutschen Gesetzgeber binnen Zweijahresfrist (Art. 26) umgesetzt werden (also bis zum 17. 12. 2021). 10 Das Generalthema „Whistleblowing“ ist als Querschnittsmaterie für einen Festschriftsbeitrag einfach zu groß. Behandelt wird daher im Text nur die Frage, unter welchen Voraussetzungen ausnahmsweise einmal die Aufdeckung von Geschäftsgeheimnissen erlaubt ist, also gleichsam die „kleine Lösung“ innerhalb des Gesamtpanoramas. 11 Die Know-how-RL war bis zum 9. 6. 2018 in nationales Recht umzusetzen. Zu den Verzögerungsgründen Thiel, WRP 2019, 700 und Hauck, WRP 2018, 1032, 1033 m. Fn. 5. 12 Vgl. Ohly, GRUR 2019, 441 m. Nachw. in Fn. 4. 13 Erwgr. 10 der Know-how-RL; Schmitt, RdA 2017, 365, 366, 368; Dann/Markgraf, NJW 2019, 1774. Teilweise ist die Richtlinie aber auch vollharmonisierend ausgestaltet, s. dazu die in Art. 1 Abs. 1 UAbs. 2 genannten Vorschriften (hier insbesondere die materiellrechtlichen Kernvorschriften zu den erlaubten Verhaltensweisen [Art. 3 Know-how-RL und § 3 GeschGehG] und zu den Ausnahmen [Art. 5 Know-how-RL und § 5 GeschGehG]) sowie Alexander, WRP 2019, 673 f. sowie die Nachw. in Fn. 56. 14 Vgl. Art. 5 und Erwg. 20 der Know-how-RL.

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die bestmögliche Ausschöpfung des Potenzials von Geschäftsgeheimnissen, die als Triebkräfte für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung wirken sollen.15 Mit der Einführung des neuen GeschGehG – als Herzstück des Richtlinien-Umsetzungsgesetzes – ändert sich der Schutz von Geschäftsgeheimnissen grundlegend („vollständiger Systemwechsel“16). An die Stelle des bisher im Kern strafrechtlich abgesicherten Geheimnisschutzes unter Rückgriff auf die §§ 17 – 19 UWG (die als veraltet und lückenhaft eingestuft wurden17) tritt ein eigenes zivilrechtliches „Stammgesetz“, das – erstmalig im deutschen Recht18 – den Begriff des Geschäftsgeheimnisses legal definiert (§ 2 Nr. 1 GeschGehG), Verletzungshandlungen und Schranken bestimmt (§§ 3 – 5 GeschGehG), eigene Ansprüche bei Rechtsverletzungen vorsieht und das Verfahren in Geschäftsgeheimnisstreitsachen regelt (§§ 15 – 22 GeschGehG).19 Strafrechtlich flankiert wird der Geheimnisschutz (nur noch) in § 23 GeschGehG, der zivilrechtsakzessorisch ausgestaltet ist und im Wesentlichen den §§ 17 – 19 UWG a. F. entspricht.20 Zumindest teilweise abgelöst werden soll damit das für den Geheimnisschutz bisher typische unübersichtliche Nebeneinander von Strafrecht, Lauterkeitsrecht, geistigem Eigentum, Arbeits- und Vertragsrecht und die damit verknüpfte Zuständigkeit unterschiedlicher Gerichtszweige.21 Das GeschGehG orientiert sich im Aufbau stark an der umzusetzenden Knowhow-RL, wenngleich es einige bedeutsame Abweichungen gibt.22 Der deutsche Gesetzgeber reagierte mit den Änderungen auf teils heftige Kritik, die während des Gesetzgebungsprozesses insbesondere von den Arbeitnehmer- und Medienvertretern vorgetragen wurde und vor allem die möglicherweise zu weit gehenden Beschrän-

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S. Erwgr. 4 der Know-how-RL. So Hoppe/Oldekop, GRUR-Prax 2019, 324. Änderungsbedarf sahen nach Inkrafttreten der Know-how-RL viele, vgl. nur Kalbfus, GRUR 2016, 1009 f. (m. w. Nachw.): Es spricht einiges dafür, „den bestehenden strafrechtlich geprägten Regelungsansatz des deutschen Rechts aufzubrechen und im Zuge der Richtlinienumsetzung ein kohärentes originär zivilrechtliches Schutzsystem (ggf. mit punktueller Ergänzung durch Straftatbestände) zu etablieren“. 17 Teilweise beruhte die strafrechtliche Regelungstechnik der §§ 17 – 19 UWG noch auf dem ersten deutschen UWG von 1896. Zur Kritik an der bisherigen Rechtslage Ohly, GRUR 2014, 1, 4 ff.; auch ders., GRUR 2019, 441; zustimmend McGuire, GRUR 2016, 1000, 1001 ff. 18 Statt vieler Maaßen, GRUR 2019, 352. 19 Ohly, GRUR 2019, 441. 20 BT-Drs. 19/4724, S. 40; Dann/Markgraf, NJW 2019, 1774, 1778; Hohmann/Schreiner, StraFo 2019, 441; Ernst, MDR 2019, 897, 902; krit. zum strafrechtlichen Regelungsansatz Brammsen, wistra 2018, 449, 450 f. 21 Ohly, GRUR 2019, 441. Allerdings beantwortet weder die Know-how-RL noch das GeschGehG die Frage nach der Rechtsnatur des geschützten Geheimnisses eindeutig; näher dazu Alexander, WRP 2019, 673, 674 f. m. w. Nachw. 22 Die nach Auffassung vieler noch zu Auslegungsproblemen führen werden, s. nur Hauck, GRUR-Prax 2019, 223; Ohly, GRUR 2019, 441. 16

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kungen des Whistleblowing und der Arbeit investigativ tätiger Journalisten betraf.23 Im Wesentlichen empfahl der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz eine Ergänzung der Definition des Geschäftsgeheimnisses (gem. § 2 GeschGehG) sowie Umformulierungen der in § 5 GeschGehG enthaltenen Ausnahmetatbestände,24 die in der vorgeschlagenen Form nach Verabschiedung durch den Bundestag auch Gesetz wurden.25 Den Änderungen wird bei der nachfolgenden Prüfung der Rechtmäßigkeit des Whistleblowing noch eine wichtige Rolle zukommen. Ob sich – wie erstrebt – durch die neue rechtliche Ausgestaltung des Whistleblowing die Position des Hinweisgebers deutlich verbessert hat, der bisher angesichts notwendiger Abwägungen im Einzelfall26 (nach h. M.: auf Rechtfertigungsebene) mit erheblichen Rechtsunsicherheiten konfrontiert war,27 ist zu bezweifeln – und später zu erörtern.

III. Voraussetzungen des Geschäftsgeheimnisses gem. § 2 Nr. 1 GeschGehG, insbesondere: Fallen „illegale Geheimnisse“ noch darunter? Hauptanliegen des GeschGehG ist es, Geschäftsgeheimnisse vor rechtswidrigem Zugriff, rechtswidriger Offenlegung und rechtswidriger Nutzung zu schützen.28 Essentiell für die Anwendbarkeit des – im Kern zivilrechtlich ausgerichteten – Gesetzes ist die Definition des Begriffs „Geschäftsgeheimnis“, da diese den eigentlichen Schutzgegenstand festlegt. Der neue, in § 2 Nr. 1 GeschGehG legal festgeschriebene Geheimnisbegriff ersetzt dabei den bisherigen, in der Geltungszeit des § 17 UWG a.F. richterrechtlich entwickelten Begriff. Es ist hier nicht der Platz, die schon bisher und absehbar auch zukünftig viel erörterten Details des Geschäftsgeheimnisbegriffs 23 Dazu nur die Stellungnahmen der Sachverständigen Böning und Partsch im Rahmen der Anhörung vor dem Rechtsausschuss am 12. 12. 2018, BT-Prot.-Nr. 19/30, S. 17, 47 ff. und S. 13 f., 108 ff. Die Debatte spiegelte dabei (nach Ohly, GRUR 2019, 441) die Diskussion im Europäischen Parlament wider, in der kaum über die wirtschaftlich wichtigen Fragen (etwa die Ansprüche oder die Ausgestaltung des Verfahrens) gestritten wurde. 24 BT-Drs. 19/8300, S. 4 f., 11 ff. Eingefügt wurde in § 23 GeschGehG auch ein Absatz 6, der die fehlende Rechtswidrigkeit bestimmter Beihilfehandlungen von Medienvertretern vorschreibt. 25 Überblick zum Gesetzgebungsverfahren bei Alexander, WRP 2019, 673, 674 und Schreiber, NZWiSt 2019, 332, 333 f. 26 Ob der vorsätzlich Geschäftsgeheimnisse preisgebende Whistleblower „unbefugt“ i.S.d. § 17 UWG handelt, war nach alter Rechtslage umstritten. Die h. M. machte das (gerade beim externen Whistleblowing) davon abhängig, ob die Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstandes gem. § 34 StGB vorlagen; s. statt vieler Rahimi Azar, JuS (Sonderheft Compliance) 2017, 930, 934 f.; Tiedemann/Rönnau, in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, § 85 Rn. 43; Späth, Rechtfertigungsgründe im Wirtschaftsstrafrecht, 2016, S. 283 ff. – alle m. w. Nachw. 27 So etwa Eufinger, ZRP 2016, 229, 230; Wiedmann/Seyfert, CCZ 2019, 12, 13 f.; Schiemann, in: FS Wessing, 2015, S. 569, 576. 28 Vgl. BT-Drs. 19/4724, S. 1 f., 19, 23 und passim.

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zu diskutieren.29 Nachfolgend sollen in diesem Zusammenhang vielmehr nur zwei Facetten behandelt werden, die einen unmittelbaren Bezug zum Beitragsthema, also der Haftungsfreistellung des Whistleblowers nach GeschGehG, haben. Da wäre zunächst die Frage nach Funktion und Berechtigung des (Sub-)Merkmals „berechtigtes Interesse an der Geheimhaltung“, das noch in der Schlussphase des Gesetzgebungsprozesses dem Geschäftsgeheimnisbegriff als zusätzliche Voraussetzung (Nr. 1 c)) eingepflanzt wurde. Zudem ist zu klären, ob „illegale Geheimnisse“ – in Fortführung der bisherigen h.M.30 – auch weiterhin in den Anwendungs- und Schutzbereich des GeschGehG fallen. Wird das verneint, erübrigt sich jede Erörterung eines Unrechtsausschlusses bei Geheimnisoffenbarungen durch den Hinweisgeber. 1. „Berechtigtes Geheimhaltungsinteresse“ als Voraussetzung des Geschäftsgeheimnisses? Nach überkommener, zu § 17 UWG a. F. von der Rechtsprechung aufgebauter Dogmatik war eine Information geschützt, wenn sie sich auf ein Unternehmen bezog, nicht offenkundig und vom Geheimhaltungswillen des Inhabers getragen war, der ein Geheimhaltungsinteresse hatte.31 Der neue Geschäftsgeheimnisbegriff des GeschGehG ist zunächst (noch im Regierungsentwurf) in starker Anlehnung an Art. 2 Nr. 1 Know-how-RL gebildet worden.32 Die Richtlinie, die ihrerseits nahezu wörtlich den Begriff der „nicht offenbarten Information“ aus Art. 39 Abs. 2 des TRIPS-Übereinkommens33 übernommen hat,34 setzt für die Einordnung einer Information als Geschäftsgeheimnis i.S.d. Art. 2 Nr. 1 kumulativ dreierlei voraus: Es muss sich (1) um geheime Informationen handeln, die (2) von kommerziellem Wert sind, weil sie geheim sind, und die (3) Gegenstand von den Umständen nach entsprechenden Geheimhaltungsmaßnahmen sind. Diese Voraussetzungstrias findet

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S. zur alten Rechtslage nur Ohly, in: Ohly/Sosnitza, UWG, 7. Aufl. 2016, § 17 Rn. 5 – 12; zum GeschGehG Ohly, GRUR 2019, 441, 442 ff.; Hohmann, in: MüKo-StGB, Beilage zu Bd. 7, 3. Aufl. 2019, § 23 GeschGehG Rn. 19 – 42. 30 Dazu Tiedemann/Rönnau, in: Scholz (Fn. 26), § 85 Rn. 19 f. m. w. Nachw. 31 Vgl. nur BGH GRUR 2018, 1161 Rn. 28 – „Hohlfasermembranspinnanlage II“ und Ohly, in: Ohly/Sosnitza, § 17 Rn. 5 – beide m. w. Nachw. 32 BT-Drs. 19/4724, S. 24 f. Aus dem Schrifttum s. nur Hauck, GRUR-Prax 2019, 223. 33 Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte des Rechts des geistigen Eigentums, BGBl. 1994 II, S. 1438, 1730 – TRIPS. An dieses gemeinsame, internationale Standards verbürgende Abkommen sind alle EU-Mitgliedstaaten wie auch die Union als Ganzes durch den Ratsbeschluss 94/800/EG gebunden (s. Erwg. 5 der Know-how-RL). Obwohl das bisherige deutsche Recht verschiedentlich von Art. 39 Abs. 2 TRIPS abweicht, war es „weitgehend mit dem Völkerrecht vereinbar“, da das Abkommen nur einen Mindeststandard setzt (Art. 1 Abs. 1 S. 2 TRIPS), ein Mehr an nationalem Schutz also möglich ist, vgl. Ohly, in: Ohly/ Sosnitza, Vor §§ 17 – 19 Rn. 6; ders., GRUR 2014, 1, 4. 34 BT-Drs. 19/4724, S. 24; Ohly, GRUR 2019, 441, 442.

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sich jetzt der Sache nach – allerdings neu gegliedert35 – auch in § 2 Nr. 1a) und b) GeschGehG wieder.36 Abweichend von der Know-how-RL hat der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages allerdings in der Schlussphase des Projekts mit dem in § 2 Nr. 1 c) GeschGehG aufgeführten „berechtigten Interesse an der Geheimhaltung“ eine – nach deutscher Zählung – dritte Voraussetzung hinzugefügt. Grund für die Ergänzung war – wie schon erwähnt – die Befürchtung von Gewerkschaften und Medien, dass Beschäftigteninteressen (etwa bezüglich Informationen über Werkschließungen, Personalabbau usw.) zu wenig berücksichtigt werden oder eine unangemessene Einschränkung des investigativen Journalismus erfolgt.37 Sieht man im Zusatzelement des „berechtigten Geheimhaltungsinteresses“ nicht nur eine Klarstellung (da ein solches Interesse ganz „selbstverständlich zum Inhalt des Geschäftsgeheimnisbegriffes gehört“38), gibt es manifeste, auch von der Bundesregierung vorgetragene Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Sonderregelung mit Art. 2 Nr. 1 der Know-how-RL. Denn jene verlangt nach ihrem Wortlaut kein derartiges Kriterium und formuliert zudem einen Mindeststandard (vgl. Art. 1 Abs. 1 Know-how-RL), der keine strengere (hier: durch Hinzufügung eines Merkmals den Anwendungsbereich der Schutzvorschrift einengende) Definition durch den nationalen Gesetzgeber gestattet.39 Der lapidare Hinweis in der Begründung der Be35 Als inhaltlich möglich, sachlich aber unpraktisch wird vielfach moniert, dass das BMJV ohne einleuchtenden Grund schon im RefE die ersten beiden Voraussetzungen des Geheimnisbegriffs nach der Know-how-RL in nur einer zusammengefasst hat (heute: § 2 Nr. 1a) GeschGehG), so etwa Würtenberger/Freischem, GRUR 2018, 708, 709; Ohly, GRUR 2019, 441, 442; Alexander, WRP 2019, 673, 676. 36 Nach bisher weitverbreiteter Einschätzung stimmt die Definition des Geschäftsgeheimnisbegriffs der Know-how-RL im Kern mit der in der deutschen Rechtsprechung entwickelten Begrifflichkeit überein (pars pro toto Dann/Markgraf, NJW 2019, 1174, 1175; Schmitt, RdA 2017, 365, 369; Ohly, GRUR 2014, 1, 4 mit Blick auf das TRIPS). Jedenfalls nach dem Wortlaut enger ist sie aber durch die Forderung, dass schon begriffskonstitutiv ein Geschäftsgeheimnis nur dann vorliegt, wenn dessen Inhaber auch den Umständen nach angemessene Geheimhaltungsmaßnahmen ergriffen hat (vgl. Hoppe/Oldekop, GRUR-Prax 2019, 324 m. w. Nachw.; zurückhaltender im Hinblick auf die praktischen Auswirkungen Kalbfus, GRUR-Prax 2017, 391, 393). Hier besteht für die (Compliance-)Praxis in Sachen „Geheimnismanagement“ erheblicher Handlungsbedarf, der einhergeht mit einer bedenklichen Unklarheit hinsichtlich der Qualität der ausreichenden Maßnahmen (s. nur Leister, GRUR-Prax 2019, 75 ff.; Maaßen, GRUR 2019, 352, 353 ff.; Dann/Markgraf, NJW 2019, 1774, 1775 f.). Die im Strafrecht adäquate Reaktion auf problematische Unbestimmtheiten (für § 23 i.V.m. § 2 Nr. 1 GeschGehG angenommen z. B. von Hohmann, in: MüKo-StGB [Fn. 29], § 23 GeschGehG Rn. 31) besteht in einer restriktiven (strafbarkeitseinschränkenden) Auslegung des Begriffs, so dass ein geeigneter Schutzgegenstand (und damit ggf. die Strafbarkeit) nur bei klar und deutlich auf Geheimhaltung zielenden Maßnahmen angenommen werden kann. 37 Vgl. Dann/Markgraf, NJW 2019, 1774, 1776 m. w. Nachw. 38 So Hauck, GRUR-Prax 2019, 223, 224; erwägend auch Gärtner/Oppermann, BB 2019 (Heft 35), Die Erste Seite. 39 Vgl. die Erklärung der Bundesregierung, BT-Drs. 19/8300, S. 12; gleichsinnig Ohly, GRUR 2019, 441, 444; Gärtner/Oppermann, BB 2019 (Heft 35), Die Erste Seite; auch HarteBavendamm, BT-Prot.-Nr. 19/30, S. 14 f., 26 (Geschäftsgeheimnisbegriff muss aus der Richtlinie „eins zu eins! übernommen werden“).

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schlussempfehlung40 auf den Erwägungsgrund 14 der Richtlinie sowie auf die nicht näher belegte Rechtsprechung des BVerfG rechtfertigt die Anreicherung der Definition des Geschäftsgeheimnisbegriffs durch den Gesetzgeber ebenfalls nicht. Weder harmoniert diese Definition mit dem Ziel der Richtlinie, den Schutz von Know-how zu verbessern und ihn unionsweit zu vereinheitlichen, noch passt sie zur Intention des 14. Erwägungsgrundes, dies durch eine „homogene Definition des Begriffs des Geschäftsgeheimnisses“ in der EU zu erreichen. Zwar wird im 14. Erwägungsgrund auch angeführt, dass an der Geheimhaltung der zu schützenden Information ein „legitimes Interesse“ bestehen soll. Doch enthalten Erwägungsgründe zunächst einmal nur allgemeine Zielsetzungen.41 Zudem sorgen nach dem Regelungsansatz der Know-how-RL – wie Ohly zutreffend ausführt42 – arbeitsteilig zwei Vorschriften dafür, dass nur „legitime Interessen“ geschützt werden. So beschränkt Art. 2 Nr. 1 Know-how-RL den Schutz auf geheime und geheimgehaltene Informationen von kommerziellem Wert, während Art. 5 Know-how-RL Ausnahmen im öffentlichen Interesse regelt (dazu gleich mehr). § 2 Nr. 1 lit. c) GeschGehG ist nach dieser überaus plausiblen Interpretation entweder überflüssig oder richtlinienwidrig.43 Bis darüber nach Vorlage eines Instanzgerichtes oder des BGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 AEUV der EuGH entscheidet, ist das geltende nationale Recht – hier: § 2 Nr. 1 c) GeschGehG – richtlinienkonform auszulegen. Bisher dazu präsentierte Lösungen laufen auf dasselbe (jedenfalls für das Zivilrecht44) akzeptable Ergebnis hinaus: Die Vorschrift findet keine Anwendung, weil sie entweder „teleologisch auf Null reduziert wird“45 oder das berechtigte Interesse „unwiderleglich vermutet wird, wenn die Voraussetzungen des § 2 Nr. 1 lit. a) und b) GeschGehG erfüllt sind“.46

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BT-Drs. 19/8300, S. 13 f. Nur hingewiesen sei darauf, „dass die Begründungserwägungen eines Gemeinschaftsrechtsakts rechtlich nicht verbindlich sind und weder herangezogen können, um von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsakts abzuweichen, noch, um diese Bestimmungen in einem Sinne auszulegen, der ihrem Wortlaut offensichtlich widerspricht“, s. ECLI:EU: C:2005:716 Rn. 32; ECLI:EU:C:2018:707 Rn. 33 m.w.N. 42 Ohly, GRUR 2019, 441, 444 f.; auch Gärtner/Oppermann, BB 2019 (Heft 35), Die Erste Seite. 43 Ohly, GRUR 2019, 441, 444. 44 Aus strafrechtlicher Sicht stehen die erwähnten Vorschläge, die in eine vollständige Nicht-Beachtung des § 2 Nr. 1 lit. c) GeschGehG bei der Gesetzesanwendung münden, allerdings im Konflikt mit dem Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 Abs. 2 ff.), da ein einschränkendes gesetzliches Merkmal zu Lasten des Täters ungeachtet des Normwortlauts wegfällt. Eine Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung des deutschen Strafrechts contra legem besteht in solchen Konstellationen nicht (näher Rönnau/Wegner, GA 2013, 561, 563 und Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. 2015, § 10 Rn. 28 – jew. m. w. Nachw.). 45 Gärtner/Oppermann, BB 2019 (Heft 35), Die Erste Seite. 46 Ohly, GRUR 2019, 441, 444. 41

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2. „Illegale Geheimnisse“ sind Schutzgegenstand des § 2 Nr. 1 GeschGehG Eng verknüpft mit der vorstehenden Thematik ist das Problem, ob nach neuer Rechtslage auch sog. „illegale Geheimnisse“,47 also das nicht offenkundige Wissen über (straf-)gesetzes- oder sittenwidrige Vorgänge (etwa Steuerhinterziehungen, Kartellverstöße, unlautere Wettbewerbspraktiken) noch vom Geheimnisbegriff gem. § 2 Nr. 1 GeschGehG erfasst sind. Zu Zeiten der Geltung der §§ 17 ff. UWG wurde über diese Frage heftig gestritten und sie nach ganz vorherrschender Meinung bejaht.48 Dafür sprach angesichts des großen Schädigungspotentials im Falle der Offenbarung ein wirtschaftliches Interesse von Unternehmen an der Geheimhaltung derartiger Tatsachen gegenüber Konkurrenten und Behörden.49 In der Konsequenz der Gegenthese liegt es, dass geheime Informationen über illegale Praktiken straflos offenbart werden dürfen, ohne nach den Zwecken der Preisgabe (etwa Rache, Verkauf zum eigenen Vorteil an Konkurrenten bzw. Journalisten oder Informationen der Behörde, um Gewissen zu erleichtern) differenzieren zu können.50 Die besseren Argumente sprechen auch nach reformierter Rechtslage für eine Einbeziehung „illegaler Geheimnisse“ in den durch das GeschGehG errichteten Geheimnisschutz. Dabei ist zunächst einmal festzuhalten, dass prinzipiell ein weitergehender, über den Mindeststandard der Know-how-RL hinausgehender nationaler Schutz von Geschäftsgeheimnissen unionsrechtlich zulässig wäre.51 Das Kernargument52 für eine Schutzerstreckung liegt dann in der Gesetzessystematik sowohl der Know-how-RL als auch des GeschGehG: Es gibt einfach keinen Sinn, in Art. 5 lit. b) der Know-how-RL bzw. § 5 Nr. 2 GeschGehG eine Ausnahmeregelung für die Fälle der Aufdeckung von Regelverstößen zu installieren, wenn mangels berechtigten Interesses an der Geheimhaltung solcher Informationen schon kein Geschäfts47 Weil nur der Gegenstand eines Geheimnisses, nicht aber dieses selbst illegal sein kann, ist dieser Ausdruck sprachlich falsch, hat sich aber eingebürgert; richtig etwa Paeffgen, Der Verrat in irriger Annahme eines illegalen Geheimnisses (§ 97b StGB) und die allgemeine Irrtumslehre, 1979, S. 3 f. (m. Fn. 11); W. Schmidt, in: LK-StGB, 12. Aufl. 2007, § 93 StGB Rn. 20 (m. Fn. 24). 48 Zum Meinungsstreit Brammsen, in: MüKo-UWG, 2. Aufl. 2014, § 17 Rn. 24; Köhler, in: Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 37. Aufl. 2019, § 17 Rn. 9; Erb, in: FS Roxin II, 2011, S. 1103, 1105 ff.; Engländer/T. Zimmermann, NZWiSt 2012, 328, 330 ff. 49 Ausführlicher zu den Argumenten (auch der Gegenansicht) Tiedemann/Rönnau, in: Scholz (Fn. 26), § 85 Rn. 19 f. m. w. Nachw. 50 Aus diesem Grund die Minderheitenansicht ablehnend Ransiek, in: Ulmer/Habersack/ Löbbe, 2. Aufl. 2016, § 85 Rn. 24; auch Koch, ZIS 2008, 500, 503; Beckemper/Müller, ZJS 2010, 105, 109; Mayer, GRUR 2011, 884, 887. 51 Richtig Schreiber, NZWiSt 2019, 332, 335 m. w. Nachw. 52 Zu weiteren Argumenten s. Hiéramente, BT-Prot.-Nr. 19/30, S. 75 f. („klare Trennung zwischen schützenswerten Betriebsinterna und inkriminierten Informationen nicht möglich“; Ausschluss „europarechtlich nicht geboten“; „auch an der Wahrung eines ,rechtswidrigen Geheimnisses‘ kann ein legitimes Interesse i.S.d. Erwägungsgrundes 14 der Richtlinie (EU) 2016/943 bestehen“); ders., in: BeckOK GeschGehG (Stand: 15. 10. 2019), § 2 Rn. 73.1 ff.

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geheimnis i.S.v. Art. 2 Nr. 1 Know-how-RL bzw. § 2 Nr. 1 GeschGehG vorläge.53 Mit der gegenteiligen Meinung hier auf das notwendige „legitime Interesse“ aus dem 14. Erwägungsgrund der Know-how-RL abzustellen, kann – wie bereits gezeigt – nicht überzeugen.54 Vielmehr werden die gegenläufigen (berechtigten) Interessen von Geheimnisinhaber (an Geheimnisschutz) und Whistleblower (an der Offenbarung bestimmter Informationen) durch zwei in einem aufeinander aufbauenden Stufenverhältnis stehende Vorschriften zum Ausgleich gebracht. Damit ist nun auch der Weg frei für die Befassung mit der Whistleblower-Regelung in § 5 Nr. 2 GeschGehG.

IV. Entlastungsmechanismus für das Whistleblowing gem. § 5 Nr. 2 GeschGehG 1. Genese der Norm Schon die Verfasser der Know-how-RL hatten das Ziel, trotz des angestrebten unionsweit verbesserten Geschäftsgeheimnisschutzes die im öffentlichen Interesse unternommenen „Whistleblowing-Aktivitäten nicht einzuschränken“.55 Dieses Bestreben wurde auch und gerade dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie die einschlägigen Ausnahmetatbestände gem. Art. 5 der Know-how-RL vollharmonisierend ausgestaltet haben (vgl. Art. 1 Abs. 1 UAbs. 2 der Know-how-RL)56 mit der Konsequenz, dass dem nationalen Gesetzgeber bei der Umsetzung des Rechtsaktes Abweichungen von den Richtlinienvorgaben verboten sind. Art. 5 der Know-howRL sieht nun in der hier allein interessierenden Variante lit. b) vor, dass Rechtsverstöße im Anwendungsbereich der Richtlinie dann ausnahmsweise keine rechtlichen Konsequenzen haben, wenn der Rechtsverletzer „zur Aufdeckung eines beruflichen oder sonstigen Fehlverhaltens oder einer illegalen Tätigkeit (…) in der Absicht gehandelt hat, das allgemeine öffentliche Interesse zu schützen“. Diese Vorgabe wurde

53 So schon die Bundesregierung, BT-Drs. 19/8300, S. 12; ebenso Hohmann, in: MüKoStGB (Fn. 29), § 23 GeschGehG Rn. 41; ders./Schreiner, StraFo 2019, 441, 443; Ohly, GRUR 2019, 441, 444 f.; Ullrich, NZWiSt 2019, 65, 67 (auf Basis des RegE); Reinbacher, KriPoZ 2018, 115, 119; auch Garden/Hiéramente, BB 2019, 963, 967 (als Behauptung), Hiéramente, BT-Prot.-Nr. 19/30, S. 76 und ders., in: BeckOK GeschGehG, § 2 Rn. 73; Alexander, AfP 2019, 1, 3 (aber kritisch); Dann/Markgraf, NJW 2019, 1174, 1176 (letztlich offenlassend); weiterhin Beurskens, in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 85 Rn. 7. 54 Gegner einer Einbeziehung „illegaler Geheimnisse“ sind Schreiber, NZWiSt 2019, 332, 335; Hauck, WRP 2018, 1032, 1033 ff.; ders., GRUR-Prax 2019, 223, 224 f.; Kalbfus, GRUR 2016, 1009, 1011; Passarge, CB 2018, 144, 145 („eher nicht“); Schmitt, RdA 2017, 365, 369 (Hinweise, die ausschließlich illegale Machenschaften beschreiben, sind nicht Schutzobjekt der Richtlinie); Böning/Heidfeld, AuR 2018, 555, 556. 55 Vgl. Erwgr. 20 der Know-how-RL. 56 So etwa Alexander, AfP 2019, 1, 7; Kalbfus, GRUR 2016, 1009, 1014 f.; McGuire, GRUR 2016, 1000, 1008; Reinbacher, KriPoZ 2018, 115, 119, 121.

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zunächst im Referentenentwurf57 und auch noch im Regierungsentwurf58 mit ähnlichem Wortlaut übernommen. Dabei interpretierte das bei der Umsetzung der Richtlinie federführende BMJV die Ausnahmetatbestände als Rechtfertigungsgründe, die auch auf die Strafvorschriften des § 23 GeschGehG anwendbar sind.59 Nach einer Sachverständigen-Anhörung und einer hitzigen Parlamentsdebatte, in der – wie mehrfach erwähnt – die Bedenken bezüglich einer zu starken Beschränkung des Whistleblowing und des investigativen Journalismus eine große Rolle spielten, schlug der Rechtsausschuss zur Streitbeilegung mit Blick auf § 5 GeschGehG zweierlei vor: Erstens die Umgestaltung des § 5 von einem Rechtfertigungsgrund in eine Tatbestandsausnahme (dokumentiert durch die geänderte Überschrift), um bei Erfüllung eines Verbotstatbestandes den (abschreckenden) Eindruck zu vermeiden, Whistleblower und Journalisten handelten prima facie rechtswidrig.60 Zweitens die Ersetzung der „Absicht“, das allgemeine öffentliche Interesse zu schützen, durch eine entsprechend „geeignete“ Handlung, um eine Gesinnungsprüfung unnötig zu machen.61 Der Bundestag hat das Gesetz am 21. 3. 2019 mit diesen Veränderungen verabschiedet. 2. Kritik an der Whistleblower-Regelung Die Aufnahme der Whistleblower-Regelung in der in § 5 Nr. 2 GeschGehG umgesetzten Fassung durch die Literatur war durchwachsen62. Nachfolgend sollen allein die wichtigsten Kritikpunkte erörtert werden. a) Korrekte Umsetzung der Richtlinienvorgabe? Schon die richtige Umsetzung der Vorgaben aus der Know-how-RL für das Whistleblowing in das deutsche Recht ist fraglich. Die Bundesregierung hatte im laufenden Gesetzgebungsverfahren den Rechtsausschuss darauf hingewiesen, dass ihrer Ansicht nach (auch) die beabsichtigte Änderung der Voraussetzungen in § 5 Nr. 2 GeschGehG von der Richtlinie nicht gedeckt sei, da das Europäische Parlament bewusst den (weiten) Begriff der „Absicht“ gewählt habe, um denjenigen Hinweisgeber zu 57 RefE vom 19. 4. 2018 zum Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/943 zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung, S. 7, abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfah ren/Dokumente/RefE_GeschGehG.pdf?__blob=publicationFile&v=1 (zul. abgerufen am 13. 1. 2020). 58 BT-Drs. 19/4724, S. 10, 28 f. 59 BT-Drs. 19/4724, S. 28 f. 60 BT-Drs. 19/8300, S. 14; Ohly, GRUR 2019, 441, 448. 61 BT-Drs. 19/8300, S. 14; näher zum Gesetzgebungsverfahren Hiéramente, in: BeckOK GeschGehG, § 5 Rn. 3 ff. 62 Ohne oder schwache Kritik etwa bei Hauck, GRUR-Prax 2019, 223, 225; ders., WRP 2018, 1032, 1035 ff.; auch Alexander, AfP 2019, 1, 7.

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schützen, der „Gutes wolle“.63 Der Bundestag hat die Kritik nicht aufgegriffen. Verstummt ist sie in diesem Punkt deshalb aber nicht. Bezweifelt wird zu Recht, dass die jetzt Gesetz gewordene Fassung, wonach die Handlung „geeignet“ sein muss, „das allgemeine Interesse zu schützen“, mit dem Richtlinientext in seinen unterschiedlichen Sprachfassungen kompatibel ist.64 Es gibt erkennbar deutliche Unterschiede im Wortsinn zwischen dem rein subjektiven Merkmal der „Absicht“ (in der deutschen Richtlinienübersetzung65) und dem Begriff der „Eignung“ in der neuen objektiven Formulierung. Die Spannungen nehmen bei einem Blick in die einschlägigen Passagen der französischen und englischen Fassung der Know-how-RL nicht ab. Es ist schon grenzwertig, Formulierungen wie „le but“66 („zum Zwecke“, „mit dem Ziel“) oder „purpose“67 („Zweck“) mit „Eignung“ im jetzigen Text des § 5 Nr. 2 GeschGehG zu übersetzen. Allein ein subjektiver Eignungsbegriff könnte wohl – entgegen der Intention des deutschen Gesetzgebers68 – noch mit dem Wortlaut der anderssprachigen Richtlinientexte vereinbar sein (wie dies auch in einigen Formulierungen des § 5 GeschGehG anklingt, z. B.: „wenn dies zum Schutz eines berechtigten Interesses erfolgt“ oder „zur Aufdeckung“). b) Tatbestandsausschluss- statt Rechtfertigungsgrund – eine seltsame Verbesserung Die vom Bundestag nach vorangeganger Sachverständigenanhörung und Diskussionen im Rechtsausschuss getroffene Entscheidung, die Haftungsfreistellungen nach § 5 GeschGehG (und damit auch die Whistleblowing-Regelung) als Tatbestandsausschlussgründe und nicht – wie noch im Regierungsentwurf vorgesehen – als Rechtfertigungsgründe auszugestalten,69 lässt sich jedenfalls aus strafrechtlicher Perspektive nur als „kurios“ bezeichnen. Denn strafrechtlich relevantes Unrecht liegt 63

BT-Drs. 19/8300, S. 12 f. Vgl. Ohly, GRUR 2019, 441, 448 (der darin aber eine „wohl noch zulässige Ausgestaltung der Richtlinie“ sieht; aber auch 450: „Vereinbarkeit […] mit Unionsrecht ist zweifelhaft“); klar für Richtlinienkonformität dagegen Schreiber, NZWiSt 2019, 332, 336. 65 Vom Gesetzgeber wurde hier ein Übersetzungsfehler der Richtlinie vermutet und angenommen, „purpose“ müsse mit „Zweck“ und nicht mit „Absicht“ übersetzt werden, vgl. BTDrs. 19/8300, S. 11, 14 und Dann/Markgraf, NJW 2019, 1774, 1777 m. w. Nachw. in Fn. 48. 66 „(…) à condition que le défendeur ait agi dans le but de protéger l’intérêt public général“. 67 „(…) provided that the respondent acted for the purpose of protecting the general public interest“. 68 Im Wege der Ersetzung der „Absicht“ durch die Eignungsklausel sollte die Formulierung objektiviert werden, vgl. BT-Drs. 19/8300, S. 14. Damit handeln jetzt auch Whistleblower privilegiert, die nicht aus rein altruistischen, sondern zudem aus finanziellen Motiven (etwa Verkauf von Informationen) handeln, s. nur Ohly, GRUR 2019, 441, 448. 69 Vgl. BT-Drs. 19/8300, S. 14. Dokumentiert auch in § 2 Nr. 3 GeschGehG, wonach kein „Rechtsverletzer ist (…), wer sich auf eine Ausnahme nach § 5 berufen kann“, s. BT-Drs. 19/ 8300, S. 4, 11. 64

Haftungsfreistellung des „Whistleblowers“ nach § 5 Nr. 2 GeschGehG

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allein dann vor, wenn alle Tatbestandsvoraussetzungen gegeben sind und kein Erlaubnissatz eingreift. Dogmatisch (und mit Blick auf das Strafprozessrecht auch beweismäßig) macht es also keinerlei Unterschied, ob der potenzielle Täter schon den Straftatbestand nicht verwirklicht oder sein Verhalten nur gerechtfertigt ist.70 Das mit hoher Suggestivwirkung in der strafrechtlichen Diskussion immer wieder vorgetragene Welzel’sche Mückenbeispiel71, wonach es einen (Wert-)Unterschied gibt zwischen der Tötung einer Mücke (erlaubt, weil zumeist nicht verboten) und der Tötung eines Menschen in Notwehr (erlaubt, weil das Verbot durch die vorgängige Erlaubnisnorm verdrängt wird), verschleiert daher eher den nüchternen Blick dafür, dass bei einer Tötung in Notwehr von Anfang an ein ambivalentes Verhalten vorliegt: Die tatbestandsmäßige Tötungshandlung stellt sich zugleich als zulässiges Verteidigungsverhalten dar. Diesen nüchternen Blick haben auch die Parlamentarier (und Interessenvertreter) verloren, wenn sie meinen, die Whistleblower-Regelung zum Tatbestandsausschlussgrund „hochzonen“ zu müssen.72 Dabei wären die Journalisten und Whistleblower bei unveränderter Verabschiedung des Regierungsentwurfes in guter Gesellschaft gewesen. Auch die Ärzte müssen (trotz großer Empörung!) damit leben, dass sie mit ihren ärztlichen Heileingriffen nach ständiger Rechtsprechung den Tatbestand der Körperverletzung verwirklichen und allein wegen der Patienteneinwilligung kein Unrecht begehen.73 Zudem: Von Tischlern hat man noch nie gehört, dass sie gegen die Qualifizierung als tatbestandsmäßig handelnde Sachbeschädiger protestieren, weil ihnen erst auf Rechtfertigungsebene die Einwilligung des Eigentümers zur Seite steht.74

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Ausführlich zur Funktionseinheit von Tatbestand und Rechtswidrigkeit Rönnau, in: LKStGB, 13. Aufl. 2019, Vor § 32 Rn. 5 ff. m. allen Nachw. Dennoch gibt es jenseits der grundsätzlichen Wertungsstufen von Unrecht und Schuld strukturelle und pragmatische Gründe, die es rechtfertigen, Tatbestand und Rechtswidrigkeit getrennt zu behandeln – und eben nicht der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen zu folgen (vgl. Rönnau, in: LK-StGB, Vor § 32 Rn. 15 ff.). Der Gesetzgeber des GeschGehG hat es sich daher zu leicht gemacht, wenn er die sachlich als Rechtfertigungsgründe konzipierten Entlastungstatbestände des § 5 GeschGehG (i.d.S. auch Ohly, GRUR 2019, 441, 448; Dann/Markgraf, NJW 2019, 1174, 1177; weiterhin Brammsen, wistra 2018, 449, 454) aus – wie erörtert – wenig überzeugendem Grund einfach zu Tatbestandsausschlussgründen umqualifiziert hat. 71 Dazu mit w. Nachw. Rönnau, in: LK-StGB (Fn. 70), Vor § 32 Rn. 13. 72 Kritisch auch Müllmann, ZRP 2019, 25, 26. 73 S. nur Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 223 Rn. 17 m. w. Nachw. Parallele gesehen von Ohly, GRUR 2019, 441, 448 in Fn. 63; zust. Schreiber, NZWiSt 2019, 332, 335 m. Fn. 43. 74 Vgl. in diesem Kontext weiterhin das „Schusterbeispiel“ von T. Walter, Der Kern des Strafrechts, 2006, S. 88. Nur hingewiesen sei darauf, dass es vor dem skizzierten Hintergrund als wenig folgerichtig erscheint, wenn der erst auf Vorschlag des Rechtsausschusses ins GeschGehG aufgenommene § 23 Abs. 6 (vgl. BT-Drs. 19/8300, S. 5, 15) bestimmte Beihilfehandlungen von Journalisten als „nicht rechtswidrig“ ausflaggt, statt sie schon als „nicht tatbestandsmäßig“ einzustufen.

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c) Monita zum Inhalt des § 5 Nr. 2 GeschGehG Auch der Inhalt der Whistleblower-Regelung gibt allen Anlass zur Kritik, die hier nur in ihren Grundzügen skizziert werden kann. aa) Bedenkliche Weite und Unschärfe der Ausnahmeklausel § 5 Nr. 2 GeschGehG gewährt in der schließlich Gesetz gewordenen Fassung dem Hinweisgeber einen Dispens von der Beachtung der Handlungsverbote gem. § 4 GeschGehG.75 Ermächtigt wird „zur Aufdeckung einer rechtswidrigen Handlung oder eines beruflichen oder sonstigen Fehlverhaltens, wenn die Erlangung, Nutzung oder Offenlegung geeignet ist, das allgemeine öffentliche Interesse zu schützen“. Diese Vorschrift wird angesichts ihrer Weite und Unschärfe zu Recht heftig kritisiert. Im Fokus steht dabei vor allem die Qualität des Verhaltens, das Anlass für zulässige Aufdeckungsaktivitäten des Hinweisgebers sein kann.76 Noch einigermaßen konturenscharf sind hier der Begriff der „rechtswidrigen Handlung“ (die auch das Unterlassen einbeziehen sollte) und des „beruflichen Fehlverhaltens“, von dem der Gesetzgeber ausweislich der Motive jedenfalls einen Verstoß gegen berufsständische Normen (wie etwa den Regelungen der BRAO, nicht aber der gelebten Praxis) erfasst wissen will.77 Das sieht beim Merkmal des „sonstigen Fehlverhaltens“ völlig anders aus. Die Regierungsbegründung versteht darunter auch ein „unethisches Verhalten, das nicht notwendigerweise gegen Rechtsvorschriften verstoßen muss“.78 Eine solche Deutung fordert weder Art. 5 der Know-how-RL, der hier fast wortlautidentisch umgesetzt wurde, noch der korrespondierende 20. Erwägungsgrund.79 Die Anknüpfung an ein unethisches Verhalten liefert in einer pluralistischen Gesellschaft, die gerade in jüngerer Zeit in mannigfaltigen Kontexten zu moralisch aufgeladenen Urteilen neigt und sich schnell empört, ein höchst unpräzises, ja fast ins Beliebige ausuferndes Kri75 § 5 GeschGehG enthält neben den in den Nrn. 1 – 3 ausgestanzten Beispielen noch die im Eingangs(halb)satz formulierte Generalklausel, also insgesamt vier Fallgestaltungen, vgl. nur Brammsen, wistra 2018, 459, 454 und von Busekist/Racky, ZRP 2018, 135, 138. 76 Dabei können die zur Meldung berechtigenden Verhaltensweisen starke Überschneidungen aufweisen (etwa ein berufliches Fehlverhalten, das sich gleichzeitig als rechtswidrige Handlung entpuppt). 77 BT-Drs. 19/4724, S. 29; für Einbeziehung auch privatautonom gesetzter Regelwerke (etwa von Verbänden) Alexander, AfP 2019, 1, 7; näher Hiéramente, in: BeckOK GeschGehG, § 5 Rn. 19 ff. Misslich ist nicht nur bei diesem Gesetzgebungsprojekt, dass sich der Gesetzgeber in den Erläuterungen (hier: des „beruflichen Fehlverhaltens“) vorschnell in Beispiele „flüchtet“, anstatt eine abstrakte Definition wenigstens zu versuchen (und diese dann mit Beispielen zu unterfüttern). 78 BT-Drs. 19/4724, S. 29. 79 Richtig Bürkle, CCZ 2018, 193; Ullrich, NZWiSt 2019, 65, 69; Hiéramente, BT-Prot.Nr. 19/30, S. 15 und 86. Schon die Know-how-RL ist in diesem Punkt allerdings überaus weit und unbestimmt (vgl. neben der deutschen auch die englische [„misconduct, wrongdoing or illegal activity“] oder französische [„une faute un acte répréhensible ou une activité illégale“] Sprachfassung)! Gleichsinnig Ann, BT-Prot.-Nr. 19/30, S. 12 und 42.

Haftungsfreistellung des „Whistleblowers“ nach § 5 Nr. 2 GeschGehG

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terium, das gerade im auf größtmögliche Bestimmtheit angewiesenen Strafrecht großen Argwohn erwecken muss.80 Welches Tor damit aufgestoßen wird, zeigt sich schnell bei einem Blick auf die weiteren Erläuterungen in der Regierungsbegründung. Gemeint sind damit nämlich Verhaltensweisen, die „von der Allgemeinheit als Fehlverhalten eingestuft werden“, oder Aktivitäten, „die in der öffentlichen Diskussion häufig als unethisches Verhalten angesehen werden“.81 Hier gerät die Begründung – gemessen an rechtsstaatlichen Prinzipien wie der Vorhersehbarkeit und Kalkulierbarkeit strafrechtlichen Risikos von Verhalten – in ein gefährliches Fahrwasser. Denn in einem Rechtsstaat muss klar zwischen Recht und Moral unterschieden werden. Das Recht wird in einem bestimmten (Legitimations-)Prozess erzeugt; es beansprucht Geltung und Beachtung durch die Normadressaten. Moral ist dagegen zunächst einmal Privatsache (vielleicht noch Angelegenheit von Religionsgemeinschaften oder Kirchen). Passarge hat daher Recht: So unerfreulich unethisches Verhalten für eine Gesellschaft ist, muss doch die Gesellschaft dafür sorgen, dass die ethischen und moralischen Normen eingehalten werden. Dies ist nicht Aufgabe des Gesetzgebers oder der Justiz.82 Die Berechtigung zur Aufdeckung von mehr oder weniger manifestem Fehlverhalten nun an diffuse Moralvorstellungen zu knüpfen, verwischt diese Grenzen und entzieht den von den Vorwürfen Betroffenen den Schutz des Rechtsstaates. Denn dieser soll auch denjenigen vor Übergriffen bewahren, der mit seinem Auftreten nicht gerade den herrschenden Moralvorstellungen entspricht. Es mag zwar unethisch sein, Steuergesetze zu umgehen oder Schweine zusammengepfercht in Mastställen zu halten. Solange die Akteure aber die für den jeweiligen Bereich aufgestellten Regeln beachten, ist ihr Handeln, mag es auch unmoralisch sein, legal und von Staat und Gesellschaft hinzunehmen. Dann sollte dieses Verhalten aber auch nicht zum Anlass genommen werden dürfen, um darauf ein folgenschweres Whistleblowing zu stützen. Die vom Gesetzgeber hier in der Begründung eingestreuten Beispiele werfen ohnehin mehr Fragen auf, als sie beantworten. Wer ist denn gemeint mit der „Allgemeinheit“, die etwas (mit welchem Quorum?) als Fehlverhalten bewertet?83 „Öffentlich diskutiert“ wird 80 In diesem Sinne auch Brammsen, wistra 2018, 449, 454 („unspezifizierte Haftungsfreistellung“; „konturenlos generalklauselartig abgefasste ,Freiheitsrechte‘“; „Schrankenbestimmung ohne jegliche Maßvorgabe“); ders., BB 2018, 2446, 2449; Passarge, CB 2018, 144, 146 f.; Ullrich, NZWiSt 2019, 65, 69 f.; dies., WiJ 2019, 52, 55; Dann/Markgraf, NJW 2019, 1774, 1777; Hohmann/Schreiner, StraFo 2019, 441, 447; Naber/Peukert/Seeger, NZA 2019, 583, 586; auch Hiéramente/Golzio, CCZ 2018, 262, 264 und Hiéramente, BT-Prot.-Nr. 19/30, S. 15 (es bedarf der „Streichung ethischer Maßstäbe“); ausführlicher ders. (a. a. O.), S. 85 ff.; ebenso Ann, BT-Prot.-Nr. 19/30, S. 42. 81 BT-Drs. 19/4724, S. 29 (konkretisiert anhand von unternehmerischen Auslandsaktivitäten in Form von Kinderarbeit oder gesundheits- oder umweltschädlichen Produktionsbedingungen sowie systematischer und unredlicher Umgehung von Steuertatbeständen). 82 Passarge, CB 2018, 144, 145; Scherp/Rauhe, CB 2019, 20, 23 („justitiabel erscheint eine solche Form ,moralisierenden Rechts‘ kaum“). 83 Weitere berechtigte Fragen stellt Bürkle, CCZ 2018, 193; auch Ullrich, NZWiSt 2019, 65, 69.

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viel – und ständig über neue Themen! Soll daraus ernsthaft ein Momentum erwachsen, das als Anknüpfungspunkt für Whistleblowing herhalten kann? Die Unschärfe und Beliebigkeit steht all diesen Kriterien auf die Stirn geschrieben. Sie erzeugt eine massive Unsicherheit nicht nur für den Hinweisgeber (zumeist ein juristischer Laie), der einschätzen können muss, ob ein Verhalten zwar legal, aber nicht mehr legitim ist,84 sondern auch für den Unternehmer, den per se keine Pflicht zu moralisch einwandfreiem Verhalten trifft85 und zu dessen Lasten eine unter Umständen nicht zulässige Offenlegung von Geheimnissen geht. Dabei dürfen auch durch unberechtigte Vorwürfe betroffene Drittinteressen verdächtigter Personen nicht übersehen werden. Allen Beteiligten hat der Gesetzgeber durch diese niederschwellige Grenzziehung „Steine statt Brot“ gegeben, die auch durch etwaige einschlägige Gerichtsentscheidungen in der Zukunft, die vielleicht etwas Orientierung bringen, nicht bekömmlicher werden.86 Geboten ist hier eine deutlich einengende Auslegung des Merkmals.87 Die Auslegungsschwierigkeiten setzen sich fort, wenn § 5 Nr. 2 GeschGehG die Ausnahme davon abhängig macht, dass die Erlangung, Nutzung oder Offenlegung dazu geeignet sein muss, „das allgemeine öffentliche Interesse“ zu schützen. Der Begriff wurde aus der Know-how-RL übernommen (vgl. Art. 5 lit. b)) und schreibt dem Hinweisgeber bei seinem Handeln ein positiv konnotiertes Ziel vor, um in den Genuss der Haftungsfreistellung zu kommen. Was genau damit gemeint ist, bleibt nach Lektüre der Know-how-RL (nebst Erwägungsgründen) und auch den Erläuterungen zum GeschGehG allerdings weitgehend offen.88 Dabei können mit dem „allgemeinen öffentlichen Interesse“ ganz unterschiedliche Interessen betroffen sein (die möglicherweise sogar gegeneinander laufen). In der Literatur finden sich hier bisher nur erste tastende Interpretationsversuche.89 84

Richtig Bürkle, CCZ 2018, 193. Die Klarstellung durch den Gesetzgeber (BT-Drs. 19/ 8300, S. 14), es sei hier das „allgemeine, objektivierbare Rechtsverständnis“ heranzuziehen, hilft da kaum weiter, da unklar bleibt, wie ein höchstpersönliches moralisches Urteil verobjektiviert werden kann (gleichsinnig Ullrich, WiJ 2019, 52, 56). 85 Dann/Markgraf, NJW 2019, 1774, 1777. 86 Die WBRL ist hier restriktiver. Sie erlaubt Whistleblowing nur bei Verstößen gegen Rechtsvorschriften oder bei Umgehung europarechtlicher Vorgaben, vgl. Artt. 1 und 3 WBRL; Garden/Hiéramente, BB 2019, 963. 87 Pars pro toto Ullrich, NZWiSt 2019, 65, 68, Ernst, MDR 2019, 897, 900 und Hiéramente, in: BeckOK GeschGehG, § 5 Rn. 26 m.w.N. 88 So für viele Meyer, HRRS 2018, 322, 326 („schillernder und unscharfer Begriff“); Vogel/ Poth, CB 2019, 45, 47. 89 Vgl. Alexander, AfP 2019, 1, 7 (auszulegen als „gewichtige Belange der Allgemeinheit“); ders., WRP 2017, 1034, 1043 f. (mit Beispiel); Schiemann, in: FS Wessing, 2015, S. 569, 573 (ein solches Interesse liegt vor, „sofern Kollektivrechtsgüter oder öffentliche Einrichtungen betroffen sind oder eine Vielzahl von Individualrechtsgütern mit großer Intensität der Beeinträchtigung wie bei Arznei- oder Lebensmittelskandalen“); zust. Dann/Markgraf, NJW 2019, 1774, 1777; Hohmann, in: MüKo-StGB (Fn. 29), § 23 GeschGehG Rn. 127; ders./Schreiner, StraFo 2019, 441, 447; sehr weit Reinhardt-Kasperek/Kaindl, BB 2018, 1332, 1334 („vom öffentlichen Interesse wohl nur solche Enthüllungen ausgeschlossen […], in denen es an der gesellschaftlichen Relevanz fehlt“).

Haftungsfreistellung des „Whistleblowers“ nach § 5 Nr. 2 GeschGehG

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bb) Kritisches zum Eignungsmerkmal und der – nach Wortlaut – fehlenden Verhältnismäßigkeitsprüfung Nach geltendem § 5 Nr. 2 GeschGehG muss die Erlangung, Nutzung oder Offenlegung des Geschäftsgeheimnisses „geeignet“ sein, das allgemeine öffentliche Interesse zu schützen. Im Regierungsentwurf und auch in der zugrunde liegenden Knowhow-RL wird an dieser Stelle bei gleicher Schutzausrichtung noch die „Absicht“ verlangt. Durch die Forderung eines Mindest(qualitäts)standards („Geeignetheit“) der Eingriffshandlung will der Gesetzgeber sicherstellen, „dass das Geschäftsgeheimnis nur zur Abwehr von tatsächlichen oder gutgläubig angenommenen Verletzungen oder Gefährdungen öffentlicher Interessen offengelegt werden darf“.90 Wann genau nun der Whistleblower diese Anforderungen unterschreitet, bleibt allerdings unklar. Der Hinweis in der Gesetzesbegründung auf einen Missstand „von einigem Ausmaß und Gewicht“ gibt dabei nur einen vagen Anhalt.91 Der Maßstab, an dem sich das Eignungsurteil ausrichten muss, hat die Spezifika des jeweiligen Rechtsbereichs mit zu verarbeiten.92 Beim Whistleblowing sind hier vor allem die Schutzzwecke der Know-how-RL (und damit des GeschGehG) sowie das besondere Spannungsverhältnis der betroffenen Interessen von Unternehmen, Hinweisgeber, Staat und Medien/Presse in den Blick zu nehmen. Mit Ausnahme von recht eindeutigen Situationen – ausgrenzend etwa: bloß moralisch verwerfliches Verhalten soll dem Schutz eines eher diffusen öffentlichen Interesses dienen – bleibt hier viel Unsicherheit. Wer stärker das Primärziel der Know-how-RL und damit den verbesserten Schutz von Geschäftsgeheimnissen betont, kommt dabei zu anderen Ergebnissen als derjenige, der (gleichberechtigt?) die Absicherung des Whistleblowers in den Vordergrund stellt. Ein zweiter Aspekt ist noch wichtiger: Der Wortlaut des § 5 Nr. 2 GeschGehG sieht ausdrücklich nur die „Geeignetheit“, nicht aber die „Erforderlichkeit“ der Verletzung oder Gefährdung des Geschäftsgeheimnisschutzes vor.93 Ebenso wie nach der Know-how-RL scheint damit für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung beim Whistleblowing kein Platz zu sein. Die Konsequenz wäre, dass Hinweisgeber Geschäftsgeheimnisse direkt gegenüber externen Stellen wie der Staatsanwaltschaft, anderen Behörden oder gar der Presse offenlegen dürfen; mildere Mittel z. B. in Form von (unternehmens-)internen Abhilfeversuchen, die wegen der Sachnähe überaus sinnvoll sind, müssten vorher nicht ergriffen werden, sofern der Hinweisgeber zumindest gutgläubig davon ausgeht, die Offenlegung „illegaler Geheimnisse“ diene dem all90

BT-Drs. 19/8300, S. 14. Allerdings ist umstritten, ob die Offenlegung irrig angenommenen Fehlverhaltens zum Schutz öffentlicher Interessen „geeignet“ ist; ablehnend etwa Hiéramente, in: BeckOK GeschGehG, § 5 Rn. 34. 91 Ebenso Schreiber, NZWiSt 2019, 332, 336. 92 Für die Notwehr etwa Perron/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 32 Rn. 35 m. w. Nachw. 93 Anders ist das in § 5 Nr. 3 GeschGehG, der für die Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen durch Arbeitnehmer gegenüber der Arbeitnehmervertretung verlangt, dass dies „erforderlich ist, damit die Arbeitnehmervertretung ihre Aufgaben erfüllen kann“.

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gemeinen öffentlichen Interesse. Diese Option der eigenen Auswahl des angemessenen Mittels zur Aufdeckung wird von nicht wenigen Literaturvertretern begrüßt. Sie gebe dem Hinweisgeber Klarheit, da seine Haftung/Strafbarkeit nicht mehr – wie noch im früheren Recht – von einer schwer vorhersehbaren Interessenabwägung abhänge, und erleichtere den Weg in die Öffentlichkeit.94 Völlig unberücksichtigt bleiben bei dieser Argumentation jedoch die nachvollziehbaren, schützenswerten und auch geschützten Interessen des Geheimnisinhabers. Hinzuweisen ist hier auf den einheitlichen europa- bzw. unionsrechtlichen Schutzmaßstab, der schon jetzt einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen den Interessen des Hinweisgebers und des Unternehmens gewährleistet.95 Vorreiter war dabei die Rechtsprechung des EGMR (Rechtssache „Heinisch“), der in Fällen des Whistleblowing eine Abwägung zwischen der Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 10 EMRK) und der Pflicht des Arbeitnehmers zu Loyalität und Vertraulichkeit gegenüber seinem Arbeitgeber (§ 241 Abs. 2 BGB) fordert. Danach muss sich der Hinweisgeber zunächst um eine interne Klärung des Sachverhalts bemühen, bevor er an die Öffentlichkeit geht.96 Zwar kannte das Unionsrecht vor der Diskussion der WBRL keinen solchen Vorrang innerbetrieblicher Abhilfeaktivitäten. Allerdings schreibt Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh vor, dass die GRCh in ihren Gewährleistungen nicht hinter der EMRK zurückbleiben darf.97 Werden noch die Garantien der unternehmerischen Freiheit und des Eigentums gem. den Artt. 16, 17 GRCh in den Interessenausgleich mit einbezogen, kommt öffentliches Whistleblowing nur als letztes Mittel in Betracht.98 Diese Abwägungslösung – in letzter Zeit mit Blick auf die WBRL unter dem Stichwort „Dreistufiges Eskalationsmodell“ (bestehend aus interner Meldung, Information der Behörden und zuletzt Information der Öffentlichkeit) viel diskutiert99 und in abgeschwächter Form vom europäischen Gesetzgeber auch verabschiedet100 – führt letztlich dazu, dass eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im 94 Vgl. zur Know-how-RL Reinbacher, KriPoZ 2018, 115, 120; Eufinger, ZRP 2016, 229, 231; Hoeren/Münkler, WRP 2018, 150, 154; deutlich für einen Wegfall der Verhältnismäßigkeitsprüfung von Busekist/Racky, ZRP 2018, 135, 137; zum GeschGehG auch Ullrich, NZWiSt 2019, 65, 69 f. (aber kritisch); Schreiber, NZWiSt 2019, 332, 336 f.; für „offen“ hält die Frage Alexander, AfP 2019, 1, 8. 95 Näher zum Ganzen Schmitt, RdA 2017, 365, 367 f., 370 f.; in ihrem Fahrwasser Thüsing/ Rombey, NZG 2018, 1001, 1003 und Hiéramente, in: BT-Prot.-Nr. 19/30, S. 92 ff. (mit Auflistung von Lösungsansätzen); ders., in: BeckOK GeschGehG, § 5 Rn. 46 m.w.N. 96 EGMR, NJW 2011, 3501 – Heinisch/Deutschland; zur Abwägungslösung in der deutschen arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung s. BAGE 107, 36, 46 f. = NJW 2004, 1547, 1549 f.; NJW 2017, 1833, 1834. 97 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl. 2016, Art. 52 GRCh Rn. 56 ff.; weitere Nachw. bei Schmitt, RdA 2017, 365, 368 in Fn. 52. 98 Schmitt, RdA 2017, 365, 368. 99 Vgl. nur Ullrich, NZWiSt 2019, 65, 70; Forst, NJW-aktuell 14/2019, Editorial. 100 Dazu knapp Kumpan/Pauschinger, EuZW 2019, 357, 360; Wiedmann/Seyfert, CCZ 2019, 12, 16 f.; Schreiber, NZWiSt 2019, 332, 337; näher zu den „weichen“ Eskalationsstufen Ullrich, WiJ 2019, 52, 56 ff.

Haftungsfreistellung des „Whistleblowers“ nach § 5 Nr. 2 GeschGehG

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Kontext des § 5 Nr. 2 GeschGehG selbst dann geboten ist, wenn sie der Wortlaut nicht ausdrücklich verlangt.101 Wer eine solche Deutung – jedenfalls für das Strafrecht – strikt ablehnt, weil sie „die klare Grenze des Wortlauts von § 5 Nr. 2 GeschGehG zu Lasten des Täters (hier des externen Whistleblowers) überschreitet“102, übersieht, dass diese Vorschrift nur ein ausgestanztes Regelbeispiel der General(eingangs)klausel des § 5 GeschGehG enthält. Mit dem dortigen Wortlaut „(…) wenn dies zum Schutz eines berechtigten Interesses erfolgt“ lässt sich die hier vorgeschlagene, auch im Rahmen von § 5 Nr. 2 GeschGehG durchzuführende Verhältnismäßigkeitsprüfung aber noch vereinbaren, steht das Orientierung stiftende Regelbeispiel doch nur für einen typischen einschlägigen Sachverhalt aus der Menge der von der Generalklausel erfassten Tatbestände.103 Das gefundene Ergebnis harmoniert auch mit dem Erwägungsgrund 21 der Know-how-RL.104 Für die strafrechtliche Haftung gem. § 23 i.V.m. § 4 und § 5 GeschGehG hängt – soviel nur als abschließender Hinweis – letztlich einiges davon ab, dass der Hinweisgeber auch den vollständigen subjektiven Tatbestand verwirklicht, also zumindest bedingten Vorsatz und etwaige notwendige Absichten aufweist (vgl. § 15 StGB i.V.m. Art. 1 Abs. 1 EGStGB). Um sich auf den Ausnahmegrund des Whistleblowing (der sachlich einen Erlaubnissatz enthält) stützen zu können, muss er also nach der Parallelwertung in der Laiensphäre eine Vorstellung von den dort vorgeschriebenen normativen Merkmalen haben. Überdehnt der Whistleblower hier den Anwendungsbereich der Ausnahmeregel, etwa weil er fälschlich zu seinen Lasten „unethisches Verhalten“ als „sonstiges Fehlverhalten“ nach § 5 Nr. 2 GeschGehG einstuft oder das „allgemeine öffentliche Interesse“ als Schutzziel verfehlt, greift der Ausnahmetatbestand nicht. Entlastend kann dann nur noch ein unvermeidbarer Verbotsirrtum gem. § 17 StGB wirken. Weiteres kann hier zu den Irrtumsrisiken nicht mehr ausgeführt werden.

V. Fazit Die kleine Analyse der Whistleblower-Regelung in § 5 Nr. 2 GeschGehG hat gezeigt, dass dieser Ausnahmetatbestand mit einer Reihe von Unsicherheiten behaftet 101 Ausführlich Schmitt, RdA 2017, 365, 370 ff.; Ohly, GRUR 2019, 441, 448 f.; Dann/ Markgraf, NJW 2019, 1774, 1777; auch Garden/Hiéramente, BB 2019, 963, 967 („Interessen der Unternehmen dürfen nicht gänzlich ausgeblendet werden“); Hiéramente/Golzio, CCZ 2018, 262, 264 f.; Reinhardt-Kasperek/Kaindl, BB 2018, 1332, 1334; auch Trebeck/SchulteWissermann, NZA 2018, 1175, 1178. 102 Schreiber, NZWiSt 2019, 332, 337; ähnlich Ullrich, NZWiSt 2019, 65, 70 m. Fn. 62. 103 Anders von Busekist/Racky, ZRP 2018, 135, 137 (die aus der Nicht-Erwähnung einer Abwägungsklausel im Wortlaut des Art. 5 der Know-how-RL auf ein Verbot ihrer Einführung schließen). 104 I.d.S. BT-Drs. 19/4724, S. 28; ebenso Hiéramente, in: BeckOK GeschGehG, § 5 Rn. 46.1 („Der deutsche Gesetzgeber erkennt das Bedürfnis für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung auch an […]).

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ist, die jedenfalls außerhalb klarer Fälle und zukünftiger wegweisender Rechtsprechung weiterhin Hinweisgeber eher davon abhalten wird, Missstände aufzudecken. Gelungen ist die Regelung daher nicht! Der Gesetzgeber hätte im Spannungsfeld auszutarierender Interessen verschiedentlich restriktiver regeln sollen; die Vorgaben der Know-how-RL lassen eine solche konturenschärfere Ausgestaltung des deutschen Rechts zu – weniger kann manchmal mehr sein! Aber es war nicht die letzte Chance, den Bereich des Whistleblowing zu regulieren. Die nächste themenbezogene und umzusetzende Richtlinie, die nunmehr eine „große Lösung“ erfordert, steht mit der Whistleblower-Richtlinie schon vor der Tür. Möge Reinhard Merkel noch viele interessante Diskussionen anstoßen und sie kritisch begleiten. Dafür wünsche ich ihm weiterhin beste Gesundheit und viel Schaffenskraft!

Recht – Philosophie – Literatur Festschrift für Reinhard Merkel zum 70. Geburtstag

Schriften zum Strafrecht Band 355

Recht – Philosophie – Literatur Festschrift für Reinhard Merkel zum 70. Geburtstag

Teilband II

Herausgegeben von

Jan Christoph Bublitz, Jochen Bung, Anette Grünewald, Dorothea Magnus, Holm Putzke und Jörg Scheinfeld

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: Das Druckteam Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-15566-8 (Print) ISBN 978-3-428-55566-6 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis

TEILBAND I I. Literarisches Jochen Bung Vom Recht, sich betasten zu lassen, von wem man will. Bemerkungen zu Kraus und Adorno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Sigurd Paul Scheichl Prozesse als Bestandteil des Werks von Karl Kraus – Prozessakten als Quellen zu seinem Wirken. Am Beispiel des Prozesses Pisk gegen Kraus (1929 – 1931)

13

Jan Philipp Reemtsma Das Vergleichen als eigenartige intellektuelle Tätigkeit betrachtet. Ein Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Birgit Recki Eine Poetik der Menschenwürde. Stil als weiche Normativität bei Ferdinand von Schirach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

Heinz Müller-Dietz Warum schreiben Schriftsteller über Recht und Justiz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Alfred Nordmann Die rechten Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

II. Politische Philosophie und Rechtsphilosophie Michael Pauen Eine kontraktualistische Rechtfertigung von Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

Julian Nida-Rümelin Zur Legitimität von Staatlichkeit. Eine kosmopolitische Kritik offener Grenzen

87

Daniela Demko Demokratie im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus. Philosophische Reflexionen zur Begründung und zum Wesen einer Weltgemeinschaft als einer freiheitlichen Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

Anton Leist Gleichheit und/oder Verdienst? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

VI

Inhaltsverzeichnis

Jan C. Joerden Kant und Hegel zur Gewaltenteilung im Staat – Skizze eines Vergleichs . . . . .

153

Kurt Bayertz und Thomas Gutmann Thomas Dunson und Ethan Edwards im Lichte von Immanuel Kant und Carl Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

167

Matthias Mahlmann Politische Verbrechen und europäische Kultur – Joseph Conrads „Heart of Darkness“ und die Gegenwelten der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

Eric Hilgendorf Kritischer Rationalismus und das Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

213

Martin Hein Dogmatik und Hermeneutik als Leitbegriffe in Rechtswissenschaft und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

235

Christian Becker Rechtswissenschaft, positives Recht und politischer Protest. Überlegungen anlässlich der Campus as Safe Space-Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

257

Benno Zabel Handeln, Entscheiden, Zurechnen. Wie der Einsatz intelligenter Technik die deontologische Deutung des Rechts verändert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

271

Till Zimmermann Vom Leid und Eigeninteresse künstlicher Rechtsträger: Juristische Personen als moralische Subjekte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

295

III. Grundlagen des Strafrechts Bettina Walde Zum normativen Charakter menschlicher Freiheit und der Frage nach dem objektiven Fundament des Schuldprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

317

Christian Fahl Das schlechte Gewissen des Strafrechtlers und die Willensfreiheit . . . . . . . . . .

335

Urs Kindhäuser Setzt Unrecht Schuld voraus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

351

Rolf Dietrich Herzberg Das Anderskönnen in der strafrechtlichen Schuldlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

371

Thomas Fischer Zur Feststellung schwerer seelischer Abartigkeit, oder: Wieviel Selbstreferentialität verträgt die Schuld? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

395

Volker Haas Schuldfähigkeit als Fertigkeit. Zu denkbaren Konsequenzen im Erwachsenenstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

413

Inhaltsverzeichnis

VII

Wolfgang Wohlers Das tradierte Schuldstrafrecht – ein Auslaufmodell? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

423

Luís Greco Identität, Authentizität und Schuld – Reflexionen anlässlich der jüngsten Prozesse gegen „alte Nazis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

443

Jan Christoph Bublitz Die Genealogie der Vergeltung, oder warum retributiven Überzeugungen nicht zu trauen ist. Ein Beitrag zu einer neuropsychologisch informierten Strafrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

459

Gerhard Seher Wert und Grenzen der expressiven Theorie der Strafe. Zugleich eine Skizze über Begriff und Zweck staatlicher Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

493

Tatjana Hörnle Das Ideal des Bürgerstrafrechts vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Fragmentierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

511

Michael Kubiciel Das Strafrecht einer fragmentierten Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

529

Tonio Walter Zur Demokratisierung des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

545

Kai Ambos Strafrecht und Verfassung: Gibt es einen Anspruch auf Strafgesetze, Strafverfolgung, Strafverhängung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

565

Martin Böse Der EuGH und die Strafrechtsdogmatik. Grund und Grenzen einer Harmonisierung des Allgemeinen Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

589

IV. Strafrecht Allgemeiner Teil Peter Mankowski Auslandsrechtsanwendung, Auslandsrechtsprüfung, Auslandsrechtsberücksichtigung und Auslandsrechtsermittlung im deutschen Strafverfahren . . . . . .

609

Hans Kudlich Die Expansion des Strafens durch § 9 II 2 StGB. Drohende Friktionen und vorsichtige Einhegungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

625

Günther Jakobs Garantenstellung bei tätiger Verletzung negativer Pflichten . . . . . . . . . . . . . . .

639

Ralf Stoecker Der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen und die Bedeutung von Handlungssphären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

649

Sebastian Simmert und Joachim Renzikowski Causa efficiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

667

VIII

Inhaltsverzeichnis

Ingeborg Puppe Über einige Probleme des Kausalitätsbegriffs im Strafrecht und Merkels Lehren dazu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

681

Kurt Seelmann Zurechnung zu künstlicher Intelligenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

695

Lorenz Schulz Der Irrtum als Seismograph des Strafrechts. Ein Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . .

707

Heinz Koriath Was für ein Irrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

717

Uwe Murmann Tatentschluss und Legitimation der Versuchsstrafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

727

Horst Schlehofer Strafbarkeitseinschränkende Alternativen zur hypothetischen Einwilligung im Arztstrafrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

745

Susanne Beck Fiktion vs. Realität. Warum nicht alle Fälle der „hypothetischen Einwilligung“ gleich zu behandeln sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

761

Rainer Keller Nothilfe für Tiere als Anthropozentrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

779

Ulfrid Neumann Rechtspositionen, Rechtsgüter und Rettungsinteressen in der aktuellen Diskussion zu Problemen des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) . . . . . . . . .

791

Andreas Hoyer Das Grundrecht auf Leben als Tötungsverbot für den Staat und als Schutzanspruch gegen den Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

813

Wolfgang Mitsch Die Weigerung ein menschlicher Schutzschild zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

827

Volker Erb Der Lebensnotstand bei siamesischen Zwillingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

845

Elisa Hoven Tötung im Notstand? – Überlegungen zur Reichweite des Notstandsrechts insbesondere im Völkerstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

857

Milan Kuhli Roboterprogrammierung im Dilemma. Neue Verhaltensnormen für tödliche Notstandssituationen mit Unbeteiligten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

887

Thomas Rönnau Die Haftungsfreistellung des „Whistleblowers“ nach § 5 Nr. 2 GeschGehG – eine gelungene Regelung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

909

.................................................................

5

Inhaltsverzeichnis

IX

TEILBAND II V. Strafrecht Besonderer Teil Carl-Friedrich Stuckenberg Digitaler Hausfriedensbruch? Von trügerischen Analogien zur analogen Welt

931

Gereon Wolters Das gesetzliche Merkmal „gegen den erkennbaren Willen“ in der Neufassung des § 177 Abs. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

951

Claus Roxin § 184 j StGB im Streit der Meinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

973

Armin Engländer Politische Tötungsmotive als niedrige Beweggründe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

983

Peter Singer The Challenge of Brain Death for the Sanctity of Life Ethic . . . . . . . . . . . . . . 1001 Dieter Birnbacher „Hirntod und kein Ende“ – nach zwanzig Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1015 Dietmar von der Pfordten Menschenwürde und Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1031 Carl Friedrich Gethmann Ethische Fragen der Selbsttötung angesichts der aktuellen deutschen Diskussion um ärztliche Sterbehilfe und um Sterbehilfevereine . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1045 Frank Saliger Zur prozeduralen Regelung der Freitodhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1063 Friedhelm Hufen Weiterleben als Schaden? – Weiterleiden als Schaden! Grundrechtsschutz gegen Übertherapie vor dem Tode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1079 Thomas Hillenkamp Abgestufte Anforderungen an selbstbestimmtes Sterben? . . . . . . . . . . . . . . . . . 1091 Christoph Sowada Die Tatherrschaft als Zurechnungsinstrument im Spannungsfeld von Selbstund Fremdtötung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1109 Thomas Weigend Teilnahme am nicht freiverantwortlichen Suizid? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1129 Véronique Zanetti Verhältnismäßigkeit und Kompromisse am Beispiel des deutschen Abtreibungsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1141 Thomas Rotsch Zur Täterschaft der Schwangeren beim Schwangerschaftsabbruch . . . . . . . . . . 1163

X

Inhaltsverzeichnis

Klaus Rogall § 219a StGB in neuer Gestalt. Anmerkungen zu einem Lehrstück zeitgenössischer Rechtspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1181 Anette Grünewald Intersexualität und Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1203 Detlev Sternberg-Lieben Verletzungen beim Fußballsport – strafbare Körperverletzung? . . . . . . . . . . . . 1223 Martin Heger Strafrechtliche Grenzen von Enhancements im Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1245

VI. Strafverfahrensrecht Matthias Jahn und Sascha Ziemann Frankfurter Strafprozessunordnung. Der Kaufhausbrandstifterprozess von 1968 als epochemachender Schauplatz politischer Inszenierung . . . . . . . . . . . . . . . . 1265 Karsten Gaede § 81g StPO – Musterbeispiel für die schöne neue Welt der Strafverfolgungsvorsorge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1283 Henning Rosenau und Carina Dorneck Die Rolle der forensischen Molekulargenetik im Strafprozess . . . . . . . . . . . . . 1301 Guido Britz Die „formlose Einziehung“: Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen . . . 1321

VII. Völkerrecht Claus Kreß Die Anfänge des Völkerstrafrechts im Spiegel von Reinhard Merkels Völkerstrafrechtsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1345 Bernd Schünemann Von den trüben Quellen und seichten Mündungen des Völkerstrafrechts . . . . . 1361 Dorothea Magnus Verfolgung und Anklage von Völkerrechtsverbrechen nach deutschem Recht: wie weit zulässig und geboten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1375 Ulrich Steinvorth Kollateraltötungen und Optimierungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1395 Albin Eser Tödliche „Kollateralschäden“ durch militärische Aktionen: zu deutscher Mitverantwortung für ausländische Drohneneinsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1409

Inhaltsverzeichnis

XI

Stefanie Bock Individuelle Verantwortlichkeit für staatliche Angriffshandlungen. Überlegungen zum Verbrechen der Aggression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1433 Georg Meggle Zum „Terrorismus“ im Sicherheitsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1453

VIII. Recht und Ethik der Medizin und Biowissenschaften John Harris Gene Editing in Humans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1463 Gunnar Duttge Moderne Pränataldiagnostik: Legitimer Freiheitsgebrauch fern von „Diskriminierung“ und „Selektion“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1473 Thomas Schramme Manipulation und mentale Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1489 Ingmar Persson and Julian Savulescu No Matter, Never Mind: The Bodily Basis of Mental Integrity . . . . . . . . . . . . . 1501 Neil Levy Nudge, Nudge, Wink, Wink: Nudging is Giving Reasons . . . . . . . . . . . . . . . . . 1507 Jonathan Glover Privacy, Neuroscience and the Inner Life . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1531 Bettina Schöne-Seifert und Marco Stier Zur Autorität von Demenzverfügungen: Merkels Vorschlag einer notstandsanalogen Interessenabwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1545 Ulrich Schroth Zur Legitimation der gesetzlichen Regelungen der Nierenlebendspende . . . . . 1565 Holm Putzke und Jörg Scheinfeld Zur Widerspruchsregelung bei der Leichenorganspende. Gedanken zur Diskussion im Ethikrat und im aktuellen Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1579 Nikolaus Knoepffler Die Widerspruchsregel bei der Organspende – Überlegungen zu Reinhard Merkels Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1603

IX. Varia Wolfram Höfling „Eine Zensur findet … statt“. Schlaglichter auf die Filmkontrolle in der frühen Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1619

XII

Inhaltsverzeichnis

Jacqueline Neumann Von der Formung des Rechts auf Weltanschauungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . 1633 Publikationen Reinhard Merkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1651 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1669

V. Strafrecht Besonderer Teil

Digitaler Hausfriedensbruch? Von trügerischen Analogien zur analogen Welt Von Carl-Friedrich Stuckenberg

I. Einleitung Von Reinhard Merkel ist man es gewohnt, daß er sich mit den ethischen und strafrechtlichen Problemen befaßt, die neue Technologien aufwerfen oder künftig aufwerfen könnten wie etwa das Neuroenhancement, wozu er einen Tatbestand zum Schutz der mentalen Selbstbestimmung vorgeschlagen hat.1 Die technologischen Phänomene des digitalen Umbruchs, die den Strafgesetzgeber beschäftigen, sind viel weiter von Science Fiction entfernt als „Hirntuning“ und viel weniger spektakulär, doch die Lösungsansätze scheinen sich zu ähneln: So wie Merkel den Tatbestand des Hausfriedensbruchs als Vergleichsobjekt für den Schutz des „Bewußtseinsfriedens“ heranzieht, so ist auch der Gesetzgeber nicht selten bei der Repression sozialschädlichen Verhaltens, das sich digitaler Werkzeuge bedient, analogisch verfahren. Die überkommenen Tatbestände des von 1871 stammenden deutschen StGB konnten die früher zunächst als „Computerkriminalität“ bezeichneten Verhaltensweisen nur zum Teil erfassen. Der Gesetzgeber hat schon vor über 30 Jahren auf die technische Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung reagiert und mit dem 2. Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität 19862 mehrere auf „Computerkriminalität“ zugeschnittene Tatbestände in das StGB eingefügt, namentlich das Ausspähen von Daten (§ 202a), den Computerbetrug (§ 263a), die Fälschung beweiserheblicher Daten (§§ 269, 270), die Datenveränderung (§ 303a) und die Computersabotage (§ 303b). Bei §§ 263a, 269, 270 StGB mußten die analogen Tatbestände des Betruges und der Urkundenfälschung lediglich an neue Tatwerkzeuge und die Ersetzung täuschbarer Menschen durch EDV angepaßt werden. Komplett analogisch gebildet3 sind § 202a und § 303a StGB: Wer sich Kenntnis vom gesprochenen oder geschriebenen Wort, das nicht zu seiner Kenntnis bestimmt ist, ver1

Merkel, ZStW 121 (2009), 919, 950 ff. 2. WiKG vom 15. 5. 1986, BGBl. 1986 I, 721, dazu RegE BR-Drs. 150/83; BT-Drs. 10/ 318, Ber. BT-Drs. 10/5058. 3 In differenzierterer, an Vogel, Festschrift Weber, 2004, S. 395, 398 f., angelehnter Terminologie spricht Brodowski, ZIS 2019, 49, 52 f., von einem „informationstechnisch-funktionalen“ Regelungsmodell. 2

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Carl-Friedrich Stuckenberg

schafft, wird nach §§ 201, 202 StGB bestraft – wer sich Zugang zu nicht unmittelbar wahrnehmbaren codierten Informationen, sprich Daten,4 verschafft, unterliegt nun § 202a. Wer fremde Sachen beschädigt oder zerstört, ist nach § 303 StGB strafbar – wer rechtswidrig Daten nachteilig manipuliert, unterfällt § 303a StGB. Die Grenzen solcher Analogien zur analogen Welt5 zeigen sich sogleich deutlich an dem bis heute nicht behobenen Schönheitsfehler des § 303a StGB, daß es für Daten anders als für Sachen keine Primärnormordnung analog zum Eigentum gibt, die das Schutzgut rechtlich konturiert: Über „Dateneigentum“ o. ä. wird zwar seit Jahren geredet,6 aber bislang sind Daten, die sich in manchen Eigenschaften von körperlichen Gegenständen wesentlich unterscheiden, gleichsam herrenlos. § 303b StGB ist unproblematischer, weil zumeist auch eine Eigentumsstörung vorliegt, nur nicht durch körperliche Einwirkungen. Nun ist Computer- und Internetkriminalität seit langem auch Gegenstand von Rechtsakten der Europäischen Union sowie des Europarates,7 unter dessen Ägide 2001 in Budapest die „Convention on Cybercrime“ geschlossen wurde,8 die das Vorbild für den Rahmenbeschluß der EU von 2005 über Angriffe auf Informationssysteme9 bildete, welcher inzwischen durch die Richtlinie von 201310 ersetzt wurde. In den letzten anderthalb Jahrzehnten dienten die Aktivitäten des deutschen Gesetzgebers in diesem Bereich zumeist der Umsetzung des europäischen Rechts, z. B.11 durch das 41. Strafrechtsänderungsgesetz zur Bekämpfung der Computerkriminalität von 2007,12 das die Vorschriften des § 202b (Abfangen von Daten) und das ge-

4

Im deutschen Recht sind „Daten“ bislang nicht definiert, vgl. LK/Hilgendorf, 12. Aufl. 2011, § 202a Rn. 7; Art. 2 b) der Richtlinie 2013/40/EU versteht nun unter „Computerdaten“ „jede Darstellung von Tatsachen, Informationen oder Konzepten in einer für die Verarbeitung in einem Informationssystem geeigneten Form, einschließlich eines Programms, das die Ausführung einer Funktion durch ein Informationssystem auslösen kann“. § 202a Abs. 2 StGB ist aber nicht auf Computerdaten beschränkt, BGH NStZ 2018, 401, 402 f. 5 Krit. schon Sieber, The International Emergence of Criminal Information Law, 1992, S. 15. 6 Nachw. bei Stuckenberg, ZIS 2016, 526, 530 Fn. 45 f. 7 Nachw. bei Haase, Computerkriminalität im Europäischen Strafrecht, 2017, S. 23 ff., 48 ff.; Hilgendorf/Valerius, Computer- und Internetstrafrecht, 2. Aufl. 2012, Rn. 93 ff. 8 Convention on Cybercrime, done at Budapest, on 23 November 2001, ETS No. 185, in Kraft seit dem 1. 7. 2004; von Deutschland mit Wirkung vom 1. 7. 2009 ratifiziert, BGBl. 2008 II, 1242. 9 Rahmenbeschluß des Rates der Europäischen Union (2005/222/JI) vom 24. 2. 2005 über Angriffe auf Informationssysteme, ABl.EG L 69/67 vom 16. 3. 2005. 10 Richtlinie 2013/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. 8. 2013 über Angriffe auf Informationssysteme und zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2005/222/JI des Rates, ABl.EU L 218/8 vom 14. 8. 2013. 11 S.a. Art. 1 Nr. 10 des 35. StÄG vom 22. 12. 2003, BGBl. 2003 I, 2838. 12 BGBl. 2007 I, 1786. dazu Borges/Stuckenberg/Wegener, DuD 31 (2007), 275; Ernst, NJW 2007, 2661; Goeckenjan, wistra 2009, 47; Stuckenberg, wistra 2010, 41.

Digitaler Hausfriedensbruch?

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meinsame Vorbereitungsdelikt des § 202c StGB13 einfügte und § 202a StGB in der Weise verschärfte, daß schon der bloße unbefugte Zugang zu Daten und nicht erst deren Kenntnisnahme unter Strafe steht. Ein deutsches Eigengewächs ist hingegen der am 18. 12. 2015 in Kraft getretene Tatbestand der „Datenhehlerei“ in § 202d StGB,14 der auf eine Gesetzesinitiative des Landes Hessen zurückgeht und an einer zu einfältigen Analogie zur Sachhehlerei krankt15. Eines der jüngsten Projekte16 in diesem Bereich, der Gesetzentwurf zum „digitalen Hausfriedensbruch“, ist ebenfalls ein nationales Eigengewächs hessischer Provenienz und zielt ausdrücklich auf einen legislativen Analogieschluß, es soll nämlich „die Rechtsgedanken des § 123 und des § 248b auf IT-Systeme […] übertragen.“17

II. „Digitaler Hausfriedensbruch“ 1. Vorgeschichte Im Juni 2016 hatte das Land Hessen unter dem Schlagwort „digitaler Hausfriedensbruch“ einen Gesetzentwurf für einen neuen Straftatbestand vorgelegt, der insbesondere die Infiltration fremder IT-Systeme und deren Zusammenschluß zu Botnetzen bekämpfen soll.18 Die Bundesregierung hat im November 2016 die vom Bundesrat erblickten gravierenden Strafbarkeitslücken nicht finden können und daher ablehnend Stellung genommen.19 Auch die Reaktion in den Medien20 und der Rechtswissenschaft21 fiel durchweg negativ aus. 13

Dessen Strafrahmen wurde im November 2015, wie von der Richtlinie 2013/40/EU gefordert, erhöht durch das Gesetz zur Bekämpfung der Korruption vom 20. 11. 2015, Art. 1 Nr. 5, BGBl. 2015 I, 2025. 14 Art. 5 des Gesetzes zur Einführung einer Speicherpflicht und Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten, BGBl. 2015 I, 2218, 2227. 15 Vgl. nur Brodowski/Marnau, NStZ 2017, 377; Singelnstein, ZIS 2016, 432; Stam, StV 2017, 488; Stuckenberg, ZIS 2016, 526, 529 ff.; s.a. Schönke/Schröder/Eisele, 30. Aufl. 2019, § 202d Rn. 2 m. w. Nachw. 16 Zum Referentenentwurf des BMI zu einem „IT-Sicherheitsgesetz 2.0“ vom März 2019 siehe Oehmichen/Weißenberger, KriPoZ 2019, 174 ff. 17 Puttrich, BR-Prot. 965 (2. 3. 2018), S. 59D f. 18 BR-Drs. 338/16 = BT-Drs. 18/10182; s.a. BR-Prot. 947 (8. 7. 2016), S. 290D–292 A; BR-Prot. 948 (23. 9. 2016), S. 350C–351B; BR-Prot. 965 (2. 3. 2018), S. 59B–60 A. 19 BReg, BT-Drs. 18/10182, S. 19 f. 20 Biselli, https://netzpolitik.org/2016/digitaler-hausfriedensbruch-hessen-will-neuen-straftat bestand-gegen-bereits-illegale-botnetze-einfuehren/ (11. 8. 2016); dies., https://netzpolitik.org/ 2017/diskussion-ueber-digitalen-hausfriedensbruch-kehrt-zurueck/ (9. 8. 2017); Buermeyer, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/entwurf-straftatbestand-digitaler-hausfriedensbruchbotnetze-internet/ (6. 10. 2016). 21 Mavany, KriPoZ 2016, 106 ff.; Basar, jurisPR-StrafR 26/2016 Anm. 1; Buermeyer/ Golla, K&R 2017, 14 ff.; Tassi, DuD 2017, 175 ff.; Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267 ff.; Brodowski, ZIS 2019, 49, 61; ders., StV 2019, 385 Fn. 2.

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In der „Kasseler Erklärung“ vom 31. Juli 2017 haben neun Landesjustizminister22 ihren Standpunkt bekräftigt. Der nordrhein-westfälische Justizminister Biesenbach hat dies in einem Pressegespräch Anfang August 201723 an folgendem Beispiel erläutert: Vor kurzem sei ein Pärchen von der Webcam seines Smart-TV heimlich beim Liebesspiel gefilmt worden und der Mitschnitt sei anschließend auf einer Pornowebsite aufgetaucht. Solche Fälle machten deutlich, dass der eigene Fernseher zur Waffe gegen seinen Benutzer werden könne. Die Bürger müßten daher dringend vor manipulierter „Zombie-IT“ geschützt werden. Gleichwohl wurde der Gesetzesantrag im Bundestag nicht weiter behandelt und verfiel der Diskontinuität. Im Februar 2018 hat Hessen denselben Gesetzentwurf erneut eingebracht,24 der nun als Bundesratsentwurf25 vorliegt. Der „digitale Hausfriedensbruch“ ist auch in den Referentenentwurf zu einem zweiten IT-Sicherheitsgesetz26 aufgenommen worden. Ob er in dieser Legislaturperiode mehr Erfolg haben wird, bleibt abzuwarten. 2. Diagnostizierte Strafbarkeitslücken Der Gesetzentwurf zielt im wesentlichen auf die Infiltration von Computersystemen durch Schadsoftware ab, die eine sehr große Zahl von „Opfersystemen“ („Bots“, „Zombies“) zu Botnetzen zusammenschließt, welche als eine der wichtigsten Infrastrukturen der Cyberkriminalität angesehen werden. Die Schadsoftware kann auf verschiedenem Wege, etwa in einem Download, E-Mail-Anhang oder einer Nachricht in einem sozialen Netzwerk versteckt, installiert werden und sorgt dafür, daß sich das infizierte System – zunehmend auch Smartphones oder intelligente Steuerungsgeräte der Haustechnik („Internet of Things“, IoT) – von seinem Besitzer unbemerkt mit dem Command & Control Server des Botnetzbetreibers („Bot-Herder“) verbindet, der praktisch vollständigen Zugriff darauf erhält.27 Schätzungen gehen davon aus, daß ein Viertel bis 40 % aller Computer weltweit Teil von Botnetzen sind.28 Mit Botnetzen könnten, so berichtet der Entwurf zutreffend, nicht nur Nutzerdaten beliebig ausgespäht und kopiert, der gesamte Internetverkehr abgehört und manipuliert, sondern auch Computerhardware ferngesteuert, etwa Webcams und Mikro22

Vgl. die „Kasseler Erklärung“ vom 31. 7. 2017, S. 2, https://www.justiz.bayern.de/media/ images/86_anlage_kasseler_erklÄrung.pdf. 23 http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/nordrhein-westfalen-fordert-straftatbestanddes-digitalenhausfriedensbruchs-a-1161984.html. 24 BR-Drs. 47/18. 25 BT-Drs. 19/1716. 26 S. o. Fn. 16. 27 Vgl. nur BKA, Cybercrime, Bundeslagebild 2017, S. 15; Kochheim, Cybercrime und Strafrecht in der Informations- und Kommunikationstechnik, 2. Aufl. 2018, Rn. 210 ff., 683 ff.; Roos/Schumacher, MMR 2014, 377 ff.; Heine, NStZ 2016, 441, 442; Stam, ZIS 2017, 547 f. 28 Roos/Schumacher, MMR 2014, 377, 378; BT-Drs. 19/1716, S. 2.

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fone unbemerkt eingeschaltet werden. Botnetze dienten aber auch dazu, um Distributed Denial-of-Service-Attacken (DDoS) sowie Angriffe auf Industrieanlagen, Elektrizitätswerke, Staudämme usw. durchzuführen, Kryptowährungen zu schürfen, Spam oder Ransomware zu verbreiten.29 Beeinträchtigt werde dadurch nicht nur das Interesse der rechtmäßigen Nutzer am ausschließlichen Gebrauchsrecht ihrer Geräte, sondern auch ihr Grundrecht „auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“, das das BVerfG in seinem Urteil zur Online-Durchsuchung vom 27. 2. 200830 als besondere Erscheinungsform des allgemeinen Persönlichkeitsrechts postuliert hatte. Weil sich auch der aufmerksame Nutzer gegen solche Angriffe kaum mehr auf technischem Wege schützen könne, müsse das Strafrecht den „lückenlosen Schutz“ dieses Grundrechts sicherstellen,31 der zudem von Vorteil für den Wirtschaftsstandort Deutschland sei.32 Die bisherigen Vorschriften reichten dazu nicht aus. Schon die auffällig niedrigen Verurteilungsziffern belegten ihre mangelnde Effektivität.33 Tatbestandlich sei die bloße Zugangsverschaffung ohne Überwindung einer Zugangssicherung oder ohne Datenveränderung von §§ 202a, 303a StGB nicht erfaßt, wie sich an zwei Beispielen zeige: Wenn der Täter das Opfer dabei beobachte, wie es den PIN-Code zur Entsperrung seines Smartphones eingibt, könne er später, wenn er sich das Gerät verschafft hat, darauf ohne Überwindung der Zugangssicherung zugreifen, so daß § 202a StGB nicht erfüllt sei. Ebenso, wenn ein Täter die Opfersysteme infiltriere und den Zugriff darauf an einen zweiten Täter verkaufe, der sodann keine Zugangssicherung mehr überwinden müsse. Auch eine Datenveränderung nach § 303a StGB werde nicht zwingend verwirklicht, weil es fileless malware und Hardwaretrojaner gebe.34 Selbst wenn die §§ 202a ff. StGB verwirklicht würden, stehe die Strafjustiz vor der kaum erfüllbaren Aufgabe, den genauen technischen Ablauf festzustellen, was jedenfalls dann unmöglich sei, wenn sich die Schadsoftware nach ihrem Einsatz selbsttätig gelöscht habe.35 Es bedürfe daher eines Straftatbestands, der – als „digitaler Hausfriedensbruch“ – den bloßen unbefugten Zugang zu und die unbefugte Nutzung von informationstechnischen Systemen erfasse, ohne daß noch Zugangssicherungen überwunden oder Daten manipuliert werden müßten. IT-Systeme seien mindestens so schutzwürdig wie das Hausrecht und das ausschließliche Benutzungsrecht an Fahrzeugen. Derzeit

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BT-Drs. 19/1716 (= BT-Drs. 18/10182), S. 1 ff., 11 ff. BVerfGE 120, 274, 302 ff. 31 BT-Drs. 19/1716, S. 3. 32 BT-Drs. 19/1716, S. 12. 33 BT-Drs. 19/1716, S. 17. 34 BT-Drs. 19/1716, S. 4. 35 BT-Drs. 19/1716, S. 12 f. 30

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seien sogar Fahrräder besser geschützt als Computer mit höchstpersönlichen Daten.36 Der Gesetzentwurf stellt damit Analogien zu den Tatbeständen des Hausfriedensbruchs (§ 123 StGB), der den unbefugten Aufenthalt in einer Wohnung und sonstigen vom Hausrecht umfaßten Örtlichkeiten unter Strafe stellt, und der unbefugten Benutzung von Kraftfahrzeugen und Fahrrädern (§ 248b StGB) her, die eine Ausnahme – eine weitere findet sich in § 290 StGB – von der Regel darstellt, daß der bloße unbefugte Gebrauch fremder Sachen (furtum usus) straflos und nur zivilrechtlich sanktioniert ist. Schließlich wird selbstbewußt behauptet, mit dem vorgeschlagenen Tatbestand könne „… ein lückenloser strafrechtlicher Schutz aller Systeme und die Strafbarkeit nahezu aller Angriffsarten sichergestellt werden, denn die Infiltration von Computern und Cyberangriffe jeder Art beinhalten als Teilkomponente regelmäßig die Fernsteuerung, also das Beeinflussen oder Auslösen von informationstechnischen Vorgängen durch Dritte.“37

Zugleich seien damit alle Nachweisprobleme gelöst, denn: „Die Tatsache des unbefugten Benutzens der Opfersysteme wird sich regelmäßig durch die Auswertung der Täterinfrastruktur und unter Einschaltung der Internetzugangsprovider anhand der IP-Adressen der Bots nachweisen lassen. Auf technische Zufälligkeiten kommt es nicht mehr an. Eine detaillierte Darstellung der technischen Einzelheiten der Infiltration im Ermittlungsverfahren, in der Anklageschrift und im Urteil ist nicht mehr notwendig.“38

3. Der Entwurfstext Die vorgeschlagene Vorschrift, deren amtliche Überschrift nicht etwa „Digitaler Hausfriedensbruch“, sondern „Unbefugte Benutzung informationstechnischer Systeme“ lauten soll, ist, wie in jüngerer Zeit nicht selten, mit sieben Absätzen und 433 Wörtern recht lang geraten. Die vordringlich interessierenden Teile lauten: „(1) 1Wer unbefugt 1. sich oder einem Dritten den Zugang zu einem informationstechnischen System verschafft, 2. ein informationstechnisches System in Gebrauch nimmt oder 3. einen Datenverarbeitungsvorgang oder einen informationstechnischen Ablauf auf einem informationstechnischen System beeinflusst oder in Gang setzt, wird mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist. 2Die Tat nach Satz 1 ist nur strafbar, wenn sie geeignet ist, berechtigte Interessen eines anderen zu beeinträchtigen.“

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BT-Drs. 19/1716, S. 5. BT-Drs. 19/1716, S. 5. 38 BT-Drs. 19/1716, S. 13.

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Danach kommt es weder auf eine Zugangssicherung an noch darauf, daß Daten erlangt werden, noch darauf, daß das System ein „fremdes“ ist. Die unbefugte Nutzung betrifft nicht nur Datenverarbeitungsvorgänge, sondern auch „informationstechnische Abläufe“ im Sinne der Legaldefinition in § 2 des BSI-Gesetzes,39 womit jede „Verarbeitung oder Übertragung von Informationen durch technische Mittel“ gemeint ist, auch wenn kein Computerprogramm abläuft, etwa der Befehl Öffnen/Schließen an ein fernwartbares Schleusentor. Damit soll der „strafrechtliche Schutz von Automatisierungs-, Prozeßsteuerungs- und Prozeßleitsystemen (Industrial Control Systems, ICS) gewährleistet“ werden.40 Der Begriff „informationstechnisches System“ wird in Absatz 6 definiert: „(6) Im Sinne dieser Vorschrift ist 1. informationstechnisches System nur ein solches, das a) zur Verarbeitung personenbezogener Daten geeignet oder bestimmt ist oder b) Teil einer Einrichtung oder Anlage ist, die wirtschaftlichen, öffentlichen, wissenschaftlichen, künstlerischen, gemeinnützigen oder sportlichen Zwecken dient oder die den Bereichen Energie, Telekommunikation, Transport und Verkehr, Gesundheit, Wasser, Ernährung, Versorgung, Haustechnik oder Haushaltstechnik angehört; …“

Damit sollen nur solche Geräte, Anlagen etc. erfaßt werden, „die objektiv eine besondere Bedeutung für den Berechtigten haben oder deren Fremdnutzung besonders gefährdungsintensiv ist“41. Nicht vernetzte elektronische Unterhaltungsgeräte, Taschenrechner oder Spielzeug wie Modelleisenbahnen sollen ausgeschlossen werden.42 Ferner soll die Bagatellklausel in Absatz 1 Satz 2 den Tatbestand einschränken. Absatz 2 sieht Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren vor, wenn der Täter gegen Entgelt oder in Bereicherungs- oder Schädigungsabsicht handelt. Gleichwohl sind die Absätze 1 und 2 als gemischte Antrags- (§ 205 Abs. 1 Satz 2 E-StGB) und Privatklagedelikte (§ 374 Abs. 1 Nr. 3a E-StPO) ausgestaltet. Absatz 3 sieht für besonders schwere Fälle wie gewerbs- oder bandenmäßige Begehung bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe vor. Handelt der Täter in der Absicht, einen Ausfall oder eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit kritischer Infrastrukturen zu bewirken, so ist dies nach Absatz 4 ein Verbrechen, das mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bedroht ist. Darauf, ob die Tathandlung solche kritischen Infrastrukturen gefährdet oder überhaupt gefährden kann, kommt es nicht an; die bloße Absicht begründet das Verbrechen. In allen Fällen ist der Versuch strafbar (Absatz 5). 39 Gesetz über das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, BGBl. 2009 I, 2821, zuletzt geändert durch Gesetz vom 23. 6. 2017, BGBl. 2017 I, 1885. 40 BT-Drs. 19/1716, S. 16. 41 BT-Drs. 19/1716, S. 16. 42 BT-Drs. 19/1716, S. 16, 17.

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III. Kritik 1. Kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf Sowohl die Bundesregierung in ihrer ersten Stellungnahme43 als auch die meisten Kommentatoren haben bemängelt, daß es die Strafbarkeitslücken, die der Entwurf füllen will, nicht gebe mit der Folge, daß kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf bestehe. In der Tat kann die Forderung nach einem Tatbestand des „digitalen Hausfriedensbruchs“ verwundern, da diese Bezeichnung im Schrifttum schon seit über zehn Jahren als Beiname für § 202a StGB verwendet wird.44 Daß § 202a StGB auf den unbefugten Zugang zu „Daten“ und nicht zu „Systemen“ abstellt, dürfte keine Lücke eröffnen, denn daß ein Täter Zugriff auf ein IT-System erlangt ohne zugleich Zugang zu den dort gespeicherten Daten zu erhalten, erscheint „kaum vorstellbar“45. Die Entwurfsbegründung will die „Lückenhaftigkeit des derzeitigen Rechtsgüterschutzes und das Leerlaufen von § 202a StGB selbst in gravierenden Fällen“46 mit einem Judikat des BGH belegen, das in der Tat in IT-Kreisen für Unruhe gesorgt hat. Das LG Kempten hatte einen jugendlichen Angeklagten, der mit anderen ein großes Botnetz mit 327.379 infizierten Rechnern aufgebaut und u. a. zum Schürfen von Bitcoins genutzt hatte, nach § 202a in Tateinheit mit § 303a StGB verurteilt.47 Der BGH hob das Urteil im Juli 2015 auf, weil die lückenhaften und widersprüchlichen Feststellungen nicht belegten, daß der Angeklagte, wie es § 202a Abs. 1 StGB verlangt, eine Zugangssicherung, die gegen die Infektion mit Malware schützt wie ein Virenschutzprogramm, überwunden hatte; eine Firewall genüge insofern nicht.48 Der Entwurf schließt daraus, daß die Anforderungen, die die §§ 202a, 303a, 303b StGB an die Strafjustiz stellen, für Tatgerichte kaum zu erfüllen seien, weil diese gehalten seien, „nicht nur die Wirkungsweise der Zugangssicherung der Geschädigten im Einzelnen zumindest exemplarisch darzulegen, sondern auch die Veränderungen, die die Schadsoftware auf dem Opfersystem vorgenommen“49 hat. Diese Schlußfolgerung

43 BReg, BT-Drs. 18/10182, S. 19; in der Stellungnahme zum wieder eingebrachten Entwurf heißt es, sie wolle die Frage prüfen und ggf. einen eigenen Gesetzentwurf vorlegen, BTDrs. 19/1716, S. 19. 44 Schönke/Schröder/Eisele, § 202a Rn. 18 („elektronischer Hausfriedensbruch“) m.w. Nachw.; Ernst, NJW 2007, 2661; Buermeyer/Golla, K&R 2017, 14, 15; so vormals Sieber, in: Hoeren/Sieber (Hrsg.), Handbuch Multimedia-Recht, Stand: 2006, Kap. 19 Rn. 418. 45 Buermeyer/Golla, K&R 2017, 14, 15. 46 BT-Drs. 19/1716, S. 13; auch Puttrich, BR-Prot. 965 (2. 3. 2018), S. 59C („Paradebeispiel für die Unzulänglichkeit des geltenden Computerstrafrechts zur Bekämpfung der Botnetzkriminalität“). 47 LG Kempten Urt. v. 29. 10. 2014 – 6 KLs 223 Js 7897/13 jug (juris). 48 BGH NJW 2015, 3463 f.; dazu Heine, NStZ 2016, 441; Stam, ZIS 2017, 547, 549 f. 49 BT-Drs. 19/1716, S. 13.

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ist nicht haltbar,50 denn zum einen ist das Erfordernis, daß das System „gegen unbefugten Zugang besonders gesichert ist“, eine bewußte Entscheidung des deutschen Gesetzgebers51 – in der Formulierung angelehnt an § 202 Abs. 2, § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StGB52 – gewesen und keine Erfindung der Rechtsprechung. Zum anderen ist der Nachweis, daß ein aktuelles Virenschutzprogramm auf einem Opfersystem installiert war und wie dieses funktioniert, nicht schwer zu erbringen.53 Auch die vorgeschlagene Vorschrift macht den Nachweis, daß sich jemand unbefugten Zugang zu einem System verschafft hat, nicht entbehrlich, was bei solcher Malware, die – so gut wie – keine Spuren hinterläßt, nicht minder schwierig bleibt, denn es ist im Gegenteil so, daß nachweisbare Datenmanipulation auch ein Anzeichen für unbefugten Zugang bildet. Zum dritten ist die Forderung des BGH nach einer „hinreichend genauen Darstellung der Wirkweise der von dem Angeklagten bereitgestellten Schadsoftware“ eine revisionsrechtliche Banalität, denn ohne konkrete, in den Urteilsgründen gem. § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO dokumentierte Feststellungen ist eine Kontrolle durch das Revisionsgericht nun einmal nicht möglich.54 Zum vierten ist das Judikat inzwischen durch das zweite Revisionsurteil in derselben Sache55 vom Juli 2017 überholt, das die neuen Feststellungen des LG Kempten zu §§ 202a, 303a StGB nunmehr vollständig bestätigt. Die Verwendung einer vorinstallierten, hier im Betriebssystem integrierten Firewall wird nun für genügend befunden. Ob die Firewall aktiv war, darf mit einer großzügigen und in ihren Grundlagen unerfindlichen56 Schätzung (in 75 % aller Fälle, in casu also in 245.534 Fällen) bejaht werden. Auch die Zugangsüberwindung wird verblüffend problemlos bejaht: Firewalls sollen Angriffe von außen abwehren; um dennoch ins System zu kommen, habe der Angeklagte einen Trojaner benutzt, also die Firewall umgangen.57 Diese sehr – vielleicht schon zu58 – pragmatische Herangehensweise des BGH entzieht – und soll dies womöglich auch – den vorgebrachten Bedenken die Grundlage.

50 A.A. Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 271, die aufgrund der Rspr. des BGH eine Einengung der durch § 202a geschützten Systeme besorgen, jedoch ist diese „Einengung“ im Tatbestand selbst angelegt. 51 Zutr. Basar, jurisPR-StrafR 26/2016 Anm. 1. Denn Art. 2 Satz 2 der Cybercrime-Konvention stellt es den Vertragsstaaten frei, eine Zugangssicherung zu verlangen, vgl. BTDrs. 10/5058, S. 29; 16/3656, S. 9 f.; Art. 3 der Richtlinie 2013/40/EU setzt „Zugang durch eine Verletzung von Sicherungsmaßnahmen“ voraus. 52 BT-Drs. 10/5058, S. 29. 53 A.A. Stam, ZIS 2017, 547, 550 wegen fernliegender Möglichkeiten (manuelle Deaktivierung, Programmfehler), die der BGH nun per Schätzung überspielt. 54 BGH NJW 2015, 3463, 3464 Rn. 11. 55 BGH NStZ 2018, 401 mit Anm. Safferling und Brodowski StV 2019, 385. 56 Krit. auch Safferling, NStZ 2018, 405; Brodowski, StV 2019, 385, 386. 57 BGH Beschl. v. 27. 7. 2017 – 1 StR 412/16 Rn. 39 ff. (insoweit nicht vollständig in NStZ 2018, 401); sehr krit. Brodowski, StV 2019, 385, 387. 58 Vgl. Safferling, NStZ 2018, 405; Brodowski, StV 2019, 385 f.

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Zudem ist schon das Herstellen oder Erwerben von Schadsoftware, die ein Botnetz etabliert, als Vorbereitung des Ausspähens und Abfangens von Daten nach § 202c Abs. 1 Nr. 2 StGB strafbar.59 Die beiden Beispiele der Entwurfsbegründung, die belegen sollen, daß § 202a StGB nicht greife, überzeugen nicht: Wer jemanden bei Eingabe einer PIN beobachtet, um diese später unbefugt zu verwenden – mit Botnetzen hat das Beispiel übrigens ersichtlich nichts zu tun –, verwirklicht zunächst § 202c Abs. 1 Nr. 1 StGB sowie § 44 Abs. 1 i.V.m. § 43 Abs. 2 Nr. 1 BDSG und sodann bei Verwendung der PIN anschließend § 202a StGB.60 Der Umstand, daß die manuell eingegebene PIN wegen ihrer unmittelbaren Wahrnehmbarkeit kein Datum im Sinne des § 202a Abs. 2 StGB ist, hindert, was der Entwurf übersieht, die Strafbarkeit nach § 202c StGB nicht, da die verschafften Paßwörter oder Sicherungscodes nach fast einhelliger Ansicht selbst keine „Daten“ sein müssen.61 Ähnlich verwirklicht derjenige, der Systeme infiltriert und sodann die Zugangswege verkauft, sowohl § 202c als auch den neuen § 202d StGB, während der Käufer, der diese Zugänge nutzt, unter § 202a StGB fällt. Anders als der Entwurf62 annimmt, wird eine Zugangssicherung nicht dadurch aufgehoben, daß sich jemand unbefugt eine Zugangsmöglichkeit verschafft hat. Zwar gibt es im Schrifttum einige Stimmen, die eine auch im Einzelfall „wirksame Zugangssicherung“ verlangen und daher etwa beim Einsatz von durch Phishing erlangten Zugangscodes den Tatbestand verneinen.63 Das erscheint jedoch nicht durchdacht, denn es wäre offensichtlich unsinnig zu verlangen, daß die Zugangssicherung auch gegenüber dem Täter im Einzelfall wirksam sein müsse, weil dann die Erfüllung eines Tatbestandsmerkmals (Erlangen von Zugang) ein anderes (Vorliegen einer Zugangssicherung) immer ausschlösse – wenn der Täter Zugang erlangt hat, war die Zugangssicherung ihm gegenüber nicht wirksam –, so daß der Tatbestand nie erfüllt sein könnte. Zugleich würde die Tatvariante des § 202c Abs. 1 Nr. 1 StGB, das Sichverschaffen von Zugangscodes zur Vorbereitung der unbefugten Zugangsverschaffung, weitgehend leerlaufen, weil es dann

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BReg, BT-Drs. 18/10182, S. 19; Buermeyer/Golla, K&R 2017, 14, 15. Buermeyer/Golla, K&R 2017, 14, 15; s.a. Seidl/Fuchs, HRRS 2011, 265, 269 f. 61 Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 202c Rn. 3; LK/Hilgendorf, 12. Aufl. 2010, § 202c Rn. 7; MüKo-StGB/Graf, 3. Aufl. 2017, § 202c Rn. 14; NK-StGB/Kargl, 5. Aufl. 2017, § 202c Rn. 4; Schönke/Schröder/Eisele, § 202c Rn. 3; SSW/Bosch, 3. Aufl. 2016, § 202c Rn. 2; Ernst, NJW 2007, 2661, 2663; a.A. SK-StGB/Hoyer, 9. Aufl. 2017, § 202c Rn. 4. 62 Ebenso Roos/Schumacher, MMR 2014, 377, 380, auf die sich der Entwurf bezieht, BTDrs. 19/1716, S. 4 Fn. 6. 63 MüKo-StGB/Graf, § 202a Rn. 64; Schönke/Schröder/Eisele, § 202a Rn. 22 m.w. Nachw.; Dietrich, Das Erfordernis der besonderen Sicherung im StGB am Beispiel des Ausspähens von Daten, § 202a StGB, 2009, S. 129; Popp, MMR 2006, 84, 85; Beck/Dornis, CR 2007, 642, 643; Graf, NStZ 2007, 129, 131; a.A. Fischer, § 202a Rn. 9a; NK-StGB/Kargl, § 202a Rn. 10 m. w. Nachw.; SSW/Bosch, § 202a Rn. 9; Schuh, Computerstrafrecht im Rechtsvergleich – Deutschland, Österreich, Schweiz, 2012, S. 234 ff.; Knupfer, MMR 2004, 641, 642; Gercke, CR 2005, 606, 608; Stuckenberg, ZStW 118 (2006), 878, 906; Heghmanns, wistra 2007, 167, 169; Goeckenjan, wistra 2009, 47, 53; Seidl/Fuchs, HRRS 2010, 85, 88. 60

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an der Haupttat fehlte.64 Eine sinnvolle Interpretation des § 202a StGB kann daher nur eine generell bestehende und generell nicht unwirksame Zugangssicherung verlangen. Ebenso – zieht man eine Analogie zu analogen Verschlüssen – wird das Regelbeispiel des § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StGB (Diebstahl einer Sache, die durch ein verschlossenes Behältnis gegen Wegnahme besonders gesichert ist) ungeachtet dessen bejaht, ob der Täter zum Öffnen des Behältnisses einen falschen oder richtigen Schlüssel verwendet,65 insbesondere wenn er sich den richtigen Schlüssel durch eine Straftat verschafft hat66. Nicht überzeugend ist auch die Ansicht, § 303a StGB greife nicht: Um ein Zielsystem in einen Bot zu verwandeln, wird es in der Regel mit einem Trojaner infiziert, der dort Schadsoftware so verankert, daß sie auch einen Neustart übersteht, was eine Speicherung, mithin Datenveränderung auf Bitebene voraussetzt. Die Diskussion, ob das „bloße Hinzufügen“ von Daten den Tatbestand erfüllt oder nicht,67 erinnert an scholastische Spitzfindigkeiten. Das geläufige Räsonnement, daß Daten nur bestimmte Inhalte und kein leerer Speicherplatz seien, § 303a nur erfüllt sei, wenn Daten „ein anderer Informationsgehalt zugewiesen und ihr bestimmungsgemäßer Zweck nicht mehr erfüllt wird“,68 ist zu vordergründig an analogen Informationsverkörperungen orientiert, geht daher an der technischen Realität vorbei und ist in unklarer Weise mit wertenden Elementen durchsetzt. Ein digitaler Speichervorgang unterscheidet sich vom Beschreiben eines leeren Blattes Papier schon dadurch, daß immer auch Metadaten verändert werden, die beinhalten, wo welche Blöcke mit welchen Berechtigungen und Attributen aufzufinden sind; beim Windows-Dateisystem NTFS befinden diese sich in einer einzigen Datei, dem Master File Table (MTF), die bei jedem Speichervorgang verändert wird; entsprechend werden beim Hinzufügen von Programmen Registrierungsdatenbanken verändert. Die bisher einzige tiefer gehende Begründung hat Brodowski geliefert: Bei einer informationstechnisch-formalen Betrachtung beschrieben „Daten“ den bitweisen Zustand eines informationstechnischen Datenspeichers. Funktional-wertend sei dies nun dahingehend einzuschränken, daß sich der Schutz der §§ 202a, 303a StGB nur auf solche Daten erstrecke, an denen ein informationstechnisches Vertraulichkeits- oder Integritätsinteresse bestehe, das bei nicht allozierten Speicherbereichen und Dateisystemdeskriptoren abzulehnen sei. Folglich sei die bei bloßem Hinzuschreiben eintretende Veränderung 64

Zutr. Schuh (Fn. 63), S. 235. BGH NJW 2010, 3175 f.; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2010, 48; Fischer, § 243 Rn. 17; LK/Vogel, 12. Aufl. 2010, § 243 Rn. 32. 66 BayObLGSt 1986, 127 = NJW 1987, 665, 666; Fischer, § 243 Rn. 17; a.A. Otto, JR 1987, 221, 225. 67 Verneinend die h.M., Fischer, § 303a Rn. 12; Lackner/Kühl/Heger, 29. Aufl. 2018, § 303a Rn. 3; Ernst, NJW 2003, 3233, 3238; Hilgendorf/Valerius, Computer- und Internetstrafrecht, Rn. 597; Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 271; bejahend Haurand/ Vahle, RDZ 1990, 128, 129 f.; Gercke/Brunst, Internetstrafrecht, 2010, Rn. 129 f.; Kochheim (Fn. 27), Rn. 664, 684; offenlassend BGH NStZ 2018, 401, 403. 68 Exemplarisch Ernst, NJW 2003, 3233, 3238 m.w. Nachw. 65

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am Dateisystem nicht tatbestandsmäßig gem. § 303a Abs. 1 StGB.69 Daran überzeugt die präzise Offenlegung der Wertung, jedoch nicht diese selbst, denn daß ein Integritätsinteresse daran besteht, daß keine Daten unbefugt auf ein System aufgebracht werden, dürfte längst nicht mehr zu bezweifeln sein. Die Frage, wer was straflos auf einem System speichern darf, sollte nicht objektiv bestimmt und versteckt im Datenbegriff beantwortet, sondern der Willkür des Berechtigten überlassen, also im Merkmal „unbefugt“ entschieden werden. Auch der BGH geht nun bei Einträgen in und damit Veränderungen von Registrierungs- und Konfigurationsdateien eines Betriebssystems von tatbestandsmäßiger Datenveränderung aus.70 Selbst wenn man die Tatbestandsmäßigkeit für das Hinzufügen von Schadsoftware ablehnt, ändert sich das jedenfalls in dem Moment, in dem das Schadprogramm tätig wird.71 Wenn der Entwurf von „fileless malware“ als Gegenbeispiel redet, so dürfte dies ein Mißverständnis sein: Fileless malware72 ist entweder nur im RAM präsent, dann aber flüchtig, oder versteckt sich nicht im normalen Dateisystem, sondern etwa in der Windows-Registry, der zentralen Datenbank des Betriebssystems. „Dateilos“ ist fileless malware natürlich nicht, denn es handelt sich immer um Programme (Skripte). Sieht man entgegen der neueren Judikatur73 im Hinzufügen eines Datensatzes im Arbeitsspeicher oder in der Registry noch keine Datenveränderung, passiert diese jedoch spätestens, wenn die Schadsoftware aktiv wird und eine Internetverbindung aufbaut.74 Die Nutzung des Botnetzes für das Verbreiten von Malware, namentlich Ransomware, für DoS-Attacken usw., ist in der Regel unproblematisch als strafbar zu erfassen.75 2. Persistenz der Strafverfolgungsprobleme Die vom Entwurf gerügten geringen Verurteilungsziffern bei §§ 202a ff., 303a StGB liegen nicht an den ungeeigneten Tatbestandsfassungen, sondern an massiven Nachweisschwierigkeiten. Botnetzbetreiber versuchen mit erheblichem technischen Aufwand, ihre Identität zu verschleiern. Fileless malware erfreut sich gerade aufgrund ihrer effektiven Tarnung (low observable characteristics, LOC) zunehmender 69

Brodowski, ZIS 2019, 49, 55. BGH NStZ 2018, 401, 403; insoweit zustimmend Brodowski, StV 2019, 385, 386. 71 BReg, BT-Drs. 18/10182, S. 19; Mavany, KriPoZ 2016, 106, 109; Buermeyer/Golla, K&R 2017, 14, 15. 72 Vgl. die Artikelserie bei https://blog.malwarebytes.com/threat-analysis/2018/08/filelessmalware-getting-the-lowdown-on-this-insidious-threat/; s.a. https://www.infoguard.ch/de/blog/ der-mythos-fileless-malware. 73 Fn. 70. 74 Heine, NStZ 2016, 441, 443; Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 271. 75 Buermeyer/Golla, K&R 2017, 14, 15; Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 271. 70

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Beliebtheit, weil sie die digitale Forensik vor große Schwierigkeiten stellt. Ihr soll daher die Zukunft der Cyberkriminalität gehören, sollen doch 2018 schon etwa ein Drittel aller Cyberangriffe weltweit fileless durchgeführt worden sein.76 Sollte es dennoch gelingen, jemanden ausfindig zu machen, so stellt sich die weitere Schwierigkeit, daß Botnetze vielfach in internationaler Arbeitsteilung betrieben werden und die internationale Rechtshilfe in Strafsachen oft wenig effektiv ist. Diese Probleme sind es, die die Praxis hemmen, und nicht die Kompliziertheit der Erklärung der Wirkungsweise der Schadsoftware auf einem Zielsystem. Diese Nachweisprobleme wird auch ein weiterer Straftatbestand nicht lösen können, er wird vielmehr ebenso von ihnen betroffen sein. Es mutet daher befremdlich naiv an, wenn der Entwurf behauptet, mit dem neuen § 202e StGB seien alle Beweisprobleme mit einem Mal verschwunden, weil man nur die „Täterinfrastruktur“ auswerten müsse – des Täters und erst recht seiner Infrastruktur überhaupt habhaft zu werden, die überall auf der Welt lokalisiert sein mag, ist ja gerade das Problem. Ist man dessen habhaft geworden, ist auch die Anwendung der lex lata ohne weiteres möglich, wie der BGH nun bestätigt hat. 3. Überbreite des neuen Tatbestands Die Rede der Entwurfsbegründung vom „lückenlosen Strafrechtsschutz“ eines bewußt möglichst weit gefaßten Tatbestandes, der aber mit dem Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG verträglich sei,77 läßt jeden Strafrechtswissenschaftler hellhörig werden, der den fragmentarischen Charakter des Strafrechts für eine rechtsstaatliche Errungenschaft hält. In der Tat stellt der neue Tatbestand praktisch jeden unbefugten Umgang mit einem IT-System unter Strafe, sofern dieser Umgang nur geeignet ist, „berechtigte Interessen“ irgendeines anderen zu beeinträchtigen. Anders als die Entwurfsverfasser meinen, ist schon der Ausdruck „berechtigte Interessen“ wohl von verfassungswidriger Unbestimmtheit.78 Überdies ist schwer zu erkennen, wie das Interesse desjenigen, der ein exklusives Nutzungsrecht an einem ITSystem, das oft bereits aus dem Eigentum daran folgt, hat, an der Unterbindung unbefugter Nutzung jemals unberechtigt sein könnte. Kritiker haben schon allerhand Beispiele ersonnen, die den Tatbestand ad absurdum führen sollen. So wäre derjenige strafbar, der in einem computergesteuerten Lift beim Ausstieg im 10. Stock entgegen der Liftordnung sämtliche Etagenknöpfe drückt, damit der Lift auf seinem Weg nach unten überall halten muß, wenn dies geeignet ist, das berechtigte Interesse des Liftbetreibers zu beeinträchtigen, daß der Lift 76

So z. B. die Studie von Malwarebytes Labs, Under the Radar – The Future of Undetected Malware, 2018, S. 2 (https://resources.malwarebytes.com/files/2018/12/Malwarebytes-LabsUnder-The-Radar-US.pdf). 77 BT-Drs. 19/1716, S. 3, 5, 16. 78 Kritisch auch Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 269.

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nicht unnötig fährt oder hält.79 Dasselbe kann man sich mit im Alltag durchaus zu beobachtenden juvenilen Scherzbolden denken, die in einer Straßenbahn oder einem Bus immer den Haltewunschknopf drücken, obwohl an der nächsten Haltestelle ersichtlich niemand ein- oder aussteigen will, und damit die Fahrt aufhalten und die übrigen Fahrgäste enervieren. Strafbar wäre auch, wer bei einem Abendessen mit seinem Partner in einem unbemerkten Augenblick dessen Diensthandy ausschaltet, um ungestört zu bleiben, wenn dem anderen dadurch ein wichtiger Anruf seines Arbeitgebers entgeht und Ärger droht.80 Daß Taschenrechner nicht auch in wissenschaftlichen Einrichtungen oder elektronische Unterhaltungsgeräte nicht künstlerisch genutzt werden könnten,81 leuchtet ebenfalls nicht ein. Das fehlende Strafbedürfnis in solchen Fällen dadurch abzusichern, daß wohl kein Strafantrag gestellt würde oder, falls doch, daß der Antragsteller vom Staatsanwalt auf den mühseligen Privatklageweg (§§ 374 ff. StPO) verwiesen würde,82 den heute niemand mehr gehen mag, ist ersichtlich keine gute Lösung. Es ist schlechte Gesetzgebungstechnik, überbreite Tatbestände durch das Strafprozeßrecht, das dazu nur bedingt taugt, auf das rechte Maß zurechtstutzen zu lassen. Wie die Bundesregierung zu recht bemerkt hatte, ist ein solcher Tatbestand, der unbefugte Nutzung umfassend unter Strafe stellt, bisher ohne Beispiel im Strafgesetzbuch.83 Die Analogie zur Strafbarkeit des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen in § 248b StGB geht fehl, denn dabei wird das Fahrzeug dem Berechtigten entzogen, der es dann nicht selbst nutzen kann, während ein infiltriertes IT-System dem Nutzer zumeist nach wie vor zur Verfügung steht, zumal wenn, wie der Entwurf selbst anmerkt,84 die parasitäre Botaktivität nur so wenig Rechenleistung beansprucht, daß sie völlig unbemerkt bleibt. 4. Fehlkonzeption des geschützten Rechtsguts Das führt zum nächsten Kritikpunkt, nämlich der Inkonsistenz der Konzeption des Tatbestands. Es ist schon nicht ganz klar, welche sozial unerwünschten Phänomene erfaßt werden sollen: Jedenfalls das Beispiel aus der Entwurfsbegründung, daß der Täter jemanden beim Entsperren seines Smartphones beobachtet, sowie das SmartTV-Beispiel des nordrhein-westfälischen Justizministers haben mit Botnetzen nichts zu tun.

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Beispiel von Buermeyer/Golla, K&R 2017, 14, 16 f. Beide Beispiele von Biselli, https://netzpolitik.org/2016/digitaler-hausfriedensbruch-hes sen-will-neuen-straftatbestand-gegen-bereits-illegale-botnetze-einfuehren/ (11. 8. 2016). 81 Beispiele von Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 269. 82 Vgl. BT-Drs. 19/1716, S. 12, 18. 83 BT-Drs. 18/10182, S. 19. 84 BT-Drs. 19/1716, S. 14. 80

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Der Entwurf zieht insgesamt vier Schutzgüter heran, deren Verhältnis zueinander ungeklärt bleibt und die nur durch das Tatmittel verklammert werden: Zum einen die Analogie zum Hausrecht – das betrifft die Frage, wer Zugang zu einem IT-System hat und sich bildlich gesprochen darin aufhalten darf. Der unbefugte Systemzugang und die unbefugte Datenspeicherung sind, wie gesehen, allerdings schon nach §§ 202a, 303a StGB strafbar. Zum zweiten das „schlichte Gebrauchsrecht“85 an einem IT-System – die Entwurfsbegründung gesteht jedoch zu, daß „Botnetzaktivitäten wie das Versenden von Spam oder das Generieren von Bitcoins … nicht zwingend in das Interesse der Betreiber und Nutzer am störungsfreien Funktionieren ihrer Datenverarbeitung“86 eingreifen. Sofern die rechtmäßige Nutzung aber nicht beeinträchtigt wird, besteht wie gesehen gerade keine Parallele zur Gebrauchsanmaßung von Fahrzeugen nach § 248b StGB. Überdies stehen Hausfriedensbruch und Gebrauchsanmaßung, unbefugter Zugang und unbefugte Nutzung, in keinem inneren Zusammenhang, ihre bloße Addition erscheint willkürlich. Als drittes Schutzgut wird das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme herangezogen. Dieses Grundrecht betrifft nach dem Urteil des BVerfG indes nur solche Systeme „… die allein oder in ihren technischen Vernetzungen personenbezogene Daten des Betroffenen in einem Umfang und in einer Vielfalt enthalten können, dass ein Zugriff auf das System es ermöglicht, einen Einblick in wesentliche Teile der Lebensgestaltung einer Person zu gewinnen oder gar ein aussagekräftiges Bild der Persönlichkeit zu erhalten.“87

Umgekehrt gilt: „Soweit ein derartiges System nach seiner technischen Konstruktion lediglich Daten mit punktuellem Bezug zu einem bestimmten Lebensbereich des Betroffenen enthält – zum Beispiel nicht vernetzte elektronische Steuerungsanlagen der Haustechnik –, unterscheidet sich ein staatlicher Zugriff auf den vorhandenen Datenbestand qualitativ nicht von anderen Datenerhebungen. In einem solchen Fall reicht der Schutz durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus, um die berechtigten Geheimhaltungsinteressen des Betroffenen zu wahren.“88

Daß der Schutz dieses Grundrechts diesen neuen Straftatbestand benötige, wie die Entwurfsbegründung behauptet, überzeugt aus zwei Gründen nicht: Erstens kristallisiert sich das Grundrecht um personenbezogene Daten herum und ist nur dann gefährdet, wenn solche Daten wenigstens in Gefahr der Ausspähung etc. sind, was bereits von §§ 202a ff., 303a StGB erfaßt wird.89

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BT-Drs. 19/1716, S. 11; Kühne-Hörmann, BR-Prot. 948, S. 350D. BT-Drs. 19/1716, S. 15. 87 BVerfGE 120, 274, 314. 88 BVerfGE 120, 274, 313. 89 Anders Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 271, 273 f., dazu s. u. bei Fn. 101.

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Zweitens betrifft der vorgeschlagene Tatbestand, wie die Bundesregierung zu recht bereits hervorgehoben hat,90 auch Systeme, die keine personenbezogenen Daten verarbeiten und somit nicht unter das Grundrecht fallen, nämlich die von Abs. 6 Nr. 1b) erfaßten Automatisierungs-, Prozeßsteuerungs- und Prozeßleitsysteme wie das beispielhaft genannte „ferngesteuerte Schleusentor“. Hiermit wird offenbar der Schutz kritischer Infrastruktur bezweckt, wofür es bereits u. a. den Tatbestand der Computersabotage nach § 303b StGB gibt. Dies führt zum vierten Schutzaspekt, den der Entwurf nennt, nämlich die hohe Gefahr für die Allgemeinheit, die von unbefugt genutzten informationstechnischen Systemen ausgehe,91 während andererseits angenommen wird, der einfache „digitale Hausfriedensbruch“ berühre Belange der Allgemeinheit mitunter so wenig, daß er als Privatklagedelikt ausgestaltet werden könne92. Die Gemeingefahren für Infrastruktureinrichtungen durch spezialisierte Botnetze sind gar nicht zu bezweifeln, jedoch fragt sich, was sie in diesem Tatbestand zu suchen haben.93 Insgesamt erscheint schon der Ansatz des Gesetzentwurfs verfehlt: Das Errichten eines Botnetzes ist in erster Linie nicht deshalb sozialschädlich, weil die Nutzer der infiltrierten Systeme massiv geschädigt würden – deren Beeinträchtigung ist oft nicht spürbar –, sondern weil damit ein mächtiges Tatwerkzeug zur Begehung weiterer Straftaten hergestellt wird. 5. Fehlorientierung: Strafrecht statt IT-Sicherheit? Schließlich erliegt die Entwurfsbegründung einem Kategorienfehler mit der seltsam anmutenden Aussage, weil der Nutzer sich praktisch nicht wirksam auf technischem Wege gegen Schadsoftware schützen könne, müsse der strafrechtliche „Schutz“ lückenlos ausgebaut werden:94 Verwechselt wird der faktische Schutz, den Maßnahmen der IT-Sicherheit bewirken können, die entgegen der defätistischen Haltung des Entwurfs auch der Bürger in gewissem Umfang effektiv ergreifen kann, und der symbolische Schutz durch das sanktionsbewehrte gesetzliche Verbot schädigenden Verhaltens. Das Strafrecht kommt bekanntlich immer zu spät, nämlich erst dann, wenn der Schaden schon eingetreten ist. Es kann freilich auch präventiv wirken, falls der Täter sich von der Strafdrohung beeindrucken läßt, doch ist kaum zu erwarten, daß ein irgendwo im Ausland sitzender Botnetzbetreiber, der mit guten Gründen darauf vertraut, daß die Strafverfolgungsbehörden ihn nie finden werden, zumal er gerade auf fileless attacks umgestellt hat, sich vor einem deutschen Paragraphen fürchten wird. 90

BReg, BT-Drs. 18/10182, S. 19 f. BT-Drs. 19/1716, S. 1 mit Beispielen, 5. 92 BT-Drs. 19/1716, S. 18. 93 Zutr. Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 268, 269 f. 94 BT-Drs. 19/1716, S. 3, auch S. 2, 11. 91

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Geradezu abenteuerlich wäre es, wenn damit zum Ausdruck gebracht werden sollte, ein „lückenloser“ Strafrechtsschutz mache tatsächliche Schutzmaßnahmen der IT-Sicherheit entbehrlich. Dann könnte man auch wegen der jüngsten Verschärfung der Strafe für Wohnungseinbruchsdiebstahl (§ 244 Abs. 4 StGB)95 die Sicherung von Türen und Fenstern unterlassen und stattdessen einen Ausdruck des Diebstahlsparagraphen an die Haustür heften. Gute Kriminalpolitik sollte aber nicht Wunsch und Wirklichkeit verwechseln.

IV. Alternativen? Im Schrifttum wurden mehrere alternative Vorschläge zum hessischen Entwurf entwickelt. Buermeyer/Golla wollen § 202c StGB um die Variante der Malware-Infektion ergänzen:96 „§ 202c Abs. 1 Satz 2 StGB – Ebenso wird bestraft, wer eine Straftat vorbereitet, indem er Programmcode auf ein informationstechnisches System ohne Einwilligung einer berechtigten Person in der Absicht aufbringt, diesen ausführen zu lassen.“

Damit würden, wie die Autoren einräumen, allenfalls minimale Strafbarkeitslücken geschlossen. Es handelt sich also nur um eine überflüssige Klarstellung, die sich zudem mit dem Nachweis der Vorbereitungsabsicht belastet. Kahler/Hoffmann-Holland schlagen zwei Vorschriften vor, eine zum Schutz vor Infiltration und unbefugter Nutzung (§ 303b Abs. 2-neu) und eine zweite zum Schutz des Grundrechts auf Integrität und Vertraulichkeit persönlicher informationstechnischer Systeme (§ 202e-neu).97 Der neue § 303b Abs. 2 soll lauten: „Ebenso wird bestraft, wer durch unbefugtes Anbringen eines Programmcodes auf einem informationstechnischen System auf diesem unbefugte Datenverarbeitungsvorgänge ausführt oder ausführen lässt und dadurch dem Berechtigten erhebliche Nachteile zufügt.“

Praktische Zweifel ergeben sich schon daraus, daß eine Verringerung der Rechenleistung durch die Inanspruchnahme der Bots oft nicht spürbar ist, so daß auch die Annahme einer „erheblichen Steigerung der Stromrechnung“98 – ganz abgesehen von den Nachweisproblemen – wenig plausibel erscheint. Es fragt sich weiterhin, ob überhaupt eine unbefugte Nutzung, die mit erheblichen Nachteilen einhergeht, vorstellbar ist, die nicht schon unter §§ 202a, 303a StGB fällt. Die Autoren räumen im übrigen zu recht ein, daß der Schutz vor Botnetzen nicht in erster Linie an Mängeln oder Lücken des Strafrechts leide.99 95

55. StÄG – Wohnungseinbruchsdiebstahl vom 17. 7. 2017, BGBl. 2017 I, 2442. Buermeyer/Golla, K&R 2017, 14, 18. 97 Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 272, 274. 98 Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 274. 99 Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 272.

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Kahler/Hoffmann-Holland gehen sodann davon aus, daß das neue Grundrecht auf Integrität und Vertraulichkeit persönlicher informationstechnischer Systeme auch eine grundrechtliche Schutzpflicht auslöse.100 Der alternative § 202e, der einen virtuellen Raum der Privatheit, die „virtuelle Wohnung“101 schützen soll, soll lauten: „Wer sich unbefugt zu einem informationstechnischen System, das geeignet ist, personenbezogene Daten des Berechtigten zu enthalten, die einen Einblick in wesentliche Teile seiner Lebensgestaltung geben können, Zugang verschafft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwerer Strafe bedroht ist.“

Erfaßt werden sollen auch manuelle Zugänge zu persönlichen IT-Systemen, zumal nicht einsehbar sei, daß verschlossene Schriftstücke nach § 202 StGB stärker geschützt würden als hochsensible informationstechnische Systeme. Andererseits soll eine Orientierung am grundrechtlichen Schutzgut bei der Tatbestandsgestaltung vorzugswürdig sein gegenüber „Analogien zu analogen Straftatbeständen“102 – dies hier in der Tat schon deshalb, weil § 202 auf keinem konsistenten Schutzkonzept beruht103. Verfehlt erscheint zunächst die Eignungsklausel, weil sie den Tatbestand überbreit macht und Versuche in vollendete Delikte verwandelt: Wer unbefugt das ungesicherte Smartphone eines anderen durchsucht, um private Daten zu finden, die dort nicht mehr zu finden sind, weil sie gelöscht wurden, wäre trotzdem wegen Vollendung strafbar, weil Smartphones generell geeignete Tatobjekte sind. Zweifelhaft erscheint ferner, ob die schiere Grundrechtsberührung schon die Schwelle zur Strafbarkeit überschreitet: Botnetzbetreiber infiltrieren Systeme nicht deshalb, weil sie an einem „aussagekräftigen Bild der Persönlichkeit“ des Berechtigten interessiert sind, sondern an Zugangsdaten und Rechenleistung; Familienfotos, Tagebücher und privater Nachrichtenverkehr werden ansonsten nicht einmal „angeschaut“. Es fragt sich schließlich, ob der Schutz von Geräten – auch das BVerfG hatte Personalcomputer, Notebooks, Mobiltelefone oder elektronische Terminkalender im Blick104 – sich nicht zu sehr an Dinge und damit an den ephemeren Stand der Technik bindet: Was ist mit demjenigen, der seine Daten in der Cloud speichert, auf die von überall aus mit beliebigen Geräten zugegriffen werden kann? Vorzugswürdig erscheint der Schutz der Daten selbst, den aber §§ 202a, 202b, 303a StGB und §§ 44, 43 BDSG bereits in weitem Umfang gewährleisten.

100

Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 274 mit Verweis auf Papier, NJW 2017, 3025; Heinemann, Grundrechtlicher Schutz informationstechnischer Systeme, 2015, S. 209 ff. 101 Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 274. 102 Kahler/Hoffmann-Holland, KriPoZ 2018, 267, 274 mit Fn. 78; auch Tassi, DuD 2017, 175, 178. 103 Vgl. nur MüKo-StGB/Graf, § 202 Rn. 2 f. 104 BVerfGE 120, 274, 314.

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V. Fazit Der von Hessen vorgeschlagene Tatbestand eines neuen § 202e StGB ist unnötig, unbestimmt, überbreit und unstimmig. Er sollte nicht Gesetz werden. Die über den Einzelfall hinausreichende Lehre daraus ist, daß Analogien zwar seit der Antike gebräuchliche rhetorische Figuren und noch heute nützliche Hilfsmittel des Denkens und Argumentierens sind, die aber auch rasch in die Irre führen können, wenn man vorschnell Ähnlichkeiten annimmt und relevante differentiae specificae übersieht. Das sinnenfällige Gleichnis kann rhetorische Verstärkung leisten, enthebt aber nicht von der dogmatischen Anstrengung,105 auf der ein Gesetzentwurf allein ruhen kann. Reinhard Merkels Analogie zum Hausfriedensbruch war lediglich beiläufige Garnitur nach eingehender Phänomenbeschreibung und rigoroser strafrechtlicher Analyse. Dem Gesetzgeber sei dies als Vorbild empfohlen.

105 Hilfreich zur Verbesserung der analytischen Klarheit können dabei insbesondere die von Brodowski ZIS 2019, 49, 51 ff. entwickelten Regelungs- und Auslegungsmodelle sein, s. o. Fn. 3 und bei Fn. 69.

Das gesetzliche Merkmal „gegen den erkennbaren Willen“ in der Neufassung des § 177 Abs. 1 StGB Von Gereon Wolters Durch das inzwischen schon über drei Jahre geltende „Fünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung“1 ist die Strafvorschrift des § 177 StGB unter großer Beachtung der (medialen) Öffentlichkeit2 und viel politischem Beifall3 in weitem Umfang neu gestaltet worden. Im ersten Satz der Begründung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages wird der (subjektiv) leitende Gedanke herausgehoben: „Der Wille des Opfers soll in das Zentrum der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung gestellt werden“.4 Die deswegen zu vollziehende Abkehr vom hergebrachten Erfordernis des (nötigenden) Überwindens eines Widerstands des Opfers und die Hinwendung zur (selbst so bezeichneten) „Nichteinverständnislösung“5 glaubte man bei der Gesetzesfassung dadurch in Worte kleiden zu können, dass die tatbestandsspezifische sexuelle Handlung „gegen den erkennbaren Willen“ der in das Sexualgeschehen einbezogenen Person vorgenommen oder von ihr hingenommen wird.6 Nun war es den Buchstaben des Strafgesetzbuchs schon zuvor nicht fremd, für ein tatbestandliches Verhalten auf einen entgegenstehenden Willen der betroffenen Person abzustellen: So verlangt die „Wählertäuschung“ nach § 108a Abs. 1 StGB, dass jemand „gegen seinen Willen nicht oder ungültig wählt“, und setzen der „unbefugte Gebrauch eines Fahrzeugs“ nach § 248b Abs. 1 StGB oder die Regelerschwerung des „Schwangerschaftsabbruchs“ nach § 218 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB voraus, dass 1

Vom 4. November 2016 (BGBl. I S. 2460). S. dazu aber auch Fischer, StGB, 64. Aufl. (2017), Vor § 174 Rdnr. 3c („nach überaus emotionalisierter, rechtspolitisch auf abwegige Anlässe gestützter Diskussion zustande gekommen“). 3 Der Umstand, dass die hier zu betrachtende Strafvorschrift vom Bundestag am 7. Juli 2016 in zweiter Lesung einstimmig und ohne Enthaltung beschlossen worden ist (BT-Plenarprotokoll 18/183, 18015 D), dürfte keinen ungetrübten Anlass zur Freude geben, sondern hinsichtlich der parlamentarischen Kultur eher sehr nachdenklich stimmen, da ein derartiges Abstimmungsergebnis doch einen sicheren Beweis dafür bilden dürfte, dass eine inhaltlich kritische, gar wissenschaftlich begleitete Beschäftigung mit dem vom Vorabend (!) stammenden Entwurf vollständig ausgeblieben ist. 4 BT-Drucks. 18/9097 S. 21 (Hervorhebung nicht im Original). 5 BT-Drucks. 18/9097 S. 21 (mit dem Klammerzusatz „,Nein-heißt-Nein‘-Lösung“). 6 S. dazu BT-Drucks. 18/9097 S. 21. 2

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„gegen den Willen des Berechtigten“ bzw. „gegen den Willen der Schwangeren“ gehandelt wird. Neben diesen ausdrücklichen Erwähnungen im Gesetz erscheint die Formel etwa aus den gängigen strafrechtlichen Definitionen des „Eindringens“ bei § 123 Abs. 1 StGB oder der „Wegnahme“ bei § 242 Abs. 1 StGB von alters her vertraut, wenn sie ein Handeln „gegen den Willen“7 bzw. „gegen oder ohne den Willen“8 des Berechtigten bzw. Gewahrsamsinhabers voraussetzen.9 Der oder die mit Gesetzesfassungen oder -ausfüllungen Beschäftigte darf sich trotz des vordergründig Vertrauten durchaus ein wenig verwundert darüber zeigen, dass der Gesetzgeber bei der Neufassung des § 177 Abs. 1 StGB eine Formulierung anscheinend für unzweideutig gehalten hat, die mit dem menschlichen „Willen“ auf einen Begriff abstellt, der wohl zu den schillerndsten in der Sprache, in der Philosophie und in der Neurologie gehört und damit auch im Recht facettenreich und unscharf sein dürfte. Da es zudem nicht einmal allein um den „Willen“ geht, das Verhalten vielmehr auch „gegen“ diesen in die Welt treten und zudem „erkennbar“ sein muss, bedarf es keiner seherischen Fähigkeiten vorauszusagen, dass jedes einzelne dieser Merkmale und ihr Verhältnis zueinander kontrovers diskutiert werden und bleiben wird. Wenn hierzu die folgenden Zeilen einen kleinen Beitrag leisten möchten, wird Reinhard Merkel gleich aus zwei Richtungen Geleit geben: So kommentiert der Jubilar mit dem Schwangerschaftsabbruch gerade eine solche Strafvorschrift, die zu den sehr wenigen Regelungen zählt, welche die Wendung „gegen den Willen“ (dort: der Schwangeren) enthält (§ 218 Abs. 2 Nr. 1 StGB).10 Mag dies hinsichtlich des Gegenstands der Überlegungen kaum mehr als ein „Zufallsfund“ sein, so werden die sehr tiefgehenden Beschäftigungen Reinhard Merkels zur allgemeinen Deutung des menschlichen „Willens“11 eine fruchtbare Stütze sein.

7

Lilie, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2009), § 123 Rdnr. 29. Ostendorf, in: NK-StGB, 5. Aufl. (2017), § 123 Rdnr. 29; Schmitz, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2017), § 242 Rdnr. 86. 9 Auch dem gesetzlichen Merkmal „Nötigen“ wohnt dann ein verwandtes Element inne, wenn es – wie gängig – im Sinne eines Veranlassens zu einem Verhalten „gegen den Willen“ gedeutet wird (s. etwa Fischer, StGB, 67. Aufl. [2020], § 240 Rdnr. 4); da sich aber gerade an dieses Etikett kontroverse Diskussion knüpfen (s. nur die kritischen Ausführungen von Kargl, in: Festschrift Roxin [2001], 905 ff.), liegen abzuleitende Erkenntnisse jedenfalls nicht offen zutage. 10 Reinhard Merkel, in: NK-StGB, 5. Aufl. (2017), § 218 Rdnrn. 159 ff. 11 Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung (2008). 8

Das gesetzliche Merkmal „gegen den erkennbaren Willen“

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I. Näherung an den tatbestandsspezifischen Begriff des „Willens“ In letzterer Hinsicht wird hier natürlich nicht verkannt, dass Reinhard Merkel sich zwar sehr eingehend, selbstbekennend auf einem „langen, labyrinthischen Weg“,12 mit dem menschlichen „Willen“ und der menschlichen „Willensfreiheit“ auseinandergesetzt hat, seine Überlegungen aber stets darauf gerichtet waren, neue Erkenntnisse zur „Schuld“ bzw. für den (modernen) Umgang mit dem Schuldprinzip zu gewinnen.13 Anleihen an seine Untersuchungen müssen danach zweierlei berücksichtigen: Wird nach der Bedeutung des (freien) Willens für die Bewertung strafrechtlicher Schuld gefragt, geht es zum einen um die Legitimation für die Zuschreibung von Verantwortlichkeit unter dem Gesichtspunkt, ob überhaupt oder in welchem Maße der Mensch normgemäß motivierbar ist.14 Der (freie) „Wille“ steht in diesem Zusammenhang mithin als außerrechtliches Phänomen vor der Auslegung des gesetzlichen Terminus der „Schuld“ (wie er sich einfachgesetzlich in § 20 oder 46 Abs. 1 StGB findet15 oder ein grundgesetzlich verbürgtes Element rechtsstaatlichen Strafens darstellt16). Demgegenüber handelt es sich bei dem Untersuchungsgegenstand um ein straftatbestandlich geschriebenes Merkmal, das es nach den Regeln der Methodik auszulegen gilt, was sich – am Rande vermerkt – als schlichterer Auftrag erweisen dürfte. Zum anderen wird natürlich nicht übersehen, dass Reinhard Merkels Überlegungen den „Willen“ des Tatsubjekts zu seinem strafrechtswidrigen Verhalten betreffen, es hier aber auf jenen des Handlungsobjekts ankommt. Trotz dieser anderen Lozierungen zeigen seine Gedanken aber auf dem rechten Weg der Auslegung des Begriffs bereits den wichtigen Ausgangspunkt: So muss die Normanwendung scharf mit dem Begriff des „Willens“ arbeiten, darf sich also nicht von dem vielleicht ersten Impuls dazu verleiten lassen, ihn mit dem Eigenschaftswort „frei“ zu verbinden (zumal dem Gesetzgeber – wie § 1896 Abs. 1a BGB zeigt – das Merkmal „gegen den freien Willen“ durchaus vertraut ist). Ob die Vornahme oder Hinnahme eines bestimmten Verhaltens autonom motiviert ist oder nicht, mag im allgemeinen Verständnis mit dem (eigentlichen) „Willen“ in Verbindung stehen, in spezifisch straftatbestandlicher Hinsicht steht aber grammatikalisch vor der Eigenschaft, „frei“ zu sein, die Notwendigkeit, ihren Bezugsgegenstand ohne entsprechende Vorwertungen zu beschreiben.17 Demnach verbietet es sich einerseits, mit dem Hauptwort „Wille“ vorschnell etwaige interne oder externe Zwänge oder andere Fremdbestimmungen zu vermengen.18 Andererseits erscheint es wenig hilfreich, auf amorphe, weder fassbare noch zueinander zu gewichtende men12

Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), S. 133. Zusammenfassend Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), S. 133 ff. 14 Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), S. 22 ff. 15 Eingehend Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), S. 110 ff. 16 S. hier nur BVerfGE 20, 323 (331). 17 Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), S. 15. 18 Vgl. Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), S. 12. 13

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tale Faktoren des Kognitiven, Physiologischen, Emotionalen oder Motivationalen abzustellen, um dem Begriff die Eigenschaft anzuheften, „selbstbestimmt“ zu sein.19 Vielmehr wird man eingangs den Begriff des „Willens“ nicht nur von allem lösen müssen, was in ihm im Sinne einer gutheißenden Einstellung oder gar eines billigenden Erstrebens mitschwingen mag, sondern ihn auch konzentrieren müssen auf die jeweilige Tatsituation ohne Ansehung etwaiger Aufklärungsdefizite oder Erwartungsenttäuschungen des Opfers. Ganz im Sinne Reinhard Merkels wird man vielmehr die menschliche „Entscheidung“ zu einem Verhalten,20 sei es ein aktives oder passives in Gestalt der Vornahme oder Hinnahme einer (hier: sexuellen) Handlung, zum Kern der Überlegungen zu machen haben. Die Formulierung des Art. 36 Abs. 2 der „Istanbul-Konvention“,21 der man sich im Gesetzgebungsverfahren besonders verpflichtet fühlte,22 spricht nicht nur nicht gegen eine Deutung im vorgesagten neutralen Sinne, sondern stützt sie durch die – dort auf das erklärte Einverständnis („consent“) gerichtete – Verwendung der Ausdrücke „voluntarily as the result of the person’s free will“,23 sogar, da auch hierdurch dem Willen gerade eine bestimmte Eigenschaft, nämlich frei zu sein, hinzugefügt wird.

II. Der „Wille“ als Merkmal der äußeren Tatseite Indem das Gesetz die Wendung „gegen den erkennbaren Willen“ aufnimmt und nicht etwa voraussetzt, dass das Geschehen „erkennbar gegen den Willen“ vonstatten geht, wird deutlich, dass kein Fahrlässigkeitsaspekt im Sinne eines sorgfaltswidrigen Verkennens des Widerwillens einzufließen hat,24 sondern sämtliche Elemente (äußere) Tatumstände beschreiben. Da aber auch nicht auf ein Merkmal „gegen den erkannten Willen“ abzustellen ist, zeigen sich die maßgebenden Notwendigkeiten, dass erstens der innere Wille der einbezogenen Person objektiv entgegensteht, sich dieser zweitens objektiv greifbar zeigt und drittens subjektiv der Täter in Ansehung dieser Umstände handelt. Aus dem Miteinander des „Willens“ und der „Erkennbarkeit“ auf der äußeren Tatseite zeigt sich dabei ein erster wesentlicher Unterschied zu anderen Tatbeständen, die ein Handeln „gegen den Willen“ voraussetzen (wie die §§ 108a Abs. 1, 218 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 oder 248b Abs. 1 StGB). So wird das Merkmal „gegen den Willen“ hier nicht gleichzusetzen sein mit einem „generellen“ oder „mutmaßlichen“ Widerstreben, wie es etwa in § 248b Abs. 1 StGB „hineinge19

So aber Hörnle, NStZ 2019, 439 (440). Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), S. 7. 21 Council of Europe Convention on preventing and combating violence against women and domestic violence (CETS No. 210). Vgl. BGBl. II 2017 S. 1026. 22 BT-Drucks. 18/9097 S. 21. 23 Der Absatz lautet im Ganzen: „Consent must be given voluntarily as the result of the person’s free will assessed in the context of the surrounding circumstances“. 24 Vgl. Renzikowski, NJW 2016, 3553 (3554); El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (165 f.); Lederer, AnwBl 2017, 514 (515); Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (158 [Anmerkung 22]). 20

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lesen“ werden mag.25 Auch kann nicht auf einen nur inneren Widerwillen26 oder darauf abgestellt werden, dass er lediglich einer dritten Person gegenüber ausgedrückt worden ist, wie dies bei § 218 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB für ausreichend erachtet wird.27 Verlangt nämlich die äußere Tatseite die Erkennbarkeit des Willens, muss für ihre Beurteilung „die Sicht eines objektiven Dritten“28 auf die konkrete Tatsituation eingenommen werden; dies spiegelt sich wiederum in Art. 36 Abs. 2 der Istanbul-Konvention dahingehend, als auch dort die sich objektiv zeigenden tatsächlichen Umstände für maßgeblich erachtet werden („… in the context of the surrounding circumstances“). Damit kann es nicht genügen, dass irgendjemand und sei es (allein) der Täter (etwa aus früheren Begegnungen oder Gesprächen) um das fehlende Einvernehmen weiß.29 Auch würde der Horizont des Betrachters, der ja ein objektiver sein soll, dann unzulässig erweitert, wenn man ihm eine Kenntnis der (ganzen, „wesentlichen“, längeren, näheren?) Vorgeschichte einpflanzte, da er Beobachter und nicht Weltgeist ist; mithin hat er allein den Zeitpunkt der Tatbegehung zu betrachten und aus eben dieser Situation Schlüsse zu ziehen.30 Das Erfordernis der Begrenzung des Blicks entspricht auch dem im Gesetzgebungsverfahren Herausgehobenen, dass es dem Opfer zuzumuten sei, „dem entgegenstehenden Willen zum Tatzeitpunkt eindeutig Ausdruck zu verleihen“.31 Ist es hiernach eine Obliegenheit des Opfers, seinen entgegenstehenden Willen gegenüber dem Täter in besagter Situation in die Außenwelt zu tragen, muss es Gegebenheiten schaffen, aus denen eindeutig und ohne Ambivalenzen32 zu schließen ist, dass sein Einbeziehen in den konkreten sexualbezogenen Vorgang, sei es auch nur zu dieser Zeit, an diesem Ort oder in dieser Art, nicht stattfinden soll. Neben Fällen eines ausdrücklich (expressis verbis) geäußerten „Neins“ werden auch und praktisch häufig solche erfasst werden, in welchen sich das Nichtwollen (objektiv) eindeutig schlüssig aus den Umständen, insbesondere aus der Körpersprache (Weinen, Schreien, Zeichen von Angewidertsein etc.) oder physischen Abwehrzeichen (Wegdrehen des Körpers, Schließen des Mundes, Zusammenpressen der Beine oder der Gesäßbacken, Wegschieben der sich nähernden Hand des Täters etc.) ergibt.33 25 S. etwa Vogel, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2010), § 248b Rdnr. 7 f.; Hohmann, in: MüKoStGB, 3. Aufl. (2017), § 248b Rdnr. 13. 26 Ausdrücklich BT-Drucks. 18/9097 S. 23; Fischer, NStZ 2019, 580 (582 f.). 27 Vgl. Reinhard Merkel, in: NK-StGB, 5. Aufl. (2017), § 218 Rdnrn. 159 f.; gewichtige Gegenargumente finden sich bei Gropp, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2017), § 218 Rdnr. 63. 28 Ausdrücklich BT-Drucks. 18/9097 S. 22. S. dazu auch Renzikowski, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2017), § 177 Rdnr. 47. 29 Hoven/Weigend, JZ 2017, 182 (187); Hörnle, NStZ 2017, 13 (15). 30 Eingehend Hoven/Weigend, JZ 2017, 182 (187); kritisch auch Bezjak, SchlHA 2017, 371 (373). 31 BT-Drucks. 18/9097 S. 23 (Hervorhebung nicht im Original). 32 Ausdrücklich BT-Drucks. 18/9097 S. 23. 33 S. bereits Wolters, in: S/S/W-StGB, 4. Aufl. (2019), § 177 Rdnr. 8 ff.; Hörnle, NStZ 2017, 13 (15). Vgl. BT-Drucks. 18/9097 S. 23.

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Dieses eindeutig erklärte „Nein“ zum tragenden Element des Übergriffs in § 177 Abs. 1 StGB zu machen, zeigt sich auch systematisch zum einen in der Nummer 1 seines Absatzes 2, der gerade solche Opfer erfasst, die zu einer entsprechenden eindeutigen Äußerung außer Stande sind, und zum anderen in dessen Nummern 4 und 5, die davon ausgehen, dass das Opfer sich wegen des Zwangs – gar mit einem (abgenötigten) ausdrücklichen „Ja“ – fügt, es also selbständiger (Auffang-)Vorschriften bedarf.34

III. Maßgeblicher Zeitpunkt für das Erklären des Willens bzw. Widerwillens Aus der sprachlichen Fassung des Tatbestands des § 177 Abs. 1 StGB folgt, dass – aus der objektiven Warte – Opfer nicht sein kann, wer seine Obliegenheit nicht erfüllt, seinen entgegenstehenden Willen eben dann ausdrücklich oder schlüssig zu erklären, wenn das spezifische Verhalten Platz greift. Hiermit zeigt sich auch der maßgebliche temporale Ausgangspunkt für die Erklärung: Im Geiste der §§ 8 und 22 StGB kann den Anfang des Zeitstrahls (dessen Ende weiter unten zu beschreiben sein wird) nur der Moment bilden, in welchem der Täter, sei es durch Worte oder Taten, die – von Anbeginn nicht bzw. im Verlaufe des Geschehens nicht mehr gewollte – sexuelle Handlung (etwaig vermittelt durch einen Dritten) in die Außenwelt zu setzen beginnt (Hinnahmemodalitäten [aus der Perspektive des Opfers]) bzw. in welchem der Täter dazu ansetzt, dass das Opfer entsprechende Handlungen (an dem Täter, an einem Dritten oder an bzw. mit sich) vollzieht (Vornahmemodalitäten [aus der Perspektive des Opfers]). Wenn es allein auf die ablehnende Erklärung des Opfers in der fraglichen Situation ankommt, versteht es sich angesichts des höchstpersönlichen Charakters dieser Willensbekundung, dass es ohne jeden Belang ist, ob die Beteiligten zurückliegend einvernehmlich vergleichbare Handlungen gepflegt haben, sie eine verabredete Gegenleistung (etwa im Rahmen der Prostitutionsausübung) darstellen oder – sei es auch unmittelbar davor – sie bezüglich eine ausdrückliche oder schlüssige Zustimmung erklärt worden ist. Die sexuelle Selbstbestimmung ist insoweit unveräußerlich, als dass die sie tragende Person ihren Willen jederzeit ändern,35 ein Einverständnis mithin stets frei widerrufen kann. Dies kann sich naturgemäß auch spiegelbildlich, also etwa dergestalt zeigen, dass ein zunächst erklärtes „Nein“ einem „Nun doch Ja“ weicht. Angesichts der so zu verstehenden Obliegenheit zur Äußerung verbietet es sich von vornherein, aus der Person des Opfers oder den Umständen auf einen „im Allgemeinen“ entgegenstehenden Willen zu schließen.36 So darf etwa weder postuliert 34

Dazu auch Hörnle, NStZ 2017, 13 (15). BT-Drucks. 18/9097 S. 23. 36 Vgl. Bezjak, KJ 2016, 557 (561).

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werden, eine im Zölibat lebende Person wolle niemals in ein sexualbezogenes Geschehen eingebunden werden (und habe daher ein „lebenslanges Nein“ erklärt), noch schon und allein aus der Anwendung von Gewalt geschlossen werden, mit ihr verknüpfte Sexualität sei stets gegen den Willen des oder der ihr Unterworfenen.37 Umgekehrt darf aber auch nicht „aus den Gesamtumständen“ unter dem Gesichtspunkt eines etwaig widersprüchlichen Verhaltens geschlossen werden, dass – etwa bei zuvor zugesagten sexuellen Dienstleistungen gegen Entgelt – ein konkretes „Nein“ abredewidrig und damit „eigentlich“ keines ist. Die Äußerungsobliegenheit ist auch insoweit von praktischer Bedeutung, als etwa das (gewaltsame) Versetzen in den Zustand der Bewusstlosigkeit durch den Täter (heimliches Beibringen von Knockout-Tropfen etc.) zum Zwecke der Vornahme sexueller Handlungen nicht dem Absatz 1, sondern allenfalls Absatz 2 Nr. 1 unterfällt.38 Aus dem Anwendungsbereich ersterer und in den letzterer Vorschrift fallen darüber hinaus und vor allem solche Konstellationen, in welchen der Täter das Opfer in einer entsprechenden Situation vorfindet.39 Dies liegt auf der Hand, wenn das Opfer durch äußere Umstände (wie einen Unfall) oder durch eine dritte Person unbewusst in den besagten Zustand geraten oder versetzt worden ist, gilt aber auch dann, wenn sich das Opfer durch eigene oder dritte Hand bewusst der Fähigkeit der sexualbezogenen Willensbildung oder -äußerung (etwa durch Einschlafen oder durch Einnahme bzw. Verabreichung von Betäubungsmitteln) beraubt hat. Es liegt nun einmal in der Natur, dass ein Mensch, der sich bewusst gerade der Fähigkeit begeben hat, etwas zu wollen oder auch nicht zu wollen, keinen aktuellen Willen (mehr) hat; in der maßgeblichen Situation äußert er also niemals ein „Nein“. Entsprechendes gilt dann, wenn das Opfer vom Täter im beiderseitigen Einvernehmen in diesen Zustand (etwa durch Betäubungsmittel) versetzt wird, ohne dass eine nachfolgende sexuelle Handlung Teil der Kommunikation geworden ist; die nach früherem Recht gezogene Grenze zwischen sexueller Nötigung mittels Gewalt und sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen40 zeigt sich nicht mehr, da Absatz 1 das Missachten eines „Nein“ verlangt, das hier nicht geäußert worden ist, und es für die Anwendbarkeit des Absatzes 2 Nr. 1 keine Rolle spielt, wer die willensbezogen defizitäre Situation herbeigeführt hat.41 Im Übrigen beansprucht Vorgesagtes im Grundsatz auch bei einem generellen „Ja“, namentlich dann Geltung, wenn sich eine Person gerade mit dem geäußerten Willen in diesen Zustand versetzt hat, in ihm durch die von einem anderen vorgenommenen sexuellen Handlungen ihr Erleben zu steigern oder ihren Horizont zu erweitern (etwa um sich an späteren Filmaufnahmen zu erfreuen). Wer bewusstlos etc. ist, hat keinen aktuellen Willen und äußert ihn daher in der Tatsituation selbst dann nicht, 37

S. auch El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (163). Ausdrücklich BT-Drucks. 18/9097 S. 23. 39 BT-Drucks. 18/9097 S. 23 f. 40 S. dazu Wolters, in: SK-StGB, 8. Aufl. (2012), § 177 Rdnrn. 13, 15 und 18. 41 Vgl. auch Kratzer-Ceylan, Finalität, Widerstand, „Bescholtenheit“ (2015), S. 356 ff.

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wenn er zuvor abstrakt sein Einvernehmen erklärt hat. Ein Rückbeziehen auf den noch „freien Zustand“42 oder auf eine antizipierte Willensbekundung wird hier nicht nutzbar zu machen sein. Zwar mag man im Allgemeinen einen Menschen, der ein Einverständnis einmal kundgetan hat, solange an dieses binden, wie er es nicht in äußerlich erkennbarer Weise (actus contrarius) widerruft;43 die in diesem Zusammenhang beispielhaft genannten Gestaltungen unterscheiden sich aber von hiesiger: So gelingt es nämlich – ganz im Lichte des § 856 Abs. 2 BGB – ohne größere Schwierigkeiten zu begründen, dass Inhaber der – von einem generellen Willen getragenen – Sachherrschaft auch derjenige ist, welcher schläft, bewusstlos oder volltrunken ist,44 und auf diese Weise aufzuzeigen, dass die Sache im maßgeblichen Zeitpunkt der Wegnahme nicht gewahrsamslos geworden, also ein taugliches Handlungsobjekt geblieben ist. Wenn nun aber der Wille, die Sachherrschaft zu behalten, in den geschwächten Zustand mitgenommen wird, muss spiegelbildlich auch der zuvor ausgedrückte Wille, die Sachherrschaft zu verlieren, in den späteren Tatzeitpunkt (als wirksames Einverständnis) fortwirken. Hinsichtlich der von § 177 Abs. 1 und Abs. 2 StGB vorausgesetzten Situationen verhält es sich aber anders: Indem nämlich der Wille nicht nur „in das Zentrum der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung gestellt“45, sondern auch das Erfordernis seiner Äußerung in der Tatsituation zur Obliegenheit erhoben wird, muss die betroffene Person in diesem Zeitpunkt noch Herrin über eben diesen „Verfügungsgegenstand“ sein. Einfach gesagt: Den Willen, Gewahrsam an einer Sache (positiv) zu haben und damit ihn auch (negativ) zu verlieren, nimmt man in den Schlaf etc., nicht aber die Möglichkeit, in diesem Zustand aktuell „Nein“ zu sagen! Ist damit grundsätzlich Absatz 2 Nr. 1 eröffnet, so wird seine Anwendung bei einem zuvor geäußerten „Ja“ aus einem anderen Grunde ausscheiden: Handelt der Täter in jenem hinsichtlich der Willensbildung etc. defizitären Zustand in Ansehung des zuvor erklärten Einvernehmens, so wird diese Situation von ihm schon tatbestandlich nicht „ausgenutzt“, da er gerade nicht davon ausgeht, dass die spezifische Handlung ohne das Willensdefizit unterblieben oder zurückgewiesen worden wäre oder mit Nötigungsmitteln hätte erzwungen werden müssen.46 Vergleichbares gilt im Übrigen für Fälle, in welchen im Allgemeinen einvernehmliche Sexualkontakte gepflegt werden (die Freundin greift dem unbekleidet schlafenden Partner ins Genital, um ihn zu wecken und zum Austausch von Zärtlichkeiten zu motivieren). Mit obigen Erkenntnissen sind die Weichen nun auch für solche Fälle gestellt, in denen das Opfer sich mit einem unmissverständlich geäußerten „Nein“ in den fraglichen Zustand begeben hat. Zwar hat es hierdurch deutlich gemacht, später nicht in 42

Vgl. BGH NStZ 2009, 90. S. auch BGH NStZ-RR 2013, 316; vgl. BGH StV 2014, 414; BGH MDR (D) 1958, 13. 43 Hoyer, in: SK-StGB, 9. Aufl. (2019), § 242 Rdnr. 53; Schmitz, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2017), § 242 Rdnr. 98. 44 Vogel, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2010), § 242 Rdnr. 69. 45 BT-Drucks. 18/9097 S. 21. 46 Wolters, in: S/S/W-StGB, 4. Aufl. (2019), § 177 Rdnr. 37; vgl. BGHSt 64, 55 (60).

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ein sexualbezogenes Geschehen eingebunden werden zu wollen, dennoch ist es im maßgeblichen Zeitpunkt eben nicht mehr zur Willensbildung etc. in der Lage, unterfällt danach allein Absatz 2 Nr. 1. Im Unterschied zum soeben beschriebenen zuvor geäußerten „Ja“ wird hier die Situation stets „ausgenutzt“, da die Handlung entweder (angesichts des generellen „Nein“) ganz unterblieben, zurückgewiesen oder zu erzwingen gewesen wäre oder sie (bei einem lediglich auf den Zustand bezogenen „Nein“) zumindest nicht in der konkreten Weise hätte vorgenommen werden können. Wenn hingegen ein „Nein“ im Sinne des Absatzes 1 geäußert und damit deutlich wird, in einer – unten zeitlich noch zu konturierenden – Situation gar kein sexuelles Geschehen oder nur ein bestimmtes zu wollen, kommt es nicht darauf an, auf welchem Wege der Täter diesem Willen entgegen handelt. So wirkt das geäußerte „Nein“ fort nicht nur, wenn die konkrete sexuelle Handlung mittels Gewalt erzwungen, sondern auch, wenn sie letztlich durch Überrumpelung ermöglicht wird. Absatz 1 geht in der zweiten Konstellation Absatz 2 Nr. 3 vor, da letztere auf eine Situation zielt, in welcher die sexuelle Handlung das Opfer dergestalt unvorbereitet trifft, dass es einen entgegenstehenden Willen gar nicht erst entwickeln oder ihn jedenfalls nicht mehr schnell genug in ein ausdrückliches oder konkludentes „Nein“ kleiden kann.47 Dieser Auffangregelung für Fälle „relativer“ Unfähigkeiten bedarf es nicht, wenn und soweit zuvor eine (verbale oder nonverbale) Ablehnung Ausdruck gefunden hat.48 Die beiden Regelungen unterscheiden sich mithin in dieser Hinsicht dadurch, dass Absatz 2 Nr. 3 anzuwenden ist, wenn durch die Überraschung schon das „Nein“ unmöglich gemacht wird, während es für Absatz 1 nicht darauf ankommt, ob zusätzlich zum „Nein“ durch die Überraschung noch Widerstand unmöglich gemacht wird.49

IV. Umfang und zeitliche Geltung des erklärten Willens bzw. Widerwillens In welchem inhaltlichen Umfang das „Nein“ Geltung beansprucht, ist eine Frage des Einzelfalls, bedarf aber angesichts des Erfordernisses der Äußerung in der Tatsituation einer eindeutigen Begrenzung: So wird ein „Nicht hier“, ein „Nicht jetzt“ oder ein „Nicht so“ eine hinreichende sachliche Kontur haben. Auch einvernehmlich begonnene sexuelle Handlungen können ohne weitere Erklärung zum sexuellen Übergriff nach Absatz 1 werden,50 wenn in ihrem weiteren Verlauf zuvor objektiv gezogene Grenzen überschritten werden: So steht etwa ein erkennbares „Nein“ entgegen, wenn das Opfer aus Sorge vor einer Schwangerschaft ausdrücklich nur Anal-

47

BT-Drucks. 18/9097 S. 25; s. auch BGHSt 64, 55 (59 f.). BT-Drucks. 18/9097 S. 25. 49 Zum Verhältnis beider Tatbestände zueinander bei Handlungseinheit s. eingehend BGHSt 64, 55 (61 ff.): „nur eine Gesetzesverletzung“. 50 Fischer, StGB, 67. Aufl. (2020), Vor § 177 Rdnr. 12a. 48

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verkehr zustimmt, der Täter es aber mit dem Penis vaginal penetriert.51 Indes genügt es in diesen Konstellationen für den Absatz 1 nicht, dass das Opfer eine bestimmte Handlung nur als grenzüberschreitend empfindet, wenn dies nicht zuvor zum Gegenstand ausdrücklicher oder schlüssiger Kommunikation gemacht worden ist: So handelt der Täter nicht bereits dann tatbestandsmäßig, wenn er anlässlich einvernehmlichen Vaginalverkehrs das Opfer gegen seinen (inneren) Willen anal penetriert; hier steht wiederum das Überraschungsmoment im Vordergrund, ist also allein an Absatz 2 Nr. 3 zu denken. Wenn sich aus der Formulierung des § 177 Abs. 1 StGB ergibt, dass das „Nein“ in dem Zeitpunkt zu erklären ist, in welchem der Täter, der Dritte oder das Opfer die (erste) sexuelle Handlung in die Außenwelt zu setzen beginnt, ist noch nicht entschieden, wie lange dieses „Nein“ zeitlich fortwirkt, in obigem Bilde bleibend: wann der Zeitstrahl endet. Diese Frage stellt sich dann nicht, wenn – was praktisch beinahe ausnahmslos der Fall sein dürfte – ein einmal geäußertes „Nein“ jedenfalls schlüssig weiterschwingt (indem körperliche Distanz hergestellt bzw. bewahrt wird, sich die Körpersprache laufend abwehrend zeigt etc.), wird aber dann auf den Plan treten, wenn ein sexualbezogenes Geschehen nicht mehr Gegenstand der gegenwärtigen Kommunikation ist. Dies ist offensichtlich, wenn sich eine Person dem erklärten „Nein“ zunächst fügt und erst Tage später in einem Überraschungsmoment gegenüber dem Opfer sexuell übergriffig wird; hier wird kein aktuelles „Nein“ überwunden, sondern ein befürchtetes wiederholtes „Nein“ durch Überrumpelung verhindert (womit bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen allein § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB gegeben ist). Schwieriger zu beurteilen wird aber schon der ähnlich gelagerte Fall sein, in dem zwar das „Nein“ zunächst respektiert wird, diesem aber in einem näheren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang doch zuwider gehandelt wird (der Täter greift der ausersehenen Person wegen des von ihr geäußerten Widerwillens zwar nicht am Tisch der Gaststätte unter der Kleidung an das Geschlechtsteil, folgt ihr aber später heimlich auf die Toilette und setzt seinen Plan dort unerwartet um). Um Missdeutungen – in diesem durchaus verminten Gelände52 – vorzubeugen: Bei vorstehender Frage geht es nicht um die Strafbarkeit bzw. Straflosigkeit oder gar Strafwürdigkeit des Verhaltens, sondern allein darum, ob die vor der Anwendung des Absatzes 1 notwendige Obliegenheit gegeben oder ob der im Unrecht gleich gewichtete („ebenso wird bestraft“) Absatz 2 anzuwenden ist. Angesichts der aus objektiver Warte zu bemessenden Erkennbarkeit des Willens in der Tatsituation und dem Wesen der sexuellen Selbstbestimmung, sich auch ändernd zeigen zu können, also nicht nur die Zustimmung, sondern auch die Ablehnung jederzeit frei widerruflich ist, wird man sich nicht begnügen können, objektiv auf eine mehr oder weniger vage „Frische der Erklärung“ abzustellen (etwa den Gedanken des § 252 Abs. 1 StGB anzuwenden). Absatz 1 schützt die sexuelle Selbstbestimmung nämlich nur, wenn die sie tragende Person ihrer zumutbaren Obliegenheit, 51 52

Vgl. Hoffmann, NStZ 2019, 16 (17). Vgl. Weigend, ZStW 129 (2017), 513 (515).

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Ablehnung zu zeigen, in jenem Zeitpunkt nachgekommen ist, in dem ein sexualbezogenes Geschehen als Gegenstand der Kommunikation konkretisiert worden ist. Hier begründet das „Nein“ nicht nur formal die Strafbarkeit, sondern es begegnet als Ausdruck der Selbstbestimmung material dem diese berührende konkreten fremden Ansinnen. Strukturell ist dieses „Nein“ damit vergleichbar der Verteidigung gegen einen erkannten „Angriff“ auf dieses Interesse. Wie die Abwendung der drohenden Verletzung bei der Notwehr nur so lange erlaubt bleibt, wie diese Lage noch andauert (§ 32 Abs. 2 StGB), oder – ähnlich gelagert – so wie der Argwohn des Opfers dem heimtückischen Handeln nur so lange entgegensteht, wie er nicht wieder der Arglosigkeit weicht, so verliert die Trutzwehr des „Nein“ ihre strafbegründende Wirkung, wenn der Täter – wiederum aus der objektiven Perspektive – von dem kommunikativ konkretisierten sexualbezogenen Geschehen Abstand genommen hat, dieser „Angriff“ mithin beendet ist. Einem dieser Beendigung nachfolgenden „Angriff“ ist mit einem neuen „Nein“ zu begegnen, um die Strafbarkeit nach Absatz 1 auszulösen. Wird in dieser Situation weder ein „Nein“ noch ein „Ja“ als einem veränderten Ausdruck der sexuellen Selbstbestimmung erklärt, ist unter den dortigen Voraussetzungen einmal mehr an eine Strafbarkeit nach Absatz 2 Nrn. 3 bis 5 zu denken.

V. Willensmängel Aus dem Erfordernis der konkret ablehnenden Äußerung zum Zeitpunkt der sexuellen Handlung folgt auch, dass Erkenntnisse zum (tatbestandsausschließenden) Einverständnis nur eingeschränkt übertragen werden können. So stellt letzteres bei Delikten, welche ein Handeln gegen oder ohne den Willen des Berechtigten beschreiben, ein (spiegelbildliches) negatives Tatbestandsmerkmal dar,53 dessen Vorliegen die äußere Tatseite entfallen lässt bzw. dessen Nichtvorliegen sie begründet (mit entsprechenden Auswirkungen bei Fehlvorstellungen54). Wenn es aber dem Opfer obliegt, ein „Nein“ im Tatzeitpunkt eindeutig zu erklären, geht es nicht um einen negativen, den Tatbestand ausnahmsweise ausschließenden Umstand, sondern um einen positiven, die Norm erst begründenden in Form der Äußerung der Ablehnung („Nein“). So darf auch die Etikettierung als „Nichteinverständnislösung“55 nicht dergestalt missverstanden werden, dass bereits bei einem fehlenden Einverständnis der Tatbestand erfüllt wäre; vielmehr muss das subjektive Nichteinverstandensein gerade objektiven Ausdruck finden. Führt man sich diesen Unterschied vor Augen, zeigt sich auch, dass die beim tatbestandsausschließenden Einverständnis (oder auch bei der rechtfertigenden Einwilligung) aufgeworfenen Fragen zur Behandlung von Willensmängeln nur sehr einge53

S. etwa Vogel, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2010), § 248b Rdnr. 8. S. zum Merkmal des Bruchs des Gewahrsams etwa Hoyer, in: SK-StGB, 9. Aufl. (2019), § 242 Rdnr. 52. 55 BT-Drucks. 18/9097 S. 21. 54

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schränkt nutzbar zu machen sind:56 Selbst wenn man nämlich ein Einverständnis dann für unwirksam halten mag, wenn es erschlichen worden ist,57 führte dies allein dazu, ein etwaiges „Ja“ zu eliminieren, begründete aber eben noch kein erklärtes „Nein“. Dass nicht auf den „wahren“ Willen eines hypothetisch vollumfänglich ins Bild gesetzten Sexualpartners und damit auch nicht auf eine hierauf bezogene Kenntnis des Täters abzustellen ist, folgt nicht nur aus dem Erfordernis der für die Erkennbarkeit des Willens einzunehmenden objektiven Warte, sondern auch aus der Struktur der Vorschrift, die auf der einen Seite in Absatz 1 eine Obliegenheit und auf der anderen Seite in Absatz 2 bestimmte Umstände beschreibt, in welchen dem Handlungsobjekt diese Obliegenheit ausnahmsweise nicht auferlegt werden kann, weil es entweder schon gar keinen aktuellen Willen bilden oder ihn zwar bilden, aber nicht ausdrücken kann oder wegen eines äußeren Zwangs nicht ausdrücken möchte. Gesetzestechnisch mögen in Absatz 2 die (über das Merkmal des „Ausnutzens“ widerleglichen58) Vermutungen eines „Nein“ ausgedrückt werden, im Zusammenspiel beider Absätze zeigt sich aber eben auch, dass es auf die Erforschung eines inneren, mutmaßlichen, hypothetischen, „wahren“ etc. Willens der betroffenen Person durch den Täter gerade nicht ankommt.59 Mit dieser Erkenntnis ist indes nur die Grundlage für die Bewertung solcher Konstellationen geschaffen, in welchen das nach Absatz 1 verlangte „Nein“ zwar objektiv nicht erklärt wird, die betroffene Person es aber ohne seine fehlerhaften Vorstellungen (mit anderen Worten: vollständig „aufgeklärt“) geäußert hätte. So ist es etwa denkbar, dass sie zwar ein „Nein“ ausdrücken wollte, dies aber objektiv nicht getan hat, weil sie sich versprochen hat („Erklärungsirrtum“) oder (wegen unzureichender Sprachkenntnisse) ihrer Äußerung eine andere Bedeutung beigemessen hat („Inhaltsirrtum“ bzw. „Verlautbarungsirrtum“).60 Sieht man nicht nur das „Nein“, sondern auch seine Erkennbarkeit als tragende Elemente des Absatzes 1, liegt die Einordnung auf der Hand: Soweit sich aus den Umständen für einen objektiven Dritten nichts anderes ergibt (das die Handlung erduldende Opfer sagt mit Worten „Ja“, macht aber durch Weinen schlüssig ein „Nein“ ersichtlich), so muss sich der Irrende an seiner Erklärung festhalten lassen, da er seiner Obliegenheit nicht nachgekommen ist. Eine Strafbarkeit ergibt sich in diesen Fällen auch nicht aus Absatz 2: Mag in obi56 Aus der kaum mehr zu überblickenden Diskussion sei hier nur hingewiesen auf die monographischen Werke von Arzt, Willensmängel bei der Einwilligung (1970) und Amelung, Irrtum und Täuschung als Grundlage von Willensmängeln bei der Einwilligung des Verletzten (1998), S. 72 ff. sowie die Beiträge von Kühne, JZ 1979, 241 ff. und Roxin, Gedächtnisschrift Noll (1984), 275 ff. 57 S. etwa zum Merkmal des „Eindringens“ in § 123 StGB Schäfer, in: LK-StGB, 10. Aufl. (1988), § 123 Rdnr. 27. 58 Vgl. Wolters, in: SK-StGB, 9. Aufl. (2017), § 174 Rdnr. 17 f. 59 S. eingehend Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (158). 60 S. allgemein zur Unanwendbarkeit der §§ 119 ff. BGB Amelung, ZStW 109 (1997), 490 (493 ff.).

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gem Beispiel der Inhaltsirrtum auch gerade darauf fußen, dass die Person „nicht in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen“ sprachlich „zu äußern“, so verlangt die Nummer 1 eine gänzliche Unfähigkeit, sich überhaupt zu erklären; da dies hinsichtlich eines schlüssigen Verhaltens nicht gegeben ist, kommt auch die sprachunkundige Person der Obliegenheit des Absatzes 1 nicht nach, trägt also das Erklärungsrisiko selbst dann, wenn der Täter um den inneren Widerwillen weiß. Konsequenterweise müsste dies übrigens auch umgekehrt gelten: Macht die Person objektiv ein „Nein“ erkennbar, möchte aber eigentlich ein „Ja“ erklären, und handelt der Täter in Ansehung des Objektiven, macht er sich nicht nur wegen eines versuchten, sondern wegen eines vollendeten Übergriffs schuldig; da das Geschehen aber objektiv ein selbstbestimmtes ist, mag an eine teleologische Reduktion des Vollendungstatbestands gedacht werden, da sich das Geschehen materiell nur als („untauglicher“) Versuch zeigt. Schwieriger zu beurteilen sein dürften nun jene Fallgestaltungen, in welchen die sexuelle Interaktion von einer objektiv erkennbaren „Geschäftsgrundlage“ getragen wird. In diesen Zusammenhang gehören insbesondere auf Täuschungen beruhende Fehlvorstellungen über innere oder äußere Umstände, von denen das Opfer seine Bereitschaft zu sexuellen Handlungen ausdrücklich oder schlüssig abhängig macht.61 Da sie durchweg dadurch gekennzeichnet sind, dass sich zum erklärten „Ja“, wenn es etwa mit der Identität einer Person, mit der Verabredung einer Gegenleistung oder der Zusage einer Empfängnisverhütung verknüpft ist, eben auch ein korrespondierend erklärtes „Nein“ (nicht mit einem anderen, nicht ohne Entgelt oder nicht bei der Gefahr einer Schwangerschaft verkehren zu wollen) formulieren lässt, dürfte es zu kurz greifen, auch hier zu betonen, dass es auf den „wahren“ Willen nicht ankommt,62 da dieser ja kommunikativ manifest geworden ist. Demnach wird man in diesen Fällen auch nicht sagen können, dass die „Motivlage des Opfers ambivalent ist“,63 es mithin schon deswegen das Erklärungsrisiko trage. Die beschriebene Situation mag zwar an die Diskussion um die „Lehre vom bedingten Einverständnis“64 erinnern, sie unterscheidet sich aber insoweit von den dort behandelten Konstellationen (Warenautomaten etc.65), als es hier nicht darum geht, einen im Tatzeitpunkt wegen Abwesenheit nicht äußerbaren Willen objektivierbar zu antizipieren. Da sich Täter und Opfer hier – sieht man von der praktisch zu vernachlässigenden Modalität der nicht einmal „vor“ (§ 184 h Nr. 2 StGB) einem anderen vorgenommenen autosexuellen Handlung ab66 – nicht nur „Auge in Auge“ gegenüberstehen, sondern das weitere sexualbezogene Geschehen auch zum Gegenstand 61

Dazu Hoven/Weigend, KriPoz 2018, 156 (157 ff.). So Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (158). 63 Vgl. BT-Drucks. 18/9097 S. 23 (Hervorhebung nicht im Original). 64 Dazu zusammenfassend und vertiefend Rönnau, Festschrift Roxin (2011), 487 ff. 65 S. im Einzelnen Schmitz, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2017), § 242 Rdnr. 99 ff.; Hoyer, in: SK-StGB, 9. Aufl. (2019), § 242 Rdnr. 54 ff. 66 S. Wolters, in: S/S/W-StGB, 4. Aufl. (2019), § 177 Rdnr. 10. 62

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der aktuellen Kommunikation machen, wird man die Einordnung in Absatz 1 davon abhängig zu machen haben, ob sich die sexuelle Handlung als Ausdruck der sexuellen Selbstbestimmung oder als insoweit friedensstörender Eingriff darstellt. Diese Betrachtung ist vertraut von der Grenzziehung bei Selbstschädigungs- und Fremdschädigungsdelikten: So ist derjenige, der täuschungsbedingt einverstanden ist mit der Gewahrsamsverschiebung, nicht Opfer eines Diebstahls, sondern eines Betrugs. Ähnlich verhält es sich hier: Wer zu einem sexuellen Geschehen mit seiner Beteiligung „Ja“ sagt, verfügt über seine Sexualität selbstbestimmt auch dann, wenn irrtumsbedingt von anderen Umständen ausgegangen wird. Bildlich formuliert, „stiehlt“ der Täter des Absatzes 1 die durch ein vom „Nein“ eindeutig abgegrenzte fremde Sexualität, während das entsprechende Ertrügen zu einer bewussten Entäußerung führt, wobei sich der Gesetzgeber bei diesem Rechtsgut dazu entschieden hat, auf einen dem Betrug vergleichbaren Tatbestand zu verzichten (wie ihn § 179 Abs. 1 RStGB für das Vorspiegeln des ehelichen Beischlafs noch kannte).67 Das gezeichnete Bild hilft auch im Übrigen weiter: Wie das Einverständnis beim Diebstahl nur den genau umrissenen Gegenstand erfasst, so können nur diejenigen sexuellen Handlungen einvernehmlich sein, die zuvor entsprechender Gegenstand der Kommunikation geworden sind. Wer seine Zustimmung auf einzelne Bereiche beschränkt (etwa: nur analer, kein vaginaler oder nur durch Kondom geschützter68 Verkehr), kann demnach ohne weiteres Opfer eines Übergriffs werden. „Gegenstand“ der Kommunikation ist aber stets nur die spezifische sexuelle Handlung. Ist diese irrtumsfrei identifiziert, kommt es auf Motive, Bedingungen, Erwartungen, Hoffnungen oder andere Vorstellungen nicht an,69 so dass das Vortäuschen einer Identität, von Gesundheit, von verhütenden Gegebenheiten,70 eines Personenstands oder einer gesellschaftlichen Stellung ohne jeden Belang ist.71 Mit anderen Worten verdichtet sich das „Ja“ auf die vorbestimmte sexuelle Interaktion mit der beteiligten Person vergleichbar der Vorsatzkonkretisierung bei Fehlvorstellungen über das Handlungsobjekt.72 Das Irrtumsrisiko trägt mithin das Opfer: Das Strafrecht schützt in diesem Bereich also nicht davor, menschlich enttäuscht oder hintergangen worden

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S. im Einzelnen Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (158 f.). Zum Phänomen des „Stealthing“ und zu seiner strafrechtlichen Einordnung s. eingehend Herzog, in: Festschrift Thomas Fischer (2018), 351 ff. und den Überblick bei Hoffmann, NStZ 2019, 16 (17 ff.). S. hierzu auch den Fall AG Tiergarten, Urteil vom 11. Dezember 2018 – (278 Ls) 284 Js 118/18 (14/18) –, juris sowie Ziegler, in: BeckOK-StGB, 43. Edition (1. August 2019), § 177 Rdnr. 9a mit Hinweisen zu den Regelerschwerungen. 69 Man stelle sich bei abweichender Deutung nur auf Motive etc. bezogene Explorationserfordernisse im Strafverfahren und zudem vor, dass sogar an sich diskriminierende Aspekte (vgl. § 46 Abs. 1 Satz 2 Gruppe 1 StGB) die Strafbarkeit begründen könnten (Beispiel bei Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 [158]). 70 S. Hoffmann, NStZ 2019, 16 (17). 71 S. auch El-Ghazi, ZIS 2017, 157 (164); Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (158). 72 Vgl. Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, § 15 Rdnr. 13. 68

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zu sein.73 Vergleichbares gilt für ein Einverständnis, das unter Nötigungsdruck erteilt (und nicht von einem schlüssigen „Nein“ begleitet) wird: Es ist zwar im Sinne des Absatzes 1 wirksam, der spezifische Willensmangel ist aber über Absatz 2 einzufangen. Wenn die spezifische Art sexueller Handlungen erkennbar in der Weise vorbestimmt worden ist, dass hiermit zugleich abweichende Handlungen mit einem „Nein“ ausgegrenzt werden, vermag es nicht zu überzeugen, in einzelnen Fällen zur Vermeidung der Strafbarkeit doch wieder „ein normatives Korrektiv heranzuziehen“.74 So mag man zwar in den genannten Beispielsfällen die Vorzeichen umdrehen können, kaum wird es aber generalisierend gelingen, einen bestimmten Rahmen positiv und dessen Kehrseite als negativ zu konnotieren. Beim Vaginalverkehr wird etwa die Verwendung eines Kondoms durchaus ambivalent beurteilt werden können: Zum hinsichtlich übertragbarer Krankheiten „guten Klang“ gesellt sich vielleicht der Misston für einen Menschen, der aus religiösen Gründen jede verhütende Maßnahme zutiefst ablehnt. So mag es sich durchaus auch einmal als Ausfluss der sexuellen Selbstbestimmung einer Frau zeigen, nur und ausschließlich Vaginalverkehr ohne Kondom zuzulassen, weil gerade er der Empfängnis dienen75 oder hierdurch pathologische Zustände (allergische Reaktionen etc.) vermieden werden sollen; wird diese Absprache, welche sich nicht im Motivischen verliert (wie dies – an das Beispiel angelehnt – beim schlichten Vorspiegeln der Zeugungsfähigkeit gegenüber einer nach Empfängnis Trachtenden der Fall sein wird), sondern rein äußerlich die eigentliche sexuelle Handlung betrifft, durch Verwendung eines Kondoms nicht eingehalten, ist das „Nein“ eindeutig, eine Korrektur scheint mithin weder angezeigt noch geboten. Jedenfalls wird man nicht behaupten dürfen, es liege „auf der Hand“, dass „eine Strafbarkeit kaum am Platze wäre“.76 Strukturell anders gelagert sind demgegenüber jene Fallgestaltungen, in denen der Täter der anderen in das Geschehen einbezogenen Person schon den (objektiv 73 S. den Vorschlag von Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (161), de lege ferenda (konsequenterweise in Absatz 2 des § 177 StGB) eine Vorschrift vorzusehen, welche die Täuschung über den sexuellen Charakter der Handlung und das Vorspiegeln einer bestimmten Identität erfasst. 74 Hoffmann, NStZ 2019, 16 (17). 75 In den praktisch keineswegs seltenen Fällen einer heterologen Insemination auf „natürlichem Wege“ wird diese Methode von der Frau typischerweise einzig und allein deswegen gewählt, weil sie deutlich wahrscheinlicher zu einer Befruchtung der Eizelle führt als eine „Heiminsemination“ ohne Penetration; somit liegt es auf der Hand, dass bei Bewirken eines von der das gesamte Geschehen tragenden Abrede abweichenden Umstands (hier: geschützter Verkehr) ein „Nein“ offensichtlich entgegensteht. Etwas anderes gilt in diesen Fällen aber dann, wenn etwa der auserkorene „Spender“ lediglich bewusst abredewidrig eine Ejakulation in die Vagina unterlässt, da dann das äußere Sexualgeschehen (ungeschützter Vaginalverkehr) vereinbarungsgemäß vorgenommen und hier nur eine darüber hinaus gehende Erwartung enttäuscht wird. 76 So aber Hoffmann, NStZ 2019, 16 (17), obwohl er ausdrücklich „identische Parameter“ sieht.

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gegebenen) sexuellen Charakter seiner Handlung verschleiert.77 Massiert etwa der Notarzt, der zu einer anaphylaktische Reaktionen zeigenden Patientin gerufen wird, beim Abtasten des Oberkörpers nach Insektenstichen deren Brüste gegen die Regeln der Standeskunst mehrere Sekunden lang, so steht dem solange kein „Nein“ entgegen, wie die untersuchte Person einen entgegenstehenden Willen nicht zumindest schlüssig zeigt. Fußt dies während der gesamten Untersuchung auf ihrer irrigen Annahme, das Verhalten sei medizinisch indiziert, und sind nicht ausnahmsweise die Voraussetzungen der Nummer 2 des Absatzes 2 erfüllt, kommt eine Strafbarkeit hier nicht nach § 177, sondern allein nach § 174c Abs. 1 StGB in Betracht.78 Wird der Patientin indes noch während der vermeintlich medizinisch veranlassten Berührungen gewahr, dass die Handlung tatsächlich eine sexuelle ist, und kann sie nur das „Nein“ nicht mehr schnell genug äußern, ist wiederum an § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB zu denken.

VI. Der „erkennbare Wille“ im Lichte der Tatmodalitäten Der Tatbestand des § 177 Abs. 1 StGB unterscheidet verschiedene Modalitäten, die sich strukturell in zwei Gruppen einordnen lassen: Auf der einen Seite beschreibt er sexuelle Handlungen, die vom Täter oder einer dritten Person an der Person vorgenommen werden, welche zuvor den entgegenstehenden Willen erkennbar gemacht hat (Duldungsmodalität); auf der anderen Seite sind sexuelle Handlungen erfasst, die von letzterer Person selbst am Täter, an einer dritten Person oder an bzw. mit sich selbst vorgenommen werden (Vornahmemodalität). Wenn die genannte zweite Verwirklichungsform voraussetzt, dass die (sexuelle) „Handlung“ vom Opfer selbst in die Welt gesetzt wird, drängt sich im Lichte des Absatzes 1 geradezu die Frage auf, ob es sich überhaupt vertragen kann, dass auf der einen Seite sein Wille entgegensteht, es aber auf der anderen Seite (dennoch) handelt.79 Wenn hier auch die Vornahme einer menschlichen „Handlung“ im Raum steht und damit ihre schillernde strafrechtliche Deutung berührt ist, wird es auf den „fruchtlosen Streit“80 um die Handlungslehren nicht ankommen: Hier sind nämlich Nuancen einer „natürlichen“, „finalen“ oder „sozialen“ Betrachtung ohne Bedeutung, vielmehr ist auf den alle Ansätze tragenden Grundgedanken eines „vom Willen getragenen menschlichen Verhaltens“81 abzustellen. Dass bei der spezifischen sexuellen Handlung der Wille des Opfers und nicht derjenige des Täters maßgeblich ist, ändert an der Bewertung nichts, wie sich etwa in der Beschreibung des Opferverhaltens bei der im Sinne des § 240 StGB abgenötigten „Handlung“ zeigt, bei 77

S. dazu auch Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (157 ff.). Dazu Hoven/Weigend, KriPoZ 2018, 156 (158 f.). 79 S. dazu auch Hoven, Irrungen und Wirrungen des neuen Sexualstrafrechts, in: Frankfurter Allgemeine, Einspruch Magazin vom 13. Februar 2019. 80 Tonio Walter, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2007), Vor § 13 Rdnr. 29. 81 Zusammenfassend Tonio Walter, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2007), Vor § 13 Rdnr. 29. 78

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dem stets auf ein willentliches Verhalten abgestellt wird.82 Die hierdurch erzielte erste Erkenntnis mag der Intuition widersprechen, ist aber eindeutig: Wer eine sexuelle Handlung am Täter, an einem Dritten oder an bzw. mit sich83 vornimmt, entscheidet sich positiv zu diesem aktiven Tun, handelt mithin – wie schon im Ausgang verdeutlicht – willentlich. Wenn nun aber jedes menschliche Verhalten notwendig vom „Willen“ getragen sein muss, um überhaupt den Begriff der „Handlung“ auszufüllen, versteht es sich wiederum, dass selbst die Äußerung, die Handlung („an sich“) nicht vornehmen zu wollen, ohne Bedeutung bleiben muss: Ist nämlich vorausgesetzt, dass jede Handlung des Menschen auf einem „Wollen“ fußt, macht er eben dies durch die Vornahme auch äußerlich erkennbar; ein Berufen auf einen dennoch („eigentlich“) entgegenstehenden Willen, mag er auch zuvor sogar expressis verbis erklärt worden sein, wäre widersprüchlich und ist daher rechtlich unbeachtlich („venire contra factum proprium“). Noch einfacher ausgedrückt: Wer etwas innerlich nicht will, hat es äußerlich zu unterlassen. Dass das Opfer in der Tatsituation bestens beraten sein mag, eine entsprechende Handlung in diesem rechtlich allein relevanten Sinne zu „wollen“, ist ein hiervon scharf zu trennender Aspekt, der nicht den Willen, sondern nur die Freiheit seines Ursprungs berührt: In jener Sache geht es um nichts anderes als um die Frage, warum sich das Opfer in der Schlüsselposition sich ihm bietender zweier Verhaltensmöglichkeiten, namentlich der (willensgetragenen) Vornahme der angesonnenen Handlung und ihres (willensgetragenen) Unterlassens, um eines höheren Ziels wegen für das aktive Tun entscheidet, eben dies also will. Wenn dieser rationalen Entscheidung84 zu einem Handeln das Etikett des „Selbstbestimmten“ angehängt wird, findet sich eine unsachgemäße Vermengung des menschlichen Willens mit seinen Eigenschaften:85 Ob ein Mensch im oben gezeigten Sinne will oder ob er dies selbstbestimmt will, sind zwei völlig unterschiedliche Fragen. In dieser Hinsicht sollte zudem nicht übersehen werden, dass die „sexuelle Selbstbestimmung“ kein gesetzliches Merkmal,86 sondern ihr Schutz allenfalls der Telos der Norm ist; ob sie verletzt ist, stellt also das Ergebnis, nicht den Ausgangspunkt der Auslegung dar.87 Im Übrigen erscheint die Kategorie des „selbstbestimmten“ Willens, eingeschoben zwischen dem (völlig freien) Willen und dem abgenötigten Willen, nicht hinreichend scharf abgrenzbar: So würde es der Judikative überantwortet, ein Geschehen als eben 82

S. etwa Sinn, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2017), § 240 Rdnr. 98. Zu den verschiedenen Modalitäten Wolters, in: S/S/W-StGB, 4. Aufl. (2019), § 177 Rdnr. 8 ff. 84 Die gegen die (insbesondere auf Adam Smith zurückgehende) „Theorie der rationalen Entscheidung“ vorgebrachten Bedenken, seien sie ökonomischer, soziologischer, psychologischer oder politologischer Provenienz, dürften den hier zu behandelnden Gegenstand nicht treffen. 85 Hörnle, NStZ 2019, 439 (440). Vorgenannter Beitrag und die Erwiderung Fischers (NStZ 2019, 580) sind erst nach Abgabe des Typoskriptes erschienen, so dass auf sie nur am Rande eingegangen werden kann. 86 Zutreffend auch Fischer, NStZ 2019, 580 (581). 87 Zur Kritik der teleologischen Auslegung im Allgemeinen s. eingehend Herzberg, JuS 2005, 1 (6 ff.). 83

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noch selbstbestimmt oder gerade schon fremdbestimmt zu deuten, ein Einfallstor für persönliche Wertungen und moralische Anschauungen wäre weit aufgestoßen, von Normklarheit mithin keine Spur.88 Dass „in den Gesetzesmaterialien sich keinerlei Anzeichen für diese Interpretation finden“,89 mag zutreffen, fördert aber mitnichten die (historische) Auslegung,90 sondern zeigt zunächst nur ein weiteres Beispiel dafür, dass die Strafrechtsdogmatik bei der Tatbestandsgenese keine allzu große Rolle gespielt haben dürfte.91 Dass diese Deutung „nicht zum Gesetzestext passt“,92 ist vielleicht missliebig, aber eben gerade das Ergebnis der Auslegung; jedenfalls kann von einem Normverständnis praeter legem nicht die Rede sein.93 Hiernach kann hinsichtlich dieser Modalitäten zusammengefasst werden, dass sämtliche allein vom Opfer vorgenommenen sexuellen Handlungen den Grundtatbestand des sexuellen Übergriffs nach § 177 Abs. 1 StGB nicht zu erfüllen vermögen. Mag im Gesetzgebungsverfahren auch – indes ohne jede Begründung – von anderem ausgegangen worden sein,94 zeigt sich immerhin das insoweit „richtige“ Gespür darin, dass mit § 177 Abs. 2 Nr. 5 StGB eine Vorschrift geschaffen worden ist, die gerade diese Konstellationen auffängt. In ihrem Anwendungsbereich geht es nämlich – nach Dargelegtem – nicht (allein) um Fälle, in welchen der „entgegenstehende Wille nicht erkennbar ist“95, sondern insbesondere und praktisch häufig um solche, in denen durch die Vornahme der sexuellen Handlung durch das Opfer zwar in der konkreten Tatsituation der faktische Wille ausgedrückt wird, dieser aktuelle Wille aber gerade die Folge eines zuvor durch Zwang beseitigten, in seinem Ursprung entgegenstehenden Willens ist. Insoweit zutreffend ist die im Gesetzgebungsverfahren gewählte Formulierung, der Täter müsse „einen entgegenstehenden Willen des Opfers durch Zwang brechen“;96 gemeint ist hiermit, dass durch den nötigenden Einfluss aus dem ursprünglich entgegenstehenden ein faktisch zustimmender Wille wird, das Opfer also seinen Willen dem Täter unterordnet.97 Nach diesen Erkenntnissen erscheint es nun nicht einmal von vornherein als ausgemacht, dass sexuelle Handlungen, die vom Täter oder einer dritten Person an einer Person vorgenommen werden, die zuvor den entgegenstehenden Willen erkennbar gemacht hat, stets den Tatbestand des Absatzes 1 begründen. Auch wenn sich in sei88

Vgl. Fischer, NStZ 2019, 580 (583). Hörnle, NStZ 2019, 439 (440). 90 Zu ihren generellen Schwächen s. eindrücklich Herzberg, JuS 2005, 1 (4 ff.). 91 Besonders pointiert Fischer, NStZ 2019, 580 (584): „Auch der (historische) Gesetzgeber macht gelegentlich schlichten Unsinn“. 92 Hörnle, NStZ 2019, 439 (440). 93 So aber Hörnle, NStZ 2019, 439 (440). 94 BT-Drucks. 18/9097 S. 23. 95 BT-Drucks. 18/9097 S. 23. 96 BT-Drucks. 18/9097 S. 26. 97 Vgl. Altvater, in: LK-StGB, 12. Aufl. (2015), § 240 Rdnr. 1. 89

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nen Buchstaben der Begriff lediglich in der Modalität der von einem Dritten am Opfer vorgenommenen sexuellen Handlung findet, mag man nämlich durchaus in den ganzen Absatz 1 hineinlesen, dass sich diese Fallgestaltungen durch eine opferseitige „Duldung“ kennzeichnen. Legte man insoweit die aus dem Nötigungstatbestand vertraute Unterscheidung zwischen der „Unterlassung“ als einem willensgetragenen und der „Duldung“ als einem nicht willensgetragenen Untätigbleiben98 zugrunde und beschränkte den Tatbestand ganz technisch auf letzteres, wären einzig solche Fälle erfasst, in welchen das Opfer sich der sexuellen Handlung des Täters oder des Dritten fügen muss, da ihm kein gegenläufiges alternatives Verhalten in Gestalt einer Verhinderungshandlung möglich ist. Dieser Ansatz, der allein unwiderstehlichen Zwang erfasst sähe, findet vordergründig eine Stütze in § 177 Abs. 2 Nr. 4 StGB, der voraussetzt, dass das Opfer der sexuellen Handlung zwar Widerstand entgegensetzen könnte, diesen aber wegen der spezifischen Zwangslage nicht setzt, es mit anderen Worten eine mögliche alternative Handlung willentlich unterlässt. Auch diese Tatsituation zeichnet sich mithin dadurch aus, dass das Opfer die sexuelle Handlung („eigentlich“) nicht möchte, sie aber nicht nur erdulden muss, sondern bewusst zulässt, weil es bei alternativem Verhalten (sprich: Widerstand) gewichtigere Nachteile subjektiv fürchtet bzw. objektiv fürchten muss.99 Auch hier zeigt sich mithin ein Prozess des abwägenden Entscheidens: Unabhängig davon, ob das Opfer das Übel als sicher voraussieht oder nur eine (gewisse oder ungewisse) Wahrscheinlichkeit dafür sieht, seine Abwägung also deterministisch oder stochastisch geprägt ist, kommt es nach einer Analyse von Chancen und Risiken zu der (subjektiv) rationalen Erkenntnis, dem Ansinnen der anderen Person keinen Widerstand entgegen zu setzen. Da letzterer aber möglich ist, handelt es sich nicht nur um eine bewusste Wahl einer der sich bietenden Verhaltensweisen, sondern eben auch um den Ausdruck des „Willens“ des Opfers. Dass dieser unfrei ist, vermag an dieser Charakterisierung nichts zu ändern, da es nicht darum geht, ob der Wille ein „freier“ ist, sondern allein um die Entscheidung, die Alternative (Widerstand) zu unterlassen. Schon eine weitere systematische Betrachtung zeigt, dass sich diese Deutung nicht stimmig in die neue Gesamtvorschrift einfügen lässt: So setzt Absatz 2 Nr. 5 voraus, dass das Opfer „durch Drohung“, also gerade nicht durch unwiderstehlichen Zwang zu der „Duldung“ der sexuellen Handlung genötigt wird, was erkennbar macht, dass der Ausdruck nicht auch, sondern gerade das willensgetragene „Unterlassen“ umfasst, was im Übrigen auch der historischen Fassung des § 177 Abs. 1 StGB („nötigt, sexuelle Handlungen … an sich zu dulden“) folgt. Weit schwerer wiegt, dass das Hineinlesen des Erfordernisses einer fehlenden Handlungsalternative in Absatz 1 auch in jener Konstellation die Struktur der neuen Fassung verkennen würde. Sie orientiert sich nämlich gerade nicht mehr am Überwinden des (möglichen) Widerstands, sondern schlicht am Hinwegsetzen 98

Nachweise bei Sinn, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2017), § 240 Rdnr. 97. Zur Frage des nur vorgestellten empfindlichen Übels s. Wolters, in: S/S/W-StGB, 4. Aufl. (2019), § 177 Rdnr. 50. 99

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über den erkennbaren Willen.100 Hat das nicht handelnde, sondern untätige Opfer seine Ablehnung ausdrücklich oder schlüssig erklärt, hat es seine einzige Obliegenheit erfüllt. Über dies hinaus spielt es keine Rolle, dass es sich im eingangs ausgeführten Sinne zugleich oder hernach bewusst dazu entschieden hat, auf Widerstand zu verzichten. Hier begründet nämlich bereits das „Nein“ zur sexuellen Handlung die Strafe, auf den Willen, ein weiteres mögliches Verhalten zum Schutz des eigenen Interesses zu unterlassen, kommt es nach der Neufassung nicht mehr an. Absatz 1 und Absatz 2 Nr. 4 unterscheiden sich mithin dadurch, dass das Opfer bei ersterem nach dem „Nein“ nichts Weiteres zur Bewahrung seines Rechtsguts unternimmt, während es bei zweiterem nicht nur auf den nachfolgenden Widerstand, sondern zudem bereits auf eine vorausgehende Willensbekundung verzichtet, weil es ihm – etwa wegen des häufig zitierten „Klimas der Gewalt“ – schon nicht zumutbar ist, seinen (eigentlichen) Willen auch nur kundzutun,101 da nicht erst der Widerstand, sondern schon das Äußern eines Widerwillens Nachteile nach sich führen mag.102 Strukturell unterscheiden sich die beschriebenen Phänomene demnach dadurch, dass in Absatz 1 das Unterlassen eines weiteren Widerstands nach einem ersten „Widerstand“ in Gestalt eines „Nein“,103 in Absatz 2 Nr. 4 schon das Unterlassen eines Neinsagens abgenötigt wird.104 In dieses Bild fügt sich auch § 177 Abs. 2 Nr. 5 StGB: Er ist bei Duldung der sexuellen Handlung (nur) anzuwenden, wenn das Opfer angesichts der Zwangslage schon von einem „Nein“ absieht; macht es ein solches erkennbar, ist Absatz 1 gegeben. Nimmt das Opfer demgegenüber aber die Handlung selbst vor, verhält es sich stets im Sinne des Absatzes 1 willentlich. Vor einer Strafbarkeit steht danach die Feststellung der Drohung mit einem empfindlichen Übel nach Absatz 2 Nr. 5; ob dies eine „Lücke“ darstellt, sie gesetzgeberisch gewollt oder von der Interpretation hinzunehmen ist, bleibt ohne Belang. Ein vergleichbares Grundmuster zeigt im Übrigen das Zusammenspiel des Absatzes 1 mit Absatz 2 Nr. 1: Letzterer Vorschrift ist zu subsumieren, wenn entweder die Bildung eines Willens (im Schlaf, im Zustand der Bewusstlosigkeit etc.) nicht möglich ist, es mithin an der Grundvoraussetzung für ein „Nein“ fehlt, oder wenn ein solches „Nein“ zwar innerlich gebildet, aber (etwa wegen einer Behinderung) nicht in die Außenwelt getragen werden kann.105 Der Anwendungsbereich des Absatzes 1 ist in diesem Umfeld mithin gerade dann und eindeutig eröffnet, wenn das Opfer ein „Nein“ bilden und äußern kann und dies auch ausdrücklich oder schlüssig in die Welt gesetzt hat. Hier geht es mithin nicht um eine abgenötigte Zustimmung, sondern zuvörderst um Fälle, in welchen das Opfer (etwa infolge einer Ganzkörperlähmung) nicht in der Lage ist, seinen Widerwillen zusätzlich auch (durch Widerstand) auszudrücken. Hier wäre 100

BT-Drucks. 18/9097 S. 21. S. BT-Drucks. 18/9097 S. 23. 102 Vgl. BT-Drucks. 18/9097 S. 26. 103 Vgl. Hörnle, NStZ 2019, 439 (441), die das „Nein“ zutreffend als „Barriere“ bezeichnet. 104 S. dazu auch Hörnle, NStZ 2019, 439 (440). 105 Näher Wolters, in: S/S/W-StGB, 4. Aufl. (2019), § 177 Rdnr. 32. 101

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die Verwendung des Begriffs der „Duldung“ im Gesetz etwaig missverständlich, da er herkömmlich einen Nötigungserfolg beschreibt, hier aber gerade kein Verhalten erzwungen wird, sondern ein „Erleiden“ sprachlich und inhaltlich treffender sein dürfte.106 Nur am Rande sei notiert, dass der beschriebene Fall dem Absatz 4 auch bei behinderten etc. Tatopfern nicht unterfällt, da dieser sich „ausschließlich“ auf Absatz 2 Nr. 1 bezieht,107 das Übergehen einer geäußerten Ablehnung also milder bestraft wird als das Handeln ohne den bzw. ohne geäußerten Willen.108 Da sich nach alledem zeigt, dass das dogmatisch scharfe Instrument zwar vom Opfer selbst vorgenommene Handlungen aus dem Anwendungsbereich des Absatzes 1 schneidet, dieser aber bei lediglich „willentlichem“ Unterlassen von Widerstand (über das „Nein“ hinaus) nicht versperrt ist, erscheint die praktische Bedeutung als eine schmale, da Fälle reiner Passivität seitens des Täters eine sehr seltene Ausnahmen bilden werden.109 Nur in letzteren bedarf es der tatgerichtlichen Feststellung einer Drohung durch den Täter.

VII. Das Wichtigste Die vorstehenden Zeilen verstehen sich natürlich nicht einmal als zaghafter Versuch, auch nur ein wenig Licht in das Dunkel der großen Fragen zum menschlichen Willen und seiner Freiheit zu bringen.110 Vielmehr möchten sie nur einen forensisch greifbaren Beitrag zur rechten Auslegung eines Tatbestandsmerkmals leisten, das nicht zuletzt die Strafrechtspraxis vor neue Herausforderungen stellen dürfte. Geschlossen werden darf mit zwei hierzu passenden Gedanken Reinhard Merkels: Die Wissenschaft des Strafrechts sollte sich nicht nur der „Mahnung zur Bescheidenheit“ verpflichtet fühlen, sondern sich – ganz im Geiste Gustav Radbruchs – bewusst halten, dass die gute Strafjuristin und der gute Strafjurist stets „mit einem schlechten Gewissen ist“.111 Der so verstandenen Strafrechtswissenschaft ist sehr zu wünschen, dass Reinhard Merkel sie noch sehr lange gewohnt feinsinnig, gehaltreich und stets befruchtend begleitet. Weit darüber hinaus mögen dem so sympathischen Jubilar noch viele Olympiaden beste Gesundheit und viel Lebensglück beschieden sein! 106

Vgl. Sinn, in: MüKo-StGB, 3. Aufl. (2017), § 240 Rdnr. 100. BT-Drucks. 18/9097 S. 27. 108 Der Gedanke, das behinderte etc. Opfer unterfiele im Beispielsfall Absatz 5 Nr. 3 verfängt nicht, da „schutzlos ausgeliefert“ nicht schon diejenige Person ist, die sich angesichts äußerer Umstände nicht wehren kann, sondern verlangt ist, dass sie bei einem gedachten (möglichen) Widerstand Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt ist (ausdrücklich BT-Drucks. 18/9097 S. 27; näher Wolters, in: S/S/W-StGB, 4. Aufl. [2019], § 177 Rdnr. 74 ff.). 109 So zeigte sich wohl das Gesamtgeschehen in dem vom Landgericht Bamberg zu würdigenden Fall (BGH NStZ 2019, 717 mit Besprechung Ziegler); vgl. Fischer, NStZ 2019, 580. 110 S. dazu Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), S. 133 (Anmerkung 211). 111 Reinhard Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld (2008), S. 136 (mit Anmerkung 214). 107

§ 184 j StGB im Streit der Meinungen Von Claus Roxin

I. Die widerstreitenden Positionen § 184 j StGB ist durch das 50. Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. 11. 2016 eingeführt worden.1 Er lautet: „Wer eine Straftat dadurch fördert, dass er sich an einer Personengruppe beteiligt, die eine andere Person zur Begehung einer Straftat an ihr bedrängt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft, wenn von einem Beteiligten der Gruppe eine Straftat nach den §§ 177 oder 184 i begangen wird und die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist.“ § 177 bedroht in neun langen Absätzen den sexuellen Übergriff, sexuelle Nötigung und Vergewaltigung – so die Überschrift des Gesetzes – und § 184 i die sexuelle Belästigung mit Strafe. Selten hat eine neue Strafvorschrift so gegensätzliche Reaktionen hervorgerufen. Von vielen Autoren wird sie als völlig verfehlt und verfassungswidrig beurteilt. So sagt Renzikowski:2 „Der neue Straftatbestand ist eine der schlimmsten Verirrungen des Gesetzgebers und hat mit einem rechtsstaatlichen Strafrecht nichts zu tun.“ Seine Erläuterung fordere „eigentlich keine Kommentierung, sondern eine Parodie“3. Noltenius meint:4 „Eine sinnvolle Kommentierung erscheint … unmöglich, es kann daher nur der Versuch einer Kommentierung unternommen werden.“ Frommel5 resümiert: „Eine verfassungskonforme Auslegung erscheint schwer vorstellbar.“ Thomas Fischer6 bezeichnet „die Strafbarkeitskonstruktion“ als „eine schlichte Umgehung der Regeln der Zurechnung (und des Zweifelssatzes)“. Auch Hoven/Weigend7 erklären den Tatbestand für „verfassungsrechtlich hoch problematisch“.

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BGBl. 2016 I, 2460. Renzikowski, Nein! Das neue Sexualstrafrecht, NJW 2016, 3553 – 3558 (3557); wörtlich gleichlautend ders., MüKo, 3. Aufl. 2017, § 184 j, Rn. 2. 3 Renzikowski (Fn. 2), MüKo, Rn. 1. 4 Noltenius, SK, 9. Aufl. 2017, § 184 j, Rn. 4. 5 Frommel, NK, 5. Aufl. 2017, § 184 j, Rn. 8. 6 Thomas Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 184 j, Rn. 20. 7 Hoven/Weigend, „Nein heißt Nein“ – und viele Fragen offen, JZ 2017, 182 – 191 (191). 2

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Gerügt werden vor allem – was hier vorab nur aufgezählt sei – Verstöße gegen das Schuldprinzip, aber auch gegen den Bestimmtheitsgrundsatz, das Rechtsgutserfordernis, die Unschuldsvermutung und den Zweifelsgrundsatz.8 Andererseits halten aber namhafte Autoren die neue Strafvorschrift – unbeschadet einiger Detailbeanstandungen – für tendenziell berechtigt. Hörnle9 kommt bei einer verfassungsrechtlichen Untersuchung zu dem Ergebnis: „Es ist angemessen, denjenigen zu bestrafen, der durch seine Beteiligung an der bedrängenden Gruppe vorsätzlich die Begehung eines Delikts gegen die Person fördert, und zwar auch dann, wenn ihm die genaue Natur dieses Delikts nicht ersichtlich ist oder wenn sich andere Gruppenmitglieder spontan entschließen, die gemeinsam geschaffene Übermacht über das Opfer für ein Sexualdelikt auszunutzen.“ Die Regeln für Gehilfen und Mittäter seien „nicht durch den Schuldgrundsatz zwingend vorgegeben“. Stuckenberg10 meint ebenfalls: „Der Gesetzgeber durfte von der plausiblen Annahme ausgehen, dass die Verstärkung einer in erkennbar strafbarer Absicht handelnden Gruppe die abstrakte Gefahr der Realisierung von Straftaten vergrößert, worin eigenes strafbares Unrecht liegt. Der Schuldgrundsatz ist gewahrt.“ Eisele11 fordert vom Täter des § 184 j eine aktive „Mitwirkung am Bedrängen … Damit ergibt sich aber in objektiver Hinsicht gegenüber einer Beihilfe … kaum noch ein eigenständiger Anwendungsbereich … Da weitgehend Deckungsgleichheit mit der Beihilfe besteht, ist freilich bei einer solch restriktiven Auslegung nicht von einer Verfassungswidrigkeit auszugehen.“

II. Möglichkeiten einschränkender Auslegung Natürlich muss man, bevor man dem Problem einer etwaigen Verfassungswidrigkeit nähertritt, wie auch Eisele vorschlägt, zunächst eine restriktive Auslegung vornehmen und versuchen, dadurch eine Verfassungskonformität zu erreichen. Was die Beteiligung an einer Personengruppe und damit die erste Strafbarkeitsvoraussetzung betrifft, so bedarf der Begriff der Gruppe ebenso wie derjenige der Beteiligung einer klaren und sachgerecht einschränkenden Konturierung. Beide Begriffe sind nicht unumstritten. Hoven/Weigend12 rügen die „Unbestimmtheit des Gruppenbegriffs“. „Bloße Ansammlungen von Menschen (wie etwa in einer überfüllten U-Bahn) sollen nach der 8

Näheres dazu unter III. Hörnle, § 184 j (Straftaten aus Gruppen) – ein verfassungswidriger Straftatbestand?, Bonner Rechtsjournal 2017, 57 – 62 (60). 10 Stuckenberg, Straftaten aus Gruppen (§ 184 StGB) – die unbemerkte Wiederkehr des Landfriedensbruchs alter Art, FS Rengier, 2018, 353 – 362 (361). 11 Schönke/Schröder/Eisele, 30. Aufl. 2019, § 184 j, Rn. 8. 12 Hoven/Weigend (Fn. 7), 190. 9

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Vorstellung des Gesetzgebers von dem Tatbestand nicht erfasst sein. Andererseits verlangt das Bestehen einer Gruppe weder einen mittäterschaftlichen gemeinsamen Tatplan ihrer Mitglieder noch eine irgendwie geartete Organisation wie bei einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB). Dann fragt man sich jedoch, wie eine bloße ,Personengruppe‘ den gemeinsamen Willen bilden soll, jemanden zu bedrängen, um eine Straftat zu begehen … Wie soll man sich an einem solchen amorphen Gebilde beteiligen?“ Hinsichtlich der Beteiligung an der „Gruppe“ meint Renzikowski,13 es genüge „die zufällige Anwesenheit in einer Menschenmenge mit zugestandermaßen unlauteren Absichten, um jemanden für ein Sexualdelikt verantwortlich zu machen“. Beide Begriffe sind jedoch einer konkretisierenden Auslegung zugänglich. Unter einer „Personengruppe“ im Sinne des § 184 j wird man nur eine Mehrzahl von Menschen verstehen können, die andere „bedrängt“. Das ergibt sich aus dem Relativsatz, wonach nur bedrängende Gruppen erfasst werden. Was eine nicht bedrängende Gruppe ausmacht, kann also offenbleiben, da nach dem Gesetzestext die „Bedrängung“ für die nötige Konkretisierung sorgt. Es muss sich um eine Personenmehrheit handeln, die einen anderen „mit Nachdruck an der Ausübung seiner Bewegungsfreiheit oder seiner sonstigen freien Willensbetätigung“ hindert.14 Damit ist der vom Gesetzgeber gewählte spezielle Begriff der bedrängenden Gruppe hinreichend deutlich bezeichnet. Zwar verlangt das Gesetz nur, dass „eine andere Person“ bedrängt wird. Aber es ist klar, dass die Bedrängung mehrerer oder gar zahlreicher Personen – wie in der Kölner Silvesternacht, die den Anlass zur Schaffung der Strafvorschrift gab – erst recht der Strafvorschrift unterliegt. Das gruppenkonstituierende Merkmal ist nach § 184 j also das gemeinsame Bedrängen. Das ist mehr als eine Menschenansammlung, verlangt aber weniger als eine Mittäterschaft. Denn es ist weder ein gemeinsamer Tatplan noch eine Verabredung nötig. Es genügt, dass jemand sich dem bedrängenden Verhalten anderer anschließt, ohne dass die einzelnen „Bedränger“ sich abgesprochen haben müssen. Damit ist auch das Problem der Beteiligung an der Gruppe gelöst. Es genügt nicht, wie Renzikowski meint, die zufällige Anwesenheit in einer Menschenmenge. Vielmehr beteiligt man sich an einer Gruppe nur dann, wenn man an der von ihr ausgehenden Bedrängung mitwirkt.

III. Der Straftatbezug der bedrängenden Gruppe Das eigentliche Problem der Vorschrift liegt aber im Straftatbezug des Bedrängens. Dieser ist so locker, dass die Strafwürdigkeit des nach Meinung des Gesetzgebers deliktsfördernden Bedrängers zweifelhaft ist. 13 14

Renzikowski (Fn. 2), NJW 2016, 3557. BT-Dr. 18/9097, 31.

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Nach dem Wortlaut der Vorschrift muss die Personengruppe, an der sich der Täter beteiligt, „eine andere Person zur Begehung einer Straftat an ihr“ bedrängen und dadurch eine Straftat fördern. Aus dem Wort „dadurch“ lässt sich entnehmen, dass die Beteiligung an der bedrängenden Gruppe für eine Straftatförderung ausreichen soll, ein zusätzlicher Tatbeitrag also nicht erforderlich ist. Nötig ist aber, dass ein Beteiligter aus der Gruppe eine Straftat nach § 177 oder § 184 i begeht. Diese Straftat ist als objektive Bedingung der Strafbarkeit ausgestaltet, braucht also vom Vorsatz des Täters nicht umfasst zu werden. Der Zweck dieser komplizierten Konstruktion liegt in der Überwindung der Beweisschwierigkeiten, die sich bei den strafbaren Vorgängen auf dem Kölner Domplatz zu Silvester 2015 ergeben haben und denen der Gesetzgeber für die Zukunft vorbeugen will. Da die Täter der sexuellen Übergriffe nachträglich nicht mehr erkannt und festgestellt werden konnten, sollte schon die Beteiligung an einer bedrängenden Gruppe bestraft werden können. Da ein beliebiges oder gar freundschaftliches Bedrängen durch eine Gruppe keinen hinreichenden Strafwürdigkeitsgehalt erkennen lässt, verlangt der Gesetzgeber, dass es „zur Begehung einer Straftat“ erfolgt. Diese kann beliebiger Art sein und umfasst auch etwa Körperverletzungen, Beleidigungen, Diebstähle, Raub- und Erpressungstaten. Die Formulierung des Gesetzes, wonach die Gruppe „zur Begehung einer Straftat“ handeln muss, wird man so verstehen müssen, dass schon die Deliktsabsicht eines Gruppenmitglieds oder mehrerer Mitglieder zur Tatbegehung ausreicht. Denn die Gruppe als solche hat keinen gemeinsamen Tatbegehungswillen, sonst läge eine Mittäterschaft vor. Auch lässt der Gesetzgeber es bei der objektiven Bedingung der Strafbarkeit (der vorausgesetzten Sexualstraftat) genügen, dass sie „von einem Beteiligten der Gruppe“ begangen wird. Dass der Täter selbst trotz Beteiligung an der Gruppe keine eigene strafbare Handlung im Sinn haben muss, lässt sich auch daraus entnehmen, dass der Gesetzgeber sich zur Strafbegründung auf die Förderung hemmungsbeseitigender gruppendynamischer Prozesse beruft, ohne an die Täterschaft weitere Anforderungen zu stellen.15 Um die Legitimität einer solchermaßen begründeten Strafbarkeit zu überprüfen, will ich unter Anlehnung an den historischen Anlass der Vorschrift einen typischen Sachverhalt zur Diskussion stellen: Der A begibt sich um Mitternacht auf den Kölner Domplatz, um dort Silvester zu feiern. Er will zu diesem Zweck womöglich eine junge Frau, die unbegleitet die Jahreswende ebenfalls an diesem öffentlichen Ort begeht, als Partnerin gewinnen. Als er sieht, dass andere junge Männer sich in bedrängender Form darum bemühen, verfährt er ebenso, ohne freilich die Grenze zu einer Straftat nach §§ 177, 184 i StGB zu überschreiten. Wird er nun mit Recht, wie § 184 j StGB es vorsieht, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn ein anderer junger Mann, ohne dass der A ihn kennt oder auch nur sieht, sich zu einer sexuellen Belästigung hinrei15

BT-Dr. 18/9097, 31.

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ßen lässt? Der A hat sich keine konkreten Straftaten anderer Bedränger vorgestellt, sondern nur flüchtig daran gedacht, dass bei der tumultuarischen Bedrängung auf dem Domplatz irgendetwas Strafbares unterlaufen könnte (z. B. ein Taschendiebstahl). Das beeinflusst sein Verhalten aber nicht, weil er selbst der Ansicht ist, dass er mit einem solchen Delikt nichts zu tun hat. Ein solches Verhalten bei den Delikten „gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ einzustellen, ist sicher verfehlt.16 Denn der Täter muss kein Sexualdelikt begangen und nicht einmal an die Begehung eines solchen durch ein anderes Gruppenmitglied gedacht haben. Die Ursache dieses Missgriffs liegt darin, dass der Gesetzgeber einen sexuellen Übergriff im Interesse des Opfers bestrafen wollte, auch wenn ein konkreter Täter nicht zu ermitteln war. Man kann aber nicht eine ganz andere Strafkonstruktion als Delikt gegen die sexuelle Selbstbestimmung einstufen. Es fragt sich aber auch, ob die Strafdrohung sich auf andere Weise rechtfertigen lässt, wie dies Hörnle und Stuckenberg in ihren anfangs zitierten Stellungnahmen versuchen. Konstruktiv lässt sich § 184 j, wenn man Hörnle17 folgt, als eine Beihilfe ohne konkreten Rechtsgutsbezug deuten. Danach verwirklicht der Täter „eigenes Unrecht, indem er sich an einer Personengruppe beteiligt, die eine andere Person zur Begehung einer Straftat bedrängt. Der Sache nach wird Gehilfenstrafbarkeit in subjektiver Hinsicht erweitert. Modifiziert wird die Regel, dass Gehilfen die wesentlichen Merkmale der Haupttat gekannt haben müssen. Bei der neuen Norm genügt der Vorsatz, dass aus der Gruppe heraus irgendeine Straftat begangen wird.“ Es handelt sich aber nicht nur um die Bestrafung der Beihilfe zu einem vollendeten Delikt unbekannter Art. Auch ein tatsächlich versuchtes Delikt ist nicht vorauszusetzen. Vielmehr ist auch schon die durch die Gruppenbeteiligung geleistete Beihilfe zur Planung und Vorbereitung irgendeines Delikts strafbar. Denn auch diese erfolgt „zur Begehung einer Straftat“18. „Damit würde für § 184 j das Schaffen günstigerer Bedingungen für irgendeine Straftat genügen.“19 Dabei ist zu bedenken, dass auch die Annahme einer durch Schaffung günstigerer Bedingungen für irgendeine Deliktsbegehung geleisteten tatbestandsfernen Hilfe auf sehr unsicheren Füßen steht. Denn wenn man dem A vorwirft, hemmungsbeseitigende gruppendynamische Prozesse gefördert zu haben, ist diese Förderung jedenfalls äußerst marginaler Art. Der potenzielle Delinquent braucht ja die Existenz des A und seine Mitwirkung in der Gruppe nicht einmal gekannt zu haben. Zweifelhaft ist auch, ob die Taten auf dem Kölner Domplatz – und Entsprechendes gilt ggf. für andere Taten von Gruppenmitgliedern – überhaupt durch irgendeine Gruppendynamik ausgelöst worden sind. Es ist durchaus denkbar, dass einzelne 16 So auch Hörnle, Das Gesetz zur Verbesserung des Schutzes sexueller Selbstbestimmung, NStZ 2017, 13 – 21 (21). 17 Hörnle (Fn. 16). 18 Schönke/Schröder/Eisele (Fn. 11), Rn. 11; Hoven/Weigend (Fn. 7), 191. 19 Schönke/Schröder/Eisele (Fn. 11).

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Täter Delikte völlig unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit in der Annahme begangen haben, dass die dort versammelte Menschenmenge und das damit verbundene Gedränge z. B. Taschendiebstähle oder sexuelle Übergriffe erleichtern würden. Ein realer Strafwürdigkeitsgehalt einer ohne eigene Deliktsbegehung vollzogenen Mitwirkung an einer bedrängenden Gruppe ist also kaum aufweisbar. Das zeigen auch vergleichbare Konstellationen, bei denen eine sexuelle Beeinträchtigung fehlt, die den Gesetzgeber offenbar allein zu seiner Strafdrohung motiviert hat. So wird, wie ich aus eigener Berufserfahrung weiß, ein Professor in der Regel nach einem auswärtigen Gastvortrag von einer Gruppe anwesender Studenten bedrängt, die eine Signatur oder ein Foto haben wollen. Wer würde auf die Idee kommen, alle an dem Vorgang beteiligten Studenten zu bestrafen, wenn einer von ihnen den engen Körperkontakt benutzt, um dem Professor unbemerkt das Portemonnaie aus der Hosentasche zu ziehen und zu entwenden? Auch wenn der eine oder andere Student an eine solche Möglichkeit gedacht haben mag, kann daraus kein Bestrafungsgrund hergeleitet werden. Ein reales praktisches Beispiel bilden auch die Straftaten, die anlässlich des G20Gipfels im Juli 2017 in Hamburg von Mitgliedern einer demonstrierenden Gruppe begangen worden sind. Das Gericht wird nur solche Gruppenmitglieder bestrafen dürfen, die an einer konkreten Straftat als Täter, Anstifter oder Gehilfe mitgewirkt haben. Warum sollte es anders sein, wenn dabei auch ein Sexualdelikt vorgefallen ist? Es sprechen also gute Gründe für die These, dass § 184 j StGB gegen das Schuldprinzip verstößt. Denn das Schuldprinzip soll ein Tatbestandsstrafrecht garantieren. Das kann entweder dadurch geschehen, dass das Verhalten des Täters sich als Beihilfe einem anderen Tatbestand zuordnen lässt oder dadurch, dass es ein selbständiges Unrecht verkörpert. Die erste Möglichkeit scheitert daran, dass das Verhalten des Täters mit dem strafauslösenden Sexualdelikt nichts zu tun hat und auch nicht auf die Förderung einer bestimmten anderen Tatbestandserfüllung durch andere Gruppenmitglieder abzuzielen braucht. Die zweite Möglichkeit, derzufolge dem Täter eine Bestärkung strafbarkeitsbegünstigender gruppendynamischer Enthemmungsprozesse als selbständige Straftat zuzurechnen ist, überdehnt das Strafbarkeitsrisiko. Wenn jemand sich durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe enthemmen lässt, hat er das selbst zu verantworten, ohne sich auf den Einfluss rechtstreuer Gruppenmitglieder berufen zu können. Hörnle20 hat in einem eigenen Aufsatz versucht, die Vereinbarkeit des § 184 j mit dem Schuldprinzip zu verteidigen. Sie geht davon aus,21 dass nach dem Schuldgrundsatz „eine Person nur dann strafrechtlich verantwortlich gemacht werden darf, wenn dieser Person ein Schaden oder eine Rechtsverletzung individuell zurechenbar ist“22. 20

Hörnle (Fn. 9). Hörnle (Fn. 9), 58. 22 Hörnle unter Berufung auf BVerfGE 95, 96 (140).

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Daraus leitet sie zwei Anforderungen ab: „Erstens kann von individueller Zurechenbarkeit nur die Rede sein, wenn ein negativ bewerteter Zustand (z. B. die Verletzung oder Gefährdung einer Person) mit einer Handlung der zu bestrafenden Person in Zusammenhang gebracht werden kann … Zweitens erfordert die individuelle Zurechenbarkeit über den Konnex von Handlung und Folge hinaus, dass der beschuldigten Person der Vorwurf gemacht werden kann, entweder Vorsatz bezüglich der Folge gehabt zu haben oder (bei Fahrlässigkeitsdelikten) pflichtwidrig gehandelt zu haben.“ Hier stellt sich schon die Frage, ob die Zugehörigkeit zu einer bedrängenden Gruppe im Fall des § 184 j einen hinreichenden „Zusammenhang“ mit der Handlung der zu bestrafenden Person herstellt. Diese braucht ja nicht einmal eine Straftat begangen zu haben; auch Hörnle23 verlangt nur ein Handeln „mit dem Zweck der Begehung einer Straftat“. Der hier postulierte „Zusammenhang“ zwischen dem Verhalten des Täters nach § 184 j und der bezweckten Straftat eines anderen Gruppenmitgliedes ist weder als Kausalität noch als beweisbare psychische Beeinflussung zu fassen. Er kann daher richtigerweise nicht als Zurechnungsgrundlage dienen. Dann kann aber auch das zweite Erfordernis, der „Vorsatz bezüglich der Folge“, nicht gegeben sein. Denn dieser Vorsatz müsste, um auf die Folge gerichtet zu sein, den Zusammenhang mit ihr umfassen. Die Vorstellung, dass ein anderes Gruppenmitglied mit dem Ziel einer Straftatbegehung handelt, genügt dazu nicht. Auch die Berufung auf gesetzliche Parallelfälle, die allgemein als legitim anerkannt werden, führt nicht weiter. So sieht Hörnle24 in § 231 StGB (Beteiligung an einer Schlägerei) „das Muster“ für § 184 j. Aber hier handelt es sich, wie schon mehrfach festgestellt worden ist,25 um nicht vergleichbare Konstellationen. Denn wenn jemand – wie es der Gesetzgeber verlangt – sich „an einer Schlägerei oder einem von mehreren verübten Angriff beteiligt“ und dadurch „den Tod eines Menschen oder eine schwere Körperverletzung … verursacht worden ist“, wird zwischen Täterhandlung und zurechenbarer konkreter Folge ausdrücklich ein Kausalzusammenhang gefordert. Da es sich um eine typische Folge handelt, lässt sich die Strafdrohung rechtfertigen. Im Fall des § 184 j fehlt aber sowohl ein fassbarer Kausalzusammenhang wie eine die Strafbarkeit legitimierende konkrete Folge; eine konkrete zu begehende Straftat wird nicht genannt, und der strafbarkeitsbegründende sexuelle Übergriff steht als objektive Bedingung der Strafbarkeit außerhalb des Zurechnungszusammenhanges. Stuckenberg26 sieht in § 184 j „die unbewusste Wiederkehr des Landfriedensbruchs alter Art“. Der erste Absatz des § 125 a.F., auf den es hier ankommt, lautete: „Wenn sich eine Menschenmenge öffentlich zusammenrottet und mit vereinten Kräf23

Hörnle (Fn. 9), 60. Hörnle ((Fn. 16), 21. 25 Vgl. nur Renzikowski (Fn. 2), NJW 2016, 3557 f. 26 Stuckenberg (Fn. 10); das Zitat entstammt dem Titel des Beitrages. 24

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ten gegen Personen oder Sachen Gewalttätigkeiten begeht, so wird jeder, welcher an dieser Zusammenrottung teilnimmt, wegen Landfriedensbruches … bestraft.“ Aber die Teilnahme an strafbaren Gewalttätigkeiten wiegt weitaus schwerer als die Mitwirkung in einer bedrängenden Gruppe, durch die nicht „mit vereinten Kräften“ Straftaten begangen werden, sondern nur ein oder mehrere Teilnehmer der Gruppe „zur Begehung einer Straftat“ unbekannter Art willens sind. Die Beteiligung an Gewalttätigkeiten ist ein signifikant strafbares Unrecht, während die Beteiligung an einem Bedrängen nicht strafbar ist und die Vorstellung, dass andere Bedränger eine Straftat unbekannter Art begehen könnten, nicht als Beteiligung daran beurteilt werden kann. Es sollte auch zu denken geben, dass sogar die im Verhältnis zu § 184 j sehr viel konkretere alte Fassung des § 125 auf rechtsstaatliche Bedenken stieß, so dass die Beteiligung an einer Zusammenrottung heute durch die Formulierung ersetzt worden ist: „Wer sich an Gewalttätigkeiten … als Täter oder Teilnehmer beteiligt …“. Eisele27 meint: „In Anlehnung an § 180 (Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger) und § 233 a a.F. (Förderung des Menschenhandels) könnte das Fördern in Anlehnung an ein Vorschubleisten interpretiert werden.“Aber auch bei diesen Vorschriften werden die zu fördernden Handlungen tatbestandlich konkret umschrieben. Daran fehlt es in § 184 j. Der jeder Beweisführung entzogene Enthemmungsbeitrag trägt die Bestrafung nicht; denn er enthält weder eine Handlungsbeschreibung des Förderns (die bloße Bedrängung genügt dazu nicht) noch der geförderten Handlung. Es fehlt also ein konkreter Tatbezug. Die sonst gegen die Vorschrift erhobenen verfassungsrechtlichen Einwände lassen sich letztlich ebenfalls auf einen Verstoß gegen das Schuldprinzip zurückführen. Wenn etwa Hoven/Weigend28 die „Unbestimmtheit des Regelungskerns“ rügen, wird damit umschrieben, dass dem Täterverhalten die vom Schuldprinzip geforderte Tatbestandsbezogenheit fehlt. Entsprechendes gilt für Frommels Diktum:29 „Die neu eingefügte Strafnorm schützt kein individuelles Rechtsgut, sondern erleichtert Ermittlungen gegen Personen, die sich in einer Gruppe befunden haben, aus der heraus Sexualstraftaten begangen worden sind.“ Auch Renzikowskis These:30 „Die bloße Vermeidung von Beweisproblemen ist kein legitimer Zweck einer Strafvorschrift in einem Rechtsstaat, solange Verfassungsgrundsätze wie die aus der Menschenwürde abgeleitete Unschuldsvermutung (s. Art. 6 Abs. 2 EMRK) etwas zählen“, bezieht sich auf das Fehlen einer tatbestandsrelevanten Schuld. 27

Schönke/Schröder/Eisele (Fn. 11), Rn. 11. Hoven/Weigend (Fn. 7), 191. 29 Frommel (Fn. 5), Rn. 2. 30 Renzikowski (Fn. 2), MüKo, Rn. 3.

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Die gegenwärtige Fassung des § 184 j erreicht aber bei Geschehnissen von der Art, wie sie Anlass zur Schaffung der Vorschrift gegeben haben, nicht einmal den Zweck der Ermittlungserleichterung. Denn auf dem Kölner Domplatz hatten sich natürlich zahlreiche Menschen versammelt, die nicht zu einer bedrängenden Gruppe gehörten, sondern als Kölner Bürger den Jahreswechsel an einem herausgehobenen Ort unter fröhlichen Menschen erleben wollten. Wenn es angesichts dieser Situation nachträglich nicht einmal möglich war, die Täter sexueller Übergriffe festzustellen und dingfest zu machen, ist es noch viel weniger möglich, „Täter“ zu ermitteln, die sich mit einem straflosen Bedrängen begnügt haben. Das läuft darauf hinaus, dass junge Nordafrikaner, von denen man einige als übergriffig erkannt haben will, pauschal und auf Verdacht hin als Täter nach § 184 j beurteilt worden wären, obwohl man nicht einmal weiß, ob sich alle auch nur am Bedrängen beteiligt haben. Mit Recht hat Thomas Fischer31 festgestellt: „Insoweit schwang gerade in der Diskussion um das ,neuartige Gruppenphänomen‘ und seiner Erfassung durch § 184 j StGB ein unangenehmes Moment fremdenfeindlicher Stigmatisierung mit.“ In ähnlicher Weise meint Renzikowski,32 die Vorschrift reihe „sich zwanglos in das beliebte Flüchtlingsbashing ein, wie man es sich ganz rechtsaußen nicht schöner vorstellen könnte“. Man wird die Vorschrift also als dogmatisch und kriminalpolitisch verfehlt und wegen Verstoßes gegen das Schuldprinzip wohl sogar als verfassungswidrig ansehen müssen. Zwar nennt Hörnle33 die Berufung auf die Verfassung „eine unter deutschen Juristen verbreitete Unart“. Es werde damit „kriminalpolitisch begründeten Einwänden Drastik verliehen“. Dabei werde verkannt, „dass das Grundgesetz weite Spielräume für gesetzgeberische Entscheidungen lässt“. Dem lässt sich entgegenhalten, dass das Strafrecht den schärfsten Eingriff in die persönliche Freiheit begründet, den unsere Rechtsordnung kennt, und dass das BVerfG trotzdem – und obwohl es sonst viele gesetzliche Verfassungsverstöße beanstandet hat – eine Vorschrift des materiellen Strafrechts kaum je für verfassungswidrig erklärt hat. Es wäre gut, wenn sich der Gesetzgeber zu einer Revision der Vorschrift entschlösse. Wenn er sich dazu nicht durchringen kann, sollte das BVerfG sprechen. Ich widme diesen Beitrag meinem hochverehrten Kollegen Reinhard Merkel mit den herzlichsten Glückwünschen zum 70. Geburtstag. Mögen ihm noch viele gesunde und schaffensreiche Lebensjahre beschieden sein!

31 Thomas Fischer, Straftaten aus Gruppen (§ 184 j StGB) – Ein Lehrstück zwischen Horden, Dogmatik und der Simulation, FS Ulfrid Neumann, 2017, S. 1089 – 1104 (1103). 32 Renzikowski (Fn. 2), MüKo, Rn. 4. 33 Hörnle (Fn. 9), 60.

Politische Tötungsmotive als niedrige Beweggründe? Von Armin Engländer

I. Einleitung Am 2. Juni 2019 wurde der Regierungspräsident des Regierungsbezirks Kassel, der CDU-Politiker Walter Lübke, auf der Terrasse seines Wohnhauses erschossen. In seinem – zwischenzeitlich widerrufenen – Geständnis gegenüber der Polizei erklärte der Beschuldigte, ein in Kassel wohnhafter Rechtsextremist, am 25. Juni, wesentlicher Grund für die Tat sei eine Äußerung Lübkes auf einer Bürgerversammlung am 14. Oktober 2015 zu einer geplanten Flüchtlingsunterkunft gewesen.1 Mit dieser hatte der Politiker auf gezielte Störungen und Beschimpfungen seitens mehrerer Anhänger des Kasseler Pegida-Ablegers Kagida reagiert. Der Tat vorausgegangen waren mehrjährige massive Anfeindungen des Tatopfers bis hin zu Gewaltaufrufen und Morddrohungen in den sozialen Medien. Geweckt werden damit Erinnerungen an die politisch motivierten Tötungen führender Politiker in der Weimarer Republik, etwa des ehemaligen Reichsministers für Finanzen Matthias Erzberger im Jahr 1921, des Reichsaußenministers Walther Rathenau im Jahr 1922 und des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner im Jahr 1919, jeweils durch rechtsextremistische Täter. Angenommen, das Geständnis des Beschuldigten im obigen Fall trifft ungeachtet des Widerrufs hinsichtlich Täterschaft und Tatmotiv zu (wofür nach derzeitigem Kenntnisstand erdrückende Indizien sprechen), stellt sich die Frage, ob der Beschuldigte sein Opfer aus einem niedrigen Beweggrund getötet hat und deshalb des Mordes gemäß § 211 StGB schuldig ist. Nach der jüngsten Rechtsprechung des BGH ist dies eindeutig zu bejahen. Mit Beschluss vom 2. Mai 2018 hat der 3. Strafsenat entschieden, dass jenseits des Widerstandsrechts aus Art. 20 Abs. 4 GG politische Beweggründe zur Tötung eines Menschen stets als niedrig im Sinne des § 211 Abs. 2 zu bewerten seien.2 In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall ging es um die Liquidierung eines aus Jugoslawien nach Deutschland emigrierten Oppositionellen durch Mitglieder des jugoslawischen Geheimdienstes im Jahr 1983. Näher begründet hat der 3. Strafsenat seine Auffassung, abgesehen von einem Verweis auf die Kom1

Lübke hatte geäußert: „Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“ 2 BGH NStZ-RR 2018, 245 mit Anm. Engländer, NStZ 2019, 342.

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Armin Engländer

mentierung von Schneider zu § 211 StGB im Münchener Kommentar, allerdings nicht. Nun wäre ein solches Vorgehen nicht zu beanstanden, wenn über diesen Punkt Einigkeit bestünde. Dem ist jedoch keineswegs so. Die bisherige Rspr. zeigt sich nicht einheitlich und im Schrifttum wird über die richtige Lösung gestritten. Vor diesem Hintergrund bietet der oben skizzierte Fall einen aktuellen Anlass, über die Problematik der politisch motivierten Tötung als Mord aus niedrigem Beweggrund noch einmal näher nachzudenken.

II. Der Begriff des politischen Motivs Wendet man sich der Thematik zu, stellt man etwas überrascht fest, dass der Frage, was eigentlich unter einem politischen Tötungsmotiv zu verstehen ist, bislang nur relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Das wäre nicht weiter problematisch, wenn die Einordnung des Beweggrundes3 als politisch noch nichts über seine Bewertung als niedrig im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB besagte. Indes will der 3. Strafsenat von einer entsprechenden Trennung von Klassifikation und Bewertung gerade absehen. Ihm zufolge ist jedes politische Tötungsmotiv (jenseits des Widerstandsrechts aus Art. 20 Abs. 4 GG) per se niedrig. Somit soll eine Einordnung des Beweggrundes als politisch seine Bewertung als niedrig implizieren. Das setzt, unabhängig von der noch zu erörternden sachlichen Richtigkeit dieser These, allerdings voraus, dass über den Begriff des politischen Tötungsmotivs zunächst einmal Klarheit besteht. Denn anderenfalls bliebe unbestimmt, welche Fälle aufgrund politischer Motivation allesamt als Mord aus niedrigem Beweggrund zählen sollen.4 Im Schrifttum behilft man sich bei der Begriffsbestimmung zumeist mit einer beispielhaften Aufzählung.5 Erwähnt werden in der Kommentarliteratur etwa die Beseitigung politischer Gegner aus Machtstreben, rassistisch motivierte Tötungen, terroristische Akte zur Veränderung der Gesellschaftsordnung, aber auch der „Tyrannenmord“.6 Diese Begriffserläuterung durch Beispiele setzt indes implizit schon einen Begriff des Politischen voraus, dessen Merkmale freilich nicht näher expliziert werden. Nun sind Begriffsbildungen eine Frage der Zweckmäßigkeit. Es gibt keinen „wahren“ Begriff des Politischen. So wird man unter einem ethisch-normativen 3 Die Begriffe des Motivs, des Antriebs und des Beweggrundes werden hier synonym gebraucht. Näher dazu Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt, 2010, S. 91 f., Merkel, ZIS 2015, 429, 436. 4 Dass der 3. Senat sich in BGH NStZ-RR 2018, 245, nicht mit der angesprochenen begrifflichen Frage auseinander gesetzt hat, verdient vor diesem Hintergrund Kritik. 5 Zu einem begrifflichen Klärungsversuch s. aber Zielke, JR 1991, 136. Als „kaum eingrenzbar“ sehen den Begriff des Politischen dagegen LK-Rissing-van Saan/G. Zimmermann, StGB, 12. Aufl. 2019, § 211 Rn. 66. 6 Vgl. etwa MüKo-Schneider, StGB, 3. Aufl. 2017, § 211 Rn. 91; NK-Neumann, StGB, 5. Aufl. 2017, § 211 Rn. 39 f.; SK-Sinn, StGB, 9. Aufl. 2017, § 211 Rn. 26.

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Blickwinkel den Politikbegriff womöglich anders konzeptualisieren als aus einer soziologisch-deskriptiven Perspektive.7 Während er im ersten Fall im Hinblick auf gewisse Ideale gebildet werden mag – z. B. Politik als die Ermöglichung eines wohlgeordneten, d. h. stabilen und gerechten, Zusammenlebens freier und gleicher Bürger unter den Bedingungen eines vernünftigen Pluralismus in religiösen, philosophischen und moralischen Fragen8 –, soll er im zweiten Fall ein als erklärungsbedürftig angesehenes Phänomen unserer sozialen Realität angemessen erfassen – etwa Politik als „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt“9. Dem BGH dürfte wohl ein relativ anspruchsloser, an alltagssprachliche Gebrauchskonventionen anknüpfender Politikbegriff vorschweben. Bemüht man sich um eine Explikation des alltäglichen Sprachgebrauchs, legt das einen relativ weiten, formalen Begriff des Politischen nahe. Danach geht es der Politik um die Herbeiführung und Durchsetzung allgemeinverbindlicher Entscheidungen in den Angelegenheiten des Gemeinwesens; wichtige Faktoren bilden auch dabei der Erwerb, der Erhalt, der Verlust und die Ausübung der entsprechenden politischen Gestaltungsmacht. Tötungsmotive, die auf einen Aspekt der so definierten Politik abzielen, sind demzufolge als politisch zu klassifizieren.10

III. Die Motivgeneralklausel der niedrigen Beweggründe Ist nun ein politisches Tötungsmotiv im vorgenannten Sinne stets als niedrig zu bewerten? Und wonach beurteilt sich das? Noch vor der Heimtücke gilt die Motivgeneralklausel der niedrigen Beweggründe als besonders problembehaftetes Mordmerkmal.11 Die zentrale Schwierigkeit wird in ihrer Unbestimmtheit gesehen. § 211 Abs. 2 StGB besagt lediglich, dass der Beweggrund niedrig sein muss, benennt aber keine Kriterien dafür, wann das der Fall ist. Ein Vergleich mit den benannten niedrigen Beweggründen (unstreitig: Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, 7

Einen knappen Überblick über die unterschiedlichen Konzeptualisierungen bieten Celikates/Gosepath, Politische Philosophie, 2013, S. 14 ff. 8 Zu einem solchen Begriff des Politischen s. Rawls, Political Liberalism, 1993, S. 3 f. 9 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1972, S. 822. 10 Nicht erfasst werden damit eskalierende Streitigkeiten über politische Fragen zwischen Privaten, die mit dem Tod eines der Beteiligten enden, da es hier weder um Herbeiführung oder Durchsetzung allgemeinverbindlicher Entscheidungen in den Angelegenheiten des Gemeinwesens, noch um Erwerb, Erhalt oder Ausübung politischer Gestaltungsmacht geht. Ebenso Zielke, JR 1991, 136; a.A. Stock, SJZ 1947, Sp. 529, 534 Fn. 20. Enger Otto, Jura 1994, 141, 146, der das Ziel der Erlangung oder Verteidigung einer eigenen Machtposition nicht als politischen Beweggrund versteht. 11 AnwK-Mitsch, StGB, 3. Aufl. 2019, § 211 Rn. 34 ff.; BeckOK-Eschelbach, StGB, Stand 1. 5. 2019, § 211 Rn. 29 ff.; NK-Neumann/Saliger (Fn. 6), § 211 Rn. 26; SK-Sinn (Fn. 6), § 211 Rn. 20 f. Ausführliche Kritik bei Grünewald (Fn. 3), S. 89 ff. S. auch Haas, ZStW 128 (2016), 316, 325 ff.

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aus Habgier12) vermag allenfalls einen ungefähren Aufschluss zu geben. Trotz der weithin geteilten Kritik konnten sich Forderungen, die Motivgeneralklausel abzuschaffen und durch sachhaltigere Mordmerkmale zu ersetzen,13 jedoch bislang nicht durchsetzen. Daran wird sich auch in absehbarer Zeit nichts ändern. Denn nicht nur sind die Bestrebungen zur Reform der Tötungsdelikte vorerst politisch gescheitert. Die vom Bundesjustizminister im Mai 2014 eingesetzte Expertengruppe hat in ihrem im Juni 2015 vorgelegten Abschlussbericht außerdem mehrheitlich für die unveränderte Beibehaltung der Motivgeneralklausel votiert14 und lediglich eine Ergänzung um weitere benannte niedrige Beweggründe15 vorgeschlagen. Auch vom BVerfG ist keine Intervention zu erwarten, hat es doch schon vor Jahren die Motivgeneralklausel als verfassungskonform gebilligt.16 Gemäß der in ständiger Rechtsprechung verfestigten Definitionsformel zählt als niedriger Beweggrund ein Tatantrieb, der „nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe steht und deshalb besonders verwerflich ist.“17 Dazu müsse das Motiv „in deutlich weiter reichendem Maße als bei einem Totschlag verachtenswert erscheinen“.18 Zur Beurteilung bedürfe es „einer Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren“.19 Dazu zählten „die Umstände der Tat, die Lebensverhältnisse des Täters und seine Persönlichkeit.“20 Subjektiv müsse der Täter die Umstände, die die Niedrigkeit seiner Tatmotive begründeten, „in sein Bewusstsein aufgenommen und erkannt haben sowie – insbesondere auch bei affektiver Erregung und gefühlsmäßigen oder triebhaften Regungen … – in der Lage gewesen sein, sie gedanklich zu beherrschen und willensmäßig zu steuern.“21 Dabei sei zu beachten, dass die Verfolgung eigener In12

Ob es sich auch bei den Mordmerkmalen der 3. Gruppe um niedrige Beweggründe handelt, ist umstritten. Dies bejahend BGHSt 11, 226, 228; 23, 39, 40; 35, 116, 126 f. (anders allerdings BGH NJW 1996, 939); MüKo-Schneider (Fn. 6), § 211 Rn 216 f; SK-Sinn (Fn. 6), § 211 Rn 75. Krit. Haas, FS Weber, 2004, S. 235, 248; NK-Neumann/Saliger (Fn. 6), § 211 Rn 97. 13 Dafür etwa Merkel, ZIS 2015, 429, 444. Für eine Beibehaltung der Motivgeneralklausel und die Abschaffung der benannten niedrigen Beweggründe dagegen Kubik/T. Zimmermann, StV 2013, 582, 588 f. 14 Abschlussbericht der Expertengruppe zur Reform der Tötungsdelikte (§§ 211 – 213, 57a StGB), 2015, S. 36. 15 Im Einzelnen: „wegen des Geschlechts“, „wegen der ethnischen oder sonstigen Herkunft“, „wegen des Glaubens oder der religio¨ sen Anschauung“, „wegen der sexuellen Identita¨ t oder Orientierung“ und „aus rassistischen Beweggru¨ nden“. Ablehnt wurde dagegen die Aufnahme eines Mordmerkmals „wegen der politischen Anschauung“. Vgl. Abschlussbericht (Fn. 14), S. 38 f. 16 BVerfGE 54, 100, 112. 17 S. pars pro toto BGH NStZ 2019, 206, 207. 18 BGH NStZ 2018, 527. 19 BGH NJW 2004, 3051, 3054. 20 BGHSt 56, 11, 18. 21 BGH NStZ 2012, 691, 692.

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teressen und ein Missverhältnis zwischen Anlass und Tat „der Regelfall der vorsätzlichen rechtswidrigen Tötung“ seien und deshalb für eine Bejahung niedriger Beweggründe nicht genügten.22 Auch dem Umstand, dass der Täter dem Opfer das Lebensrecht abgesprochen habe, „kommt für sich allein kein über § 212 hinausgehendes Gewicht zu.“23 Niedrige Beweggründe lägen daher nur vor, wenn ein „eklatantes Missverhältnis“ bestehe,24 die Tat von „besonders krasser Selbstsucht geprägt“ sei,25 eine tatauslösende Gefühlsregung „jeglichen nachvollziehbaren Grundes“ entbehre26 oder der „personelle Eigenwert des Opfers“ missachtet werde, indem der Täter dieses „nicht einmal mehr ansatzweise als Person“ behandele, „sondern nur noch wie ein beliebiges Objekt, mit dem man nach hemmungslosem Gutdünken verfahren kann.“27 Im Falle eines Motivbündels beruhe die vorsätzliche Tötung auf niedrigen Beweggründen, wenn „das Hauptmotiv, welches der Tat ihr Gepräge gibt, nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe steht und deshalb verwerflich ist“;28 wie die Begleitmotive zu bewerten sind, spielt danach keine Rolle.

IV. Die Anwendung der Motivgeneralklausel der niedrigen Beweggründe auf politische Tötungsmotive in Rechtsprechung und Schrifttum Ob und inwieweit die soeben skizzierte Konkretisierung, welche die Motivgeneralklausel durch die Rechtsprechung erfahren hat, Zustimmung oder Kritik verdient, kann im Rahmen dieses Beitrags nicht näher untersucht werden.29 Seine Zielsetzung ist eine begrenztere. Beantwortet werden soll allein die Frage, wie politische Tötungsmotive zu bewerten sind, wenn man die konkretisierenden Leitlinien des BGH zur Motivgeneralklausel (und sei es nur probehalber) als Ausgangspunkt zugrunde legt. Dazu sei eingangs der aktuelle Diskussionsstand kurz referiert.

22

BGH NStZ-RR 2008, 308. BGH NStZ 2019, 204, 206. 24 BGH NStZ-RR 2010, 175, 176. 25 BGH NStZ-RR 2008, 308. 26 BGH NStZ 2012, 691, 692. 27 BGHSt 60, 52, 55. 28 BGH NStZ-RR 2007, 111. 29 Sehr kritische Beurteilung etwa bei AnwK-Mitsch (Fn. 6), § 211 Rn. 35; kritisch auch BeckOK-Eschelbach (Fn. 6), § 211 Rn. 29.2; NK-Neumann/Saliger (Fn. 6), § 211 Rn. 26; jedenfalls im Grundsatz positiv dagegen Kubik/T. Zimmermann, StV 2013, 582, 588; LKRissing-van Saan/G. Zimmermann (Fn. 6), § 211 Rn. 26; MüKo-Schneider (Fn. 6), § 211 Rn. 72 f. 23

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1. Die Rechtsprechung Zunächst zur höchstgerichtlichen Judikatur. Ein erstes thematisch einschlägiges Urteil findet sich bereits im Jahr 1948 in der Rechtsprechung des OGH.30 In dem zu entscheidenden Fall ging es um die vorsätzliche Tötung eines (bereits im Sterben liegenden) Landrats in der Endphase des Zweiten Weltkriegs wegen eines von diesem zuvor unternommenen Suizidversuchs. In dieser versuchten Selbsttötung hatte der Angeklagte, ein Kreisleiter der NSDAP, eine „feige Fahnenflucht“ des Tatopfers, eine „gröblichste Verletzung der gegenüber Volk und Staat bestehenden Pflichten“, ein „Versagen im Augenblick der Bewährung“ gesehen. Der OGH verneinte hier die niedrigen Beweggründe. Dem Angeklagten sei es, wenn auch fehlgeleitet, um die Wahrung von Ansprüchen der Allgemeinheit gegangen. Die in § 211 StGB angeführten Beispiele der Mordlust, der Befriedigung des Geschlechtstriebs und der Habgier zeigten aber, „daß das Gesetz bei niedrigen Beweggründen vorwiegend an selbstsüchtige und nicht an solche denkt, die durch die Interessen der Allgemeinheit bestimmt werden, mögen diese auch im Einzelnen falsch gesehen oder beurteilt werden.“ Im Jahr darauf hatte der OGH über die Teilnahme mehrerer Angeklagter an den Novemberpogromen 1938 zu befinden, bei denen nicht nur Synagogen, jüdische Friedhöfe, Geschäftsräume und Wohnungen von Juden beschädigt und zerstört, sondern auch zahlreiche Juden getötet worden waren.31 Der OGH beanstandete hier die Verneinung der niedrigen Beweggründe durch die Vorinstanz. Seine Begründung legt dabei allerdings eine differenzierende Betrachtungsweise nahe. Aus der Annahme der besonderen Verwerflichkeit im zu entscheidenden Fall folge nicht, „daß jede Tötung aus politischen Gründen als Mord beurteilt werden müßte, weil der politische Beweggrund in jedem Fall ein niedriger Beweggrund sei.“ Während nämlich üblicherweise bei der politisch motivierten Tötung sich das Motiv auf eine missbilligte politische Auffassung oder Handlung des Getöteten beziehe, habe vorliegend nicht irgendein Verhalten der Tatopfer, „sondern ihr bloßes Dasein, ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten rassischen oder religiösen Gemeinschaft“ den Grund für ihre Tötung gebildet. Damit seien „völlig schuldlose Menschen ohne jeden menschlich verständlichen Anlass zu Tode gehetzt“ worden, woraus sich hier die besondere Verächtlichkeit der Tat ergebe. Die erste einschlägige Entscheidung des BGH datiert sodann aus den frühen fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Zeittypisch ging es wie schon in den Urteilen des OGH um die strafrechtliche Aufarbeitung von Verbrechen aus der NS-Zeit. Der 1. Strafsenat bejahte hier das Vorliegen niedriger Beweggründe für die vorsätzliche Tötung von vier Personen „aus politischer und rassischer Unduldsamkeit und Über30

OGHSt 1, 95, 98 f. OGHSt 2, 179, 180 f. In einer weiteren Entscheidung (im Fall der sog. Anstaltstötungen psychisch kranker Insassen) äußerte der OGH lediglich pauschal, niedrige Beweggründe könnten auch den durch politische Erwägungen maßgebend bestimmten Täter leiten; OGH SJZ 1949, Sp. 347, 350. 31

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hebung und zur Abschreckung politischer Gegner der NSDAP“.32 Nähere Ausführungen dazu erfolgten indes nicht, da dieser Aspekt des Falls mangels Kenntnis der entsprechenden Umstände seitens der hier allein angeklagten Gehilfen nicht entscheidungserheblich war und deshalb vom Gericht nur en passant erwähnt wurde. Keine niedrigen Beweggründe sah der 3. Strafsenat rund 35 Jahre später im Startbahn West-Urteil.33 Gegenstand der Entscheidung war die vom bedingten Tatvorsatz getragene vollendete Tötung zweier Polizisten sowie die versuchte Tötung zweier weiterer Beamter aus einer „Protesthaltung“ gegen den Bau und den Betrieb der Startbahn West des Flughafens Frankfurt/Main durch einen Ausbaugegner. Der BGH vertrat hier die Auffassung, die Wertung des Tatgerichts, dass der Tatantrieb „nicht in einer von Unrecht und Schuld des Totschlags deutlich abgehobenen Weise als besonders verwerflich“ erscheine, sei vor dem Hintergrund einer eskalierenden Konfrontation von Polizei und Demonstranten nicht zu beanstanden. Zum gegenteiligen Ergebnis gelangte der 2. Strafsenat in einem Beschluss aus dem Jahr 2003.34 Dort ging es um die versuchte Tötung eines dem äußeren Erscheinungsbild nach der Skinhead-Szene angehörenden Tatopfers, dem eine Personengruppe mit dem Angeklagten zufällig in der Innenstadt begegnet war. Der Senat erklärte, „dass auch ,politische‘ Motive niedrige Beweggründe i.S. des § 211 II StGB sein können“. Das gelte namentlich dann, „wenn dem Opfer allein wegen seiner Zugehörigkeit zu einer politischen, sozialen oder ethnischen Gruppe das Lebensrecht abgesprochen und es in entpersönlichter Weise quasi als Repräsentant einer Gruppe getötet werden soll“. 2004 erging sodann das vielbeachtete Urteil des 5. Strafsenats zum Sprengstoffanschlag auf die Berliner Diskothek „La Belle“ im Jahre 1986.35 Anlass für den Anschlag waren seinerzeit wachsende politische Spannungen zwischen den USA und Libyen gewesen. Während die Vorinstanz das Vorliegen niedriger Beweggründe aufgrund des politischen Motivs der Täter noch verneint hatte, gelangte der Senat zum gegenteiligen Ergebnis: „Wer aus terroristischen Motiven gezielt an der politischen Auseinandersetzung unbeteiligte Dritte durch einen Sprengstoffanschlag tötet, handelt aus niedrigen Beweggründen.“ Die „zufällige, unterschiedslose und deshalb willkürliche Auswahl von unbeteiligten Menschen als Opfer“ rechtfertige die Bewertung des Tatmotivs als niedrig. Zudem sei der unkontrollierte Einsatz von Bomben aufgrund seiner verheerenden Wirkung „von vornherein eklatant menschenverachtend“. Schließlich ist der bereits eingangs erwähnte Beschluss des 3. Strafsenats im Falle der Liquidierung eines nach Deutschland emigrierten jugoslawischen Oppositionellen zu nennen, wonach jenseits des Widerstandsrechts aus Art. 20 Abs. 4 GG poli32

BGH NJW 1952, 834. BGH NStZ 1993, 341, 342. 34 BGH NStZ 2004, 89, 90. 35 BGH NJW 2004, 3051. 33

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tische Beweggründe zur Tötung eines Menschen stets als niedrig im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB zu bewerten seien.36 Betrachtet man die hier vorgestellten Entscheidungen, so fällt auf, dass sich die Rechtsprechung – abgesehen von dem zuletzt genannten Beschluss des 3. Strafsenats – mit allgemeingültigen Aussagen zur Tötung aus politischen Beweggründen eher zurückhält. Als entscheidungsleitend werden vielmehr zumeist gewisse Besonderheiten herausgestellt: im Startbahn West-Urteil etwa die eskalierende Konfrontation zwischen Polizei und Demonstranten sowie weitere, vom Gericht nicht näher spezifizierte Umstände, im Novemberpogrom-Urteil, in der Skinhead-Entscheidung und im La Belle-Urteil die völlige Entpersönlichung der Tatopfer. Geändert hat sich das erst mit der jüngsten Entscheidung des 3. Strafsenats – freilich ohne dass dieser Umstand dem Senat eine Begründung wert gewesen wäre. 2. Der Meinungsstand im Schrifttum Auch das Schrifttum hat sich schon früh mit der Thematik der politisch motivierten Tötung befasst. Dabei stand die Debatte in der unmittelbaren Nachkriegszeit zunächst noch ganz unter dem Eindruck der bereits eingangs erwähnten Tötungen demokratischer Politiker in der Weimarer Republik durch rechtsextreme Täter sowie der politischen Tötungsverbrechen der NS-Zeit. Geführt wurde sie nicht nur als Streit um die richtige Auslegung des zu diesem Zeitpunkt erst vor wenigen Jahren neu gefassten § 211 StGB, sondern darüber hinaus auch als Auseinandersetzung über die Aufnahme eines eigenen Mordmerkmals des politischen Beweggrundes in den schon damals als reformbedürftig angesehenen Tatbestand. Während Stock für eine Einzelfallbetrachtung plädierte (jedoch ohne die Bewertungskriterien klar zu benennen),37 votierte Zinn in einer scharfen Replik dafür, politisch motivierte Tötungen ausnahmslos als Mord zu beurteilen.38 Radbruch schlug eine Beschränkung der Mordstrafbarkeit auf die Fälle der Tötung „aus politischer Unduldsamkeit und Gehässigkeit“ vor39 und Jagusch neigte, freilich ohne sich abschließend festzulegen, der Position Zinns zu.40 Inzwischen haben sich im Schrifttum zwei relativ gefestigte Theorielager herausgebildet. Nach einer an die Rechtsprechung des OGH im Landrat-Fall anknüpfenden Differenzierungslösung kommt es für die Bewertung des politischen Tötungsmotivs als niedrig darauf an, ob es egoistischer oder gemeinwohlorientierter Natur ist.41 Als 36

BGH NStZ-RR 2018, 245. Stock, SJZ 1947, Sp. 529, 533 f. 38 Zinn, SJZ 1948, Sp. 141. 39 Radbruch, SJZ 1948, Sp. 311, 312. 40 Jagusch, SJZ 1949, Sp. 324, 326. 41 Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT 1, 10. Aufl. 2009, § 2 Rn. 38; NK-Neumann/Saliger (Fn. 6), § 211 Rn. 39; Schönke/Schröder-Eser/Sternberg-Lieben, 30. Aufl. 37

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niedrig im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB seien somit etwa das selbstsüchtige Streben nach eigener Macht oder das gruppenegoistische Streben nach Macht einer bestimmten Gruppe, der der Täter sich verbunden fühlt, zu bewerten. Gehe es dem Täter dagegen um tatsächliche oder vermeintliche Belange des Gemeinwohls, zum Beispiel um die Erhaltung einer intakten Umwelt oder den Tierschutz, stelle das keinen niedrigen Beweggrund dar. Begründet wird das mit der bereits vom OGH angestellten Überlegung, nur im ersteren Fall liege eine rücksichtslose, grob egoistische Instrumentalisierung des Lebens zur Verwirklichung eigener Ziele vor, die der bei der Habgier und bei der Befriedigung des Geschlechtstriebs entspreche.42 Eine Ausnahme von der Ausklammerung tatsächlicher oder vermeintlicher Gemeinwohlbelange soll allerdings gemacht werden, wenn das Allgemeininteresse, auf das der Täter sich beruft, den menschenrechtlichen Wertungen widerspricht.43 Das wäre beispielsweise der Fall, wenn der Täter aus ideologischer Verblendung die Unterdrückung einer religiösen Minderheit als für das Wohl der Gemeinschaft erforderlich ansieht und sodann zur Durchsetzung dieses Ziels einen anderen Menschen tötet. Im Übrigen scheide eine Bewertung der politischen Position bei der Beurteilung der Niedrigkeit des Beweggrundes aus.44 Nicht angängig wäre es deshalb zum Beispiel, die Tötung eines einflussreichen Ministers zum Protest gegen dessen klimaschutzfeindliche Politik nicht als Mord aus niedrigen Beweggründen anzusehen, die Tötung des Ministers unter sonst gleichbleibenden Umständen zur Auflehnung gegen dessen flüchtlingsfreundliche Politik hingegen schon. Die Gegenauffassung, der sich jüngst auch der. 3. Strafsenat angeschlossen hat, will jenseits des Anwendungsbereichs des Art. 20 Abs. 4 GG alle politischen Tötungsmotive einheitlich als niedrige Beweggründe einstufen.45 Zur Begründung dieser Einheitlichkeitslösung bringen ihre Vertreter gleich eine Vielzahl von Argumenten vor: Die Missachtung des Grundsatzes der Gewaltfreiheit der politischen Auseinandersetzung durch die physische Vernichtung politischer Gegner sei besonders wertwidrig und asozial.46 Zudem könnten politische Tötungen leicht eskalieren und ein Klima von Furcht, Schrecken und Hass erzeugen; ihnen wohne daher eine besondere Gefährlichkeit inne.47 Der Täter missachte zur Durchsetzung seiner poli2019, § 211 Rn. 20; SK-Sinn (Fn. 6), § 211 Rn. 26; Zielke, JR 1991, 136, 138 f.; ders., JR 1992, 230. 42 NK-Neumann/Saliger (Fn. 6), § 211 Rn. 39; Zielke, JR 1991, 136, 138 f.; ders., JR 1992, 230. 43 NK-Neumann/Saliger (Fn. 6), § 211 Rn. 40; SSW-Momsen, StGB, 4. Aufl. 2018, § 211 Rn. 30; i. E. auch Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, Rn. 21a („jedenfalls“). 44 NK-Neumann/Saliger (Fn. 6), § 211 Rn. 40. 45 Bosch, Jura 2015, 803, 811 f.; Brocker, JR 1992, 13; LK-Rissing-van Saan/G. Zimmermann (Fn. 6), § 211 Rn. 66; MüKo-Schneider (Fn. 6), § 211 Rn. 93 f.; Otto, Jura 1994, 141, 146. 46 Brocker, NStZ 1994, 33; MüKo-Schneider (Fn. 6), § 211 Rn. 93. 47 Bosch, Jura 2015, 803, 811 f.; Brocker, JR 1992, 13, 14; ders., NStZ 1994, 33; MüKoSchneider (Fn. 6), § 211 Rn. 93; Otto, Jura 1994, 141, 146. Der Sache nach auch schon Zinn, SJZ 1948, Sp. 141, 143 f.

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tischen Ziele das Leben anderer und maße sich einen politischen Alleinvertretungsanspruch an.48 In dieser Anmaßung, außerhalb der demokratischen Prozeduren gewaltsam bestimmen zu wollen, welche politischen Ziele im Allgemeininteresse zu realisieren seien, drücke sich außerdem eine besonders egozentrische Einstellung des Täters aus.49 Ferner sei im demokratischen Rechtsstaat die Tötung eines Menschen zu politischen Zwecken immer krass unverhältnismäßig.50 Weiterhin bleibe das Kriterium des Allgemeininteresses so unbestimmt, dass es nicht einmal ansatzweise eine trennscharfe Abgrenzung zwischen niedrigen und noch nachvollziehbaren Beweggründen ermögliche.51 Den rechtlichen Rahmen für achtenswerte politische Tötungsmotive stecke schließlich allein Art. 20 Abs. 4 GG ab; folglich müssten alle anderen, jenseits des Anwendungsbereichs dieser Vorschrift liegenden politischen Beweggründe, aus denen heraus jemand einen anderen töte, als niedrig angesehen werden.52

V. Plädoyer für eine multifaktorielle Einzelfallbewertung Was ist nun von den zwei im Schrifttum vertretenen Auffassungen zu halten? Im Folgenden soll gezeigt werden, dass beide Ansichten im Ergebnis nicht zu überzeugen vermögen. Sie sind, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, zu undifferenziert. Vielmehr bedarf es einer multifaktoriellen Einzelfallbewertung politischer Tötungsmotive. 1. Die Schwachpunkte der Differenzierungslösung Für die Differenzierungslösung spricht zwar auf den ersten Blick, dass nach ständiger Rechtsprechung niedrige Beweggründe sich von nicht-niedrigen Tatantrieben durch ihre „hemmungslose Eigensucht“ unterscheiden. Daran scheint die Differenzierung zwischen egoistischen und gemeinwohlorientierten Tötungsmotiven ganz zwanglos anknüpfen zu können. Eine nähere Betrachtung zeigt allerdings gleich mehrere Schwächen der Differenzierungslösung auf. Zunächst ist sie mit dem Problem der Unbestimmtheit des Gemeinwohlbegriffs behaftet. Sämtliche Versuche der politischen Philosophie und ihrer Nachbardisziplinen, zu klären, was unter dem Gemeinwohl bzw. dem Allgemeininteresse zu verstehen ist und wie man es ermittelt, um sodann an diesem Maßstab kollektive Zielvor48

Brocker, JR 1992, 13; ders., NStZ 1994, 33. MüKo-Schneider (Fn. 6), § 211 Rn. 93; in diese Richtung auch LK-Rissing-van Saan/G. Zimmermann (Fn. 6), § 211 Rn. 66. 50 Bosch, Jura 2015, 803, 811 f. 51 MüKo-Schneider (Fn. 6), § 211 Rn. 94. 52 Brocker, JR 1992, 13, 14; ders., NStZ 1994, 33; LK-Rissing-van Saan/G. Zimmermann (Fn. 6), § 211 Rn. 66; MüKo-Schneider (Fn. 6), § 211 Rn. 94; Otto, Jura 1994, 141, 146. 49

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stellungen zu messen, waren bislang wenig erfolgreich.53 Und gerade in pluralistischen Gesellschaften, in denen es keine gemeinsamen Vorstellungen über das Gute gibt, für die das „Faktum des vernünftigen Pluralismus“ also geradezu ein Wesensmerkmal darstellt,54 dürften politische Ziele nahezu unvermeidbar immer nur Ausdruck gewisser Partikularinteressen sein, so dass ein nach Eigen- und Gruppeninteressen einerseits und Allgemeininteressen andererseits unterscheidender Ansatz leerzulaufen droht. Wenn man aber einmal unterstellt, es ließe sich ein hinreichend konsentierter und operationalisierbarer Gemeinwohlbegriff bilden, erschiene es zudem nicht sachgerecht, jedes politische Interesse, das nicht als Allgemeininteresse zählt, als egoistisch anzusehen. Die Begriffe des Allgemeininteresses und des Eigeninteresses sind nicht kontradiktorisch. Es gibt Interessen, die weder unter den einen noch unter den anderen Begriff fallen. Ein Beispiel dafür sind altruistische Interessen des Einzelnen am Wohlergehen einer anderen Person.55 Zwar kann dieses Wohlergehen des anderen durchaus auch im Allgemeininteresse liegen, muss dies jedoch keineswegs. Tut es das nicht, macht dies das altruistische Interesse des Einzelnen an ihm nicht zu einem egoistischen. Nun versucht die Differenzierungslösung, die geschilderte Problematik zu lösen, indem sie für den Vorwurf selbstsüchtigen Verhaltens auch einen gruppenegoistischen Tatantrieb genügen lässt. Das ist jedoch abermals wenig überzeugend. Zunächst: Nicht jeder Einzelne bildet zusammen mit demjenigen, an dessen Wohl er ein altruistisches Interesse hat, eine Gruppe, so dass man seine Präferenzen als Form eines Gruppenegoismus deuten könnte. Ferner: Es wäre wiederum verfehlt, jedes Interesse eines Gruppenangehörigen, das auf einen Vorteil für die Gruppe gerichtet ist, unabhängig davon als egoistisch zu klassifizieren, ob er selbst an diesem persönlich partizipiert oder nicht. Schließlich: Selbst wenn man altruistische Interessen zugunsten anderer Personen oder Personengruppen, die allerdings nicht die Voraussetzungen des Allgemeininteresses erfüllen, unter einen weit gefassten Begriff des Eigeninteresses subsumierte, genügte das nicht, um den Vorwurf des niedrigen Beweggrundes zu rechtfertigen. Nach ständiger Rechtsprechung bedarf es hierfür einer „besonders krassen Selbstsucht“.56 Es soll also nicht schon jeder auf die Beförderung eigener Interessen gerichtete Tatantrieb genügen. Eine extreme Form des 53 Grundlegend zur Vorstellung einer volonté générale, die „immer auf dem rechten Weg ist und das öffentliche Wohl ins Auge fasst“, Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, 1996, S. 42 f. Die Frage, wie man aus der Summe der heterogenen Einzelwillen, der volonté de tous, die von ihr zu unterscheidende volonté générale herausfiltern kann, vermochte Rousseau freilich ebenso wenig zu beantworten wie seine an ihn anknüpfenden Nachfolger. Auch das Unternehmen einer diskursiv-prozeduralistischen Gemeinwohlkonzeption, vgl. Habermas; Faktizität und Geltung, 4. Aufl. 1994, S. 221 ff., hat hier keine schlüssige Lösung gefunden. Zur Kritik des diskurstheoretischen Rechtsstaats- und Demokratieverständnisses s. Engländer, Diskurs als Rechtsquelle?, 2002, S. 88 ff. 54 Dazu grundlegend Rawls (Fn. 8), S. 36 f. 55 Zur Unzweckmäßigkeit, altruistische Interessen unter den Begriff des Eigeninteresses zu fassen, s. Hoerster, Ethik und Interesse, 2003, S. 175 ff. 56 BGH NStZ-RR 2008, 308.

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Eigennutzes lässt sich bejahen, wenn der Täter mit seiner Tat einen politischen Vorteil anstrebt, der gerade ihm selbst zukommen soll, wie etwa der Erwerb oder das Behalten einer bestimmten Machtposition. Um Missverständnisse zu vermeiden: Dem steht nicht entgegen, dass womöglich auch andere oder sogar alle (außer dem Tatopfer) an dem angestrebten Vorteil partizipieren würden. Entscheidend für das Vorliegen krasser Selbstsucht ist, dass dieser Umstand für den Tatentschluss des Täters keine Rolle spielt, er sein politisches Ziel also auch dann verfolgen würde, wenn die anderen nicht profitierten. Politische Vorteile, die der Täter nicht in dieser Form für sich selbst erstrebt, vermögen dagegen keinen hemmungslosen Eigennutz zu begründen. Auf die bislang vorgebrachten Einwände könnte ein Vertreter der Differenzierungslösung nun allerdings erwidern, dass sie zwar womöglich die Notwendigkeit gewisser Modifikationen aufzeigen, aber doch nicht den Kern der Lösung tangieren, nämlich die Bewertung des politischen Tötungsmotivs als niedrig davon abhängig zu machen, ob es krass egoistisch ist oder nicht. Daher gebe es keinen Grund, die Differenzierungslösung im Grundsatz aufzugeben. Ein weiteres, bislang nicht zureichend beachtetes Problem dieser Lösung reicht indes tiefer. Es resultiert aus Veränderungen bei der Definitionsformel der niedrigen Beweggründe in der neueren höchstgerichtlichen Rechtsprechung. Während lange Zeit die „hemmungslose Eigensucht“ ein Element dieser Formel bildete,57 hat der BGH sie mittlerweile stillschweigend aus ihr eliminiert.58 Zwar erachtet er einen extremen Egoismus nach wie vor als hinreichend, um einen Beweggrund als niedrig zu klassifizieren, jedoch nicht mehr als notwendig. Der BGH erkennt, wie oben bereits gezeigt, inzwischen an, dass sich die Niedrigkeit des Tatantriebs auch aus anderen Gesichtspunkten wie der völligen Missachtung des personellen Eigenwerts des Opfers ergeben kann.59 Ein Beispiel hierfür sind Tötungen aus rassistischen Motiven.60 Fälle des krassen Eigennutzes sind demnach nur eine – wenn auch verbreitete – Spielart der niedrigen Beweggründe. Das hat zur Konsequenz, dass aus der Verneinung der hemmungslosen Selbstsucht noch nicht folgt, dass die Beweggründe nicht niedrig sind. Ihre Niedrigkeit kann sich auch aus anderen Gründen ergeben. Diesen Punkt übersieht die herkömmliche Differenzierungslösung, wenn sie einseitig nur auf das Kriterium des extremen Eigennutzes abstellt.

57 Grundlegend BGHSt 3, 132: Niedrig sind die Tatantriebe, „die nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen, durch ungehemmte, triebhafte Eigensucht bestimmt (Hervorhebung durch Verf.) und deshalb besonders verwerflich, ja verächtlich sind.“ 58 Vgl. etwa BGH NStZ 2019, 206, 207: „Ein Beweggrund ist dann niedrig, wenn er nach allgemeiner sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe steht und deshalb besonders verachtenswert ist.“ 59 BGHSt 60, 52, 55; BGH NStZ 2015, 690. 60 So der Sache nach bereits OGHSt 2, 179, 180 f.

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2. Die Schwachpunkte der Einheitlichkeitslösung Mit der Kritik an der Differenzierungslösung (in der Gestalt, die ihr ihre Vertreter gegeben haben) ist freilich noch nicht gesagt, dass dann die Einheitlichkeitslösung Zustimmung verdient, politische Tötungsmotive stets als niedrige Beweggründe anzusehen. Einige der für sie angeführten Argumente vermögen jedenfalls schwerlich zu überzeugen. Soweit vorgebracht wird, die Missachtung des Grundsatzes der Gewaltfreiheit der politischen Auseinandersetzung durch die physische Vernichtung politischer Gegner sei besonders wertwidrig und asozial, paraphrasiert das lediglich die Wertung, der Tatantrieb stehe auf tiefster Stufe, begründet diese aber nicht. Der Einwand, das Allgemeininteresse, auf das die Differenzierungslösung abstelle, sei viel zu unbestimmt, um eine Abgrenzung zu ermöglichen, trifft zwar wie gesehen zu, rechtfertigt es indes nicht, deshalb pauschal alle Tötungen aus politischen Beweggründen als Mord zu qualifizieren. Das Argument, der Täter missachte zur Durchsetzung seiner politischen Ziele das Leben anderer, verkennt, dass die Verfolgung eigener Interessen und ein Missverhältnis zwischen Anlass und Tat typisch für die vorsätzliche rechtswidrige Tötung sind und deshalb zur Bejahung einer gegenüber § 212 StGB gesteigerten Verwerflichkeit nicht ausreichen. Die These, das Missverhältnis zwischen Mittel und Zweck sei besonders krass, weil in einer Demokratie andere Möglichkeiten bestünden, die eigenen politischen Ziele zu realisieren,61 übersieht, dass ganz allgemein dem Täter in den Fällen, in denen er mit der Tötung einen außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck verfolgt, regelmäßig noch andere Handlungsoptionen zur Zielerreichung offen stehen; auch dieser Umstand vermag daher eine Unrechts- und Schuldsteigerung gegenüber dem Totschlag nicht plausibel zu machen.62 Der Annahme, den rechtlichen Rahmen für achtenswerte politische Tötungsmotive stecke allein Art. 20 Abs. 4 GG ab, ist entgegenzuhalten, dass die Regelung lediglich die Voraussetzungen bestimmt, unter denen (selbst tödliche) Gewalt zu politischen Zwecken gerechtfertigt sein kann. Ihr lässt sich jedoch nicht die Wertung entnehmen, dass eine politisch motivierte Tötung, die diese Rechtfertigungsbedingungen nicht erfüllt und die deshalb rechtswidrig bleibt, auch immer schon besonders verwerflich ist und deshalb nicht nur unter § 212 StGB, sondern unter § 211 StGB fällt.63 Und die Behauptung, in der Anmaßung, gewaltsam bestimmen zu wollen, welche politischen Ziele zu realisieren seien, drücke sich stets eine besonders egozentrische Haltung des Täters aus, konfundiert Hybris und übersteigertes Sendungsbewusstsein mit krassem Egoismus. Am Beispiel: Tötet jemand einen Politiker, der sich für eine weitergehende Freigabe von Abtreibungen einsetzt, weil er darin einen unbedingt zu unterbindenden Verstoß gegen die göttlichen Gebote sieht, wird man als Beweggrund fehlgeleitete religiöse Überzeugungen, aber kaum hemmungs61 In diesem Sinne verstehe ich das etwas skizzenhafte Argument Boschs, dass „gerade in einem demokratischen Rechtsstaat zwischen den Beweggru¨ nden und dem hierfu¨ r eingesetzten Mittel der To¨ tung immer ein besonders krasses Missverha¨ ltnis besteht“; vgl. Bosch, Jura 2015, 803, 811 f. 62 Ebenso i. E. SK-Sinn (Fn. 6), § 211 Rn. 26. 63 Zutreffend Selle, NJW 2000, 992, 995.

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lose Eigensucht (jedenfalls solange man den Begriff den herkömmlichen Gebrauchsregeln entsprechend verwendet) bejahen können. Bleibt das zunächst plausibel scheinende Argument, politische Tötungen könnten leicht eskalieren und ein Klima von Furcht, Schrecken und Hass erzeugen, so dass ihnen eine besondere Gefährlichkeit innewohne, der mit der absoluten Strafandrohung des § 211 StGB entgegengewirkt werden müsse. Durchschlagskraft könnte diese Erwägung freilich nur entfalten, wenn sich die Motivgeneralklausel auch gefährlichkeitsbezogen interpretieren ließe. Zweifel daran begründen indes schon die grundsätzlichen Einwände, die Merkel gegen eine Verwendung des Gefährlichkeitsgedankens als Leitprinzip des § 211 StGB vorbringt.64 Zudem mag es zwar zutreffen, dass der Täter bei einer Tötung aus politischen Motiven um der von ihm angestrebten Ziele willen die Zivilisierung der politischen Auseinandersetzung aufs Spiel setzt. Bei der Vergiftung des politischen Klimas handelt es sich – solange sie nicht vom Täter angestrebt wird – allerdings lediglich um eine mögliche Nebenfolge und nicht um den Zweck der Tat. Nebenfolgen sind aber weder Beweggründe noch die Bezugsobjekte von Beweggründen; sie liegen jenseits davon. Bezugsobjekt – das, wozu der Beweggrund den Antrieb bildet – ist allein die Tat, im vorliegenden Kontext die Tötung eines anderen Menschen. Und Beweggründe – das, was den Täter zu dieser Tat motiviert – sind die Ziele, die er durch die Tat erreichen bzw. die Gefühle oder Haltungen, denen er mit ihrer Hilfe Ausdruck verleihen will.65 Die Niedrigkeit eines Beweggrundes kann sich deshalb auch nur entweder aus der Verwerflichkeit des Ziels als solchem oder aus dem krassen Missverhältnis zwischen dem Ziel und dem zu seiner Erreichung eingesetzten Mittel der Tötung ergeben; nicht dagegen lässt sie sich mit der Schädlichkeit einer Nebenfolge begründen. Das Risiko der Vergiftung des politischen Prozesses als Nebenfolge der politisch motivierten Tötung macht deshalb zwar womöglich die Tat zu einer besonders gefährlichen; es vermag aber, da es nicht zum Beweggrund zählt, nicht dessen Niedrigkeit zu erweisen.66 Auch die Einheitlichkeitslösung überzeugt somit im Ergebnis nicht. Während die herkömmliche Differenzierungslösung zu restriktiv ausfällt, weil sie zu einseitig auf das Merkmal des Eigennutzes abstellt, gerät die Einheitslösung zu weit, wenn sie pauschal jedes politische Tötungsmotiv als niedrig bewertet. 3. Leitlinien einer multifaktoriellen Einzelfallbewertung Damit stellt sich die Frage, welche weiteren Faktoren jenseits des krassen Egoismus – im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung aller Umstände – eine Einstufung des politischen Tötungsmotivs als niedrigen Beweggrund zu rechtfertigen ver64

Merkel, ZIS 2015, 429. Richtig weist Merkel, ZIS 2015, 429, 437 f., darauf hin, dass es neben teleologischen auch expressive Beweggründe gibt. 66 Dieser Einwand trifft auch meine eigenen – freilich noch tentativen – Erwägungen in NStZ 2019, 342, 343. 65

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mögen. Das kann hier nicht erschöpfend beantwortet werden. Zwei besonders relevante Faktoren seien aber kurz genannt. Zunächst kann sich aus den grundlegenden Wertungen der Verfassungsordnung bereits eine besondere Verwerflichkeit des vom Täter verfolgten politischen Ziels als solchem ergeben. Solange das Ziel mit jenen Wertungen in Einklang steht, beispielsweise im Falle der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, ist es zwar für sich gesehen nicht zu beanstanden und vermag deshalb isoliert betrachtet auch nicht die Niedrigkeit des Tatantriebs zu begründen. Anders verhält es sich aber dort, wo es gegen sie verstößt, so etwa, wenn der Täter die Unterdrückung einer religiösen oder ethnischen Minderheit anstrebt. Gleiches gilt, wenn es dem Täter darum geht, die Verfassungsordnung selbst zu beseitigen. In diesen Fällen begründet schon der Umstand, dass sich die Zielvorstellung des Täters gegen die zentralen verfassungsrechtlichen Ordnungsprinzipien richtet, die besondere Verwerflichkeit und damit die Niedrigkeit seines Tötungsmotivs. Weiterhin kann sich, wie schon erwähnt, dem BGH zufolge ein eklatantes Missverhältnis zwischen dem Zweck und dem dazu eingesetzten Mittel der Tötung auch daraus ergeben, dass mit der Tötung eine Missachtung des personellen Eigenwerts des Opfers verbunden ist.67 Zwar drängt sich hier auf den ersten Blick der Einwand auf, dass in jeder vorsätzlichen Tötung eine solche Missachtung liegt, wird doch das Opfer unterschiedslos seiner Existenz beraubt. Welche stärkere Missachtung kann es geben? Träfe das zu, könnte es sich bei ihr kaum um ein qualifizierendes Merkmal handeln. Indes geht es bei der genannten Fallgruppe nicht darum, dass der Täter den personellen Eigenwert des Opfers missachtet, indem er es tötet, sondern darum, dass er es tötet, weil er seinen personellen Eigenwert missachtet. Nur unter dieser Voraussetzung erhält die Missachtung im Rahmen des Tatmotivs eine eigenständige Bedeutung, die die Qualifizierung zum Mord zu begründen vermag. Das betrifft zunächst die Konstellationen, in denen das Tatopfer als völlig austauschbar behandelt wird. Ein Beispiel dafür sind Terroranschläge wie der oben genannte auf die Berliner Diskothek „La Belle“, bei denen es den Tätern zur Verfolgung ihrer politischen Ziele nur darum geht, willkürlich irgendwelche Menschen zu töten.68 Die Opfer werden somit ihrer Individualität vollständig entkleidet. Ferner sind die Fälle zu nennen, in denen der Täter die Opfer schlicht aufgrund ihres SoSeins auswählt und damit zum Ausdruck bringt, dass sie aufgrund von Eigenschaften wie etwa Alter, Geschlecht, Abstammung, Nationalität, sexueller Orientierung oder

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BGHSt 60, 52, 55; s. ferner BGH NStZ 2015, 690. Nicht näher thematisiert werden kann im Rahmen dieses Beitrages die komplexe Frage, was genau diesen personellen Eigenwert ausmacht und worin er begründet liegt. Für die hiesigen Zwecke genügt es, ihn im Grundsatz als normative, genauer: positiv-rechtliche, Zuschreibung anzusehen, die sich aus Art. 1 Abs. 1 GG ergibt. 68 So auch BeckOK-Eschelbach (Fn. 6), § 211 Rn. 30.2; Fischer (Fn. 43), § 211 Rn. 21; Selle, NJW 2000, 992, 996; SSW-Momsen, StGB, 4. Aufl. 2018, § 211 Rn. 30. Richtig somit i. E., auch wenn der Leitgedanke der Missachtung des personellen Eigenwerts des Opfers nicht klar herausgearbeitet wird, BGH NJW 2004, 3051, 3054.

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Religion keine Existenzberechtigung besitzen.69 Am Beispiel: Der Täter tötet Muslime, um gegen die aus seiner Sicht verfehlte Migrationspolitik der Bundesregierung zu protestieren. Auch hier wird das Tatopfer nicht als individuelle Person gesehen, sondern nur als Träger irgendwelcher Gruppenmerkmale (deren Vorliegen zudem seinem Einfluss weitgehend entzogen sind70). Anders scheint es sich freilich in den Fällen zu verhalten, in denen der Täter das Opfer tötet, weil es eine von ihm (= dem Täter) abgelehnte und bekämpfte politische Auffassung aktiv vertritt. Hier bildet personales Handeln des Opfers den Grund für den Tatentschluss, so dass dieses auf den ersten Blick gerade als Person in den Fokus des Täters gerät. Deshalb verneint eine Auffassung in solchen Konstellationen auch eine Missachtung des personellen Eigenwerts und als Konsequenz das Vorliegen niedriger Beweggründe.71 Das vermag jedoch nicht zu überzeugen. Personalität hat eine politische Dimension. Sie umfasst das Recht des Einzelnen, sich als Freier und Gleicher zu den Belangen des Gemeinwesens seine eigene Meinung zu bilden und für diese einzutreten.72 Bestimmt nun aber der Täter das Opfer zum Tod, weil aus seiner Sicht jemand, der einen bestimmten, von ihm abgelehnten politischen Standpunkt propagiert, über keine Existenzberechtigung verfügt und deshalb im politischen Meinungskampf zur Durchsetzung der eigenen Auffassung getötet werden darf, schließt er den Betreffenden aus dem Kreis der gleichberechtigten Teilnehmer an der politischen Meinungs- und Willensbildung aus. Er spricht ihm den Status einer politischen Person ab, die ein Recht auf das Eintreten für ihre eigenen politischen Überzeugungen besitzt; mit anderen Worten: er verweigert ihm die Anerkennung als politisch Gleicher73. Am Beispiel: Ein Rechtsextremist tötet zur Bekämpfung der von ihm abgelehnten Migrationspolitik der Bundesregierung einen Staatssekretär derselben, weil er der Auffassung ist, dass ein solcher „Volksverräter“ es nicht zu leben verdient. Damit drückt der Täter aus, dass das Opfer aufgrund seiner politischen Ansichten nicht zählt, wertlos ist, und man deshalb mit ihm machen kann, was man will. Darin liegt klarerweise eine Missachtung des personellen Eigenwerts 69

Zutreffend daher insoweit OGHSt 2, 179, 180 f. Die Einschränkung, dass die Merkmale dem Einfluss des Opfers weitgehend (und nicht vollständig) entzogen sind, wird hier gemacht, weil Nationalität und Religion zumindest in gewissem Umfang auch der persönlichen Entscheidung unterliegen. 71 In diesem Sinne ist wohl OGHSt 2, 179, 180 zu verstehen. 72 Wiederum reicht es für die hiesigen Zwecke, den Status der politischen Person schlicht als Resultat einer verfassungsrechtlichen Zuordnung von bestimmten grundlegenden politischen Rechten und Pflichten anzusehen. Zu einem sozialphilosophischen Versuch, einen Begriff der politischen Person zu entwickeln, der weitgehend unabhängig ist von umfassenden religiösen, philosophischen oder moralischen Lehren, s. Rawls (Fn. 8), S. 29 ff. Allgemein zur philosophischen Debatte über den Personenbegriff (mit eigenem Ansatz) Quante, Person, 2. Aufl. 2012; knapp Borsche, fiph Journal des Forschungsinstituts fu¨ r Philosophie Hannover, Nr. 5 (2005), 1. 73 Eine Bezugnahme auf die Anerkennungstheorie Hegels ist mit diesem Argument nicht impliziert. S. zu jener Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, Neubearb. 2014. Zum Topos der Anerkennung in der Moralphilosophie Honneth, ZphilF 1997, 25. 70

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des Opfers. Davon zu unterscheiden sind allerdings die Konstellationen, in denen das personale Verhalten des Opfers – beispielsweise in Gestalt einer bewusst provozierenden politischen Äußerung – zu einer menschlich noch irgendwie nachvollziehbaren tatauslösenden Gefühlsregung geführt hat. In einem solchen Fall ist das Mordmerkmal des niedrigen Beweggrundes zu verneinen, da der Täter dem Opfer hier nicht den Eigenwert als politisch Gleichem absprechen will. Wendet man diese Überlegungen auf die eingangs geschilderte Tötung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübke an, so kommt es zunächst darauf an, ob schlicht die flüchtlingspolitische Einstellung des Opfers den Anstoß zur Tat gegeben hat, oder die etwas zugespitzte, vom Beschuldigten als Provokation empfundene Erklärung, dass ein jeder, der sich mit den Grundwerten unserer Gesellschaftsordnung nicht identifizieren könne, die Freiheit besitze, jederzeit das Land zu verlassen. Träfe letzteres zu, stellte sich die Folgefrage, ob die Nachvollziehbarkeit der Gefühlsregung nicht schon aufgrund der langen Zeitspanne zwischen Äußerung (Oktober 2015) und Tat (Juni 2019) zu verneinen wäre. Zieht man hier die Rechtsprechung des BGH zum Provokationszusammenhang bei der Notwehr heran, wonach es eines engen zeitlichen Ursachenzusammenhangs bedarf,74 ist das klar zu bejahen. Denn nach Verstreichen eines gewissen Zeitraums kann erwartet werden, dass der Betroffene seine Emotionen unter Kontrolle bringt.75

VI. Fazit Die Frage, ob politische Tötungsmotive niedrige Beweggründe im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB darstellen, kann entgegen der Einheitlichkeitstheorie nicht pauschal beantwortet werden. Zu kurz gegriffen ist es aber auch, mit der herkömmlichen Differenzierungstheorie nach egoistischen und gemeinwohlorientierten Tatantrieben zu unterscheiden und nur die ersteren als niedrig zu klassifizieren. Vielmehr bedarf es einer multifaktoriellen Einzelfallbewertung. Neben den Aspekt des extremen Eigennutzes treten insbesondere die Faktoren der Missachtung des personellen Eigenwerts des Tatopfers und des Verstoßes des angestrebten politischen Ziels gegen die zentralen verfassungsrechtlichen Ordnungsprinzipien. Eine Missachtung des personalen Eigenwerts liegt dabei auch dann vor, wenn das Opfer allein aufgrund seiner politischen Überzeugung zum Tod bestimmt wird.

74 75

BGH NStZ 2006, 332, 333; NStZ-RR 2011, 74, 75; NStZ 2016, 84, 86. MüKo-Erb, StGB, 3. Aufl. 2017, § 32 Rn. 237.

The Challenge of Brain Death for the Sanctity of Life Ethic1 By Peter Singer

I. Introduction In 1968, Black’s Law Dictionary defined death as follows: The cessation of life; the ceasing to exist; defined by physicians as a total stoppage of the circulation of the blood, and a cessation of the animal and vital functions consequent thereupon, such as respiration, pulsation, etc.

Twenty years later, most of the world had accepted, with surprisingly little controversy, a new way in which one could be dead, even if one’s heart was beating, one’s blood was circulating, and “animal and vital functions,” including breathing and having a pulse, continued. That new way was defined in terms of the irreversible cessation of all functions of the entire brain, including the brain stem. One reason why this view gained acceptance without controversy was that the new definition was generally presented as an improved scientific understanding of the nature of death, and not as taking a new stance on an ethical issue. This was consistent with an oft-cited statement made by Pope Pius XII at a conference of anesthesiologists, held in 1957, at a time when respirators were beginning to be used. Pius XII was asked how a doctor should determine that a patient on a respirator is dead. He reiterated the Church’s view that death occurred when the soul separated from the body; but, aware that this was not of great practical help to the doctors in his audience, he added: “It remains for the doctor, and especially the anesthesiologist, to give a clear and precise definition of ‘death’ and ‘the moment of death’ of a patient who passes away in a state of unconsciousness.”2 Over the thirty years since brain death became widely accepted as a criterion of death, a few bioethicists and physicians have raised questions about it, but public discussions have been rare. The case of Jahi McMath, could change that, and threaten the broad consensus that when a human being’s brain has irreversibly ceased to function, that human being is dead. In 2013, at the age of 13, Jahi underwent what should 1

This paper originally appeared, in modified form, in Ethics & Bioethics (in Central Europe), 8/2018, 153 – 165. 2 “The Prolongation of Life: An Address of Pope Pius XII to International Congress of Anesthesiologists”, The Pope Speaks, vol. 4, 1957, p. 396.

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have been a routine tonsillectomy. After the operation she bled excessively, and the bleeding was not stopped. Jahi was placed on a ventilator, and two days later, declared brain-dead. A social worker urged her family to take her off the ventilator, and to consider donating her organs. Her mother, Nailah McMath, did not understand how she could be dead when her skin was still warm and she was occasionally moving her arms, ankles and hips – movements that the hospital doctors said were only a spinal reflex. In any case, the family insisted on first finding out what had happened to her before taking her off the ventilator. (The family is African American, and suspected that a white patient would have received better care.) A lawyer agreed to take their case on a pro bono basis. The coroner issued a death certificate for Jahi, but the family, using funds raised online, took what was then officially a corpse, and flew it (or her), attached to a portable respirator, to New Jersey, where state law forbids hospitals from treating a patient with a beating heart as dead if the family has religious objections to brain death. Nailah, a Christian, said she did have such objections. Jahi was admitted to St Peter’s University Hospital, a Roman Catholic hospital in New Brunswick. In newspapers and on television, leading American bioethicists criticized both the family’s actions and the hospital’s decision to admit Jahi. Lawrence McCullough said that the hospital’s decision was “crazy.” Art Caplan managed to say both that “Keeping her on a ventilator amounts to desecration of a body” and that “There isn’t any likelihood that she’s gonna survive very long.” Robert Truog, on the other hand, was troubled by criticisms of the family, subsequently telling Rachel Aviv of the New Yorker: “I think that the bioethics community felt this need to support the traditional understanding of brain death, to the point that they were really treating the family with disdain, and I felt terrible about that.” After eight months at St Peter’s, Jahi was discharged from hospital: the diagnosis on the discharge was brain death. But her family had not given up. They rented a nearby apartment where she remained on a ventilator and was fed through a tube for four years after she had been officially declared dead. In June 2018 her liver failed, her heart stopped, and her family accepted that she had died. A lawsuit that the family had brought against the California hospital where the tonsillectomy was performed was settled out of court. In this article, I update my earlier writings on the definition of death to show that there are good reasons for rejecting the prevailing view of brain death.3 A second aim is to show that rejecting brain death raises the stakes in the debate between those who believe in the sanctity of human life, and those who hold that the quality of a life must affect its value. I conclude by pointing to possible ways forward. The relevance of this essay to the discussion about the sanctity of human life makes it fitting for this volume. It takes me back to June 1989, when I first saw 3 See especially Peter Singer, Rethinking Life and Death, Text, Melbourne, 1994 and Oxford University Press, Oxford, 1995, Chs. 1 – 4.

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the name ”Reinhard Merkel.” I had been invited to Marburg to speak at a symposium organized by Lebenshilfe, the largest German association of the parents of intellectually disabled infants. Disability groups as well as conservative supporters of the sanctity of human life protested against the invitation, on the grounds that I favour allowing parents to choose euthanasia for severely disabled newborn infants. The protests received wide coverage in the German media, which almost unanimously condemned me and my views, while giving its readers a caricature of those views that suggested that I was some kind of neo-Nazi. The invitation to me was withdrawn, and in the end, the entire symposium was cancelled. In this chorus of condemnation, there appeared one beacon of reason: ”Der Streit um Leben und Tod,” by Reinhard Merkel.4 The question of how to act with regard to infants with disabilities that cause them to suffer and doom them to a short life is, Merkel argued, more complex than most people think. After a lengthy and very fair discussion of my views, he said that the appropriate response, for those who disagreed with me, was not to silence me, but to debate me and attempt to show why I was wrong. Fortunately, over the ensuing decades, that discussion has taken place, in Germany as elsewhere, thanks to Merkel and others who support his approach to bioethics and to freedom of thought and discussion.

II. The Origins of the New Definition of Death The first step towards the development of a new definition of death can be traced to Henry Beecher, a distinguished professor of medicine at Harvard University and chair of a committee that oversaw the ethics of experimentation on human beings. In 1967 he wrote to Robert Ebert, Dean of the Harvard Medical School, proposing that the committee should take up the issue of the definition of death. This idea had emerged, he told Ebert, from conversations with Joseph Murray, a surgeon at Massachusetts General Hospital and a pioneer in kidney transplantation. The need for further consideration of the definition of death arose, Beecher wrote, from the fact that ”Every major hospital has patients stacked up waiting for suitable donors.”5 The issue gained added urgency when Dr Christiaan Barnard carried out the world’s first heart transplant. Shortly thereafter Ebert set up the Harvard Brain Death Committee, under Beecher’s chairmanship. It published its report in the Journal of the American Medical Association in August 1968. The report began as follows: Our primary purpose is to define irreversible coma as a new criterion for death. There are two reasons why there is a need for a definition: (1) Improvements in resuscitative and supportive measures have led to increased efforts to save those who are desperately injured. Sometimes 4 Reinhard Merkel, Der Streit um Leben und Tod. Die ZEIT, 26/1989, https://www.zeit.de/ 1989/26/der-streit-um-leben-und-tod [accessed Nov 28th, 2019]. 5 Henry Beecher to Robert Ebert, 30 October 1967. The letter is in the Henry Beecher Manuscripts at the Francis A. Countway Library of Medicine, Harvard University, and is quoted by David Rothman, in: Strangers at the Bedside, Basic Books, New York, 1991, pp. 160 – 161.

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these efforts have only a partial success so that the result is an individual whose heart continues to beat but whose brain is irreversibly damaged. The burden is great on patients who suffer permanent loss of intellect, on their families, on the hospitals, and on those in need of hospital beds already occupied by these comatose patients. (2) Obsolete criteria for the definition of death can lead to controversy in obtaining organs for transplantation.

Nowhere in the Harvard committee’s final report does the committee claim that the new definition of death reflects some scientific discoveries about, or improved scientific understanding of, the nature of death. It was, instead, because the committee saw the status quo as imposing great burdens on various people and institutions affected by it, including preventing the proper use of the ”life-saving potential” of the organs of people in ”irreversible coma” that the committee recommended the new definition of death. But the judgment that it is good to avoid these burdens, and to ensure that organs can be used, is an ethical judgment, not a scientific one. The Harvard committee’s report was influential. In the decade following its publication, a number of U.S. states changed their legal definition of death so that, if tests showed that the brain had ceased to function, patients could be declared dead, despite the fact that their hearts were still beating, and their blood circulating. That meant that a patient with a beating heart but no brain function might be declared in one state, but if moved to another state would legally be alive. In 1981 the United States President’s Commission for the Study of Ethical Problems in Medicine took up the problem of the definition of death. Its report, Defining Death, recommended uniform legislation that would enable people to be declared dead if tests established the irreversible cessation of all brain function.6 The report was endorsed by the American Medical Association, and subsequently every state and territory of the U.S. adopted legislation recognizing that a person whose brain has irreversibly ceased to function is dead.

III. Death as the Irreversible Loss of Integrated Organic Functioning A proponent of the view that brain death really is death might argue that the Harvard committee made the right recommendation for the wrong reasons. What nonethical reasons would there be for such a change? A typical answer is that the introduction of modern methods of intensive care has exposed a certain vagueness in the concept of death, and a new account is needed to clear this up. The question is whether this could be done without the intrusion of ethical judgment. The President’s Commission said that brain death is the death of the human organism because without brain function, the body is no longer an integrated whole, 6 President’s Commission for the Study of Ethical Problems in Medicine Defining Death: A Report on the Medical, Legal and Ethical Issues in the Determination of Death, U.S. Government Printing Office, Washington, D.C., 1981.

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but just a collection of cells and organs. In this they were following two prominent Roman Catholic bioethicists, Germain Grisez and Joseph Boyle, who, in Life and Death with Liberty and Justice, had argued that death is to be understood in theoretical terms as ”the permanent termination of the integrated functioning characteristic of a living body as a whole …”7 Since Defining Death was published, however, it has become clear that integrated organic functioning can persist despite the irreversible cessation of all brain functions. Already in 1998, a literature search conducted by Alan Shewmon, then professor of pediatric neurology at the University of California, Los Angeles, Medical School, found 175 cases of brain dead patients ”surviving” for at least one week, 80 for at least two weeks, 44 for at least four weeks, 20 for at least two months, and seven for at least six months. These were all cases in which there was a formal diagnosis of brain death made by a physician, usually including at least one neurologist or neurosurgeon. Shewmon notes that many examples are of ”unequivocal BD [brain death] confirmed by multiple clinical examinations, EEGs, intracranial blood flow, and necropsy findings.” Moreover in many of these cases, treatment was eventually withdrawn. The number of patients ”surviving” for long periods would have been greater still if treatment had been maintained in all cases. As Shewmon says, the diagnosis of brain death is nearly always ”a self-fulfilling prophecy” as it is followed by organ harvesting or the discontinuation of support.8 Occasionally, however, a family will insist on support being maintained even after a diagnosis of brain death, as Jahi McMath’s mother did. Another such case has been described by Shewmon. The patient, known as ”TK” contracted a form of meningitis at the age of four and was declared dead. Shewmon visited him when he was 18 years old. He described the case as follows: Cerebral edema was so extreme that the cranial sutures split. Multiple EEGs have been isoelectric, and no spontaneous respirations or brain-stem reflexes have been observed over the past 14 1/2 years. Multimodality evoked potentials revealed no intracranial peaks, magnetic resonance angiography disclosed no intracranial blood flow, and neuroimaging showed the entire cranial cavity to be filled with disorganised membranes, proteinaceous fluids and ghost-like outlines of the former brain.9

Shewmon examined TK and documented everything photographically. He concluded: ”There is no question that he became ”brain-dead” at age 4; neither is there any question that he is still alive at age 18 1/2.” TK “lived” – if that is the right word – at home on a ventilator, fed by a gastrostomy tube. His heart continued to beat for another six years after Shewmon wrote the account just quoted. During the 7 Germain Grizez/Joseph Boyle, Life and Death with Liberty and Justice, University of Notre Dame Press, Notre Dame, Indiana, 1979, p. 77. For a similar view, see David Lamb, Death, Brain Death and Ethics, London, Croom Helm, 1985. 8 D. Alan Shewmon, “Chronic ‘Brain Death’: Meta-Analysis and Conceptual Consequences”, Neurology 51 (1998) 1538 – 1545; see also Correspondence, Neurology 53 (1999) 1369 – 1372. 9 D. Alan Shewmon, “Chronic ‘Brain Death.’”

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20 years he was without brain function, he grew, overcame infections, and healed wounds.10 In cases like TK exhaustive tests have shown that the brain no longer exists, and there can be no brain function at all. Such cases force us to reconsider the assumption on which Grisez and Boyle, as well as the President’s Commission, rely for their acceptance of brain death: that a functioning brain is a necessary condition for an integrated organism. Instead, Shewmon concludes, ”The body’s integrative unity derives from mutual interaction among its parts, not from a top-down imposition of one ”critical organ” upon an otherwise mere bag of organs and tissues.” How this is possible, and what parts are interacting to maintain this integrative unity, is an interesting scientific question, but is beyond the scope of this paper.11 The development of Shewmon’s own views is worth a short digression. A Roman Catholic, in 1989 he presented a defence of a version of ”whole-brain death” to the Pontifical Academy of Sciences. Subsequently he rejected all brain-based formulations of death. In this he is joined by another leading Roman Catholic scholar in this area, John Finnis, Professor of Law at the University of Oxford, and by the former archbishop of Cologne, Joachim Cardinal Meisner, who in 1994 declared that ”the identification of brain death with death of the person is from a Christian point of view no longer justifiable.”12 More recently, Shewmon has added another complication to the discussion. He examined Jahi McMath, and also watched videos taken by her family in which she appears to respond, with a frequency said to be beyond chance, to spoken requests to raise a finger or make other movements. His conclusion is that at the time when Jahi was declared dead, she did fulfil the requirements of brain death, but “With the passage of time, her brain has recovered the ability to generate electrical activity, in parallel with its recovery of ability to respond to commands.” Jahi is therefore now, in his view, “an extremely disabled but very much alive teenage girl.”13 The problem with this statement is that brain death is defined as the irreversible cessation of all brain functions, so it is logically impossible for Jahi to have been dead in accordance with this definition, and for her brain to then recover some function. If her brain now 10 D. Alan Shewmon, “‘Brain-stem death’, ‘brain death’ and death: a critical re-evaluation of the purported equivalence”, Issues in Law & Medicine 14 (2) 1998, 125 – 145; S. Repertinger et al., “Long Survival Following Bacterial Meningitis-Associated Brain Destruction,” Journal of Child Neurology, 21 (7) 2006, 591 – 595. 11 For further discussion see D. Alan Shewmon, “The Brain and Somatic Integration: Insights into the standard biological rationale for equating ‘brain death’ with death”, Journal of Medicine and Philosophy, 26(5) 2001, 457 – 478. 12 John Finnis expressed his view in unpublished comments on a paper I gave to the Philosophy Society, Oxford University, 14 May 1998; for Joachim Cardinal Meisner, see “Erklärung des Erzbischofs von Köln zum beabsichtigten Transplanationsgesetz” [Declaration of the Archbishop of Cologne on the proposed transplantation law], Ethik Med, vol. 6, pp. 189 – 207 (1994), cited by Shewmon, “Brain Stem Death”. 13 Quoted in Rachel Aviv, “What Does It Mean To Die?” New Yorker, February 5, 2018.

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has some function, she was never dead. Shewmon may have meant that at when Jahi was declared dead, the tests standardly used to establish brain death were correctly carried out, and yielded the readings standardly taken to mean that all brain functions have irreversibly ceased. If that is the case, however, it shows only that the standard tests are not a completely reliable indicator of brain death. Once it became clear that the integrating function of the brain can be replaced by a combination of medical technology and good nursing care, the claim that the irreversible cessation of all brain function means the death of the organism was on shaky ground. We can see this In the case of patients with ”locked-in syndrome”, caused by severe injury to the brain stem that has spared other parts of the brain. Even though the brain has not lost all functions, it has lost its integrative function, because it can no longer communicate with the body below the brain stem. Instead, machines take over virtually all of the integrating functions of the brain. Theoretically, at least, machines could take over all of the integrating functions. Yet patients with locked-in syndrome are still conscious. Some are able to show their awareness by blinking an eye in response to questions. Others may not be.14 It would be absurd to say that because the integrative functions of the brain have been taken over by machines, and the patient is therefore ”a mechanical, not an organic system”, this fully conscious patient is dead!

IV. President Bush’s Council on Bioethics Enters the Debate In 2008, the President’s Council on Bioethics, a conservative-leaning body appointed by President George W. Bush to replace its more liberal predecessor, took up the question of brain death, noting controversy about the view that “total brain failure” (as the Council refers to brain death) is the death of the human being. On the basis of evidence from Shewmon and others, the Council rejected the view that total brain failure means the end of an integrated organism. It might therefore seem that the Council must reject brain death itself. After all, Shewmon concluded, as the Council correctly notes, that to hold that the condition of the brain determines the death of the organism is a mistake.15 Nevertheless, the Council did not recommend a return to the traditional view that death occurs when the heart stops beating and the blood ceases to circulate. Instead a majority of its members found a new rationale for supporting the view that brain death is the death of the organism. The majority proposed that we take note of the fact that living organisms “engage in commerce with the surrounding world.”16 The “commerce” on which the majority focused most attention, and regarded as most critical, is breathing: 14 Jeff McMahan drew my attention to the significance of locked-in syndrome in this context. See his “Brain Death, Cortical Death, and Persistent Vegetative State”, in: Helga Kuhse/Peter Singer (eds.), A Companion to Bioethics, Blackwell, Oxford, 1988. 15 Controversies in the Determination of Death, p. 54–55. 16 President’s Council on Bioethics, Controversies in the Determination of Death, Washington, DC, December 2008, www.bioethics.gov, p. 60.

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As a vital sign, the spontaneous action of breathing can and must be distinguished from the technologically supported, passive condition of being ventilated (i. e., of having one’s “breathing” replaced by a mechanical ventilator). The natural work of breathing, even apart from consciousness or self-awareness, is itself a sure sign that the organ-ism as a whole is doing the work that constitutes – and preserves – it as a whole. In contrast, artificial, non-spontaneous breathing produced by a machine is not such a sign. It does not signify an activity of the organism as a whole. It is not driven by felt need, and the ex-change of gases that it effects is neither an achievement of the organism nor a sign of its genuine vitality.17

The idea that spontaneous breathing could be used as a criterion for deciding whether someone is dead or alive faces several objections. Most obviously, many patients placed on respirators have lost the ability to breathe spontaneously. They will, after an interval, regain it, and walk out of hospital. The Council is aware of this, of course, and sees only the irreversible loss of the capacity as a sign of death. But people with locked-in syndrome may have irreversibly lost the ability to breathe spontaneously, and yet be fully conscious. Again, the Council acknowledges this, and adds that “other vital capacities might still be present.” The report continues: For example, patients with spinal cord injuries may be permanently apneic or unable to breathe without ventilatory support and yet retain full or partial possession of their conscious faculties. Just as much as striving to breathe, signs of consciousness are incontrovertible evidence that a living organism, a patient, is alive.18

The Council therefore decides, though with some dissenting members, to stay with brain death, not because this signifies the death of the integrated organism, but because “total brain failure” indicates the irreversible absence of both spontaneous breathing and consciousness. This is a desperate attempt to reach a much-desired conclusion. Let’s first see why the Council was so keen to preserve the definition of death in terms of brain death, and then see why its attempt to do so fails. The Council’s report contemplates the possible conclusion that brain death is not the death of the organism, and the consequent we need to return to defining death in terms of the cessation of heartbeat and circulation of the blood. What practical difference would this make? There are two possible ways of responding to this situation. One is that we preserve the rule that organs may be taken from dead donors, and therefore do not take organs from donors whose hearts are still beating, even if their brains have irreversibly ceased to function. Because some organs, including the liver and the heart itself, are subject to rapid damage once the heart stops, this is likely to mean that significantly fewer people would benefit from organ transplants, and many lives now saved would be lost. In addition, the Council expresses concern that the need to certify a patient as dead as soon as possible after the heart stops beating would have an adverse impact on the care of dying patients whose hearts stop, but perhaps could be resuscitated. 17 18

Controversies in the Determination of Death, p. 63. Controversies in the Determination of Death, p. 64.

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The other possible way of responding to the return to the traditional definition of death is to draw on the present criteria for ascertaining total brain failure in order to determine, not that a patient is dead, but that the patient is eligible to be an organ donor. Such patients would be eligible because (and here I use my own words, not those of the Council) their lives are over, not as organisms, but as conscious beings. They will never again experience anything. In these very specific circumstances, continuing their lives beyond this point is of no further benefit to them. The Council is aware of the attractions of this view. It requires no questionable arguments defending a new concept of death, and it does not force us to reject or significantly hamper the practice of organ donation. Nevertheless, the Council finds this view unacceptable on ethical grounds: … this solution is deeply disturbing, for it embraces the idea that a living human being may be used merely as a means for another human being’s ends, losing his or her own life in the process. For good reason, many recoil from the thought that it would be permissible to end one life in order to obtain body parts needed by another… abandoning the “dead donor rule” would entail dismantling the moral foundations of the practice of organ donation.19

In short, the Council knows that if organs cannot ethically be removed from donors with beating hearts, then many people whose lives could be saved by organ transplants will die; but the Council nevertheless believes that it is ethically unacceptable to remove vital organs from living human beings in order to benefit others. No wonder that most members of the Council were desperate to find a basis for retaining a definition of death that includes total brain failure. A strong desire to reach a pre-determined conclusion often leads to poor reasoning. That applies to the Council’s stance that spontaneous breathing, but not assisted breathing, is a sign of life – except when it isn’t, for example when there is consciousness in the absence of spontaneous breathing. This addition to the initial selection of spontaneous breathing reveals that the Council has been forced to patch together from disparate elements its account of the difference between life and death. As Albert Garth Thomas, an anesthesiologist with qualifications in philosophy, notes in his discussion of the Council’s report, this conjunction “marks their analysis as ad hoc and unconvincing.” Thomas also points out that “Just how one would understand spontaneous respiration as the epitome of human life is difficult to grasp.” That’s because breathing is no more crucial to our normal lives than many other functions, such as those of the kidneys, liver, and pancreas.20 These organs too could be described as “engaged in commerce with the surrounding world” and they can continue to operate spontaneously after spontaneous breathing has ceased. Why is their spontaneous operation not enough to show that a patient is alive?

19

Controversies in the Determination of Death, p. 17. Albert Garth Thomas, “Continuing the Definition of Death Debate: The Report of the President’s Council on Bioethics on Controversies in the Definition of Death,” Bioethics 26 (2012) pp. 101 – 107, at p. 106. 20

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As we have seen, the Council sought to avoid a return to the traditional definition of death. It rejected the alternative of abandoning the “dead donor rule” on the grounds that this would “dismantle” the moral foundations of the practice of organ donation. That is not so; at most, it would amend the moral foundations of that practice, and even that claim presupposes that these moral foundations have the Kantian basis described in this passage. Historically speaking, this presupposition is highly dubious. As we saw earlier, the moral foundations of the initial stimulus for the change in the definition of death, and thereby for the development of the modern practice of organ transplantation, seems to have been much closer to utilitarian principles than to Kantian ones. One might, of course, accept, as a matter of historical fact, that the Harvard committee was thinking upon broadly utilitarian lines, and yet deplore this, and seek to persuade current practitioners that the only defensible moral foundation of the practice is Kantian. The more significant question, however, is whether the Kantian objection to using living, but irreversibly brain-dead human beings as organ donors, is valid. In my view, it is not. Whatever Kant may have meant by his famous statement that we should treat others “never merely as a means to an end, but always at the same time as an end,” the principle is plainly indefensible unless it includes, in the idea of treating someone “merely as a means” the proviso that the person did not freely and voluntarily consent to being so used. Otherwise, why is not mailing a letter wrongly using the people who collect, sort and deliver the mail as mere means? The standard Kantian answer to this obvious objection is that postal employees freely consent to do their work. Hence the work is an end, for them, and there is no wrong-doing in mailing a letter. But organ donors also consent, prior to their death, at least in countries that have “opt-in” systems of donation, as the United States does. It is also arguable that in “opt-out” systems, people who do not opt out are giving implicit consent, as long as the opportunity to opt out is well-known to everyone and easily accessible. It might be said that under either opt-in or opt-out systems, donors consent for their organs to be taken after their death, but if we abandon the dead donor rule, the organs will be taken when they are not dead. If that is the concern, then the problem that the President’s Council finds so morally fundamental could easily be overcome. All that is necessary is to rephrase the question potential donors are asked, so that they are asked to consent to organs being taken after irreversible total brain failure, with no hope of any recovery of consciousness. We could then see what proportion of those currently willing to be organ donors would continue to be willing to donate under the new conditions. My hope is that this change would not cause a significant drop in the number of donors, as long as they received information about the irreversible nature of the condition that they would be have to be in before they could be considered as a donor.

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V. The Significance of Irreversible Unconsciousness We have seen that the Harvard committee thought that people in an “irreversible coma” should be regarded as dead. We have also noted the reasons the Harvard committee gave for this change. It was, in large part, because of the good consequences that would flow from this change, for the families of the person in the irreversible coma, for the hospitals, and for the potential organ recipients. All of these reasons apply not only to patients whose brains have totally and irreversibly ceased to function, but also to patients who have irreversibly lost all capacity for consciousness. Why then did the Harvard committee limit its concern to those with no brain activity at all? One reason may be that in 1968, the only form of “irreversible coma” that could be reliably diagnosed – with no possibility of a patient being declared dead and then “waking up” – was that in which there was no discernible brain activity at all. Another possible reason for the committee redefining death to cover only those with no brain activity at all is that if the respirator is removed from such patients, they stop breathing and so will soon be dead by anyone’s standard. People in a persistent vegetative state, on the other hand, continue to breathe without mechanical assistance. So if the Harvard committee had included in its definition of death people who are in an irreversible coma but still have some brain activity, they would have been suggesting that people could be buried while they are still breathing. Technology has, in many cases, eliminated the first of these reasons. Admittedly, in some cases of patients in a long-term persistent vegetative state, we still lack any completely reliable means of saying when recovery is impossible. In other cases, however, new forms of brain imaging can establish that the parts of the brain associated with consciousness have ceased to exist, and hence that consciousness cannot return. The problem of declaring patients dead when they are breathing spontaneously, however, remains. Several writers have urged that the solution to the present unsatisfactory state of the definition of death is to draw on our improved diagnostic abilities to move on to a definition of death in terms of the irreversible loss of consciousness. Among those defending this view are Michael Green and Daniel Wikler, John Lizza, Calixto Machado, Jeff McMahan, and Robert Veatch.21 21 See, for example: Tristram Engelhardt, Jr., “Defining death: A philosophical problem for medicine and law,” American Review of Respiratory Disease 112 (1975), 587 – 90; Robert Veatch, “The whole-brain-oriented concept of death: An outmoded philosophical formulation.” Journal of Thanatology 3 (1975) 13 – 30; Michael Green/Daniel Wikler, “Brain Death and Personal Identity”, Philosophy and Public Affairs, 9 (1980), 105 – 133; Calixto Machado, “A New Definition of Death Based on the Basic Mechanism of Consciousness Generation in Human Beings,” in: C. Machado (ed.), Brain Death: Proceedings of the Second International Symposium on Brain Death, C. Elsevier, Amsterdam, 1995; Jeff McMahan, “The Metaphysics of Brain Death”, Bioethics 9 (1995) 91 – 126; John Lizza, Persons, Humanity, and the Definition of Death, The Johns Hopkins University Press, Baltimore, 2006; John Lizza, “Defining Death: Beyond Biology, Diametros 55 (2018), 1 – 19 (with commentaries and a response, pp. 20 – 90).

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The significance of consciousness, and its link with the brain, answers the fundamental question – “why the brain?” – which supporters of the whole brain death criterion have never been able to answer satisfactorily. The death of the whole brain is the end of everything that matters about a person’s life, but so too is the death of those parts of the brain required for consciousness. So the definition of death in terms of the irreversible loss of consciousness means that the criterion for death is the irreversible cessation of function of what is variously referred to as the cortex, the cerebral hemispheres, or the cerebrum. To avoid the need to define this more precisely, I shall use the expression “the higher brain” to refer to whatever parts of the brain are required for consciousness. We have already seen that even total brain failure is not the same as the death of the organism. Given that, it is obviously going to be difficult to argue that an irreversible loss of consciousness is equivalent to the death of the human organism. Warm, breathing human beings, with their heart beating and their blood circulating, are not dead, whether the breathing is spontaneous or mechanically assisted. “Dead” is a term applied much more widely than human beings, or conscious beings. Living things with no brain at all, let alone a higher brain, can be alive, and they can die. Jeff McMahan’s defence of the higher brain account of the death of human beings is more philosophically sophisticated than most, and worth our attention for that reason. McMahan takes his cue from Mark Johnston’s assertion that we are not “essentially human organisms”22 and uses this claim to distinguish the death of the person from the death of the organism. Our survival as persons, McMahan claims, requires “continuity of mind”, and so our continued existence, for all practical purposes, “requires the preservation of various mental powers or capacities in the areas of the brain in which consciousness and mental activity occur.”23 Thus, unlike organisms without minds, we can die while our body is still alive. McMahan recognises that the category of “organisms with minds” is not limited to the human species, nor applicable to all members of that species. A dog may die while its body is still living, and an anencephalic human infant is a living human organism without a mind. On this view, the grieving family of the warm, breathing body in the hospital ward are right to think that they are not facing a dead body. But they are also right if they understand that the person they loved is gone forever. In McMahan’s terms, that person is dead.

VI. The Centrality of Ethics McMahan’s proposal has the merit of not denying that human organisms die in the same sense that plants die. Hence it does less violence to the common conception of death than other defences of a move to a higher brain definition of death. His view 22

Mark Johnston, “Human Beings”, Journal of Philosophy, 84 (1987) pp. 75 – 76. McMahan, p. 111; cf. Michael Green/Daniel Wikler, “Brain Death and Personal Identity”, Philosophy and Public Affairs, 9 (1980). 23

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helps us to conceptualise what is going on when the higher brain has been destroyed and the body continues to live, but he acknowledges that it does not resolve the ethical questions. Is it wrong to cut the heart out of a anencephalic infant, which is a living human organism but can never be a person? Or out of an irreversibly unconscious human organism who has been, but can never again be, a person? The existence, during the past three or four decades, of the definition of death in terms of brain death has, quite literally, made it possible for Christians to get away with what would, under the earlier traditional definition of death, have been murder – an without abandoning their support for the sanctity of all human life! Moreover, if brain death is not the death of the human organism, it is hard to see how defenders of the equal value of all human life can support the removal of respirators from braindead patients with beating hearts. Roman Catholic teaching holds that extraordinary treatment is not obligatory when it imposes a disproportionate burden on the patient or others – disproportionate, that is, in terms of the benefits gained. This doctrine allows Christians to discontinue extraordinary means of life-support that are burdensome to a patient or demand scarce medical resources, and the burden on the patient or the use of the resources is disproportionate to the benefit that will be achieved. This may be the case when the patient is suffering and will, in any case, live for only a short time, or when the medical resources could save other patients who will live much longer. Now consider a brain-dead human being who, like TK, could live another 10 or 15 years, cared for at home by his family at relatively modest cost. In what way are the measures taken to keep him alive disproportionate to the benefit of an extra 10 years of life? There is no suffering. Admittedly, there is also no joy, nor any other experiences at all. But to say that the extension of human life is not a significant benefit because it brings no conscious experiences of any sort, and therefore the life of the human being need not be prolonged, is to invoke a quality-of-life judgment as the basis for discontinuing treatment. It is in direct contradiction to the words of Pope John Paul II in Evangelium Vitae: “As far as the right to life is concerned, every innocent human being is absolutely equal to all others…” For those who take this view, if brain dead human beings can be kept alive for many years without the use of scarce medical resources, the distinction between “ordinary” and “extraordinary”, or between “proportionate” and “disproportionate” means of care cannot be used to justify withdrawing medical support from them. If, on the other hand, we reject the view that all human life is of equal value, we have another ethical option. We could accept the traditional conception of death – thus agreeing, in effect, with Shewmon and Finnis on this question – but reject their ethical view that it is always wrong intentionally to end the life of an innocent human being. We could then regard it as justifiable to remove organs for transplantation, when there has been an irreversible loss of consciousness, as long as the donor gave the appropriate consent, applicable to this situation. We would then achieve the same practical outcome as we would achieve by redefining death in terms of the irreversible loss of consciousness. To return to the language used by the Harvard committee, we would be able to relieve the burden on families, hospitals and those in need

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of hospital beds, not only when the patient’s brain has wholly ceased to function, but also when the patient’s higher brain has irreversibly ceased to function. We would be able to do this without having had to finesse the definition of death in order to achieve our objective. Last but by no means least, we would have made our ethical judgments transparent, thus advancing public understanding of the issues involved rather than obscuring it. I suggested this approach many years ago, in Rethinking Life and Death. More recently, Franklin Miller and Robert Truog have defended it with much greater thoroughness in their book Death, Dying, and Organ Transplantation.24 The most troubling objection to it is a practical one: no matter how logically compelling the proposal may be, it is so out of touch with political reality that it stands no chance of success. After all, it is a head-on challenge to the traditional doctrine of the sanctity of all human life. Better, some will say, to do our best to push back the extent of that doctrine’s reach, than to hurl ourselves vainly against its citadel. Better, in other words, to maintain the idea that brain death really is death, and indeed to try to go beyond whole brain death, by arguing that we die when we irreversibly lose consciousness.

VII. Conclusion We are left with two options that preserve and extend the possibility of organ transplantation without using anyone without their consent, or violating anyone’s human rights. We could hold that conscious beings die when they irreversibly lose consciousness, and that this, and not the death of the organism, is what makes permissible the removal of organs from a consenting donor. Alternatively, we could return to the traditional definition of death in terms of the cessation of heartbeat and the stoppage of the circulation of the blood, but hold that it is not wrong to remove organs from living human beings who have irreversibly lost consciousness, and have consented to the donation of their vital organs in such circumstances. Both of these options avoid the misconceptions involved in the view that organs can only be taken from dead donors, and that the test of death for a donor with a beating heart is the irreversible loss of all brain function. I will not here attempt to choose between these two options, for they converge on the crucial point: the existence of a living human organism is not a sufficient reason for ruling out the removal of vital organs from that organism.

24

Oxford University Press, New York, 2011.

„Hirntod und kein Ende“ – nach zwanzig Jahren Von Dieter Birnbacher

I. Einleitung: Kein Ende Nimmt man sich heute erneut Reinhard Merkels Aufsatz „Hirntod und kein Ende“ von 1999 vor,1, ist darin ein Unterton der Ungeduld unüberhörbar – Ungeduld über die Hartnäckigkeit, mit der im Vorfeld wie im Gefolge des Transplantationsgesetzes von 1997 über das Hirntodkriterium gestritten wurde –, aber auch die Einsicht, dass es weiterer Diskussion bedarf, um zu einer befriedigenden Klärung und womöglich Einigung über die Kriterien der Todesfeststellung zu kommen. Zwanzig Jahre später – in dem Jahr, in dem die Bedingungen für die Entnahme durchbluteter Organe post mortem möglicherweise neu bestimmt werden –, hat sich an der wechselseitigen Verhakelung der gegensätzlichen Auffassungen zur Todesdefinition wenig geändert. Während die so genannte „Hirntoddefinition“ in so gut wie allen Ländern, in denen Transplantationen durchgeführt werden, in die Rechtsordnungen eingegangen ist und der Praxis der Todesfeststellung zugrunde gelegt wird, ist diese Definition in großen Teilen der Welt unter Laien wie unter Angehörigen der medizinischen und juristischen Profession weiterhin umstritten. Selbst die intensive Befassung des Deutschen Ethikrats mit der Frage führte lediglich zu einem gespaltenen Votum,2 wobei bemerkenswert war, dass sich die Mehrheit der ärztlichen Mitglieder dieses Gremiums dem Minderheitsvotum angeschlossen hat, das gegen eine Gleichsetzung von Hirntod und Tod argumentiert. Wo liegt der Kern der Kontroverse? Was ist der Streitpunkt, an dem sich die Debatte vor und nach ihrem „revival“3 festgebissen hat? Dieser Punkt gerät leicht aus dem Blick angesichts der Vielschichtigkeit der Fragen, die in der Debatte strittig sind, aber auch angesichts der Tendenz vieler in der Medizin geführter Diskussionen, sich auf erkenntnisbezogene Fragen zu beschränken und quasi verifikationistisch die Frage nach den Kriterien der Feststellung des Todes an die Stelle der Frage danach zu setzen, was es eigentlich ist, was damit festgestellt wird. 1 Merkel, Reinhard, Hirntod und kein Ende. Zur notwendigen Fortsetzung einer unerledigten Debatte. Jura 1999, S. 113 – 122. 2 Deutscher Ethikrat, Hirntod und Entscheidung zur Organspende. Stellungnahme. Berlin 2015. 3 Müller, Sabine, Revival der Hirntod-Debatte: Funktionelle Bildgebung für die HirntodDiagnostik. Ethik in der Medizin 22 (2010), S. 5 – 17.

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Zur Herauspräparierung des Kerns erweist sich die Lektüre von Merkels Aufsatz auch heute als ausgesprochen hilfreich. Insofern werde ich mir im Folgenden die Freiheit nehmen, sowohl einige seiner expliziten Thesen als auch einige seiner impliziten Annahmen aus der Perspektive der Medizinethik systematisch Revue passieren zu lassen und, wo immer nötig, kritisch zu kommentieren und zu ergänzen.

II. Der Hirntod – Kriterium oder (auch) Definition? Eine der ältesten und bewährtesten analytischen Instrumente zur Klärung der Frage nach dem Verhältnis, in dem der Hirntod, verstanden als endgültiger und irreversibler Ausfall der gesamten Hirnfunktion, zum Tod des Menschen steht, ist die Unterscheidung der Ebenen von Definition, Kriterium und Testverfahren.4 Die Ebenen sind hierarchisch über- und untergeordnet. Die Definition erklärt die Sache, für die ein behauptetes Kriterium als Anzeichen gelten soll. Die Testverfahren stellen die Mittel bereit, die Erfülltheit des jeweiligen Kriteriums nachzuweisen. Die Items auf den verschiedenen Ebenen stehen dabei in der Regel in der Relation der Ein-Mehrdeutigkeit zueinander: Eine durch eine bestimmte Definition identifizierte Sache kann mehr als ein Kriterium haben, die deren Gegebenheit anzeigt; für ein bestimmtes Kriterium kann es mehr als ein Testverfahren geben, das dessen Erfülltheit anzeigt. Entsprechend lassen sich die Kontroversen ordnen, die um die Items auf den verschiedenen Ebenen geführt werden. Kontrovers ist etwa der Umfang der Testverfahren, die die Erfülltheit des Todeskriteriums – das Eingetretensein des Hirntods – eindeutig nachweisen. Während in Deutschland vorgeschrieben ist, dass jede klinische Diagnose des eingetretenen irreversiblen Hirnfunktionsausfalls entweder durch eine frühestens zwölf Stunden später wiederholte klinische Untersuchung oder durch eine sich zeitlich anschließende apparative Untersuchung bestätigt wird,5 verlangen die in der Schweiz geltenden Richtlinien lediglich eine einmalige klinische und nur in Zweifelsfällen eine zusätzliche apparative Diagnostik.6 Auch bei der in Deutschland verbotenen Entnahme von Organen nach anhaltendem Kreislaufstillstand, deren Einführung zu einer signifikanten Erhöhung des Aufkommens an Transplantaten geführt hat, fordern die Schweizerischen Richtlinien nur eine einmalige klinische Untersuchung. Bei einer Wartezeit von zehn Minuten nach Kreislaufstillstand wird angenommen, dass sich eine zusätzliche apparative Untersuchung 4

Vgl. Bernat, James L./Culver, Charles M./Gert, Bernard (1981), On the definition and criterion of death. Annals of Internal Medicine 94 (1981), S. 389 – 394. 5 Vgl. Bundesärztekammer, Richtlinie gemäß § 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 TPG für die Regeln zur Feststellung des Todes nach § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TPG und die Verfahrensregeln zur Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG. Vierte Fortschreibung. Deutsches Ärzteblatt 30. 3. 2015, S. 3. 6 SAMW (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften), Feststellung des Todes mit Bezug auf Organtransplantationen. Medizin-ethische Richtlinien und Empfehlungen. Basel 2011, S. 6.

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erübrigt.7 Eine andere Differenz betrifft das Todeskriterium. Während in Europa ganz überwiegend der endgültige und irreversible Ausfall der Gesamtfunktion des Gehirns als Todeskriterium gilt, gilt in Großbritannien das Kriterium des irreversiblen Ausfalls ausschließlich des Stammhirns. Dass diese Differenzen bestehen, bedeutet dabei nicht eo ipso, dass nur einer der Beteiligten das richtige oder beste Kriterium oder die richtigen oder besten Testverfahren vertritt. Was die Kriterien betrifft, so können sie auch gleichermaßen valide und ihre Verschiedenheit darin begründet sein, dass sie zusätzlichen Anforderungen genügen, etwa einer größeren Chance auf Akzeptanz oder der Anpassung an kulturelle Muster. Dasselbe gilt für die für viele Laien zunächst verwirrende Vielfalt der von den zuständigen nationalen Gremien verlangten Testverfahren. Die Tatsache ihrer Verschiedenheit besagt für sich genommen nicht, dass sie bereits deshalb unterschiedlich valide oder zuverlässig sind. Auf welcher Ebene der Hierarchie von Definition, Kriterium und Testverfahren ist der Hirntod anzusiedeln? – Auf diese Frage geben weder das Transplantationsgesetz noch die von der Bundesärztekammer erlassenen Richtlinien für die Todesfeststellung eine befriedigende Antwort. Das Transplantationsgesetz macht in § 3 Abs. 2 Satz 2 die Organentnahme von der Feststellung des Hirntods abhängig und legt damit nahe, dass es den Hirntod als Kriterium des Todes auffasst, und zwar – zumindest im Zusammenhang mit der Organentnahme – als einziges zulässiges Kriterium. Deutlicher noch wird der dem Hirntod zugewiesene kriteriale Status in der Vierten Fortschreibung der Richtlinien für die Todesfeststellung der Bundesärztekammer von 2015. Dort heißt es: „Mit der Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms (irreversibler Hirnfunktionsausfall) ist naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt.“8

Im Unterschied zum Transplantationsgesetz legt diese Formulierung nahe, dass das Kriterium des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls nur eines von mehreren möglichen Kriterien für den Tod des Menschen ist, nämlich eines, das sich dem Tod des Menschen von der naturwissenschaftlich-medizinischen Seite nähert. Es lässt offen, wie weit es andere gibt oder geben könnte, die sich demselben Tod von einer anderen Seite nähern. Noch stärker tritt diese Selbstrelativierung in einem kürzlich erschienenen Artikel aus dem Umfeld des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer hervor: „Es wird nicht immer zwischen dem objektiven medizinisch-wissenschaftlichen Aspekt der Todesfeststellung und verschiedenen anderen Aspekten des Todes (zum Beispiel metaphysischen und kulturellen Aspekten einschließlich Fragen des Umgangs der Lebenden mit den Toten) unterschieden.“9 7

SAMW, a.a.O., S. 7. Bundesärztekammer, a.a.O., S. 2. 9 Brandt, Stephan A./Angstwurm, Heinz (2018), Bedeutung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls als sicheres Todeszeichen. Deutsches Ärzteblatt International 115(41) 2015, S. 675 – 681, S. 675. 8

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Auch hier wird offengelassen, wie weit es neben dem naturwissenschaftlichen Zugang zur Feststellung des Todes noch weitere (metaphysische?) Verfahren gibt, die einen Erkenntniszugang dazu eröffnen, ob ein Mensch tot ist oder lebt. Unbefriedigend an beiden Ansätzen ist, dass sie lediglich ein Kriterium (ein einziges oder eins von mehreren) formulieren, dabei aber offenlassen, wofür dieses Kriterium ein Kriterium sein soll und damit keine Handhabe bieten, dieses Kriterium auf seine Validität zu prüfen. Die Frage, wie weit der Hirntod ein (mehr oder weniger gutes oder valides) Kriterium für die angezielte Sache, den Tod, ist, läuft ins Leere. Das Bezugsobjekt, auf das das Kriterium verweist, bleibt ungeklärt. Merkel füllt diese logische Lücke auf die einzige Weise, die kohärent erscheint, nämlich indem er dem Hirntod – allerdings mehr implizit als explizit – eine Doppelfunktion zuweist: die einer Definition des Todes, die zugleich als Kriterium des Todes fungiert. Damit „überspringt“ der Hirntod gewissermaßen die zwischen zwei Ebenen der logischen Hierarchie bestehende Schwelle. Er erklärt einerseits, was als Tod verstanden werden soll, und er gibt gleichzeitig ein Kriterium für das Bestehen des Sachverhalts an, den er konstituiert. Zwar sind „Hirntodkriterium“ und „Hirntoddefinition“ semantisch klar unterschiedene Begriffe. Aber in ihrem Fall fällt die von ihnen bezeichnete Sache in eine zusammen. Sie sind intensional, aber nicht extensional verschieden. An einer Doppelfunktion dieser Art ist nichts Paradoxes. Bei mehreren Arten von Sachverhalten fungieren die (ontologischen) Bedingungen ihrer Existenz oder ihres Eintretens zugleich als (epistemologische) Bedingungen ihrer tatsächlichen oder möglichen Feststellung. Das gilt etwa für Erscheinungen im unmittelbaren sensorischen Erleben. Die konstitutiven Bedingungen von Nachbildern oder Traumerlebnissen sind zugleich auch Bedingungen ihrer Feststellung oder ihres Wahrgenommenwerdens. Für sie gilt das Berkeleysche esse est percipi. Andere Sachverhalte können sich ereignen, ohne wahrgenommen zu werden, während aber dennoch die Bedingungen ihres Eintretens zugleich Bedingungen ihrer möglichen Wahrnehmung sind. Zu diesen gehört der Tod des Menschen. Wenn der Hirntod der Tod des Menschen ist (den Tod des Menschen konstituiert), dann ist sein Eintreten auch ein valides Kriterium für den Tod. Eine Definition ist immer dann auch ein Kriterium, wenn sie festzustellen erlaubt, ob der von ihr bezeichnete Sachverhalt besteht oder nicht besteht. Diese Bedingung erfüllt der Hirntod.

III. Die Unumgänglichkeit von Konventionen Für die Begründung des Hirntodkriteriums heißt das, dass es – solange am Hirntod als Definition des Todes festgehalten wird – seine Begründung keinen Raum für Zweifel lässt: Es folgt aus der zugrunde gelegten Definition analytisch. Zweifel an der Validität des Hirntodkriteriums können sich nur entweder auf die Adäquatheit der zugrunde gelegten Definition beziehen oder auf die Validität der zur Prüfung der

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Erfülltheit des Kriteriums herangezogenen Testverfahren. Nur im letzteren Fall handelt es sich, wenn an der Validität des Hirntodkriteriums gezweifelt wird, um einen epistemischen Zweifel, der im Prinzip durch weiteres empirisches Wissen behoben werden kann. Zweifel an der Adäquatheit der zugrunde gelegten Definition sind grundlegend anderer Art. Insofern ist der Kritik Merkels an der Behauptung Wolfram Höflings, dass „ein prinzipielles Nichtwissen darüber besteht, ob er [der Hirntote] den Sterbeprozeß bereits abgeschlossen hat“, recht zu geben.10 Die Ungewissheit über die Grenze zwischen Leben und Tod ist keine empirische Ungewissheit, die einer genaueren Prüfung mithilfe neuer Erkenntnisse oder verfeinerter Verfahren zugänglich wäre. In diesem Punkt griff bereits Hans Jonas’ Kritik am Harvard Ad hoc Committee von 1968 zu kurz. Jonas wandte gegen das HarvardKomitee u. a. ein, dass seine Definition des Todes durch den vollständigen und unumkehrbaren Ausfall der Hirnfunktion „unsicher“ sei.11 Er schien von der Annahme auszugehen, es könne so etwas wie eine „richtige“ Definition geben. Aber wenn etwas hinsichtlich des Todesbegriffs „unsicher“ ist, dann nicht, ob diese Definition richtig oder falsch ist, sondern ob ihr ein angemessenes oder akzeptables Verständnis des Todes zugrunde liegt. Nicht um eine Faktenfrage geht es, sondern um eine Frage des Verständnisses. Die Frage ist, welche der miteinander konkurrierenden Definitionsvorschläge als der angemessenste und plausibelste gelten kann und wie weit man sich angesichts der Unsicherheit darüber – im Sinne eines „definitional tutiorism“12 – konservativ verhalten und die althergebrachte Definition unangetastet lassen sollte. Welche Definition vernünftig und angemessen ist, lässt sich zwar nur unter Berücksichtigung empirischer Befunde, aber nicht auf der Grundlage empirischer Befunde entscheiden. Definitionen sind man made und nicht – wie Tests und Kriterien, empirische Verallgemeinerungen und Gesetzesaussagen – wahr oder falsch. Sie sind allenfalls sinnvoll oder sinnlos, angemessen oder unangemessen, zweckmäßig oder unzweckmäßig. Ich wage die Behauptung, dass auch das Transplantationsgesetz zumindest eine Suggestion in der Richtung enthält, dass es ein wissenschaftlich richtiges Verständnis des Todes geben könne: durch den Verweis in § 3 Abs. 2 Satz 2 auf die Feststellung des Hirntods nach „Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen“. Genau gelesen bezieht sich dieser Verweis ausschließlich auf die Testverfahren zur Ermittlung des Eintritts des Hirntods. In einem Kontext, in dem man eine Begründung für das Hirntodkriterium erwartet und diese Erwartung enttäuscht wird, wird sie jedoch – zumindest bei oberflächlicher Lektüre – leicht als nachgeschobene Begründung (miss)verstanden. 10

Merkel, a.a.O., S. 118. Jonas, Hans, Against the stream. Comments on the definition and redefinition of death (1970), in: Hans Jonas. Philosophical Essays. From ancient creed to technological man. New York: Atropos Press 1980, S. 134 – 142. 12 Walton, Douglas N., Brain death. Ethical considerations. West Lafayette (Ind.): Purdue University 1980, S. 22. 11

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Kraft der Identität des Hirntodkriteriums mit der Hirntoddefinition hat dieses Kriterium selbst den logischen Status einer Konvention – was nicht heißt, dass es Ergebnis einer willkürlichen Setzung oder aller Kritik entzogen ist. Es heißt jedoch, dass die Gründe seiner Akzeptabilität anderer Art sind als die Gründe für die Akzeptierung einer wissenschaftlichen Hypothese. Man kann sich über alle wissenschaftlichen Fragen, die den Tod betreffen, einig sein, und dennoch abweichende Auffassungen darüber vertreten, was als „Tod eines Menschen“ gelten soll. Das ist, wie Merkel zu Recht anmerkt, nicht der einzige Zug von Konventionalität, der dem Hirntodkriterium anhaftet. Ein anderer, der ebenfalls in der Natur der Sache liegt, und für den keine Überbietung durch verbesserte Erkenntnis- oder Messverfahren denkbar scheint, ist die inhärente Prozesshaftigkeit des Sterbens, die – vergleichbar der Ontogenese des Menschen als Embryo – keine eindeutige Zäsur aufweist, die als „naturgegebene“ Abgrenzung dienen könnte. Die Grenze zwischen Leben und Tod ist kein punktuelles Ereignis. Es gibt nur das Gestorbensein, keinen objektiven Todeszeitpunkt. Auch wenn zwischen Eintritt des Todes und seiner Feststellung als epistemischer Akt logisch strikt zu trennen ist, macht die besondere Natur des Todes verständlich, dass in vielen normativen Texten zum Hirntod die „Feststellung des Todes“ als naheliegende Operationalisierung an dessen Stelle tritt.

IV. Anforderungen an Explikationen An dieser Stelle ist eine Klarstellung vorzunehmen: Wenn im Zusammenhang mit dem Tod des Menschen von „Hirntoddefinition“ die Rede ist, ist die Redeweise von „Definition“ in einem kontextadäquaten Sinn zu verstehen. Offensichtlich handelt sich weder um eine willkürliche Stipulation noch um eine Lexikondefinition, die einen bestehenden Sprachgebrauch möglichst adäquat wiedergibt. Anders als eine stipulative Definition ist sie nicht ausschließlich an Gesichtspunkten der theoretischen und praktischen Zweckmäßigkeit orientiert, sondern schließt an bestehende Vorverständnisse an. Auf der anderen Seite muss sie schon deshalb mehr sein als eine bloße Analyse herrschender Denkweisen, weil eine einheitliche „herrschende Denkweise“, die zum Gegenstand der Analyse gemacht werden könnte, nicht existiert. Angesichts dieser Ausgangssituation kann die „Hirntoddefinition“ nur als Resultat einer Explikation aufgefasst werden, wie sie zuerst von Carnap für den Bereich der Logik und der Naturwissenschaften entwickelt worden ist. Eine Explikation ist bestimmt als ein unter bestimmten Zwecken stehendes begriffliches Konstrukt, das in festgelegten Kontexten einen unklaren, mehrdeutigen oder semantisch instabilen Begriff – das Explikandum – ersetzt. Eine Explikation hat insofern stets den Charakter einer motivierten Entscheidung: Sie rechtfertigt sich jeweils durch den Bezug auf bestimmte explizite oder implizit vorausgesetzte Zwecke. Je nachdem, welche Anforderungen an eine angemessene, adäquate oder „vernünftige“ Explikation gestellt werden, erweisen sich für ein bestimmtes Explikandum unterschiedliche Explikate als vorzugswürdig.

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Einen Hauptteil von Merkels Argumentation von 1999 macht die Argumentation dafür aus, dass die Hirntoddefinition den für eine Explikation geltenden Anforderungen in höherem Maße genügt als ihre Alternativen. Das heißt zugleich, dass diese Anforderungen für den Streit über den Hirntod eine entscheidende, ja die entscheidende Rolle übernehmen und die Vermutung berechtigt erscheint, dass an diesem Punkt die Wurzel für den bisher unaufgelösten Dissens zu suchen ist. Ich möchte im Folgenden zunächst die bei Carnap für die Güte von Explikation im Theoriebereich formulierten Anforderungen vorstellen und prüfen, wie weit die von Merkel formulierten Anforderungen als deren angemessene „Übersetzung“ für den Bereich der Praxis aufgefasst werden können. Die vier von Carnap für den theoretischen Bereich formulierten Anforderungen sind 1. Ähnlichkeit mit dem Explikandum, 2. Exaktheit, 3. Fruchtbarkeit und 4. Einfachheit, wobei die vierte Anforderung als den drei anderen lexikografisch nachgeordnet verstanden wird. Einfachheit soll nur so weit zum Zuge kommen, als die drei anderen Anforderungen nicht hinreichend sind, einen von mehreren Kandidaten als vorzugswürdig auszuzeichnen. Viele in der Wissenschaft gebräuchlichen Explikate seien alles andere als einfach, bewährten sich aber dennoch aufgrund ihrer theoretischen Zweckmäßigkeit.13 Die erste Anforderung, Ähnlichkeit mit dem Explikandum besagt, dass das Explikat in der Mehrzahl der Fälle, in denen das Explikandum faktisch verwendet wird, das Explikandum ersetzen können soll, auch dann, wenn es mit diesem nicht oder nicht vollständig bedeutungsgleich ist. Carnap lässt sogar zu, dass die Bedeutungsunterschiede in einigen Anwendungsfällen gravierend sind.14 Die zweite Anforderung, Exaktheit, verlangt, dass das Explikat geeignet ist, in einen systematischen Theoriezusammenhang eingebettet zu werden. Anders als der Explikandumbegriff soll es sich in die für den jeweiligen Bereich geltenden wissenschaftlichen Theorien integrieren lassen. Impliziert ist damit, dass die Hinzufügung des Explikats in den jeweiligen Theoriekontext weder die Kohärenz noch die Erklärungskraft dieses Kontexts beeinträchtigt. Carnaps dritte Anforderung, Fruchtbarkeit, bezieht sich primär auf die Chance eines Explikats, innerhalb wissenschaftlicher Theorien zur Erklärung empirischer Befunde mithilfe von Gesetzen beizutragen. Ein wissenschaftlicher Begriff sei umso fruchtbarer, je mehr er sich zur Formulierung von Gesetzesaussagen eignet.15 Die vierte Anforderung, Einfachheit wird von Carnap nur fragmentarisch erläutert. Man kann es so verstehen, dass sie darauf zielt, ein Explikat so einfach zu halten, dass es gelehrt und gelernt werden kann und Chancen hat, ungeachtet der Pluralität kultureller Rahmenbedingungen zum Gemeinbesitz der scientific community zu werden. 13 Carnap, Rudolf, The logical foundations of probability. Second edition. Chicago: Chicago University Press 1963, S. 7. 14 Carnap, a.a.O., S. 7. 15 Carnap, a.a.O., S. 6.

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Merkel geht für praktische Kontexte von drei Anforderungen aus: 1. Konsistenz mit grundlegenden Prinzipien der Ethik und des Rechts, 2. anthropologische Plausibilität sowie 3. Verträglichkeit mit tradierten Alltagsbegriffen. Anders als Carnap verzichtet er darauf, diese Anforderungen genauer inhaltlich zu bestimmen. Ihr Gehalt muss aus dem Gebrauch erschlossen werden, den er von ihnen im Zusammenhang mit der Explikation des Explikandums „Tod des Menschen“ macht. Zwischen Carnaps und Merkels Anforderungen bestehen offenkundige Gemeinsamkeiten. Carnaps erste Anforderung entspricht weitgehend Merkels dritter Anforderung – allerdings nur weitgehend, da diese deutlich anspruchsvoller ist. Sie ist sogar möglicherweise zu anspruchsvoll, um bei der Explikation des Todesbegriffs erfüllt werden zu können. Falls die Hirntoddefinition das Explikat der Wahl ist, mag dieses zwar Carnaps Ähnlichkeitsforderung genügen, man muss aber bezweifeln, ob sie mit den tradierten Alltagsbegriffen des Todes verträglich ist. Das gilt vor allem für die lebensweltlich-phänomenologischen Aspekte von Explikandum und Explikat. Die Anwendung der Hirntoddefinition hat in der Praxis nicht nur die von vielen als segensreich empfundene Chance auf eine Organentnahme vom Hirntoten zur Folge, sondern auch einige der von vielen als unzumutbar empfundenen Zumutungen und Irritationen für Angehörige und Pflegende. Maschinell beatmete Patienten, die zur Organtransplantation vorgesehen sind, unterscheiden sich in der Zeitspanne zwischen Eintritt des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls und der Transplantation dem Anschein nach nicht von Lebenden. Eine ganze Reihe von Lebensfunktionen werden durch die Beatmung direkt oder indirekt aufrechterhalten, darunter Herzschlag, Blutkreislauf, Verdauung und Wundheilung. Reflexe, soweit diese im Rückenmark verschaltet sind, sind weiterhin intakt. Dass jedoch ein Hirntoter, der alle Zeichen von Lebendigkeit zeigt, tot sein soll, verlangt Angehörigen und Pflegenden ab, zwischen dem, was sie sehen, und dem, was sie wissen, eine beträchtliche kognitive Dissonanz auszuhalten. Carnaps zweite Anforderung entspricht weitgehend Merkels zweiter Anforderung. Exaktheit bedeutet für Carnap nicht Präzision, sondern Ingrierbarkeit in einen relativ abgesicherten Theoriebestand. Das Explikat soll so gewählt werden, dass es in einen Zusammenhang von Aussagen von wissenschaftlicher Dignität eingebettet werden kann und auf diese Weise anschlussfähig ist an ein bereits bestehendes Wissenskorpus. Für die Explikation des Todesbegriffs lässt sich diese Anforderung so verstehen, dass das Explikat mit dem zusammenstimmen sollte, was wir über den Menschen wissen. Das Explikat sollte mit den anthropologischen Standardtheorien so weit harmonieren, dass es nicht zu Widersprüchen kommt und dadurch die Kohärenz und Erklärungskraft dieser Theorien mindert. Es ist klar, dass dieser Anforderung nicht alle denkbaren Explikate für den Todesbegriff gerecht werden. So lassen sich etwa zahlreiche esoterische Vorstellungen, etwa die einer die organischen Lebensfunktionen steuernden Geistseele oder die eines Astralleibs, nur schwer mit dem Stand des anthropologischen Wissens vereinbaren. Sie bleiben innerhalb der Wissenschaft vom Menschen ein nicht integrierbarer Fremdkörper.

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Für die Anforderung der Exaktheit liegt noch eine weitere Interpretation nahe, die in praktischen Kontexten sogar noch relevanter ist als in theoretischen: das Desiderat, dass das Explikat hinreichend operationalisierbar ist, um über das Vorliegen der mit seiner Hilfe konstituierten Sachverhalte entscheiden zu können. Das Explikat sollte wann immer möglich so gefasst sein, dass geprüft werden kann, ob es in real gegebenen Fällen erfüllt ist, d. h. es sollten verlässliche Kriterien für seine Gegebenheit zur Verfügung stehen.16 Für den Fall des Todes bedeutet das, dass wissenschaftlich gesicherte Todeskriterien und Testverfahren zur Todesfeststellung verfügbar sind oder dass es geeignet ist, selbst als Kriterium zu dienen. Die durch eine Operationalisierung gegebene Sicherheit ist insbesondere für einen rechtlich so bedeutsamen Begriff wie den Todesbegriff unentbehrlich. Wann immer ein Explikat zur Grundlage rechtlicher Normierungen wird, ist „Exaktheit“ in diesem Sinn u. a. ein Gebot der Rechtssicherheit. Man muss nicht so weit gehen wie Merkel, der bereits vom Explikat des unscharfen Todesbegriffs verlangt, dass es als „trennscharfe Markierung für einen brauchbaren Rechtsbegriff tauglich“ ist.17 Es genügt, dass hinreichend trennscharfe Kriterien zur Verfügung stehen. Dieser Anforderung wird die Hirntoddefinition besser gerecht als die Konkurrenten. Für keine der alternativen Explikationen des Todesbegriffs besteht dasselbe Maß an Sicherheit. Gerade der Rechtfertigungsdruck, der von der verbreiteten Nichtakzeptanz dieser Explikation ausgeht, hat dazu geführt, dass die Kriterien fortwährend verfeinert und für eine große Vielfalt von Sondersituationen ausdifferenziert worden sind. Mit der Vierten Fortschreibung der Richtlinien zur Todesfeststellung sind in Deutschland diese Kriterien noch einmal der medizinischen Erfahrung angepasst worden, u. a. durch eine Einbeziehung von Vertretern aller relevanter medizinischer Einzeldisziplinen. Die nunmehr geltenden Kriterien für den Todeszeitpunkt gewähren ein anerkannt hohes Maß an Rechtsicherheit – im Gegensatz zu anderen Begriffen im Umfeld des Todes, die weiterhin Unschärfen aufweisen (etwa „Sterbeprozess“), aber auch zu den Kriterien für den alternativen Begriff des Herz-KreislaufTodes. Das zeigt sich u. a. in den unterschiedlich langen Wartezeiten, die in Ländern, in denen die Entnahme von Organen nach Herztod (donation after cardiac determination of death, DCD) zulässig ist, zwischen Kreislaufstillstand bzw. Ende der Wiederbelebungsversuche und Organentnahme gefordert werden. Auch die für viele Menschen wichtige Sicherheit, dass mit dem Eintritt der in den Richtlinien genannten Bedingungen kein Bewusstseinsleben mehr möglich ist (und etwa die Entnahme der Organe im Fall einer Explantation gespürt werden könnte), könnte größer nicht sein. Mit dem irreversiblen Ausfall der Hirnfunktionen ist auch ein bewusstes Erleben nicht mehr möglich, mögen dies auch einige der im Rückenmark verschalteten Reflexe des Hirntoten (wie dem Zusammenzucken bei Einschnitten in die Haut) nahelegen. 16 Vgl. Radnitzky, Gerard, Explikation, in: Helmut Seiffert/Gerard Radnitzky (Hrsg.), Handlexikon der Wissenschaftstheorie. München: Ehrenwirth 1989, S. 73 – 80, S. 74. 17 Merkel, a.a.O., S. 116.

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Während umstritten ist, wie weit die Hirntoddefinition der Anforderung der Verträglichkeit mit dem vorexplikativen Begriff des Todes genügen kann, trifft die dritte Anforderung Merkels, die Übereinstimmung mit anerkannten ethischen und rechtlichen Grundsätzen, bereits für sich genommen auf Vorbehalte. Immer wieder ist der zuerst von Hans Jonas in die Debatte geworfene Vorwurf zu hören, durch die Moralisierung des Todesbegriffs werde dieser verzwecklicht, menschlichen Zielsetzungen dienstbar gemacht und für wie immer hochherzige Zwecke „pragmatisch“ zurechtgebogen. Hintergrund dieses Vorwurfs ist die Überzeugung, die Grenze zwischen Leben und Tod stehe als elementarer biologischer Sachverhalte „von Natur aus“ und vorgängig zu allen menschlichen Setzungen fest. Das ist, wie gezeigt, eine naturalistische Illusion. Weder ist „von der Natur“ eine eindeutige Grenze gezogen, noch ist überhaupt eine Grenzziehung denkbar, die nicht wesentlich auf menschliche Entscheidungen zurückgeht und insofern Elemente einer Konvention aufweist. Darüber hinaus spricht alles dafür, in Merkels Anforderung eine überaus plausible Übersetzung von Carnaps dritter Anforderung, Fruchtbarkeit, für praktisch relevante Begriffe zu sehen. Explikationen für praktische Begriffe sollten nicht nur auf Erkenntnisinteressen, sondern auch auf praktische Interessen der Verwirklichung des Guten verpflichtet sein. Entsprechend tritt bei ihnen zu den Anforderungen an ihre theoretische Angemessenheit eine spezifische Anforderung hinzu, die bei den rein erkenntnisbezogenen Mitteln in der Regel vernachlässigt werden kann: die Anforderung der ethischen Akzeptabilität ihrer Anwendung in der Praxis. Ein Explikat, das in praktischen Kontexten mit einer gewissen Verbindlichkeit ausgestattet wird – etwa dadurch, dass es in rechtliche Regelungen eingeht –, muss sich über die von Carnap genannten erkenntnisbezogenen Kriterien hinaus u. a. auch danach fragen lassen, wie weit seine Anwendung eine unter moralischen Gesichtspunkten gerechtfertigte Praxis konstituiert, ermöglicht oder unterstützt. Unterstützt wird eine Praxis von praktisch relevanten Explikaten dabei nicht erst dann, wenn sie in ausdrückliche Normierungen wie Gesetze, Verfahrensregeln oder Leitlinien eingeht, sondern schon im Vorfeld durch ihren akzeptierenden Gebrauch. Was durch das Merkmal der moralischen Legitimität der Verwendungszwecke hinzukommt, ist eine weitere Dimension der Zwecke, in Bezug auf die von Explikationen Funktionalität erwartet wird. Sie sollen nicht nur zweckrational in dem Sinne sein, dass sie sich für die Zwecke, auf die sie bezogen sind, eignen, sondern die Zwecke sollen ihrerseits im ethischen Sinn rational sein. Es ist zu bezweifeln, ob die verbreitete Gepflogenheit von Gegnern der Hirntoddefinition, mit abwertender Konnotation von „pragmatisch“ zu sprechen, der Seriosität dieser Anforderung gerecht wird. Die Ermöglichung bzw. Erleichterung der Organexplantation nach eingetretenem Hirntod ist ein durch und durch seriöser ethischer Grund, der Hirntoddefinition den Vorzug zu geben vor alternativen Explikationen, vor allem solchen, die eine Organentnahme nur unter Verletzung der dead donor rule zulassen. Die dead donor rule, die eine Organentnahme vom Moribunden oder Sterbenden (und damit vom Lebenden) kategorisch ausschließt, ist in der Medizin fest etabliert. Sie zu verletzen, würde die Praxis der Transplantation post mortem tiefgreifend in Frage stellen.

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V. Weitere Anforderungen und ihre Konsequenzen Soweit es um ihre methodischen Grundlagen geht, hält Merkels Anwendung des Verfahrens der Explikation auf den Todesbegriff auch nach zwanzig Jahren der kritischen Prüfung stand. In der konkreten Ausführung erweist sie sich in einem Punkt ergänzungs-, in einem anderen klärungsbedürftig. Der erste Punkt betrifft das Desiderat der Univozität des Todesbegriffs, der zweite das, was Merkel den Kompromisscharakter der Hirntoddefinition nennt. Dass es nur einen Todesbegriff geben sollte bzw. nur ein einziger Todesbegriff im wissenschaftlichen und normativen Diskurs als Referenzpunkt dienen sollte – dieses Desiderat erschien dem Autor möglicherweise zu selbstverständlich, um ausdrücklich darauf hinzuweisen. Überdies ergibt es sich zwanglos aus Merkels Postulat, dass insbesondere das Recht auf eine stabile, kontextinvariante und möglichst trennscharfe Grenzziehung zwischen Leben und Tod angewiesen ist. Dennoch ist diese Anforderung nicht selbstverständlich. Es folgt nicht automatisch aus den der Methodologie der Explikation zugrunde liegenden Zielen einer vereindeutigenden Fixierung der Bedeutung unscharfer, mehrdeutiger und schwankender Begriffsverwendungen. Eine Explikation kann durchaus auch kontextspezifisch sein, so dass mehrere wechselseitig unvereinbare Explikate koexistieren. Auch Carnap räumte diese Möglichkeit ein. Begründet war das für ihn in der Tatsache, dass ein Explikat mehrere Anforderungen zugleich erfüllen soll, die es nicht oder nicht vollständig erfüllen kann. Es stellt insofern stets einen Kompromiss dar. Dabei können die Anforderungen aber unterschiedlich gewichtet werden, wobei es insbesondere Gründe geben kann, die Anforderung der Ähnlichkeit mit bestehenden Begriffen in einigen Kontexten (z. B. praxisnäheren) höher zu gewichten als in anderen (z. B. wissenschaftlichen). Für den vorwissenschaftlichen Begriff „Fisch“ könnte es deshalb mehr als ein Explikat geben, je nachdem, welche Aufgaben dem Explikat innerhalb einer Theorie zugewiesen werden und wieviel Nähe zum umgangssprachlichen Begriff wünschenswert scheint.18 Hinzu kommt, dass de facto in den zwanzig Jahren seit dem Erscheinen von Merkels Artikel eine Reihe von prominenten Medizinethikern einer Pluralisierung des Todesbegriffs das Wort geredet haben, so etwa Jeff McMahan einer Aufspaltung des Todesbegriffs in einen mentalistischen und einen biologischen Todesbegriff,19 Alan Shewmon einer Aufspaltung in zwei Begriffe („passing away“ und „deanimation“), die verschiedene Zeitpunkte des Sterbeprozesses markieren.20 Robert Veatch ist so weit gegangen, den Todesbegriff gänzlich zu relativieren und vorzuschlagen, die

18

Carnap, a.a.O., S. 6. McMahan, Jeff, The ethics of killing. Problems at the margins of life. Oxford: Oxford University Press 2002, S. 423. 20 Shewmon, D. Alan, Constructing the death elephant: A synthetic paradigm shift for the definition, criteria, and tests for death. Journal of Medicine and Philosophy 35 (2010), S. 256 – 298, S. 276. 19

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Grenzziehung zwischen Leben und Tod der Wahlentscheidung der Individuen zu überlassen.21 Bei einem für die gesellschaftliche Kommunikation so grundlegenden Begriff wie dem des Todes erscheint eine Vielfalt von koexistierenden Begriffen als unerwünschtes Hindernis für eine problemlose Verständigung. Missverständnisse wären vorprogrammiert. Vollends im Recht wäre eine Pluralisierung von Begriffen – wie sie in Deutschland gegenwärtig u. a. beim Begriff „Embryo“ besteht – wenig wünschenswert. Sie würde die Rechtsprechung für das allgemeine Publikum undurchsichtiger machen, als sie es sein müsste, und tendenziell die Rechtssicherheit gefährden. Der zweite Punkt betrifft die inhaltliche Seite von Merkels Anwendung des Explikationsverfahren und dabei insbesondere den Kompromisscharakter der Hirntoddefinition, den diese nach Merkel in anthropologischer Hinsicht aufweist. Er besteht Merkel zufolge darin, dass diese Definition dem biologisch-somatischen wie dem mentalen Aspekt des Menschen gerecht werden soll, dies aber nur dadurch vermag, dass sie beide in ein prekäres Gleichgewicht bringt, in dem keines dieser „Grundelemente“ eindeutig dominiert: „Weil die Hirntod-Definition … keines der beiden anthropologischen Grundelemente aufgibt, sondern durch wesentliche Aspekte miteinander verknüpft, expliziert sie den weitaus vernünftigsten Todesbegriff“22

Merkel klärt den Leser allerdings nur unvollständig darüber auf, wie dieses Gleichgewicht genauer beschaffen ist und welche „Schieflagen“ einerseits zugunsten der biologischen, andererseits zugunsten der mentalen Seite zugelassen sein sollen, ohne das Gleichgewicht kippen zu lassen. Auf der einen Seite lässt Merkel keinen Zweifel, dass ein Mensch mit einer so schwer geschädigten Hirnfunktion, dass er nicht nur das Bewusstsein, sondern auch die Bewusstseinsfähigkeit irreversibel eingebüßt hat, dessen zentrale Körperfunktionen wie Atmung und Blutkreislauf aber weiterhin vom Stammhirn gesteuert werden, eindeutig als Lebender gelten muss. Da es allerdings nicht auf den Zeitpunkt des Verlusts der Bewusstseinsfähigkeit ankommen kann, muss danach konsequenterweise auch ein anenzephaler Neugeborener, soweit er von vornherein zu einem bewussten Erleben unfähig ist, als lebend gelten. Es gäbe demnach auch in diesen Extremfällen Formen von menschlichem Leben, in denen der mentale Aspekt entweder irreversibel verlorengegangen ist oder vollständig fehlt. Das biologisch-mentale Gleichgewicht, das die Hirntoddefinition aufrechterhalten soll, wäre empfindlich gestört. Lässt sich überhaupt noch in einem vertretbaren Sinn von Gleichgewicht sprechen? Aber auch auf der mentalen Seite scheint Merkel Extremfälle zulassen zu wollen – Fälle, in denen zwar das Bewusstseinsleben eines Menschen intakt ist, die das Bewusstsein ermöglichenden Hirnfunktionen jedoch ganz oder teilweise durch künst21 Veatch, Robert M./Ross, Lainie F., Defining death. The case for choice. Washington D. C.: Georgetown U. P. 2016, S. 152. 22 Merkel, a.a.O., S. 118.

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liche Aggregate ersetzt sind, so dass die das Bewusstseinsleben tragenden Körperfunktionen nicht mehr von dem Organismus des Patienten selbst (in seiner ursprünglichen Verfasstheit und ohne die künstlichen Hilfsmittel), sondern ganz oder teilweise von einer „Hirnprothese“ (zusammen mit den Restfunktionen des Organismus) aufrechterhalten werden. Ein solcher Mensch muss Merkel zufolge eindeutig als lebend aufgefasst werden, auch dann, wenn die Lebensfunktionen, von denen das Bewusstseinsleben abhängt, nicht aus sich selbst heraus funktionsfähig sind: „Ein aus sich selbst nicht mehr zum systematischen Organismus integrierbarer Körper darf dann und nur dann für tot erklärt werden, wenn es außerdem niemanden, kein noch so rudimentär vorhandenes Subjekt mehr gibt, das dem Körper zugehört.“23

Aus dieser Bemerkung wird deutlich, weshalb Merkel der Meinung ist, dass die Hirntoddefinition ein labiles Gleichgewicht markiert, das sehr viel weniger konsequent ist, als es sein könnte, allerdings dann sehr viel weniger der mit dem Todesbegriff verbundenen Intuitionen einfangen könnte: „Der Hirntod-Begriff als Todesdefinition … formuliert … einen in mancher Hinsicht schwierigen Kompromiß, der nicht ohne Abstriche an Konsequenz nach beiden Richtungen zu haben ist.“24

Der Kompromisscharakter besteht genau darin, dass der Hirntodbegriff auf der einen Seite die Grenze zwischen Leben und Tod rein biologisch bestimmt und davon absieht, ob in einem von der Gattungszugehörigkeit her eindeutig menschlichen Organismus Bewusstsein oder Bewusstseinsfähigkeit realisiert ist, dass er auf der anderen Seite aber der Intuition gerecht werden muss, dass ein Organismus, der der Organismus eines bewusstseinsfähigen Subjekts ist, nicht tot sein kann. Danach setzt Bewusstsein und Bewusstseinsfähigkeit grundsätzlich Lebendigkeit voraus, auch dann, wenn diese von externen Aggregaten abhängt – als Prothesen, die ausgefallene Funktionen ersetzen, oder als Cyborg-ähnliche Erweiterungen, die den Organismus mit zusätzlichen Funktionen ausstatten. Auf der einen Seite – im Fall des anenzephalen Säuglings – soll die Antwort auf die Frage, ob es sich bei einem gegebenen Organismus um einen lebenden oder toten handelt, gänzlich unabhängig von dem Vorhandensein der Fähigkeit zu bewusstem Erleben sein. Auf der anderen – im Fall des Cyborgs – soll die Antwort ausschließlich von dem Vorhandensein dieser Fähigkeit abhängen. Wie immer heikel die damit vollführte begriffliche Gratwanderung, in beiden Extremfällen steht die Antwort, die die Hirntoddefinition (sofern man sie so versteht, wie Merkel sie verstehen will) im Einklang mit unseren vortheoretischen Intuitionen: Ein anenzephaler Säugling ist ebenso wenig tot wie ein Patient, der aufgrund seiner Erkrankung auf ein Beatmungsgerät oder auf einen Herzschrittmacher zur Lebenserhaltung angewiesen ist. Einerseits wäre es inakzeptabel, einen Menschen als einen Toten zu betrachten, nur, weil er dauerhaft oder irreversibel bewusstseinsunfähig ist. Auf der anderen Seite wäre es ebenso inakzeptabel, einen 23 24

Merkel, a.a.O., S. 118. Merkel, a.a.O., S. 118.

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Menschen als einen Toten zu betrachten, nur weil sein Organismus ohne externe Unterstützung nicht lebensfähig ist.25 Das Problem liegt darin, dass der jeweiligen Anwendung der Hirntoddefinition unterschiedliche Begründungen zugrunde gelegt werden. Im ersten Fall liegt der Anwendung der Hirntoddefinition ein Autonomiekriterium zugrunde: Auch der Organismus des Anenzephalen ist dank der erhaltenen Funktionsfähigkeit einiger Hirnfunktionen noch „aus sich selbst … zum systematischen Organismus integrierbar“. Im zweiten Fall liegt der Anwendung der Hirntoddefinition ein Bewusstseinskriterium zugrunde: Auch wenn der Organismus des Cyborgs nicht die Bedingungen erfüllt, „aus sich selbst … zum systematischen Organismus integrierbar“ zu sein, lebt er dennoch, solange die Bewusstseinsfähigkeit erhalten ist, auch wenn diese wesentlich von künstlichen Aggregaten abhängt.26 An dieser Stelle stellt sich die naheliegende Frage: Wenn die Aufrechterhaltung des Bewusstseinslebens (und möglicherweise sogar der bloßen Bewusstseinsfähigkeit) eines Menschen mithilfe künstlicher Aggregate hinreichend ist, von einem lebenden Menschen zu sprechen, warum ist dann nicht die Aufrechterhaltung der Körperfunktionen mithilfe künstlicher Aggregate, wie im Fall der Beatmung durch ein Beatmungsgerät, ebenso hinreichend? Wenn Hirnfunktionen durch technischen Ersatz gesteuert werden können, ohne das Leben zu gefährden, wieso reicht dazu nicht ebenfalls die Ersetzung der Atem- und Kreislauffunktion durch das Beatmungsgerät? Worin liegt die Berechtigung, dem Gehirn eine so überragende Sonderstellung einzuräumen, dass die Stimulierung von Gehirnfunktionen durch ein künstliches Aggregat im ersten Fall als ein Fall von Leben, die Stimulierung von Körperfunktionen durch ein künstliches Aggregat im zweiten Fall als ein Fall von Nicht-Leben gilt?

VI. Woher die Sonderstellung des Gehirns? Die zwei Begründungsansätze, mit denen am häufigsten für die Sonderstellung des Gehirns für die Lebens- und damit auch die Todesdefinition argumentiert wird, sind einerseits der Integrations-, andererseits der Autonomieansatz. Nach dem Integrationsansatz besteht die Sonderstellung des Gehirns darin, dass es als einziges Körperorgan in der Lage ist, die Körperfunktionen zu einer Ganzheit zu integrieren und systematisch aufeinander abzustimmen. Seine herausgehobene Stellung ist die des zentralen Kontrollraums, in dem die Fäden – die Impulse des zentralen Nervensystems – zusammenlaufen und von wo aus der Organismus die für die Ko25

Vgl. Deutscher Ethikrat, 2015, 92 f. Vorausgesetzt ist dabei, dass es sich um die Abhängigkeit von einer dauerhaften und kontinuierlichen Funktion dieser Aggregate handelt und diese nicht nur dazu eingesetzt werden, die Bewusstseinsfähigkeit, nachdem sie einmal verlorengegangen ist, wiederherzustellen. Soweit eine künstliche Wiederherstellung der Funktion von Hirnzellen gelingen sollte, wie sie nach einer Meldung der New York Times vom 17. 4. 2019 bei Schweinen gelungen zu sein scheint, handelte es sich nicht um eine dauerhafte Abhängigkeit, sondern um eine Form von Reanimation. 26

„Hirntod und kein Ende“ – nach zwanzig Jahren

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ordination und Kooperation der Teilsysteme erforderlichen Steuerungsbefehle erhält. Dieser Begründungsansatz ist zu Recht umstritten, nicht zuletzt, weil er mit dem Verweis auf „Integration“ und „Ganzheit“ auf nur unzureichend geklärte Begriffe zurückgreift. Dass ein Organismus ohne funktionierendes Gehirn keine vollständige Ganzheit sein kann, scheint einerseits bereits analytisch zu folgen, da man von einem Körper ohne Gehirn – zumindest bei einem Säugetier – kaum sagen wollen wird, dass es ein vollständiges Ganzes ist. Andererseits weist auch ein beatmeter Hirntoter eine große Zahl von hochgradig integrierten Systemen auf, u. a. die im Rückenmark verschalteten Reflexe, die regelmäßig für Irritationen sorgen.27 Es erscheint in der Tat mehr oder weniger offensichtlich, dass die komplexen Körperfunktionen, die bei Hirntoten aufrechterhalten bleiben, etwa der Blutkreislauf oder die Verdauung nicht ohne eine zielgerichtete Kooperation und Koordination zwischen jeweils verschiedenen körperlichen Mechanismen denkbar ist, die auf eine Integration unterschiedlicher Körperfunktionen unabhängig von allen Gehirnfunktionen hinweisen. Wie anders sollte es etwa möglich sein, dass ein Hirntoter das so genannte Lazarus-Zeichen zeigt, bei dem ein hirntoter Patient bei Berührung seine Hände ausstreckt und seinen Oberkörper anhebt, wenn nicht jedes Mal eine Vielzahl von Körperfunktionen koordiniert und integriert werden, darunter unbewusste Wahrnehmung, Bewegungsimpulse und Muskelanspannung. Es scheint jedenfalls eine offene Frage, ob sich die für das Gehirn behauptete Fähigkeit zur Integration der Körperfunktionen in eine Ganzheit von der Integration von Teilsystemen des Organismus bei Hirntoten unter externer Beatmung hinreichend präzise abgrenzen lässt, um zu begründen, dass im ersten Fall ein Mensch lebt und im zweiten nicht. Vielversprechender erscheint der zweite Ansatz zur Begründung der Hirntoddefinition: der Verweis auf die Fähigkeit des lebenden Organismus und die Unfähigkeit des toten, eigenständig auf die Umwelt einzuwirken. Beim Hirntoten finden zwar weiterhin Reaktionen auf aus der Umwelt kommende Reize statt, nicht zuletzt die Reaktion, auf die Impulse eines Beatmungsgeräts mit Atembewegungen zu antworten. Aber die damit erfolgende Aktion ist nicht mehr als eine Reaktion, keine Aktion, die der Organismus des Hirntoten selbst erbringt. Nicht nur fehlt es – trivialerweise – an einer bewussten Intention, es fehlt auch an einem aus dem Organismus selbst kommenden zielgerichteten Verhalten. Das ausschlaggebende Merkmal des Lebens ist nach diesem Ansatz die Fähigkeit, das eigene Leben autonom aufrechtzuerhalten. Diese fehlt beim Hirntoten. Auch die beim Hirntoten verbleibende Integration von Körperfunktionen ist keine, die der Organismus selbst, aus eigener Kraft, leistet. Sie ist abhängig von einem externen Impulsgeber.28 Dabei ist es gleichgültig, ob dieser räumlich wortwörtlich „von außen“, also von außerhalb der Körpergrenzen auf 27 Vgl. Truog, Robert D./Robinson, Walter M., Role of brain death and the dead-donor rule in the ethics of organ transplantation. Critical Care Medicine 31 (2003), S. 2391 – 2396, S. 2392. 28 Vgl. Condic, Maureen L., Determination of death: a scientific perspective on biological integration. Journal of Medicine and Philosophy 41 (2016), S. 257 – 278, S. 257 ff.

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den Organismus einwirkt. Es kommt nicht darauf an, ob die Körperfunktionen bei einem Patienten, dessen Organismus die Fähigkeit irreversibel verloren hat, diese eigenständig aufrechtzuerhalten, durch ein außerhalb seines Körpers liegendes Aggregat aufrechterhalten werden oder durch ein in seinen Körper implantiertes Aggregat mit derselben Funktion. Das „externe“Agens muss auch nicht notwendig „künstlich“ sein, also keine Maschine oder Apparatur und nicht einmal ein anderweitiges Produkt menschlicher Kunst, etwa ein bestimmtes Arzneimittel. Es kann auch ein natürlich vorkommendes, aber dem Organismus fremdes Mittel sein, das dasselbe bewirkt. Entscheidend ist lediglich, dass es nicht aus dem Organismus selbst stammt, sondern ihm zusätzlich zugeführt wird. Konfrontiert mit der Science-Fiction-Vision eines Computers, der fähig wären, nach irreversiblem Funktionsausfall des Gesamtgehirns die vegetativen Steuerungsfunktionen des Gehirns vollständig zu ersetzen und den Körper wie einen lebendigen Menschen agieren zu lassen, würde ein Vertreter dieses Ansatzes verneinen müssen, dass der betreffende Mensch lebt. In einem Fall wie diesem wird die Integrationsleistung in keiner Weise mehr von dem Menschen oder seinem Organismus selbst erbracht. Wenn es bei der Grenzziehung zwischen Leben und Tod darauf ankommt, ob der Organismus fähig ist, die Steuerung seiner Körperfunktionen „aus eigener Kraft“ zu leisten, ist ein Mensch auch dann tot, wenn nicht nur die Integration einzelner seiner Körperfunktionen, sondern selbst die Integration der Körperfunktionen „zu einem Ganzen“ aufrechterhalten bleiben, aber nicht mehr von ihm selbst. Die Sonderstellung des Gehirns beruhte darauf, dass unter Realbedingungen allein ein funktionsfähiges Gehirn ein auf die Umwelt gerichtetes Verhalten ermöglicht. Beide Begründungsansätze für die Sonderstellung des Gehirns sind mit Problemen behaftet. Der Integrations-Ansatz ist mit der Schwierigkeit konfrontiert, die behauptete Integration der Körperfunktionen zu einer Ganzheit, die das Leben vom Tod unterscheiden soll, gegen die Integrationsleistungen beim beatmeten Hirntoten abzugrenzen. Der Autonomie-Ansatz andererseits ist mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass er mit Ausnahmeklauseln versehen werden muss, um die Selbstverständlichkeit einzufangen, dass bewusstseinsfähige Menschen, deren Leben von externen Impulsgebern (wie Herzschrittmachern) abhängt, trotz dieser Autonomie-Lücke nicht als tot gelten. Schließlich kann die Autonomie des Organismus nicht nur durch einen Funktionsverlust des Gehirns, sondern auch durch anderweitige Störungen eingeschränkt sein. Aus guten Gründen, so scheint es, hat bereits Carnap die Anforderung der Einfachheit an Explikationen nur sekundäre Bedeutung beigemessen. Auch für die Grenze zwischen Leben und Tod scheint sich zwar eine klare und operationalisierbare, aber alles andere als einfache Grenze ziehen zu lassen. Das ist zumindest ein Grund, weswegen auch heute die Hirntod-Debatte nicht ad acta gelegt werden kann.

Menschenwürde und Sterbehilfe Von Dietmar von der Pfordten

I. Einleitung Am 27. Oktober 1997 verabschiedete das Parlament des US-Bundesstaats Oregon den sog. „Death with Dignity Act“, welcher es Kranken im Endstadium ihrer Krankheit erlaubt, ihr Leben durch die eigene, freiwillige Einnahme tödlicher Substanzen, welche durch einen Arzt verschrieben wurden, zu beenden, sofern ein anderer Arzt das Vorliegen dieser Voraussetzungen bestätigt.1 Erlaubt ist also nicht die aktive Sterbehilfe, denn der Arzt darf zwar anwesend sein, die tödliche Substanz aber – anders als in den Niederlanden und Belgien – nicht selbst injizieren oder auf sonstige Weise verabreichen. Erlaubt ist nach diesem Gesetz somit nur die Beihilfe zum Suizid. Allerdings wurde mit dieser Gesetzgebung des Staates Oregon die Würde mit der Sterbehilfe in Verbindung gebracht. Die Beihilfe zum Suizid soll offenbar ein würdevolles Sterben ermöglichen, woraus man den Umkehrschluss ziehen kann, dass das Parlament von Oregon ein Sterben ohne derartige Beihilfe zum Suizid in bestimmten sehr leidvollen Konstellationen nicht oder zumindest nicht im gleichen Maße als würdevoll ansieht. Ist diese Auffassung begründet? Die Tötung des Sterbenden durch Andere auf dessen Verlangen (sog. „aktive Sterbehilfe“) ist gemäß §§ 212, 216 StGB in Deutschland strafbar und wird von vielen auch als ethisch und moralisch verboten angesehen. Dagegen ist die Beihilfe zum Suizid (sog. „assistierte Sterbehilfe“) in Deutschland straflos, sofern sie nicht geschäftsmäßig erfolgt (§ 217 StGB). Die ethische Beurteilung ist uneinheitlicher.2 Der Jubilar hat zur Rechtfertigung der aktiven Sterbehilfe für die Annahme eines Notstands nach § 34 StGB plädiert, weil das Interesse des Patienten an der Schmerzlinderung dasjenige am Leben überwiegen könne, sofern er selbst eine solche Bewertung vornehme.3 Die Rechtsprechung und die weit überwiegende Literatur sind dem jedoch nicht gefolgt und halten die Tötung des Sterbenden trotz seines Verlangens

1 Vgl. https://www.oregon.gov/oha/PH/ProviderPartnerResources/Evaluationresearch/death withdignityact/Pages/index.aspx. Mittlerweile haben einschließlich des Districts of Columbia neun US-Bundesstaaten vergleichbare Regelungen. 2 Anne und Nikolaus Schneider, Vom Leben und Sterben. 3 Reinhard Merkel, Teilnahme am Suizid. Tötung auf Verlangen. Euthanasie. Fragen an die Strafrechtsdogmatik, S. 93; Reinhard Merkel, Früheuthanasie, S. 528 ff.

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nach wie vor für nicht nach § 34 StGB gerechtfertigt.4 Die strafrechtlichen Argumente für und wider können hier nicht erörtert werden. Die Anwendung des § 34 StGB und damit der Übergang zur Legalisierung der aktiven Sterbehilfe in Deutschland mit der notwendigen Folge ihrer Organisation in Krankenhäusern und Hospizen würde allerdings eine so gravierende gesellschaftliche Veränderung darstellen, dass man sie keinesfalls einer Rechtsprechungskorrektur durch die Obergerichte überlassen dürfte.5 Aus demokratietheoretischen Gründen würde sie in jedem Fall eine breite gesellschaftliche Diskussion und eine Änderung des Strafgesetzbuches durch das Parlament erfordern. Jenseits der Frage der Anwendbarkeit des § 34 StGB plädieren manche für eine derartige gesetzliche Aufhebung oder zumindest Einschränkung der Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB.6 Für die Aufrechterhaltung des § 216 StGB auch für Sterbenskranke oder seine Aufhebung bzw. Einschränkung werden eine Vielzahl von Gründen und Gegengründen geltend gemacht.7 Nachfolgend soll nur ein einziger Typ von Gründen in dieser Debatte um die rechtliche und ethische Beurteilung der aktiven Sterbehilfe untersucht werden, nämlich der Typ von Gründen, welcher sich auf die Menschenwürde stützt. Die Frage lautet also, welche Folgerung sich aus der rechtlich und von der weit überwiegenden Mehrheit der Menschen auch moralisch und ethisch anerkannten Würde des Menschen für die ethische und dann auch rechtliche Qualifikation der Tötung auf Verlangen des Sterbenden bzw. die aktive Sterbehilfe ergibt.8 Gebietet die Menschenwürde bzw. die Verpflichtung zu Achtung und Schutz der Menschenwürde eine Freigabe der aktiven Sterbehilfe oder verbietet sie diese nicht vielmehr? Sekundär wird dann auch auf die Beihilfe zum Suizid eingegangen. Dabei kann hier angesichts des beschränkten Platzes kein Überblick über das mittlerweile unübersehbare Schrifttum gegeben werden. Vielmehr soll im Ausgang vom Begriff der Menschenwürde nur eine kurze systematische Überlegung entfaltet werden: Zunächst wird erläutert, was unter Menschenwürde zu verstehen ist (II.). Dann wird gefragt, was daraus für die ethische Beurteilung der Tötung auf Verlangen des Sterbenden und der Beilhilfe zum Suizid folgt (III.).

4 Volker Erb, in: Münchner Kommentar zum Strafgesetzbuch, § 34, Rn. 112 ff.; Claus Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 16 A III 1. b), S. 737 ff. 5 Dieser Einwand trifft auch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Zugänglichmachung von Substanzen, welche in extremen Notsituationen Sterbenskranken eine Selbsttötung ermöglichen sollen: BVerwG Urteil vom 3. März 2017 – 3 C 19.15. 6 Norbert Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat; Brian Stoffel, Voluntary Euthanasia, Suicide and Physician-assisted Suicide. 7 Gegen die Sterbehilfe etwa: Tom Koch, Living Versus Dying with Dignity: A new Perspective on the Euthanasia Debate. 8 Die rechtliche Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde ergibt sich in Deutschland aus Art. 1 I GG, in Europa aus Art. 1 der EU-Grundrechtecharta. Vereinzelte Fundamentalkritik an der Menschenwürde findet sich in der Philosophie etwa bei Rüdiger Bittner, Abschied von der Menschenwürde, oder Achim Lohmar, Falsches moralisches Bewusstsein. Eine Kritik der Idee der Menschenwürde.

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II. Die verschiedenen Teilbegriffe der Menschenwürde Man muss zwischen wenigstens vier (Teil-)Begriffen der Menschenwürde unterscheiden: einer „großen“, einer „kleinen“, einer „mittleren“ und einer „ökonomischen“ Würde.9 (1) Bei der großen Menschenwürde handelt es sich um eine nichtkörperliche, innere, im Kern unveränderliche, notwendige, gleiche und allgemeine Eigenschaft des Menschen, wie sie in einer ersten, noch wenig reflektierten Form bei Cicero auftauchte,10 vor allem vom Christentum entwickelt und dann nach ersten Ansätzen in der italienischen Renaissance insbesondere von Kant als Selbstgesetzgebung bzw. Selbstbestimmung konkretisiert wurde. Diese große Menschenwürde lässt sich – so der gleich noch näher darzustellende Vorschlag – am besten als Selbstbestimmung über die eigenen Belange verstehen. (2) Mit der kleinen Menschenwürde ist dagegen die nichtkörperliche, äußere, veränderliche Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung und Leistung eines Menschen gemeint, wie sie auf eine herausgehobene soziale Position eingeschränkt bereits mit dem lateinischen Ausdruck dignitas bezeichnet wurde.11 (3) Als Grenzfall der kleinen Würde kennt man seit Samuel von Pufendorf im 17. Jahrhundert noch eine Art mittlere Würde.12 Auch sie bezieht sich auf die äußere Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung der Menschen, betont aber die natürliche und damit im Prinzip unveränderliche Gleichheit dieser sozialen Stellung aller Menschen. (4) Schließlich forderten im 19. Jahrhundert insbesondere Vertreter der sozialistischen Bewegung ein „menschenwürdiges Dasein“. Damit wurde die Verwirklichung ökonomischer bzw. materieller Voraussetzungen der Menschenwürde verlangt. Man kann insofern abkürzend von einer „ökonomischen“ Würde sprechen, genauer von einer „ökonomischen Würdebedingung“. Weder die Tötung auf Verlangen des Sterbenden noch deren Verweigerung negieren im Normalfall dessen grundsätzlich gleiche soziale Stellung als Mensch in der Gesellschaft. Bettlägerigkeit, Wachkoma, Bewusstlosigkeit usw. ändern nichts an der gleichen sozialen Wertigkeit des Menschen. Der Sterbende wird weder durch seinen Zustand noch durch andere gedemütigt oder erniedrigt. Und es werden ihm auch nicht die materiellen Voraussetzungen der großen, kleinen oder mittleren Menschenwürde vorenthalten. Die Teilbegriffe (2) bis (4) der Menschenwürde, also die Begriffe der Achtung der gleichen sozialen Wertigkeit und der Sicherung der materiellen 9

Vgl. zum Folgenden die ausführlichere Darstellung in: Verf., Menschenwürde, S. 8 ff. Cicero, De Officiis, 105 f. 11 Vgl. etwa Tatjana Hörnle, Menschenwürde als Freiheit von Demütigungen; Avishai Margalit: The Decent Society; wohl auch Gunnar Duttge, Menschenwürdiges Sterben, S. 355. 12 Samuel von Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers, Kap. 7, §§ 1, 4; m.w.N.: Verf., Menschenwürde, S. 29 ff. 10

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Voraussetzungen der Menschenwürde scheiden also zur Beurteilung der Tötung auf Verlangen des Sterbenden durch andere aus. Übrig bleibt nur der Teilbegriff (1) der Menschenwürde, also die nichtkörperliche, innere, im Kern unveränderliche, notwendige, gleiche und allgemeine Eigenschaft der Selbstbestimmung des Menschen. Sie muss zunächst weiter erklärt werden: Die wesentlichen inneren Eigenschaften des Menschen, welche sowohl tatsächlich bestehen als auch normative Kraft entfalten können sind seine Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele.13 Diese vier Eigenschaften stehen in einem Kontinuum bzw. einer Reihe von Abstufungen zwischen körperlicher und mentaler Bestimmtheit: Strebungen sind rein vegetativ-körperlich fundierte und orientierte Eigenschaften, die der Aufrechterhaltung der körperlichen Einheit jenseits der bloßen Wirkung der physikalischen Grundkräfte dienen. Bedürfnisse haben häufig eine körperliche Basis, sind aber geistig beeinflussbar, etwa im Hinblick auf den Zeitpunkt und den Umfang ihrer Befriedigung. Wünsche haben gelegentlich auch eine körperliche, primär aber eine geistige Komponente. Die geistige Komponente kann sich anders als bei Bedürfnissen vollständig durchsetzen, also die Befriedigung des Wunsches gänzlich verändern oder sogar ganz verhindern. Ziele (Absichten) sind schließlich rein mentale Eigenschaften, etwa das Verfassen eines Buches oder das Erreichen einer beruflichen Stellung. Die vier normativ-ethisch relevanten Begriffe der Strebungen, Bedürfnisse, Wünsche und Ziele lassen sich mit den abstrakteren Begriffen der Belange bzw. Interessen zusammenfassen. Diese Belange bzw. Interessen schützen die Menschenrechte, wie sie seit dem 18. Jahrhundert in den klassischen Menschenrechtserklärungen und dann in vielen Verfassungen und internationalen Verträgen statuiert wurden: das Recht auf Leben, auf körperliche und psychische Unversehrtheit, auf Freiheit der Handlung, Bewegung, Religion, Meinung usw. Sind diese Belange aber schon durch die klassischen Menschenrechte gesichert, dann stellt sich die zentrale Frage: Worin kann dann noch die Menschenwürde bestehen? Die Menschenwürde ist spät zum Bewusstsein gelangt und spät statuiert worden, weil sie kein einfacher, primärer Belang des Menschen, wie sein Interesse an Leben, Leib, Psyche, Freiheit der Handlung, Bewegung, Religion, Meinung, Eigentum etc. ist. Man muss sich vor Augen führen, dass wir sekundäre Wünsche und Ziele mit Bezug auf primäre Belange haben. Wir können also etwa den sekundären Wunsch fassen, das primäre Bedürfnis nach Sport oder den primären Wunsch nach schöner Musik zu entfalten.14 Wünsche und Ziele sind also im Gegensatz zu Bedürfnissen und Strebungen aufeinander beziehbar bzw. iterierbar, das heißt mögliche Eigenschaften zweiter und höherer Ordnung gegenüber primären Strebungen, Bedürfnissen, Wünschen und Zielen, also anderen normativ relevanten Eigenschaften primärer bzw. niederer Ordnung. Ein wesentlicher Aspekt menschlicher Personalität und Individualität besteht gerade darin, eine solche, vernunft- und gefühlsmäßig gut begründete 13

Verf., Normative Ethik, S. 50 ff. Zu derart sekundären Bezugnahmen, allerdings beschränkt auf Wünsche und ohne Qualifikation als Menschenwürde: Harry Frankfurt, Freedom of the Will and the Concept of a Person. 14

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Rangordnung der eigenen Belange zu entwickeln und in einzelnen Entscheidungssituationen anzuwenden. Die mit der Eingangsfrage gesuchte weitere Konkretisierung der großen Menschenwürde als Selbstbestimmung ist damit gefunden: Die innere, unveränderliche Eigenschaft der großen Menschenwürde ist die Eigenschaft der tatsächlichen oder wenigstens potentiellen Selbstbestimmung über die eigenen Belange, das heißt die Bestimmung der eigenen Belange primärer bzw. niederer Stufe durch die Wünsche und Ziele zweiter bzw. höherer Stufe. Die Auffassung der Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange erster bzw. niederer Stufe passt gut zur häufigen – wenn auch textinterpretatorisch zum Zeitpunkt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten nicht gerechtfertigten15 – Identifikation des Menschenwürdebegriffs mit dem Verbot der ausschließlichen Instrumentalisierung des Menschen in Kants zweiter Formel des Kategorischen Imperativs. Fragt man sich, was es überhaupt bedeuten kann, den anderen nicht nur als Mittel zu gebrauchen, so genügt es nicht, einzelne Belange erster Stufe zu berücksichtigen. Werden die Wünsche und Ziele hinsichtlich eigener Belange, also die normativen Eigenschaften zweiter bzw. höherer Stufe negiert, dann impliziert das auch eine Entwertung aller Belange erster bzw. niederer Stufe. Darf jemand nicht einmal mehr über seine Wünsche und Ziele bezüglich seiner eigenen Belange entscheiden, dann sind auch alle Belange erster Stufe als eigenständige Interessen entwertet. Auf diese Weise wird verständlich, wie ein Anderer vollständig oder zumindest weitgehend instrumentalisiert werden kann, ohne dass es sich nur um die allgemeine ethische Anforderung handelt, andere überhaupt als ethisch relevante Wesen mit eigenen Belangen zu respektieren. Die Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange darf allerdings nicht als aktuell notwendige Leistung des Menschenwürdeträgers verstanden werden. Sie kennzeichnet die Gattung Mensch. Deshalb wird sie auch schon vor ihrer Ausprägung als aktuelle Eigenschaft im Hinblick auf ihre zukünftige Entfaltung bei einzelnen Menschen geschützt und kann in ihrer Schutzdimension auch nicht verloren gehen, wenn ein Mensch krank, bewusstlos oder komatös wird.16 Der sterbende Mensch ist also in jedem Stadium des Sterbeprozesses uneingeschränkt in seiner Menschenwürde geschützt. Um die große Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange besser zu verstehen, seien die Folter, Sklaverei, Zwangsarbeit und lebenslangen Freiheitsstrafe als paradigmatische Fälle erläutert: (1) Das Besondere der Folter liegt in der zweckgerichteten Verbindung des physischen oder psychischen Leids mit der Willensbrechung des Gefolterten. Die natürliche Fähigkeit, durch Wünsche und Ziele zweiter Stufe über die eigenen primären körperlichen Strebungen und körperlichen und seelischen Bedürfnisse und Wünsche zu entscheiden, wird stark reduziert. 15 16

Verf., Zur Würde des Menschen bei Kant. Vgl. Verf., Menschenwürde, S. 81 ff.

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(2) Bei der Sklaverei wird der Versklavte vollständig vom Sklavenhalter fremdbestimmt. Diese Fremdbestimmung beherrscht nicht nur zentrale Belange erster Stufe, wie den Körper des Sklaven, seine Tätigkeit usw., sondern auch wesentliche Belange zweiter und höherer Stufe, etwa seinen Willen, einen Wunsch nach Freiheit und selbstbestimmter Arbeit zu bilden. Die Ausprägung eigenständiger Belange zweiter Stufe ist für den Sklaven sinnlos, da seine Belange erster Stufe praktisch vollständig vom Sklavenhalter determiniert werden. (3) Bei der Zwangsarbeit handelt es sich um eine Art beschränkter Sklaverei, die mit der Arbeit einen wesentlichen Lebensbereich des Menschen umfasst. Der Zwangsarbeiter kann nicht mehr selbstbestimmt entscheiden, welche Bedürfnisse, Wünsche und Ziele er mit seiner Arbeit befriedigen bzw. erreichen will. (4) Die lebenslange Freiheitsstrafe ohne Chance jemals wieder freizukommen ähnelt der Sklaverei oder Zwangsarbeit. Die primären Belange des Eingesperrten sind stark eingeschränkt, so dass es für ihn wenig sinnvoll ist, Belange zweiter Stufe zu entfalten.17 Wichtig ist zu betonen, dass die Menschenwürde nicht mit der allgemeinen Selbstbestimmung bzw. Autonomie als solche gleichzusetzen ist.18 Würde man so weit in der Bestimmung der Menschenwürde gehen, so wäre jede Einschränkung der Autonomie eines Menschen, welche im Alter regelmäßig eintritt, schon eine Verletzung oder zumindest Einschränkung der Menschenwürde.

III. Folgerungen für die Beurteilung der Tötung auf Verlangen und der Beihilfe zum Suizid? Zunächst gilt es zu betonen, dass der schwer Kranke bzw. Sterbende bis an sein Lebensende den Schutz seiner Menschenwürde in vollem Umfang genießt. Auch prekäre Zustände wie Bewusstlosigkeit oder Koma nehmen ihm diesen Schutz nicht, weil seine eigene Leistung für diesen Schutz ja nicht notwendig ist. Die oben erwähnten paradigmatischen Verletzungen der Folter, Sklaverei, Zwangsarbeit und lebenslangen Freiheitsstrafe tasten die Menschenwürde zwar an bzw. schränken sie ein, aber der Folterer oder Sklavenhalter kann dem Gefolterten oder Sklaven seine große Menschenwürde nicht nehmen. Allerdings sollte man sich vor Augen führen, dass alle paradigmatischen Verletzungen der Menschenwürde durch Andere geschehen. Folter, Sklaverei, Zwangsarbeit und lebenslange Freiheitsstrafe beruhen auf dem Handeln Anderer. Es ist kein allgemein anerkannter Fall bekannt, wo der Träger der Menschenwürde selbst seine Würde verletzt. Man müsste hierzu wie Kant und

17

Vgl. Verf., Menschenwürde, S. 112. Diese Tendenz findet sich nicht selten in der Literatur, etwa bei Katharina Woellert/ Heinz-Peter Schmiedebach, Sterbehilfe, S. 42 ff. 18

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manche seiner Vorgänger Pflichten gegen sich selbst annehmen,19 was in einem starken, ethisch-moralischen Sinn dieser Pflichten säkular nur schwer zu begründen ist. Im Hinblick auf den Sterbenden lassen sich zwei grundsätzlich zu unterscheidende Typen der Einschränkung bzw. Verletzung der Menschenwürde ins Auge fassen.20 Der eine Typ der Verletzung könnte in der ärztlichen Tätigkeit liegen, etwa in der intensivmedizinischen Krankenbehandlung mittels einer Vielzahl von Apparaten. Die Frage lautet also, ob der heute immer weiter zunehmende Einsatz der Apparatemedizin am Lebensende die Menschenwürde des Patienten verletzen kann. Der andere Typ der Verletzung könnte im Zustand des Kranken selbst bestehen, also dem möglichen Zustand der dauernden Bettlägerigkeit, der Unbeweglichkeit, der Lähmung, der Bewusstlosigkeit, des Wachkomas, der starken Schmerzen, der Abnahme der Fähigkeit zu seiner Selbstbestimmung, der Ausweglosigkeit seiner Lage, der Hoffnungslosigkeit im Hinblick auf seine Zukunft usw. Beide Typen einer möglichen Verletzung hängen nur insofern faktisch zusammen, als die intensivmedizinische Behandlung erst beim Schwerkranken notwendig wird, dann aber die Dauer seines möglicherweise menschenunwürdigen Zustands der Einschränkung seiner Selbstbestimmung über die eigenen Belange verlängert. Wie sind beide Gesichtspunkte zu beurteilen? 1. Die medizinische Behandlung Anders als Folter, Sklaverei, Zwangsarbeit oder lebenslange Gefängnisstrafe geschieht die medizinische Heilbehandlung per definitionem nicht mit dem Ziel, dem Patienten ein Übel zuzufügen, sondern um ihm Heilung oder Schmerzlinderung zu ermöglichen, also mit dem Ziel eines Gutes. Der Patient soll durch die ärztliche Behandlung von seiner Krankheit geheilt oder zumindest sein Gesundheitszustand so weit als möglich gebessert werden. Insofern kann man schon nicht von einer „Verletzung“ sprechen. Zur Heilbehandlung können allerdings Maßnahmen erforderlich werden, welche die tatsächliche Selbstbestimmung des Patienten für eine gewisse, wenn auch kurze Zeit aufheben, etwa eine Narkose oder die Versetzung in ein künstliches Koma. Die Selbstbestimmung kann auch durch Schläuche, Kanülen und Apparate eingeschränkt werden. Damit ist für eine gewisse Dauer auch die faktische Selbstbestimmung des Patienten über die eigenen Belange aufgehoben oder massiv beschnitten. Allerdings ist diese Zeit anders als bei der Folter, Sklaverei, Zwangsarbeit und lebenslangen Freiheitsstrafe von vornherein eng begrenzt und vom Kranken nach Mitteilung durch den Arzt regelmäßig vernünftig überschaubar, also quantitativ einigermaßen vorhersehbar. Schließlich ist es zwingend erforderlich, dass der Patient oder ein gesetzlicher Vertreter einwilligt, und zwar nach hinreichender Aufklärung durch den Arzt. Ansonsten handelt es sich nicht um eine medizinische Behandlung, 19

Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, S. 417 ff. Dies wird häufig nicht beachtet, etwa in Katharina Woellert/Heinz-Peter Schmiedebach, Sterbehilfe, S. 42 ff. 20

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sondern um eine Körperverletzung. Wenigstens drei Faktoren unterscheiden die medizinische Heilbehandlung also von den paradigmatischen Menschenwürdeverletzungen: (1) die regelmäßige Intention des Guten beim Arzt im Gegensatz zur Intention eines Übels, (2) die eng begrenzte, vom Kranken regelmäßig vernünftig überschaubare Dauer der Einschränkung und (3) das Erfordernis seiner Einwilligung. All dies schließt es aus, die lege artis sowie möglichst schonende und mit Einwilligung durchgeführte ärztliche Heilbehandlung als Menschenwürdeverletzung anzusehen, mag diese Behandlung auch im konkreten Fall belastend sein, Schmerzen und Leid verursachen sowie die Selbstbestimmung des Patienten einschränken. Sprechen wir insofern manchmal von „Quälerei“, bedeutet das nicht die Qualifikation der Heilbehandlung als Menschenwürdeverletzung, sondern als schmerzhaft, leidvoll und autonomieeinschränkend. Und es bedarf keiner besonderen Betonung, dass alle derartigen Belastungen des Patienten durch die Heilbehandlung so weit wie möglich vermieden werden müssen. Die Autonomie des Patienten und sein gleicher Wert sind durch den Arzt und die Pflegenden zu achten. Sonst kann es im Einzelfall zu einer Demütigung und damit Verletzung der kleinen Menschenwürde kommen. Was ist aber mit vergleichbaren Handlungen Anderer, die von manchen als Menschenwürdeverletzungen qualifiziert wurden, etwa der sog. Zwergenweitwurf oder das Betrachten nackter Personen in Peep-Shows?21 Zunächst ist festzuhalten, dass es sich hierbei nicht um allgemein anerkannte paradigmatische Fälle von Menschenwürdeverletzungen handelt, sondern um sehr umstrittene Randfälle, die nur in einigen Ländern als solche Verletzungen der Menschenwürde anerkannt werden, etwa der Zwergenweitwurf zwar in Deutschland und Frankreich,22 nicht aber in den angelsächsischen Ländern, und das Betrachten nackter Personen in Peep-Shows ebenfalls in Deutschland durch das Bundesverwaltungsgericht,23 nicht aber in vielen anderen Ländern. Zum zweiten ist fraglich, ob derartige Handlungen überhaupt als Menschenwürdeverletzungen zu qualifizieren sind. Zum dritten sind diese Handlungen zwar wie die medizinische Heilbehandlung von einer Einwilligung abhängig und zeitlich eng begrenzt sowie regelmäßig klar überschaubar. Aber sie geschehen nicht mit der Intention direkt etwas Gutes für den Geworfenen oder in einer PeepShow Betrachteten herbeizuführen. Der Zwergenweitwurf und das Betrachten in einer Peep-Show sind ein Übel, mit dem nicht direkt kausal etwas Gutes verbunden ist, wie mit der Heilbehandlung. Die Menschen lassen sich auf diese Praktiken nur ein, weil ihnen als sekundäre Kompensation Geld oder sonstige Vergünstigungen angeboten werden, welche ein zusätzliches Gut für sie darstellen. Die direkte, kausale Verbindung des regelmäßigen Heilungserfolgs mit der guten Intention und den guten Folgen stellt den zentralen Unterschied der medizinischen Heilbehandlung gegenüber dem Zwergenweitwurf und der Peepshow dar (sofern man diese Typen von Fäl21

Vgl. Verf., Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange, 252 – 254. VG Neustadt, in: NVwZ 1993, 98 f.; 27. 10. 1995 Commune de Morsang-sur-Orge, Recueil Dalloz Sirey 1996, 177. 23 BVerwG 64, 274 (278 f.). 22

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len überhaupt als Menschenwürdeverletzungen anerkennt), welcher die Qualifikation der Heilbehandlung als Menschenwürdeverletzung ausschließt. 2. Der Zustand des Sterbenden Aber liegt nicht im spezifischen Zustand des unheilbar kranken Patienten eine Verletzung seiner Menschenwürde, welche vielleicht die aktive Sterbehilfe rechtfertigen würde? Wesentlich ist hier zunächst, dass – wie oben bereits erwähnt wurde – der Zustand des sterbenskranken Patienten nicht durch die Handlung eines anderen herbeigeführt wurde, sondern seine einzige oder zumindest wesentliche Ursache in der Person des Betroffenen selbst hat (einmal abgesehen von atypischen, strafrechtlich relevanten Körperverletzungen durch Andere). Insofern scheidet die Qualifikation dieses Zustands als „Verletzung“ von vornherein aus. Es kann also in diesem bloßen Zustand auch keine Menschenwürdeverletzung liegen. Allerdings wird man kaum bestreiten können, dass der Zustand mancher Sterbenskranker faktisch dem Zustand vergleichbar ist, welcher sich als Folge der oben erwähnten paradigmatischen Menschenwürdeverletzungen einstellt. Wer bewegungsunfähig, etwa in einem „Locked-in-Syndrom“ oder im Wachkoma auf dem Krankenbett liegt, der ähnelt in seinem Zustand dem gefesselten Folteropfer auf einer Streckbank, selbst wenn er keine Schmerzen erleiden muss. Und wenn dieser Zustand nach jeder vernünftigen Prognose irreversibel ist, dann ist er in seiner Selbstbestimmung über seine eigenen Belange in ähnlichem Maße eingeschränkt wie ein Gefolterter, ein Sklave, ein Zwangsarbeiter oder ein lebenslänglich Inhaftierter. Seine Menschenwürde wird nicht willentlich durch andere verletzt, aber er befindet sich in einem Zustand, welcher dem Resultat einer solchen paradigmatischen Menschenwürdeverletzung vergleichbar ist, etwa ebenso leidvoll, schmerzhaft und nicht selbstbestimmt. Was folgt daraus? Sieht man bei den paradigmatischen Menschenwürdeverletzungen den ethisch relevanten Sachverhalt nicht nur in der schlechten Absicht des Verletzers oder in der schädigenden Durchführung der Verletzungshandlung, sondern auch in den herbeigeführten negativen Konsequenzen – was einer humanen und deshalb notwendig umfassenden Ethik aufgegeben ist24 – dann wird man den Vergleich dieser negativen Konsequenzen mit dem faktischen Zustand mancher Sterbenskranker nicht ausweichen können. Angesichts dieser Vergleichbarkeit der beiden Typen von Zuständen muss man auch Verständnis haben, wenn sich der Sterbenskranke ähnlich wie ein Folteropfer, ein Sklave, ein Zwangsarbeiter oder ein lebenslänglich Inhaftierter die Beendigung dieses Zustands wünscht bzw. seine Angehörigen oder gesetzlichen Vertreter die Beendigung dieses Zustands für ihn wünschen.

24

Vgl. dazu Verf., Normative Ethik.

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Fraglich ist allerdings, was aus der in manchen Situationen gerechtfertigten Vergleichbarkeit dieser Zustände des Opfers einer Menschenwürdeverletzung und des Sterbenskranken folgt. Lässt sich mit Verweis auf diesen leidvollen Zustand mancher Sterbender das moralische oder rechtliche Verbot der Tötung auf Verlangen oder der Einschränkung der Beihilfe zum Suizid als Einschränkung der Menschenwürde kritisieren? An dieser Stelle muss man sich einen wesentlichen Unterschied in der möglichen Aufhebung beider Typen von Zuständen vor Augen führen: Im Falle der paradigmatischen Menschenwürdeverletzungen ist es tatsächlich möglich und ethisch, moralisch und rechtlich geboten, die Verletzungshandlung sofort zu beenden, so dass das Opfer seine Menschenwürde wieder ohne Einschränkungen hat. Der Folterer kann und muss seine Folter, der Sklavenhalter seine Versklavung, der zur Arbeit Zwingende seinen Zwang zur Arbeit und die Strafverfolgungsbehörde ihre lebenslange Freiheitstrafe nach einer gewissen Verbüßungszeit beenden. Das Folteropfer kann und muss also frei kommen und ebenso der Sklave, der Zwangsarbeiter und auch – nach Vollstreckung einer gewissen Strafzeit – der Strafgefangene. Beim Sterbenskranken, bei dem nach der Rechtfertigung der Sterbehilfe gefragt wird, sind vergleichbare Möglichkeiten der Beendigung des belastenden Zustands aber bedauerlicherweise versperrt: Sein zum Tode führender Zustand ist nicht mehr revidierbar, sonst könnte und müsste ja eine kurative Behandlung erfolgen und die Frage nach der Tötung auf Verlangen in Form der aktiven Sterbehilfe würde sich nicht stellen. Beim Sterbenskranken kann also der Zustand, welcher sich in seiner Schwere mit dem Zustand durch eine Menschenwürdeverletzung vergleichen lässt, gar nicht mehr in einen guten, nicht belastenden Zustand rücküberführt werden, wie das bei der möglichen und gebotenen Beendigung jeder Menschenwürdeverletzung der Fall ist. Der einem menschenunwürdigen Zustand vergleichbare Zustand kann also nicht beendet werden, es sei denn durch den Tod, welcher aber – zumindest in der immanenten Welt – jeden Lebenszustand des Sterbenskranken, sei er negativ oder positiv, aufhebt. Dann kann aber die Sterbehilfe nicht mit Verweis auf die Vergleichbarkeit der Beendigung beider Typen von Zuständen gerechtfertigt werden. Oder anders formuliert: Weil die Pflicht zur Beendigung der Menschenwürdeverletzung nicht die Tötung des Verletzten erlaubt oder gar gebietet, kann auch der vergleichbar leidvolle Zustand des Todkranken nicht mit Verweis auf die Menschenwürde dessen Tötung erlauben oder gar gebieten. Aus der Vergleichbarkeit der Zustände infolge einer Menschenwürdeverletzung und infolge einer tödlichen Krankheit kann also keine Rechtfertigung für die Sterbehilfe mit Verweis auf die Menschenwürde folgen – einfach deshalb, weil eine Aufhebung der Menschenwürdeverletzung durch Tötung weder erlaubt noch gar geboten ist. Auch wenn man also den Zustand des Opfers einer Menschenwürdeverletzung und einer tödlichen Erkrankung mit ihrer schwerwiegenden Einschränkung der Selbstbestimmung über die eigenen Belange vergleichen kann, folgt daraus keine Begründung aus der Menschenwürde für die Sterbehilfe.

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Die Verneinung des Verweises auf die Menschenwürde als Begründung schließt allerdings natürlich andere Gründe, welche an den negativen Zustand eines Todkranken anknüpfen, nicht aus, etwa den Verweis auf sein irreversibles Leiden, seine Schmerzen, seinen Verlust an Selbstbestimmung. Es kann nicht bezweifelt werden, dass jedes Leiden zumindest in einer immanenten, nichtreligiösen Perspektive grundsätzlich als schlecht angesehen werden muss. Das gibt eine Rechtfertigung für die Beendigung dieses Leidens. Ob diese Rechtfertigung der Beendigung des Leidens dann in der Abwägung das Negative, das jeder Tötungshandlung unweigerlich innewohnt, überwiegt, ist eine andere Frage. Und selbst wenn man diese Frage bejahen würde, könnte es selbstredend andere Gründe geben, welche die Etablierung eines solchen staatlich erlaubten Tötungssystems ausschließen würden, etwa die Gefahr einer realen oder auch nur vermeintlichen Drucksituation, der sich Sterbenskranke als besonders schwache Mitglieder unserer Gesellschaft ausgesetzt sähen. Das Wort „dignity“ im eingangs erwähnten „Death with Dignity Act“ des Staates Oregon wird man also nicht mit „Menschenwürde“ übersetzen können, sondern allenfalls als „Leid- oder Schmerzfreiheit“ bzw. „Würde“ im weiteren Sinn.25 Dies korrespondiert mit der weit überwiegenden Literatur, welche die Sterbehilfe mit Verweis auf die Leidvermeidung begründet.26 3. Stellt die Tötung auf Verlangen oder die Beihilfe zum Suizid ihrerseits eine Menschenwürdeverletzung dar? Um das Verhältnis von Menschenwürde und Sterbehilfe umfassend zu erörtern, wird man noch fragen müssen, ob die Tötung auf Verlangen oder die Beihilfe zum Suizid nicht ihrerseits eine Menschenwürdeverletzung darstellen. Die Frage erscheint umso dringlicher, weil für einzelne Typen von Tötungshandlungen eine solche zusätzliche Qualifikation als Menschenwürdeverletzung bejaht wurde, etwa die gesetzliche Erlaubnis zu einer Tötung in der Form des Abschusses eines gekidnappten Verkehrsflugzeugs durch Piloten der Streitkräfte.27 Jede Tötung zerstört das Leben als vitale Basis der Eigenschaft der Menschenwürde. Während der lebendige Mensch die Menschenwürde trägt, gilt dies für den toten Menschen nicht mehr – sieht man einmal von gewissen Nachwirkungen ab, etwa im Hinblick auf den Schutz vor schwerwiegenden postmortalen Abwertungen, welche die kleine oder mittlere Menschenwürde verletzen können.

25 Man kann dann allerdings fragen, ob die Verwendung des Wortes „dignity“/„Würde“ in diesem erweiterten Sinn nicht mehr Verwirrung stiftet als Klarheit. 26 Vgl. etwa: Brian Stoffel, Voluntary Euthanasia, Suicide and Physician-assisted Suicide, S. 318. 27 BVerfGE 115, 118. Vgl. Verf., Menschenwürde, S. 114 f. Reinhard Merkel hat diese Entscheidung scharf kritisiert: Reinhard Merkel, § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten?

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Trotz dieser kausalgesetzlichen Verbindung von Tötung und Vernichtung der Menschenwürde, wird man die einfache Tötung in ethischer und a fortiori auch moralischer und juristischer Perspektive nicht als spezifische Menschenwürdeverletzung ansehen dürfen.28 Wie bei der Instrumentalisierung der Passagiere zur Rettung Anderer muss zur einfachen Tötungshandlung ein weiterer Umstand mit zusätzlichem spezifischem Unrechtsgehalt hinzutreten, um eine Tötung auch zur Menschenwürdeverletzung werden zu lassen. Dabei kommen alle vier, oben dargestellten Begriffe der Menschenwürde in Frage. Enthält die typische Tötung auf Verlangen eines Sterbenden über die einfache Tötung hinaus einen zusätzlichen Unrechtsgehalt, so dass sie als Menschenwürdeverletzung zu qualifizieren wäre? Im Regelfall verfolgt derjenige, welcher auf Verlangen tötet oder beim Suizid hilft, nur das Motiv, dem Wunsch des Sterbenden zu entsprechen. Darin liegt kein zusätzlicher, die Menschenwürde verletzender, spezifischer Unrechtsgehalt. In einem solchen typischen Fall wird man die aktive Sterbehilfe oder die Beihilfe zum Suizid des Sterbenden nicht als Menschenwürdeverletzung ansehen können, so dass sich kein zusätzlicher Grund gewinnen lässt, um die aktive Sterbehilfe oder die Beihilfe zum Suizid des Sterbenden zu verbieten oder zu kritisieren. Allerdings können natürlich auch bei der aktiven Sterbehilfe oder der Beihilfe zur Selbsttötung Absichten, Formen der Durchführung oder Konsequenzen hinzutreten, welche die Tötung auf Verlangen zu einer Menschenwürdeverletzung werden lassen. Dies könnte etwa der Fall sein, wenn der Tötende oder der Helfende dem Sterbenskranken nicht wirklich dienen will, sondern ihn etwa nur zum Gelderwerb eines Unternehmens instrumentalisiert oder die Durchführung der Sterbehilfe eine Demütigung enthält usw. Die Tötung auf Verlangen verletzt also die Menschenwürde typischerweise nicht, aber spezifische, zusätzliche Umstände können in der einzelnen Situation eine Menschenwürdeverletzung implizieren.

IV. Ergebnis der Untersuchung Das Ergebnis der hier angestellten Untersuchung lautet: Der Schutz der Menschenwürde kann in ihren typischen Konstellationen weder eine Begründung noch eine Kritik der Tötung auf Verlangen des Sterbenden oder der Beihilfe zum Suizid rechtfertigen.29 Mit diesem Ergebnis ist allerdings nur ein beschränkter Beitrag zur Diskussion um die Tötung auf Verlangen bzw. die Sterbehilfe geleistet, weil in dieser Diskussion eine Vielzahl weiterer Gründe und Gegengründe angeführt werden können und müssen.

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Vgl. Verf., Menschenwürde, S. 64 f. Für eine Streichung des Menschenwürdekriteriums aus der Sterbehilfediskussion: Reinhard Merkel, Früheuthanasie, S. 313 – 321. 29

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Literatur Bittner, Rüdiger: Abschied von der Menschenwürde, in: Mario Brandhorst und Eva Weber-guskar (Hg.), Menschenwürde. Eine philosophische Debatte über Dimensionen ihrer Kontingenz, Berlin 2017. Cicero: De officiis/Vom pflichtgemäßen Handeln, Stuttgart 1992. Duttge, Gunnar: Menschenwürdiges Sterben, in: Heike Baranzke/Gunnar Duttge (Hrsg.), Autonomie und Würde. Leitprinzipien in Bioethik und Medizinrecht, Würzburg 2013, S. 339 – 359. Frankfurt, Harry: Freedom of the Will and the Concept of a Person, in: ders., The Importance of What we Care about, Cambridge 1995, S. 11 – 25. Hoerster, Norbert: Sterbehilfe im säkularen Staat, Frankfurt a. M. 1998. Hörnle, Tatjana: Menschenwürde als Freiheit von Demütigungen, in: Zeitschrift für Rechtsphilosophie 2008, S. 41 – 61. Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, AA, Berlin 1907/14, Nachdruck 1968. Koch, Tom: Living Versus Dying with Dignity: A New Perspective on the Euthanasia Debate, in: Cambridge Quarterly of Healthcare Ethics (1996), 5, S. 50 – 61. Lohmar, Achim: Falsches moralisches Bewusstsein. Eine Kritik der Idee der Menschenwürde, Hamburg 2017. Margalit, Avishai: The Decent Society, Cambridge, MA 1996. Dt.: Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Frankfurt a. M. 2012. Merkel, Reinhard: Teilnahme am Suizid. Tötung auf Verlangen. Euthanasie. Fragen an die Strafrechtsdogmatik, in: Rainer Hegselmann/Reinhard Merkel, Zur Debatte über Euthanasie. Beiträge und Stellungnahmen, Frankfurt a. M. 1991, S. 71 – 127. Merkel, Reinhard: Früheuthanasie – Rechtsethische und strafrechtliche Grundlagen ärztlicher Entscheidungen über Leben und Tod in der Neonatalmedizin, Baden-Baden 2001. Merkel, Reinhard: § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten?, in: Juristen Zeitung, 8/ 2007, S. 373 – 385. Münchner Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, hg. von Bernd von Heintschel-Heinegg, München 20173. Pfordten, Dietmar von der: Zur Würde des Menschen bei Kant, in: ders., Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant, Paderborn 2009, S. 9 – 26. Pfordten, Dietmar von der: Normative Ethik, Berlin 2010. Pfordten, Dietmar von der: Menschenwürde, München 2016. Pfordten, Dietmar von der: Menschenwürde als Selbstbestimmung über die eigenen Belange, in: Philosophisches Jahrbuch 124 (II/2017), S. 242 – 261. Pufendorf, Samuel Baron von: Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, Frankfurt a. M. 1994. Roxin, Claus: Strafrecht Allgemeiner Teil, München 20064.

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Schneider, Anne und Nikolaus: Vom Leben und Sterben: Ein Ehepaar diskutiert über Sterbehilfe, Tod und Ewigkeit, Neukirchen-Vluyn 2019. Stoffel, Brian: Voluntary Euthanasia, Suicide and Physician-assisted Suicide, in: A Companion to Bioethics, hg. v. Helga Kuhse und Peter Singer, Oxford 20092. Woellert, Katharina/Schmiedebach, Heinz-Peter: Sterbehilfe, München 2008.

Ethische Fragen der Selbsttötung angesichts der aktuellen deutschen Diskussion um ärztliche Sterbehilfe und um Sterbehilfevereine Von Carl Friedrich Gethmann

I. Einleitung Die Frage der moralischen Erlaubtheit der Selbsttötung beschäftigt die ethische Reflexion seit Jahrtausenden. Kaum einer der bedeutenden Philosophen hat sich nicht dazu geäußert1, was nicht überraschen kann, wenn man bedenkt, dass mit dieser Frage eine Reihe grundsätzlicher ethischer und anthropologischer Themen eng verbunden sind. Die leitende philosophische Frage lautet dabei, ob die Selbsttötung moralisch erlaubt bzw. der Zwang zum Weiterleben moralisch gerechtfertigt ist. Gegenüber dieser Fragestellung ist die öffentliche Diskussion um die Selbsttötung in Deutschland in den letzten Jahrzehnten allerdings durch eine iterierte Problemreduktion geprägt. Die erste Problemreduktion besteht darin, die Frage auf den Sterbewunsch des leidenden, oft schwerkranken Menschen zu beschränken.2 Stellt man in Rechnung, dass in Deutschland von jährlich etwa 100.000 Suizidversuchen auszugehen ist (wegen der Dunkelziffer ist das eine eher grobe Schätzung), von denen etwa 10.000 aus der Sicht der Suizidenten erfolgreich sind3, erscheint diese Problemreduktion als unangemessen; nur eine Minderheit der Suizidwilligen dürfte überhaupt in ärztlicher Behandlung (gewesen) sein, geschweige denn, sich in einer klinisch beschriebenen Sterbephase befinden (befunden haben). Die meisten Suizidwilligen sind also jedenfalls prima facie keine Kranken, schon gar nicht sterbenskranke 1 Siehe Ebeling, Hans, „Selbstmord“, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried, Historisches Wörterbuch der Philosophie Band 9, Basel 1995, 493 – 499; von Engelhardt, Dietrich, „Die Beurteilung des Suizids im Wandel der Geschichte“, in: Wolfslast, Gabriele/Schmidt, Kurt W. (Hrsg.), Suizid und Suizidversuch. Ethische und rechtliche Herausforderung im klinischen Alltag, München 2005, 11 – 26. 2 Dabei dürften veröffentlichte Reflexionen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie Gunter Sachs (†2011), Udo Reiter (†2014), Fritz J. Raddatz (†2015) zu ihrer Selbsttötung eine wichtige Rolle gespielt haben. 3 Die Zahl der Selbsttötungen ist in Deutschland in den letzten zehn Jahren recht konstant, der langfristige Trend ist eher sinkend. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/318378/um frage/anzahl-der-Suizide-in-deutschland-im-vergleich-zu-ausgewaehlten-todesursachen/–.

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Menschen.4 Eine zweite Problemreduktion liegt darin, vor allem das Handeln derjenigen Menschen moralisch zu qualifizieren, die Beihilfe zur Selbsttötung leisten. Während die individuelle Beihilfe unter Hinweis auf eine menschliche Extremsituation oft noch auf ein mehr oder weniger eingeschränktes Verständnis trifft, werden Sterbehilfevereine unabhängig von ihrem tatsächlichen Wirken in Deutschland weitgehend moralisch und rechtlich disqualifiziert. Eine dritte Problemreduktion, die mit der ersten eng zusammenhängt, liegt darin, als Helfer die Angehörigen der Heilberufe, insbesondere die Ärzte, in das Zentrum der ethischen Überlegungen zu rücken. Die drei genannten Problemreduktionen haben dazu geführt, dass in der öffentlichen Debatte der letzten Jahrzehnte in Deutschland an die Stelle der Erörterung der moralischen Erlaubtheit der Selbsttötung bzw. der Zumutbarkeit des Zwanges zum Weiterleben die Frage nach der moralischen Erlaubtheit des ärztlich assistierten Suizids und der Erlaubtheit von Sterbehilfevereinen getreten ist. Die dreifache Problemreduktion bestimmt auch die verfassungs- und strafrechtliche Debatte in der Bundesrepublik. Auch die umfangreichen Stellungnahmen der Bioethikkommission des Landes Rheinland-Pfalz5, des Nationalen6 und des Deutschen Ethikrates7 sind von den Problemreduktionen bestimmt. Aus einfachen subsumtionslogischen Gründen ist es jedoch methodisch unvermeidlich, vor die rechtlichen und politischen Fragen der Suizidassistenz und der Zulässigkeit von Sterbehilfevereinen die ethische Frage nach der grundsätzlichen Erlaubtheit der Selbsttötung bzw. der Zumutbarkeit des Zwanges zum Weiterleben zu stellen. Es ist nämlich schwer einzusehen, die ärztliche Assistenz für moralisch verwerflich zu erklären, wenn für jedermann die Beihilfe zur Selbsttötung moralisch zulässig (wenn nicht sogar empfehlenswert) sein sollte, und es ist erst recht schwer einzusehen, dass die Beihilfe zur Selbsttötung durch Sterbehilfevereine grundsätzlich verwerflich sein sollte, wenn die Selbsttötung selbst moralisch zulässig wäre. Zu der ethischen Grundfrage trifft man in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung allerdings auf erstaunliche Ungereimtheiten. Obwohl die Selbsttötung in Deutschland somit auch die (jedenfalls individuelle) Beihilfe zu ihr straffrei ist, steht sie in der öffentlichen Debatte oft unter einem mehr oder weniger verdeckten Illegitimitätsverdacht, der sich aus ganz unterschiedlichen intuitiven Quellen speist, religiösen („Leben als Geschenk“), sozialen („läßt die Mitmenschen im Stich“) u. a. Dieser Illegitimitätsverdacht amalgamiert sich leicht mit juristischen und ethischen Irreführungen, die z. B. dazu führen, weiterhin von „Selbst-Mord“ zu sprechen und die Beihilfe zur Selbsttötung mit der Tötung auf Verlangen (gegebenenfalls durch 4 Zu der nicht selten anzutreffenden generellen Pathologisierung des Selbsttötungswunsches s. u. IV. 1. 5 Ministerium der Justiz Rheinland-Pfalz: Sterbehilfe und Sterbebegleitung, Mainz 2004. – Dazu Kreß, Hartmut, „Selbstbestimmung am Lebensende“, in: Ethik in der Medizin 3 (2004) 291 – 297. 6 Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende, Berlin 2006 (mit einem bedenkenswerten Vorschlag zur Verbesserung der Terminologie). 7 Suizidprävention statt Suizidunterstützung, Berlin 2017.

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Unterlassung) gleichzusetzen.8 In auffälligem Kontrast zu diesem weitverbreiteten Illegitimitätsverdacht stehen Äußerungen bedeutender Philosophen und Theologen wie Karl Löwith9, Jean Améry10, Wilhelm Kamlah11 und Hans Küng12. Neben diesen haben sich mehrere fach-ethische Untersuchungen in den letzten Jahren mit dem Thema beschäftigt.13

II. Handlungsurheberschaft Dass die Selbsttötung das einzige philosophische Problem sei, über das zu diskutieren sich lohnt14, ist sicher einer Übertreibung, die einem „philosophierenden Schriftsteller“ nachgesehen werden kann. Die Diskussion über die Selbsttötung wird allerdings in den letzten Jahrzehnten zunehmend weniger im Rahmen der Philosophie geführt, vielmehr wird sie wie selbstverständlich im Rahmen der (Natur-) Wissenschaft vom Menschen (Medizin, Biologie, Soziologie, u. a.) vorrangig unter dem Gesichtspunkt der Suizidprävention verortet. Suizidale Handlungen werden dabei grundsätzlich als mehr oder weniger gut erklärbare Wirkungen von Ursachen, d. h. auf der Grundlage eines naturalistischen Handlungsverständnisses interpretiert. Wenn der Selbsttötungswille im Akteur kausal bewirkt wird, dann ist es grundsätzlich möglich, die Selbsttötung durch Intervention in den Kausalprozess zu verhindern. Wenn aus welchen Gründen auch immer die Selbsttötung als zu verhinderndes Übel gilt, dann ist Suizidprävention generell geboten. Dies ist in der Tat die durch die modernen (Natur-)Wissenschaften vom Menschen unterstellte (wenn auch selten explizit diskutierte) Prämisse. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich aus philosophischer Sicht nicht mehr primär die Frage nach der moralischen Erlaubtheit der Selbsttötung, sondern die Frage, „ob erlaubt ist, eine Person auch gegen ihren ausdrücklich bezeugten Willen am Suizid zu hindern.“15 Wer vom „ausdrücklich bezeugten Willen“ spricht, unterstellt allerdings, dass das menschliche Handeln durch den Urheber der Handlung hervorgebracht wird, somit nicht von Anfang an 8 Als Beleg für viele: Interview des Präsidenten der Ärztekammer Westfalen, Theodor Windhorst: Westdeutsche Allgemeinen Zeitung vom 12. 11. 2014. 9 „Die Freiheit zum Tode“, in: Vorträge und Abhandlungen, Stuttgart 1966, 274 – 289. 10 Hand an sich legen – Diskurs über den Freitod, Stuttgart 1976. 11 Meditatio Mortis, Stuttgart 1976. 12 Jens, Walter/Küng, Hans (Hrsg.), Menschwürdig sterben, Zürich 2010; Küng, Hans, Glücklich sterben, München 2014. 13 Hervorzuheben ist die gründliche Untersuchung von Wittwer, Héctor, Selbsttötung als philosophisches Problem, Paderborn 2003; s. ferner; Birnbacher, Dieter, Suizid und Suizidprävention aus ethischer Sicht, in: ders., Bioethik zwischen Natur und Interesse, Frankfurt am Main 2006, 195 – 221; Pieper, Annemarie, Läßt sich der Suizid ethisch rechtfertigen?, in: J. Küchenhoff (Hrsg.), Selbstzerstörung und Selbstfürsorge, Gießen 1999, 257 – 273. 14 Camus, Albert, Le Mythe de Sysiph, Paris 1965, 89 ff. 15 Wittwer, Héctor, Selbsttötung, a. a. O. 26.

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durch Ursachen der einen oder anderen Art determiniert ist. Somit ist mit der Frage nach Handlungsurheberschaft und Selbstbestimmung zu beginnen. Wenn man von „Selbst-tötung“ spricht, unterstellt man, dass das Phänomen des Todes überhaupt in den Handlungsraum des Akteurs gehört und nicht vielmehr ein Widerfahrnis ist, das sich dem Handeln des Akteurs bezüglich seiner selbst a priori entzieht. Den reinen Widerfahrnischarakter des Todes unterstellt eine Argumentation zur „Realität des Todes“, die auf Epikur zurückgeht, und die im Anschluss an ihn seit der älteren Stoa bis heute zitiert wird. Danach berühre der Tod den Menschen gar nicht, da er nicht eingetreten sei, solange der Mensch noch Erfahrungen machen könne, der Mensch ihn auf der anderen Seite aber nicht erfahren könne, wenn er eingetreten sei.16 Epikur fasst damit die Skepsis seiner philosophischen Vorläufer hinsichtlich der Aussagbarkeit von Entstehen und Vergehen zusammen und löst so die weitverzweigten Überlegungen der abendländischen Philosophie zum Phänomen der Erkennbarkeit und Aussagbarkeit des Todes aus17; gelegentlich wird von einer „Erkenntnistheorie des Todes“18 gesprochen. Gegen die Argumentation Epikurs hat Martin Heidegger den Menschen als „Sein zum Tode“ charakterisiert. Demgemäß hat der Tod im Leben dadurch Realität, dass der Mensch auf ihn hin existiert, ihn antizipiert, auf ihn „vorläuft“.19 In diesem Sinne ist der Tod zwar nicht ein raumzeitliches Ereignis „in“ der menschlichen Lebensspanne (insoweit hat Epikur Recht), er ist jedoch als ein Apriori menschlicher Existenz jederzeit präsent. Der Tod im Sinne des Seins zum Tode wird zwar in jeder Lebensphase neu erfahren – die Abgrenzung von Lebensphasen erfolgt sogar oft über die verschiedenen Bedeutungen des Seins zum Tode in den Lebensphasen. Es besteht somit kein exklusives Verhältnis des Todes zu der Lebensphase, die wir mit „Sterben“ bezeichnen; im Sterben erlebt sich der Sterbende „dem Ende nahe“, aber ein apriorisches Verhältnis zum Tode hat jede Lebensphase. Das Sein zum Tode bedeutet in jeder Lebensphase, dass diese Erfahrung jetzt auch diese Entscheidung jetzt unwiederholbar, einzigartig ist. Sinnvolle Existenz heißt somit endliche Existenz. Daher ist der Tod in jeder Lebensphase Teil des Selbstverhältnisses des Akteurs und somit ist die Frage des Weiterlebens kontinuierlich implizites – in dramatischen Lebenssituationen: explizites – Thema der Handlungen des Akteurs. Insoweit ist die Sterbephase keine Sonderphase. Ein Wesen, das sich selbst immer wieder als Handlungsurheber erfährt, kann diesem Thema nicht entrinnen.20 16

Epikur: Brief an Menoikeus, in: Nickel, Rainer (Hrsg.), Wege zum Glück, Düsseldorf 2003, 124 – 126. 17 Vgl. Scherer, Georg: Das Problem des Todes in der Philosophie, Darmstadt 1979; Hügli, Anton, „Tod“, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried, Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 10, Basel 1998, 1227 – 1242. 18 Scherer, Georg, Das Problem des Todes in der Philosophie, Darmstadt 1979, 41. 19 Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Freiburg 1927, 235 – 267. 20 Vgl. Gethmann, Carl Friedrich, „Person und Kontingenz“, in: Quante, Michael/Goto, Hiroshi/Rojek, Tim/Shingo, Segawa (Hrsg.), Der Begriff der Person in systematischer und historischer Perspektive: ein deutsch-japanischer Dialog, Paderborn 2020, 131 – 144.

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Dass der Akteur Urheber seiner Handlung ist, konstituiert ein mehr oder weniger explizites präsuppositionelles Wissen, das jede Handlung begleitet.21 Dieses präsuppositionelle Wissen kann nicht ohne semantische Verluste in propositionales übersetzt werden. Unter Anspielung auf Kants Grundsatz der transzendentalen Apperzeption22 kann man daher einen Grundsatz der „transzendentalen Ad-Operation“ formulieren: „Das: ,Ich bin der Urheber dieser Handlung‘ muss alle meine Handlungen begleiten können …“

Die mit der transzendentalen Ad-Operation verbundene präsuppositionelle Einsicht ist in folgendem Sinne unhintergehbar: Wenn der Akteur in der 1. Person-Perspektive schon einsehen muss, dass seine vermeintlich zweckorientierte Handlung „eigentlich“ nur die Wirkung bestimmter Ursachen war (neuraler, hormoneller, klimatischer, ökonomischer usw. Art), dann ist doch dieses Einsehen eine zweckorientierte Handlung (oder steht im Zusammenhang mit einer solchen), wenn er aber einsehen muss, dass dieses Einsehen selbst wiederum … sed non ad infinitum. Das betrifft auch die Frage, wem der Akteur in der 3. Person-Perspektive zugesteht, sich so irreduzibel als Handlungsautor zu setzen, wie er selbst sich als Handlungsautor setzt. Damit ist die Frage nach dem Scopus, der Extension des Begriffes der „Person“, aufgeworfen. Personalität bezeichnet das Merkmal des Akteurs, sich selbst unaustauschbar als handelnd zu präsupponieren. Diese Handlungspräsupposition der Handlungsurheberschaft ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass Akteure grundsätzlich fähig sind, Handlungen aus eigener Spontaneität auszuführen oder zu unterlassen. Sie ist somit auch Grundlage dafür, dass Akteure ihre Handlungen nach Regeln mittlerer Reichweite („Maximen“) ausrichten, die sie sich selbst setzen („Autonomie“). Verfügten sie über diese Fähigkeiten nicht, wären sie etwa gezwungen, Handlungen auszuführen oder zu unterlassen, oder aber, wären Handlungen nichts anderes als Wirkungen von Ursachen, seien sie physikalischer, genetischer oder neuronaler Art, dann gäbe es keine Probleme mit moralischer und rechtlicher Regulierung von Handlungen. Der gelegentlich dieser Sicht entgegenstellte Hinweis auf die „mentale Verursachung“ von Handlungen beruht auf einer Verwechslung von Dadurch-dass- und Indem-Verhältnissen zwischen Phänomenen im Rahmen menschlicher Selbst-Erfahrung. In der Regel wird es den Akteur kaum in der Erfahrung der Handlungsurheberschaft seiner Handlung irritieren, wenn man ihn mit der Tatsache konfrontiert, dass sein Handeln auf gewisse ermöglichende physische Bedingungen angewiesen ist. So wie er beim Laufen auf ein Ziel hin nicht stets aufmerksam darauf ist, dass er seine Beine bewegt, sich dabei aber jederzeit klar machen kann, dass er läuft, indem er sie 21 Vgl. für eine ausführlichere subjekttheoretische Untersuchung: Gethmann, Carl Friedrich, „Was bleibt vom fundamentum inconcussum angesichts der modernen Naturwissenschaften vom Menschen?“, in: Quante, Michael (Hrsg.), Geschichte – Gesellschaft – Geltung. XXIII. Deutscher Kongreß für Philosophie, Hamburg 2016, 3 – 27. 22 Kritik der reinen Vernunft: WWW (Akademie) B 131 f.

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bewegt, so kann er sich – hinreichende theoretische Kenntnisse vorausgesetzt – klar machen, dass er läuft, indem in seinem Gehirn diese oder jene (mit Hilfe entsprechender Visualisierungstechniken gegebenenfalls von außen beobachtbare) Prozesse ablaufen. So wenig wie es sinnvoll ist, die Bewegung der Beine als Ursache des Laufens zu erklären, so wenig ist es in vielen Kontexten sinnvoll, Gehirnaktivitäten als Ursachen des Handelns zu erklären. Auf der anderen Seite ist es durchaus sinnvoll, die gebrochenen Beine als Ursache des Nicht-Laufen-Könnens zu beschreiben. Die Frage, ob Handlungen Wirkungen von Ursachen oder Ursachen von Wirkungen sind, ist dabei nicht im Sinne eines grundsätzlichen theoretischen Antagonismus, sondern im Sinne eines Beschreibungspluralismus zu beantworten. Es ist daher nicht zu fragen, welche Handlungserklärung „richtig“ ist, sondern welche für welchen Zweck zu wählen ist. Die Ursache-Wirkungs-Sicht empfiehlt sich immer dann, wenn Störungen eines erwarteten (Handlungs-)ablaufs erklärt werden sollen. Dies gilt insbesondere für therapeutische Kontexte. 23 Grundsätzlich wird die Struktur der Handlungsurheberschaft nicht über bestimmte (erfahrungsmäßig überprüfbare) Fertigkeiten und Fähigkeiten definiert, sondern ist die grundlegende Präsupposition eines zu Handlungen fähigen Wesens, die ihm auch bei eingeschränkten Fertigkeiten und Fähigkeiten zugestanden werden muss.

III. Selbstbestimmung und Selbsttötung Die Struktur der Handlungsurheberschaft ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass Menschen Handlungsschemata verwirklichen können oder dies unterlassen. Das Verfügenkönnen über ein Handlungsschema wird häufig als Fähigkeit der Selbstbestimmung charakterisiert. Selbstbestimmung übt eine Person nach Maßgabe eines Mehr oder Weniger aus, in Kantischer Diktion: die Selbstbestimmung hat einen Grad. Während man einem (möglichen) Akteur die Struktur der Handlungsurheberschaft zuschreibt oder nicht (kontradiktorischer Gegensatz), übt der Akteur Selbstbestimmung mehr oder weniger aus (polar-konträrer Gegensatz). So ist auch die faktisch untätige, schlafende oder ohnmächtige Person ein durch Handlungsurheberschaft charakterisiertes Wesen, auch wenn sie während der Untätigkeit, des Schlafes oder der Ohnmacht wenig bis keine Selbstbestimmung ausübt. Unterstellt man, dass der Handlungsurheber einen kategorischen Anspruch auf ein selbstbestimmtes Weiterleben hat, dann fällt der Selbsttötungswunsch grundsätzlich in die Kategorie des Verzichts. Auf Selbstbestimmung kann der Akteur damit mehr oder weniger verzichten, wenn auch nicht auf Handlungsurheberschaft, denn er ist ja derjenige, der die Handlung des Verzichts ausführt oder deren Ausführung

23 S. dazu Gethmann, Carl Friedrich, „Die Erfahrung der Handlungsurheberschaft und die Erkenntnisse der Neurowissenschaften“, in: Sturma, Dieter (Hrsg.): Philosophie und Neurowissenschaften, Frankfurt am Main 2006, 215 – 239.

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unterlässt. In Anspielung auf ein Diktum von Jean Paul Sartre24: Der Mensch ist zur Handlungsurheberschaft, aber nicht zur Selbstbestimmung verurteilt. Das bedeutet allerdings auch, dass der Verzicht nicht gefordert oder gar erzwungen werden kann. Zurückzuweisen sind daher heroische Lebensformkonzeptionen, die die Selbsttötung, wenn nicht verlangen, so doch wenigstens erwarten. Wie bei jeder Handlung muss der Akteur sich auch für die Handlungsoption des Verzichts vor sich selbst und anderen gegenüber rechtfertigen können. Eine Handlung, die nach den einschlägigen Kriterien gerechtfertigt werden kann, wird als „richtig“ qualifiziert.25 Allerdings sind die Anforderungen an die Richtigkeit einer Handlung noch nicht dann erfüllt, wenn die Motive des Akteurs angegeben werden können. Die Kenntnis der Motive einer Handlung ist für eine Reihe praktischer Kontexte von Bedeutung (wie die Verständlichkeit und Verlässlichkeit einer Handlung oder die Bestimmung eines Maßes von „Schuld“), sie löst aber nicht die Anforderungen an die Richtigkeit ein. Allerdings wird in der lebensweltlichen Argumentationspraxis nicht hinreichend scharf zwischen Motiven und Rechtfertigungsversuchen für die Selbsttötung unterschieden. Entsprechende Angaben reichen von der in der 1. Person-Perspektive vollzogenen Einsicht, dass ein Lebensplan sich erfüllt hat (sog. Bilanzsuizid), über den Protest gegen die Zumutung des Weiterlebens, etwa unter Bedingungen sozialer Des-integration, bis zu als unerträglich empfundenen Schmerzen, leiblichen Entstellungen oder anderen Beeinträchtigungen (wie eine sich abzeichnende Demenz). Ob im Einzelfall eine Rechtfertigung gelingt, hängt von den faktischen Prämissen und Präsuppositionen ab, die ein Akteur im sozialen Kontext heranziehen kann. Allerdings werden in der philosophischen Tradition eine Reihe von Argumenten vorgetragen, die es angeblich erlauben, die Nicht-Rechtfertigbarkeit generell zu begründen.26 Dabei hängen das Argument der Widernatürlichkeit (es gehört zur Natur eines Lebewesens, sein Leben zu behaupten und gegen Angriffe zu verteidigen), das Argument des Irrtums (der Suizident schätzt seine Lebensmöglichkeiten falsch ein oder ist darüber getäuscht worden) und das Argument der Unverfügbarkeit des Lebens von empirischen oder religiösen Prämissen ab, die aus systematischen Gründen nicht verallgemeinerbar sind und daher an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden sollen. Einer gründlicheren Erörterung bedarf dagegen das von Platon über Kant bis Camus in mehreren Varianten vorgetragene Argument der Selbstwidersprüchlichkeit der Handlungszwecke des Suizidenten. Besonders die von Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten entwickelte Version ist bis in die jüngste Zeit immer wieder 24

L‘existencialisme et un humanisme, Paris 1946, 5. Vgl. Gethmann, Carl Friedrich, „Warum sollen wir überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Zum Problem einer lebensweltlichen Fundierung von Normativität“, in: P. Janich (Hrsg.), Naturalismus und Menschenbild, Hamburg 2008, 138 – 156. 26 Vgl. die Übersicht bei Wittwer, Héctor/Schäfer, Daniel/Frewer, Andreas (Hrsg.), Sterben und Tod. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, 327 ff. 25

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diskutiert worden.27 Der Widerspruch vom Typ der contradictio exercita (Widerspruch im Vollzuge, Retorsion28) wird von Kant darin gesehen, dass sich der suizidwillige Akteur durch seine aus Freiheit ausgeführte Handlung der Selbsttötung gerade der Freiheit beraubt und damit sich selbst zur Unfreiheit bestimmt; der Handlungsvollzug der Selbsttötung „widerspricht“ gemäß Kant der Gelingensbedingung der Handlung. Die Kritik an Kant29 muss bei der von Kant nicht diskutierten Unterstellung ansetzen, derjenigen Entität, die nach der gelungenen Selbsttötung übrigbleibt, nämlich dem menschlichen Leichnam, den Prädikator „frei (x)“ abzusprechen bzw. „unfrei (x)“ zuzusprechen. Gemäß dem in der Sprachphilosophie behandelten Lehrstück der Prädikationstheorie werden die Bedeutungen von Prädikatoren durch Prädikatorenregelsysteme festgelegt, wie sie beispielsweise in Terminologien kanonisch zusammengefasst sind. Die Festlegung von Bedeutungen von Prädikatoren ist dabei nicht zu verwechseln mit der Prüfung von Wahrheit und Falschheit von Aussagen.30 Zu den Regeln des korrekten Zu- und Absprechens von Prädikatoren gehört auch das von Aristoteles aufgestellte Verbot des Überschreitens des jeweiligen generischen Kontextes (let\basir eQr %kko c]mor).31 Für diesen Typ von Argumentationsfehlern hat Gilbert Ryle den inzwischen geradezu volkstümlich gewordenen Begriff des „Kategorienfehlers“ geprägt.32 Zur Illustration mögen als Beispiele das Prädikatorenregelsystem der Musikinstrumente und das Prädikatorenregelsystem der Tiere dienen. Im Rahmen der Terminologie für Musikinstrumente ist eine korrekte Prädikatorenregel: Fagott (x) => Holzblasinstrument (x), eine inkorrekte Prädikatorenregel dagegen: Fagott (x) ¼ 6 > Blechblasinstrument (x). 27 Z. B. Birnbacher, Dieter: Suizid und Suizidprävention, 199 f., zur Selbstwidersprüchlichkeit, 202; Wittwer, Héctor, Selbsttötung, 120 – 143, bes. 128 – 131, 154 – 178, Fazit 131. 28 S. Gethmann, Carl Friedrich, Artikel Retorsion, in: Mittelstraß, Jürgen (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 7, Stuttgart 22018, 115 – 118. 29 Kritik an Kant kann auch durch Hinweis auf interne In-Kohärenzen der praktischen Philosophie Kants geübt werden (eingehend Wittwer, Héctor, Selbstbettötung a.a.O.). Eine solche Kritik hängt allerdings von der grundsätzlichen Unterstellung der Philosophie Kants ab. 30 Zum Begriff der Prädikatorenregel vgl. Kamlah, Wilhelm/Lorenzen, Paul, Logische Propädeutik, Mannheim 2. Aufl. 1973, 70 – 116; Lorenz, Kuno, Elemente der Sprachkritik, Frankfurt am Main 1970, 167 ff. Eine besonders ausführliche Darstellung findet sich bei Janich, Peter, Logisch-pragmatische Propädeutik, Weilerswist 2001. Zum sprachphilosophischen Rahmen vgl. Gethmann, Carl Friedrich/Siegwart, Geo, Sprache, in: Martens, Ekkehart/ Schnädelbach, Herbert (Hrsg.), Philosophie. Ein Grundkurs. Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 1991, 549 – 605. 31 An. Post. I, 7. – Für den Hinweis auf Aristoteles dankt der Autor Otto Muck (Innsbruck). 32 Ryle, Gilbert, The Concept of Mind, London 1949. S. dazu Lorenz, Kuno, Art. Kategorienfehler, in: Mittelstraß, Jürgen (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 4, Stuttgart 2010, 1774.

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Eine Überschreitung (Metabasis) des generischen Kontextes wäre: Fagott (x) => Reptil (x) bzw. Fagott (x) ¼ 6 > Reptil (x). Eine solche den generischen Kontext überschreitende Regel möge „disparat“ heißen. Wichtig ist es somit, zwischen dem inkorrekten Zusprechen (bzw. korrekten Absprechen) und dem Zusprechen durch Überschreiten des generischen Kontextes und der dadurch erzeugten Disparatheit zu unterscheiden. Das Zusprechen eines inkorrekten Prädikators ist kategorial etwas anderes als das Zusprechen eines disparaten Prädikators. Der formale Fehler von Kants Selbstwiderspruchsargument besteht somit darin, dass Prädikatoren, die der lebenden Person in in-disparater Weise zugesprochen werden können (hier: Freiheit/Unfreiheit), bezüglich der nicht mehr lebenden Person, d. h. des Leichnams, disparat sein können. Wenn hierbei die Disparatheit nicht bemerkt wird, dürfte die metaphysische Unterstellung eine Rolle spielen, dergemäß der Leichnam doch noch „ein bisschen“ lebende Person ist. Diese metaphysische Unterstellung wird scheinbar dadurch gestützt, dass Kulturpraktiken im Umgang mit nicht mehr lebenden Personen, wie beispielsweise die Anerkennung von Testamenten oder bestimmte Totenkulte, zu unterstellen scheinen, dass diese als Berechtigungsträger irgendwie doch noch leben. Der Tote ist jedoch tot, d. h. Prädikationen, die auf ihn zu seinen Lebzeiten zutrafen (oder nicht), können mit seinem Ableben unter Umständen nicht mehr angemessen sein. Während nun für einen lebenden Akteur bzw. die von ihm vollzogenen Handlungen die Prädikation frei (x) bzw. unfrei (x) korrekt oder inkorrekt, jedenfalls in-disparat ist, ist sie für einen Leichnam disparat, da ein Leichnam per definitionem kein Akteur ist.

IV. Grenzen der Selbstbestimmung Aus ethischer Sicht gibt es prima facie keine grundsätzlichen triftigen Gründe, die Handlungszuständigkeit des Akteurs hinsichtlich seiner eigenen Lebensspanne einzuschränken. Unter dem Gesichtspunkt der korrekten Zuordnung von Rechtfertigungslasten, lautet die Frage auch nicht, ob die Selbsttötung moralisch erlaubt ist, sondern die Frage lautet: „Müssen wir uns das gefallen lassen, dass wir zum Weiterleben auch dann gezwungen werden, wenn wir ein erfülltes, lebenswertes Leben nicht mehr führen können?“33 Diese Frage hebt wohlgemerkt nicht darauf ab, dass der Sterbewillige zu der Einschätzung, ob sein Leben erfüllt und lebenswert ist, durch Gründe kommt, die am Kriterium der Verallgemeinerbarkeit zu messen sind. Ob solche Gründe aus der Perspektive des Sterbewilligen gegeben sind oder nicht ist nach Kamlah eine Frage der Widerfahrnis, d. h. einer Ereigniskonstellation, 33

Kamlah, Wilhelm, Meditatio Mortis, a. a. O. 14.

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über die der Mensch allenfalls in sehr beschränktem Umfang selbst verfügt. Wenn einem Menschen „der Verlust aller unabdingbaren Lebensbedingungen widerfährt, … [ist er] berechtigt, freiwillig aus dem Leben zu gehen“.34 Zur Anerkennung der Autonomie gehört die Anerkennung der Beurteilung einer Lebenssituation kraft der Binnenrationalität des Akteurs, die zwar weder Geltung für andere Akteure beanspruchen kann, noch aber auch von anderen Akteuren außer Kraft gesetzt werden kann. Die Rede von der Binnenrationalität unterstellt aber nicht eine unzugängliche Privatsphäre, denn die Gründe-Erwägungen im Raume der Binnenrationalität nehmen an einer öffentlichen Sprache teil. Die Binnenrationalität liegt somit nicht außerhalb des Raumes intersubjektiver Verstehbarkeit, auch wenn sie sich im Einzelfall der Zustimmungsfähigkeit entzieht. Dies ist der Kern dessen, was man mit Individualität der Person bezeichnet. Die Anerkennung der Individualität steht somit grundsätzlich in Widerspruch zu starken paternalistischen Vorstellungen.35 Die Wendung vom „Grad der Selbstbestimmung“ macht jedoch schon deutlich, dass der Raum der individuellen Selbstbestimmung oft begrenzt ist, einmal (1.) durch interne Grenzen, die aus Selbsttäuschung, Irreführung und Folgen offenkundiger Erkrankung herrühren, (2.) ferner durch externe Grenzen, die durch soziale Verpflichtungs- und Berechtigungsverhältnisse jedem Akteur, somit auch dem Suizidenten auferlegt sind. 1. Grundsätzlich dürfte unstrittig sein, dass Kriterien für einen authentischen Selbsttötungswunsch vor allem die Stabilität über die Zeit und die innere, binnenrationale Kohärenz des Selbsttötungswunsches sind. Diese Kriterien sind erkennbar kontextbestimmt. Die zeitliche Dringlichkeit ist bei einem sogenannten Bilanzsuizidenten mit weitem zeitlichen Planungshorizont eine ganz andere als bei einem Sterbenden, der unter starken Schmerzen oder für ihn unerträglicher Verunstaltung leidet. Die Ermittlung der inneren Kohärenz dürfte je nach den Umständen äußerst unterschiedlich ausfallen. Bei dieser Unschärfe der kriteriellen Konturen geschieht es nicht von ungefähr, dass die Umstehenden dazu neigen, ihre eigenen weltanschaulichen Überzeugungen zum Maßstab der Beurteilung zu machen; paternalistische Einstellungen beruhen sicher oft auf dieser Konstellation. Darüber hinaus ist unbestreitbar, dass es pathologische Fälle von Selbsttötungswünschen, ausgelöst durch Enttäuschungen, situative Perspektivlosigkeit, subjektive Blindheit für Lösungsmöglichkeiten usw. gibt. Hierher gehört auch die wohl nicht geringe Zahl von Fällen sogenannten Appell-Suizids. Allerdings sind depressive Stimmungslagen als solche noch kein hinreichendes Indiz dafür, dass der Akteur nicht in der Lage ist, selbstbestimmt zu handeln. 34 Kamlah, Wilhelm, Philosophische Anthropologie, Zürich 1972, 175 f. Vgl. ders., Meditatio Mortis, a.a.O. 14 – 26. 35 Zur Kritik am Paternalismus im Zusammenhang mit den ethischen Fragen am Lebensende s. Quante, Michael, Personales Leben und menschlicher Tod, Frankfurt am Main 2002, 296 – 337; Birnbacher, Dieter, Suizid und Suizidprävention a.a.O. 210 ff.

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Vielmehr ist davon auszugehen, dass jedes Handeln von Affektionen bzw. Emotionen begleitet ist. Würde man in solchen Fällen bereits die Handlungsurheberschaft in Frage stellen, müsste man folglich die Möglichkeit der Selbstbestimmung im Sinne eines affektiven Determinismus negieren. Gerade weil bezüglich affektiver Befindlichkeiten schwer zu entscheiden ist, ob sie die Handlungsurheberschaft konterkarieren, sollte man im Zweifelsfall zunächst von der Handlungssouveränität ausgehen. Grundsätzlich sind die Probleme der Pathologie des Selbsttötungswunsches durch erhebliche Grauzonen bestimmt, die wiederum zu schwierigen moralischen Beurteilungskontexten führen können. Diese Probleme sind ohne ein erhebliches Maß an kasuistisch gebildetem Urteilsvermögen moralisch nicht zu bewältigen. Insgesamt ist jedoch einer prinzipiellen Pathologisierung des Selbsttötungswunsches entgegenzutreten.36 Der Selbsttötungswunsch mag für lebenswillige „normale“ Menschen eine Option sein, bezüglich derer sie sich nicht vorstellen können, dass sie selbst je davon Gebrauch machen könnten. Abgesehen davon, dass die okkasionelle Vorstellungsfähigkeit nach der Lebenserfahrung eine labile Urteilsgrundlage darstellt, lässt sich leicht zeigen, dass die oft unterschwellig vertretene Hypothese, der Selbsttötungswunsch sei als solcher schon Symptom einer schweren psychischen Erkrankung, deswegen Indiz einer nicht hinreichend ausgeprägten Fähigkeit, Selbstbestimmung auszuüben und demzufolge therapiebedürftig, zu weitgehenden pragmatischen Ungereimtheiten führt. Zunächst ist auf die diachrone und synchrone Varianz des Krankheitsverständnisses vor allem im Bereich der sogenannten psychischen Erkrankungen hinzuweisen. Ferner ist die Hypothese durchaus schwach fundiert. Die in diesem Zusammenhang häufig herangezogene sogenannte empirische Suizidforschung ist durch (aufgrund der Zirkularität der begrifflichen Investitionen) zweifelhafte Statistiken gekennzeichnet.37 Von stärkerem Gewicht ist jedoch, dass die Hypothese – wie in der ethischen Reflexion nicht selten – nicht nur zu schwach, sondern auch zu stark ist: d. h., dass ihre Annahme bei kohärenter Anwendung zu sozial unerwünschten Konsequenzen führt. Wenn sozial deviantes Verhalten prinzipiell nicht auf die Handlungsurheberschaft eines zwecksetzenden Akteurs zurückzuführen ist, sondern auf naturhafte Ursachen, können ihm auch prinzipiell keine moralischen (und wohl auch keine strafrechtlichen) Vorhaltungen gemacht werden. Wenn die Bereitschaft, Regeln zu brechen, sicheres Symptom für die Regelbrecher-Krankheit ist (man denke an Bankraub – Kleptomanie, Brandstiftung – Pyromanie usw.), dann laufen moralische (und wohl auch legale) Vorhaltungen leer. 36

Vgl. Wittwer, Héctor, a.a.O. 113 – 119. Hier kann nicht näher auf den epistemologischen Zustand der mit psychischen Krankheiten befassten Disziplinen eingegangen werden, der moralische Qualifikationen aufgrund schlecht fundierter Prämissen als grundsätzlich problematisch erscheinen lässt. Dazu sei nur an das wissenschaftliche Erklärungschaos nach dem Germanwings A320-Absturz am 24. 02. 2015 erinnert. 37

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An dieser Stelle ist auch auf den Argumentationszug einzugehen, der zwar zugesteht, dass es sogenannte Bilanz-Suizide geben könne, die Fälle jedoch so selten seien, dass sie für die weitere ethische Reflexion außer Betracht bleiben könnten.38 Abgesehen davon, dass solche Zahlenangaben schon deshalb problematisch sind, weil nur die den Suizidversuch Überlebenden befragt werden können, kann auch eine geringe Zahl von Betroffenen moralisch erheblich sein. Hier besteht zwischen ethischen und rechts-politischen Überlegungen unter Umständen ein erheblicher Unterschied. Beispielsweise wäre es für die ethische Reflexion keineswegs beruhigend, wenn berichtet würde, dass die Zahl der Gefolterten in Deutschland sehr niedrig sei. Für die ethische Reflexion kann es sogar ausreichend gravierend sein, wenn es überhaupt keinen Fall gibt, ein entsprechendes Ereignis aber für denkbar gehalten wird. Die hinsichtlich der Pathologie des Selbsttötungswunsches erwähnten Grauzonenprobleme und die dadurch gegebenen schwierigen moralischen Beurteilungskontexte führen zu einer angemessenen Interpretation der Klugheitsregel, einem Suizidenten bei unklaren Entscheidungsumständen zunächst einmal in den Arm zu fallen. Diese Klugheitsregel ist keineswegs als Ausdruck einer spontanen moralischen Verurteilung des Selbsttötungswunsches zu interpretieren und somit auch nicht als Datum einer Ethik des common sense zu werten, sondern diese Regel fasst die in vielen Lebensumständen heranzuziehende Einsicht der „provisorischen Moral“39 zusammen, dass bei Handlungen mit irreversiblen Folgen gilt: Je unübersichtlicher die Handlungsumstände sind, desto eher sollte man versuchen, die endgültige Entscheidung hinauszuschieben. Was hinsichtlich des Inden-Arm-Fallens in der konkreten Situation gilt, ist auch auf die generelle Suizidprävention zu beziehen. Die Rede von einer Prävention erzeugt allerdings einen starken semantischen Sog in Richtung einer Pathologisierung des Suizids. Die Frage der Suizidprävention kann sich aus ethischer Sicht nur auf diejenigen Suizidenten beziehen, die aufgrund psychopathologischer Feststellungen nicht als unverursachte Handlungsurheber eingestuft werden können. In solchen Fällen ist die Suizidprävention ethisch geboten. Die Frage der moralischen Erlaubtheit

38 So schreibt beispielsweise Peter Dabrock, dass „jenseits eines altruistisch, religiös, politisch motivierten Selbstopfertodes nur ein ganz geringer Anteil der sich in einer Lebens- oder Identitätskrise ereignenden Suizide und Suizidversuche auf eine freiverantwortliche Entscheidung zurückgeht“ (Dabrock, Peter, Bioethik des Menschen, in: Huber, Wolfgang/Meireis, Torsten/Reuter, Hans-Richard (Hrsg.), Handbuch der evangelischen Ethik, München 2015, 533; „Bei einer (offensichtlich kaum anzutreffenden) Sicherheit einer freien Entscheidung gilt es, sie zu respektierten, im Zweifelsfall ist das Leben zu retten.“ (Ders., Art. Selbsttötung, in: Heun, Werner/Honecker, Martin/Morlok, Martin/Wieland, Joachim (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart 2006, 2426 – 2432). Hervorhebungen CFG. 39 Mit provisorischer Moral (morale par provision) bezeichnet Descartes das Resultat einer moralischen Urteilsbildung unter Bedingungen unzureichenden Wissens (wie sie auf dieser Welt häufig gegeben sind) (Descartes, René, Discours de la méthode, ed. Adam/Tannéry, Paris 1902, 23 – 32).

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des Suizids ist somit von derjenigen der moralischen Gebotenheit der Suizidprävention klar zu unterscheiden.40 2. Dass ein Suizident durch Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts soziale Konflikte erzeugen kann bzw. durch die Selbsttötung versucht, ihnen aus dem Weg zu gehen, ist aus ethischer Sicht durchaus ernst zu nehmen.41 Das Einstehen für übernommene oder billigerweise erwartete Verpflichtungen und entsprechend die Anerkennung der Berechtigungen anderer ist ein Grundphänomen des sozialen Lebens, somit keineswegs eine Eigentümlichkeit der durch einen Selbsttötungswunsch konstituierten Sondersituation. Verpflichtungen, die sich aus sozialen Rollen als Eltern, Kinder, Lehrer, Ärzte usw. ergeben, stehen dem individuellen Interesse an Selbstbestimmung grundsätzlich entgegen. Aus dem Antagonismus von Selbstbestimmungswünschen ergeben sich möglicherweise moralische Dissonanzen wie Normenkollisionen (der Akteur verstößt gegen wenigstens eine der von ihm für richtig gehaltene Normen, um eine andere zu befolgen), Normenkonflikten (verschiedene Akteure versuchen miteinander unvereinbare Normen zu befolgen) und Dilemmata (was immer Akteure durch Ausführen oder Unterlassen tun, verstößt gegen von ihnen für richtig gehaltenen Normen). Die bekannten ethischen Paradigmen wie Tugendethik, Verpflichtungsethik, Nutzenethik sehen eine ihrer Hauptaufgaben darin, für die Vermeidung moralischer Dissonanzen Abwägungskriterien (Goldene Regel, Kategorischer Imperativ, Glückmaximierungsregel o. ä.) zu formulieren. Man kann annehmen, dass der Selbsttötungswunsch aufgrund der möglichen tiefgreifenden sozialen Folgen immer dann als ethisch verboten zu qualifizieren ist, wenn die sozialen Verpflichtungen, denen sich der Suizident möglicherweise entziehen will, hinreichend gravierend sind. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass der Selbsttötungswunsch nur unter Bedingungen hinreichend schwacher sozialer Verpflichtungen als moralisch unproblematisch einzustufen ist. Allerdings darf dieser Schluss nicht zu der Verallgemeinerung führen, ein Selbsttötungswunsch sei stets Ausdruck einer zu verurteilenden egoistischen Motivlage; dagegen spricht schon, dass es auch Selbsttötungswünsche aus altruistischer Motivation geben kann.42

40 In den politischen Debatten der Gegenwart scheint jedoch genau diese Unterscheidung nicht beachtet zu werden, so dass die Gebotenheit der Suizidverhütung in den dafür passenden Fällen wenigstens unterschwellig zu dem Eindruck führt, die Selbsttötung als solche sei moralisch verwerflich (so auch Birnbacher, Dieter, Suizid und Suizidprävention a.a.O. 208 ff.). 41 Vgl. Birnbacher, Dieter, Suizid und Suizidprävention a.a.O. 204 ff. 42 Grundsätzlich ist zu beachten, dass Motive keine hinreichende Grundlage für die ethische Qualifikation einer Handlung sind. Auch eine altruistisch motivierte Handlung kann moralisch verwerflich sein, so wie eine egoistische motivierte Handlung moralisch empfehlenswert sein kann.

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V. Korrolare 1. Sterbehilfevereine In der deutschen politischen Diskussion spielt die Frage der Zulassung von Sterbehilfevereinen eine merkwürdige Rolle. Es ist nicht zu übersehen, dass sich die Skepsis vor allem aus der Neigung zur generellen Pathologisierung der Selbsttötung speist und im Übrigen im Zusammenhang mit einer schon seit längerer Zeit beobachtenden Tendenz steht, bioethische Fragen unter das Regime eines mehr oder weniger starken Paternalismus zu stellen.43 Sterbehilfevereine stehen unter Verdacht, Werbung für eine heroische Lebensgestaltung mit suizidalem Ende zu betreiben, und eine solche Werbung wäre aus ethischer Sicht in der Tat verwerflich. Als mehr oder weniger deutliche Bestätigung für den Verdacht wird zudem eine mögliche kommerzielle Zwecksetzung gesehen. Grundsätzlich muss dagegen jedoch eingewendet werden, dass eine kommerzielle Orientierung des Handelns nicht per se schon ein Merkmal der ethischen Verwerflichkeit der Handlung ist. Allerdings kann es zu kritischen Anreizlagen kommen, die gesetzgeberische Grenzziehungen erfordern.44 Wichtiger ist jedoch der Umstand, dass Sterbehilfevereine Hilfe anbieten, somit dem Anliegen Rechnung tragen, dass Menschen, die mit sich selbst und ihrer sozialen Umgebung einen Selbsttötungswunsch auszumachen haben, in besonderer Weise hilfebedürftig sind. Sterbehilfevereine, die sich als Instrumente bezogen auf einen solchen Zweck verstehen und entsprechend organisieren, sind Instrumente der Suizidprävention. Sie bieten ihren Mitgliedern zwar die Sicherheit, im Falle eines Selbsttötungswunsches durch Beschaffen eines todbringenden Medikaments Beihilfe zu leisten, aber zuvor haben sie die Möglichkeit, durch eine strenge Überprüfung der Authentizität des Selbsttötungswunsches Kurzschluss-Handlungen zu verhindern, Appell-Suizidenten vom Selbsttötungsversuch abzuhalten und darüber hinaus gezielt psychotherapeutische Unterstützung zu vermitteln. Auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass, wer einem Selbsttötungswilligen grundsätzlich Hilfe und Beihilfe verweigert, Mitverantwortung dafür trägt, dass der Betroffene keine andere Möglichkeit sieht, als mit roher Gewalt Hand an sich 43 Hartmut Kreß hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die zunehmend restriktive Gesetzgebung in bio-ethischen Fragen (darunter auch zur Frage der Selbsttötung) Kennzeichen eines zunehmenden Paternalismus und damit einer zunehmenden restriktiven Einstellung bezüglich der individuellen Selbstbestimmung darstellt (Selbstbestimmung am Lebensende a.a.O.; Kreß, Hartmut, Medizinisch assistierter Suizid – Regulierungsbedarf im Strafrecht?, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 20 (2015) 29 – 49). Aus rechtwissenschaftlicher Perspektive argumentieren in die gleiche Richtung z. B. Gutmann, Thomas, der eigene Tod – die Selbstbestimmung des Patienten und der Schutz des Lebens in ethischer und rechtlicher Dimension, in: Ethik in der Medizin 14 (2002) 170 – 185; Hufen, Friedhelm, Selbstbestimmtes Sterben – Das verweigerte Grundrecht, in: NJW 2018, 1524 – 1528. 44 Vgl. zur rechtlichen Beurteilung: Hilgendorf, Eric, Zur Strafwürdigkeit von Sterbehilfegesellschaften, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 2007, 479 – 499.

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zu legen.45 Ferner werden in solchen Fällen fast immer Unbeteiligte (beispielsweise nicht nur Lokomotivführer, sondern auch einfache Bahnreisende) in unzumutbarer Weise belastet, nur weil einem Menschen unter Umständen die Wahrnehmung seiner legitimen Selbstbestimmungsrechte verweigert wird. Noch dramatischer sind die Fälle, in denen der Suizident keinen anderen Weg findet, als durch Ausführung seiner Handlung andere mit in den Tod zu reißen, was selbstverständlich ethisch zu missbilligen ist. 2. Ärztlich assistierte Selbsttötung46 Die moralische Beurteilung der Beihilfe zur Selbsttötung ergibt sich aus dem allgemeinen Hilfegebot, demgemäß der in Not befindliche Mensch Anspruch auf Hilfe durch seine Mitmenschen hat. Dieser Hilfeanspruch wird selbstverständlich durch die Fähigkeiten und Fertigkeiten des Helfers moderiert. Den Angehörigen der Heilberufe, insbesondere Ärzten, stehen allerdings in der Regel weitergehende Möglichkeiten zur Hilfe zur Verfügung als Angehörigen der Normalbevölkerung. D. h. jedoch nicht, dass die Beihilfe zur Selbsttötung eine spezifisch ärztliche Tätigkeit ist. Allerdings kann niemand, auch nicht ein Arzt, zu einer entsprechenden Hilfeleistung verpflichtet werden, beispielsweise, wenn er aus weltanschaulichen Überzeugungen eine tiefe Aversion gegen diese Hilfeleistung hat. Die Beteuerung, die Beihilfe zur Selbsttötung könne keine ärztliche Leistung sein47, läuft daher leer. Die im deutschen Rechtsraum lange Zeit bestehende Paradoxie, dass ein Arzt zunächst zwar Beihilfe zur Selbsttötung leisten darf, dann aber in Garantenstellung Wiederbelebungsmaßnahmen einleiten muss, ist durch neueste Rechtsprechung wohl erledigt.48 Oft kann nur ein Arzt dem authentisch entscheidenden Selbsttötungswilligen Beihilfe leisten (andernfalls notwendige Hilfe anbieten oder vermitteln). Dennoch wird von ärztlichen Standesvertretern in Deutschland ein vehementer Widerstand gegen die ärztlich assistierte Selbsttötung zum Ausdruck gebracht.49 Dabei wird häufig von dem Topos Gebrauch gemacht, das ärztliche Handeln sei nicht auf das Sterben, sondern auf das Eintreten für „das Leben“ gerichtet.50 Die Bestimmung des Telos ärztlichen Handelns mittels einer solchen Ontologisierung „des Lebens“ bedarf allerdings der Kritik. Es ist nämlich offenkundig, dass mit der Wendung von den Ärzten als Anwälten des Lebens auf die Mitwirkung von Ärzten an 45

Vgl. die diesbezügliche Klage bei Kamlah, Wilhelm, Meditatio Mortis, 23. Zum gesamtem Themenkomplex aus rechtlicher und ethischer Sicht vgl. Merkel, Reinhard, Selbstbestimmung am Lebensende: Nachdenken über assistierten Suizid und aktive Sterbehilfe, Berlin 2012. 47 Deutscher Ethikrat, Suizidprävention statt Suizidunterstützung, Berlin 2017. 48 BGH-Urteil vom 03. 07. 2019. 49 Vgl. dazu Birnbacher, Dieter, Die ärztliche Beihilfe zum Suizid in der ärztlichen Standesethik, in: Aufklärung und Kritik 2006, 7 – 19. 50 So z. B. der vormalige Präsident der Bundesärztekammer: Montgomery, Frank Ulrich, Ärztlich assistierter Suizid engt das Leben ein: Tagesspiegel 10. 09. 2014. 46

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menschrechtswidrigen Humanexperimenten angespielt wird und somit ein Lernertrag aus der jüngeren deutschen Geschichte in Anspruch genommen wird.51 Diesbezüglich ist daran zu erinnern, dass die „Lebens-Rede“ in der Ideologie des Nationalsozialismus eine durchaus ungute Rolle gespielt hat („Lebensraum“, „Lebensborn“ u. a.), deren biologistische, in Sonderheit rassistische Konnotationen zur Vorsicht mahnen sollten. Die Eigenschaft des Lebendigseins wird im Übrigen vielen Substraten von den Kieselalgen bis zu den Göttern zugeschrieben; humanmedizinisch tätigen Ärzten geht es aber um menschliches Leben. Dass die Ärzte versuchen, menschliches Leben zu retten und zu bewahren, gilt allerdings nur so weit, wie der Patient damit seine nach angemessener Unterrichtung erfolgte Zustimmung gibt. Genau genommen ist daher nicht „das Leben“ des Patienten, sondern die Anerkennung seiner Selbstbestimmungsrechte, insbesondere des „Rechts auf Leben“, und die daraus resultierende Hilfeverpflichtung der höchste Zweck ärztlichen Handelns.52 Unter normalen Umständen, etwa wenn der Patient (wie beispielsweise in der Unfallmedizin nicht selten) nicht oder nicht hinreichend äußerungsfähig ist, wird man annehmen dürfen, dass die Rettung des Lebens dem Selbstbestimmungsrecht des Betreffenden entspricht. Dies ist jedoch nicht Ausdruck der kategorischen Setzung eines Wertes „das Leben“, sondern eine umsichtige Wahrnehmung des Hilfeanspruches des Patienten. Das eigentliche Telos des ärztlichen Handelns sollte daher die Gewährung sachverständiger Hilfe bezüglich des Hilfebegehrens des Patienten sein. Solche Hilfe ist daher in den medizinischen Standardkontexten im Übrigen nicht nur erlaubt, sondern geboten. Hinsichtlich der Selbsttötung ist allerdings zu unterstreichen, dass die Handlungsurheberschaft dem Selbsttötungswilligen zukommt. Wird diese durch den Helfer übernommen53, ist die Situation der Tötung auf Verlangen gegeben. Während die Hilfe zur Selbsttötung unter Umständen erlaubt oder sogar geboten ist, ist Tötung auf Verlangen abgesehen von dramatischen Sonderfällen als verwerflich zu qualifizieren. Nicht selten wird die Debatte über ärztlich assistierten Suizid und Sterbehilfevereine in die Forderung nach Ausbau der Palliativmedizin, Stärkung der Hospizbewegung und Ausweitung der Schmerztherapie gewissermaßen umgebogen.54 Zweifel51 Z. B. Montgomery, Frank Ulrich, „Wo ist der Unterschied zur Euthanasie?“: Spiegel Online 08. 05. 2019. 52 Auf diesen Unterschied zwischen „Leben“ und „Recht auf Leben“ hat Reinhard Merkel in verschiedenen Zusammenhängen hingewiesen, vgl. Merkel, Reinhard, Früheuthanasie, Baden-Baden 2001, 403 ff. 53 Im deutschen Strafrecht wird dann vom Wechsel der „Tatherrschaft“ gesprochen. 54 So auch die Kurz-Stellungnahme des Deutschen Ethikrates, Suizidprävention statt Suizidunterstützung, Berlin 2017. Der Autor dieses Beitrags hat sich mit Reinhard Merkel und anderen dem Minderheitenvotum angeschlossen. S. dazu: Merkel, Reinhard, Das Recht auf Selbsttötung gehört zu unserer Würde, in: Philosophie-Magazin, Gibt es einen guten Tod?, Stuttgart 2017, 23 – 27. Vgl. ferner Borasio, Domenico Gian/Jox, Ralf J./Taupitz, Jochen/ Wiesing, Urban, Selbstbestimmung im Sterben – Fürsorge am Lebensende. Ein Gesetzesvorschlag zur Regelung des assistierten Suizids, Stuttgart 2014.

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los sind dies wichtige Themen für kranke Menschen. Fortschritte in diesen Bereichen sind begrüßenswert, soweit Patienten davon Gebrauch machen wollen. Selbsttötungswilligen vom Typus Wilhelm Kamlah palliativmedizinische Angebote zu machen, kann jedoch nur als widersinnig eingestuft werden. Wer sich gar nicht in der Sterbephase befindet, sondern durch kohärente und stabile Abwägung seinem Leben ein Ende bereiten will, bei dem laufen palliativmedizinische Angebote nicht nur in die Leere, sie stellen eine Missachtung des Selbstbestimmungsrechtes dar.55

55 Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung vgl. Hufen, Friedhelm, Selbstbestimmtes Sterben a.a.O. 1526.

Zur prozeduralen Regelung der Freitodhilfe Von Frank Saliger

I. Das Problem Reinhard Merkel hat sich in seiner Stellungnahme für die öffentliche Anhörung zu § 217 StGB gegen den Gesetzentwurf von Brand/Griese u. a., der bekanntlich Gesetz geworden ist, ausgesprochen. In dieser tiefgehenden Stellungnahme findet sich nicht nur eine überzeugende Darlegung des fehlenden Strafunrechts von Suizid, individueller und geschäftsmäßiger Hilfe zum freiverantwortlichen Suizid. Reinhard Merkel ermahnt den Strafgesetzgeber auch wiederholt, dass er kollektive Risiken zwar definieren und unterbinden, nicht aber erfinden dürfe.1 Bemerkenswert ist die Stellungnahme des Jubilars noch in einer weiteren Hinsicht. Reinhard Merkel erklärt über die Kritik des späteren § 217 StGB hinaus ausdrücklich seine Zustimmung zu den alternativen Gesetzentwürfen von Künast/Sitte u. a. sowie Hintze/Lauterbach u. a. Das ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Zum einen ist diesen alternativen Gesetzentwürfen im Gesetzgebungsverfahren zu § 217 StGB nicht die gebotene Aufmerksamkeit zuteilgeworden. Zum anderen machen diese Gesetzentwürfe die Zulässigkeit von Freitodhilfe auch von verfahrensmäßigen Voraussetzungen abhängig und können daher als prozedurale Regelungen der Freitodhilfe angesehen werden.2 Um letztere Problematik soll es in diesem, dem Jubilar in großer Wertschätzung gewidmeten Beitrag gehen. Anlass dazu gibt der Umstand, dass am zweiten Tag der mündlichen Anhörung zu § 217 StGB vor dem BVerfG mehrere Verfassungsrichter mit Blick auf die Beratungslösung beim Schwangerschaftsabbruch in § 218a Abs. 1 StGB von der Möglichkeit einer prozeduralen Legalisierung bzw. Regelung der Freitodhilfe gesprochen haben.3 Der Beitrag spürt daher der Frage nach, was der Gesetzgeber bei der Freitodhilfe tun sollte, falls das BVerfG – die Verkündung des Urteils ist für den 26. Februar 2020 angekündigt4 – § 217 StGB für verfassungswidrig erklärt. 1

Merkel, Stellungnahme für die öffentliche Anhörung vom 23. September 2015 im Ausschuss des Deutschen Bundestages für Recht und Verbraucherschutz, S. 3. 2 Zutreffend Schweiger, Prozedurales Strafrecht, 2018, S. 269 ff. 3 Siehe nur den Bericht von Hipp, Warum das Verfassungsgericht Sterbewilligen Recht geben könnte, Spiegel Panorama vom 18. 04. 2019. 4 Siehe Pressemitteilung Nr. 1/2020 des BVerfG v. 08. 01. 2020.

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II. Klassifikation der Gesetzesvorschläge zur Freitodhilfe Um die Frage zu beantworten, empfiehlt es sich, mit einem Überblick über die zahlreichen vorgeschlagenen Regelungsentwürfe zur Freitodhilfe zu beginnen. Denn die Regelungsvorschläge lassen sich in den verschiedensten Hinsichten klassifizieren.

1. Rein materiell-rechtliche Regelungsvorschläge Zunächst zu nennen sind jene Regelungsvorschläge, welche – wie der Gesetzgeber – entweder nur die geschäftsmäßige Freitodhilfe oder jede individuelle wie geschäftsmäßige Freitodhilfe nach unterschiedlichen Leitkriterien und in unterschiedlichem Umfang kriminalisieren wollen. Da diese Regelungsvorschläge die Kriminalisierung der Freitodhilfe allein von materiellen Gesichtspunkten abhängig machen, werden sie als rein materiell-rechtliche Regelungsvorschläge klassifiziert. Als Erstes ist der Regelungsvorschlag von Jäger anzuführen, da er sich auf § 217 StGB beschränkt. Jäger will den Ausnahmetatbestand des Abs. 2 dahin erweitern, dass auch Ärzte und Angehörige anderer Heilberufe von der Strafdrohung nicht erfasst werden, wenn sie Personen, die an einer unerträglichen, unheilbaren und mit palliativmedizinischen Mitteln nicht ausreichend zu lindernden Krankheit leiden, in Einzelfällen auf deren Bitte hin ein tödliches Medikament überlassen und das Handeln Ausdruck eines engen Vertrauens- und Fürsorgeverhältnisses ist.5 Eine zweite Gruppe von Vorschlägen nimmt – unabhängig von § 217 StGB – die Gewinnsucht bzw. Gewerbsmäßigkeit zum Leitkriterium der Kriminalisierung. So soll etwa nach § 215a des Alternativ-Entwurfs Sterbebegleitung (AE-StB) mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft werden, wer die Selbsttötung eines anderen aus Gewinnsucht unterstützt.6 Der AE-StB enthält daneben – ähnlich wie der AE-Sterbehilfe von 1986 – eine Strafvorschrift zur Nichthinderung einer nicht freiverantwortlichen Selbsttötung (§ 215) sowie in einem Sterbebegleitungsgesetz eine ausschließlich an materiellen Kriterien orientierte Freigabe der ärztlich assistierten Selbsttötung.7 Enger schlägt Schroth vor, einen wucherähnlichen Tatbestand zu schaffen, wonach die Beihilfe zur Selbsttötung unter Ausbeutung einer Zwangslage in Bereicherungsabsicht zu kriminalisieren wäre.8 Der 66. DJT hat 5

Jäger, JZ 2015, 875 (883). Schöch/Verrel, Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung, GA 2005, 553 (585), einer Empfehlung der Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz folgend; dazu auch Verrel, Gutachten zum 66. DJT, 2006, C 116 f. 7 Schöch/Verrel, Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung, GA 2005, 553 (585 f.); zu diesen Vorschlägen kritisch U. Neumann/Saliger, HRRS 2006, 280 (286 ff.). 8 Schroth, GA 2006, 549 (570). Der Vorschlag lautet: „Wer einem anderen, um sich oder einen Dritten zu bereichern, unter Ausbeutung von dessen Zwangslage Beihilfe zur Selbsttötung leistet oder einer solchen Handlung durch seine Vermittlung Vorschub leistet, wird … bestraft.“ Zustimmend etwa Schöch, FS Kühl, 2014, 585 (601). 6

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2006 beide Vorschläge mit nahezu identischem Ergebnis angenommen.9 Auch die Bundesregierung wollte 2012 noch die Suizidbeihilfe als kommerzialisierte Dienstleistung unter Strafe stellen. Der damalige Regierungsentwurf sah deshalb die Einführung eines § 217 StGB gegen die gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung vor.10 Noch in der Sache mit der zweiten Gruppe verbunden, jedoch in dem Kriminalisierungskriterium über die Kommerzialisierung hinaus geht Art. 115 schwStGB. Danach wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft, wer aus selbstsüchtigen Beweggründen jemanden zum Selbstmorde verleitet oder ihm dazu Hilfe leistet, wenn der Selbstmord ausgeführt oder versucht wird. Diese, an der Motivationslage des Suizidhelfers orientierte Regelung wird – zusammen mit Anpassungen im Betäubungsmittelgesetz und im Standesrecht – auch dem deutschen Gesetzgeber anempfohlen.11 Eine dritte Gruppe von rein materiell-rechtlichen Regelungsvorschlägen will jede Form der Beteiligung an einem Suizid unter Strafe stellen. Paradigmatisch für diese Meinungsgruppe steht der Gesetzentwurf von Sensburg/Dörflinger u. a. im Gesetzgebungsverfahren zu § 217 StGB. Danach sollte mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft werden, wer einen anderen dazu anstiftet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet. Auch eine Strafbarkeit des Versuchs war vorgesehen.12 Im Schrifttum finden sich ähnliche, teils zu konkreten Straftatbeständen13 ausgearbeitete Vorschläge.14 Indes können diese Regelungsvorschläge im Folgenden vernachlässigt werden. Was den Vorschlag von Jäger anbelangt, so wird seine einzelfallbezogene Zulassung der Suizidassistenz für Ärzte und Angehörige anderer Heilberufe für den Fall, dass das BVerfG § 217 StGB für verfassungswidrig erklärt, dem Regelungsproblem in Umfang und Tiefe nicht (mehr) gerecht. Gegen die anderen rein materiell-rechtlichen Vorschläge spricht, dass sie nicht nur § 217 StGB in Frage stellen. Sie würden vielmehr den tradierten Grundsatz der Straflosigkeit der individuellen Freitodhilfe insgesamt preisgeben und damit eine erhebliche Verschärfung des geltenden Rechts vor und nach Einführung des § 217 StGB bedeuten. Abgesehen davon, dass solche Vorschläge derzeit nicht mehrheitsfähig erscheinen, taugen sie nicht als Maßstab für

9

Siehe 66. DJT, Beschlüsse, S. 12. BT-Drucks. 17/11126, S. 5: „Wer absichtlich und gewerbsmäßig einem anderen die Gelegenheit zur Selbsttötung gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“ (§ 217 Abs. 1 StGB-E). Dazu Saliger, Selbstbestimmung bis zuletzt, 2015, S. 178 ff. 11 Britzke, § 217 StGB im Lichte des strafrechtlichen Rechtsgutskonzepts, 2019, S. 224 ff. 12 BT-Drucks. 18/5376, S. 5. 13 Bei Freund/Timm, GA 2012, 491 (495) und Feldmann, GA 2012, 498 (516). 14 Dafür z. B. Kubiciel, JZ 2009, 600 (608); mit Grenzen bei freiverantwortlichen und überlegten Suiziden auch Engländer, FS Schünemann, 2014, 583 (594 f.). 10

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die rechtspolitische Diskussion, falls das BVerfG bereits die in § 217 StGB liegende Strafrechtsverschärfung als mit der Verfassung unvereinbar ansehen sollte. 2. Strafrechtliche Verbote mit prozeduralen Legalisierungen Eine weitere Gruppe von Regelungsvorschlägen kombiniert strafrechtliche Verbote bei der Suizidteilnahme mit auch von prozeduralen Anforderungen abhängigen Legalisierungen. Einen frühen Vorschlag in diese Richtung hat Hoerster unterbreitet. In einer Monografie zur Sterbehilfe will er einerseits die Teilnahme (Verleiten oder Förderung) an der Selbsttötung kriminalisieren (§ 214 Abs. 1 StGB-E). Andererseits soll die Teilnahme eines Arztes an der Selbsttötung nicht rechtswidrig sein, sofern die Voraussetzungen vorliegen, unter denen Hoerster die Sterbehilfe nicht für rechtswidrig hält (§ 214 Abs. 2 i.V.m. § 216a StGB-E). Zu diesen Voraussetzungen gehören die prozedurale Kautelen der Aufklärung und Untersuchung durch einen zweiten Arzt sowie die schriftliche Dokumentation (§ 216a Abs. 2 StGB-E).15 Auch Gottwald favorisiert in ihrer Dissertation zu den Sterbehilfegesellschaften ein Kombinationsmodell. So unterstützt sie den Vorschlag des AE-StGB zur Kriminalisierung der Unterstützung einer Selbsttötung aus Gewinnsucht. Zugleich fordert sie, ohne es näher auszuarbeiten, dass die Tätigkeit der Sterbehilfegesellschaften an Sorgfaltsanforderungen orientiert und staatlich kontrolliert wird.16 Konkreter hinsichtlich der prozeduralen Legalisierung wird der im Schrifttum auf Widerhall17 gestoßene Gesetzesvorschlag von Borasio/Jox/Taupitz/Wiesing. Zwar will auch er – neben der Werbung für die Beihilfe zur Selbsttötung – die Beihilfe zur Selbsttötung bestrafen, sofern die Selbsttötung ausgeführt oder versucht wird (§ 217 Abs. 1 StGB-E).18 Jedoch zielen die Autoren in § 217 Abs. 3 und 4 StGBE vor allem auf die Konturierung eines Katalogs von materiellen und prozeduralen Kriterien, nach denen der ärztlich assistierte Suizid gerechtfertigt wird. So ist eine ärztliche Suizidhilfe materiell nur zulässig gegenüber einem volljährigen und einwilligungsfähigen Suizidenten mit ständigem Wohnsitz in Deutschland, der an einer unheilbaren, zum Tode führenden Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung leidet sowie freiwillig und ernsthaft die Suizidbeihilfe verlangt. Prozedural muss der Arzt folgende Anforderungen erfüllen: ein persönliches Gespräch mit dem Patienten über den Entschluss zur Selbsttötung; eine persönliche Untersuchung des Patienten zum Gesundheitszustand; eine umfassende und lebensorientierte Aufklärung, auch über Alternativen; die Hinzuziehung eines zweiten unabhängigen Arztes, der ebenfalls 15 16

255 f. 17

Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, 1998, S. 168 ff. Gottwald, Die rechtliche Regulierung von Sterbehilfegesellschaften, 2009, S. 231 ff. und

Siehe zum ihm etwa U. Neumann, medstra 1/2015, S. 16 ff. und Saliger, Selbstbestimmung (Fn. 10), S. 187 ff. 18 Angehörige oder nahestehende Personen bei einem freiverantwortlichen Suizid eines Volljährigen ausgenommen (§ 217 Abs. 2 StGB-E).

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persönlich kommuniziert, untersucht und ein schriftliches Gutachten erstattet; die Einhaltung eines Zeitraums von mindestens zehn Tagen zwischen dem Aufklärungsgespräch und der Beihilfe zur Selbsttötung.19 Strafrecht mit Prozeduralisierung kombiniert ferner der bereits erwähnte Entwurf von Künast/Sitte u. a. zu einem Gesetz über die Straffreiheit der Hilfe zur Selbsttötung.20 Das mag auf den ersten Blick überraschen, weil der Entwurf nach seinem erklärten Zweck die Zulässigkeit einer Selbsttötungshilfe durch Ärzte, Einzelpersonen und Organisationen regeln will (§ 1) und die Hilfe zur Selbsttötung deshalb für grundsätzlich straflos erklärt (§ 2 Abs. 2). Allerdings beinhaltet der Entwurf auch Neupönalisierungen zur gewerbsmäßigen Hilfe zur Selbsttötung (§ 4) und zur gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 5). Soweit der Gesetzentwurf daher die Freitodhilfe durch Ärzte, nichtärztliche Mitarbeiter in Hospizen und Krankenhäusern, Sterbehelfer sowie Mitglieder und Angestellte von Sterbehilfeorganisationen differenzierenden Beratungspflichten (§ 7) und Dokumentationspflichten (§ 8) unterwirft sowie Pflichtverletzungen mit eigener Strafe bedroht (§ 9)21, liegt gleichwohl ein Mischmodell vor. Zu diesen Mischmodellen ist auch der Regelungsvorschlag von Kampmann zu zählen. Er plädiert für eine Streichung von § 217 StGB und eine Regelung des ärztlich assistierten Suizids im BtMG. Er schlägt einen neuen § 13a BtMG vor, der im Unterschied zu dem Verbotstatbestand in § 13 Abs. 1 BtMG für Ärzte die Verschreibung oder Überlassung bestimmter Betäubungsmittel zum Zwecke einer freiverantwortlichen Selbsttötung unter bestimmten materiellen und prozeduralen Anforderungen (z. B. umfassende und lebensnahe Beratung, Dokumentation, 3-Tage-Zeitraum zwischen Beratung und Freitodhilfe) erlaubt. Flankiert wird diese Erlaubnis durch eine Strafnorm bei Pflichtverletzungen und durch Ordnungswidrigkeiten.22 Schließlich findet sich ein Mischmodell auch in Bezug auf den geltenden § 217 StGB. So bilanziert Berghäuser ihre eingehende Kritik des § 217 StGB nicht mit dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit. Vielmehr wechselt sie zu einer rechtspolitischen Kritik, in der sie in Anlehnung an die Regelung der Euthanasie im niederländischen Strafgesetzbuch (Art. 293 Abs. 2 und Art. 294 Abs. 2 nlStGB) und an die Verfahrenslösung gemäß § 218a Abs. 1 StGB für eine „Ergänzung des Verbotstatbestandes der geschäftsmäßigen Suizidhilfe um eine in einen Ausnahmetatbestand gefasste Verfahrensregelung“ plädiert.23 19

Borasio/Jox/Taupitz/Wiesing, Selbstbestimmung im Sterben – Fürsorge zum Leben. Ein Gesetzesvorschlag zur Regelung des assistierten Suizids, 2014, S. 22 ff. Dazu auch Borasio, Selbst bestimmt sterben usw., 2016, S. 101 ff. 20 BT-Drucks. 18/5375. 21 BT-Drucks. 18/5375, S. 3 ff. Sympathie dafür auch bei Hoven, ZIS 2016, 1 (9) und Hecker, GA 2016, 455 (467). 22 Kampmann, Die Pönalisierung der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung – eine kritische Analyse. Zugleich ein Reformvorschlag zur Normierung ärztlicher Suizidassistenz, 2017, S. 144 ff. (174 ff.). 23 Berghäuser, ZStW 2016, 741 (782).

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3. Außerstrafrechtliche Regelungen mit materiellen und prozeduralen Kautelen Eine letzte Gruppe von Regelungsvorschlägen sucht eine Regelung der Freitodhilfe außerhalb des Strafrechts, wobei auf materielle und prozedurale Gesichtspunkte zurückgegriffen wird. Das Spektrum der Vorschläge ist sehr heterogen. Beginnen kann man mit einer Gruppe von außerstrafrechtlichen Vorschlägen, die allein die ärztliche Suizidassistenz regeln wollen. So votiert Lindner für eine gesetzliche Regelung, die aus drei Elementen besteht: dem grundsätzlichen Verbot der ärztlichen Suizidassistenz, den materiellen Voraussetzungen für eine Ausnahme von diesem Verbot (z. B. Leiden an einer schweren und unheilbaren Krankheit, hoher Leidensdruck, keine hinreichende oder zumutbare Schmerz- und Angsttherapie) und verfahrensrechtlichen Kautelen zur Missbrauchsverhinderung (z. B. Begutachtung der materiellen Voraussetzungen durch zwei weitere Ärzte, Drei-Tage-Zeitraum zwischen Feststellung und Selbsttötung, Dokumentation).24 Roxin schlägt eine aus zwei Elementen bestehende Regelung vor: Zum einen sollte der Gesetzgeber das öffentliche Angebot einer Selbsttötungshilfe als Ordnungswidrigkeit ahnden. Zum anderen sollte der ärztlich assistierte Suizid in Anlehnung an eine Entscheidung des VG Berlin in aussichtslosen Fällen eines schweren und nicht therapierbaren Leidens des Selbsttötungswilligen ausdrücklich zugelassen werden.25 Eine rein zivilrechtliche Regelung des ärztlich assistierten Suizids schlägt der Gesetzentwurf von Hintze/Lauterbach u. a. vor. Im Buch 4 des BGB will er einen neuen Abschnitt 4 „Selbstbestimmung des Patienten“ einfügen und dort in einem neuen § 1921a BGB-E die materiellen und prozeduralen Anforderungen für die Zulässigkeit der ärztlich begleiteten Lebensbeendigung regeln. Materiell wird etwa vorausgesetzt, dass der Patient volljährig und einwilligungsfähig ist, er an einer unheilbaren, unmittelbar zum Tode führenden Erkrankung leidet und der Patient die ärztliche Hilfestellung bei der Selbsttötung ernsthaft und endgültig wünscht. Prozedural fordert der Gesetzentwurf eine ärztliche Beratung des Patienten sowie die Bestätigung der Unumkehrbarkeit des Krankheitsverlaufs, der Wahrscheinlichkeit des Todes sowie des Patientenwunsches und der Einwilligungsfähigkeit des Patienten durch einen zweiten Arzt.26 Eine zweite Gruppe von Regelungsvorschlägen geht über die ärztliche Suizidassistenz hinaus. Sie kann sich eine verwaltungsrechtliche Kontrolle der Tätigkeit von Sterbehilfegesellschaften anhand von Sorgfaltskriterien vorstellen, wie sie etwa die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin der Schweiz 200627 für

24

Lindner, NJW 2013, 136 (138 f.). Roxin, NStZ 2016, 185 (190 ff.). 26 BT-Drucks. 18/5374, S. 5; Sympathie bei U. Neumann, medstra 1/2015, 16 (18). 27 NEK-CNE, Stellungnahme Nr. 13/2006. 25

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den Umgang mit Suizidbeihilfe empfohlen hat28, gegebenenfalls in Verbindung mit einer gesetzlichen Freigabe des ärztlich assistierten Suizids.29

III. Leitlinien für eine auch prozedurale Regelung der Freitodhilfe Auf Basis dieses Überblicks der Regelungsvorschläge gilt es, Leitlinien für eine auch prozedurale Regelung der Freitodhilfe zu erarbeiten. 1. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf? Zunächst stellt sich die Frage, ob nach einer möglichen Nichtigkeitserklärung von § 217 StGB durch das BVerfG ohne konkreten Regelungsauftrag – allein dieser Fall sei aus Vereinfachungsgründen betrachtet30 – überhaupt gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Dagegen könnte sprechen, dass die Rechtsprechung nach Inkrafttreten des § 217 StGB Ende 2015 einige wichtige mit der Suizidbeihilfe zusammenhängende Fragen geklärt hat. So hat das BVerwG bekanntlich 2017 entschieden, dass der Erwerb eines Betäubungsmittels zum Zwecke der Selbsttötung ausnahmsweise erlaubnisfähig ist, wenn sich der suizidwillige Erwerber wegen einer schweren und unheilbaren Erkrankung in einer extremen Notlage befindet.31 Darüber hinaus hat der 5. Strafsenat des BGH Mitte 2019 in zwei Entscheidungen ausgesprochen, dass ein Arzt sich weder wegen (versuchter) Tötung auf Verlangen durch Unterlassen noch wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar macht, wenn er eine freiverantwortliche Selbsttötung nach Bewusstseinsverlust des Suizidenten vereinbarungsgemäß nur noch begleitet.32 Indes wäre mit diesen Entscheidungen die Regelungslücke nach einer Nichtigkeitserklärung von § 217 StGB nicht geschlossen. Sieht man davon ab, dass die 28

Schreiber, NStZ 2006, 473 (478) unter Bezug auf Duttge; Hilgendorf, JRE 2007, 479 (495 ff.) und ders., JZ 2014, 545 (551 f.); Saliger, ZRP 2008, 199 und ders., medstra 2015, 132 (138) und ders. (Fn. 10), S. 208 ff.; Rosenau/Sorge, NK 2013, 108 (118); Hecker, GA 2016, 455 (467); F. Neumann, Die Mitwirkung am Suizid als Straftat? 2015, S. 294. Für Untersagungen im Vereins- oder Gewerberecht Kempf, JR 2013, 11 (13 f.) und Schmidt-Jortzig, ZRP 2014, 62. 29 Für eine Regelung bei den §§ 630a ff. StGB Saliger, medstra 2015, 132 (138) und ders. (Fn. 10), S. 212 f. Für eine Regelung am Vorbild des niederländischen Rechts Hoven, ZIS 2016, 1 (9). 30 Zu den Entscheidungsalternativen der Teilnichtigkeit, funktionalen Nichtigkeit und verschiedenen Unvereinbarkeitserklärungen, etwa mit Übergangsfrist, jeweils mit oder ohne Regelungsauftrag statt aller Lechner/Zuck, BVerfGG, 8. Aufl. 2019, Rn. 20 ff. 31 BVerwG NJW 2017, 2215 (2217 f. Rn. 22 ff.); bestätigt in BVerwG NJW 2019, 2789 (2790 Rn. 18). 32 BGH NJW 2019, 3089 ff. (Berliner Fall) und 3092 ff. (Hamburger Fall).

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rechtskräftige Entscheidung des BVerwG aufgrund einer hochproblematischen Weisung des Bundesgesundheitsministers derzeit vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte nicht umgesetzt wird33, betreffen die erwähnten Gerichtsentscheidungen allein die individuelle Selbsttötungshilfe durch Mitarbeiter des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte bzw. Ärzte. Dort sprechen sie richtige Neuerungen (BVerwG) und Klarstellungen (5. Strafsenat) aus. Jedoch enthalten sie keine Aussagen zur organisierten Freitodhilfe durch Sterbehilfevereine oder zu seriell Freitodhilfe leistenden Ärzten, also zu jenen Phänomenen, auf die § 217 StGB eine unverhältnismäßige strafrechtliche Antwort gegeben hat. Damit bleibt auch die mehrpolige Grundrechtslage, welche die Problematik der seriellen Freitodhilfe im Verhältnis von Freitodwilligen, assistierendem Arzt, organisiertem Sterbehelfer und Sterbehilfevereinen aufwirft34, ungeregelt. Da diese mehrpolige Grundrechtslage hochrangige Rechtsgüter betrifft, die durch die serielle Freitodhilfe Irrtums- und Missbrauchsgefahren ausgesetzt werden35, bestünde also gesetzgeberischer Handlungsbedarf. 2. Strafgesetzliche Verfahrenslösung? Als nächste Frage ist zu klären, ob eine strafgesetzliche Verfahrenslösung im Sinne einer der Regelungsvorschläge aus der Gruppe „Strafrechtliche Verbote mit prozeduralen Legalisierungen“36 zu befürworten ist. Betrachten wir zuerst den Regelungsvorschlag, der insofern mit dem geringsten Neuregelungsaufwand verbunden ist, als er bei Beibehaltung von § 217 StGB für die Aufnahme einer als Ausnahmetatbestand gefassten Verfahrensregelung in Anlehnung an das niederländische Euthanasiegesetz und die Verfahrenslösung in § 218a Abs. 1 StGB votiert. Berghäuser begründet diesen Vorschlag mit zwei notwendigen Schritten. Im ersten Schritt bedürfe es eines strafgesetzlichen Verbots, das positivgeneralpräventiv „den herausragenden Wert des Rechtsguts Leben und das grundsätzliche Unrecht (nicht die Normalität) dessen abstrakter Gefährdung“ unterstreiche. Damit könne anders als bei verwaltungs- und zivilrechtlichen Vorschriften niemand auf die moralische Erlaubtheit der geschäftsmäßigen Suizidhilfe schließen.37 Im zweiten Schritt könne der Gesetzgeber sein grundsätzliches Unrechtsurteil über die geschäftsmäßige Suizidhilfe in einem als Ausnahmetatbestand gefassten Erlaubnisverfahren zurückzunehmen. Tatbestandslos wären danach jene Suizidassistenten, bei denen keine Verletzung oder „auch nur Gefährdung der Eigenverantwortlichkeit (durch eine nicht verfahrensmäßige, geschäftsmäßige Suizidhilfe) ausgemacht wer33

Vgl. etwa Klapsa, Moral steht nicht über dem Recht, Welt vom 15. 01. 2020. Dazu etwa F. Neumann, Mitwirkung (Fn. 28), S. 241 ff.; Saliger, Selbstbestimmung (Fn. 10), S. 23 ff.; Kampmann, Pönalisierung (Fn. 22), S. 36 ff. 35 Vgl. auch BVerwG NJW 2017, 2215 (2220 Rn. 40). 36 Oben II. 2. 37 Berghäuser, ZStW 2016, 741 (782). 34

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den kann.“38 So würde in schlüssiger, ja zwingender Weise sowohl einer von der Strafdrohung begleiteten Kontrollbedürftigkeit Ausdruck verliehen als auch der von § 217 StGB bekämpften Habitualisierung „suizidfreundlicher“ Wert- und Unrechtsvorstellungen Einhalt geboten.39 Dieser Regelungsvorschlag ist aus mehreren Gründen abzulehnen. Das betrifft zunächst das Fehlverständnis zum Einsatz des Verfahrensrechts bzw. prozeduralen Rechts. Unabhängig von den Unsicherheiten um Begriff und Funktionen des prozeduralen Rechts40 besteht hinsichtlich der hier einschlägigen Rechtsbegründungsfunktion von prozeduralem Strafrecht Einigkeit, dass das prozedurale Recht eine liberale Straffreistellungsfunktion hat.41 In der Begründung bei Berghäuser erhält das Verfahrensrecht aber eine kriminalisierende Funktion, die das Rechtsgut für sie erst erträglich und legitimierbar macht. Das zeigt der Unterschied zur Regelung des beratenen Schwangerschaftsabbruchs in §§ 218a Abs. 1, 219 StGB i.V.m. dem Schwangerschaftskonfliktgesetz. Dort findet sich mit dem Leben des nasciturus ein substantielles Rechtsgut, um das das prozedurale Lebensschutzkonzept zentriert ist. Bei § 217 StGB begründet die – behauptete – abstrakte Gefahr für das Leben durch eine Suizidkultur dagegen kein substantielles Rechtsgut, an das ein prozedurales Schutzkonzept anknüpfen könnte. Das erklärt auch, warum bei der Strafbegründung von Berghäuser der Zweck so dominant wird, den Anschein einer Normalität von Freitodhilfe durch ein gesetzliches Kontrollverfahren zu vermeiden. Aber eine solche Zwecksetzung ist im Strafrecht doppelt untauglich. Zum einen lässt sich eine Strafvorschrift nicht auf die widersprüchliche Erwägung stützen, ein gesetzliches Erlaubnisverfahren dürfe nicht den Anschein von Normalität eben jenes erlaubten Verhaltens – warum wird das Verhalten dann erlaubt? – erwecken. Das gilt erst recht im Hinblick auf den ultima ratioGrundsatz. Zum anderen werden solche Erwägungen schon bei §§ 218a f. StGB widerlegt. Denn dort hat die Missbilligung der Tatbestandslosigkeit des beratenen Schwangerschaftsabbruchs nichts am Schwangerschaftsabbruch als Massenphänomen geändert.42 Vor allem überzeugt der Regelungsvorschlag von Berghäuser nicht, weil die Verfahrensregelung das unterstellte Unrecht bei § 217 StGB überhaupt nicht ausräumen kann. Wenn für den Gesetzgeber wie Berghäuser das Strafunrecht des § 217 StGB in der abstrakten Gefährdung für das Rechtsgut Leben durch eine geschäftsmäßige Freitodhilfe liegt43, dann kann dieses Unrecht durch den prozeduralen Nachweis 38

Berghäuser, ZStW 2016, 741 (781). Berghäuser, ZStW 2016, 741 (782 f.). 40 Dazu m.w.Nw. Saliger, in: Hassemer/Neumann/Saliger (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 9. Aufl. 2016, S. 434 ff. 41 Siehe statt aller m.w.Nw. Schweiger, Prozedurales Strafrecht (Fn. 2), S. 64 ff. 42 Vgl. exemplarisch Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, Vor §§ 218 – 219b, Rn. 10 ff. 43 Zum Gesetzgeber siehe BT-Drucks. 18/5373, S. 12, ferner 2 f. und 10; dazu NK-Saliger, StGB, 5. Aufl. 2017, § 217 Rn. 2. 39

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einer fehlenden Verletzung oder konkreten Gefährdung der Freiverantwortlichkeit des Suizidenten nicht aufgehoben werden. Denn die abstrakte Gefährlichkeit einer Handlung bleibt vom Nachweis ihrer mangelnden konkreten Gefährlichkeit grundsätzlich unberührt.44 Daher gehört das von Berghäuser vorgeschlagene Kontrollverfahren richtigerweise nicht zu § 217 StGB, sondern zu allen jenen Vorschlägen von Strafnormen, welche die individuelle Freitodhilfe generell aus Gründen des Übereilungsschutzes kriminalisieren wollen. Zu diesen Vorschlägen zählen neben den rein materiellen Regelungsansätzen45 auch die strafgesetzlichen Verfahrenslösungen von Hoerster, Borasio u. a. sowie Künast/Sitte u. a.46 Freilich zeigen sich die bei Berghäuser zu Tage getretenen Schwächen auch bei letzteren Vorschlägen. Das beginnt bei der Unrechtsbegründung für eine generelle Kriminalisierung der Suizidteilnahme. Wenn die (versuchte) Selbsttötung als Haupttat kein Rechtsgut verletzt, stehen die Befürworter einer generellen Kriminalisierung der Suizidteilnahme vor der Schwierigkeit, wider den Grundsatz der Akzessorietät und einer über 140 Jahre währenden Tradition der grundsätzlichen Straflosigkeit der Suizidteilnahme in Deutschland eine selbständige Rechtsgutverletzung für die Suizidteilnahme zu begründen. Das ist bis heute konsensfähig nicht gelungen.47 Entsprechend hat auch der Gesetzgeber des § 217 StGB darauf verzichtet, die Suizidteilnahme im Einzelfall zu pönalisieren.48 Unbefriedigend bleibt hier auch der Gesetzentwurf von Künast/Sitte u. a. Denn soweit er nur die gewerbsmäßige Hilfe zur Selbsttötung und die gewerbsmäßige Förderung der Selbsttötung neu kriminalisieren will, verfehlt er tendenziell das Regelungsproblem der seriellen Freitodhilfe. Eine weitere Schwäche kommt hinzu. Befürworter einer strafgesetzlichen Verfahrenslösung tendieren zu einer Überkriminalisierung von Verfahrensverstößen. So führt beim Vorschlag von Borasio u. a. die Ausgestaltung des ärztlich assistierten Suizids als Rechtfertigungsgrund dazu, dass Ärzte sich bei (vorsätzlicher) Nichteinhaltung der Rechtfertigungsvoraussetzungen wegen Beihilfe zur Selbsttötung strafbar machen können. Das ist nicht nur im Verhältnis zur geltenden Rechtslage eine unverhältnismäßige Verschärfung, wo Ärzte, wenn sie Freitodhilfe im Einzelfall (also nicht geschäftsmäßig) leisten, straflos sind. Darüber hinaus ist es unverhältnismäßig, bei bloßen Formalverstößen wie Verletzungen von Dokumentationsanforderungen (§ 217 Abs. 5 Nr. 3 StGB-E Borasio u. a.) oder einer geringfügigen Unterschreitung des Zehn-Tage-Zeitraums zwischen Suizidverlangen und Suizidhilfe (§ 217 Abs. 4 Nr. 5 StGB-E Borasio u. a.) für Ärzte die volle Vorsatzstrafe einer Selbsttötungsbei44

Vgl. exemplarisch NK-Kargl, StGB, Vorbem. zu §§ 306 ff. Rn. 24. Siehe z. B. die Vorschläge aus der Gruppe II. 1. mit Nw. in den Fn. 11 – 13. 46 Zum Übereilungs- und Missbrauchsschutz in diesen Vorschlägen vgl. Hoerster, Sterbehilfe (Fn. 15), S. 56; Borasio/Jox/Taupitz/Wiesing, Selbstbestimmung (Fn. 19), S. 19 f. und 46; § 3 des Gesetzentwurfs von Künast/Sitte u. a., BT-Drucks. 18/5375, S. 3 f. und 10. 47 Zu den Argumenten gegen eine generelle Kriminalisierung der Suizidteilnahme Saliger, Selbstbestimmung (Fn. 10), S. 136 ff. 48 BT-Drucks. 18/5373, S. 3 und 14. 45

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hilfe eintreten zu lassen.49 Eine solche unzulässige Gleichbehandlung von materiellem (vgl. § 5 E-Künast/Sitte u. a.) und prozeduralem Strafunrecht (vgl. § 9 Abs. 1 EKünast/Sitte u. a.) findet sich auch im Gesetzentwurf von Künast/Sitte u. a.50 3. Materielle Kriterien Ist im Ergebnis eine strafgesetzliche Verfahrenslösung abzulehnen, so erhebt sich die weitere Frage, unter welchen materiellen Kriterien eine Freitodhilfe erlaubt sein sollte. Konsens dürfte hinsichtlich der Freiverantwortlichkeit des gefassten und geäußerten Selbsttötungsentschlusses des Suizidenten zu erzielen sein. Denn nur ein freiverantwortlicher Suizidentschluss kann Ausdruck des Menschenrechts auf ein selbstbestimmtes Sterben sein.51 Insoweit kann an die Kriterien des BGH angeknüpft werden. Danach ist ein Selbsttötungsentschluss freiverantwortlich, wenn der Suizident die natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit für seine Entscheidung besitzt und der Selbsttötungsentschluss mangelfrei gebildet sowie von innerer Festigkeit gekennzeichnet ist.52 Die meisten Regelungsentwürfe verwenden in der Sache gleichlautende Formulierungen.53 Die reifliche Überlegung sollte keine Voraussetzung für die Anerkennung eines Selbsttötungsentschlusses sein, weil das Raum für unzulässige Vernünfteleien von dritter Seite eröffnet.54 Die Freiverantwortlichkeit des Suizidentschlusses muss sich in einer eigenverantwortlichen Selbsttötungshandlung fortsetzen. Das ist der Fall, wenn der Suizident das zum Tode führende Geschehen beherrscht.55 Vor Alternativen stellen die weiteren Kriterien. Das gilt zunächst hinsichtlich der Frage, ob der Personenkreis weiter eingeengt werden sollte. So wird teilweise die

49

Zu dieser Kritik Saliger, Selbstbestimmung (Fn. 10), S. 194 ff. Zur Kritik eines solchen Hyperprozeduralismus Saliger (Fn. 40), S. 451 f.; Schweiger, Prozedurales Strafrecht (Fn. 2), S. 271 ff. 51 Vgl. dazu auch EGMR NJW 2011, 3773 (3774 Rn. 51) – Fall Haas/Schweiz. 52 BGH NJW 2019, 3089 (3090 Rn. 17); BGH NJW 2019, 3092 (3093 Rn. 21); vgl. auch BVerwG NJW 2017, 2215 (2219 Rn. 31). 53 Siehe Nr. 4.1., 4.4. und 4.5. der Stellungnahme Nr. 13/2006 der Nationalen Schweizer Ethikkommission im Bereich Humanmedizin, 2006, S. 4 f.; Lindner, NJW 2013, 136 (139); § 217 Abs. 2 – 4 StGB-E Borasio u. a., Selbstbestimmung (Fn. 19), S. 22 f.; § 3 Abs. 1 Gesetzentwurf Künast/Sitte, BT-Drucks. 18/5375, S. 3; § 1921a Abs. 1 BGB-E Hintze/Lauterbach u. a., BT-Drucks. 18/5374, S. 5; Kampmann, Pönalisierung (Fn. 22), S. 176. 54 Str., wie hier etwa Schöch/Verrel, AE-StB, GA 2005, 553 (585 f.); Lindner, NJW 2013, 136 (139); § 1921a Abs. 2 BGB-E Hintze/Lauterbach u. a., BT-Drucks. 18/5374, S. 5. A.A. Hoerster, Sterbehilfe (Fn. 15), S. 169; § 3 Abs. 2 Gesetzentwurf Künast/Sitte, BT-Drucks. 18/ 5375, S. 4. 55 BGH NJW 2019, 3092 (3093 Rn. 17); auch BGH NJW 2019, 3089 f. Rn. 13. 50

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Volljährigkeit des Suizidenten verlangt.56 Das ist abzulehnen, weil Beurteilungsbasis der Freiverantwortlichkeit des Selbsttötungsentschlusses die natürliche Einsichtsund Urteilsfähigkeit ist, die auch Minderjährige besitzen können.57 Ob psychisch Kranken die Freitodhilfe zuzubilligen ist, ist eine Frage des Einzelfalls. Ist die Suizidalität aber Ausdruck oder Symptom der Erkrankung, so darf keine Suizidbeihilfe gewährt werden.58 Eine Eingrenzung auf Personen mit ständigem Wohnsitz in Deutschland59, um einen Freitodhilfetourismus zu verhindern, ist nicht zwingend, sondern eine Frage der Ordnungspolitik. Die große Mehrzahl der Regelungsentwürfe schränken den Zugang zur Freitodhilfe auf Personen mit einer spezifischen Erkrankung ein. Häufig wird eine schwere und unheilbare Erkrankung verlangt60, daneben ein hoher Leidensdruck61 und vereinzelt eine unumkehrbar zum Tode führende Erkrankung62 oder – am engsten – eine zum Tode führende Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung.63 Das BVerwG hat die ausnahmsweise Erlaubnis zum Erwerb eines Betäubungsmittels zum Zwecke der Selbsttötung an eine schwere und unheilbare Erkrankung mit gravierenden körperlichen Leiden, insbesondere starken Schmerzen gebunden, die bei dem Betroffenen zu einem unerträglichen Leidensdruck führt.64 Vereinzelt wird auch gar keine Eingrenzung auf spezifische Erkrankungen vorgenommen.65 Richtigerweise ist eine schwere und unheilbare Erkrankung mit hohem Leidensdruck für den Betroffenen zu fordern. Zwar ist zu beachten, dass jede zu enge krankheitsbezogene Eingrenzung zulässiger Freitodhilfe die Gefahr einer verdeckten Vernünftelei durch Dritte in sich bergen kann. Jedoch gebietet es die Rechtssicherheit für Dritte, die Freitodhilfe an einem spezifischen Krankheitszustand des Suizidenten zu binden, damit der Suizidhelfer die Validität des freiverantwortlich gebildeten und geäußerten Selbsttötungsentschlusses nachvollziehbar und nachprüfbar feststellen kann.66 56 § 217 Abs. 2, 3 StGB E-Borasio u. a., Selbstbestimmung (Fn. 19), S. 22; § 1921a Abs. 1 BGB-E Hintze/Lauterbach u. a., BT-Drucks. 18/5374, S. 5. 57 Im Ergebnis wie hier Lindner, NJW 2013, 136 (139); § 3 Gesetzentwurf Künast/Sitte, BT-Drucks. 18/5375, S. 3 f. 58 4.3. der Stellungnahme Nr. 13/2006 der Nationalen Schweizer Ethikkommission im Bereich Humanmedizin, 2006, S. 4. 59 So § 217 Abs. 3 StGB-E Borasio u. a., Selbstbestimmung (Fn. 19), S. 22 für den ärztlich assistierten Suizid. 60 Z. B. Hoerster, Sterbehilfe (Fn. 15), S. 169; Lindner, NJW 2013, 136 (139). 61 Vgl. 4.2. der Stellungnahme Nr. 13/2006 der Nationalen Schweizer Ethikkommission im Bereich Humanmedizin, 2006, S. 4; Schöch/Verrel, AE-StB, GA 2005, 553 (586; dort § 4 Abs. 1); Lindner, NJW 2013, 136 (139). 62 § 1921a Abs. 1 BGB-E Hintze/Lauterbach u. a., BT-Drucks. 18/5374, S. 5. 63 § 217 Abs. 4 Nr. 2 StGB-E Borasio u. a., Selbstbestimmung (Fn. 19), S. 23. 64 BVerwG NJW 2017, 2215 (2219 Rn. 31). 65 So § 3 Gesetzentwurf Künast/Sitte, BT-Drucks. 18/5375, S. 3 f. 66 Vgl. auch 4.2. der Stellungnahme Nr. 13/2006 der Nationalen Schweizer Ethikkommission im Bereich Humanmedizin, 2006, S. 4.

Zur prozeduralen Regelung der Freitodhilfe

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Verbreitet wird zusätzlich die Unmöglichkeit einer hinreichend zumutbaren Schmerz- und Angsttherapie67 oder – enger – die Ausschöpfung aller therapeutischen Alternativen68 bzw. das Fehlen einer anderen zumutbaren Möglichkeit der Verwirklichung des Sterbewunsches verlangt.69 Das überzeugt nicht. Eine solche Subsidiarität der Suizidhilfe entspricht nicht dem Menschenrecht auf ein menschenwürdiges Sterben. Zudem kann ihr der Sache nach dadurch Rechnung getragen werden, dass im Rahmen der Aufklärung und Beratung des Freitodwilligen auf alternative Behandlungsmöglichkeiten eingegangen werden muss.70 Eine Eingrenzung des Adressatenkreises zulässiger Freitodhilfe ist nicht geboten. Insbesondere ist keine Beschränkung der gesetzlichen Regelung bzw. Straffreistellung auf Ärzte angezeigt.71 Gewiss sind Ärzte – richtig verstanden – die „geborenen“ Freitodhelfer. Deshalb wäre eine gesetzliche Regelung des ärztlich assistierten Suizids auch wünschenswert. Daneben muss aber die Freitodhilfe durch professionelle Suizidhelfer ebenso zulässig sein wie die Freitodhilfe durch Angehörige oder sonst nahestehende Personen. 4. Prozedurale Kautelen Die prozeduralen Kautelen einer zulässigen Freitodhilfe beurteilen sich einerseits nach dem materiellen Grundrechtsschutz des Freitodwilligen, der Grund und Grenze von Verfahren markiert, andererseits nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.72 Beide Maßgaben legen eine nach den Adressaten der zulässigen Freitodhilfe – Ärzte, professionelle Suizidhelfer, Angehörige etc. – differenzierende Regelung nahe.73 Hinsichtlich der prozeduralen Kautelen für den ärztlich assistierten Suizid lässt sich innerhalb der meisten Regelungsvorschläge ein Grundkanon an gemeinsamen Voraussetzungen feststellen. Mit Recht werden insoweit gefordert die Feststellung von Freiverantwortlichkeit des Selbsttötungsentschlusses und Krankheitszustand des Betroffenen durch den Arzt; eine Aufklärung und lebensorientierte Beratung des Betroffenen über seinen Zustand, die Behandlungsmöglichkeiten und den Ablauf 67

Lindner, NJW 2013, 136 (139). Schöch/Verrel, AE-StB, GA 2005, 553 (586). 69 So BVerwG NJW 2017, 2215 (2219 Rn. 31). 70 Ebenso § 217 Abs. 4 Nr. 3 StGB-E Borasio u. a., Selbstbestimmung (Fn. 19), S. 23; § 1921a Abs. 2 BGB-E Hintze/Lauterbach u. a., BT-Drucks. 18/5374, S. 5; § 7 Gesetzentwurf Künast/Sitte, BT-Drucks. 18/5375, S. 4 f.; Kampmann, Pönalisierung (Fn. 22), S. 176. 71 So aber etwa Hoerster, Sterbehilfe (Fn. 15), S. 169 ff.; Lindner, NJW 2013, 136 (139); Kampmann, Pönalisierung (Fn. 22), S. 174 ff. 72 Zuletzt Saliger (Fn. 40), S. 442; zustimmend Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, 2014, S. 216, 224 ff.; näher Schweiger, Prozedurales Strafrecht (Fn. 2), S. 229 ff., 246 ff. 73 So im Ergebnis auch der Gesetzentwurf von Künast/Sitte, vgl. §§ 1 ff. BT-Drucks. 18/ 5375, S. 3 ff.; vgl. ferner § 217 Abs. 2, 3 StGB-E Borasio u. a., Selbstbestimmung (Fn. 19), S. 22, 101. 68

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eines Suizids mit möglichen Komplikationen; die Bestätigung der materiellen Voraussetzungen einer Freitodhilfe durch einen zweiten Arzt; ein bestimmter Zeitraum zwischen der Beratung sowie der Leistung der Freitodhilfe, wobei 14 Tage74 angemessen sein dürften; die Dokumentation und Meldung des ärztlichen Handelns.75 Dagegen wird man die ex-ante Einschaltung von Ethik-Kommissionen, Behörden oder Gerichten, weil im Hinblick auf den materiellen Grundrechtsschutz als Grenze hyperprozedural, generell nicht verlangen müssen.76 Für die Regelung der Freitodhilfe durch professionelle Sterbehelfer in Sterbehilfeorganisationen werden im Wesentlichen ähnliche Verfahrenskautelen vorgeschlagen, abgesehen davon, dass die medizinischen Feststellungen und Beratungen natürlich durch einen Arzt vorgenommen werden müssen.77 Im Kern entsprechen diese Vorschläge den Sorgfaltskriterien, die die Nationale Ethikkommission der Schweiz im Bereich der Humanmedizin vor fast 15 Jahren für die organisierte Suizidbeihilfe formuliert hat.78 Auch die Ethischen Grundsätze der Suizidbegleitung des Vereins Sterbehilfe Deutschland stimmen damit im Großen und Ganzen überein.79 Die Freitodhilfe durch Angehörige und nahestehende Personen sollte nicht an prozedurale Kautelen gebunden werden. Allerdings ist auch diesem Personenkreis aus Gründen der Rechtssicherheit zu empfehlen, dass sie vor Vornahme einer Freitodhilfe die Freiverantwortlichkeit und die medizinischen Voraussetzungen durch einen Arzt dokumentiert abklären lässt. Eine eigenständige Kriminalisierung von Verfahrensverletzungen, wie sie einige Regelungsvorschläge vorsehen80, liegt im Einschätzungs- und Ermessensspielraum des Gesetzgebers, ist aber nicht zwingend.

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So auch § 3 Abs. 3 Gesetzentwurf Künast/Sitte u. a., BT-Drucks. 18/5375, S. 4. Vgl. zu diesen Voraussetzungen mit Unterschieden im Detail Lindner, NJW 2013, 136 (139); § 217 Abs. 4, 5 StGB-E Borasio u. a., Selbstbestimmung (Fn. 19), S. 23; §§ 3, 7, 8, 10 Gesetzentwurf Künast/Sitte u. a., BT-Drucks. 18/5375, S. 3 ff.; Kampmann, Pönalisierung (Fn. 22), S. 176. Aufklärung und schriftliche Dokumentation der Voraussetzungen durch zwei Ärzte lässt genügen Hoerster, Sterbehilfe (Fn. 15), S. 169 f. Allein Beratung und Bestätigung durch einen zweiten Arzt verlangt § 1921a BGB-E Hintze/ Lauterbach u. a., BT-Drucks. 18/ 5374, S. 5. 76 Vgl. für die Einschaltung eines interdisziplinär besetzten Begutachtungsgremiums neuer Art Duttge, NJW 2016, 120 (125). 77 Siehe §§ 3, 7, 8, 9 des Gesetzentwurfs Künast/Sitte u. a., BT-Drucks. 18/5375, S. 3 ff., der auch die Suizidhilfe durch nichtärztliche Mitarbeiter in einem Hospiz oder einem Krankenhaus und durch serielle Sterbehelfer ohne Sterbehilfeorganisation regelt. 78 Stellungnahme Nr. 13/2006 vom Oktober 2006. 79 Zu Voraussetzungen und Ablauf der Suizidbegleitung bei Sterbehilfe Deutschland Saliger, Selbstbestimmung (Fn. 10), S. 17 ff. 80 Etwa § 9 Gesetzentwurf Künast/Sitte u. a., BT-Drucks. 18/5375, S. 9; Kampmann, Pönalisierung (Fn. 22), S. 177. 75

Zur prozeduralen Regelung der Freitodhilfe

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5. Standort der Regelung Eine letzte Frage, die sich bei der (auch prozeduralen) Regelung von Freitodhilfe stellt, betrifft den Standort einer Regelung. Das hängt zunächst davon ab, ob eine einheitliche Regelung für alle Freitodhelfer politisch gelingt oder nur etwa der ärztlich assistierte Suizid gesetzlich geregelt wird. Für eine einheitliche Regelung empfiehlt sich ein Freitodhilfegesetz gleich dem Regelungsansatz des Gesetzentwurfs von Künast/Sitte u. a.81 Sind nur Teilregelungen politisch machbar, so kommen unterschiedliche Standorte in Betracht. Wird allein der ärztlich assistierte Suizid geregelt, so erscheint eine Regelung im BGB vorzugswürdig. Gegen eine Verortung im Betäubungsmittelgesetz82 spricht, dass das Mittel der Selbsttötung nicht den Regelungsort für eine so sensible Problematik wie die Freitodhilfe vorgeben sollte. Innerhalb des BGB werden eine Regelung im Familienrecht in einem eigenen Abschnitt 4 „Selbstbestimmung des Patienten“ als neuer § 1921a BGB83 oder im Recht der Schuldverhältnisse bei den §§ 630a ff. BGB (Behandlungsvertrag) vorgeschlagen.84 Beide Verortungen passen nicht perfekt, weil der Freitodwillige nicht betreuungsbedürftig ist und die Freitodhilfe mangels ärztlicher Pflicht nicht Teil des Behandlungsvertrags ist. Die Entscheidung hängt davon ab, ob man mehr die Vulnerabilität – dann Familienrecht – oder Autonomie des Freitodwilligen – dann Recht der Schuldverhältnisse – betont. Sollen nur die Sorgfaltsanforderungen für professionelle Freitodhelfer – seien sie Mitglieder von Sterbehilfeorganisationen oder nicht –, gesetzlich geregelt werden, so dürfte sich – akzentuiert man den Aspekt der Vulnerabilität – eine Regelung im Familienrecht (in neuen §§ 1901a ff. BGB) oder in einem eigenen Verwaltungsgesetz empfehlen. Auf jeden Fall bedürfte es ergänzender Regelungen im Betäubungsmittelgesetz, sofern Betäubungsmittel als Freitodmittel zugelassen werden.

IV. Zusammenfassung 1. Es lassen sich drei Typen von Gesetzesvorschlägen zur Freitodhilfe unterscheiden: Rein materiell-rechtliche Regelungsvorschläge, strafrechtliche Verbote mit prozeduralen Legalisierungen und außerstrafrechtliche Regelungen mit materiellen und prozeduralen Kautelen. 2. Nach einer möglichen Nichtigkeitserklärung von § 217 StGB durch das BVerfG besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf. 3. Eine strafgesetzliche Verfahrenslösung ist abzulehnen. 81

Vgl. BT-Drucks. 18/5375. So Kampmann, Pönalisierung (Fn. 22), S. 175 ff. 83 So Gesetzentwurf Hintze/Lauterbach, BT-Drucks. 18/5374, S. 5. 84 So Saliger, medstra 2015, 132 (138). 82

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4. Die materiell zentralen Kriterien einer zulässigen Freitodhilfe sind Freiverantwortlichkeit des Selbsttötungsentschlusses sowie eine schwere und unheilbare Erkrankung des Betroffenen mit hohem Leidensdruck. 5. Hinsichtlich Art und Umfang der prozeduralen Kautelen ist nach dem Adressaten der Suizidhilfe (Arzt, professioneller Sterbehelfer, Angehöriger etc.) zu differenzieren. 6. Der Standort einer gesetzlichen Regelung von Freitodhilfe ist abhängig von Art und Umfang der politisch mehrheitsfähigen Freitodhilfe.

Weiterleben als Schaden? – Weiterleiden als Schaden! Grundrechtsschutz gegen Übertherapie vor dem Tode Von Friedhelm Hufen

I. Eine starke Stimme gegen bioethischen Paternalismus Es sind Lebensanfang und Lebensende, die den Kern individueller Lebensgestaltung und der Persönlichkeit jedes Menschen ausmachen. Doch ausgerechnet in diesem Kern, bei den Themen Zeugung, Schwangerschaft, Geburt einerseits, selbstbestimmtes Sterben andererseits, greift der Staat auf der Grundlage unbestreitbarer historischer Belastungen, aber auch unhistorischer Verallgemeinerungen und durchaus übergriffiger Einflussmöglichkeiten konservativer und kirchlicher Kreise, besonders tief in die menschliche Selbstbestimmung ein. So wird das Grundrecht auf Fortpflanzung z. B. durch das Verbot der Eizellspende in § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG, die Drei-Embryonen-Regel in § 1 Abs. 1 Nr. 4 ESchG und die Übertragungspflicht erzeugter Embryonen in § 1 Abs. 1 Nr. 6 EschG, durch die immer noch restriktive Regelung der Präimplantationsdiagnostik in § 3a EschG sowie die fehlende Kostentragung für die nicht invasive frühe Pränataldiagnostik erschwert – mit den damit verbundenen Risiken für das Leben und die Gesundheit der Mutter1. Spät manifestierende Krankheiten sind in verfassungsrechtlich fragwürdiger Weise von rechtzeitiger Gendiagnostik ausgeschlossen (§ 15 Abs. 2 GenDG). Auf der anderen Seite des Spektrums des menschlichen Lebens war ein langer Kampf zu bestehen, bevor Patientenverfügungen anerkannt und dem Grundsatz „in dubio pro dignitate“2 gegenüber einem kategorischen „in dubio pro vita“ Geltung verschafft wurde. Immer noch ist das im Grundsatz kaum noch umstrittene Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben3 in der Praxis ein verweigertes Grundrecht4. Bis zu seiner hoffentlich wenigstens partiellen Aufhebung durch das BVerfG bedroht § 217 StGB die ärztliche Hilfe zum 1 So zu Recht jetzt die Stellungnahme der Leopoldina zur Fortpflanzungsmedizin vom 11. 06. 2019. 2 Hufen, NJW 2001, 849 ff. 3 Vgl. nur Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung (1992) , 82, 110, 154; H. Dreier, JZ 2007, 317, 318; Lindner, NJW 2013, 136; Lindner/Huber, MedStra 2017, 268; Putz/Steldinger, Patientenrechte am Ende des Lebens, 4. Aufl. (2012); Schütz/Sitte, NJW 2017, 2155. 4 Hufen, Selbstbestimmtes Sterben – Das verweigerte Grundrecht. NVwZ 2018, 1524.

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selbstbestimmten Sterben mit strafrechtlichen Folgen; der mühsam vor dem BVerwG erkämpfte Zugang zu letal wirkenden Medikamenten für Schwerstkranke5 wird durch eine rechtsstaatlich höchst zweifelhafte Nichtanwendungsweisung des zuständigen Ministers unterlaufen. Kürzlich gelang es immerhin, vor dem BGH die Straflosigkeit der ärztlichen Sterbebegleitung und den Vorwurf der Tötung auf Verlangen durch Unterlassen zu relativieren6 – ein aus der Sicht von Ärzten bei Geltung des § 217 StGB gleichwohl höchst risikoreicher „Sieg“ menschlicher Selbstbestimmung. Gegenüber all diesen Entwicklungen hat sich der Strafrechtler Reinhard Merkel als zuverlässiger Bewahrer verfassungsrechtlicher Freiheiten erwiesen. Erst kürzlich ist er überzeugend dem Versuch entgegengetreten, den historisch belasteten Begriff der „Selektion“ im Rahmen aktueller Debatten um die nicht invasive Pränataldiagnostik in Stellung zu bringen7. Schon früh hat er überzeugend zum Verhältnis des Embryonenschutzes zur medizinischen Forschung Stellung genommen8 und auf den Widerspruch zwischen einem fast überzogenen Schutz des menschlichen Lebens in vitro einerseits und einem wesentlich schwächeren Schutz in utero andererseits hingewiesen. Noch deutlicher fiel seine Kritik an der Verweigerung des Grundrechts auf selbstbestimmtes Sterben aus. § 217 StGB zwingt seiner Auffassung nach den sterbewilligen Todkranken zur tödlichen Gewalt gegen sich selbst9, und er sieht in der Verweigerung der Sterbehilfe ein „Diktat trostloser Unbarmherzigkeit“10. Im Rahmen des Deutschen Ethikrats war er stets auf der Seite derjenigen, die für Selbstbestimmung und Menschenwürde eingetreten sind – bis hin zu seiner Verteidigung des Hirntods als sicheres Zeichen für die Legitimität der Organentnahme11 und zur überzeugenden Bejahung der Widerspruchslösung bei der Organtransplantation12. Man sieht: Die Probleme sind vielfältig und sie fordern die Kooperation zwischen einem sich seines eigenen „ultima ratio-Charakters“ bewussten Strafrecht und einem zwar der historischen Verantwortung gerecht werdenden, aber auch den Gesetzen der Aufklärung und damit der menschlichen Selbstbestimmung folgenden Verfassungsrecht immer wieder heraus.

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BVerwG, NJW 2017, 2215. BGH, Urt. vom 3. 7. 2019, AZ 5 Str 132/18. 7 R. Merkel, Von wegen Selektion, FAZ 26. 04. 2019, 9. 8 R. Merkel, Forschungsobjekt Embryo. Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der Forschung an embryonalen Stammzellen (2002). 9 R. Merkel, Tödliche Gewalt gegen sich selbst, NJW-Editorial, Heft 9 (2018), S. 3. 10 R. Merkel, Der Staat darf beim Suizid helfen, FAZ 13. 02. 2015, S. 6. 11 Deutscher Ethikrat, Hirntod und Entscheidung zur Organspende, Stellungnahme 2015, S. 51. 12 Deutscher Ethikrat, Diskussion über Widerspruchslösung. Infobrief 01/2019, 7. 12. 12. 2018. 6

Weiterleben als Schaden? – Weiterleiden als Schaden!

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II. Ein neues Beispiel für bioethischen Rigorismus: „Weiterleben ist niemals Schaden“ (BGH) Ein neues Beispiel jenes Konflikts zwischen Selbstbestimmung und paternalistischer Bevormundung geht nicht auf den Gesetzgeber und die Politik, sondern auf ein neues Urteil des BGH13 zurück. In diesem Verfahren ging es um Schadensersatzansprüche der Erben eines im Oktober 2011 verstorbenen hoch dementen Patienten, der ohne Patientenverfügung und ohne feststellbaren mutmaßlichen Willen hinsichtlich des Einsatzes lebenserhaltener Maßnahmen in einem Pflegeheim von einem Arzt betreut und – man muss es so hart formulieren – unter unsäglichen Umständen zum Weiterleben gezwungen wurde. Die bereits 2006 angelegte PEG-Sonde war spätestens seit dem 1. 1. 2010 bis zum Tod am 19. 10. 2011 medizinisch nicht mehr indiziert. In diesem Zeitraum hat der Patient nach dem Tatbestand des BGH-Urteils regelmäßig Fieber, Atembeschwerden und wiederkehrende Druckgeschwüre (Dekubiti) erlitten. Viermal wurde eine Lungenentzündung festgestellt. Hinzu kamen Gallenblasenentzündung, Abszesse und zahlreiche weitere Komplikationen. Der Patient muss unter Schmerzen gelitten haben, die einer Folter gleichkamen. Zahlreiche Versuche des Sohnes, die erkennbare Übertherapie einzustellen und ein Sterben des Patienten unter palliativmedizinischer Betreuung zuzulassen, blieben erfolglos. Das LG hatte die Klage abgewiesen. Auf Berufung des Klägers hatte das OLG diesem ein Schmerzensgeld in Höhe von E 40.000,– zugesprochen. Der BGH hat das Urteil des OLG aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des LG zurückgewiesen. Die Begründung des Senats überrascht zunächst damit, dass sämtliche Fragen eines rechtswidrigen Verhaltens des behandelnden Arztes für unerheblich erklärt werden14. So komme es nicht darauf an, ob eine Verpflichtung zur Aufklärung bestanden habe und eine Verletzung dieser Pflicht festzustellen gewesen sein. Ebenso könne es offen bleiben, ob ein Behandlungsfehler vorlag und dadurch eine Verletzung der Gesundheit beim Patienten verursacht worden sei, denn es fehle jedenfalls an einem immateriellen Schaden (§ 253 Abs. 2 BGB). Im Vergleich der bestehenden Gesamtlage mit der Lage, die ohne das schädigende Ereignis bestanden hätte, stehe der durch die künstliche Ernährung ermöglichte Zustand des Weiterlebens mit krankheitsbedingtem Leiden dem Zustand gegenüber, die eher bei Abbruch der künstlichen Ernährung eingetreten wäre, also dem Tod. Das menschliche Leben sei ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen Wert stehe keinem Dritten zu. Deshalb verbiete es sich, das Leben – auch ein leidensbehaftetes Weiterleben – als Schaden anzusehen. Das begründet der Senat nicht nur mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, sondern mit nichts Geringerem als der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Anders als bei der Problematik „Kind als Schaden“15 sei es im 13

BGH, Urteil v. 02. 04. 2019. VI ZR 13/18 = NJW 2019, 1741 – zitiert wird hier nach dem Original der Urteilsbegründung. 14 Ähnl. Ivo Bach, Das Leben ist kein Schaden, NJW 2019, 1915: „Pferd vom Schwanz aufgezäumt“. 15 BGHZ 86, 241, 253.

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vorliegenden Fall auch nicht möglich, zwischen dem Leben einerseits (das niemals Schaden sei) und den Unterhaltskosten für ein behindertes Kind zu unterscheiden, denn juristisch und erkenntnistheoretisch gebe es im vorliegenden Fall keine Möglichkeit, das Weiterleben als solches von den damit untrennbar verbundenen Leiden zu unterscheiden.

III. Prüfung der Verfassungsmäßigkeit – Grundrechtsverletzung durch das BGH-Urteil? Aus verfassungsrechtlicher Sicht stellt sich naturgemäß die Frage, ob diese Argumentation mit ihrer Betonung „des Weiterlebens um jeden Preis“ und der schlichten Verdrängung des Problems ärztlichen Fehlverhaltens durch Übertherapie die Grundrechte des Betroffenen, also insbesondere die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) (III. 1.), das Grundrecht auf Leben (III. 2.) und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 1. Alt. – III. 3.) sowie das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) in Gestalt des Rechts auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper (III. 4.) verletzt. Dabei kann hier – anders als bei der durch den Sohn des Patienten inzwischen erhobenen Verfassungsbeschwerde – die Frage des Übergangs der Grundrechtsträgerschaft auf den Sohn und damit der Beschwerdebefugnis im Verfassungsbeschwerdeverfahren außer Betracht bleiben. 1. Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG) Wie gezeigt beruft sich der BGH zur Begründung seiner These: „Weiterleben ist niemals Schaden“ nicht zuletzt auf die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG). Zu fragen ist aber viel eher, ob nicht in der Fortsetzung der Behandlung des hilflosen Patienten und in der Verweigerung des Schadenersatzes für das erlittene Leiden selbst eine Verletzung der Menschenwürde liegt, wobei hier vorausgesetzt wird, dass die Menschenwürde nicht nur allgemeiner Grundsatz des Verfassungsrechts sondern auch subjektives Grundrecht ist16. Diese durchaus gegensätzliche Fragestellung zeigt bereits, wie schwierig die Definition des Schutzbereichs eines solchen Grundrechts ist. Festzuhalten ist jedenfalls, dass der Patient nicht zum willenlosen Objekt der Fremdbestimmung durch Andere werden darf. Auch ein dementer oder auf andere Weise hilfloser Mensch verfügt über eine unantastbare Sphäre seiner Persönlichkeit, in die nicht eingegriffen werden und die auch keiner übergeordneten Instanz unterworfen werden darf. Exakt dagegen hat sich der Arzt hier verhalten. Er hat den schwerkranken Patienten in eine Position der Abhängigkeit gebracht, die dessen Subjektqualität in Frage stellte, und damit den Patienten einer übergeordneten In16 Std. Rspr. seit BVerfGE 1, 322, 343; weiterhin etwa BVerfGE 88, 203, 251 – Schwangerschaftsabbruch II; wie hier Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1, Rn. 26 ff.; Ipsen, DVBl. 2004, 1381; Michael/Morlok, Grundrechte, 6. Aufl. (201 7), Rn. 132; Schmidt-Jortzig, FS Isensee [2007], 491; Tornow, Art. 1 Abs. 1 GG als Grundrecht [2008]).

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stanz unterworfen 17. Vergegenwärtigt man sich die im Tatbestand des BGH-Urteils – mehr noch aber die in den Akten der Ausgangsverfahren genannten – buchstäblich unmenschlichen Schmerzen, insbesondere durch Atemnot, Krämpfe, offene Wunden („totes Fleisch“) usw., so stehen hier nicht nur schwerste Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit (also Art. 2 Abs. 2 GG) in Frage, sondern es war auch die Würde des Patienten betroffen. Dieser wurde zwar nicht Objekt staatlicher Willkür, aber seine Subjektqualität wurde in grober Weise durch den ärztlichen Willen zum „Lebensschutz um jeden Preis“ in Frage gestellt. Geht man ferner davon aus, dass die Menschenwürde auch davor schützt, zum Objekt der Würdedefinition eines Anderen zu werden18, so ist hier anzumerken, dass im Urteil des BGH die Menschenwürde zumindest an einer Stelle19 aufgegriffen wird, dort aber um die Unterstellung zu begründen, der Beendigung einer lebenserhaltenden Behandlung gehe ein Unwerturteil über dieses Leben voraus, was den Grundsatz der Menschenwürde verletze. Hier wird deutlich, dass der BGH den Gehalt der Menschenwürde rein objektiv bestimmt und die Würde des Patienten damit seiner eigenen Definition unterwirft. Die grundsätzliche Subjektqualität des Patienten20 und der daraus folgende Achtungsanspruch werden – gerade im Hinblick auf das ihm zugefügte Leid – schon im Ansatz verkannt. Insofern liegt in der Bestätigung der Anmaßung des behandelnden Arztes durch den BGH selbst ein Eingriff in die Menschenwürde des Patienten, der nach den allgemeinen Grundsätzen zu Art. 1 GG („unantastbar“) auch nicht durch ein anderes Grundrecht oder die Schutzpflicht des Staates zur Wahrung des menschlichen Lebens gerechtfertigt werden kann. 2. Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 1. Alt. GG) Im Handeln des Arztes und dessen Bestätigung durch den BGH kann – so paradox es auf den ersten Blick klingt – auch eine Verletzung des Grundrechts auf Leben (Art. 2 Abs. 2 GG) liegen. So kann mit guten Gründen argumentiert werden, dass der Schutzbereich des Grundrechts auf Leben auch das „Recht auf den eigenen Tod“ und damit auf selbstbestimmtes (leidensfreies) Sterben umfasst21. Für einen solchen engen Zusammenhang spricht schon die allgemeine Aussage, wonach der Tod und das Sterben Teil des menschlichen Lebens sind. Auch aus verfassungsrechtlicher Sicht lässt sich sehr wohl argumentieren, dass das Recht auf Leben, also die biologisch-physische Existenz des Menschen, auch das Recht auf das natürliche Ende die-

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BVerfGE 115, 118. Hufen, In dubio pro dignitate: Selbstbestimmung und Grundrechtsschutz am Ende des Lebens, NJW 2001, 849. 19 BGH, Urteil S. 7, Rn. 14. 20 BVerfGE 144, 20, 207. 21 So etwa Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, bis 32. Aufl. (2016), Rn. 438; Michael/Morlok, Grundrechte 5. Aufl. (2016), Rn. 46, 160. 18

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ser Existenz umfasst. Selbst wenn man darin kein Recht auf Selbsttötung sieht22, enthält Art. 2 Abs. 2 GG insofern ein Abwehrrecht gegen nicht gewollte und medizinisch nicht begründete Lebensverlängerung. Daraus folgt zwingend, dass die diesen Ablauf unterbrechende medizinisch-technische Lebensverlängerung ein Eingriff in das Lebensgrundrecht ist. Beachtet der Arzt diesen natürlichen Ablauf und stellt er lebenserhaltende Maßnahmen ein, so bedeutet dies keine – wie vom BGH 23 unterstellt – „Beendigung durch den Behandlungsabbruch“, sondern der Arzt folgt gerade seiner Verpflichtung zum Schutz des natürlichen Lebensablaufs. Aufgrund aller ärztlichen Leitlinien und Grundsätze zur palliativen Versorgung des von der Natur gestalteten Sterbeprozesses wäre der Arzt hier nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet gewesen, die Behandlung auf eine palliative Versorgung umzustellen. Maßstab der Sorgfalt ist insofern der in allen Bereichen der Medizin existierende und für alle Ärzte verbindliche Facharztstandard (§ 630a Absatz 2 BGB: „Die Behandlung hat nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist“). Gerade bei einer Dauerbehandlung, einem nicht erkennbaren Patientenwillen und insbesondere bei einer PEG-Sonde bedarf es einer permanenten Überprüfung, ob die Substitution der Ernährung weiterhin angezeigt ist. Nicht in der Umstellung auf eine palliative Behandlung, sondern in der Aufrechterhaltung der künstlichen Ernährung und anderer lebensverlängernder Maßnahmen liegt dann der Grundrechtseingriff. Sofern dieser Eingriff nach dem genannten Facharztstandard medizinisch nicht indiziert und auch durch eine Einwilligung des Patienten nicht gerechtfertigt ist, liegt eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 GG – Lebensschutz – vor. Diesen Aspekt des Lebensschutzes deutet selbst das Urteil des BGH 24an, wenn es, die frühere Entscheidung zum „Kind als Schaden“25 zitierend, das Recht (und die Pflicht) nennt, „das Leben so hinzunehmen, wie es von der Natur gestaltet ist“. „Von der Natur gestaltet“ war das (Weiter)Leben des Patienten im vorliegenden Fall aber keineswegs. Es wurde vielmehr lediglich durch die künstliche Ernährung aufrechterhalten und nahm die Gestalt einer qualvollen Existenz an, während „Naturgestaltung“ längst auf eine palliative Versorgung und den natürlichen Tod hinausgelaufen wäre. Das hätte der behandelnde Arzt beachten müssen, auch wenn der Patient nicht explizit widersprochen hatte und auch nicht mehr widersprechen konnte. Hier wäre nicht der Behandlungsabbruch einer Tötung gleichzusetzen; die Aufrechterhaltung der künstlichen Ernährung bedeutete vielmehr einen Eingriff in das Grundrecht auf Leben in seinem natürlichen Verlauf, der – wie (unten 3.c)) zu zeigen sein

22 Hufen, Selbstbestimmtes Sterben – Das verweigerte Grundrecht, NVwZ 2018, 1524, 1525. 23 BGH, S. 9, Rn. 18. 24 BGH, S. 8, Rn. 15. 25 BGHZ 86, 241, 253.

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wird – weder durch Einwilligung des Betroffenen noch durch eine medizinische Indikation gerechtfertigt war. 3. Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2, 2. Alt. GG) schützt die körperliche Integrität einschließlich der Freiheit von Schmerz, Übelkeit, Krämpfen, körperlichem Unwohlsein usw. Einer der medizinrechtlichen allgemein anerkannten Grundaussagen zufolge ist jede invasive medizinische Maßnahme ein – in der Regel allerdings durch Einwilligung und/oder medizinische Indikation gerechtfertiger – Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Das gilt für jede direkte Beeinträchtigung der körperlichen Integrität einschließlich Zufügung von Schmerz, Blutentnahme, Einflößen von Stoffen oder die Beimischung zu Getränken und Speisen 26 und es gilt selbst dann, wenn der Eingriff zum Zweck der Heilung oder des Lebenserhalts vorgenommen wird 27. Unstreitig sind also das Anlegen einer PEG – Sonde und andere invasive Maßnahmen Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit. So wie es einen Eingriff in das Grundrecht eines kranken Menschen darstellen kann, wenn ihm eine nach dem Stand der medizinischen Forschung indizierte Therapie versagt bleibt28, stellt es einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar, wenn eine nicht konsentierte und auch medizinisch nicht indizierte Therapie aufgezwungen wird. Diese „Übertherapie“ ist damit ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Nach den Regeln der allgemeinen Grundrechtsdogmatik liegt ferner in jeder Verkennung der Bedeutung des Grundrechts bei der Lösung eines Falles durch ein Gericht ein Grundrechtseingriff29. Exakt dies ist durch die Bewertung der ärztlichen Handlungen im vorliegenden Fall durch den BGH geschehen: Zum einen hat der BGH die Bedeutung des Grundrechts und dessen möglicher Verletzung von vornherein verdrängt. Wegen seiner absolut gesetzten Prämisse: „Weiterleben kann kein Schaden sein“ hat er Fragen des Behandlungsfehlers und der Gesundheitsverletzung durch Übertherapie für irrelevant erklärt30. Exakt diese Fragen wären aber im Schmerzensgeldprozess von entscheidender Bedeutung gewesen. Schon damit hat das Gericht die Bedeutung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit und des in der nicht indizierten und nicht konsentierten Fortsetzung der Behandlung liegenden Eingriffs verkannt.

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BVerfG, Kammer, NStZ 2000, 96. BVerfGE 128, 282, 300. 28 BVerfGE, NJW 2017, 2096. 29 BVerfGE 39, 1, 41; BVerfGE 88, 288; 49, 89, 124. 30 „Ebenso kann offen bleiben, ob das hier zu beurteilende Verhalten des Beklagten…als behandlungsfehlerhaft zu qualifizieren ist. Keiner Entscheidung bedarf ferner die Frage, ob etwaige Pflichtverletzungen zu einer Gesundheitsverletzung beim Patienten geführt haben, die dem Beklagten zuzurechnen ist (BGH, Urteil, S. 7, Rn. 12). 27

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Ferner geht der BGH erkennbar von der verfehlten Annahme aus, nicht in der lebensverlängernden Maßnahme, sondern in deren Beendigung liege eine aktive Beendigung des Lebens und damit ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2 GG. Das wird an einer eher unscheinbaren Stelle im Urteil deutlich: „Leben, das nicht durch einen Behandlungsabbruch beendet wurde …“31. Der Behandlungsabbruch erscheint hier nicht als natürliches Sterbenlassen, sondern als aktives Tun. Der BGH verkennt hier den Unterschied von aktiver Tötung und Sterbenlassen („passive Sterbehilfe“), wie er nach langen Auseinandersetzungen inzwischen herrschende Lehre im gesamten Medizinrecht32 und zudem Grundlage der gesetzlichen Regelung zur Patitientenverfügung in § 1901 a – c BGB ist. Nicht in dem (ggf. gebotenen) Behandlungsabbruch, sondern in der invasiv herbeigeführten und aufrechterhaltenen Lebensverlängerung und damit im ärztlich erzwungenen Weiterleben durch die PEG – Sonde liegt aber der Eingriff in das Grundrecht. Das hat der BGH schon im Ansatz verkannt, und er ist damit dessen Bedeutung nicht gerecht geworden. Ein dritter entscheidender Denkfehler unterläuft dem BGH schließlich dadurch, dass er – anders als in der ausführlich zitierten „Kind als Schaden“ Rechtsprechung – von einem untrennbaren Zusammenhang von Weiterleben und Schaden ausging. Während es dort möglich war, nicht das Leben als solches, sondern den Unterhalt für das behinderte Kind als Schaden anzusehen33, seien Weiterleben und Schmerz hier untrennbar verbunden. Da aber das Weiterleben dem Schutz des höchstrangigen Rechtsguts Lebenserhaltung diene und nicht schadensauslösend sein könne, sei ein Schadensersatzanspruch auszuschließen. Hier hat das Gericht – abgesehen von dem offenkundigen „Zirkelschlussverdacht“ – verkannt, dass es sehr wohl eine Möglichkeit der Trennung gibt, nämlich das Weiterleben als solches einerseits und das durch die verfehlte ärztliche Übertherapie erzeugte Weiterleiden andererseits34. Selbst wenn man mit dem BGH annähme, die Rechtsordnung erkenne „Weiterleben“ nicht als Schadensgrund an, wäre zu konstatieren, dass die Rechtsordnung die Zufügung von Schmerz als geradezu „klassischen“ Schadens(ersatz)grund sehr wohl anerkennt. Nicht das Leben, sondern die Zufügung von Schmerz durch Übertherapie ist also der zu kompensierende Schaden. Wie im Fall „Kind als Schaden“ die Unterhaltskosten der vom Leben des Kindes unabhängige Schadensgrund sind, so sind im vorliegenden Fall Leiden und körperliche Qualen der vom Leben unabhängige Grund für den materiellen und immateriellen Schaden. Auch das hat der BGH verkannt. Der Eingriff in das Leben und die körperliche Unversehrtheit ist auch nicht gerechtfertigt. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistet das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit als Freiheitsrecht, macht deshalb den ärztlichen Eingriff vom 31

BGH, Urteil S. 9, Rn. 18. S. nur Verrel/Simon, Patientenverfügungen [2010]; Knauer/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, § 216 StGB, Rn. 6 ff. 33 BGHZ 124, 128; BGH, NJW 2007, 989. 34 So auch Ivo Bach, NJW 2019, 1915,1917. 32

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Willen des Patienten abhängig35. Wie auch durch den BGH festgestellt, lag im vorliegenden Fall aber eine rechtfertigende Einwilligung weder durch schriftliche Verfügung noch durch einen mutmaßlichen Willen vor. Jedenfalls ist davon auszugehen, dass der mutmaßliche Wille gewiss nicht die Fortsetzung der Behandlung und damit die qualvolle Weiterexistenz umfasst hätte. Liegt eine explizite oder mutmaßliche Einwilligung nicht vor, so kommt ein gerechtfertigter Eingriff allenfalls dann in Frage, wenn dieser nach objektiven Kriterien aus medizinischer Sicht erforderlich ist, um Leben und Gesundheit des Patienten zu retten. Anhaltspunkte ergeben sich insofern aus der Rechtsprechung des BVerfG zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug und in der Psychiatrie. Nach dieser kann eine ggf. schmerzhafte Behandlung immer nur gerechtfertigt – und dann ggf. auch erforderlich – sein, wenn gerade insofern eine medizinische Indikation im Rahmen der Schutzpflicht für das Leben besteht36. Ausgangspunkt für die Schutzpflicht ist hierbei aber, – anders als im vorliegenden Fall – dass sich der Zwangsbehandelte in (erzwungener) staatlicher Obhut befindet und damit eine besondere Fürsorgepflicht des Staates besteht. So hat das BVerfG z. B. entschieden, dass jeder Patient, der sich in Behandlung eines Universitätskrankenhauses begibt, sicher sein muss, dass sein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nach allen Regeln ärztlicher Kunst gewahrt wird (BVerfGE 57, 70, 99). „Wahrung ärztlicher Kunst in diesem Sinne“ heißt aber nicht Lebenserhaltung um jeden Preis, sondern Einhaltung der Grenzen der ärztlichen Kunst und des Facharztstandards – auch und insbesondere dann –, wenn deren Fortsetzung ihrerseits permanente Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit als gleichgewichtiger Bestandteil des Art. 2 Abs. 2 GG bedeuten. Übertragbar sind aber die strengen Maßstäbe an das Vorliegen der medizinischen Indikation. Diese ist bei nicht vorliegender Einwilligung und unter strikter Beachtung des Einzelfalls allenfalls dann zu bejahen, wenn die Maßnahmen geeignet, erforderlich und zumutbar sind, um das Leben und die Gesundheit des Patienten zu schützen. Liegen keine Anhaltspunkte für einen abweichenden Wunsch des Betroffenen vor, so ist davon auszugehen, dass nur die medizinisch indizierten und nach allgemein sozialethischer Anschauung erforderlichen Maßnahmen zu treffen sind 37 Im vorliegenden Fall waren die Fortsetzung der künstlichen Ernährung und die sonstigen ärztlichen Maßnahmen aber medizinisch erkennbar nicht (mehr) indiziert, sondern nach allen Kriterien der Verhältnismäßigkeitsprüfung weder erforderlich noch zumutbar. Hier wurde der hochgradig demente, deshalb aber keineswegs schmerzunempfindliche Patient einer besonders drastischen Übertherapie ausgesetzt. Ohne Aussicht, jemals in ein normales Leben zurückzukehren, erlitt er über Jahre hinweg unerträgliche Schmerzen. Deren Umfang wird schon im Tatbestand des BGH-Urteils dargestellt; in den Akten findet sich eine Schilderung, die schon 35

BVerfGE 89, 120, 130. BVerfG, NJW 2017, 53. 37 Knaur/Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, 3. Aufl., § 216 StGB, Rn. 17.

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bei oberflächlicher Betrachtung ein Schaudern hervorruft: Offene Wunden, „totes Fleisch“ durch Durchliegen, Krämpfe, Atemnot, Erstickungsanfälle würden – wären sie bewusst und aktiv zugefügt der Kategorie „schwere Körperverletzung“, wenn nicht „Folter“ zuzuordnen sein. Überdies hat der Beklagte des Ausgangsverfahrens gegen seine ihm auch nach § 1 Abs. 2 der Bayerischen Berufsordnung für Ärzte obliegende Pflicht verstoßen, auch beim Schutz des Lebens Leiden zu lindern und Sterbende zu begleiten, nicht das Leiden zu verlängern. Diese Eingriffe waren also weder durch die Einwilligung des Patienten noch durch eine medizinische Indikation gerechtfertigt. Sie stellten schon deshalb Grundrechtsverletzungen dar38. Wenn schon nicht als Rechtfertigungsgrund im engeren Sinne, so sieht der BGH doch den Schutz des Lebens als solches als Rechtfertigungsgrund für nahezu jede Form der medizinischen Behandlung. Dient diese dem Schutz des Lebens, so könne in ihr kein Schaden liegen, oder umgekehrt: Ein Schaden sei nur gegeben, „wenn die Rechtsordnung dieses als Schaden anerkennt“. Auch dieser Argumentation liegen mehrere Fehler zugrunde. Zum einen wird verkannt, dass der Lebensschutz zwar ein hochrangiges Verfasssungsgut ist, welches aber keineswegs ohne Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips jeden Eingriff in andere Grundrechte rechtfertigen kann. So hat auch das BVerfG betont, dass der Schutz des Lebens nicht in dem Sinne absolut geboten ist, dass dieses gegenüber jedem anderen Rechtsgut ausnahmslos Vorrang genösse39. Insbesondere der Schutz der Menschenwürde und der Schutz vor körperlichem und seelischem Leiden können im Einzelfall in praktische Konkordanz zum reinen Lebensschutz zu setzen sein. Das hat der BGH mit seinem rigorosen Statement vom absoluten Wert des Lebensschutzes schon im Ansatz verkannt. In seinem Verbot der Wertung menschlichen Lebens liegt selbst eine sehr rigorose Wertung des Inhalts, dass die Lebenserhaltung in jedem Fall der Vermeidung von Leid und Schmerz vorgeht. Zu Ende gedacht, wäre ärztlich verursachtes Leiden nie Schaden, und selbst Patientenverfügungen könnten, ja müssten übergangen werden, wenn nur das Weiterleben – unter welchen Bedingungen auch immer – angestrebt werde. Über den hier zu behandelnden Fall hinaus bedeutet eine solche Sichtweise eine elementare Gefahr für die körperliche Unversehrtheit und die Würde aller Patienten, die sich – wie immer noch die große Mehrheit aller Menschen – ohne Patientenverfügung in die Behandlung eines Arztes oder einer Pflegestation begeben.

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BGH, NJW 2005 2385 – „Traunsteiner Patient“. BVerfGE 88, 203, 253.

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4. Allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 1 Abs. 1 S. 1 i.V.m. 2 Abs. 1 GG)/ Selbstbestimmung über den eigenen Körper Die Mehrheit der Autoren sieht das Recht auf den eigenen Tod im Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit oder im allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I GG i.V. mit Art. 1 I 1 GG) verortet40. Eine Verletzung liegt hier vor, weil die ärztliche Behandlung weder durch den Willen des Patienten noch durch eine medizinische Indikation gerechtfertigt war.

IV. Ergebnis Im Ergebnis hat der Arzt durch die allein auf die Erhaltung des Lebens gerichtete, medizinisch nicht mehr indizierte Therapie, hat aber auch das bestätigende Urteil des BGH und die Verweigerung des Schadenersatzes den Betroffenen in seiner Menschenwürde, im Recht auf Leben (und damit natürlichen Tod), der körperlichen Unversehrtheit und dem Persönlichkeitsrecht verletzt. Es steht zu hoffen, dass der Erste Senat des BVerfG, bei dem Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des BGH anhängig ist, die Gelegenheit dieses Falls wahrnehmen wird, die verfassungsrechtlichen Probleme medizinischer Übertherapie vor dem Tode zu klären. Unabhängig davon bleibt es überzeugten Verteidigern der menschlichen Selbstbestimmung wie Reinhard Merkel aufgegeben, elementare Grundrechte des Menschen gegen paternalistische Bevormundung und aufgedrängte Moralvorstellungen Dritter – sei es auch solche eines BGH-Senats – zu bewahren.

40 Grundlegend Fink, Selbstbestimmung und Selbsttötung (1992) , 82, 110, 154; H. Dreier, JZ 2007, 317, 318; Lindner, NJW 2013, 136; Lindner/Huber, MedStra 2017, 268; Putz/Steldinger, Patientenrechte am Ende des Lebens, 4. Aufl. (2012); Schütz/Sitte, NJW 2017, 2155.

Abgestufte Anforderungen an selbstbestimmtes Sterben? Von Thomas Hillenkamp

I. Willentlich sterben kann man von eigener Hand. Gesprochen wird dann von Selbstmord, Selbsttötung oder Suizid, wird dazu Hilfe geleistet, von einer Beihilfe hierzu.1 Willentlich sterben kann man von dritter Hand, indem man in die eigene Tötung einwilligt2 oder sie von einem Dritten verlangt (§ 216 StGB).3 Schließlich kann man willentlich sterben, indem man sich das Abwenden eines Sterbeprozesses durch ein Interventions- oder (Weiter)Behandlungsveto verbittet. Soll der Wille zu sterben rechtliche, namentlich Beteiligte entlastende4 Folgen haben, muss er (irgendwie) frei, selbstbestimmt, freiverantwortlich, das Geschehen auch deshalb eigen- oder mitverantwortet sein.5 Man sollte glauben, dass sich die Anforderungen an die Selbstbestimmtheit des Sterbeentschlusses in diesen Fällen nicht maßgeblich unterscheiden, geht es doch einheitlich um das Ziel, aus der hora incerta des Sterbens eine hora certa und 1

Krit. zu dieser Bezeichnung Merkel, in: Hegselmann/Merkel, Zur Debatte über Euthanasie, 1991, S. 73 (75). 2 Zu einem „unbedingten Todeswunsch“ s. den Dresdener Kannibalen-Fall BGH NStZ 2016, 469, BGH NStZ-RR 2018, 172; zur trotz § 216 StGB rechtlichen Relevanz der Einwilligung s. Hillenkamp, GS für Tröndle, 2019, S. 553 (566 ff. m.w.N.). 3 Zum Verhältnis von Verlangen und Einwilligung s. Knierim, Das Tatbestandsmerkmal „Verlangen“ im Strafrecht, 2018, S. 116 ff., 275 ff., 316 ff. 4 „Belastend“ ist eine Selbsttötung in „freier Willensbestimmung“ für den (Lebens)Versicherten, „entlastend“ für den Versicherer nach § 161 I 2 VVG, s. dazu Hillenkamp, JZ 2015, 391 (392, 397). 5 Dazu genauer später. Die vorgelagerte Frage der (allgemeinen) Willensfreiheit bleibt hier zugunsten der Annahme ausgeblendet, dass der Staat in „normativer Setzung“ (zu ihr in der Gesetzgebung Hillenkamp, JZ 2015, 391 ff.) von einem Anders-Handeln- und Dafürkönnen i.S. von (Täter)Schuld und also auch von der Möglichkeit freier Rechtsgutsaufopferung Eingriffsbetroffener ausgeht; zu aus In-dubio-pro-reo ableitbaren Bedenken gegen Ersteres s. Merkel, Willensfreiheit und Schuld, 2008, S. 115 ff., 134 einerseits, Hillenkamp, ZStW 127 (2015), 10 (80, 83 ff.) andererseits. Sie betreffen die Freiheitsfrage bei der Rechtsgutspreisgabe nicht. Merkel geht im „Konflikt zwischen Autonomie (!) und Lebensschutz“ von der „Zuschreibung autonomer Eigen- (statt Frei-) Verantwortlichkeit“ für den (eigenen) Tod aus, s. Merkel (Fn. 1), S. 77 (81).

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darum, in ihr die Lebensbeendigung zu einer selbstbestimmten Modalität des Endes zu machen. Andreas Voßkuhle hat hierzu aber unlängst Zweifel gesät.6 Er hat im Verfahren zu § 217 StGB n. F. gefragt7, ob wir die Freiverantwortlichkeit eines Suizidentschlusses nicht weit strenger beurteilen, als die Freiverantwortlichkeit einer Verfügung, in einer bestimmten Situation keine lebenserhaltenden Maßnahmen mehr zu wollen. Und er hat angedeutet, dass ihm die vermutete Diskrepanz, dass ihm Abstufungen, wenn es sie denn gibt, nicht ohne weiteres einleuchteten. Dem in einem Reinhard Merkel mit herzlichem Glückwunsch zu seinem 70. Geburtstag gewidmeten Beitrag nachzugehen, muss man nicht eigens rechtfertigen, liegt doch sein Interesse an solchen Fragen nach seinem beeindruckenden, selbstwie fremdbestimmtes Verfügen8 über das Leben in all seinen Phasen immer wieder thematisierenden Lebenswerk auf der Hand. Und es spricht auch einiges dafür, dass er die Skepsis Voßkuhles teilt. Denn wenn – so sagt er – richtig wäre, dass so gut wie alle Suizide unfrei sind, dann beträfe das doch auch „den jährlich vieltausendfach praktizierten Therapieverzicht mit lebensverkürzender Wirkung“, dessen regelmäßige Zulässig- und Wirksamkeit aber „niemand“ – und folglich auch er nicht – bestreite.9

II. Wenden wir uns zunächst den Antipoden zu, die dafür Beleg sein könnten, dass es abgestufte Anforderungen an die „Freiverantwortlichkeit“10 gibt. Es sind dies der Suizid und der todbringende Behandlungsverzicht. Beginnen wir mit Ersterem, bei dem Voßkuhle und Merkel einen strengeren Maßstab vermuten. 1. Eine Selbsttötung ist eigen-, nicht fremdverantwortet, wenn zum tatherrschaftlichen Selbstvollzug die Freiverantwortlichkeit des Selbsttötungsentschlusses hinzutritt.11 Wann von ihr zu reden ist, ist zwischen „Exkulpations-“ und „Einwilligungs6 Erneut, s. dazu vorerst nur Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, Vor §§ 211 – 217, Rn. 41a m.w.N. 7 Bei der Befragung des Sachverständigen Lindner am 16./17. 4. 2019 in Karlsruhe. 8 S. zu Letzterem namentlich den in seinem Opus Magnum – Merkel, Früheuthanasie, 2001 – umfassend erörterten Behandlungsverzicht gegenüber (noch) Einwilligungsunfähigen wie seine zu vielen dieser Fragen anregende Kommentierung der §§ 218 ff. in NK-StGB, 5. Aufl. 2017. 9 So Merkel in der öffentlichen Anhörung am 23. 9. 2015 zu § 217 StGB n.F. in: Deutscher Bundestag, Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, Protokoll-Nr. 18/66, S. 174, 175. 10 Der Begriff ist zum Suizid, aber auch bei (tödlicher) Behandlungsbegrenzung zu finden, s. Neumann, in NK- StGB, 5. Aufl. 2017, Vor § 211, Rn. 108a mit Rn. 64 – 66. 11 Das ist im Anschluss an Roxin, FS Dreher, 1977, S. 331 ff.; ders., GA 1993, 177 ff. heute h.M.; auch Merkel (Fn. 1), S. 73 (75 ff.) greift das – mit Vorbehalten zur Gleichsetzung von Frei- und Eigenverantwortlichkeit (S. 81 f.) – auf; s. genauer Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, 2004, S. 225 ff.

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lösung“ streitig.12 Die Exkulpationslösung verneint sie, wenn der Suizident – gedacht, er beginge in derselben Verfasstheit eine Straftat – nach §§ 19, 20, 35 StGB, § 3 JGG strafrechtlich ohne Verantwortung handelte. Da der diesem Schluss zugrundeliegende Zustand (jedenfalls in der Regel)13 auch die Unfähigkeit begründet, in die Verletzung des Lebens einzuwilligen, stimmt die vor allem Einwilligungsfähigkeit verlangende Einwilligungslösung hiermit im Ergebnis regelmäßig überein. Sie will Freiverantwortlichkeit aber darüber hinaus aus allen übrigen (subjektiven) Gründen, die eine Einwilligung unwirksam machen, verneinen. Mangelt es dem Suizidenten an hinreichender Einsichts- und Urteilsfähigkeit bezüglich des Wesens, der Bedeutung und Tragweite seines Schritts oder vermag er sich nicht nach seiner Einsicht zu richten,14 so soll mit der Einwilligungsfähigkeit zugleich die Freiverantwortlichkeit auch dann fehlen, wenn Exkulpationsgründe nicht erreicht sind. Ebenso sollen durch Täuschung hervorgerufene (Motiv-)Irrtümer15 und durch Drohung oder Zwang auch unterhalb der Schwelle des § 35 StGB16 hervorgerufene Willensmängel Freiverantwortlichkeit ausschließen. Es bleiben Fragen, die lagerunabhängig gestellt und beantwortet werden. So sprechen sich drei Alternativentwürfe – was mit Blick auf § 1901a BGB beachtenswert ist – dafür aus, einen freiverantwortlichen Selbsttötungsentschluss bei unter 18-Jäh-

12 Ausführlich zum Streit Schneider, in MüKo-StGB, 3. Aufl. 2017, Vor § 211 Rn. 37 – 64 (trotz „Patts“ für Exkulpationslehre, Rn. 62); knapper Eser/Sternberg-Lieben, in SchönkeSchröder, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor §§ 211 ff. Rn. 34 ff. ( für eine Kombinationslehre); Fischer (Fn. 6), Vor §§ 211 – 217, Rn. 26 ff. (Skepsis gegenüber beiden Positionen); Neumann (Fn. 10), Vor § 211 Rn. 64 ff. (für Einwilligungslösung); Rosenau, in: LK-StGB, 12. Aufl. 2019, Vor §§ 211 ff. Rn. 101 ff. (für Einwilligungslehre). In Monographien ausführlich Feldmann, Die Strafbarkeit der Mitwirkungshandlungen am Suizid, 2008, S. 165 – 231 (für Einwilligungslehre mit Ernstlichkeitskriterium, S. 231); knapper Ingelfinger (Fn. 11), S. 228 ff. (für Einwilligungslösung, S. 230); Gavela, Ärztlich assistierter Suizid und organisierte Sterbehilfe, 2013, S. 16 ff. (für Einwilligungslösung S. 22 f.); Magnus, Patientenautonomie im Strafrecht, 2015, S. 239 ff., 245 ff. (für Exkulpationslösung – §§ 20, 21 – mit dem Kriterium der Endgültigkeit, S. 257, 248). S. auch Bottke, GA 1983, 22, 30 ff. (für Exkulpationslösung); Dölling, FS Maiwald, 2010, S. 119, 125 ff. (für Exkulpationslösung); Hillenkamp, in: Anderheiden/Eckart, Handbuch Sterben und Menschenwürde, Bd. 2, 2012, S. 1033, 1036 ff. (für Einwilligungslösung); Roxin (Fn. 11), S. 331 ff. (für Exkulpationslehre); Saliger, Selbstbestimmung bis zuletzt, 2015, S. 145 ff. (für Einwilligungslösung ohne Ernstlichkeitskriterium, S. 147 ff.); Verrel, Verhandlungen des 66. DJT, 2006, Bd. I, Gutachten C 112 ff. (für Exkulpationslösung – §§ 20, 21 – mit Ernstlichkeitskriterium, C 112 f., 122). 13 Einwände bei Odenwald, Die Einwilligungsfähigkeit im Strafrecht unter besonderer Hervorhebung ärztlichen Handelns, 2004, S. 34 f.; krit. auch Merkel (Fn. 1), S. 73 (85), wenn er den „Suizidentschluß … eines Geisteskranken oder eines Jugendlichen … (etwa wenn er im Terminalstadium einer qualvollen Krankheit gefaßt wird)“ für „achtenswert“ hält. 14 So die zweipolige, an gesetzliche Vorgaben – s. dazu Amelung, ZStW 104 (1992) S. 531 ff; Hillenkamp, MedR 2016, 109 (114); Odenwald (Fn. 13), S. 14 ff. – angelehnte Definition der Einwilligungsfähigkeit. 15 Zu Differenzierungen dazu s. Feldmann (Fn. 12), S. 208 f. 16 S. dazu Schneider (Fn. 12), Vor § 211 Rn. 50 m.w.N.

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rigen auszuschließen.17 Das hat sich allerdings in beiden Lagern nicht durchgesetzt.18 Es wird aber versucht, dem damit verbundenen Anliegen Genüge zu tun, Freiverantwortlichkeit bei hier überproportional vermuteten Kurzschluss- oder Appell-Suiziden generell ausschließen zu können. Dazu wird teils die Beachtlichkeit des Entschlusses in Anlehnung an § 216 StGB davon abhängig gemacht, dass die „Selbsttötung auf einer … (auch) ernstlichen, ausdrücklich erklärten … Entscheidung beruht,“19 die bei „Augenblicksregungen“ zu verneinen sei.20 Nur auf Verbalisierung verzichtet, wer sagt, dass schon der für einen eigenverantworteten Suizid erforderliche Selbstvollzug hinreichender Ausdruck für Ernsthaftigkeit sei.21 Andere greifen die Forderung auf, der „wohl bedachten Entscheidung“ nur dann Respekt zu zollen, wenn sie prospektiv „unabänderlich“, Ausdruck eines „unerschütterlichen Todeswunschs“ sei.22 Wird vom Suizidenten Hilfe eingefordert, darf man sie dann erst leisten, wenn sich „Unumstößlichkeit“ in anhaltender „Stabilität“ des Entschlusses erweist.23 Die angesichts fehlender gesetzlicher Fingerzeige24 einstweilen maßgebliche Rechtspraxis25 hat den Grundsatzstreit bisher nicht entschieden. Dort, wo er einmal angeklungen ist, hat sie mangels Entscheidungsrelevanz eine Stellungnahme vermie17 In Vorschriften, die die Straflosigkeit der Nichthinderung einer Selbsttötung betreffen, s. Baumann u. a., AE- StGB, BT, Straftaten gegen die Person, 1. Halbband, 1970, § 103 I mit der Begr., S. 21 „eindeutiger Kriterien“; Baumann u. a., AE-Sterbehilfe (AE-StbH), 1986, § 215 II mit der Begr., S. 30, bei Kindern und Jugendlichen sei „so gut wie nie von einer frei verantwortlichen und ernsthaften Entscheidung“ zu sprechen; Schöch/Verrel u. a., AE-Sterbebegleitung (AE-StB), 2005, § 215 II mit der Begr., GA 2005, 579, Einwilligungsfähigkeit sei ein sehr weites und unbestimmtes Kriterium, „im Zweifel … ein Eingreifen geboten.“ Die Vorschrift ist in Heine u. a., AE-Leben, GA 2008, 193, 202 beibehalten. 18 Verrel (Fn. 12), C 112 f. rät davon wie von einer gesetzlichen Entscheidung des Streits ab; bei Kindern wird überwiegend der Exkulpationslehre (§ 19 StGB) zugestimmt, s. Schneider (Fn. 12), Vor § 211 Rn. 43 m.w.N. 19 So z. B. § 215 I AE-StB (Fn. 17). Dort tritt das zur Freiverantwortlichkeit hinzu. 20 Beispiel hierfür bei Jähnke, LK-StGB, 11. Aufl. 2005, § 216 Rn. 7 mit Rn. 27 Vor § 211. 21 Eser/Sternberg-Lieben (Fn. 12), Vor §§ 211 ff. Rn. 36 verzichten deshalb auf eine Verknüpfung mit § 216 StGB; s. auch schon Roxin, FS Dreher, 1977, 331 (345); Schroth, GA 2006, 549 (568); krit. dazu Feldmann (Fn. 12), S. 219 f. 22 Im Anschluss an Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz, in: MdJ Rheinland-Pfalz, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, 2004, S. 103 so Verrel (Fn. 12), C 148 nach Ablehnung des Ernstlichkeitskriteriums; von „unerschütterlichem“ Todeswunsch spricht BGHSt 32, 367, 376. 23 Unumstößlichkeit prüft der Sterbehilfe Deutschland e.V., s. Saliger (Fn. 12), S. 19. Zur Prüfung der „Stabilität“ einer Entscheidung (i.R. einer Lebendorganspende) s. Hillenkamp, MedR 2016, S. 109 (115 f). Beispiele eindrücklich dokumentierter „Unumstößlichkeit/Stabilität“ sind StA München I, NStZ 2011, 345 (Alzheimer-Patientin), BGHSt 46, 279 (Exit-Fall); LG Berlin NStZ-RR 2018, 246. 24 Der Gesetzgeber hat sich trotz langer „Sterbehilfedebatte“ – s. dazu Hillenkamp, KriPoZ 2016, 3 ff. – weder des Anliegens der AEe (s. Fn. 17) noch im 3. BetrÄndG (BGBl I 2286) bzw. PatientenRG (s. BT-Ds 17/10488, S. 23 zu § 630d) der Regelung der Einwilligungsfähigkeit angenommen. 25 S. zu ihr bis 2012 genauer Hillenkamp (Fn. 12), S. 1040 ff.

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den.26 Wenige Entscheidungen stützen die Verneinung der Verantwortlichkeit zwar (nur) auf einen Grund für Exkulpation.27 Da das aber – wie umgekehrt für die Annahme von Freiverantwortlichkeit der Ausschluss einer Zurechnung hindernden „psychiatrischen Erkrankung“28 – zum gemeinsamen „Bodensatz“ beider Auffassungen gehört, ist ein Bekenntnis zur Exkulpationslehre hieraus nicht herleitbar. Sie ist auch Entscheidungen nicht zu entnehmen, in denen die (nur) für die Einwilligungslehre naheliegende Prüfung fehlender Freiverantwortlichkeit schlicht unterblieb.29 Vielmehr spricht die seit langem erfolgende Aufnahme strengerer Einwilligungskriterien für die Bereitschaft, auch bei nur ihrem Fehlen Freiverantwortlichkeit zu verneinen und durch die Einbeziehung der Ernstlichkeit der Entscheidung nach dem Maßstab des § 216 StGB insgesamt einer hierdurch „qualifizierten Einwilligungslösung“ zu folgen,30 die die Ausschlussgründe der Exkulpationslehre miteinbezieht. So oszilliert zwischen § 3 JGG und qualifizierter Einwilligung im Gisela-Fall, dass die 16jährige mit dem „ernstlichen(!) und im vollen Bewusstsein seiner Tragweite zum Ausdruck gebrachten Wunsch … unmissverständlich zu verstehen“ gegeben habe, dass sie „den Tod suche und wolle.“31 Im Stechapfeltee-Fall stellt der BGH für die Freiverantwortlichkeit zweier 15jähriger zwar maßgeblich auf die Kriterien des § 3 JGG ab. Er betont aber, dass es hier um die Grundsätze der „Zustimmung Jugendlicher zur Verletzung eigener Rechtsgüter“ und deshalb um eine auch „von Willensmängeln und Fremdeinflüssen freie Entscheidung“32 geht. In weiteren Fällen macht der BGH die frei verantwortete Selbsttötung von „Art und Tragweite“ des dort 26 So in OLG München NJW 1987, 2940 (2941 f.) (Hackethal); in BGHSt 32, 262 (Hunderter- Hit) geht es um Selbstgefährdung. Ihre Eigenverantwortlichkeit setzt der BGH aber der einer Selbsttötung gleich. OLG Hamburg NStZ 2016, 530 (532 f.) bejaht beim begleiteten Suizid zweier betagter Damen nach beiden Positionen Freiverantwortlichkeit, eine Entscheidung, die man aber ebenso wie die am 3. 7. 2019 ergangenen des 5. Strafsenats BGH JZ 2019, 1042 (Hamburger Fall) und BGH JZ 2019, 1046 (Berliner Fall) wohl für die Einwilligungslehre vereinnahmen kann, s. dazu u. im Text und Hillenkamp, JZ 2014, 1054 f. 27 So RGSt 7, 332 (334): geisteskranke Suizidentin; in BGHSt 50, 80 (82): krankhafte seelische Störung und BGH NJW 1981, 932: Geisteskrankheit und Jugendlichkeit ohne hinreichende Verstandesreife ging es um § 216 StGB. 28 S. sie verneinend StA München NStZ 2011, 345 (346) und AG Tiergarten MedR 2006, 298, 299, sie vermutend KG Berlin medstra 2017, 180 (182); in Grenzfällen „zwischen freier Willensbildung und Verlust des freien Willens durch psychotisch aufgezwungene Handlungen“ ist in dubio pro reo von Freiverantwortlichkeit auszugehen, s. LG Gießen NStZ 2013, 43. 29 So in RGSt 20, 313; BGHSt 13, 162 (Hammerteich); BGHSt 24, 342 (Dienstpistole); s. dazu Hillenkamp (Fn. 12), S. 1041. 30 Ebenso Saliger (Fn. 12), S. 146 f.; den Begriff „qualifizierte Einwilligungslösung“ habe ich in JZ 2019, 1055 eingeführt. 31 BGHSt 19, 135 (137); nach den AEn (Fn. 17), deren Forderung diese Formulierungen entsprechen, scheitert Freiverantwortlichkeit allerdings am Alter Giselas (16 Jahre). Der BGH teilt diese Einschränkung offenbar nicht; RGSt 72, 399 (400) nimmt dagegen als Regel an, dass „jugendliche Personen unter achtzehn Jahren kein hinreichendes Urteil über Wert oder Unwert des Lebens besitzen.“ 32 BGH NStZ 1985, 25 (26).

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durch arglistige Täuschung verursachten Irrtums abhängig.33 Im Wittig-Fall spricht er von der Unterscheidung „eines freiverantwortlich gefaßten oder eines auf Willensmängeln beruhenden Tatentschlusses (des) Selbstmörders.“34 Im Alzheimer-Fall fehlen Hinweise darauf, „dass die Verstorbene durch Dritte in einer Art und Weise beeinflusst wurde, dass ihre freiverantwortliche Willensbetätigung ausgeschlossen“ war.35 Im Exit-Fall schließlich war die Suizidentin „im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte … und ihr Todeswunsch ernsthaft (!) und nicht Folge eines auch nur entfernt erkennbaren äußeren Drängens“, ihre Selbsttötung also die einer „vollverantwortlich Handelnden“.36 Es überrascht hiernach nicht, dass das OLG Hamburg 2016 die Verneinung mittelbarer Täterschaft mit der für es offenbar feststehenden Erkenntnis einleitet, „freiverantwortlich ist (!) ein Selbsttötungsentschluss, wenn das Opfer die zureichende natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit für die Entscheidung besitzt und die Mangelfreiheit des Suizidwillens sowie die innere Festigkeit des Selbsttötungsentschlusses gegeben sind (… vgl. sog. Einwilligungstheorie: …; zu den Gegenansichten vgl. unten c)“.37 Zwar passt die dann folgende erste Subkonkretion, das die „erforderliche natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit zur Abwägung von Bedeutung und Tragweite des Entschlusses38 … bei alters-, krankheits- oder alkoholbedingtem Mangel dieser Fähigkeit“ fehle39 und dass dies „insbesondere bei einem Defizit im Sinne des § 21 StGB“ der Fall sein könne, „wenn der sich Verletzende infolge einer Intoxikation … oder … einer psychischen Störung … nicht (mehr) zu einer hinreichenden Risikobeurteilung und -abwägung in der Lage ist,“ auch zur Exkulpationslehre.40 Nur mit der Einwilligungslösung lässt sich aber dann das Fehlen der für Freiverantwortlichkeit erforderlichen „Mangelfreiheit des Suizidwillens“ daraus herleiten, 33

BGH GA 1986, 508 (Störfaktor); BGHSt 32, 38 (Sirius). Zu einem „die Selbstverantwortlichkeit betreffenden Irrtum“ bei Beteiligung an einer Selbstgefährdung s. BGHSt 53, 288 (290). 34 BGHSt 32, 367, 376. Die Rede vom Tatentschluss ist wenig glücklich; zum Fehlen von Willensmängeln ebenso LG Deggendorf BeckRS 2015, 20138. 35 StA München NStZ 2011, 345 (346). 36 BGHSt 46, 279 (282, 284). 37 OLG Hamburg NStZ 2016, 530 (532). Unter c. folgt (S. 533 f.) nur knapp, dass auch „unter Zugrundelegung der Exkulpationslehre … und einer weiteren Ansicht, nach der Suizidenten nur in den Ausnahmefällen der sog. Bilanzselbstmorde eigenverantwortlich handeln“, beide Suizidentinnen freiverantwortlich handelten. Für die zitierte Eingangsformel führt das OLG die Störfaktor- (BGH JZ 1987, 474 = GA 1986, 508), die Stechapfeltee- (BGH NStZ 1985, 25) und mit BGH NStZ 2011, 340 = StV 2011, 284, eine § 216 StGB betreffende, u. noch zu behandelnde Entscheidung an. 38 Das nähert sich der Definition der Einwilligungsfähigkeit, vgl. dazu o. bei Fn. 14. 39 Diese Aussage stützt das OLG auf BGH NStZ 2011, 340 (341) und BGH NJW 1981, 932 zu § 216 StGB. 40 Zitiert werden hierfür BGHSt 53, 288 (290); BGH NStZ 2011, 341 (342), Fälle der Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstgefährdung durch Betäubungsmittel, und nochmals BGH NStZ 2011, 340; ob § 21 StGB der Exkulpationslehre reicht, ist in ihr allerdings umstritten.

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dass „der Selbsttötungsentschluss auf Zwang, Drohung oder arglistiger Täuschung beruht.“41 Und nur mit ihr harmoniert die abschließend aufgenommene, diese Lösung qualifizierende Forderung, die im Einleitungssatz vorausgesetzte „innere Festigkeit“ mit der „Ernstlichkeit des Tötungsverlangens“ des § 216 StGB gleichzusetzen. Für sie teilt das OLG das vom BGH aufgestellte Postulat „innerer Festigkeit und Zielstrebigkeit“ mit dem Zusatz „tieferer Reflexion … über den Todeswunsch.“42 Liegen „innere Festigkeit und Zielstrebigkeit“ vor, können – weil eine „innerlich unbeschwerte Willensentscheidung zur Beendigung des eigenen Lebens … kaum vorstellbar ist“ – auch trauriges Gestimmtsein und Verzweiflung Freiverantwortlichkeit und Ernstlichkeit nicht ausschließen.43 Und das gilt mit dem BVerwG selbst dann, wenn die Verzweiflung „unerträglichem Leidensdruck“ entspringt und den Suizidentschluss subjektiv alternativlos macht. Denn wenn auch die Urteilsfähigkeit hierdurch einmal getrübt sein mag, ist autonomes Handeln trotz solchen „Drucks“ nicht kategorial ausgeschlossen.44 Das alles sieht nun auch der 5. Strafsenat des BGH so. Er hat sich in seinen im September 2019 abgesetzten Urteilen zur Straffreiheit ärztlicher Suizidassistenz in Duktus und Begründung an die hier nachgezeichneten Ausführungen des OLG Hamburg so eng angelehnt, dass man sie mit der gleichen Berechtigung in der 41

Zu Zwang und Drohung gilt das jedenfalls unterhalb der Schwelle des § 35. Zitiert werden hierzu nochmals BGH NStZ 2011, 340 und BGH JZ 1987, 474. Die Einschränkung, nur ein „rechtsgutsbezogener Motivirrtum“ schließe Freiverantwortlichkeit aus, folgt nicht aus BGH NStZ 2011, 340, BGH NJW 2003, 2326 und BGHSt 32, 38, 43 und ist str., s. Hillenkamp/Cornelius, 32 Probleme aus dem Strafrecht, AT, 15. Aufl. 2017, 7. Problem. 42 OLG Hamburg NStZ 2016, 533; der Zusatz findet sich nur im Leitsatz der Schriftleitung, nicht im Text von BGH NStZ 2011, 340 (341); auch BGH NStZ 2012, 85 (86) nimmt nur „innere Festigkeit und Zielstrebigkeit“ auf, ebenso Eser/Sternberg-Lieben (Fn. 12), § 216 Rn. 8; Schneider (Fn. 12), § 216 Rn. 13, die Leitsatzversion dagegen Fischer (Fn. 6), § 216 Rn. 9a und Magnus (Fn. 12), S. 268, die zudem einen unwiderruflichen(!), absoluten und endgültigen Sterbewillen verlangt, S. 248, s. dazu bei Fn. 22 f. BGH JZ 2019, 1042, 1044 (Hamburger Fall) und BGH JZ 2019, 1046, 1047 (Berliner Fall) sprechen von „bilanzierender Reflexion“, die auch einen bisweilen allein für freiverantwortet erklärten „Bilanzselbstmord“ begründet. 43 Diese an Schneider (Fn. 12), § 216 Rn. 16 angelehnte Einsicht hat das LG Hamburg MedR 2018, 421, 424 aus der Entscheidung des HansOLG (Rn. 56 des Langtextes bei juris) übernommen, zust. Hillenkamp, MedR 2018, 379 (380). BGH JZ 2019, 1046, 1047 (Berliner Fall) bejaht Freiverantwortlichkeit trotz „tiefer Verzweiflung“ einer „reaktiv depressiven“ Frau, zust. Hillenkamp, JZ 2019, 1054. 44 BVerwGE 158, 142 setzt (schon in den Leitsätzen) in einer durch „unerträglichen Leidensdruck“ geprägten „extremen Notlage“ die Möglichkeit eines „frei und ernsthaft“ gefassten Selbsttötungsentschlusses zu Recht voraus, s. dazu Hillenkamp, ZMGR 2018, 289 (297); Magnus, KriPoZ 2018, 180; Merkel, MedR 2017, 823 und auch schon Bioethik-Kommission (Fn. 22), S. 133; Nationaler Ethikrat, Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende, 2006, S. 18 f.; Fischer (Fn. 6), Vor §§ 211 – 217 Rn. 29. Zu Urteilsfähigkeit und Autonomie unter drängenden „naturgegebenen Prämissen“ s. Merkel, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Prot. der Plenarsitzung v. 27. 9. 2012, Vorträge und Diskussion zum Thema „Suizid und Suizidbeihilfe“, S. 27. Zu einer Variation des von ihm gebrauchten Beispiels einer „hundertprozentig determiniert(en)“ Nierenentfernung s. BGH NJW 1987, 2925; zur Autonomie trotz subjektiver Alternativlosigkeit dort s. Hillenkamp, MedR 2016, 109 (111 – 113).

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Sache der qualifizierten Einwilligungslösung zuschlagen kann.45 Eindeutig ist das allerdings auch hier nicht bekannt. 2. Das lässt zu unserem Thema ein erstes Zwischenfazit zu. Wenn von einem freiverantworteten Selbsttötungsentschluss nur nach Ausschluss von Befunden der §§ 20, (21), 35 StGB und bei Verantwortlichkeit nach § 19 StGB, § 3 JGG die Rede sein kann und Freiverantwortlichkeit darüber hinaus alle subjektiv relevanten Voraussetzungen46 einer Einwilligung bis hin zu einer nach den Maßstäben des § 216 StGB zu messenden, zum Ausdruck gekommenen Ernstlichkeit verlangt,47 so ergibt sich ein vollkommener Gleichklang48 zwischen der Selbstbestimmtheit eines Suizidentschlusses und der eines Tötungsverlangens nach § 216 StGB. Zu den drei hier eingangs (o. u. I.) genannten Formen willentlichen Sterbens bestätigt sich die Vermutung von Abstufungen zwischen den beiden zuerst genannten Konstellationen also in der Justizpraxis nicht. Das sollte auch dort gelten, wo ein Verlangen, weil beispielsweise nicht „handlungsleitend“, oder eine bloße Einwilligung § 216 StGB nicht auslösen. Denn wenn man ihnen, wie es richtig ist, eine immerhin strafmildernde Wirkung zuschreibt, sind an sie selbst keine geringeren Anforderungen zu stellen.49 Diesen Gleichklang beizubehalten legt schon nahe, dass die Schranke zum Tod durch beide Entschlüsse in annähernd gleicher Intensität aufgehoben wird, vor allem aber, dass die Konstellationen, in denen sie wirken, nicht selten nahezu austauschbar, dogmatisch fast ebenso gut dem begleiteten Suizid wie einer Tötung auf Verlangen zuzuordnen, die Grenzziehungen häufig „hauchdünn“ sind.50 Ob die Anforderungen so streng sein sollten, ist damit freilich ebenso wenig beantwortet, wie, 45 Ein ausdrückliches Bekenntnis zu ihr fehlt freilich (krit. dazu Hillenkamp, JZ 2019, 1054 f.), da die Subsumtion auch unter die „innerhalb des Schrifttums … formulierten Kriterien“ Freiverantwortlichkeit ergibt. Im Hamburger Fall BGH JZ 2019, 1042 steht das ganz außer Frage; im Berliner Fall BGH JZ 2019, 1046 hat KG medstra 2017, 180 (182) „allen Anlass“ zu Zweifeln gesehen, der 5. Senat diese aber in einer deshalb etwas ausführlicheren Begründung (1047) mit dem Ausgangsgericht zerstreut. 46 Das Einhalten objektiver Einwilligungsschranken – etwa der §§ 228, 216 StGB – ist für Freiverantwortlichkeit naturgemäß nicht erforderlich. 47 S. zum Verhältnis von freier Willensbestimmung, Schuldfähigkeit, Einwilligung und Stabilität unter dem Blickwinkel autonomer und freiwilliger Entscheidung Hillenkamp, MedR 2016, 109 ff. 48 Zweifel daran, dass Ernstlichkeit für beide Fälle für den BGH dasselbe meint, bei Magnus (Fn. 12), S. 120. 49 S. hierzu als Strafmilderungsgrund im Dresdener Kannibalen-Fall genauer Hillenkamp (Fn. 2), S. 553 (566 ff.). Auch eine Einwilligung muss, wenn sie denn überhaupt ein Minus gegenüber dem Verlangen ist – s. dazu nochmals Knierim (Fn. 3), S. 116 ff. – als Strafmilderungsgrund ernstlich sein. 50 Wie „hauchdünn“ (Merkel, Fn. 1, S. 80; Feldmann, Fn. 12, S. 227) zeigen z. B. BGHSt 19, 135, BGH NStZ-RR 2018, 172 (dazu Hillenkamp, Fn. 2, S. 553, 557 ff.) und auch die str. Einordnung der Tötung sterbewilliger Menschen, die nur physisch außerstande sind, sich selbst zu töten. Für Beihilfe zum Suizid trotz vom Dritten vollzogenen Tötungsakts Hillenkamp, FS Schünemann, 2014, S. 415 (419); ders., ZGMR 2018, 289 (292); Magnus, KriPoZ 2018, 180 jeweils mit Nachw. zur Gegenmeinung = § 216, u. U. gerechtfertigt, s. Roxin, FS Fischer, 2018, S. 509 (518).

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ob sie strenger oder anders als zum übrig bleibenden Antipoden des Suizids, der tödlichen Behandlungsbegrenzung, sind. Hierauf verengt sich nun unser Thema.

III. Eine zum Tode führende willentliche Behandlungsbegrenzung begegnet an sie gebundenen Personen entweder als aktuelle Äußerung eines (noch) erklärungsfähigen Menschen oder als Teil einer Patientenverfügung, die auf die „aktuelle Lebens- und Behandlungssituation“ zutrifft (§ 1901a BGB).51 1. Sucht man die Bedingungen auf, die in der zuerst genannten Situation an die psychische Verfasstheit des Verweigerers zu stellen sind, 52 findet man in der zivilrechtlichen Literatur nur karge Antwort. Die Einwilligungsfähigkeit, verstanden als natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit, müsse gegeben sein, auch die eines Minderjährigen reiche – gegebenenfalls – folglich aus.53 Damit hat es gemeinhin schon sein Bewenden. Klärend tritt der Vorschlag hinzu, da es bei solchen Sachverhaltsgestaltungen nicht nur um Einwilligung in medizinische Maßnahmen, sondern eben auch (wie im hier aufgerufenen Fall) „um deren Verweigerung“ geht, „zutreffender von Entscheidungsfähigkeit“ zu sprechen. In ihren Voraussetzungen unterscheiden sich Einwilligungs-, Einwilligungsverweigerungs-, Veto- und Entscheidungsfähigkeit aber nicht.54 Anders als die Einwilligung in eine (aktive) medizinische Maßnahme soll allerdings ihre (aktuelle) Ablehnung auch ohne ärztliche Aufklärung wirksam sein.55 Die durch eine solche schlichte Einwilligungslösung bewirkte Absen51

Beispiele in den Textbausteinen von Muster-Patientenverfügungen z. B. des BMJV, Patientenverfügung, Stand: Januar 2019, S. 25 ff und der BÄK/ZEKO, Hinweise und Empfehlungen zum Umgang mit Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen im ärztlichen Alltag, Stand: 25. 10. 2018, DÄBl 115 (2018), A 2434 (2438). 52 Ein Beispiel ist Peter Noll, s. dazu Jens/Küng, Menschenwürdig sterben, 2009, S. 104 ff. 53 Götz, in: Palandt, BGB, 78. Aufl. 2019, § 1901a Rn. 10. 54 Der klärende Vorschlag findet sich bei Bienwald, in: Bienwald u. a., Betreuungsrecht, 6. Aufl. 2016, § 1901a Rn. 11; im Weiteren s. Rn. 3, 48 und § 1904 Rn. 5; ders., in: Staudinger, BGB, 2013, §§ 1901 a und b Rn. 26. Vgl. auch Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. 991; Götz (Fn. 53), § 1904 Rn. 9 (eine aktuelle Erklärung geht einer „kongruenten“ Patientenverfügung vor, § 1901a Rn. 19); Kemper, in: HK-BGB, 10. Aufl. 2019, § 1901a Rn. 10; Müller-Engels, in: BeckOK BGB, Stand: 01. 09. 2019, § 1904 Rn. 8 mit Rn. 7; Roth, in Erman, BGB, 15. Aufl. 2017, § 1901a Rn. 2. Von Einwilligungs(verweigerungs)fähigkeit sprechen im Strafrecht auch Eser/Sternberg-Lieben (Fn. 12), Vor §§ 211 ff. Rn. 28 g. Zur Identität der Voraussetzungen s. Bleiler, Strafbarkeitsrisiken des Arztes bei religiös motiviertem Behandlungsveto, 2010, S. 51; Odenwald (Fn. 13), S. 114 ff., jeweils m.w.N.; s. auch Hillenkamp, FS Küper, 2007, S. 123 (129, 134, mit Differenzierung bezüglich der Maßnahme S.141). 55 Eine begründungslose Wiederholung dieser Aussage findet sich in BT-Ds 16/8442, S.7, 10, 14 (E-Stünker u. a. zur Änderung des BetrR); BT-Ds 16, 11360, S. 9 (E-Bosbach u. a. zur Änderung des BetrR); BT-Ds. 17/10488, S. 24 (E-PatRG der BReg); Götz (Fn. 53), § 1901a Rn. 2, 13; eher krit. Müller-Engels (Fn. 54), § 1901a Rn. 22; Roth (Fn. 54), § 1901a Rn. 8.

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kung des Lebensschutzniveaus zeigt sich in dem gedachten Fall, dass nach einem ärztlich assistiert eingeleiteten Suizid der noch entscheidungsfähige Suizident sich gegenüber einem von Dritten herbeizitierten Notarzt die einzig lebensrettende Intervention verbittet. Während die Assistenz nur bei der o. u. II. beschriebenen „Freiverantwortlichkeit“ i.S. der hier sog. qualifizierten Einwilligungslösung gewährt werden darf, ist dem Notarzt nach den zitierten Stimmen schon dann die Rettung verlegt und das Sterbenlassen geboten, wenn (nur) von „Entscheidungsfähigkeit“ auszugehen ist.56 In der strafrechtlichen Literatur findet sich kein vergleichbar einheitliches Bild. Am deutlichsten wird der strengere Maßstab der „Freiverantwortlichkeit“ des Suizids auch für die tödliche Verweigerung dort reklamiert, wo sie als „Suizid durch Behandlungsverweigerung“, als „passiver Suizid“ bezeichnet und der aktiven Selbsttötung gleichgestellt wird.57 Allerdings wird aus dieser vermeintlich „zutreffenden Gleichstellung“58 auch umgekehrt auf „die Zweifelhaftigkeit einer zu engen Freiwilligkeitsbeurteilung in Suizid-Fällen“ geschlossen und für die Wirksamkeit des Behandlungsvetos wie in der Zivilrechtsliteratur nur auf einen „entscheidungsfähigen Patienten“ abgestellt.59 Andere Stimmen dagegen gleichen das Lebensschutzniveau beim Behandlungsverzicht dem Suizidbereich wiederum an, indem sie, um „sicherzustellen, dass Behandlungsbegrenzungen nur aufgrund eines eindeutigen und freiverantwortlich zustande gekommenen Verlangens des Patienten vorgenommen werden“, dafür eintreten, „das aus § 216 StGB bekannte und bewährte Merkmalspaar ,ausdrücklich und ernstlich‘“ für das todbringende Veto zu übernehmen.60 Den für S. auch Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 2005, S. 17 f. mit S. 14. Näher zur „informed refusal“ (E.Deutsch) mit Gründen und Gegengründen Taupitz, 63. DJT (2000), Gutachten A 12 f., 32 ff., der selbst die sonst „unerträglichen Schutzlücken“ schließt. 56 Dem steht nach dem 5. Strafsenat (s. Fn. 26) auch nicht mehr entgegen, dass es ein suizidaler Wille ist. 57 So namentlich Saliger (Fn. 12), S. 58 – 62 unter Berufung auf Antoine, Aktive Sterbehilfe in der Grundrechtsordnung, 2004, S. 214; Bottke, GA 1982, 346 (355); Günzel, Das Recht auf Selbsttötung, seine Schranken und die strafrechtlichen Konsequenzen, 2000, S. 47 ff. S. auch Ebert, JuS 1976, 319 (320); Ingelfinger (Fn. 11), S. 298, 307 ff. und Neumann (Fn. 10), Vor § 211 Rn. 108a, der zur „eigenverantwortlichen Entscheidung“ auf die „Ausführungen zum Problem der Freiverantwortlichkeit eines Suizids“ verweist. 58 Einwände bei Hillenkamp (Fn. 54), S. 123 (131 f.) mit Nachw. zu ihren älteren Verfechtern. 59 So Fischer (Fn. 6), Vor §§ 211 – 217, Rn. 41a, 42, der den entscheidungsfähigen in Rn. 43 mit dem urteils- und einsichtsfähigen Patienten gleichsetzt. Zur Freiverantwortlichkeit des Suizids s. dort Rn. 26 – 29. Eser/Sternberg-Lieben (Fn. 12) verweisen Vor §§ 211 ff. Rn. 28 auf die Parallelität und verlangen – Rn. 28a – „Freiverantwortlichkeit“, wollen sie zum Behandlungsverzicht dann aber allein nach der „Einsichts- und Urteilsfähigkeit“ bestimmen, s. den Verweis auf § 223 Rn. 38 und Vor § 32 Rn. 40. 60 So Verrel (Fn. 12), C 79; der Vorschlag, das ins Gesetz aufzunehmen, wurde vom 66. DJT 2006 gebilligt, s. Beschlüsse der Abt. Strafrecht II 1 b. Auch Roxin, in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S.75 (93) zitiert diese an § 214 AE-StbH und AE-StB (Fn. 17) angelehnte Forderung zustimmend; s. auch Chatsikostas, Die Disponibilität des Rechtsguts Leben usw., 2001, S. 330 mit S. 87.

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den Arzt bei dem „noch kommunikationsfähigen Patienten … unschätzbaren Vorteil, sich ein authentisches Bild von den Behandlungswünschen seines Patienten machen und auf dessen Willensbildung Einfluss nehmen zu können,“ verbindet dieser Vorschlag mit der ärztlichen Pflicht, „den Patienten über alle in Betracht kommenden Behandlungsmöglichkeiten sowie über die Konsequenzen einer Behandlungsbegrenzung auf(zu)klären und … sich nicht vorschnell mit einer aus ärztlicher Sicht unvernünftigen Behandlungsverweigerung ab(zu)finden.“61 Einig ist man sich darin, dass die Entscheidung unabhängig davon gilt, ob sie medizinisch kontraindiziert, vom Verweigerer begründet und wenn ja, für den Außenstehenden nachvollziehbar oder aber unvernünftig, angesichts sozialer Verpflichtungen (auch) unverantwortlich oder religiös verblendet erscheint.62 Schließlich sei noch eine Stimme erwähnt, die immerhin, wenn auch „lediglich Ernstlichkeit der Erklärung“ als Zusatz zur Entscheidungsfähigkeit verlangt, es „insoweit“ aber nicht für „erforderlich“ hält, „dass die Willensäußerung den Anforderungen des § 216 genügt“.63 Auch die Rechtsprechung ergibt kein eindeutiges Bild. Eine „Rechtspflicht“, den in einer Wohn- und Lebensgemeinschaft verbundenen schwer erkrankten Freund „am selbstgewollten Ableben“ durch das Herbeiholen ärztlicher Hilfe „zu hindern“, hat der BGH verneint, weil sich der Erkrankte „in freier Willensentscheidung“ und „in voller Erkenntnis der Bedeutung und Tragweite … seiner Entscheidung“ dazu entschlossen hatte, „dem für ihn erkennbar herannahenden Tod keinen Widerstand mehr entgegenzusetzen …“64 Einem solchen schon ein Behandlungsangebot ab ovo verlegenden Interventionsveto stellt das LG Ravensburg das Verlangen, nicht mehr „künstlich beatmet zu werden“, gleich, wenn ihm der „ernsthafte Todeswunsch“ einer „urteilsfähigen“ Patientin zugrunde liegt.65 Hier also verbindet sich die dem BGH offenbar ausreichende Entscheidungsfähigkeit wieder mit einer an § 216 StGB angelehnten Prämisse. Die Ablehnung einer medizinisch vital indizierten Fremdbluttransfusion lässt – auch wenn sie aus ärztlicher Sicht „vernunftwidrig oder nicht nachvollziehbar“ und absehbar mit tödlichem Ausgang verbunden ist – das BSG andererseits wiederum gelten, wenn der Verweigerer „in der Lage war, …eine autonome Entscheidung frei von Willensmängeln“ zu treffen.66 In Suizidfällen, in 61 Verrel (Fn. 12), C 79; ebenso zur Aufklärung E-Bosbach u. a. (Fn. 55), S. 13; zur Diskussion und i.E. für eine Aufklärungspflicht Bleiler (Fn. 54), S. 97 ff.; s. auch Taupitz (Fn. 55), A 33 f. 62 S. dazu Hillenkamp, in: Anderheiden/Eckart, Handbuch Sterben und Menschenwürde, Bd. 1, 2012, S. 349 (360, 366); ders., ZMGR 2018, 289 (290) sowie E-Stünker (Fn. 55), S. 7 ff.; Nationaler Ethikrat, Patientenverfügung, 2005, S. 10; Fischer (Fn. 6), Vor §§ 211 – 217 Rn. 42; Neumann (Fn. 10), Vor § 211 Rn. 108b; Schneider (Fn. 12), Vor § 211 Rn. 115. 63 So Schneider (Fn. 12), Vor § 211 Rn. 115, der auch hier zuvor von einer „freiverantwortlichen Willensentscheidung“ spricht. Zur „Ernstlichkeit“ als Wirksamkeitsvoraussetzung (schon) einer Einwilligung s. Knierim (Fn. 3), S. 110, 145 f.; Magnus (Fn. 12), S.167; Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor §§ 32 ff. Rn. 49. 64 BGH NStZ 1983, 117 (118). 65 LG Ravensburg NStZ 1987, 229. 66 BSG BeckRS 2004, 40461; es ging dort um einen Zeugen Jehovas.

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denen sich die Suizidierenden durch ausdrückliche schriftliche Anweisung67 oder jedenfalls konkludent68 eindeutig und aktuell jede rettende Intervention nach Eintritt ihrer Entscheidungsunfähigkeit verbeten hatten, findet sich ein – allerdings nirgends offengelegter – Gleichklang zu den Anforderungen an den Selbsttötungsentschluss und dessen Absicherung im Interventionsveto i.S. strengerer Freiverantwortlichkeit. Da an deren Fortbestehen bis zum jeweiligen Ende in den entschiedenen Fällen kein Zweifel bestand, war aber nicht zu entscheiden, ob ein Weniger zum Veto ausgereicht hätte.69 Man kann folglich diese Entscheidungen nicht für ein generelles Bekenntnis der Rechtsprechung anführen, dass ein tödliches Behandlungsveto nur bei Freiverantwortlichkeit i.S. der qualifizierten Einwilligungslösung bestandskräftig sei.70 Aufklärung ist naturgemäß nicht vorausgesetzt, wo ein jede Intervention verbittendes Veto dem nichtärztlichen persönlichen Umfeld des Lebensbedrohten schon die Zuführung zu Rettungsmaßnahmen verlegt.71 Einem Arzt ist dagegen nach der Rechtsprechung zu raten, die „Stabilität“ der Entscheidung durch Aufklärung auf den Prüfstand zu stellen. Dafür reichte dem RG aus, „durch eine entsprechende Belehrung auf den Kranken einzuwirken und ihn in einer der Lage des Falles angemessenen Weise auf die Folgen seiner Weigerung aufmerksam zu machen.“72 Beruht die Weigerung auf Religiosität, verletzte es das Neutralitätsgebot gegenüber den Weigerungsgründen, verlangte man mehr, etwa eine bekehrende Aufklärung. Auch die Forderung, „unter Aufbietung aller Energie und Überredungskunst“ dem Patienten die Situation 67

So im Wittig-Fall BGHSt 32, 367: hier hatte die Suizidentin ihre zurückliegende schriftliche Weigerung im Zeitpunkt ihrer Selbsttötung auf einem Zettel in der Hand erneuert; dann geht es um die hier behandelte Konstellation, weil das aktuell im entscheidungsfähigen Zustand ausgesprochene Veto die ältere „Patientenverfügung“ auch bei Kongruenz überholt und nach Eintritt der Entscheidungsunfähigkeit weiterwirkt, s. dazu nur Götz (Fn. 53), § 1901a Rn. 4, 19; § 1904 n 19; Kemper (Fn. 54), § 1901a Rn. 10. Auch im Spittler-Fall – LG Hamburg MedR 2018, 421 (423); BGH JZ 2019, 1042 – lag eine auf den aktuellen Suizid unmittelbar bezogene schriftliche Erklärung beider Suizidentinnen vom Vortag des Suizids vor, in der sie „jeder sie etwa noch lebend antreffenden Person im Falle ihrer Handlungsunfähigkeit jegliche Rettungsmaßnahmen“ untersagten; Klarheit bestand auch im Berliner Fall BGH JZ 2019, 1046. 68 So z. B. im Fall Hackethal OLG München JZ 1988, 201; ebenso in LG Berlin NStZ-RR 2018. 246; LG Deggendorf BeckRS 2015, 20138; StA München I NStZ 2011, 345 (Alzheimer-Fall); BGH NJW 1988, 1532. 69 Ausgeschlossen muss natürlich sein, dass „ein ursprünglich durchaus ernsthafter Selbsttötungswille nach Beendigung des Suizidversuchs … ,verfällt‘“ oder der „zwischen Selbstmordhandlung und Todeseintritt“ eingerichteten „längere(n) Latenzperiode, … in der das Hinzukommen Dritter ermöglicht wird“, schon von vornherein kein „unerschütterlicher Todeswunsch“ zugrunde liegt, s. BGHSt 32, 367 (376). 70 Gegen Verallgemeinerungsfähigkeit sprechen auch mit RGSt 25, 375 (378), RGZ 155, 349 (355 mit 352) und BGHSt 11, 111 (114) Entscheidungen, in denen die Ablehnung lebensrettender Eingriffe als Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts in ihrer Wirksamkeit von nicht mehr als dem erklärten Willen abhängig gemacht wird; s. auch EGMR NJW 2002, 2851 (2854). 71 So in BGH NStZ 1983, 117. 72 RGZ 151, 349, 355; s. auch BGH NJW 1997, 3090 (3091).

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„so drastisch vor Augen zu führen“, dass der medizinischen Vernunft nicht zu folgen nur noch aus gänzlich „irrationalen Gründen“ übrigbliebe, überspannte in paternalistischer Weise den Bogen.73 2. Entsteht hiernach zum tödlichen Veto eines aktuell entscheidungsfähigen Menschen zwar ein Momente der qualifizierten Einwilligungslösung teils noch einforderndes, de lege lata sich aber doch auch schon in vielen Äußerungen demgegenüber nur mit den Kriterien schlichter Einwilligung begnügendes und damit im Vergleich zum Suizid erodierendes Bild, so wird Letzteres für die in einer Patientenverfügung antizipativ entschiedene Untersagung lebensrettender Intervention vollständig dominant. Von der vom Gesetz (§ 1901a I 1 BGB) verlangten Einwilligungs-, im Verweigerungsfall besser Entscheidungsfähigkeit, die unbestritten auf die konkrete, hier also tödliche Behandlungsbegrenzung und damit eine „lebensentscheidende“ Maßnahme zu beziehen ist,74 heißt es, der Arzt könne von ihr, „sofern keine gegenteiligen Anhaltspunkte vorliegen,“ beim „volljährigen Patienten ausgehen.“75 Genauere Prüfung selbst dieser Minimalforderung, allerdings ohnehin nicht leicht zu bewältigen,76 wird für den Regelfall nicht verlangt. Volljährigkeit als zweite Voraussetzung mag in alltäglichen Entscheidungslagen eine solche „Vermutungspraxis“ rechtfertigen, in einer Leben und Tod betreffenden aber mit gleicher Selbstverständlichkeit nicht. Sie ist zudem – umstrittener Fremdkörper in Bezug auf Einwilligungsfähigkeit77 auch gar nicht als zusätzlicher Garant einer hinreichend verantworteten Entscheidung, sondern gänzlich begründungslos in das Gesetz gelangt.78 Es begnügt sich – wie die im Zivil- und Strafrecht h.M. – mit dem Veto eines einwilligungsfähigen Voll73 Diese Zitate aus BGH VerSR 1954, 98 (99) und OLG Oldenburg VersR 1998, 1110 (1111) stammen aus nicht religiös motivierten, medizinisch aber unvernünftigen Weigerungsfällen; zu religiös gefärbten Fällen s. die Nachweise bei Bleiler (Fn. 54), S. 27 ff.; Hillenkamp (Fn. 54), S. 123 ff. sowie BSG BeckRS 2004, 40461 (präoperative Aufklärung über das hohe Risiko der Ablehnung von Fremdbluttransfusionen). 74 S. nur Deutsch/Spickhoff (Fn. 54), Rn. 992; Götz (Fn. 53), § 1904 Rn. 8. Angesichts der Irreversibilität sind also hohe Anforderungen zu stellen. 75 So BÄK/ZEKO (Fn. 52), A 2439; Lipp, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 7. Aufl. 2015, VI Rn. 148; auch Magnus (Fn. 12), S. 189 spricht von einer entsprechenden „Vermutung“. Zur auf den Arzt abfärbenden strengeren Kognitionspflicht des Gerichts im Fall aktueller Weigerung s. BGH JZ 2019, 1046, 1047. 76 Taupitz (Fn. 54), A 112 weist darauf hin, dass der Arzt „einer Erklärung folgen soll, bei der die äußeren Umstände des Zustandekommens und die Einwilligungsfähigkeit des Betreffenden zum Zeitpunkt der Erklärung völlig unbekannt sind.“ 77 Die mit Volljährigkeit oder Geschäftsfähigkeit nicht identisch und von starren Altersgrenzen unabhängig ist, s. Odenwald (Fn. 13), S.18 ff; Spickhoff, Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, § 630d Rn. 3 ff.; Müller-Engels (Fn. 54), § 1904 Rn. 5 f. Götz (Fn. 53), § 1901a Rn. 10 sieht darin einen verfassungswidrigen Missgriff; krit. auch Spickhoff, FamRZ 2009, 1949 ff.; Sternberg-Lieben/Reichmann, NJW 2012, 257 ff. 78 Möglicherweise in Anlehnung an § 1896 BGB; s. MAH ErbR/Lipp, 5. Aufl. 2018, § 44 Rn. 90; E-Bosbach (Fn. 55) und E- Zöller, BT-Ds 16/11493, verzichten auf Volljährigkeit, der Gesetz gewordene E-Stünker (Fn. 55) hat sie begründungslos aufgenommen, s. dazu Sternberg-Lieben/Reichmann, NJW 2012, 257 f. Wäre erhöhter Lebensschutz Motiv, hätte ein Verweis auf die AEe (s. bei Fn. 17) nahe gelegen. Er fehlt.

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jährigen, das zwar auch die übrigen Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Einwilligung wie z. B. die Abwesenheit von Täuschung und Zwang erfüllen, dem aber nach der gesetzgeberischen Entscheidung kein in ärztlicher Beratung und Aufklärung gereifter und gefestigter Entschluss zugrunde liegen muss.79 Dass die vorgeschriebene Schriftform Schutz vor „übereilten und unüberlegten Festlegungen“ und eine gewisse „Ernsthaftigkeits- und Missbrauchskontrolle“80 verbürgt, ist angesichts der gängigen Übernahme vorformulierter Bausteine zum hier behandelten „häufigsten Anwendungsfall“81 der Patientenverfügung eine zweifelhafte Annahme. Zudem wird auch nirgends ausdrücklich verlangt, so etwas wie „Ernsthaftigkeit“ oder „innere Festigkeit“ des Vetos zu prüfen. Da eine Patientenverfügung weder zeitnah zu ihrer Umsetzung entstanden noch wenigstens aktualisiert sein muss, fallen auch verlässliche Indizien für solche Anforderungen aus. Auch nur entfernte Anlehnungen an die strengeren Kautelen der qualifizierten Einwilligungslösung finden sich nicht.82 Dieser Negativbefund betrifft auch die Rechtsprechung. Sie begnügt sich mit den soeben abgebildeten Vorgaben selbst dort, wo sich das tödliche Veto nicht aus einer wirksamen Patientenverfügung, sondern z. B. aus einer nur mündlichen Festlegung oder der eines Minderjährigen als nach § 1901a II BGB zu beachtender Behandlungswunsch oder als Inhalt nur des mutmaßlichen Willens ergibt. Zwar sollen „für die Feststellung des behandlungsbezogenen Patientenwillens … beweismäßig strenge Maßstäbe (gelten), die der hohen Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter Rechnung“ tragen.83 Die strengen Maßstäbe erstrecken sich aber auf die inhaltlichen Wirksamkeitsvoraussetzungen einer letalen Verweigerung nicht. Ernsthaftigkeit, innere Festigkeit erwähnen auch solche Konstellationen betreffende Entscheidungen nicht.84

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Der gegenteiligen Forderung von Taupitz (Fn. 55), A 111 ff. ist der Gesetzgeber nicht gefolgt; krit. dazu Duttge, Intensiv und Notfallbehandlung 44 (2019), S. 77, 81; Müller-Engels (Fn. 54), § 1901a Rn. 22; s. auch E-Bosbach (Fn. 55), S. 10, der in § 1901b II eine Aufklärung bei Vetoentscheidungen verlangt. Empfohlen wird sie von BÄK/ZEKO (Fn. 52), A 2437 f. Gegen die Verpflichtung bei (bloßer) Verweigerung einer lebenserhaltenden Maßnahme auch nach Einfügung des § 630d BGB aber die im Zivilrecht h.M., s. nur Götz (Fn. 53), § 1901a Rn. 2, 13; Katzenmeier, in: BeckOK BGB, Stand: 1.5. 2019, § 630d Rn. 19; Lipp (Fn. 75), VI Rn. 152; Roth (Fn. 54), § 1901a Rn. 8. Zu Gründen für einen unaufgeklärten Behandlungsverzicht Verrel (Fn. 12), C 84. 80 Götz (Fn. 53), § 1901a Rn. 11; Verrel (Fn. 12), C 82. 81 So Magnus (Fn. 12), S. 224; Lipp (Fn. 75), VI Rn. 184; Roth (Fn. 54), § 1901a Rn. 8. 82 Für dieses Negativattest stehen die bisher zur Thematik ausgewerteten Fundstellen. 83 So BGHSt 55, 191 (205), eine Entscheidung, die schon auf §§ 1901a ff. BGB Bezug nimmt, und BGHZ FamRZ 2014, 1909 (1913). 84 S. dazu auch die dem BSG BeckRS 2015, 65568 (Rn. 4, 9, 20, 33) genügenden Feststellungen des LSG bei einer nur mündlichen Äußerung.

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IV. Es ergeben sich also in der Tat Abstufungen, ein dreistufiges Gefälle, von einer nur ohne Exkulpationsgründe, Einwilligungs- und Ernstlichkeitsmängel begründbaren Freiverantwortlichkeit eines Suizidenten oder eines seine Tötung Verlangenden über eine immerhin durch Nachfragen85 und bei ärztlicher Beteiligung durch Aufklärung stabilisierbare Entscheidung eines aktuell entscheidungsfähigen Verweigerers bis hin zu einem nur noch den einfachen Voraussetzungen einer Einwilligung entsprechenden tödlichen Veto in einer Patientenverfügung. Das Gefälle verstärkt sich, wenn man zum Suizid vor Annahme von Freiverantwortlichkeit mit der Suizidforschung mahnt, es handele sich hierbei um einen allenfalls einstelligen Prozentsatz aller Fälle86 und im gleichen Atemzug die Vermutung zulässt, bei Volljährigen sei die Fähigkeit auch zu finaler Entscheidung in einem u. U. weit zurückliegenden Papier die kaum einmal hinterfragungswürdige Regel. Zwei Gründe sprechen als erstes dafür, die Abstufungen zugunsten einer die Wirksamkeit aller lebensbeendenden Entscheidungen nach einem einheitlichen Maßstab beurteilenden Vorgabe aufzugeben. Der erste ist die Affinität zwischen Suizid und lebensbeendendem Veto. Wer für das Veto die Rede vom „passiven Suizid“ oder „suizidaler Behandlungsverweigerung“ für eine den inhaltlich identischen Gehalt beider Entscheidungen treffend kennzeichnende Gleichstellung hält, muss auch für identische Anforderungen streiten.87 Es hat aber auch, wer sagt, „niemand“ würde bei einer bloßen Behandlungsverweigerung oder einem Abbruchsverlangen „von Suizid sprechen“,88 gegen eine Gleichbenennung zwar semantische, gegen eine Gleichstellung jedenfalls zu unserer Frage aber kaum sachliche Gründe. Denn „dass unsere Rechtsordnung in Übereinstimmung mit dem Urteil der Rechtsgemeinschaft“ und also wohl zu Recht „einen entscheidenden normativen (!) Unterschied darin“ sehen soll, „ob jemand seinem natürlichen Tod durch aktives Handeln vorgreift, oder ob er nur – mit den Worten des BGH – einem ohne Behandlung zum Tode führenden ,Krankheitsprozess seinen Lauf lässt‘“, ist schon deshalb eine inhaltlich fragliche Aussage,89 weil im immer wieder hierfür angeführten Beispiel des ver85

BGH NStZ 1983, 117. S. dagegen die nachdrückliche Empfehlung der Trennung von psychiatrischer und rechtlicher Sicht bei Feldmann (Rn. 12), S. 168 ff., 175 ff. und Fenner, Suizid – Krankheitssymptom oder Signatur der Freiheit, 2008, S. 111 ff., 199 ff.; ferner Eser/Sternberg-Lieben (Fn. 12), Vor §§ 211 ff. Rn. 34 und Saliger (Fn. 12), S. 47 ff. mit Nachw. zur freie Selbsttötungen belegender Rechtsprechung; dazu zählen der Wittig- und der Spittler-Fall, s. Hillenkamp, MedR 2018, 379 f.; ders. (Fn. 2), S. 1033 (1036 f.). Rosenau (Fn. 12), Vor §§ 211 ff. Rn. 104 spricht zu Recht von „älteren Erkenntnissen der Suizidforschung“. 87 Dazu, ob für strenge oder weniger strenge, s. weiter u. im Text und o. bei Fn. 58 f. Nachw. zur gleichstellenden Wortwahl s. o. Fn. 57; von „suizidaler Behandlungsverweigerung“ spricht auch Merkel (Fn. 1), S. 90. 88 Belege für das Gegenteil in Fn. 57, 87 und bei Hillenkamp (Fn. 54), S. 123 (131 f.). 89 Sie findet sich mit dem Zitat aus BGHSt 55, 191 (204 f.) bei Roxin, FS Fischer, 2018, S. 509 (515). 86

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langten Abbruchs künstlicher Ernährung ja keinesfalls stets die Krankheit ihren „natürlichen, schicksalhaften Verlauf“ nimmt, sondern eine „ganz neue, von der Erkrankung unabhängige“ und sie u. U. überholende „Kausalität“ einsetzt.90 Kappt der Erkrankte den Sondenschlauch selbst oder lehnt er jede Ernährung von vornherein ab, kann man zudem die Rede von Suizid, wie die Debatte um das „Sterbefasten“ zeigt, weder semantisch noch inhaltlich vollständig abweisen.91 All das zeigt, dass ähnlich wie zwischen Suizid und einer Tötung auf Verlangen auch zwischen Suizid und verlangtem Behandlungsabbruch nur „hauchdünne“ Grenzen bestehen, die „entscheidende normative Unterschiede“ nahezu einebnen.92 Vor allem aber ist nicht zu sehen, dass sich Gründe gegen eine (normative) Gleichstellung im Ganzen, die es gibt, auch gegen gleiche Anforderungen an Suizid- und Vetoentschluss richten.93 Da beide unterschiedslos den Tod bedeuten,94 ist ein ungleicher Maßstab jedenfalls hierzu nicht zu begründen. Der zweite Grund für einen identischen Maßstab ist die Affinität auch zwischen einer Tötung auf Verlangen und einer tödlichen Behandlungsbegrenzung. Das zu zeigen, mag hier der Verweis auf das schon zitierte Putz-Urteil reichen. Es stellt seinen letztlich den Freispruch tragenden Gründen voran, eine „Rechtfertigung für die Tötungshandlung“ könne sich „allein aus dem … Willen der Betroffenen, also ihrer Einwilligung ergeben, die künstliche Ernährung abzubrechen …“95 Beim Wort genommen, deutet das auf eine durch das Abbruchsverlangen gerechtfertigte Tötung nach § 216 StGB hin.96 Auch wenn man richtigerweise mit dem Abbruchsverlangen den Abbrechenden aus seiner Lebensgarantenstellung entlässt und deshalb schon ein tatbestandliches Tötungsgeschehen verneint,97 zeigt die im Streit hierum abermals aufleuchtende Affinität, dass auch hier für die Wirksamkeitsvoraussetzungen des todbringenden Entschlusses ein von der dogmatischen Einordnung des Geschehens unabhängiger, sachlich identischer Maßstab gelten muss. Jedenfalls zu ihm gibt es keine normativ begründbare Differenzierung. 90

Merkel, ZStW 107 (1995), 545 (562 f.); i.S. Roxins dagegen Verrel (Fn. 12), C 64. Zum Sterbefasten als Suizid s. Duttge/Simon, NStZ 2017 512 ff.; Hilgendorf, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, 2017, S. 701 (705 ff.); Hillenkamp, ZMGR 2018, 289 (296). 92 S. dazu schon o. II. 2. Ein faktischer Unterschied besteht in den Bluttransfusionsverweigerungsfällen, weil der Tod dort nicht gewollt und deshalb von Suizid schwerlich zu sprechen ist, s. Hillenkamp (Fn. 54), S. 129 (131 f.). 93 Das sagt auch Roxin nicht, der sich in seinem zitierten Beitrag (Fn. 89) mit dieser Frage gar nicht beschäftigt. 94 Relativierend Verrel (Fn. 12), C 64. 95 BGHSt 55, 191 (198). 96 S. dazu nur Rosenau, FS Roxin, 2011, 577 ff.; Roxin (Fn. 89), S. 509 (515 f.). 97 S. dazu Hillenkamp (Fn. 54), S. 129 (133 f.); ders., MedR 2018, 379 (381 f.) m.w.N.; es fehlt schon am (Weiter)Behandlungsrecht und einer korrespondierenden Pflicht, s. dazu klärend schon Merkel, ZStW 107 (1995), 545 ( 559 ff.); Verrel (Fn. 12), C 37; i.E. ebenso Haas, JZ 2016, 714 (718, 721); Lipp (Fn. 75), VI Rn. 8; Roxin (Fn. 87), S. 509 (515 f.) und BGH JZ 2019, 1046 mit Anm. Engländer (1049) und Hillenkamp (1053). 91

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Wenn man mit der Rechtsprechung daran festhält, die Bestimmung der Freiverantwortlichkeit des Suizids mit der qualifizierten Einwilligungslösung (auch) an die strengen Voraussetzungen eines Tötungsverlangens zu binden,98 so müssen diese Anforderungen – als zweites und letztes – auch die für alle hier behandelten Entscheidungen sein. Zwar tragen die normativen und ethischen Differenzen zwischen (Selbst)Töten und Sterbenlassen trotz der hier aufgezeigten Affinitäten99 auch rechtlich differente Behandlung.100 Wie aber der dem Putz-Fall101 zugrundeliegende Lebenssachverhalt zeigt, kann man sie nicht mit angebbaren Gründen auf die hier erörterte Frage erstrecken. Denn dass ein letztlich für die Lebensbeendigung maßgeblicher Wille unterschiedlich autonom, ernsthaft und gefestigt je nachdem sein können soll, ob er sich in einer Selbst- oder verlangten Dritttötung oder einem Sterbenlassen aufgrund einer antizipativ, aktuell oder auch nur gemutmaßten Entscheidung vollzieht, ist nicht zu rechtfertigen.102

98 Dass man das sollte, hat die besseren Gründe, die hier nicht noch einmal aufgerufen werden, s. dazu Hillenkamp (Fn. 12), S. 1034 (1036 ff., 1051 f.). 99 Zur „hauchdünnen“ Differenz zwischen Suizid und Tötung auf Verlangen s. schon o. II. 2. 100 S. dazu nur Ingelfinger (Fn. 12), S. 281 ff.; Verrel (Fn. 12), C 37. 101 Gleichermaßen der Kemptener Fall BGHSt 40, 257. 102 Der Akzeptanz des strengsten Maßstabs hilft, dass der nach der („älteren“, s. Rosenau, Fn. 12, Vor §§ 211 ff. Rn. 104) Suizidforschung vermeintliche Ausnahmefall forensisch mittlerweile eindrücklich und in nennenswerter Zahl dokumentiert ist.

Die Tatherrschaft als Zurechnungsinstrument im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdtötung Von Christoph Sowada Vor nunmehr beinahe 30 Jahren hat Reinhard Merkel seine „Fragen an die Strafrechtsdogmatik“1 zum Spannungsverhältnis zwischen strafloser Suizidteilnahme und strafbarer Tötung auf Verlangen gestellt. Obwohl es seitdem an Diskussionsbeiträgen (auch des Jubilars)2 nicht gefehlt hat, steht eine allseits befriedigende Lösung noch aus. Als jüngste Etappe des zurückgelegten Weges hat der 5. Strafsenat des BGH3 im vergangenen Jahr den Freispruch von Personen bestätigt, die bei einem freiverantwortlichen Suizid nach Eintritt der Bewusstlosigkeit der Sterbewilligen von Rettungsmaßnahmen abgesehen hatten. Hierbei entwickelte der BGH zwar seine Rechtsprechung zur Garantenproblematik fort, ohne sich aber ausdrücklich von der im berühmten Wittig-Urteil des 3. Strafsenats4 aus dem Jahr 1984 vertretenen, vielfach kritisierten und inzwischen weitgehend als überholt geltenden Lehre vom Tatherrschaftswechsel loszusagen,5 nach welcher die Tatherrschaft mit dem Eintritt der Bewusstlosigkeit des Suizidenten von diesem auf den anwesenden Garanten übergeht.6 Immerhin rückte auch die enttäuschte Hoffnung auf eine Rechtsprechungskorrektur das Tatherrschaftskriterium erneut ins dogmatische Scheinwerferlicht, und so lädt die verpasste Chance dazu ein, allgemein nach der Konsistenz des Tatherrschaftskriteriums in einem Bereich zu fragen, in dem über Jahrzehnte hinweg 1 So der Untertitel seines Beitrags in: Hegselmann/Merkel (Hrsg.), Zur Debatte über Euthanasie, 1991, S. 71 ff. Hierzu Roxin, in: Wolter (Hrsg.), 140 Jahre Goltdammer’s Archiv (= FS Pötz), 1993, S. 177 ff. 2 Neben seiner Habilitationsschrift (Früheuthanasie, 2001) sind (insbesondere zu § 216 StGB) zu nennen: ZStW 107 (1995), 545 ff.; JZ 1996, 1145 ff., in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 603 ff.; FS Schroeder, 2006, 297 ff.; in: Heinrich Böll Stiftung (Hrsg.), Selbstbestimmung am Lebensende. Nachdenken über assistierten Suizid und aktive Sterbehilfe (Schriften zu Wirtschaft und Soziales, Band 10), 2012, S. 27 ff.; FS U. Neumann, 2017, 1133 ff. 3 BGH JZ 2019, 1042 ff. und 1046 ff. mit Anm. Engländer (S. 1049 ff.) und Anm. Hillenkamp (S. 1053 ff.) = NStZ 2019, 662 ff. und 666 ff. mit Anm. Sowada (S. 670 ff.); zu beiden Urteilen auch Lorenz, HRRS 2019, 351 ff.; s. ferner Kudlich, JA 2019, 867 ff. 4 BGHSt 32, 367. 5 Ohne inhaltlich auf die These vom Tatherrschaftswechsel einzugehen, begnügen sich beide in Fn. 3 angegebenen Urteile (in Rn. 48 bzw. 36) mit der Verneinung einer die Anfragepflicht gemäß § 132 Abs. 3 S. 1 GVG auslösenden Abweichung von der Entscheidung BGHSt 32, 367 ff. 6 BGHSt 32, 367, 374 ff.

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ständig neue Fallgestaltungen die alten Abgrenzungen in Frage stell(t)en.7 Mögen neue Erkenntnisse bezüglich der eingehend erörterten Leitfälle vielleicht auch nicht unbedingt zu erwarten sein, so ist die die nachfolgenden Überlegungen anleitende Frage grundlegenderer Natur: Was leistet die Tatherrschaftslehre für die Abgrenzung zwischen Suizid und Fremdtötung, und inwieweit ist diese allgemeine Doktrin für das hier interessierende Problemfeld zu modifizieren? Angesichts der Fokussierung auf die äußere Abgrenzung zwischen Suizid und Fremdtötung bleibt das die innere Abgrenzung zu den §§ 211 ff. StGB betreffende, bezüglich seiner Voraussetzungen sehr umstrittene Merkmal der Freiverantwortlichkeit (Stichwort: Exkulpations- oder Einwilligungslösung)8 nachfolgend ausgeblendet.

I. Ausgangspunkt: Die Tatherrschaftslehre als Zurechnungsinstrument Die Abgrenzung zwischen einer Selbst- und einer Fremdtötung wird ganz überwiegend – und seit der Entscheidung des BGH im „Gisela-Fall“9 auch von der Rechtsprechung –10 anhand des Merkmals der Tatherrschaft vorgenommen, das jedoch teilweise in unterschiedlichen Richtungen modifiziert wird.11 Freilich ist die originäre Aufgabe der Beteiligungslehre, die Verantwortlichkeit mehrerer an der Verwirklichung strafbaren Unrechts arbeitsteilig zusammenwirkender Personen voneinander abzuschichten, vorliegend nicht betroffen, da die Selbsttötung kein strafrechtlich relevantes Unrecht darstellt. Vielmehr geht es darum, jene Vorgänge, die im eigenen Rechtskreis des Sterbewilligen verbleiben, von denjenigen Geschehnissen abzugrenzen, die als Fremdschädigungen das Augenmerk des Strafrechts auf sich ziehen.12 Damit ist der allgemeine Aspekt der Eigenverantwortlichkeit als Grund fehlender objektiver Zurechnung angesprochen, der über die Festlegung des Anwendungsbereichs der Tötung auf Verlangen hinausreicht und sich z. B. auf die Reichweite der Garantenhaftung und auf die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit (auch im Spannungsfeld 7

Roxin (Fn. 1), S. 177. Vgl. hierzu Schneider, in: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Aufl. 2017, vor § 211 Rn. 37 ff.; ferner Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor § 211 Rn. 36; Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Aufl. 2017, § 217 Rn. 64 ff. 9 BGHSt 19, 135 ff. Hierzu ausführlich Roxin, Täterschaft und Teilnahme, 9. Aufl. 2015, S. 567 ff.; Vöhringer, Tötung auf Verlangen, 2008, S. 122 ff. 10 Vgl. zur Rechtsprechung Gropp, NStZ 1985, 97 ff.; Scheffler, JRE 7 (1999), 342 ff. 11 Überblicksartig zum Streitstand bezüglich der Abgrenzung zwischen der Suizidteilnahme und § 216 StGB Hillenkamp, 40 Probleme aus dem Strafrecht – Besonderer Teil, 12. Aufl. 2013, 2. Problem (= S. 5 ff.); s. ferner Feldmann, Die Strafbarkeit der Mitwirkungshandlungen am Suizid, 2009, S. 236 ff.; A. C. Fischer, Straflose Mitwirkung am Suizid oder strafbare Fremdtötung?, 2010, S. 28 ff.; Palm, Selbsttötung in mittelbarer Täterschaft – Der Täter als Werkzeug des Opfers?, Diss. iur. Bonn 2008, S. 93 ff., 116 f. 12 Engländer, Grund und Grenzen der Nothilfe, 2008, S. 130 f.; Kühl, Jura 2010, 81, 83. 8

Die Tatherrschaft als Zurechnungsinstrument

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zwischen eigenverantwortlicher Selbst- und einverständlicher Fremdgefährdung) erstreckt. Angesichts der spezifischen Abschichtungsfunktion und der Einbindung in den größeren Zurechnungskontext versteht sich der Rückgriff auf die Tatherrschaftslehre nicht von selbst, und es fehlt auch nicht an Versuchen, andere Kriterien für die Bestimmung des Strafbarkeitsbereichs heranzuziehen.13 Eine die Verbindung zur Beteiligungslehre kappende „Emanzipation“ von der Tatherrschaftslehre erschiene dennoch voreilig; denn sie übersähe, dass sich die Beteiligungsformen durchaus als Zurechnungsformen begreifen lassen,14 bei denen die Tatherrschaft eine verhaltensorientiert abgestufte Verantwortung für ein Geschehen zuweist. Das überdies ein relativ hohes Maß an Bestimmtheit aufweisende15 Tatherrschaftskriterium lässt sich dergestalt in das Zurechnungsmodell integrieren, dass die primäre (quasi-täterschaftliche) Verantwortung des Sterbewilligen eine Zurechnungssperre gegenüber nur nachrangig (als Quasi-Anstifter oder Quasi-Gehilfen) mitwirkenden Dritten errichtet.16

13 Für eine von der Tatherrschaft abgelöste „Eigenverantwortlichkeit“ z. B. Hohmann/ König, NStZ 1989, 304, 305 ff. (krit. und m.w.N. Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 216 Rn. 4b); für eine am Kriterium der missbilligten Gefahrschaffung ausgerichtete Konzeption Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005, S. 353 ff. Aus Gründen der Rechtssicherheit verdient die (modifizierte) Tatherrschaftsbetrachtung Vorzug gegenüber einer auf die Überwindung einer psychologischen Hemmschwelle abstellenden Abgrenzung (wie hier NK-StGB/Neumann, Vor § 211 Rn. 58; Palm [Fn. 11], S. 113 ff., gegen Hilgendorf, in: Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, Strafrecht – Besonderer Teil, 3. Aufl. 2015, § 3 Rn. 42). Vgl. im Übrigen die oben in Fn. 11 angegebenen Nachweise. 14 Vgl. Bloy, Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Strafrecht, 1985; s. auch Goeckenjan, Revision der Lehre von der objektiven Zurechnung, 2017, S. 10 ff. 15 Bechtel, JuS 2016, 882, 884 f. 16 Soweit Merkel in einem frühen Beitrag ([Fn. 1], S. 77 ff., 80, 87) die von der h.M. vorgenommene Grenzziehung für „auf eine kaum erträgliche Weise unplausibel“ erklärt und stattdessen darauf abstellen will, ob der konkrete Todeswunsch unter Berücksichtigung der Motive des Sterbewilligen hinnehmbar ist, zielt diese Kritik (zumindest vorrangig) erkennbar darauf ab, dass die Tatherrschaft nicht das „letzte Wort“ haben und auch in Fremdtötungsfällen ggf. die Verneinung einer Strafbarkeit gemäß § 216 StGB möglich sein soll (vgl. Merkel, Früheuthanasie [Fn. 2], S. 412 f.; 421 f., 427 f.; ders., in: Heinrich Böll Stiftung [Fn. 2], S. 35 ff.; hierzu auch v. Hirsch/Neumann, GA 2007, 671, 681 ff.; Palm [Fn. 11], S. 108 ff.; Roxin, FS Fischer, 2018, 509, 516 ff., 522). Eine Umkehrung dahingehend, dass auch die Mitwirkung an einer (im übrigen) freiverantwortlichen und eigenhändig vollzogenen Selbsttötung zu einer Strafbarkeit des Dritten führt, wenn der Suizident keine „akzeptablen“ Gründe für seinen Todeswunsch benennen kann, wäre (u. a. vor dem Hintergrund des § 1901a Abs. 3 BGB) abzulehnen und ist wohl auch von Merkel (de lege lata) nicht intendiert. So verneint er in seiner Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages am 23. 9. 2015 (https://www.bundestag.de/resource/blob/388404/ad20696aca7464874 fd19e2dd93933c1/merkel-data.pdf; letztmalig abgerufen am 14. 10. 2019) den Unrechtsgehalt der Suizidteilnahme ohne den einschränkenden Vorbehalt, dass der Suizid auf anerkennenswerten Gründen beruhen müsse.

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Ist die analoge Heranziehung der Beteiligungsregeln mithin grundsätzlich zur Konturierung der Eigenverantwortlichkeit durchaus geeignet,17 so schließt dies partielle Modifikationen der Tatherrschaftslehre nicht aus.18 Derartige der Feinsteuerung der Eigenverantwortlichkeit dienende Abänderungen der schon in ihrem originären Anwendungsbereich konkretisierungsbedürftigen Leitformel des „vom Vorsatz umfassten In-den-Händen-Halten des tatbestandsmäßigen Geschehensablaufes“19 müssen allerdings mit dem Regelungsgehalt des § 216 StGB als dem normativen „Gegenspieler“ zum straflosen Suizidbereich verträglich sein.20

II. Der Strafgrund des § 216 StGB Freilich bereitet die Legitimation dieser hinsichtlich ihres Strafgrundes sehr umstrittenen Strafnorm erhebliche Probleme.21 Im Wesentlichen stehen sich individualrechtliche Ansätze und eine auf die Sicherung von Kollektivinteressen ausgerichtete Konzeption gegenüber, die teilweise auch (in unterschiedlicher Gewichtung) miteinander kombiniert werden.22 Ein zentraler Aspekt dieses komplexen Problems, das hier nicht in allen Facetten ausgeleuchtet werden kann, ist darin zu sehen, dass der Suizident die Festigkeit seines Entschlusses gleichsam durch seine Tat unter Beweis stellt. Vor dem Hintergrund der Beobachtung, dass schon viele die Pistole an die Schläfe gesetzt, aber nicht abgedrückt haben,23 überwindet der Lebensmüde mit dem Vollzug seiner Absicht die der Selbsttötung gegenüber bestehende psychologische

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Matthes-Wegfraß, Der Konflikt zwischen Eigenverantwortung und Mitverantwortung im Strafrecht, 2013, S. 220 ff., 224; Rigopoulou, Grenzen des Paternalismus im Strafrecht, 2013, S. 210 ff.; Rissing-van Saan, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Band 7 1. Teilband, 12. Aufl. 2019, § 216 Rn. 14. 18 Magnus, Patientenautonomie im Strafrecht, 2015, S. 245; NK-StGB/Neumann, Vor § 211 Rn. 48. Gegen Modifizierungen der Tatherrschaftslehre MüKo-StGB/Schneider, § 216 Rn. 46 ff.; Schroeder, ZStW 106 (1994), 565, 574 ff. 19 Renzikowski, in: Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 2, 8. Aufl. 2014, § 47 Rn. 85 ff. (87); s. auch Schönke/Schröder/Heine/Weißer, Vor §§ 25 Rn. 57; Schünemann, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Band 1, 12. Aufl. 2007, § 25 Rn. 38. 20 Zu § 216 StGB als Grenze der Eigenverantwortlichkeit Rigopoulou (Fn. 17), S. 221; Vöhringer (Fn. 9), S. 174. 21 Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, § 216 Rn. 1a, 1b; Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2018, § 216 Rn. 1; NK-StGB/Neumann/Saliger, § 216 Rn. 1, 3; s. auch Schroeder, FS Deutsch II, 2009, 505 ff. sowie ausführlich Chatzikostas, Die Disponibilität des Rechtsgutes Leben und ihre Bedeutung für die Probleme von Suizid und Euthanasie, 2001, S. 236 ff.; Feldmann (Fn. 11), S. 323 ff.; Merkel, Früheuthanasie (Fn. 2), S. 407 ff., 425 ff.; F. Müller, § 216 StGB als Verbot abstrakter Gefährdung, 2010, S. 29 ff.; Palm (Fn.11), S. 80 ff. 22 MüKo-StGB/Schneider, § 216 Rn. 2 ff.; Sinn, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum StGB, 9. Aufl. 2017, § 216 Rn. 2 sowie die in der vorigen Fn. angegebenen Nachweise. 23 Roxin (Fn. 1), S. 184; ders. (Fn. 9), S. 571 und GA 2013, 313, 318 f.

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Hemmschwelle.24 Im Gegensatz hierzu begründet das Abschieben der Verantwortung auf einen den Tötungsakt vollziehenden Dritten tendenziell Zweifel am Vorliegen eines (hinreichend starken) eigenverantwortlichen Sterbewillens.25 Mit dieser Deutung des § 216 StGB als einem individuell-paternalistischen abstrakten Gefährdungsdelikt sind keineswegs alle Probleme gelöst.26 So ließe sich insbesondere fragen, ob das die Fremdtötung strikt untersagende Gesetz zumindest eine Ausnahme zugunsten einer Ausräumung des Freiverantwortlichkeitszweifels im Einzelfall sowie für jene Fälle zulassen müsste, in denen dem Sterbewilligen der eigenhändige Vollzug seines Vorhabens aus physischen Gründen unmöglich ist27 (für beide Konstellationen wird teilweise der Gedanke des Tabuschutzes aktiviert)28. Auch wirkt die Charakterisierung dieser Normbegründung als „Übereilungsschutz“ terminologisch irritierend,29 da hiermit nahegelegt wird, durch längeres und intensiveres Nachdenken könnte der Sterbewillige zu einem für ihn richtigeren Ergebnis gelangen. In Wahrheit kommt es hierauf nicht an; vielmehr gleicht seine Position derjenigen des Hasen im Märchen, der trotz aller Bemühungen am Ende seiner Wegstrecke auf den „Igel“ trifft, der ihm die Tafel mit dem Verbot der Fremdtötung entgegenhält. Dessen ungeachtet ist die Festlegung, dass die Straflosigkeit der Mitwirkung Dritter an eine quasi-täterschaftliche Beherrschung des Geschehens durch den Suizidenten selbst gebunden ist, als ein die Auslegung des § 216 StGB leitender Gesichtspunkt anzuerkennen.

24 Ebenso auch Chatzikostas (Fn. 21), S. 265 f.; Gavela, Ärztlich assistierter Suizid und organisierte Sterbehilfe, 2013, S. 16 f.; Palm (Fn. 11), S. 82 ff. Ausführlich (und teilweise krit.) zum „Hemmschwellenargument“ Feldmann (Fn. 11), S. 334 ff.; v. Hirsch/Neumann, GA 2007, 679 ff., 689 ff. S. auch oben Fn. 13. 25 MüKo-StGB/Schneider, § 216 Rn. 5 ff.; s. auch Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, 1998, S. 22 f.; Saliger, Selbstbestimmung bis zuletzt, 2015, S. 139 f.; ders., medstra 2015, 132, 134. 26 Zu der in Bezug auf § 216 StGB lebhaft geführten Paternalismus-Debatte vgl. v. Hirsch/ Neumann, GA 2007, 671 ff.; Magnus (Fn. 18), S. 90 ff., 102 ff. Einigkeit besteht darüber, dass es sich insoweit um einen indirekten Paternalismus handelt, weil ausschließlich Dritte Verbotsadressaten sind. Überwiegend wird § 216 StGB als „weich“ paternalistische Norm legitimiert (so u. a. Merkel [Fn. 1], S. 82 ff.), teilweise aber auch als „hart“ paternalistische Strafvorschrift gerechtfertigt (so Feldmann [Fn. 11], S. 329 ff., 350 ff.). 27 Hierzu Hillenkamp, FS Kühl, 2014, 521, 522 ff.; Pawlik, FS Wolter, 2013, 627, 639 ff. 28 Duttge, ZfL 2004, 30, 35 f.; Matthes-Wegfraß (Fn. 17), S. 113 – 122; hiergegen jedoch Merkel, Früheuthanasie (Fn. 2), S. 426 f. 29 Ebenso Merkel, Früheuthanasie (Fn. 2), S. 131 f.

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III. Modifikationen der Tatherrschaftslehre 1. Die „Tatherrschaft über den todbringenden Moment“ (bzw. den „point of no return“) Eine erste Modifikation30 besteht in der zeitlichen Verengung der Tatherrschaftsbetrachtung auf den (vielfach auch als „point of no return“ umschriebenen) todbringenden Augenblick. Hiernach wird die quasi-täterschaftliche Beherrschung des Geschehens nicht auf das gesamte Ausführungsstadium erstreckt, sondern auf den entscheidenden Moment fokussiert. Das hat insbesondere zur Folge, dass z. B. die Verabreichung der tödlichen Injektion nicht unter Hinweis auf den wesentlichen Tatbeitrag des seinen Arm hinstreckenden Opfers als (quasi-)mittäterschaftliche Selbsttötung, sondern zutreffend als Tötung auf Verlangen beurteilt wird.31 Diese Zuspitzung entspricht auch durchaus der Teleologie des § 216 StGB, weil sich die Stabilität des Sterbewunsches nicht generell in der Ausführungsphase, sondern exakt in jenem Zeitpunkt bewähren muss, in dem es „um Leben und Tod“ geht. a) Die Fälle des einseitig fehlgeschlagenen Doppelsuizids Während die beschriebene Wirkung den Anwendungsbereich des § 216 StGB gegenüber einer Aushöhlung durch ein zu weites Suizidverständnis absichert, ist die zeitliche Konzentration mit einer durchaus gegenläufigen Stoßrichtung entwickelt worden. Den Ausgangspunkt bildete das Urteil des BGH32 im „Gisela-Fall“, das die Konstellation eines einseitig fehlgeschlagenen Doppelsuizids zum Gegenstand hatte. Der BGH hatte den Angeklagten, der die Abgase seines Pkw in das Wageninnere geleitet und durch Niederdrücken des Gaspedals die tödliche Vergiftung des Opfers bewirkt hatte, gemäß § 216 StGB verurteilt. Hiergegen wird überwiegend eingewandt, das Opfer habe bis zum Eintritt seiner Bewusstlosigkeit das Geschehen beherrscht, da es ihm jederzeit möglich war, das Fahrzeug zu verlassen.33 Diese Kritik überzeugt nicht.34 Denn sie begnügt sich nicht mit der zeitlichen Verengung, sondern 30

Freilich zeigt bereits die Diskussion um den Maßstab der Freiverantwortlichkeit die Bereitschaft zu einer Modifizierung der Tatherrschaftslehre, da die Einwilligungslösung von der herkömmlichen Bestimmung der mittelbaren Täterschaft anhand der §§ 19, 20, 35 StGB und § 3 JGG abweicht. 31 In diesem Sinne aber wohl Dreher, MDR 1964; 337, 338; dagegen zutreffend Roxin (Fn. 9), S. 569 f.; Vöhringer (Fn. 9), S. 125 ff.; s. auch Chatzikostas (Fn. 21), S. 39. Das für § 216 StGB typische Sich-Bereithalten des Opfers kann die Anwendbarkeit dieser Strafnorm nicht ausschließen; MüKo-StGB/Schneider, § 216 Rn. 48; Schroeder, ZStW 106 (1994), 565, 578. 32 BGHSt 19, 135 ff. 33 Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, § 216 Rn. 11; Heinrich/Hellmann/Krey, Strafrecht – Besonderer Teil Band 1, 16. Aufl. 2015, Rn. 108 ff.; Wessels/Hettinger/Engländer, Strafrecht – Besonderer Teil 1, 43. Aufl. 2019, Rn. 125. 34 Freilich hat der BGH diese Kritik insofern „herausgefordert“, als er eine Beurteilung als Suizidbeihilfe für zutreffend gehalten hätte, wenn nach dem (für entscheidend erklärten) Ge-

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sie gibt das Merkmal der Tatherrschaft auf. Eine Beherrschung im Sinne eines steuernden Voranbringens eines Vorhabens ist durch Unterlassen nicht möglich, und die bloße Vermeidemacht, die auch Anstifter und Gehilfen vielfach haben, genügt nicht, um jemandem Tatherrschaft zuzusprechen.35 Es ist ungereimt, einerseits für die Zeit nach Eintritt der Bewusstlosigkeit die Lehre vom Tatherrschaftswechsel (durchaus zutreffend) mit der Begründung abzulehnen, der untätige Garant habe (ungeachtet seiner Möglichkeit zum Eingreifen) keine Tatherrschaft, andererseits aber dem Opfer allein aufgrund der Möglichkeit, sich den Wirkungen des Dritthandelns zu entziehen, Tatherrschaft zuzuweisen.36 Wenn in der kritischen Phase der Täter durch Drücken des Gaspedals aktiv auf die Tötung seiner Partnerin hinwirkt, während jene nur untätig das für sie vermeidbare Geschehen hinnimmt, so liegt eine Tötung auf Verlangen vor.37 Niemand käme auf den Gedanken, eine Strafbarkeit gemäß § 216 StGB zu verneinen, weil das Opfer während der tödlichen Injektion die Spritze aus seiner Vene ziehen könnte. Das Unbehagen gegen die Strafbarkeit des überlebenden Teils der geplanten gemeinsamen Tötung dürfte sich aus einer anderen Quelle speisen: Anders als in Fällen, in denen die Aktivitäten auf die Herbeiführung des Todes nur einer Person abzielen, sind beim geplanten Doppelsuizid beide Partner in einem vorjuristischen Sinne gleichermaßen sowohl „Täter“ als auch „Opfer“. Die hiermit intuitiv nahegelegte Gleichrangigkeit wird durchkreuzt, wenn in der juristischen Bewertung der verstorbene Teil ausschließlich als Opfer und der überlebende Teil allein als Täter wahrgenommen wird. Die hierdurch ausgelösten „Störgefühle“ verstärken sich, wenn die Rollenverteilung mehr oder weniger zufällig erscheint, sodass scheinbar unbedeutende Nuancen über Strafbarkeit und Straflosigkeit entscheiden.38 Allerdings erhebt die Tatherrschaft ihrer Natur nach die Modalitäten der Erfolgsherbeiführung zum Entscheidungskriterium. Dass manche (vor allem Nichtjuristen) unter Geringachtung der ihrer Meinung nach marginalen äußerlichen Unterschiede das Anreichen des Giftbechers ebenso behandeln wollen wie die tödliche Injektion und dass sie den ärztlich assistierten Suizid mit der aktiven Sterbehilfe gleichsetzen,39 rechtfertigt kein Abrücken von der aus prinzipiellen Gründen bedeutsamen Entscheidungsrelevanz der Tatgestaltung.40 Abgesehen davon, dass die unterschiedliche Rollenverteilung auch Ausdruck größerer oder geringerer Entschlossenheit der Beteiligten sein samtplan dem Opfer nach Vornahme der Handlung des Beteiligten die freie Entscheidung darüber verbleiben sollte, sich deren Wirkung zu entziehen (BGHSt 19, 135, 140). 35 Vgl. Roxin (Fn. 9), S. 38 ff., 463 ff. Im Suizidkontext wie hier Rigopoulou (Fn. 17), S. 215; MüKo-StGB/Schneider, § 216 Rn. 47 ff. 36 Vgl. aber Roxin, NStZ 1987, 345, 346, 347. 37 Ebenso Bechtel, JuS 2016, 882, 884; MüKo-StGB/Schneider, § 216 Rn. 52. 38 Chatzikostas (Fn. 21), S. 275 f.; Otto, FS Tröndle, 1989, 147, 165; SK-StGB/Sinn, § 216 Rn. 14. 39 Vgl. Hoppe, in: Rehmann-Sutter/Bondolfi/Fischer/Leuthold (Hrsg.), Beihilfe zum Suizid in der Schweiz, 2006, S. 79; zweifelnd Fischer, § 216 Rn. 4a. 40 S. auch Jakobs (Fn. 25), S. 25.

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kann,41 lassen sich etwaige Ungerechtigkeiten im Einzelfall auf der Strafzumessungsebene abmildern.42 Eine weitgehend parallele Beurteilung zum „Gisela-Fall“ erfährt eine andere, vom RG43 entschiedene Konstellation eines einseitig fehlgeschlagenen gemeinsamen Vergiftungstodes.44 Dort hatte der gemäß § 216 StGB verurteilte Mann die Gashähne aufgedreht, während die zu Tode gekommene Frau die Ritzen von Fenster und Türen verstopfte. Insoweit gilt es zu beachten, dass hier beide Personen ihre Handlungen zu einem frühen Zeitpunkt abgeschlossen haben. Zweifelsfrei kann der „kritische“ Augenblick nicht erreicht sein, bevor – bildhaft gesprochen – die Schwelle zum „Jetzt geht es los“ überschritten wurde. Man mag darüber diskutieren, ob das Aufdrehen der Gashähne trotz der vom anwesenden Täter (und vom Opfer) überwachten Gefahrenquelle bereits die Versuchsgrenze markiert. Selbst wenn man dies bejahen wollte (z. B. weil das Einatmen des Gases keine todesverursachende Opfermitwirkung ist)45, erscheint es angemessen, für den „kritischen Augenblick“ (in Anlehnung an den Versuchsbeginn beim unechten Unterlassungsdelikt)46 den Eintritt einer konkreten Gefahr zu verlangen. Dann zeigt sich der entscheidende Unterschied zum „Gisela-Fall“: Während dort der Angeklagte in der kritischen Phase weiterhin auf den Tod (auch) seiner Partnerin hinwirkte, verhielt er sich im „Gashahn-Fall“ in diesem Zeitraum ebenso passiv wie das Opfer selbst. Allgemein gesprochen ist bei der modifizierten Tatherrschaftslehre nicht unbesehen auf die letzte den Tod verursachende Handlung abzustellen,47 sondern es ist das Kriterium des „kritischen Augenblicks“ auch als Restriktionselement ernst zu nehmen. b) Das bereitgestellte Gegengift Eine weitere vielfach diskutierte Problemkonstellation bildet der von Merkel48 in die Diskussion eingeführte Fall, dass der Dritte dem Sterbewilligen auf dessen Wunsch hin eine grundsätzlich tödliche Dosis Gift injiziert, wobei aber – wie beiden Beteiligten bewusst ist – für einen bestimmten Zeitraum die Möglichkeit verbleibt, den Todeseintritt durch Einnahme eines zur Verfügung stehenden Gegenmittels abzuwenden. Macht das Opfer von dieser Gelegenheit keinen Gebrauch, so wird das 41

MüKo-StGB/Schneider, § 216 Rn. 53 m.w.N. Vgl. hierzu AG Berlin-Tiergarten, MedR 2006, 298 ff.; Feldmann (Fn. 11), S. 386 ff. 43 RG JW 1921, 579. 44 Jeweils für Strafbarkeit A. C. Fischer (Fn. 11), S. 45; MüKo-StGB/Schneider, § 216 Rn. 33, 52 f.; für Straflosigkeit Chatzikostas (Fn. 21), S. 275 f.; Herzberg, NStZ 2004, 1, 6; Rengier, Strafrecht – Besonderer Teil II, 20. Aufl. 2019, § 8 Rn. 10. 45 Schroeder, ZStW 106 (1994), 565, 578 f.; Vöhringer (Fn. 9), S. 176; a.A. Kühl, Jura 2010, 81, 84; NK-StGB/Neumann, Vor § 211 Rn. 55; Zaczyk, Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Verletzten, 1993, S. 42 f. 46 Vgl. nur Lackner/Kühl/Kühl, § 22 Rn. 17. 47 So jedoch MüKo-StGB/Schneider, § 216 Rn. 52. 48 Merkel (Fn. 1), S. 80 f. 42

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Geschehen teilweise als Suizid interpretiert;49 denn maßgeblich sei nicht, wer als letzter gehandelt, sondern wer als letzter entschieden habe.50 Diese Argumentation ist abzulehnen, soweit sie darauf beruht, den entscheidenden Augenblick im Sinne eines „point of no return“ nach hinten zu verschieben.51 Denn wiederum gilt, dass die bloße Abwendungsmöglichkeit dem Opfer keine „Tatherrschaft“ verleiht; überdies hat das durchgängig passive Opfer seinen Todesentschluss nicht durch eigenes Handeln „beglaubigt“.52 Diskutabel erschiene allenfalls ein anderweitiger Begründungsansatz für die Straflosigkeit des Dritten: Die Verabreichung der Injektion stellt sich – sofern das berechtigte Vertrauen auf die spätere Rettung nicht bereits (ausnahmsweise) den Tatentschluss ausschließt – als beendeter Versuch der Fremdtötung dar, weil dem Handelnden bewusst ist, alles für den Erfolgseintritt ggf. Erforderliche getan zu haben. Dies führt zu der im Kontext des Rücktritts vom Versuch (§ 24 StGB) allgemein diskutierten Frage, ob die Verweigerung oder Vereitelung der Rettung durch das Opfer ein Zurechnungshindernis bezüglich des Taterfolgs und bei einem (hier allerdings zweifelhaften) freiwilligen und ernsthaften Bemühen des Täters einen strafbefreienden Rücktritt gemäß (oder analog) § 24 Abs. 1 S. 2 StGB begründet.53 2. Die Fälle des (quasi-)mittäterschaftlichen Zusammenwirkens Uneinigkeit besteht ferner hinsichtlich der Beurteilung der Fälle des (quasi-)mittäterschaftlichen Zusammenwirkens zwischen dem Suizidenten und dem Dritten. Diese Konstellation lässt sich exemplarisch anhand eines von Herzberg54 gebildeten Beispielsfalls verdeutlichen, in welchem der bei einer Spedition tätige Sterbewillige (um seinen Angehörigen die Lebensversicherungssumme zukommen zu lassen) seinen Tod als Unfall erscheinen lassen möchte und zu diesem Zweck mit einem Kollegen übereinkommt, dieser solle mit einem Lkw auf dem Betriebshof fahren, sodass sich der Suizident – scheinbar stolpernd – vor das Fahrzeug werfen kann. Hier wirken beide Beteiligte im todbringenden Augenblick aktiv handelnd arbeitsteilig zusammen. Während einige Autoren diese Situation mit einem primären Blick auf den Mit49 Roxin (Fn. 1), S. 185; differenzierend Ingelfinger, Grundlagen und Grenzfragen des Tötungsverbots, 2004, S. 232. S. auch Murmann (Fn. 13), S. 366 ff. 50 So Ingelfinger (Fn. 49), S. 231; zu Recht kritisch Feldmann (Fn. 11), S. 241, 246 f. 51 Gegen eine straflose Suizidteilnahme auch Bechtel, JuS 2016, 882, 884; Herzberg, NStZ 2004, 1, 7; Kindhäuser, Strafrecht – Besonderer Teil I, 8. Aufl. 2017, § 4 Rn. 10; NK-StGB/ Neumann, Vor § 211 Rn. 56 ff.; Vöhringer (Fn. 9), S. 132 f. 52 Rigopoulou (Fn. 17), S. 218. 53 LK-StGB/Lilie/Albrecht, § 24 Rn. 81 ff.; NK-StGB/Zaczyk, § 24 Rn. 55; s. zum Suizidkontext Eisele, Strafrecht – Besonderer Teil I, 5. Aufl. 2019, Rn. 180; F. Müller (Fn. 21), S. 229; a.A. Degener, „Die Lehre vom Schutzzweck der Norm“ und die strafgesetzlichen Erfolgsdelikte, 2001, S. 333 f.; Schönke/Schröder/Eser/Bosch, § 24 Rn. 62/63; Gavela (Fn. 24), S. 30. 54 JA 1985, 131, 137; ders., JuS 1988, 771, 776 und NStZ 1989, 559 f.

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wirkenden beurteilen und zur Bejahung des § 216 StGB gelangen,55 erscheint es vorzugswürdig, bezüglich der Abgrenzung zwischen Selbst- und Fremdtötung ein Exklusivitätsverhältnis unter Vorrang der Opferperspektive anzunehmen.56 Dahinter steht die Überlegung, „dass man in zurechenbarer Weise nur jemanden töten kann, wenn er sich nicht selbst voll verantwortlich handelnd getötet hat.“57 Wichtiger als die Tatsache, dass der Sterbewillige zur Verwirklichung seines Vorhabens der gleichberechtigten Mitwirkung eines anderen bedarf, ist der Umstand, dass der Mitwirkende seinerseits auf das zeitgleiche aktive Zutun des Suizidenten angewiesen ist und dessen unrechtsneutrales Handeln ihm nicht über § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet werden kann.58 Diese Beurteilung der „fifty-fifty“-Konstellationen mit symmetrischer Beherrschung des todbringenden Akts als den § 216 StGB ausschließende Selbsttötung59 steht auch durchaus im Einklang mit der Ratio des § 216 StGB; denn der Sterbewillige, der sich vor das herannahende Auto wirft, beweist mit diesem buchstäblich „letzten Schritt“ die Festigkeit seines Sterbewunsches. Ebenso ist es für die Ernsthaftigkeit und Stabilität des Sterbewunsches ohne Belang, ob der Fahrer ahnungslos oder ein in den Plan eingeweihter Komplize ist. Die bisherigen Überlegungen lassen sich somit wie folgt zusammenfassen: Eine strafbare Fremdtötung liegt vor, wenn der Dritte das zum Tod des Sterbewilligen führende Geschehen im kritischen Augenblick in einem höheren Maße beherrscht als das Opfer selbst.60 3. Suizid in (quasi-)mittelbarer Täterschaft a) Eigenhändigkeit als Suizidmerkmal? Die Schnittstelle zwischen einer Selbsttötung und der Rechtsfigur der (quasi-)mittelbaren Täterschaft betrifft vor allem den Bereich der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit des mitwirkenden Dritten. Die diesbezügliche Diskussion ist maßgeblich durch zwei kurz aufeinander entschiedene Justizfälle in Gang gekommen, in denen das Opfer 55

So im Ergebnis Herzberg, NStZ 2004, 1, 2 ff.; MüKo-StGB/Schneider, § 216 Rn. 50, 52. Engländer, JZ 2003, 747, 748; Gavela (Fn. 24), S. 30; Neumann, JA 1987, 244, 249; Walter, NStZ 2013, 673, 676; vgl. auch Lackner/Kühl/Kühl, § 216 Rn. 3 (m.w.N.). Für den Bereich der Selbstgefährdung ebenso BayObLG JR 1990, 473, 474 mit Anm. Dölling a.a.O. S. 474, 475. 57 Roxin (Fn. 9), S. 573. 58 Engländer, Jura 2004, 234, 236. 59 Merkel (Fn. 1), S. 79 f.; NK-StGB/Neumann/Saliger, § 216 Rn. 5; SK-StGB/Sinn, § 216 Rn. 15. Vgl. ferner RGSt 70, 313 ff. (hierzu Murmann [Fn. 13], S. 319 f.). Dort hatten sich ein Mann und eine Frau in beiderseitiger Suizidabsicht verabredungsgemäß in zwei an den Enden desselben Stricks geknüpfte Schlingen fallen lassen; der Mann überlebte, weil er in seiner Todesangst die Schlinge mit seinem Messer zerschnitt. Das RG bewertete die Tat (ohne auf Aspekte der Tatherrschaft einzugehen) als Beihilfe zum Suizid der getöteten Frau. 60 Ebenso Neumann, JA 1987, 244, 248 f.; Hecker/Witteck, JuS 2005, 397, 401; s. auch Hellmann, FS Roxin I, 2001, 271, 283 f. 56

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durch Verschleierung seines Sterbewunsches einen anderen zur Vornahme der tödlichen Handlung veranlasst hatte.61 In dem einen (vom OLG Nürnberg62 entschiedenen) Fall hatte der sterbewillige Ehemann seine Frau aufgefordert, auf ihn zu schießen, und ihr auf die Ablehnung seines Ansinnens hin vorgespiegelt, die Pistole sei ungeladen. Als sie schließlich aufgrund seiner beharrlichen Einflussnahme die Waffe abfeuerte, löste sich – wie von dem Mann erstrebt – die im Lauf befindliche tödliche Kugel. In dem wenige Monate später vom BGH63 entschiedenen Fall hatte der Angeklagte als Zivildienstleistender einen von ihm betreuten schwerstbehinderten ALS-Patienten auf dessen Wunsch hin nackt in zwei Plastikmüllsäcke verpackt und in einen Müllcontainer verbracht; dort war das sterbewillige Opfer erstickt und/ oder erfroren, weil es – anders als dem Zivildienstleistenden gegenüber behauptet – keine Vorkehrungen zu seiner Rettung getroffen hatte. Beide Gerichte sahen eine Strafbarkeit gemäß § 222 StGB als gegeben an und haben hierfür teils Zustimmung, teils Widerspruch erfahren. Im Hintergrund dieser Auseinandersetzung steht eine ebenfalls zum Kreis der leading cases zu zählende BGH-Entscheidung64 aus dem Jahr 1972. Im dortigen Fall war der Angeklagte vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen worden, nachdem er (als Polizeibeamter) seine Dienstpistole vorschriftswidrig auf dem Armaturenbrett seines privaten Pkw hatte liegen lassen und sich seine Begleiterin mit dieser Waffe das Leben nahm. Jener Freispruch basierte maßgeblich auf der Überlegung, dass das vorsätzliche Überlassen der Pistole zur Ermöglichung der Selbsttötung als Suizidbeihilfe straflos gewesen wäre und die Haftung für ein entsprechendes fahrlässiges Verhalten nicht strenger sein dürfe als jene für die vorsätzliche Mitwirkung.65 Aus der zutreffenden Beobachtung, dass dieser Erst-recht-Schluss in den später entschiedenen Fällen nicht greift (die Ehefrau wäre bei Kenntnis vom geladenen Zustand der Waffe ebenso wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts strafbar wie der Zivildienstleistende, dem das Ausbleiben der Rettung durch Dritte bekannt gewesen wäre), ergibt sich allerdings kein durchschlagendes Argument für die Fahrlässig61 Zu beiden Fällen Hecker/Witteck, JuS 2005, 397 ff.; Küpper, JuS 2004, 757 ff.; Roxin, FS Otto, 2007, 441 ff.; MüKo-StGB/Schneider, Vorbemerkung zu § 211 Rn. 86 ff. sowie ausführlich A. C. Fischer (Fn. 11), S. 67 ff.; Palm (Fn. 11), S. 2 ff., 118 ff., 136 ff. 62 JZ 2003, 745 ff. mit abl. Anm. Engländer; s. auch Hecker/Witteck, JuS 2005, 397, 398 f. Zur umgekehrten Situation des Hervorrufens eines Suizids durch einen in mittelbarer Täterschaft agierenden Hintermann vgl. MüKo-StGB/Schneider, Vorbemerkung zu § 211 Rn. 43 – 53. 63 NStZ 2003, 537; dazu Engländer, Jura 2004, 234 ff.; Herzberg, NStZ 2004, 1 ff.; ders., Jura 2004, 670 ff. 64 BGHSt 24, 342 ff. 65 Auch im Fall des Amoklaufs von Winnenden wurde der die Tatwaffe nicht hinreichend sichernde Vater des Amokläufers zwar gemäß §§ 222, 229 StGB bezüglich der bei dem Amoklauf getöteten bzw. verletzten Opfer, nicht aber hinsichtlich des Suizids seines Sohnes verurteilt; vgl. BGH JR 2013, 34 ff. mit Anm. Braun; Mitsch, ZJS 2011, 128, 130; s. auch Matthes-Wegfraß (Fn. 17), S. 265 ff.; Murmann, Grundkurs Strafrecht, 5. Aufl. 2019, § 23 Rn. 77 sowie LG Gießen NStZ 2013, 43 f.

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keitsstrafbarkeit. Denn es lässt sich nicht sagen, dass ein fahrlässiges Verhalten strafbar sein müsse, weil ein paralleles vorsätzliches Handeln es wäre.66 Ferner nutzt der Sterbewillige in den aktuelleren Fällen nicht lediglich die Unachtsamkeit eines anderen für seine Selbsttötung aus, sondern er hat die Fehlvorstellung des Mitwirkenden gezielt hervorgerufen. Damit fällt ihm die Steuerungsherrschaft über den kritischen Augenblick zu; es handelt sich – in den Denkfiguren der Beteiligungslehre gesprochen – um einen Suizid in (quasi-)mittelbarer Täterschaft unter Verwendung eines irrenden Werkzeugs. Gegen diese Argumentation lässt sich der zentrale (freilich kaum erörterte) dogmatische Einwand denken, für das Vorliegen eines Suizids müsse der Sterbewillige die Festigkeit seines Tötungsentschlusses gerade durch den eigenhändigen Vollzug der todbringenden Handlung unter Beweis gestellt haben.67 Ein solches Postulat der Eigenhändigkeit würde den Rückgriff auf die allgemeine Steuerungsherrschaft ebenso ausschließen, wie die mittelbare Täterschaft bei eigenhändigen Delikten für unanwendbar gehalten wird.68 Pointiert ließe sich diese Position wie folgt umschreiben: Durch Reden kann man sich nicht selbst töten – und zwar weder durch inständiges Bitten (Verlangen) noch durch eine den Anforderungen der mittelbaren Täterschaft entsprechende intellektuelle Einwirkung auf einen anderen.69 Gleichwohl verdient eine solche Sichtweise keinen Beifall. Denn es ist zu bedenken, dass das Eigenhändigkeitspostulat zur Reichweitenbestimmung des § 216 StGB in Ansehung konkurrierender auf die Todesherbeiführung gerichteter Finalakte des Sterbewilligen und des Dritten entwickelt wurde. Hiervon unterscheiden sich die Fahrlässigkeitsfälle grundlegend. Jedenfalls bei unbewusster Fahrlässigkeit des Tatmittlers erscheint dessen Tun – ungeachtet der freiwilligen Vornahme des entscheidenden Tätigkeitsakts – mangels Finalität als blinder Kausalfaktor.70 Vertauscht ein todeswilliger Patient die Ampulle mit der für ihn vorgesehenen Medizin gegen ein tödlich wirkendes Gift, das ihm von der abgelenkten Krankenschwester injiziert wird, so hat ausschließlich der Sterbewillige über sein Leben verfügt und es handelt sich um eine Selbsttötung auch dann, wenn der Irrtum für die Tatmittlerin vermeidbar

66 So jedoch Herzberg, NStZ 2004, 1, 2; Norouzi, JuS 2007, 146, 149. Wie hier Gavela (Fn. 24), S. 35; vgl. auch Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, Vor § 211 Rn. 35; Matthes-Wegfraß (Fn. 17), S. 198 ff., 289. 67 So Gavela (Fn. 24), S. 16 f., 35 f. Vgl. auch Jakobs ([Fn. 25], S. 22 f.), der die Eigenhändigkeit des Vollzuges als „Formvorschrift“ deutet, und Schroeder, ZStW 106 (1994), 565, 574. Auch Roxin stellt zwar allgemein auf die Eigenhändigkeit ab ([Fn. 1], S. 184; ders., FS Fischer, 2018, 509, 511), ohne aber unter diesem Gesichtspunkt die Annahme eines Suizids in mittelbarer Täterschaft zu problematisieren (FS Otto, 2007, 441, 443, 446); ähnlich Ingelfinger (Fn. 49), S. 225, 227, 229 (Fn. 331). 68 Schönke/Schröder/Heine/Weißer, § 25 Rn. 50; LK-StGB/Schünemann, § 25 Rn. 45 ff. 69 In diesem Sinne Palm (Fn. 11), S. 164 f., 173; s. auch Jäger/Joecks, Studienkommentar StGB, 12. Aufl. 2018, § 216 Rn. 21 f. 70 Roxin (Fn. 9), S. 171.

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gewesen wäre.71 Dieselbe Wertung wird man auch in den Fällen einer bewussten Fahrlässigkeit jedenfalls dann annehmen müssen, wenn der Hintermann aufgrund seines überlegenen Wissens den Willen des Tatmittlers im Wege der Irrtumsherrschaft steuert.72 Schließlich steht diese Beurteilung auch in Einklang mit den Vorgaben aus § 216 StGB; denn die diese Strafnorm tragenden Überlegungen (Gefahren für die Autonomie des Sterbewilligen,73 Beweisprobleme bezüglich verkappter Tötungen ohne Verlangen, Tabu vorsätzlicher Fremdtötungen) sind hier nicht (in gleichem Maße) betroffen.74 b) Reichweite des Zurechnungsausschlusses im Zwei-Personen-Verhältnis Der Verzicht auf das Eigenhändigkeitserfordernis im Fahrlässigkeitsbereich und die hiermit korrespondierende Anerkennung eines Suizids in (quasi-)mittelbarer Täterschaft führen zu der Frage nach der Reichweite des hierdurch bewirkten Zurechnungsausschlusses. Zu weitgehend wäre es, alle Konstellationen, die aus der Sicht des Hintermannes als Fälle einer (quasi-)mittelbaren Täterschaft konstruierbar sind, pauschal als Selbsttötung anzusehen. Würde der Sterbewillige im „PistolenFall“ des OLG Nürnberg seine Ehefrau zur Abgabe des tödlichen Schusses nötigen oder jemand seinen 13-jährigen Sohn überreden, die Waffe abzufeuern,75 so handelte es sich keineswegs um Suizide in (quasi-)mittelbarer Täterschaft, sondern um dem § 216 StGB (oder § 212 StGB) unterfallende Fremdtötungen, deren Straflosigkeit sich für die als Werkzeug eingesetzten Personen anhand der §§ 19 bzw. 32, 35 StGB bestimmt. Hierin liegt keine kritikwürdige Inkonsequenz, sondern es handelt sich um die angemessene Umsetzung der durch die Tatherrschaftslehre vorgezeichneten Strukturen. Denn in den Fällen der Nötigungsherrschaft setzt (anders als bei der Irrtumsherrschaft!) die mittelbare Täterschaft des Hintermannes geradezu voraus, dass der Tatmittler seinerseits den Handlungsablauf beherrscht.76 Haben genötigte oder aus anderen Gründen rechtmäßig oder schuldlos handelnde Personen die Tatherrschaft inne, so ergibt sich daraus – sofern es an einer eigenhändigen Mitherrschaft des Opfers über den kritischen Augenblick fehlt – für die auf der Tatbestands71 Hecker/Witteck, JuS 2005, 397, 399 f.; Wessels/Hettinger/Engländer, BT I, Rn. 135. Vgl. auch Roxin, FS Otto, 2007, 441, 451 f. (gegen Küpper, JuS 2004, 757, 759 f.). 72 Vgl. Roxin, Strafrecht – Allgemeiner Teil, Band II, 2003, § 25 Rn. 65; LK-StGB/Schünemann, § 25 Rn. 83. 73 Im Gegenteil unterminiert der täuschende Hintermann die durch § 216 StGB gegenüber einer Fremdtötung errichtete Hemmschwelle. 74 Vöhringer (Fn. 9), S. 177 f.; a.A. LK-StGB/Walter, vor § 13 Rn. 135. Gegen die Heranziehung von Tatherrschaftskriterien Schlehofer, FS Herzberg, 2008, 355, 357 f., 364. 75 Beispiel nach Herzberg, Jura 2004, 670, 671. Zu weiteren Fallkonstellationen vgl. A. C. Fischer (Fn. 11), S. 97 ff. 76 Roxin (Fn. 9), S. 132 – 137; ders., AT II, § 25 Rn. 47; LK-StGB/Schünemann, § 25 Rn. 69.

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ebene vorzunehmende Abschichtung eine Einordnung als Fremdtötung.77 Auf diese Weise wird zugleich die Gefahr vermieden, die in den einschlägigen Normen des StGB geregelten Voraussetzungen einer Straflosigkeit durch den pauschalen Rückgriff auf die objektive Zurechnung zu unterlaufen. Ferner folgt hieraus, dass das sich als Fremdtötung darstellende Handeln ungeachtet des etwaigen Strafbarkeitsdefizits die Strafbarkeit weiterer (defektfrei) mitwirkender Personen vermitteln kann. Damit ergibt sich als weitere Modifizierung der Tatherrschaftslehre im Suizidkontext, dass das den Kernbereich der mittelbaren Täterschaft bildende sog. Verantwortungsprinzip78 nicht unbesehen in den Bereich der objektiven Zurechnung übernommen werden kann.79 Vor diesem Hintergrund kommt in der besonderen Konstellation der Hervorrufung eines Erlaubnistatbestandsirrtums auch eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit des Getäuschten in Betracht. Will ein Straftäter lieber in den Tod als für den Rest seines Lebens ins Gefängnis gehen und täuscht er deshalb in der Festnahmesituation einen lebensbedrohlichen Angriff auf eine Geisel oder auf die Polizisten vor, um diese zu einem für ihn tödlichen „Rettungsschuss“ zu veranlassen, so handelt es sich (ungeachtet der Irrtumsherrschaft des Veranlassers bezüglich der Rechtfertigungslage) um eine Fremdtötung, da der Schütze das Geschehen mit einem final auf die Tötung gerichteten Willen beherrscht. Fehlt es deshalb an einer die Zurechnung ausschließenden Selbsttötung, so ist bei Vermeidbarkeit des Irrtums eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit des Täters grundsätzlich zu bejahen. Bleibt demgegenüber – wie in dem vom OLG Nürnberg entschiedenen „Pistolen-Fall“ – dem Handelnden infolge der Manipulation bereits der todbringende Charakter seines Tuns verborgen, fehlt es an seiner finalen Tatherrschaft; es liegt ein Suizid in (quasi-)mittelbarer Täterschaft vor, der eine Strafbarkeit gemäß § 222 StGB sperrt. Komplizierter liegen die Dinge hingegen im „Zivi-Fall“.80 Der BGH81 stützt die Verurteilung gemäß § 216 StGB auf die dem Angeklagten ungeachtet der Täuschung zukommende Gefährdungsherrschaft. Dies unterstreichend könnte man darauf verweisen, dass das Vertrauen auf eine spätere Rettung ebenso unbeachtlich sein müsse wie die Bereitstellung des Gegengifts im Rahmen des § 216 StGB.82 Gleichwohl sprechen die besseren Gründe gegen die 77

Ebenso Roxin, FS Otto, 2007, 441, 449. Lackner/Kühl/Kühl, § 25 Rn. 2; LK-StGB/Schünemann, § 25 Rn. 62 ff. 79 Erst recht begründet eine Analogie zur Rechtsfigur des „Täters hinter dem Täter“ keinen Zurechnungsausschluss. Gelänge es beispielsweise dem Sterbewilligen, seine Ehefrau davon zu überzeugen, dass § 216 StGB im Verhältnis von Ehegatten zueinander nicht gelte, so richtet sich die Strafbarkeit der ihren Ehemann daraufhin vorsätzlich tötenden Frau nach der Vermeidbarkeit ihres Verbotsirrtums (§ 17 StGB). Verfehlt wäre es demgegenüber, das Geschehen (unter Hinweis auf BGHSt 35, 347) in eine (quasi-)mittelbare Selbsttötung umzudeuten und auf diesem Wege zur Straflosigkeit trotz Vermeidbarkeit des Irrtums zu gelangen. 80 Für eine Strafbarkeit gemäß § 222 StGB trotz Straflosigkeit im „Pistolen-Fall“ A. C. Fischer (Fn. 11), S. 86 f.; Hecker/Witteck, JuS 2005, 397, 401. 81 NStZ 2003, 537, 538. 82 S. oben zu III.1.b). 78

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Strafbarkeit des Verhaltens. Denn das Gefährdungsbewusstsein erreicht nicht das für die Tatherrschaft bezüglich der Todesherbeiführung erforderliche Maß. Bejaht man eine in (quasi-)mittelbarer Täterschaft begangene Selbsttötung auch bei Einschaltung eines bewusst fahrlässig handelnden Tatmittlers,83 so führt dies auch im Fall des Zivildienstleistenden zum Zurechnungsausschluss.84 c) Die Beurteilung von Drei-Personen-Verhältnissen Zusätzliche Komplikationen können sich ergeben, wenn man die zu diskutierende Fallkonstellation durch die Mitwirkung einer weiteren Person ausbaut. Diesbezüglich kann zur Veranschaulichung auf einen von Norouzi85 gebildeten Examensfall zurückgegriffen werden. Hierbei vereinbart ein sterbewilliger Patient mit dem ihn behandelnden Arzt, dass dieser am darauffolgenden Tag die Ampulle der Spritze gegen ein tödlich wirkendes Gift austauscht, das die ahnungslose Krankenschwester dem Patienten verabreicht.86 Sofern man für eine zurechnungsausschließende Selbsttötung den eigenhändigen Vollzug der todbringenden Handlung durch den Suizidenten verlangt, bestehen bezüglich der Strafbarkeit der Krankenschwester (gemäß § 222 StGB) und des Arztes (gemäß § 216 StGB) keine Bedenken.87 Lässt man hingegen mit der hier befürworteten Sichtweise eine Selbsttötung in (quasi-)mittelbarer Täterschaft zu, so ergibt sich hinsichtlich der Krankenschwester – entsprechend dem „Pistolen-Fall“ der getäuschten Ehefrau – die Straflosigkeit ihres Verhaltens, da sie auf den Tod des Patienten keinen steuernden Einfluss hat und es aus ihrer Sicht gleichgültig ist, ob sie aufgrund einer unmittelbar vom Opfer oder einer mit dessen Willen vom Arzt vorgenommenen Manipulation tätig wird. Dem Arzt hingegen ist die Handlung der von ihm getäuschten Krankenschwester über § 25 Abs. 1 2. Alt. StGB zuzurechnen. Er ist deshalb so zu behandeln, als hätte er selbst die tödliche Spritze verabreicht, und mithin wegen einer in mittelbarer Täterschaft begangenen Tötung auf Verlangen strafbar. Dem kann nicht entgegengehalten werden, aufgrund der Absprache mit dem Patienten sei die von der Krankenschwester gesetzte Spritze auch dem Patienten wie eine Selbstinjektion als eigene Handlung zuzurechnen. Denn eine Quasi-Mittäterschaft (hier: mit dem Arzt) führt nur bei einem vom Opfer eigenhändig vollzogenen Handlungsakt zur Entlastung des Mitwirkenden.88 Die aufgespaltene Bewertung, nach der sich derselbe Vorgang für den Sterbewilligen sowohl als Suizid als auch als Fremdtötung erweist, mag auf den ersten Blick im Wider83

S. oben zu Fn. 71. Ebenso Engländer, Jura 2004, 234, 237; Rigopoulou (Fn. 17), S. 223 f.; Roxin, FS Otto, 2007, 441, 446 f.; MüKo-StGB/Schneider, Vorbemerkung zu § 211 Rn. 92. 85 JuS 2007, 146 ff. 86 Vgl. auch zur fahrlässigen Nichthinderung einer Tötung auf Verlangen durch einen Garanten Herzberg, NStZ 2004, 1, 8; Roxin, FS Schreiber, 2003, S. 399 ff.; MüKo-StGB/ Schneider, § 216 Rn. 68 f. 87 So im Ergebnis Norouzi, JuS 2007, 146, 149 f. 88 Vgl. oben zu III.2. sowie vor Fn. 69. 84

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spruch zum Exklusivitätsdogma zu stehen. Dennoch ist diese Beurteilung folgerichtig. Denn es ist nicht einzusehen, warum der zur Fremdtötung Entschlossene seine strafrechtliche Verantwortung durch die (sei es auch mit dem Opfer abgesprochene) Zwischenschaltung eines Tatmittlers sollte abstreifen können.89 Das Entweder-Oder ist mithin in Mehr-Personen-Konstellationen jeweils auf das Verhältnis des Sterbewilligen zu dem betreffenden Mitwirkenden gesondert zu beziehen.

IV. Aktuelle Fragestellungen Die für den hier interessierenden Themenkreis gültige Beobachtung, dass die dogmatische Diskussion ihre Impulse nicht zuletzt aus den Fällen der Rechtspraxis bezieht, lässt sich auch bezüglich einer der eingangs angesprochenen aktuellen Entscheidungen des BGH zur Garantenproblematik fortschreiben. Im „Berliner Fall“90 hatte die Staatsanwaltschaft dem angeklagten Arzt vorgeworfen, eine aktive Tötung auf Verlangen dadurch begangen zu haben, dass er der Suizidentin nach ihrer Einnahme der Schlafmittel den Brechreiz unterdrückende Medikamente verabreicht und die Angehörigen der sterbewilligen Frau durch Gespräche davon abgehalten habe, Rettungsmaßnahmen zu veranlassen.91 Obwohl sich beide Aspekte nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme als bedeutungslos erwiesen,92 erscheint es reizvoll, die strafrechtliche Bewertung dieser Fallvarianten zu durchdenken. 1. Physische Einwirkungen auf den bewusstlosen Suizidenten Die Injektion der den Brechreiz unterdrückenden Mittel führte nach den Angaben des Sachverständigen eher zu einer Lebensverlängerung; jedenfalls bewirkte sie keine Lebensverkürzung. Damit ist bezüglich dieser Handlung die objektive Zurechnung unter dem Aspekt der Risikoverringerung zu verneinen; da dem angeklagten Arzt diese Wirkung bekannt war, scheidet auch eine Versuchsstrafbarkeit aus. Fraglich ist, wie es zu beurteilen wäre, wenn in einem Fall durch ärztliche Einwirkung auf den Körper des bewusstlosen Suizidenten der Erfolg der Selbsttötung abgesichert worden wäre. Dann wiese der Fall Ähnlichkeiten mit dem 1986 vom BGH93 entschiedenen „Scophedal-Fall“ auf. Dort hatte der Angeklagte seinem bewusstlosen Onkel nach dessen Suizidversuch verabredungsgemäß eine (kleinere) Dosis des Mittels gespritzt, um den Erfolg des Selbsttötungsvorhabens zu gewährleisten. Dieses Verhal89 Hätte der Arzt die ihm zuzurechnende Handlung der Tatmittlerin (Injektion) selbst vorgenommen, unterläge seine Strafbarkeit gemäß § 216 StGB keinem Zweifel. 90 BGH NStZ 2019, 666 ff. 91 KG medstra 2017, 180, 181 f. mit Anm. Eidam = StV 2018, 304 mit Anm. Vogel. 92 LG Berlin medstra 2019, 108, 114 mit Anm. Mitsch. 93 JR 1988, 336 mit Anm. Kühl a.a.O. S. 338, 339 f.; vgl. zu dieser Entscheidung auch Herzberg, JuS 1988, 771 ff.; ders., NStZ 1989, 559; Roxin, NStZ 1987, 345 ff.; ders., FS Fischer, 2018, 509, 519 ff.

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ten, das eine zumindest einstündige Lebensverkürzung zur Folge hatte, sah der BGH zu Recht als strafbare Tötung auf Verlangen an.94 Die im Schrifttum teilweise befürwortete Beurteilung als nachträglich geleistete Suizidbeihilfe95 kann sich darauf berufen, dass der Sterbewillige seine Entscheidung eigenhändig ins Werk gesetzt und somit seine Entscheidung durch seine Tat beglaubigt hat.96 Dennoch kann es hierauf nicht entscheidend ankommen; denn angesichts der ausschließlich vom Neffen beherrschten aktiven Lebensverkürzung markiert dessen Intervention den lebensbeendenden Akt.97 Dies gälte grundsätzlich auch in der Konstellation der Unterdrückung des Brechreizes, sofern das unterdrückte Erbrechen der Schlaftabletten zu einer Lebensverlängerung oder -rettung geführt hätte.98 Eine Straffreiheit des Arztes könnte sich deshalb nicht unter Tatherrschaftsgesichtspunkten, sondern allenfalls als Anwendungsfall der indirekten Sterbehilfe ergeben.99 2. Die Unterbindung von Rettungsmaßnahmen Die psychische Einwirkung auf die Angehörigen beschränkte sich im „Berliner Fall“ ausweislich der tatrichterlichen Feststellungen auf die Mitteilung des Sterbewunsches der Suizidentin und der von ihr geäußerten Bitte, diesen Entschluss zu respektieren. Mithin handelte es sich der Sache nach um eine straflose Anstiftung zu einer auch für die potenziell Rettungswilligen straflosen Unterlassungstat. Allerdings lassen sich auf dieser Schiene auch intensivere Einwirkungsformen denken, die von der Inanspruchnahme ärztlicher Autorität über die Täuschung bezüglich des Zustands der Patientin bis hin zur physischen Unterbindung von Rettungsmaßnahmen (z. B. durch Wegnahme des Handys und/oder Einsperren des Rettungswilligen) reichen und als Abbruch bzw. Unterbindung eines unmittelbar bevorstehenden rettenden Kausalverlaufs erscheinen. Die apodiktische Behauptung, die Frage der Strafbarkeit könne nicht davon abhängen, ob ein helfender Arzt im Stadium der Bewusstlosigkeit eines freiverantwortlich handelnden Suizidenten einfach nur tatenlos 94

Vgl. auch zu einem weiteren, vom LG München II (Urt. v. 7. 4. 2005 – 1 KLs 34 Js 43359/03) entschiedenen Fall Vöhringer (Fn. 9), S. 178 ff. 95 So z. B. NK-StGB/Neumann, Vor § 211 Rn. 96; Roxin, NStZ 1987, 345, 346 ff.; im Ergebnis ebenso Hohmann/König, NStZ 1989, 304, 309. 96 Auf die Herrschaft über den aus der Sicht des Suizidenten unmittelbar lebensbeendenden Akt abstellend SK-StGB/Sinn, § 216 Rn. 12. 97 Wie hier Chatzikostas (Fn. 21), S. 273 (Fn. 213); Feldmann (Fn. 11), S. 267 ff., Herzberg, NStZ 1989, 559, 561; Ingelfinger (Fn. 49), S. 237 f.; Schroeder, ZStW 106 (1994), 565, 570 f., Vöhringer (Fn. 9), S. 142 ff. 98 Könnte nicht hinreichend aufgeklärt werden, ob es ohne die Verabreichung der den Brechreiz unterdrückenden Mittel zu einer solchen körperlichen Reaktion gekommen wäre, käme ein Versuch gemäß §§ 216, 22 StGB in Betracht. Gleichwohl für eine Beurteilung als Suizidbeihilfe Eidam, medstra 2017, 182, 184; Vogel, StV 2018, 306, 307. 99 Vgl. BGHSt 42, 301 ff.; MüKo-StGB/Schneider, Vorbemerkung zu § 211 Rn. 104. Dies würde freilich voraussetzen, dass es sich bei der Verabreichung der Medikamente um eine lebensverkürzende Maßnahme zur Schmerzbekämpfung handelt.

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zuschaue oder unterstützende Tätigkeiten vornehme,100 verzichtet im Vertrauen auf die (vermeintliche) Richtigkeit des Ergebnisses auf eine dogmatische Begründung. Der Rechtssatz, wer nicht zur Rettung verpflichtet sei, dürfe auch andere straflos von einer Rettung abhalten, ginge ersichtlich zu weit. Dennoch erscheint es sachgerecht, die nicht-invasive abschirmende Tätigkeit als straflose (nachträgliche) Suizidbeihilfe zu beurteilen. Hierfür lassen sich mehrere Begründungsansätze ins Feld führen. Während ein den Todeszeitpunkt nach vorn verlegendes Verhalten (wie im „Scophedal-Fall“) stets den „kritischen Augenblick“ betrifft, können Handlungen, die lediglich den ungestörten Fortgang des eingeleiteten Geschehens bewirken, insoweit als unbeachtlich ausgeschieden werden. Dies entspräche zugleich der hier vertretenen Ansicht, dass die Eröffnung einer Rettungsoption (durch Bereitstellen eines Gegengifts) an der Maßgeblichkeit des auf die Todesherbeiführung gerichteten Tätigkeitsakts nichts ändert. Ein weiterer diskutabler Ansatz besteht darin, das Unterbinden einer Rettung durch den Arzt als einen antizipierten aktiven Behandlungsabbruch zu bewerten.101 Schließlich spricht die aus § 1901a BGB ableitbare Anerkennung des Sterbewunsches auch im Zeitraum fehlender Entscheidungsfähigkeit ebenfalls dafür, die nachträgliche Absicherung als straflose Suizidbeihilfe anzusehen. Wenn nach einem freiverantwortlichen Suizid niemand rettungspflichtig ist,102 kann das Vorenthalten oder Vereiteln einer solchen Rettung kein Tötungsunrecht begründen. Nicht näher zu klären ist an dieser Stelle die Frage, ob dem abschirmenden Helfer über die Verneinung der objektiven Zurechnung hinaus sogar ein (ggf. auch andere Tatbestände wie §§ 239 oder 240 StGB rechtfertigendes) Nothilferecht zugunsten des Suizidenten zuzubilligen ist.

V. Schlussbetrachtung Die Hauptergebnisse der vorstehenden Überlegungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Bei der Abgrenzung zwischen einer Selbst- und einer Fremdtötung handelt es sich um ein Zurechnungsproblem, für dessen Bewältigung sich der analoge Rückgriff auf die Tatherrschaftslehre anbietet. Bei dieser Übertragung in den Zurechnungskontext ergeben sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen der straflosen Mitwirkung am freiverantwortlichen Suizid und der gemäß § 216 StGB strafbaren Tötung auf Verlangen Modifikationen der Tatherrschaftslehre. So erscheint es angemessen, die Tatherrschaftsbeurteilung (nicht auf das gesamte Ausführungsstadium zu beziehen, sondern) auf den „kritischen Augenblick“ zu verengen. Bei einem (quasi-)mittäterschaftlichen Zusammenwirken führt die eigenhändig vollzogene gleichberechtigte Mitherrschaft über den todbringenden Augenblick zum Zurechnungsausschluss. Eine strafbare Fremdtötung setzt mithin voraus, dass der Mitwir100

So Eidam, medstra 2019, 182, 184. Vogel, StV 2018, 306, 308. 102 Zur Frage einer Rettungspflicht aus § 323c StGB vgl. BGH NStZ 2019, 662, 666 (Rn. 43 ff.) mit Anm. Sowada a.a.O. S. 670, 671 f. 101

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kende das zum Tod führende Geschehen im kritischen Moment in einem höheren Maße beherrscht als das Opfer selbst. Bezüglich eines in (quasi-)mittelbarer Täterschaft vorgenommenen Suizids ergibt sich ein gespaltenes Bild: Für den fahrlässig handelnden Tatmittler ergibt sich ein Zurechnungsausschluss, ohne dass jedoch eine generelle Übertragung des Verantwortungsprinzips anzuerkennen wäre (für die vorsätzlich agierenden Tatmittler bleibt es bei einer Fremdtötung mit der Folge, dass sich ihre Straflosigkeit anhand der einschlägigen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe bestimmt). Unabhängig davon, ob man den hier vorgeschlagenen Grenzziehungen und den hieraus abgeleiteten weiteren Verästelungen (z. B. der relativen Beurteilung in Mehr-Personen-Konstellationen oder der Straflosigkeit einer rein abschirmenden Tätigkeit nach Eintritt der Bewusstlosigkeit) im Einzelnen zustimmt, verdient ein grundsätzlicher Aspekt der Hervorhebung. Die Modifikationen der Tatherrschaftslehre bezüglich der zeitlichen Fokussierung, des Vorrangs der Opferperspektive in „fifty:fifty“-Konstellationen und der Beschränkung der (quasi-)mittelbaren Täterschaft im Selbstschädigungskontext betreffen zwar die Reichweite des Tatherrschaftsgedankens; sie tasten seinen Inhalt aber nicht an. Wer hingegen die bloße Möglichkeit, sich den Wirkungen des Drittverhaltens zu entziehen oder den Todeserfolg auf andere Weise abzuwenden, als eine „Tatherrschaft“ des passiv bleibenden Opfers deklariert, modifiziert nicht die Tatherrschaftslehre, sondern er gibt das Merkmal der „Tatherrschaft“ in Wahrheit preis. Ebenso wenig wie eine Umdeutung von Nicht-Herrschaft in Herrschaft sollte umgekehrt eine Umdeutung von Herrschaft in Nicht-Herrschaft dadurch erfolgen, dass unmittelbar lebensverkürzende Handlungen (entgegen dem Bedeutungsgehalt des Merkmals „Töten“) durch eine Verschiebung des „kritischen Augenblicks“ für irrelevant erklärt werden. Die Tatherrschaft erscheint (nicht zuletzt unter Bestimmtheitsaspekten) prinzipiell gut geeignet, die Hauptlast der Abgrenzung zwischen Selbst- und Fremdschädigung zu tragen. Freilich muss sie dann um einer konsistenten Argumentation willen auch ernst genommen werden. Die mit der Anerkennung von Modifikationen einhergehenden Spielräume geben keinen Freibrief, sich zur Durchsetzung kriminalpolitscher Vorstellungen in geeignet erscheinenden Fällen vom Kern der Tatherrschaft zu verabschieden.103 Das Magazin „Der Spiegel“ hat den „Star-Professor Reinhard Merkel“ im Jahr 2012 mit der Überschrift „Nichts für Lerner, was für Denker“ vorgestellt.104 Nicht nur seine eingangs angeführten „Fragen an die Strafrechtswissenschaft“, sondern auch seine Überlegungen zur indirekten Sterbehilfe105 (und zu vielen anderen 103 Vgl. (zur Tatbestandsbezogenheit der Tatherrschaftslehre) Roxin (Fn. 9), S. 442: „Was bei der Tatherrschaft bei jedem Delikt wechselt, ist die ,Tat‘; die ,Herrschaft‘ dagegen wird überall durch dieselben Elemente bestimmt.“ 104 Abrufbar unter https://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/professoren-der-extraklasseder-hamburger-jurist-reinhard-merkel-a-843998-druck.html (zuletzt abgerufen am 14. 10. 2019). 105 FS Schroeder, 2006, 297 ff.

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Rechtsproblemen) zeigen das Unbehagen des Jubilars gegenüber Lösungen, die ohne hinreichende Rückbindung vornehmlich vom Konsens über weithin geteilte Ergebnisse getragen werden, und sie belegen sein Insistieren auf prinzipiengeleitete Argumentationen. In der Hoffnung, dass die hier geäußerten Überlegungen ungeachtet der von ihm früher gegenüber der Heranziehung der Tatherrschaftslehre in diesem Bereich geäußerten Skepsis sein Interesse finden, wünsche ich Reinhard Merkel Gesundheit, Schaffenskraft und Lebensfreude und dass er die strafrechtsdogmatische Diskussion noch lange mit kritischen Nachfragen und wertvollen Anregungen bereichert.

Teilnahme am nicht freiverantwortlichen Suizid? Von Thomas Weigend Den ersten (schriftlichen) Kontakt mit Reinhard Merkel hatte ich Anfang der 1990er Jahre im Zusammenhang mit der Veröffentlichung seines brillanten Aufsatzes über Franz von Liszt und Karl Kraus in der ZStW.1 Seit dieser Zeit erfreue ich mich an der prägnanten Klarheit und Originalität seiner Gedanken wie an der lockeren Eleganz seiner Sprache. Im Laufe der Jahre ist die Bewunderung für die geradezu unfassbare Spannweite seiner wissenschaftlichen Interessen hinzugekommen – und die Freude an manchen netten unmittelbaren Begegnungen. Es freut mich deshalb ganz besonders, dass ich ein Blümchen zu dem großen Geburtstagsstrauß für Reinhard Merkel beitragen darf.

I. Das Problem: Suizidbeteiligung als Täterschaft Bei aller Leichtigkeit des Stils sind Reinhard Merkels Stellungnahmen stets von großem Ernst in wissenschaftlichen und ethischen Fragen geprägt. In seinem Werk spielen die Grundfragen der menschlichen Existenz, die Fragen von Leben und Tod eine wichtige Rolle. Aus diesem großen Bereich habe ich eine Detailfrage ausgewählt, über die – soweit ich sehe – bisher relativ wenig nachgedacht worden ist. Es geht um Folgendes: Die Mitwirkung an einem freiverantwortlichen Suizid ist – diesseits von § 217 StGB – straflos; sobald es aber an der Freiverantwortlichkeit des Suizidenten fehlt, soll jede bewusste Mitwirkung, auch mit einem geringen aktiven Beitrag oder durch garantenpflichtwidriges Unterlassen, den Beteiligten zum Totschläger, unter Umständen sogar zum Mörder machen. Das lässt sich nach den Regeln der Dogmatik einwandfrei begründen – aber ist es auch gerecht? Und wenn nicht, welche alternativen Lösungen wären denkbar? Der Hintergrund des Problems ist rasch skizziert. Seinem Leben ein Ende zu setzen gehört zu der Entfaltung der Persönlichkeit, deren Freiheit Art. 2 Abs. 1 GG garantiert; und da (und soweit2) durch die Wahrnehmung dieser Option weder die Allgemeinheit geschädigt noch einzelne Andere in ihren Rechten beeinträchtigt werden,

1

Merkel, ZStW 105 (1993), S. 871. Selbstverständlich verschafft Art. 2 Abs. 1 GG dem Suizidenten nicht das Recht, andere Menschen mit in den Tod zu reißen oder zu verletzen. 2

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ist die Freiheit zum Suizid auch nicht eingeschränkt.3 Daher verlieren auch Garantenpflichten ihre Wirkung, sobald und solange der Suizident ausdrücklich oder konkludent auf seine Rettung verzichtet.4 Da der Suizident in zulässiger Weise von seiner Freiheit zu sterben Gebrauch macht, kann es grundsätzlich auch nicht verboten sein, ihm bei der Verwirklichung seines Entschlusses zu helfen;5 die Entscheidung des Gesetzgebers, in § 217 StGB die „geschäftsmäßige“ Suizidassistenz unter Strafe zu stellen, ist deshalb nicht nur aus praktischen und kriminalpolitischen, sondern auch aus verfassungsrechtlichen Gründen anfechtbar.6 Die Betrachtung verändert sich jedoch schlagartig, wenn der Suizident nicht „freiverantwortlich“ handelt. Dann – so die im Prinzip kaum angreifbare Schlussfolgerung – liegt keine autonome Entscheidung für den eigenen Tod vor, so dass nicht die Selbstbestimmung des Suizidwilligen, sondern die Erhaltung seines Lebens den Schutz durch die Rechtsordnung verlangt. Für das Strafrecht wird daraus abgeleitet, dass jeder, der sich in irgendeiner Weise bewusst an dem Tod des nicht freiverantwortlichen Suizidenten beteiligt – sei es durch Anraten der Selbsttötung, durch Hilfeleistung bei der Durchführung des Suizids oder auch (als Garant) durch bloß untätiges Geschehenlassen –, wegen vorsätzlicher Tötung7 des Suizidenten zu bestrafen ist. Dogmatisch lässt sich dieses Ergebnis so erklären, dass der Suizident als verantwortliches Zurechnungssubjekt gewissermaßen gestrichen wird, so 3 BVerwGE 158, 142 Rn. 24, 32. Ebenso Dreier, JZ 2007, 317, 319; LK/Rosenau, 12. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 88; Roxin, NStZ 2016, 185, 186; Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 33; siehe auch EGMR, Pretty v. UK, Urt. v. 29. 4. 2002, no. 2346/02, § 67 (zu Art. 8 EMRK). Ob ein Sterbewilliger unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch gegen den Staat auf Hilfe bei der Verwirklichung seines Wunsches haben kann, steht hier nicht zur Debatte; s. dazu BVerwGE 158, 142 Rn. 27; BVerwGE NJW 2019, 2789 (mit Differenzierung zwischen Fällen schwersten Leidens und „bloßen“ Sterbewillens). 4 Durch zwei Urteile v. 3. 7. 2019 (5 StR 132/18 und 5 StR 393/18) hat der BGH die erstinstanzlichen Freisprüche von Ärzten aus Hamburg (LG Hamburg NStZ 2018, 281 m. Anm. Hoven) und Berlin (LG Berlin NStZ-RR 2018, 246), die bei dem Suizid ihrer Patienten gemäß deren Wunsch nicht eingegriffen haben, bestätigt (anders noch OLG Hamburg NStZ 2016, 530 m. Anm. Miebach). Noch 2001 hatte der BGH die Rechtswidrigkeit der Selbsttötung und damit auch von deren Unterstützung angenommen; BGHSt 46, 279, 285. S. zur Entwicklung der Rechtsprechung Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, 30. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 42 f. 5 Einwände gegen dieses Argument bei Engländer, FS für Schünemann, 2014, S. 583, 591 f. Die von Engländer als Gegenbeispiele angeführten Strafvorschriften (etwa § 120 StGB) treffen aber nicht die hier behandelte Problematik. 6 Dies hat Reinhard Merkel schon bei der Experten-Anhörung am 23. 9. 2015 zu dem Gesetzentwurf von § 217 StGB im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages eindrucksvoll dargelegt; https://www.bundestag.de/blob/388404/ad20696aca 7464874fd19e2dd93933c1/mer kel-data.pdf (zuletzt abgerufen am 21. 01. 2020). S. auch Hillenkamp, KriPoZ 2016, 1; Hoven, ZIS 2016,1; LK/Rosenau, 12. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 87 ff. 7 Anwendbar sind §§ 211, 212 StGB; § 216 StGB soll nicht in Betracht kommen, da die fehlende Freiverantwortlichkeit auch ein „ernstliches Verlangen“ ausschließt; NK/Neumann, 5. Aufl. 2017, vor § 211 Rn. 62.

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dass die Zurechnungskette von dessen Tod unmittelbar zu allen Personen reicht, die einen Kausalbeitrag zu dem „Erfolg“ des Suizids geleistet haben oder ihn (im Fall des Unterlassens) bei pflichtgemäßem Verhalten hätten verhindern können. Da der Suizident mangels Tatbestandserfüllung als „Haupttäter“ nicht in Betracht kommt, lässt sich auch nicht zwischen Täterschaft und Teilnahme differenzieren – jeder, der auch nur einen fördernden Kausalbeitrag leistet, ist Täter.8 Meist wird von „mittelbarer Täterschaft“ des Suizid-Unterstützers gesprochen, der Suizident wird also als dessen Werkzeug eingeordnet.9 In gleicher Weise sieht man auch den Garanten, der seinen nicht freiverantwortlich handelnden Schützling sterben lässt, als Täter eines Totschlags durch Unterlassen an.10

II. Zum Begriff der Freiverantwortlichkeit Auf den ersten Blick klingt das alles vertraut, dogmatisch einleuchtend und richtig. Bei näherem Überlegen stellen sich allerdings Zweifel ein. Sie beginnen bereits bei dem Begriff der Freiverantwortlichkeit. Manche Autoren stellen schon grundsätzlich die Möglichkeit eines in Freiheit gefassten Selbsttötungsentschlusses in Frage. So schreibt Peter Bringewat unter Berufung auf medizinisch-empirische Forschungsergebnisse, dass „jeder Selbsttötungswille den Charakter einer pathologischen Zusammenballung unterschiedlichster Fehlmotivationen aufweist und der motivatorische Entwicklungsprozeß bis zum Selbsttötungsentschluß einwandfrei pathologischen und krankhaften Charakter hat“.11 Diese radikale Negation der Möglichkeit eines freiverantwortlichen Suizids wird allerdings von der Mehrheit der Autoren nicht geteilt. Reinhard Merkel etwa argumentiert, dass jedenfalls die „extreme innere Belastung“, ohne die ja ein Suizid kaum zustande kommen könnte, keine rechtlich relevante psychische Unfreiheit begründe, da sonst auch der „jährlich vieltausendfach praktizierte Therapieverzicht mit lebensverkürzender Wirkung“ zur Strafbarkeit des behandelnden Arztes führen müsste.12 Und 8

Demjenigen, der den Suizid täterschaftlich unterstützt, kann allerdings wiederum Beihilfe geleistet werden. Beispiel: T äußert gegenüber G, dass er plane, dem nicht freiverantwortlichen O Gift zu besorgen, damit dieser seinen Suizidwunsch verwirklichen kann; G bestärkt den T in dieser Absicht, und O tötet sich mittels des von T besorgten Giftes. G ist Gehilfe zu der von T verwirklichten Tötung nach § 212 StGB. S. dazu auch LK/Rosenau, 12. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 75. 9 OLG München NJW 1987, 2940, 2941; LK/Rosenau, 12. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 75, 98; MüKo StGB/Schneider, 2. Aufl. 2017, vor § 211 Rn. 32 („… gestaltet sich … bei wertender Betrachtung als Fall einer in mittelbarer Täterschaft begangenen Fremdtötung…“); Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, 30. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 37. 10 Wessels/Hettinger/Engländer, Strafrecht BT 1, 43. Aufl. 2019, Rn. 128. Nach LK/Rosenau, 12. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 83 soll dabei die Zumutbarkeit des Eingreifens keine Rolle spielen, da der psychisch kranke Suizident der Hilfe bedürfe. 11 Bringewat, ZStW 87 (1975), 623, 634. 12 Merkel (Fn. 6) S. 2.

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auch andere Autoren betonen, dass es verfehlt wäre, jedwede vorschnelle Entscheidung des Suizidenten und jede fehlerhafte Bestimmung der eigenen Interessenlage zu „pathologisieren“ und ihr die Freiverantwortlichkeit abzusprechen.13 Dies gilt ungeachtet der Ergebnisse der Suizidforschung, die bei Suizidenten häufig psychische oder affektive Beeinträchtigungen feststellt. So wurde in einer Meta-Analyse von 27 Untersuchungen zur psychischen Vorbelastung von insgesamt 3275 Suizidenten ermittelt, dass bei 87 % der Betroffenen eine psychiatrische Diagnose vorlag; dabei wurden am häufigsten affektive Störungen (43 % aller Fälle), insbesondere Depressionen, sowie Suchterkrankungen (26 % aller Fälle), insbesondere Alkoholsucht, festgestellt.14 Diese Zahlen zeigen zunächst die nummerische Bedeutung des hier angesprochenen Problems: Sie legen es nahe, dass die deutliche Mehrzahl der rund 10.000 Menschen, die sich in Deutschland jedes Jahr das Leben nehmen, in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeschränkt ist. Andererseits stellt sich jedoch auch die Frage, ob und wie die Erkrankung oder Sucht dieser Personen mit ihrem Suizidentschluss verbunden ist. In die übliche juristische Denkweise übersetzt, geht es dabei um die Definition der Freiverantwortlichkeit. Der Begriff kommt bekanntlich im Strafgesetzbuch nicht vor, so dass er den Interpreten große Freiheit lässt, die diese auch bereitwillig wahrnehmen. Dabei gibt es einige Fallgruppen, bei denen die Freiverantwortlichkeit allgemein verneint wird. Dazu gehören zunächst Irrtümer über die tödliche Folge einer Handlung, die ein wissender „Hintermann“ vorgeschlagen hat: Wer ein ihm angebotenes Glas Wein austrinkt, ohne zu wissen, dass der Inhalt vergiftet ist, oder wer annimmt, dass er nach der Herbeiführung eines (tödlichen) Stromschlags aus seiner Badewanne in ein Haus am Genfer See versetzt wird, wo er einen neuen Körper bekommen soll,15 begeht schon gar keinen Suizid, da er nicht bewusst seinen (endgültigen) Tod herbeiführt. Weitgehend unstreitig sind auch die Fälle, in denen der Suizident schuldlos wäre, wenn er einen anderen Menschen tötete, wenn er also jünger als 14 Jahre ist (§ 19 StGB), durch Drohung mit Tötung oder Körperverletzung (z. B. für einen nahen Angehörigen) unter massiven Druck gesetzt wird (§ 35 StGB) oder aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht in der Lage ist, sein Verhalten zu bestimmen oder zu kontrollieren (§ 20 StGB). In all diesen Fällen kann von einer freiverantwortlichen Entscheidung für den eigenen Tod keine Rede sein.16 13

Bottke, GA 1983, 22, 30 f.; Engländer, FS für Schünemann, 2014, S. 583, 589; Wessels/ Hettinger/Engländer, Strafrecht BT 1, 43. Aufl. 2019, Rn. 117. 14 Arsenault-Lapierre/Kim/Turecki, Psychiatric diagnoses in 3275 suicides; a meta-analysis, 2004 (https://bmcpsychiatry.biomedcentral.com/articles/10.1186/1471 – 244X-4 – 37; zuletzt abgerufen am 21. 01. 2020). Ähnliche Zahlen aus älteren Studien bei LK/Rosenau, 12. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 104. 15 So im Sirius-Fall BGHSt 32, 38. Auch im „Cleanmagic“-Fall (BGH NStZ 2012, 319) fehlte es bereits an einem Selbsttötungsvorsatz der Geschädigten. 16 Ganz h.M.; siehe die Nachweise bei LK/Rosenau, 12. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 99 f. Für Beschränkung der fehlenden Freiverantwortlichkeit auf diese Fälle die sog. Exkulpationslösung; s. etwa Roxin, FS für Dreher, 1977, S. 331, 344 ff.

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Überwiegend werden jedoch heute an die Freiverantwortlichkeit höhere Anforderungen gestellt als die bloße Abwesenheit von (Quasi-)Exkulpation. Positiv wird die Voraussetzung etwa so formuliert, dass der Entschluss zum Suizid „Ausdruck eines freien und ernstlichen Verlangens nach dem eigenen Tod“ sein müsse17 oder, noch weitergehend, dass das Verlangen „auf einer tieferen Reflexion des Tatopfers über seinen Todeswunsch beruht und von innerer Festigkeit und Zielstrebigkeit getragen wird“.18 Der Suizident müsse „die Urteilskraft aufweis[en], um die Bedeutung und Tragweite seines Entschlusses verstandesmäßig zu überblicken“.19 Das sind große Worte. Nimmt man sie ernst und erkennt man den Suizid nur dann als freiverantwortlich an, wenn sich auch eine maßstabsgerecht rationale Person in der Lebenssituation des Suizidenten getötet hätte, so dürften seit Sokrates nicht mehr viele Suizidenten die Voraussetzungen der Freiverantwortlichkeit erfüllt haben. In der Lebenswirklichkeit sind es allerdings relativ kleinteilige Streitfragen, die mit Hilfe der zitierten Formeln für die Freiheit des Selbsttötungsentschlusses entschieden werden sollen. Es geht etwa um Fälle subtiler Nötigung unterhalb der Schwelle des § 35 StGB, um Motivirrtümer, die der Angeklagte selbst herbeiführt oder bei dem Suizidenten vorfindet, um Suizide von Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren, vor allem aber um psychische Belastungen des Suizidenten, die die Freiheit seiner Willensbestimmung mindern, aber nicht in Analogie zu § 20 StGB völlig ausschließen. Beispielhaft für den kontroversen Diskussionsstand ist der praktisch nicht irrelevante Fall des Motivirrtums:20 Der Suizident weiß zwar, dass er sich tötet, aber er tut dies aus einem Grund, der in der Wirklichkeit nicht gegeben ist. Wer für Freiverantwortlichkeit die vollkommene „Mangelfreiheit“ der Willensentschließung fordert, muss konsequenterweise schon bei relativ marginalen Motivirrtümern des Suizidenten, die auf dessen konkrete Entscheidung Einfluss gewonnen haben, die Freiverantwortlichkeit verneinen,21 also etwa dann, wenn sich der Suizident die Dauer und das Ausmaß der Schmerzen, die aufgrund seiner (tatsächlich vorhandenen) Krebserkrankung zu erwarten sind, schlimmer vorgestellt hat als es der tatsächlichen medizinischen Prognose entspricht oder wenn er irrtümlich annimmt, durch den Tod zu dem von ihm gewählten Zeitpunkt eine gewünschte Erbfolge herbeiführen zu können. Überwiegend werden allerdings nicht „rechtsgutsbezogene“ Motivirrtümer – wie in dem letztgenannten Beispiel – für unbeachtlich erklärt.22 An-

17

OLG München NJW 1987, 2940, 2942 (Fall Hackethal). OLG Hamburg NStZ 2016, 530, 533. 19 So MüKo StGB/Schneider, 2. Aufl. 2017, vor § 211 Rn. 32; ähnlich LK/Rosenau, 12. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 103. 20 S. dazu eingehend MüKo/Schneider, 2. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 51 f.; Neumann, JA 1987, 244. 21 In diese Richtung etwa Brandts/Schlehofer, JZ 1987, 442, 447 f.; Mitsch, JuS 1995, 888, 892. 22 S. etwa OLG Hamburg NStZ 2016, 530, 532; Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2018, vor § 211 Rn. 13b; Schönke/Schröder/Eser/Sternberg-Lieben, 30. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 36. 18

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dere Autoren bewerten die Nachvollziehbarkeit des Irrtums23 oder verschieben die Perspektive von der Situation des Suizidenten zu derjenigen des „Hintermannes“ und nehmen dessen Strafbarkeit dann an, wenn er den Motivirrtum bei dem Anderen hervorgerufen (und nicht bloß ausgenutzt) hat.24 Es geht hier nicht darum, diese und andere Grenzfragen zu entscheiden. Für meine Argumentation genügt die Feststellung, dass der Begriff der Freiverantwortlichkeit hierfür keinen verlässlichen oder intersubjektiv überzeugenden Maßstab zu liefern vermag, zumal er die typische emotionale Steuerung der Entscheidung zwischen Leben und Tod ausblendet, die rationales Entscheidungsverhalten mehr oder weniger stark überlagert oder sogar außer Kraft setzt.25 Wir stehen also vor der Situation, dass es in vielen Fällen durchaus – faktisch und normativ – unklar ist, ob ein Suizident in zu respektierender Weise seinen autonomen Willen zu sterben verwirklicht oder ob in seiner Handlung ein „Schrei nach Hilfe“ liegt, der bei den Mitmenschen nicht ohne Resonanz bleiben sollte.26 Das Dilemma ist umso größer, als nicht ersichtlich ist, wie man die Grenze zwischen diesen beiden Fällen in rechtssicherer Weise beschreiben sollte. Zwischen den eindeutigen Fällen des Suizids, der philosophisch fundiert oder in berechtigter Furcht vor schwerem Leid in der absehbaren Schlussphase des Lebens begründet ist, einerseits und der Selbsttötung im Zustand einer sinnesverwirrenden psychischen Krankheit andererseits liegt eine breite Grauzone, in der die Entscheidungsfreiheit des Betroffenen durch innere und äußere Umstände, Ängste, Emotionen und Rücksichtnahme auf die Interessen anderer mehr oder weniger stark eingeschränkt ist. Weder der bloße Begriff der Freiverantwortlichkeit noch eine umständliche Umschreibung des damit Gemeinten vermag die Vielfalt der tatsächlichen und denkbaren Suizidsituationen auf einen normativ brauchbaren gemeinsamen Nenner zu bringen.

III. Differenzierende Lösungen? Wenn das so ist, sollte das Recht für die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bei einer Beteiligung am Suizid oder bei dessen passivem Geschehenlassen flexible Antworten anbieten, die es den Gerichten ermöglichen, die Zuschreibung von Verantwortung und die Sanktion der Schuld des Angeklagten im konkreten Fall anzupassen. Der gegenwärtige Rechtszustand wird, wie wir gesehen haben, diesem Desiderat nicht gerecht: Er lässt nur die Wahl zwischen Straffreiheit oder Täterschaft nach §§ 211, 212 StGB. Daran verstört nicht nur der Umstand, dass den Gerichten 23

NK/Neumann, 5. Aufl. 2017, vor § 211 Rn. 71. In diesem Sinne Wessels/Hettinger/Engländer, Strafrecht BT 1, 43. Aufl. 2019, Rn. 119 im Anschluss an Rönnau, Willensmängel bei der Einwilligung im Strafrecht, 2001, S. 410 ff. Zu einem Fall des vorgetäuschten Doppelsuizids s. BGH GA 1986, 508 m. Bspr. Charalambakis, GA 1986, 485. 25 Zutr. Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 29. 26 Formulierung nach LK/Rosenau, 12. Aufl. 2019, vor § 211 Rn. 102. 24

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in schwierigen Fällen eine sachlich oft unangemessene Alles-oder-Nichts-Entscheidung abverlangt wird, sondern auch die Abweichung von dem sonst die Verantwortlichkeitszuschreibung beherrschenden Prinzip der Tatherrschaft: Da bei der Annahme fehlender Freiverantwortlichkeit die Handlung des Suizidenten für die Zurechnung als Nullum behandelt wird, wird auch der bloße Unterstützer, der faktisch nur einen geringen Beitrag zum Suizidgeschehen leistet, ebenso wie der passiv bleibende Garant aus dogmatischen Gründen zum Täter einer Tötung hochgestuft. Daraus ergeben sich dann auch paradoxe Diskrepanzen bei der Beurteilung ein und derselben Unterstützungshandlung in Bezug auf eine Fremdtötung (Beihilfe) und eine (nicht freiverantwortliche) Selbsttötung (Täterschaft).27 Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Eberhard Schmidhäuser hat vor Jahren eine elegante Lösung vorgeschlagen, die den Vorzug hat, sich mit dem Wortlaut von § 212 StGB vereinbaren zu lassen: Der Suizident, so lautet das Argument Schmidhäusers, verwirklicht den Tatbestand des § 212 StGB, da er „einen Menschen tötet“.28 Der Suizident selbst kann allerdings nach Schmidhäusers Auffassung auch im Fall des fehlgeschlagenen Versuchs nicht bestraft werden, da er aufgrund des Erlebnisses der Sinnlosigkeit des eigenen Lebens (übergesetzlich) entschuldigt sei.29 Da die Selbsttötung nichtsdestoweniger rechtswidrig sein soll, wäre sie eine teilnahmefähige Haupttat, zu der Anstiftung und Beihilfe nach den allgemeinen Regeln möglich sind. Auf diese Weise ließen sich Abstufungen zwischen (mittelbarer) Täterschaft einer Fremdtötung, Anstiftung und Beihilfe zum Suizid schon nach geltendem Recht verwirklichen. Leider steht Schmidhäusers Ansatz jedoch unter der – hier bereits abgelehnten – Prämisse, dass jeder Mensch gegenüber der Gemeinschaft eine Pflicht zum Weiterleben habe;30 nur so kann der Autor die Rechtswidrigkeit des Suizids begründen. Denkbar wäre allerdings eine Differenzierung zwischen Fällen „echter“ mittelbarer Täterschaft einer Tötung des (nach dem äußeren Geschehen) Suizidenten und sonstigen Fällen einer Beteiligung am Suizid. Dabei ließen sich die Fälle genuiner, nicht nur konstruktiver mittelbarer Täterschaft anhand der üblichen Kriterien der Tatherrschaft durch Beherrschung eines Anderen relativ trennscharf herausarbeiten: Wer „den Suizidenten in der Hand hat“31, indem er etwa ein Kind zur Selbsttötung veranlasst oder einen Menschen durch massive Drohung zum Suizid zwingt (Willensherrschaft), kann ohne Weiteres als mittelbarer Täter angesehen und nach den 27

Klar gesehen von Merkel (Fn. 6) S. 2. Schmidhäuser, FS für Welzel, 1974, S. 801, 812. Einen ähnlichen Vorschlag de lege ferenda macht Bringewat ZStW 87 (1975), 623, 646, der allerdings nicht die Schuld, sondern (wegen stark geminderten Unrechts) die Strafwürdigkeit des Suizidenten verneinen würde. Für den Gehilfen würde Bringewat über § 28 Abs. 2 StGB Strafbarkeit nach §§ 212, 27 StGB annehmen. 29 Schmidhäuser, FS für Welzel, S. 801, 815. 30 Schmidhäuser, FS für Welzel, S. 801, 817. Dagegen schon Roxin, FS für Dreher, 1977, S. 331, 335 f.; ebenso Merkel (Fn. 6) S. 1. 31 Vgl. Lackner/Kühl, 29. Aufl. 2018, vor § 211 Rn. 13. 28

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Vorschriften über vorsätzliche Tötung bestraft werden. Damit bliebe aber die Frage ungelöst, wie die sonstigen Fälle einer Mitwirkung an einem „nicht freiverantwortlichen“ Suizid behandelt werden sollten. Solche möglicherweise strafwürdigen Fälle blieben auch dann erhalten, wenn man die Freiverantwortlichkeit entsprechend der „Exkulpationslösung“ weit verstünde – man denke etwa an das Überreden eines ersichtlich psychisch labilen und/oder depressiven Menschen zur Selbsttötung oder an das Ausnutzen eines vorhandenen Motivirrtums aus eigennützigen Zwecken. (Beispiel: O glaubt irrtümlich, er sei unheilbar an Krebs erkrankt. T weiß, dass O gesund ist; da er ihn bald beerben möchte, bestärkt er O jedoch in dessen Wunsch, den Leiden durch Suizid zuvorzukommen, und besorgt ihm ein dafür geeignetes Gift.) Mittelbare Täterschaft ließe sich in solchen Fällen nach den herkömmlichen Maßstäben allenfalls mühsam begründen; andererseits widerspräche ein Freispruch des „Hintermanns“ sicher dem Rechtsgefühl vieler Menschen. Für solche Fälle bietet die lex lata jedoch keine adäquate Strafnorm, sondern nur die Einstufung schon geringfügiger Beiträge zum „unfreien“ Suizid als Täterschaft nach §§ 211, 212 StGB. Könnte der Gesetzgeber helfen? Ausländische Rechtsordnungen bieten eine – auf den ersten Blick – einfache Lösung an: Sie inkriminieren die Anstiftung und Beihilfe zum Suizid. So ist nach § 78 des österreichischen StGB mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren zu bestrafen, wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet; dasselbe gilt nach Art. 115 des schweizerischen StGB, wenn der Täter aus selbstsüchtigen Motiven handelt; und auch nach Art. 294 des niederländischen Wetboek van strafrecht sind die Anstiftung und die Beihilfe zum (tatsächlich begangenen) Suizid mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bedroht. Der Strafrahmen der Suizidteilnahme liegt in allen drei Ländern deutlich unter demjenigen für vorsätzliche Tötung eines anderen Menschen, so dass eine angemessene Abstufung der Sanktion auch gegenüber den Fällen von Tötung in mittelbarer Täterschaft möglich ist. Der Pferdefuß dieser Regelungen ist jedoch ihre übermäßige Reichweite: Strafbar ist die Unterstützung auch – und gerade – der perfekt freiverantwortlichen Selbsttötung.32 Diese Lösung widerspricht unserer Prämisse von der rechtlichen Respektierung der grundsätzlichen Freiheit zum Suizid.33 Armin Engländer versucht diesem Problem Rechnung zu tragen, indem er eine generelle Inkriminierung der Suizidunterstützung befürwortet, aber einen Rechtfertigungsgrund für solche Fälle vorschlägt, in denen der Suizid „auf freier und reiflicher Überlegung beruht“.34 Mit einer solchen Vorschrift ließe sich – wie in den zitierten ausländischen Regelungen – die gebotene Abstufung der Strafbarkeit zwischen Täterschafts- und Teilnahmefällen schaffen, und die nicht strafwürdigen Fälle wären (dogmatisch korrekt: als gerechtfertigt) von der Strafbarkeit ausge32

Die Mitwirkung an einem unfreien Suizid wird in Österreich nicht nach § 78 ö.StGB, sondern als mittelbare Täterschaft einer Tötung bestraft, s. Fuchs/Reindl-Krauskopf, Strafrecht Besonderer Teil I, 4. Aufl. 2014, S. 18. 33 Für eine Inkriminierung der Beteiligung am Suizid aber Kubiciel, JZ 2009, 600, 608. 34 Engländer, FS für Schünemann, 2014, S. 583, 595 f.

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nommen. Allerdings scheint mir das Regel-Ausnahme-Verhältnis bei Engländers Vorschlag verkehrt zu sein: Die Mitwirkung am „freien“ Suizid sollte nicht als Ausnahmefall eingeordnet, sondern gar nicht vom Tatbestand erfasst sein. Angesichts der Geltung der Regel in dubio pro reo auch für Fragen der Rechtfertigung wäre dies freilich aus praktischer Sicht hinnehmbar – wenn die vorgeschlagene Vorschrift das Problem der Abgrenzung zwischen freiem und unfreiem Suizid zu lösen vermöchte. Dazu liefert sie allerdings nur die Formel von der „freien und reiflichen Überlegung“, bei der insbesondere das Wort „reiflich“ den von Engländer vor allem angezielten „Übereilungsschutz“ im Blick hat. Es bleibt also zunächst die oben angesprochene Problematik der Umsetzung des Begriffs der Freiverantwortlichkeit (nichts Anderes dürfte die „freie Überlegung“ bedeuten) bestehen, und das Erfordernis der „Reiflichkeit“ erschwert die Operationalisierung der Vorschrift noch mehr: Wie lange muss der Suizident seinen Todeswunsch gehegt haben, bevor ihn der Beteiligte als „reiflich“ erwogen ansehen darf? Kommt es dafür auf zusätzliche Umstände (etwa die inhaltliche Plausibilität des Sterbewunsches?) an, und gegebenenfalls auf welche?

IV. Ein Vorschlag Trotz der zutage getretenen Schwierigkeit der Aufgabe, die Problematik der Teilnahme am Suizid in eine gesetzliche Regelung zu gießen, möchte ich abschließend ein paar Gedanken dazu zusammenstellen. Zunächst scheint mir die Erkenntnis wichtig, dass es einer eigenen gesetzlichen Regelung bedarf, um die Schwächen des derzeitigen Rechtszustands zu beheben. Dabei sind als Eckpunkte festzuhalten: Erstens, die Teilnahme (Aufforderung und Unterstützung) an einem freiverantwortlichen35 Suizid verdient keine Bestrafung; einer Regelung dazu bedarf es nicht. Zweitens, die Fälle, in denen das Opfer durch Täuschung zu einer Handlung veranlasst wird, durch die es unbeabsichtigt seinen eigenen Tod herbeiführt, sind bei Vorsatz des Hintermanns nach §§ 211, 212 StGB zu bestrafen; da hier nur scheinbar ein Suizid gegeben ist, braucht auch dieser Fall nicht gesondert geregelt zu werden. Die oben benannten Fälle der Herrschaft über einen nicht zur Selbstbestimmung fähigen Suizidenten sind unstreitig – d. h. auch nach der engen „Exkulpationslösung“ – als (genuine) mittelbare Täterschaft einer vorsätzlichen Tötung zu bestrafen. Da dies nicht ganz selbstverständlich ist und es insbesondere einer Abgrenzung zu den sonstigen Fällen der Mitwirkung am Suizid bedarf, empfiehlt sich insoweit eine eigenständige gesetzliche Regelung. Sie könnte inhaltlich36 etwa lauten: 35

Hier wird der Einfachheit halber an diesem eingeführten, gleichwohl aber inhaltlich flexiblen Begriff festgehalten. 36 Die hier vorgeschlagenen Vorschriften sollen nur grobe Anhaltspunkte für den intendierten Inhalt bieten; es handelt sich nicht um technisch akkurate Gesetzesvorschläge.

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§ A: „Wer ein Kind oder eine Person, die aufgrund einer psychischen Erkrankung unfähig ist, ihren Willen zu bilden oder ihre Handlungen zu kontrollieren, dazu veranlasst, sich zu töten, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft. Ebenso wird bestraft, wer eine andere Person dadurch zur Selbsttötung veranlasst, dass er sie oder eine andere Person mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit bedroht.“

In allen in § A geregelten Fällen ist es klar, dass der Suizident nicht selbstverantwortlich handelt. Die Tatherrschaft liegt bei demjenigen, der ihn zur Selbsttötung veranlasst. Deshalb wird hier dieselbe Rechtsfolge wie in § 212 Abs. 1 StGB vorgeschlagen; denkbar wäre auch eine Rechtsfolgenverweisung auf §§ 211, 212 StGB insgesamt. Größere Schwierigkeiten bereiten die Fälle, in denen sich der Täter in weniger intensiver Weise – etwa durch bloße Unterstützung – an einem nicht freiverantwortlichen Suizid beteiligt. Hier sind zunächst mehrere rechtspolitische Weichen zu stellen. Die erste betrifft die Definition der Freiverantwortlichkeit. Da die Fälle der Beherrschung des Suizidenten durch Täuschung über den tödlichen Charakter der Handlung, wegen seiner fehlenden persönlichen Entscheidungsfähigkeit sowie durch Aufhebung der Willensfreiheit durch schwere Nötigung bereits anderweitig erfasst sind, kann es hier nur noch um die Fälle gehen, in denen die Autonomie des Suizidenten in anderer, weniger schwerwiegender Weise beeinträchtigt ist. In Betracht kommen z. B. jugendliches Alter, psychische Erkrankungen mit weniger schweren Auswirkung als nach § A, Nötigung mit einem empfindlichen Übel unterhalb der in § A genannten Schwelle sowie Motivirrtümer. Man könnte diese Fälle unter dem Begriff der „erheblichen Beeinträchtigung der Entscheidungsfreiheit“ zusammenfassen.37 Dieser Begriff würde auch Raum für andere ähnliche Fälle lassen, andererseits durch das Wort „erheblich“ solche Fallgestaltungen ausschließen, in denen – wie etwa bei einem marginalen oder idiosynkratischen Motivirrtum des Suizidenten – die Beteiligung eines Anderen an dem Suizid keiner Strafe bedarf. Ist die Freiverantwortlichkeit jedoch erheblich beeinträchtigt, so besteht durchaus Anlass, die Mitwirkung an dem Suizid bei Strafe zu verbieten, da sich in der Selbsttötung dann keine autonome Entscheidung des Suizidenten verwirklicht. Die Rechtsordnung sollte deshalb dafür sorgen, dass ihm bei seinem Vorhaben weder psychische Ermutigung noch physische Unterstützung zukommt, sondern dass ihm vielmehr Hilfe zum Weiterleben geleistet wird. Wenn man dies grundsätzlich für richtig hält, ist weiter zu erwägen, welche Arten der Teilnahme mit welchem relativen Gewicht einzuordnen sind. Am schwersten dürfte – wie ja auch in der Sanktionsdrohung des § 26 StGB zum Ausdruck kommt – das „Bestimmen“ oder „Verleiten“ des nicht freiverantwortlichen Suiziden37 Eine gewisse Parallele besteht zu dem Begriff des „ernstlichen“ Verlangens in § 216 StGB. Ich würde hier jedoch eine eigene Begriffsbildung vorziehen, um zu vermeiden, dass ohne hinreichende Überlegung die Auslegung des Begriffs der „Ernstlichkeit“ auf eine andere Fallgestaltung übertragen wird.

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ten zur Selbsttötung wiegen: Weiß der Täter, dass jemand in seiner Entscheidungsfreiheit erheblich beeinträchtigt ist, und überredet er ihn dennoch zum Suizid, so liegt darin gravierendes Unrecht. Auch das (besonders verwerfliche) Hervorrufen eines Motivirrtums bei dem Suizidenten ist eine Form des Bestimmens zur Selbsttötung und wäre von der hier zu treffenden Regelung erfasst. Wegen des größeren Maßes an verbleibender Entscheidungsfreiheit als in den unter § A aufgeführten Fällen mag man die Mindeststrafe etwas niedriger bemessen als bei der „echten“ mittelbaren Täterschaft der vorsätzlichen Tötung, aber für besonders schwerwiegende Fälle sollte das Höchstmaß der zeitigen Freiheitsstrafe zur Verfügung stehen. Angesichts der Bedeutung des Rechtsguts Leben sollte auch schon die versuchte „Anstiftung“ unter Strafe gestellt werden. Für die Figur der „Beihilfe“ zum nicht freiverantwortlichen Suizid kommt ein breites Spektrum an faktischen Situationen in Betracht, das von der Beschaffung eines anderweit nicht erhältlichen Giftstoffes bis zur bloßen verbalen Unterstützung des bereits gefassten Selbsttötungsentschlusses reicht. Man könnte erwägen, ob man Fälle wie den zuletzt genannten aus dem Bereich des Strafbaren ausnimmt; eine material überzeugende Grenze zwischen strafbedürftiger und wegen ihrer Geringfügigkeit strafrechtlich unbeachtlicher Hilfe zum Suizidvorhaben dürfte jedoch kaum zu ziehen sein, so dass man die Behandlung von Bagatell-Unterstützungshandlungen dem Ermessen der Staatsanwaltschaft im Rahmen von §§ 153, 153a StPO überlassen sollte. Schließlich stellt sich die Frage nach der Strafbarkeit eines Garanten, der den Suizid eines in seiner Entscheidungsfähigkeit erheblich eingeschränkten Menschen nicht verhindert, obwohl ihm dies möglich wäre. Auch in diesem Bereich kommen ganz unterschiedliche Fallgestaltungen in Betracht, die von höchst vorwerfbarem Verhalten (Beispiel: Der Vater eines 16jährigen Mädchens sieht untätig zu, wie sich seine Tochter wegen Liebeskummers das Leben nimmt) zu nachvollziehbarer Passivität (Beispiel: Die Ehefrau ruft keinen Notarzt, nachdem sich ihr 83jähriger leicht dementer und depressiver Ehemann nach mehreren vergeblichen Versuchen in Suizidabsicht mit Schlafmitteln vergiftet hat) reichen. Grundsätzlich wird man jeden Garanten durch eine Strafdrohung dazu anhalten müssen, bei nicht freiverantwortlichem Suizid einer Person, für die er Verantwortung trägt, helfend tätig zu werden. Das generalisiert zu bestimmende Maß des Unrechts dürfte dabei jedoch eher der aktiven Unterstützung als der mittelbaren Täterschaft entsprechen, wobei auch die Wertung des § 13 Abs. 2 StGB zu berücksichtigen ist. Diese Überlegungen könnten zu einer Regelung folgenden Inhalts führen: §B (1) „Wer eine Person, deren Entscheidungsfreiheit aufgrund ihres jugendlichen Alters, einer psychischen Erkrankung, eines Irrtums über die für den Entschluss zur Selbsttötung relevante Sachlage oder aus einem anderen Grund erheblich beeinträchtigt ist, dazu bestimmt, sich selbst zu töten, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bestraft. Der Versuch ist strafbar.

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(2) Wer einer im Sinne von Abs. 1 in ihrer Entscheidungsfreiheit erheblich eingeschränkten Person bei dem Vorhaben, sich selbst zu töten, Hilfe leistet, wird, wenn sich die Person getötet hat, mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (3) Wer rechtlich für die Erhaltung des Lebens einer anderen Person einzustehen hat, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn er es unterlässt, die Selbsttötung einer solchen Person, deren Entscheidungsfreiheit im Sinne von Abs. 1 erheblich eingeschränkt ist, abzuwenden. Die Strafe kann nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.“

Selbstverständlich bedarf dieser Vorschlag noch der eingehenden kritischen Diskussion. Schön wäre es, wenn Reinhard Merkel sich mit seiner Sachkunde und seinem rechtsethischen Engagement daran beteiligen könnte!

Verhältnismäßigkeit und Kompromisse am Beispiel des deutschen Abtreibungsgesetzes1 Von Véronique Zanetti

I. Einleitung Bekanntlich geraten individuelle Rechte, vor allem Grundrechte, gelegentlich in Konflikt mit anderen Rechten oder einem öffentlichen Gut. In solchen Fällen erwarten wir von Richtern und Politikern, die an Rechtsprechungsverfahren beteiligt sind, dass sie eine Abwägung vornehmen. Diese Abwägung soll darauf achten, dass die Vorteile durch Erfüllung des verfolgten Ziels die dabei entstehenden Verluste für die beteiligten Parteien überwiegen. Juristen sprechen mit Blick auf diesen Abwägungsprozess vom Verhältnismäßigkeitsprinzip. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip bietet ein Instrument, um herauszufinden, ob Zwangsmaßnahmen durch die staatliche Gesetzgebung gerechtfertigt sind. Im Prinzip sind sie genau dann gerechtfertigt, wenn erstens die erhofften Vorteile bezüglich des öffentlichen Guts oder konkurrierenden Rechts die Nachteile seitens des verletzten Rechtes überwiegen und wenn zweitens die Verletzung des jeweiligen Rechts als legitim angesehen wird. Ich möchte im Folgenden die These verteidigen, dass der oben genannte Abwägungsprozess in einigen Fällen dem der Kompromissfindung ähnelt. Genauer gesagt, der Kompromiss stellt einen besonderen Fall von Verhältnismäßigkeitsabwägungen dar, die in die konkrete Aushandlung eines Kompromisses eingehen. Ich habe schon angedeutet, dass Richter und Politiker, die an Rechtssprechungsverfahren beteiligt sind, abwägen müssen, ob das öffentliche Ziel, das mit dem Staatshandeln verfolgt wird, die Auswirkungen auf die Rechte von Individuen übertrumpft. Hierbei treten unweigerlich Konflikte zwischen verschiedenen Rechten auf, wie auch solche zwischen individuellen Rechten und öffentlichen Gütern. Konfligierende Rechte miteinander zu versöhnen, gehört zum klassischen Arbeitsbereich der Legislative. Allerdings sind in einigen Fällen Kompromisse unausweichlich, nämlich immer dort, wo die Rechte beider Seiten nicht miteinander zu versöhnen sind und/oder die Erfordernisse des Verhältnismäßigkeitskalküls nicht gänzlich erfüllt werden können.

1 Dieser Text übernimmt Teile einer englischen Fassung, die im Journal of Moral Philosophy Ende 2019 erscheinen soll. Der vorliegende Text unterscheidet sich allerdings insgesamt wesentlich von dieser Version. Ich danke Valerij Zisman für seine wertvolle Hilfe bei der deutschen Übersetzung.

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Rechtsexperten, insbesondere Verfassungsrechtler, setzen darauf, dass das Prüfungsverfahren zu einer Lösung führen wird, die mit den Grundrechten verträglich ist und mit der beide Parteien zufrieden sind.2 Das Vertrauen in dieses Verfahren erscheint allerdings überstürzt. Besonders wenn moralische Werte und Normen auf dem Spiel stehen, kann es zwar vorkommen, dass die Rechtsexperten sich auf einen gemeinsamen Nenner einigen können, dass dieser aber den Wertvorstellungen nicht entspricht, an denen sie weiterhin festhalten. Die aufkommende Diskrepanz, die sich daraus ergibt, dass man sich in einigen Fällen für einen gemeinsamen Nenner X entscheidet, obgleich man vom Wert Y überzeugt ist, ist das wesentliche Merkmal des Kompromisses. Kompromisse treten tatsächlich an die Stelle einer optimalen Lösung, die sich unter gegebenen Verhältnissen nicht durchsetzen ließ. Sie zeichnen sich demnach durch einen Verlust aus: man möchte ein Ziel erreichen, von dem man denkt, es wäre wünschenswert, gibt sich jedoch mit weniger zufrieden, als mit dem, was man für richtig oder berechtigt hält. Zum Wesen des Kompromisses gehört allerdings, dass jeder Beteiligte bei seinen Präferenzen und den Grundsätzen bleibt, die er verteidigt. Die Verhältnismäßigkeitsabwägung führt in drei Arten von Fällen zu Kompromissen. (1) In den Fällen, in denen die nach reiflicher Abwägung erreichte Lösung gemäß den eigenen Prinzipien eine zweitbeste Lösung darstellt, die aber unter den vorherrschenden Umständen als bestmögliche angesehen wird. Hierbei wird von den entscheidenden Autoritäten erwartet, dass sie eine Rechtsprechung unterstützen, die sie für unangemessen halten würden, wenn den Forderungen beider Parteien bei Unterstellung ihrer Legitimität nachgekommen werden könnte. (2) In den Fällen, in denen versucht wird, Elemente aus zwei verschiedenen moralischen Theorien, wie der deontologischen und der utilitaristischen, miteinander zu verbinden, um dabei die Mängel der jeweiligen Theorie abzuschwächen. (3) In den Fällen, in denen es nach Austausch von Argumenten zu einem vernünftigen Dissens kommt. Uneinigkeit bezüglich Recht und Gerechtigkeit ist Kernbestandteil sowohl der Normenkontrolle als auch der Gesetzgebung – daher bedarf es einer Methode, um Lösungen für solche Uneinigkeiten zu finden. Hier ist ein Abstimmungsverfahren die klassische Methode, die zudem als Paradigma eines fairen demokratischen Verfahrens gilt. Sie wird deswegen als faire demokratische Prozedur angesehen, weil sie das Prinzip politischer Gleichheit respektiert. Bei Mehrheitsentscheidungen gibt es allerdings nur einen Gewinner. Wenn es um moralische Themen geht, muss die Minderheit eine Wahl akzeptieren, die sie als unmoralisch oder vom geringeren moralischen Wert ansieht. Kompro2

Ein Beispiel aus Deutschland liefert Gertrude Lübbe-Wolffs Analyse der kulturellen Unterschiede zwischen der deutschen und der angelsächsischen Tradition innerhalb des Verfassungsgerichts (Lübbe-Wolff war selbst Richterin des Bundesverfassungsgerichts). Gertrude Lübbe-Wolff, „Cultures of Deliberation in Constitutional Courts“, in: P. Maraniello (Hrsg.), Justicia Constitucional, 1 (Resistencia, Chaco: ConTexto, 2016), S. 37 – 52.

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misslösungen funktionieren ähnlich, da man sich auch hier auf eine Lösung einigt, die man eigentlich als moralisch falsch ansieht, die sich aber unter den gegebenen Umständen als die relativ beste darstellt. Verglichen mit Mehrheitsentscheiden sind Kompromisse allerdings fairer, da sie von beiden Parteien verlangen, Teile ihrer Forderungen zurückzustellen. Kompromisse resultieren aus wechselseitigem Geben und Nehmen und können daher eine Mittelposition anbieten, der beide Parteien etwas abgewinnen können. Im Folgenden möchte ich auf diese drei Fälle näher eingehen. Zuvor werde ich das Verhältnismäßigkeitsprinzip etwas näher beleuchten. Ich werde dann untersuchen, ob das Abwägungsverfahren gemäß des Verhältnismäßigkeitsprinzips mit dem Verfahren der Kompromissfindung verglichen werden kann. In einem nächsten Schritt werde ich untersuchen, ob das Verhältnismäßigkeitsprinzip selbst ein Kompromiss zwischen zwei ethischen Grundeinstellungen ist. Zuletzt werde ich mich der intersubjektiven Kompromissfindung innerhalb von Verfassungsgerichten zuwenden. Wenn sich Richter und Politiker uneinig darüber sind, auf welche Weise konfligierende Rechte gegeneinander aufgewogen werden können, könnten sie einen Kompromiss anstreben, der das auf beiden Seiten der auseinanderstrebenden Interessen Wesentliche zu wahren versucht. Bleibt es allerdings bei der Uneinigkeit, wird typischerweise eine Entscheidung durch Mehrheitsvotum getroffen. Hier werde ich die Frage stellen, ob das, was Dworkin interne Kompromisse („internal compromises“) nennt – er meint solche Kompromisse, bei denen sich die Parteien auf halbem Wege treffen –, selbst bei moralischen Fragen nicht eine Alternative zum Mehrheitsvotum bieten kann, welches letztlich nur das Interesse einer Partei durchsetzt.

II. Verhältnismäßigkeit als eine Art von Kompromiss Wir kennen das Verhältnismäßigkeitsprinzip aus der Ethik3 und der Theorie des gerechten Krieges. Im Recht wird es angewandt, wenn Rechte, besonders Grund-

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Es ist allerdings unklar, ob das Verhältnismäßigkeitsprinzip in Ethik und Recht gleich verstanden wird. In der Ethik ist es vor allem in der katholischen Theologie ein sehr einflussreiches moralisches Prinzip, welches ausschließlich das Prinzip der Doppelwirkung betrifft. Das Prinzip der Doppelwirkung betrifft Handlungen, bei denen mehr als eine moralisch relevante Konsequenz aus einer Handlung folgt, d. h. sowohl moralisch erwünschte als auch nicht-intendierte, moralisch problematische Folgen. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip führt eine konsequentialistische Logik in das deontologische katholische Moraldenken ein, da es die Richtigkeit einer moralischen Handlung überprüft, und zwar „by reference to the proportion of non-moral goods and evils caused by the act. If the non-moral good is in due proportion or relationship with the non-moral evil, then the act is justified, even if the non-moral evil is the causal means for achieving the non-moral good.“ Christopher Kaczor, ,Introduction‘, in: Kaczor (Hrsg.), Proportionalism. For and Against (Milwaukee: Marquette University Press, 2000, S. 9 – 19, S. 9 – 10). Im Fall der Moral betrifft das Prinzip die intendierten und nichtintendierten Folgen einer Handlung, während das Prinzip im Recht zum Einsatz kommt, um die Einschränkung fundamentaler Rechte, oder aber auch die Einschränkung öffentlicher In-

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rechte, zugunsten anderer damit konfligierender Rechte oder öffentlicher Güter eingeschränkt werden. Wie bereits angesprochen, dient das Verhältnismäßigkeitsprinzip dazu, herauszufinden, ob die Einschränkung der Grundrechte gerechtfertigt ist. Während das Verhältnismäßigkeitsprinzip eine lange Tradition im internationalen Recht hat, wurde es erst kürzlich im Bereich des öffentlichen Rechts und Strafrechts angewandt. In Deutschland hat das Verfassungsgericht erst 1963 die Anwendung des Prinzips in allen Fällen anerkannt, in denen grundlegende Freiheiten eingeschränkt werden.4 Im Kern geht es bei dem Prinzip um die Lösung eines Konfliktes zwischen verschiedenen Rechten oder Interessen.5 Folgende Kriterien müssen für die Rechtfertigung in Betracht gezogen werden: (1) der Eingriff ins Recht muss damit ein legitimes Ziel verfolgen;6 (2) die Mittel zum Erreichen des Ziels müssen notwendig sein, d. h. es darf keine Recht schonenderen Alternativmittel zur Erreichung des Ziels geben; (3) in einem dritten Schritt benötigt die Abwägung „a balancing between the fundamental rights interests and the good in whose interest the right is limited“.7 Die Einschränkung der Rechte soll ,angemessen‘ und ,zumutbar‘ sein.8 Ein Gesetz ist „unangemessen“, wenn es die fundamentalen Rechte von Personen zu stark einschränkt oder zu wenig aufbietet, um diese zu schützen. Es ist ,unzumutbar‘, wenn man nicht davon ausgehen kann, dass die betroffene Person diese Einschränkung akzeptieren könnte. Ich komme auf diese letzte Qualifikation gleich zurück. Die Entscheidung, ob ein Gesetz die Richtlinien erfüllt, ist dem Verfassungsgericht überlassen. Die Verhältnismäßigkeitsabwägung hat zwei Herausforderungen zu parieren. Die erste ist, dass Richter und Politiker, die am Entscheidungsprozess beteiligt sind, es meistens mit Gütern, Werten oder Optionen zu tun haben, die nicht quantifizierbar sind. Gerade wenn man es im Bereich des öffentlichen Rechts mit solchen nichtquantifizierbaren Werten zu tun hat, wird die Rechtfertigung für die Einschränkung von Rechten dadurch erschwert, dass sich die Gewinne und Verluste der streitenden teressen, gegeneinander abzuwägen. Zukünftige Forschung sollte die Parallelen und Unterschiede zwischen der ethischen und juristischen Perspektive weiter beleuchten. 4 Siehe Dieter Grimm, „Proportionality in Canadian and German Constitutional Jurisprudence“, University of Toronto Law Journal 57 (2007), S. 383 – 398, S. 385. 5 Siehe Kai Möller, „Proportionality: Challenging the Critics“, International Journal of Constitutional Law 10 (2012), S. 709 – 731, S. 711. 6 Für das deutsche Verfassungsgericht ist ein Ziel genau dann gerechtfertigt, wenn es nicht von der Verfassung verboten wird. Die Vereinbarkeit mit der Verfassung ist die Grundbedingung für die Erfüllung der Verhältnismäßigkeitsabwägung. Siehe Grimm, „Proportionality in Canadian and German Constitutional Jurisprudence“, S. 388 ff. 7 Grimm: „Proportionality in Canadian and German Constitutional Jurisprudence“, S. 387 ff. Siehe auch Gertrude Lübbe-Wolff: „The Principle of Proportionality in the CaseLaw of the German Federal Constitutional Court“, Human Rights Law Journal, 34/1 – 6 (2014), S. 12 – 17. 8 Diese Unterscheidung wird von Gertrude Lübbe-Wolff als Übersetzung von „adequate“ vorgeschlagen: „the person in question may reasonably be expected to bear it [the prejudice]“. Ebd., S. 13.

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Parteien nicht gegeneinander aufrechnen lassen. Als Beispiel hierfür kann man die viel diskutierte Entscheidung über illegale Immigration betrachten. Die Europäische Menschenrechts-Konvention garantiert ein Recht auf Respekt für Privat- und Familienleben.9 Wenn Richter darüber entscheiden, ob ein Immigrant und dessen Familie abgeschoben werden dürfen, müssen sie einschätzen, ob die Folgen der Abschiebung für die Familie das öffentliche Ziel, welches mit der Abschiebung generell verfolgt wird, überwiegen. Dann aber stellt sich das Problem, dass Richter kein Werkzeug zur Hand haben, die Gewinne und Verluste auf beiden Seiten der Interessensträger zu quantifizieren. Ähnlich kommt es auch bei Kompromissen darauf an, dass Güter austauschbar sind und dass zwischen verschiedenen Objekten Ausgleiche möglich sind. Wenn wir nach der Fairness von Kompromissen fragen, denken wir gewöhnlich darüber nach, ob die beiderseits eingegangenen Zugeständnisse äquivalent sind. Sollte einer mehr als der andere geben, so halten wir den Kompromiss für unfair. Um überhaupt von fairen Kompromissen sprechen zu können, ist es daher notwendig, die relevanten Alternativen irgendwie miteinander vergleichen zu können. Das ist enthalten in der Formulierung „sich auf halbem Wege – oder in der Mitte – treffen“ („splitting the difference“)10. Kompromisse gelten in diesem Sinne als fair, wenn die gewählte Alternative zwar nicht dem Ideal beider Parteien entspricht, aber doch beide Parteien zu gleich gewichtigen Abstrichen vom Ideal verpflichtet. Nimmt man an, dass Güter wie Rechte generell nicht gegeneinander abzuwägen sind, wird die Idee der Proportionalität und des fairen Kompromisses fast unmöglich.11 Ich betone „fast“, da Inkommensurabilität nicht notwendigerweise alle Formen der Kompensation oder des Kompromisses ausschließt. Selbst wenn keine Summe Geld den Verlust für den ausgewiesenen Immigranten und dessen Familie kompensieren kann, nach vielen Jahren das Land verlassen zu müssen, so kann der Immigrant es dennoch vorziehen, nicht mit leeren Händen auszugehen und eine Kompensation zu akzeptieren. Dadurch erhält allerdings das Lösungsangebot eine pragmatische Dimension; man einigt sich auf eine Lösung, von der man ausgeht, dass sie zumutbar ist.

9 European Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, 4 November 1950, ETS 5, („European Convention“), Article 8. Zitiert nach: Timothy Endicott, „Proportionality and Incommensurability“, University of Oxford Legal Research Paper Series, 40/2012 (2013). Elektronische Kopie heruntergeladen im Februar 2017: http://ssrn.com/ab stract=2086622. 10 Martin Benjamin, Splitting the Difference, Compromise and Integrity in Ethics and Politics, Kansas 1990. 11 Siehe Elisabeth Anderson, „Practical Reason and Incommensurable Goods“, in: R. Chang (Hrsg.), Incommensurability, Incomparability, and Practical Reason (Cambridge, London: CUP 1997), S. 90 – 109). Außerdem Steven Lukes, „Comparing the Incomparable“, in: Chang (Hrsg.), Incommensurability, Incomparability, and Practical, S. 184 – 195, S. 194. Lukes schlägt vor, dass wir die Werte, die wir als ,heilig‘ ansehen, dadurch schützen, dass wir sie als inkommensurabel betrachten. Siehe auch Avishai Margalit, On Compromise and Rotten Compromises (Princeton, Oxford: Princeton University Press, 2010), S. 24 ff.

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Die zweite Herausforderung besteht darin, dass in einigen Fällen der betroffenen Person keine Kompensation für die Verluste und/oder keine Rechtfertigung für die Einschränkung ihrer Rechte angeboten werden kann (z. B., weil die Person gestorben ist). Diese Schwierigkeit hat Reinhard Merkel im Kontext der Theorie des gerechten Kriegs, des Luftsicherheitsgesetzes und der Gesetzgebung zum „embryonic research on human embryos“ analysiert.12 All diese Fälle haben gemein, dass es seitens des Rechts einer Rechtfertigung für die radikale Einschränkung von Grundrechten bedarf, die nicht gegeben werden kann, da die Einschränkung des Rechts den Tod der betroffenen Person bedeutet. Ein Paradebeispiel für das Verhältnismäßigkeitsprinzip und dessen Probleme ist die Rechtfertigung der Tötung Unschuldiger in der Theorie des gerechten Krieges. Ein Kernbestandteil der Theorie des gerechten Krieges (und der Genfer Konvention) ist das Diskriminierungsprinzip, welches die gezielte Tötung von Zivilisten im Krieg verbietet. Da dieses Prinzip allerdings nicht vor dem unabsichtlichen Töten von Zivilisten während des Gefechts schützt, muss es durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip erweitert werden. Dieses soll herausfinden helfen, ob die erhofften Vorteile bezüglich des angestrebten Ziels die Nachteile seitens des verletzten Rechtes überwiegen, vorausgesetzt, die Handlung ist legitim und die Rechtsverletzung steht in angemessenem Verhältnis zum Ziel. Militärische Gefechte mit Zivilisten unter den Getöteten können mithin rechtens sein, wenn diese mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip konform gehen. Und genau hier kommt das oben genannte Problem ins Spiel. Für die Erfüllung des Prinzips müsste gegenüber der betroffenen Partei gerechtfertigt werden, dass die Einschränkung ihrer Rechte angemessen ist. Sie ist aber nur dann angemessen, wenn die Einschränkung für alle akzeptierbar wäre, allen voran für die Betroffenen. Das Problem ist allerdings, dass, „[w]as immer aus einem tödlichen Eingriff als Vorteil erwachsen mag, […] sich trivialerweise nur zugunsten der Überlebenden ergeben [kann]. Deshalb taugt es dem Getöteten gegenu¨ ber a limine nicht zur Rechtfertigung. Denn er hat nichts davon.“13 Aus demselben Grund ist auch die Kompensation für den zugefügten Schaden nicht möglich, denn der getöteten Person gegenüber kann keine Kompensation geleistet werden. Man könnte aus diesen begrifflichen Schwierigkeiten schließen, dass Angriffe mit möglicher Gefährdung von Zivilisten gar nicht gerechtfertigt wer12 Reinhard Merkel, „Die ,kollaterale‘ Tötung von Zivilisten im Krieg. Rechtsethische Grundlagen und Grenzen einer prekären Erlaubnis des humanitären Völkerrechts“, in: Juristen Zeitung, 23 (67), 2012, 1137 – 1145; ders., 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten? Über taugliche und untaugliche „Prinzipien zur Lösung eines Grundproblems des Rechts“, in: Juristen Zeitung 8/62, 2007, 373 – 424; ders., Forschungsobjekt Embryo. Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen. (München: dtv, 2002). Siehe auch Reinhard Merkel, „Rechte für Embryonen“, in: C. Geyer (Hrsg.), Biopolitik. Die Positionen (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2001), S. 51 – 72. 13 Reinhard Merkel, „Die ,kollaterale‘ Tötung von Zivilisten im Krieg“, S. 1139.

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den können. Dennoch erkennt das Recht solche Handlungen auf Grundlage der Verhältnismäßigkeitsabwägung als zulässig an. Der eigentliche Grund hierfür ist, dass, wenn man die Probleme der Verhältnismäßigkeitsabwägung in solchen Fällen nicht anerkennen würde, jeder Fall von unabsichtlicher Tötung im Krieg als ungerechtfertigt angesehen werden müsste. Das würde dazu führen, dass weder die Selbstverteidigung im Krieg noch humanitäre Interventionen gerechtfertigt werden können. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip in solchen Fällen dennoch anzuwenden, so meine These, stellt eine Kompromisslösung dar. Auf theoretischer Ebene kann das Recht auf Leben nicht berechtigterweise eingeschränkt werden. Da allerdings bei den derzeit ausdenkbaren Kriegsszenarien das Töten Unschuldiger unvermeidbar ist, würde ein Verbot dazu führen, dass jegliche Art des Krieges verboten werden müsste. Um den Schaden dort einzuschränken, wo er unvermeidbar ist, bietet die Suche nach einer Rechtfertigung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips eine zweitbeste Lösung. Nichtsdestoweniger kann der Schaden den Opfern guten Gewissen nicht als ,akzeptabel‘ oder ,angemessen‘ verkauft werden. Das Töten bleibt ohne Rechtfertigung; es wird, wenn überhaupt, bloß entschuldigt. Ich nenne diese Lösung eine Kompromisslösung, weil sie nicht diejenige ist, die man für richtig hält. Man hält die Einschränkung der Rechte der betroffenen Person sogar für falsch, unter den gegebenen Umständen jedoch für unausweichlich und angemessen. An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht selbst eine Kompromisslösung ist – und zwar in dem Sinne, dass es versucht, zwei entgegengesetzte ethische Doktrinen miteinander zu versöhnen, ohne dass deren Grundelemente verloren gehen. Der Kompromiss verbände demnach die deontologische Perspektive, wonach Rechte von besonderer Bedeutung sind und ein schweres ,Gewicht‘ bei ethischen Abwägungen tragen sollten, mit der utilitaristischen Perspektive, dass dieses Gewicht in manchen Fällen von den Konsequenzen der relevanten Handlungen übertrumpft wird.

III. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Kompromiss Das Problem, das ich unter die Lupe nehmen will, kann so zugespitzt werden: Wenn wir abschätzen wollen, ob die Kosten einer bestimmten Handlung den Zielen der Handlung gegenüber angemessen sind, dann obliegt die Verhältnismäßigkeitsabwägung einem konsequentialistischen Kosten-Nutzen-Kalkül. Der Metapher des Abwägens von angemessenen Kosten liegt die konsequentialistische Perspektive einer Nutzenmaximierung zugrunde. Auf der anderen Seite werden Verfassungsrechte in der deontologischen Begründung als eine Art von ’Mauern’ interpretiert, die den Einzelnen vor zwingenden Auswirkungen staatlicher Eingriffe schützen. Sie bieten Gründe für die Ablehnung der Berufung auf Effizienz, wenn die Nutzenmaximierung von öffentlichen Interessen mit Grundrechten konfligiert. Diese Perspektive kann man besonders am Deutschen Grundgesetz illustrieren. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ lautet der erste Satz in Artikel I der deut-

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schen Verfassung. Gemäß dem Artikel fußen alle Grundrechte auf dem Prinzip und durchdringen daher die ganze gesetzliche Ordnung: „[T]hey are not limited to vertical application but also influence private law relations and function as guidelines for the interpretation of ordinary law“.14 Ungeachtet der Schwierigkeit, ein angemessenes Gleichgewicht zu finden, wenn Recht oder öffentliche Ordnung bei wesentlichen Entscheidungen auf unvergleichliche Werte stößt, besteht das schwerwiegende Problem darin, dass die Logik der Verhältnismäßigkeit die Grundrechte gegen Nützlichkeitsüberlegungen abwägt und entsprechend einschränkt, solange diese in angemessener Relation zu dem verfolgten Ziel stehen. Nüchtern betrachtet gelten Grundrechte allerdings nie absolut. Nur sehr wenige Rechte sollen eine kategorische Garantie bieten. Ein Beispiel für solch ein tatsächlich kategorisch gemeintes Recht ist das Folterverbot aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, die unter keinen Umständen Ausnahmen zulässt. Im Regelfall basieren Rechte jedoch auf gewichtigen Gründen, die in einigen Fällen von anderen Gründen überwogen werden können. So kommt es unweigerlich zu Konflikten zwischen Rechten und öffentlichen Gütern, wenn Richter beim Versuch, angesichts begrenzter Ressourcen unterschiedliche Pflichten gegeneinander abzuwägen, Abzüge auf der einen oder anderen Seite machen müssen. Wenn diese Verfahren nicht willkürlich sein sollen, bedarf es einer verhältnismäßigen Abwägung. Das deutsche Abtreibungsgesetz bietet ein gutes Beispiel für das Problem, das ich vor Augen habe. Das Gesetz ist gespalten zwischen dem kantisch inspirierten Verständnis der Menschenwürde an erster Stelle des Grundgesetzes,15 und dem politischen Gebot, die Autonomie derer zu respektieren, die eine Schwangerschaft abbrechen wollen. Der Abwägungsprozess ist nichts anderes als ein Versuch, dort eine akzeptable Lösung zu finden, wo weder ein Konsens noch eine gemeinsame Basis gefunden werden können und wo außerdem der Partei keine Kompensation erstattet werden kann, deren Recht eingeschränkt wird. Das Ergebnis ist dann eine Kompromisslösung. In Kürze: In Deutschland gilt, dass ein Schwangerschaftsabbruch gemäß § 218 Strafgesetzbuch (StGB) grundsätzlich für alle Beteiligten strafbar ist. Ein Schwangerschaftsabbruch ist nicht strafbar, wenn er nach einer Beratung durch eine anerkannte Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle von einem Arzt oder einer Ärztin vorgenommen wird und seit der Empfängnis nicht mehr als 12 Wochen verstrichen sind.16 14 Dieter Grimm, „Proportionality in Canadian and German Constitutional Jurisprudence“, S. 387. 15 Siehe hierfür Horst Dreiers Kommentar zum Art. 1. In: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, B. I, Tübingen: Mohr Siebeck, 2007, S. 130 ff. 16 Straflos bleibt der Schwangerschaftsabbruch außerdem auch, wenn eine medizinische oder kriminologische Indikation vorliegt: Wenn für die Schwangere Lebensgefahr besteht

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Das Gesetz ist ein Kompromissgesetz: Die Fristenlösung bietet einen Kompromiss hinsichtlich der Bedingungen, unter denen Abtreibung zu ahnden ist: Der Embryo kann bis zur 12. Woche, aber nicht später, zerstört werden. Der Kompromiss findet aber auf einer weiteren Ebene statt: Eine liberal eingestellte Person, die glaubt, dass Abtreibungen private Angelegenheiten sind und nur von der betroffenen Frau und/oder den betroffenen Eltern entschieden werden sollten, muss hier mit der Zeitbeschränkung Zugeständnisse machen. Aber auch eine konservativ eingestellte Person, die Abtreibungen kategorisch ablehnt, ist zu Zugeständnissen gezwungen (gehen wir einfachheitshalber von diesen zwei entgegengesetzten normativen Positionen aus: Pro-life und radikaler Liberalismus). Für die konservative Person sind die Zugeständnisse zwar größer, denn aus ihrer Sicht geht es um das Recht auf Leben und nicht bloß um das Recht auf Autonomie. Dennoch sollte auch sie diese Kompromisslösung aus konsequentialistischer Sicht vorziehen. Tatsächlich würde ein radikales Verbot in Deutschland aller Wahrscheinlichkeit nach dazu führen, dass Frauen eine Abtreibung im Ausland vornehmen lassen würden, und dies womöglich sogar unter schlechteren hygienischen und medizinischen Bedingungen als im eigenen Land. Die von vielen als ,dritter Weg‘ gepriesene Fristenlösung wurde jedoch von anderen als rechtlich inkonsistent verurteilt.17 Der Kern des Problems liegt in der Auslegung der Erweiterung von Artikel 1 § 1 (Menschenwürde) und Artikel 2 § 2 (Grundrecht auf Leben) der Verfassung. Wenn dem ungeborenen Kind die gleichen Grundrechte auf Leben und Würde zugestanden werden wie dem geborenen Kind, dann muss Artikel 218a für verfassungswidrig erklärt werden.18 Das Verfassungsgericht hat zweimal Stellung bezogen. In der Interpretation von 1975 wird ausdrücklich darauf hingewiesen: „Das Leben, das sich im Schoß der Mutter entwickelt, ist ein unabhängiger Rechtswert, der den Schutz der Verfassung genießt.“ Die Entscheidung von 1993 bestätigt: „Das Grundgesetz verlangt vom Staat den Schutz des menschlichen Lebens, auch des Ungeborenen. Selbst das ungeborene menschliche Leben genießt die Würde des Menschen.“ Beide Urteile unterstreichen nicht nur die Würde des Embryos, sondern betonen auch die positive Pflicht des Staats auf Schutz von ungeborenem Leben. Der Rechtsschutz gilt für die gesamte Zeit der Schwangerschaft, und zwar gegenüber allen, einschließlich der Mutter. Gleichzeitig jedoch garantiert die Rechtsprechung Frauen, die abtreiben wollen, eine „hinreichende Unterstützung“ und die Bereitstellung ausreichender klinischer Einrichtungen, um die Abtreibung unter medizinischer Aufsicht durchführen zu lassen.19 Bedenkt oder wenn die Schwangerschaft auf einem Sexualdelikt, also zum Beispiel einer Vergewaltigung, beruht (Indikationen nach § 218a Abs. 2 und 3 StGB). 17 Siehe Reinhard Merkel, Forschungsobjekt Embryo. Siehe auch Merkel, „Rechte für Embryonen“. 18 Siehe Reinhard Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 65 ff. 19 „Ein ausreichendes und flächendeckendes Angebot sowohl ambulanter als auch stationärer Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen sicherzustellen“. BVerfGe 88, 328 f. Siehe auch Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 65 – 66.

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man, dass die ausdrückliche und offizielle Beihilfe zur rechtswidrigen Tat selbst rechtswidrig ist, führt das zu dem Widerspruch, dass der Staat von Rechts wegen zum Unrecht verpflichtet ist.20 Trotzdem ist es schwer zu bestreiten, dass die Kompromisslösung einen annehmbaren, pragmatischen Ausweg aus einem ansonsten unlösbaren Konflikt weist. Fassen wir zusammen. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip selbst ist ein Kompromiss, da es Elemente aus sowohl der deontologischen als auch der teleologischen Ethik zusammenbringt, um dabei die Auswirkungen auf die jeweiligen Standpunkte zu lindern. Richter und am Entscheidungsprozess beteiligte Politiker müssen versuchen, diese beiden Perspektiven miteinander zu versöhnen, in dem Wissen, dass es keine gemeinsame Basis gibt, an der die Abwägung ihr Maß findet. „Any legislation“, schreibt Griffin, „is bound to be a messy compromise with human nature and social needs. But it is not that behind the legislator’s messy deliberation there is the moralist’s purer thought. The two deliberations will be virtually identical: the same problems, the same compromises, the same vagueness and incompleteness“.21 Kompromisse sind ,unsauber‘ (,messy‘), da es kein übergeordnetes moralisches Prinzip gibt, welches die Entscheidung in einem konkreten und in allen ähnlichen Fällen leiten kann. Wir halten uns beispielsweise bei Notwehr oder im Kriegsfall nur so lange an die Norm, keine Unschuldigen zu töten, bis wir eine zufriedenstellende Rechtfertigung finden, die eine Ausnahme erlaubt.22 Allerdings ist es in den meisten Fällen nicht eindeutig, ob ein Recht im Falle eines Konfliktes eingeschränkt werden darf. Wir müssen Kompromisse akzeptieren, da sich der Abwägungsprozess nur langsam an eine Einigung zwischen den beiden Rechtfertigungslogiken herantasten kann, indem er versucht, Elemente aus beiden miteinander zu verbinden und gleichzeitig die Auswirkungen auf beide Theorien zu mindern. Man könnte einwenden, dass, obgleich Richter sich bei ihrer Entscheidungsfindung des Verhältnismäßigkeitsprinzips bedienen, diese doch keinen Prozess der Kompromissfindung darstellt. Und zwar deswegen nicht, weil Richter nicht darum bemüht sind, die Parteien auf halbem Wege sich treffen zu lassen. Sie müssen vielmehr feststellen, was der besser legitimierte von zwei im Konflikt stehenden Ansprüchen ist, und werden bei dieser Entscheidung von Gerechtigkeitsüberlegungen geleitet, die sich gleichermaßen aufs Bürgerliche Gesetzbuch wie auf die Verfassung stützen. Bei der Rechtsprechung geht es um die Feststellung, was jeder Partei nach dem Gesetz zukommt. Kompromisse hingegen sind ergebnisoffene Prozesse, die von den jeweiligen Verhandlungsstärken und -positionen abhängen. Hierbei ist es auch möglich, dass das aus den Verhandlungen hervorgehende Ergebnis unannehmbar ist, 20 „Damit ist der selbstdestruktive Grundwiderspruch der Entscheidung fixiert: Eine Rechtspflicht zum Unrecht ist normenlogisch unmöglich.“ Merkel, Forschungsobjekt Embryo, S. 72. 21 James Griffin, „Incommensurability. What’s the Problem?“, in: Chang (Hrsg.), Incommensurability, Incomparability, and Practical Reason, S. 35 – 51, S. 50. 22 James Griffin, „Incommensurability. What’s the Problem?“, S. 50.

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indem es etwa aus einer unzulässigen Rechtsauslegung hervorgeht oder der Verfassung widerspricht. Dies bringt mich zu meinem dritten Punkt. Wir sollten nicht unterschätzen, dass Meinungsverschiedenheiten für das Recht wie auch für die Politik grundlegend sind. Bereits auf der fundamentalsten Ebene, nämlich bei der Frage, was Rechte sind, welche Rechte wir haben, und auf welcher Grundlage sie stehen, gibt es Meinungsverschiedenheiten. Und selbst wenn es einen groben Konsens über einige Grundrechte gibt, streiten sich Philosophen und Rechtswissenschaftler darüber, was aus diesen Grundrechten für die konkrete Anwendung folgt.23 Natürlich ist die Rechtsprechung – anders als unglücklicherweise oftmals die Politik – kein Unternehmen, „in which each person tries to plant the flag of his convictions over as large a domain of power or rules as possible“.24 Vielmehr geht es ihr um die Abwägung von Gründen zur Entscheidung über private oder öffentliche Handlungsvorschläge; und die soll das Streben der Gemeinschaft nach Gerechtigkeit widerspiegeln. Dazu kommt öfters, dass Richter in ihrer Auslegung von Recht und Verfassung nicht übereinstimmen. Hier kann das Ergebnis ihrer Abwägung dem Kompromiss ähneln, bei welchem man eine Handlungsoption akzeptiert, die nur als zweitbeste Lösung angesehen wird. Somit entdecken wir eine dritte Art und Weise, in der der Abwägungsprozess zwischen konkurrierenden Interessen und Rechten der Kompromissfindung ähnelt.

IV. Kompromisse zwischen Richtern Üblicherweise wird ein Kompromiss als Konfliktlösung einer Verhandlung zwischen verschiedenen Parteien mit unterschiedlich starker Verhandlungsposition verstanden, die sich bereit erklären, weniger zu erreichen als die eigentlich angestrebten Ziele. Sie sind bereit dazu, da es keine andere Lösung des Konflikts gibt und da ein weiterführender Streit zwischen den Parteien womöglich zu noch schwerer annehmbaren Konsequenzen führen würde, als es die Verluste durch Abstriche an eigenen Interessen sind. Ein Kompromiss ist also dann erreicht, wenn beide Parteien trotz ihres Bemühens, bloß die eigenen Interessen durchzusetzen, sich auf eine Ad-hocLösung einigen, die nicht genau diesen Interessen entspricht. Ein Kompromiss setzt daher also immer voraus, dass die Parteien bereit sind, Teile ihrer Interessen zurückzustellen, selbst da, wo die Zugeständnisse zwischen den Parteien ungleich verteilt sind. Dennoch ändert keine der Parteien ihre ursprünglichen und eigentlichen Überzeugungen; und die Kompromisslösung besteht als solche nur so lange, wie die Gegenpartei an ihrer Option festhält, sie aber nicht völlig durchsetzt. Manchmal fungieren Richter als „compromiser trimmers“, wie Cass Sunstein argumentiert. Dies ist besonders bei Gerichtshöfen mit mehreren Richtern der Fall, wo 23 24

Siehe Jeremy Waldron, Law and Disagreement (Oxford: OUP, 1999), S. 11 – 12. Ronald Dworkin, Law’s Empire (Cambridge MA: Harvard UP, 1986), S. 211.

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moralische Überzeugungen bezüglich wichtiger Themen radikal auseinanderfallen können. Cass Sunstein weist darauf hin, dass das Wort ,trimming‘ aus der Praxis der ,Trimmer‘ aus dem siebzehnten Jahrhundert stammt, die dazu neigten, die Extreme abzulehnen und in heftigen sozialen Kontroversen Ideen von beiden Seiten aufzunehmen. Sunstein unterscheidet zwei Typen von Trimmern: einerseits die ,compromisers‘, die im Glauben, dass die mittlere Position die beste ist, versuchen, beiden Seiten etwas zu geben, andererseits die ,preservers‘. Diese versuchen, das Wesentlichste und Wertvollste in den konkurrierenden Ansichten zu identifizieren und zu bewahren.25 Von beiden Typen kann man sagen, dass sie um faire Kompromisse bemüht sind, da sie sich zwischen den entgegengesetzten Polen bewegen und dabei jeder Partei ihren angemessen Anteil zusprechen. In Fällen von Unsicherheit kann es sogar klug sein, Extreme zu meiden: „A judge who is unsure might choose the average position, on the ground that it is most likely to be right.“26 In allen Fällen von ,trimming‘ sind Richter auf der Suche nach einem Kompromiss. Man kann zwar einwenden, dass Richter sich nicht strategisch verhalten, sondern ausschließlich um die beste Interpretation der Verfassung bemüht sind. Die Praxis des ,Trimmens‘ sollte den Politikern überlassen bleiben. Aber politische Entscheidungen werden manchmal auf verfassungsrechtlicher Ebene angefochten, wie Sunstein richtig bemerkt. In diesen Fällen müssen Richter eine Entscheidung treffen, die unter Umständen in Konflikt stehende Meinungen berücksichtigen muss.27 Sunstein betont, das ,trimming‘ müsse jedoch nicht abschätzend betrachtet werden: „[I]n many domains, including constitutional law, there are powerful arguments on behalf of trimming, and [that] in both law and politics, trimming should be taken not as an insult, but as a descriptive term for an approach that often has considerable appeal.“28 Ich möchte mich abschließend einem kontroverseren Punkt widmen. Wie bereits betont, sollten wir die Tatsache der Uneinigkeit im Recht nicht unterschätzen. Die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs „are based on extensive, consensus-oriented discussion. […] [W]herever views differ, extensive effort is made to find common ground and get at a decision without separate opinions, and the normal result is considerable convergence.“29 Dennoch können Richter bei der Auslegung des Rechts auch nach dem Austausch von Argumenten verschiedener Meinung sein – besonders dann, wenn moralische Überzeugungen auf dem Spiel stehen. „Judges vote when they disagree and […] many important U.S. Surpreme Court cases are settled by a vote of five to four among the Justices, even when the Court is reviewing legislation and deciding whether to overturn the result of a majority vote among elected repre-

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Cass Sunstein, „Trimming“, Harvard Law Review, 122/4 (2009), S. 1049 – 1094. Cass Sunstein, „Trimming“, S. 1065 – 1066. 27 Cass Sunstein, „Trimming“, S. 1079. 28 Cass Sunstein, „Trimming“, S. 1053. 29 Gertrude Lübbe-Wolff, „Cultures of Deliberation in Constitutional Courts“, S. 40 – 41.

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sentatives.“30 Der Mehrheitsentscheid als Prinzip wird gerechtfertigt unter Bezugnahme auf politische Gleichheit. Auch der epistemische Vorteil wird oft als Begründung hervorgehoben, da man sich erhofft, dass die Mehrheit der Wahrheit oder einer gut begründeten Position näherkommt. Man kann allerdings berechtigte Zweifel daran haben, dass es irgendeine intrinsische Verbindung zwischen der Anzahl an Meinungen einerseits und der Qualität der Entscheidungen andererseits gibt. Dies ist besonders dann fraglich, wenn moralische Überzeugungen auf dem Spiel stehen. In den Fällen, in denen Expertise überhaupt möglich ist, kann signifikanter Konsens von Experten natürlich ein Indikator dafür sein, dass andere Meinungen mit guten Gründen verworfen werden können. Es ist aber zweifelhaft, wie Waldron betont, dass dieses epistemische Argument auf den Fall von knapper Mehrheit (5 zu 4 Stimmen) angewandt werden kann.31 Neben dem Mehrheitsentscheid kommen auch andere Verfahrensweisen der Geltungsbegründung in Frage, und auch sie lassen sich epistemisch stützen: so zum Beispiel ein Prozedere, in welchem den Stimmen älterer und erfahrenerer Richter mehr Gewicht verliehen wird. Oder aber man gibt den jüngeren Richtern mehr Stimmen, weil deren Urteil eher am Puls der Zeit ist.32 Das Zählen von Stimmen führt allerdings in jedem Fall zu einer Lösung, in der der Gewinner alles bekommt und der Verlierer nichts. Das bedeutet, dass bei moralischen Themen die Minderheit gezwungen ist, eine Lösung zu akzeptieren, die sie als unmoralisch ansieht. So müssen beispielsweise ProLife-Anhänger Gesetze zur Abtreibung oder Embryonenforschung akzeptieren, obwohl sie glauben, dass diese grundsätzlich unmoralisch sind, da sie der Überzeugung sind, dass auch Embryonen Personen sind. Angesichts dieser Probleme möchte ich die Frage stellen, ob wir überhaupt gute Gründe haben, eine Kompromissfindung im Sinne des ,Sich-in-der Mitte-Treffens‘ zu verbieten. Kompromisse haben einen schlechten Ruf und werden oft nur als Notlösungen angesehen. Bei moralischen Fragen verlangen sie von uns Abstriche an unseren moralischen Überzeugungen. Bei sozialpolitischen Fragen erwarten wir, dass die Entscheidung von Experten auf dem Gesetz und einem gründlichen Abwägungsprozess beruht. Aber gerade in den Fällen, in denen Uneinigkeit selbst nach gründlicher Abwägung zwischen Parteien besteht, kann ein Kompromiss als Mittel verteidigt werden, um politische Konflikte zu domestizieren, und um das zu schützen, was jeder Partei das Wichtigste ist. Es lohnt sich daher, unsere Neigung zur Abwertung von Kompromissen in der Gesetzgebung zu prüfen und im Anschluss auf Samantha Besson zu fragen: „How [can we] explain our hostility towards compromise of principle within the law in the face of the widespread practice of bargaining and compromising 30

Jeremy Waldron, „Five to Four: Why Do Bare Majorities Rule on Courts?“, The Yale Law Journal, 123 (2014), S. 1692 – 1729. 31 Jeremy Waldron, „Five to Four: Why Do Bare Majorities Rule on Courts?“, S. 1713. 32 Ronald Dworkin, Response. 90 B.U.L. Rev. 1059, 1086 (2010). Quoted in: Waldon, „Five to Four: Why Do Bare Majorities Rule on Courts“, S. 1703.

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over matters of fact, interest and even, sometimes, of principle within the political arena?“33

V. Checkerboard Statute und interne Kompromisse Kompromisse werden in der philosophischen und juristischen Literatur weitgehend ignoriert. Es ist deshalb bemerkenswert, dass Ronald Dworkin ihnen in seinem Buch Law’s Empire ein ganzes Kapitel eingeräumt hat.34 Dworkin unterscheidet zwischen internen und externen Kompromissen. Kompromisse sind extern, wenn sie nach einem unabhängigen Prinzip abgeschlossen werden. Ein Beispiel, dessen sich David Luban35 bedient: In einer Bevölkerung vertritt die eine Hälfte eine Gerechtigkeitsvorstellung im Sinne von „jedem nach seinen Bedürfnissen“, und die andere eine von „jedem nach der geleisteten Arbeit“. Jede Seite lehnt die Ansicht der anderen vehement ab. Sie schließen folgenden Kompromiss: Jedem nach seiner geleisteten Arbeit, es sei denn, diese reiche nicht für die grundlegendsten Bedürfnisse. In diesem Fall werden diese durch Transferzahlungen gewährleistet. Jede Seite sieht den Kompromiss als Verstoß gegen das eigene Prinzip gerechter Verteilung von Ressourcen an – und in diesem Sinne dann auch als unmoralisch. Dennoch scheint der Kompromiss eine mittlere Position zwischen zwei substantiellen Forderungen zu markieren. Die daraus sich ergebende Ausnahme, indem sie ein Existenzminimum festlegt, unter das Menschen nicht fallen dürfen, ist prinzipieller Natur, weil sie einen unabhängigen Gerechtigkeitsgrund annimmt, der jedoch logisch mit dem Gesetz verbunden ist. Im Gegensatz dazu ist ein interner Kompromiss nicht prinzipiengeleitet. Er ergibt sich aus einer Verfahrensentscheidung, wenn selbst nach einem gründlichen Meinungsaustausch zwischen den Parteien kein Konsens gefunden werden kann und ein unüberbrückbarer Meinungskonflikt fortbesteht. Der interne Kompromiss bietet eine salomonische Konfliktlösung, indem der Streit so geschlichtet wird, dass jede Partei den gleichen Anteil zugeschlagen bekommt. Er spiegelt außerdem die völlige Entscheidungsneutralität im Blick auf den strittigen Inhalt wider, da keine Parteinahme für die eine oder die andere Seite erfolgt. Die Sorge ist allerdings, dass das Ergebnis ein inkonsistentes Flickwerk von Gesetzen erzeugen könnte, die Dworkin „Checkerboard“-Statuten nennt. Checkerboard-Statuten oder -Gesetze sind eine logisch defekte Art von Regeln, denen es, wie Dworkin sagt, an Integrität fehlt. Ihm zufolge muss von einem Rechtssystem verlangt werden können, dass die Gesetze mit einem „scheme of justice“ kongruieren.36 33

Samantha Besson, „Four arguments against compromising justice internally“, Oxford Journal of Legal Studies 2003, 23, S. 211 – 241; S. 213. 34 Ronald Dworkin, Law’s Empire. 35 David Luban, „Bargaining and Compromise: Recent Work on Negotiation and Informal Justice“, Philosophy and Public Affairs, 14/4 (1985), S. 397 – 416, S. 415. 36 Ronald Dworkin, Law’s Empire, S. 179.

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Auf der einen Seite sind interne Kompromisse fair: Indem sie zulassen, dass sich konkurrierende Vorstellungen in den Regeln widerspiegeln, stehen sie im Einklang mit unserer Überzeugung, dass die Gesetzgebung in moralischen Fragen nicht nur die Durchsetzung des Willens der zahlenmäßigen Mehrheit betreiben sollte.37 Auf der anderen Seite – das ist zumindest Dworkins Vorwurf – scheinen sie ungerecht zu sein, weil sie zufällig sind. Was ist aber so verdammenswürdig an internen Kompromissen, und warum ziehen wir eine Mehrheitsentscheidung vor, auch wenn wir keine wirkliche Chance haben, das Recht in die von uns gewünschte Richtung zu beeinflussen? Stellen wir uns vor, sagt Dworkin, dass, weil die Menschen in Alabama uneins über Rassendiskriminierung sind, die Regierung ein Gesetz verabschiedet, das Diskriminierung in Restaurants, aber nicht in Bussen erlaubt. Stellen wir uns außerdem vor, dass die Gesetzgebung die Abtreibung nur für schwangere Frauen verbietet, die in geraden Jahren geboren wurden, da etwa 50 % der deutschen Bevölkerung für die Kriminalisierung der Abtreibung sind und die anderen 50 % entschieden dagegen sind. Frauen, die in ungeraden Jahren geboren wurden, können dagegen legal Abtreibungen vornehmen. Beide Lösungen haben gemein, dass sie jeder Seite um der Gleichheit willen gleich viel geben. Dabei wird eine moralische Angelegenheit auf einen rein quantitativen Standard reduziert, wodurch die Ausrichtung auf die Substanz verloren geht. Warum würden wir ein solches Gesetz in beiden Fällen intuitiv als lausig ablehnen, obwohl es die extreme Spaltung der öffentlichen Meinung widerspiegelt und damit berücksichtigt? Wie im Fall einer Verkehrsregulierung bei zu hoher Umweltbelastung in einer Stadt, bei der an bestimmten Tagen nur Autos mit geraden Zahlen an den Nummernschildern fahren dürfen, schlägt der Kompromiss ein faires Verteilungsprinzip für einen bestimmten Gegenstand vor, als ob es sich um eine quantifizierbare Ware handelte, die gleichmäßig verteilt werden müsse. Menschen sind jedoch keine Objekte, und sie erwarten zu Recht eine Rechtfertigung, wenn das Gesetz ihnen verbietet, etwas zu tun, was sie tun wollen. Checkboard-Gesetze bieten nicht die erforderliche rationale Rechtfertigung, gerade weil sie neutral sind und nicht auf einem Prinzip beruhen. Sich auf keine Seite zu schlagen, muss allerdings nicht automatisch als Ablehnung von Prinzipien verstanden werden. Das Verfahren kann dem Wunsch nach Neutralität oder einem allgemeinen Unparteilichkeitsgebot entsprechen, das uns zum Respekt vor Unterschieden oder zur Toleranz anhält, nach der Regel: „Wenn Konflikte grundsätzlich unlösbar sind, muss eine Teillösung gefunden werden.“ Ein solches Verfahren, könnte man sagen, nimmt die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Positionen ernst, indem es sich der Parteinahme in der Debatte enthält. Verfahrensgerechtigkeit ist jedoch keine hinreichende Voraussetzung für ein gerechtes Ergebnis. Um akzeptabel zu sein, so Dworkin, sollte ein Kompromiss auf 37

Ronald Dworkin, Law’s Empire, S. 178.

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einer gemeinsamen Gerechtigkeitskonzeption beruhen. „If there must be a compromise because people are divided about justice, then the compromise must be external, not internal; it must be a compromise about which scheme of justice to adopt rather than a compromised scheme of justice.“38 Ungeachtet der Frage, ob ein derartiger Kompromiss noch als solcher bezeichnet werden darf,39 kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass es auch unter Experten keine gemeinsame Meinung darüber gibt, welches Gerechtigkeitsschema in Anwendung kommen soll. Dworkin vertritt klarerweise eine monistische Ansicht der Moral, obwohl er sieht, dass die normativen Vorstellungen der Menschen pluralistisch sind, und obwohl er wiederholt betont, diese Vielstimmigkeit müsse ernst genommen werden. Wertepluralisten streiten aber gerade ab, dass es eine Hierarchie von Werten gibt, mit der man moralische Konflikte auf eine Art lösen kann, die alle rationalen Personen akzeptieren können. Nach Ansicht des Pluralisten gibt es kein summum bonum, und die Idee einer Höherbewertung einiger Güter über andere hilft, wenn überhaupt, nur innerhalb einer einzelnen Theorie. Das hat zur Folge, dass in einigen Fällen Werte, Güter oder Prinzipien nicht gegeneinander abgewogen werden können. Geraten diese dann in Konflikt, mag unter Umständen ein unabhängiges Prinzip fehlen, mit dessen Hilfe der Konflikt auf eine für alle zufriedenstellende Weise gelöst werden kann. Dennoch bleibt Dworkin bei seiner monistischen Grundüberzeugung, wenn er schreibt: „We are looking for a reason of justice we all share for rejecting the checkerboard strategy in advance.“40 Was tun allerdings, wenn Dworkins Ratschlag sich nicht konkretisieren lässt? Wenn es im Streit darum geht, an welche Gerechtigkeitskonzeption wir uns halten sollen, gibt es keinen gemeinsamen unstrittigen höheren Wert, der uns zur Orientierung dient. Wie Waldron sagt, können wir keine Trumpfkarten ausspielen, wenn wir über die Suite verschiedener Meinung sind.41 In diesem Fall heißt der Rückgriff auf ein Prinzip: eine der konkurrierenden Meinungen zu privilegieren. Eine weitere Möglichkeit, das Problem zu lösen, wäre, dass sich die Parteien auf ein Verfahren einigen. Sie könnten sich z. B. zu einer Abstimmung entschließen. Sie könnten aber auch einen Kompromiss bevorzugen, da er eine gerechtere Lösung bietet als die „winner-take-all“-Formel. Interne Kompromisse, so kann man argumentieren, drücken das Bestreben nach Neutralität zwischen den konfligierenden Meinungen aus.

38

Ronald Dworkin, Law’s Empire, S. 179. In diesem Fall müssen wir uns in der Tat fragen, ob wir es noch mit einem Kompromiss oder nicht eher einer einvernehmlichen Entscheidung zu tun haben. Ich möchte diese Diskussion in diesem Zusammenhang nicht fortsetzen, da ich mich auf die Gründe konzentriere, die Dworkin für die Ablehnung von „internen Kompromissen“ anführt. 40 Ronald Dworkin, Law’s Empire, S. 180. 41 Jeremy Waldron, „Moral Truth and Juridicial Review“, The American Journal of Jurisprudence Vol. 43:1 (1998), S. 77. 39

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Es kann dennoch eingewendet werden, dass ein interner Kompromiss einen Hinweis darauf liefert, weshalb das Gesetz erlassen wurde; es macht dieses jedoch nicht dadurch schon rational. Im Gegenteil: Das Checkerboard-Gesetz ist in beiden genannten Fällen nicht nur nicht rational, sondern es kann sogar für irrational erklärt werden. Tatsächlich erklärt die gleiche Regel Diskriminierung bzw. Abtreibung als legal und illegal zugleich, erzeugt also einen Widerspruch. Checkerboard-Gesetze sind daher inakzeptabel, weil sie gegen den Gleichheitsgrundsatz vor dem Gesetz verstoßen, indem sie Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, unterschiedlich behandeln. Das Problem ist, dass die gleichen Kategorien von Personen (in den Beispielen Schwarze bzw. Schwangere) jeweils unterschiedlich behandelt werden, und dies ohne nachvollziehbaren Grund. Wir erwarten jedoch von einem Rechtssystem, dass es bestimmte Dinge nach rationalen Prinzipien für unzulässig oder zulässig erklärt. Wir wollen sicherstellen, dass das, was heute erlaubt ist, morgen nicht willkürlich verboten wird. Gesetze müssen aus verständlichen und nachvollziehbaren Gründen vorhersehbar sein. Die Rechtfertigung muss in beide Richtungen funktionieren, sowohl rückwirkend als auch in Bezug auf das, was wir tun wollen. Dieses Erfordernis drückt sich laut Dworkin in der Vorstellung von „Gleichheit vor dem Gesetz“ aus: „Integrity is flouted […] whenever a community enacts and enforces different laws each of which is coherent in itself, but which cannot be defended together as expressing a coherent ranking of different principles of justice or fairness or procedural due process.“42 Angesichts dieser Aussage ist es überraschend, dass Dworkin sich nicht daran stört, dass die Amerikanische Verfassung den einzelnen Staaten Souveränität über die Gesetze bezüglich der Todesstrafe zuspricht. Die aus dem Föderalismus resultierende unterschiedliche Behandlung gründet laut Dworkin auf der grundlegenden Entscheidung, die Macht auf der Bundesebene von der auf der Landesebene zu trennen.43 Demgemäß handele es sich nicht um eine Checkerboard-Lösung. Aus moralischer Sicht allerdings übertrumpft die Souveränität des Landesrechts das Menschenrecht, vor dem Gesetz gleich behandelt zu werden. Dworkin meint: „[T]he Supreme Court relies on the language of equal protection to strike down state legislation that recognizes fundamental rights for some and no others.“44 Ein Bürger aus Texas genießt allerdings nicht das Recht, vom Staat nicht getötet zu werden, wenn er wegen Mordes verurteilt wurde. In den Augen von denjenigen, die die Todesstrafe für ungerechtfertigt halten, gibt die Bezugsnahme auf die Souveränität der Landesebene keine bessere moralische Rechtfertigung für die Verletzung eines fundamentales Rechtes als eine Quotenlösung, die die Anzahl von Todesstrafen so begrenzen würde, dass sie leicht unter den jährlichen Durchschnitt in den USA fallen würde.

42

Ronald Dworkin, Law’s Empire, S. 184. I underline, VZ. Ronald Dworkin, Law’s Empire, S. 186. 44 Ronald Dworkin, Law’s Empire, S. 185. 43

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Noch einmal: Das Checkerboard-Gesetz gilt als logisch fehlerhaft, weil es etwas nach einem beliebigen Kriterium zugleich für zulässig und unzulässig erklärt. Es verstößt daher gegen den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz, indem es Personen aus derselben Gruppe ohne triftigen Grund unterschiedlich behandelt. Genauer gesagt: Die Rechtfertigung für eine unterschiedliche Behandlung ist nicht im Gesetz begründet. Ob man in einem ungeraden oder geraden Jahr geboren wird, ist mehr oder weniger zufällig und hat inhaltlich nichts mit dem Gesetz zu tun, das Abtreibung regelt.45 Im Gegensatz dazu ist ein Gesetz, das Abtreibung für alle Frauen für illegal erklärt, es sei denn, die Schwangerschaft sei das Ergebnis einer Vergewaltigung, nicht zufällig, denn die Unterscheidung von freiwilliger Schwangerschaft versus Schwangerschaft durch Vergewaltigung ist logisch mit dem Gesetz verbunden. „Splitting the difference“ muss allerdings nicht immer so absurd ausgehen, wie bei der Idee, Abtreibung nur für diejenigen schwangeren Frauen zu erlauben, die in einem geraden Jahr geboren wurden. Man könnte sich beispielsweise eine Quotenregelung vorstellen, bei der man eine bestimmte Anzahl an Abtreibungen monatlich erlaubt, die statistisch gesehen etwas geringer als der Durschnitt der Jahre davor ausfällt. Würde solch eine Regelung zu einer geringfügigen Abnahme an Abtreibungen führen, wäre sie aus der Sicht derjenigen, die den intrinsischen Wert menschlichen Lebens ab der Nidation vertreten, aus sowohl konsequentialistischer wie auch deontologischer Perspektive durchaus zu rechtfertigen. Es mag weiterhin eingewendet werden, dass, was ein solches Gesetz empörend machen, würde darin besteht, dass es keinen Platz für eine moralisch begründete Ausnahme im Falle einer Vergewaltigung macht. Vergewaltigung verletzt per Definition die Entscheidungsfreiheit der Frau, sich für ein so wichtiges Thema wie das Leben geben zu entscheiden. Es besteht außerdem die Gefahr, dass das Neugeborene unerwünscht ist. Zwei Subjekte würden entsprechend ungeschützt bleiben. Ich verstehe allerdings nicht, warum es nicht möglich sein sollte, rational begründete Ausnahmen von der Anwendung des Gesetzes einzuführen, indem man das neutrale Verfahren nur für die Fälle beibehält, wo keine gemeinsame Auffassung gefunden werden kann. Da, wo eine überzeugende Begründung vorgelegt werden kann, soll man auf sie zurückgreifen. Die Pro-Life-Partei muss sich nicht die Entscheidung zueigen machen. Anhänger können sagen: „We think that rape does not justify an abortion. Still, we see that this statute has some rational justification for the distinction it makes.“46

45 „The flaw in this abortion statute is not simply the lack of a justification for treating women born in even years differently than those born in odd ones, but, more fundamentally, the lack of a justification for prohibiting abortions to the category of women born in even years. We may have a justification for forbidding all women to abort, but why forbid it based on whether they were born in an even or an odd year?“ Ofer Raban, „The Rationalization of Policy“, Legislation and Public Policy Vol. 18/45 (2015), S. 58. 46 Ebd., S. 57.

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Wir sollten einen Moment innehalten. Man wird sicherlich einwenden, all dies sei bloß ein Spiel mit Argumenten, bei dem die Gegenseite ständig den Anwalt des Teufels vertritt. Wir können uns nicht ernsthaft zugunsten einer Regelung entscheiden, die Frauen aufgrund des Datums ihrer Geburt diskriminiert und ihr einer Fristenlösung oder sogar ein kategorisches Verbot vorziehen. In der Tat denke ich, dass wir von der Gesetzgebung erwarten, dass sie Prinzipien unterstützt, die zur Rechtfertigung von Entscheidungen dienen, auch wenn wir sie nicht billigen. Ein schlechter Grund kann sogar besser sein als keiner. Wir können mit einer rational gerechtfertigten Lösung, mit der wir nicht einverstanden sind, leichter umgehen als mit einer zufälligen Lösung, die wir ablehnen. Man kann dies als eine seltsame psychologische Tatsache betrachten. Es bleibt in der Tat zu erklären, warum wir manchmal eine Mehrheitsentscheidung, die wir ablehnen, einem Kompromiss vorziehen, auch wenn es wenig Hoffnung gibt, dass die Minderheit die Mehrheit stürzt. Mein Argument war, dass die Quotenregelung für die ProLife-Anhänger nicht moralisch schlechter wäre als eine Lösung, die Abtreibung im ersten Trimester der Schwangerschaft erlaubt. Für diejenigen, die davon überzeugt sind, dass das Leben mit der Nidation beginnt, ist eine Abtreibung im zweiten Monat genauso ein Verstoß gegen das Recht auf Leben wie in späteren Monaten. In ihren Augen ist die Akzeptanz der Trimester-Lösung gleichbedeutend einer Akzeptanz, dass Tötung legalisiert ist. Aus deren moralischen Überzeugungen heraus betrachtet spielt es keine Rolle, ob das relevante Kriterium eine bestimmte Zeitperiode oder etwas anderes ist. Ich habe außerdem argumentiert, dass die deutsche Fristenlösung gesetzlich inkonsistent ist und dass es fraglich ist, ob sie die Dworkinsche Forderung nach Integrität erfüllt. Embryonen, deren Würde verfassungsrechtlich verankert ist,47 werden nach einem Kriterium (Zeit) behandelt, das keine logische Verankerung im Gesetz hat. Betrachtet man schließlich, dass Embryonen keine Kompensation für die Einschränkung ihres Rechts auf Leben erhalten können, und dass ihnen keine Rechtfertigung angeboten werden kann, wird man bezweifeln, dass das deutsche Abtreibungsgesetz der Verhältnismäßigkeitsdoktrin gerecht wird. Dennoch kann man schwer leugnen, dass die Kompromisslösung, auch wenn moralisch und legislativ fraglich, eine gute, pragmatische Lösung für einen sonst unlösbaren moralischen Konflikt bietet. Die Rationalität stützt sich auf die Intuition, dass ein Embryo in einem späteren Stadium seiner Entwicklung anfälliger für Leiden ist als zu Beginn. Zwölf Wochen bieten eine überzeugende Einschätzung eines Stadiums der biologischen Entwicklung, in dem ein Embryo in der Lage sein könnte, Schmerzen zu spüren. Es markiert 47 Die Rechtfertigung vom Jahre 1975 macht dies explizit: „Das sich im Mutterleib entwickelnde Leben steht als selbstständige Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Abs. 1 GG)“. Dies bestätigt die Entscheidung von 1993: „Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, menschliches Leben, auch das ungeborene, zu schützen. […] Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu.“ BVerfG 39, 1 ff. (1975); E 88, 203 ff. (1993).

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auch ein Stadium der Schwangerschaft, von dem an eine medizinische Operation ein erhebliches Risiko für die Gesundheit der Mutter darstellt. Dabei rückt der Schwerpunkt der Entscheidung vom Prinzip der Würde oder Sakralität des Lebens zu Dimensionen, die mit größerer Wahrscheinlichkeit auf eine breite Zustimmung stoßen können. Das Objekt der moralischen Überzeugung wird allerdings ausgeklammert, um einen pragmatischen Kompromiss zu ermöglichen. Damit meine ich, dass der motivierende Grund für ein Zugeständnis an eine moralische Frage extrinsisch ist und nicht unbedingt auf einem moralischen Prinzip beruht. So können die Menschen beispielsweise ihren Wunsch zum Ausdruck bringen, der Staat solle in Bezug auf Fragen des guten Lebens neutral bleiben. Sie können aber auch sicherstellen wollen, die Gesetzgebung möge die negativen Auswirkungen einer Liberalisierung so weit wie möglich begrenzen. Die Entscheidung für eine Befristung in beiden Fällen ist strategisch und instrumentell. Die Argumentationsrichtung steht im Einklang mit Rawls’ Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre. Auf der ersten Ebene, auf der Ebene der privaten Überzeugung, äußern die Menschen ihre moralische Meinung zu einem wichtigen Thema des gesellschaftlichen Lebens. Auf der zweiten Ebene bieten sie Gründe für Zugeständnisse an, in denen abgewogen wird, wie sehr sie an ihrer moralischen Überzeugung festhalten wollen, wenn sie sich nicht einigen können. In diesem Sinne wird von den kompromissbereiten Parteien politischer Pragmatismus abverlangt. Auf die Frage, warum Kompromisse Vorrang vor moralischen Imperativen haben sollten, kann die Antwort lauten: Weil es manchmal ratsam ist, nachzugeben, tolerant zu sein, auf andere einzugehen. Mit dieser Empfehlung befinden wir uns jedoch im Bereich der Politik – wobei ,Politik‘ im allgemeinen Sinne verstanden wird, wie Aristoteles sie versteht: als der Bereich, in dem die Beziehung zwischen den Menschen geregelt ist.

VI. Konklusion Ich habe argumentiert, dass das Verfahren des Verhältnismäßigkeitsprinzips in manchen Fällen zu einem Kompromiss nötigt. Das sind Fälle, in denen nicht feststellbar ist, ob das zu wahrende Interesse, Recht oder Rechtsprinzip schwerer wiegt als das ihm aufgeopferte. Hier kann weder eine Kompensation angeboten noch kann das Erfordernis der Zumutbarkeit erfüllt werden. Ich habe zweitens gezeigt, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip selbst als Kompromiss zwischen zwei konkurrierenden ethischen Theorien angesehen werden kann: der deontologischen und der konsequentialistischen. Ich habe drittens dafür plädiert, Kompromisslösungen dann als erforderlich anzusehen, wenn Richter und Politiker sich darüber uneinig sind, wie individuelle Rechte gegen öffentliche Interessen abgewogen werden sollen. Im Verfassungsgericht werden Mehrheitsbeschlüsse erst am Ende eines langen Beratungsprozesses getroffen. In Wirklichkeit kann aber auch dann noch, wenn sich ein Dissens nach Argumentaustausch nicht auflösen

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lässt, hinter verschlossenen Türen durch Mehrheitsbeschluss bestimmt werden, welche Position offiziell als Konsensposition verkauft wird – der Öffentlichkeit wird das Ergebnis jedoch nicht als Ergebnis einer Abstimmung mitgeteilt. Hinter verschlossenen Türen könnten die Richter glauben, dass eine mittlere Position am besten ist, und versuchen, das Wertvollste in den konkurrierenden Ansichten zu erhalten. Cass Sunstein nennt diese Richter „Trimmer“. Sie können aus strategischen oder epistemischen Gründen trimmen. Wenn allerdings selbst hierbei keine Einigkeit herrscht, muss eine Methode gefunden werden, den Konflikt aufzulösen. Richter stimmen ab, wenn sie uneinig sind. Ich habe dafür argumentiert, in solchen Fällen eine Kompromisslösung in Betracht zu ziehen. „Splitting the difference“ wird von der Rechtsprechung abgelehnt, wenn es nicht in ein Prinzip verankert ist. Ich habe argumentiert, dass damit noch kein hinreichender Grund gegeben ist, den Kompromiss abzulehnen. Die Fristenlösung einigt sich auf eine Maximalzeitspanne, und das ist mindestens für eine der Konfliktparteien moralisch fraglich und in Bezug auf Artikel 1 der Verfassung inkohärent. Doch die Mehrheit der Menschen steht hinter dem Gesetz. Dafür kann es verschiedene Gründe geben. Einer ist, dass die Zeitlösung eine plausible Begründung bietet, auch wenn sie moralisch und rechtlich problematisch ist. Wie eine Kompromisslösung ist sie aus Streit und Verhandlung hervorgegangen und basiert nicht auf einem gemeinsam anerkannten oder prästabilisierten Prinzip.

Zur Täterschaft der Schwangeren beim Schwangerschaftsabbruch Von Thomas Rotsch

I. Einführung § 218 StGB1 stellt mit der Bestrafung des Schwangerschaftsabbruchs – einem kultur- und kriminalgeschichtlichen „Ewigkeitsthema der Menschheit“2 – eine der umstrittensten Strafnormen des StGB dar.3 Das geltende Recht des deutschen StGB unterscheidet im Hinblick auf den Schutz des Ungeborenen nunmehr in zeitlicher Hinsicht bekanntlich drei Phasen der Schwangerschaft: bis zur Nidation bleibt das ungeborene Leben gänzlich schutzlos; von der Nidation bis zum Abschluss der 12. Schwangerschaftswoche sind Abbrüche ohne jegliche (d. h. medizinisch-soziale oder kriminologische) Indikation allein unter den Voraussetzungen des § 218a Abs. 1 straffrei, liegt eine kriminologische Indikation vor, ist die Tat nach § 218a Abs. 3 bis zu diesem Zeitpunkt (lediglich) gerechtfertigt; in dem Zeitraum nach der 12. Schwangerschaftswoche bis kurz vor der natürlichen Geburt schließlich setzt die Rechtmäßigkeit des Abbruchs gem. § 218a Abs. 2 voraus, dass er medizinisch-sozial indiziert ist.4 Während nun etwa schwierige Fragen des Rechtsgüterschutzes, zum Beginn des pränatalen Lebens oder der Reichweite der Garantenpflicht der schwangeren Mutter die ihnen gebührende Aufmerksamkeit bei der Diskussion des § 218 zuteilwird, erfahren beteiligungsdogmatische Probleme im Rahmen des Schwangerschaftsabbruchs eher stiefmütterliche Behandlung. So liest man selbst bei Reinhard Merkel, der die profundeste Kommentierung des § 218 vorgelegt hat5 und dem dieser Beitrag mit den herzlichsten Glückwünschen zum 70. Geburtstag gewidmet ist, in prägnanter Kürze: „Auch die Behandlung von Täterschaft und Teilnahme richtet sich nach den allgemeinen Regeln. Selbst- wie Fremdabbruch können eigenhändig, 1

§§ ohne Gesetzesangabe sind im Folgenden solche des StGB. NK/StGB-Merkel, Vor §§ 218 ff. Rn. 1. 3 Zur rechtsgeschichtlichen Entwicklung ausführlich und instruktiv NK/StGB-Merkel, Vor §§ 218 ff. Rn. 1 ff. 4 Vgl. zum Ganzen NK/StGB-Merkel, Vor §§ 218 ff. Rn. 23 f. 5 Die Kommentierung im Nomos Kommentar zum StGB umfasst in der aktuellen 5. Aufl. dabei mehr als 200 Seiten: Vor §§ 218 ff. – 219b (S. 1902 – 2107). 2

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mittäterschaftlich, mittelbar täterschaftlich sowie durch Unterlassen begangen werden.“6 Studiert und vergleicht man die einschlägigen Kommentierungen des § 218 im Hinblick auf die regelmäßig knappe Diskussion der Beteiligungsdogmatik, so ergibt sich freilich ein durchaus uneinheitliches Bild. So wird z. B. in dem (Regel-)Fall, in dem die Schwangere den Abbruch durch einen Dritten (Arzt) zulässt, zum Teil unmittelbare Täterschaft der Schwangeren i.S.d. § 25 Abs. 1 Var. 17, zum Teil Mittäterschaft von Arzt und Schwangerer gem. § 25 Abs. 28 angenommen; von manchen wird § 25 Abs. 2 recht undifferenziert „meist“ der Vorrang eingeräumt9. Mittelbare Täterschaft soll etwa möglich sein beim Vorspiegeln medizinischer Indikation durch die Schwangere.10 Auch eine eigenhändige Tatverwirklichung (d. h.: in unmittelbarer Täterschaft) wird für möglich gehalten.11 Andere wollen schon für das Zulassen des Abbruchs auf Teilnahme ausweichen,12 während bei garantenpflichtwidriger Nichthinderung der Tat durch die Schwangere der Streit aus dem Allgemeinen Teil des StGB um die Möglichkeit bloßer Teilnahme des Garanten seine Fortsetzung findet.13 Dabei fällt auf, dass eine genauere Darstellung der denkbaren unterschiedlichen Sachverhaltskonstellationen in diesem Zusammenhang kaum erfolgt.14 Das verwundert deshalb, weil zum einen die von der h.A. für die Begründung von Täterschaft vorausgesetzte Tatherrschaft ohne einen genaueren Blick auf die konkrete Sachverhaltsgestaltung kaum zu entscheiden ist und zum anderen in Deutschland mindestens drei grundsätzlich unterschiedliche Arten und Weisen des Schwangerschaftsabbruchs praktiziert werden. Der folgende Beitrag hat es sich daher zum Ziel gesetzt, der Frage nach der täterschaftlichen Strafbarkeit der Schwangeren vor dem Hintergrund der drei wesentlichen, in Deutschland praktizierten Methoden des Schwangerschaftsabbruchs nachzugehen. Hierzu ist zunächst (unter II.) die Struktur des § 218 genauer zu beleuchten. Sodann (unter III.) sind einige Klarstellungen (unter 1. – 3.) vonnöten, die den Zugang zur Beurteilung der Täterschaft der Schwangeren erst ermöglichen. Erst im Anschluss können die Möglichkeiten täterschaftlicher Verwirklichung des § 218 durch 6

NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 147. Z. B. MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 40. 8 NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 148 („Regelfall“). 9 BeckOK/StGB-Eschelbach, § 218 Rn. 13 mit bemerkenswerter Begründung. 10 Schönke/Schröder-Eser, § 218 Rn. 30; MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 38. 11 Schönke/Schröder-Eser, § 218 Rn. 30; MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 40; LK-Kröger, § 218 Rn. 30. 12 SSW/StGB-Momsen/Momsen-Pflanz, § 218 Rn. 19. 13 Vgl. z. B. AnwK/StGB-Mitsch, § 218 Rn. 14 einerseits; MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 51 andererseits. 14 So findet sich zwar eine Darstellung der Methoden des Schwangerschaftsabbruchs bei MüKo/StGB-Gropp, Vor § 218 Rn. 78 ff.; LK/StGB-Kröger, Vor § 218 Rn 46; SK/StGB-Rogall, Vor § 218 Rn. 67. Im Rahmen der Erörterungen von Täterschaft und Teilnahme finden diese Ausführungen dann aber meist keine Berücksichtigung mehr. 7

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die Schwangere untersucht werden (IV.). Dabei erfolgt eine bewusste Beschränkung auf die Untersuchung des § 218; es wird dabei zugrunde gelegt, dass die Voraussetzungen des § 218a nicht vorliegen, §§ 218b bis 219b bleiben außer Betracht.

II. Die Struktur des § 218 StGB Rechtsgut des § 218 ist jedenfalls15 das pränatale menschliche Leben.16 Es besteht Einigkeit darüber, dass Angriffsobjekt der Abbruchshandlung das Ungeborene17, also die lebende Leibesfrucht18 ist. Zur Zeit der Tathandlung muss eine intakte Schwangerschaft bestehen.19 Entscheidend ist also insoweit der Zeitpunkt der Einwirkungshandlung, nicht derjenige des Erfolgseintritts.20 Tathandlung ist im Widerspruch zu dem mindestens euphemistischen Gesetzeswortlaut21 jede (täterschaftlich bewirkte22) Handlung, die den Tod des Embryos herbeiführt.23 Die Tat ist also gleichwohl Erfolgsdelikt,24 und zwar in der Form des reinen Verursachungsdelikts. Damit handelt es sich im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut der Vorschrift um ein Verletzungsdelikt.25 Der Abbruch in dem geschilderten Sinne kann entweder durch die Schwangere selbst oder einen Dritten erfolgen.26 Auch darüber besteht Einigkeit.27 Der Tatbestand des § 218 umfasst damit nach ganz einhelliger Ansicht gleichermaßen den sog. Selbstabbruch wie den sog. Fremdabbruch.28 Erstaunlich ist dabei freilich, dass offenbar niemand hieraus die Konsequenz zieht, dass in der Variante des Selbstabbruchs ein Sonderdelikt vorliegt, das die Schwangereneigenschaft als täterbegründenden Umstand voraussetzt. Für die Frage der täterschaftlichen Verwirklichung des § 218 durch die Schwangere ist das freilich von einiger Bedeutung. Auch ein Schwangerschaftsabbruch durch Unterlassen wird zum Teil für möglich gehalten, 15

Ob daneben auch Gesundheit und Leben der Schwangeren geschützt sind, ist umstritten (vgl. NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 7), kann hier aber dahinstehen. 16 NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 7. 17 NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 7. 18 NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 7. 19 SSW/StGB-Momsen/Momsen-Pflanz, § 218 Rn. 5. 20 SSW/StGB-Momsen/Momsen-Pflanz, § 218 Rn. 5. 21 Vgl. NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 9, 44; Tröndle, Jura 1987, 69. 22 Siehe dazu noch unten IV. 4. 23 NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 46. 24 SSW/StGB-Momsen/Momsen-Pflanz, § 218 Rn. 5. 25 Vgl. dazu grds. Roxin, AT I, Rengier, AT, § 10 Rn. 9; Kindhäuser, AT, § 8 Rn. 20. 26 Vgl. zunächst nur NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 45. 27 Siehe etwa Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218 Rn. 28 ff.; MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 37 ff. Lackner/Kühl, § 218 Rn. 2; BeckOK/StGB-Eschelbach, § 218 Rn. 7. 28 MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 37 ff.; Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218 Rn. 28 ff.; NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 45; BeckOK/StGB-Eschelbach, § 218 Rn. 7. Zurückhaltend Lackner/Kühl, § 218 Rn. 2.

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wenngleich hier durchaus Uneinigkeit über die Reichweite der Unterlassungsstrafbarkeit herrscht.29 Gemeinhin werden auch hier die allgemeinen Regeln für anwendbar erklärt.30 Bevor die einzelnen Sachverhaltskonstellationen darauf hin untersucht werden können, ob und wann die Schwangere § 218 hierbei täterschaftlich verwirklicht, sind daher zunächst einige Klarstellungen erforderlich. So ist zunächst die Differenzierung zwischen Fremd- und Selbstabbruch kritisch zu hinterfragen (unter III. 1.). Anschließend ist der Frage nachzugehen, welche Bedeutung die Schwangerschaft für die Frage der Täterschaft der Schwangeren hat (III. 2.). Und schließlich ist vorab noch auf die Auseinandersetzung um die Methodik der Prüfung im Rahmen einer möglichen Unterlassungsstrafbarkeit der Schwangeren einzugehen (III. 3.).

III. Klarstellungen 1. Die Unterscheidung zwischen Fremd- und Selbstabbruch Es herrscht Einigkeit darüber, dass § 218 Abs. 1 durch Fremd- wie durch Selbstabbruch verwirklicht werden kann.31 Dabei soll ein Fremdabbruch dann vorliegen, wenn der Abbruch der Schwangerschaft durch einen anderen als die Schwangere selbst erfolgt;32 dieser andere soll jedermann – außer die Schwangere selbst33 – sein können.34 Meist wird dabei an den Arzt gedacht.35 Ein Selbstabbruch hingegen soll nur dann gegeben sein, wenn die Schwangere selbst den Abbruch der Schwangerschaft vornimmt.36 Es fragt sich, was mit dieser Differenzierung, die der Gesetzeswortlaut nicht (mehr) ausdrücklich vorgibt,37 erreicht werden soll. Offensichtlich handelt es sich dabei um ein Relikt der noch bis 1975 geltenden Gesetzesfassung, die ausdrücklich zwischen Selbst- und Fremdabbruch unterschied. In den Kommentierungen des § 218 findet die Unterscheidung zwischen Fremdabbruch und Selbstabbruch sich 29

MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 37 ff. (40); Bernsmann, JuS 1994, 12. NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 45. 31 Laufhütte/Wilkitzki, JZ 1976, 329; Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218 Rn. 29 ff.; MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 37 ff.; NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 45; Rengier, BT II, Rn. 10; SK-StGB/Rogall, § 218 Rn. 2, 20 ff.; BeckOK-StGB/Eschelbach, § 218 Rn. 13. Zurückhaltender Lackner/Kühl, § 218 Rn. 2. 32 Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218 Rn. 29. 33 Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218 Rn. 29. 34 Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218 Rn. 29. 35 Vgl. Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218 Rn. 29. 36 Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218 Rn. 28, 30; HK/GS-Wenkel, § 218a Rn. 1. 37 NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 45, formuliert denn auch durchaus salomonisch: „Selbstabbruch durch die Schwangere und Fremdabbruch durch einen Dritten unterscheidet der Tb nicht, erfasst sie also beide.“ 30

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auch heute noch regelmäßig im Rahmen der Behandlung des täterschaftlich verwirklichten Schwangerschaftsabbruchs.38 Das bedeutet, dass mit der Bezeichnung des Fremdabbruchs offensichtlich diejenigen Konstellationen benannt werden, in denen ein anderer als die Schwangere Täter des § 218 Abs. 1 ist. Dabei soll dann freilich – wie beim Selbstabbruch – jede Form der Täterschaft möglich sein.39 Der Selbstabbruch zeichnet sich nach dieser differenzierenden Terminologie mithin dadurch aus, dass die Schwangere den Tatbestand des § 218 Abs. 1 täterschaftlich – in welcher der drei gesetzlich vorgegebenen Täterschaftsformen auch immer – verwirklicht. Dass sowohl die Schwangere für den Abbruch an sich selbst, wie auch jeder Dritte für den Abbruch an der Schwangeren vom Tatbestand erfasst ist, stützt diese ganz herrschende Auffassung auch auf Abs. 3 und 4 des § 218, wonach (gem. Abs. 3) bei Begehung der Tat durch die Schwangere der Strafrahmen reduziert und (gem. Abs. 4 S. 2) der Versuch der Tat für die Schwangere nicht unter Strafe gestellt ist. Damit macht das Gesetz einen Unterschied zwischen dem Schwangerschaftsabbruch durch die Schwangere einerseits und durch einen Dritten andererseits nur auf der Rechtsfolgen-, nicht aber auf der Tatbestandsseite.40 Diese Differenzierung zwischen Fremdabbruch und Selbstabbruch stößt freilich in mehrfacher Hinsicht auf Bedenken. Zunächst ist sie nicht unproblematisch, weil sie im Hinblick auf die Beteiligungsform von Schwangerer und Drittem die Gefahr eines Zirkelschlusses birgt. Denn wenn mit der terminologischen Einordnung als Fremdabbruch einerseits oder Selbstabbruch andererseits bereits die täterschaftliche Verwirklichung durch die Schwangere bzw. den Dritten impliziert ist, läuft man Gefahr, den Sachverhalt nicht mehr zum Ausgangspunkt einer Subsumtion mit offenem Ergebnis zu machen; vielmehr droht die Einordnung in eine bestimmte tatsächliche Konstellation zugleich die rechtliche Behandlung vorzugeben. Darüber hinaus insinuiert die Differenzierung zwischen Fremd- und Selbstabbruch, dass der Dritte als Täter immer einen Fremdabbruch, die Schwangere als Täterin stets einen Selbstabbruch verwirklicht.41 Umgekehrt legt das aber den Schluss nahe, dass die Schwangere nicht Täterin eines Fremdabbruchs, der Dritte nicht Täter eines Selbstabbruchs sein kann. Das ist aber durchaus möglich: Bsp. 1: Der Arzt A veranlasst die schwangere S zur Einnahme eines angeblich harmlosen, in Wahrheit aber abortiven Mittels.

In diesem Fall ist S nach der herrschenden Differenzierung (vorsatzlose) Täterin eines Selbstabbruchs, A aber mittelbarer Täter eines (durch S unmittelbar verwirklichten) Selbstabbruchs. 38 Vgl. etwa MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 37 ff.; Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218 Rn. 28 ff.; Fischer, StGB, § 218 Rn. 9; BeckOK/StGB-Eschelbach, § 218 Rn. 13; AnwK/ StGB-Mitsch, § 218 Rn. 4; SSW/StGB-Momsen/Momsen-Pflanz, § 218 Rn. 19; SK/StGBRogall, § 218 Rn. 21 ff. 39 NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 45. 40 NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 45. 41 So denn auch in der Tat SK/StGB-Rogall, § 218 Rn. 21.

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Bsp. 2: Die schwangere S täuscht den Arzt A über das Vorliegen einer Indikation, woraufhin A den Abbruch gutgläubig vornimmt.

Hier liegt der Fall umgekehrt so, dass A Täter eines Fremdabbruchs ist, S freilich nicht etwa einen Selbstabbruch verwirklicht, sondern mittelbare Täterin (des von A unmittelbar verwirklichten) Fremdabbruchs ist.42 In Wahrheit kann also die Schwangere nicht nur Täterin eines Selbstabbruchs, sondern ebenso (mittelbare) Täterin eines Fremdabbruchs sein. Der Arzt ist tatsächlich nicht notwendig Täter eines Fremdabbruchs, vielmehr kann auch er (mittelbarer) Täter eines Selbstabbruchs sein. Eine Festlegung in beteiligungsdogmatischer Hinsicht hat die von der herrschenden Meinung vorgenommene terminologische Unterscheidung in Fremdabbruch und Selbstabbruch damit aber in Wahrheit nicht. Richtigerweise stellt sie nicht mehr dar, als die – zutreffende – Beschreibung zweier grundsätzlich unterschiedlicher tatsächlicher Sachverhalte: scil. einerseits des Abbruchs der Schwangerschaft durch die Schwangere selbst, andererseits des Abbruchs durch einen Dritten. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis relativiert sich dann auch die oben43 wiedergegebene Aussage, Fremd- und Selbstabbrüche seien in jeder Form der Täterschaft begehbar. Für den Selbstabbruch durch die Schwangere trifft das ganz offensichtlich nicht zu. Eine mittelbare Täterschaft der Schwangeren gem. § 25 Abs. 1 Var. 2 ist hier nämlich nicht möglich. Denn sofern die Schwangere einen Tatmittler zum Abbruch ihrer Schwangerschaft einsetzt, verwirklicht dieser täterschaftlich einen Fremdabbruch; insoweit ist sie mittelbare Täterin (vgl. Bsp. 2). Einen Selbstabbruch hingegen kann sie nur in unmittelbarer Allein- oder allenfalls Mittäterschaft verwirklichen. 2. Die Bedeutung der Schwangerschaft für die Täterschaft der S Eine weitere Unklarheit gilt es aufzuklären hinsichtlich der Bedeutung der Schwangerschaft für die Frage nach der täterschaftlichen Verwirklichung des § 218 Abs. 1 durch die Schwangere. Hätte die oben dargestellte herrschende Unterscheidung zwischen Fremdabbruch und Selbstabbruch tatsächlich die implizierte beteiligungsdogmatische Bedeutung – der Dritte begeht immer einen Fremdabbruch, die Schwangere verwirklicht stets und ausnahmslos einen Selbstabbruch –, so drängt sich eine dogmatische Zwitterstellung des § 218 Abs. 1 auf, die, soweit ersichtlich, aber tatsächlich von niemandem angenommen wird. Wäre es nämlich richtig, dass ein täterschaftlicher Selbstabbruch nur durch die Schwangere begangen werden kann, würde man – nur, aber eben auch immer – beim Selbstabbruch die Schwangerschaft zur täterschaftsbegründenden Sonderdeliktseigenschaft machen. § 218 Abs. 1 42 A.A. z. B. Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218 Rn. 30; Fischer, StGB, § 218 Rn. 9. Wie hier offenbar MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 38. 43 Fn. 39.

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in der Verwirklichungsvariante des Selbstabbruchs wäre daher Sonderdelikt. Die Frage nach den Voraussetzungen der Täterschaft wäre dann mit einer Stellungnahme zwischen den drei Möglichkeiten a) alleiniger Pflichtverletzung, b) alleiniger Tatherrschaft, oder c) Pflichtverletzung plus Tatherrschaft zu entscheiden.44 Es ist erstaunlich, dass diese sich auf dem Boden der zwischen Fremdabbruch und Selbstabbruch differenzierenden herrschenden Meinung eigentlich ergebende Konsequenz nicht gezogen wird.45 Dagegen hat sich gezeigt, dass mit der Unterscheidung in Fremd- und Selbstabbruch eine rechtliche Festlegung im Sinne einer beteiligungsdogmatischen Einordnung noch nicht verbunden sein kann. Wenn aber die Bezeichnungen als Fremdabbruch einerseits und Selbstabbruch andererseits zum einen lediglich tatsächliche Sachverhaltskonstellationen beschreiben, zum anderen ein täterschaftlicher Selbstabbruch auch durch einen Dritten und ein täterschaftlicher Fremdabbruch auch durch die Schwangere selbst begangen werden kann, dann handelt es sich bei § 218 in jeder Begehungsvariante um ein Jedermanndelikt. Das bedeutet, dass die Frage der Täterschaft sich auch in jeder Begehungsvariante auf dem Boden der herrschenden Literaturansicht im Rahmen der Beteiligungsdogmatik allein nach der Tatherrschaft richtet. 3. Die Methodik der „Abgrenzung“ von Tun und Unterlassen Einen weiteren Schwerpunkt der Auseinandersetzung über die Strafbarkeit der Schwangeren gem. § 218 Abs. 1 bildet der Streit um die Frage, ob in denjenigen Fäl44

Dazu jüngst (mit differenzierender Stellungnahme) Rotsch, GS Joecks, 2018, 149. Von der älteren Rechtsprechung und Literatur ist sie auf dem Boden der damals noch ausdrücklich normierten Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdabbruch freilich gesehen – und verworfen – worden; siehe BGH NJW 1951, 668: „Es ist auch unzutreffend, daß die Abtreibungshandlung der Schwangeren als Eigenabtreibung ein selbständiges, und zwar eigenhändiges Verbrechen sei (a.M. RGSt. 74, 21). Unter eigenhändigem Verbrechen versteht man in der Rechtslehre einheitlich nur solche Straftaten, die nicht durch mittelbare Täterschaft begangen werden können. Daß dieses Merkmal auf die sog. Eigenabtreibung nicht zutrifft, ist allgemein anerkannt. Die Auffassung, es handle sich bei der Abtreibung um ein Sonderverbrechen, ist schließlich von der Rspr. und von der Rechtslehre mit der zutreffenden Begründung abgelehnt worden, daß ihre Strafbarkeit nicht durch die Zugehörigkeit des Täters zu einem besonderen Pflichtenkreis begründet oder erhöht wird (RGSt. 47, 65; Mezger, DR 40, 495). Der äußerlich getrennten Behandlung der Tat der Schwangeren und derjenigen des sog. Fremdabtreibers in § 218 Abs. 1 und Abs. 3 StGB liegt jedoch eine verschiedene soziale und sittliche Bewertung nicht nur der Taten, sondern allein der handelnden Personen zugrunde (Lange, a.a.O. S. 76). Dieselbe Tat soll nach dem im Gesetz zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers bei der Schwangeren milder, bei dem Dritten aber, der sich nicht in der seelischen Notlage der Schwangeren befindet, strenger bestraft werden. Dieses Ziel würde aber unmöglich gemacht, wenn die Abs. 1 und 3 des § 218 StGB jeweils als selbständige gesetzliche Tatbestände aufzufassen wären. Denn dann müßte folgerichtig fast immer die Schwangere – die nach den Erfahrungen des Lebens in den meisten Fällen den Abtreiber selbst auffordert – nicht nur nach § 218 Abs. 1, sondern außerdem auch wegen Teilnahme zur Fremdabtreibung gem. § 218 Abs. 3 bestraft werden.“ 45

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len, in denen die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch durch einen Dritten – insbes. den Arzt – zulässt, für die Schwangere (täterschaftliches) Begehen oder Unterlassen vorliegt.46 Auch dieser Diskussion liegt ein Missverständnis zugrunde. Bsp. 3: Die schwangere S begibt sich zum Arzt A, bei dem sie den Abbruch vornehmen lässt.

Bei mehrdeutigen Verhaltensweisen wollen weite Teile des Schrifttums47 und auch der BGH in ständiger Rechtsprechung48 die „Wertungsfrage“ der angeblich apriorisch erforderlichen Abgrenzung von Tun und Unterlassen nach dem „Schwerpunkt des strafrechtlich relevanten Verhaltens“49 entscheiden. Eine solche „Abgrenzungsfrage“ gibt es aber in Wahrheit nicht; tatsächlich geht es um die Beantwortung des Verhältnisses von Tun und Unterlassen für den Fall, dass sowohl die Anknüpfung an ein Tun wie auch diejenige an ein Unterlassen zu einer Strafbarkeit führt.50 Diese Frage ist nach Konkurrenzregeln zu beantworten.51 Die Auseinandersetzung darüber, ob vor der eigentlichen Tatbestandsprüfung festgestellt werden muss, ob ein Tun oder Unterlassen vorliegt, hat aber eine ganz andere Frage zum Gegenstand. Sie ist richtigerweise – entgegen der h.M.52 – zu verneinen.53 In Wahrheit ist es regelmäßig nicht schwierig, ein konkretes Verhalten als Tun oder Unterlassen zu klassifizieren. Das lässt sich schön an einem Beispiel exemplifizieren, das von Merkel selbst stammt:54 Bsp. 4: Der Geschäftsmann A stellt in einer kalten Winternacht die Heizung seiner Geschäftsräume ab, was zum Tod eines betrunkenen Obdachlosen führt, der es sich vor dem Geschäft auf dem Lüftungsgitter des Heizungskellers gemütlich gemacht hat.

Stellt man in diesem Fall auf das Unterlassen (des Heizens) ab, hat A sich mangels Garantenstellung lediglich allenfalls55 gem. § 323c Abs. 1 strafbar gemacht. Knüpft man hingegen an das aktive Tun (des Abstellens der Heizung) an, liegt eine Strafbarkeit gem. § 222 vor. Wer hier seiner strafrechtlichen Subsumtion die apriorische Festlegung auf das Tun oder das Unterlassen voranstellt, unterliegt einem Zirkelschluss, 46

MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 40. HK/GS-Tag, § 13 Rn. 4; Schönke/Schröder-Bosch, Vor §§ 13 ff. Rn. 158a; Fischer, Vor § 13 Rn. 12; Ranft, JZ 1987, 859 (862); Laubenthal, 1989, 827 (828); Schwab, Täterschaft und Teilnahme bei Unterlassungen, 1995, S. 30; Stoffers, Die Formel „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen?, 1992, S. 53 f. 48 BGHSt 6, 46 (59); 49, 147 (164); 51, 165 (173); 52, 159 (163). 49 Wessels/Beulke/Satzger, AT, Rn. 987. 50 Rotsch, ZIS 2018, 1 (2). 51 Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, AT, § 21 Rn. 27. 52 Vgl. z. B. Heinrich, AT, Rn. 866 f.; Jescheck/Weigend, AT, § 58 II. 1.; Kühl, AT, § 18 Rn. 11; Roxin, AT II, § 31 Rn. 72. 53 Rotsch, ZIS 2018, 1 (2). 54 Der – hier verkürzt wiedergegebene – Sachverhalt und seine ausführliche Diskussion finden sich bei: Merkel, FS Herzberg, 2008, S. 193. 55 § 323c Abs. 1 setzt einen Unglücksfall oder gemeine Gefahr bzw. gemeine Not voraus. Nach dem von Merkel geschilderten Sachverhalt fehlt es hieran aber. Daher steht hier tatsächlich sogar die Wahl zwischen einer Strafbarkeit nach § 222 wegen aktiven Tuns und Straflosigkeit wegen Unterlassens in Rede. 47

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erhebt eine unerhebliche Abgrenzungsfrage zum streiterheblichen Gegenstand und begibt sich in eine Diskussion „konturlose[r] Beliebigkeit“56.57 Tatsächlich liegt ein Tun – das Abstellen der Heizung – und ein Unterlassen – das weitere Beheizen der Räume – vor, die beide darauf zu untersuchen sind, ob sie jeweils die Voraussetzungen der Strafbarkeit erfüllen.58 (Nur) Sofern dies der Fall ist, hat eine (konkurrenzrechtliche) Entscheidung zwischen den beiden Verhaltensweisen zu erfolgen.

IV. Die täterschaftliche Verantwortlichkeit der Schwangeren Kommen wir zurück auf unseren obigen Fall in Bsp. 3, den wir zur Beurteilung der Strafbarkeit nun im Folgenden in unterschiedlicher Weise konkretisieren müssen (unter 1. – 3.). Denn der Schwangerschaftsabbruch selbst wird in Deutschland im Wesentlichen auf drei unterschiedliche Arten und Weisen durchgeführt und es liegt auf der Hand, dass die konkrete Sachverhaltsausgestaltung – für die Beantwortung der Frage nach der Tatherrschaft – entscheidend sein kann. 1. Erste Fallkonstellation Bsp. 3a: Die schwangere S begibt sich zum Arzt A, bei dem sie den Abbruch mittels Vakuumaspiration unter örtlicher Betäubung vornehmen lässt.

Es stellt an sich eine Selbstverständlichkeit dar, dass die rechtliche Beurteilung dieses Sachverhalts – wie immer – die Subsumtion unter die einschlägigen Strafvorschriften, in keiner Weise aber die apriorische und mehr oder weniger freihändige Einordnung in irgendwelche vagen, nicht originär strafrechtlichen Kategorien voraussetzt. Vor diesem Hintergrund lässt sich für die Schwangere eine Strafbarkeit wegen Schwangerschaftsabbruchs gem. § 218 Abs. 1, Abs. 3 als unmittelbare Täterin [dazu unter b)], mittelbare Täterin [dazu unter c)], Mittäterin [dazu unter d)] oder als Unterlassungsverantwortliche [dazu unter e)] diskutieren. Zuvor ist freilich die beteiligungsdogmatische Rolle des A zu klären [dazu unter a)]. a) Die Strafbarkeit des A gem. § 218 Abs. 1 Bei der Vakuumaspiration (als Form der sog. Absaugmethode) wird – regelmäßig unter örtlicher Betäubung wie in Bsp. 3a – der Gebärmutterhals der Schwangeren von der Scheide aus mit Metallstäbchen so weit aufgedehnt, dass ein sechs bis zehn Millimeter dünner Schlauch in die Gebärmutter eingeführt werden kann. 56

Merkel, Herzberg FS, 2008, S. 193 (196). Vgl. bereits Rotsch, ZIS 2018, 1 (3). Siehe auch die Nachw. bei Merkel, Herzberg FS, 2008, S. 196 in Fn. 7. Vgl. auch noch Kuhlen, Puppe FS, 2011, S. 669 (673). 58 Rotsch, ZIS 2018, 1 (3). Siehe auch noch Fn. 55. 57

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Über diesen Schlauch wird sodann das Schwangerschaftsgewebe abgesaugt. Der Eingriff dauert nur wenige Minuten.59 Wird diese Methode vom Arzt angewandt, so verwirklicht zunächst er den Tatbestand des § 218 Abs. 1 als unmittelbarer Täter gem. § 25 Abs. 1 Var. 1. Denn er führt kausal und objektiv zurechenbar den Tod des Fötus herbei. Da er sämtliche Merkmale des Deliktstatbestandes unmittelbar eigenhändig verwirklicht, hat er auf dem Boden der Tatherrschaft die Handlungsherrschaft inne60 und ist mithin als unmittelbarer Täter des Schwangerschaftsabbruchs verantwortlich. Von der Frage nach einer möglicherweise daneben bestehenden Tatherrschaft der S ist diese Feststellung zunächst einmal vollständig unabhängig. b) Die Strafbarkeit der S als unmittelbare Täterin, § 25 Abs. 1 Var. 1 Will man die Frage beantworten, ob S in diesem Sachverhalt – ebenfalls – unmittelbar täterschaftlich gem. § 25 Abs. 1 Var. 1 verantwortlich ist, ist bereits an dieser Stelle der im Schrifttum geführte Streit um die Einordnung der Konstellation, in der die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch durch einen Dritten zulässt,61 für irrelevant zu erklären. Denn durch das Unterbleiben des – aufgrund der lediglich örtlichen Betäubung ihr weiterhin möglichen – Einschreitens gegen die unmittelbar eigenhändige Abbruchshandlung durch den Arzt, lässt die Schwangere natürlich den Abbruch durch den Arzt zu, sodass man auf die Idee verfallen könnte, sogleich in die Diskussion um die Einordnung des Zulassens als aktives Tun oder Unterlassen einzusteigen.62 Tatsächlich stehen hier aber zwei unterschiedliche Verhaltensweisen in Frage, die – s. o. III. 3. – getrennt voneinander zu untersuchen sind: Zum einen geht es mit dem bloßen Zulassen des Abbruchs durch den Arzt ganz offensichtlich um ein Unterlassen („Zulassen“). Hier steht aber zunächst die – andere – Frage nach der Qualität der Beteiligung durch das Ermöglichen des Abbruchs63 an. Dabei geht es auf dem Boden eines extensiven Tatherrschaftsverständnisses aber ebenso eindeutig um aktives Tun wie es sich beim Zulassen des Abbruchs um ein Unterlassen handelt, weil insoweit die dem eigentlichen Abbruch vorangehenden Aktivitäten der Schwangeren – Aufsuchen des Arztes, Initiieren des Abbruchs etc. – in die Betrachtung miteinbezogen werden. Schon dieses exten59

Hoffmann, Schwangerschaftsabbruch, Statistische, medizinische, soziologische und psychologische Aspekte, 2013, S. 28; Salaschek, Die „Kind als Schaden“-Rechtsprechung im Verhältnis zu den §§ 218 ff. StGB, 2018, S. 12. 60 Roxin, AT II, § 25 Rn. 38; ders., Täterschaft und Tatherrschaft, S. 546; LK-Schünemann, § 25 Rn. 53 ff. 61 Missverst. MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 40. 62 Die h.A. tut dies denn auch, vgl. z. B. MüKo/StGB-Gropp, § 128 Rn. 40; NK/StGBMerkel, § 218 Rn. 93; LK/StGB-Kröger, § 218 Rn. 17 ff.; BeckOK/StGB-Eschelbach, § 218 Rn. 8; Schönke/Schröder-Eser/Weißer, § 218 Rn. 31; Lackner/Kühl, § 218 Rn, 15. 63 Deutlich idS MüKo/StGB-Gropp, § 218 Rn. 40.

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sive Tatherrschaftsverständnis muss man nicht für richtig halten und es wird hier auch nicht für richtig gehalten; aber selbst wenn man diese überwiegende Ansicht teilt, spricht nichts dafür, die Begehungs- und Unterlassungselemente des naturgemäß vielfältigen, mehraktigen und zeitlich gestreckten Verhaltens der Schwangeren – wie die h.M. dies tut – unterschiedslos zu vermengen. Zunächst ist also allein dasjenige Verhalten der Schwangeren zu beurteilen, das in einem aktiven Tun besteht. Liegt der Fall so, dass die Schwangere den Arzt aufsucht und den Abbruch der Schwangerschaft initiiert, der Abbruch wie in unserem Beispiel aber unmittelbar eigenhändig durch den Arzt vorgenommen wird, lässt sich richtigerweise nicht davon sprechen, (auch) die Schwangere habe Handlungsherrschaft. Die Handlungsherrschaft setzt, wie gesehen64, die unmittelbar eigenhändige Verwirklichung sämtlicher Deliktsmerkmale voraus. Diese erfolgt aber alleine durch den Arzt. Dass S ihren Körper für den Eingriff kooperativ zur Verfügung stellt, ändert hieran ebenso wenig etwas wie der Umstand, dass die nur örtlich betäubte S den Abbruch durch den Arzt noch hätte verhindern können. Denn die bloße Hinderungsmöglichkeit der Erfolgsverwirklichung begründet keine Tatherrschaft.65 c) Die Strafbarkeit der S als mittelbare Täterin, § 25 Abs. 1 Var. 2 Auch eine mittelbare Täterschaft lässt sich für S nicht annehmen. Denn die hierfür erforderliche Willensherrschaft liegt bei S nicht vor. Sie lässt sich nach der Tatherrschaftslehre in den Fällen der Irrtumsherrschaft66, der Nötigungsherrschaft67 und, nach überwiegend vertretener Auffassung innerhalb dieser Lehre, auch als Organisationsherrschaft68 begründen. Die beiden ersten Konstellationen sind ersichtlich nicht gegeben, denn die dafür erforderlichen Strafbarkeitsdefizite des Vordermanns liegen bei A nicht vor. Aber auch die modernere Form der mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft ist nicht einschlägig. Nach dem insoweit überwiegenden Tatherrschaftsverständnis setzt sie die Benutzung eines Tatmittlers im Rahmen eines organisierten Unrechtsapparats voraus,69 woran es erkennbar fehlt.

64

Oben bei und in Fn. 60. Roxin, AT II, § 31 Rn. 133. 66 Roxin, AT II, § 25 Rn. 61 ff. 67 Roxin, AT II, § 25 Rn. 47 ff.; ders., Täterschaft und Tatherrschaft, S. 131. 68 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 250 f.; Wessels/Beulke/Satzger, AT Rn. 807; ablehnend Rotsch, ZStW 112 (2000), 518 (561); ders., „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, 2009, S. 372 ff.; Kindhäuser, AT, § 39 Rn. 40. 69 Roxin, GA 1963, 193; ders., Täterschaft und Tatherrschaft, S. 249 ff.; Ambos, GA 1998, 226 (235 ff.); MüKo/StGB-Joecks, § 25 Rn. 154; NK/StGB-Schild, § 25 Rn. 120 ff. mwN. 65

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d) Die Strafbarkeit der S als Mittäterin, § 25 Abs. 2 Dementsprechend wird von einigen – auch von Merkel70 – eine Strafbarkeit der S als Mittäterin gem. § 25 Abs. 2 befürwortet.71 Auch hier wird man freilich zu unterscheiden haben: Das Zulassen des vom Arzt vorgenommenen Abbruchs durch die Schwangere stellt ein Unterlassen dar (s. o.) und kann jedenfalls keine mittäterschaftliche Verantwortlichkeit wegen aktiven Tuns begründen. In Frage steht hier vielmehr, ob das Aufsuchen des Arztes, das Initiieren des Abbruchs und ggfs. eine aktive Kooperation der S mit A eine Verantwortlichkeit der S als Mittäterin zu begründen imstande ist. Auf dem Boden eines weiten Mittäterschaftsverständnisses, für das auch der eigentlichen Tathandlung vorgelagerte Handlungen mittäterschaftsbegründend sein können,72 ist die Frage ohne Weiteres zu bejahen. Ein restriktives Mittäterschaftsverständnis hingegen wird sich damit freilich schwertun. Denn dazu bedürfte es der funktionellen Tatherrschaft73 der S gerade im Tatausführungsstadium. Wie stets bei der Anwendung des Tatherrschaftskriteriums hängt die Beantwortung der Frage nach der Täterschaft insbesondere auch davon ab, welches Tatverständnis man der eigenen Beurteilung zugrunde legt.74 Denn Täter soll hiernach ja derjenige sein, der die Herrschaft über die Tat innehat. Je enger das Begriffsverständnis im Hinblick auf die den betreffenden Tatbestand ausmachende Tat ist, desto kleiner wird der Kreis potentieller Täterstrafbarkeit. Die besondere Schwierigkeit bei § 218 besteht dabei darin, dass es sich bei diesem Straftatbestand um ein reines Verursachungsdelikt handelt. Wenn hier aber im objektiven Unrechtstatbestand lediglich die kausale und objektiv zurechenbare Verursachung des tatbestandsmäßigen Erfolgs vorausgesetzt wird (s. o.), so lässt sich naturgemäß trefflich darüber streiten, wo der Beginn dieses – nicht über weitere Tatbestandsmerkmale konkretisierten – Kausalverlaufs zu lozieren ist, den der Beteiligte bzw. die Schwangere gerade täterschaftlich verwirklicht haben muss. Tatbestandsvoraussetzung des § 218 Abs. 1 ist, dass der Täter oder die Täterin die Schwangerschaft abbricht. Oben wurde diese euphemistische Beschreibung in einer ersten Konkretisierung übersetzt in die Aussage, Tathandlung sei jede „täterschaftlich bewirkte“ Handlung, die den Tod des Embryos herbeiführt.75 Geht man unter 70

NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 93. RGSt 61, 360; LK-Kröger, § 218 Rn. 30; Lackner/Kühl, § 218 Rn. 16; AWHH-Hilgendorf, BT, § 5 Rn. 33; Roxin, JA 1981, 542. 72 MüKo/StGB-Joecks, § 25 Rn. 195 ff.; Baumann, JuS 1963, 85 (86 f.); einschränkend Kühl, JA 2014, 668 (671 f.). 73 Zur funktionellen Tatherrschaft grds. Roxin, AT II, § 25 Rn. 188 ff.; ders., Täterschaft und Tatherrschaft, S. 275 ff. Zum Streit um die Voraussetzungen der Mittäterschaft im Einzelnen Rotsch, Puppe FS, 2011, S. 887 (889 ff.); ders., ZJS 2012, 680 (682 ff.); ders., ZIS 2018, 1 (9 f.). 74 Vgl. Rotsch, „Einheitstäterschaft“ statt Tatherrschaft, 2009, S. 290 ff. 75 Siehe dazu oben II. 71

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Zugrundelegung des restriktiven Täterbegriffs76 davon aus, dass die Deliktstatbestände des Besonderen Teils gerade die täterschaftliche Verwirklichung des Tatbestandes beschreiben,77 folgt daraus für ein reines Verursachungsdelikt, dass die Bestrafung als Täter die kausale und objektiv zurechenbare, täterschaftliche Verursachung des tatbestandsmäßigen Erfolgs voraussetzt.78 Das alles ändert aber nicht das Geringste daran, dass der Beginn dieses täterschaftlich verwirklichten Geschehensablaufs streng tatbestandsbezogen festzulegen ist. Und insoweit spricht der Gesetzgeber in § 218 durchaus hilfreich vom „Abbrechen“ der Schwangerschaft. Nur im Beginn der Abbruchshandlung kann daher der Beginn des für die Feststellung der Tatherrschaft maßgeblichen Kausalverlaufs erblickt werden. Die h.M. verlangt eine unmittelbare oder mittelbare Einwirkungshandlung auf das Ungeborene.79 Damit verlagert das Problem sich freilich zunächst nur, weil immer noch entschieden werden muss, wann die unmittelbare oder mittelbare Einwirkung in diesem Sinne beginnt. Wann dies der Fall ist, konkretisiert mit § 22 dann freilich eine Vorschrift aus dem Allgemeinen Teil des StGB. Danach ist insoweit maßgeblich derjenige Zeitpunkt, in dem der Täter zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt. Im Rahmen des § 218 Abs. 1 muss also zur Einwirkung auf das Ungeborene unmittelbar angesetzt werden. Dabei stellt es keinen Widerspruch dar, dass diese Einwirkung mittelbarer Natur sein kann, der Täter insoweit also unmittelbar zur mittelbaren Einwirkung angesetzt haben muss. Nimmt man als ein Paradebeispiel mittelbarer Einwirkung die Einnahme sog. Prostaglandine durch die Schwangere im Rahmen eines medikamentösen Schwangerschaftsabbruchs,80 so liegt der Beginn der Abbruchshandlung im unmittelbaren Ansetzen zur Tabletteneinnahme. Nimmt, wie in unserem Bsp. 3a, der Arzt unmittelbar eigenhändig den Abbruch vor, beginnt mithin in diesem Zeitpunkt die maßgebliche Zeitspanne, auf die die Tatherrschaft der Schwangeren sich beziehen muss. Damit sind insbesondere vor diesem Zeitpunkt liegende Aktivitäten der Schwangeren – Aufsuchen des Arztes, Initiieren des Schwangerschaftsabbruchs etc. – von der Betrachtung ausgenommen. Eine Mittäterschaft gem. § 25 Abs. 2 aufgrund dieser Vorbereitungshandlungen kommt daher richtigerweise nicht in Betracht.81 76 Vgl. dazu den Überblick bei Schönke/Schröder-Heine/Weißer, Vor §§ 25 ff. Rn. 4 ff. m.w.N. 77 Roxin, AT II, § 25 Rn. 5. 78 Daher überzeugt auch die Aussage von Roxin, AT II, § 25 Rn. 5, nicht, wonach der richtige Ansatz zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme nicht in der Verursachung, sondern der Tatbestandsverwirklichung liege. Denn bei den Verursachungsdelikten besteht die Tatbestandsverwirklichung gerade in der Verursachung. 79 Vgl. ausführlich und instruktiv NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 51 ff. 80 Vgl. dazu noch unten Bsp. 3c unter 3. 81 Eine Mittäterschaft kraft Mitwirkung im Vorbereitungsstadium ist damit grundsätzlich ausgeschlossen, vgl. bereits Rotsch, ZJS 2012, 680 (684). Ebenso seit jeher Roxin, AT II, § 25 Rn. 198 ff.; Herzberg, Täterschaft und Teilnahme, 1977, S. 64 ff.; Puppe, ZIS 2007, 234 (245).

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Auf dem Boden dieser restriktiven Sichtweise scheidet freilich eine Mittäterschaft der Schwangeren auch für den hier für maßgeblich gehaltenen Zeitraum des Abbruchs aus. Denn der Abbruch wird unmittelbar eigenhändig und vollständig allein gem. § 25 Abs. 1 Var. 1 von dem Arzt durchgeführt. Genauer: Allein der Arzt verursacht den Tod des Fötus der S kausal und objektiv zurechenbar täterschaftlich.82 e) Die Strafbarkeit der S als Unterlassungsverantwortliche, § 218 Abs. 1, Abs. 3, 13 Damit kommt eine täterschaftliche Verantwortlichkeit der Schwangeren in Bsp. 3a nur noch als Unterlassungstäterin in Betracht. Vor dem Hintergrund des oben zur Kollision von aktivem Tun und Unterlassen Gesagten83 rückt damit (nur) dasjenige Verhalten in den Fokus, das in der objektiv möglichen und rechtlich zumutbaren Nichtverhinderung des tatbestandsmäßigen Erfolgs besteht84. Da S in dieser Konstellation nur örtlich betäubt ist, hat sie jederzeit die Möglichkeit, den Abbruch der Schwangerschaft durch A zu verhindern. Bekanntlich ist nun umstritten, ob die Täterschaft beim unechten Unterlassungsdelikt sich ebenfalls nach der Tatherrschaft bestimmen lässt.85 Richtigerweise wird man davon ausgehen müssen, dass dies nicht möglich ist,86 Täter hier vielmehr – wie bei den übrigen Pflichtdelikten87 – grundsätzlich derjenige ist, der die im Tatbestand vorausgesetzte außerstrafrechtliche (Sonder-)Pflicht verletzt.88 Bei den unechten Unterlassungsdelikten stellt die Garantenpflicht diese Sonderpflicht dar.89 Auch wenn hier im Einzelnen noch Klärungsbedarf besteht, herrscht doch weitgehend Einigkeit zumindest darin, dass jedenfalls die Schwangere Garantin für das Leben des

Anders z. B. Arzt, JZ 1984, 428 (429); Baumann, JuS 1963, 85 (86); sowie insbes. die Rechtsprechung des BGH, vgl. nur BGHSt 11, 268 (271). Zum Streitstand Kühl, AT, § 20 Rn. 110 ff., 126 ff. 82 Für die Schwangere kommt dann nach hier vertretener Auffassung allenfalls eine Teilnahmestrafbarkeit in Betracht, je nach Fallgestaltung als Anstifterin gem. § 26 oder als Gehilfin i.S.d. § 27. Anders auf dem Boden eines extensiveren Mittäterschaftsverständnisses NK/ StGB-Merkel, § 218 Rn. 93; LK-Kröger, § 218 Rn. 19; AnwK/StGB-Mitsch, § 218 Rn. 6. 83 III. 3. 84 Zu den Voraussetzungen des unechten Unterlassungsdelikts vgl. Heinrich, AT, § 26 Rn. 881 ff.; Krey/Esser, AT, § 34 Rn. 1099 ff.; Rengier, AT, § 49; Kühl, AT, § 18 Rn. 1 ff. m.w.N. 85 Dazu nur Roxin, AT II, § 31 Rn. 140 ff.; Heinrich, AT, Rn. 1212 ff.; jeweils m.w.N. Vgl. aus jüngerer Zeit Haas, ZIS 2011, 392. 86 Kühl, AT, § 20 Rn. 270, 230 f.; Wessels/Beulke/Satzger, AT, Rn. 1211; LK-Schünemann, § 25 Rn. 205 ff.; NK/StGB-Gaede, § 13 Rn. 26. 87 Zur Pflichtdeliktslehre grundsätzlich Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 354 f., 384 ff. 88 Rotsch, GS Joecks, 2018, S. 149 (161 f.). 89 Roxin, AT II, § 31 Rn. 140 ff.

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Ungeborenen ist.90 Trennt man also – wie hier – das aktive Tun strikt vom Unterlassen, so ist die Schwangere im Fall des bloßen Zulassens des Abbruchs durch den Arzt strafbar als Täterin des unechten Unterlassungsdelikts gem. §§ 218 Abs. 1, Abs. 3, 13 Abs. 1.91 2. Zweite Fallkonstellation Noch immer weit verbreitet in Deutschland ist die Methode der Ausschabung (Curettage).92 Hierbei wird zunächst ebenfalls der Gebärmutterhals geweitet. Sodann schiebt der Arzt über die Vagina einen Löffel in die Gebärmutter und entfernt die oberste innere Schicht und damit auch das Embryonalgewebe. Auch dieser Eingriff gilt als komplikationsarm, aber etwas risikoreicher als die Absaugmethode; er wird daher regelmäßig in Vollnarkose durchgeführt und dauert etwa 15 Minuten. Bsp. 3b: Die schwangere S begibt sich zum Arzt A, bei dem sie den Abbruch mittels Curettage in Vollnarkose vornehmen lässt.

Es lässt sich leicht sehen, dass in dieser Konstellation sich zunächst an der Strafbarkeit des Arztes gem. § 218 Abs. 1, 25 Abs. 1 Var. 1 nichts ändert. Denn auch hier nimmt er den Abbruch unmittelbar eigenhändig vor.93 Da in dieser Variante die Schwangere aufgrund ihrer Bewusstlosigkeit während des Abbruchs auch nicht intervenieren kann, können Zweifel an der Handlungsherrschaft des Arztes hier von vornherein nicht aufkommen. Für S bedeutet dies, dass hier ebenso wie in Bsp. 3a eine eigene Handlungsherrschaft und damit unmittelbare Täterschaft gem. § 25 Abs. 1 Var. 1 ausscheidet. Wie oben kommt sodann auch hier eine mittelbare Täterschaft der S gem. § 25 Abs. 1 Var. 2 nicht in Betracht. Aber auch Mittäterschaft gem. § 25 Abs. 2 kann nicht vorliegen. Teilt man den hier vertretenen Ausgangspunkt, dass die Tatherrschaft der S sich auf den unmittelbaren Tatausführungszeitraum beziehen muss, können auch hier vor diesem Zeitpunkt liegende Aktivitäten der Schwangeren – Aufsuchen des Arztes, Initiieren des Schwangerschaftsabbruchs etc. – eine (mit-) täterschaftliche Verantwortlichkeit der S nicht begründen. Und für den hier für maßgeblich gehaltenen Zeitraum des Abbruchs kommt eine Mittäterschaft der S erst recht nicht in Betracht. Denn in diesem maßgeblichen Tatausführungszeitraum ist es ihr aufgrund ihrer Bewusstlosigkeit unmöglich, irgendeine Form der Tatherrschaft 90

Vgl. ausführlich NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 94 ff. (95). Für die Vertreter eines extensiveren Mittäterschaftsverständnisses – die entscheidend auf die Aktivitäten der Schwangeren im Vorfeld abstellen und daher in diesen Fällen nicht zu einem Unterlassen kommen – bleibt dennoch ein Anwendungsbereich des unechten Unterlassens, und zwar in Fällen, in denen es an einer tatvorbereitenden Aktivität der Schwangeren fehlt, so z. B. wenn die Schwangere während einer routinemäßigen gynäkologischen Untersuchung plötzlich vom Arzt vorgenommene Abbruchshandlungen bemerkt und nicht verhindert, siehe NK/StGB-Merkel, § 218 Rn. 93. 92 Vgl. Hoffmann, Schwangerschaftsabbruch, Statistische, medizinische, soziologische und psychologische Aspekte, 2013, S. 30. 93 Vgl. oben 1. a). 91

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auszuüben. Auch hier wird der Abbruch unmittelbar eigenhändig und vollständig allein gem. § 25 Abs. 1 Var. 1 von dem Arzt durchgeführt. Zu einem anderen Ergebnis als in Bsp. 3a führen aber die Überlegungen zur Unterlassungsstrafbarkeit der S in Bsp. 3b. Während im Ausgangsfall zumindest noch eine Strafbarkeit der S gem. §§ 218 Abs. 1, Abs. 3, 13 begründet werden kann,94 ist auch diese Möglichkeit hier versperrt. Zwar ändert sich selbstverständlich nichts an der Garantenpflicht der S. Auf der Grundlage der hier vorgenommenen strikten Trennung von Tun und Unterlassen und des daraus folgenden Umstandes, dass für die Strafbarkeit der S wegen unechten Unterlassens nur das reine (passive) Zulassen des vom Arzt durchgeführten Abbruchs in Betracht kommt,95 scheidet eine Strafbarkeit der S als Unterlassungstäterin hier jedoch aus. Denn die Strafbarkeit des Unterlassens setzt die individuelle Handlungsfähigkeit voraus.96 An ihr fehlt es, wenn dem Normadressaten die erwartete Handlung körperlich unmöglich ist.97 Das ist auch dann der Fall, wenn – wie hier – die Handlungsunfähigkeit auf Bewusstlosigkeit beruht.98 Zweifel an diesem Ergebnis kann nur derjenige haben, der auf einen solchen Fall die Grundsätze der omissio libera in causa anwenden will.99 Dagegen spricht – neben ganz grundsätzlichen Einwänden100 – jedenfalls in unserer Fallkonstellation, dass man auf diesem Weg eine Aktivität der Schwangeren im Vorbereitungsstadium, die dogmatisch allenfalls eine Teilnahmestrafbarkeit begründen kann, zur (Unterlassungs-)Täterschaft aufwertete. In Bsp. 3b scheidet eine Strafbarkeit der Schwangeren als Täterin daher aus. 3. Dritte Fallkonstellation Die dritte in Deutschland verbreitete Methode des Schwangerschaftsabbruchs stellt die medikamentöse Behandlung dar.101 Dabei wird in der Regel das künstliche Hormon Mifepriston eingesetzt. Im Ergebnis wird dadurch die Schleimhaut der Gebärmutter abgelöst. Es kommt zu einer Blutung, die Plazenta löst sich ab, der Embryo und seine Höhle werden ausgestoßen. Die Schwangerschaft endet dann ähnlich wie bei einem spontanen Abgang bei einer Fehlgeburt.102 94

Siehe oben 1. e). 1. e). 96 Roxin, AT II, § 31 Rn. 8; Wessels/Hettinger/Engländer, BT I, Rn. 164 f. 97 Vgl. nur Roxin, AT II, § 31 Rn. 8. 98 Kühl, AT, § 18 Rn. 12, 32. 99 Vgl. grds. Kühl, AT, § 18 Rn. 22; schon grds. kritisch NK/StGB-Wohlers/Gaede, § 13 Rn. 13. 100 Vgl. NK/StGB-Wohlers/Gaede, § 13 Rn. 13. 101 Zur Verteilung der Methoden siehe Hoffmann, Schwangerschaftsabbruch, Statistische, medizinische, soziologische und psychologische Aspekte, 2013, S. 30. 102 Vgl. hierzu ausf. Holzgreve/Danzer, Frauenheilkunde und Geburtshilfe, 2. Aufl. 2003, S. 128 (131). 95

Zur Täterschaft der Schwangeren beim Schwangerschaftsabbruch

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Bsp. 3c: Die schwangere S begibt sich zum Arzt A, um ihre Schwangerschaft abbrechen zu lassen. Da S sich noch in der Frühschwangerschaft befindet, verständigen A und S sich auf einen medikamentösen Abbruch mittels Mifepriston. Unter Aufsicht des A nimmt S die Tablette ein und kann anschließend die Praxis verlassen. Wie mit A abgesprochen, nimmt S zwei Tage später zu Hause zusätzliche Hormone, sog. Prostaglandine, in Tablettenform ein. Die Prostaglandine führen dazu, dass die Gebärmutter der S sich zusammenzieht und das Schwangerschaftsgewebe innerhalb von drei Stunden durch eine Blutung ausgestoßen wird. Bei der obligatorischen Nachuntersuchung zehn Tage später stellt A per Ultraschalluntersuchung fest, dass der Abbruch erfolgreich war.

In dieser vollständig anders gelagerten Konstellation liegt die Handlungsherrschaft nun nicht mehr bei A, sondern bei S. Denn nun ist es S, die den Abbruch unmittelbar eigenhändig und vollständig allein vornimmt. Dass sie dies zumindest im Hinblick auf die Einnahme der ersten Tablette unter Aufsicht des A tut, ändert hieran ebenso wenig etwas, wie der Umstand, dass sie – anders als A in Bsp. 3a und 3b – nicht unmittelbar auf den Fötus, sondern auf diesen durch die Tabletteneinnahme nur mittelbar einwirkt.103 Für die Konstellation in Bsp. 3c wird man daher zu dem Ergebnis kommen müssen, dass S unmittelbare Alleintäterin eines Schwangerschaftsabbruchs durch aktives Tun gem. §§ 218 Abs. 1, Abs. 3, 25 Abs. 1 Var. 1 ist. A kann hier allenfalls als Teilnehmer strafbar sein.

V. Ergebnis Die Beteiligungsdogmatik fristet im Rahmen der Diskussion des Schwangerschaftsabbruchs gem. § 218 – erstaunlicherweise und zu Unrecht – ein Schattendasein. Schon die verbreitete Unterscheidung in Selbst- und Fremdabbruch hilft in der Sache nicht weiter. Sie beschränkt sich auf eine phänomenologische Beschreibung der zwei grundsätzlich denkbaren unterschiedlichen Sachverhaltskonstellationen, impliziert aber eine – unzutreffende – Zuschreibung täterschaftlicher Verantwortlichkeit. Die nach der weithin praktizierten Differenzierung zwischen Selbst- und Fremdabbruch eigentlich konsequente Einordnung des Selbstabbruchs als Sonderdelikt erfolgt dabei erstaunlicherweise – im Ergebnis freilich zu Recht – nicht. Entscheidend für die Beantwortung der Frage nach der Täterschaft der Schwangeren kann auf dem Boden der Tatherrschaftslehre auch i.R.d. § 218 nur die Tatherrschaft sein. Diese ist dann aber auch für jeden Einzelfall zu begründen. Dabei hat eine apriorische, mehr oder weniger freihändige Festlegung zugunsten eines Tuns oder eines Unterlassens nach dem „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ zu unterbleiben. Gegebenenfalls sind sämtliche in Betracht kommenden Verhaltensweisen getrennt und vollständig auf ihre Strafbarkeit hin zu untersuchen. Aufgrund der ganz unterschiedlichen in Deutschland praktizierten Methoden des Schwangerschaftsabbruchs verbieten sich hierbei pauschale Aussagen zur Täterschaft der Schwangeren. Es lässt sich wie folgt differenzieren: Wird der Abbruch vom Arzt mittels Absaugung unter ört103

Siehe bereits oben 1. d).

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licher Betäubung der Schwangeren vorgenommen, ist der Arzt unmittelbarer Täter eines Schwangerschaftsabbruchs gem. §§ 218 Abs. 1, 25 Abs. 1 Var. 1, die Schwangere Unterlassungstäterin gem. §§ 218 Abs. 1, Abs. 3, 13. Nimmt der Arzt den Abbruch im Wege der Ausschabung und unter Vollnarkose der Schwangeren vor, so ist der Arzt erneut strafbar als unmittelbarer Alleintäter gem. §§ 218 Abs. 1, 25 Abs. 1 Var. 1; die Schwangere hat sich in diesem Fall nicht täterschaftlich, auch nicht als Unterlassungstäterin, strafbar gemacht. Liegt ein medikamentöser Abbruch vor, bei dem die Schwangere die erforderliche Tabletteneinnahme selbst vornimmt, ist sie hingegen unmittelbare Täterin gem. §§ 218 Abs. 1, Abs. 3, 25 Abs. 1 Var. 1. Der Arzt kann sich in dieser Konstellation allenfalls als Teilnehmer gem. §§ 26, 27 strafbar machen. Die Schwangere ist also zwar die „Zentralgestalt“ der Schwangerschaft, die Zentralgestalt des Schwangerschaftsabbruchs ist sie deshalb aber nicht zwingend.

§ 219a StGB in neuer Gestalt Anmerkungen zu einem Lehrstück zeitgenössischer Rechtspolitik Von Klaus Rogall

I. Einführung Mit Reinhard Merkel, dem verehrten Jubilar, verbindet mich die Arbeit an strafrechtlichen Themen, die Gegenstand gemeinsamen wissenschaftlichen Interesses sind. Das gilt z. B. für die Problematik der Willensfreiheit, mit der sich Reinhard Merkel eingehend beschäftigt hat1 und der auch ich Betrachtungen gewidmet habe.2 Auch das Strafrecht des Schwangerschaftsabbruchs (§§ 218 ff. StGB) gehört zu einem Werkbereich, den sowohl Reinhard Merkel3 als auch ich4 intensiv bearbeitet haben. Unsere Kommentierungen erstrecken sich dabei natürlich auch auf § 219a StGB, der bekanntlich aus Anlass eines Einzelfalles5 in den Fokus des öffentlichen Interesses getreten und schließlich – nach Verbreitung zahlreicher „Fake News“6 – den Gesetzgeber zum Eingreifen veranlasst hat.7 In diesem Fall ging es um eine Allgemeinmedizinerin (!),8 die den Internetauftritt ihrer Praxis dazu genutzt hatte, Patienten über ihre Bereitschaft zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen und über die dabei anzuwendenden Methoden zu informieren. Neben weiteren Hinweisen wurde auch darauf aufmerksam gemacht, dass die Patientin neben der Beratungs1 Merkel Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2. Aufl. 2014; ders., FS Roxin 2011, S. 737. 2 SK-StGB/Rogall, 9. Aufl. 2017, Vor § 19 Rn. 5 – 40. 3 NK-StGB/Merkel, 5. Aufl. 2017, Vor § 218-§ 219b. 4 SK-StGB/Rogall, 9. Aufl. 2017, Vor § 218-§ 219b. 5 Fall Kristina Hänel, AG Gießen (Urt. v. 24. 11. 2017 – 507 Ds 501 Js 15031/15) NStZ 2018, 416 m. Anm. Wörner = NJ 2018, 433 m. Anm. Sasse = MedR 2019, 77 m. Anm. Fischer/Scheliha; vgl. ferner Duttge medstra 2018, 129; Preuß, medstra 2018, 131; Kaiser/ Eibach, medstra 2018, 273; Berghäuser, JZ 2018, 497; Kraatz, NStZ-RR 2019, 101; Jansen, jurisPR-StrafR 7/2018 Anm. 2. 6 Zutr. Duttge, medstra 2018, 129. 7 Gesetz zur Verbesserung der Information über einen Schwangerschaftsabbruch v. 22. 03. 2019, BGBl. I S. 350. 8 Zu der Frage, was davon zu halten ist, vgl. Kiworr Stellungnahme für die parlamentarische Anhörung zur Frage einer Reform des § 219a StGB im Deutschen Bundestag am 27. 06. 2018, S. 4 f. (https://www.bundestag.de/resource/blob/562018/7b05511252592328184e8a2d5 f 89 f73f/kiworr-data.pdf).

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bescheinigung u. a. eine Kostenübernahmeerklärung oder aber Bargeld zum Termin mitzubringen habe.9 Das AG Gießen hat die Ärztin wegen Werbung für den Schwangerschaftsabbruch nach § 219a StGB verurteilt und ist dabei davon ausgegangen, dass schon die bloße Erklärung der Bereitschaft, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, vom Tatbestand erfasst wird.10 Der Ärztin war aus einem früher gegen sie geführten Ermittlungsverfahren, das im Ergebnis eingestellt wurde, bekannt, dass die Rechtslage vom LG Bayreuth11 und der StA Gießen ebenso beurteilt worden war.12 Ein Verbotsirrtum konnte ihr damit nicht zugute gehalten werden;13 der Sache nach handelt es sich – wie auch bei Folgeverfahren, die andere Ärztinnen betreffen –, offensichtlich um Fälle von Überzeugungstäterschaft.14 Auf die Berufung der Angeklagten hat das LG Gießen15 die Entscheidung des AG Gießen bestätigt. Das Berufungsurteil hält dabei fest,16 dass es der angeklagten Ärztin darum zu tun war, die Anwendung des § 219a StGB aus politischen Gründen zu erzwingen.17 Die Verurteilung der Ärztin hat empörte Reaktionen im politischen Raum hervorgerufen.18 Teilweise wurde sogar die völlige Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs gefordert,19 eine Lösung, die mit den vom BVerfG aufgestellten und bislang nicht revozierten verfassungsrechtlichen Anforderungen20 ersichtlich unvereinbar ist. Im Deutschen Bundestag verlangten die Fraktion Die Linke,21 die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen22 sowie zunächst auch die Fraktion der SPD23 eine Aufhebung des

9

Zum Sachverhalt AG Gießen NStZ 2018, 416. AG Gießen NStZ 2018, 416 f. 11 ZfL 2007, 16. 12 AG Gießen NStZ 2018, 417. 13 AG Gießen NStZ 2018, 417; Sasse, NJ 2018, 434 f. 14 Zutr. wiederum Duttge, medstra 2018, 129, der mit Recht auf die rechtsfeindliche Grundhaltung der Angeklagten und den offensichtlichen Rechtsungehorsam der interessierten Kreise hinweist; nach einigem Hin und Her im Ergebnis ebenso Berghäuser, medstra 2019, 123 (128); zum Überzeugungstäter und zur strafrechtlichen Beurteilung seiner Aktivitäten vgl. SK-StGB/Rogall, Vor § 19 Rn. 50 ff., 56, 64 f. 15 GesR 2019, 115 = medstra 2019, 119 m. Anm. Berghäuser. 16 GesR 2019, 118 = medstra 2019, 122. 17 Auf den weiteren Fortgang des Verfahrens wird zurückzukommen sein. 18 Näher dazu Dorneck, medstra 2019, 137 f.; zur Unsäglichkeit mancher Äußerungen vgl. nochmals Duttge, medstra 2018, 129 f.; s. auch Duttge/Steuer, ZRP 2019, 119 (120). 19 So etwa von den Jusos in der SPD (https://www.jusos.de/content/uploads/2018/12/g1_ fuer-ein-recht-auf-reproduktive-selbstbestimmung-legalisierung-von-schwangerschaftsabbrue chen.pdf) und von Seiten der Bundestagsfraktion Die Linke (https://www.linksfraktion.de/the men/a-z/detailansicht/schwangerschaftsabbruch); vgl. ferner den dringlichen Antrag der Fraktion Die Linke im Hessischen Landtag, LT-Drucks. 19/5455 sowie der Fraktion Die Linke in der Hamburger Bürgerschaft, Drucks. 21/11248. 20 Vgl. BVerfGE 88, 203 ff. 21 BT-Drucks. 19/93 v. 22. 11. 2017. 22 BT-Drucks. 19/630 v. 02. 02. 2018. 10

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§ 219a StGB. Die Fraktion der FDP24 schlug dagegen eine Einschränkung des Werbeverbots vor, die darin bestand, dass künftig nur die Werbung in anstößiger Weise und die Werbung für strafbare Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stehen sollten.25 Auch im Bundesrat wurde eine Aufhebung von § 219a StGB gefordert.26 Die letztlich unvereinbaren Positionen innerhalb der Regierungskoalition führten schließlich zu einem politischen Kompromiss in Gestalt eines Entwurfs,27 der dann später Gesetz geworden ist. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages hat am 27. Juni 201828 und am 18. Februar 201929 Anhörungen zu den jeweils vorliegenden Gesetzentwürfen durchgeführt.30 Der verehrte Jubilar hat an beiden Anhörungen als Sachverständiger teilgenommen und ist dabei im Ergebnis für eine Aufhebung des § 219a StGB unter gleichzeitiger Schaffung eines Bußgeldtatbestandes gegen anstößige Werbung31 eingetreten.32 Ich selbst habe – und darin ist der Beobachtung von Gereon Wolters33 recht zu geben – in meiner Kommentierung des § 219a StGB keinen Änderungsbedarf gesehen.34 Insoweit besteht also zwischen Reinhard Merkel und mir ein Dissens, der den Anlass für das Aufgreifen des Themas in diesem Beitrag 23 BT-Drucks. 19/1046 v. 02. 03. 2018. Der Gesetzentwurf wurde später zugunsten eines gemeinsamen Koalitionsentwurfs zurückgezogen. 24 BT-Drucks. 19/820 v. 20. 02. 2018. 25 Hiervon wollte die FDP-Fraktion später nichts mehr wissen, vgl. dazu ihren Antrag v. 12. 12. 2018, § 219a StGB unverzüglich streichen – Informationen über Schwangerschaftsabbrüche zulassen, BT-Drucks. 19/6425. 26 Antrag der Länder Berlin, Brandenburg, Hamburg und Thüringen, BR-Drucks. 761/17 (neu) v. 12. 12. 2017. 27 BT-Drucks. 19/7693 v. 12. 02. 2019. 28 https://www.bundestag.de/ausschuesse/a06_Recht/anhoerungen#url=L2F1c3NjaHVlc3 NlL2EwNl9SZWNodC9hbmhvZXJ1bmdlbl9hcmNoaXYvLTIxOWEtc3RnYi01NTYxMzQ= &mod=mod559522. 29 https://www.bundestag.de/ausschuesse/a06_Recht/anhoerungen#url=L2F1c3NjaHVlc 3NlL2EwNl9SZWNodC9hbmhvZXJ1bmdlbl9hcmNoaXYvLTIxOWEtc3RnYi01OTMyMDQ =&mod=mod559522. 30 Zur Kritik an und zur Skepsis gegenüber derartigen Anhörungen und ihren Erträgen treffend Eisenberg, FS Rogall 2018, S. 43 ff. 31 Genauer gesagt befürwortet der Jubilar eine Streichung des Merkmals „seines Vermögensvorteils wegen“ in § 219a StGB. Alle Fälle grob anstößigen Verhaltens sollen weiter verboten bleiben. Dieses Verbot sei aber besser in einem Tatbestand des OWiG aufgehoben, vgl. Merkel (Fn. 29), S. 4. 32 Vgl. https://www.bundestag.de/resource/blob/561798/6 f95 f886b06018ab273eeef86c6d 7400/merkel-data.pdf; https://www.bundestag.de/resource/blob/593848/4939049a0 f9a7239bd1 ccf3ce73299c9/merkel-data.pdf. 33 FS Rogall 2018, S. 417 (418 m. Fn. 14): „Während Merkel bei § 219a StGB ein Übermaß der Kriminalisierung erkennt (NK-StGB, § 219a Rn. 4), sieht der Jubilar (gemeint ist der Verf.) in seiner Kommentierung keinen Handlungsbedarf.“ 34 Daher fehlen auch Ausführungen zur kriminalpolitischen Beurteilung des § 219a StGB. Das soll aber hier nachgeholt werden.

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bildet, ein Beitrag, der dem Jubilar mit herzlichen Glückwünschen zum Geburtstag gewidmet ist.

II. Die Haltung des Jubilars zu § 219a StGB Schon in seiner Kommentierung zu § 219a StGB äußert der Jubilar verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Vorschrift, die nicht zwischen tatbestandslosen (§ 218a Abs. 1 StGB) bzw. rechtmäßigen (§ 218a Abs. 2, 3 StGB) Abbrüchen einerseits und rechtswidrigen Abbrüchen andererseits unterscheide, so dass er auch Verhaltensweisen im Vorfeld rechtlich erlaubten Handelns erfasse.35 Daraus folge im Ergebnis, dass die Norm nicht als Delikt gegen das Leben, sondern nur als „Klimaschutz“-Delikt verstanden werden könne.36 Der Jubilar betont die „normative Inkonsistenz der Strafbarkeit einer Werbung für gesetzmäßiges Handeln“ und verlangt de lege ferenda eine Herausnahme der Werbung für straflose Abbrüche aus dem StGB.37 Bei der 1. Anhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages am 27. Juni 201838 hat der Jubilar seine Beurteilung der Strafnorm des § 219a StGB in akzentuierter Weise fortgeführt. Er betont ausdrücklich, dass sachliche Hinweise auf das ärztliche Angebot rechtmäßiger oder tatbestandsloser Abbrüche von Verfassungs wegen nicht unter Strafe stehen dürften.39 Soweit § 219a StGB dies anordne, sei die Norm insbesondere wegen Verstoßes gegen die ärztliche Berufsfreiheit (Art. 12 GG) und das Informationsrecht der Schwangeren (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) verfassungswidrig.40 Sachlich gehaltene Informationen über das Angebot nicht strafbarer Abbrüche könnten weder das ungeborene Leben beeinträchtigen41 noch zur Entwicklung einer „allgemeinen moralischen Indolenz“ führen.42 Die Unzulässigkeit einer Strafbewehrung zeige sich auch daran, dass § 219a StGB der Sache nach ein „Sich-Erbieten“ zum Abbruch pönalisiere. I.S.d. § 30 Abs. 2 StGB sei ein solches Erbieten aber nur strafbar, wenn es sich bei der angebotenen Tat um ein Verbrechen handele. Daran fehle es aber bei den §§ 218 ff. StGB.43 Verboten bleiben solle aber das Anbieten und Ankündigen tatbestandsmäßiger und rechtswidriger Abbrüche, das Anpreisen auch nicht strafbarer Abbrüche 35

NK-StGB/Merkel, § 219a Rn. 2. Merkel stimmt darin mit anderen Autoren überein, deren Einschätzung dieselbe ist, vgl. AnwK/Mitsch, 2. Aufl. 2015, § 219a Rn. 1; Arzt/Weber/ Heinrich/Hilgendorf, StrafR Bes. Teil, 3. Aufl. 2015, Rn. 5/40; Schroeder, ZRP 1992, 409 (410). 36 Näher dazu NK-StGB/Merkel, § 219a Rn. 2 f. 37 NK-StGB/Merkel, § 219a Rn. 3a. 38 Vgl. dazu Fn. 28. 39 Stellungnahme S. 3 f. 40 Stellungnahme S. 3, 4. 41 Stellungnahme S. 2, 3 ff. 42 Stellungnahme S. 2. 43 Stellungnahme S. 3.

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sowie grob anstößige Formen des Anbietens oder Ankündigens. Der Platz für eine entsprechende Verbotsnorm sei aber nicht das StGB, sondern das OWiG.44 Bedenken gegen eine Aushebelung der Gesamtarchitektur des zu den §§ 218 ff. StGB gefundenen gesetzgeberischen Kompromisses sieht der Jubilar nicht.45 Eine Bestätigung für seine Ansicht findet der Jubilar in einem im Rahmen eines Zivilrechtsstreites ergangenen Beschluss der 1. Kammer des 1. Senats des BVerfG,46 wonach es einem Arzt dann, wenn die Rechtsordnung Wege zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen durch Ärzte eröffnet, ohne negative Folgen für ihn möglich sein müsse, darauf hinzuweisen, dass Patientinnen seine Dienst in Anspruch nehmen können. Bei der 2. Anhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages am 18. Februar 201947 hat der Jubilar seine Bedenken auch gegenüber § 219a StGB i. d. F. des Koalitionsentwurfs aufrechterhalten, aber doch in gewisser Weise modifiziert. Nach wie vor seien alle sachlichen, unanstößigen und rechtlich zutreffenden Hinweise keine legitime Verbotsmaterie, und zwar weder unter dem Aspekt einer Gefährdung des Schutzguts des ungeborenen Lebens noch im Hinblick auf die zweite Schutzaufgabe der Norm, dem Schutz vor einer Verwahrlosung des gesellschaftlichen Klimas.48 Die „rechtsstaatlich gebotene Bereinigung des § 219a Abs. 1 StGB“ könne unschwer durch Streichung des Merkmals „seines Vermögensvorteils wegen“ herbeigeführt werden.49 Strafbedroht blieben dann allein „grob anstößige“ Tatbestandsverwirklichungen, wobei dieses Verbot allerdings besser im Ordnungswidrigkeitenrecht aufgehoben wäre.50

III. Zum gebotenen Verständnis des § 219a StGB (a.F.) Bevor auf das Pro und Contra innerhalb der rechtspolitischen Diskussion, an der sich der Jubilar wie gezeigt scharfsinnig beteiligt hat, einzugehen ist, empfiehlt es sich, Inhalt und Reichweite der Verbotsmaterie des § 219a StGB genauer zu analysieren.51 Es besteht nämlich Grund zu der Annahme, dass die Vorschrift vielfach – möglicherweise sogar absichtlich – missverstanden worden ist. 44

Stellungnahme S. 7 ff. Stellungnahme S. 5 ff. 46 BVerfG NJOZ 2008, 151 (156). 47 Vgl. dazu Fn. 29. 48 Stellungnahme S. 2 f. 49 Stellungnahme S. 4. 50 Stellungnahme S. 4 Fn. 5. 51 Zur rechtstatsächlichen Seite vgl. die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abg. Gyde Jensen et al. und der Fraktion der FDP – Evaluation des § 219a des Strafgesetzbuchs, BT-Drucks. 19/6934, S. 4 ff.; Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abg. Ulle Schauws et al. und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – Information über das Angebot von Einrichtungen zur Vornahme des Schwangerschaftsabbruches, BTDrucks. 19/6519, S. 4 ff. 45

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1. Zur Entstehung des § 219a StGB Vorab ist zu bemerken, dass die in der rechtspolitischen Debatte vielfach geschwungene „Nazikeule“52 nicht zieht.53 Die Einführung der Vorschrift durch Art. I Nr. 14 des Gesetzes vom 26. Mai 193354 beruht auf Vorarbeiten zu Zeiten des Kaiserreichs und der Weimarer Republik55 und wäre höchstwahrscheinlich auch ohne die Machtergreifung der Nationalsozialisten zustande gekommen. So wurde 1922 im Reichstag über einen Gesetzentwurf diskutiert, der sich auch gegen das offene oder verschleierte Anbieten eigener oder fremder Dienste zur Vornahme oder Förderung von Abtreibungen richtete.56 Die Wiederherstellung der Norm durch Art. 2 Nr. 35 des 3. StrÄndG vom 04. August 195357 und ihre späteren Änderungen bzw. Ergänzungen durch (u. a.) das 15. StrÄndG vom 18. Mai 197658 und das SFHÄndG vom 21. August 199559 zeigen deutlich, dass es sich bei § 219a StGB um ein rechtsstaatlich legitimes Gesetzesprodukt handelt. Im Rahmen der Strafrechtsreform gelangten die Verfasser des E 1962 zu der Einschätzung, dass sich die Vorschriften über das verbotene Werben für den Abbruch der Schwangerschaft und das Anbieten zur Abtreibung (§§ 143, 144 E 1962) bewährt hätten.60 Die Verfasser des AE wollten von einem Werbeverbot für eigene oder fremde Dienste dagegen absehen, weil es sich der Sache nach um eine Erweiterung des § 49a StGB (jetzt: § 30 StGB) handele und eine derartige Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes bei der vom AE vorgeschlagenen Neuregelung der Abtreibungsdelikte entbehrlich sei.61 Die Mittelpropagierung (§ 219a Abs. 1 Nr. 2 StGB) wollte der AE streichen, weil es sich um eine gewerbepolizeiliche Materie handele, die nicht ins StGB gehö-

52 In diesem Sinne etwa Frommel, NK 2018, 300 (304, 312 ff.); dies., FS Fischer 2018, 1049 (1058 ff.); dies., JR 2018, 239 f.; dies., jM 2019, 165 (168 f.); Deutscher Juristinnenbund, Stellungnahme (Fn. 28), S. 2 ff. 53 Zutr. Hillenkamp, HessÄBl. 2018, 92; Kubiciel, ZRP 2018, 13 (14); Sasse, NJ 2018, 434; Schweiger, ZRP 2018, 98 (99). 54 RGBl. S. 295. 55 Vgl. KE 1913 § 284; E 1919 § 287 Abs. 2, E 1925 § 229 Abs. 2, E 1927 und E 1930 §§ 255, 256; zur rechtshistorischen Seite des Problems näher Koch Schwangerschaftsabbruch (§§ 218 ff. StGB), S. 117 f., 132, 145 ff.; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Sachstand: Entstehungsgeschichte des § 219a StGB v. 08. 12. 2017 – WD 7 – 3000 – 159/ 17; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Dokumentation, Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs. Entstehung und Entwicklung der Tatbestände in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR v. 15. 03. 2019 – WD 7 – 3000 – 048/19; s. auch Sasse NJ 2018, 434. 56 Vgl. dazu näher Koch Schwangerschaftsabbruch (Fn. 55), S. 137. 57 BGBl. I S. 735. 58 BGBl. I S. 1213. 59 BGBl. I S. 1050. 60 E 1962, Begr. S. 281. Belegt ist diese Einschätzung allerdings nicht. 61 AE.Begr. S. 35.

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re.62 Den Jubilar wird diese Beurteilung freuen; allerdings hat sie der Gesetzgeber im Ergebnis nicht akzeptiert. Wenn man Grund und ratio des § 219a StGB erfassen will, muss man beim Regierungsentwurf eines 5. StrRG63 aus der 6. Wahlperiode des Deutschen Bundestages ansetzen. Es heißt dort, dass die Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft (E § 218a) im Hinblick auf den Rang des geschützten Rechtsguts weiterhin als strafwürdiges Unrecht betrachtet werde.64 Eine Umwandlung in einen Bußgeldtatbestand erscheine nicht vertretbar, zumal im Arzneimittelrecht bereits das Inverkehrbringen von Arzneimitteln, die bloße Gesundheitsschäden hervorrufen könnten, als Straftat bewertet würden.65 Die Frage der sanktionsrechtlichen Einordnung ist also nicht neu, sondern vom Gesetzgeber durchaus gesehen worden. So ist in den Berichten zu den Entwürfen eines 5. StrRG aus der 7. Wahlperiode66 immer wieder betont worden, dass bei dem Rang des durch § 218 StGB geschützten Rechtsguts und im Hinblick auf die vielfältigen Möglichkeiten zur Übertretung der Vorschrift auf diesen zusätzlichen Schutz im Vorfeld der eigentlichen illegalen Abtreibungshandlung auch in Zukunft nicht verzichtet werden könne. Allerdings war die beworbene Dienstleistung auf die Vornahme oder Förderung von rechtswidrigen Taten nach § 218 StGB beschränkt. Das Anbieten von Handlungen, die einen indizierten Schwangerschaftsabbruch fördern sollten, war nach dem Entwurf also nicht tatbestandsmäßig.67 In der 7. Wahlperiode des Deutschen Bundestages standen verschiedene Entwürfe zur Reform der §§ 218 ff. StGB68 zur Diskussion, die ebenfalls nur eine Werbung mit rechtswidrigen Schwangerschaftsabbrüchen pönalisieren wollten.69 Dagegen wurden in der 27. Sitzung des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform Bedenken erhoben:70 Auch eine Werbung mit legalen Schwangerschaftsabbrüchen zu Profitzwecken müsse verboten werden, zumal das Vorliegen der Voraussetzungen eines legalen Schwangerschaftsabbruchs nicht durch Werbung, sondern nur im konkreten Falle festgestellt werden könnten. Freilich solle im Falle einer Ausdehnung des Werbeverbots auf legale Schwangerschaftsabbrüche die Tätigkeit der Beratungsstellen nicht beeinträchtigt werden. Der Regierungsver62

AE, Begr. S. 35. BT-Drucks. VI/3434 v. 15. 05. 1972. 64 E 5. StrRG, BT-Drucks. VI/3434, S. 16. 65 E 5. StrRG, BT-Drucks. VI/3434, S. 16. 66 Vgl. die 1. Berichte zu den Entwürfen eines 5. StrRG, BT-Drucks. 7/1982, S. 14, 7/1983, S. 19, 7/1984 (neu), S. 16. 67 Vgl. dazu E 5. StrRG, BT-Drucks. VI/3434, S. 16. 68 Vgl. BT-Drucks. 7/375 (Entwurf der Fraktionen der SPD/FDP), BT-Drucks. 7/554 (Entwurf der Fraktion der CDU/CSU), BT-Drucks. 7/443 (Entwurf des Abg. Dr. Müller-Emmert sowie weiterer Abg.), BT-Drucks. 7/561 (Entwurf des Abg. Dr. Heck und weiterer Abg.). 69 So der Entwurf der CDU/CSU (BT-Drucks. 7/554) und der Entwurf Dr. Müller-Emmert (BT-Drucks. 7/443). 70 Zum Folgenden vgl. die Ausführungen des Abg. Köster (CDU/CSU), Prot. SA 27/1553. 63

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treter (MinRat Horstkotte) trat diesen Bedenken entgegen:71 Ein Bedürfnis, auch eine Aufklärung über den legalen Schwangerschaftsabbruch unter Strafe zu stellen, sei unter dem Gesichtspunkt des Rechtsgüterschutzes nicht erkennbar. Es sei allerdings eine politische Entscheidung, ob man durch die Schaffung eines abstrakten Gefährdungsdelikts auch die sachgemäße Aufklärung über die Möglichkeiten legaler Schwangerschaftsabbrüche pönalisieren wolle. Dies scheine ihm (Horstkotte) aber zu weit zu gehen. Dieser Einschätzung pflichtete der Ausschussvorsitzende Dr. Müller-Emmert bei: Nur die Förderung rechtswidriger Taten könne strafbar sein; das dem Recht Gemäße sei nicht verboten.72 Diese Beurteilung entspricht ganz den Vorstellungen des Jubilars. Sie hat sich aber, wie wir wissen, im Gesetzgebungsverfahren am Ende nicht durchgesetzt. Das BMJ legte nämlich am 26. März 1974 für die 30. Sitzung des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform Formulierungsalternativen vor, die bei der Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft auf eine Beschränkung auf die Vornahme oder Förderung von rechtswidrigen Taten verzichtete.73 Der Grund dafür scheint folgender gewesen zu sein:74 Man war der Meinung, dass gerade innerhalb des Systems der Fristenlösung ein Verbot der Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft unerlässlich sei; das ärztliche Standesrecht reiche nicht aus. Zustände, die nach dem Urteil des Supreme Court über den Schwangerschaftsabbruch in den USA eingetreten seien, müssten verhindert werden.75 In der Tat müsste man unter der Prämisse, dass man das Tötungstabu durch die Tötung einer Leibesfrucht als verletzt ansieht, erst recht zu einem Werbeverbot kommen. Das scheinen viele Kritiker des § 219a StGB zu verkennen, und zwar insbesondere diejenigen, die für eine komplette Streichung der §§ 218 ff. StGB eintreten.76 Wenn man allerdings statt von werdendem Leben von einem „Schwangerschaftsgewebe“ spricht77 und auch so denkt, fallen diese Argumente natürlich in sich zusammen. Die SPD-Vertreter im Sonderausschuss akzeptierten die grundsätzliche Aufgabe der „Rechtswidrigkeitslösung“, wollten den Tatbestand aber zunächst auf eine Werbung in „anreißerischer oder sonst anstößiger Weise“ beschränken.78 Der Regierungsvertreter wandte ein,79 dass es darum gehe, kommerzielle Werbung für Abtreibungskliniken durch große Annoncen in Zeitungen zu verhindern. Derartige Anzei71

Prot. SA 27/1553. Prot. SA 27/1553. 73 Prot. SA 27/1658 ff., 1660. 74 Vgl. dazu die Ausführungen des Regierungsvertreters (MinRat Horstkotte), Prot. SA 27/ 1645 f. 75 Zu dieser Einschätzung muss wohl auch MinRat Horstkotte gekommen sein. 76 Vgl. dazu die Nachweise in Fn. 19. 77 So offenbar die Ärztin Kristina Hänel, zitiert nach LG Gießen GesR 2019, 115. 78 Abg. Dr. de With (SPD), Prot. SA 30/1646. Auch diese heute aktuelle Frage ist also bereits diskutiert worden. 79 Zum Folgenden MinRat Horstkotte, Prot. SA 30/1646 ff. 72

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gen seien nicht zwingend anstößig. Werde der Tatbestand auf anstößige Werbung beschränkt, könne das Rechtsgut nicht mehr das durch die Werbung gefährdete ungeborene Leben sein; Schutzzweck sei dann nur noch das ästhetische Empfinden der Öffentlichkeit oder das Schamgefühl in dem Sinne, dass man die Öffentlichkeit von einer sie schockierenden Belästigung freihalten wolle. Wenn man jedoch den Vorgang der Werbung als solchen verbieten wolle, dürfe der Tatbestand nicht eingeschränkt werden. Davon seien die Verfasser der Formulierungsalternativen ausgegangen: Sie hätten sich vorgestellt, dass „die Vermittlung zum Schwangerschaftsabbruch ausschließlich der sogenannten Intimität des Arzt-Patienten-Gesprächs bzw. der Tätigkeit der Beratungsstellen vorbehalten bleiben solle.“80 Die weitere Diskussion im Sonderausschuss drehte sich um die Frage, wie mit konkreten Hinweisen auf die Möglichkeit, die Schwangerschaft abbrechen zu lassen, umzugehen sei. Diese fielen an sich unter die Vorschrift,81 doch wurde bezweifelt, ob hier die Notwendigkeit einer Strafbarkeit gegeben sei.82 Seitens des Regierungsvertreters wurde kompromissweise vorgeschlagen, den Tatbestand der Werbung auf kommerzielles Handeln zu beschränken; das könne durch eine Beschränkung auf gewerbsmäßiges Handeln geschehen.83 Der Sonderausschuss verständigte sich aber am Ende auf den weiteren Vorschlag von MinRat Horstkotte, die Formulierung „seines Vermögensvorteils wegen“ zu wählen.84 Der Abg. Dr. de With (SPD) bestand aber darauf, auch das Merkmal „grob anstößig“ einzufügen, weil damit etwas Weiteres abgedeckt wäre.85 In dieser doppelten Form einer Beschränkung (gegenüber den Formulierungsalternativen) kam § 219a StGB schließlich zustande. Im Ergebnis lässt sich also feststellen: Der Gesetzgeber hat sich bewusst dazu entschieden, echte oder als Information getarnte Werbung zur Vornahme von rechtswidrigen und (!) rechtmäßigen Schwangerschaftsabbrüchen unter Strafe zu stellen.86 Er wollte verhindern, dass „der Schwangerschaftsabbruch in der Öffentlichkeit als etwas Normales dargestellt und kommerzialisiert wird.“87 Die Gefahr einer solchen Wirkung hielt er auch bei Hinweisen auf legale Schwangerschaftsabbrüche für möglich, wenn sie in unseriöser Form gegeben würden. Die Gefahr unseriöser Werbung

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MinRat Horstkotte Prot. SA 30/1646. MinRat Horstkotte Prot. SA 30/1647. 82 Abg. Coppik (SPD) Prot. SA 30/1647. 83 MinRat Horstkotte Prot. SA 30/1647. 84 Prot. SA 30/1648. 85 Prot. SA 30/1648. 86 1. Bericht des SA/BT, BT-Drucks. 7/1981 (neu), S. 17. 87 1. Bericht des SA/BT, BT-Drucks. 7/1981 (neu), S. 17; vgl. dazu auch 1. Bericht des SA/ BT, BT-Drucks. 7/1983, S. 19 f., BT-Drucks. 7/1984 (neu), S. 16: „Denn auch die Werbung für den rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruch könnte von interessierten Kreisen unangreifbar so gestaltet werden, daß sie in der Öffentlichkeit unzutreffende Vorstellungen über die Zulässigkeit weckt und den Eindruck vermittelt, es handele sich beim Schwangerschaftsabbruch um etwas Normales.“ 81

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sei insbesondere dort gegeben, wo kommerzielle Interessen dahintersteckten.88 Damit erklärt sich auch, warum eine Werbung für kostenlose Schwangerschaftsabbrüche nicht verboten ist,89 ganz abgesehen davon, dass ein derart altruistisches Verhalten kaum vorkommen dürfte und den Gesetzgeber infolgedessen auch nicht beschäftigen muss. Dem Gesetzgeber war bewusst, dass es damit Ärzten, die Schwangerschaftsabbrüche gegen Entgelt durchführen, untersagt ist, ihre Dienste öffentlich bekanntzugeben.90 Die erforderliche Information der Schwangeren sollte dabei nicht über die Öffentlichkeit erfolgen, sondern allein den Ärzten (im persönlichen Gespräch) und den Beratungsstellen vorbehalten bleiben. Das ergibt sich auch aus der Ausnahmeregelung in § 219a Abs. 2 StGB (a.F.), welche die erforderlichen Informationen über abbruchwillige Stellen entsprechend kanalisiert. Das Informationsrecht und der Informationsbedarf der Schwangeren wurde also durchaus gesehen; ein persönliches Diensteangebot wurde aber untersagt, soweit die Dienste gegen Entgelt erbracht werden. Nachvollziehbar ist das wiederum unter der Prämisse, dass man von der grundsätzlichen Schutzwürdigkeit auch des vorgeburtlichen Lebens ausgeht und von einer Tötung auch dann spricht, wenn es für den Schwangerschaftsabbruch im Einzelfall Gründe gibt, die vor dem Recht Bestand haben. 2. Der Umfang der Strafbarkeit in § 219a StGB (a.F.) Betrachtet man den Umfang der Strafbarkeit nach § 219a StGB genauer, so fällt es schwer, eine Überkriminalisierung auszumachen. Bereits die Notwendigkeit einer öffentlichen etc. Begehungsweise stellt ja eine Beschränkung der Strafbarkeit dar. Aus ihr folgt, dass jede Art der Individualkommunikation, bei der die entsprechenden Hinweise gegeben werden, straflos ist, und zwar selbst dann, wenn mit ihr finanzielle Interessen verbunden sind oder die Grenze zur Anstößigkeit überschritten wird. Ob man mindestens die anstößige Individualkommunikation hätte unter Strafe stellen können oder gar sollen, ist eine Frage, die hier außer Betracht bleiben kann. Selbst öffentliche etc. Erklärungen sind nach dem Gesetz nur bei Verfolgung eigener finanzieller Interessen bzw. bei grob anstößiger Darstellung91 mit Strafe bedroht. Der Täter muss ja gerade seines Vermögensvorteils wegen handeln. Wer also z. B. eine Liste abtreibungswilliger Ärzte veröffentlicht, ist straflos, wenn er für die Veröffentlichung keinen Vermögensvorteil einfordert bzw. erhält. Gegen ent-

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1. Bericht des SA/BT, BT-Drucks. 7/1982, S. 14. Das bezeichnet Gärditz (ZfL 2018, 22) als nicht nachvollziehbar. Es geht aber um die Sonderung von Fällen, bei denen finanzielle Interessen nicht von der Hand zu weisen sind und solchen Fällen, bei denen finanzielle Interessen nicht ersichtlich sind. 90 1. Bericht des SA/BT, BT-Drucks. 7/1981 (neu), S. 18; ebenso 1. Bericht des SA/BT, BTDrucks. 7/1982, S. 14; 1. Bericht des SA/BT, BT-Drucks. 7/1983, S. 20; 1. Bericht des SA/BT, BT-Drucks. 7/1984 (neu), S. 16. 91 Diese soll nachfolgend außer Betracht bleiben. 89

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sprechende Publikationen im Internet92 bestehen daher keinerlei Bedenken. Andere straffreie Wege der Informationsübermittlung werden in § 219a Abs. 2, 3 StGB aufgezeigt. Klar ist umgekehrt aber auch, dass nach dem hier nachgewiesenen Verständnis und dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche gegen Entgelt durchführen, tatbestandsmäßig handeln, wenn sie ihre Dienste öffentlich pp. anbieten.93 Ebenso eindeutig ist damit, dass die Gerichte, die in derartigen Fällen auf Strafe erkannt haben,94 im Einklang mit diesem Willen, dem Wortlaut und dem Zweck der Norm entschieden haben.95 Nun ist ja gerade in einzelnen Stellungnahmen zu den vorbezeichneten Urteilen und in weiteren Publikationen auf die Möglichkeit (und Notwendigkeit) einer einschränkenden bzw. verfassungskonformen Auslegung hingewiesen worden.96 So soll der Tathandlung des Ankündigens oder der Bekanntgabe von Erklärungen dieses Inhalts eine anpreisende Komponente beigefügt werden.97 Dafür lässt sich aber die amtliche Überschrift sicher nicht verwerten,98 weil es auf den Wortsinn des Tathandlungsbegriffs ankommt99 und weil die Varianten des Anbietens oder Ankündigens überflüssig würden, wenn sie ebenfalls anpreisenden Charakter haben müssten.100 Auch beim Handeln um eines Vermögensvorteils willen bestehen keine Restriktionsmöglichkeiten,101 denn derjenige, der eine

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Für Berlin vgl. https://www.berlin.de/sen/gesundheit/themen/schwangerschaft-und-kinder gesundheit/schwangeschaft-und-familienplanung/schwangerschaftskonfliktberatung/arztpra xen-fuer-schwangerschaftsabbrueche/index.php/index.pdf?q=&q_geo=&q_radius=20000&or der=&page=3. 93 Wer öffentlich bekanntmacht, dass er keine Schwangerschaftsabbrüche vornimmt und seine Dienste damit gerade nicht anbietet, ist natürlich nicht strafbar, und das nach dem Gesetzeszweck sicher aus guten Gründen. Wie man aus der Straflosigkeit dieses Verhaltens aber e contrario auf die Zulässigkeit der Verlautbarung der Bereitschaft zum Schwangerschaftsabbruch soll schließen können (so Gärditz ZfL 2018, 20), ist unerfindlich. 94 LG Bayreuth ZfL 2007, 16; AG Gießen NStZ 2018, 416; LG Gießen GesR 2019, 115. 95 Ich folge damit ausdrücklich nicht der Einschätzung von Hillenkamp, HessÄBl. 2018, 92 (94), wonach die Urteile gegen Kristina Hänel Fehlurteile und die sie stützende Literatur falsch seien. 96 Vgl. etwa Hillenkamp, HessÄBl. 2018, 94; Kubiciel, ZRP 2018, 15; Gärditz, ZfL 2018, 21; Satzger, ZfL 2018, 22 (23); Sowada, ZfL 2018, 24 (26); Frommel, NK 2018, 307 f., 314 f.; Schweiger, ZRP 2018, 99 f.; Kaiser/Eibach, medstra 2018, 277, aber mit dem Hinweis, dass dieser Weg das Eingreifen des Gesetzgebers nicht ersetzen könne. 97 In diesem Sinne etwa Gärditz, ZfL 2018, 21; Rahe, JR 2018, 232 (238); Hillenkamp, HessÄBl. 2018, 94. 98 Zutr. T. Walter, ZfL 2018, 26 (28 f.); Hoven, ZfL 2018, 30; Fischer/v. Scheliha, MedR 2019, 37; a.A. Wörner, NStZ 2018, 416 (418). 99 Hoven, ZfL 2018, 30. 100 T. Walter, ZfL 2018, 28; s. auch Hoven, ZfL 2018, 30; Jansen, jurisPR-StrafR 7/2018 Anm. 2. 101 Anders etwa Satzger, ZfL 2018, 23; im Ergebnis wie hier T. Walter, ZfL 2018, 29; Fischer/v. Scheliha, MedR 2019, 79.

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entgeltliche Dienstleistung anbietet, handelt immer auch seines Vermögensvorteils wegen.102 Eine verfassungskonforme – im vorbezeichneten Sinne restriktive – Auslegung verbietet sich aber letztlich schon deshalb, weil sie den gesetzgeberischen Willen in einem wesentlichen Punkt verfehlen oder verfälschen würde,103 so dass sich der Interpret hier unzulässigerweise an die Stelle des Gesetzgebers setzte.104 Das trifft insbesondere für den abwegigen Vorschlag Schweigers105 zu, die Tatbestandsmäßigkeit davon abhängig zu machen, dass der Täter sowohl seines Vermögensvorteils wegen als auch in grob anstößiger Weise handeln muss, so dass das „oder“ im Gesetzeswortlaut i.S.e. „und“ auszulegen wäre. 3. Zur Frage der Verfassungswidrigkeit des § 219a StGB (a.F.) Damit bleibt die Frage zu klären, ob § 219a StGB (a.F.) als verfassungswidrig anzusehen war und ggf. noch ist.106 Richtigerweise muss diese Frage auf den Fall konzentriert werden, dass die als Täter in Betracht kommende Person107 sich auf den Hinweis beschränkt, dass sie (oder ein Dritter) Schwangerschaftsabbrüche unter den Voraussetzungen des § 218a Abs. 1 – 3 StGB – also in letztlich strafloser Weise – vornimmt.108 Es geht also nur um die verfassungsrechtliche Bewertung objektiv „neutraler“ Erklärungen der Tatbereitschaft. Verfasser ernst zu nehmender Stellungnahmen behaupten auch nur eine Teil-Verfassungswidrigkeit des § 219a StGB (a.F.),109 und zu ihnen gehört auch der Jubilar.110

102 LK/Kröger, 12. Aufl. 2017, § 219a Rn. 7; T. Walter, ZfL 2018, 29; Jansen, jurisPRStrafR 7/2018 Anm. 2; näher Berghäuser, medstra 2019, 123 (124 f.); anders Wörner, NStZ 2018, 418 f. 103 Zur Unzulässigkeit einer verfassungskonformen Auslegung in diesen Fällen BVerfGE 8, 28 (34); 67, 299 (329). 104 Ebenso Berghäuser, medstra 2019, 126. 105 ZRP 2018, 100. 106 Zur Vereinbarkeit mit dem Europarecht vgl. zutr. Satzger, ZfL 2018, 24 Fn. 8; Kubiciel, Stellungnahme (Fn. 28), S. 7 f. 107 I.d.R. wird es sich um Ärzte handeln, doch können auch Dritte, z. B. Medienmitarbeiter, Täter sein, vgl. dazu SK-StGB/Rogall, § 219a Rn. 8 m.w.N. Nach Frommel (ZfL 2018, 17 [18]) ist das Verbot des öffentlichen Anbietens in § 219a Abs. 1 StGB „jedenfalls dann verfassungswidrig, wenn sie auch Ärzte betrifft und wenn diese sachlich informieren.“ 108 Vgl. jetzt § 219a Abs. 4 Nr. 1 StGB n.F. 109 Vgl. etwa Preuß, medstra 2018, 131 ff.; Fischer/v. Scheliha, MedR 2019, 80; Rahe, JR 2018, 232 (236 ff.); T. Walter, ZfL 2018, 28; Frommel, ZfL 2018, 18. 110 Näher Merkel, Stellungnahme zur 1. Anhörung (Fn. 28), S. 3 ff.; NK-StGB/Merkel, § 219a Rn. 3, 3a.

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Es ist an dieser Stelle natürlich weder möglich noch angezeigt, ein ausführliches Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit des § 219a StGB (a.F.) zu erstatten.111 Wohl aber ist es möglich, auf Argumente einzugehen, mit denen versucht worden ist, eine Verfassungswidrigkeit der Vorschrift darzutun und (Rechts-)Tatsachen vorzutragen, die im Zusammenhang mit einer verfassungsrechtlichen Beurteilung Bedeutung erlangen können. Beginnen wir mit den Letzteren. § 219a StGB ist ein Allgemeindelikt. Das Werbeverbot richtet sich nicht nur an Ärzte, sondern an jedermann. Es handelt sich also nicht um ein Spezialgesetz, das sich einseitig gegen Ärzte richtet. In der hier allein interessierenden Tathandlungsalternative verbietet die Vorschrift jedermann, öffentlich etc. eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung von Schwangerschaftsabbrüchen anzubieten usw., wenn der Handelnde damit wirtschaftliche Interessen verbindet. Die Information darüber, wer solche Dienste anbietet, sollte – wie hier bereits dargestellt wurde – der Intimität des Arzt-Patienten-Verhältnisses und den Beratungsstellen vorbehalten bleiben. Um es mit Satzger112 zu sagen: „Dass ein Arzt … von sich aus ,Werbung‘ betreibt, in den Worten des § 219a StGB: ,eigene oder fremde Dienste anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts bekanntgibt‘ und somit direkt auf Schwangere zugeht, um darüber zu informieren, dass und wo sie einen solchen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen können, ist für das Beratungskonzept weder erforderlich noch vorgesehen.“ Es ist nicht nur nicht vorgesehen, sondern hat generell zu unterbleiben.113 Der Gesetzgeber wollte zum einen für „neutrale, medizinisch und rechtlich qualitätsgesicherte Informationen“114 sorgen und zum anderen verhindern, dass die Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen als „normale“ medizinische Dienstleistung dargestellt wird, die wie andere medizinische Dienstleistungen – wie z. B. Schönheitsoperationen oder Gesundheitsvorsorgechecks – beworben werden darf. Es ging dem Gesetzgeber um den Schutz des Lebensrechts des Ungeborenen, und zwar vor ganz bestimmten Gefahren, nämlich solchen, die dazu führen, dass der rechtliche Schutzanspruch des ungeborenen Lebens im allgemeinen Bewusstsein verblasst.115 Der Täter, der seine Dienste seines Vorteils wegen anbietet, widerspricht diesem rechtlichen Schutzanspruch und dem in jedem Schwangerschaftsabbruch liegenden Unwert und „trivialisiert ihn damit als Gegenstand des Dienstleistungsver111 Ein solches Gutachten haben die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages am 06. 12. 2017 (Az. WD 3 – 3000 – 252/17) zu erstellen versucht. Leider ist es bei einem Versuch geblieben, denn es wird nur der Meinungsstand zur Verfassungsmäßigkeit des § 219 a StGB (a.F.) in dazu noch sehr kursorischer Form referiert. 112 ZfL 2018, 23. 113 So auch Duttge, medstra 2018, 129. 114 Zutr. Kubiciel, ZRP 2018, 13 (14); ders., jurisPR-StrafR 4/2019 Anm. 1; Kaiser/Eibach, medstra 2018, 275; Fischer/v. Scheliha, MedR 2019, 80; Sasse, NJ 2018, 434 f.; Jansen, jurisPR-StrafR 7/2018 Anm. 2; s. auch Dorneck, medstra 2019, 142. 115 Vgl. auch Duttge, medstra 2018, 129: Schutz vor grob verfälschenden Darstellungen durch Profiteure, also durch Personen, die Dienste oder Mittel selbst anbieten.

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kehrs.“116 Es ist gerade die Aufgabe des § 219a StGB, die Geltungsbedingungen der Hauptnormen, also der §§ 218 ff. StGB, zu garantieren.117 Dieses vom Gesetzgeber verfolgte Schutzziel, das er in Gestalt eines abstrakten Gefährdungsdeliktes verwirklicht hat,118 ist angesichts der Tatsache, dass es um den Schutz menschlichen Lebens geht, von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Das ergibt sich aus der Rechtsprechung des BVerfG zum Schwangerschaftsabbruch, die namentlich in BVerfGE 88, 203 ihren Ausdruck gefunden hat. Das Gericht hat hier noch einmal festgehalten, dass der Schwangerschaftsabbruch für die ganze Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht angesehen wird und demgemäß rechtlich verboten ist,119 weil Schwangerschaftsabbruch immer Tötung ungeborenen Lebens ist.120 Der Gesetzgeber muss deshalb der Mutter einen Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich verbieten und ihr damit die grundsätzliche Rechtspflicht zum Austragen des Kindes auferlegen.121 Die insoweit erforderlichen rechtlichen Verhaltensgebote sind aber nicht auf den Schutz des ungeborenen Lebens beschränkt, sondern sollen „im Volke lebendige Wertvorstellungen und Anschauungen über Recht und Unrecht stärken und unterstützen und ihrerseits Rechtsbewusstsein bilden …, damit auf der Grundlage einer solchen normativen Orientierung des Verhaltens eine Rechtsgutsverletzung schon von vornherein nicht in Betracht gezogen wird.“122 Der Staat ist deshalb verpflichtet, den rechtlichen Schutzanspruch des ungeborenen Lebens im allgemeinen Bewusstsein zu erhalten und zu beleben.“123 Insgesamt muss das Schutzkonzept, bei dem auf den Einsatz des Strafrechts nicht beliebig verzichtet werden darf,124 so ausgestaltet sein, dass es nicht … „in eine rechtliche Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs übergeht oder als solche wirkt.“125 Bei alledem kommt dem Gesetzgeber ein „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum“ zu.126 Es liegt m. E. auf der Hand, dass das Werbeverbot des § 219a StGB als Teil des verfassungsrechtlich geforderten Schutzkonzepts (mindestens) aufgefasst werden kann, wenn nicht sogar aufgefasst werden muss.127 Das hat zweifellos Konsequenzen 116

Zutr. Berghäuser, KriPoZ 2019, 85; dies., medstra 2019, 125. Kaiser/Eibach, medstra 2018, 275 (unter Hinweis auf Jakobs). 118 SK-StGB/Rogall, § 219a Rn. 1. Der Jubilar vermisst dagegen in den Fällen einer Werbung für legale Abbrüche ein greifbares Schutzgut und reduziert den § 219a StGB im Übrigen auf bloßen „Klimaschutz“, vgl. dazu NK-StGB/Merkel, § 219a Rn. 2; richtig aber Hillenkamp, HessÄBl. 2018, 92 f. 119 BVerfGE 88, 203 (Ls. 4), BVerfGE 88, 255; BVerfGE 39, 1 (44). 120 BVerfGE 88, 256. 121 BVerfGE 88, 203 (Ls. 3), BVerfGE 88, 253. 122 BVerfGE 88, 253. 123 BVerfGE 88, 203 (Ls. 10), BVerfGE 88, 261. 124 BVerfGE 88, 203 (Ls. 8), BVerfGE 88, 257 (Untermaßverbot). 125 BVerfGE 88, 262. 126 BVerfGE 88, 262. 127 Vgl. dazu die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abg. Gyde Jensen et al. und der Fraktion der FDP (Fn. 51), S. 2: „§ 219a des Strafgesetzbuches (StGB) ist 117

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für die verfassungsrechtliche Beurteilung. Soweit Frommel128 immer wieder betont, dass auch die Tätigkeit des Arztes, die durch seine Berufsfreiheit geschützt wird,129 Teil des Schutzkonzeptes ist,130 so ist das zwar richtig,131 doch folgt daraus mitnichten, dass ihm auch ein Recht auf öffentliche Kommunikation seiner Abbruchswilligkeit eingeräumt werden müsste.132 Das sollte nach den vorstehenden Ausführungen insbesondere im Hinblick auf den Schutzzweck der Norm einsichtig geworden sein. Ganz falsch ist es in diesem Zusammenhang, wenn Frommel annimmt,133 dass die Formel „rechtswidrig, aber straflos“ nicht für Ärzte gelte. Denn das BVerfG hat in seiner von Frommel immer wieder referierten Entscheidung aus dem Jahre 1998 gerade betont, dass „der ärztlichen Vornahme von rechtswidrigen134 Schwangerschaftsabbrüchen der Schutz des Art. 12 Abs. 1 GG nicht versagt werden (kann).“135 Jedenfalls ist nicht erkennbar, dass das Verbot eines entgeltlichen Dienstangebots für Schwangerschaftsabbrüche den Werbenden Unverhältnismäßiges oder Unzumutbares auferlegt. Werbenden, die nicht Ärzte sind, darf man abverlangen, nicht zu versuchen, mit der Bekanntgabe von abbruchwilligen Personen und Einrichtungen Geld zu verdienen. Soweit Ärzte betroffen sind, ist festzuhalten, dass sie nicht gehindert sind, ihre Bereitschaft sowohl individuell zu kommunizieren als diese auch den Beratungsstellen mitzuteilen. Man muss in dieser Beziehung auch berücksichtigen, dass es zwischen einer Schwangeren und einem Arzt immer einen Erstkontakt geben wird, bei dem eine abbruchswillige Schwangere stets auch über die Möglichkeiten und Modalitäten eines Abbruchs unterrichtet werden wird. Berücksichtigt man zusätzlich noch die zumindest in einzelnen Bundesländern vorgehaltenen Listen abbruchwilliger Ärzte, so ist erkennbar, dass weder Grundrechte des Arztes (insbesondere dessen Berufsfreiheit nach Art. 12 GG) noch Grundrechte der Schwangeren (Informationsfreiheit, allgemeines Persönlichkeitsrecht) durch das Werbeverbot tangiert worden

Teil eines gesetzgeberischen Schutzkonzeptes für das ungeborene Leben.“ Kaiser/Eibach, medstra 2018, 273 (275). Zum Ganzen auch Berghäuser, Das Ungeborene im Widerspruch 2015, S. 611 f. 128 Vgl. etwa Frommel, medstra 2019, 129; dies., jM 2019, 162 (167); dies., ZRP 2019, 1; dies., JR 2018, 239; dies., NK 2018, 304 f. 129 BVerfGE 98, 265 (297). 130 Vgl. BVerfGE 98, 297: „Tätigkeit des Arztes notwendiger Bestandteil des gesetzlichen Schutzkonzepts.“ Zur Rechtswirksamkeit entsprechender Behandlungsverträge s. BVerfGE 88, 295. 131 Zust. Berghäuser, medstra 2019, 127; dies., KriPoZ 2019, 82 (85 f.); dies., JZ 2018, 497 (500 f.); s. auch Berghäuser, Das Ungeborene im Widerspruch (Fn. 127), S. 595 ff.; vgl. auch Weigend, Stellungnahme (Fn. 28), S. 2. 132 Es handelt sich dabei um Hilfskonstruktionen, deren es bedarf, um die Beratungslösung nach § 218a Abs. 1, 219 StGB praktikabel zu machen. 133 Frommel, medstra 2019, 129. 134 Hervorhebung vom Verf. 135 BVerfGE 98, 265 (297).

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sind.136 Es besteht kein Anlass zu der Annahme, dass abbruchswillige Ärzte durch das Werbeverbot an einer Patientenakquise gehindert worden wären und Schwangere keinen Zugang zu eben diesen Ärzten hätten finden können. Mit Hillenkamp137 stimme ich darin überein, dass nicht das Werbeverbot, sondern seine vollständige Beseitigung verfassungswidrig gewesen wäre. Nun ist ja in der Literatur138 und auch vom Jubilar selbst139 auf eine mögliche Systemwidrigkeit des § 219a StGB (a.F.) hingewiesen worden. Das erste Argument ist ein Teilnahmeargument dergestalt, dass die Werbung für rechtmäßiges Verhalten nicht unter Strafe stehen dürfe.140 Dabei werden z. T. auch die Fälle des § 218a Abs. 1 StGB als rechtmäßig (bzw. „legal“) eingestuft.141 Das zweite Argument stützt sich darauf, dass das ärztliche Angebot der Sache nach ein Sich-Erbieten i.S.d. § 30 Abs. 2 StGB darstellt. Dies setze aber nach der gen. Vorschrift voraus, dass Gegenstand des Sich-Erbietens ein Verbrechen sei. Im Bereich des Abtreibungsstrafrechts gebe es aber keine Tat, die als Verbrechen eingestuft ist.142 Es kann hier dahinstehen, wie diese Einwände verfassungsrechtlich – etwa als Verstoß gegen den Gleichheitssatz oder gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – zu verorten wären. Sie überzeugen jedenfalls nicht. Zu Recht ist bereits darauf aufmerksam gemacht worden, dass es sich bei dem Werbeverbot nicht um eine Form der Teilnahme143 handelt;144 sie ist gerade nicht-akzessorisch. Zum anderen dürfte der Gesetzgeber nicht gehindert sein, aus Gründen, die auch das Werbeverbot des § 219a tragen, die Werbung für rechtlich nicht verbotene Tätigkeiten zu untersagen. Er hat dies auch bereits getan, wie z. B. beim Tabakwerbeverbot.145 Es ist auch nicht anzunehmen, dass Produzenten von Cannabis für ihr Produkt werben dürften, auch wenn der Konsum von Cannabis palliativen Zwecken dient und ärztlich verordnet ist. 136 Zutr. LG Bayreuth ZfL 2007, 16; LG Gießen medstra 2019, 121; Kaiser/Eibach, medstra 2018, 275; Jansen, jurisPR-StrafR 7/2018 Anm. 2; s. auch Dorneck, medstra 2019, 142 f. 137 HessÄBl. 2018, 93; ebenso Kubiciel, ZRP 2018, 14; Kaiser/Eibach, medstra 2018, 275 f.; Wörner, NStZ 2018, 417; Enzensperger, RuP 2018, 72 (73). 138 Sowada, ZfL 2018, 24 (25); Schroeder, ZRP 1992, 410; Hoven, Stellungnahme (Fn. 29), S. 1; krit. aber Preuß, medstra 2018, 133. 139 Merkel, Stellungnahme (Fn. 28), S. 3; ders., Stellungnahme (Fn. 29), S. 2. 140 Merkel, Stellungnahme (Fn. 28), S. 3; Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf, StrafR BT, Rn. 5/40. 141 So z. B. Merkel, Stellungnahme (Fn. 28), S. 4; Gaede, ZfL 2018, 20; Höffler, RuP 2018, 70; Frommel, ZfL 2018, 17 f.; a.A. T. Walter, ZfL 2018, 28. 142 Zum Ganzen Merkel, Stellungnahme (Fn. 28), S. 3; Sowada, ZfL 2018, 25. 143 Allenfalls handelt es sich um eine Vorstufe der Teilnahme, s. SK-StGB/Rogall, § 219a Rn. 1. 144 Kubiciel, Stellungnahme (Fn. 28), S. 6; unentschieden Preuß, medstra 2018, 133. 145 Kubiciel, ZRP 2018, 15; T. Walter, ZfL 2018, 28. Der Jubilar versucht dieses Argument allerdings mit der Bemerkung zu entkräften, einem Kioskbesitzer dürfe auch bei einem grundsätzlichen Werbeverbot nicht untersagt werden, bekannt zu machen, dass er Zigaretten verkauft, vgl. Stellungnahme (Fn. 28), S. 2.

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Hinzuweisen ist auch auf den – freilich problematischen – Fall des § 217 StGB.146 Bei alledem ist im Übrigen zu bedenken, dass es in den Fällen eines Schwangerschaftsabbruchs nicht um eine Selbstgefährdung – wie beim Alkohol-, Drogen- oder Tabakkonsum –, sondern um die Tötung menschlichen Lebens geht, mag diese Tötung auch aus situativ anerkennenswerten Gründen gerechtfertigt oder wenigstens straffrei sein.147 Schließlich überzeugt auch die Argumentation mit § 30 StGB nicht. Die gesetzmäßige Voraussetzung, dass es sich um ein Verbrechen handeln muss, lässt sich dogmatisch und kriminalpolitisch natürlich gut hören. Diese Festlegung ist jedoch nicht in Stein gemeißelt, und der Gesetzgeber könnte von ihr vielleicht nicht generell, aber doch in begründeten Einzelfällen abweichen. Er hat dies ja z. B. auch in § 159 StGB getan. Im Hinblick auf die Gewichtigkeit des geschützten Rechtsguts sind keine Bedenken ersichtlich, die vom Gesetzgeber gewählte Konstruktion für system- und verfassungswidrig zu halten. Der Nachweis der Verfassungswidrigkeit des § 219a StGB lässt sich auch nicht mit dem Hinweis auf die bekannte Entscheidung der 1. Kammer des 1. Senats des BVerfG148 begründen, wie das ja vielfach versucht worden ist.149 Der Jubilar ist dem gefolgt, hat sich aber unter Hinweis darauf, dass es sich bei dem zugrunde liegenden Fall um einen Zivilrechtsstreit handelte, doch eher vorsichtig geäußert.150 Der zivilrechtliche Hintergrund dürfte allerdings kein Hindernis für eine Übertragung auf das Strafrecht darstellen. Denn der vielzitierte Satz „Wenn die Rechtsordnung Wege zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen durch Ärzte eröffnet, muss es dem Arzt auch ohne negative Folgen151 für ihn möglich sein, darauf hinzuweisen, dass Patientinnen seine Dienste in Anspruch nehmen können“,152 ist allgemeiner und grundsätzlicher Natur. Aber: Der Arzt ist doch gar nicht gehindert, einen solchen Hinweis zu geben. Er darf etwa andere Ärzte und Beratungsstellen auf seine Bereitschaft hinweisen und soll das sogar tun. Er darf nur nicht in der in § 219a StGB bezeichneten Art vorgehen und seine Dienste zur Patientenakquise anbieten. Im Falle des BVerfG hatte der Arzt – wie es in dem Beschluss heißt – „seine Bereitschaft zur

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Satzger, ZfL 2018, 23; Kubiciel, ZRP 2018, 15. Zutr. Duttge, medstra 2018, 129. 148 NJOZ 2008, 151 (156). 149 Gesetzentwurf der FDP (Fn. 24), S. 4; Gesetzentwurf Bündnis 90/Die Grünen (Fn. 22), S. 1; Tennhardt, Stellungnahme (Fn. 28), S. 2; Gesetzesantrag der Länder Berlin, Brandenburg, Hamburg, Thüringen (Fn. 26), S. 3. 150 Vgl. NK-StGB/Merkel, § 219a Rn. 3; Merkel, Stellungnahme (Fn. 28), S. 4; ders., Stellungnahme (Fn. 29), S. 2; s. auch Jansen, jurisPR-StrafR 7/2018 Anm. 2; Fischer/ v. Scheliha, MedR 2019, 79; Goldbeck, ZfL 2007, 14; Höffler, RuP 2018, 71; Stellungnahme des Kommissariats der Deutschen Bischöfe (Fn. 28), S. 7 f. 151 Mit „negativen Folgen“ gemeint ist die Prangerwirkung, die durch die Verteilung von Flugblättern seitens der Abtreibungsgegner erzeugt wird, vgl. Goldbeck, ZfL 2007, 15. 152 BVerfG NJOZ 2008, 156. 147

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Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen öffentlich erkennen lassen.“153 Wie genau das geschehen ist und ob der Arzt dadurch gegen § 219a StGB verstoßen hat, wissen wir nicht. Man darf sogar noch weiter gehen und die These aufstellen, dass § 219a StGB womöglich gar nicht auf dem Radarschirm der Verfasser des BVerfGBeschlusses und ihrer Zuarbeiter aufgetaucht ist. Deshalb steht für mich im Ergebnis fest, dass der Beschluss der 1. Kammer des 1. Senats des BVerfG für die verfassungsrechtliche Beurteilung des § 219a StGB in keiner Weise präjudiziell ist.

IV. Zur Neufassung des § 219a StGB durch das Gesetz vom 22. März 2019154 Der Gesetzgeber hat nunmehr mit dem gen. Gesetz im Wege eines (durchaus zweifelhaften) Kompromisses155 einen neuen Absatz 4 in § 219a StGB eingefügt, der dem Anliegen Rechnung tragen soll, die Informationsmöglichkeiten von abbruchwilligen Frauen zu verbessern und Rechtssicherheit für Ärzte, Krankenhäuser und Einrichtungen zu schaffen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen.156 Straffreiheit für an sich tatbestandsmäßiges Verhalten („Absatz 1 gilt nicht“) besteht danach für zwei an sich unter § 219a Abs. 1 StGB fallende Verhaltensweisen, nämlich zum einen für das Dienstangebot, Schwangerschaftsbrüche vorzunehmen oder zu fördern (§ 219a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Nr. 1 StGB) und zweitens für die Verlautbarung von Mitteln, Gegenständen und Verfahren mit Eignung zum Schwangerschaftsabbruch (§ 219a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 Nr. 2 StGB).157 Im Einzelnen gilt: § 219 Abs. 4 Nr. 1 StGB (neu) begründet einen Tatbestandsausschluss nach dem Muster der §§ 86 Abs. 3, 86a Abs. 3, 130 Abs. 6, 130a Abs. 3, 131 Abs. 3, 4 StGB, indem die Verhaltensnorm für die näher bezeichneten Fälle und Personen (aber nur für diese) zurückgenommen wird. Richtigerweise besteht dieser Tatbestandsausschluss nur für die Fälle eines sachlich gehaltenen Anbietens und Ankündigens, nicht jedoch in Fällen des Anpreisens und bei einer grob anstößigen Vorgehensweise.158 Das lässt sich mit dem Wortlaut der Norm („auf die Tatsache hinweisen“; „auf Informationen [einer … Behörde, Beratungsstelle .. oder einer Ärztekammer] hinweisen“) begründen, folgt aber nach der Gesetzesgenese auch daraus, dass nur sach-

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BVerfG NJOZ 2008, 156. BGBl. I S. 350. 155 Vgl. dazu etwa Berghäuser, KriPoZ 2019, 82 ff.; Frommel, jM 2019, 165 ff.; dies., medstra 2019, 129 ff.; Dorneck, medstra 2019, 137 ff.; Berghäuser, KriPoZ 2019, 82 ff. 156 Vgl. dazu den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen, BT-Drucks 19/7693, S. 1. 157 Es geht also zum einen um das „Ob“ eines Abbruchs und zum anderen um das „Wie“ des Abbruchs, vgl. Dorneck, medstra 2019, 139. 158 Zutr. Kubiciel, jurisPR-StrafR 4/2019 Anm. 1. Insoweit kommt es sehr wohl auf den Sprachgebrauch an, anders Berghäuser, KriPoZ 2019, 89 f. 154

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liche Informationen straffrei gestellt werden sollten.159 Dass § 219a Abs. 4 Nr. 1 StGB nicht mit Absatz 1 der Vorschrift abgestimmt sei und rätselhaft erscheine, ist entgegen Frommel160 nicht anzunehmen. Merkwürdig ist die Bezeichnung des privilegierten Personenkreises insoweit, als neben Ärzten auch Krankenhäuser und Einrichtungen erwähnt werden. Letztere sind nach deutschem Strafrecht aber gar nicht deliktsfähig. Man wird die Gesetzesfassung deshalb so zu interpretieren haben, dass die innerhalb der gen. Stellen an dem Hinweisgeschehen beteiligten natürlichen Personen in den Genuss der Straffreiheit kommen sollen. Dritte wie z. B. Medienmitarbeiter sind nicht privilegiert; sie bleiben auch bei sachlicher Information strafbar, vorausgesetzt natürlich, dass sich die Verlautbarung in den von § 219a StGB verlangten Formen (Öffentlichkeit, Vermögensvorteil, grobe Anstößigkeit) vollzieht. Ein Fall des § 28 Abs. 2 StGB steht im Übrigen nicht in Rede,161 so dass bei tatbestandslosem Handeln Teilnahme entfällt. Der in § 219a Abs. 4 Nr. 1 StGB (neu) vorgesehene Tatbestandsausschluss gilt nur für den (schlichten) Hinweis auf die Tatsache, dass der Hinweisgeber – und nicht ein Dritter (!)162 – überhaupt Schwangerschaftsabbrüche durchführt.163 Straffreiheit besteht aber nur für den Fall, dass er dabei deutlich macht (Klarstellungsobliegenheit),164 dass er Schwangerschaftsabbrüche ausschließlich unter den Voraussetzungen des § 218a Abs. 1 – 3 StGB vornimmt.165 Der Gesetzgeber hat diese zusätzliche Information für erforderlich erachtet, um den Gesetzeszweck, der sich mit § 219a StGB verbindet, wenigstens in einem eingeschränkten Umfang aufrechtzuerhalten.166 Die Voraussetzungen des § 219a Abs. 4 Nr. 1 StGB liegen auch vor, wenn der Täter innerhalb der legalen Abbruchsmöglichkeiten differenziert, also z. B. mitteilt, dass er Abbrüche nur unter den Voraussetzungen des § 218a Abs. 2 und 3 StGB, 159 Allerdings nur, wenn die entsprechenden Äußerungen sachlich gehalten sind; vgl. dazu den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen, BT-Drucks 19/7693, S. 11: „Werbende Handlungen bleiben weiterhin verboten.“ 160 JM 2019, 165 ff. 161 Erwogen von Mitsch, Ein Gedanke zu „Abschaffung des § 219a StGB – Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“, in: KriPoZ 2019, abrufbar im Internet (https://kripoz.de/ 2017/11/24/abschaffung-des-%c2 %a7 – 219a-stgb-werbung-fuer-den-abbruch-der-schwangerschaft/#comment-54). 162 Der von Profitinteresse geleitete Hinweis auf die Abbruchswilligkeit eines Dritten bleibt strafbar. Straflos ist nach dem Gesetz nur der Hinweis auf die eigene Tätigkeit (§ 219a Abs. 4 Nr. 1 StGB): „auf die Tatsache hinweisen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche … vornehmen.“ Das verkennt Frommel, medstra 2019, 130. 163 Die Rüge mangelnder Differenzierung zwischen eigenen und fremden Leistungen, die Frommel (medstra 2019, 130) erhebt, geht wiederum ins Leere. 164 Vgl. dazu Berghäuser, JZ 2018, 503; dies., KriPoZ 2018, 210 (217); dies., KriPoZ 2019, 86 f. 165 Ob diese Klarstellung einer Verlinkung – etwa auf eine pdf-Datei – vorbehalten bleiben darf, ist zweifelhaft, dürfte aber eine Frage des Einzelfalles sein; zum Problem Berghäuser, KriPoZ 2019, 88. 166 Näher Berghäuser, KriPoZ 2019, 85 ff.

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nicht aber unter den Voraussetzungen des § 218a Abs. 1 StGB durchführe; nähere Erläuterungen wird er aber dem Patientengespräch überlassen müssen.167 Der Tatbestandsausschluss des § 219a Abs. 4 Nr. 2 StGB (neu) betrifft sachliche Hinweise über die von den Ärzten, Krankenhäusern oder Einrichtungen jeweils angewendeten Methoden zur Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs.168 Der Hinweisgeber darf diese Informationen nach dem Gesetz gewordenen Willen des Gesetzgebers aber nicht originär selbst geben, sondern nur auf Informationen einer fachlich zuständigen Bundes- oder Landesbehörde, einer Beratungsstelle oder einer Ärztekammer hinweisen. Aus dem Begriff „hinweisen“ soll hier folgen, dass allein die Setzung eines Links auf diese Informationen im Internetauftritt eines Arztes oder eines Krankenhauses etc. oder das Kopieren der Information unter Angabe der Quelle straffrei bleibt;169 strafbar soll es dagegen bleiben, wenn sich der Hinweisende diese Information auf der eigenen Homepage unter Angabe der Quelle zu eigen macht.170 Der Gesetzgeber hat anscheinend angenommen, dass die Stellen, auf deren Informationsbestand verwiesen werden darf, gewährleisten, dass „neutrale, medizinisch und rechtlich qualitätsgesicherte Informationen“ zur Verfügung stehen. Dass dies aber zumindest bei gewissen Beratungsstellen einen Trugschluss darstellt, hat Berghäuser171 zutreffend dargelegt. Für unklar wird das Verhältnis der Strafnormen in § 219a Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB zu den Tatbestandsausschlüssen in § 219a Abs. 4 Nr. 1 und Nr. 2 StGB gehalten.172 Berghäuser nimmt – allerdings ohne nähere Begründung – an, dass der Täter § 219a Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht verwirklicht, wenn er Gegenstände, Mittel oder Verfahren ausschließlich in Konkretisierung seines bereits von § 219a Abs. 1 Nr. 1 StGB erfassten Angebots näher erläutert.173 Das ist jedoch nicht zutreffend. Ein Täter, der gleichzeitig sowohl eigene Dienste als auch zum Abbruch geeignete Mittel usw. anbietet, verstößt zugleich gegen die Nr. 1 und die Nr. 2 des § 219a Abs. 1 StGB.174 Er hat jeweils unterschiedliche Gefahren für das Rechtsgut des vorgeburtlichen Lebens begründet; inwieweit dies (Gegenbeweis der Ungefährlichkeit) hingenommen werden kann, richtet sich nicht nach einheitlichen, sondern nach jeweils speziellen Grundsätzen (§ 219a Abs. 4 Nr. 1, 2 StGB). Damit handelt es sich lediglich um eine 167

Dorneck, medstra 2019, 139. Zum Gegenstand der Mitteilung vgl. § 13 Abs. 3 Satz 2 SchwKG (neu). 169 Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen, BT-Drucks 19/7693, S. 11; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss), BTDrucks. 19/7965, S. 9. 170 Beschlussempfehlung und Bericht, BT-Drucks. 7965, S. 9; zust. wohl Dorneck, medstra 2019, 140; a.A. Kubiciel, juris PR-StrafR 4/2019 Anm. 1; Hoven, Stellungnahme (Fn. 29), S. 4. 171 KriPoZ 2019, 90. 172 Berghäuser, KriPoZ 2019, 87 ff.; Frommel, jM 2019, 165; dies., medstra 2019, 130. 173 Vgl. medstra 2019, 124. 174 Beide Fälle waren übrigens früher in verschieden Vorschriften normiert, vgl. §§ 219, 220 StGB a.F. 168

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Frage der Konkurrenzen, wie mit einem solchen Sachverhalt umzugehen ist.175 Naheliegend dürfte es sein, von gleichartiger Idealkonkurrenz auszugehen, wobei in die Urteilsformel nur die rechtliche Bezeichnung „wegen Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“ aufgenommen wird.176 Ob die erhebliche Kritik an der Neuregelung den Gesetzgeber zu weiteren Kurskorrekturen veranlassen wird, ist zweifelhaft. Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages haben der Neufassung des § 219a StGB jedenfalls das Siegel der Verfassungsmäßigkeit verliehen.177 Eine vollständige Streichung des § 219a StGB oder die vielfach – auch vom Jubilar178 – geforderte Umwandlung in eine Ordnungswidrigkeit179 ist damit erst einmal vom Tisch.

V. Schlussbemerkung Die Neufassung des § 219a StGB im Zuge eines politisch erbittert geführten und fast schon eskalierten Streits180 ist ein Musterbeispiel für den von Hillenkamp181 nur zu treffend beschriebenen und zu Recht getadelten „Einzelfall als Strafgesetzgebungsmotiv.“182 § 219a StGB a.F. war mit dem GG vereinbar; verfassungsrechtlich problematisch wäre im Gegenteil seine vollständige Streichung aus dem StGB gewesen. Ein Informationsdefizit bei abbruchswilligen Frauen war beim besten Willen nicht zu erkennen. Die Verurteilungen, die Anlass zu dem parlamentarischen Aktionismus gegeben haben, waren nach der seinerzeitigen lex lata rechtsfehlerfrei. Es bestand daher auch keine Rechtsunsicherheit.183 Angesichts dessen hätte genug Zeit zur Verfügung gestanden, zu „von Sachverstand geleitetem Handeln“ überzugehen und 175 Leider wird die Frage in den vorliegenden Kommentierungen – auch in der eigenen – nicht erläutert. Das wird nachzuholen sein. 176 Vgl. BGH NStZ 1994, 285 (zum schweren Raub). 177 Ausarbeitung vom 27. 02. 2019, WD 3 – 3000 – 043/19; ebenso Dorneck, medstra 2019, 142; ferner Kubiciel, jurisPR-StrafR 4/2019 Anm. 1. 178 Stellungnahme (Fn. 28), S. 7 ff.; Stellungnahme (Fn. 29), S. 4. 179 Dafür etwa der Kriminalpolitische Kreis, ZfL 2018, 31 (32); Deutscher Juristinnenbund, Stellungnahme (Fn. 28), S. 18; Stellungnahme (Fn. 29), S. 3; Höffler RuP 2018,71; dagegen mit Recht Gärditz, ZfL 2018, 19; Weigend, Stellungnahme (Fn. 29), S. 5; Hillenkamp, HessÄBl. 2018, 93; Duttge, medstra 2018, 130; Kaiser/Eibach, medstra 2018, 277; Dorneck, medstra 2019, 141; Kubiciel (ZRP 2018, 15) hält die Schaffung eines Bußgeldtatbestandes für „verfassungsrechtlich möglich, aber rechtspolitisch unklug.“ 180 Vgl. zum Ganzen auch Sasse, NJ 2018, 434: „Erstaunlicherweise wird die stark kontrovers geführte Diskussion um den Fortbestand oder die Beseitigung dieser Strafrechtsvorschrift zwar erbittert, aber nicht immer rechtlich fundiert, sondern eher rechtspolitisch aufgeheizt und polemisch ausgetragen.“ 181 FS Eisenberg II (2019), S. 655 (668 f.). 182 Vgl. auch Kubiciel, ZRP 2018, 13: „Bad cases shouldn’t make bad law.“ 183 Unzutr. Gärditz, ZfL 2018, 20, wonach § 219a StGB (a.F.) mit „Interpretationsunsicherheiten“ belastet gewesen sein soll.

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auf reflexhafte Reaktionen zu verzichten.184 So aber ist eine Lösung gefunden worden, deren Befriedungsfunktion und Nachhaltigkeit Zweifeln unterliegt.185 Aber man wollte wohl auch den betroffenen Angeklagten die Wohltat des § 2 Abs. 3 StGB erweisen.186 Im Falle der Ärztin Kristina Hänel ist das auch gelungen,187 wenngleich hier und in anderen Fällen188 noch zu prüfen ist, ob auch nach der Neufassung des § 219a StGB eine Strafbarkeit besteht. Das Konfliktpotenzial ist also im Ergebnis keineswegs ausgeräumt. Inwieweit dieses Gesetz Bestand haben wird – der Sache nach handelt es sich ja um einen Waffenstillstand in einem „Stellvertreterkrieg“189 – bleibt abzuwarten.190

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Zu diesem Desiderat nochmals Hillenkamp, FS Eisenberg II (2019), S. 669. Berghäuser (KriPoZ 2019, 82) wirft die Frage auf, ob es sich bei der gefundenen Lösung nur um einen „faulen Parteienkompromiss“ handelt. 186 Vgl. dazu auch Hillenkamp, FS Eisenberg II 2019, S. 668. 187 OLG Frankfurt, Beschluss v. 26. 06. 2019 – 1 Ss 15/19 –, juris. 188 Vgl. etwa AG Tiergarten, Urt. v. 14. 06. 2019 – 253 Ds 143/18; s. auch AG Kassel – 284 Ds-2660 Js 28990/17, Pressemitteilung Nr. 3/2019 v. 08. 07. 2019: Einstellung des Verfahrens gemäß § 206b Satz 2 StPO gegen die Ärztinnen Natascha Nicklaus und Nora Szász mangels Strafbarkeit nach neuem Recht. 189 Vgl. Duttge, medstra 2018, 129. 190 Nach Pressemitteilungen hat die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag erklärt, sich an einem Normenkontrollantrag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen nicht (mehr) beteiligen zu wollen, vgl. etwa https://rsw.beck.de/aktuell/meldung/fdp-verzichtetwohl-auf-normenkontrollklage-gegen-219a-stgb. Zu dem angekündigten Verfahren auch Dorneck, medstra 2019, 137, 143. 185

Intersexualität und Strafrecht Von Anette Grünewald

I. Einführung Intersexualität und der gesellschaftliche Umgang mit diesem Phänomen sind erst vor wenigen Jahren in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Hierzu hat nicht zuletzt eine 200 Seiten starke Stellungnahme des Deutschen Ethikrates beigetragen.1 Diese markiert den Beginn einer breiteren gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser komplexen Materie,2 die in diversen Aspekten umstrittenen ist. Bereits der Terminus „Intersexualität“ stößt auf Bedenken.3 Viele Betroffene lehnen ihn ab, weil er sprachlich eine zu große Nähe zu anders gelagerten Phänomenen wie Bi-, Hetero-, Homosexualität oder Transsexualität aufweise.4 Um zu verdeutlichen, dass es bei der Intersexualität um geschlechtliche Merkmale und nicht um sexuelles Begehren geht, wird der Terminus „Intergeschlechtlichkeit“ bevorzugt.5 Der Begriff „Intersexualität“ ist jedoch weit verbreitet, insbesondere werden im englischen Sprachraum die Bezeichnungen „intersex“ und „intersexuality“ verwendet. Im medizinischen Diskurs hingegen tauchen beide Begriffe nicht (mehr) auf. Intergeschlechtlichkeit wird dort in die Kategorie DSD eingeordnet (dazu III.3.). Das Akronym steht für „disorders/differences of sex development“ und bietet ebenfalls Anlass zur Kritik, sofern Intergeschlechtlichkeit als „disorder“ (Störung) angesehen wird. Die schwierige Suche nach einer angemessenen Begrifflichkeit weist auf Unsicherheiten und Unklarheiten hin. Diese durchziehen die gesamte Debatte über Intersexualität wie ein roter Faden und wirken sich auf Einzelaspekte aus. Es ist nicht leicht, sich einen Überblick über das Thema zu verschaffen. Das liegt zunächst schon an der Inhomogenität und Vielgestaltigkeit intersexueller Erscheinungsformen (dazu II.1. 1 Deutscher Ethikrat, Intersexualität. Stellungnahme, 2012. Zum Hintergrund der Stellungnahme siehe ebd., S. 9 f. 2 Der Stellungnahme sind eine öffentliche Anhörung, ein Online-Diskurs und weitere Aktivitäten des Deutschen Ethikrats vorausgegangen; vgl. Deutscher Ethikrat, Dokumentation. Intersexualität im Diskurs, 2012; ein Überblick über die einzelnen Tätigkeiten findet sich ebd., S. 13, sowie Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 13 ff. 3 Zur historischen Entwicklung dieses Begriffs Voß, Intersexualität – Intersex, 2012, S. 10. 4 Voß, in: Baier/Hochreiter (Hrsg.), Intergeschlechtliche Körperlichkeiten, 2014, S. 69 (73 f.). 5 Voß (Fn. 3), S. 11. Zur Abgrenzung von Inter- und Transsexualität siehe im Haupttext unter II.3.

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und 2.). Hinzu kommt, dass die Forschungslage nach wie vor dürftig ist; wobei teilweise sogar deutlich divergierende Studienergebnisse existieren. Von einigen Diskussionsteilnehmern wird die Debatte um Intersexualität zudem sehr emotional geführt. Intergeschlechtliche Aktivisten und deren Verbündete begeben sich bisweilen in einen erbitterten Kampf mit Vertretern der medizinischen Fachwelt, in dem sich Wut, Verzweiflung, mitunter blanker Hass entladen.6 Das ist angesichts der zweifelhaften und tief einschneidenden medizinischen Eingriffe, die jahrzehntelang an intersexuellen Personen durchgeführt wurden (dazu III. und IV.), wenig verwunderlich.7 Schließlich betrifft das Thema grundlegende, die Gesellschaft prägende Fragen. Es geht um „sex“ und „gender“ und damit um Geschlechtertheorie.8 Man bewegt sich also gesellschafts- wie rechtspolitisch auf heiklem und vermintem Terrain. Reinhard Merkel wurde im selben Jahr in den Deutschen Ethikrat berufen, in dem dieser seine Stellungnahme zur Intersexualität veröffentlicht hat, also im Jahr 2012. Bis 2020 gehörte er diesem Gremium an. An der Stellungnahme zur Intersexualität hat er nicht mitgewirkt. Gesellschaftspolitisch brisante Themen und die „großen Fragen des Lebens“9 sind das Feld, auf dem Reinhard Merkel sich mit Vorliebe und bewundernswertem Elan bewegt. Zahlreiche Debatten hat er mit seinen brillanten Analysen und streitbaren Thesen bereichert. Meinen Beitrag verbinde ich mit den allerbesten Wünschen für die Zukunft und der Hoffnung auf weitere spannende und lehrreiche Beiträge aus der Feder des Jubilars.

II. Das Phänomen der Intersexualität 1. Bedeutung Bei der Intergeschlechtlichkeit handelt es sich nicht um eine einheitliche oder klar abgrenzbare Erscheinung. Vielmehr gibt es „eine Vielzahl [von] Formen mit unterschiedlichen Ursachen, Erscheinungsbildern und Entwicklungsverläufen“.10 Diese 6

Vgl. die Nachweise bei Zehnder, Zwitter beim Namen nennen, 2010, S. 201 ff. Siehe auch die zum Teil selbstkritische Stellungnahme der Bundesärztekammer, „Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Varianten/Störungen der Geschlechtsentwicklung (Disorders of Sex Development, DSD)“, Deutsches Ärzteblatt 2015, S. 1 ff. 8 Plett, in: Lohrenscheit (Hrsg.), Sexuelle Selbstbestimmung als Menschenrecht, 2009, S. 151 (163): „Geschlecht [als] eine der grundlegenden gesellschaftlichen Strukturkategorien“; ähnlich Quindeau, Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 63 (2014), S. 437 (444). 9 Die Formulierung ist einer Selbstbeschreibung des Deutschen Ethikrates entnommen (https://www.ethikrat.org [zuletzt abgerufen am 17. 09. 2019]). 10 Richter-Appelt, Bundesgesundheitsblatt 2013, S. 240 (241); dies., in: Groneberg/Zehnder (Hrsg.), „Intersex“. Geschlechtsanpassung zum Wohl des Kindes?, 2008, S. 53 (55); Netzwerk Intersexualität, Klinische Evaluationsstudie: Medizinische und chirurgische Behandlungsergebnisse, psychosexuelle Entwicklung und gesundheitsbezogene Lebensqualität bei Störungen der somatosexuellen Differenzierung, 2006, S. 8, https://www.orpha.net/data/ 7

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Komplexität erschwert eine präzise und angemessene Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Intersex“ erheblich. Das betrifft die juristische wie die medizinische und psychologische Perspektive11 gleichermaßen und gilt nicht minder für die soziologische und gesellschaftspolitische. Grundsätzlich kann man festhalten, dass Personen als intergeschlechtlich gelten, wenn sie sich aufgrund angeborener körperlicher Besonderheiten nicht eindeutig dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuordnen lassen.12 Intersexualität entsteht dadurch, dass „es während der pränatalen Differenzierung des Körpergeschlechts zu einer untypischen Entwicklung bzw. Veranlagung“ kommt, die zu einer somatischen Zwischengeschlechtlichkeit führt.13 Diese kann unterschiedlich (stark) ausgeprägt sein. Zwischengeschlechtlichkeit liegt vor, wenn die das Geschlecht einer Person determinierenden und differenzierenden Merkmale nicht alle demselben Geschlecht angehören. Zu diesen Merkmalen zählen Chromosomen, Gene, Hormone, Keimdrüsen, äußere und innere Geschlechtsorgane.14 Die Vielfalt und Heterogenität intergeschlechtlicher Erscheinungsformen liegt darin begründet, dass Abweichungen von jedem einzelnen oder von mehreren dieser Merkmale ausgehen können und in unterschiedlichen Kombinationen und Ausprägungen auch vorkommen.15 Die Uneindeutigkeit des Geschlechts kann unmittelbar nach der Geburt auffallen, wenn nämlich die äußeren Geschlechtsorgane ein untypisches Aussehen aufweisen. Möglich ist es aber ebenso, dass die Intergeschlechtlichkeit erst später erkennbar wird. Das kann zufällig geschehen (z. B. anlässlich einer Leistenbruchoperation). Oder die Intersexualität wird in der Pubertät sichtbar, weil sekundäre Geschlechtsmerkmale sich nicht so entwickeln, wie es zu erwarten gewesen wäre (z. B. Brustentwicklung bei männlichem Phänotyp oder Ausbleiben dergleichen bei weiblichem Phänotyp).16

eth/DE/Id25459DE.pdf (zuletzt abgerufen am 17. 09. 2019); Brinkmann et al., Gynäkologische Endokrinologie 2007, S. 235; Holterhus, in: Hiort et al. (Hrsg.), Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie, 2010, S. 392 (407). 11 Vgl. Stellungnahme der Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (2). 12 So Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 11; Interministerielle Arbeitsgruppe Inter- &Transsexualität (IMAG), „Situation von trans- und intersexuellen Menschen im Fokus“, Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, 2016, S. 32. 13 Richter-Appelt, Zeitschrift für Sexualforschung 2004, S. 239 (240); dies./Schweizer, Psychotherapeut 2010, S. 36; eingehender Stern, Intersexualität, 2010, S. 46 ff., und vor allem Holterhus (Fn. 10), S. 392 ff. 14 Brinkmann et al., Gynäkologische Endokrinologie 2007, S. 235; Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53 (54); dies., Bundesgesundheitsblatt 56 (2013), S. 240; Remus, in: Schmidt et al. (Hrsg.), Selbstbestimmung und Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, 2015, S. 63 (64); Plett (Fn. 8), S. 151 (153). 15 Ausführlich etwa Zehnder (Fn. 6), S. 75 ff. 16 Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53 (55); Stern (Fn. 13), S. 46.

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2. Zahlen und Formen Belastbare Daten zur Häufigkeit von Intersexualität gibt es nicht; die Angaben hierzu variieren. So sollen leichtere Formen von Intergeschlechtlichkeit bei einer von 2000 Personen und schwerere Formen bei einer von 10.000 Personen vorkommen.17 Schätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland zwischen 8.000 und 120.000 intergeschlechtliche Personen leben18 und jährlich etwa 150 intersexuelle Kinder geboren werden.19 Die teils signifikant voneinander abweichenden Zahlen resultieren auch aus Unklarheiten und Uneinigkeiten bei der Einordnung bestimmter Phänomene.20 Denn eine allseits anerkannte, trennscharfe Definition gibt es nicht. Man ist sich daher in manchen Fällen uneins, ob eine Abweichung der Kategorie „Intersexualität“ zuzurechnen ist oder nicht. Als die am häufigsten vorkommenden Formen von Intergeschlechtlichkeit gelten das adrenogenitale Syndrom (AGS), die Gonadendysgenesie sowie die Androgenresistenz bzw. das Androgeninsensitivitätssyndrom (AIS).21 Ein einheitliches Erscheinungsbild haben diese Formen aber ebenfalls nicht; Schweregrad und Ausprägung können also erheblich differieren. Zum besseren Verständnis seien wesentliche Merkmale dieser drei Intersex-Varianten grob und auch nur ausschnittshaft skizziert: a) Das adrenogenitale Syndrom gilt als „das häufigste und am besten untersuchte Intersex-Syndrom“.22 Es kann bei männlichen wie weiblichen Kindern auftreten. Unmittelbar nach der Geburt wird es vornehmlich bei weiblichen Kinder erkannt; man spricht in diesem Fall auch von XX-AGS oder nennt die Betroffenen AGSMädchen.23 Die Neugeborenen fallen durch vergrößerte äußere Geschlechts17

So Netzwerk Intersexualität (Fn. 10), S. 8; Zumbusch-Weyerstahl/Teschner, in: Weyerstahl/Stauber, Gynäkologie und Geburtshilfe, 4. Aufl., 2013, S. 44, gehen von einer Häufigkeit von 1 : 4.500 aus; siehe ferner Klöppel, Zur Aktualität kosmetischer Operationen „uneindeutiger“ Genitalien im Kindesalter, 2016, S. 18 f.; Calvi, Eine Überschreitung der Geschlechtergrenzen?, 2012, S. 84 f. 18 So IMAG (Fn. 12), S. 8; nach Zumbusch-Weyerstahl/Teschner (Fn. 17), S. 44, leben 10.000 Betroffene in Deutschland; in der Stellungnahme der Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (4), geht man davon aus, dass in Deutschland 8.000 bis 10.000 Personen ausgeprägte Abweichungen von der typisch männlichen oder weiblichen Geschlechtsentwicklung aufweisen. 19 Zumbusch-Weyerstahl/Teschner (Fn. 17), S. 44; Stellungnahme der Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (4). 20 Hauck et al., Zeitschrift für Sexualforschung 2019, S. 80 (85, 87); Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53 (55 f.); Zehnder (Fn. 6), S. 139 f. 21 Ein guter Überblick über die genannten Formen findet sich aus medizinischer Sicht bei Grüters, in: Finke/Höhne, Intersexualität bei Kindern, 2008, S. 31 ff., und aus psychologischer Sicht bei Brinkmann et al., Gynäkologische Endokrinologie 2007, S. 235 (236), sowie Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53 (60 ff.). Zur Entstehung dieser Varianten der Geschlechtsentwicklung Holterhus (Fn. 10), S. 392 ff. 22 Zehnder (Fn. 6), S. 82. 23 Hierzu sowie dem Folgenden Grüters (Fn. 21), S. 31 (32 ff.); Schweizer et al., Zeitschrift für Sexualforschung 2007, S. 145 ff.; Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 43 ff.; zur Entstehung wiederum Holterhus (Fn. 10), S. 392 (394 f.).

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merkmale auf (Klitoris und/oder Schamlippen). Fällt diese Vergrößerung besonders stark aus (Prader V24), erinnern die Geschlechtsmerkmale an einen Penis und/oder Hodensack. Weibliche Kinder mit AGS haben in der Regel normale innere Geschlechtsorgane (Eierstöcke, Eileiter, Gebärmutter) und sind fortpflanzungsfähig. Das gilt manchmal sogar für das sog. AGS mit Salzverlust – eine lebensgefährliche Form von AGS, die dringend behandlungsbedürftig ist und eine lebenslange Hormontherapie erfordert.25 Zweifeln lässt sich nun zumindest daran, inwieweit bestimmte Erscheinungsformen von XX-AGS als eine Intersex-Variante anzusehen sind.26 Zumal viele XX-AGS-Betroffene sich selbst nicht als zwischengeschlechtlich, sondern als eine eindeutig weibliche Person mit einer Stoffwechselerkrankung sehen.27 Soweit in solchen Fällen Feminisierungsoperationen durchgeführt wurden und heute noch durchgeführt werden (mithin Reduktion der Klitoris und/oder der Schamlippen),28 lässt sich die Frage aufwerfen, ob derartige Eingriffe als geschlechtszuweisend treffend charakterisiert sind oder ob es sich nicht lediglich um geschlechtsvereindeutigende oder auch genitalkorrigierende Maßnahmen handelt.29 Damit ist freilich noch nichts über die rechtliche Zulässigkeit solcher Maßnahmen gesagt (dazu unter IV.2.b). b) Die Gonadendysgenesie kommt ebenfalls in verschiedenen Formen und Abstufungen vor.30 Sie kann bei einem 46,XX- oder 46,XY-Karyotyp auftreten.31 Bei der wohl am häufigsten vorkommenden reinen Gonadendysgenesie (auch Swyer-Syndrom) handelt es sich um eine Entwicklungsstörung der Hoden. Das Kerngeschlecht ist männlich (XY-Chromosomensatz), der Phänotyp aufgrund mangelnder Virilisierung weiblich. Auch hier sind wiederum unterschied24

Den Virilisierungsgrad des äußeren Genitales bestimmt man nach den Kategorien Prader I bis V; Prader V ist also die stärkste Form. 25 Vgl. Birnbaum et al., Monatsschrift Kinderheilkunde 2/2013, S. 145 (151). 26 Eingehend Lang, Intersexualität, 2006, S. 97 ff. 27 Werlen, Schweizerische Ärztezeitung 2016, S. 1089; Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 11, 44; Stellungnahme der Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (2); Woweries, in: Schneider/BaltesLöhr (Hrsg.), Normierte Kinder, 2014, S. 249. Es gibt aber ebenfalls Untersuchungen, die zu dem Ergebnis kommen, dass eine beachtliche Zahl von Patientinnen ihre weibliche Identität später (also in oder nach der Pubertät) in Frage stellt. Das soll besonders für das AGS mit Salzverlust gelten, welches in der Regel mit der stärksten Virilisierung einhergeht; siehe Krege, Zeitschrift für Sexualforschung 2007, S. 113 (114); Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53 (60 f.). 28 Vgl. etwa Rohrer et al., in: Gortner/Meyer (Hrsg.), Pädiatrie, 5. Aufl., 2018, S. 242 (246); Radmayr, in: Michel et al. (Hrsg.), Die Urologie, 2016, S. 181 f.; Conrad, in: Hautmann/Gschwend (Hrsg.), Urologie, 5. Aufl., 2014, S. 403 f.; ferner Klöppel (Fn. 17), S. 6 ff., 56 ff. 29 Zu dieser Differenzierung Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 108 f. 30 Eingehender Grüters (Fn. 21), S. 35 ff.; zur Entstehung Holterhus (Fn. 10), S. 392 (bes. 395 ff.); ferner Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 37 ff. 31 Conrad (Fn. 28), S. 403 (405). Zum Turner- und Klinefelter-Syndrom siehe später im Haupttext unter III.3.

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liche Ausprägungen möglich. Es kann ein komplett weiblicher Phänotyp vorliegen. Möglich sind aber ebenso verschiedene Formen der Hypospadie (Fehlbildung der Harnröhre) mit oder ohne Hodenhochstand. Ungeachtet des XY-Chromosomensatzes wurden/werden diese Personen vielfach dem weiblichen Geschlecht zugewiesen, weil sich die inneren und äußeren Geschlechtsorgane eher weiblich entwickeln.32 c) Ein überaus großes Spektrum möglicher Erscheinungsformen gibt es schließlich beim Androgeninsensitivitätssyndrom (AIS).33 Chromosomal handelt es sich bei diesem Syndrom um männliche Neugeborene. Diese können äußerlich ein vollständig weibliches Erscheinungsbild aufweisen, wobei die inneren weiblichen Geschlechtsorgane fehlen (so bei der kompletten Androgenresistenz [CAIS]). In diesem Fall fand (und findet wohl noch) eine Zuordnung zum weiblichen Geschlecht statt (sog. XY-Mädchen). Jedoch kommen auch nahezu männliche, zwischengeschlechtliche oder überwiegend weibliche äußere Erscheinungsbilder vor (so bei der partiellen Androgenresistenz [PAIS]).

3. Inter- und Transsexualität Intersexualität ist von Transsexualität abzugrenzen. Während bei der Intersexualität die pränatale somatosexuelle Differenzierung einen untypischen Verlauf nimmt und ein ambivalenter Genitalbefund vielfach schon unmittelbar nach der Geburt erkennbar ist (siehe II.1.), lassen sich transsexuelle Personen biologisch einem Geschlecht innerhalb des binären Geschlechtersystems zuordnen.34 Sämtliche geschlechtsbestimmenden und -determinierenden Merkmale sind bei ihnen also weiblich oder männlich. Transsexualität zeichnet sich durch Geschlechtsinkongruenz aus. Das heißt: transsexuelle Personen erleben sich in einem anderen als dem angeborenen Geschlecht. Da es hierfür (bislang) keinen somatisch nachweisbaren Befund gibt, gilt Transsexualität als psychisches, Intersexualität hingegen als körperliches Phänomen. Insofern kann man wohl (noch) sagen, dass Trans- und Intersexualität sich wechselseitig ausschließen.35 Geschlechtsinkongruenz kann freilich auch bei intersexuellen Personen auftreten. Das ist der Fall, wenn sich bei ihnen eine Geschlechtsidentität herausbildet (männlich, weiblich oder dazwischen), die dem nach der Geburt durch medizinische Maßnahmen und Erziehung zugewiesenen Geschlecht nicht entspricht. 32

Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 39. Hierzu Grüters (Fn. 21), S. 31 (36 f.); Holterhus (Fn. 10), S. 392 (402 ff.); Krege, in: Michel et al. (Hrsg.), Die Urologie, 2016, S. 1847 (1850 f.); Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 42. 34 Bosinsk/Sohn, in: Michel et al. (Hrsg.), Die Urologie, 2016, S. 1685; Richter-Appelt, Bundesgesundheitsblatt 2013, S. 240 f. 35 Vgl. Richter-Appelt, Bundesgesundheitsblatt 2013, S. 240, 243; dies., in: Wimmer-Puchinger et al. (Hrsg.), Irrsinnig weiblich – Psychische Krisen im Frauenleben, 2016, S. 107 (111). 33

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Nach herkömmlicher Anschauung gelten beide Phänomene als Störungen, die einer medizinischen Behandlung bedürfen. In den letzten Jahren hat allerdings ein beachtlicher Wandel eingesetzt, der vor allem von Betroffenen und Interessenvertretern vorangetrieben wurde und wird. Transsexualität ist nach der noch geltenden Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, ICD-10-GM, ein Unterfall der Störungen der Geschlechtsidentität und gehört damit zum Bereich der Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen.36 Der Terminus wird voraussichtlich in der neuen Fassung (ICD-11), die 2022 in Kraft treten soll, durch den Begriff „gender incongruence“ (Geschlechtsinkongruenz) ersetzt, der keine Psychopathologisierung mehr impliziert (bzw. implizieren soll).37 Die „Psychiatrisierung“ der Transsexualität ist übrigens ein wesentlicher Grund, weshalb Intersexuelle nicht mit Transsexuellen in Verbindung gebracht werden wollen und um größtmöglichen Abstand zu dieser Personengruppe bemüht sind. Seit der 2013 geltenden 5. Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) wird Transsexualität den Geschlechtsdysphorien zugeordnet. Wobei der Begriff „Transsexualität“ im DSM nicht mehr vorkommt.38 Geschlechtsdysphorie bezeichnet „die als belastend erlebte Unvereinbarkeit von Identitätserleben und geschlechtstypischer Erscheinung“.39 Eine solche kann vergleichbar der Geschlechtsinkongruenz auch bei intersexuellen Personen auftreten.40 Der Begriff hat den im DSM-IV-TR aus dem Jahr 2000 verwendeten Terminus der Geschlechtsidentitätsstörung ersetzt und steht ebenfalls für eine Entpathologisierung.41 Die Suche nach einer adäquaten Begrifflichkeit und Einordnung erweist sich also nicht nur bei der Intersexualität als schwieriges Unterfangen (siehe schon I.), sondern ebenso bei der Transsexualität. Die Gründe dafür sind zum Teil vergleichbar. So hängt die Bewertung beider Phänomene erheblich von soziokulturell geprägten Vorstellungen ab und ist zugleich in hohem Maße dem Einfluss gegenwärtiger gesellschaftspolitischer Strömungen ausgesetzt.42 Für die Transsexualität wurde der Wandel der gesellschaftlichen Anschauung, der auch – wie vor Jahrzehnten schon im (wenngleich nochmals anders gelagerten) Fall der Homosexualität – in die medizinischen Klassifikationssysteme hinwirkt, nur knapp angerissen. Für die Intersexualität ist die Entwicklung nun etwas eingehender nachzuzeichnen. 36 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (Hrsg.), ICD-10GM, Version 2019, S. 203 ff. (F.60) und S. 208 (F.64). 37 Siehe Nieder/Strauß, Zeitschrift für Sexualforschung 2019, S. 70 (72). 38 Und zwar schon seit der 4. Aufl. im Jahr 1994; zu den Gründen Bosinski/Sohn (Fn. 34), S. 1685 f. 39 So kurz Nieder/Richter-Appelt, Gynakol Geburtsmed Gynakol Endokrinol 2012, S. 60 (61). 40 Siehe Falkai/Wittchen (Hrsg.), Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen. DSM-5, 2. Aufl., 2018, S. 219 ff. 41 Nieder et al., Psychother Psych Med 64 (2014), S. 232 (234); siehe auch Bosinski/Sohn (Fn. 34), S. 1685 f. 42 So zutreffend die Stellungnahme der Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (bezogen auf die Intersexualität).

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III. Der Umgang mit Intersexualität in der Medizin 1. Behandlungsmodell: „optimal gender policy“ Seit Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts beherrschte ein Behandlungsansatz den Umgang mit intersexuellen Kindern, der auf den an der Johns-Hopkins-University in Baltimore tätigen klinischen Psychologen und Sexualwissenschaftler John Money zurückgeht. Man spricht daher auch vom Baltimorer Behandlungsmodell;43 aussagekräftiger ist die Bezeichnung „optimal gender policy“.44 Nach diesem Konzept45 sollte das intersexuelle Erscheinungsbild des Kindes durch medizinische Maßnahmen, namentlich Operationen und Hormontherapien, korrigiert und der Körper einem weiblichen oder männlichen angepasst werden. Die Eingriffe sollten frühestmöglich stattfinden und wurden in aller Regel vor dem Erreichen des zweiten Lebensjahres durchgeführt. Money ging nämlich davon aus, dass innerhalb der ersten beiden Lebensjahre ein Geschlecht unabhängig von der angeborenen körperlichen Beschaffenheit problemlos zugewiesen werden könne. Um eine stabile Geschlechtsidentität zu entwickeln, sei es aber erforderlich, den Körper so optimal wie möglich einem typisch männlichen oder typisch weiblichen Körper anzupassen.46 Ausschlaggebend für die Geschlechtszuweisung waren die vorhandenen Genitalien und die operativen Möglichkeiten.47 Letzteres führte dazu, dass in der überwiegenden Zahl der Fälle eine Zuordnung zum weiblichen Geschlecht stattfand.48 Denn bis heute ist der Aufbau eines Penis schwieriger als die Herstellung einer künstlichen Vagina.49 Zur Erreichung einer stabilen Geschlechtsidentität musste das Kind außerdem konsequent in seinem Zuweisungsgeschlecht erzogen werden und die Eingriffe bzw. deren Bedeutung mussten ihm, auch wenn es erwachsen war, verschwiegen werden.50 Diese Verheimlichungsstrategie führte dazu, dass viele Intersexuelle ihre „wahre Geschichte“ nur per Zufall erfahren haben.51 Hieraus, so wird geltend gemacht, resultiere ein „Wahrnehmungsdefizit von mindestens drei Jahrzehnten“.52 43

Voß (Fn. 3), S. 14. Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53 (56 f.); Voß (Fn. 3), S. 14; Kolbe, Intersexualität, Zweigeschlechtlichkeit und Verfassungsrecht, 2010, S. 136; Gregor, Constructing Intersex. Intergeschlechtlichkeit als soziale Kategorie, 2015, S. 56 f.; Davis, Contesting Intersex, 2015, S. 58 ff. 45 Siehe zum Folgenden Gregor (Fn. 44) S. 57 ff.; Kolbe (Fn. 44), S. 136 f.; Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53 (57); Voß (Fn. 4), S. 69 (77 ff.). 46 Kolbe (Fn. 44), S. 209. 47 Gregor (Fn. 44), S. 58; Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53 (56). Zur Fertilität als einem weiteren Faktor für die Wahl des Zuweisungsgeschlechts Zehnder (Fn. 6), S. 85. 48 Zehnder (Fn. 6), S. 89 f.; Voß (Fn. 3), S. 15. 49 Siehe nur Krege, Zeitschrift für Sexualforschung 2007, S. 113 (114). 50 Wiesemann/Ude-Koeller, in: Groß et al. (Hrsg.), Transsexualität und Intersexualität, 2008, S. 13; Plett (Fn. 8), S. 151 (158); Voß (Fn. 4), S. 69 (72); ders. (Fn. 3), S. 14; Gregor (Fn. 44), S. 58, 61. 51 Plett (Fn. 8), S. 151 (158). 52 So Adamietz, Geschlecht als Erwartung, 2010, S. 45. 44

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John Moneys Behandlungsmodell war in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts nahezu allseits konsentiert53 und bestimmte den Umgang mit intersexuell Geborenen auch in Deutschland.54 Der Ansatz konnte vermutlich auch deshalb eine solche Wirkkraft entfalten, weil seine Grundannahmen anderenorts geteilt wurden. So vertraten etwa Feministinnen die Ansicht, dass nicht das angeborene, biologische Geschlecht (sex), sondern das anerzogene, erworbene oder soziale Geschlecht (gender) das Geschlechtsrollenverhalten und die Geschlechtsrollenidentität entscheidend prägten.55 Das entsprach antibiologistischen Strömungen und stützte die These, dass die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen weniger auf biologisch-körperlichen Differenzen beruhe als vielmehr soziokulturell geschaffen sei.56 Geschlechtszuordnende Operationen und andere Behandlungsmaßnahmen an intersexuellen Kindern unter zwei Jahren galten bis vor wenigen Jahren als Standardbehandlung. Man wird davon ausgehen können, dass solche Operationen bis heute in Deutschland durchgeführt werden.57 Dem Behandlungskonzept liegt erkennbar ein dichotomes Geschlechtermodell zugrunde; eine dritte Option scheint also ausgeschlossen. Beiläufig sei darauf hingewiesen, dass der bekannteste Fall von John Money kein intersexuelles Kind betraf. Sondern es handelte sich um den Jungen David Reimer.58 Das Kind verlor im Alter von acht Monaten seinen Penis bei einer Vorhautbeschneidung.59 Da es nach dem dargestellten Konzept nicht möglich gewesen wäre, ohne (ein ausreichendes) männliches Genitale eine männliche Geschlechtsidentität zu entwickeln, kam Money mit seinem Team auf die Idee, aus dem Jungen David Reimer durch medizinische Behandlungsmaßnahmen und strikt geschlechtsspezifische Erziehung ein Mädchen zu machen. Der Fall kursiert in der Literatur als Bruce/Brendabzw. John/Joan-Fall. Reimer entschied sich als erwachsene Person, als Mann zu leben. Im Alter von 38 Jahren nahm er sich das Leben.60 53

Zu den wenigen Kritikern an diesem Konzept siehe Zehnder (Fn. 6), S. 137 ff. Vgl. nur die Beiträge in Finke/Höhne, Intersexualität bei Kindern, 2008, von Waldschmidt et al., S. 85 ff., Eckoldt, S. 96 ff., Engert/Dettmer, S. 102 ff., Limbach et al., S. 117 ff. 55 Eingehend Calvi (Fn. 17), S. 13 ff., 60 ff.; aus Sicht der ethnologischen Geschlechterforschung Lang (Fn. 26), S. 26 ff. 56 Paradigmatisch de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, 1968, 2. Buch, 1. Teil, I Kindheit: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ 57 Eingehend Klöppel (Fn. 17), S. 6 ff., 56 ff. sowie schon Fn. 28. 58 Zu diesem Fall Gregor (Fn. 44), S. 58 ff.; Davis (Fn. 44), S. 61 ff.; Zehnder (Fn. 6), S. 136 f.; Adamietz (Fn. 52), S. 44 f.; Calvi (Fn. 17), S. 92 f.; Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53 (57). Zu Rezeption des Falls im Feminismus Gregor (aaO), S. 58 Fn. 51. 59 Den Fall hebe ich auch deshalb hervor, weil es um ein Thema geht, mit dem Reinhard Merkel sich intensiv befasst und zu dem er – wie so oft – eine klare und streitbare Position eingenommen hat; siehe Merkel, Stellungnahme vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags am 26. November 2012, http://webarchiv.bundestag.de/cgi/show.php?fileToLoad= 2930&id=1223 (zuletzt abgerufen am 17. 09. 2019); ders., Süddeutsche Zeitung, 25. August 2012, S. 12, und Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. November 2012, S. 8; Merkel/Putzke, Med Ethics 39 (2013), S. 444 ff. 60 Es ist unklar, welche Bedeutung der Geschlechtswechsel für den Suizid hatte (siehe Richter-Appelt [Fn. 10)], S. 53 [57]). 54

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2. Kritik Spätestens seit der Jahrtausendwende ist das Behandlungsmodell Moneys zunehmenden Einwänden ausgesetzt; heute dürfte es kaum noch vertretbar sein.61 Zu einer veränderten Sichtweise hat maßgeblich die seit den 1990er Jahren verstärkt einsetzende Kritik erwachsener intersexueller Personen und einiger kritischer Mediziner beigetragen.62 In der Folge kam es sodann zu einigen Studien. Die Forschungslage ist allerdings bis heute ausgesprochen unbefriedigend. Es gibt zu wenige aussagekräftige Untersuchungen, vor allem fehlen Langzeitstudien.63 Die vorhandenen Forschungsarbeiten zeigen aber zumindest, dass die Ziele, die mit den geschlechtszuweisenden Maßnahmen verfolgt wurden, zu einem großem Teil nicht erreicht werden konnten.64 Intersexuelle Personen, denen im Kindesalter durch Operationen am Genitalbereich und Verabreichung von Hormonpräparaten ein Geschlecht zugewiesen wurde, entwickeln häufig keine stabile Geschlechtsidentität und weisen auch keine komplikationslose psychosexuelle Entwicklung auf.65 Manche Intersexuelle fühlen sich im Erwachsenenalter dem anderen Geschlecht zugehörig oder sie haben trotz klarer Geschlechtszuweisung eine intersexuelle Identität; sie fühlen sich also als zwischen- oder zweigeschlechtlich.66 Hinzu kommt, dass die medizinischen Eingriffe und die zahlreichen (Nach-)Untersuchungen, die intersexuelle Personen vom frühen Kindes- bis in das Erwachsenenalter hinein oft vor einem ganzen Ärztestab über sich ergehen lassen mussten, als traumatisierend erlebt wurden.67 Genitaloperationen werden von Betroffenen als „Verstümmelung“ des eigenen Körpers68, als „Folter“69 oder „Zwangstranssexuali61

Eingehend Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 108 ff., 145 ff. Voß (Fn. 4), S. 69 (72 ff.); ders. (Fn. 3), S. 15 ff., dort auch zu den Gründen für dieses relativ späte Aufbegehren; Gregor (Fn. 44), S. 63 f.; Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53 (58). Die Bundesregierung hat, wie Antworten auf Kleine Anfragen zeigen, lange keinen Handlungsbedarf gesehen; siehe BT-Drucks. 16/4322 sowie 16/4786. 63 Radmayr (Fn. 28), S. 1865 (1867 f.); Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53; Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 81 sowie S. 61 ff. mit einer Auswertung der vorhandenen Studien; Tönsmeyer, Die Grenzen der elterlichen Sorge bei intersexuell geborenen Kindern, 2012, S. 55; Amnesty International, Zum Wohl des Kindes? Für die Rechte, von Kindern mit Variationen der Geschlechtsmerkmale in Dänemark und Deutschland, 2017, S. 54, https://www.amnesty.de/sites/ default/files/2018-06/Amnesty-Bericht-Intergeschlechtlichkeit-Deutschland-DaenemarkMai2017.pdf (zuletzt abgerufen am 17. 09. 2019). 64 Kolbe (Fn. 44), S. 205; Woweries (Fn. 27), S. 249 (251 ff.). 65 Birnbaum et al., Monatsschrift Kinderheilkunde 2/2013, S. 145 (151); Brachthäuser/ Richarz, KritV 2014, S. 292 (299); Tönsmeyer (Fn. 63), S. 59; Kolbe (Fn. 44), S. 147;Woweries (Fn. 27), S. 249 (252). 66 Kolbe (Fn. 44), S. 144. 67 Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53 (77); Woweries, (Fn. 27), S. 249 (252). 68 Guillot, in: Schneider/Baltes-Löhe (Hrsg.), Normierte Kinder, 2014, S. 265 (266); Zehnder (Fn. 6), S. 196; Tönsmeyer (Fn. 63), S. 56 („Umbau und Zerstörung des Körpers“). 69 Vgl. den Vortrag „Medizinische Intervention als Folter“ von Michael Reiter aus dem Jahr 2000; hier zitiert nach Voß (Fn. 4), S. 69 (70). 62

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sierung“70 beschrieben, und die regelmäßig durchzuführenden Untersuchungen am Genitalbereich als Vergewaltigung oder sexueller Missbrauch erlebt.71 Das mag etwas drastisch klingen. Vergegenwärtigt man sich jedoch, welche Maßnahmen an intersexuellen Kindern im Einzelnen durchgeführt wurden, liegen derartige Assoziationen nicht fern. So musste, wenn bei Säuglingen oder im frühen Kindesalter eine Neo-Vagina angefertigt wurde, diese immer wieder gedehnt werden, damit sie flexibel blieb und nicht zusammenfiel. Hierzu wurde ein Bougierstab in die künstliche Vagina eingeführt. Diese Maßnahme wurde von Ärzten und/oder Eltern regelmäßig durchgeführt.72 Da die Herstellung einer künstlichen Vagina einzig dem Zweck dient, dem Kind in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter einen „normalen“ heterosexuellen Geschlechtsakt zu ermöglichen – denn Fortpflanzungsfähigkeit besteht (mangels innerer Geschlechtsorgane) in solchen Fällen nicht –,73 lässt sich fragen, „was für die Mädchen traumatischer ist, das Dehnen der Scheide durch Eltern bzw. Arzt oder das – unauffällige und unbemerkte – Nichtvorhandensein der distalen Scheide“.74 Studien zeigen zudem, dass intersexuelle Personen, denen eine Neo-Vagina konstruiert wurde, Geschlechtsverkehr oder sexuelle Kontakte auffällig oft meiden.75 3. Klassifikationssystem DSD (disorders/differences of sex development) Die Einstellung zu den an intersexuellen Kleinkindern vorgenommenen Eingriffen änderte sich in der Medizin erkennbar ab dem Jahr 2005. Auf der im selben Jahr stattfindenden Konsensuskonferenz in Chicago wurden geschlechtszuordnende Operationen bei Kindern nicht mehr grundsätzlich, sondern nur noch unter Einschränkungen befürwortet.76 In den Vordergrund stellte man Fürsorge, Unterstützung, offene Kommunikation, Aufklärung. Die Behandlungsmaßnahmen sollten in speziellen Zentren durch ein erfahrenes, multidisziplinäres Team durchgeführt werden. Der Begriff „Intersexualität“ wurde aufgegeben, weil er mit negativen Konnotationen verbunden sei. Stattdessen ist seither von „disorders of sex development” bzw. DSD die Rede. Darunter versteht man angeborene untypische Ausprägungen des 70

Tönsmeyer (Fn. 63), S. 57; Richter-Appelt (Fn. 10), S. 53 (77). Zehnder (Fn. 6), S. 201; Woweries (Fn. 27), S. 249 (252, 259); Brachthäuser/Richarz, KritV 2014, S. 292 (298). 72 Siehe Kolbe (Fn. 44), S. 141; Woweries (Fn. 27), S. 249 (259). 73 Zehnder (Fn. 6), S. 91. 74 So zutreffend Krege, Zeitschrift für Sexualforschung 2007, S. 113 (116). 75 Vgl. Krege, Zeitschrift für Sexualforschung 2007, S. 113 (118). 76 Siehe hierzu sowie dem Folgenden Lee et al., „Consensus Statement on Management of Intersex Disorders“, Pediatrics 2006 (118/2), S. 488 ff.; ferner Lee et al., „Consensus Statement: Global Disorders of Sex Development. Update since 2006: Perceptions, Approach and Care“, Horm Res Paediatr 85 (2016), S. 158 ff. Der Deutsche Ethikrat (Fn. 1), S. 107, bezeichnet das Consensus Statement aus dem Jahr 2006 als „Meilenstein“. 71

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chromosomalen, gonadalen oder anatomischen Geschlechts.77 Das DSD-Klassifikationssystem orientiert sich am Chromosomensatz und unterscheidet drei Grundformen: Störungen der Geschlechtsentwicklung durch numerische oder strukturelle Aberration der Geschlechtschromosomen, Störungen der Geschlechtsentwicklung mit 46,XY-Karyotyp und solche mit 46,XX-Karyotyp. In diese drei Rubriken werden sodann die möglichen Varianten eingeordnet.78 Die DSD-Nomenklatur reicht weiter, als es dem herkömmlichen Verständnis von Intersexualität entspricht; sie umfasst also Erscheinungsformen, die dem Intersex-Begriff bis dahin nicht zugeordnet wurden.79 Beispielhaft: In die erstgenannte DSD-Kategorie („chromosomale DSD“) fallen das Turner- und das Klinefelter-Syndrom.80 Diese gelten üblicherweise nicht als intersexuelle Erscheinungsformen, weil die geschlechtliche Zuordnung typischerweise eindeutig ist.81 Das Klinefelter-Syndrom tritt bei männlichen (47,XXY), das Turner-Syndrom bei weiblichen Personen (45,X) auf. Im Weiteren werden der Kategorie XY-DSD schwere Formen der Hypospadie zugeordnet (proximale Hypospadien).82 Hierbei handelt es sich um eine Fehlbildung des urogenitalen Systems.83 Solche Hypospadien treten bei männlichen Kindern auf.84 In diesem Kontext kann zudem auf die obigen Ausführungen zum XX-AGS verwiesen werden (II.2.a)). Freilich, nach der Definition fallen beide Varianten unproblematisch unter die Kategorie DSD.85 DSD fungiert nämlich als Oberbegriff für sämtliche Abweichungen der körpergeschlechtlichen Entwicklung.86 Die Bezeichnung „disorders of sex development“ wird von Betroffenen und Interessenvertretern kritisch gesehen, weil „disorder“ (Störung) auf eine krankhafte Er77 Lee et al., Pediatrics 2006 (118/2), S. 488 („[…], as defined by congenital conditions in which development of chromosomal, gonadal, or anatomic sex is atypical“); ferner Radmayr (Fn. 28), S. 1865; Hiort, Zeitschrift für Sexualforschung 2007, S. 99 (100). 78 Holterhus (Fn. 10), S. 392 (396); Krege (Fn. 22), S. 1847 (1848). 79 Birnbaum et al., Monatsschrift Kinderheilkunde 2/2013, S. 145 (147); Stellungnahme Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (4); Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 106 f. („Intersexualität […] als Unterkategorie von DSD“). 80 Zu diesen beiden Syndromen Holterhus (Fn. 10), S. 392 (395). 81 So Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 12; Stellungnahme der Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (4); ferner Zehnder (Fn. 6), S. 76 ff.; Netzwerk Intersexualität (Fn. 10), S. 14; Calvi (Fn. 17), S. 84 f. 82 Lee et al., Horm Res Paediatr 85 (2016), S. 158 (159); ferner Conrad et al., in: Hautmann/Gschwend (Hrsg.), Urologie, 5. Aufl., 2014, S. 363 (402): „Ausgeprägte Hypospadien können als gradueller Übergang zur weiblichen Ausbildung des Genitales angesehen werden.“ 83 Stein, in: Michel et al. (Hrsg.), Die Urologie, 2016, S. 1883 ff.; zum Problem einer Zuordnung zur Intersex-Kategorie Lang (Fn. 26), S. 96 f.; Zehnder (Fn. 6), S. 88. 84 Westenfelder, URO-News 2014 (18/6), S. 20 (22); ferner Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 46, mit weiteren Beispielen von Fehlbildungen im Urogenitalsystem, „bei denen die gegengeschlechtlichen Merkmale der Genitalien eher in den Hintergrund treten“, sowie Conrad (Fn. 28), S. 403 (408). 85 Lee et al., Horm Res Paediatr 85 (2016), S. 158 (159). 86 So Hauck et al., Zeitschrift für Sexualforschung 2019, S. 80 (87).

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scheinung hindeute.87 Eine Gleichsetzung von Intersexualität und Krankheit ist in der Tat problematisch.88 Denn nicht jede Form von Intersexualität ist behandlungsbedürftig, eine vitale oder auch echte medizinische Indikation ist nicht oft gegeben (siehe noch IV.2.). Die genannte Bezeichnung hat sich in der Medizin gleichwohl durchgesetzt.89 Daneben gibt es aber eine Vielzahl anderer Formulierungen, wie „differences of sex development“ oder „diverse of sex development“, die keine Pathologisierung zum Ausdruck bringen (sollen).90 In Deutschland dürfte „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ mittlerweile am gebräuchlichsten sein.91

IV. Körperverletzungsunrecht Aus strafrechtlicher Perspektive stellt sich die Frage, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen medizinische Eingriffe, die der Geschlechtszuweisung, -vereindeutigung oder Genitalkorrektur dienen, bei nicht einwilligungsfähigen Kindern erlaubt sind bzw. sein sollten. Dieser Frage ist sogleich nachzugehen. Demgegenüber wird die rechtliche Zulässigkeit entsprechender Eingriffe bei einwilligungsfähigen Personen nicht weiter erörtert.92 1. Einschlägige Körperverletzungstatbestände a) Es entspricht mittlerweile überwiegender Ansicht, dass ärztliche Behandlungsmaßnahmen den Tatbestand einer Körperverletzung erfüllen – vorausgesetzt es handelt sich nicht bloß um unerhebliche Beeinträchtigungen, die im Rahmen des § 223 StGB prinzipiell unbeachtlich sind. Auf der Grundlage dieser sog. Rechtfertigungslösung, von der im Folgenden ausgegangen wird,93 stellen operative Eingriffe und 87 Plett (Fn. 8), S. 151 (152); Woweries (Fn. 27), S. 104 (106); Voß (Fn. 3), S. 11; Adamietz (Fn. 52), S. 42. 88 Zutreffend bereits Wiesemann/Ude-Koeller (Fn. 50), S. 13 (14); ebenso Stellungnahme der Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (2). 89 Werlen, Schweizerische Ärztezeitung 2016, S: 1089; Birnbaum et al., Monatsschrift Kinderheilkunde 2/2013, S. 145 (146); siehe auch Zumbusch-Weyerstahl/Teschner (Fn. 17), S. 44 ff.; Rohrer et al. (Fn. 28), S. 242 ff. 90 Zu weiteren möglichen Bezeichnungen Hauck et al., Zeitschrift für Sexualforschung 2019, S. 80 (81). 91 Birnbaum et al., Monatsschrift Kinderheilkunde 2/2013, S. 145 (147); ferner Deutsche Gesellschaft für Urologie/Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie/Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie, S2k-Leitlinie. Varianten der Geschlechtsentwicklung, Stand: 07/2016 (AWMF-Register Nr. 174/001 Klasse S2k), http://www.awmf.org/ uploads/tx_szleitlinien/174 - 001 l_S2k_Geschlechtsentwicklung-Varianten_2016-08_01.pdf (zuletzt abgerufen am 17. 09. 2019). 92 Dazu etwa Grünewald, LK-StGB, Band 7/1, 12. Aufl., 2019, § 223 Rdn. 63 ff. sowie § 228 Rdn. 26 ff. 93 Eingehendere Begründung bei Grünewald (Fn. 92), § 223 Rdn. 63 ff.

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Hormontherapien eine tatbestandliche Körperverletzung nach § 223 StGB dar. Anders als von den sog. Tatbestandslösungen dargetan, steht dem nicht entgegen, dass eine medizinische Indikation vorliegt, die Behandlung lege artis durchgeführt wird und insgesamt gelungen ist. Darüber hinaus könnte der Tatbestand einer gefährlichen Körperverletzung verwirklicht sein, wenn man das bei einer Operation eingesetzte Instrumentarium als gefährliches Werkzeug einstuft (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Diese Einschätzung wird jedoch mehrheitlich nicht geteilt. Weil Ärzte ihr Operationsbesteck nicht zu Angriffs- oder Verteidigungszwecken verwenden, soll § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB ausscheiden.94 Sofern bei der Geburt eine potentielle Fortpflanzungsfähigkeit des Kindes vorhanden ist, die durch die Behandlungsmaßnahmen beseitigt wird,95 ist zudem der Tatbestand des § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB gegeben. Ärzte werden insofern in aller Regel mit Wissentlichkeit handeln, weshalb sogar § 226 Abs. 2 StGB anzuwenden ist. b) Im Weiteren ist § 226a StGB in Betracht zu ziehen. Dieser Qualifikationstatbestand wurde zwar eingeführt, um das Bewusstsein für das Unrecht von Genitalverstümmelungen zu schärfen, die aus religiösen und traditionellen Gründen in anderen Kulturkreisen bei Mädchen und Frauen vorgenommen werden.96 Eingriffe bei intersexuellen Kindern hatte der Gesetzgeber nicht im Blick.97 Bemerkenswerterweise wollte der Gesetzgeber mit § 226a StGB also ein Geschehen regeln, das die ausländische Bevölkerung betrifft,98 und blendet Sachverhalte vollkommen aus, die die einheimische Bevölkerung betreffen könnten.99 Allerdings kommt es nach dem Wortlaut des § 226a StGB auf ein religiöses oder rituelles Motiv nicht an.100 Der Schutz erstreckt sich vielmehr auf alle verstümmelnden Eingriffe, die an den äußeren Genitalien weiblicher Personen vorgenommen werden. Indes sind intergeschlechtliche keine weiblichen Personen. Seit dem Jahr 2013 war es möglich, im Geburtenregister von einer Zuordnung Neugeborener zum männlichen oder zum weiblichen Geschlecht abzusehen und den Geschlechtseintrag offenzulassen.101 Ende 2018 ist nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts102 eine weitere Option hin94 Wessels/Hettinger/Engländer, Strafrecht BT I, 42. Aufl., 2018, Rdn. 300; Rengier, Strafrecht BT II, 20. Aufl., 2019, § 14 Rdn. 35; kritisch Eschelbach, von Heintschel-Heinegg StGB, 3. Aufl., 2018, § 224 Rdn. 28.1 ff.; Grünewald (Fn. 92), § 224 Rdn. 22. 95 Was durchaus nicht selten vorkam und ggf. noch vorkommt, siehe Kolbe (Fn. 44), S. 135; Wiesemann/Ude-Koeller (Fn. 50), S. 13. 96 Siehe BT-Drucks. 17/13707, S. 4, sowie BT-Drucks. 17/14218, S. 2. 97 Grünewald (Fn. 92), § 226a Rdn. 29; wohl auch Böse, NK-StGB, Band 2, 5. Aufl., 2017, § 226a Rdn. 7. Eine Anwendung der Vorschrift auf intersexuelle Personen ablehnend Richter, Indikation und nicht-indizierte Eingriffe als Gegenstand des Medizinrechts, 2018, S. 452. 98 Zutreffend weist Böse (Fn. 97), § 226a Rdn. 3, darauf hin, dass hierdurch der Eindruck entstehen könne, man habe ein „Sonderstrafrecht“ für Migranten geschaffen. 99 Kritisch zu dieser „Diskriminierung“ schon Werlen, in: Groneberg/Zehnder (Hrsg.), „Intersex“. Geschlechtsanpassung zum Wohl des Kindes?, 2008, S. 178 (185 f.). 100 Grünewald (Fn. 92), § 226a Rdn. 16. 101 Gesetz vom 7. Mai 2013, BGBl. I, S. 1122 f. 102 BVerfGE 147, 1 ff.

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zugekommen: „divers“ (§§ 21 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. 22 Abs. 3 PStG).103 Nun dürfte die Beurteilung, ob ein Eingriff an den äußeren Genitalien einer weiblichen Person vorliegt, nicht vom Geschlechtseintrag im Personenstandsregister abhängen. Maßgebend für die Anwendung des § 226a StGB sollte sein, ob ein weibliches Genitale vorliegt.104 Aus dieser Beschränkung des Tatbestands auf weibliche Genitalien ergeben sich jedoch gravierende und im Ergebnis durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken.105 Denn es ist normativ kein nachvollziehbarer Grund ersichtlich, weshalb männliche oder uneindeutige Genitalien, wie sie bei intersexuellen Personen vorkommen, vom Tatbestand nicht erfasst werden. Die operativen Eingriffe, die am äußeren („weiblichen“) Genitale eines intersexuellen Kindes vorgenommen wurden bzw. werden, müssten ferner eine Verstümmelung im Sinne der Vorschrift darstellen. Die Bestimmung dieses Merkmals ist zweifelhaft.106 Entscheidend sollte die Eingriffstiefe sein,107 nicht hingegen ästhetische Erwägungen.108 Insofern kommt es auch nicht darauf an, dass es neuere Operationstechniken gibt, die heute bei unter zweijährigen Kindern operative Geschlechtszuweisungen oder -vereindeutigungen ermöglichen, die ästhetisch wesentlich ansprechendere Resultate hervorbringen als noch vor Jahren.109 Aus Gründen normativer wie systematischer Konsistenz ist aber zu fordern, dass das Erfolgsunrecht mit dem des § 226 Abs. 1 StGB vergleichbar ist.110 Danach werden vom Tatbestand des § 226a StGB jedenfalls erhebliche bzw. weitgehende Reduktionen des Genitales sowie dessen vollständige Entfernung erfasst. Zumal mit diesen Eingriffen in aller Regel eine deutliche Beeinträchtigung, teils sogar der Verlust der Empfindungsfähigkeit einhergeht.111 Soweit mit einer verbreiteten Ansicht der Schutz des § 226a StGB auf die sexuelle Selbstbestimmung und/oder die psychische Integrität ausgedehnt wird,112 sind folglich auch diese Rechtsgüter betroffen. Speziell im Falle geschlechtszuweisender Operationen bei (Klein-)Kindern gehen die Eingriffe zudem erheblich über die rituellen Formen der Genitalverstümmelung hinaus, weil mit ihnen eine Än103

Gesetz vom 18. Dezember 2018, BGBl. I, S. 2635. Ladiges, Recht und Politik 2014, S. 15 (17). 105 Hardtung, MK-StGB, Band 4, 3. Aufl., 2017, § 226a Rdn. 24 ff.; Grünewald (Fn. 92), § 226a Rdn. 14 f.; Böse (Fn. 97), § 226a Rdn. 3; Eschelbach (Fn. 94), § 226a Rdn. 1. 106 Eingehend Hardtung (Fn. 105), § 226a Rdn. 33 ff. 107 Böse (Fn. 97), § 226a Rdn. 11; Grünewald (Fn. 92), § 226a Rdn. 27. Andere Ansicht Eschelbach (Fn. 94), § 226a Rdn. 9; Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Aufl., 2018, § 226a Rdn. 3; Richter (Fn. 97), S. 454 ff. 108 Grünewald (Fn. 92), § 226a Rdn. 28; Böse (Fn. 97), § 226a Rdn. 10. 109 So argumentierend aber Westenfelder, URO-News 2014 (18/6), S. 20 (22 ff.). 110 Grünewald (Fn. 92), § 226a Rdn. 27; Wolters, SK-StGB, Band IV, 9. Aufl., 2017, § 226a Rdn. 13. 111 Werlen (Fn. 99), S. 178 (186 f.); Wiesemann/Ude-Koeller (Fn. 50), S. 13; Woweries (Fn. 27), S. 249 (258 f.); Voß (Fn. 3), S. 14; Kolbe (Fn. 44), S. 159, 171. 112 Hagemeier/Bülte, JZ 2010, S. 406 (409); Sch/Schröder/Sternberg-Lieben, 30. Aufl., 2019, § 226a Rdn. 1; Zöller, AnwK-StGB, 2. Aufl., 2015, § 226a Rdn. 3. 104

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derung des angeborenen, biologischen Geschlechts einhergeht. Dieses Schutzgut ist freilich kein spezifischer Gegenstand des § 226a StGB. 2. Mögliche Rechtfertigung a) Körperverletzungsunrecht stellen die genannten Eingriffe nur dar, wenn keine Rechtfertigungsgründe eingreifen. Im Bereich ärztlichen Verhaltens kommt vornehmlich eine Einwilligung in Frage. Eine Einwilligung der intersexuellen Kinder scheidet aus, weil ihnen Einsichts- und Urteilsfähigkeit fehlen. Zu erörtern ist daher die Möglichkeit einer stellvertretenden Einwilligung der Eltern (§§ 630d Abs. 1, 1626 Abs. 1, 1627, 1629 BGB). Die Zulässigkeit einer solchen Einwilligung kann sich schon angesichts der Eingriffsintensität nicht nach den Interessen der Eltern richten (z. B. das Interesse, ein „normal“ aussehendes Kind zu haben).113 Ausschlaggebend müssen vielmehr die auch prospektiven Interessen des Kindes sein (§ 1627 BGB). So werden Entscheidungen der Eltern von ihrem Erziehungsrecht nur gedeckt, solange sie mit dem Kindeswohl noch in Einklang zu bringen sind.114 Hierbei kommt nun der Frage, ob eine medizinische Indikation vorliegt, eine herausragende Bedeutung zu. Im Falle eines AGS mit Salzverlust etwa befinden sich die betroffenen Kinder in einem lebensbedrohlichen Zustand (siehe II.2.a)). Es besteht dringender Handlungsbedarf, weshalb von einer Notlagen- oder vitalen Indikation auszugehen ist.115 Dass Eingriffe, die vital oder absolut indiziert sind, dem Wohl des Kindes dienen, dürfte evident sein. Daher ist auch die Zulässigkeit einer stellvertretenden Einwilligung unproblematisch. Eltern, die ihre Einwilligung in eine solche Behandlungsmaßnahme verweigern, verletzen ihre Sorgepflicht gröblich. Ärzte dürften sich über diese Entscheidung hinwegsetzen (§ 34 StGB). Im Übrigen besteht die Möglichkeit, das Familiengericht einzuschalten (§ 1666 BGB).116 Beim AGS mit Salzverlust umfasst die Indikation die Verabreichung von Hormonpräparaten (wie Cortisol).117 Darüber hinausgehende, operative geschlechtszuweisende bzw. -vereindeutigende Maßnahmen werden von der Indikation hingegen regelmäßig nicht mehr erfasst (dazu sogleich b)). Eine absolute Indikation zur Vornahme operativer Eingriffe kommt außerdem in Betracht, wenn elementare körperliche Funktionen (z. B. Miktion) geschädigt sind.118 Die Fähigkeit, den Vaginalverkehr durchzuführen, gehört nicht hierzu. Daher lässt sich die Herstellung einer künstlichen Vagina nicht 113

Plett, Zeitschrift für Sexualforschung 2007, S. 162 (171). Wagner, MK-BGB, Band 4, 7. Aufl., 2016, § 630d Rdn. 38; Taupitz, Empfehlen sich zivilrechtliche Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie am Ende des Lebens? Gutachten zum 63. DJT, 2000, S. 74 f. 115 Birnbaum et al., Monatsschrift Kinderheilkunde 2/2013, S. 145 (151). 116 Sch/Schröder/Sternberg-Lieben (Fn. 112), Vor §§ 32 ff. Rdn. 41e; Rönnau, LK-StGB, 3. Band, 13. Aufl., 2019, Vor § 32 Rdn. 185; Spickhoff, in: ders., Medizinrecht, 3. Aufl., 2018, § 630d BGB Rdn. 7; Grünewald (Fn. 92), § 223 Rdn. 82. 117 Grüters (Fn. 21), S. 31 (33 f.); Stellungnahme Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (5). 118 Zu solchen Fällen Stellungnahme der Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (6). 114

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auf solche Erwägungen stützen (siehe III.2.). Im Vordergrund muss vielmehr der Erhalt der sexuellen Empfindungsfähigkeit stehen. Bei einigen DSD-Formen ist das Risiko einer Entartung der Gonaden erhöht. Um die Bildung eines malignen Tumors auszuschließen, wurde bzw. wird vielfach eine prophylaktische Gonadektomie im frühesten Kindesalter durchgeführt.119 Das ist ein massiver Eingriff in die körperliche Integrität, der im Weiteren eine lebenslange, oft belastende Hormontherapie zur Folge hat.120 Eine Indikation lässt sich allerdings nicht a limine ausschließen, weil die Gefahr eines gravierenden und lebensbedrohlichen Gesundheitsschadens besteht.121 Da die Gonadektomie eine präventive Maßnahme ist, handelt es sich hierbei nicht um eine Indikation im engen Sinn.122 Im Kindesalter ist ein solcher Eingriff jedenfalls dann nicht indiziert, wenn mit einer Entstehung des Tumors erst ab dem 20. Lebensjahr zu rechnen ist und somit die Einwilligungsfähigkeit des Betroffenen abgewartet werden kann.123 Eine stellvertretende Einwilligung der Eltern wäre unwirksam, zumal solche Eingriffe mit dem Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit verbunden sein können (§ 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB).124 In Fällen, in denen das Entartungsrisiko besonders hoch und eine Tumorbildung bereits im Kindesalter zu erwarten ist, kann eine Gonadektomie angezeigt sein.125 Das gilt freilich nicht, wenn weniger einschneidende Maßnahmen zur Verfügung stehen (insbesondere palpatorische und/ oder sonographische Untersuchungen), mit denen das Risiko beherrscht werden kann. Als Maßstab lässt sich § 34 StGB heranziehen.126 b) Als weitaus problematischer als die bisher erörterten Fälle stellen sich geschlechtszuweisende oder -vereindeutigende bzw. genitalkorrigierende Maßnahmen dar, für deren Vornahme aus medizinischer Sicht keine Notwendigkeit besteht.127 Diese Maßnahmen dürften in der Praxis den größten Teil der bei intersexuellen

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Tröbs et al., in: Finke/Höhne, Intersexualität bei Kindern, 2008, S. 117 ff.; Westenfelder, URO-News 2014 (18/6), S. 20 (23 f.). 120 Birnbaum et al., Monatsschrift Kinderheilkunde 2/2013, S. 145 (151); Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 153. 121 In empirischer Hinsicht erweist es sich freilich als ausgesprochen misslich, dass der diesbezügliche Forschungsstand so dürftig ist; siehe Holterhus (Fn. 10), S. 392 (409); Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 152; Stellungnahme der Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (6). 122 Vgl. Richter (Fn. 97), S. 139, 141, 151 f. 123 Zutreffend Krege (Fn. 33), S. 1847 (1852); Stellungnahme der Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (6). 124 In diesem Kontext wären die Regelungen des Kastrationsgesetzes sowie das Sterilisationsverbot (§ 1631c BGB) zu berücksichtigen, dazu eingehend Tönsmeyer (Fn. 63), S. 131 ff. 125 Krege (Fn. 33), S. 1847 (1851). 126 Grundlegend dazu Merkel, Früheuthanasie (2001), S. 528 ff. 127 Vgl. Holterhus (Fn. 10), S. 392 (408); Stellungnahme der Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (6).

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Kleinkindern durchgeführten Eingriffe ausmachen.128 Begründet wurden bzw. werden diese damit, dass Intersexualität ein psychosozialer Notfall sei.129 Das Konstrukt eines psychosozialen Notfalls vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass es eine „echte“ Indikation nicht gibt. Der Sache nach korreliert dieses Konstrukt mit den Grundannahmen Moneys (siehe III.1.). Dazu gehört an erster Stelle ein strikt binäres Geschlechtersystem; und an zweiter Stelle die These, dass es zur Bildung einer stabilen Geschlechtsidentität einen zum jeweiligen (Zuweisungs-)Geschlecht passenden Körper und eine entsprechende geschlechtsspezifische Erziehung braucht. Letztgenannte These ist mindestens gravierenden Bedenken ausgesetzt (siehe III.2.). Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber inzwischen das Personenstandsgesetz geändert hat (siehe zu IV.1.b)). Neugeborene, bei denen eine Zuordnung zum männlichen oder weiblichen Geschlecht nicht möglich ist, können im Geburtenregister ohne Geschlechtsangabe oder als „divers“ eingetragen werden (§§ 22 Abs. 3, 21 Abs. 1 Nr. 3 PStG). Das dichotome Geschlechtermodell wurde damit erlassen.130 Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf die erstgenannte These. Denn sie führt dazu, dass das Konstrukt eines psychosozialen Notfalls gesellschafts- wie rechtpolitisch nicht mehr anschlussfähig ist. Nähme man weiterhin an, dass Eltern stellvertretend in medizinisch nicht indizierte, geschlechtszuweisende Behandlungsmaßnahmen bei ihren Kindern einwilligen könnten, würden damit die gesetzgeberischen Wertungen unterlaufen, die mit den Änderungen des Personenstandsgesetzes verfolgt wurden. Abgesehen davon sprechen aber auch andere gewichtige Gründe gegen die Zulässigkeit einer stellvertretenden Einwilligung.131 Geschlechtszuweisende Maßnahmen greifen massiv und irreversibel in die körperliche Integrität der Kinder ein.132 Neben diesem Schutzgut ist zudem das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) betroffen.133 Einer stellvertretenden Einwilligung können solche Eingriffe schon deshalb nicht zugänglich sein, weil die Geschlechts-

128 Westenfelder, URO-News 2014 (18/6), S. 20 (24): „Ohne Dringlichkeit ist eine Operation zwischen dem 9. und 13. Monat sinnvoll.“ Siehe ferner Conrad (Fn. 28), S. 403; Rohrer (Fn. 28), S. 242 (246); Radmayr (Fn. 28), S. 181 f. 129 So noch die mittlerweile nicht mehr aktuelle und auch nicht mehr abrufbare Leitlinie der Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (DGKJ), Störungen der Geschlechtsentwicklung, AWMF-Leitlinien-Register Nr. 027/022, 2010, S. 5. 130 Kritisch hierzu Rixen, JZ 2018, S. 317 (324 ff.); für einen weitgehenden Verzicht auf die Kategorie „Geschlecht“ im Recht demgegenüber Völzmann, JZ 2019, S. 381 ff. 131 Siehe schon Werlen (Fn. 99), S. 178 (193); Plett, Zeitschrift für Sexualforschung 2007, S. 162 (171 f.); Kolbe (Fn. 44), S. 163 ff., 172; Tönsmeyer (Fn. 63), bes. S. 119 ff. Für die Zulässigkeit geschlechtszuweisender Behandlungsmaßnahmen mit stellvertretender Einwilligung der Eltern hingegen Schramm, Festschrift Kühl (2014), S. 603 (632); Schmidt am Busch, AöR 137 (2012) 441, 454 ff.; Krüger, in: Finke/Höhne, Intersexualität bei Kindern, 2008, S. 55 (57) sowie Westenfelder, URO-News 2014 (18/6), S. 20 (24). 132 Siehe auch Westenfelder, URO-News 2014 (18/6), S. 20 (22): Operationen bei schweren DSD-Formen gehören „zu den technisch anspruchsvollsten Operationen“. 133 BVerfGE 147, 1 (18 ff.).

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identität eine höchstpersönliche Angelegenheit ist.134 Das gilt umso mehr, als niemand antizipieren kann, welche Geschlechtsidentität sich bei dem Kind herausbilden wird.135 Die soeben an zweiter Stelle aufgeführte These von Money zeichnet sich deshalb auch durch eine bemerkenswerte Hybris aus.136 Dem Kind wird durch geschlechtszuweisende Eingriffe eine offene Zukunft genommen;137 diese greifen also in seine prospektive Autonomie ein.138 Von geringerer Tragweite sind geschlechtsvereindeutigende bzw. genitalkorrigierende operative Maßnahmen. Denn mit diesen geht keine Geschlechtszuweisung einher.139 Solche Eingriffe wurden bzw. werden bei Kindern durchgeführt, die man biologisch dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuordnen kann. Das Genitale dieser Kinder ist jedoch nicht eindeutig. Zu verweisen ist auf Fälle eines AGS oder einer Hypospadie (siehe II.2.a) und III.3.).140 Aus medizinischen Gründen besteht für die Vornahme von genitalkorrigierenden Maßnahmen oft kein Anlass. Die Eingriffe verfolgen dann ästhetische Zwecke; sie werden vorgenommen, um das Genitale deutlicher an das biologische Geschlecht anzupassen (z. B. Reduktion von Klitoris und/oder Schamlippen bei einer Person mit einem XX-AGS).141 In der Literatur findet sich die durchaus sympathische Ansicht, dass Eltern in medizinisch nicht indizierte Eingriffe niemals stellvertretend einwilligen können, weil diese dem Kindeswohl zuwiderliefen.142 Das Gesetz sieht das offenbar nicht so eng. Denn § 1631d BGB gestattet unter bestimmten Bedingungen die Beschneidung des männlichen Kindes. Dieser Vorschrift lässt sich daher die, unvoreingenommen betrachtet, hochgradig erstaunliche Aussage entnehmen, dass Eltern rechtfertigend in einen medizi134 Werlen (Fn. 99), S. 178 (181 f., 192 ff., 201 f.); zur geschlechtlichen Identität BVerfGE 147, 1 (18 f.); 128, 109 (124); 121, 175 (190 ff.); 116, 243 (259 ff.); 115, 1 (14 ff.). 135 Deutsche Gesellschaft für Urologie/Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie/Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (Fn. 91), S. 5. 136 Siehe dagegen Deutsche Gesellschaft für Urologie/Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie/Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (Fn. 91), S. 4, wo es heißt: „Keine medizinische oder psychologische Intervention wird an dem Zustand der Uneindeutigkeit per se etwas ändern. Der Umgang mit Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung ist in der Regel ein gesellschaftspolitisches Problem und muss im gesamtgesellschaftlichen Rahmen bedacht werden.“ 137 Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 112 ff.; Stellungnahme der Bundesärztekammer (Fn. 7), S. 1 (3). 138 Zutreffend auch Werlen (Fn. 99), S. 178 (202), die auf „das Kindeswohl in einer lebenslangen Perspektive als Kerngehalt des Kinderrechts [… als] die alleinige Maxime“ abstellt. 139 Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 108 f. 140 Deutscher Ethikrat (Fn. 1), S. 108 („das biochemisch-anatomische Geschlecht [wird] mit dem genetischen Geschlecht in Übereinstimmung [gebracht]“). 141 Vgl. Birnbaum et al., Monatsschrift Kinderheilkunde 2/2013, S. 145 (150 f.). 142 Herzberg, ZIS 2012, S. 486 (487 ff.), sowie JZ 2009, S. 332 (333 ff.); Kern, NJW 1994, S. 753 (754). Andere Ansicht Valerius, JA 2010, S. 481 (484), mit der Begründung, dass § 1631c BGB überflüssig sei, wenn eine stellvertretende Einwilligung von Eltern in medizinisch nicht indizierte Eingriffe bei ihren Kindern ausgeschlossen sei.

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nisch nicht indizierten, operativen und keineswegs harmlosen Eingriff am Genitale ihres Kindes einwilligen können.143 Eine Grenze setzt jedenfalls § 226a StGB: Verstümmelnde Eingriffe im absoluten Intimbereich können durch stellvertretende Einwilligung nicht gerechtfertigt werden.144 Die geringfügigsten chirurgischen Eingriffe, die im hiesigen Kontext in Frage kommen, gehen von der Intensität deutlich über eine Knabenbeschneidung hinaus. Die Maßnahmen erreichen regelmäßig das Niveau des § 226a StGB (vgl. IV.1.b)). Verallgemeinert man den Aussagegehalt dieser Norm, muss eine stellvertretende Einwilligung der Eltern ausscheiden.

V. Fazit und Ausblick Am Ende meines Beitrags bleiben manche Unklarheiten. Diese resultieren auch daraus, dass der Gesetzgeber ausgesuchte Einzelfälle, die Aufmerksamkeit erregen und in der Öffentlichkeit erhitzt diskutiert werden (können), zeitgeistkonform regelt (§ 1631d BGB oder § 226a StGB). In einen übergeordneten Zusammenhang werden die Fälle leider nicht gestellt. Das gilt im Übrigen auch für die Intersex-Thematik.145 So kommen bei Neugeborenen körperliche Abweichungen im Genitalbereich vor, die auch bei einem weiten Verständnis nicht mit Intersexualität assoziiert sind. Ein Blick in einschlägige medizinische Lehrbücher zeigt, dass chirurgische Korrekturen mit stellvertretender Einwilligung der Eltern hier durchweg für erlaubt gehalten werden. Aus rein medizinischer Sicht besteht aber vielfach keine Notwendigkeit für solche Behandlungsmaßnahmen. Vergleichbares gilt für andere Auffälligkeiten am Körper des Kindes (z. B. abstehende Ohren).146 Es liegt auf der Hand, auf psychosoziale Faktoren zu verweisen, um solche Eingriffe mit stellvertretender Einwilligung der Eltern zu rechtfertigen – und damit ebenso zu verfahren, wie es im Falle geschlechtszuweisender Behandlungsmaßnahmen bei intergeschlechtlichen Kindern jahrzehntelang gehandhabt wurde. Was dort nicht (mehr) geht, mag hier (noch) möglich sein. Diese Fragen sollten grundsätzlich geklärt werden.147

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Eingehender Grünewald (Fn. 92), § 223 Rdn. 42 ff. Grünewald (Fn. 92), § 226a Rdn. 32 f. 145 Vgl. etwa den Beitrag von Tolmein, medstra 2019, S. 131 (136 f.). 146 Weitere Beispiele bei Wienke, Handchir Mikrochir Plast Chir 47 (2015), S. 348 (349). 147 In diesem Sinne bereits der Beschluss auf dem 52. Deutschen Juristentag, NJW 1978, S. 2185 (2193 [zum Arztrecht unter V.1.b]). 144

Verletzungen beim Fußballsport – strafbare Körperverletzung? Von Detlev Sternberg-Lieben Sport stellt nicht nur ein Übungsfeld sozialen Normlernens1 dar: Seine Grundprinzipien von individueller und gemeinschaftlicher Leistung und Leistungsvergleich entsprechen auch wichtigen Ordnungsprinzipien der Gesellschaft. Sportliche Betätigung dient nicht nur dem Ausgleich für anderweitige Belastungen, der Gesundheitsförderung und der Geselligkeit.2 Im Leistungssport wandelt sich das Freizeitvergnügen zum Beruf, so dass die Rechtsordnung schon im Hinblick auf die finanzielle Bedeutung dieser Tätigkeiten den Sport nicht als einen der Regulierung nicht bedürftigen Freiraum ansehen kann;3 dies belegt auch die Einführung der §§ 265c ff. StGB (Sportwettbetrug) im Jahre 2017.4 Darüber hinaus erfährt der prestigeträchtige Spitzensport massive öffentliche Förderung, denkt man nur an die ungefähr 1200 Spitzenathleten, die im öffentlichen Dienst an- und freigestellt sind; eine jährliche Förderung des Spitzensports durch das Bundesinnenministerium in Höhe von aktuell 235 Millionen Euro veranlasste im Gegenzug den damaligen Bundesinnenminister de Maizière zur Forderung, bei den Olympischen Sommerspielen in Tokio 2020 ein Planziel von 56 Medaillen zu erreichen:5 Der Staat identifiziert sich mit den deutschen Spitzensportlern und ihren Erfolgen.6 Der Sportbetrieb kann zwar gegenüber staatlichen Vorgaben verfassungsgeschützt (insb. durch Art. 9 I GG) Besonderheiten

1 So der Titel des Beitrages von Rössner, in: Württ. Fußballverband (Hrsg.), Fairnessgebot, Sportregeln und Rechtsnormen, 2004, S. 54 ff. 2 Zur sozialen Welt des modernen Sports: Dölling, ZStW 96 (1984), 36 ff.; Schild, Sportstrafrecht, 2002, S. 13 ff. 3 S. H. P. Westermann, Rittner-FS, 1991, S. 771, 776 ff., 785 ff. 4 S. BT-Drs. 18/8831 (Gesetzesbegründung), S. 10: herausragende gesellschaftliche Bedeutung des Sports: Träger von positiven Werten, wie Leistungsbereitschaft, Fairness, Toleranz und Teamgeist / Vorbildfunktion für junge Menschen / bedeutender wirtschaftlicher Faktor infolge Professionalisierung, Medialisierung und Kommerzialisierung im Bereich des Spitzen- und Leistungssports. 5 Stiller, FAZ vom 27. 7. 2019, S. 36; zu den Erscheinungsformen staatlicher Sportförderung Steiner, Röhricht-FS, 2005, S. 1225 ff. – Steiner (SpuRt 2018, 1186, 1187) weist zurecht darauf hin, dass diese „performance-orientierte“ Sportförderung sich auffällig von der Distanz unterscheidet, die der Staat zu anderen gesellschaftlichen Bereichen (Kunst, Religion) als Teil der freien Selbstorganisation der Gesellschaft hält. 6 Steiner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 87 Rn. 8 (Ausdruck der Leistungsfähigkeit der BRD; ders., ebd. Rn. 3: Sport und Staat als res mixta).

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geltend machen, die nicht zuletzt auf der freiwilligen7 Teilnahme der Wettkämpfer beruhen. Das (Straf-)Recht muss aber auch im Sportgeschehen einen ausreichenden Schutz der Betroffenen gewährleisten,8 ohne aber den Sportarten den Freiraum zu nehmen, den sie benötigen, wenn diese Sportarten nicht ihre Eigenart und ihren Reiz für Teilnehmer (und Zuschauer – man denke nur an die immensen Beträge, die für mediale Übertragungen von Großereignissen gezahlt werden) verlieren sollen. Neben dem Sportwettbetrug ist das Sportstrafrecht lediglich im Bereich des Dopings einer ausdrücklichen Regelung zugeführt worden (§ 4 Anti-Doping-Gesetz 20159). Demgegenüber wird der breite Bereich versehentlich beigebrachter, aber auch willentlich gesetzter Körperverletzungen bei sportlicher Betätigung nur durch allgemeine Vorschriften der Körperverletzungsdelikte des StGB erfasst, so dass eine adäquate Problembehandlung durch, ggfs. speziell zuzuschneidende, dogmatische Instrumente des Allgemeinen Teils erfolgen muss. Aus diesem Lebensbereich sollen hier am Beispiel des Fußballsports die Probleme untersucht werden, die eine sachgerechte Erfassung von Körperverletzungen, die bei sportlicher Betätigung beigebracht werden, mitsichbringt.

I. 1. Fremdschädigung: Bei diesen Körperverletzungen liegt regelmäßig kein Fall strafbarkeitsirrelevanter10 Mitwirkung an einer freiverantwortlichen Selbstschädigung des Opfers vor, da nach der vom Täter vorgenommenen Handlung (etwa einer Grätsche beim Fußball, um einem Angreifer der Gegenmannschaft den Ball vom Fuß zu spitzeln) dem Opfer kein Spielraum mehr verbleibt zu entscheiden, ob es sich dem vom Dritten geschaffenen Verletzungsrisiko entziehen will oder nicht. Mithin ist infolge Tatherrschaft eine Fremdschädigung gegeben, die allerdings die Besonderheit aufweist, dass es sich im Falle von Kampfsportarten um eine vom Täter und Opfer bewusst eingegangene Risikosituation handelt. Es ist also die Frage zu beantworten, wer die unerwünschte Folge eines vom Opfer erwünschten sozialen Kontakts strafrechtlich zu tragen hat.11 7 Allerdings hat schon Vieweg (Normsetzung und -anwendung deutscher und internationaler Verbände, 1990, S. 154) auf die monopolartige Stellung der Sportverbände hingewiesen, die den Sportler vor die Wahl stellt, entweder Zwangsmitglied zu werden oder auf eine Betätigung in diesem Lebensbereich zu verzichten. 8 Zur Diskussion, ob ein spezifisches Sport-Arbeitsrecht vonnöten ist, vgl. Walker, ZfA 106, 567 ff. (abl.). 9 Anwendbar auch im Bereich des nicht mit Wettkampfteilnahme verbundenen Breitenund Freizeitsports (BGH NStZ 2018, 475). 10 Eine eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbstschädigung unterliegt von vornherein nicht den Tatbeständen eines Körperverletzungsdelikts, vgl. nur Mitsch, Rechtfertigung und Opferverhalten, 2004, S. 44 m.w.N.: „Es gibt überhaupt keine Rechtswidrigkeit gegenüber sich selbst … Jedem steht grundsätzlich die Verletzung seiner Güter frei …“. 11 Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, 7/126.

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2. Einwilligung: Eine sinnvolle, also einerseits den Sportbetrieb gewährleistende und andererseits die legitimen Interessen verletzter Sportler wahrende Lösung kann über dieses Rechtsinstitut nicht erreicht werden, da die verletzten Sportler (bspw. ein nach einem fairen Tackling oder auch Foulspiel zu Fall gekommener Fußballspieler) regelmäßig gerade nicht mit diesem Verletzungserfolg einverstanden waren. Zwar sind die Betroffenen durch Teilnahme am Kampfsport für eigene Rechtsgüter bewusst Risiken eingegangen. Wollte man hieraus aber schließen, eine damit einhergehende konkludente Einwilligung würde sich nicht nur auf die pflichtwidrige Täterhandlung, sondern darüber hinaus auf die dann eingetretene Rechtsgutsverletzung beziehen,12 so liefe dies auf eine das Opfer strafschutzlos stellende Unterstellung hinaus,13 die bereits in der zivilrechtlichen Diskussion zutreffend als „methodenunehrliche Fiktion“14 dekuvriert wurde, so dass schließlich auch die zivilgerichtliche15 Rechtsprechung16 von der Anwendung der Rechtsfigur der Einwilligung in derartigen Fällen Abstand nahm und diese Fallgestaltungen des sog. „Handelns auf eigene Gefahr“17 einer eigenständigen, einwilligungsunabhängigen Lösung zuführte. Im Zusammenhang mit der Haftung bei Sportunfällen hat i. Ü. Grunsky bereits 1975 eine Parallele zu der ja ebenfalls durchaus bekannt risikoträchtigen Teilnahme am Straßenverkehr gezogen:18 Dort müsse sich ein Geschädigter auch nicht anspruchsausschließend oder -mindernd entgegenhalten lassen, dass er genau gewusst hätte, dass immer wieder Verstöße gegen Verkehrsregeln vorkämen; genauso wenig würde das Bestehen eines Ersatzanspruches bei Sportverletzungen dadurch beeinträchtigt, dass jeder Spieler aus Erfahrung wisse, dass immer wieder Regelverstöße vorkämen, die zu Verletzungen führten. Außerdem kommt eine Regulierung von Sportverletzungen im Wege der Einwilligung schon deshalb nicht in Frage, weil bei Abstellen auf den individuellen (und deshalb möglicherweise gegenüber be-

12 13

161). 14

So etwa Beulke, Otto-FS, 2007, S. 207, 215. BGHZE 34, 355, 363 (and. für ausgesprochen gefährliche Sportarten BGHZE 39, 156,

Stoll, Handeln auf eigene Gefahr, 1961, S. 94; Nachw. entsprechender Kritik an der ständigen Zivilrechtsprechung seit RGZE 141, 262 ff.: ebenda, S. 306 ff. 15 Auch die Strafrechtswissenschaft hat sich von der Einwilligungslösung entfernt; allerdings wird teilweise für die sog. Risiko-Einwilligung auf die unerlässliche Eliminierung des Erfolgsunrechts durch eine hierauf bezogene Einwilligung verzichtet (zum Ganzen SternbergLieben, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, Vorbem § 32 Rn. 34, 102 ff.). 16 Seit der eine Fremdverletzung beim Fußballspiel betreffenden Grundsatzentscheidung von BGHZE 63, 140, 144 f. (fortgeführt von BGHZE 154, 316, 325 [Motorsport]), in der ein Anspruch des Geschädigten als Ausdruck eines venire contra factum proprium ausgeschlossen wurde, da das Verletzungsrisiko beim Kampf um den Ball reziprok sei. 17 Die zur zivilrechtlichen Problematik des „Handelns auf eigene Gefahr“ von Stoll (Fn. 14, S. 253 ff.) vertretene, weiter differenzierende Lösung berührt sich mit den Grundgedanken der strafrechtsdogmatischen Verantwortungsbegrenzungstopoi von erlaubtem Risiko und Sozialadäquanz. 18 JZ 1975, 109, 110.

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stimmten Gegenspielern eingeschränkten!19) Willen und auf vom Sportler abgegebene Erklärungen bei massenhaft betriebenen Mannschaftssportarten ein geordneter Spielbetrieb nicht möglich wäre.20 Dies hat Zipf21 bereits 1970 deutlich zum Ausdruck gebracht: „Die Einwilligung ist streng individualisierend, der Sportbetrieb braucht aber eine generalisierende Lösung.“ Es kann nicht Aufgabe der Rechtsfigur der Einwilligung sein, eine der objektiven Sachlage entnommene, auf Interessenabwägung beruhende Lösung nachträglich zu legitimieren.22 Ein kurzer Seitenblick sei auf die beim Eishockey-Sport nicht selten zu beobachtende Massenschlägerei nach einer Spielunterbrechung (namentlich nach einem vorangegangenen Foulspiel) geworfen. Sie hat als verbotener „Faustkampf“ („… Konfrontation mit gegenseitigen Faustschlägen unter Beteiligung von Spielern und/oder Teamoffiziellen …“) sogar eine ausdrückliche Spiel-Regelung gefunden und zieht in jedem Falle als unsportliches Verhalten eine – unterschiedlich zu bemessende – Disziplinarstrafe nach sich.23 Dennoch können hierbei beigebrachte Verletzungen durch eine – in der aktiven Beteiligung konkludent zum Ausdruck kommende – Einwilligung gerechtfertigt werden: Zwar hat der Staat das Selbstverständnis des Sports über das Faire und Regelgerechte zu respektieren (hierzu noch unter II.3.). Wenn sich aber Täter und Einwilligender durch ihr gemeinsames Rauf-Handeln (weiteres Beispiel: Einwilligung in einen regelwidrigen Tiefschlag bei einem Boxwettkampf und Handeln auf Grund dieser Einwilligung) „eigenmächtig“24 (aber eben nicht rechtsunwirksam: ihre Unterwerfung unter die Regeln des Spielbetriebs führt zu keiner andauernden Bindung außerhalb der Verbandsebene) diesem Sonderbereich autonomer Verbandsregeln entziehen, sie sich mithin nicht mehr in Selbstbindung dem Regelungsbereich des verbandsorganisierten Sports unterwerfen,25 unterliegt ihr Verhal19 Auf diese Problematik wies bereits F. C. Schroeder, in: ders./Kauffmann (Hrsg.), Sport und Recht, 1972, S. 21, 33 hin. 20 Dölling, ZStW 96 (1984), 36, 45, 60 f.; ebenso Looschelders, JR 2000, 265, 268; Rössner, Hirsch-FS, 1999, S. 313, 317. 21 Einwilligung und Risikoübernahme im Strafrecht, 1970, S. 92. 22 So bereits Stoll (Fn. 14), S. 261. 23 Regel 141 (Faustkampf)/I.: Alle Spieler, die sich an einem Faustkampf beteiligen, erhalten eine doppelte kleine Disziplinarstrafe oder große und automatische Spieldauerdisziplinarstrafe (Offizielles Regelbuch der DEL, Ausgabe 2018/19; aufgerufen unter https://www. del-2.org/media/regeln/DEL_Regelbuch_2018-2022.pdf am 3. 7. 2019). 24 Bezogen auf das Sportverbandsrecht und insoweit mangels Dispositionsbefugnis auch ohne dispensierende Folgen hinsichtlich der verbandsinternen Spiel-Regelung. 25 Im nicht verbandsorganisierten Bereich des Freizeitsports (bspw. Fußballspiel auf der grünen Wiese) ist ein Abweichen von den Spielregeln des organisierten Sports von vornherein möglich (z. B. „3 [nicht auszuführende] Ecken = 1 Strafstoß“). Insoweit kommen die für den Verbandssport geltenden Haftungsprivilegien dann zur Anwendung, wenn eine hinreichende Vergleichbarkeit – namentlich im Hinblick auf Typizität und Reziprozität – mit Wettkämpfen im Verbandssport besteht (s. OLG Düsseldorf NJW-RR 2000, 116 [Fußballspiel auf ein Tor]; NJW-RR 1993, 292 f. [Art von Schattenboxen]; Dördelmann, Die zivilrechtliche Haftung für Mitspielerverletzungen bei Sport und Spiel, 2018, S. 66 ff., 299 f.; auch Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, 1979, S. 306, sowie Pardey, zfs 1995, 281, 282 und Wagner, in:

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ten wieder in vollem Umfang dem Anwendungsbereich der vom Staat für alle Bürger verbindlich gesetzten Rechtsvorschriften, so dass der Einwilligung des „Opfers“ strafbarkeitsaufhebende Kraft26 zukommt.27 3. Rechtsentlassener Bereich: Der Überlegung eines (straf)rechtsfreien Bereichs bei Sportverletzungen28 sollte schon aus grundsätzlichen Erwägungen nicht nähergetreten werden.29 Der Sport-Wettkampf ist sicherlich ein von sonst im gesellschaftlichen Leben Üblichen abweichender und von sportartspezifischen Üblichkeiten geprägter Lebensbereich. Im Falle hierbei fahrlässig oder vorsätzlich beigebrachter Verletzungen lassen sich aber durch hinreichende Berücksichtigung der Spezifika des jeweiligen Sportbereichs dogmatisch sachgerecht Einschränkungen der Strafbarkeit gewinnen, ohne das Konstrukt eines durch das Regelwerk des jeweiligen Sportverbandes und damit infolge der Verbandsautonomie geschaffenen rechtsentlassenen Bereichs,30 der ja von vornherein auf den verbandsmäßig organisierten Bereich beschränkt bliebe,31 zu bemühen.

MünchKom/BGB, 7. Aufl. 2017, § 823 Rn. 697 wenden sich gegen eine unterschiedliche haftungsrechtliche Bewertung). Da aber auch hier i. d. R. keine Einwilligung in beigebrachte Verletzungen vorliegen wird, kann den Besonderheiten dieses Freizeitsports nur dadurch Rechnung getragen werden, dass das die Sorgfaltswidrigkeit begründende unerlaubte Risiko unter Zugrundelegung der allgemeinen Wettkampfregeln, aber eben auch ihrer von den Freizeitsportlern verabredeten Modifikationen – etwa Barfußspielen ohne Stollenschuhe beim Fußball oder „sanfter“ Altherrenfußball ohne Körperkontakt – bestimmt wird (s. Krähe, Die zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche von Amateur- und Berufssportlern für Verletzungen beim Fußballspiel, 1981, S. 304) und auch hier die strafrechtliche Verantwortlichkeit auf gravierende Regelverletzungen beschränkt bleibt (so für das Zivilrecht Dördelmann, ebd., S. 349). 26 Der Frage, inwieweit bei bestimmten (sogenannten?) Sportarten der Einwilligung keine strafbarkeitsaufhebende Wirkung zukommt (so für das „Ultimate Fighting“ Derksen, SpuRt 2000, 141 ff.; a.A. angesichts verschärften Regelwerkes Kaiser, SpuRt 2010, 98, 100), kann hier nicht nachgegangen werden. 27 Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 340 f. 28 Hierfür Schild, Jura 1978, 449, 456; abl. Dördelmann (Fn. 25), S, 87 ff.; Eser, JZ 1978, 368; Fritzweiler, in: PHB Sportrecht, 3. Aufl. 2014, 5. Teil Rn. 2; Götz, Die deliktische Haftung im Wettkampfsport, 2009, S. 40; Pfister, Lorenz-FS, 1991, S. 171, 176; Rössner, HirschFS (Fn. 20), S. 315. 29 Abl. zu einem strafrechtsfreien Bereich Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder (Fn. 15) Vorbem § 32 Rn. 8 (m.w.N. auch zur Gegenansicht); allerdings kann in entsprechenden Bereichen gesetzlich im Wege lediglich prozeduraler Rechtfertigung (Sternberg-Lieben, ebenda, Rn. 7a) im Ergebnis ein – prozedural abgesicherter – „rechtswertungsfreier“ Raum geschaffen werden. 30 Schild, Jura 1982, 585, 586, 590; ders., Sportstrafrecht (Fn. 2), S. 114 ff., der präzisierend i.E. einen auf „Sportadäquanz“ beruhenden Tatbestandsausschlussgrund postuliert (so zuletzt auch in Paeffgen-FS, 2015, S. 153, 154). 31 Auch deshalb kritisch Dördelmann (Fn. 25), S. 92 f., der ebenso wie Götz (Fn. 28), S. 15 ff., 43 auch auf die wirtschaftliche Bedeutung des Profi-Sports verweist, ein nicht gerade für einen rechtsfreien Bereich sprechender Umstand: Gravierende Verletzungen können nicht

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4. Sozialadäquanz (Sportadäquanz): Ein Abstellen hierauf führt schon deshalb nicht weiter,32 weil es in aller Regel nicht dieses Rückgriffs bedarf, um Verhaltensweisen ausscheiden zu können, die zwar vom Wortlaut eines Tatbestands erfasst sind, von diesem jedoch sinnvollerweise nicht gemeint sein können. Vielmehr lassen sich solche Tatbestandsrestriktionen zumeist schon mit Hilfe allgemeiner Auslegungsregeln einschließlich einer am Schutzzweck orientierten teleologischen Reduktion sowie über die Figur der objektiven Zurechnung, die dann mangels unerlaubter Gefahrschaffung zu verneinen wäre, erreichen.33 Somit sollte die verhältnismäßig vage Sozialadäquanz nicht in den Rang eines selbstständigen und allgemeingültigen Tatbestandskorrektivs erhoben werden.34 Im Zusammenhang mit der Frage „sportadäquater“ Handlungen ist daran zu erinnern, dass bei den allgemein üblichen und unter dem Gesichtspunkt ihrer „überindividuellen Zweckhaftigkeit“ per saldo nützlichen Gefährdungshandlungen im Bereich von Verkehr und Technik die Anerkennung eines „sozialadäquaten“ Risikos bereits zur Begrenzung der einzuhaltenden Sorgfaltspflichten führt.35 Hierauf wird als Lösungsweg zurückzukommen sein. Letztlich vermag soziale Billigung nicht entgegenstehende normative Wertungen zu überspielen, da faktische Observanz nicht mit normativer Adäquanz gleichzusetzen ist.36 Die zum Rechtsgüterschutz strafgesetzlich vorgegebenen Schranken individueller Handlungsfreiheit begrenzen mithin die soziale Adäquanz, so dass bspw. Tötungen im Rahmen von Kriegshandlungen nicht durch ein schlichtes Sich-Berufen auf „Kriegsadäquanz“37 für straffrei erklärt werden können: es ist vielmehr eine völkerrechtliche Rechtfertigung erforderlich.38 Dies wird auch im Bereich sportlicher Wettkämpfe zu berücksichtigen sein. Sicherlich kommt der sozialen Adäquanz ungeachtet ihrer sehr eingeschränkten dogmatischen Bedeutung eine nicht zu unterschätzende Funktion als Schnittstelle zwischen normativer Rechtswissenschaft und außerrechtlichen Ordnungsvorstellungen39 für Lebensbereiche zu, deren Verrechtlichung – wie es gerade beim Sportbereich der Fall ist – durch den Gesetzgeber faktisch nicht möglich ist sowie angesichts der Verbandsautonomie der Sportverbände ohnehin nur eingeschränkt zulässig nur zu Einnahme-Ausfällen eines zum Sport-Invaliden gefoulten Sportlers, sondern im Mannschaftssport auch zu erheblichen Einnahmeausfällen des beteiligten Vereins führen. 32 Abl. auch Dölling, ZStW 96 (1984), 36, 50; Dördelmann (Fn. 25), S. 103 f.; Eser, JZ 1978, 368, 370; Götz (Fn. 28), S. 156 ff.; Hirsch, Szwarc-FS, 2009, S. 559, 564 f.; Rössner, Hirsch-FS (Fn. 20, S. 320; and. mit diff. Konzeption: F. Bydlinski, ÖJZ 1955, 159, 160 f.; F. C. Schroeder (Fn. 19) S. 32 f. 33 Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 15), Vorbem § 32 Rn. 107. 34 Eisele, in: Schönke/Schröder (Fn. 15), Vorbem § 13 Rn. 69 f. m.w.N.; and. Eser, RoxinFS, 2001, S. 199, 208 ff. 35 Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 15), Vorbem § 32 Rn. 94. 36 OLG Hamm NJW 1973, 716, 718; Amelung, Grünwald-FS, 1999, S. 9, 11; s.a. Eser, Roxin-FS (Fn. 34), S. 212: Üblichkeit und Billigungswürdigkeit erforderlich. 37 So noch Welzel, ZStW 58 (1939), 491, 527. 38 Hierzu Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 15), Vorbem § 32 Rn. 91 ff. 39 Zipf, ZStW 82 (1970), 633, 653.

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wäre.40 Die strafrechtliche Einstufung von Sportverletzungen sollte – um das Wesen sportlicher Betätigung nicht zu verfehlen – zunächst an die möglicherweisen sektoralen sozialen Handlungsnormen der betroffenen Lebensbereiche (hier also primär an die Sportregeln41) anknüpfen. Die auf diese Weise gewonnene Festlegung faktischer (von den Sportregeln gesteuerter) Üblichkeit muss dann allerdings von der Feststellung ergänzt werden, dass das in Frage stehende Verhalten normativ angemessen und damit gesellschaftlich tolerabel ist.42 Auf diese Weise lassen sich die Spezifika des jeweiligen Sportbereichs sachgerecht berücksichtigen und in diesem von sportartspezifischen Üblichkeiten geprägten Lebensbereich sachgerechte Einschränkungen der Strafbarkeit gewinnen. Dogmatisch umgesetzt werden sollte dies aber nicht durch Anwendung eines dann doch recht konturenlosen43 und im Grunde dogmatisch überflüssigen44 Rechtsinstituts, sondern durch ein angemessenes Zuschneiden der Sorgfaltspflichten im Sport.45

II. 1. Sportverbandsrecht: Dem für alle Ausübenden verbindlichen46 Regelwerk der jeweiligen Sportart kann keine unmittelbare und allein entscheidende Direktionskraft für eine etwaige Straffreiheit von Sportverletzungen zukommen. Zwar hat der Gesetzgeber diesen Lebensbereich in Anerkennung der Verbandsautonomie (Art. 9 I GG)47 weitgehend der „Eigenregelung“ der Sportverbände zu überlassen, so dass die dortigen (Spiel-)Regeln sicherlich nicht für unmaßgeblich erklärt werden dürfen. Im Gegenteil: Eine rechtliche Anerkennung der in den Regelwerken der 40

So allgemein Knauer, ZStW 126 (2014), 844, 856. Sie definieren die Sportart, konzipieren ihre wettkampfmäßige Ausübung, beschreiben die Spielidee (Typisierungsfunktion) und legen charakteristische, aber auch verbotene Bewegungsabläufe fest (Vieweg, JuS 1983, 825, 829; ders., Röhricht-FS [Fn. 5], S. 1255, 1260 f.). 42 Rössner, Hirsch-FS (Fn. 20), S. 321; ebenso Hassemer, wistra 1995, 81, 85 (Bankenbereich). 43 Rössner, ebd. 44 Hirsch, ZStW 74 (1962), 73, 78, 93. 45 So auch Dördelmann (Fn. 25), S. 106, 351; Hirsch, Szwarc-FS, (Fn. 32), S. 566 f. 46 Diese Bindung der Sportler an das Regelwerk erfolgt mittelbar über ihre Vereinsmitgliedschaft, wobei sie über mehrere mitgliedschaftsrechtliche Stufen vermittelt wird (Pfister, Lorenz-FS [Fn. 28], S. 184; Vieweg, JuS 1983, 825, 335 f.). – Fußball-Lizenzspieler sind weder Mitglied des DFB noch der Vereine, für die sie spielen, da andernfalls bei Zahlung hoher Vergütungen an Vereinsmitgliedern (s. 55 I Nr. 1 S. 2 AO) der steuerlich höchst relevante Verlust der Gemeinnützigkeit (§ 52 II Nr. 21 AO) droht (H. P. Westermann, Rittner-FS [Fn. 3], S. 780). Somit ist ein Lizenzvertrag zwischen DFB und Spieler erforderlich, in dem die Verbandsregelungen als für den Spieler bindend vereinbart werden (Lukes, H. Westermann-FS, 1974, S. 325, 332, 343; H.P. Westermann, JA 1984, 394, 395 f.). 47 Art. 9 I GG schützt angesichts des gemeinschaftsbegründenden Charakters der Vereinigungsfreiheit als Doppelgrundrecht nicht nur den Einzelnen, sondern auch die Vereinigung als solche (BVerfG 80, 244, 253). 41

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Sportverbände gesetzten Standards entspricht dem auch grundgesetzlich geforderten Respekt vor dem insoweit autonomen Bereich des Sports, wozu auch das Recht des vereins- und verbandsorganisierten Sports zählt, sich seine eigenen Statuten und Regelwerke zu geben.48 Art. 9 I GG garantiert den Sporttreibenden nicht nur das Recht zum staatsfreien Zusammenschluss in Sportvereinen und Sportverbänden, sondern auch das Recht, sich ihre Regelwerke selbst zu geben. Steiner49 hat zu Recht betont, dass Art. 9 I, IV GG dem vereins- und verbandsorganisierten Sport eine eigene, aus seiner Gemeinschaft hervorgehende sportbezogene Wert- und Maßstabsbildung ermöglicht, wobei dies nicht nur die Sport- und Spielregeln umfasst: auch das Verständnis dessen, was „sportlich“ und „fair“ ist, wird durch das Vereinigungsgrundrecht des Art. 9 I GG gegenüber unmittelbaren und mittelbaren staatlichen Einwirkungen abgeschirmt. Verstärkt wird diese Vorgreiflichkeit des Verbandsrechts durch die privatautonome Selbstbindung des einzelnen Sportlers, die in seiner freiwilligen Teilnahme an den Wettkämpfen liegt. a) Diese „Eigenregie“ des Sports kann aber nur soweit reichen, als das Recht sich eigener Regelungen enthält und in Erfüllung des Subsidiaritätsprinzips der kleineren Einheit (Sportverband) die sachnähere und sachgerechte, aber eben auch nur interne, d. h. jedenfalls zunächst auf diesen gesellschaftlichen Bereich beschränkte, Entscheidung überlässt. Insoweit wäre ein Abweichen staatlicher Rechtsentscheidung von den selbstgesetzten Regeln des sportlichen Lebens nicht vertretbar, da der Staat bewusst auf die rechtliche Durchdringung und Gestaltung dieses Lebensbereiches verzichtet hat und sich den Sportbetrieb nach seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten und selbst gegebenen Regeln verwirklichen lässt.50 Somit ist auch bei der Rechtsanwendung das Selbstverständnis des Sports – entsprechend zu den Bereichen von Kirche und Kunst – über das Regelgerechte angemessen zu berücksichtigen.51 b) Eine Gleichsetzung von Sport- oder sonstiger Verbandsregelwidrigkeit mit strafrechtsrelevanter Rechtswidrigkeit verbietet sich bereits auf Grund der unterschiedlichen Ordnungsfunktionen dieser Rechtsgebiete (Binnenfunktion des Sportverbandsrechts / Allgemeingültigkeit staatlichen Rechts).52 Durch Anwendung konzeptualisierender (normativer) Generalklauseln53 (insbesondere Fahrlässigkeit i.S.v. §§ 229, 222 StGB/objektive Zurechnung bei § 223 StGB) wird die gebotene Inbezugnahme außerstrafrechtlicher Regelungen realisiert. Es handelt sich hierbei jedoch 48

Pfister Lorenz-FS (Fn. 28), S. 190; Steiner, NJW 1991, 2729, 2730; ders., SpuRt 2018, 186; Sternberg-Lieben (Fn. 27), S. 340; s. a. Looschelders, JR 2000, 265, 270. 49 NJW 1991, 2729, 2730. 50 Mithin liegt es von vornherein fern, ein sportregelgerechtes Verhalten mit zivil- oder gar strafrechtlicher Reaktion zu belegen (Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder [Fn. 15], § 15 Rn. 214). 51 Steiner, NJW 1991, 2729, 2730; Zipf (Fn. 21), S. 93. 52 Hierzu und zum Folgenden Sternberg-Lieben (Fn. 27), S. 337 ff. 53 Hierdurch werden Problemlösungen, die in bestimmten Teilbereichen des gesellschaftlichen Lebens entwickelt worden sind, in die Rechtsanwendung einbezogen (z. B. die Regeln der ärztlichen Kunst).

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nicht um eine strikte und vorbehaltslose Anbindung der (straf-)rechtlichen Entscheidung an die Maßstäbe, die sich außerhalb des staatlich gesetzten Rechts entwickelt haben, sondern um eine richterlich kontrollierte Rezeption: Der Rechtsanwender übernimmt diese Standards nicht unmittelbar, sondern überprüft sie unter dem Blickwinkel der normativen Schutzzielbestimmung der anzuwendenden Generalklausel.54 Da eine richterliche Anwendung der außerrechtlichen Standards allgemein voraussetzt, dass diese mit höherrangigen Schutzvorgaben der Verfassung und der übrigen Rechtsordnung in Einklang stehen,55 bleibt der Vorrang der staatlich gesetzten Rechtsordnung vor privater Rechtssetzung gewahrt.56 Für das Sportrecht generell ist diese Zweispurigkeit von privatautonom gesetztem Verbandsrecht und dem in allgemeingültigen Normen gesetzten Recht kennzeichnend.57 c) Allerdings zielen die Verhaltensgebote der Sportregeln auf die Sicherstellung eines ordnungsgemäßen Wettkampfablaufs.58 Insoweit besteht eine deutliche Parallele zu dem durch Art. 2 I GG geschützten Recht von Vertragsparteien, ihre wechselseitigen Verhaltenspflichten im Rahmen der Privatautonomie festzulegen: Die Beteiligten können hier wie dort keine staatlichen Verhaltensnormen schaffen, sie haben aber das Recht, den Inhalt dieser Verhaltensnormen selbst zu beeinflussen.59 Dies gilt jedoch nur insoweit, als die Sportregeln als solche eine rein sport-interne Verhaltensund Sanktionsordnung konstituieren.60 Hingegen können sie keineswegs festlegen, 54

So auch OLG Hamburg NStZ-RR 2015, 209, 210: Sportverbandsregeln als Regelwerk ohne Rechtsnormqualität bieten [Ergänzung St-L: nur] wichtige Anhaltspunkte für sorgfaltsgemäßes Verhalten. In diesem Fall ging es aber um die Verantwortlichkeit eines Übungsleiters für den Tod eines Siebenjährigen beim Aufstellen des Fußballtores und nicht um die Schädigung eines freiverantwortlich handelnden Spielers. 55 Damit wird einer mit der Schutzpflicht des Staates für grundrechtlich geschützte Güter des Einzelnen nicht vereinbaren Kompetenzübertragung an Private (Neokorporatismus) gegengesteuert, vor der Schünemann (Lackner-FS, 1987, S. 377, 391) für den Bereich der Regeln der Technik zurecht nachdrücklich gewarnt hat; sachentsprechend für das Verhältnis von staatlich gesetztem zu Standes-Recht: Taupitz, Die Standesordnungen der freien Berufe, 1991, S. 523 sowie für das Verhältnis von technischen Regeln und strafrechtlichem Fahrlässigkeitsmaßstab Lenckner, Engisch-FS, 1969, S. 490, 502 f. 56 Insoweit sei nur an das Bosman-Urteil des EuGH aus dem Jahre 1995 erinnert, in dem der EuGH die Transferbestimmungen und die Ausländer-Klauseln in den Regeln der professionellen Fußballverbände für unvereinbar mit dem Freizügigkeitsgrundrecht in der EU erklärte (NJW 1996, 505; hierzu Hilf/Pache, NJW 1996, 1169); zur weiteren Entwicklung Eichel, EuR 2010, 685). 57 Vieweg, JuS 1983, 825; ders., Faszination Sportrecht, 3. Aufl. 2015, S. 22 (aufgerufen unter http://irut.de/Forschung/Veroeffentlichungen/OnlineVersionFaszinationSportrecht/Faszi nationSportrecht.pdf am 30. 4. 2019); so auch Bohn, Regel und Recht, 2008, S. 62 ff.; Dördelmann (Fn. 25), S. 242; Summerer, in: PHB Sportrecht (Fn. 28), 2. Teil Rn. 13 f.; i.E. auch Götz (Fn. 28), S. 221. 58 Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder (Fn. 15), § 15 Rn. 214 m.w.N. 59 Looschelders, JR 2000, 265, 270 im Anschluss an Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987, S. 38 f. 60 Pfister, Lorenz-FS (Fn. 28), S. 190. Sportregeln haben primär den Zweck, einen ordnungsgemäßen Ablauf des Wettkampfs sicherzustellen und die Chancengleichheit der Betei-

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wann aus ihrer Verletzung haftungsrechtliche Konsequenzen folgen;61 mit den Worten von Schild:62 Spielregeln werden von Sportverbänden nicht als Kriminalisierungsparameter gebildet. Dies wird auch dadurch deutlich, dass Sportregeln anders als strafbewehrte Verhaltensvorgaben hypothetische Verhaltensgebote darstellen:63 Der Sportler muss sich um ihre Einhaltung bemühen, um die Verhängung von Spielstrafen zu vermeiden. Diese sporteigenen Sanktionen sind planmäßig in das Spielgeschehen integriert (etwa Frei- oder Strafstoß) und gehören auch zur Attraktivität des jeweiligen Spiels. Demgegenüber gebieten Verkehrspflichten in staatlichen Rechtsnormen ein bestimmtes, risiko-vermeidendes Verhalten kategorisch. Würde dies auch für die Sportregeln gelten, so wäre unzulässig (Art. 9 I GG)64 das Wesen der Kampfsportarten verändert, da die Sportler ihren Einsatz so dosieren müssten, dass keine Spielregel verletzt würde.65 d) Dies kann aber als solches nicht dazu führen, Sportregeln auch für das (Straf-) Recht als letztverbindliche Konkretisierung der im Sport geltenden Verhaltensnormen einzustufen, die der Rechtsanwender infolge der Verbandsautonomie (Art. 9 I GG) nicht durch eine eigene Interessenbewertung ergänzen oder sogar ersetzen dürfe. Ihnen kommt vom Ansatz her keine größere rechtliche Relevanz zu als sonstigen außergesetzlichen Verhaltensnormen: sie bilden wesentliche, aber nicht allein entscheidende Anhaltspunkte für den Rechtsanwender, da es grundsätzlich nicht zulässig ist, bestimmten durch gemeinsame Interessen verbundenen Gruppierungen die Letzt-Verfügungsgewalt darüber zuzusprechen, welche Eingriffe in Leib (oder gar Leben) rechtens sind und welche nicht: Die Spielregeln als Teil des Sportverbandsrechts dienen bei der Bestimmung fahrlässigen Verhaltens der – gerichtlich zu kontrollierenden – Einpassung von Problemlösungen, die in Teilbereichen der Gesellschaft entwickelt wurden, in die für alle Bürger verbindliche Rechtsordnung.

ligten zu gewährleisten (vgl. Pfister, ebd., S. 189 f.; sowie Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, 1974, S. 53; Schild, Jura 1982, 585, 587). Sicherlich schützen manche Sportregeln auch die Gesundheit der Sportler. Die Sportregeln gehen aber davon aus, dass die dort vorgesehenen Sanktion (Strafstoß/Platzverweis) ausreichen, um die mit der verletzten Regel verfolgten Ziele zu schützen. 61 Burgstaller (Fn. 60), S. 53; Hirsch, Szwarc-FS (Fn. 32), S. 559; Rössner, Hirsch-FS (Fn. 20), S. 342. 62 In Württ. Fußballverband (Fn. 1), S. 19, 46. 63 Looschelders, JR 2000, 265, 271; ebenso Pfister, Lorenz-FS (Fn. 28), S. 189 f. (Spielregeln sollen die Chancengleichheit sichern und mit spieltypischen Sanktionen spieltypische Regelverletzungen ahnden); zur Unterscheidung zwischen kategorischen und hypothetischen Imperativen und ihren haftungsrechtlichen Konsequenzen: Looschelders, Die Mitverantwortung des Geschädigten im Privatrecht, 1999, S. 208 ff., 640 ff. 64 Pfister, Lorenz-FS (Fn. 28), S. 190, Schild (Fn. 2), S. 115. 65 S. Pfister, Lorenz-FS (Fn. 28), S. 190: typische Sport-Regelwidrigkeiten müssen keineswegs unterbleiben (ebd. in Fn. 100): Sonst könnte bspw. Basketball als von seinen Regeln (Art. 32.1.1; Stand 2018) her körperloses Spiel praktisch gar nicht oder nur als völlig anderes Spiel stattfinden.

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e) Der beim verbandsmäßig organisierten Sportbetrieb schon verfassungsrechtlich (Art. 9 I GG) gebotene Respekt vor der Selbstorganisation der Betroffenen fügt sich i. Ü. in die vom Ansatz her durchaus sinnvolle gesetzgeberische Zurückhaltung ein, die unter dem Leitgedanken regulierter Selbstregulierung bekannt ist, also dem Überlassen von Regel-Bildungen an fachkompetente gesellschaftliche Gruppen. Hierbei kann der Staat angesichts seiner Schutzverpflichtung für grundgesetzlich geschützte Güter allerdings nicht völlig untätig bleiben; er darf sich aber auf eine Grenzkontrolle beschränken:66 Die regulierte Selbstregulierung geht im Gegensatz zur ausschließlich gesellschaftlichen Selbstregulierung von einer staatlichen Regelungsverantwortung aus.67 Hierbei werden im Zuge von Verantwortungsteilung das Wissen und der Selbstgestaltungswille der durch die Regulierung Betroffenen aktiviert, wobei bei dieser Selbstregulierung stets die allgemeine Rechtsordnung zu beachten ist.68 Die imperative staatliche Steuerung durch Ge- oder Verbote mag sich zwar auf dem Rückzug befinden. Ihr kommt aber Bedeutung für den Rechtsgüterschutz zu, da im Bereich gesellschaftlicher Selbstregulierung keine hinreichende Garantie einer von vornherein angemessenen Berücksichtigung aller betroffenen Interessen besteht, insbesondere nicht von Interessen derjenigen, die von der Selbstregulierung zwar (hauptsächlich) betroffen sind, bei der Regelerstellung aber nicht (maßgeblich) mitwirken (hier also: die an der Sportregel-Bildung nicht beteiligten Sportler selbst).69 Das Sich-Verlassen auf die Problemlösungskapazität privater Akteure ist – nicht nur im Strafrecht als von vornherein „misstrauischem Recht“ – nicht unbegrenzt: Das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit dieser Aufgabenlösung beruht auch auf der ergänzenden staatlichen Garantenstellung.70 Die staatliche Schutzverantwortung für grundrechtlich geschützte Positionen begrenzt die Reichweite von Selbstregulierung. Nach dieser grundgesetzlichen Vorgabe gilt dies auch für Bereiche, in denen dezentralisiertes Wissen in den subgesellschaftlichen Einheiten (hier: Sportverbände) konzentriert ist und deshalb eine Regulierungsentscheidung grundsätzlich besser dort getroffen werden sollte.71 Hierbei darf sich das (Straf-)Recht nicht völlig aus der Verantwortung stehlen. Sicherlich ist das Strafrecht im Grundsatz als staatlich-monopolistische Gewaltausübung dadurch gekennzeichnet, dass der Gesetzgeber diesen Bereich selbst durchnormiert, so dass „Strafrecht im Kern Fremdregulierung“ ist; dieser Feststellung Rönnaus72 ist ebenso zuzustimmen wie 66

Zum Bereich der Organtransplantation Sternberg-Lieben, ZIS 2018, 130, 141 f.; zur (Criminal) Compliance in Wirtschaftsunternehmen Rönnau, in: Professorinnen und Professoren der Bucerius Law School (Hrsg.), Begegnungen im Recht, 2011, S. 237 ff. 67 Zum Folgenden s. Hoffmann-Riem, Innovation und Recht – Recht und Innovation, 2016, S. 371 ff. 68 Hierzu Hoffmann-Riem (ebenda), S. 382 ff. 69 S. Hoffmann-Riem (ebenda), S. 375 f. 70 Hoffmann-Riem, ebd.; Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), S. 160, 204 f.; zu den staatlichen Schutzpflichten s.a. Grimm, VERW, Beiheft 4, 2001, S. 9, 16; Kirchhof (Fn. 59), S. 523 ff. 71 S. Steinbach, Rationale Gesetzgebung, 2017, S. 179 f., 324. 72 Rönnau (Fn. 66), S. 239.

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dann allerdings auch seiner Ergänzung, dass der Strafgesetzgeber angesichts der Komplexität der Lebensverhältnisse namentlich im Bereich der Fahrlässigkeitsdelikte nicht umhin kommt, sich zur Konturierung des Bereichs des Unerlaubten die von privaten Verbänden erlassenen Sondernormen nutzbar zu machen, die für besondere Verkehrskreise besondere Anforderungen an sorgfaltsgemäßes Verhalten stellen.73 2. Sportregelgerechtes Verhalten: Soweit Sportregeln die Vermeidung verletzungsträchtiger Situationen bezwecken (z. B. Verbot des Foulspiels im Fußball, nicht hingegen dasjenige des unerlaubten Handspiels), können sie als Verhaltensstandards begriffen werden, deren Einhaltung eine strafrechtliche Haftung des Verletzenden aus Fahrlässigkeits- oder auch Vorsatzdelikt ohne weiteres (d. h. ohne weitere „Filterung“ durch kontrollierte Rezeption seitens des Rechtsanwenders) ausschließt.74 Dies fügt sich in den anerkannten Ansatz beim Fahrlässigkeitsdelikt ein, dass sich die Sorgfaltsanforderungen an Menschen in der konkreten Lage und sozialen Rolle des Handelnden zu orientieren haben, mithin an dem engen sozialen Bereich, in dem der Einzelne tätig ist.75 Die (auch für die zivilrechtliche Haftung maßgeblichen) „Sicherheitserwartungen der Sportler“76 orientieren sich an der vom Regelwerk angeleiteten Ausübung des Kampfsports. Die Ausgangslage beim Sport unterscheidet sich i.Ü. deutlich von anderen Lebensbereichen, wie etwa dem Recht der Technik oder dem ärztlichen Standesrecht: Bei Letztgenannten kann es nicht Angelegenheit einer Profession sein, selbst die Voraussetzungen festzulegen, unter denen ihre Mitglieder in Rechtsgüter Dritter eingreifen dürfen;77 die Standesauffassung kann mit dem gebotenen Pflichtenstandard korrelieren, ihn aber nicht allein determinieren.78 Anders hingegen stellt sich die Situation bei den Verhaltensregeln der Sportverbände dar, die die Ausübung des Sportbetriebes anleiten. Hierbei ist wesentlich, dass sich der Sportler – anders als etwa ein Kranker79 – aus freien Stücken den Gefährdungen des Sportbetriebes ausgesetzt hat. Er wird – wiederum anders als ein Patient – die hierdurch eingegangenen Risiken, deren Realisierung überdies zumindest partiell auch von seinem eigenen Verhalten abhängt, von vornherein sachgerecht einschätzen können; zumindest ist ihm dies als Teil seines eigenen Verantwortungsbereiches normativ zuzuschreiben. Die staatliche Schutzpflicht für die Rechtsgüter des Sporttreibenden kann mithin infolge der ebenfalls aus dem Grundgesetz abzuleitenden Respektierung der Freiheitsausübung (Art. 2 I, 73 Hierzu am Beispiel technischer Normen Lenckner, Engisch-FS (Fn. 53), S. 490 (grundlegend) sowie Kudlich, Otto-FS (Fn. 11), S. 373 ff. 74 S. Dölling, ZStW 96 (1984), 42; aus zivilrechtlicher Sicht Grunsky, Haftungsrechtliche Probleme der Sportregeln, 1979, S. 14 f. 75 Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder (Fn. 15), § 15 Rn. 135. 76 Spindler, in: BeckOGK/BGB, Stand 20. 5. 2019, § 823 Rn. 535. 77 Taupitz (Fn. 55), S. 1088. 78 S.a. Taupitz, (Fn. 55), S. 1162. 79 Hier müssen die – insoweit den Regeln der Technik vergleichbaren – ärztlichen Verhaltenskodizes einschließlich der Behandlungsrichtlinien u. ä. einer stärkeren Kontrolle unterzogen sein.

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ggfs. 12 I GG) dieser Person, die hier in der Eingehung einer Selbstbindung durch Teilnahme am verbandsrechtlich geregelten Sportbetrieb liegt, durchaus zurücktreten mit der Folge,80 dass sich ein Sportler, der einen anderen bei regelgerechtem Verhalten verletzt, von vornherein nicht strafbar macht.81 Immerhin bilden die Sportregeln eine von den Sportlern akzeptierte klare Vorgabe, an der sie ihr risikoträchtiges Verhalten orientieren können. Das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot82 (Art. 103 II GG) verlangt, dass die Verhaltensanforderungen eindeutig feststehen, nach denen sich die einzuhaltende Sorgfalt bemisst; nur so können strafrechtliche Verbote hinreichend präventive Kraft entfalten:83 Der Sportler als Normadressat muss wissen können, wie er sich zu verhalten hat, um der Strafbarkeit zu entgehen. Auch bei Einhalten der Sportregeln kann es beim Mannschaftskampfsport angesichts der Schnelligkeit des Spiels (Spieler/Ball) und des begrenzten Spielfelds zu Körperverletzungen kommen. Dieses Risiko kennt jeder Teilnehmer, er geht es ein und akzeptiert es damit:84 Jeder Spieler kann selbst verletzen, aber auch selbst verletzt werden. Damit liegt sicherlich eine gewisse Berührung mit der oben abgelehnten Einwilligungslösung vor, doch liegt die Betonung hier nicht auf einer nur zu unterstellenden Zustimmung zu einer Verletzung, sondern darauf, dass beim Verletzten angesichts der insoweit bestehenden Reziprozität85 (jeder Spieler kann – jedenfalls abstrakt – Opfer, aber auch Täter einer trotz Regeleinhaltung bewirkten Verletzung sein) kein normativ schutzwürdiges Vertrauen auf das Einhalten zusätzlicher, auch diese Verletzungen unterbindender „Sicherheitsstandards“ besteht. Fraglich ist aber, ob ein äußerlich regelgerechtes Verhalten auch dann noch straffrei bleibt, wenn es mit dem Vorsatz durchgeführt wird, dem Opfer unter dem Deckmantel der Regelkonformität eine Körperverletzung beizubringen (bspw. im Fußballsport: erfolgreiches Wegspitzeln des Balles in der Absicht, dass der Gegenspieler über das ausgestreckte Bein zu Fall kommt und sich hierbei verletzt, so dass er ausgewechselt werden muss). Allerdings stellt sich der Bundesgerichtshof für den Bereich des Straßenverkehrs auf den Standpunkt, dass dort auch ein äußerlich verkehrsgerechtes Verhalten das Bereiten eines Hindernisses oder einen ähnlichen, ebenso gefährlichen Eingriff i.S.v. § 315b I Nr. 2, 3 StGB darstellt, wenn es aus verkehrsfeindlichen Gründen, nämlich in der Absicht erfolgt, einen Verkehrsunfall herbeizu-

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S. Sternberg-Lieben (Fn. 27), S. 339. Vgl. Burgstaller (Fn. 60), S. 53; Eser, JZ 1978, 368; 372; Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder (Fn. 15), § 15 Rn. 214 m.w.N.; s.a. Looschelders (Fn. 63), S. 446 ff; Pfister, Lorenz-FS (Fn. 28), S. 187 f.; ebenso für das Zivilrecht BGH NJW 2010, 537, 538; Wagner, in: MünchKom/BGB (Fn. 25), § 823 Rn. 694. 82 Die ihm eigene Unbestimmtheit macht es allerdings höchst anwendungsunsicher, obgleich es gerade dies für die Strafgesetze zu verhindern sucht (Duttge, Zur Bestimmtheit des Handlungsunwerts von Fahrlässigkeitsdelikten, 2001, S. 174). 83 Deutlich Rössner, Hirsch-FS (Fn. 20), S. 322. 84 Pfister, Lorenz-FS (Fn. 28), S. 187. 85 Sie wird insbesondere von Dördelmann (Fn. 25), S. 41 f., 250 f. betont. 81

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führen.86 Auch auf dem Gebiet des Arztstrafrechts, nämlich der sog. indirekten Sterbehilfe, verfuhr der 3. Strafsenat ähnlich, als er die Straflosigkeit einer lebensverkürzenden Schmerzbehandlung auf lediglich mit bedingtem Tötungsvorsatz handelnde Täter beschränkte.87 Auf dieser Grundlage könnte sich auch der Sportler strafbar machen, 88 der bei regelgerechtem Verhalten (wie im o.g. Beispiel) mit Verletzungsvorsatz89 handelt. Dies ist jedoch abzulehnen, da auch ein derart motiviertes regelkonformes Verhalten objektiv keine unerlaubte Gefahrschaffung darstellt.90 Auch beim Vorsatzdelikt verliert ein nach objektiver Wertung unverbotenes Risiko diese Eigenschaft nicht deshalb, weil der Täter den Erfolg will.91 Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass der Verletzende sicherlich gegen den allen Sportarten zugrunde liegenden Fairness-Grundsatz92 verstößt:93 Zum einen ist dieser sicherlich beherzigenswerte94 Topos – sofern er nicht konkrete Ausformung in den Sportregeln gefunden 86 BGH NJW 1999, 3132, 3133; weitere Nw. aus der Rspr. bei Hecker, in: Schönke/ Schröder (Fn. 15), § 315b Rn. 8. 87 BGH 42, 301, 305 (unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene unvermeidbare Nebenfolge). Hierzu hat Reinhard Merkel ebenso eindeutig wie überzeugend Stellung bezogen (Früheuthanasie, 2001, S. 167 ff., 195 ff.; ders., Schroeder-FS, 2006, S. 297, 315 ff.). Geht man davon aus, dass die indirekte Sterbehilfe durch eine Kombination von § 34 StGB und (mutmaßlicher) Einwilligung Rechtfertigung erfährt (Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/ Schröder [Fn. 15], Vorbem § 211 Rn. 26), lässt man für den „Rechtfertigungsvorsatz“ genügen, dass der Täter im Bewusstsein der rechtfertigenden Sachlage das tut, was ihm objektiv erlaubt ist, und spricht dem Motiv desjenigen, der sich mit seinem Handeln objektiv in den Grenzen des Rechts hält, für alle Rechtfertigungsgründe rechtliche Bedeutung ab (SternbergLieben, in: Schönke/Schröder [Fn. 15], Vorbem § 32 Rn. 14), so wird man sich Günter Merkel anschließen können; w.Nw. zur Literatur bei Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 15) Vorbem § 211 Rn. 26a. 88 Strafbarkeit bejaht von Eser, JZ 1978, 368, 374; Looschelders, JR 2000, 265, 271 Fn. 90; Schild, Jura 1982, 585, 588; Schroeder (Fn. 19), S. 26 f.; A. Schall, SpuRt 2011, 226, 229 (in Parallelisierung zum Verlust des Haftungsprivilegs der business judgement rule des § 93 I 2 AktG bei sachfremden Motiven, s. Spindler, in: MünchKom/AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 Rn. 69 f.); abgelehnt von Grunsky (Fn. 74), S. 18; Hirsch, Szwarc-FS (Fn. 32), S. 567 (im Falle des dolus eventualis). 89 Zu den in anderem Zusammenhang jedenfalls für die Gerichte durchaus relevanten Nachweisproblemen beim Vorsatz vgl. Lorz, in: Vieweg (Hrsg.), Impulse des Sportrechts, 2015, S. 309, 316 ff. 90 Auch eine versuchte Körperverletzung scheidet aus, da sich hierbei der Tatentschluss auf die die objektive Zurechnung begründenden Umstände, hier also die infolge Regelverstoßes unerlaubte Gefahrschaffung, hätte beziehen müssen (s. I./D. Sternberg-Lieben, JuS 2012, 289, 294). 91 Eisele, in: Schönke/Schröder (Fn. 15), Vorbem § 13 Rn. 93 m.w.Nw. pro und contra. 92 Vgl. BGH(Z) NJW 2010, 537, 538 (kein Schadensersatzanspruch, wenn es sich um „Verletzungen handelt, die sich ein Sportler bei einem regelgerechten und dem – bei jeder Sportausübung zu beachtenden – Fairnessgebot entsprechenden Einsatz seines Gegners zuzieht“); Dördelmann (Fn. 25), S. 252 (elementarer Baustein des Sports). 93 Berr, Sport und Strafrecht, 1973, S. 85 f.; Götz (Fn. 28), S. 224 ff.; Schild, Jura 1982, 585, 589 f.; Thaler, Haftung zwischen Wettkampfsportlern (usw.), 2002, S. 41 f. 94 Skeptisch Krähe (Fn. 25), S. 123 f. (fair play als ständiger Leitstern des Sportlers eine idyllisch-schwärmerische Vorstellung), 246 f. Auch Reinhard Merkel (in: Hoven/Kubiciel

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hat95 – schon derart unbestimmt,96 dass die Gefahr naheliegt, mit ihm jedes gewollte Ergebnis zu legitimieren.97 Zum anderen ist beim Mannschaftssport zu berücksichtigen, dass der Verletzende Teil einer Mannschaft ist. Wollte man ihm allein wegen seiner subjektiven Einstellung ein regelkonformes Abwehrverhalten verbieten, so ginge dies zulasten seiner Mannschaft, die damit gleichsam in „Sippenhaft“ genommen würde. Schließlich ist der zur Legitimierung der privilegierten Sportlerverantwortlichkeit (im Text unter II.2.) mit heranzuziehende Erwartungshorizont der Gegenspieler (zumindest normativ) lediglich auf die Vermeidung grober Regelverstöße und mutwillig unter Außerachtlassung des Regelwerks zugefügter Verletzungen gerichtet.98 Sicherlich darf Sport nicht als Deckmantel für Körperverletzungen missbraucht werden,99 doch ist dies nur dann anzunehmen, wenn eine „sportartunspezifische Handlungsform“ vorliegt, was bei regelkonformem Verhalten gerade nicht der Fall ist. Es genügt nicht darauf abzustellen, dass eine „gewöhnliche (sportfremde) Verletzung bei bloßer Gelegenheit des Sports vorgenommen wird“,100 da im täglichen Leben etwa das Umrempeln eines Mitbürgers ebenso unzulässig wäre wie dessen Umgrätschen. Der böse Wille des Täters ändert nichts daran, dass das nach außen wahrnehmbare regelgerechte101 Geschehen als „Verwirklichung der konstitutiven [Hrsg.], Korruption im Sport, 218, S. 109, 115 f.) sieht angesichts vorstellbarer Leistungssteigerungen mittels neurotechnischer oder auf das Genom abzielender Interventionen das auf meritokratischer Verteilung der Medaillen beruhende Fairnessprinzip moderner Olympischer Spiele im hoffnungslosen Hintertreffen zum kategorischen „Citius, altius, fortius“-Imperativ dieser Spiele. 95 Vgl. Tettinger, in: Scheffen (Hrsg.), Sport, Recht und Ethik, 1998, S. 33, 51: Fairnessgebot als programmatisches Optimierungsgebot und Impetus zu jeweils sachgebietsorientierter Ausarbeitung hinreichend präzisierter Fairneß-Regeln. 96 So auch das Fazit der Durchmusterung staatlichen Rechts von H. P. Westermann, in: Württ. Fußballverband (Fn. 1), S. 79, 91, 96 (in erster Linie sportpädagogisches und sportpolitisches Postulat): Die Verwendung dieser Argumentationsfigur im Sport, aber auch im rechtlichen Bereich (z. B. im Topos „faires Verfahren“, zuletzt BVerfG NJW 2019, 1510) steht in deutlichem Kontrast zum Ertrag der Konkretisierungsbemühungen insoweit (s. Vieweg, Röhricht-FS [Fn. 5), S. 1266 ff. mit dem Fazit, dass im Sport nur Regelverstöße als „unfair“ einzustufen seien [S. 1270]); dies liegt sicherlich auch daran, dass „Fairness“ sowohl als Verfahrensvorgabe als auch als Verhaltensmaßstab Verwendung findet (Vieweg, ebd., S. 1268, im Anschluss an H. P. Westermann (ebd., S. 90); die offene Struktur und Offenheit dieses Rechtsprinzips gegenüber sozialem Wandel betont auch Berkemann, JR 1989, 221 ff. 97 Dördelmann (Fn. 25), S. 254 f.; Vieweg, Röhricht-FS (Fn. 5), S. 1256; krit. auch Pfister, in: PHB/Sportrecht (Fn. 28), Einf. Rn. 24: Inhalt „kaum konkret zu umschreiben“ (aber dennoch von staatlichen Gerichten zu beachten). 98 S.a. Wagner, in: MünchKom/BGB (Fn. 25), § 823 Rn. 695 i.V.m. Rn. 426 ff. 99 Eser, JZ 1978, 368, 374; Schild, Jura 1982, 585, 588. 100 So Schild, Sportstrafrecht (Fn. 2), S. 120. 101 Mangels hinreichender Bestimmtheit ihrer Vorgaben kann jedenfalls im Bereich des Strafrechts die von H. P. Westermann (in: Württ. Fußballverband [Fn. 1], S. 95) – wohl auf Basis seiner zutreffenden Einstufung des Rechts des Leistungssports als zumindest mit Anleihen beim Wirtschaftsrecht zu regelndes soziales Subsystem (Rittner-FS, 1991, S. 771 ff., 790) – zur Diskussion gestellte Erwägung, bestimmte unfaire Verhaltensweisen als Rechtsmissbrauch i.S.v. § 242 BGB einzustufen, nicht weiter verfolgt werden.

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Spielart“ wahrgenommen wird.102 Es ist mithin auch insoweit auf einen gravierenden Regelverstoß („Blutgrätsche“103) oder eine völlig außerhalb sportwettkämpferischer Bezüge (z. B. Faustschlag bei einem Fußballspiel oder Schlägerei auf der Eisfläche, nachdem ein Eishockeyspiel unterbrochen worden war104) abzustellen. – Hingegen kann in Fällen (strafbarer, s. u. II. 2.c)) gravierender Regelwidrigkeit eine Schädigungsabsicht strafschärfend berücksichtigt werden.105 3. Regelverstöße: Hier kommt hingegen eine mehr oder weniger strikte Anbindung an die Vorgaben der Sportregeln nicht in Betracht, da deren Verhaltensgebote primär die Sicherstellung eines ordnungsgemäßen Wettkampfablaufs bezwecken; sie zielen, anders als die kategorischen Regeln der einzuhaltenden Sorgfalt, nicht darauf ab, den Bereich des straf- und haftungsrechtlich Relevanten abzustecken oder zumindest entscheidend zu präjudizieren.106 Anderenfalls würden Kampf- und Spielsportarten (zB Fußball oder Eishockey), deren Spielbetrieb auch erhebliche Regelverstöße immanent sind, durch rechtliche Vorgaben – angesichts der insoweit bestehenden Autonomie des Sports in unzulässiger Weise – in ihrem Wesen verändert. a) Differenzierte Bewertung: Die Frage, ob eine Verletzung von Wettkampfregeln Sanktionen außerhalb der Binnenordnung des Sportbetriebes nach sich zieht, ist weder zivilrechtlich107 noch strafrechtlich endgültig geklärt. Hierbei ist vorab zu bemerken, dass die Grenze des rechtlich zulässigen Risikos im Sport zivil- und strafrechtlich durchaus unterschiedlich beurteilt werden kann:108 Da die Rechtsordnung in einzelne Gebiete mit unterschiedlicher Zwecksetzung ausdifferenziert ist, welche die auftretenden Interessenkonflikte nach den ihr jeweils zugewiesenen Funktionen und Aufgaben (etwa Schadensrestitution im Zivilrecht/Hervorhebung gesellschaftlich unerträglichen Verhaltens durch sozialethischen Tadel im Strafrecht) zu lösen haben, kann aus etwaiger Zivilrechtswidrigkeit nicht zwangsläufig das Vorliegen auch strafrechtlichen Unrechts hergeleitet werden: So wie im Bereich der Tatbestände eine schon vom Verhältnismäßigkeitsprinzip (Strafrecht als ultima ratio für besonders sozialschädliches Verhalten) her gebotene rechtsgebietsspezifische Differenzierung besteht (bspw. bei fahrlässiger Sachbeschädigung oder Untreue), so ist auch bei 102

S. Schild, in: Württ. Fußballverband (Fn. 1), S. 19, 40, 52. OLG(Z) Hamm NJW-RR 2005, 1477. 104 Looschelders, JR 2000, 265, 272. 105 Dies wäre – da der Bereich der Strafbarkeit erreicht ist – noch kein Fall des für den Bereich zivilrechtlicher Haftung vorgeschlagenen (Götz ([Fn. 28], S. 222 ff., 239 ff.; zust. Dördelmann [Fn. 25], S. 262, der aber zurecht die richtungsweisende Vorentscheidung seitens der Regelwerke betont), für eine strafrechtliche Betrachtung aber keineswegs unproblematischen Argumentierens in einem beweglichen System (Wilburg [Die Elemente des Schadensrechtes, 1941; AcP 163 [1963], 346 ff.] hatte dies bekanntlich für den Bereich zivilrechtlichen Schadensersatzes entwickelt), sondern eine schlichte Anwendung von § 46 II 2 StGB. 106 Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/Schröder (Fn. 15), § 15 Rn. 214 m.w.N. 107 S. Wagner, in: MünchKomm/BGB (Fn. 25), § 823 Rn. 691 ff. sowie zuletzt Dördelmann (Fn. 25), S. 51 ff., 210 ff. 108 So auch Grunsky (Fn. 74), S. 8; and. Looschelders, JR 2000, 265, 266. 103

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der Bestimmung pflichtwidrigen Verhaltens eine entsprechende Differenzierung geboten,109 die zu einer asymmetrischen Akzessorietät der Strafbewehrung führt: Ziviloder öffentlich-rechtlich erlaubtes Verhalten unterliegt keinem strafrechtlichen Verdikt, während umgekehrt zivilrechtliche Haftung oder öffentlich-rechtliche Verhaltensverbote nicht zwangsläufig Strafbarkeit begründen.110 b) Strafrechtsspezifische Reduzierung der einzuhaltenden Sorgfalt: Die Lösung sollte über eine entsprechende Reduktion strafbarer Fahrlässigkeit erreicht werden.111 Nicht nur im hochbezahlten Leistungssport bleiben deshalb jedenfalls leichte Regelverletzungen mit Wettkampfbezug im Rahmen des sportartspezifisch erlaubten Risikos straffrei,112 wobei es auf das Ausmaß der verursachten Verletzung – die strafbewehrte Verhaltensanweisung an den Sportler muss vor Vornahme seiner Handlung erfolgen – nicht ankommt.113 Entscheidend ist vielmehr die auch strafrechtlich nicht mehr hinnehmbare Erhöhung des sportartspezifischen Risikos. Hierbei sollte in einem ersten Schritt dem (zivilrechtlichen) Vorschlag Looschelders114 gefolgt und Strafbarkeit nur dann in Betracht gezogen werden, wenn die durch regelwidriges Verhalten geschaffene Gefahr erheblich über den mit regelgerechtem Spielverhalten verbundenen Gefahren liegt. So scheidet beim Hineingrätschen im Kampf um den Ball ein Überschreiten des erlaubten Risikos aus, wenn statt des Balles der Fuß des Gegenspielers getroffen wird und dieser sich dann durch Sturz verletzt: Es liegt kein höheres Risiko vor als beim regelkonformen Wegspitzeln des Balles als zulässigem Alternativverhalten, bei dem ja auch ein Sturz des Gegners möglich wäre. Beim Umreißen eines enteilten Gegenspielers, um so noch dessen Torschuss zu verhindern, würde dieser „Filter“ allerdings noch keine strafausschließende Wirkung entfalten: Ein Wegspitzeln des Balles als Alternativverhalten wäre zwar zulässig gewesen,

109 Dies gilt insbesondere dann, wenn man die haftungsrechtlichen Verhaltenspflichten im Sport nach Art eines beweglichen Systems bestimmen will (Fn. 105). 110 Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 15), Vorbem. § 32 Rn. 27a ff.; für ein Foul durch Grätschen im Fußballspiel als „ein Verhalten im Grenzbereich zwischen der einem solchen Kampfspiel eigenen und gebotenen Härte und der unzulässigen Unfairneß“ angedeutet von BGH(Z) NJW 1976, 957, 958, der letztlich auf fehlendes Verschulden abhebt. 111 So auch Rössner, Hirsch-FS (Fn. 20), S. 323 (Ausrichten des Sorgfaltsmaßstabs an sportspezifischen Verhaltensstandards); Hirsch, Szwarc-FS (Fn. 32), S. 566 f. 112 Berkl, Der Sportunfall im Lichte des Strafrechts, 2006, S. 174 ff. (bei Realisierung des sportartspezifischen Grundrisikos); Burgstaller (Fn. 60), S. 54; Eser, JZ 1978, 368, 372 (bei Offenlassen der dogmatische Einordnung); Grunsky (Fn. 74), S. 8; Fischer, StGB, 65. Aufl. 2018, § 228 Rn. 22; S. Schmitt, Körperverletzungen bei Fußballspielen, 1985, S. 202 (bei nicht grobem Regelverstoß); Vogel, in: LK/StGB, 12. Aufl. 2007, § 15 Rn. 28; s.a. Donatsch, ZStR1990, 400, 429 (straffrei sofern innerhalb des sportartspezifischen Grundrisikos); ferner infolge Sozialadäquanz Dölling, ZStW 96 (1984), 36, 59 ff.; Schild (Fn. 2), S. 116 ff. (Sportadäquanz); Zipf (Fn. 21), S. 96; s.a. Paeffgen/Zabel, in: NK/StGB, 5. Aufl. 2017, § 228 Rn. 109 (auf Basis der Einwilligungslösung). 113 Eser, JZ 1978, 368, 373; Grunsky (Fn. 74), S. 32; Looschelders, JR 2000, 265, 272; and. auf Basis einer Einwilligungslösung Schroeder (Fn. 19), S. 30. 114 JR 2000, 265, 272.

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würde aber einen völlig anderen Bewegungsablauf darstellen.115 Strafbarkeit (wegen vorsätzlicher Körperverletzung) kommt des Weiteren bei einem Faustschlag, einem Revanche-Foul abseits des Spielbetriebs oder einer Schlägerei in Betracht, da es insoweit von vornherein kein regelkonformes Alternativverhalten gibt. c) Schwere der Regelwidrigkeit: Hierauf sollte als zusätzlicher Filter abgestellt werden.116 Hierbei kann aber keineswegs das Maß der sportintern angedrohten oder verhängten Sanktionen für die Regelverletzung maßgeblich sein (auch wenn die Regeleinhaltung für das körperliche Wohl der Mitspieler relevant ist).117 Sportregeln verfolgen infolge ihrer spielinternen Zielsetzung haftungsfremde Zwecke, wie etwa Wahrung von Chancengleichheit und Fairness im Wettkampf, und treffen keine Aussage über die zulässige Gefährdung in Bezug auf die Körperintegrität.118 In Ermangelung anderer Kriterien sollte darauf abgestellt werden, ob die Regelverletzung grob rücksichtslos erfolgte. Hiermit würde der allgemeinen – zumindest kriminalpolitischen, m. E. aber auch verfassungsrechtlich durch das Erfordernis, den strafrechtlichen Rechtsgüterschutz nur als ultima ratio einzusetzen, untersetzten – Erwägung Rechnung getragen, dass die gesetzgeberische Umschreibung strafwürdigen Verhaltens, aber eben auch die strafbarkeitsbegründende richterliche Konkretisierung von Generalklauseln (hier die der Fahrlässigkeit) durch Hervorheben nur schwerster Verstöße die schutzbedürftigen und schutzwerten Grundwerte der Gesellschaft hervorzuheben hat.119 Auf dem Gebiet der Sportverletzungen sollte der Forderung Rechnung getragen werden, dass angesichts des in Art. 103 II GG verankerten Bestimmtheitsgebots generell die Sanktionierung fahrlässigen Verhaltens auf eine – vorliegend ja auch nach Auffassung der beteiligten Sportler-Kreise – evidente und rücksichtslose Überschreitung des erlaubten Risikos zu beschränken ist.120 Verlangt man dem115

Es entspricht allgemeiner Fahrlässigkeitsdogmatik, dass nur der dem Täter vorwerfbare Tatumstand durch ein korrespondierendes sorgfaltsgemäßes Verhalten zu ersetzen ist, darüber hinaus aber an der konkreten Tatsituation nichts verändert werden darf (Sternberg-Lieben/ Schuster, in: Schönke/Schröder [o. Fn. 15], § 15 Rn. 176). 116 So auch Eser, JZ 1978, 368, 373. 117 Andere Vorgaben, wie etwa das Verbot des Handspiels im Fußball oder des Fußspiels beim Handball, bleiben unstreitig von vorneherein außer Betracht. 118 Grunsky (Fn. 74), S. 30 f.; Looschelders, JR 2000, 265, 272, der zurecht hervorhebt, dass die Strenge der (verhängten) Sanktion von der Bedeutung der Regelwidrigkeit für den Spielverlauf bestimmt wird (bspw. Vereiteln einer offensichtlichen Torchance des Gegners durch absichtliches Handspiel innerhalb des Strafraums: Strafstoß sowie Platzverweis/dasselbe Verhalten außerhalb des Strafraum: direkter Freistoß nebst Platzverweis, vgl. DFBSpielregel 12). 119 So bereits Dölling, ZStW 96 (1984), 36, 55. 120 Allgemein bereits 1996 von Ellen Schlüchter (Grenzen fahrlässiger Strafbarkeit, 1996, S. 89 f.) gefordert; vgl. auch die Kritik von Duttge (Fn. 82), S. 202 ff., passim sowie ders., Th. Fischer-FS, 2018, S. 202, 204 ff. – Auch der vom BVerfG (E 126, 170, 198 f.) in seiner Entscheidung zu § 266 StGB vorgegebenen Nachjustierung des Untreuestrafrechts kann allgemein gesprochen die verfassungsrechtliche Pflicht des Rechtsanwenders entnommen werden, unbestimmt formulierten Tatbeständen im Wege der Normkonkretisierung schärfere Konturen zu verleihen. Hierbei sollten keine Fälle erfasst werden, denen es unter Berücksichtigung des

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entsprechend, dass dem Sportler bei seinem Regelverstoß eine schwere Nachlässigkeit unterlief, bei der er dasjenige unbeachtet ließ, was jedem verständigen Sportler ohne Weiteres als den Gegenspieler schützende Sorgfaltspflicht eingeleuchtet hätte,121 so wird man im Fußballsport in erster Linie Fallgestaltungen zu erfassen haben, in denen die körperbezogene Attacke nach Lage der Dinge nur noch gegen den Körper des Opfers erfolgen kann, ohne dass eine realistische Chance besteht, noch den Ball zu spielen.122 Auch eine willentliche, nicht sportimmanente Schädigung (etwa Revanchefoul oder Tätlichkeit während Spielunterbrechung) sieht sich auf jeden Fall strafrechtlicher Sanktionierung als dann sogar vorsätzliche Körperverletzung (ggfs. angesichts der stollenbesetzten Schuhsohle mittels eines gefährlichen Werkzeugs i.S. v. § 224 I Nr. 2 StGB) ausgesetzt. d) Profi-Fußballsport: Hier könnte aber eine deutliche Einschränkung möglicher Strafbarkeit Platz greifen, und zwar infolge der Regelung von §§ 105 I, 106 III Var. 3 SGB VII.123 So hat das OLG Karlsruhe124 einen Schadensersatzanspruch wegen eines Bandenchecks in einem Eishockey-Spiel der 2. Bundesliga mit der Begründung abgelehnt, dass Schädiger und Geschädigter anlässlich ihres Wettkampfs auf einer „gemeinsamen Betriebsstätte“ tätig gewesen seien. Beide Mannschaften hätten nach gemeinsamen Spielregeln zusammengewirkt und sich gegenseitig in besonderer Weise ergänzt, weil der Wettkampf nur im Miteinander möglich wäre, wobei das Verletzungsrisiko reziprok verteilt sei (Gefahrengemeinschaft). Auch könnten Schmerzensgeldprozesse zwischen Spielern gegnerischer Mannschaften (bei Arbeitsunfällen gesetzlich unfallversichert gemäß § 2 I Ziff. 1 i.V.m. § 7 SGB VII) das friedliche Zusammenspiel für die Zukunft erheblich beeinträchtigen. Auch generalpräventive Gesichtspunkte stünden dem nicht entgegen, da – abgesehen von gem. § 105 I SGB VII unberührt bleibenden Fällen vorsätzlich beigebrachter Verletzungen – auch grob subsidiären Charakters des Strafrechts an Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit mangelt (vgl. auch BVerfGE 126, 170, 211: gravierende Pflichtverletzung des Untreuetäters [i.S.e. eindeutig nicht mehr vertretbaren Handelns]). 121 Diese Formulierung knüpft an meinen Vorschlag (Beulke-FS, 2015, S. 299, 305 ff. sowie MedR 2019, 185, 187 ff.) zur Reduzierung übermäßiger ärztlicher Aufklärungspflichten vor einem Heilangriff an. 122 OLG München NJOZ 2009, 2268, 2270; Sternberg-Lieben/Schuster, in: Schönke/ Schröder (Fn. 15), § 15 Rn. 214; Paeffgen/Zabel, in: NK/StGB (Fn. 112), § 228 Rn. 109. Auch das Hineinspringen des Torwarts mit gestrecktem Bein in einen gegnerischen Spieler (s. OLG München VersR 1977, 844, 845) zählt hierzu. 123 § 105 Abs. 1 SGB VII: Personen, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Versicherungsfall von Versicherten desselben Betriebs verursachen, sind diesen … nach anderen gesetzlichen Vorschriften zum Ersatz des Personenschadens nur verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich … herbeigeführt haben. § 106 Abs. 3 SGB VII: … verrichten Versicherte mehrerer Unternehmen vorübergehend betriebliche Tätigkeiten auf einer gemeinsamen Betriebsstätte, gelten die §§ 104 und 105 für die Ersatzpflicht der für die beteiligten Unternehmen Tätigen untereinander. 124 NZS 2013, 106; ebenso LG Berlin BeckRS 2013, 9485; zust. Buchberger, SpuRt 2013, 108 ff.; Slizyk, Imm-DAT Kommentierung, 15. Aufl. 2019, Rn. 84; abl. Laustetter, NZS 2013, 108.

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Detlev Sternberg-Lieben

fahrlässige Regelverstöße zu einem Regress des Sozialversicherungsträgers beim Schädiger nach § 110 Abs. 1 SGB VII125 führten. Dieser zivilgerichtlichen Einstufung sollte nicht gefolgt werden,126 da § 106 III Var. 3 SGB VII auf Konstellationen eines auf die gemeinsame Erledigung eines Werkes gerichteten Zusammenwirkens (bspw. Zusammenarbeit von an demselben Bauvorhaben tätigen Bauhandwerkern verschiedener Firmen) zielt:127 eine „gemeinsame“ Betriebsstätte verlangt jedenfalls mehr als „dieselbe Betriebsstätte“.128 Sicherlich besteht auch beim Mannschaftswettkampfsport die vom BGH(Z) allgemein für eine gemeinsame Betriebsstätte konstatierte typische Gefahr, dass sich die Beteiligten bei den versicherten Tätigkeiten „ablaufbedingt in die Quere kommen“.129 Dies ändert aber nichts daran, dass nach höchstrichterlicher Rechtsprechung für eine „gemeinsame“ Betriebstätte typisch ist, dass einzelne Aktionen der Arbeitnehmer mehrerer Unternehmen „bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinander greifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen“.130 Dem steht im Wettkampfsport verschiedener Mannschaften der Wettkampfcharakter im Sinne des „Gegeneinanders“ beim Spiel entgegen, so dass nicht von einer Ergänzung und Unterstützung der gegnerischen Mannschaften gesprochen werden kann.131 Auch stützt der auf Wahrung des Friedens zwischen Arbeitnehmern verschiedener Betriebe gerichtete Normzweck von § 106 III Var. 3 SGB VII die herrschende Auffassung nicht, da der Wettkampfsport gerade auf dem zwischen den Mannschaften bestehenden Konkurrenzverhältnis und dem Willen, gegeneinander um das bestmögliche Ergebnis zu agieren, basiert.132 Dementsprechend besteht in Bezug auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit kein Unterschied zwischen dem profimäßig und dem amateurhaft ausgeübten Mannschaftswettkampfsport.

125 Hierbei handelt es sich aber um einen originären Anspruch eigener Art (Stelljes, in: BeckOK/SozR, 52. Ed. 1. 3. 2018, SGB VII § 110 Rn. 6, 28). 126 Hierfür spricht auch, dass der Regressanspruch aus § 110 Abs. 1 SGB VII im Umfang durch den fiktiven Schadensersatzanspruch des Geschädigten begrenzt wird (Stelljes, ebd.) und damit letztlich doch an verübtes Unrecht anknüpft. 127 Vgl. BGHZE 145, 331, 336: „… bewusstes Miteinander im Arbeitsablauf … betriebliche Aktivitäten von Versicherten mehrerer Unternehmen, die bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinander greifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen, wobei es ausreicht, dass die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgt.“ 128 So auch BGHZE 145, 331, 335 (bestätigt in BGH NJW-RR 2001, 741), der ebenda betont, dass „der Gesetzgeber offensichtlich zugleich (bezweckt), den Kreis der Schadensfälle nicht ausufern zu lassen, in denen eine Haftungsbefreiung einsetzen soll, wenn das Zusammentreffen der Risikosphären mehrerer Betriebe zum Schadensfall führt.“ 129 BGH NJW 2004, 947, 948. 130 BGHZE 145, 331, 336. 131 Laustetter, NZS 2013, 108. 132 Laustetter, ebd.

Verletzungen beim Fußballsport – strafbare Körperverletzung?

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III. Aus Platzgründen kann hier eine Reihe von Einzelfragen nicht mehr angesprochen werden, die sämtlich die Reichweite der eingeschränkten Strafbarkeit im Kampfsport zum Gegenstand haben, namentlich die personelle und temporale Dimension dieses Privilegs.133 Gleiches gilt für die (fehlende!) Bindung der Zivilaber auch Strafgerichte an Tatsachenfeststellungen seitens eines Schiedsrichters:134 Das den Sportwettkampf prägende Konzept der Tatsachenentscheidung gewichtet die rasche Endgültigkeit der Entscheidung höher als deren Richtigkeitsgewähr,135 so dass ein schlichtes Übernehmen der einen Regelverstoß bejahenden oder verneinenden Schiedsrichterentscheidung für das (Straf-)Recht nicht in Betracht kommt.136 Auch muss die (straf-)rechtliche Verantwortlichkeit des Sportveranstalters137 hier ausgeblendet bleiben. Ich hoffe aber, dass mein Beitrag dennoch das Interesse von Reinhard Merkel findet, der in seinem „früheren Leben“ ein erfolgreicher Leistungssportler war.138

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Hierzu Dördelmann (Fn. 25), S. 283 ff. sowie 296 ff. Für das Strafrecht: OGer Bern SpuRt 2001, 85; Zivilrecht: BGHZE 63, 140, 148 (hoher Beweiswert – aber oft kein ausreichendes Gewicht infolge der Schwierigkeit zuverlässiger Beobachtung der schnell wechselnden Vorgänge); Dördelmann (Fn. 25), S. 276 ff.; Götz (Fn. 28), S. 266 ff.; Grunsky (Fn. 74), S. 30; Krähe (Fn. 25), S. 272 ff.; Lorz, in: Vieweg (Fn. 89), S. 315; Thaler (Fn. 93), S. 350 ff.; Vieweg, JuS 1983, 825, 830; Pardey, zfs 1995, 281; and. OLG Celle VersR 1994, 112; Wagner, in: MünchKom/BGB (Fn. 25), § 823 Rn. 694. 135 Vieweg, Röhricht-FS (Fn. 5), S. 1265. 136 Grundsätzlich zur gerichtlichen Überprüfung von Verbandsstrafen bereits H. P. Westermann, Die Verbandsstrafgewalt und das allgemeine Recht, 1972, S. 100 ff. 137 Hierzu zuletzt Winter, Das Recht der Sportveranstalterhaftung, 2016, sowie allgemein, aber insb. unter dem Aspekt der Legalisierungswirkung von Genehmigungen Weidemann, Pflicht zur Sicherheit, 2019; speziell zu Extrem-Bergläufen Schuld, Veranstalterhaftung im Laufsport, 2010, S. 152 ff.; dies., SpuRt 2011, 90 ff., sowie AG Garmisch-Partenkirchen JuS 2011, 844. 138 Der Jubilar wurde bei den Schwimmwettkämpfen der XIX. Olympischen Sommerspie len 1968 in Mexiko-Stadt Sechster über 400 m Lagen und gewann 1970 die Bronzemedaille über 400 m Lagen bei der VI. Sommer-Universiade in Turin. 134

Strafrechtliche Grenzen von Enhancements im Sport Von Martin Heger

I. Zum Thema Vor gut zehn Jahren – bei der Strafrechtslehrertagung in Hamburg – hat Reinhard Merkel – in der Diktion des im Titel dieses Beitrags anklingenden Sportbetriebs – sein „Heimspiel“ dazu genutzt, den Blick unserer Zunft in die Zukunft zu richten und dabei konkret auf die Frage zu lenken, wie das Strafrecht mit mentalen Enhancements verfahren soll.1 Diesen Schlüsselbegriff seines Vortrags definierte er wie folgt: „,Enhancement‘ nenne ich jedes wirksame oder möglicherweise wirksame Verfahren zur Herbeiführung eines veränderten physiologischen oder mentalen Zustands, der (1.) nicht als Resultat einer Heilbehandlung gelten kann, und (2.) in mindestens einer Hinsicht von dem Betroffenen selbst als Verbesserung beurteilt wird.“2 In seinem Vortrag plädierte er dafür, bestimmten Formen solcher „Verbesserungen“ der mentalen Fähigkeiten von Menschen (sog. Neuroenhancements) in Form neu zu schaffender Straftatbestände auch strafrechtlich gewisse Grenzen zu setzen.3 In wahrhaft lebhafter Erinnerung geblieben ist allen Zuhörern, dass der Jubilar seine Thesen mit bewegten Bildern aus der (Natur-)Wissenschaft anschaulich unterlegt hat; diese im Hamburger Auditorium eingespielten Filmsequenzen konnten kraft Natur der Sache nicht der obligaten Druckfassung seines Vortrags in der ZStW beigefügt werden. Sonst wäre die von Merkel in Hamburg angestoßene durchaus kontroverse Debatte über eine Kriminalisierung mentaler Enhancements mittels leistungsfördernder Eingriffe in das menschliche Gehirn4 auch in den folgenden Jahren vielleicht noch intensiver, jedenfalls aber bildhafter geführt worden. In seinen An-

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Merkel, ZStW 121 (2009), 919 ff. – Für die redaktionelle Überarbeitung meines Manuskripts schulde ich meiner wiss. Mitarbeiterin Veronika Widmann großen Dank. 2 Merkel, ZStW 121 (2009), 919, 929. 3 Merkel, ZStW 121 (2009), 919, 950 ff. – Dazu krit. Merget, Sportdoping und NeuroEnhancement bei Minderjährigen – eine strafrechtliche Bewertung, in: Spitzer/Franke (Hrsg.), Sport, Doping und Enhancement – Präventive Perspektiven, 2012, S. 75, 100 ff. – Allg. zu psychischen Schädigungen als Körperverletzungen Knauer, Der Schutz der Psyche im Strafrecht, 2013, S. 199 ff. und Steinberg, Strafe für das Versetzen in Todesangst, 2015. 4 Vgl. den Tagungsbericht von Eidam/Gaede, in: ZStW 121 (2009), 985 ff.

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wendungsbeispielen für mentale Enhancements ging es freilich nicht so sehr5 um den Sportbetrieb,6 sondern um eine Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit etwa mit Blick auf einen anstehenden Verhandlungsmarathon;7 wer durch Neuroenhancements seine mentale Leistungsfähigkeit gesteigert hat, behält auch bei einer Nachtsitzung noch einen klaren Kopf und kann angesichts seiner mentalen Fitness seinen vorzeitig ermatteten Gegenüber in letzter Sekunde vielleicht doch noch über den Tisch ziehen, ohne dass es dafür strafbarer Mittel wie einer Täuschung oder Erpressung bedürfte. Nach Ansicht des Jubilars seien solche Enhancements zwar de lege lata straflos, sollten jedoch de lege ferenda unter bestimmten Voraussetzungen mit einer Kriminalstrafe belegt werden.8 Die enge, ja unmittelbare Verbindung mentaler und physischer Enhancements – wie sie im Sport, der ersten professionellen Wirkungsstätte des Jubilars, der ja 1968 als Schwimmer an der Olympiade in Mexico City teilgenommen hat, vor allem in Form von Doping, aber auch durch missbräuchliche Nutzung nicht verbotener Schmerzmittel etc. augenfällig zutage treten – hat im gleichen Zeitraum eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe an der HU unter der Leitung des Sportphilosophen Elk Franke und des Sporthistorikers Giselher Spitzer im Rahmen des Projekts „Translating Doping“ dazu gebracht,9 die (straf-)rechtlichen Grenzen von Doping und Enhancements parallel zu behandeln.10 Auch wurde umgekehrt der Zugriff von Schülern etwa auf leistungssteigernde Pillen vor Prüfungen mit dem strafrechtlichen Umgang mit Doping im Sport verglichen.11 Dass solches „Schüler-Doping“ im Unterschied zum Doping im Sport nicht strafbewehrt war (und nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers auch nicht sein soll), führte vor einigen Jahren sogar bis zum Verdikt der Gleichheitsund deshalb Verfassungswidrigkeit der damals neu geschaffenen Strafbestimmung gegen den Besitz von Dopingmitteln (ausschließlich) im Sport in §§ 6a, 95 AMG.12 Dieser Vorhalt lässt sich allerdings nach der Überführung der Besitzstraftatbestän5

Einmal schon: s. Merkel, ZStW 121 (2009), 919, 923 f. Der zeitgleich von Eberbach, in: Wienke/Eberbach/Kramer/Jahnke (Hrsg.), Die Verbesserung des Menschen, 2009, S. 1 ff., vorgelegte Beitrag beginnt dagegen mit den „Verbesserungsmöglichkeiten“ im Spitzensport. 7 Vgl. Merkel, ZStW 121 (2009), 919, 921 f. 8 Merkel, ZStW 121 (2009), 919, 951; zust. etwa Putzke, in: AnwK-StGB, Einleitung vor §§ 223 ff. Rn. 9. 9 Die Untersuchungsergebnisse sind veröffentlicht worden 2010 – 2012 in fünf Bänden jeweils hrsg. von Spitzer/Franke jeweils unter dem Obertitel „Sport, Doping und Enhancement“; Bd. 1 (2010) untersucht die transdisziplinäre, Bd. 2 (2011) die sportwissenschaftliche und Bd. 3 (2012) die präventive Perspektive, während Bd. 5 (2012) Materialien für den Schulunterricht enthält, fasst Bd. 6 (2012) die Ergebnisse zusammen und gibt weiterführende Denkanstöße (als Ausnahme beinhaltet Bd. 4 einen Beitrag von Götze über Prohormone). 10 Exemplarisch Merget, a.a.O. (Fn. 3), S. 75 ff. 11 Bublitz, ZJS 2010, 306 ff. – Ein solches Szenario beschreibt auch Merkel, ZStW 121 (2009), 919, 921 f. 12 Grotz, ZJS 2008, 243, 255. 6

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de in das 2015 eingeführte Anti-Doping-Gesetz nicht mehr halten. Ausweislich dessen in § 1 AntiDopG in Gesetzesform gegossener Zweckbestimmung dient dieses Gesetz nämlich nur „der Bekämpfung des Einsatzes von Dopingmitteln und Dopingmethoden im Sport, um die Gesundheit der Sportlerinnen und Sportler zu schützen, die Fairness und Chancengleichheit bei Sportwettbewerben zu sichern und damit zur Integrität des Sports beizutragen“. Da das Dopen von Schülern vor Prüfungen – selbst bei Abiturprüfungen im Fach „Sport“ – beim besten Willen nicht als von dieser Zielsetzung umfasst angesehen werden kann, ist die Beschränkung der Straftatbestände des AntiDopG auf Doping im Sport unter Ausschluss vergleichbarer Praktiken in anderen Lebenslagen sicher nicht im Lichte des Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG als willkürlich zu brandmarken. Es mag umstritten sein, ob der Bundesgesetzgeber überhaupt eine Kompetenz zum Erlass eines allein auf den Bereich des Sports begrenzten (Straf-)Gesetzes13 geltend machen kann;14 allerdings folgt aus der Existenz des AntiDopG sicherlich keine Notwendigkeit, darin bzw. zumindest parallel auch Doping von Schülern etc. strafrechtlich zu erfassen. Auch würde – da die Regelungen des Schulwesens völlig unstreitig Ländersache sind – dem Bund hier die Kompetenz fehlen; zwar könnte er sich vielleicht auch insoweit auf die Regelungen zur Strafbarkeit konzentrieren (und damit die diesbezügliche Kompetenzregelung des Art. 73 GG zugrunde legen), doch wäre das Ergebnis wohl absurd: Der gedopt an einer Abiturprüfung teilnehmende Schüler könnte zwar von der Strafjustiz verfolgt werden, die Abiturprüfung wäre aber – zieht der Landesgesetzgeber in seinen Regelungen nicht mit dem Bund gleich – möglicherweise nicht von Rechts wegen zu beanstanden.

II. Eingriffe zur Steigerung der Leistungsfähigkeit im Sport als „Human-Enhancement“ Im Folgenden soll es nicht weiter um Doping außerhalb des Sports gehen. Vielmehr sollen die strafrechtlichen Grenzen von Doping und anderen leistungssteigernden Eingriffen – ob physisch oder psychisch – in den Sportbetrieb dargestellt werden. Die Grenzen zwischen dem von Merkel behandelten „Hirndoping“ und dem Sportdoping sind freilich fließend.15 Daher kann – ganz im Sinne des Titels dieses Beitrags 13

Der Charakter des Anti-Doping-Gesetzes vor allem als eines speziellen Strafgesetzes (vergleichbar dem Embryonenschutzgesetz) gibt m. E. aus Art. 74 Nr. 1 GG dem Bund auch die Kompetenz zur Mitregelung einzelner in der Diskussion umstrittener Normen außerhalb der unmittelbaren Strafnormen und der durch andere Kompetenztitel (z. B. Arzneimittelrecht) gestützten Bestimmungen (vgl. Heger, in: Pfister [Hrsg.], Das Anti-Doping-Gesetz, 2016, S. 25 ff., und in: medstra 2017, 205 ff.). 14 Dazu krit. Rössner, in: Lehner/Nolte/Putzke (Hrsg.), Anti-Doping-Gesetz, 2017, Vor §§ 1 ff. Rn. 21 und Nolte, a.a.O., § 1 Rn. 54 ff. 15 Magnus, ZStW 124 (2012), 907, 911, und Grünewald, LK-StGB, 12. Aufl. 2018, Vor § 223 Fn. 2798.

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– auch allgemein von Doping und anderen Eingriffen als einem „Human-Enhancement“ gesprochen werden.16 Die Leistungssteigerung soll sich dabei allein auf der Ebene des Sportlers durch Verbesserungen seiner physischen oder psychischen Verfassung zeigen. Ausgeklammert sind damit das Doping von Tieren17, sonstige Manipulationen am Sportgerät18 sowie Korruption, die den Sportbetrieb ebenso wie Doping in seinen Grundfesten zu erschüttern vermag und deshalb seit neuestem in §§ 265c ff. StGB unter Strafe gestellt ist.19 Neben dem vom Anti-Doping-Gesetz nunmehr umfänglich erfassten Doping des Sportlers sind hierzu unterhalb der sportverbandsrechtlichen Verbotsschwelle liegende Medikationen zur Leistungssteigerung20 (etwa durch Ausweitung des Trainingsspektrums unter Zuhilfenahme medizinisch nicht indizierter Schmerzmittel) sowie physische wie psychische medizinische Eingriffe mit Blick auf bestimmte Körperteile oder Funktionen zu nennen und zu untersuchen. In einem früheren Beitrag zu dieser Thematik habe ich als Beispiel hierfür die Amputation des gesunden Beins bei einem Sportler in Vorbereitung auf die Paralympics thematisiert, deren Ziel es war, mit zwei gleichen Prothesen schneller als nur mit einer und einem gesunden Bein laufen zu können.21 Denkbar sind natürlich auch operative „Umbaumaßnahmen“ an einem Körper ohne Bezug zum Behindertensport; als Beispiel mag man an die – freilich historisch nicht belegbare – griechische Legende denken, Amazonenkämpferinnen hätten sich eine Brust amputiert, um dadurch beim Bogenschießen besser hantieren zu können.22 In eine nicht unähnliche Richtung zielen Diskussionen Mitte der 1970er Jahre im Schwimmsport, also der dem Jubilar von Kindesbeinen an besonders vertrauten Materie. Mehr Auftrieb und damit eine bessere Lage im Wasser durch Luft im Darm erschien in westlichen Ländern als Wunderwaffe im Kampf gegen gedopte Athleten aus dem Ostblock;23 während bundesdeutsche Schwimmer bei der Olympiade in Montreal 1976 sich im Rahmen der „Aktion Luftklistier“ Luft ins Gesäß blasen lie16

So Lindner, MedR 2010, 463, 464. – Zu verfassungsrechtlichen Aspekten vgl. nur Ruf, Enhancements, 2014. Zu Neuro-Enhancement und Doping aus sportwissenschaftlicher Sicht Spitzer, AUFGANG 16 (2019), 67 ff. 17 Zum Reitsport Ackermann, Strafrechtliche Aspekte des Pferdeleistungssports, 2007; zum Doping von Brieftauben Schild, in: FS Kühl, 2014, S. 81 ff. 18 Dazu Schattmann, Betrug des Leistungssportlers im Wettkampf: Zur Einführung eines Straftatbestandes im sportlichen Wettbewerb, 2008. 19 Vgl. insbes. Bösing, Manipulationen im Sport und staatliche Sanktionsmöglichkeiten. Zur Notwendigkeit eines neuen Straftatbestandes gegen Bestechlichkeit und Bestechung im Sport, Diss. jur. Marburg 2014; Heger, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2018, § 265d Rn. 1. 20 Zum „Fitspritzen“ durch einen (Sport-)Arzt vgl. Lutz, Die strafrechtliche Verantwortung des Arztes bei der Betreuung von Spitzensportlern, 2014, und Heger, medstra 2015, 199 ff. 21 Heger, in: Michael Jahn u. a. (Hrsg.), Medizinrecht, 2015, S. 120, 123. 22 Vgl. nur Willmann, DIE ZEIT v. 2. 9. 2010 (online aktualisiert am 23. 5. 2017 – https:// www.zeit.de/2010/36/A-Amazonen). 23 Vgl. Schneider-Grohe, Doping im Hochleistungssport, 1979, S. 103 f.

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ßen,24 soll nach dem Bericht von Petry in Frankreich Schwimmerinnen dadurch zu mehr Auftrieb im Becken verholfen worden sein, dass sie schwanger in den Wettkampf gehen und – sollten sie das Kind nicht wollen – danach eine Abtreibung vornehmen.25 Eine derartig motivierte Schwangerschaft wird bis heute nicht vom AntiDoping-Reglement erfasst26 – und das sicher zu Recht. Denn anderenfalls würde man auch im schlichten Umstand des (jedenfalls bewussten) Vorliegens „anderer Umstände“ eine Manipulation der Chancengleichheit im Wettbewerb ausmachen müssen, welche in der Konsequenz Frauen nicht nur bereits in der Frühphase ihrer Schwangerschaft unabhängig von medizinischen Gründen zum Wettkampfausschluss zwänge, sondern letztlich wohl auch im Frauensport regelmäßig Schwangerschaftstests notwendig machen müsste. Dies erscheint zumindest überaus fragwürdig – nicht zuletzt angesichts der erst kürzlich kontrovers geführten Debatte über die Zulässigkeit von Geschlechtstests sowie – daran anknüpfend – die Verpflichtung zur medizinischen Senkung des Testosteronspiegels (dazu näher unten).

III. Die denkbaren Eingriffe Es lassen sich grundsätzlich drei Gruppen von Eingriffen unterscheiden, die zu einer möglicherweise strafwürdigen und strafbedürftigen Verbesserung27 der menschlichen Natur mit Blick auf zu erzielende sportliche Spitzenleistungen führen: Solche Meliorationen der conditio humana können verursacht werden - durch die Zufügung verbotener physisch und/oder psychisch wirkender Substanzen und schließlich (das „klassische“ Doping), - durch mechanische (insbesondere, aber nicht nur operative) Eingriffe, - durch mentale Einwirkungen, die nicht auf die körperliche Leistungsfähigkeit, sondern auf die Psyche einwirken (z. B. Psychopharmaka, Hypnose, aber auch wirkstofflose Placebos). Diesen drei Fallgruppen möchte ich mich im Folgenden nähern, wobei die Rechtslage und auch tatsächliche Unterschiede zu einer Differenzierung drängen. Da Do24 Bette/Schimank, Doping im Hochleistungssport, 1995, S. 164; Herrmann, SZ Online v. 28. 9. 2011 (https://www.sueddeutsche.de/sport/doping-im-westdeutschland-der-siebziger-jah re-frischluft-im-gesaess-1.1150500; zuletzt abgerufen am 20. 8. 2019). 25 Dazu Petry, Die Dopingsanktion, 2004, S. 252. 26 Strafbar wäre ein Abbruch im Lichte der Fristenlösung auch nur, wenn er nicht mehr binnen der ersten 12 Wochen der Schwangerschaft vorgenommen werden kann und danach auch kein Rechtfertigungsgrund eingreift – wie etwa die bei Gefahren für Leib und Leben der Mutter, in der Praxis aber auch eine heute häufig angenommene medizinisch-soziale Indikation angesichts der hohen psychischen Belastung bei einer drohenden Behinderung des Kindes; kritisch zu den dem geltenden Recht in §§ 218 ff. StGB zugrunde liegenden Prämissen Merkel, in: NK-StGB, 5. Aufl. 2017, Vor §§ 218 ff. Rn. 13 ff. 27 Dazu in Hinsicht auf die Legitimierbarkeit einer Strafbewehrung auch von eigenverantwortlichem Selbstdoping des Sportlers vgl. nur Heger, SpuRt 2007, 153 ff.

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ping als (zunächst) primär medikamentös durch den Missbrauch von Arzneimitteln jenseits der Behandlung von Krankheiten hervorgerufene Leistungssteigerung historisch wie auch aufgrund der hierzu schon seit längerem bestehenden Gesetzeslage und internationalen Vorgaben sicherlich bislang medial wie fachjuristisch die meiste Aufmerksamkeit erhascht hat, soll die Zufügung verbotener Substanzen als das bislang bestdiskutierte Beispiel an die Spitze der Fallgruppen gesetzt werden.28 1. Die Zufügung leistungsfördernder Substanzen Eine Leistungsförderung durch die Zufügung von Substanzen ist denkbar • einerseits durch Stoffe, die im Körper physikalisch derart wirken, dass - entweder die Körperkräfte wachsen bzw. das Kampfgewicht gesenkt oder - dem Erfolg entgegenstehende Wirkungen wie das den Trainingsumfang begrenzende Schmerzempfinden eingeschränkt werden, • andererseits indem einer Entfaltung der vollen Leistungsfähigkeit entgegenstehende Gefühle etc. unterdrückt werden. So kann in bestimmten Lagen die Aggression gesteigert, in anderen die vor oder während des Wettkampfs typischerweise bestehende Aufregung medikamentös unterdrückt werden. Nicht in diesem Sinne leistungsfördernd sind bloß maskierende Stoffe, deren einziger Zweck darin liegt zu verschleiern, dass jemand Dopingmittel eingenommen hat, oder wenigstens eine nach dem Wettkampf genommene Dopingprobe unbrauchbar zu machen. Sie selbst bewirken dagegen weder physisch noch psychisch eine Leistungssteigerung und sollen das auch gar nicht; ihre Einnahme ist damit für das Leistungspotenzial des Sportlers bestenfalls neutral. Bedenkt man freilich, dass regelmäßig auch solche Substanzen nicht frei von unerwünschten Nebenwirkungen sein werden, dürften sie – für sich betrachtet – häufig sogar eher schädlich als nützlich für den Sportler sein. Dass sie gleichwohl in die Dopingverbotslisten aufgenommen und darüber in § 4 AntiDopG inzwischen auch strafbewehrt sind, folgt einzig aus ihrer Funktion, anderenfalls das Dopingkontrollsystem aus den Angeln zu heben; es geht also nur um den Schutz der sportrechtlichen Verfahren als solchen (dies lässt sich mit der Strafbewehrung der Strafvereitelung vergleichen – eine Strafbarkeit des gedopten Sportlers gemäß § 258 StGB wegen deren Verschleierung durch maskierende Stoffe oder auch auf anderem Wege ist freilich wegen des Selbstbegünstigungsprivilegs des § 258 Abs. 5 StGB nicht strafbar29). Weil sie für sich keine Me28 Zum Verhältnis von Doping und Enhancement im Sport vgl. die Beiträge von Spitzer, in: ders./Franke (Hrsg.), Sport, Doping und Enhancement, Bd. 1, 2010, S. 135 ff. und 255 ff. sowie Bd. 2, 2011, S. 113 ff., sowie Pawlenka, in: Ückert/Mues/Joch (Hrsg.), Ethische Aspekte des Sports, 2015, S. 109 ff.; aus juristischer Perspektive Merget (Fn. 3), S. 75 ff. 29 Merkel, ZStW 121 (2009), 919, 944 f., verneint für den nicht unähnlichen Fall der Verunmöglichung einer wahrheitsgemäßen Zeugenaussage durch medikamentöse Manipulation des Erinnerungsvermögens ebenfalls eine Strafbarkeit wegen § 258 StGB, freilich unter dem

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liorationen der Körperleistung bewirken (sondern durch andere Mittel bewirkte Meliorationen allenfalls verdecken) können, sollen sie freilich im hiesigen Kontext ausgeklammert bleiben. Da es mir vorliegend um die rechtliche Bewertung bzw. Strafbewehrung der unmittelbaren Bewirkung einer Melioration der Körperfunktionen geht, werden auch die im Zuge des Anti-Doping-Kampfes vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten massiv ausgebauten Regelungen zum Erwerb und Besitz von Dopingsubstanzen hier nicht näher beleuchtet, obwohl sie bei Lichte besehen regelmäßig nur eine Vorstufe der Anwendung der fraglichen Substanzen zur Leistungssteigerung im Sport darstellen. a) Die Einnahme von Dopingsubstanzen Doping im Sport, insbesondere in Form der Einnahme bzw. Verabreichung von auf Dopinglisten vermerkten Substanzen durch bzw. an einen Sportler, ist bereits seit mehr als einem halben Jahrhundert – und mithin auch zu der Zeit, als unser Jubilar seinerseits olympischen Medaillen nachstrebte – sportrechtlich verboten (wobei der Kreis verbotener Dopingsubstanzen angesichts verbesserter Beweismöglichkeiten, aber auch fortlaufender technischer Neuentwicklungen immer weiter gezogen worden ist). In Deutschland wurde 1998 mit der Einfügung von Anti-Doping-Normen in das AMG (§§ 6a, 95 a.F.) und in Umsetzung einer Europaratskonvention von 1989 flankierend erstmals eine gesetzliche Regelung geschaffen, welche nicht bloß dem im Zivilrecht verorteten Verbandsstrafrecht ein öffentlich-rechtliches Doping-Verbot zur Seite stellte, sondern dieses zugleich strafrechtlich sanktionierte; ab diesem Zeitpunkt war es zumindest theoretisch möglich, dass ein Dopingverstoß neben einem Verbandsstrafverfahren auch ein Kriminalstrafverfahren initiierte. Freilich war damals nur derjenige, der einem anderen ein Dopingmittel verabreichte, mit staatlicher Strafe belegt, während das Verbandsstrafrecht typischerweise primär den Sportler selbst als Adressat der Sanktion ansah. Allerdings war (und ist) es natürlich auch möglich, verbandsrechtlich einen seinerseits dem Verbandsrecht unterliegenden Betreuer, Trainer, Funktionär etc. wegen seiner Mitwirkung am Doping eines Sportlers zu sanktionieren (z. B. zu sperren); in einem solchen Fall konnte das gleiche Verhalten zugleich auch Gegenstand eines auf § 95 AMG gestützten Strafverfahrens vor staatlichen Gerichten sein. Diese Situation hat sich 2015 grundlegend geändert, denn mit dem Anti-DopingGesetz ist neben den Betreuern des Sportlers auch dieser selbst zum Täter seines Dopings erkoren worden. Auch er kann damit sowohl in einem Verbands- als auch in einem Kriminalstrafverfahren als Täter auf der Anklagebank sitzen und mit der jeweils zulässigen Sanktion (Sperre, Kriminalstrafe) belegt werden. Die im Februar 2019 von der deutschen und österreichischen Polizei in einer konzertierten Aktion Gesichtspunkt, dieser Eingriff begründe mit Blick auf die Ermöglichung einer Strafverfolgung durch eine Aussage nur ein Unterlassen, wobei die Manipulation des eigenen Körpers keine Garantenstellung entstehen lasse.

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namens „Aderlass“ verhafteten Personen sind daher neben einem Sportarzt und dessen Helfer auch einige Skilangläufer selbst, die z. T. in flagranti mit der Spritze in der Armbeuge angetroffen wurden.30 b) Die Verabreichung von Dopingsubstanzen Die Verabreichung von Dopingmitteln durch medizinisches Personal, Trainer, Betreuer und andere Personen aus dem Umfeld des Sportlers, ja auch durch andere im selben Wettkampf aktive Sportler, war bereits seit Aufnahme des in § 95 AMG strafbewehrten Verbots von Doping im Sport in § 6a AMG im Jahre 1998 ausdrücklich unter Strafe gestellt.31 Soweit damit allerdings ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Sportlers verbunden war, galt bereits zuvor das in §§ 223 ff. StGB allgemein pönalisierte Verbot vorsätzlicher und fahrlässiger Körperverletzungen. Eine solche Strafbarkeit wurde vor allem angenommen, wenn der Sportler – wie vor allem in der DDR – ohne sein Wissen gedopt wurde oder wenn er zur Tatzeit minderjährig war; beides wurde in der DDR seit den 1970er Jahren vielfach kombiniert,32 wobei schwerste gesundheitliche Folgen bei den noch im Wachstumsalter befindlichen Athleten in Kauf genommen worden sind, wie die strafrechtliche Aufarbeitung einiger derartiger Fälle vor dem LG Berlin zutage förderte. Soweit – wie wohl nicht selten – der Sportler volljährig war und durchaus wusste, ja sogar wollte, dass ihm der „Doktor“ aus seinem „Schatzkästlein“ voller Medikamente „auf die Sprünge helfen“ möge, stellt sich bis heute die Frage, ob eine von diesem Athleten in vollem Bewusstsein erklärte Einwilligung den dopenden Arzt, Masseur, Betreuer etc. rechtfertigen kann oder ob § 228 StGB wegen Sittenwidrigkeit der Tat einer solchen Rechtfertigung entgegensteht.33 Grob gesagt lässt sich über die letzten drei Jahrzehnte insoweit eine argumentative Achterbahn nachzeichnen: Bestanden vor allem anfangs durchaus Bedenken gegen das Verdikt der Sittenwidrigkeit, weil in einer Leistungsgesellschaft jeder eben alles aus sich herausholen können muss (wenn er will), wurde nach Inkrafttreten von § 6a AMG darauf verwiesen, dass diese Moral durch die legislatorische Absage an Doping im Sport konterkariert sei.34 Nachdem der BGH dann 2003 in zwei Urteilen die Sittenwidrigkeit weitgehend 30 Dazu Heger, in AUFGANG 16 (2019), 99 ff. – Während der Niederschrift dieser Zeilen kam es zur Festnahme eines weiteren Arztes. 31 Dazu Heger, SpuRt 2001, 92 ff. 32 Dazu näher Ulmen, Pharmakologische Manipulationen (Doping) im Leistungssport der DDR, 2000; Spitzer, Doping in der DDR, 2018. 33 Merkel, ZStW 121 (2009), 919, 946 f., problematisiert § 228 StGB ebenfalls mit Blick auf wenig riskante Eingriffe, welche – wie etwa die Implementierung kognitiver und sensorischer Fähigkeit, die weit außerhalb der menschlichen Speziesgrenze liegen – in mentaler Hinsicht besonders gravierende Auswirkungen haben, verneint einen Einwilligungsausschluss aber deswegen, weil § 223 StGB nur die Körperintegrität schützt. 34 Ausf. Heger, SpuRt 2001, 92, 93 f. – Zur Rechtslage vor Einfügung eines Doping-Verbots ins AMG Kühl, in: Vieweg (Hrsg.), Doping, 1998, S. 84: „Das Ergebnis würde selbst von den schärfsten Kritikern und restriktivsten Anwendern der Sittenwidrigkeitsschranke gebilligt,

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von ihrer sittlichen Basis gelöst und primär auf die Schwere der Folgen der Verletzung abgestellt hat, wurden vielfach nur noch besonders schwer wiegende bzw. gefährliche Dopingmaßnahme unter § 228 StGB gefasst; in jüngerer Zeit und erst recht nach Inkrafttreten des AntiDopG ist nun wieder die Ansicht im Vordringen befindlich,35 dass für den Bereich von Doping im Sport der Gesetzgeber durch dessen Strafbewehrung in § 4 AntiDopG auch eine Wertung dahingehend getroffen hat, dass eine Einwilligung des Sportlers der Tat nicht ihre Sittenwidrigkeit nehmen kann.36 Dafür spricht auch die jüngste Judikatur des BGH, wonach die Verabredung von Hooligans zu einer Schlägerei angesichts der Strafbewehrung der Beteiligung daran durch § 231 StGB zur Bejahung der Sittenwidrigkeit von im Zuge der Schlägerei erfolgten Körperverletzungen im Sinne der §§ 223 ff. StGB führen soll.37 c) Die Mitwirkung im Wettkampf unter dem Einfluss von Dopingsubstanzen Vor allem um Auslandsdoping vor inländischen Wettkämpfen nicht zu begünstigen, hat der Gesetzgeber mit § 4 Absatz 1 Nr. 4 AntiDopG auch die bloße Teilnahme an einem Wettkampf in Deutschland im gedopten Zustand unter Strafe gestellt. Dabei spielt es grundsätzlich keine Rolle, wie, wann und wo die Dopingsubstanzen in den Körper des Athleten gelangt sind; insbesondere ist es irrelevant, ob das zugrunde liegende Verhalten am Tatort – der Einnahme, Verabreichung etc. – strafbar oder auch nur nach staatlichem Recht rechtswidrig ist. Allerdings knüpfen alle deutschen AntiDoping-Strafnormen an die weltweit sportrechtlich bindenden Doping-Verbote der internationalen Sportverbände an, die wiederum für alle nationalen Sportorganisationen bindend sind. Damit ist ohnehin ausgeschlossen, dass das – zumindest in dubio pro reo – im Ausland erfolgte Doping dort verbands- und damit sportrechtlich erlaubt war. Des Weiteren setzt § 4 Abs. 1 Nr. 5 AntiDopG aufgrund des Verweises auf § 3 Abs. 2 AntiDopG voraus, dass die Anwendung der Dopingsubstanz ohne medizinische Indikation und in der Absicht, sich im sportlichen Wettkampf einen Vorteil zu verschaffen, erfolgt ist. Ob der Sportler daneben von einem staatlichen und/oder sportrechtlichen Verbot der betreffenden Substanz Kenntnis hat oder ob er zur Zeit des Dopings davon ausgegangen ist, in Deutschland einen Wettkampf zu bestreiten, ist für die Strafbarkeit irrelevant.

wenn das Doping von der Rechtsordnung außerhalb des Strafrechts mit einer der Körperverletzung vergleichbaren Schutzrichtung zu strafwürdigem Unrecht erklärt würde“. Ebenso Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung im Strafrecht, 1997, S. 507 f. 35 Vor allem vertreten von Sternberg-Lieben, ZIS 2011, 583, 601 und in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 228 Rn. 30. 36 Näher dazu Heger, in: GedS Tröndle, 2019, 427 f. 37 BGHSt 60, 166.

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Wer mithin nichts von seinem Gedoptsein ahnt, kann allein durch die Wettkampfteilnahme in einem solchen Zustand auch nicht mit Kriminalstrafe belegt werden. Sportrechtliche Sanktionen sind freilich möglich; das gilt vor allem für die Disqualifikation in dem betreffenden Wettkampf selbst, aber auch – angesichts geringerer Verschuldensmaßstäbe in Verbandsstrafverfahren gegen gedopte Sportler38 – für Wettkampfsperren. Eine ganz andere, lange völlig unterbelichtet gebliebene Frage ist dagegen, ob derjenige, der sich durch Doping „Bärenkräfte“ geschaffen hat, andere Konkurrenten auf strafrechtlich relevante Weise schädigt: sei es, dass er sie diese Kräfte etwa als Boxer spüren lässt, gegen die sie – ohne Doping – möglicherweise machtlos sind und deshalb Treffer um Treffer einstecken müssen, sei es, dass er in einem Wettbewerb – etwa einer Bergetappe bei der Tour de France – die körperlich nicht ganz so gut ausgestatteten Konkurrenten zur völligen Überlastung bis hin zu einer Art Harakiri treibt. d) Exkurs: Testosteronsenkung im Frauensport Ein derzeit – wenn auch nicht primär im Kreis der Strafrechtler – „heißes Eisen“ ist die Frage, ob man für Wettkämpfe im Frauensport nur Frauen zulassen darf, die einen bestimmten Maximalpegel des Hormons Testosteron in ihrem Körper über einen bestimmten Zeitraum vor dem Wettkampf nicht überschritten haben. Frauen, die aufgrund angeborener körperlicher Besonderheiten einen höheren Testosteronspiegel haben, müssten diesen dann durch Medikamente für den genannten Zeitraum auf das von den Sportverbänden für noch zulässig gehaltene Maß drücken. Anderenfalls könnten sie lediglich noch an den Männerwettbewerben teilnehmen, hätten damit aber im Regelfall kaum eine Siegchance. Der Streit entzündet sich aktuell am Umgang mit der Leichtathletin Caster Semenya aus Südafrika, die 2009 in Berlin Weltmeisterin über 800 m geworden war und einen im Sinne der Sportverbände für den Frauensport überhöhten Testosteronspiegel aufweist. Das verbandsrechtlich letztinstanzlich zuständige internationale Sportschiedsgericht Court of Arbitration for Sport (CAS) in Lausanne hatte dem Leichtathletik-Weltverband IAAF Recht gegeben und damit die Sportlerin zur Senkung ihres Testosteronspiegels durch medikamentöse Eingriffe verpflichtet. Das zur Überprüfung dieses Schiedsspruchs zuständige Schweizer Bundesgericht hat in einer einstweiligen Anordnung die sofortige Wirkung des CAS-Urteils ausgeschlossen, so dass Semenya bis zur endgültigen Entscheidung in der Hauptsache auch ohne Nachweis einer Testosteronreduzierung an Frauenwettkämpfen teilnehmen durfte.39 In der Entscheidung in der Hauptsache ist das Bundesgericht dann freilich der Argumenta38

Zum verbandsrechtlichen Beweisrecht vgl. nur Merget, Beweisführung im Sportgerichtsverfahren am Beispiel des direkten und indirekten Dopingnachweises, 2015. 39 Zeit Online v. 3. 6. 2019 (https://www.zeit.de/news/2019 - 06/03/semenya-darf-vorlaeufigwieder-ueber-kuerzere-strecken-laufen-190603 - 99 - 495893; abgerufen am 22. 7. 2019).

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tion des IAAF gefolgt und hat das CAS-Urteil doch noch bestätigt.40 Man mag diesen Zick-Zack-Kurs des Bundesgerichts dahingehend verstehen, dass eine solche letztlich geschlechtsspezifische Sonderbehandlung von Sportlerinnen zumindest problematisch ist. Dafür sprechen auch gute Gründe: Zum einen bestünde ansonsten ein faktischer Zwang für bestimmte Sportlerinnen, medizinische Eingriffe in ihren Hormonhaushalt vorzunehmen. Denn aufgrund der regelmäßig bestehenden Leistungsunterschiede im Frauen- bzw. Männersport dürfte die Alternative der Mitwirkung einer Frau mit hohen Testosteronwerten im Männerbereich faktisch das Ende ihrer Spitzensportkarriere bedeuten. Der Zwang zur Korrektur des eigenen Körpers aber könnte die Menschenwürde tangieren.41 Zudem würden der Testosterontest und die Pflicht, eine medizinische Korrektur vorzunehmen, letztlich eine geschlechtsspezifische Sonderbehandlung allein von Sportlerinnen begründen. Letztlich würde der Zwang zur Medikation den Gedanken, der hinter dem Doping-Verbot steht, wonach die Wettkampfteilnahme nur mit einem möglichst unmanipulierten Körper erfolgen soll, gleichsam konterkarieren, müssten Caster Semenya und Co. doch vor der Wettkampfteilnahme medikamentöse Veränderungen ihres Körpers vornehmen. Dennoch bleibt ein generelles Problem: Denn Testosteron wirkt sich in vielen Sportarten leistungsfördernd aus, so dass eine Athletin mit einem für Frauen weit überhöhten Testosteronspiegel wahrscheinlich leistungsfähiger und damit erfolgreicher ist als ihre Konkurrentinnen mit einem geringeren Testosteronwert. Testosteron war über lange Zeit sogar das beliebteste Dopingmittel überhaupt, so dass man – bösartig zugespitzt – als Alternative für eine medizinische Reduktion des Testosteronspiegels bei einer Athletin auch schlicht im Interesse von Chancengleichheit ihren Konkurrentinnen ein Doping mit Testosteron – mindestens bis zum höchsten Wert der Konkurrentinnen – erlauben könnte.42 Dies aber widerspricht dem Sportverbandsrecht und wäre unter Geltung des deutschen AntiDopG auch strafbar, denn allein der Wunsch nach einem künstlich bewirkten Ausgleich körperlicher Vorteile einzelner Wettkämpfer kann das Doping der insoweit weniger gut ausgestatteten Sportler nicht rechtfertigen. Andererseits: Im Sport bringen manchmal körperliche Anomalien Vorteile, sei es die Körperlänge im Basketball43 oder – für den Jubilar vielleicht noch nachvollziehbarer – die „bratpfannengroßen Hände“ des Schwimmstars Michael Phelps.44 40

SZ online v. 30. 7. 2019 (https://www.sueddeutsche.de/sport/caster-semenya-testosteronleichtathletik-1.4547058; abgerufen am 9. 8. 2019). 41 So Schürmann, Die Würde ist unantastbar, FAZ Online v. 5. 6. 2019 (https://www.faz.net/ aktuell/sport/sportpolitik/leichtathletik-weltverband-ueber-den-fall-von-caster-semenya16215280-p4.html; abgerufen am 22. 7. 2019). 42 Ein männlicher Sportler konnte bei krankhaft niedrigem Testosteronspiegel für die Testosterongabe eine medizinische Ausnahmegenehmigung bekommen (vgl. Radalewski, in: Spitzer/Franke, Sport, Doping und Enhancement, Bd. 2, S. 151 f.). 43 Vgl. Lambertz, lto v. 2. 5. 2019 (https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/cas-urteil-cas ter-semenya-hormon-testosteron-grenzwert-regelung-rechtmaessig/; abgerufen am 9. 8. 2019). 44 Vgl. nur Boewe, Welt online v. 15. 8. 2008 (https://www.welt.de/sport/olympia/article 2305322/Das-Gold-Geheimnis-des-Michael-Phelps.html; abgerufen am 9. 8. 2019).

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2. Mechanische Eingriffe Unter mechanischen Eingriffen sind „Umbaumaßnahmen“ am Körper des Athleten selbst gemeint, sei es durch die Wegnahme von Körpersubstanz oder durch die Hinzufügung von Prothesen oder Implantaten. Da es um Verbesserungen des menschlichen Körpers mit Blick auf die mit selbigem betriebene Sportart geht, sind einerseits alle Eingriffe, die bloß der besseren Vermarktbarkeit dienen (z. B. Zahnersatz für ein lückenloses Lächeln beim Einsatz eines Sportlers als Werbeträger), ebenso wenig Teil der Betrachtung wie andererseits alle Manipulationen am Sportgerät.45 Ein mechanischer Eingriff im hier interessierenden Sinne läge dagegen etwa in der Amputation oder operativen Verkleinerung einer gesunden Brust, um beim Bogenschießen eine bessere Position zu erlangen. Operative Verkleinerungen der weiblichen Brust können medizinisch indiziert sein – etwa wenn die Brustgröße zu Rückenproblemen führt –, genauso denkbar ist es aber auch, dass es sich um bloße Schönheitsoperationen handelt,46 wenn und soweit eine kleinere Brust aus ästhetischen Gründen angestrebt wird. In beiden Fällen ist eine Operation – natürlich nur bei Vorliegen einer wirksamen Einwilligung – rechtmäßig; das Gleiche müsste im Sportbereich selbst dann gelten, wenn eine Verkleinerung nur einer Brust vorgenommen und diese ggf. nach Ende der Sportkarriere durch eine Wiedervergrößerung rückgängig gemacht werden kann und soll, denn mit einer solchen Veränderung der Brustgröße sind weder die in § 226 Abs. 1 StGB genannten Folgen typischerweise verbunden, was für eine Sittenwidrigkeit der Einwilligung nach oben genannter Rechtsprechung wohl entscheidend wäre, noch handelt es sich um eine als Doping verbotene Methode. Mechanische Eingriffe in die Körperintegrität können, müssen aber nicht dauerhaft sein. So handelt es sich sowohl bei der Amputation gesunder Gliedmaßen im Interesse höherer Leistungsfähigkeit im Behindertensport als auch bei der – der Natur der Sache gemäß notwendig zeitlich begrenzten – Schwangerschaft zur Verbesserung der Schwimmfähigkeit um solche Eingriffe, obwohl nur ersterer eine dauerhafte Veränderung des Körpers darstellt, während die Schwangerschaft – auch wenn es nicht zu dem oben erwähnten Abbruch kommt – in jedem Fall spätestens mit der Geburt des Kindes ein Ende finden muss. Der wohl simpelste Versuch einer – je nach Sportart unterschiedlich einsetzbaren – mechanischen Einwirkung auf die Körpersubstanz ist die Ernährung. In vielen Sportarten wirkt sich ein geringes Gewicht positiv aus; die Folge sind dann Essstörungen, wie sie etwa von Skispringern berichtet worden sind. In Kraftsportarten und 45 Dazu Schattmann, Betrug des Leistungssportlers im Wettkampf: Zur Einführung eines Straftatbestandes im sportlichen Wettbewerb, 2008. 46 Dazu ausf. Wagner, Die Schönheitsoperation im Strafrecht, 2015 und schon dies. (unter dem Geburtsnamen Joost), in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. 2010, S. 383 ff.

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wenn ohnehin bereits die schwerste Gewichtsklasse erreicht ist, kann dagegen auch ein Zufüttern zur Erhöhung der Standfestigkeit oder von Nehmerqualitäten und damit zum Erfolg beitragen. Manchmal wird solchen Tendenzen durch Mindestgewichte oder – wenn wie beim Bobfahren die Kilos die Beschleunigung erhöhen – durch Ausgleichsgewichte entgegengewirkt. Kommt es insoweit zu Manipulationen und darauf aufbauend zu einer finanziellen Bereicherung des zu leichten oder zu schweren Athleten, ist das zwar nicht nach dem AntiDopG strafbar, kann aber eine Strafbarkeit wegen Betrugs i. S. von § 263 StGB begründen. Eine mechanische Melioration eines Athletenkörpers stellt es auch dar, wenn von Geburt oder später krankheits- bzw. unfallbedingt geschädigte Gliedmaßen durch Prothesen ersetzt werden. Dass damit am Behindertensport teilgenommen werden kann, ist völlig unstreitig. Eine andere, immer wieder gestellte Frage ist, ob ein Sportler mit einer Prothese in diesem Zustand an einem Wettbewerb, der eigentlich für Sportler ohne eine solche technische Hilfe ausgeschrieben ist, teilnehmen kann. Beispiele hierfür gibt es aus jüngerer Zeit. So nahm der beidseitig beinamputierte Südafrikaner Oskar Pistorius nach einem juristischen Tauziehen bei der Olympiade in London 2012 schließlich an der 4 x 400 m-Staffel der nichtbehinderten Sportler teil. Davor wurde allerdings gegen einen Start eingewandt, dass in bestimmten Laufphasen – nämlich den Geraden – die Prothesen Vorteile bringen könnten; der CAS ließ gleichwohl seinen Start zu, weil in den Kurven auch Nachteile bestehen würden. Hätte es sich um einen 100 m-Sprinter gehandelt, wäre schon dieser Präzedenzfall vielleicht anders beurteilt worden. Mit solchen Zweifeln hinsichtlich der exakten Vergleichbarkeit der Kraftentfaltung bzw. der Beschleunigungswirkung begründete dann schließlich der Deutsche Leichtathletikverband (DLV), dass er 2014 den hinsichtlich seiner Sprungweiten qualifizierten Weitspringer Markus Rehm nicht für die Leichtathletik-EM der nichtbehinderten Sportler nominierte. Dieses Resultat mag man im Lichte der heute generell angestrebten Inklusion in Frage stellen; allein für den Sportbetrieb ist die Chancengleichheit in einem engen Sinne maßgeblich, so dass wohl allenfalls, wenn künstliche Veränderungen des Körperbaus bzw. der Gliedmaßen letztlich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – und sei es wie bei Pistorius nach einer Saldierung von Vor- und Nachteilen – nicht zu einer Verbesserung der Position des betreffenden Sportlers führen können, ein Sportler mit einer Prothese an einem Wettkampf außerhalb des paralympischen Bereichs zugelassen werden kann. Strafrechtlich relevant ist der Einsatz von Prothesen auch dann nicht, wenn er mutmaßlich zu einer Verschlechterung der Chancen der Konkurrenten führt; ein Betrug wäre nämlich nur bei einem täuschenden, d. h. auf Verdeckung gerichteten, Vorgehen überhaupt denkbar, wie es hier gerade nicht in Rede steht. Und dass behinderte Sportler häufig verkrüppelte Beinglieder etc. operativ entfernen lassen, um einen besseren Ansatzpunkt für die Prothese zu haben, ist angesichts der angestrebten Verbesserung z. B. der Gehfähigkeiten medizinisch indiziert, so dass die dahin gehende Einwilligung selbst bei Kindern durch ihre Eltern trotz des Verlusts eines Gliedes des Körpers i. S. von § 226 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht an der Schranke von § 228 StGB scheitert (selbst wenn der verkrüppelte Unterschenkel o. Ä. vor sei-

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ner Amputation etwa noch stark eingeschränkte Funktionen ermöglichen konnte, so dass die Wichtigkeit dieses Gliedes47 nicht per se wegen völliger Nutzlosigkeit in Frage gestellt werden konnte). Welche auch ethisch durchaus fragwürdige Argumentation vor allem bei dauerhaften mechanischen Meliorationen denkbar ist, zeigt schließlich ein Fall aus Großbritannien, der vor fünf Jahren auch in Deutschland durch die Presse geisterte:48 Ein damals 15-jähriges Mädchen, dem aus medizinischen Gründen ein verkrüppeltes Bein amputiert worden war, hatte mit einer Prothese und dem gesunden anderen Bein große Erfolge in paralympischen Laufwettbewerben erzielt. Schließlich führte aber die ungleiche Belastung dazu , dass das gesunde Bein bei fortgesetztem Sportbetrieb überlastet wurde und dadurch Entzündungen entstanden; diese hätten durch einen Verzicht auf den Leistungssport ausgeheilt werden können, doch das wollte das Mädchen nicht. Vielmehr strebte es eine Amputation auch des gesunden Beines an, denn nach beidseitiger Amputation wäre eine Ungleichbelastung ausgeschlossen gewesen, so dass der Leistungssport – nunmehr gestützt auf zwei Prothesen – fortgesetzt hätte werden können.49 Seit vielen Jahren gibt es eine auch (straf-)rechtliche Debatte über den Umgang mit Personen, die – losgelöst von sportlicher Motivation und ohne sonstigen körperlichen Anlass – allein aus psychischen Gründen die Amputation eines Körperteils wünschen. Soweit solche Patienten volljährig und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind, steht einer Einwilligung grundsätzlich nichts entgegen. Problematisch ist aber, dass diese Einwilligung nach deutschem Strafrecht den Eingriff dann nicht rechtfertigen kann, wenn die Tat – die Körperverletzung durch die Amputation – gegen die guten Sitten verstößt (§ 228 StGB). Maßstab hierfür ist in der Rechtsprechung des BGH seit 200350 vor allem die mit der Tathandlung verbundene Folge, d. h. hier der Verlust eines Körperteils. Erreicht diese das Stadium einer schweren Körperverletzung im Sinne von § 226 StGB, was bei der Amputation von Gliedmaßen der Fall ist, ist die Einwilligung eigentlich unwirksam. Das kann freilich nicht in jedem Fall gelten, schon weil es Konstellationen gibt, in denen ohne eine Amputation eines Körpergliedes für den übrigen Körper erhebliche Gefahren bis hin zu einer Lebensgefahr drohen. In einem solchen Fall kann die Einwilligung in eine medizinisch in47

Dazu nur Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2018, § 226 Rn. 3. Die Ausführungen folgen weitgehend meinem Beitrag in: Michael Jahn et al. (Hrsg.), Medizinrecht, 2015, S. 120, 149 ff. 49 Vgl. DER SPIEGEL v. 6. 10. 2014: „Schülerin plant Amputation: ,Wenn mein Bein ab ist, kann ich schneller rennen‘“ (http://www.spiegel.de/schulspiegel/leben/paralympics-teilnah me-schuelerin-will-bein-amputieren-lassen-a-995571.html; zuletzt abgerufen am 19. 7. 2019). 50 BGHSt 49, 166. Das Urteil ist von den meisten Stimmen in der Lit. begrüßt worden (z. B. Gropp, ZJS 2012, 602 ff.), während andere – und m. E. auch nicht ohne Grund – durchaus kritisch angemerkt haben, dass damit der BGH der Sache nach das in § 228 StGB vom Gesetzgeber explizit vorgegebene Sittenwidrigkeitsurteil über die Tat der Sache nach preisgegeben hat (so namentlich Kühl, FS Schroeder, 2006, S. 521 ff.; dagegen begrüßt etwa Gropp gerade diese Abkehr von der Sittenwidrigkeitsbewertung). 48

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dizierte Amputation natürlich nicht mit Blick auf eine Sittenwidrigkeit des „kleineren Übels“ (etwa des Verlusts eines Beines statt des Lebens) verunmöglicht werden. Ausreichend ist auch schon, wenn die Amputation eines verkrüppelten Gliedes erfolgt, um – wie bei dem Mädchen bei seiner ersten Amputation – dadurch den Einsatz einer Prothese zu erleichtern. Vor diesem Hintergrund wird man dagegen wohl die Sittenwidrigkeit der Tat trotz Einwilligung bei bloß psychisch motivierten Amputationen in der Regel bejahen müssen. Eine Ausnahme kommt in Betracht, wenn dahinter ein manifestes psychiatrisches oder psycho-somatisches Krankheitsbild steckt. Ein bloß ästhetisch motiviertes Verstümmelungsverlangen könnte daher m. E. keinen deutschen Operateur rechtfertigen. In einem Fall wie dem des Mädchens aus Großbritannien wäre nach Eintritt der Volljährigkeit mithin eine rechtmäßige Amputation nach deutschem Recht möglich, sofern sie zur Heilung eines Krankheitsbildes erforderlich wäre. Das kann man hier nicht per se verneinen, denn angesichts des Trainings- und Sportbetriebs ist ja eben das vormals gesunde Bein regelmäßig entzündet. Dessen Entzündung wäre durch Amputation denklogisch zu beheben. Allerdings würde eben auch die Aufgabe des Leistungssports zum gleichen Ergebnis – Abklingen der Entzündungen im grundsätzlich gesunden Bein – führen. Kann man diese mögliche, aber von der Sportlerin nicht gewollte Alternative in Rechnung stellen und ihr damit eine Amputation verweigern? Ich meine nein: Denn die grundlegende Freiheit zu tun und zu lassen, was einem beliebt, sowie die Möglichkeit, durch die Ausübung eines Profisports Ruhm und Geld zu verdienen, dürfen nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass man dem Sportler eine mögliche ärztliche Behandlung verweigert, obwohl diese – und sei es wegen des Sports – medizinisch indiziert ist. Die Rechtslage wird freilich komplizierter, solange die Sportlerin noch minderjährig ist. Natürlich können bei Kindern die Eltern in körperliche Heileingriffe einwilligen; das erfasst auch die Amputation von kranken oder verkrüppelten Gliedmaßen, wenn diese medizinisch angezeigt scheint. Auch wäre es in einem solchen Fall wohl an den Eltern, für ihr Kind zu entscheiden. Anders als die Geschäftsfähigkeit im Zivilrecht richtet sich die für eine Einwilligung in einen ärztlichen Eingriff erforderliche Einsichtsfähigkeit zwar nicht nach den starren Vorschriften der Volljährigkeit, so dass es darauf ankommen müsste, ob das Kind angesichts seiner individuellen Reife bereits die Konsequenzen des gewünschten Eingriffs (unter Einschluss der Spätfolgen) einschätzen und nach dieser Einsicht entscheiden kann. Das wird man aber bei einem derart gravierenden, offensichtlichen und irreversiblen Eingriff im Regelfall wohl erst kurz vor der Volljährigkeit annehmen können. Damit stellt sich vorliegend die Frage, ob die Eltern – sollten sie den Wunsch ihres Kindes teilen – aus deutscher Sicht wirksam in den Eingriff einwilligen könnten. Über die Möglichkeit von Eltern, über irreversible, medizinisch nicht indizierte Eingriffe bei ihren Kindern zu entscheiden, ist vor allem mit Blick auf die Knabenbeschneidung, aber auch das Ohrlochstechen diskutiert worden. Für die Knabenbeschneidung hat der Gesetzgeber durch Einfügung von § 1631d BGB im Zivilrecht eine auch für das

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Strafrecht verbindliche Regelung getroffen,51 die sich allerdings angesichts des konkreten und relativ engen Anwendungsbereichs nicht auf andere Fälle übertragen lässt. Bei Minderjährigendoping wird hingegen angenommen, eine Einwilligung der Eltern sei angesichts eines Verstoßes gegen das Kindeswohl unbeachtlich;52 allerdings ist Doping im Sport ohne eine medizinische Indikation auch in § 6a AMG per se verboten. Aber von solchen Fällen unterscheidet sich der vorliegende wiederum dadurch, dass es eben doch einen medizinischen Grund für die Amputation gibt, der allerdings durch eine Änderung des Lebenswandels – sprich: einen Verzicht auf den Leistungssport – aus der Welt geschaffen werden könnte. Sicher ist, dass die Eltern nicht eine solche Amputation fordern könnten, wenn das Kind selbst lieber den Sport aufgeben würde (das folgt schon daraus, dass es ja um den unbedingten Wunsch zur Fortsetzung der Sportkarriere geht); umgekehrt könnte man aber einwenden, dass es sich bloß um eine zeitliche Verschiebung der Entscheidung bis zur Volljährigkeit (oder eben Einsichtsfähigkeit) handeln würde. Danach könnte das Kind selbst abwägen, ob es lieber seinen Sport auf Wettkampfniveau betreiben oder zur Erhaltung des gesunden Beins „kürzer treten“ möchte. Nun ist es aber ein Spezifikum sportlicher Ausbildung, dass ein zeitweiliger Verzicht insoweit Spätfolgen hat, als der Trainingsrückstand normalerweise nicht wieder gut gemacht werden kann. Müsste das Kind zwischenzeitlich den Sport aufgeben, wäre es ihm nach Erreichen der Volljährigkeit kaum möglich, wieder Anschluss zu gewinnen. Abgesehen davon wären die zwischenzeitlich realistisch erreichbaren Sportwettkämpfe wie die nächsten Paralympics im rechtlichen Sinne „unmöglich“, weil ihrer Natur nach nicht wiederholbar. Insofern sind die Eltern in einem echten Dilemma; die Sportkarriere jetzt und in Zukunft kollidiert mit der Körperintegrität bis zum späten Alter. In einem solchen Fall würde ich den Eltern, folgten sie dem klaren und längerfristig untermauerten Wunsch ihres Kindes, nicht absprechen wollen, dass sie in die nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführte Amputation einwilligen können. Erforderlich ist allerdings angesichts der optischen und funktionalen Offensichtlichkeit und Irreversibilität des Eingriffs, dass dieser nicht ad hoc vorgenommen wird; und zwar auch dann, wenn sich das Problem erst kurz vor einem wichtigen Wettkampf stellen sollte. Notwendig ist daher sicher eine Art Karenzzeit. 3. Mentale Eingriffe Besonders nahe an das im Mittelpunkt des Beitrags des Jubilars stehende Neuroenhacement heran reichen bloß mentale Eingriffe bei (Spitzen-)Sportlern. Da – so zumindest ein Gemeinplatz, welchen der Jubilar als ehemaliger Olympionike freilich 51 Dazu krit. Merkel, SZ online v. 30. 8. 2012 (https://www.sueddeutsche.de/wissen/be schneidungs-debatte-die-haut-eines-anderen-1.1454055; abgerufen am 9. 8. 2019). 52 Fiedler, Das Doping minderjähriger Sportler, 2014, S. 81 ff.

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selbst überprüfen kann (was dem Autor dieses Beitrags in Ermangelung dieser besonderen persönlichen Eigenschaft nicht möglich ist) – über den Erfolg im Spitzensport auch im Kopf entschieden wird, erscheinen mentale Eingriffe nicht weniger erfolgsversprechend als durch Doping gesteigerte Körperkräfte (nicht umsonst wird gerade bei erfolgreichen Sportlern immer wieder darauf verwiesen, es seien nicht nur „Kraftpakete“, sondern eben auch wahre „Mentalitätsmonster“). Merkel unterscheidet mit Blick auf Neuroenhancement drei mentale Ziele bzw. Zustände: „(1.) Enhancement kognitiver Fähigkeiten, v. a. Erinnerungsvermögen, Konzentrationsfähigkeit, ,exekutive‘ Funktionen; (2.) Enhancement emotionaler Zustände : Stimmungen, Charakterzüge (z. B. Empathiefähigkeit), soziale Neigungen, etc.; (3.) Enhancement motivationaler Zustände, einschließlich der Möglichkeit eines ,moralischen Enhancements‘– etwa durch neuro-pharmakologische Dämpfung aggressiver Antriebe.“53

Je nach Sportart und Situation mögen derartige Neuroenhancements auch für einen Spitzensportler erfolgsversprechend sein, kann es doch in bestimmten Sportarten besonders auf Konzentrationsfähigkeit und Ruhe, in anderen vielleicht mehr auf Aggressivität ankommen. In Ansehung möglicher Techniken unterscheidet Merkel hier weiter genetische, pharmakologische, elektro-magnetische, chirurgische und opto-genetische Eingriffe.54 Schon vor zehn Jahren konnte er dafür jeweils eingängige, wenngleich doch noch schwer vorstellbare Beispiele benennen. Inzwischen sind wir – auch wenn ich als Nichtnaturwissenschaftler hierzu nichts Valides vorzutragen vermag und mich deshalb auch auf eine normative Betrachtungsweise beschränken möchte – sicher noch weiter gekommen. Einige pharmakologische Eingriffe sind im Sport schon länger als Doping verboten (z. B. Methylphenidate [Handelsname „Ritalin“]).55 Die von Merkel genannten Eingriffe könnten – soweit nicht schon geschehen – von den Sportverbänden als Mittel (z. B. bei pharmakologischen Eingriffen) oder Methoden verboten werden. In der Logik des AntiDopG, welches ja den Einsatz der verbandsrechtlich verbotenen Mittel und Methoden seinerseits kriminalisiert, wären bzw. sind diese Formen eines sportzentrierten Neuroenhancements dann ohne weitere Änderung des Strafrechts pönalisiert.

IV. Fazit Das AntiDopG verbietet heute bereits eine Vielzahl von Enhancements mit Blick auf den (wie die aktuellen Fälle zeigen: nicht nur, aber auch Spitzen-)Sport. Da dieses 53

Merkel, ZStW 121 (2009), 919, 932. Merkel, ZStW 121 (2009), 919, 932 f. 55 Vgl. Spitzer, in: ders./Franke (Hrsg.), Sport, Doping und Enhancement, Bd. 2, S. 139, 142 f. 54

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erste Sportstrafgesetz seiner Struktur nach darauf ausgerichtet ist, die durch die Sportverbände als Dopingmittel und -methoden klassifizierten und damit sportrechtlich verbotenen Eingriffe in die Leistungsfähigkeit der Athleten durch eine Strafbewehrung auch staatlicherseits zu kriminalisieren, lässt es sich unschwer an aktuelle oder erst in der Zukunft sich abzeichnende Dopingszenarien anpassen. Das gilt auch für mentale Eingriffe zum Zweck besserer Leistungen oder größerer Erfolge im Sportbetrieb. Dass damit auch das Neuroenhancement im Sport punktuell bereits pönalisiert ist, während solches für die vom Jubilar vor rund zehn Jahren skizzierten Fälle mentaler Enhancements außerhalb des Sports trotz der entsprechenden Vorschläge noch nicht der Fall ist, ist auch im Lichte der Verfassung nicht zu beanstanden. Da die körperliche Leistungsfähigkeit wie auch deren – mental beeinflussbare – Abrufbarkeit unter Wettkampfbedingungen elementar ist, ist es nicht willkürlich und damit verfassungswidrig, wenn der Gesetzgeber bestimmte Formen körperlicher und/oder mentaler Enhancements allein für den (m. E. freilich: Spitzen-)Sport mit Strafe bewehrt; das gilt zumindest dann, wenn die entsprechenden Eingriffe auch einen Bezug zum sportlichen Wettkampf haben und die Kriminalisierung mithin zur Chancengleichheit innerhalb eines entsprechenden Wettbewerbs beitragen soll. Dass das AntiDopG zuletzt zur Grundlage für Razzien in Fitnessstudios gemacht wurde, ist zwar vom Gesetzeswortlaut gedeckt, überschreitet m. E. aber eigentlich den Sinn eines (Spitzen-)Sportstrafrechts jedenfalls dann, wenn auch Bodybuilder zu Dopingsündern werden,56 die gar nicht im Hinblick auf einen sportlichen Wettkampf trainieren. Körperliche Höchstleistungen allein als Teil optischer oder ideeller Selbstoptimierung des Athleten ohne denkbaren Bezug zu potenziellen Konkurrenten mag man als Ausdruck von deren Autonomie straffrei lassen. Solche Enhancements sollten daher in Zukunft auch im Sportbereich wieder straflos möglich bleiben.

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Bott/Kohlhof, Das Doping-Strafrecht erreicht Deutschlands Fitnessstudios, lto v. 18. 7. 2019 (https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/razzia-anti-doping-gesetz-freizeitsport-fitness studios-strafmass-anwaelte/; abgerufen am 22. 7. 2019). Dazu krit. auch Fischer, Spiegel Online v. 1. 8. 2019 (https://www.spiegel.de/panorama/justiz/doping-profis-menschen-regeln-ko lumne-a-1279818.html; abgerufen am 9. 8. 2019).

VI. Strafverfahrensrecht

Frankfurter Strafprozessunordnung Der Kaufhausbrandstifterprozess von 1968 als epochemachender Schauplatz politischer Inszenierung Von Matthias Jahn und Sascha Ziemann

I. Ein Stück strafjuristischer Zeitgeschichte Die Hoffnung, mit einem Beitrag an der Grenze zwischen juristischer Zeitgeschichte und gesellschaftlicher Protestforschung zu der Festschrift für Reinhard Merkel nicht falsch zu liegen, trügt uns hoffentlich nicht, zeigt doch der Destinär seit langem ein hellwaches Interesse für gesellschaftliche Konfliktlagen und die dahinter stehenden, meist unausgesprochenen kommunikativen Agenden der beteiligten gesellschaftlichen Akteure. Im Mittelpunkt soll ein Gerichtsurteil stehen, das nicht nur in Frankfurt Gegenstand kollektiver Erinnerung an die bewegten Zeiten von „68“ ist, sondern auch ein Stück bundesrepublikanischer Geschichte geschrieben hat, da es in seiner direkten Folge zur Entstehung der linksterroristischen Rote-Armee-Fraktion (RAF) kam. Die Berliner Befreiungsaktion vom 14. Mai 1970, dann schon unter Beteiligung der Journalistin Ulrike Meinhof, wurde aufgrund des hier analysierten Frankfurter Urteils erforderlich, das Andreas Baader zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt hatte. Sie jährt sich also in diesen Tagen zum fünfzigsten Male.

II. Von imaginierten und tatsächlichen Brandstiftungen – Der Frankfurter Kaufhausbrandstifterprozess und das Jahr 1968 In der Nacht vom 2. auf den 3. April 1968 brach in zwei Kaufhäusern auf der Einkaufsmeile Zeil in der Frankfurter Innenstadt Feuer aus. Die Brände konnten schnell gelöscht werden. Sie verursachten, vor allem durch das Löschwasser und die Sprinkler-Anlagen bedingt, allerdings hohen Sachschaden. Verletzt wurde niemand, obwohl sich des Nachts sowohl im Kaufhof als auch im Kaufhaus M. Schneider Menschen (Nachtwächter, Handwerker) befanden. Die Ursache war zunächst unklar, aber die fast gleichzeitige Entstehung der Brände legte Brandstiftung nahe. Schon zwei Tage später konnten aufgrund konkreter Hinweise aus der

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Bevölkerung vier junge Leute unter dringendem Tatverdacht festgenommen werden: der 24-jährige Journalist Andreas Baader, die 27-jährige Germanistikstudentin Gudrun Ensslin, der 26-jährige Student Thorwald Proll und der 25-jährige Schauspieler Horst Söhnlein.1 In ihrem Besitz wurden Teile von Weckern, Klebeband und Zettel gefunden, auf denen Chemikalien für Explosionskörper verzeichnet waren. Da man den sich zunächst schweigend verteidigenden Beschuldigten enge Beziehungen zu extremistischen studentischen Gruppen der Außerparlamentarischen Opposition (APO) zuschrieb, wurde die Tat von Anfang an in einen politischen Kontext gestellt. Dafür sprach auch, dass zwei Wochen zuvor in Berlin ein Verfahren gegen die Erzkommunarden Fritz Teufel und Rainer Langhans zu Ende gegangen war, in dem der Tatvorwurf gewesen war, in Flugblättern zu einer Brandstiftung an Warenhäusern aufgefordert zu haben. Die inkriminierten Flugblätter hatten trotz „aller menschlichen Tragik“ mit „Bewunderung“ auf die Brandkatastrophe in einem Brüsseler Kaufhaus mit 300 Toten reagiert und bedauert, „jenes knisternde Vietnamgefühl (dabei zu sein und mitzubrennen)“ in Berlin bislang „noch missen“ zu müssen.2 Die Kommunarden waren freigesprochen worden, nachdem das Gericht, unterstützt durch Gutachten von Literaturwissenschaftlern und Schriftstellern, den Äußerungen der Angeklagten eine „satirische Note“ zuerkannt hatte.3 Nun also hatten tatsächlich Kaufhäuser gebrannt. Der Prozess gegen die mutmaßlichen Brandstifter, der am 14. Oktober 1968 vor der 4. Großen Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main begann, nahm – für spätere Maßstäbe eher überraschend – nur sieben Verhandlungstage in Anspruch.4 Die Anklage lautete auf voll1 Über die Hauptangeklagten Andreas Baader (1943 – 1977) und Gudrun Ensslin (1940 – 1977) siehe Karin Wieland, Andreas Baader, in: Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 1, 2006, S. 332 – 349; Susanne Bressan/Martin Jander, Gudrun Ensslin, in: Kraushaar (Hrsg.), a.a.O., S. 398 – 429. 2 Flugblatt Nr. 7 „Warum brennst du, Konsument?“ v. 24. Mai 1967, in: Rainer Langhans/ Fritz Teufel, Klau mich, 1977 (zuerst 1968), o. S.; als Faksimile abrufbar über https://www. 1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0085_kom&l=de (zuletzt abgerufen, wie alle nachfolgenden URLs, am 1. September 2019); s.a. Flugblatt Nr. 8 „Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?“ v. 24. Mai 1967. 3 Zum Berliner Prozess gegen Teufel und Langhans siehe Alexander Sedlmaier, Konsum und Gewalt. Radikaler Protest in der Bundesrepublik, 2018, S. 64 ff.; Sandra Kraft, Vom Hörsaal auf die Anklagebank: Die 68er und das Establishment in Deutschland und den USA, 2010, S. 340 ff. 4 LG Frankfurt am Main v. 31. Oktober 1968 – 4 KLs 1/68. Die Strafprozessakte befindet sich im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden (abgekürzt HStA, Abt. 461/34679 ff.), wo wir sie einsehen konnten. Der Urteilstext selbst ist auch abgedruckt bei Reinhard Rauball, Die Baader-Meinhof-Gruppe, 1973, S. 167 – 210. Die ausführlichste Darstellung des Frankfurter Kaufhausbrandstifterprozesses findet sich bei Kraft, Vom Hörsaal auf die Anklagebank (Fn. 3), S. 357 ff.; für weitere Darstellungen und Würdigungen siehe Sara Hakemi/Thomas Hecken, Die Warenhausbrandstifter, in: Kraushaar (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus (Fn. 1), S. 316 – 331; Sara Hakemi, Anschlag und Spektakel. Flugblätter der Kommune I, Erklärungen von Ensslin/Baader und der frühen RAF, 2008, S. 103 ff.; Sedlmaier, Konsum

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endete schwere („menschengefährdende“) Brandstiftung gemäß § 306 Nr. 3 StGB a. F., die mit bis zu 15 Jahren Zuchthaus bestraft werden konnte. Die Vorschrift des Besonderen Teils entsprach in der Beschreibung des Tatobjekts, abgesehen von kleineren sprachlichen Änderungen, grundsätzlich dem heutigen § 306a Abs. 1 Nr. 3 StGB; sie lautete: „Wegen Brandstiftung wird mit Zuchthaus bestraft, wer vorsätzlich in Brand setzt […] eine Räumlichkeit, welche zeitweise zum Aufenthalt von Menschen dient, und zwar zu einer Zeit, während welcher Menschen in derselben sich aufzuhalten pflegen“.

Die Verteidigung hatten die in der APO-Szene bekannten Berliner Rechtsanwälte Otto Schily5 (Ensslin), Horst Mahler6 (Baader) und Klaus Eschen (Proll und Söhnlein)7 übernommen. Der zunächst angefragte Frankfurter Anwalt Christian Raabe, ein bekannter APO-Verteidiger, hatte das Mandat aus persönlichen Gründen abgelehnt. Den Angeklagten wurden, wie üblich, zur Verfahrenssicherung zudem ortsansässige Pflichtverteidigerinnen und Pflichtverteidiger beigeordnet. Der Frankfurter Prozess endete schon am 31. Oktober 1968 mit der Verurteilung der Angeklagten wegen (nur) versuchter menschengefährdender Brandstiftung zu drei Jahren Zuchthaus. Das Gericht hielt es für erwiesen, dass die Angeklagten im Kaufhaus M. Schneider Brandsätze gelegt hatten, um ein „Fanal“ gegen den Vietnam-Krieg zu setzen. Diese Motivlage konnte sich in der Beweiswürdigung u. a. auf eine geständige Einlassung von Gudrun Ensslin stützen.8 Dabei hätten sie, so die Kammer, die Gefährdung von Menschen in Kauf genommen. Der damaligen – und für die Tathandlung des Inbrandsetzens auch noch heutigen – Dogmatik des § 306 Nr. 3 StGB a. F. entsprechend, ging das Gericht nur von einer Versuchsstrafund Gewalt (Fn. 3), 2018, S. 73 ff.; aus Sicht eines Beteiligten siehe zudem retrospektiv Thorwald Proll/Daniel Dubbe, „Wir kamen vom anderen Stern“. Über 1968, Andreas Baader und ein Kaufhaus, 2003, S. 7 ff. 5 Otto Schily (geb. 1932) hatte kurz zuvor die Nebenklage im Berliner Kurras-Verfahren vertreten. In Frankfurt wurde er unterstützt durch den Berliner Strafrechtslehrer Ernst Heinitz (1902 – 1998), Vertrauensdozent der Studienstiftung des deutschen Volkes von Gudrun Ensslin. 6 Horst Mahler (geb. 1936); zu ihm siehe Martin Jander, Horst Mahler, in: Kraushaar (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus (Fn. 1), S. 372 – 397. 7 § 146 S. 1 StPO a. F. sollte seine restriktive Fassung erst zum 1. Januar 1975 erhalten und erlaubte damals noch die gemeinschaftliche Verteidigung, sofern dies ihrer Aufgabe nicht widerstritt (vgl. LR/Jahn, 27. Aufl. [im Erscheinen], § 146 StPO Rn. 4 ff.). Klaus Eschen (geb. 1939) wurde unterstützt durch seinen Referendar Ulrich K. Preuß. Eschen gründete 1969 zusammen mit Horst Mahler und den beiden ehemaligen Referendaren Preuß und HansChristian Ströbele das Sozialistische Anwaltskollektiv Westberlin (zum Selbstverständnis s. die „Thesen“ in KJ 1971, 414 – 417). In dessen Aktenbestand, der im Hamburger Institut für Sozialforschung (HIfS) bewahrt wird und uns zugänglich war, befindet sich auch die Verteidigungsakte Horst Mahlers aus dem Frankfurter Kaufhausbrandstifterprozess. 8 Ensslin: „Ich kann helfen, die Sache aufzuklären. Wir haben es getan aus Protest gegen die bewußte Gleichgültigkeit der Bevölkerung gegenüber dem Krieg in Vietnam.“, vgl. LG Frankfurt am Main, Protokoll der Hauptverhandlung v. 21. Oktober 1968 (3. Prozesstag), HStA (Fn. 4), Nr. 34679, S. 4.

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barkeit aus, denn die Tat war und ist nur vollendet, wenn ein nach der Verkehrsanschauung wesentlicher Gebäudebestandteil so vom Feuer erfasst ist, dass er auch ohne Zündstoff selbstständig weiterbrennt.9 So konnten die großflächigen Einwirkungen durch das Löschwasser und das Anspringen der Sprinkler-Anlagen noch nicht als Taterfolg der schweren Brandstiftung schon im Tatbestand Berücksichtigung finden. Neben dem Geständnis von Ensslin (und Baader) konnte sich die Strafkammer in der Beweiswürdigung auch auf Zeugenaussagen von Kaufhausangestellten stützen, die Baader und Ensslin am Tag des Brandes im Kaufhaus M. Schneider gesehen hatten und bei der Gegenüberstellung wiedererkannten, zudem auf Utensilien zum Bau von Brandsätzen, die im Besitz der Angeklagten sichergestellt worden waren. Den bis zum Schluss der Beweisaufnahme schweigenden Mitangeklagten Proll und Söhnlein, die nicht am Tatort gesehen worden waren, wurde die Tat qua Mittäterschaft nach § 47 StGB a. F. zugerechnet, da sie nach Ansicht des Gerichts in enger persönlicher und ideeller Gemeinschaft mit Ensslin und Baader gehandelt hatten. Der Brand im Kaufhof konnte allen Angeklagten trotz einiger belastender Indizien indes nicht mit der nötigen Gewissheit nachgewiesen werden. Eine längere Zuchthausstrafe hielt das Gericht trotz der Strafrahmenverschiebung beim Versuch (§ 44 StGB a. F.) dennoch für angezeigt, dies vor allem aus generalpräventiven Gründen. Im Duktus der Zeit hieß es, „[e]ine längere Freiheitsstrafe ist erforderlich, um die Angeklagten von weiteren Straftaten abzuschrecken und die Öffentlichkeit vor den Angeklagten zu sichern. Nicht zuletzt aber muß als Strafzweck generalpräventiv im Auge behalten werden, daß die Stärkung des Rechtsbewußtseins des weitaus überwiegenden rechtstreuen Teils der Bevölkerung, insbesondere in ihrem Vertrauen auf die Wahrung des Rechts und der Verfolgung des Unrechts heute mehr denn je geboten ist.“10

Der Prozess wurde von einer großen Medienöffentlichkeit begleitet. Zu den Pressevertretern, die sich eingehender mit der Sache befassten, gehörte unter anderem die damalige konkret-Journalistin Ulrike Meinhof.11 Sie schwankte in ihrem Artikel 9

BGHSt 7, 37 (38); Pfeiffer/Maul/Schulte, StGB, 1969, § 306 StGB Rn. 4; für das geltende Recht ebenso Fischer, StGB, 66. Aufl., 2019, § 306 StGB Rn. 14. Die weitere Variante des durch die Brandlegung teilweise zerstörten Gebäudes sollte erst drei Jahrzehnte später durch das 6. Strafrechtsreformgesetz in § 306a Abs. 1 StGB eingefügt werden, vgl. MüKo/ Radtke, 3. Aufl. 2019, § 306 StGB Rn. 1. 10 LG Frankfurt am Main v. 31. Oktober 1968, in: Rauball (Fn. 4), S. 209 – IV. 11 Ulrike Meinhof, Warenhausbrandstiftung, in: konkret Nr. 14/1968 v. 4. November 1968, wiederabgedruckt in: Ulrike Marie Meinhof, Die Würde des Menschen ist antastbar. Aufsätze und Polemiken, 1980, S. 153 – 156. Meinhof hatte zur Vorbereitung des Artikels auch ein Interview mit der inhaftierten Ensslin geführt, aber später von einer Veröffentlichung abgesehen, um die Interviewte nicht zu belasten (vgl. Stefan Aust, Der Baader-Meinhof-Komplex, 2008, S. 112). Über Ulrike Meinhof (1934 – 1976) siehe Jürgen Seifert, Ulrike Meinhof, in: Kraushaar (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus (Fn. 1), S. 350 – 371; des Weiteren Uwe Nettelbeck, Der Frankfurter Brandstifter-Prozeß. Viermal drei Jahre Zuchthaus für eine sinnvolle Demonstration, in: Die Zeit 45/1968 v. 8. November 1968 (wiederabgedruckt in:

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„Warenhausbrandstiftung“ zwischen Sympathie und Ablehnung. Einerseits erkannte Meinhof in der „Kriminalität der Tat“ und „im Gesetzesbruch“ ein „progressive[s] Moment“.12 Andererseits stelle sich aber die Frage, wie dies in „Aufklärung“ umgesetzt werden könne.13 Dies sei, so Meinhof, insbesondere deshalb schwierig, weil die Brandstiftung, die dem „Angriff auf die kapitalistische Konsumwelt“ dienen soll, gerade deren Logik der „systematischen Vernichtung gesellschaftlichen Reichtums durch Mode, Verpackung, Werbung, eingebauten Verschleiß“ folge.14 Den Schaden zahle ohnehin die Versicherung.15 Die Brandstiftung in einem Kaufhaus sei damit „keine antikapitalistische Aktion“, sondern – im Gegenteil – „eher systemerhaltend, konterrevolutionär“.16 Sie könne nicht zur Nachahmung empfohlen werden.17 In ähnlicher Weise äußerte sich der Zeit-Journalist Uwe Nettelbeck, demzufolge sich „das Entzünden eines Feuers in einem Kaufhaus als Mittel der politischen Auseinandersetzung“ schon deshalb nicht empfehle, „weil es sich dabei um eine strafbare Handlung handelt, die in jedem Falle den Menschen gefährdet, der sie begeht“.18 Darüber hinaus erhob Nettelbeck gegenüber dem Anklagevertreter den Vorwurf, das Verfahren zu instrumentalisieren, ja sogar, seinerseits ein geistiger Brandstifter zu sein: „Überdies erwies sich der Erste Staatsanwalt Walter Griebel als rechter Feuerteufel. Wo es wahrscheinlich nur gequalmt hat, schlugen ihm die Flammen hoch, und wo schon gelöscht war, hörte es für ihn noch lange nicht auf, wesentlich zu brennen.“19 Für Nettelbeck war diese politische Funktionalisierung von Strafrechtsdog-

ders., Gerichtsberichte 1967 – 1969, 2015, S. 143 – 150); Gerhard Mauz, „Mit voller Geisteskraft in ernster Sache“, in: Der Spiegel Nr. 43/1968 v. 21. Oktober 1968, S. 74 – 77; wiederabgedruckt in: ders., Die großen Prozesse der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Gisela Friedrichsen, 2005, S. 72 – 76; Rudolf Walter Leonhard, Rebellen als Brandstifter, in: Die Zeit 45/1968 v. 8. November 1968. 12 Meinhof, Warenhausbrandstiftung (Fn. 11), S. 154. 13 Meinhof, Warenhausbrandstiftung (Fn. 11), S. 155. 14 Meinhof, Warenhausbrandstiftung (Fn. 11), S. 154. 15 Meinhof, Warenhausbrandstiftung (Fn. 11), S. 153. 16 Meinhof, Warenhausbrandstiftung (Fn. 11), S. 154. 17 Meinhof, Warenhausbrandstiftung (Fn. 11), S. 156; im letzten Satz relativierte sie allerdings ihre Distanzierung wieder: „Es bleibt aber auch, was Fritz Teufel auf der Delegiertenkonferenz des SDS [in Abwandlung des berühmten Brecht-Zitats – die Verf.] gesagt hat: ,Es ist immer noch besser, ein Warenhaus anzuzünden, als ein Warenhaus zu betreiben.‘ Fritz Teufel kann manchmal wirklich sehr gut formulieren.“ Über die Legitimität der Aktion herrschte auch in der APO Uneinigkeit. Während der Bundesvorstand des SDS sich von den „unbegründbare(n) Terroraktionen“ öffentlich distanzierte (Der Spiegel Nr. 15/1968, S. 34), zeigte die Berliner Kommune I Verständnis und war überzeugt, dass auch eine mögliche Verurteilung das „Mittel der politischen Brandstiftung“ nicht für die „Zukunft“ disqualifiziere (a.a.O.). 18 Uwe Nettelbeck, Der Frankfurter Brandstifter-Prozeß (Fn. 11), S. 150. Es sei verraten, dass dieser Text, überreicht als Referentenbuchpräsent auf einem Strafverteidigertag, den entscheidenden Anstoß für diesen Festschriftenbeitrag gestiftet hat. 19 Nettelbeck, Der Frankfurter Brandstifter-Prozeß (Fn. 11), S. 146. Zur dogmatischen Frage der Versuchs- bzw. Vollendungsstrafbarkeit schon oben vor und in Fn. 9.

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matik durch die Staatsgewalt nicht überraschend, da jeder, der die „herrschende Ordnung“ störe, damit rechnen müsse, „daß sie zuschlägt, wenn sie kann.“20

III. Frankfurter Strafprozessunordnung – eine Urszene politischer Inszenierung im Strafverfahren Zur genaueren Analyse des politischen Charakters des Frankfurter Kaufhausbrandstifterprozesses soll auf kommunikationstheoretische Ansätze zurückgegriffen werden. Sie befassen sich im Besonderen mit symbolisch-performativen Kommunikationspraktiken, wie sie vor allem in der studentischen Protestbewegung der 1960er Jahre bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Staat und dessen Institutionen zur Anwendung kamen.21 Diese Praktiken zeichneten sich insbesondere durch die Verknüpfung von Kommunikation und Handeln aus. Sie sollten als „symbolische Politik“ (Thomas Meyer) „von unten“ das enthüllen, was „von oben“ verschleiert werde.22 Das Strafverfahren war ein guter Ort für derartige Kämpfe. Es war, noch weit mehr als heute, stark geprägt von symbolischer Interaktion und ritualisiertem Verhalten.23 Vieles von dem, was alltägliche Praxis bei der Justiz war, konnte als Ausdruck staatlicher Macht und der herrschenden, nicht nur durch die jüngere deutsche Vergangenheit kontaminierten Ordnung gelten.24 Die Rollenerwartungen, die insbesondere an den Angeklagten im Strafverfahren gestellt wurden, fasste einmal der Zeit-Jour-

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Nettelbeck, Der Frankfurter Brandstifter-Prozeß (Fn. 11), S. 149. Hierzu insbesondere, am Beispiel des maßstabsetzenden Berliner Teufel/LanghansProzesses, Joachim Scharloth, 1968: Eine Kommunikationsgeschichte, 2011, S. 142 ff.; ders., Ritualkritik und Rituale des Protests. Die Entdeckung des Performativen in der Studentenbewegung der 1960er Jahre, in: Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hrsg.), 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, 2007, S. 75 – 87; siehe zudem Alexander Holmig, Die aktionistischen Wurzeln der Studentenbewegung. Subversive Aktion, Kommune I und die Neudefinition des Politischen, in: Klimke/Scharloth (Hrsg.), a.a.O., S. 107 – 118. Aus Sicht der Rechtswissenschaft zum berühmten Teufel-Zitat („Wenn es der Wahrheitsfindung dient“) siehe Hinrich Rüping, Der Schutz der Gerichtsverhandlung – „Ungebühr“ oder „betriebliche Ordnungsgewalt“, in: ZZP 88 (1975), 212 (225 in Fn. 55); HansDieter Schwind, „Ungebührliches“ Verhalten vor Gericht und Ordnungsstrafe, in: JR 1973, 133 (137) und Egon Schneider, Ungebühr vor Gericht, in: MDR 1975, 622. 22 Thomas Meyer, Die Inszenierung des Scheins: Voraussetzungen und Folgen symbolischer Politik. Essay-Montage, 1992, S. 64. 23 Zum Inszenierungscharakter des Strafverfahrens siehe Manfred Stehmeyer, Symbole und Rituale in der Hauptverhandlung im Strafverfahren. Eine Untersuchung zur Diskussion über die Bedeutung einer zeremoniell gestalteten Gerichtsverhandlung, 1990, S. 96; Aldo Legnaro/ Astrid Aengenheister, Die Aufführung von Strafrecht. Kleine Ethnographie gerichtlichen Verhandelns, 1999; Jahn, „Konfliktverteidigung“ und Inquisitionsmaxime, 1998, S. 92 f.; die Theatralizität des Gerichtsverfahrens betont auch Cornelia Vismann, Medien der Rechtsprechung, hrsg. von Alexandra Kemmerer, 2011, insbes. S. 19 ff.: „theatrales Dispositiv“. 24 Vgl. Scharloth, Ritualkritik und Rituale des Protests (Fn. 21), S. 78. 21

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nalist Werner Dolph aus Anlass des Berliner Teufel/Langhans-Prozesses wie folgt (ironisch) zusammen: „Folgendes muß von einem loyalen Angeklagten erwartet werden: Daß er aufsteht, wenn Juristen vor Gericht mit ihm reden; daß er antwortet, wenn er gefragt wird; daß er beantwortet, was er gefragt wird; daß er nur redet, wenn er gefragt wird; daß er nicht unverschämt wird. Daß er nicht Meinungen vertritt, die seine Richter nicht vertreten; […], daß er dem Gericht mit Ehrfurcht begegnet; daß er dem Staatsanwalt mit Ehrfurcht begegnet; daß er den Saalwachtmeistern mit Ehrfurcht begegnet. Daß er […] nicht fragt, was in den Vorschriften steht, die gegen ihn angewandt werden; daß er erkennt, nicht er habe seine Richter, sondern diese hätten ihn zu beurteilen […].“25

Vergleichbare Rollenerwartungen gab es gegenüber den Verteidigern (es handelte sich, soweit ersichtlich, fast durchweg um Männer; bis zum Aufstieg der Verteidigerinnen in das Hellfeld der Öffentlichkeit sollte es noch Jahrzehnte dauern). Ihnen wurde zwar zugestanden, die Rechte des Angeklagten zu vertreten. Die strikte Lesart des Begriffs vom „Organ der Rechtspflege“ (§ 1 BRAO) ging aber noch von einer unbedingten Verpflichtung des Strafverteidigers auf die staatlichen Verfahrensziele Wahrheit und Gerechtigkeit aus; schon die Verteidigung des „schuldigen“ Angeklagten hielt man zum Teil für problematisch.26 Anwälte hatten sich deshalb nach damaliger Vorstellung stets kooperativ gegenüber dem Gericht zu verhalten und die prozessualen Förmlichkeiten und habituellen Umgangsformen ausnahmslos zu befolgen. So stand es auch noch Jahre später im Lehrbuch: „Ein Prozeß ist nur dann ordnungsmäßig durchzuführen, wenn der Verteidiger auf das Gericht und das Gericht auf den Verteidiger Rücksicht nimmt“.27 1. Die Strategie des begrenzten Regelverstoßes im Spiegel zeitbedingter Verhaltenserwartungen an Angeklagte und ihre Verteidiger Diese Rollenerwartungen und -zuweisungen wurden, wie noch im Einzelnen zu sehen sein wird, im Frankfurter Prozess sowohl durch die Angeklagten als auch die Verteidiger in vielerlei Hinsicht enttäuscht und konterkariert. Neben den von der Strafprozessordnung vorgesehenen Mitteln bediente sich die Verteidigung insbesondere der Mittel des begrenzten Regelverstoßes, um sich gegen die staatliche Ordnung symbolisch zur Wehr zu setzen. Diese Protestform hatte man aus der US-amerikani25 Werner Dolph, Die Verfolgung und Ermordung der Strafjustiz durch die Herren Teufel und Langhans. Erster Teil, in: Die Zeit v. 29. März 1968, S. 11. 26 Zum damaligen Stand der Prozessrechtsdogmatik der Verteidigung LR/Jahn (Fn. 7), Vor § 137 StPO Rn. 67 ff., 88. 27 Karl Peters, Strafprozeß. 4. Aufl., 1985, § 29 IV (S. 221). Gleichsinnig Josef Römer, Kooperatives Verhalten der Rechtspflegeorgane im Strafverfahren?, in: R. Hamm/Matzke (Hrsg.), FS Schmidt-Leichner, 1977, S. 133 (138); Gerhard Löchner, Politische Verteidigung in Verfahren gegen terroristische Gewalttäter, in: Eyrich u. a. (Hrsg.), FS Rebmann, 1989, S. 303 (318); zahlr. weitere Nachw. bei Jahn, „Konfliktverteidigung“ (Fn. 23), S. 19.

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schen Bürgerrechtsbewegung adaptiert.28 Zum Repertoire begrenzter Regelverstöße der Angeklagten im Frankfurter Kaufhausbrandstifterprozess gehörten (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): - das unangepasste Erscheinungsbild der Angeklagten (Baader mit Sonnenbrille, Proll mit Mao-Bibel), - das demonstrative Sitzenbleiben aller Angeklagten bei Eintritt des Gerichts und bei Zeugenvereidigungen entgegen Nr. 124 Abs. 2 S. 2 RiStBV (Proll: „Ich bin kein Stehaufmännchen“29), - die Irreführung des Gerichts durch die Angeklagten Baader und Proll, die am ersten Hauptverhandlungstag das Gericht über ihre Identität täuschten (Proll: „Das kommt doch auf dasselbe heraus, wer hier wer ist“30), - die Infragestellung/Nichtanerkennung der Autorität des Gerichts durch die Angeklagten (Proll: „Ich will nicht aussagen. Ich betrachte die Justiz für eine Justiz der herrschenden Klasse“31), - das demonstrative Desinteresse der Angeklagten an der Hauptverhandlung (die – filmisch dokumentiert – Zigarren rauchen [Proll und Baader], sich unterhalten oder lesen, Bonbons verteilen oder Zärtlichkeiten austauschen [Baader und Ensslin]), - die Verweigerung einer psychologischen Untersuchung durch einzelne Angeklagte mit dem Hinweis, dass sich auch das Gericht einer solchen Untersuchung verweigere, - die zweckwidrige Nutzung des Fragerechts (etwa durch die Frage Prolls an eine Zeugin: „Wie geht es Ihnen?“ am 3. Hauptverhandlungstag),32 - der provozierende Aufruf des Angeklagten Proll im letzten Wort (§ 258 Abs. 3 StPO) am 6. Hauptverhandlungstag, das Gerichtsgebäude in Brand zu stecken und der Justiz den „revolutionären Prozeß“ zu machen,33 - diverse Rangeleien einzelner Angeklagter mit den Wachtmeistern aus Anlass der Tumulte zum Prozessauftakt (Söhnlein) und bei der Urteilsverkündung (Baader und Söhnlein) und 28

Siehe Scharloth, 1968: Eine Kommunikationsgeschichte (Fn. 21), S. 71 ff.; ähnlich Kraft, Vom Hörsaal auf die Anklagebank (Fn. 3): „Mittel des Regelbruchs“ (S. 369) und „Bereitschaft zur offenen Rebellion“ (S. 375). 29 Frankfurter Rundschau v. 22. Oktober 1968. 30 Frankfurter Rundschau v. 15. Oktober 1968; dazu ausf. unten IV. 31 LG Frankfurt am Main, Protokoll der Hauptverhandlung v. 14. Oktober 1968 (1. Prozesstag), HStA (Fn. 4), Nr. 34679, S. 7. 32 Frankfurter Neue Presse v. 23. Oktober 1968. 33 Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll, Horst Söhnlein, Vor einer solchen Justiz verteidigen wir uns nicht. Schlußwort im Kaufhausbrandprozeß, Frankfurt am Main und Berlin 1968; wiederabgedruckt in Proll/Dubbe (Fn. 4), S. 105 – 116.

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- der demonstrative Verzicht einzelner Angeklagter auf das letzte Wort (Ensslin: „Ich will keine Gelegenheit geben, so zu tun, als hörten sie mir zu“34). Auch Teile der Verteidigung bedienten sich des Mittels des begrenzten Regelverstoßes. Dazu gehörte insbesondere - das verweigerte Anlegen der Robe durch die Rechtsanwälte Mahler und Eschen (entgegen dem damaligen anwaltlichen Standesrecht)35 und - das vereinzelte demonstrative Sitzenbleiben durch Mahler und Eschen bei der Zeugenvereidigung (entgegen Nr. 124 Abs. 2 S. 2 RiStBV).36

2. Kontext und Entwicklung der Verfahrensstrategien: Von der „Moabiter Seifenoper“ zum Verfahrenskrieg in Stuttgart-Stammheim Das Frankfurter Verfahren ähnelte damit in vielerlei Hinsicht der ironischen AntiInszenierung im Berliner Prozess gegen die Kommunarden Fritz Teufel und Rainer Langhans, das als „Moabiter Seifenoper“ in das kollektive Gedächtnis der 68er-Bewegung einging.37 An die Pointiertheit und Medienwirksamkeit der dadaistischen Wortgefechte der beiden „Politclowns“ vor und mit der Berliner Justiz, reichte der Frankfurter Prozess allerdings nicht heran. Erinnert sei nur nochmals an Teufels Diktum „Wenn‘s der Wahrheitsfindung dient“38, das als geflügeltes Wort in die deutsche Alltagssprache eingegangen ist. Auf der anderen Seite fehlte dem Kaufhausbrandstifterprozess noch die Bedingungslosigkeit des agonalen Kampfes um die Deutungshoheit über die Tat. Sie sollte erst für spätere Großverfahren kennzeichnend werden.39 Für den dramatischen Wechsel der Tonart steht die Prozesserklärung von Ulrike Meinhof im Stammheimer Verfahren vom 30. Juli 1975, wonach es das Ziel von Anklagebehörde und Gericht in Gestalt des Vorsitzenden gewesen sei, „die Gefangenen zu vernichten, die Verteidi-

34 LG Frankfurt am Main, Protokoll der Hauptverhandlung v. 31. Oktober 1968 (7. Prozesstag), HStA (Fn. 4), Nr. 34679, S. 6. 35 Hierzu Kraft, Vom Hörsaal auf die Anklagebank (Fn. 3), S. 375 f. Im Einzelnen unten V. 36 Auch dazu unten V. 37 Scharloth, Ritualkritik und Rituale des Protests (Fn. 21), S. 78. Zu diesem Verfahren siehe dens., 1968: Eine Kommunikationsgeschichte (Fn. 21), S. 142 ff.; Kraft, Vom Hörsaal auf die Anklagebank (Fn. 3), S. 340 ff. 38 Oben vor und in Fn. 21. 39 Zum Folgenden bereits, mit zahlr. weiteren Nachw., Jahn, „Konfliktverteidigung“ (Fn. 23), S. 101 f. Siehe zum Verfahren umfassend Florian Jeßberger/Inga Schuchmann, Der Stammheim-Prozess, in: Kurt Groenewold/Alexander Ignor/Arnd Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/baader-andre as-und-ulrike-meinhof-gudrun-ensslin-holger-meins-jan-carl-raspe/.

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gung zu zerschlagen und diesen Prozeß als Schauprozeß durchzuführen“40. Das war zehn Monate bevor Justizbeamte die Angeklagte mit einem aus Handtuchstreifen geknoteten Strick um den Hals erhängt am Fenstergitter ihrer Zelle auffinden sollten. Auch die Dimensionen sollten sich nun gänzlich anders darstellen als in dem vergleichsweise übersichtlichen Frankfurter Verfahren, das trotz vier Angeklagter in weniger als drei Wochen abgewickelt worden war. Das Hauptverfahren in Stuttgart-Stammheim gegen die Baader-Meinhof-Gruppe erstreckte sich über einen Zeitraum von nahezu zwei Jahren an 192 Hauptverhandlungstagen vom 21. Mai 1975 bis zum 28. April 1977.41 Es war ein Spezifikum solcher Verfahren, dass ihre justizielle Bewältigung versuchte, einen Unterschied zu anderen Prozessen mit Tatvorwürfen im Bereich der Kapitaldelikte zu vermeiden.42 Die Verteidigungsstrategie hatte, in dem größtmöglichen Gegensatz hierzu, Fragen eines völkerrechtlich verankerten Widerstandsrechts der Angeklagten zum Gegenstand. So wurde von einem Teil der Stammheimer Verteidiger versucht, die Zuständigkeit des Gerichts mit Blick auf den politisch-militärischen Charakter des Verfahrens zu rügen.43 Kernpunkte des Verfahrens waren aus der Sicht der Verteidigung weiterhin die Frage der Vorverurteilung der Angeklagten, der ad hoc-Gesetzesänderung im Strafprozessrecht mit Blick auf das Verfahren selbst, der Charakter des Gerichts als Ausnahmegericht sowie die Frage der Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten und ihrer Untersuchungshaftbedingungen.44 Zur Erreichung dieser erwünschten thematischen Fokussierung sollten auch die Mittel des begrenzten Regelverstoßes in Dienst gestellt werden, anders als noch in 40 Abgedr. in Ulf G. Stuberger (Hrsg.), „In der Strafsache gegen Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin wegen Mordes u. a.“. Dokumente aus dem Prozeß, 1977, S. 195 (196). 41 Löchner, FS Rebmann (Fn. 27), S. 303 (307). Der Drenkmann-Prozess in Berlin sollte zweieinhalb Jahre mit insgesamt 206 Hauptverhandlungstagen dauern (vgl. Kurt Rebmann, Strafprozessuale Bewältigung von Großverfahren, in: NStZ 1984, 241 (242)), das Verfahren um den Fememord Schmücker bis zur Einstellung im vierten Durchgang sogar insgesamt 17 Jahre (u. a. nach 109 Hauptverhandlungstagen im zweiten Durchgang), vgl. Jahn, Die Änderungen im Recht der Strafverteidigung durch das 2. Opferrechtsreformgesetz, in: NJWFestheft für Tepperwien, S. 25. 42 Siehe nur Hans Heinz Heldmann, Plädoyer zum Stammheimer Prozeß, in: KJ 1977, 193 (201). 43 Eine Verteidigungsstrategie, die keinesfalls unumstritten war, wie Heldmann, Stammheim (Buchbesprechung), in: StV 1988, 183 in Auseinandersetzung mit dem sog. VietnamAntrag des Darmstädter Hochschullehrers Axel Azzola belegt. Zu dieser Verteidigungsstrategie auch Klaus Lüderssen, Aus der grauen Zone zwischen staatlichen und individuellen Interessen. Zur Funktion der Strafverteidigung in einer freien Gesellschaft, in: R. Hamm (Hrsg.), FS Sarstedt, 1981, S. 145 (160), der aber darauf hinweist, dass objektive Abwegigkeit noch kein Recht erzeugt, gerichtlicherseits in subjektive Rechte des Verteidigers und des Angeklagten eingreifen zu dürfen. 44 Zu allen Fragen nimmt das außerhalb der Hauptverhandlung am Vortag der Urteilsverkündung gehaltene „Plädoyer“ von Heldmann, in: KJ 1977, 193 (196 ff.) Stellung; dazu auch Pieter Bakker Schut, Stammheim. Der Prozeß gegen die Rote Armee Fraktion, 1986, S. 452 f.

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Frankfurt nunmehr aber vollständig bereinigt von spielerisch-ironischen Elementen, sondern nurmehr als Werkzeug offener Konfrontation im politischen Strafverfahren. In den Worten Baaders: „die lösung ist – das muss ganz klar sein – diese ganze scheisse, die formen nicht zu beachten […] und die konfrontationen nach deinem begriff der widersprüche zu entwickeln“45. In einem als „Dramaturgischer Verteidigungsrahmen“ bezeichneten Papier, das im Juni 1975 bei dem Mitverteidiger Kurt Groenewold beschlagnahmt worden war,46 wurde dementsprechend empfohlen, keine inhaltliche Stellungnahme zu den Tatvorwürfen abzugeben, sondern vielmehr die politische Dimension des Verfahrens in den Vordergrund zu stellen. Darüber hinaus gab es in diesem Papier einen „Obstruktionsplan“47. Durch verfahrenshemmende Anträge zu den Prozessvoraussetzungen, flankiert durch Einstellungs- und Ablehnungsanträge, sollten Fortgang und Abschluss der Hauptverhandlung verhindert werden. Für eine ausführliche Prozessanalyse der Gesamtheit dieser begrenzten Regelverstöße fehlt hier schon für das Frankfurter Verfahren der Raum.48 Zur Verdeutlichung sollen gleichwohl zwei exemplarische Prozesssituationen herausgegriffen werden und näher beleuchtet werden: der chaotische Prozessauftakt (IV.) und der Robenstreit (V.).

IV. Die Ordnungsstrafen und Saalverweise überpurzelten sich – die Strategie des begrenzten Regelverstoßes bei den Angeklagten Die erste exemplarische Situation ereignete sich schon zum Prozessauftakt am 14. Oktober 1968: „Gleich am ersten Verhandlungstag erlaubten sich Baader und Proll eine Provokation vor Gericht, die der Vorsitzende mit wenigen Worten hätte übergehen können: Als er den ersten Angeklagten aufrief, persönliche Angaben zu machen, stand Baader auf und stellte sich mit dem Namen Proll vor. Sofort auf die Ungebührlichkeit aufmerksam gemacht, verhängt der vorsitzende Richter Zoebe eine Ordnungsstrafe von drei Tagen Haft und Baader wurde, ohne noch weiter befragt oder gehört zu werden, unmittelbar aus dem Sitzungssaal verbannt, ,weil 45

Baader zugeschriebener Kassiber (Rechtschreibung beibehalten) aus dem Info-System der „RAF“, datiert auf Oktober 1975, in: Bakker Schut (Hrsg.), Dokumente. das info. Briefe der Gefangenen aus der RAF 1973 – 1977, 1987, S. 237. 46 Bakker Schut, Stammheim (Fn. 44), S. 311 und Hannes Breucker, Verteidigungsfremdes Verhalten. Anträge und Erklärungen im „Baader-Meinhof-Prozeß“, 1993, S. 113 schreiben dieses Papier übereinstimmend Gerd Temming zu, der als Referendar am Stuttgarter Verfahren beteiligt war. 47 Begriff von Löchner, FS Rebmann (Fn. 27), S. 303 (314); der Verfasser war als Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof tätig und leitete viele Jahre die Abteilung Terrorismusbekämpfung, vgl. in: Der Spiegel Nr. 13/1994 v. 28. März 1994, S. 16. Zu Kontext und (gesetzgeberischen) Folgen dieses Papieres für die Diskussion um eine allgemeine Missbrauchsund Obstruktionsklausel im deutschen Strafverfahren nochmals Jahn, „Konfliktverteidigung“ (Fn. 23), S. 74 ff.; LR/Jahn (Fn. 7), Vor § 137 StPO Rn. 128. 48 Ausf. dazu Kraft, Vom Hörsaal auf die Anklagebank (Fn. 3), S. 357 ff.

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noch weitere Ausfälle zu erwarten waren‘. Proll, im Gegenzug, stellte sich als Baader vor und antwortete auf die Frage nach seinem Geburtsdatum mit ,1789‘. Die Ordnungshaft folgte auf die Füße […]. Horst Söhnlein trieb mit wenig Aufwand […] das Ganze auf die Spitze, als er rief: ,Aus Solidarität mit den Genossen gehe ich auch!‘. Anstatt den Zwischenruf zu ignorieren, tat ihm das Gericht den Gefallen. Beim etwas unsanften Abführen machte sich Söhnlein laut Protokoll noch einer ,Tätlichkeit‘ gegen den Wachtmeister schuldig.“49

Das Prozessgeschehen wird zum Schauplatz vielfältiger Kommunikationsstrategien. Zum einen wird die formal-zeremonielle Funktion der Präsenzfeststellung des § 243 Abs. 1 S. 2 StPO unterlaufen. Sie dient der Sicherung der Planung des Vorsitzenden;50 die Durchkreuzung ist damit zugleich eine Absage an dessen organisatorisches Drehbuch. Mit dem Identitätstausch von Baader und Proll unterliefen die Angeklagten zugleich den erkennbaren Willen des Gerichts, die Grundlage für die individuelle Verantwortlichkeit zu schaffen und machten deutlich, dass sie sich als eine Gruppe ansahen, vielleicht sogar noch mehr als Repräsentanten des Protests ihrer Generation („Das kommt doch auf dasselbe heraus, wer hier wer ist“51). Auch Prolls Verteidiger Eschen ordnete den Identitätstausch in seiner Beschwerdebegründung gegen die daraufhin verhängte Ordnungsstrafe wie folgt ein: „Hierin [dass Proll sich als Baader ausgab – d. Verf.] sollte auch keine Mißachtung des Gerichts gesehen werden, da der eigentliche Gehalt dieses Verhaltens war, zu bekunden, daß die Angeklagten sich in ihrer Rolle vor Gericht miteinander identifizierten.“

Die Pointe ist, dass es am Ende für die materiell-rechtliche Bewertung des M. Schneider-Anschlags tatsächlich nicht mehr darauf ankam, wer Wer war. Denn Proll, der sich zur Sache nicht eingelassen und an keinem der Tatorte gesehen worden war, wurde gleichwohl die Tat von Baader und Ensslin im Wege der Mittäterschaft auf dem damaligen Stand der Beteiligungsdogmatik zugerechnet, da das Gericht ihn als Teil der „enge(n) persönliche(n) und ideelle(n) Gemeinschaft“52 um Baader und Ensslin ansah. Mit der Angabe des Geburtsdatums „1789“ opponierte Proll gegen die sachlich in einem Strafverfahren dieses Zuschnitts letztlich überflüssige und zum bloßen Ritual geronnene Personalienfeststellung und führte durch sein Missverstehen ein neues, politisches Verständnis des Geburtsdatums ein. Rechtsanwalt Mahler vertiefte diesen Punkt in seiner Beschwerdebegründung gegen die daraufhin verhängte Ordnungsstrafe:

49 Kraft, Vom Hörsaal auf die Anklagebank (Fn. 3), S. 370; eine pointierte Beschreibung der Geschehnisse am 1. Prozesstag bietet auch der Prozessbericht von Mauz im Spiegel (Fn. 11). 50 MüKo/Arnoldi, 2016, § 243 StPO Rn. 11 unter Hinweis auf Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen. Bd. 3: Materialien zur Strafprozessordnung I, Abt. 1, 2. Aufl. 1885, S. 191. Anders SK/Frister, 5. Aufl. 2015, § 243 StPO Rn. 12. 51 Proll, zitiert nach Frankfurter Rundschau v. 15. Oktober 1968. 52 LG Frankfurt am Main v. 31. Oktober 1968, in: Rauball (Fn. 4), S. 190 – III.

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„Damit [die Angabe des Jahres 1789 als Geburtsdatum – d. Verf.] sollte zum Ausdruck kommen, daß der Angeklagte das tatsächliche Geburtsdatum für weniger wichtig für die Frage der Identität seiner Persönlichkeit hält, als seinen politischen und sozialen Standort. Wenn er also das Jahr der Französischen Revolution als sein Geburtsdatum angab, so ist das als Ausdruck dessen zu sehen, daß dieses Ereignis eine entscheidende Bedeutung für sein politisches Bewußtsein hat. Es ist dem Angeklagten nicht anzulasten, daß das Gericht diese Aussage zur Person in ihrem eigentlichen Sinngehalt nicht verstanden hat.“53

Durch diese Provokationen – einschließlich der wenig subtilen Unterstellung der Beschwerde, die Kammer kenne nicht die historisch herausragende Bedeutung des Revolutionsjahres 1789 – sollte nicht nur die Autorität des Gerichts in Frage gestellt werden. Es sollte natürlich auch dazu gebracht werden, seinerseits zurückzuschlagen und sich gegen die Provokationen mit Ordnungsmaßnahmen zur Wehr zu setzen. Damit sollte die autoritär-hierarchische Struktur der Justiz aufgedeckt werden.54 In den Worten des Angeklagten Proll: „[W]ir fühlten uns frei in dem Gerichtssaal und konnten das Ganze nicht so ernst nehmen. Teilweise mussten wir es natürlich ernst nehmen, dann war es wieder ein Spiel. Das war ja immer unser Wunsch: das Ganze spielerisch aufzulösen und die autoritären Strukturen zum Übereinanderfallen zu bringen.“55

Das Gericht stieg auf diese Provokationen ein und reagierte – dies auch entgegen dem Rat einiger Stimmen in der Öffentlichkeit, die zu „gelassener Bestimmtheit“ rieten56 – mit unmittelbarer Härte und Unbeugsamkeit. Spiegel-Gerichtsreporter Mauz kommentierte: „Die Ordnungsstrafen und Saalverweise überpurzelten sich.“57

Die (sofortigen) Beschwerden gegen die verhängten Ordnungsmaßnahmen wurden vom OLG Frankfurt sämtlich verworfen.

53 Klaus Eschen, Beschwerdebegründung v. 25. Oktober 1968, Anlage zum Protokoll der Hauptverhandlung, HStA (Fn. 4), Nr. 34679. 54 Vgl. Kraft, Vom Hörsaal auf die Anklagebank (Fn. 3), S. 382; Jörg Requate, Der Kampf um die Demokratisierung der Justiz: Richter, Politik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik, 2008, S. 193: „Die Absicht Teufels und anderer lag weniger darin, Reformen anzuregen, als die Justiz bloßzustellen und das Verfahren ad absurdum zu führen. Dazu gehörte insbesondere der Versuch, den Richter nicht mehr als Herrn des Verfahrens erscheinen zu lassen, ihn zu verunsichern und damit die Verhandlung an sich zu ziehen.“ 55 Proll/Dubbe, „Wir kamen vom anderen Stern“ (Fn. 4), S. 34. Das Freiheitspotential symbolischer Regelverletzungen wurde auch in der Presse mit einer gewissen Faszination zur Kenntnis genommen. Für den Teufel/Langhans-Prozess siehe z. B. Dolph (Fn. 25): „Ein Angeklagter, dem seine Verurteilung gleichgültig ist, […] bietet einen merkwürdigen Anblick: Er ist frei.“ 56 Jan-Wolfgang Berlit, Hysterisierung der Justiz? Die Richter müssen sich in APO-Verfahren zwischen unmäßiger Härte und zu große Nachsichtigkeit hindurchfinden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27. Mai 1969, S. 19. 57 Mauz, „Mit voller Geisteskraft in ernster Sache“ (Fn. 11), S. 74.

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V. Die Infragestellung des Zeremoniells – Die Strategie des begrenzten Regelverstoßes bei der Verteidigung Der exemplarische Konfrontationsschauplatz der Verteidigung war der sogenannte Robenstreit. Schon zum Prozessauftakt provozierten die Rechtsanwälte Eschen und Mahler das Gericht, indem sie entgegen der damaligen standesrechtlichen Übung und Überzeugung ohne Anwaltsrobe im Gerichtssaal erschienen.58 Das Gericht protokollierte den Vorgang, nahm das Unterlassen aber die nächsten drei Verhandlungstage zunächst ohne Rüge hin. Erst am 4. Prozesstag stellte der Vorsitzende die beiden Rechtsanwälte zur Rede.59 Mahler erklärte: „Ich halte es überflüssig mich zu erklären. Ich meine, daß die Robe ein antiquiertes Requisit ist. Die Robe hat mit der Wahrheits- und Rechtsfindung nichts zu tun.“60 Eschen ergänzte, dass für ihn die Robe „nur ein Standessymbol“ sei. Er sehe keine Veranlassung, „eine Berufskleidung zu tragen.“61 Erster Staatsanwalt Griebel hielt die Weigerung der Rechtsanwälte, eine Robe zu tragen, für ein „nicht unerhebliches Fehlverhalten vor Gericht“ und eine „Brüskierung des Gerichts“. Er kündigte an, den Sachverhalt der Generalstaatsanwaltschaft Berlin zur Kenntnis zu bringen, die bereits ein Ehrengerichtsverfahren gegen die Anwälte betrieb. Mahler ließ sich nicht einschüchtern und wies darauf hin, „daß in den USA weder die StA noch die Richter Roben tragen“ und es zudem „seit langem eine Streitfrage“ sei, wie die Roben zu bewerten seien.62 Horst Mahlers Verweigerungs58 Zum seinerzeitigen Verständnis des – so auch noch genannten – Standesrechts der Rechtsanwälte in Sachen Robenpflicht vgl. Rüping (Fn. 21), ZZP 88 (1975), 212 (230 ff.); Fritz Baur, Die Würde des Gerichts, in: JZ 1970, 247 (248). Zum heutigen Rechtszustand nach § 20 S. 1 BORA („Der Rechtsanwalt trägt vor Gericht als Berufstracht die Robe, soweit das üblich ist“) vgl. im Einzelnen Feuerich/Weyland/Brüggemann, 9. Aufl., 2016, § 20 BORA Rn. 3 ff. 59 Schily war nicht betroffen: Er war stets korrekt gewandet, entledigte sich der Robe aber wohl immer sofort nach dem Ende der Prozesshandlung; Heinitz wiederum nahm als verteidigender Hochschullehrer mangels Robenpflicht (oder auch nur einschlägiger Üblichkeit) eine Sonderstellung ein. 60 LG Frankfurt am Main, Protokoll der Hauptverhandlung v. 22. Oktober 1968 (4. Prozesstag), HStA (Fn. 4), Nr. 34679, S. 2. 61 LG Frankfurt am Main, Protokoll der Hauptverhandlung v. 22. Oktober 1968 (4. Prozesstag), HStA (Fn. 4), Nr. 34679, S. 2. 62 LG Frankfurt am Main, Protokoll der Hauptverhandlung v. 22. Oktober 1968 (4. Prozesstag), HStA (Fn. 4), Nr. 34679, S. 3. Die Robenpflicht war tatsächlich schon seinerzeit in der Tat nicht gänzlich unumstritten, vgl. z. B. Jan-Wolfgang Berlit [Amtsrichter in Hannover], Die Robe – Symbol, Relikt oder Textilie?, in: Rudolf Wassermann (Hrsg.), Justizreform, 1970, S. 144 – 150. Störaktionen hielt allerdings auch Berlit für nicht hinnehmbar, da diese kein anderes Ziel hätten, „als die Rechtsstaatlichkeit zum Popanz werden zu lassen“, vgl. ders., Provokationen im Gerichtssaal, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 20. Dezember 1968, S. 8. Das BVerfG hielt die Robenpflicht gleichwohl mit Beschluss vom 18. Februar 1970 für gewohnheitsrechtlich legitimiert (BVerfGE 28, 21 [28 ff.]); vgl. aus strafprozessualer Sicht zum Ganzen auch LR/Jahn (Fn. 7), § 145 StPO Rn. 18.

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haltung gegenüber der Robe blieb notorisch. Als er sich im zweiten Kurras-Verfahren als Nebenklage-Vertreter der Witwe Benno Ohnesorgs gegen den Willen seiner Mandantin ein Jahr später weigerte, eine Robe anzulegen, entzog diese ihm das Mandat. Das Verfahren musste ausgesetzt werden. In einer nicht mehr zur Verlesung gelangten Erklärung Mahlers hieß es dazu unter anderem: „Nur wer sich über die Bedeutung und die Funktion des Zeremoniells in Strafgerichtsverhandlungen und der von den Gerichtspersonen praktizierten Verkleidung keine Gedanken gemacht hat, kann der Meinung sein, daß die Weigerung, vor Gericht in einer schwarzen Robe aufzutreten, nur ein unwichtiges, dem Ernst und der Bedeutung des Strafverfahrens unangemessenes Problem darstelle […]. Wo bei Richtern die Einsicht in die psychologischen Zusammenhänge vorhanden ist, fühlen sie sich dennoch durch Gesetze und ministerielle Erlasse gezwungen, das repressive Ritual weiter zu zelebrieren. Die Infragestellung des Zeremoniells kann daher nur von denen geleistet werden, die in dieser Frage einem gesetzlichen oder bürokratischen Zwang nicht ausgeliefert sind – den Rechtsanwälten […].“63

Auch kündigte Mahler an, es den Angeklagten gleichzutun und bei weiteren Vereidigungen nicht aufzustehen zu wollen, um gegen die Vorstellung des Gerichts zu protestieren, den „Gehorsam der Angeklagten gegenüber einem Ritual erzwingen zu können“64. Ob darin ein Anwendungsfall für die grundsätzliche Anwendung der sitzungspolizeilichen Vorschriften zu sehen sein kann, war – auch nach damaligen Maßstäben – umstritten.65 Insgesamt waren auch für Klaus Eschen die Rechtsanwälte wichtige Akteure für das Projekt der Demokratisierung der Justiz. In einem Beitrag über „20 Jahre ,linke‘ Anwaltschaft“ schrieb er einmal rückblickend über die damalige Situation der Strafverteidigung: „Etwa 1966, in den Anfängen der ersten außerparlamentarischen Manifestationen gegen das seiner parlamentarischen Opposition durch die Große Koalition entledigten ,Establishments‘, begannen Rechtsanwälte als Verteidiger in den sich anschließenden Strafverfahren nicht mehr in den Bahnen des ,Grundkonsenses unter Juristen‘ mitzuspielen. Sie fragten nach der Legitimation des Strafrechtes als Instrument zur Disziplinierung demokratischer Aufmüpfigkeit […]. Es entstand ein Bruch zwischen der traditionellen Justiz und einigen, anfänglich wenigen, ihre Aufgaben neu bestimmenden Rechtsanwälten.“66

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Zitiert nach Berlit, Die Robe (Fn. 62), S. 144 (145). LG Frankfurt am Main, Protokoll der Hauptverhandlung v. 22. Oktober 1968 (4. Prozesstag), HStA (Fn. 4), Nr. 34679, S. 3. 65 Dafür Günther Willms, Im Namen des Volkes, in: JZ 1974, 139; a. A. bereits Eb. Schmidt, Formen im Gerichtssaal, ZRP 1969, 254 (257). 66 Klaus Eschen, 20 Jahre „linke“ Anwaltschaft von der APO bis heute, in: Klaus Eschen/ Juliane Huth/Margarete Fabricius-Brand (Hrsg.), „Linke“ Anwaltschaft von der APO bis heute. Chancen und Versäumnisse, 1988, S. 201. 64

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VI. Der Ertrag: Politische Inszenierung vor Gericht im Übergang vom Happening zum Zermübungskrieg 1. Fazit zum Prozessausgang Die Verteidigungsstrategie brachte, trotz der nicht nachweisbaren Beteiligung am Brand im Kaufhof und bloßer Versuchsstrafbarkeit wegen des M. Schneider-Brands, unmittelbar keinen durchschlagenden Erfolg. Eine nicht bewährungsfähige Zuchthausstrafe von drei Jahren ist, was das Gericht ausweislich seiner vorzitierten Strafzumessungserwägungen auch intendiert hatte, ein schweres Strafübel. Doch auch die Versuche der Angeklagten und Verteidiger, die politischen Hintergründe gegenüber der politisch wenig ergiebigen Brandstiftungsdogmatik stärker in den Mittelpunkt zu rücken, blieben arbiträr. Die ersichtlich auf allfällige Konfliktstrategien gut vorbereitete Kammer67 ließ sich nicht von ihrer Linie abbringen, die Sache wie jeden anderen Kriminalfall zu behandeln: „Im Laufe der Hauptverhandlung wurde von einem Teil der Angeklagten, der Verteidigung und der Zuhörer der Versuch gemacht, die Verhandlung in einen politischen Prozeß ,umzufunktionieren‘. Es ist letztlich eine Frage der Terminologie, ob hier von einem ,Studentenprozeß‘, einem Prozeß gegen die ,Außerparlamentarische Opposition‘ oder einem Prozeß der ,herrschenden Kreise‘ zu sprechen ist. Entscheidend ist allein die Frage, ob Gewalt ein legales oder legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung ist.“68

Insbesondere gestand das Gericht den Angeklagten mit gut nachvollziehbarer Argumentation kein Widerstandsrecht zu, da die „Anwendung von Terror und Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung zur Durchsetzung der Menschenrechte […] nur in äußersten Notsituationen […] erlaubt“ ist. Dies sei, so die im Ton vielleicht etwas zu feierliche Begründung, in der Bundesrepublik nicht der Fall, da diese „die freiste Verfassung“ habe, „die Deutschland je besaß“.69 Im Gegenteil: „Die Vorstellung, vom Boden der Bundesrepublik aus mittels inländischen Terrors […] auf die Beendigung des Krieges in Vietnam einwirken zu können“, sei, so das Gericht, „unrealistisch“ und beschwöre im eigenen Land eine Situation herauf, „gegen die gerade die Angeklagten protestieren wollten“.70

67 Das Gericht hatte sich insbesondere auf die reibungslose Verhängung vom Ordnungsstrafbeschlüssen vorbereitet. In einer zu diesem Zweck durchgeführten „informierende(n) Besprechung“ wurde innerhalb der Kammer „Einigkeit erzielt“, dass eine „gemeinsame Willensbildung bei Ordnungsmaßnahmen auch […] durch Blickaustausch, Kopfnicken oder in ähnlicher Weise […] zustandekommen kann“: Dienstliche Erklärung der Mitglieder der 4. Strafkammer des LG Frankfurt am Main in der Strafsache gegen Ensslin u. a. v. 20. April 1969, HIfS (Fn. 7), Sozialistisches Anwaltskollektiv, SAK 250,01. 68 LG Frankfurt am Main, Urteil v. 31. Oktober 1968, in: Rauball (Fn. 4), S. 203 – IV. 69 LG Frankfurt am Main, Urteil v. 31. Oktober 1968, in: Rauball (Fn. 4), S. 204 – IV. 70 LG Frankfurt am Main, Urteil v. 31. Oktober 1968, in: Rauball (Fn. 4), S. 204 f. – IV.

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2. Fazit zu den Prozesswirkungen Der Frankfurter Kaufhausbrandstifterprozess ist rückblickend eine wichtige Wendemarke in der Geschichte des gesellschaftlichen Protests der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. Der Tatvorwurf markiert exakt den Wendepunkt von der verbalen und gespielten Gewalt der Kommune I-Flugblätter und des Puddingattentats auf US-Vizepräsident Hubert H. Humphrey hin zum rücksichtslosen Schusswaffengebrauch gegenüber Polizeibeamten, erpresserischen Menschenraub und Terror gegen Unbeteiligte durch die „RAF“.71 Mit der Verurteilung aus dem Frankfurter Prozess wurde jene Kette von Ereignissen in Bewegung gesetzt, die schließlich im Mai 1970 mit der gewaltsamen Befreiung Andreas Baaders die eigentliche Geburtsstunde der „RAF“ bildete. Auch im prozessualen Habitus der Verteidigung befindet sich das Verfahren auf der Grenzmarke zwischen Polithappening und dem jahrelangen Zermürbungskrieg der Verfahrensbeteiligten in Stuttgart-Stammheim. Insgesamt ist den „Kulturkämpfen“ der späten 1960er Jahre vor Gericht in Frankfurt, Berlin und anderswo ein nicht zu unterschätzender Einfluss auf die Reform des Strafverfahrens in und seit dieser Zeit zuzusprechen. Eine Demokratisierung der stillen Gewalt Strafjustiz, auch im Sinne der Enthierarchisierung und Entritualisierung, ist ein bleibender Gewinn, weil gerade die Ironisierung des zum Ritual Erstarrten sinnlosen Normbefolgungsgehorsam erfolgreich in Frage gestellt hat. Der Reformjurist Rudolf Wassermann spricht der Studentenbewegung deshalb mit Recht zu, „Katalysator“ von Veränderungen in der Justiz in den 1960er Jahren gewesen zu sein.72 Sie habe die Diskussion der symbolischen Formen (Robenpflicht, „weißer Langbinder“, „Stehgymnastik“) befördert und die Frage aufgeworfen, ob dies noch den liberalen Anschauungen der Zeit entspricht. Für den Rechtshistoriker Uwe Wesel war es rückblickend gerade auch das befreiende Lachen, dem sogar noch mehr Erfolg beschieden gewesen sei als den ernsten Justizreformern Wassermann und Rasehorn.73 Ob diese sehr weit gehende Einschätzung zutrifft, mag der Betrachter selbst entscheiden. Es liegt in seinem Auge. Die Rechtsgeschichte der „68er“ bildet gleichwohl noch ein ausgesprochenes Forschungsdesiderat. Der Frankfurter Strafprozessunordnung wird darin eine nicht unwesentliche Rolle zukommen.

71 Siehe auch Hakemi/Hecken, Die Warenhausbrandstifter (Fn. 4), S. 316 (317): „Umschlagspunkt von der verbalen zur späteren tödlichen politischen Gewalt“. 72 Vgl. Wassermann, „Offene, freundliche Gerichte und aktive Richter“ — Bilanz der inneren Justizreform, in: RuP 1989, 177 (185). 73 Uwe Wesel, Die verspielte Revolution. 1968 und die Folgen, 2002, S. 64; siehe auch schon Werner Dolph, „Wenn es der Wahrheitsfindung dient“. Die Verfolgung und Ermordung der Strafjustiz durch die Herren Teufel und Langhans (Schluss), in: Die Zeit v. 5. April 1968, S. 13: „Die Bundesrepublik lachte, und es war ein befreiendes Lachen, nämlich eine Befreiung vom autoritären Ton in den Sälen unserer Justiz. Seitdem hat er sich geändert“.

§ 81g StPO – Musterbeispiel für die schöne neue Welt der Strafverfolgungsvorsorge? Von Karsten Gaede 1981, vor fast 40 Jahren, erschien das Album „Computerwelt“ der Musik-Pioniere „Kraftwerk“. Die Texte des Albums malen eine hoch technisierte und digitalisierte Welt, in der offenbar auch die Strafverfolgung von ungeahnten Möglichkeiten der Datenspeicherung lebt: „Interpol und Deutsche Bank, FBI und Scotland Yard, Flensburg und das BKA, haben unsere Daten da.“ Die Visionäre von Kraftwerk, die in Deutschland zur Zeit der RAF-Verfolgung bereits einen (über-)fleißig Daten sammelnden BKA-Chef zur Anschauung hatten,1 haben Recht behalten. Die Erhebung und Speicherung von Daten, die Ermittlungsansätze und Beweise für zukünftige Strafverfahren liefern sollen, ist ein reales Thema, das heute weit über den lange nicht treffend eingeordneten Vorläufer der erkennungsdienstlichen Maßnahmen nach § 81b Var. 2 StPO hinausgeht.2 Der Staat erhebt und speichert zunehmend schon vor dem Tatverdacht in digitaler Form personenbezogene Informationen, um erklärtermaßen hypothetische Strafprozesse zu bewältigen. Die explizite Regelung als Strafverfolgungsvorsorge („vorbeugende Verbrechensbekämpfung“) nahm in Deutschland mit der Erhebung und Speicherung von DNAIdentifizierungsmustern ihren Anfang.3 Vorratsdatenspeicherung und Fluggastdatenspeicherung zeigen, dass längst weitere und enorm weite Anwendungsfelder existie1 Dazu näher Baumann/Stephan, „Kommissar Computer“: Dr. Horst Herold und die Geister, die er rief, in: Baumann/Reinke/Stephan/Wagner (Hrsg.), Schatten der Vergangenheit. Das BKA und seine Gründungsgeneration in der frühen Bundesrepublik (2011), S. 79 – 86; Hauser, Baader und Herold. Beschreibung eines Kampfes (1998); Schenk, Der Chef. Horst Herold und das BKA (2000). 2 Hierzu siehe in Deutschland § 81b Var. 2 StPO und zur streitigen, überwiegend noch präventiv-polizeilichen Einordnung Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81b Rn. 3 f. und 12 f.; zur Rechtsprechung BVerwG NJW 1983, 772; 2018, 3194; auch BVerwG JZ 2006, 727, 728 f. m. bereits abl. Anm. Eisenberg/Puschke; zur sog. Strafverfolgungsvorsorge allgemein auch Graulich NVwZ 2014, 685 ff. Siehe für die Forderung, § 81g StPO an § 81b StPO anzugleichen, zum Beispiel König Kriminalistik 2004, 262, 264 ff. (zu entsprechenden Forderungen siehe aber etwa Schewe JR 2006, 181, 182 ff. und vermittelnd Rogall, FS Schroeder, S. 691, 705 ff.); auch das BVerfG nannte § 81g StPO anfangs in Anführungszeichen „genetischer Fingerabdruck“. Siehe ferner auch §§ 163b und 484 StPO sowie zur Zollfahndung BT/Drs. 14/8007, S. 28. 3 Verwandt ist allerdings zum Beispiel auch die Tatprovokation, die an einem „Zukunftsverdacht“ ansetzt, zu ihr etwa Tyszkiewicz, Tatprovokation als Ermittlungsmaßnahme (2014).

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ren oder zu diskutieren sind. Da das medizinisch und technisch Machbare rasant anwächst, dürfte die Vorsorge bald weitere Anwendungsfelder ergreifen.4 Die bereits geschaffenen Regelungen stellen sich dann im tradierten Gang der Rechtsentwicklung als Einfallstore und Ankernormen für die nächsten Innovationen der Strafverfolgung dar. In meinem Beitrag möchte ich untersuchen, ob unsere Rechtsordnung mit der Regelung des Testfalls der Erhebung und Speicherung von DNA-Identifizierungsmustern bereits eine überzeugende Ankernorm vorfindet. Ich stelle zunächst das Grundkonzept des § 81g StPO vor (I.). Sodann umreiße ich seine materiellen und formellen Voraussetzungen (II.). Schließlich beleuchte ich die Legitimität dieser Norm auch im Gesamtkontext der Verfolgungsvorsorge (III.), um mit abschließenden Thesen zu enden (IV.). All dies geschieht in der Hoffnung, dass auch diese strafprozessuale Arbeit das Interesse des geschätzten und insbesondere im Medizinrecht prägend wirkenden Kollegen Reinhard Merkel findet. Sie widmet sich nach meiner Einschätzung einem Zukunftsthema, das nicht zuletzt im Rückgriff auf genetische Daten besteht und bestehen wird.

I. Das Konzept des § 81g StPO Mit der DNA-Analyse kann die Strafverfolgung weltweit auf ein besonders leistungsfähiges Erkenntnisinstrument zurückgreifen. Die DNA-Analyse kann Verurteilungen absichern,5 aber zum Beispiel in Wiederaufnahmeverfahren ebenso zu zentralen Entlastungen führen.6 DNA-Identifizierungsmuster wurden in Deutschland zunächst nur erhoben und verwertet, um in laufenden Strafverfahren Täter zu ermitteln.7 Der große Erkenntniswert, der mit dem Abgleich von DNA-Spuren oft verbunden ist, führte aber zu dem Wunsch der Strafverfolgungsbehörden, auch für zukünf4 Siehe auch zu den Vorschlägen, die Felder der DNA-Analyse zu erweitern, den Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Strafverfahrens der Bundesregierung vom 23. Oktober 2019, S. 5, 20 f., 29 ff. (die Strafverfolgungsvorsorge bleibt insofern aber noch unbetroffen, S. 31). Zur vermehrt verlangten forensischen DNA-Phänotypisierung auch vgl. Markert, Forensische DNA-Phänotypisierung – die erweiterte DNA-Analyse (im Erscheinen, 2019). 5 Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81e Rn. 2 m.w.N.; den besonders hohen Beweiswert hebt auch hervor BVerfGE 103, 21, 32; BT/Drs. 13/10791, S. 4: „herausragend“; ferner König Kriminalistik 2004, 262, 265; zur DNA-Analyse-Datei Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 1. 6 Siehe wegweisend das Innocence Project in den USA, online abrufbar unter www.inno cenceproject.org (zuletzt abgerufen am 13. 01. 2020); siehe auch The National Registry of Exonerations, ein Projekt der University of California Irvine Newkirk Center for Science & Society, University of Michigan Law School und Michigan State University College of Law, abrufbar unter https://bit.ly/1jVLjda (zuletzt abgerufen am 13. 01. 2020). Siehe aber auch zur Begrenztheit dieses Gesichtspunkts Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 6. 7 Siehe die §§ 81e und 81f StPO und Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 1.

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tige Strafverfahren Vorsorge zu betreiben. Der Abgleich von DNA-Spuren sollte etwa bei Sexualdelikten schlagkräftiger werden. Das Parlament ist diesem Wunsch 1998 mit dem DNA-Identitätsfeststellungsgesetz (DNA-IFG) gefolgt.8 Es entschied sich, die Identitätsfeststellung per DNA-Analyse auch für künftige Verfahren zu ermöglichen, um Taten durch eine schnellere Identifikation des Täters besser aufklären zu können.9 Entsprechend diesem Regelungsziel wird der geschaffene § 81g StPO heute zu Recht als strafprozessuale und damit nicht als gefahrenabwehrrechtliche Regelung begriffen.10 Der derart repressiv legitimierte § 81g StPO statuiert die Voraussetzungen, unter denen Körperzellen entnommen, molekulargenetisch untersucht und die so gewonnenen Daten gespeichert werden dürfen. 1998 betonte der Gesetzgeber noch, dass er die Datenerhebung in „sachgerechtem [und damit begrenztem] Umfang“ erweitere.11 Zwischenzeitlich hat er § 81g StPO mehrfach erweitert.12 Er hat ihn zum Beispiel schon 2004 auf alle Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung erstreckt; ebenso hat er zugelassen, dass mithilfe der DNA das Geschlecht bestimmt wird.13 Aktuell existieren Vorschläge, die auf eine weitere Ausdehnung drängen.14 Bevor wir die materiellen und formellen Voraussetzungen der Norm analysieren, ist aber nochmals zu präzisieren, was sie bisher gestattet und was sie nicht gestattet: § 81g Abs. 2 StPO unterstreicht, dass die entnommenen Körperzellen nur zugunsten der Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters sowie des Geschlechts molekulargenetisch untersucht werden dürfen. Bei der Untersuchung dürfen andere Feststellungen, die für die genannten Zwecke nicht erforderlich sind, weder angestrebt noch getroffen werden. Zum Beispiel darf nicht der Versuch unternommen werden, aus der DNA ein Persönlichkeitsprofil zu ermitteln.15

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BGBl. I 1998, S. 2646. BT/Drs. 13/10791; Volk NStZ 1999, 165, 166. 10 So auch zur Kompetenz m.w.N. BVerfGE 103, 21, 30 f.; Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 2; Eisenberg/Puschke JZ 2006, 729, 730; Volk NStZ 1999, 165, 166 f. („antizipierte Repression“); a.A. früher etwa LG Berlin NJW 1999, 302; krit. Ohler StV 2000, 326, 327; Paeffgen StV 1999, 625, 626; siehe auch eher präventiv ansetzend EGMR EuGRZ 2014, 285, 290 f. 11 BT/Drs. 13/10791, S. 1 („Datenerhebung in sachgerechtem Umfang“), S. 2 („keine Routinemaßnahme“). 12 Dazu ausführlich Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Entstehungsgeschichte (Vor Rn. 1); zur Novelle 2005 Senge NJW 2005, 3028, 3030 f. 13 Zu ersterem krit., das zweite begrüßend: Duttge/Hörnle/Renzikowski NJW 2004, 1065, 1070 ff. 14 Siehe neben Fn. 2 und 4 etwa die Bundesratsinitiative des Landes Bayern BR/Drs. 231/ 17 vom 21. 3. 2017: Angleichung an die Auslegung des § 81b Var. 2 StPO; krit. dazu M. Schneider NStZ 2018, 692, 696 f., auch zum Verstoß gegen Art. 8 EMRK, dazu ferner MüKoStPO/Gaede, 2017, Art. 8 EMRK Rn. 29. 15 Dazu auch BVerfGE 103, 21, 31 f. 9

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Ferner begrenzt § 81g Abs. 5 StPO die Speicherung und Verwendung der erhobenen Daten. Die Speicherung und Verwendung steht grundsätzlich nur dem BKA zu, das nach Maßgabe des Bundeskriminalamtgesetzes (BKA-G) eine zentrale DNAAnalyse-Datei führt (§ 81g Abs. 5 Satz 1 StPO).16 Übermitteln darf das BKA die gespeicherten Daten „für Zwecke eines Strafverfahrens, der Gefahrenabwehr und der internationalen Rechtshilfe“ (§ 81g Abs. 5 Satz 3 StPO). Wurden die zulässig zu erhebenden Daten gewonnen, sind die entnommenen Körperzellen gemäß § 81g Abs. 2 Satz 1 StPO unverzüglich zu vernichten.

II. Materielle und formelle Anordnungsvoraussetzungen Das Konzept der Regelung ist damit geschildert. Nun kann ich näher umreißen, unter welchen materiellen und formellen Voraussetzungen die vorsorgliche Datenerhebung und -speicherung zulässig ist: 1. Materielle Voraussetzungen Zuerst ist von Interesse, welche materielle Schwelle der Gesetzgeber für die auf Speicherungen bedachte Entnahme von Körperzellen und ihre molekulargenetische Untersuchung aufgestellt hat: a) Taugliche Adressaten Zunächst sind alle Eingriffe nur gegenüber bestimmten Adressaten und folglich nicht gegenüber jedermann gestattet. Gemäß § 81g Abs. 1 StPO kommen die Eingriffe gegenüber Beschuldigten in Betracht; sie betreffen also Personen, gegen die tatverdachtsbedingt ein Strafverfahren geführt wird17 und damit auch Angeschuldigte und Angeklagte.18 § 81g Abs. 4 StPO gestattet die Eingriffe zusätzlich gegenüber rechtskräftig Verurteilten und ihnen gleichgestellten Personen. Gleichgestellt sind insbesondere Per16 Dieses Gesetz sieht dann für die DNA-Analyse-Datei Datenschutzbestimmungen vor, dazu Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 66 m.w.N. 17 Ein materieller Beschuldigtenbegriff spielt insoweit nach dem Sinn und Zweck der Norm keine Rolle. Siehe für den Beschuldigten ferner noch erweiternd die Anwendung gemäß § 81g Abs. 5 Satz 2 StPO in sog. Umwidmungsfällen des § 81e StPO, in denen bereits nach § 81e StPO erhobene Daten vorliegen, dazu Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 12b. 18 Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 11. Nach einem rechtskräftigen Freispruch endet aber die Befugnis, Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 11; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 5 mit Verweis auf das noch weitergehende OLG Oldenburg NStZ 2008, 711; siehe auch zu § 170 Abs. 2 StPO LG Heidelberg StraFo 2016, 290 f. und Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 11.

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sonen, die nicht verurteilt worden sind, weil ihre Schuldunfähigkeit oder ihre auf Geisteskrankheit beruhende Verhandlungsunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen war.19 Der Rückgriff auf § 81g Abs. 4 StPO scheidet jedoch aus, wenn die entsprechende Eintragung zwischenzeitlich im Bundeszentralregister oder Erziehungsregister getilgt wurde. b) Taugliche Anlasstat Neben dem tauglichen Eingriffsadressaten muss der Verdacht einer tauglichen Anlasstat vorliegen. Hierfür genügt dem Gesetz schon ein einfacher Tatverdacht bzw. der Anfangsverdacht im Sinne des § 152 Abs. 2 StPO.20 Allerdings muss der Verdacht der tauglichen Anlasstat im Moment der Anordnung der Maßnahmen noch bestehen. Seine zwischenzeitliche Ausräumung oder Abschwächung unterhalb die Erheblichkeitsschwelle macht die Datenerhebung unzulässig.21 Konkret eröffnet das Gesetz drei Fallgruppen tauglicher Anlasstaten: aa) Straftat von erheblicher Bedeutung Als erste Fallgruppe nennt § 81g Abs. 1 Satz 1 Var. 1 StPO die Straftat von erheblicher Bedeutung. Der Gesetzgeber und die Gerichte verstehen darunter wie in anderen Eingriffsnormen22 eine Tat, die mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, die den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen.23 Reine Bagatelldelikte genügen dem sicher nicht.24 Besonders in Betracht kommen Verbrechen,25 wenngleich auch hier eine Einzelfallabwägung erfolgen muss, um das konkrete Tatunrecht anhand belastender und entlastender Umstände zu ermitteln.26 19 Hinzu tritt der Fall der fehlenden oder nicht auszuschließenden fehlenden Verantwortlichkeit nach § 3 des Jugendgerichtsgesetzes. Nach dem deutschen Strafrecht muss nach dieser Norm die Verantwortlichkeit der bereits 14 Jahre, aber noch nicht 18 Jahre alten Jugendlichen im Einzelfall geprüft werden. 20 Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 25; Senge NJW 1999, 253, 254. 21 Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 12; Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 18, 25 (gerade auch zur Anordnung der Untersuchung); siehe überdies § 484 Abs. 2 Satz 2 StPO. 22 Der Begriff wird etwa auch in den §§ 98a, 100h, 110a, 131, 131a, 131b, 160a, 163e, 163f StPO und in § 2 Abs. 1 BKAG benutzt. 23 BT/Drs. 13/10719, S. 5; BVerfGE 103, 21, 34; BGH HRRS 2012 Nr. 460; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7a. 24 Dazu nur Rieß GA 2004, 623, 627. 25 Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 19; a.A. Senge NJW 1999, 253, 254; vermittelnd SK/Rogall, StPO, 4. Aufl. (2017), § 81g Rn. 20 f. 26 Ausführlich Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 17 ff., insbesondere Rn. 19: Für eine Tat von nicht erheblicher Bedeutung sprechen etwa eine Strafrahmenver-

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bb) Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung Die zweite Fallgruppe der tauglichen Anlasstaten besteht gemäß § 81g Abs. 1 Satz 1 Var. 2 StPO in den Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Dies erfasst jedenfalls ausnahmslos alle Taten der §§ 174 ff. StGB.27 Insoweit kann es etwa beim Vorwurf einer Vergewaltigung zu Überschneidungen mit der ersten Fallgruppe der Straftat von erheblicher Bedeutung kommen.28 Nach der gesetzgeberischen Konzeption kommt es für den Verdacht eines Sexualdelikts aber gerade nicht darauf an, dass die Erheblichkeitsschwelle im Einzelfall erreicht wird.29 cc) Wiederholte Begehung sonstiger Straftaten Schließlich sieht § 81g Abs. 1 Satz 2 StPO noch eine dritte Fallgruppe von Anlasstaten vor. Die Norm erkennt an, dass die wiederholte Begehung von Straftaten, die einzeln betrachtet nicht die Erheblichkeitsschwelle überschreiten, in ihrer Summe der Begehung einer Straftat von erheblicher Bedeutung gleichstehen kann.30 Auch hier entscheidet sodann eine Einzelfallabwägung darüber, ob die Fallgruppe erfüllt ist.31 c) Wiederholungsgefahr Zum tauglichen Adressaten und zur tauglichen Anlasstat muss noch ein weiteres Erfordernis hinzutreten: die anzunehmende Gefahr eines wiederholt zu führenden Strafverfahrens wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung. Konkret verlangt die StPO, dass infolge der Art oder Ausführung der Tat, der Persönlichkeit des Beschuldigten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn künftig Strafverfahren wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung zu führen sind. Entsprechendes gilt für Verurteilte und gleichgestellte Personen.32 schiebung, das Eingreifen eines gesetzlichen Strafmilderungsgrundes, die Verhängung einer Geld- oder Bewährungsstrafe bzw. das gänzliche Absehen von Strafe, tatferne Beteiligungsund bloße Vorbereitungshandlungen sowie psychische Defizite des Täters; BVerfGE 103, 21, 34, 36, 38: Gerichte zur Einzelfallprüfung gezwungen; gerade auch für Jugendliche BVerfG NJW 2008, 281, 282 f.; StV 2014, 578 ff. Grundsätzlich a.A. aber Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7a. 27 Siehe aber noch ohne die §§ 184i und § 184j StGB: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7b. 28 Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 23. 29 BT/Drs. 15/350, S. 3, 11, 23. Entsprechend erkennt das Schrifttum darin deshalb einen Auffangtatbestand, siehe nur Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 23. 30 Zu § 81g Abs. 1 Satz 2 StPO als gesetzlicher Gleichstellungsklausel siehe SK/Rogall, 4. Aufl. (2017), § 81g Rn. 27. 31 M.w.N. BVerfG NStZ-RR 2007, 378; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7c; krit. Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 24; mit dem Beispiel des Hausfriedensbruchs/Stalkings BT/Drs. 15/5674, S. 11. 32 Im Folgenden werden die gleichgestellten Personen nicht stets nochmals miterwähnt; sie sind jeweils mitgemeint.

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aa) Art und Bezugspunkt der Prognose Mit dieser Voraussetzung kommt es auf eine Prognose an, die für den konkreten Einzelfall und damit für den individuellen Beschuldigten bzw. Verurteilten zu erstellen ist.33 Der Wortlaut „Grund zu der Annahme“ wird dabei in der Praxis offenbar großzügig als Erfordernis eines gewissen Tatverdachts interpretiert,34 während das BVerfG die Wahrscheinlichkeit zukünftig begangener Straftaten auf Grund von schlüssigen Tatsachen nach einer zureichenden Sachverhaltsaufklärung verlangt.35 Die Verdachtsprognose muss sich gerade auf eine Straftat von erheblicher Bedeutung nach den Bedingungen des § 81g Abs. 1 Satz 1 Var. 1 StPO richten.36 bb) Tatsächliche Anhaltspunkte für die Prognose Diese Prognose ist ersichtlich schwierig zu leisten. Der Wortlaut scheint zu umreißen, woraus sie abgeleitet werden darf: Die Art oder Ausführung der Tat, die Persönlichkeit des Beschuldigten, aber auch „sonstige Erkenntnisse“ können entscheidende tatsächliche Anhaltspunkte ausmachen. Dabei sollen einzelne Umstände der Anlasstat einander verstärken oder durch andere kompensiert werden können; über

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BVerfGE 103, 21, 35 f.; Krause, FS Rieß, S. 267, 276 f. Zur Abgrenzung von anderen Prognoseerfordernissen des deutschen Strafrechts m.w.N. Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 27 und BVerfGE 103, 21, 36; LG Dresden, Beschl. v. 25. 09. 2006 – 3 Qs 108/04 – Rn. 23 f. Zur Verwandtschaft mit der Prognose des § 16 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 lit. a BKAG BT/Drs. 13/10791, S. 5; OLG Karlsruhe StraFo 2001, 308, 309; SK/Rogall, 4. Aufl. (2017), § 81g Rn. 37; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 8; Fluck NJW 2001, 2292, 2293; a.A. Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 27. 34 Dafür etwa Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7c (am Ende); eher großzügig etwa auch LG Dresden, Beschl. v. 25. 09. 2006 – 3 Qs 108/04 – Rn. 23 f. 35 BVerfGE 103, 21, 37, 39; Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 27 und 29; siehe auch zum Gebot „zureichender Sachaufklärung“ BVerfGE 103, 21, 35 f.; BVerfG NJW 2008, 281, 282 f.; NStZ-RR 2014, 48, 49. 36 Siehe hier begrenzend für lediglich zu erwartende Taten des Exhibitionismus m.w.N. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7b. Im Übrigen ist der Bezugspunkt dieser Prognose umstritten, da das Gesetz von der Gefahr drohender zukünftiger Strafverfahren und nicht von der Gefahr zukünftig drohender Straftaten spricht. Unzweifelhaft erfasst ist die Prognose erheblich bedeutsamer Straftaten, die nach einer Eingriffsanordnung begangen werden. Oft lassen Autoren und Gerichte aber zusätzlich die Prognose genügen, dass in Zukunft ein weiteres Strafverfahren wegen einer Straftat zu führen sein wird, die bereits vor einer Eingriffsanordnung begangen wurde, dafür u. a. LG Frankfurt a.M. StV 2001, 9 f.; SK/ Rogall, 4. Aufl. (2017), § 81g Rn. 30 ff., 36; Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 8; BeckOK/Goers, 34. Ed. (2019), § 81g Rn. 6; West, Der genetische Fingerabdruck als erkennungsdienstliche Standardmaßnahme usw. (2006), S. 68 f.; Schewe JR 2006, 181, 186; Fluck NJW 2001, 2292, 2293; Markwardt/Brodersen NJW 2000, 692, 694; a.A. etwa Löwe/ Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 13 f., 29; KK/Hadamitzky, 8. Aufl. (2019), § 81a Rn. 9; SSW/Bosch, 3. Aufl. (2018), § 81g Rn. 14.

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die Prognose soll eine stets erforderliche umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls entscheiden.37 (a) Die „Art oder Ausführung der Tat“ bezieht sich auf die konkrete Anlasstat.38 Die Art der Begehung verweist insoweit zentral auf den Deliktstypus. In Frage kommen insbesondere schwere Gewalt- oder Sexualdelikte, die nach kriminalistischer Erfahrung wiederholt begangen werden.39 Hinsichtlich der Tatausführung soll zum Beispiel ein „professionelles“ Vorgehen und eine mehrfache Begehung im anhängigen Verfahren für eine Wiederholungsgefahr sprechen; Gleiches gilt für ein planmäßiges, wiederholtes, gewerbs- oder bandenmäßiges Vorgehen.40 Gegen eine tatbezogene Wiederholungsgefahr können etwa ein spontanes Vorgehen oder ein fehlender Tatplan sprechen.41 Besondere Sorgfalt bei der Auswertung der Tatumstände soll geboten sein, wenn die Anlasstat in einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung liegt, der für sich genommen keine erhebliche Bedeutung zukommt.42 (b) Unter dem Stichwort der „Persönlichkeit des Beschuldigten“ werden Umstände relevant, die in der Sphäre des Beschuldigten bzw. Verurteilten liegen und die auf seine „innere Bereitschaft […; schließen lassen, erhebliche] Straftaten zu begehen“.43 In Betracht kommen zum Beispiel Handlungsmotive, eine vom Täter (§ 81g Abs. 4 StPO) angekündigte Tatwiederholung, sein Nachtatverhalten, das Bestehen von Vorstrafen, der Zeitablauf seit der letzten Tatbegehung/dem letzten Verdacht, das Bewährungsverhalten und die früheren und aktuellen Lebensumstände.44 Auch die Zugehörigkeit zu einer „Szene“ bzw. der Ausstieg daraus soll relevant sein.45 (c) Indem das Gesetz schließlich „sonstige Erkenntnisse“ genügen lässt, gesteht es ein, dass es die Tatsachengrundlage letztlich nicht eingeschränkt hat. Nach der Literatur sollen zum Beispiel Informationen genügen können, die auf private Informanten, V-Leute und Verdeckte Ermittler zurückgehen,46 ebenso kriminalistisch und kriminologisch anerkannte Erfahrungssätze.47 37

BVerfG NJW 2016, 2799 f.: auch der Prognose entgegenstehende Tatsachen zu würdigen; Löwe/Rosenberg/Krause, 26. Aufl. (2008), § 81g Rn. 31. 38 Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 32. 39 Zu beidem siehe etwa SK/Rogall, 4. Aufl. (2017), § 81g Rn. 40. 40 Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 32. 41 OLG Karlsruhe StraFo 2001, 308, 309. 42 BT/Drs. 15/350, S. 23; Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 34. Siehe auch zur Anordnung gegenüber Jugendlichen krit. BVerfG NJW 2008, 281, 282 f.; StV 2014, 578 ff. 43 BT/Drs. 13/7208, S. 40; Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 33. 44 Überblick und weitere Nachweise bei Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 33. 45 Überblick und weitere Nachweise bei Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 33. 46 Dazu für den Fall ihrer Verwertbarkeit im Strafverfahren m.w.N. Löwe/Rosenberg/ Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 36.

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d) Eignung und Erforderlichkeit der Maßnahmen Selbst wenn die Prognose der Wiederholungsgefahr gestellt werden kann, darf eine weitere Voraussetzung nicht übersehen werden: Die molekulargenetische Untersuchung und die für sie notwendige Zellentnahme muss zur Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren auch geeignet und erforderlich sein. Von der Durchführung der Untersuchung muss in späteren Verfahren ein Aufklärungserfolg zu erwarten sein.48 Aus diesem Grund scheidet der Rückgriff selbst bei einer bestehenden Wiederholungsgefahr aus, wenn sie Delikte betrifft, bei denen Täter nach allgemeiner Erfahrung im Rahmen der Tatausführung keine Körperzellen hinterlassen.49 Damit unterfällt etwa die Gefahr von Aussagedelikten oder Computerdelikten regelmäßig nicht dem § 81g StPO.50 e) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Über den Wortlaut der Norm hinaus ist aus allgemeinen verfassungsrechtlichen Gründen schließlich der Vorbehalt zu machen, dass die Eingriffe auch im Einzelfall nicht unangemessen sein dürfen (sog. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne).51 Die zu wahrende Angemessenheit klingt im Wortlaut immerhin in den Begründungsanforderungen des § 81g Abs. 3 Satz 3 Nr. 3 StPO an, die eine „Abwägung der jeweils maßgeblichen Umstände“ verlangen. 2. Formelle Voraussetzungen Nach den materiellen Voraussetzungen sind knapper die formellen Voraussetzungen zu schildern, die in § 81g Abs. 3 StPO geregelt sind:

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Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 8. BVerfGE 103, 21, 37; LG Würzburg StraFo 2010, 22 f.; KK/Hadamitzky, StPO, 8. Aufl. (2019), § 81g Rn. 8; siehe schon für eine Zuordnung des Erfordernisses zur Anlasstat MeyerGoßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7a; anders aber schon BVerfGE 103, 21, 34. 49 So hat etwa das OLG Celle am Beispiel der Hehlerei verdeutlicht, dass nicht entscheidend ist, ob gerade bei der Anlasstat im Einzelfall Identifizierungsmaterial hinterlassen wurde, OLG Celle NStZ-RR 2010, 149, 150: potenzielle Aufklärungsrelevanz am Typus der zu erwartenden Straftat festzumachen (weitgehend verneint für die Hehlerei). 50 Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7a; BT/Drs. 13/10791, S. 5; zur besonders umstrittenen Gruppe der BtMG-Delikte siehe etwa Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 38 Fn 289 m.w.N., zur bejahenden hM Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7a. Zur Kasuistik im Übrigen KK/Hadamitzky, 8. Aufl. (2019), § 81g Rn. 8; Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 3. 51 Dazu nur überzeugend m.w.N. Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 5 und 8; nur mittelbar und zweifelhaft Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7a. 48

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a) Anordnungskompetenzen Sowohl die Entnahme der Körperzellen als auch die molekulargenetischen Untersuchungen dürfen grundsätzlich nicht durch die Kriminalpolizei angeordnet werden. Selbst die Staatsanwaltschaft ist zur Anordnung nur dann befugt, wenn der Beschuldigte bzw. Verurteile schriftlich in die Entnahme der Körperzellen und/oder die molekulargenetischen Untersuchungen eingewilligt hat (§ 81g Abs. 3 Satz 1 und 2 StPO).52 Neben der Schriftform53 setzt die wirksame Einwilligung eine vorherige ordnungsgemäße Aufklärung über die Maßnahmen voraus.54 Der Einwilligende muss einwilligungsfähig sein und frei von Willensmängeln handeln.55 Von den materiellen Voraussetzungen der Eingriffe entbindet die Einwilligung in keinem Falle.56 Liegt die Einwilligung nicht vor, darf die Entnahme der Körperzellen grundsätzlich nur durch das Gericht angeordnet werden. Besteht Gefahr im Verzug, dürfen ausnahmsweise auch die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen die Zellentnahme anordnen (zu beiden § 81g Abs. 3 Satz 1 StPO). Die molekulargenetische Untersuchung entnommener Körperzellen darf ohne die Einwilligung des Betroffenen allein das Gericht anordnen (§ 81g Abs. 3 Satz 2 StPO). Da die Untersuchung des Zellmaterials Grundrechte intensiver als die eher geringfügige Zellentnahme beeinträchtigt, steht sie unter einem strikten Richtervorbehalt.57 b) Formalia der Anordnungen Über die Anordnungskompetenz hinaus sind weitere Erfordernisse zu bedenken. Die einwilligende Person ist darüber zu belehren, für welchen Zweck die zu erhebenden Daten verwendet werden (§ 81g Abs. 3 Satz 3 StPO). Erlässt das Gericht eine schriftliche Anordnung, muss es die Anordnungsvoraussetzungen einzelfallbezogen darlegen; es muss damit insbesondere die Erkenntnisse benennen, aus denen die Erwartung zukünftig zu führender Strafverfahren resultiert (näher §§ 81g Abs. 3 52 Zur Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 51. 53 Sie soll der Aufklärung sowie der Dokumentation (dem Nachweis) dienen, BT/Drs. 15/ 5674, S. 11 und 12. 54 BGH medstra 2015, 381, 382; Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 53 f.; MüKo/Trück, StPO 1. Aufl. (2014), § 81g Rn. 22; Markwardt/Brodersen NJW 2000, 692, 693. 55 Erst recht dürfen die Strafverfolgungsbehörden ihn insbesondere nicht täuschen, siehe weiterführend Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 52: Freiwilligkeit fehlt etwa dann, „wenn dem Beschuldigten vermittelt wird, dass sich die Einwilligung in die Maßnahme vorteilhaft für [ihn] im laufenden Verfahren auswirken bzw. eine Verweigerung […] als Indiz für seine Täterschaft […] gewertet werden könne“. 56 Dies hebt zu Recht hervor: Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 51. 57 Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 15, 17; Volk NStZ 1999, 165, 168.

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Satz 4, 81f Abs. 2 Satz 4 StPO).58 Jedenfalls die zwangsweise Entnahme von Körperzellen muss durch einen Arzt durchgeführt werden.59 Mit der Untersuchung sind ausgewählte unabhängige Sachverständige zu beauftragen (näher §§ 81g Abs. 3 Satz 4, 81f Abs. 2 Satz 1 StPO). Durch technische und organisatorische Maßnahmen sind unzulässige molekulargenetische Untersuchungen und unbefugte Kenntnisnahmen Dritter auszuschließen (§§ 81g Abs. 3 Satz 4, 81f Abs. 2 Satz 2 StPO). Dem Sachverständigen ist das Untersuchungsmaterial anonymisiert zu übergeben (näher §§ 81g Abs. 3 Satz 4, 81f Abs. 2 Satz 3 StPO).

III. Legitime und zukunftsweisende Strafverfolgung? Die materielle und formelle Schwelle, die der Gesetzgeber für die DNA-Strafverfolgungsvorsorge aufgestellt hat, ist damit bekannt. Nun ist aber zu bewerten, ob in § 81g StPO auch eine legitime und für weitere Fälle der Strafverfolgungsvorsorge vorbildgebende Regelung liegt. 1. Bewertungsebenen In die Bewertung des § 81g StPO sollten zunächst zwei notwendige Bewertungsebenen einbezogen sein: a) Grundsätzliche Erweiterung der Ermittlungseingriffe Zunächst müssen wir zur Kenntnis nehmen und in Maßstäbe übersetzen, dass wir Zeuge einer grundsätzlichen Ausweitung der Justizpflicht werden, die wir dem Beschuldigten und letztlich allen Bürgern abverlangen: Ohne einen aktuellen Tatverdacht werden Bürger zugunsten der Strafverfolgung gezwungen, Rechte preiszugeben. Grundrechte werden jenseits einer konkreten polizeirechtlichen Gefahr zurückgesetzt. Es werden private Daten gesammelt, die faktisch für eine Vielzahl von Verwendungen in Betracht kommen und damit missbraucht werden könnten. Darin liegt eine prinzipielle Ausweitung des Zugriffs, den der Staat mit dem Argument der strafrechtlichen Tatverdachtsklärung beansprucht. All dies trifft den Beschuldigten, obschon ihm der zugrunde liegende Tatverdacht nicht notwendigerweise zugerechnet

58 § 81g Abs. 3 Satz 3 StPO lautet: In der schriftlichen Begründung des Gerichts sind einzelfallbezogen darzulegen 1. die für die Beurteilung der Erheblichkeit der Straftat bestimmenden Tatsachen, 2. die Erkenntnisse, auf Grund derer Grund zu der Annahme besteht, dass gegen den Beschuldigten künftig Strafverfahren zu führen sein werden, sowie 3. die Abwägung der jeweils maßgeblichen Umstände. 59 Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 3 („idR“).

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bzw. vorgeworfen werden kann.60 Zum Beispiel bei den im Besonderen betroffenen Sexualstraftaten kann eine schlicht falsche Beschuldigung den Verdacht auslösen. Die Identifikation dieser Ausweitung ist bedeutsam, weil in ihr eine strukturelle Neugewichtung im Verhältnis von Freiheit und (strafrechtlich vermittelter) Sicherheit angelegt ist. Sie bedeutet aber nicht, dass wir die Strafverfolgungsvorsorge kategorisch verwerfen sollten: Der Tatverdacht erweist sich in einem freiheitlichen Rechtsstaat als Ausprägung des Gebots, das Strafrecht durch die Aufklärung von Sachverhalten nur verhältnismäßig durchzusetzen. Der Verzicht auf einen bereits aktuell zu klärenden Tatverdacht macht sichtbar, dass der Staat die Aufgabe der Strafverfolgung nun in einem ausgedehnten Ausmaß beansprucht. Gleichwohl erachten wir das noch immer verfolgte Ziel der Straftataufklärung aus gutem Grund für prinzipiell legitim.61 Es ist daher zu fragen, ob wir die bisher insbesondere über den Tatverdacht gesicherte Verhältnismäßigkeit und mit ihr das – mehr oder weniger – bislang erstrittene Verhältnis von Freiheit und Sicherheit nicht trotz der identifizierten Ausdehnung auf anderem Weg sichern können. Dies kommt in Betracht, wenn andere begrenzende Eingriffsschwellen einen Ausgleich mit den nun früher betroffenen Grundrechten leisten und spezifische Bedürfnisse der Strafverfolgung dargetan sind.62 Eine in diesem Sinne anders ansetzende Legitimation der Strafverfolgungsvorsorge ist auch in einer historischen Perspektive durchaus zu durchdenken. Etwa die Frage nach der Erhebung und Speicherung von DNA-Mustern oder von Vorratsdaten hat sich früher schlicht nicht gestellt. Erst die medizinischen/genetischen und insbesondere technologischen Innovationen haben Erkenntnismöglichkeiten geschaffen, deren Wert wir heute nach den Maßstäben der Grundrechte und der Strafrechtspflege kritisch prüfen können, aber auch kritisch prüfen müssen. Ferner erkennen wir mit dem Gefahrenabwehrrecht traditionell an, dass Datensammlungen nicht ausschließlich über einen aktuellen Tatverdacht gerechtfertigt werden müssen. b) Maßnahmenbezogene grundrechtliche Rechtfertigung Gleichwohl ist zu bekennen, dass dieser Ansatz an einer notwendigen und auf neue Kriterien abstellenden Verhältnismäßigkeitsbeurteilung noch keine konkreten Maßstäbe bietet. Dies ist besonders misslich, weil das stetig wachsende medizinisch/ genetisch und technisch Machbare immer weitere Ermittlungsansätze ermöglichen 60 Siehe näher zum Problem der Legitimation der verfahrensrechtlichen Belastungen gegenüber dem Beschuldigten m.w.N. Gaede ZStW 129 (2017), 911 ff. 61 Dafür schon näher m.w.N. zur Rechtsprechung, die ein Gebot zur Etablierung einer funktionstüchtigen Rechtspflege anerkennt, Gaede wistra 2016, 89 ff.; siehe zu den Folgerungen für § 81g StPO auch Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 3 und auch Eisenberg/Puschke JZ 2006, 729, 730 und 731: Anfangsverdacht entsprechende Eingriffsschwelle, welche die Verhältnismäßigkeit leistet. 62 Siehe auch weithin gleichsinnig BVerfGE 103, 21, 34: Maßnahme auf besondere Fälle beschränkt.

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dürfte; sie dürften immer wieder Druck auf einmal gesetzte Grenzen ausüben.63 Auch deshalb muss noch eine zweite, immerhin konkretere Bewertungsebene von Bedeutung sein: Wir dürfen das Problem nicht ausschließlich abstrakt entwickeln. Vielmehr müssen wir gerade auch die vorliegende Maßnahme in den Blick nehmen. Dies heißt zum einen, die von ihr konkret betroffenen Grundrechte zu analysieren. Hier können besonders stark zu schützende Grundrechte etwa deshalb betroffen sein, weil die Maßnahmen besonders sensible Gesundheits-/Gendaten erfassen. Dies kann zum Beispiel in Gestalt der digital manifestierten Erhebung eines Persönlichkeitsprofils absolute und konkretere Grenzen aufdecken.64 Ebenso können besondere Gefahren wie ein chilling effect für die Grundrechtsausübung oder etwa die massenhafte Datenerhebung von Bedeutung sein. Dies spielt vor allem bei der Vorratsdatenspeicherung eine Rolle.65 Auf der anderen Seite ist kritisch aufzunehmen, welche Ermittlungserfolge wirklich von den schönen neuen Möglichkeiten der Strafverfolgungsvorsorge erwartet werden dürfen und welche Bedeutung diese im Strafprozess hätten. 2. § 81g StPO: legitim und vorbildgebend? Von diesem allgemeineren Maßstab ausgehend, der sicher der weiteren Vertiefung zugänglich ist, lässt sich konkret für § 81g StPO erörtern, ob in ihm eine legitime und entsprechend vorbildgebende Strafverfolgungsvorsorge liegt. Das BVerfG66 jedenfalls hat die Legitimität des § 81g StPO ebenso wie der EGMR67 bestätigt. Das Gericht hat zunächst klar bekannt, dass in der Erhebung und Speicherung von DNA-Erkenntnissen für zukünftige Strafverfahren ebenso wie in der Verwendung für die in § 81g Abs. 5 StPO genannten Zwecke eigenständige Eingriffe in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung liegen.68 Insgesamt hat das BVerfG die Verfassungskonformität des § 81g StPO aber bejaht; auch in seiner heutigen, mehrfach erweiterten Form seien die mit der Norm verbundenen

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Dazu schon Fn. 4 und 14. Siehe zur DNA-Analyse schon die Erwägungen des BVerfG zu einer absoluten Grenze wegen einer betroffenen Persönlichkeitsanalyse BVerfGE 103, 21, 31 f.; Löwe/Rosenberg/ Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 3: keine Eingriffe in den codierten Bereich der DNA. Daran arbeitet sich sodann auch ab: Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Strafverfahrens der Bundesregierung vom 23. Oktober 2019, S. 30. 65 Dazu nur EuGH, Urt. v. 8. 4. 2014 – C-293-12 und C-594-12 und bestätigend sowie ausbauend EuGH, Urt. v. 21. 12. 2016 – C-203-15 und C-698-15. 66 BVerfGE 103, 21, 32 ff.; NStZ-RR 2007, 378. 67 So zu Art. 8 EMRK EGMR EuGRZ 2014, 285, 289 ff. 68 BVerfGE 103, 21, 32 f.; dazu bereits Benfer StV 1999, 402 f.; zum demgegenüber eher untergeordneten, wenngleich nicht zu übersehenden Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Löwe/ Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 5 und 9. 64

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Eingriffe nicht zuletzt infolge der kumulativ aufgestellten Eingriffsvoraussetzungen verhältnismäßig.69 a) Gesetzesvorbehalt und Grundrechtsschutz durch Verfahren Dem ist zunächst hinsichtlich der Geltung des Gesetzesvorbehalts zuzustimmen. Das BVerfG hat nicht etwa versucht, die vorliegenden mehrfachen Grundrechtseingriffe zu leugnen. Es hat einmal mehr anerkannt, dass jede Erhebung, Speicherung und Verwendung personenbezogener Informationen insbesondere bei den hier betroffenen Gesundheitsdaten einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung bedarf. Entsprechend verlangt das BVerfG, wie der EGMR, gesetzliche Grundlagen, welche die Eingriffe formell legitimieren und begrenzen.70 Eine solche Grundlage hat der deutsche Gesetzgeber aber mit § 81g StPO geschaffen. Ihr ist zuzubilligen, dass sie anstrebt, die Eingriffe im Wege eines Grundrechtsschutzes durch Verfahren zu begrenzen:71 Ein weitgehend strenger Richtervorbehalt verdeutlicht den Ernst der Eingriffe. Ferner unterstreichen die Forderung nach der einzelfallkonkreten Anordnungsbegründung und das klare Gebot zur anschließenden Vernichtung der DNAProbe die materiellen Grenzen. Gleichwohl sind Abstriche zu machen, weil die Regelung dem Beschuldigen jedenfalls nach der aktuellen, verfehlt erscheinenden Praxis ohne Not kein rechtliches Gehör gewährt.72 Vor allem wird man mindestens für die zuletzt eingefügte Fallgruppe der quantitativ begründeten Straftat von erheblicher Bedeutung bezweifeln müssen,73 dass dem Gesetzgeber auch ein hinreichend bestimmtes Eingriffsgesetz gelungen ist: Es droht eine Praxis, die mehr oder weniger routiniert aus wiederholten Taten oder Verdachtslagen auf eine jeweils erhebliche Bedeutung drohender Straftaten schließt. Dies gilt auch deshalb, weil schon der Begriff der Straftat von erheblicher Bedeutung im Allgemeinen mit seiner Einzelfallbezogenheit keine scharfe Grenze zieht.74 Ein ausdifferenzierter Straftatenkatalog wäre vorzugswürdig gewesen.75

69 BVerfGE 103, 21, 32 ff. (auch zur behaupteten Bestimmtheit und Normenklarheit); zu Erweiterungen BVerfG NStZ-RR 2007, 378. 70 BVerfGE 103, 21, 32 ff. 71 Dazu auch BVerfGE 103, 21, 34 und EGMR EuGRZ 2014, 285, 289 f. 72 M.w.N. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 15; dagegen schon Volk NStZ 1999, 165, 169 f.; Krause, FS Rieß, S. 267, 285 f.; Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 55. 73 M.w.N. Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 24; zweifelnd KK/Hadamitzky, 8. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7; Bergemann/Hornung StV 2007, 164, 166, 168; für die Bestimmtheit aber BVerfG NStZ-RR 2007, 378; EGMR EuGRZ 2014, 285, 289 f. 74 Zur Kritik Fluck NJW 2001, 2292, 2293; zum Streit um die Erfassung möglicher Fahrlässigkeitstaten einerseits Rieß GA 2004, 623, 638 und BGH HRRS 2012 Nr. 460 (bejahend), andererseits Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 22 (verneinend); anders aber BVerfGE 103, 21, 33 f. (noch auf der Basis verbleibender Regelbeispiele).

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b) Materielle Reichweite Zur materiellen Reichweite fällt das Votum ebenfalls geteilt aus. Es ist anzuerkennen, dass sich der Gesetzgeber bemüht, den entfallenden aktuellen Tatverdacht durch eine andere Begrenzungsstrategie zu ersetzen. Er greift nicht zu einer flächendeckenden Datensammlung und bemüht sich, einen besonderen Bedarf für die Strafverfolgungsvorsorge durch mehrere Merkmale zu typisieren, welche die Eingriffe dem Betroffenen zurechenbar erscheinen lassen sollen. Nicht etwa schließt das Parlament aus der Nützlichkeit einer prinzipiellen Datenerhebung und Datenspeicherung auf die Befugnis zu einer umfassenden Vorsorge. Darin liegt ein prinzipieller Fortschritt gegenüber der bisher in Deutschland insbesondere für Lichtbilder und Fingerabdrücke geltenden Regelung (§ 81b Var. 2 StPO): Sie verweist einfach inakzeptabel auf die keine Zurechenbarkeit verbürgende Beschuldigtenstellung und erfährt allenfalls durch die Rechtsprechung noch eine gewisse Beschränkung auf eine kriminalistisch begründete Notwendigkeit.76 Dennoch ist eine wirklich überzeugende Lösung noch nicht gelungen. Zunächst ist zu kritisieren, dass zwar formal die Zweckbindung existiert, die das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verlangt.77 Der Sinn dieser Grenze erscheint aber ad absurdum geführt, weil die Daten für jedes spätere Strafverfahren und für jede Gefahrenabwehr einschließlich der internationalen Rechtshilfe verfügbar sind. Das Gesetz sieht den Verwendungszweck letztlich in einer umfassenden Verwendung der Daten. Sind die Daten einmal gespeichert, kommt der Rückgriff auf sensible Gesundheitsdaten, die gleichsam den Bauplan des Betroffenen enthalten,78 auch für eine Bagatelltat in Betracht.79 Man wird die DNA-Daten zwar nicht ohne weiteres mit der Vorratsdatenspeicherung gleichsetzen können. Auch hier erscheint aber eine Verwendung nur für bedeutsame Katalogtaten angemessener. Ferner ist nochmals zu unterstreichen, dass die Aufnahme in die DNA-Datei auch lediglich früher tatverdächtige Personen für eine beträchtliche Zeit80 Sondereingrif75

Dafür auch schon Schewe JR 2006, 181, 186, 188; Pfeiffer/Höynck/Görges ZRP 2005, 113 ff. (allerdings mit weiteren, hier abgelehnten Implikationen für die Normgestaltung); distanziert Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7. 76 Dazu m.w.N. nur Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81b Rn. 3 f. und 12 f. und m.w.N. BVerwG JZ 2006, 727, 729: Notwendigkeit nach kriminalistischer Erfahrung; BVerwG NJW 2018, 3194, 3195 f.; OVG Berlin-Brandenburg StV 2017, 665. 77 Allein die Beschränkung auf zwei Erkenntnisinhalte bei der Erhebung von Daten lässt sich noch hervorheben, siehe so eher überbetonend: BVerfGE 103, 21, 35; Löwe/Rosenberg/ Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 41. 78 Siehe so plastisch EGMR EuGRZ 2014, 285, 290. 79 Siehe auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 12a: Zugriff der StA im „automatisierten Verfahren“ möglich. Krit. schon Paeffgen StV 1999, 625, 626 f. 80 Zur grundsätzlich mangelnden Datenlöschung aus der DNA-Datei m.w.N. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 12 und 13. Konkret etwa Löwe/Rosenberg/ Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 1: Begründung eines Verdachts nur durch den Abgleich als Folge.

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fen aussetzt, obschon diese den Verdacht nicht notwendigerweise zurechenbar ausgelöst haben müssen. Ihre Daten werden auf Grund einer schwer zu treffenden Negativprognose in eine Datei aufgenommen, die vornehmlich mit Daten verurteilter Personen gefüllt ist und demzufolge eine gewisse stigmatisierende Wirkung entfalten kann.81 Lediglich im Fall einer Verfahrensbeendigung, die auf der Ausräumung des Tatverdachts beruht, ist die Speicherung und Verwendung des DNA-Musters nach dem BKAG unzulässig.82 Insoweit steht es außer Verhältnis,83 dass für die Eingriffe schon der Verdacht einer Sexualstraftat genügen soll, der selbst keine erhebliche Bedeutung zukommt. Hiermit wird letztlich der Weg verlassen, den Verzicht auf einen aktuell zur Handlung zwingenden Tatverdacht durch andere bedeutsame Anforderungen zu kompensieren. Es genügen Delikte, die selbst in ihrer gravierendsten Ausprägung nur mit maximal einem Jahr Freiheitsstrafe bewehrt sind.84 Schließlich sollen offenbar die unlängst eingeführten Vorfeld- und Auffangdelikte, wie die sexuelle Belästigung, (§ 184i StGB) zureichen.85 Es kommt noch hinzu, dass die erforderliche Prognose einer Wiederholungsgefahr bisher keine hinreichende Abgrenzung von einer pauschalen Entrechtung durch den Verweis auf den früheren Tatverdacht leistet. Sie ist bei Lichte besehen im Übermaß vage und beliebig: Würde die Praxis die Wiederholungsgefahr tatsächlich nur nach einer umfassenden und einzelfallbezogenen Gesamtabwägung bejahen, wie es § 81g Abs. 3 Satz 5 StPO gebietet, wäre die Norm nach den Bedürfnissen der Praxis enorm aufwendig. Der bedeutsamste deutsche Praxiskommentar fragt längst, wie es dem Gericht überhaupt möglich sein soll, zum Beispiel nach einer geringfügigen Tat des Exhibitionismus Anhaltspunkte für oder gegen die Gefahr einer zukünftigen Straftat von erheblicher Bedeutung zu gewinnen.86 Näher liegt, dass die Wiederholungsgefahr in der Praxis letztlich bei jeder nicht ganz unplausiblen Annahme des Rechtsanwenders bejaht wird, soweit sich der Betroffene nicht wehrt. Sie dürfte besonders beim Verdacht von Sexualstraftaten schlicht als abschreckende Standardmaßnahme angeordnet werden.

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Dazu auch Rogall, FS Schroeder, S. 691, 707 f. Dazu näher § 8 Abs. 3 und 6 Satz 2 BKAG a.F. und m.w.N. Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 25, siehe heute auch § 18 Abs. 5 BKAG und plausibel für eine erweiternde Löschungspraxis Eisenberg/Puschke JZ 2006, 729, 731. Siehe aber auch zur Speicherhöchstfrist von zehn Jahren EGMR EuGRZ 2014, 285, 290. 83 So im Ergebnis schon Duttge/Hörnle/Renzikowski NJW 2004, 1065, 1071 f.; Schewe JR 2006, 181, 186 f.; zweifelnd bereits Löwe/Rosenberg/Krause, 27. Aufl. (2017), § 81g Rn. 23. 84 Zum Exhibitionismus siehe § 183 StGB. 85 Siehe ferner die Förderung von Sexualstraftaten, die aus Gruppen heraus begangen werden, § 184j StGB. 86 Siehe bezeichnend Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 81g Rn. 7b und auch 7c: Verdacht schwer zu verifizieren; dazu auch grundlegender Pfeiffer/Höynck/Görges ZRP 2005, 113, 115 ff. 82

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IV. Zusammenfassung in Hauptthesen Ich bin nun am Ende angelangt. Wie ist die von Kraftwerk vorgeahnte schöne neue Welt der auch aus genetischen Daten gespeisten vorsorglichen Datenspeicherung nun zu bewerten? Ich möchte dazu drei Hauptthesen als Ergebnis festhalten: 1. Wir erleben mit der Strafverfolgungsvorsorge zum Beispiel in Gestalt der Erhebung und Speicherung von DNA-Identifizierungsmustern eine prinzipielle Ausweitung strafprozessualer Ermittlungsmaßnahmen bzw. Grundrechtseingriffe. 2. Derartige Maßnahmen sind nicht ausnahmslos illegitim; sie müssen aber dem Vorbehalt des Gesetzes genügen und angesichts des mangelnden Tatverdachts an besondere Legitimationsschwellen gebunden werden, die auch von den konkret berührten Grundrechten abhängen. 3. Die Regelung des § 81g StPO ist dafür zu loben, dass sie den expliziten Regelungs- und Einschränkungsbedarf erkennt; sie weist aber einen überdehnten Anwendungsbereich auf und gibt deshalb nur sehr eingeschränkt ein Vorbild für eine freiheitsrechtlich angemessene Strafverfolgungsvorsorge.

Die Rolle der forensischen Molekulargenetik im Strafprozess Von Henning Rosenau und Carina Dorneck Wie kaum eine andere kriminaltechnische Untersuchungs- und Nachweismethode hat die DNA-Analyse das Strafverfahren nachhaltig beeinflusst. Bereits mithilfe winzigster Mengen organischer Partikel, die der Täter nahezu zwangsläufig am Tatort hinterlässt – etwa abgeschürfte Hautzellen, Speichel, Urin, Blut,1 Samenflüssigkeit – ist es heute möglich, den Spurenleger genauso zuverlässig zu identifizieren wie über seinen Fingerabdruck.2 Nicht von ungefähr wird deshalb auch vom genetischen Fingerabdruck gesprochen3 – weniger prätentiös wie wenig anschaulich nennt der Gesetzgeber es nun „DNA-Identifizierungsmuster“. Stimmen bei einem Spurenvergleich die am Tatort gefundenen Materialien mit dem DNA-Profil des Untersuchten überein, steht die Urheberschaft des Untersuchten mit außerordentlich hoher mathematischer Wahrscheinlichkeit fest; denn der genetische Code eines jeden Menschen ist genauso einzigartig wie sein Fingerabdruck – sehen wir von der Möglichkeit eineiiger Zwillinge einmal ab. Weicht das sichergestellte Material auch nur geringfügig ab, scheidet der Untersuchte als Täter dagegen zuverlässig aus.4

I. Entwicklung und Bedeutung der DNA-Analyse für den Strafprozess Es war allerdings keine Liebe auf den ersten Blick, sondern eine durchaus zaghafte und zögerliche Annäherung zwischen Strafjustiz einerseits und Molekulargenetik andererseits, bis es zum heutigen Zustand gekommen ist und bis die DNA-Analyse ihre heutige zentrale Rolle in der Beweisaufnahme gespielt hat. Ganz im Gegenteil.

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Darunter auch Menstrualblut, siehe Schneider/Forat/Olek, Kriminalistik 2012, 152 ff. Zu Einzelheiten der Durchführung siehe Schneider/Fimmers/Schneider/Brinkmann, NStZ 2007, 447; SK-StPO/Rogall, 5. Aufl. 2018, § 81a Rn. 101 ff. 3 So bereits Sternberg-Lieben, NJW 1987, 1242. Vgl. auch SSW-StPO/Bosch, 3. Aufl. 2018, § 81e Rn. 1; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 29. Aufl. 2017, § 33 Rn. 21; Krehl/Kolz, StV 2004, 447; Senge, NJW 1997, 2409. 4 Keller, NJW 1989, 2289; Swoboda, StV 2013, 461. 2

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Die 1985 in Großbritannien entwickelte Methode der DNA-Analytik5 wurde für den deutschen Strafprozess zunächst als unzulässig angesehen.6 Das mag auch mit Struktur und Grundbedingungen der Jurisprudenz zusammenhängen, die keine Seinswissenschaft ist und die Sachverhalte vom Normativen aus beleuchtet. Den naturwissenschaftlich-mathematischen Zugang muss sich diese Disziplin im interdisziplinären Diskurs – im Prozess erfolgt das über einen selbständigen Helfer bei der Wahrheitsfindung,7 den Sachverständigen – erst aneignen. Das zeigt sich immer wieder in frappierenden Fehlleistungen, die sich im geflügelten Wort: „iudex non calculat“ niedergeschlagen haben. Ein klassischer Fall ist der des „Chinesen-Kalle“, der im Berliner Grunewald erschossen worden war.8 Ein „bebluteter“ 1.000 DM-Schein war ein wesentliches Belastungsindiz, welchen der mutmaßliche Mörder bei seiner Verhaftung mit sich trug. Die DNA-Analyse der Blutspur ergab, dass deren Merkmale auch im Blut des Opfers enthalten waren. Dazu hatte der Sachverständige festgestellt, dass die identische Merkmalskombination in Mitteleuropa mit einer Häufigkeit von 3 % auftritt. Die Strafkammer führte dazu aus, dass „die Häufigkeit der Merkmalskombination 1:30.000“ betrage. Das war falsch. Denn die Umrechnung einer Merkmalshäufigkeit von 3 % hätte eine Häufigkeit der Kombination von 1:33 ergeben müssen, etwa jede 33. Person also trug die entsprechenden Merkmale. Das LG hatte demzufolge angenommen, dass die Merkmalskombination beim Blut des Chinesen-Kalle tausendmal seltener vorkam, als es tatsächlich der Fall war, und hatte folglich die Beweiskraft der Blutspur deutlich überschätzt. Der BGH hob den Schuldspruch wegen Mordes auf. Dieser Fall ist im Übrigen auch deshalb bemerkenswert, weil er ein Beispiel für einen nachhaltigen Revisionserfolg darstellt. Im zweiten Verfahrensdurchgang kam es zu einem Freispruch des vermeintlichen Täters mit dem 1.000 DM-Schein.9 Bei solchen Fallstricken, in die hier drei gestandenen Berufsrichter geraten sind, ist die Reserve der Justiz gegen solche mathematischen Verfahren nicht gänzlich unverständlich. Allerdings hat die Justiz doch ziemlich bald, bereits vier Jahre nach deren Entdeckung, das für sie selbst hilfreiche Potential der DNA-Analyse erkannt. Sie wurde erstmals in einem Mordfall angewandt und war – darauf kommt es an – für die Täteridentifizierung das maßgebliche Element. So etwas lässt keinen Strafrichter kalt. 1990 erklärte dann der BGH die DNA-Analyse zum Zwecke der Täteridentifizierung bei schweren Verbrechen grundsätzlich für zulässig10 und präzisierte in einer vielbe5 Kühne, Strafprozessrecht, 9. Aufl. 2015, Rn. 485. Einen Rechtsvergleich zu den DNAAnalysedateien für Strafverfolgungszwecke in England und Deutschland bietet Antonow, JR 2005, 99 ff. 6 Steinke, NJW 1987, 2914 f. 7 Rosenau/Lorenz, in: Bartsch et al. (Hrsg.), FS Kreuzer zum 80. Geburtstag, 2018, S. 401, 404 ff.; Schreiber, in: Broda et al. (Hrsg.), FS Wassermann, 1985, S. 1007, 1008. 8 BGH, Urt. v. 20. 6. 1996 – 5 StR 625/95, StV 1996, 583. 9 Berichtet von Nack, in: Hanack et al. (Hrsg.), FS Rieß, 2002, S. 361. 10 BGH, Urt. v. 21. 8. 1990 – 5 StR 145/90, BGHSt 37, 157. Krit. zu dieser Entscheidung Rademacher, NJW 1991, 735 ff.

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achteten Folgeentscheidung Handhabung und Beweiswert der Analysen.11 Heute sind DNA-Gutachten im Strafprozess, insbesondere bei Schwurgerichtsfällen, nicht mehr wegzudenken.12 Während der BGH anfänglich das Ergebnis des Gutachtens als lediglich abstrakt statistische Aussage wertete, dessen Bedeutung relativierte und den begrenzten Beweiswert einer solchen Ziffer hervorhob,13 die eine Würdigung aller Beweisumstände erforderte, erfolgte nach und nach eine Relativierung dieser Relativierung. Angesichts der inzwischen erreichten Standardisierung der molekulargenetischen Untersuchungen genügt ihm mittlerweile ein ermittelter Seltenheitswert im Millionenbereich, um die untersuchte Person als Spurenleger am Tatort zu identifizieren.14 Durch DNA-Analysen gelingt es den Ermittlern heute nicht nur immer häufiger, sondern auch immer schneller, Verbrechen aufzudecken. So benötigte die Spurensicherung im Mordfall des Münchener Modeschöpfers Rudolph Moshammer gerade einmal zwei Tage, bis sie am Telefonkabel, mit dem das Opfer erdrosselt wurde, Spuren des Täters fand, die diesen überführten.15 Außerdem spielen DNA-Gutachten bei der Aufklärung von Altfällen eine maßgebliche Rolle.16 Mit Hilfe eines DNA-Abgleichs konnte beispielsweise ein Mann, der in den Jahren 1983 bis 1990 fünf Anhalterinnen mitgenommen, vergewaltigt und anschließend in Verdeckungsabsicht ermordet hatte, 2009 – also nach fast 20 Jahren – als Täter identifiziert und schließlich rechtskräftig abgeurteilt werden.17

II. Schwierigkeiten der DNA-Analyse Bei aller Treffsicherheit: Die DNA-Analyse kann nicht als Allheilmittel zur Identifizierung der Täter und zur Aufklärung aller Verbrechen dienen.18 Achillesferse der DNA-Analytik ist insbesondere deren Unmöglichkeit, weder über den Zeitpunkt der Antragung des Materials am Tatort noch zu den diesbezüglichen Umständen Aufschluss zu liefern. So könnte das gefundene Spurenmaterial auch durch sog. Sekundärübertragungen an den Tatort gelangt sein: Fasst der eigentliche Spurenleger zunächst den Tatverdächtigen und dann erst Gegenstände am Tatort an, besteht die Gefahr, dass die am Tatort aufgefundenen organischen Partikel dem unbeteiligten 11

BGH, Urt. v. 12. 8. 1992 – 5 StR 239/92, BGHSt 38, 320. Kühne, Strafprozessrecht, 9. Aufl. 2015, Rn. 485; LR/Krause, 27. Aufl. 2017, § 81e Rn. 1; HK-GS/Neuhaus, 4. Aufl. 2017, § 81e Rn. 1; Stenger, Kriminalistik 2017, 491; Magnus, NJW 2015, 2597; Mysegades, CR 2018, 225. 13 BGH, Urt. v. 12. 8. 1992 – 5 StR 239/92, BGHSt 38, 320, 322 f. 14 BGH, Beschl. v. 21. 1. 2009 – 1 StR 722/08, NStZ 2009, 285. 15 Pfeiffer/Höynck/Görgen, ZRP 2005, 113; Schewe, JR 2006, 181; Hinrichs, KJ 2006, 60. 16 de Vries, Kriminalistik 2013, 680. 17 BGH, Beschl. v. 24. 6. 2009 – 2 StR 51/09. 18 Hierzu sowie zum Umgang mit Problemsituationen Baur/Fimmers/Schneider, StV 2010, 175, 176 f. 12

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Tatverdächtigen und nicht dem eigentlichen Täter zugeordnet werden.19 In solchen Fällen kommt es vermehrt zu Freisprüchen.20 Ebenso stellen Mischspuren ein Problem dar. Mischspuren sind solche, bei denen bei der untersuchten Anhaftung Zellen von mehr als einer Person gefunden werden.21 Für solche Spuren existiert zwar eine umfangreiche Stellungnahme der Spurenkommission zu diesbezüglichen Rechenoperationen.22 Gleichwohl wird der Tatrichter mit dem eigentlichen Problem einer tragfähigen Interpretation hinsichtlich des Beweiswertes der Spuren ziemlich allein gelassen.23 Daneben kann es zu Verwechslungen der Proben, Fehlern bei deren Übertragung oder zu Verunreinigungen der Probenentnahmestäbchen bzw. -trägern kommen.24 Zu erinnern ist an das sog. Heilbronner Phantom: Nach dem Polizistenmord in Heilbronn wurde aufgrund von DNA-Spuren am Tatort eine umfangreiche Fahndung nach einer weiblichen Täterin losgetreten. Es wurde ein Zusammenhang zwischen diesem Mord und einer Reihe weiterer Straftaten vermutet, weil an 40 weiteren Tatorten übereinstimmende DNA-Spuren aufgefunden wurden. Es stellte sich nach intensiven Ermittlungen schließlich heraus, dass hier vergeblich nach einem Serienmörder gefahndet wurde. Die zur Spurensicherung benutzten Wattestäbchen waren vielmehr mit organischem Material einer Verpackungsmitarbeiterin der Herstellerfirma kontaminiert.25 Um die soeben beschriebenen Probleme in den Griff zu bekommen und die Fehlerquote der DNA-Analysen zu minimieren, haben Wissenschaftler neuerdings Computerprogramme auf der Grundlage statistischer Modelle entwickelt, die bereits in kommerziellen Big-Data-Zusammenhängen eingesetzt werden. Diese sollen die Auswertung von DNA-Spuren ermöglichen, die Sachverständige für unauswertbar erklären würden. Sie finden sich bereits auf dem Programm von Fortbildungsveranstaltungen für Rechtsmediziner und kriminaltechnische Institute; in der deutschen Gerichtspraxis sind sie allerdings noch nicht wirklich angekommen.26

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Schneider, Kriminalistik 2005, 303, 307. Vgl. nur BGH, Beschl. v. 12. 10. 2011 – 2 StR 362/11, NStZ 2012, 403, 404. 21 MAH-Strafverteidigung/Bastisch/Schmitter, 7. Aufl. 2018, § 71 Rn. 65. 22 Schneider/Fimmers/Schneider/Brinkmann, NStZ 2007, 447 ff. 23 de Vries, Kriminalistik 2013, 680. 24 Weitere Fehlerquellen zeigen Artkämper, StV 2017, 553, 556 sowie Kühne, Strafprozessrecht, 9. Aufl. 2015, Rn. 489 auf. 25 de Vries, Kriminalistik 2013, 680; allgemein zu diesem Problem und zum besseren Umgang mit solchen Grenzfällen mithilfe eines Computerprogramms Mysegades, CR 2018, 225 ff. 26 Zu den biologischen, statistischen und informatischen Rahmenbedingungen dieser Computerprogramme sowie zu ihrer Nutzbarkeit im Strafverfahren siehe umfassend Mysegades, CR 2018, 225 ff. 20

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III. Entwicklung der Rechtsprechung Wie bereits erwähnt, fand die DNA-Analyse Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre Eingang in das kriminalistische Instrumentarium und in die richterliche Beweiswürdigung zur Aufklärung schwerer Straftaten.27 Vom BGH wurden die Zulässigkeit der DNA-Analyse zum Zwecke der Täteridentifizierung bei schweren Verbrechen bestätigt28 sowie Handhabung und Beweiswert der Analysen präzisiert.29 Trotz der mittlerweile gegebenen Treffsicherheit besitzt die DNA-Analyse bis heute lediglich Indizwirkung; sie stellt allerdings ein überragend wichtiges Indiz dar.30 Während in den Anfängen der DNA-Analyse im Strafprozess in den Gutachten noch Wahrscheinlichkeiten lediglich im Millionenbereich vermerkt waren, steigerten sich die Berechnungen im Laufe der Jahre bis in den Billiardenbereich. Angesichts dieser Zahlen verzichteten viele DNA-Analytiker vermehrt auf konkrete Wahrscheinlichkeitsberechnungen und gaben nur noch Quoten „jenseits“ einer bestimmten Wahrscheinlichkeit an. Dementsprechend sahen auch manche Tatrichter von der Angabe einer Häufigkeitsverteilung im Urteil ab und führten lediglich an, dass aufgrund des DNA-Gutachtens von einer Übereinstimmung von Tatortspur und Vergleichsmaterial auszugehen sei.31 Zunächst schien es, als würde der BGH solch eine Verkürzung akzeptieren. So führte der 1. Strafsenat hinsichtlich des Beweiswertes einer solchen Wahrscheinlichkeitsangabe im Jahr 2009 aus, dass angesichts der inzwischen erreichten Standardisierung der molekulargenetischen Untersuchung bei einem Seltenheitswert im Millionenbereich das Ergebnis einer DNA-Analyse für die Überzeugungsbildung des Tatrichters ausreichen kann, wenn es darum geht, dass die gesicherte Tatspur vom Angeklagten herrührt. Nur die Berechnungsgrundlage müsse den von der Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen32 entsprechen.33 Unabhängig davon war aber stets die weitere Frage darzulegen, ob zwischen der DNA-Spur und der Tat ein Zusammenhang besteht.34 Zwei Jahre später beanstandete der 2. Strafsenat jedoch dieses Vorgehen und verlangte, dass in den Entscheidungsgründen der Wahrscheinlichkeitsgrad einer Über-

27 Vgl. die ersten Entscheidungen zum DNA-Beweis: LG Berlin, Beschl. v. 14. 12. 1988 – 529 – 20/88, NJW 1989, 787; LG Darmstadt, Urt. v. 3. 5. 1989 – 10 Js 21 985/87, NJW 1989, 2338; LG Heilbronn, Urt. v. 19. 1. 1990 – 6 KLs 42/89, NJW 1990, 784. 28 BGH, Urt. v. 21. 8. 1990 – 5 StR 145/90, BGHSt 37, 157. 29 BGH, Urt. v. 12. 8. 1992 – 5 StR 239/92, BGHSt 38, 320. 30 SSW-StPO/Bosch, 3. Aufl. 2018, § 81e Rn. 4. 31 de Vries, Kriminalistik 2013, 680 f. 32 BGH, Urt. v. 12. 8. 1992 – 5 StR 239/92, BGHSt 38, 320, 322 ff. 33 BGH, Beschl. v. 21. 1. 2009 – 1 StR 722/08, NJW 2009, 1159; zust. Baur/Fimmers/ Schneider, StV 2010, 175 ff. 34 BGH, Beschl. v. 21. 1. 2009 – 1 StR 722/08, NJW 2009, 1159. Baur/Fimmers/Schneider, StV 2010, 175, 177; Neuhaus, StraFo 2010, 344 f.

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einstimmung weiterhin anzugeben sei.35 Schließlich ist es dem Tatrichter auch ein Leichtes, die Häufigkeitsangabe aus dem schriftlichen Gutachten in das Urteil aufzunehmen, muss er hierfür doch nur das Gutachten in der Hauptverhandlung nach § 256 Abs. 1 StPO verlesen.36 Kurze Zeit darauf verschärfte der 3. Strafsenat die Begründungsanforderungen noch einmal:37 Die DNA-Analytik sei zwar inzwischen in ihren Abläufen so weit standardisiert, dass es im Urteil hierzu keiner Darlegungen mehr bedürfe. Dies gelte jedoch nicht für die sich im zweiten Schritt anschließende Wahrscheinlichkeitsberechnung. Dem Tatrichter wurde aufgegeben, die Zahl der Wiederholungen in den beiden zugehörigen Allelen mitzuteilen, Stellung zur Anwendbarkeit der Produktregel zu nehmen, die Verbreitungswahrscheinlichkeiten zu erläutern und die dazu herangezogene Vergleichspopulation zu benennen sowie am Ende die Wahrscheinlichkeiten zu berechnen. Diese hohen Anforderungen an den Begründungsaufwand gab der BGH später allerdings teilweise wieder auf.38 Den allgemeinen Darlegungsanforderungen folgend wurde von den Tatgerichten verlangt, in den Urteilsgründen mitzuteilen, wie viele Systeme untersucht wurden, ob und inwieweit sich Übereinstimmungen in den untersuchten Systemen ergaben und mit welcher Wahrscheinlichkeit die festgestellte Merkmalskombination zu erwarten ist.39 Unlängst rückte der BGH aber auch von den beiden erstgenannten Anforderungen ab:40 Nach dem erreichten wissenschaftlichen Stand der forensischen Molekulargenetik sei die biostatistische Wahrscheinlichkeitsberechnung in Fällen eindeutiger Einzelspuren soweit vereinheitlicht, dass es einer Darstellung der Anzahl der untersuchten Merkmalssysteme und der Anzahl der Übereinstimmungen in den untersuchten Merkmalssystemen nicht mehr bedürfe. Vielmehr genüge die Mitteilung des Gutachtenergebnisses in Form der biostatistischen Wahrscheinlichkeitsaussage in numerischer Form, weil diese die beiden übrigen bisherigen Anforderungen widerspiegele.41 Die Begründungsanforderungen für Einzelspuren wurden damit ge35

BGH, Beschl. v. 12. 10. 2011 – 2 StR 362/11, NStZ 2012, 403. de Vries, Kriminalistik 2013, 680, 681. 37 BGH, Beschl. v. 6. 3. 2012 – 3 StR 41/12, NStZ 2012, 464; zust. Neuhaus, StV 2013, 137, 140 f.; bestätigt in BGH, Urt. v. 3. 5. 2012 – 3 StR 46/12, NStZ 2013, 177. 38 BGH, Urt. v. 21. 3. 2013 – 3 StR 247/12, NJW 2013, 2612. Nach Malek enthält das Urteil allerdings „wenig Neues“, StV 2014, 590. Zu den Grundlagen der DNA-Berechnungen siehe Willuweit et al., NStZ 2018, 437 ff. sowie Roewer/Willuweit, Rechtsmedizin 2018, 149 ff. 39 BGH, Urt. v. 24. 3. 2016 – 2 StR 112/14, NStZ 2016, 490; BGH, Beschl. v. 22. 2. 2017 – 5 StR 606/16, BeckRS 2017, 103721; BGH, Beschl. v. 18. 1. 2018 – 4 StR 377/17, BeckRS 2018, 5995. Die Wichtigkeit einer kritischen richterlichen Auseinandersetzung mit dem Urteil betont auch Artkämper, StV 2017, 553, 555 ff. 40 BGH, Beschl. v. 28. 8. 2018 – 5 StR 50/17, BGHSt 63, 187 ff. 41 BGH, Beschl. v. 28. 8. 2018 – 5 StR 50/17, BGHSt 63, 187, 189 ff. Dem stehe auch die Rspr. des 3. Strafsenats v. 3. 5. 2012 – 3 StR 46/12, NStZ 2013, 177 nicht entgegen, weil der Senat lediglich eine im Tatsächlichen abweichende Bewertung des fortgeschrittenen wissenschaftlichen Stands der biostatistischen Wahrscheinlichkeitsberechnung im Rahmen molekulargenetischer Sachverständigengutachten vorgenommen habe (a.a.O., 191). Eine die Rechtsfrage betreffende Divergenz nach § 132 Abs. 2 GVG mit der Konsequenz der Anrufung des Großen Strafsenats für Strafsachen liege damit nicht vor. 36

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lockert; für Mischspuren gelten aber weiterhin erhöhte Begründungsanforderungen. Dies stellte der BGH mit Urteil vom 6. 2. 2019 ausdrücklich klar:42 Bei Mischspuren sei von den Tatgerichten weiterhin die Mitteilung in den Urteilsgründen zu verlangen, wie viele Systeme untersucht wurden, ob und inwieweit sich Übereinstimmungen in den untersuchten Systemen ergaben und mit welcher „Wahrscheinlichkeit“ die festgestellte Merkmalskombination bei einer weiteren Person zu erwarten ist.43 Je nach den Umständen des konkreten Einzelfalles könnten aber auch noch strengere Anforderungen gelten. Es empfehle sich daher regelmäßig die Angabe, wie viele Spurenverursacher in Betracht kommen, um welchen Typ von Mischspur es sich handelt und welche Bedeutung einer fremden Ethnie für die Vergleichspopulation zukommt.44 Hinsichtlich der Verwertbarkeit der erlangten DNA-Proben betonte die Rechtsprechung zwar stets, dass die molekulargenetische Untersuchung entnommener Körperzellen einer strengen Zweckbindung unterliege, die sich nach der jeweiligen Eingriffsgrundlage bestimme.45 Gleichwohl wurde die Verwertung verfahrensfehlerhaft erlangter Proben sowie die Verwertung von sog. Beinahetreffern zugelassen. So durfte eine Speichelprobe, der eine verfahrensfehlerhafte Einwilligung des Angeklagten zugrunde lag und die der Angeklagte nur für das laufende Verfahren abgegeben hatte (§ 81e StPO), für das zukünftige Strafverfahren gem. § 81a Abs. 3 StPO nicht verwendet werden; ein Verwertungsverbot für das weitere gerichtliche Verfahren folgerte der BGH hieraus jedoch nicht.46 Der Senat unterstrich – ähnlich der Ablehnung der fruit of the poisonous tree-Doktrin47 – den Ausnahmecharakter eines Beweisverwertungsverbots sowie die Bedeutung einer funktionstüchtigen Strafverfolgung und der Wahrheitsfindung, die im Rahmen der Abwägung den festgestellten Verfahrensverstoß im konkreten Fall überwiegen würden.48 Auch die Verwertung von Beinahetreffern ließ der BGH zu.49 Zwar stellte die Verwertung einer durch eine angeordnete molekulargenetische Reihenuntersuchung zufällig gewonnene Erkenntnis, dass zwischen dem Verursacher der bei der Tat gelegten DNA-Spur und einem Teilnehmer der Untersuchung eine verwandtschaftliche Beziehung wahrscheinlich ist (Beinahetreffer), zu diesem Zeitpunkt einen Rechtsverstoß dar. Ein Beweisverwertungsverbot verneinte das Gericht gleichwohl, weil die diesbezügliche

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Urt. v. 6. 2. 2019 – 1 StR 499/18, NStZ 2019, 427. BGH, Urt. v. 6. 2. 2019 – 1 StR 499/18, NStZ 2019, 427, 428. 44 BGH, Urt. v. 6. 2. 2019 – 1 StR 499/18, NStZ 2019, 427, 428. 45 BGH, Urt. v. 20. 12. 2012 – 3 StR 117/12, BGHSt 58, 84; BGH, Beschl. v. 20. 5. 2015 – 4 StR 555/14. 46 BGH, Beschl. v. 20. 5. 2015 – 4 StR 555/14, NJW 2015, 2594; zust. Magnus, NJW 2015, 2597. 47 BGH, Urt. v. 22. 2. 1978 – 2 StR 334/77, BGHSt 27, 355, 357; BGH, Urt. v. 18. 4. 1980 – 2 StR 731/79, BGHSt 29, 244, 249. 48 Magnus, NJW 2015, 2597. 49 BGH, Urt. v. 20. 12. 2012 – 3 StR 117/12, BGHSt 58, 84. 43

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Rechtslage für die Ermittlungsbehörden ungeklärt war.50 Maßgeblich für den Senat war, dass der Gesetzgeber bis dato keine Regelungen für den Umgang mit solchen Beinahetreffern getroffen hatte.

IV. Rechtliche Grundlagen der DNA-Analyse Der Gesetzgeber reagierte auf diese Beanstandung des BGH und reformierte § 81h StPO mit Gesetz vom 17. 8. 2017.51 Im Zuge dieser Reform wurde die Zulässigkeit der Verwertung von Beinahetreffern auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. Eine ausdrückliche Regelung zur DNA-Analyse enthielt die Strafprozessordnung jedoch seit dem Jahr 1997.52 Schon kurze Zeit später wurde diese um eine Bestimmung ergänzt, die die Speicherung des DNA-Identifizierungsmusters zur Verwendung in zukünftigen Verfahren regelt.53 Auf Druck rechtspolitischer Forderungen54 sowie aufgrund spektakulärer Ermittlungserfolge55 wurde 2005 sodann das Gesetz zur Novellierung der forensischen DNA-Analyse erlassen.56 Hierdurch wurde der Anwendungsbereich der Ermittlungsmethode ausgeweitet, der Richtervorbehalt eingeschränkt, erstmals eine Vorschrift zur DNA-Reihenuntersuchung eingeführt und die Datenerhebung auf Grundlage einer Einwilligung ausdrücklich zugelassen.57 Jüngste Änderung war die soeben genannte Reform des § 81h StPO.58 Rechtliche Grundlage der forensischen DNA-Analyse sind somit die §§ 81e ff. StPO. Dabei stellt § 81e StPO die Ausgangsnorm für das laufende Verfahren dar; § 81g StPO erlaubt eine Identitätsfeststellung des Beschuldigten für zukünftige Strafverfahren und § 81h StPO enthält schließlich die Rechtsgrundlage für sog. DNA-Reihenuntersuchungen.59 50 BGH, Urt. v. 20. 12. 2012 – 3 StR 117/12, BGHSt 58, 84; krit. hierzu Jahn, JuS 2013, 470, 471 f.; Rogall, JZ 2013, 874, 879 f. 51 Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens v. 17. 8. 2017, BGBl. I, S. 3202. 52 Strafverfahrensänderungsgesetz v. 17. 3. 1997, BGBl. I, S. 534. Ausführlich zu diesem Gesetz siehe Rath/Brinkmann, NJW 1999, 2697 ff. sowie Senge, NJW 1999, 2409 ff. 53 DNA-Identitätsfeststellungsgesetz v. 7. 9. 1998, BGBl. I, S. 2646. Siehe hierzu auch Senge, NJW 1999, 253 ff.; Volk, NStZ 2002, 561 ff.; Busch, NJW 2002, 1754 ff.; Ohler, StV 2000, 326. 54 Unter anderem von Bergmann, Kriminalistik 2003, 222 f. 55 Insbesondere der Aufklärung des Falles Moshammer, siehe hierzu Pfeiffer/Höynck/ Görgen, ZRP 2005, 113. 56 Zu dieser Neuregelung siehe Hinrichs, KJ 2006, 60, 62 ff.; Bergemann/Hornung, StV 2007, 164 ff.; Senge, NJW 2005, 3028 ff. 57 Bergemann/Hornung, StV 2007, 164 f. 58 Einen ausführlichen Überblick zu der strafprozessualen Gesetzgebung der forensischen Verwendung der DNA bietet Beck, Die DNA-Analyse im Strafverfahren, 2015, S. 27 ff. 59 Zu den revisionsrechtlichen Fragen bei Verstoß gegen eine dieser Vorschriften siehe Graalmann-Scheerer, in: Hanack et al. (Hrsg.), FS Rieß, 2002, S. 153, 154 ff.

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1. Molekulargenetische Untersuchung nach § 81e StPO § 81e Abs. 1 Satz 1 StPO bestimmt, dass an nach § 81a Abs. 1 StPO gewonnenem Material60 des Beschuldigten61 molekulargenetische Untersuchungen vorgenommen werden dürfen, soweit dies zur Erforschung des Sachverhalts erforderlich ist. Die Untersuchung ist dabei auf die Ermittlung des DNA-Identifizierungsmusters, der Abstammung und auf die Bestimmung des Geschlechts beschränkt. Der Gesetzgeber hat auf die häufig zu lesende Differenzierung von kodierenden (den unzulässigen) und nicht-kodierenden (den zulässigen) Bereichen verzichtet. Damit sollte eine wissenschaftliche Entwicklung der Untersuchungsmethoden offengehalten werden. Wie so oft trifft aber auch hier das Diktum Gustav Radbruchs, dass das Gesetz klüger ist als seine Verfasser – und klüger sein muss als seine Verfasser.62 Denn mittlerweile weiß man, dass auch die nicht-kodierenden Bereiche Rückschlüsse auf Aussehen, Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale gestatten.63 Dennoch dürfen Feststellungen, die über die in § 81e Abs. 1 Satz 1 StPO genannten hinausgehen, nicht angeordnet werden. Insbesondere ist das sog. Phenotyping nicht zulässig, also eine umfassende molekulargenetische Untersuchung zur Feststellung genetisch bedingter Merkmale, wie etwa Haar- oder Augenfarbe.64 Dies ergibt sich bereits aus dem Gesetzeswortlaut des Satzes 1. Insofern kommt dem Beweiserhebungsverbot des Satzes 2 („Andere Feststellungen dürfen nicht erfolgen …“) lediglich eine klarstellende Funktion zu.65 Mit anderen Worten: dieses Satzes hätte es nicht bedurft. Ein Verstoß hiergegen führt zu einem Beweisverwertungsverbot.66 Für Maßnahmen nach § 81e StPO genügt der einfache Anfangsverdacht. Nichtsdestotrotz unterliegen Untersuchungen nach § 81e StPO ohne die schriftliche Einwilligung der betroffenen Person einem Richtervorbehalt, § 81f Abs. 1 Satz 1 StPO; lediglich bei Gefahr im Verzug kann eine Anordnung auch durch die Staatsanwaltschaft sowie durch deren Ermittlungspersonen erfolgen, § 81f Abs. 1 Satz 1 StPO. Einer formellen Untersuchungsanordnung bedarf es außerdem nicht bei einer Einwilligung der betroffenen Person.67 Willigt die Person ein, ist sie darüber zu belehren, für welchen Zweck die zu erhebenden Daten verwendet werden, § 81f Abs. 1 Satz 2 StPO. Mit der Untersuchung der Proben selbst wird ein Sachver60

Außerdem kann aufgefundenes, sichergestelltes oder beschlagnahmtes Material verwendet werden, § 81e Abs. 2 StPO. 61 Oder anderer Personen nach § 81c StPO. 62 Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 207. 63 SSW-StPO/Bosch, 3. Aufl. 2018, § 81e Rn. 2. 64 Graf/Ritzert, 2010, § 81e Rn. 4; vgl. auch Becker, in: Czerwenka/Korte/Kübler (Hrsg.), FS Graf-Schlicker, 2018, S. 429, 430 f. Das wird sich künftig ändern, s. hierzu unter IV. 2. 65 Bosbach, in: Bosbach (Hrsg.), Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 8. Aufl. 2014, Rn. 511. 66 LR/Krause, 27. Aufl. 2017, § 81e Rn. 46; Meyer/Goßner/Schmitt, 61. Aufl. 2018, § 81e Rn. 4; Bosbach, in: Bosbach (Hrsg.), Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 8. Aufl. 2014, Rn. 511; a.A. Senge, NJW 1997, 2409, 2411. 67 Meyer/Goßner/Schmitt, 61. Aufl. 2018, § 81f Rn. 1; a.A. Senge, NJW 2005, 3028, 3029.

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ständiger beauftragt, § 81f Abs. 2 StPO. Dies soll eine funktionale Trennung zwischen Strafverfolgung und DNA-Analyse gewährleisten, um die Unvoreingenommenheit zu sichern und um Manipulationen auszuschließen. Bei einem Verstoß gegen dieses „Trennungsgebot“ wird der Einzelfall auf ein Verwertungsverbot zu untersuchen sein.68 Die nach § 81e Abs. 1 Satz 1 StPO zulässig erhobenen Proben und die diesbezüglich erlangten Erkenntnisse sind nur so lange aufzubewahren, wie sie benötigt werden. Anschließend sind sie zu vernichten.69 2. DNA-Identitätsfeststellungen aufgrund § 81g StPO § 81g StPO ermöglicht die Erstellung von DNA-Identifizierungsmustern durch Körperzellenentnahmen und molekulargenetische Untersuchungen zum Zwecke der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren.70 Dies gilt auch für bereits rechtskräftig Verurteilte, sog. Altfälle.71 § 81g StPO ist an sich ein Fremdkörper in der Strafprozessordnung, weil es sich um eine Vorschrift für erkennungsdienstliche Zwecke handelt.72 Da diese jedoch auf eine (künftige) Strafverfolgung abzielt und nicht auf eine Gefahrenabwehr, sehen das BVerfG73 und die hL74 darin zu Recht genuines Strafprozessrecht.75 Die DNA-Identitätsfeststellung nach § 81g StPO setzt zunächst voraus, dass der Betroffene Beschuldigter einer im Gesetz genannten Anlasstat ist.76 Anlasstaten sind Straftaten von erheblicher Bedeutung oder Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung.77 Ferner muss eine Negativprognose gegeben sein, d. h. wegen der Ausführung der Tat, der Persönlichkeit des Beschuldigten oder sonstiger Erkenntnisse muss Grund zu der Annahme bestehen, dass gegen den Betroffenen künftig erneut 68 Bosbach, in: Bosbach (Hrsg.), Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 8. Aufl. 2014, Rn. 513. 69 Graf/Ritzert, 2010, § 81e Rn. 7; Meyer/Goßner/Schmitt, 61. Aufl. 2018, § 81e Rn. 8; Bosbach, in: Bosbach (Hrsg.), Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 8. Aufl. 2014, Rn. 511. 70 KK/Hadamitzky, 8. Aufl. 2019, § 81g Rn. 1. Umfassend zu § 81g StPO siehe Eisenberg/ Singelnstein, GA 2006, 168 ff. 71 Zum damaligen § 2 DNA-IfG Markwardt/Brodersen, NJW 2000, 692 ff. Die Erstellung von DNA-Identifizierungsmustern bei Altfällen ist verfassungsgerichtlich bestätigt, vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 14. 12. 2000 – 2 BvR 174, 99, BVerfGE 103, 21 sowie Neubacher/Walther, StV 2001, 584, 585 m.w.N. 72 Str. Meyer/Goßner/Schmitt, 61. Aufl. 2018, § 81g Rn. 2 m.w.N. Zust. Pommer, JA 2007, 621, 624. 73 BVerfG, Beschl. v. 14. 12. 2000 – 2 BvR 1741/99, BVerfGE 103, 21, 30. 74 Vgl. nur SK-StPO/Rogall, 5. Aufl. 2018, § 81g Rn. 1; Bosch, StV 2008, 573, 574; a.A. Schewe, JR 2006, 181, 187. 75 HK/Brauer, 6. Aufl. 2019, § 81g Rn. 2; HK-GS/Neuhaus, 4. Aufl. 2017, § 81g Rn. 1; Eisenberg/Singelnstein, GA 2006, 168, 169 f. 76 Schewe, JR 2006, 181, 183. 77 Zur Frage, ob ein Betäubungsmitteldelikt eine solche Anlasstat darstellen kann Endriß/ Kinzig, NStZ 2001, 299 ff.; zu Straßenverkehrsdelikten Lengler, SVR 2008, 246 ff.

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Strafverfahren wegen einer in § 81g Abs. 1 StPO genannten Straftat geführt werden.78 Diese Negativprognose darf zum einen nicht mit der Sozialprognose aus § 56 StGB verwechselt werden, so dass sie auch dann bejaht werden kann, wenn die Strafe zur Bewährung ausgesetzt ist.79 Zum anderen wird man, weil das Gesetz von künftigen Strafverfahren und nicht von Straftaten spricht, davon ausgehen müssen, dass die Maßnahmen auch dann zulässig sind, wenn es um den Nachweis einer zwar noch nicht aufgeklärten, aber bereits begangenen Tat geht.80 Die gewonnenen DNA-Identifizierungsmuster werden in der DNA-Datenbank beim BAK81 gespeichert (§ 81g Abs. 5 StPO).82 Ein Richtervorbehalt besteht nicht.83 3. DNA-Reihenuntersuchungen gemäß § 81h StPO Bereits durch das Gesetz zur Novellierung der DNA-Analyse aus dem Jahr 2005 wurden Zulässigkeit und Voraussetzungen der DNA-Reihenuntersuchung auf eine klare gesetzliche Grundlage gestellt.84 Gemäß § 81h Abs. 1 StPO kann eine DNAProbe zur Durchführung einer DNA-Reihenuntersuchung nur auf Grundlage einer schriftlichen und freiwilligen Einwilligung des Betroffenen erfolgen.85 Die Anordnung einer Maßnahme nach § 81h StPO ist nur bei Verdacht bestimmter Verbrechenstatbestände zulässig und unterliegt einem Richtervorbehalt (Abs. 2 Satz 1).86 78 Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 29. Aufl. 2017, § 33 Rn. 23. Kritisch zu der üblichen Praxis, die Anträge der Staatsanwaltschaft sowie die darauf ergehenden Gerichtsbeschlüsse nach § 81g StPO formularmäßig abzufassen, Endriß/Kinzig, NStZ 2001, 299 f. 79 BVerfG, Beschl. v. 14. 12. 2000 – 2 BvR 1741/99, BVerfGE 103, 21, 37; BVerfG, Beschl. v. 1. 9. 2008 – 2 BvR 939/08, StV 2009, 1; ThürOLG, Beschl. v. 10. 2. 2000 – 1Ws 39/00, StV 2001, 5; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 27. 3. 2001 – 3 Ws 17/01, StraFo 2001, 308; SK-StPO/ Rogall, 5. Aufl. 2018, § 81 g Rn. 45; Meyer/Goßner/Schmitt, 61. Aufl. 2018, § 81g Rn. 8; krit. Bosch, StV 2008, 573, 574. 80 Meyer/Goßner/Schmitt, 61. Aufl. 2018, § 81g Rn. 8; SK-StPO/Rogall, 5. Aufl. 2018, § 81g Rn. 29 ff. Krit. Rackow, JR 2002, 365 ff. A.A. KK/Hadamitzky, 8. Aufl. 2019, § 81g Rn. 9; HK/Brauer, 6. Aufl. 2019, § 81g Rn. 15. 81 Einen Bericht zur Schweizerischen DNA-Datenbank bieten Haas/Voegeli/Kratzer/Bär, Kriminalistik-Schweiz 2006, 558 ff. 82 Zum damaligen DNA-Identitätsfeststellungsgesetz, welches heute in den §§ 81e ff. StPO integriert ist, siehe Senge, NJW 1999, 253 ff. und Volk, NStZ 1999, 165 ff. Der Frage, wie mit DNA-Identifizierungsmustern umzugehen ist, die nicht mehr dem heutigen kriminaltechnischen Standard entsprechen, geht Lellmann, Kriminalistik 2013, 112 ff., nach. Zur Frage der Benachrichtigungs- und Hinweispflicht bei Umwidmung siehe Störzer, Kriminalistik 2006, 184 ff. 83 HK/Brauer, 6. Aufl. 2019, § 81g Rn. 35; Meyer/Goßner/Schmitt, 61. Aufl. 2018, § 81g Rn. 12; Sprenger/Fischer, NJW 1999, 1830, 1834. 84 Brocke, StraFo 2011, 298; Saliger/Ademi, JuS 2008, 193, 194. 85 Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, 14. Aufl. 2018, Rn. 242b; Saliger/Ademi, JuS 2008, 193, 194. 86 Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, 14. Aufl. 2018, Rn. 242b; Saliger/Ademi, JuS 2008, 193, 195 ff.

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Im Laufe der Zeit trat bei der Durchführung von DNA-Reihenuntersuchungen vermehrt das Problem auf, dass der Vergleich der aufgefundenen DNA mit der freiwillig abgegebenen Probe keine vollständige Übereinstimmung ergab, die Materialien aber derart ähnlich waren, dass es sich um eine genetisch verwandte Person handeln musste.87 In der Rechtswissenschaft wurde lange schon vertreten, dass ein solcher Beinahetreffer für weitere Ermittlungen verwertet werden dürfte. Bei der Feststellung des möglichen Verwandtschaftsverhältnisses sollte es sich lediglich um eine zufällige Erkenntnis einer gesetzlich vorgesehenen Untersuchungsmethode handeln, so dass eine Beweiserhebung zulässig war.88 Dem widersprach völlig zu Recht der BGH mit Urteil vom 20. 12. 2012, indem er entschied, dass Beinahetreffer entsprechend des eindeutigen Wortlauts des § 81h StGB a.F. weder gewonnen noch für entsprechende Ermittlungen im verwandtschaftlichen Umfeld des Teilnehmers verwendet werden dürfen.89 Angesichts der engen Zweckbindung des § 81h StGB a.F. durfte das Spurenmaterial folglich nur daraufhin überprüft werden, ob es vom Untersuchten direkt stammt. Rückschlüsse auf Verwandte wurden dagegen als bedenklich angesehen:90 Ergab der Abgleich, dass der Teilnehmer möglicherweise mit dem mutmaßlichen Täter verwandt ist, durfte diese Erkenntnis nicht als verdachtsbegründend herangezogen werden. Eine Anordnung nach § 81a StPO gegen den nunmehr Verdächtigen sollte rechtswidrig sein.91 Das Urteil erleichterte nicht gerade strafrechtliche Ermittlungen, wie regelmäßig rechtsstaatliche Grenzziehungen von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden als Hemmschuh verstanden werden. Insbesondere bei schweren Straftaten wird dann der Topos der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege betont,92 der gegenteilige rechtspolitische Forderungen93 verfassungsrechtlich stützen soll. Diesen Forderungen kam der Gesetzgeber nach und ließ zuletzt die Verwendung von Beinahetreffern als Anknüpfungspunkt für weitere Ermittlungen im Verwandtschaftsumfeld der an einem Reihengentest teilnehmenden Person zu. Im Zuge der StPO-Reform 2017 wurde § 81h Abs. 1 StPO um die Passage „oder von ihren Verwandten in gerader

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Brocke, StraFo 2011, 298. Brocke, StraFo 2011, 298, 299; ähnlich SK-StPO/Rogall, 5. Aufl. 2018, § 81h Rn. 7; krit. dagegen Graalmann-Scheerer, ZRP 2002, 72, 75 f.; dies., NStZ 2004, 297 ff. 89 BGH, Urt. v. 20. 12. 2012 – 3 StR 117/12, NJW 2013, 1827. Zu diesem Urteil des BGH siehe Magnus, ZStW 126 (2014), 695, 696 ff.; dies., ZRP 2015, 13 ff.; Busch NJW 2013, 1771 ff.; Jahn, JuS 2013, 470 ff.; Kanz, ZJS 2013, 518 ff.; Rogall, JZ 2013, 874 ff.; Swoboda, StV 2013, 461 ff.; Löffelmann, JR 2013, 270 ff. 90 Swoboda, StV 2013, 461, 469. 91 BGH, Urt. v. 20. 12. 2012 – 3 StR 117/12, NJW 2013, 1827; bestätigt durch BVerfG, Beschl. v. 13. 5. 2015 – 2 BvR 616/13, medstra 2015, 363 ff.; a.A. MüKo-StPO/Trück, 2014, § 81h Rn. 17; Brocke, StraFo 2011, 298, 299 ff.; Löffelmann, JR 2013, 277 ff. Zu den Beinahetreffern siehe auch BeckOK-StPO/Goers, 34. Edition Stand 1. 7. 2019, § 81h Rn. 3, 13. 92 Zum Topos der funktionstüchtigen Strafrechtspflege grundlegend Landau, NStZ 2007, 121 ff. 93 Busch, NJW 2013, 1771, 1774. 88

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Linie oder in der Seitenlinie bis zum dritten Grad stammt“ erweitert.94 Die bislang bestehenden Zweifel an der Verwertbarkeit von Beinahetreffern wurden damit vom Gesetz ausgeräumt,95 wenngleich die grundsätzlichen Bedenken keineswegs behoben sind. Denn immerhin wird dadurch in den besonders schützenswerten Familienkreis eingegriffen, und etwa der Sohn durch seine Teilnehme an der Reihenuntersuchung zu demjenigen, der den eigenen Vater überführt oder vice versa. Die Interessenlage ist nicht viel anders als beim Auskunftsverweigerungsrecht nach § 52 Abs. 1 StPO. Der Angehörigenschutz, wie er dort und in §§ 81c Abs. 3, 97 Abs. 1, 100c Abs. 6 StPO zum Ausdruck kommt, wird in Teilen unterlaufen. Nun ließe sich einwenden, dass auch der strafprozessuale Angehörigenschutz nicht absolut ist96 und in die Gesamtbewertung des Verfahrens auch das Erfordernis einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege einzustellen ist.97 Daher sind beispielsweise verfahrensrelevante Erkenntnisse aus einer Telekommunikationsüberwachung nach § 100a StPO auch dann verwertbar, wenn es sich um Gespräche des Beschuldigten mit einem gem. § 52 Abs. 1 StPO zeugnisverweigerungsberechtigten Angehörigen handelt.98 Auch nimmt der Angehörige freiwillig an der Reihenuntersuchung teil. Eine analoge Anwendung des § 81c Abs. 3 StPO, der auf die Zeugnisverweigerungsrechte verweist, ist folglich nicht geboten, weil es an einer vergleichbaren Interessenlage fehlt. § 81c Abs. 3 StPO gewährt aufgrund einer konkreten Konfliktsituation dem Angehörigen ein Untersuchungsverweigerungsrecht. An einer solchen fehlt es im Rahmen des § 81h StPO jedoch, soweit der Angehörige an der Reihenuntersuchung freiwillig teilnimmt und die DNA-Probe freiwillig abgibt.99 Derjenige, der infolge einer DNA-Reihenuntersuchung in Verdacht gerät, steht folglich nicht anders, als hätte ihn ein Verwandter gegenüber der Polizei bezichtigt.100 Das ist alles zutreffend. Es wird sich allerdings zeigen müssen, inwiefern sich die Ausweitung der Reihenuntersuchung auf die freiwillige Bereitschaft zur Teilnahme auswirkt. Die Annahme des Tatverdachts bei Verweigerung einer Mitwirkung101 ist 94 Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens v. 17. 8. 2017, BGBl. I, S. 3202. Zur Normgeschichte des § 81h StPO siehe auch Becker, in: Czerwenka/Korte/Kübler (Hrsg.), FS Graf-Schlicker, 2018, S. 429, 436 ff. 95 So auch BT-Drs. 18/11277, S. 20. Eine solche gesetzliche Klarstellung gefordert hatte etwa Rogall, JZ 2013, 874, 880. 96 Brocke, StraFo 2011, 298, 302. 97 BVerfG, Beschl. v. 15. 1. 2009 – 2 BvR 2044/07, BVerfGE 122, 248, 272 f. 98 BVerfG, Beschl. v. 15. 10. 2009 – 2 BvR 2438/08, NJW 2010, 287, 288; Brocke, StraFo 2011, 298, 302; Magnus, ZStW 126 (2014), 695, 708 f.; dies., ZRP 2015, 13, 14. 99 Brocke, StraFo 2011, 298, 302; Magnus, ZStW 126 (2014), 695, 709 f. 100 BT-Drs. 18/11277, S. 22. 101 BVerfG, Beschl. v. 27. 2. 1996 – 2 BvR 200/91, NJW 1996, 1587, 1588; BVerfG, Beschl. v. 2. 8. 1996 – 2 BvR 1511/96, NStZ 1996, 606 f.; BGH, Urt. v. 21. 1. 2004 – 1 StR 364/ 03, BGHSt 49, 56, 60; LG Regensburg, Beschl. v. 6. 2. 2003 – Qs 4/2003 jug, StraFo 2003, 127; krit. SSW-StPO/Bosch, 3. Aufl. 2018, § 81h Rn. 16.

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künftig jedenfalls noch weniger denkbar als derzeit schon, weil die Verweigerung unter Berufung auf die potentielle Überführung eigener Verwandter einen nachvollziehbaren und wegen Art. 6 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich zu respektierenden und vernünftigen Grund darstellt. Insofern könnte sich die Neufassung als Danaergeschenk an die Forensiker erweisen.

V. Grenzen molekulargenetischer Untersuchungen im Strafverfahren Wir haben gesehen, dass sich die Justiz immer stetiger und intensiver der DNAAnalyse genähert hat und heute mit ihr sozusagen eine glückliche Ehe führt. Rechtsprechung und Gesetzgeber haben Zulässigkeit und Befugnisse im Rahmen der DNA-Analyse zunehmend ausgeweitet.102 Aber es bleiben Bedenken, die auch schon anklangen. Sind verfassungsrechtliche Grenzen der DNA-Analyse angesichts der Erfolge aus dem Blick geraten? 1. DNA-Reihenuntersuchung und Recht auf informationelle Selbstbestimmung Die Feststellung, Speicherung und (künftige) Verwendung eines DNA-Identifizierungsmusters greift grundsätzlich in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein. Eine DNA-Analyse darf daher nicht schematisch angeordnet werden, sondern erfordert stets eine einzelfallbezogene Abwägung der widerstreitenden Interessen.103 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet außerdem einen unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung, der der öffentlichen Gewalt schlechthin entzogen ist.104 Eingriffe in diesen Bereich können selbst schwerwiegende Interessen der Allgemeinheit nicht rechtfertigen, so dass auch eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht möglich ist und die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege nicht in Ansatz gebracht werden kann. Im Rahmen eines Strafverfahrens hängt der Umstand, ob ein Sachverhalt dem Kernbereich zugeordnet werden kann, neben dem subjektiven Willen des Betroffenen zur Geheimhaltung davon ab, ob er nach seinem Inhalt höchstpersönlichen Charakter hat und in welcher Art und Intensität er aus sich heraus die Sphäre anderer oder die Belange der Gemeinschaft be-

102 Zur DNA-Analyse und zum Strafverfahren de lege ferenda siehe Schneider, NStZ 2018, 692 ff. 103 BVerfG, Beschl. v. 29. 9. 2013 – 2 BvR 939/13, StV 2014, 577; Vahle, DVP 2015, 35; Schmidt-Jortzig, DÖV 2005, 732, 734; Swoboda, StV 2013, 461, 466. 104 BVerfG, Beschl. v. 14. 9. 1989 – 2 BvR 1062/87, BVerfGE 80, 367 (Tagebuch); BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 2008 – 2 BvR 219/08, StraFo 2008, 421.

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rührt.105 Gemessen an diesen Maßstäben fällt die Verwertung der Erkenntnisse eines Beinahetreffers nicht in diesen unantastbaren Bereich.106 Es erscheint bereits fraglich, ob sich die untersuchte Person zugunsten des nunmehr Tatverdächtigen auf einen Schutz aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG berufen kann. Die Teilnahme an der DNA-Reihenuntersuchung und die Abgabe der DNA-Probe sind für sie stets freiwillig.107 Dem Recht der untersuchten Person auf informationelle Selbstbestimmung wird hinreichend Rechnung getragen, wenn sie, so wie es § 81h Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 StPO vorsieht, darüber belehrt wird, dass bei einem Ähnlichkeitstreffer auch Verwandte in Verdacht geraten. Der Teilnehmer an einer Reihenuntersuchung kann folglich durch die freiwillige Mitwirkung darüber disponieren, ob er durch sein Verhalten dazu beitragen möchte, dass ein naher Verwandter einer potentiellen Strafverfolgung ausgesetzt wird.108 Allerdings darf diese Freiwilligkeit dann nicht damit umgangen werden, dass die Verweigerung in einen Anfangsverdacht umgemünzt wird und der Betreffende dann schlicht als Beschuldigter nach § 81a Abs. 1 i.V.m. § 81e StPO molekulargenetisch behandelt wird.109 Allenfalls durch weitere Ermittlungen kann sich ein Tatverdacht ergeben, so dass eine Blutentnahme zur DNA-Analyse denkbar wäre. Auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des nunmehr Tatverdächtigen, also der verwandten Person des Untersuchten, wird durch die Verwertung von Beinahetreffern nicht berührt.110 Untersuchungsgegenstand ist allein die freiwillig abgegebene DNA-Probe der untersuchten Person. Sie lässt lediglich eine statistische Aussage hinsichtlich der Ähnlichkeit mit dem Spurenmaterial zu, nicht aber ein personenbezogenes Datum auf eine bestimmte andere Person. Erst durch weitere Ermittlungen – freilich auf Basis der Ergebnisse der DNA-Reihenuntersuchung – kann sich ein Tatverdacht gegen einen Verwandten eines Teilnehmers ergeben.111 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt vor staatlichen Eingriffen. Es schützt jedoch nicht vor freiwilligen Entscheidungen eines engen Verwandten.112 Würde man dennoch einen Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung anneh105

BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 2008 – 2 BvR 219/08, StraFo 2008, 421. So auch schon Brocke, StraFo 2011, 298, 303; Swoboda, StV 2013, 461, 466. 107 Brocke, StraFo 2011, 298, 303, der darauf verweist, dass der Untersuchte bereits durch die freiwillige Mitwirkung an der DNA-Reihenuntersuchung einen Bezug zur Öffentlichkeit herstellt. 108 So auch BT-Drs. 18/11277, S. 21. 109 Siehe Fn. 101. Lütkes/Bäumler, ZRP 2004, 87, 89; Becker, in: Czerwenka/Korte/Kübler (Hrsg.), FS Graf-Schlicker, 2018, S. 429, 435. Dies scheint in der Praxis allerdings durchaus üblich zu sein, vgl. Beck, Die DNA-Analyse im Strafverfahren, 2015, S. 266 f.; Beulke/ Swoboda, Strafprozessrecht, 14. Aufl. 2018, Rn. 242c. 110 So auch LR/Krause, 27. Aufl. 2017, § 81h Rn. 5. 111 BT-Drs. 18/11277, S. 21. 112 A.A. Swoboda, StV 2013, 461, 467 f., die im Hinblick auf Art. 8 EMRK und unter Verweis auf das Urteil des EuGH in S. and Marper vs. United Kingdom, Urt. v. 4. 12. 2008 – 30562/04 und 30566/04, NJOZ 2010, 696, das „familial searching“ kritisch sieht. 106

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men wollen, wäre dieser gegen das staatliche Interesse an der Aufklärung und Verfolgung schwerer Straftaten abzuwägen.113 2. Untersuchungen des „kodierenden“ Bereichs § 81e Abs. 1 Satz 1 StPO bestimmt, dass mittels molekulargenetischer Untersuchung das DNA-Identifizierungsmuster, die Abstammung und das Geschlecht einer Person festgestellt und mit dem Vergleichsmaterial abgeglichen werden dürfen, soweit dies zur Erforschung des Sachverhalts erforderlich ist. Sofern sich die Untersuchungen auf den eher persönlichkeitsneutralen Bereich der DNA beschränkten, hatten Rechtsprechung und Literatur schon vor Schaffung des § 81e StPO molekulargenetische Untersuchungen an entnommenem Proben sowie die Verwertung des Untersuchungsergebnisses zu Beweiszwecken nach § 81a StPO für zulässig gehalten.114 Mit Einführung des § 81e StPO beabsichtigte der Gesetzgeber deshalb zuvorderst, die sachgerechte Verwendung des Untersuchungsmaterials sicherzustellen;115 eine Subsidiaritätsklausel enthielt die ursprüngliche Regelung nicht. Erst durch die StPO-Reform 2017 wurde aus Klarstellungsgründen die Vorschrift um den letzten Halbsatz erweitert.116 Darf man hierüber hinausgehen, wie es das im Verfassungsstreit stehende neue bayerische Polizeiaufgabengesetz (PAG)117 bereits tut? Art. 14 Abs. 3 PAG legt molekulargenetische Untersuchungen zum einen als erkennungsdienstliche Standardmaßnahme fest. Zum anderen darf nach Art. 32 Abs. 1 Satz 2 PAG aufgefundenes Spurenmaterial neben dem DNA-Identifizierungsmuster und dem Geschlecht auf Augen-, Haar- und Hautfarbe, auf das biologische Alter und auf die biogeographische Herkunft untersucht werden. Eine solche „erweitere DNA-Analyse“ – mit Ausnahme der Untersuchung auf die biogeographische Herkunft – sieht nunmehr ein Gestzentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz zur Modernisierung des Strafverfahrens vor.118 In Bayern wurden die zulässigen Untersuchungen auf die „kodierenden“ Sequenzen der DNA damit bereits ausgeweitet, was auf massive Kritik gestoßen ist.119 Und auch gegen die geplante Einführung 113

S. 21. 114

Ein Überwiegen dieses Interesses nimmt der Gesetzgeber an, vgl. BT-Drs. 18/11277,

BVerfG, Beschl. v. 18. 9. 1995 – 2 BvR 103/92, NJW 1996, 771; BGH, Urt. v. 21. 8. 1990 – 5 StR 145/90, BGHSt 37, 157. 115 BT-Drs. 13/667, S. 1. 116 BT-Drs. 18/11277, S. 22. 117 Gesetz zur Neuordnung des bayerischen Polizeirechts (PAG-Neuordnungsgesetz) v. 18. 5. 2018, GVBl. S. 301. Siehe hierzu auch den Artikel in der Mitteldeutschen Zeitung (MZ) v. 15. 5. 2018, S. 4. Zu diesem Gesetz siehe Löffelmann, KJ 2018, 355 ff. 118 BT-Drs. 19/14747, S. 6, 26 ff. Dieser Entwurf wurde am 15. 11. 2019 vom Deutschen Bundestag beschlossen, siehe Plenarprotokoll der 128. Sitzung, 19/128, S. 16081. 119 So kündigte unter anderem der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum gegen das neue Gesetz Verfassungsklage an, MZ v. 15. 5. 2018, S. 4. Mittlerweile hat eine Allianz aus

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der erweiterten DNA-Analyse als Instrument polizeilicher Fahndung in die StPO regt sich zu Recht Widerstand.120 In der Tat ergeben sich verfassungsrechtliche Bedenken:121 a) Genetischer Exzeptionalismus Ein Grund für solche Kritik ist in der Besonderheit genetischer Daten zu sehen. Jedenfalls sieht der deutsche Gesetzgeber in ihnen ein besonderes Diskriminierungspotential, welches die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen bedrohen könnte. Das lässt sich durchaus kritisieren; auch Reinhard Merkel hat sich in ganz anderen Zusammenhängen skeptisch gezeigt, allein an die DNA „als ein bloßes Stücke Biologie“ rechtliche Folgerungen zu knüpfen.122 Es ist immerhin einzuräumen, dass die Ergebnisse über einen langen Zeitraum ihre Gültigkeit behalten und besonders identitätsrelevante Daten enthalten, die eine hohen prädiktiven Wert aufweisen.123 Hinzu tritt der Umstand, dass die genetischen Daten auch Informationen über die Blutsverwandten des Untersuchten offenbaren können.124 Dieser sog. genetische Exzeptionalismus ist Grundlage des GenDG – und jedenfalls dann auch hier relevant, wenn idealiter von der Einheit der Rechtsordnung ausgegangen wird. Es ist nicht konsistent, die genetischen Daten einerseits besonders zu schützen, andererseits im strafprozessualen Kontext beliebig zu staatlichen Zwecken heranzuziehen. Die Ermittlung und Nutzung gerade solcher biologischer Merkmale ist entsprechend besonders begründungsbedürftig. Die Gründe müssen schwerer wiegen als bei anderen strafprozessualen Maßnahmen. Solche übergewichtigen Gründe sind nicht ersichtlich.125

Bundestagsabgeordneten der FDP, Bündnis90/Die Grünen und Die Linken eine Normenkontrollklage gegen das Bayerische Polizeiaufgabengesetz beim BVerfG eingereicht, Zeitonline v. 10. 9. 2018, abrufbar unter https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-09/normenkontrollkla ge-polizeiaufgabengesetz-fdp-linke-gruene, zuletzt abgerufen am 1. 8. 2019. 120 Siehe insbesondere die Stellungnahme der Strafverteidigervereinigungen (StVV), S. 10 ff., abrufbar über juris, https://www.strafverteidigervereinigungen.org/Material/Stellung nahmen/SN_StVV_Eckpunkte2019.pdf, zuletzt abgerufen am 6. 8. 2019. 121 Solche Kritik äußerte Keller, NJW 1989, 2289, 2292 ff., bereits Jahre vor Inkrafttreten der gesetzlichen Bestimmungen zur DNA-Analyse im Strafverfahren. Entsprechend Krehl/ Kolz, StV 2004, 447 ff. im Zuge der Reform 2005. Die Stellungnahme StVV (Fn. 120), S. 10 f., weist auf praktische Bedenken hin. 122 Merkel, Forschungsobjekt Embryo, 2002, S. 179. 123 BR-Drs. 633/08, S. 25; Rosenau, in: Duttge et al. (Hrsg.), Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Humangenetik und Recht, 2011, S. 69, 83; Cremer, Berücksichtigung prädiktiver Gesundheitsinformationen bei Abschluss privater Versicherungsverträge, 2010, S. 42 ff. 124 Gleichwohl einen Eingriff in den unantastbaren Kernbereich der Persönlichkeit ablehnend Schneider, NStZ 2018, 692, 694. 125 Ähnlich die Stellungnahme der StVV (Fn. 120), S. 11 f.

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b) Erforschung der Wahrheit Jede Ausweitung molekulargenetischer Untersuchungen für die Strafverfolgung wird mit dem zentralen Anliegen begründet, dass die Wahrheit ermittelt werden soll.126 Ohne die Ermittlung des wirklichen Sachverhalts lasse sich zudem das materielle Schuldprinzip nicht verwirklichen, eine Position, die in gewisser Überhöhung des Würdepostulats auch das BVerfG einnimmt.127 Es ließe sich schlichter auch mit der StPO argumentieren. Mit der Einfügung des § 244 Abs. 2 StPO im Jahr 1935 heißt es nun ausdrücklich, dass das Gericht von Amts wegen alles zu tun habe, „was zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist.“ Allerdings stehen diesem Postulat selbst andere Überlegungen entgegen: Es muss in Einklang gebracht werden mit rechtsstaatlichen Geboten, mit der Justizförmigkeit, aber insbesondere mit den Grundrechten, auch den Prozessgrundrechten, des Beschuldigten. Und diese Grundrechte stehen dem prozessualen Interesse an Wahrheitsermittlung entgegen.128 Dass die Protagonisten der Strafjustiz, welche sich dem Ziel der Wahrheitsermittlung unmittelbar verpflichtet sehen, allzu leicht der Gefahr unterliegen, die Rechte und Interessen des Beschuldigten als unliebsame Störung und Beeinträchtigung der Effizienz der Strafrechtspflege zu verstehen – was sich nicht zuletzt in der durch die Verfassungsgerichtsrechtsprechung entwickelte Figur der „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“129 deutlich zeigt, ist nicht von der Hand zu weisen. Aber Strafrechtspflege muss insgesamt als rechtsstaatliche Kategorie verstanden werden.130 Sie darf nicht reduziert werden auf den Gesichtspunkt der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege, also auf die kriminalistische Funktion der Verfolgung von Strafrechtsverstößen und der Aufdeckung der Wahrheit. Die Grundrechte der Betroffenen und die daraus abgeleiteten strafprozessualen schützenden Regeln sind in gleicher Weise Elemente der Strafrechtspflege. Die Verwirklichung des materiellen Strafrechts, die Suche nach Wahrheit und den Schutz der Betroffenenrechte muss man als Einheit verstehen.131 Daraus ergeben sich auch die Erkenntnis und der Grundsatz der StPO, dass es keine Wahrheitsermittlung um jeden Preis geben dürfe.132 Dieses geflügelte Wort aus BGHSt 14, 358133 wird noch häufiger in den 126

BT-Drs. 18/11277, S. 1. BVerfG, Beschl. v. 26. 5. 1981 – 2 BvR 215/81, BVerfGE 57, 250, 275; BVerfG, Urt. v. 19. 3. 2012 – 2 BvR 2628/10, BVerfGE 133, 168, 197. 128 Lütkes/Bäumler, ZRP 2004, 87, 88. 129 BVerfG, Urt. v. 19. 3. 2012 – 2 BvR 2628/10, BVerfGE 133, 168, 199 f. Dieser Grundsatz wird auch in der Gesetzesbegründung zur erweiterten DNA-Analyse herangezogen, BTDRs. 19/14747, S. 26 f. 130 Neumann, ZStW 101 (1989), 52, 62. 131 H. A. Zachariae, Handbuch des deutschen Strafprozesses, Band 1, 1860, S. 144 ff. 132 BGH, Urt. v. 14. 6. 1960 – 1 StR 683/59, BGHSt 14, 358, 365; BGH, Urt. v. 17. 3. 1983 – 4 StR 640/82, BGHSt 31, 304, 309. 133 BGH, Urt. v. 14. 6. 1960 – 1 StR 683/59, BGHSt 14, 358, 365: „die Strafprozeßordnung kennt keinen Grundsatz, daß die Wahrheit um jeden Preis erforscht werden müßte“; seitdem ständige Rechtsprechung, z. B. BGH, Urt. v. 17. 3. 1983 – 4 StR 640/82, BGHSt 31, 304, 309. 127

Die Rolle der forensischen Molekulargenetik im Strafprozess

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Lehrbüchern und allen möglichen Abhandlungen zum Strafprozess zitiert, als dass es in den Textbausteinen der BGH-Urteile auftaucht. Vielleicht kann man nicht oft genug wiederholen, auch wenn getretner Quark bekanntlich breit und nicht stark wird,134 dass die Wahrheitsermittlung um jeden Preis gerade kein Grundsatz der Strafprozessordnung ist. c) Recht auf informationelle Selbstbestimmung Der Grundsatz, dass es keine Wahrheitsermittlung um jeden Preis geben darf, gilt umso mehr, wenn beachtet wird, welches Grundrecht auf der anderen Seite der Waagschale liegt: Eine molekulargenetische Untersuchung nach § 81e Abs. 1 Satz 1 StPO, d. h. eine staatlicherseits angeordnete, nicht freiwillige molekulargenetische Untersuchung, stellt stets einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) des Untersuchten dar.135 Eine Erweiterung der Zweckbindung des § 81e Abs. 1 Satz 1 StPO auf persönlichkeitsrelevante Merkmale würde diesen Eingriff in erheblicher und unzulässiger Weise vertiefen; denn diese Informationen gehen weit über das hinaus, was zur Identitätsfeststellung bzw. zum Abgleich mit den am Tatort gefundenen Spuren notwendig ist.136 Wie bereits ausgeführt, zählen äußere Merkmale wie Größe, Haar- und Augenfarbe ebenso wie Erbanlagen, Charaktereigenschaften, Krankheiten und Krankheitsanlagen zu den besonders schutzbedürftigen Persönlichkeitsmerkmalen.137 Die Kenntnis dieser Eigenschaften ist für die Ermittlung des Täters aber nicht zwingend notwendig.138 Um das am Tatort aufgefundene Material abgleichen zu können, genügen bereits weniger einschneidende Untersuchungen am Erbgut des Verdächtigen. Insofern kann auch das berechtigte Interesse an einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und an der Wahrheitsermittlung einen solch weitgehenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen nicht rechtfertigen.

134 Vgl. v. Goethe, Westöstlicher Divan, Buch der Sprüche, in: Trunz (Hrsg.), Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Band II, 4. Aufl. 1958, S. 58. 135 Becker, in: Czerwenka/Korte/Kübler (Hrsg.), FS Graf-Schlicker, 2018, S. 429, 433; Schmidt-Jorzig, DÖV 2005, 732, 734 f.; a.A. Schneider, NStZ 2018, 692, 694 f. 136 Rackow, ZRP 2002, 236; Stellungnahme der StVV (Fn. 120), S. 11. Allgemein zur Vorsicht gegenüber Erweiterungen der DNA-Analysen aufgrund des Eingriffs in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht mahnend Schmidt-Jorzig, DÖV 2005, 732, 735. 137 Siehe bereits unter V. 2. a). Ebenso MüKo-StPO/Trück, 2014, § 81e Rn. 16; a.A. BTDrs. 19/14747, S. 27. 138 A.A. Stenger, Kriminalistik 2017, 491, 495 f., der die äußerlich erkennbaren Indizien nutzen will, den Kreis der Tatverdächtigen noch weiter einzugrenzen. Nach Ansicht der StVV hingegen sind die erzielten Wahrscheinlichkeiten sogar geringer als beim bisher geltenden DNA-Beweis, vgl. Stellungnahme StVV (Fn. 120), S. 11. Zudem könnten die äußerlichen Merkmale problemlos und nach Belieben verändert werden.

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VI. Fazit Die Beziehung von Strafjustiz und Molekulargenetik bleibt damit eine spannungsreiche – wie es ja auch bei jeder guten Beziehung sein sollte. Eine weitere Ausdehnung der DNA-Analyse lässt diese Spannung eher nicht zu. Dabei sind es nicht primär die eingangs erwähnten mathematischen Defizite eines Juristen, die ihn zur Zurückhaltung bringen. Es sind normative Überlegungen der rechtlichen Disziplin, die gerade nicht allein das medizinisch und technisch Machbare, sondern das verfassungsrechtlich Gebotene in den Vordergrund holt und die normativen Grenzen der forensischen Molekulargenetik im Blick haben muss und in den Blick nimmt.

Die „formlose Einziehung“: Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen Von Guido Britz

I. Eine persönliche Vorbemerkung Um ein Geheimnis zu lüften: Reinhard Merkel ist trotz seiner bayrischen Herkunft, seinem schließlich norddeutschen Lebensschwerpunkt und seiner internationalen Tätigkeit sowie Vernetzung eben auch ein bisschen Saarländer. Denn in den Jahren 1997 und 19981 hat er auf dem damals vakanten Lehrstuhl von MüllerDietz zunächst rechtlich betrachtet, wegen des kostengünstigen Belassens der Büroeinrichtung sodann nicht nur sprichwörtlich, sondern eben auch tatsächlich gesessen. Er lehrte Straf- sowie Strafverfahrensrecht einschließlich Kriminologie und Kriminalpolitik an der (damaligen) Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät in Saarbrücken. Dazu kam das Veranstalten von Übungen; wie es jeder Lehrstuhlvertretung gerne überlassen wird. Als wissenschaftlichem Assistenten und ehemaligem Mitarbeiter von Müller-Dietz oblag es mir, Reinhard Merkel zu unterstützen sowie ihn schonend zu initialisieren, also ihn überlebenswichtig mit den saarländischen Gegebenheiten und Gebräuchen hinreichend vertraut zu machen, ohne dass er Schaden nähme. Bekanntermaßen ist dies weitgehend gelungen, so dass Reinhard Merkel sicherlich nicht ungerne an seine Zeit in Saarbrücken zurückdenkt. Seine Denkungsart hat mich nachhaltig beeindruckt. Über diverse, nicht nur rechtliche, sondern auch gesellschaftliche und politische Themen haben wir diskutiert. Es waren fruchtbare, oft intensive, aber in jedem Fall inspirierende Gespräche. Reinhard Merkel persönlich kennen gelernt und mit ihm eine Zeit lang zusammen gearbeitet zu haben, erfüllt mich heute noch mit Freude.

1 Die Lehrstuhlvertretung durch den damaligen „Frankfurter“ bezieht sich auf das Wintersemester 1997/1998 sowie das Sommersemester 1998.

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II. Zum Thema 1. Einleitung Unter zusammenfassender Berücksichtigung aller seiner rechtlichen Grundlagen2 lässt sich der Strafprozess als grundsätzlich legislativ durchdekliniertes Verfahrensmodell begreifen und beschreiben. Ebenso banal wie interessant ist indessen die Feststellung, dass auch ein noch so fein gewobenes Netz naturgemäß Maschen, aber zuweilen eben auch Löcher einschließlich Reparaturspuren aufweist. Hinzu kommt die häufig auszumachende, zum Teil eklatante Diskrepanz zwischen „law in books“ und Verfahrenswirklichkeit im Bereich des Strafprozesses, die in der (Fach-)Diskussion naturgemäß zwischen anodischen und kathodischen Polen oszilliert. Die – manchmal auch nur vermeintliche3 – Lückenhaftigkeit des geschriebenen und somit vorgegebenen Normenprogramms bedingt die Entstehung in diesem Sinne außergesetzlicher Phänomene4. Diese bedürfen aber stets vor allem aus verfassungsrechtlichen Gründen einer besonderen Legitimation und Begründung. Das partielle Auseinanderfallen von gesetzgeberischem Prozessmodell einerseits und Verfahrensrealität andererseits eröffnet zugleich ein stimulierendes Spannungsfeld. Pointiert lässt sich formulieren, dass die Dynamik des Strafprozesses neben weiteren Faktoren gerade aus der Verfahrenspraxis resultiert. Die Fortentwicklung des Strafverfahrensrechts erhält mithin wesentliche Impulse durch die Anwendung des Normenprogramms in der täglichen Praxis einschließlich der sich hierbei ergebenden Modifikationen oder Abweichungen. Ein prominentes Beispiel ist sicherlich die Verständigung im Strafprozess5. Denn der „Deal“ hat bekanntermaßen Karriere gemacht6: Aus der gruseligen Schmuddelecke oder zumindest aus dem finsteren Hinterzimmer ans Licht gezerrt7, erteilte zunächst der BGH dem „Fremdkörper“ die Absolution8. Auf dieser Basis konnte schließlich der Gesetzgeber ebenfalls sein Plazet

2 Zu den Rechtsquellen des Strafprozessrechts: Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, § 1 Rn. 1. 3 Zur Problematik der bloßen Behauptung einer Regelungslücke: Eschelbach, in: FS Fischer, S. 81 ff. (85 f.). 4 Als Beispiel kann die Genese der Absprachen und der Verständigung im Strafverfahren verwiesen werden. Insbesondere die Anerkennung der Absprachen durch die höchstrichterliche Rechtsprechung lässt sich als unzulässige richterliche Rechtsschöpfung begreifen; vgl. zusammenfassend: Eschelbach, in: FS Fischer, S. 81 ff. (89 f.). 5 Zur partiellen thematischen Nähe von sog. formloser Einziehung zur Verständigung: Thode, NStZ 2000, 62 (65); dies., Die außergerichtliche Einziehung von Gegenständen im Strafprozeß, S. 66, 89 f.; Brauch, NStZ 2013, 503 (507). 6 Zu den Entwicklungsstufen: Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Einl Rn. 119b ff. Instruktiv auch: Radtke/Hohmann/Ambos/Ziehn, § 257c StPO Rn. 4 ff. 7 Ein Anonymus in: StV 1982, 545 ff. 8 BGHSt 43, 195 ff.: „Verfahrensordnung für Absprachen“; vgl. hierzu: Weigend, NStZ 1999, 57.

„Formlose Einziehung“: Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen

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erteilen9. Sodann attestierte das BVerfG – mit deutlichen kritischen Hinweisen zwar – dem Gesetz die erforderliche Verfassungskonformität10; ohne dass freilich die Diskussion um den „Deal“ und damit zusammenhängende verfahrensrechtliche Detailfragen abschließend geklärt wären. Nicht unähnlich verhält es sich mit der sog. formlosen Einziehung11; mitunter auch als „außergerichtliche Einziehung“12 oder „formlose“ bzw. „außergerichtliche“ Vermögensabschöpfung13 deklariert. Auch sie ist wohl aus ganz praktischen Gründen heraus entstanden und insbesondere in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt worden mit der unmittelbaren Konsequenz, dass sie nunmehr seit langem zum Alltag der Strafjustiz gehört14. Freilich ist ihr die gesetzgeberische Anerkennung bis heute versagt geblieben. Auch verfassungsrechtlich wurde sie nie auf den Prüfstand gehoben. Da neuere Entscheidungen des BGH zu der Thematik vorliegen15 und der Gesetzgeber in der vergangenen 18. Legislaturperiode eine Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vorgenommen hat16, besteht hinreichend Anlass, sich dem Phänomen zuzuwenden. Die Thematik wirft nämlich in verschiedener Hinsicht gerade auch grundsätzliche Fragen auf.

2. Eine kleine Phänomenologie Die Erscheinungsformen der sog. formlosen Einziehung in der Praxis sind vielfältig. Die wohl häufigste Variante ist auf der amtsgerichtlichen Ebene anzutreffen. Es handelt sich zumeist um die Erklärung des Verteidigers – oder sehr selten des (unverteidigten) Angeklagten selbst – in der Hauptverhandlung, dass der Beschuldigte mit der formlosen Einziehung der durchweg bereits sichergestellten Gegenstände einverstanden sei. Diese Verfahren beziehen sich in der Regel auf Vorwürfe 9 Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. 07. 2009, BGBl I S. 2353; zuvor: BGHSt (GS) 50, 40 ff. 10 BVerfG, NJW 2013, 1058 ff. 11 Zu dieser Terminologie: Putzke/Scheinfeld, in: MüKo-StPO, § 421 Rn. 29; Weber, BtMG, § 33 Rn. 468. 12 Thode, NStZ 2000, 62; Brauch, NStZ 2013, 503. 13 Habetha, NJW 2019, 1642; BGH, NJW 2019, 1961 (1962). 14 Ein weiteres Instrumentarium jenseits der kodifizierten Einziehung ist die sog. präventive Gewinnabschöpfung nach Abschluss des Strafverfahrens; hierzu: Hüls/Reichling, StraFo 2009, 198 ff. (199 ff. m.w.N.). 15 Es geht spezifisch um die „formlose Einziehung“, nicht hingegen um Fragen im Zusammenhang mit der Neuregelung der Vermögensabschöpfung, wie beispielsweise: Rückwirkung (vgl.: BGH, Beschl. v. 22. 3. 2018 – 3 StR 577/17; hierzu: Leipold/Beukelmann, NJW-Spezial 2018, 377; zuvor: Beukelmann, NJW-Spezial 2018, 56); Jugendstrafrecht und Konfiskation (vgl.: Beukelmann, NJW-Spezial 2019, 504); Zivilrechtliche Einigung und Einziehung (vgl.: BGH, Beschl. v. 19. 9. 2018 – 1 StR 183/18, hierzu: Leipold/Beukelmann, NJW-Spezial, 2019, 24); non-conviction-based-confiscation (vgl.: LG Hamburg, Beschl. v. 7. 3. 2019 – 614 Qs 21/18; hierzu: Beukelmann, NJW-Spezial 2019, 376 f. m.w.N.). 16 Hierzu: Trüg, NJW 2017, 1913 ff.; Heim, NJW-Spezial 2017, 248.

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wegen des Verdachts von Verstößen gegen WaffG, gegen das BtMG, gegen das AntiDopG, gegen Körperverletzungsdelikte sowie gegen Vermögensdelikte. Asservierte Drogen, für den Konsum oder den Verkauf von Drogen erforderliche Utensilien, (Bar-)Geldbeträge aus Drogengeschäften, Dopingmittel einschließlich Herstellungsoder Mittel zur Applikation, Waffen oder waffengleiche bzw. ansonsten gefährliche Gegenstände sowie Gegenstände bzw. Geldbeträge aus Diebstahls- oder Betrugsdelikten sollen auf diesem Wege ohne förmliche gerichtliche Entscheidung aus dem Verkehr gezogen werden. Dies erfolgt mit dem Ziel, sie schlicht zu vernichten, sie beispielsweise einer entsprechenden Sammlung der polizeilichen Ermittlungsbehörden zuzuführen oder jedenfalls sie dem Täter zu entziehen. Zumeist erfolgt die Erklärung zum Ende der Hauptverhandlung, wenn deren Ausgang17 konkret abschätzbar ist. Die Initiative hierzu geht überwiegend vom Gericht, nur ab und an unmittelbar von der Staatsanwaltschaft aus. Liegt dem Verfahren eine Absprache zugrunde, ist die Frage einer entsprechenden Erklärung gewöhnlich in diesem Rahmen vorab thematisiert worden. Die Erklärung wird grundsätzlich ins Sitzungsprotokoll aufgenommen. Standardisiert ist sie hingegen nicht. Gerichtsspezifisch fällt sie unterschiedlich aus. Von der Erklärung, dass Einverständnis seitens des Beschuldigten mit der formlosen Einziehung bestehe, bis hin zu Erklärungen, dass auf die Herausgabe sichergestellter Gegenstände verzichtet werde, oder dass keine Herausgabeansprüche geltend gemacht würden, reichen die Formulierungen. Die sprachlichen wie inhaltlichen Diskrepanzen dokumentieren indessen eine gewisse Sorglosigkeit im Umgang mit der Thematik. Grund hierfür ist, dass es jenseits aller rechtlichen Vorgaben letztlich allen Verfahrensbeteiligten plausibel und daher schon intuitiv rechtlich zulässig erscheint, dass beispielsweise ein zur Körperverletzung benutzter Teleskopschlagstock nicht wieder in den Besitz des Beschuldigten zurückgelangen soll; gleiches gilt für die noch Marihuana behaftete Feinwaage des Kleindealers oder die mit unerlaubten „Mittelchen“ gefüllte Sporttasche des konsumierenden Bodybuilders. Mit der beschriebenen Intuition und der fehlenden Reflektion kann es jedoch sehr schnell ein Ende haben, wenn sich nämlich Differenzen oder gar Streit abzeichnen. Es betrifft Konstellationen, in denen beispielsweise bei Drogendelikten sichergestelltes Bargeld oder hochwertige Handys konfisziert werden sollen. Es kann nämlich diskutiert werden, inwiefern solche Gelder aus Drogengeschäften resultieren oder inwieweit ein Handy als Tatmittel eingesetzt wurden; unabhängig von weiteren Fragen wie beispielsweise dem Absehen von einer Einziehung nach § 421 Abs. 1 StPO. Entsprechendes gilt verschärft, wenn die skizzierten Bereiche des „normalen“ Gerichtsalltags verlassen werden und komplexere Bereiche der Kriminalität betroffen sind. Exemplarisch kann auf die Steuerhinterziehung oder die Geldwäsche in ihrer jeweiligen Vielgestaltigkeit hingewiesen werden. Oftmals stellt sich die 17 Hierbei muss es sich nicht zwingend um eine Verurteilung handeln. Auch im Falle von Einstellungen vor allem nach §§ 153, 153a StPO werden solche Erklärungen abgegeben. Gleiches gilt im Übrigen bei Freisprüchen aus tatsächlichen und/oder rechtlichen Gründen.

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Frage, ob und in welchem Umfang sichergestelltes Bargeld oder sichergestellte Wertgegenstände vor allem zur Begleichung (vermeintlicher) Verbindlichkeiten bei den insofern zuständigen Fiskalbehörden eingezogen werden können und sollen18. Die sog. formlose Einziehung kann in solchen Konstellationen zu einem effektiven Instrumentarium der Verteidigung werden, da ihr gewissermaßen eine Ventilfunktion zukommen kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn anspruchsvolle und aufwändige (Wirtschaftsstraf-)Verfahren vor dem Amtsgericht verhandelt werden, dessen vor allem zeitliche Ressourcen bekanntermaßen deutlich begrenzt sind. Die sog. formlose Einziehung – gegebenenfalls eingebunden in ein Rechtsgespräch und Absprachen der Verfahrensbeteiligten oder zumindest Zusagen seitens des Beschuldigten – erspart unter Umständen weitere Ermittlungen und Feststellungen, aber auch die Anwendung der komplizierten materiell-rechtlichen wie verfahrensrechtlichen Vorschriften zur Einziehung. Hieraus wird deutlich, dass die sog. formlose Einziehung auch bei Verfahren auf landgerichtlicher Ebene von keinesfalls zu unterschätzender Relevanz ist. Der Akzent dürfte bei den Wirtschaftsstrafverfahren liegen. Denn bei Betrugs- und Untreuevorwürfen, aber auch bei Steuerstrafverfahren geht es oftmals um die nicht zuletzt verfassungsgerichtlich geforderte präzise Schadensfeststellung, welche sodann erst wiederum Ausgangspunkt einer möglichen Einziehung – in welcher Form auch immer – ist. Komplizierter wird es schließlich, wenn beispielsweise Gefährdungsdelikte wie der Subventionsbetrug nach § 264 StGB den Tatvorwurf bilden und etwaige Rückforderungsansprüche der öffentlichen Hand eher mehr denn weniger greifbar im Hintergrund stehen. Aber auch in diesen Bereich ist die „formlose Einziehung“ aufzufinden. Jenseits des Hauptverfahrens hat die sog. formlose Einziehung ebenfalls greifbare Bedeutung im Ermittlungsverfahren19 ; zuweilen sogar im Zwischenverfahren. Eingekleidet ist sie in der Regel in die Vorbereitung der eigentlichen Entscheidung über die unmittelbare Ahndung (vermeintlich) strafrechtlich relevanten Verhaltens. Eine thematische Nähe zur Schadenskompensation ist daher gegeben, wenn nicht sogar direkt intendiert. In der Konsequenz erweitern sich die verfahrensrechtlich vorgesehenen Entscheidungsoptionen der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts auf der Basis einer Kooperation des Beschuldigten: Statt Anklage also Strafbefehl oder Einstellung nach §§ 153, 153a StPO; unter der Voraussetzung, dass über die „formlose Einziehung“ ein Geld- oder Gütertransfer hin zur Staatskasse verbindlich und damit rechtskräftig bewerkstelligt wird. Der kursorische Überblick zeigt, dass die Anwendungsmöglichkeiten der sog. formlosen Einziehung in den verschiedenen Abschnitten des Strafverfahrens vielfäl-

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Hierzu mit insolvenzrechtlichen Implikationen: OLG München, Beschl. v. 12. 02. 2019 – 3 Ws 939/18. 19 Hüls/Reichling, StraFo 2009, 198 f., 202: deklariert als „voreiliger Verzicht“ (mit Formulierungsbeispiel).

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tig sind20. Eine abschließende Phänomenologie zu erstellen, ist mithin nahezu unmöglich. Zu konstatieren ist freilich, dass dieses Procedere seinen Platz in der Strafrechtspraxis innehat und diesen aus verschiedenen Gründen geradezu behauptet. Maßgeblich ist die Verfahrensvereinfachung21. Denn förmliche gerichtliche Entscheidungen, welche die materiell- und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen der Einziehung berücksichtigen müssten, werden überflüssig. Demzufolge dürfte in einer Vielzahl von Fällen der zumindest intuitive Konsens der Verfahrensbeteiligten eine zentrale Rolle spielen; zumal die maßgeblichen strafrechtlichen oder strafprozessualen Folgen an anderer Stelle verortet werden. Bei den weiteren Fallkonstellationen ist die sog. formlose Einziehung das Ergebnis eines spezifischen strategischen Kalküls der involvierten Verfahrensbeteiligten. Auf Seiten des Beschuldigten geht es fallspezifisch um die Reduktion von Strafe22 und kooperatives Verhalten, aber auch etwa darum, eine Anklage oder einen Strafbefehl zu vermeiden oder eine Verfahrenseinstellung zu erreichen. Im Falle zulässiger Absprachen entsteht gegebenenfalls Transparenz. Ansonsten bleiben das Zustandekommen und der Inhalt einer entsprechenden Erklärung der Verteidigung einschließlich der Akzeptanz durch Staatsanwaltschaft oder Gericht gewissermaßen im Dunkeln; sieht man von Vermerken oder Korrespondenz in der Strafakte ab. 3. Zur Rechtsgrundlage Die sog. formlose Einziehung basiert nicht auf einer positiven gesetzlichen Regelung23, sondern stellt genuines Richterrecht dar. Denn in den Vorschriften der §§ 73 ff. StGB sowie den korrespondierenden verfahrensrechtlichen Vorschriften24 ist das Rechtsinstitut (bewusst) nicht geregelt. Gleiches gilt für die Rechtslage vor der Reform im Jahre 2017, sodass zu keinem Zeitpunkt eine ausdrückliche Normierung existierte. Ein Seitenblick auf Nr. 180 Abs. 4 RiStBV25 erscheint in diesem Zusammenhang kaum hilfreich, da dort zwar das formlose Entfernen von Einziehungsund Verfallsobjekten aus dem Verkehr unter anderem beim Verzicht auf die Durchführung des selbstständigen Verfahrens erläutert ist. Indessen vermögen diese rudimentären Regelungen bereits aufgrund ihrer Rechtsqualität eine gesetzliche Lücke nicht zu schließen. Zudem setzt Nr. 180 Abs. 4 RiStBV bei zutreffendem Verständnis die sog. formlose Einziehung eigentlich eher voraus, als dass sie damit unmittelbar 20 Zur Anwendung der formlosen Einziehung in der Rechtsmittelinstanz; vgl. BGHSt 20, 253 (257). 21 BGH, Beschl. v. 20. 03. 2019 – 3 StR 67/19. 22 Zur Strafmilderung bei einer zustimmenden Erklärung des Beschuldigten im Rahmen der sog. formlosen Einziehung: BGH, Urt. v. 20. 03. 2019 – 3 StR 67/19 Rn. 19; BGH, Urt. v. 10. 4. 2018 – 5 StR 611/17 (= NStZ 2018, 333 f.). 23 Ähnlich: Ströber/Guckenbiehl, Rpfleger 1999, 115. 24 Vgl.: §§ 111b ff., 421 ff., 459 g ff. StPO. 25 Thode, Die außergerichtliche Einziehung von Gegenständen im Strafprozeß, S. 19 ff., 27 f.

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kreiert würde. Daher wird mit guten Gründen auch vermutet, dass schon seit den Zeiten des Reichsgerichts entsprechend verfahren wurde26. Vor diesem Hintergrund erlangt die Judikatur mit Blick auf die Gestaltung der Rechtslage maßgebliche Bedeutung27. Die historischen, jedoch nach wie vor für gültig erachteten Referenzen28 resultieren aus zwei in die sog. Amtliche Sammlung aufgenommenen Entscheidungen des BGH vom 14. 06. 195529 sowie vom 16. 07. 196530. Beide Verfahren hatten – bezogen auf die damalige Rechtslage – das selbständige Verfahren wegen Einziehung zum Gegenstand; vor dem Hintergrund, dass im erstgenannten Fall bezüglich der vorherigen Verurteilung eine Einstellung erfolgt und im zweitgenannten Fall der Einziehungsbeteiligte durch gerichtlichen Beschluss außer Verfolgung gesetzt war. Im Urteil aus dem Jahre 1965 führte der BGH an maßgeblicher Stelle Folgendes aus31: „Der Einziehungsbeteiligte hat aber durch Schreiben vom 14. Juli 1965 dem Senat gegenüber ausdrücklich erklärt, daß er auf die Rückgabe des bei den Gerichtsakten befindlichen ,Archivmaterials‘ … verzichte.“

Und ausgehend davon an anderer Stelle32: „Es entspricht aber ständiger Praxis des Senats, von der förmlichen Einziehung geringwertiger Gegenstände, auf derer Rückgabe Angeklagte oder Einziehungsbeteiligte von sich aus verzichtet haben, aus prozessökonomischen Gründen abzusehen. Gegen dieses Verfahren hat die Bundesanwaltschaft bisher keine Bedenken erhoben, es vielmehr öfter sogar selbst angeregt. Der Senat sieht keinen Anlaß, von dieser bewährten Gerichtspraxis in einem Falle abzugehen, in dem Bedeutung und Wirkung eines förmlichen Einziehungsausspruches in keinem vernünftigen Verhältnis zu dem Umfang und dem Gewicht der dabei zu entscheidenden Tat- und Rechtsfragen stehen …“

Im letztgenannten Zusammenhang erlangte punktuell der Beschluss des 3. Strafsenats aus dem Jahre 1955 Bedeutung. Denn der BGH hatte hierin unter anderem Folgendes entschieden33 : „Für das selbständige Verfahren gilt aus gutem Grunde der Ermessensgrundsatz (…) Dafür kann es von Bedeutung sein, ob ein Bedürfnis für die Maßnahme besteht und ob ihre Bedeutung und Wirkung in vernünftigem Verhältnis zu dem Umfang und dem Gewicht der dabei zu entscheidenden Tat- und Rechtsfragen steht.“ 26

Thode, Die außergerichtliche Einziehung von Gegenständen im Strafprozeß, S. 21. Indessen unterscheidet Thode zwischen staatsanwaltschaftlicher und gerichtlicher Praxis. 27 Hinzuweisen ist indessen darauf, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung kein Gesetzesrecht darstellt und auch keine hiermit vergleichbare Rechtsbindung erzeugen kann; vgl.: BVerfG, NJW 2009, 1469 ff. (1475). 28 BGH, NJW 2019, 1961 (1962). 29 BGH, Beschl. v. 14. Juni 1955 – 3 StR 664/53 = BGHSt 7, 356 ff. 30 BGH, Urt. v. 16. Juli 1965 – 6 StE 1/65 = BGHSt 20, 253 ff. 31 BGHSt 20, 253 (257). 32 BGHSt 20, 253 (257). 33 BGHSt 7, 356 (357 f.).

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Aus diesen beiden Entscheidungen mit ihrem eher dürftigen Gehalt wurde und wird in der Strafrechtspraxis die sog. formlose Einziehung als zulässiges Instrumentarium der Vermögensabschöpfung destilliert und letztlich vor allem legitimiert34. Demgegenüber ist dem zentralen Judikat lediglich zu entnehmen, dass eine bis dato nicht beanstandete Gerichtspraxis bestanden habe, bei einem bedingungslosen Verzicht seitens des Angeklagten oder des Einziehungsbeteiligten auf das Eigentum aus prozessökonomischen Gründen bei geringwertigen35 Gegenständen von einer förmlichen Einziehung abzusehen; vor dem damaligen rechtlichen Hintergrund, dass die Einziehung als Sicherungsmaßnahme auf der Basis der Kann-Vorschrift des § 86 Abs. 1 StGB eine richterliche Ermessensentscheidung darstellte36. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen erfolgte demzufolge auf dieser Ebene nicht37. Bereits eine Notwendigkeit dessen wurde nicht gesehen. Vielmehr deutet sich an, dass eine nicht nur beim BGH schon seit längerem existente Praxis schlicht durch Erwähnung in den Urteilsgründen perpetuiert und damit höchstrichterlich geadelt wurde. Prägnant formuliert: Da der BGH beim bedingungslosen Verzicht auf (geringwertige) Gegenstände eine förmliche Einziehungsentscheidung expressis verbis für entbehrlich erachtete, ließ sich in der Folgezeit generalisierend schlussfolgern, eine sog. formlose Einziehung sei grundsätzlich zulässig. Oder anders gewendet: Aus Faktizität wurde Geltung. In der aktuellen Rechtsprechung wird die Grundsatzfrage nach der Zulässigkeit der sog. formlosen Einziehung deshalb nicht mehr aufgeworfen38. Vielmehr wird mit Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, dass der Beschuldigte bei einer „außergerichtlichen Einziehung“ eine wirksame Verzichtserklärung abgeben kann39. In diesem Rahmen gibt dieser – so die Diktion des BGH – eine etwaige ihm zustehende Rechtsposition auf, um den Strafverfolgungsbehörden unter Verzicht auf alle Förmlichkeiten sofort eine Verwertung der betreffenden Gegenstände zu ermöglichen40. Die aktuelle Diskussion drehte sich bisher mithin lediglich darum, ob die kodifizierten Vorschriften zur Vermögensabschöpfung insbesondere nach der Neuregelung im Jahre 2017 der außerrechtlichen Kreation von Konfiskationsmöglichkeiten entgegenstehen könnten und welche Bedeutung bzw. Rechtsnatur der Erklärung des Be34 Kritisch: Thode, NStZ 2000, 62 (63), wonach die Entscheidung des BGH vom 16. 07. 1965 fehlinterpretiert werde, da sie ohne Tenor publiziert ist und deshalb zu Missverständnissen Anlass gebe; Hüls/Reichling, StraFo 2009, 198 ff. (199). 35 Vgl. aber: OLG München, Beschl. v. 15. 07. 2009 – 1 U 2647/09: „Weder in der Rechtsprechung noch in den Standardkommentaren wird die Auffassung vertreten, dass das Einverständnis zur formlosen Einziehung Rechtswirkungen nur im Falle geringwertiger Gegenstände entfaltet (…)“. 36 BGHSt 20, 253 (254 f.). 37 In diesem Sinne: Hüls/Reichling, StraFo 2009, 198 ff. (199). 38 Ähnlich: Habetha, NJW 2019, 1642 (1643). 39 BGH, NJW 2019, 1692 (1693); BGH, NJW 2019, 1961 (1962). 40 BGH, NJW 2019, 1961 (1962) unter Hinweis auch auf BGHSt 20, 253 ff.; BGH, Beschl. v. 20. 03. 2019 – 3 StR 67/19 Rn. 7.

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schuldigten zuzuerkennen sei. Höchstrichterlich ist demzufolge nunmehr geklärt, dass durch die Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung deren formloses Pendant nicht eingeschränkt wurde41. Argumentativ lässt sich dies mit dem Willen des historischen Gesetzgebers unterlegen42. Denn in den Materialien zur Neuregelung heißt es unter anderem:43 „Die Neufassung der Vorschrift schränkt die Möglichkeit der ,formlosen Einziehung‘ des Erlangten nicht ein.“

Ansonsten handelt es sich bei der „formlosen Einziehung“ um ein erprobtes Instrumentarium aus dem Arsenal der strafrechtlichen Reaktion auf (vermutetes) kriminelles Verhalten. Dessen ebenso plötzliche wie gegenwehrlose Eliminierung lediglich durch die gesetzliche Neuregelung einer grundsätzlich bekannten Materie wäre angesichts einer langjährigen und für effizient erachteten Praxis mehr als überraschend gewesen. Vor diesem Hintergrund dürfte die ausdrückliche Erwähnung in den Motiven des Gesetzes erklärlich sein. In gewisser Hinsicht überraschend ist demgegenüber die Entscheidung des BGH, dass auf die „außergerichtliche Einziehung“ die Vorschriften des bürgerlichen Rechts anwendbar seien44. Indessen wurde damit eine schwelende Kontroverse45 höchstrichterlich bereinigt und Rechtssicherheit geschaffen46 ; jedenfalls vorläufig. Der status quo um die sog. formlose Einziehung lässt sich zusammenfassend nunmehr dahingehend beschreiben, dass ein tradiertes, richterrechtlich anerkanntes Rechtsinstitut der Konfiskation nach wie vor vorhanden ist, welches koexistent und insofern konkurrenzlos neben der gesetzlich geregelten Einziehung als weiteres Instrumentarium zur Verfügung steht. Es handelt sich um einen unwiderruflichen47

41 BGHSt 63, 116 (118 ff.); BGH, NJW 2019, 1961 (1962); vgl. auch: Beck/Knierim, in: Gesamtes Strafrecht aktuell, Kap. 16 Rn. 22; Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Vor § 421 Rn. 6. 42 Vgl. hierzu: BGH, NJW 2019, 1961 (1962 f.); BGH, Beschl. v. 20. 03. 2019 – 3 StR 67/ 19 Rn 10. 43 BT-Drs. 18/9525, S. 61. 44 BGH, NJW 2019, 1692 (1693); hierzu: Habetha, NJW 2019, 1642 ff. Offen gelassen noch: BGH, Beschl. vom 20. 03. 2019 – 3 StR 67/19 Rn. 7. Allerdings bereits in diese Richtung: OLG Frankfurt, Urt. v. 22. 11. 2005 – 14 U 221/04; OLG München, Beschl. v. 15. 07. 2009 – 1 U 2647/09. 45 Zu den gegensätzlichen Polen: Thode, NStZ 2000, 62 (65): „öffentlich-rechtliche Lösung“; zur „privatrechtlichen Lösung“: Brauch, NStZ 2013, 503 (505, 509); Ströber/Guckenbiehl, Rpfleger 1999, 115 f.; zur Möglichkeit, keinen rechtsgeschäftlichen Inhalt zugrunde zu legen, sondern nur von einer strafprozessualen Erklärung auszugehen: BGH, NJW 2019, 1692 (1693). Allgemein zum Streitstand: BGH, NJW 2019, 1692 (1693). 46 Habetha, NJW 2019, 1642 ff. (1644). 47 Während der BGHSt 20, 253 (257) noch vom einem „bedingungslosen Verzicht“ sprach, ist in BGH, NJW 2019, 1961 (1962) von einem unwiderruflichen Verzicht die Rede. Die Terminologie schwankt also.

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Verzicht zumeist des kooperativen Beschuldigten48 auf etwaige, eventuell sogar diffuse Herausgabeansprüche49. Der „Verzicht“ oder die „Zustimmung zur formlosen Einziehung“ sind in der notwendigen rechtlichen Konkretisierung privatrechtlich – ggf. als dingliches Rechtsgeschäft – zu qualifizieren. Neben dem durch die entsprechende Erklärung ausgelösten zivilrechtlich zu betrachtenden Vermögenstransfer an den Justizfiskus sind in strafrechtlicher Hinsicht in der Regel weitere unmittelbare Konsequenzen gegeben50. Der Beschuldigte begibt sich nämlich uno actu spezifischer Rechtsmittel51 und eine gerichtliche Entscheidung nach §§ 73 ff. StGB ist grundsätzlich nicht mehr zulässig52, jedenfalls aber entbehrlich53. Die Verzichtsoder Zustimmungserklärung54 des Beschuldigten55 im Rahmen der sog. formlosen Einziehung hat demzufolge mit Blick auf die Gestaltung der materiellen Rechtslage sowie die gleichzeitige Disposition im Bereich des Verfahrensrechts eine Doppelnatur56. Übergreifend ist zudem zu berücksichtigen, dass – im Sinne der bereits angedeuteten Konkurrenzlosigkeit – ein Nebeneinander von „formloser Vermögensabschöpfung“ und förmlicher Einziehung für zulässig erachtet wird57.

48 In Betracht kommen aber auch sonstige Einziehungsbeteiligte bzw. -betroffene; vgl. etwa: BGHSt 20, 253 (257). 49 Mit dem OLG München (OLG München, Beschl. v. 15. 07. 2009 – 1 U 2647/09) lässt sich die Ausgangslage wie folgt skizzieren: „Unabhängig davon, ob man eine solche Erklärung als Übereignung der sichergestellten Gegenstände an den Fiskus gemäß § 929 S. 2 BGB versteht oder als Verzicht auf den Herausgabeanspruch verbunden mit der Zustimmung zur uneingeschränkten Verwertung der Gegenstände durch die Strafverfolgungsbehörden, (…)“. 50 Hierzu: Thode, Die außergerichtliche Einziehung von Gegenständen im Strafprozeß, S. 70 ff. 51 Thode, NStZ 2000, 62 (64). Zur möglichen Relevanz des Einverständnisses des Beschuldigten mit der (formlosen) Einziehung sichergestellter Gegenstände im Rahmen der Annahmeberufung: OLG Bamberg, Beschl. v. 11. 11. 2015 – 1 Ws 585/15. 52 Dies ist dann der Fall, wenn die Einziehungsanordnung bei Vorliegen einer Zustimmung zur „formlosen Einziehung“ als Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewertet wird; vgl. hierzu: BGH, Urt. v. 10. 04. 2018 – 5 StR 611/17 (= NStZ 2018, 333 f.); a.A.: BGH, Beschl. v. 20. 03. 2019 – 3 StR 67/19. Es liegt also eine Kontroverse zwischen dem 5. Und dem 3. Strafsenat vor bezogen jedenfalls auf sog. BtM-Fälle. 53 BGHSt 20, 253 (256 f.); BGH, NJW 2019, 1961 (1964); BGH, Urt. v. 10. 4. 2018 – 5 StR 611/17 m.w.Nachw; BayObLG, Beschl. v. 08. 07. 1996 – 4 St RR 76/96; hierzu auch: Brauch, NStZ 2013, 503 (507 m.w.N.); a.A.: AG München, Urt. v. 10. 10. 2017 – 814 Ds 261 Js 160705/17. 54 Wie bereits ausgeführt, gibt es keine Standardisierung. Die Formulierungen weichen daher inhaltlich voneinander ab; vgl. oben II.2. (Phänomenologie). 55 Gleiches gilt grundsätzlich auch für sonstige Einziehungsbeteiligte. 56 In diesem Zusammenhang können sich weitere Probleme stellen, wie etwa die Frage, ob aus der Zustimmung des Beschuldigten zur formlosen Einziehung abgeleitet werden kann, dass mit Blick auf nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellte Verfahrensteile eine Einziehung nach § 73a StGB in Betracht kommt; vgl.: AG München, Urt. v. 10. 10. 2017 – 814 Ds 261 Js 160705/17. 57 BGH, NJW 2019, 1961 (1964).

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4. Zu den grundsätzlichen Fragen Aus praktischen und maßgeblich aus Gründen der Effizienz wurde und wird die sog. formlose Einziehung durch die Rechtsprechung einhellig akzeptiert und auf dieser Basis mit signifikanter Häufigkeit praktiziert58. Die grundsätzliche Frage nach deren Zulässigkeit blieb freilich bislang aus judikativer Perspektive völlig ausgeklammert; zumal der Gesetzgeber in der Vergangenheit keine entsprechenden Verbote statuierte und aktuell die Koexistenz der förmlichen, weil kodifizierten Einziehung einerseits und der „formlosen“, doch höchstrichterlich anerkannten Einziehung andererseits durch Erwähnung in den Gesetzesmaterialien expressis verbis mehr als zu tolerieren scheint. Die Problematik der grundsätzlichen Zulässigkeit wird mithin nur in der Literatur aufgegriffen59. Thematisiert werden hierbei der fair-trial-Grundsatz, das Prinzip des gesetzlichen Richters sowie die Unschuldsvermutung. Mit dem fair-trial-Grundsatz, der sowohl verfassungsrechtlich über Art. 20 Abs. 3; 2 Abs. 1 GG60 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2; 1 Abs. 1 GG61 als auch europarechtlich über Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK62 fundiert ist, jedoch der spezifischen Konkretisierung bedarf63, soll die sog. formlose Einziehung aus zwei Gründen heraus inkompatibel sein. Zum einen unterbleibe in der Regel die erforderliche gerichtliche Belehrung des Beschuldigten über die rechtlichen Folgen seiner Erklärung64. Zum anderen begebe sich der Beschuldigte durch seine Verzichtserklärung in unzulässiger Art und Weise ihm ansonsten grundsätzlich zustehender Rechtsmittel bzw. bereits einer rechtsmittelfähigen Entscheidung65. Dem wird entgegengehalten, dass es sich bei der sog. formlosen Einziehung nicht um eine einseitige hoheitliche Zwangsmaßnahme, sondern um ein konsensuales Rechtsgeschäft zwischen Beschuldigtem und Strafjustiz handele66 bzw. es dem Beschuldigten gerade freistehe, den Anspruch des Staates zu erfüllen oder sich ansonsten hiergegen zu verteidigen67.

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Eine rechtstatsächliche Untersuchung fehlt – soweit ersichtlich – hierzu. Statische Erfassungen durch die Justiz erfolgen grundsätzlich nicht. Indessen begegnet der Praktiker dem Phänomen in seiner unterschiedlichen Ausprägung fast täglich. 59 Ähnlich: Habetha, NJW 2019, 1642 (1643). 60 BVerfG, NJW 1969, 1719 ff.; NJW 1975, 103 ff.; NJW 1981, 1719 (1722); NJW 1983, 1599 ff.; NJW 1984, 2403 ff.; hierzu zusammenfassend: Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Einl Rn. 19. 61 BVerfG, NJW 2009, 1469 ff. (1473). 62 Hecker, Europäisches Strafrecht, § 3 Rn. 18 f.; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK, Art. 6 Rn. 87 ff. 63 Zu den Konkretisierungen: Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: Meyer-Ladewig/ Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK, Art. 6 Rn. 108 ff. 64 Thode, NStZ 2000, 62 (65); dies., Die außergerichtliche Einziehung von Gegenständen im Strafprozeß, S. 88 f. 65 Thode, NStZ 2000, 62 (65 f.); dies., Die außergerichtliche Einziehung von Gegenständen im Strafprozeß, S. 89 f.; Hüls/Reichling, StraFo 2009, 198 ff. (199). 66 Brauch, NStZ 2013, 505 (506).

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Eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG wurde aus einer in der sog. formlosen Einziehung liegenden vermeintlichen richterlichen Willkür abgeleitet. Denn über dieses „außergerichtliche“ Rechtsinstitut werde dem Beschuldigten eine Entscheidung durch das zuständige Gericht im hierfür eigentlich vorgesehenen Verfahren vorenthalten68. Auch eine etwaige Überprüfung durch ein Instanzgericht werde verhindert69. Die gegenteilige Auffassung rekurriert indessen maßgeblich darauf, dass mit einer privatrechtlich wirksamen Vereinbarung zwischen Beschuldigtem und Justiz die Grundlage für eine gerichtliche Einziehungsentscheidung entfallen sei70. In der Konsequenz lägen keine sachwidrigen Erwägungen vor, so dass eine willkürliche gerichtliche (Nicht-)Entscheidung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nicht auszumachen wäre71. Im Bereich der sich aus Art. 6 Abs. 2 EMRK sowie Art. 20 Abs. 3 GG ergebenden Unschuldsvermutung soll ein Verstoß daraus resultieren, dass der Beschuldigte vor einer das Verfahren abschließenden gerichtlichen Entscheidung infolge der Praktizierung der „außergerichtlichen Einziehung“ als schuldig angesehen werde72. Relativierend wird dem wiederum entgegen gesetzt, dass kein einseitiger Hoheitsakt, sondern ein gegenseitiges Rechtsgeschäft vorläge73. Parallel zu § 153a StPO und der darin enthaltenen Möglichkeit der Einstellung von Strafverfahren gegen Auflage – nach der Rspr. des BVerfGs ohne Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung – scheide somit ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung aus74. Der Überblick zeigt, dass der Möglichkeit einer Verletzung von grundsätzlich kardinalen Verfahrensgrundsätzen durchweg Elemente einer konsensualen Verfahrensgestaltung im Strafprozess kompensatorisch gegenüber gestellt werden sollen. Daher disponieren bei der sog. formlosen Einziehung die Verfahrensbeteiligten über die Geltung betroffener (Verfahrens-)Prinzipien; was indessen vom Normenprogramm und dem hierauf basierenden Prozessmodell grundsätzlich nicht vorgesehen ist. Unabhängig davon, dass sich konstatieren ließe, dass die „außergerichtliche Einziehung“ sicherlich nicht das Gravitationszentrum der einzelnen aufgeführten Verfahrensgrundsätze tangiert, bleibt es gleichwohl bei dem eher unbefriedigenden Befund, dass es eine „Privatautonomie im Strafverfahren“75 geben soll. Dies ergibt sich un67 Habetha, NJW 2019, 1642 (1643). Eine Ausnahme soll nach Habetha dann gelten, wenn der Betroffene durch die Strafjustiz mittels Täuschung und Drohung zu seiner Erklärung veranlasst wurde. 68 Thode, NStZ 2000, 62 (66 f.); dies., Die außergerichtliche Einziehung von Gegenständen im Strafprozeß, S. 90 ff. 69 Thode, a.a.O. (vgl. Fn. 50). 70 Brauch, NStZ 2013, 503 (508). 71 Habetha, NJW 2019, 1642 (1643 f.). 72 Hüls/Reichling, StraFo 2009, 198 ff. (199); Thode, NStZ 200, 62 (67); dies., Die außergerichtliche Einziehung von Gegenständen im Strafprozeß, S. 94. 73 Brauch, NStZ 2013, 503 (508). 74 Habetha, NJW 2019, 1642 (1644); Brauch, NStZ 2013, 505 (508). 75 So die Überschrift des Beitrags von Habetha; vgl.: ders., NJW 2019, 1642.

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mittelbar aus dem Ausgangspunkt der Betrachtung. Denn die Frage nach der Zulässigkeit der sog. formlosen Einziehung wird bisher nahezu ausschließlich an deren vermeintlicher Rechtsnatur orientiert76. 5. Kritische Anmerkungen Vor dem skizzierten Hintergrund ließe sich zwangslos argumentieren, die sog. formlose Einziehung sei in der Praxis des Strafverfahrens als probates Mittel der Konfiskation im Sinne eines „crime must not pay“ etabliert, da nicht zuletzt Rechtsnatur und Rechtsfolgen hinreichend geklärt sind; nunmehr auch durch die höchstrichterliche Rechtsprechung. An früherer Stelle geäußerte grundsätzliche Bedenken konnten trotz einer hierdurch sicherlich ausgelösten Sensibilisierung aus Sicht der wohl h.A. in der Diskussion zumindest relativiert werden. Freilich bleiben auch unter Berücksichtigung des erreichten Diskussionsstands diverse Fragen. Im Bereich des Grundsätzlichen bliebe zu klären, ob nicht weitere, bisher nicht oder nur am Rande berücksichtigte Aspekte in die Debatte einzubeziehen sind. Wegen der teilweise zirkulär anmutenden Argumentation um Rechtsnatur und Zulässigkeit der „außergerichtlichen Einziehung“ muss der gegenwärtige Stand des Diskurses ebenfalls kritisch beleuchtet werden. a) An den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung Die sog. formlose Einziehung stellt – wie bereits ausgeführt – Richterrecht dar. Sie ist daher das Ergebnis richterlicher Rechtsfortbildung. Es fehlt zwar in der Herleitung eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem Phänomen innerhalb der Rechtsprechung, jedoch wurde es in der Praxis entwickelt und schließlich judikativ mit Weihen versehen. Dass die Rechtsfortbildung als schöpferischer Akt der Rechtsfindung zu den autorisierten Aufgaben der Judikative zählt, ist anerkannt77. Insbesondere das BVerfG hat diese Aufgabe richterlicher Tätigkeit in der bekannten „Soraya Entscheidung“ geradezu zementiert78: „Diese Aufgabe und Befugnis zu „schöpferischer Rechtsfindung“ ist dem Richter – jedenfalls unter der Geltung des Grundgesetzes – im Grundsatz nie bestritten worden (…).“

Infolgedessen wurde im Anschluss an diesen Beschluss als Selbstverständlichkeit – aber auch weiter begründend – formuliert79 :

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Habetha, NJW 2019, 1642 (1643); Brauch, NStZ 2013, 503 (504). Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 187 ff.; Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 249 ff. m.w.N.; Wiedemann, NJW 2014, 2407; BVerfG, NJW 2009, 1469 ff. (1472). 78 BVerfG, NJW 1973, 1221 (1225) = BVerfGE 34, 269 ff. (287). 79 BVerfG, NJW 1985, 2939. 77

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„Das BVerfG hat diese Aufgabe und Befugnis der Gerichte zur richterlichen Rechtsfortbildung stets bejaht (…) Rechtsfortbildung war in der deutschen Rechtsgeschichte nicht nur seit jeher eine anerkannte Funktion der Rechtsprechung; sie ist im modernen Staat geradezu unentbehrlich.“

Die Befugnis zur Rechtsfortbildung als allgemeine Aufgabe der Dritten Gewalt bezieht die strafrichterliche Tätigkeit ein. Mithin finden sich auch im Strafrecht angesichts eines grundsätzlich bestehenden Normenhungers80 schöpferische Akte der Rechtsfindung81 wie beispielsweise die Möglichkeit der Strafmilderung beim Mord aus Heimtücke82, die sog. Vollstreckungslösung bei überlanger Verfahrensdauer83 oder die Widerspruchslösung im Bereich der Beweisverbote84. Die Kreation der sog. formlosen Einziehung wird vor diesem Hintergrund zunächst nicht beanstandet werden können. Fraglich ist aber, ob damit nicht die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung erreicht oder überschritten sind. Denn mit Blick auf die Gewährleistung der Freiheitsgrundrechte sowie unter Berücksichtigung der Anforderungen an die im Rechtsstaatsprinzip verankerte Rechtssicherheit sind Auslegung wie Rechtsfortbildung von Verfassungs wegen limitiert85. Das BVerfG formulierte wie folgt86 : „Eine Rechtsfortbildung ,praeter legem‘ bedarf zwar sorgfältiger Begründung, ist jedoch nicht von vornherein ausgeschlossen (…).“

Und an anderer Stelle87: „Auch die analoge Anwendung einfachgesetzlicher Vorschriften ist von Verfassungs wegen grundsätzlich nicht zu beanstanden (…) Verfassungsrechtliche Schranken ergeben sich allerdings aus dem in Art. 20 III GG angeordneten Vorrang des Gesetzes (…).“

Obwohl grundsätzlich zu klären bliebe, ob nicht der richterlichen Rechtsfortbildung im Straf- und Strafprozessrechts auch unter Berücksichtigung von § 1 StGB in Verbindung mit Art. 103 Abs. 2 GG sowie den europa(straf-)rechtlichen und weiteren verfassungsrechtlichen Vorgaben besondere Grenzen gesetzt sein können88, und 80

Hirsch, ZRP 2009, 62. Vgl. hierzu kritisch: Eschelbach, Richterliche Rechtsfortbildung, in: FS Fischer, S. 81 ff. (96), der teilweise – mit Blick auf die Praxis der Urteilsabsprachen vor der gesetzlichen Regelung – auch von einem „kleinen Staatsstreich“ spricht. 82 BGHSt 30, 105 (121). Zur spezifischen Problematik der Heimtücke als einem häufigen, aber auch schwierigen Mordmerkmal: Britz, JM 2019, 303 ff. (304). 83 BGHSt 52, 124 (128 ff.). 84 BGHSt 38, 214 ff.; neuerdings mit Bezug zum Ermittlungsverfahren: BGH, NJW 2019, 2627 (2629). 85 Zu den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung aus verfassungsrechtlicher Sicht: Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 43 m.w.N. 86 BVerfG NJW 1993, 2861 (2863). 87 BVerfG, NJW 1990, 1593. 88 Vgl. zu einer rechtsgebietsspezifischen Rechtsfortbildung: Eschelbach, Richterliche Rechtsfortbildung, in: FS Fischer, S. 81 ff. (82) unter Hinweis auf BVerfGE 34, 269 (288). 81

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ob – soweit möglich – nicht schärfer zwischen Auslegung einerseits und Rechtsfortbildung andererseits zu differenzieren wäre89, bleibt der statische und deshalb unerschütterliche Befund, dass der Gesetzesvorbehalt eine besondere Schranke darstellen muss90. Dies folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip91, aber auch aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung92 sowie dem Demokratieprinzip93. Nach dem BVerfG gilt nämlich94: „Die Auslegung des einfachen Gesetzesrechts einschließlich der Wahl der hierbei anzuwendenden Methode ist Sache der Fachgerichte und vom BVerfG nicht umfassend auf ihre Richtigkeit zu untersuchen. Das BVerfG beschränkt seine Kontrolle, auch soweit es um die Wahrung der Kompetenzgrenzen aus Art. 20 II 2 und III GG geht, auf die Prüfung, ob das Fachgericht bei der Rechtsfindung die gesetzgeberische Grundentscheidung respektiert und von den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung in vertretbarer Weise Gebrauch gemacht hat (…) Diese Grundsätze gelten auch im Bereich des Strafprozessrechts.“

Mithin erlangt zentrale Bedeutung, dass der Gesetzgeber im Jahre 2017 das Recht der Vermögensabschöpfung und der Opferentschädigung unter Berücksichtigung der vorherigen Rechtslage einschließlich der Defizite vollständig neu geregelt und damit grundlegend renoviert hat; und zwar mit den Zielen, Abschöpfungslücken zu schließen sowie das konfiskatorische Recht zu systematisieren, zu straffen und zu vereinfachen95. Da infolgedessen umfassende96 Regelungen zur Einziehung vorliegen, dürfte qua Gesetzesbindung und -vorrang kein Raum (mehr) für eine richterrechtliche Schöpfung namens „formlose Einziehung“ bestehen. Hat nämlich der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, darf der Richter diese nicht aufgrund ei-

89 Zum Verhältnis von lückenfüllender Auslegung zu „gesetzesübersteigender“ Rechtsfortbildung: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 187; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 88 ff., 102 f.; Wiedemann, NJW 2014, 2407; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 60 ff. 90 Wiedemann, NJW 2014, 2407 (2411 f.); Eschelbach, Richterliche Rechtsfortbildung, in: FS Fischer, S. 81 ff. (83); Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 83 f., 85 ff., 130 ff.; Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 310 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 66 m.w.N.; BVerfG, NJW 1985, 2395 (2402 m.w.N.). 91 BVerfGE 34, 269 (288): „Fraglich können nur die Grenzen sein, die einer solchen schöpferischen Rechtsfindung mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung gezogen werden müssen.“ 92 BVerfG, NJW 2009, 1469 (1470). 93 Hierzu: Abweichende Meinung von Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio zu BVerfG, NJW 2009, 1469 ff. (1476); Rüthers, NJW 2009, 1461. 94 BVerfGE, NJW 2009, 1469 (1470). 95 Fischer, StGB, Vor §§ 73 – 76a, Rn. 3 m.w.N.; Beck/Knierim, in: Gesamtes Strafrecht aktuell, Kap. 16 Rn. 2 ff.; BT-Drs. 18/9525, S. 2: „Der Entwurf verfolgt das Ziel, das Recht der Vermögensabschöpfung durch eine grundlegende Reform zu vereinfachen und nicht vertretbare Abschöpfungslücken zu schließen.“ 96 Der Gesetzgeber spricht von einem „durchdachten Abschöpfungsmodell“; vgl.: BTDrs. 18/9525, S. 1.

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gener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen97. Vielmehr ist die gesetzgeberische Grundentscheidung zu respektieren98. In diesem Zusammenhang ließe sich auch schwerlich mit einer lückenfüllenden Auslegung dahingehend argumentieren, dass die sog. formlose Einziehung in den bestehenden Normenkorpus aus spezifisch solchen Gründen mit Blick auf einen wie auch immer zu definierenden praktischen Bedarf zu implementieren wäre. Dies würde nämlich den Nachweis einer Gesetzeslücke voraussetzen99. Da der Akzeptanz der „formlosen Einziehung“ durch die Rechtsprechung indessen bislang kein Akt bewusster judikativer Reflektion zugrunde liegt, scheidet dieser Weg aus. Ansonsten ist zu berücksichtigen, dass das Regelungswerk um die strafrechtliche Vermögensabschöpfung von der Legislative als „durchdachtes Abschöpfungsmodell“100 und deshalb auch als grundsätzlich komplettes101 Regelungssystem angesehen wird. Sofern die Legislative durch eine entsprechende Äußerung in den Motiven zum neuen Einziehungsrecht die sog. formlose Einziehung zu tolerieren beabsichtigt, dürfte schlicht ein Irrtum zugrunde liegen; unabhängig davon, welche Qualität einer solchen (Neben-)Aussage überhaupt zukommen kann. Im Übrigen wäre die Wesentlichkeitstheorie102 zu berücksichtigen. Danach ist im Rahmen des Gesetzesvorbehalts nach Art. 20 Abs. 3 GG gefordert, dass der Gesetzgeber in grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen hat103. Ist jedoch die „förmliche Einziehung“ materiell- und verfahrensrechtlich umfassend kodifiziert, kann das formlose Pendant104 mit grundsätzlich identischer Ausrichtung nicht ungeregelt bleiben. Denn die sog. formlose Einziehung beinhaltet naturgemäß gleichgelagerte Grundrechtseingriffe105, welche darüber hinaus – und dies zeigt die bisherige Diskussion – weitere verfassungsrechtlich abgesicherte Verfahrensgrundsätze tangieren können. 97 BVerfG, NJW 1990, 1593 = BVerfGE 82, 6 ff. (12 f.); hierzu auch: Abweichende Meinung von Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio zu BVerfG 2009, 1469 ff. (1478). 98 Eschelbach, in: FS Fischer, S. 81 ff. (S. 89 f.): „Sagt sich der Richter vom Gesetz los und schöpft er eigenmächtig Regeln und Prinzipien, nach denen er prozediert und judiziert, verliert er seine demokratische Legitimation.“ 99 Zum Lückenbegriff und zur lückenfüllenden Auslegung: Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 199 ff., 211 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 191 ff., 202 ff. 100 BT-Drs. 18/9525, S. 1. 101 BT-Drs. 18/9525, S. 2, 3: „umfassender Ansatz“, und: „Der Entwurf schließt erhebliche Abschöpfungslücken.“ 102 BVerfGE 116, 24 ff. (58). Instruktiv: Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 71 ff. m.w.N. 103 BVerfGE 84, 212 ff. (226); 101, 1 ff. (34). 104 Zum Zweck der „außergerichtlichen Einziehung“, dieselben Rechtsfolgen wie bei einer Einziehungsentscheidung herbeizuführen: BGH, NJW 2019, 1692 (1693). 105 Zur Einziehung als gegen das Eigentum gerichtet Sanktion: Eser/Schuster, in: Schönke/ Schröder, StGB, Vor §§ 73 ff. Rn. 1. Zur Einziehung mit Blick auf Art. 14 GG: Zeidler, NJW 1954, 1148 ff.

„Formlose Einziehung“: Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen

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b) Wider die „Privatautonomie im Strafverfahren“ Das Strafverfahren ist bekanntermaßen mit zivilrechtlichen Komponenten bzw. Brücken ins Privatrecht versehen. Zu denken106 ist an das Adhäsionsverfahren107, aber auch an § 153a StPO mit den darin enthaltenen Konfliktlösungsmöglichkeiten108. Ähnliches gilt für §§ 56b Abs. 2 Nr. 1109, 46a Nr. 1, 2 StGB110 und die hierin vorgesehenen Varianten eines materiellen Ausgleichs von straftatbedingten materiellen Einbußen, welche jedoch erst im Verfahren als solchem in verschiedenen Stadien zum Tragen kommen können. Indessen ist es dem Strafverfahren grundsätzlich fremd, dass Verfahrensbeteiligte über ansonsten gesetzlich zunächst zwingend111 vorgesehene Mechanismen oder Strukturelemente frei disponieren112. Dies wäre jedoch der Fall, wenn bei der Koexistenz von „formloser“ und kodifizierter Einziehung eine Wahlmöglichkeit bestünde mit der Konsequenz, dass letztlich zwischen strafund zivilrechtlicher Ausgestaltung mit wiederum spezifischen Auswirkungen ausgewählt werden könnte. Hinzu kommt, dass die Einziehung nach §§ 73 ff. StGB strafrechtlich-hoheitlicher Natur ist, so dass es bereits systemwidrig anmutet, die lediglich entformalisierte Variante identischen Inhalts in ein anderes Rechtsgebiet zu verlagern. Vor diesem Hintergrund vermag es kaum zu überzeugen, dass die Frage nach der Zulässigkeit der sog. formlosen Einziehung unmittelbar mit der Frage nach deren Rechtsnatur verknüpft wird. Denn die Parallelexistenz der „außergerichtlichen Einziehung“ führt zunächst dazu, dass auf einer ersten Stufe durch Staatsanwaltschaft oder Gericht überhaupt zu entscheiden ist, ob lege artis nach §§ 73 ff. StGB vorgegangen oder die „formlose“ Variante umgesetzt werden soll. Im Sinne der Zweistufentheorie113, die im öffentlichen Recht im Zusammenhang mit einer Wahlfreiheit 106 Die anschließende Aufzählung ist keineswegs abschließend; vgl. etwa § 136 Abs. 1 S. 6. Spezifisch im neuen Einziehungsrecht: § 76 a Abs. 4 StGB i.V.m. §§ 435 ff. StPO; hierzu: Beukelmann, NJW-Spezial 2019, 376. 107 Zum Sinn und Zweck des Adhäsionsverfahrens als Plattform zur Geltendmachung zivilrechtlicher Ersatzansprüche im Strafverfahren: Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Vor § 403 Rn. 1. 108 Zu fokussieren ist vor allem § 153a Abs. 1 Nr. 1 StPO mit der darin enthaltenen Schadenswiedergutmachung. Erfasst ist ein Ausgleich des nach zivilrechtlichen Vorschriften zu bemessenden und zu ersetzenden Schadens; vgl.: SSW-StPO, Schnabl/Vordermayer, § 153a Rn. 13. 109 Zur Berücksichtigung der zivilrechtlichen Lage im Rahmen von Bewährungsauflagen: Fischer, StGB, § 56b Rn. 6. 110 Zur Schadenswiedergutmachung durch Schmerzensgeld: Fischer, StGB, § 46a Rn. 18 ff. m.w.N. 111 Die Entscheidungen nach §§ 73 ff. StGB sind zwingend vorgeschrieben; vgl.: Fischer, StGB, § 73 Rn. 3 m.w.N. 112 Zur Unvereinbarkeit von „privater“ Gestaltung und inquisitorischem Prozessmodell: Radtke/Hohmann/Ambos/Ziehn, § 257c StPO § 257c Rn. 3 (mit Blick auf die Verständigung im Strafprozess). 113 HK-VerwR/Unruh, § 40 VwGO Rn. 110 m.w.N.

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der Verwaltung hinsichtlich der Gestaltung von Rechtsbeziehungen zur Lösung der notwendigen Abgrenzung von öffentlichem und privatem Recht herangezogen wird, ist die erste Stufe stets öffentlich-rechtlich. Übertragen auf das Strafverfahren müsste daher die Grundentscheidung für die sog. formlose Einziehung – zugleich eine Ablehnung der Anwendung der §§ 73 ff. StGB – genuin strafprozessualer Rechtsnatur sein. Freilich wird bislang übersehen, dass die sog. formlose Einziehung aus mehreren Entscheidungskomponenten und nicht bloß aus einer Verzichtserklärung des Beschuldigten besteht. Gegen eine zivilrechtliche Ausdeutung der Erklärung des Beschuldigten im Rahmen der „formlosen Einziehung“, die in ihrer Konstruktion schon deutlich artifizielle Züge trägt114, spricht im Übrigen, dass Privatautonomie mit der Ausprägung der Vertragsfreiheit idealiter eine Art Kräftegleichgewicht voraussetzt. Indessen ist die Position des Beschuldigten im Strafverfahren strukturell wie grundsätzlich eine unterlegene, mitunter sogar eine vulnerable. Denn die drohenden strafrechtlichen wie außerstrafrechtlichen115 Konsequenzen aus einem vermuteten oder erwiesenen kriminellen Fehlverhalten in Verbindung mit den alleine durch die Existenz eines Strafverfahrens verbundenen Belastungen können enorm sein. Idealbedingungen für eine autonome Entscheidung gemeinsam mit der Strafjustiz sind daher tendenziell nicht gegeben. Eine hierdurch bedingte determinierende Beeinträchtigung in der Willensbildung wird noch dadurch verstärkt, dass bei der sog. formlosen Einziehung in der Regel keine Belehrung des Beschuldigten erfolgt; also eine gerichtliche Erläuterung, dass der erklärte Verzicht eine Doppelnatur hat und demnach einer Konfiskation von Vermögen materiell-rechtlich wie prozessual unwiderruflich zugestimmt wird. Anhaltspunkte dafür, dass der Beschuldigte in diesem Zusammenhang zu einem bloßen Objekt des Verfahrens abgewertet wird, sind demzufolge evident vorhanden. c) Zur Problematik eines Nebeneinanders von „förmlicher“ Einziehung und sog. formloser Einziehung Das alternativ-optionale Nebeneinander von sog. formloser Einziehung einerseits und elaboriertem Einziehungsrecht nach §§ 73 ff. StGB andererseits – inklusive der flankierenden verfahrensrechtlichen Regelungen – führt zu nicht unerheblichen Friktionen. Mit Blick auf die Fallkonstellationen nach der Vorschrift des § 75 Abs. 1 S. 2

114 Geht man – dem BGH folgend (vgl.: BGH, NJW 2019, 1692 ff.) – von einem dinglichen Rechtsgeschäft in Form einer Übereignung aus, ließe sich fragen, was wiederum die rechtliche Grundlage bzw. die Basis hierfür sein könnte. Dieser Aspekt ist bislang nicht aufgegriffen worden, sieht man von undeutlichen Hinweisen auf einen „Verzicht“ ab. Zu fragen wäre aber auch, ob situativ überhaupt das notwendige Erklärungsbewusstsein als Voraussetzung der entsprechenden Willenserklärung vorhanden ist. 115 Zu den außerstrafrechtlichen Folgen strafrechtlicher Verurteilungen bzw. von Strafverfahren: Heim, NJW-Spezial 2019, 120 f.

„Formlose Einziehung“: Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen

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StGB, die den „kleinen Auffangrechtserwerb“ regelt116, hat der BGH bereits eine Bruchstelle ausgemacht. Denn im Urteil vom 13. 12. 2018 wird unter anderem ausgeführt117: „Die mit dem Reformmodell der Opferentschädigung verbundene Besserstellung des Tatopfers tritt indes nur dann ein, wenn das Gericht die Einziehung anordnet, nicht dagegen bei einer ,formlosen‘ Vermögensabschöpfung (…).“

Dass der identifizierte Riss von keinesfalls zu unterschätzender Tragweite ist, ergibt sich aus den Reformanliegen, welche der Neuregelung der Einziehung im Jahre 2017 zugrunde liegen. Denn „Kernstück“118 war die Neujustierung des Opferschutzes. Bewerkstelligt wurde dies maßgeblich durch die Streichung der Norm des § 73 Abs. 1 S. 2 StGB (a.F.)119, die zuweilen als „Totengräber des Verfalls deklariert worden ist, sowie eine substanzielle (Neu-)Konzeption120. Hierbei wurden Opfer- bzw. Verletzteninteressen beim Zugriff auf deliktisch erlangtes Vermögen zunächst eliminiert, sodann aber im Verteilungs- bzw. Vollstreckungsverfahren nach §§ 459 g ff. StPO im Rahmen eines sog. Entschädigungsmodells121 zum zentralen Anliegen erhoben. Konkret bedeutet dies, dass die Mängel des bisherigen Modells der Rückgewinnungshilfe122 zugunsten eines vereinfachten und kostengünstigen Opferschutzmodells123 überwunden wurden. Das Funktionieren des Verteilungs- oder Vollstreckungsverfahrens ist jedoch grundsätzlich und ausnahmslos von einer „förmlichen“ Einziehungsentscheidung nach §§ 73 ff. StGB insbesondere mit Blick auf deren in § 75 StGB normierten Rechtsfolgen abhängig. Demzufolge kann der maßgeblich intendierte Opferschutz leiden, wenn gerade nicht in dieser Art und Weise verfahren wird. Projiziert auf die Fälle des § 75 Abs. 1 S. 1 StGB, vor allem aber auf die Fälle des § 75 Abs. 1 S. 2 StGB, desavouiert demzufolge die Anwendung der sog. formlosen Einziehung den „l’esprit des lois“. Dem lässt sich schwerlich entgegenhalten, dass die fehlende Einschränkung der in den Gesetzmaterialen grundsätzlich tolerierten „formlosen Einziehung“ in Fällen des § 75 Abs. 1 S. 2 StGB zu einer berechtigten Beschränkung des Opferschutzes führe, da die Vereinfachung und Effektivierung der Vermögensabschöpfung (ebenfalls) Sinn und Zweck des Gesetzes gewesen sei124. Denn alleini116

Hierzu: Beck/Knierim, Gesamtes Strafrecht aktuell, Kap. 16 Rn. 93 m.w.N. BGH, NJW 2019, 1961 (1963). 118 Vgl.: BT-Drs. 18/9525, S. 2, 49 („Kernstück des Reformvorhabens ist die grundlegende Neuregelung der Opferentschädigung“); hierzu auch: BGH, NJW 2019, 1961 (1962). 119 BT-Drs. 18/9525, S. 49. 120 Beck/Knierim, Gesamtes Strafrecht aktuell, Kap. 16 Rn. 3, 5. 121 Knierim, Gesamtes Strafrecht aktuell, Kap. 21 Rn. 4. Zum „Opferentschädigungsmodell“: BGH, NJW 2019, 1961 (1962). Zur Hinfälligkeit des Regelungsmodells der „Rückgewinnungshilfe“: BT-Drs. 9525, S. 2. 122 Vgl.: BT-Drs. 18, 9525, S. 46 m.w.N.; BGH, NJW 2019, 1961 (1963). 123 Vgl.: BT-Drs. 18, 9525, S. 54. 124 BGH, NJW 2019, 1961 (1963). 117

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ges Ziel des Gesetzgerbers war die Neuregelung des Rechts der Einziehung und eben nicht spezifisch die Reglementierung der sog. formlosen Einziehung. Vielmehr wurde letzterer en passant und ohne nähere bzw. weitere Reflektion lediglich das Überleben gesichert; und zwar – unausgesprochen – allenfalls in Bereichen, in denen keine grundsätzlichen Konflikte mit der eigens geschaffenen Gesetzes- und Rechtslage zu befürchten sein können. Mithin lässt sich auch der Opferschutz nicht mit der effektiven Vermögensabschöpfung gewissermaßen relativieren oder gar abwerten. Das Verhältnis zwischen beidem ist nämlich im Gesetz und der darin gewählten Konzeption nach dem Willen des Gesetzgebers und insofern austariert enthalten. Die Annahme, dass diese Gewichtung durch die sog. formlose Einziehung würde verschoben werden können, erscheint nahezu abstrus. Oder in Frageform: Kann davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber mit einigem Aufwand das Recht der Einziehung materiell- und verfahrensrechtlich ausführlich regelt, um sodann mit der zugegebenermaßen eröffneten Möglichkeit der Anwendung des „formlosen“ Pendants das entworfene System zu durchlöchern? Insgesamt zeigt dies, dass durch die gesetzliche Neuregelung des Rechts der Vermögensabschöpfung im Jahre 2017 für die sog. formlose Einziehung – unter Außerachtlassung der ansonsten bestehenden grundsätzlichen Bedenken – allenfalls ein reduzierter Anwendungsbereich verbleiben kann. Priorität hat demgegenüber eindeutig die gesetzliche Regelung. Eines „Ersatzgesetzgebers“ bedarf es darüber hinaus hingegen nicht. d) Die Belehrung als Ventil? Vergleichbar einem Zwischenstadium in der Evolution des „Deals“ sowie unter Berücksichtigung seiner aktuellen gesetzlichen Ausgestaltung125 wäre zu erwägen, inwiefern vor allem eine Stärkung der Rechte des Beschuldigten gewissermaßen zur Entschärfung beitragen könnte. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass nach überwiegender Meinung einer möglichen Verletzung von tragenden Verfahrensgrundsätzen gerade mit der Akzentuierung von konsensualen Elementen begegnet werden kann und soll. Die hiermit verbundene mehrdimensionale Disposition des Beschuldigten würde indes zumindest voraussetzen, dass dieser über Voraussetzungen und Rechtsfolgen seiner Erklärung orientiert ist126. Demgegenüber erfolgt in der Praxis keine entsprechende Belehrung127. Auch wurden insbesondere in der höchstrichterlichen Rechtsprechung hierzu bislang keine entsprechenden Vorgaben entwickelt. 125 Gemeint ist vor allem § 257c Abs. 4 StPO; vgl. hierzu: Schmitt, in. Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO,§ 257c Rn. 30. 126 Dies kann auch für die übrigen Verfahrensbeteiligten gelten. Eine aktuelle, aber keinesfalls repräsentative „Befragung“ von Gerichten und Staatsanwaltschaften im Rahmen der Praktizierung der sog. formlosen Einziehung dahingehend, ob deren Problematik und die aktuelle Rechtsprechung hierzu (sog. privatrechtliche Lösung) bekannt seien, erbrachte eher ernüchternde Befunde. In der Tendenz war keinem bewusst, dass ein (dingliches) Rechtsgeschäft mit dem Beschuldigten abgeschlossen wird. 127 Zu diesem Befund auch: Thode, NStZ 2000, 62 (65); Brauch, NStZ 2013, 503 (506).

„Formlose Einziehung“: Kritische Anmerkungen zu einem Phänomen

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Freilich war die Frage der Belehrung in der Diskussion um die Zulässigkeit der sog. formlosen Einziehung zumindest fragmentarisch angeschnitten worden128. Einer unter Berücksichtigung des Rechts auf ein faires Verfahren konstatierten Belehrungspflicht129 wurde entgegen gehalten, dass dies „unsinnig“ sei130. Denn bereits aus dem Wortsinn der Formulierungen betreffend die „außergerichtlichen Einziehung“ müsse dem Beschuldigten einsichtig und klar sein, dass er Vermögenswerte endgültig zugunsten des Staates aufgebe131. Verkannt wird hierbei jedoch, dass die im Übrigen nicht standardisierte Erklärung des Beschuldigten im Rahmen der sog. formlosen Einziehung eine Doppelnatur aufweist, da materiell- und verfahrensrechtliche Konsequenzen unmittelbar folgen. Hinzu kommt, dass – in einer ersten Stufe – seitens des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft die grundsätzliche Frage weichenstellend (mit-)entschieden wird, dass von einer Einziehung nach §§ 73 ff. StGB abgesehen und damit von dem eigens hierfür vorgesehenen Normenprogramm abgewichen werden soll. Ein zusätzliches Überraschungsmoment für den Beschuldigten resultiert in diesem Zusammenhang schließlich daraus, dass – unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Rechtslage – etwaige Erklärungsmängel mit Blick auf die privatrechtliche Rechtsnatur des „Verzichts“ nunmehr auf diesem Rechtsgebiet bis hin zu einer zivilgerichtlichen Klärung und damit abseits des Strafprozesses reklamiert werden müssen. Mithin geht es bei der sog. formlosen Einziehung nicht schlicht um einen einvernehmlichen Vermögenstransfer zwischen Beschuldigtem und Justiz statt ansonsten drohender hoheitlicher Konfiskation. Jenseits grundsätzlicher Erwägungen zu ihrer Zulässigkeit wäre eine Belehrung aus rechtsstaatlicher Sicht unabdingbare Voraussetzung ihrer Instrumentalisierung. Dies gilt in besonderer Weise für den unverteidigten Beschuldigten, aber auch den verteidigten. 6. Zu den Perspektiven Die gesetzlich nicht geregelte, aber richterrechtlich – eher beiläufig – entwickelte und sodann in gesetzesübersteigendem132 Maße oder contra legem133 durch die Strafgerichte und Staatsanwaltschaften praktizierte sog. formlose Einziehung ist erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Hierzu zählen neben dem fairtrial-Grundsatz, dem Prinzip des gesetzlichen Richters sowie der Unschuldsvermutung vor allem der Grundsatz des Vorrangs und des Vorbehalts des Gesetzes. Flan128

Brauch, NStZ 2013, 503 (506 f.). Thode, NStZ 2000, 62 (65). 130 Brauch, NStZ 2013, 503 (507). 131 Brauch, NStZ 2013, 503 (507). Argumentiert wird flankierend auch damit, dass bei der gesetzlich vorgesehenen Einziehung ebenfalls keine Belehrung stattfinde, sondern lediglich über das Rechtsmittel der gerichtlichen Entscheidung belehrt werden würde. 132 Zum gesetzesübersteigenden Richterrecht: Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 193 f., 249 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 245 ff. 133 Zu einer Definition des Judizierens contra legem: Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 132 ff. 129

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kierend kommen kontraindiktorisch gesetzessystematische Erwägungen hinzu. Die aktuell favorisierte „privatrechtliche Lösung“ im Bereich der Diskussion der Rechtsnatur der „außergerichtlichen Einziehung“ vermag aus grundsätzlichen Erwägungen heraus schon im Ansatz nicht zu überzeugen. Insgesamt ist der sog. formlosen Einziehung zu attestieren, dass sie im elaborierten (geschriebenen) Recht der Vermögensabschöpfung einen Fremdkörper darstellt; ein Befund, der noch dadurch in besonderer Weise akzentuiert wird, dass der BGH die „außergerichtliche Einziehung“ nunmehr mit bürgerlich-rechtlichen Attributen versehen hat. Der „formlosen Einziehung“ als einem eher hässlichen Pendant zur gesetzlichen Regelung der Konfiskation sollte deshalb ein Abschied beschieden sein134. Alternativ käme in Frage, dass sich der Gesetzgeber dem Phänomen unmittelbar annimmt. Bis dahin bleibt nur eine Art Notfallprogramm, nämlich die Belehrung vor allem des Beschuldigten bei der Anwendung der sog. formlosen Einziehung.

134 Probleme mit Blick auf die Änderung bestehenden Richterrechts wie bei der nachträglichen Protokollberichtigung dürften nicht zu befürchten sein; vgl. hierzu: BVerfG, NJW 2009, 1469 ff.; Rüthers, NJW 2009, 1461 ff.

VII. Völkerrecht

Die Anfänge des Völkerstrafrechts im Spiegel von Reinhard Merkels Völkerstrafrechtsverständnis Von Claus Kreß

I. Einführung Reinhard Merkel steht der Idee des Völkerstrafrechts wohlwollend gegenüber, hat dem historischen Entwicklungsprozess indessen – auch auf diesem Feld – wiederholt ebenso scharfsinnig-kritisch wie eloquent den rechtsethischen Spiegel vorgehalten. In drei Studien der 1990er Jahre hat Merkel seine Lehre von den Grundbausteinen eines legitimen Völkerstrafrechts entfaltet.1 Merkels Lehre ist einerseits ambitioniert, weil sie die Strafgewalt unmittelbar in der internationalen Gemeinschaft ansiedelt und erstere damit genuin überstaatlich und global konzipiert. Andererseits ist Merkels Lehre bescheiden, weil sie den Wert der einzelstaatlichen Autonomie achtet und den Umfang des Völkerstrafrechts dementsprechend eng begrenzt. Dieses Verständnis sieht sich – vielleicht unweigerlich – politischen Gegenwinden aus zwei Richtungen ausgesetzt – einerseits hin zu einer Verwässerung des genuin weltgemeinschaftlichen Anspruchs des Völkerstrafrechts, andererseits hin zu einer Überdehnung von dessen inhaltlichem Umfang. Unter dem Eindruck machtvoller Renationalisierungsbestrebungen ist der Gegenwind aus der ersten Richtung zuletzt fast zum Sturm angeschwollen. Um die von Merkel entfalteten Prinzipien demgegenüber zu befestigen, mag es hilfreich sein, mit den folgenden historischen Notizen daran zu erinnern, dass seine Grundüberzeugungen nicht in einem fernen Ideenhimmel angesiedelt sind, sondern schon ein Jahrhundert vor der Niederschrift dieser Zeilen bei den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg in der hohen internationalen Politik gut vernehmlich zum Ausdruck kamen. 1

Reinhard Merkel, Universale Jurisdiktion bei völkerrechtlichen Verbrechen, in: Klaus Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse?, Band III, Baden-Baden 1998, S. 237 – 271 (zit.: „Universale Jurisdiktion“); ders., „Lauter leidige Tröster“? Kants Friedensschrift und die Idee eines Völkerstrafgerichtshofs, in: Reinhard Merkel/Roland Wittmann (Hrsg.), „Zum ewigen Frieden“ – Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanual Kant, Frankfurt a.M. 1996, S. 309 – 350 (zit.: „Leidige Tröster“); ders., Das Recht des Nürnberger Prozesses. Gültiges, Fragwürdiges, Überholtes, in: Evangelische Akademie Tutzing/Nürnberger Menschenrechtszentrum (Hrsg.), Von Nürnberg nach Den Haag. Menschenrechtsverbrechen vor Gericht, Hamburg 1996, S. 68 – 92 (zit.: „Nürnberger Prozess“).

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II. Reinhard Merkels Völkerstrafrechtsverständnis: Eine Skizze Das Völkerstrafrecht ist für Merkel die Summe der Normen des Völkerrechts, die die „echten völkerrechtlichen Verbrechen“2 als solche ausweisen, die also diejenigen Taten bestimmen, deren Strafbarkeit – anders als im transnationalen Strafrecht – „unmittelbar aus dem Völkerrecht folgt“.3 Die kraft des Völkerrechts mit Strafe sanktionsbewehrten völkerrechtlichen Verhaltensnormen gehören für Merkel zu den „fundamentalen Ordnungsnormen der gesamten Staatengemeinschaft“. Es gehe um „einen sehr kleinen, dafür aber unverzichtbaren Kernbestand des humanitären Erbes der Menschheit“.4 Diesen normativen Kernbestand gelte es nach einem Normbruch durch die Verhängung von Völkerstrafe „im Namen der Menschheit symbolisch wiederherzustellen“, die Geltung der betroffenen Norm „gegen ihren politisch motivierten Bruch zu verteidigen und sie damit in ihrem ständigen Konflikt mit der staatlichen Macht als die stärkere zu behaupten und durchzusetzen“.5 Die Zuständigkeit für die Ahndung einer Völkerstraftat liegt für Merkel in letzter Instanz nicht bei den – auch nicht bei den jeweils äußerlich direkt betroffenen – Staaten. Stattdessen handele es sich um eine „Zuständigkeit der Völkergemeinschaft“,6 die auch unter der Bezeichnung „ius puniendi der internationalen Gemeinschaft“ thematisiert wird. Diese Zuständigkeit sei vorzugsweise von einem ständigen Internationalen Strafgerichtshof als einem „Organ der Völkergemeinschaft“7 auszuüben, den es auf dem „klassischen und mühsamen Weg über eine völkerrechtliche Konvention zu errichten gelte“.8 Die „treuhänderische“9 Ausübung des ius puniendi der internationalen Gemeinschaft durch einzelne Staaten im Wege der Weltrechtspflege schließt Merkel daneben zwar nicht aus.10 Er hat 1998 sogar dafür plädiert, der deutsche Strafgesetzgeber möge die Kriegsverbrechen gesondert als solche ausweisen.11 Doch zugleich insistiert Merkel darauf, dass die staatliche Weltrechtspflege, deren Risiken er schonungslos offen legt, gegenüber der direkten Durchsetzung des ius puniendi der internationalen Gemeinschaft durch einen ständigen internationalen Strafgerichtshof der schlechtere Weg sei.12

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Reinhard Merkel, Universale Jurisdiktion, Fn. 1, S. 254. Reinhard Merkel, Universale Jurisdiktion, Fn. 1, S. 268. 4 Reinhard Merkel, Leidige Tröster, Fn. 1, S. 344 f. 5 Reinhard Merkel, Nürnberger Prozess, Fn. 1, S. 89. 6 Reinhard Merkel, Leidige Tröster, Fn. 1, S. 342. 7 Reinhard Merkel, Leidige Tröster, Fn. 1, S. 347. 8 Reinhard Merkel, Leidige Tröster, Fn. 1, S. 347 f. 9 Reinhard Merkel, Universale Jurisdiktion, Fn. 1, S. 252. 10 Reinhard Merkel, Universale Jurisdiktion, Fn. 1, S. 237 – 271. 11 Reinhard Merkel, Universale Jurisdiktion, Fn. 1, S. 268. 12 Reinhard Merkel, Leidige Tröster, Fn. 1, S. 346. 3

Die Anfänge des Völkerstrafrechts

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III. Gegenwartsfragen der Völkerstrafrechtspflege im Spiegel von Reinhard Merkels Völkerstrafrechtsverständnis In der diesen – hier natürlich nur skizzenhaft referierten – Beiträgen nachfolgenden Entwicklung sind zentrale Anliegen Merkels verwirklicht worden. Allem anderen voran kam es noch 1998 zur diplomatischen Einigung über den Gründungsvertrag für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), das IStGH-Statut.13 Der IStGH ist nicht nur der erste ständige internationale Strafgerichtshof der Rechtsgeschichte. Mit ihm haben die Staaten auch ihre Entschiedenheit deutlich gemacht, eine ganze Reihe von rechtsstaatlichen Angriffspunkten der vorherigen Erscheinungsformen internationaler Strafgerichtsbarkeit, die nicht zuletzt von Merkel benannt worden waren,14 auszuräumen.15 Die sachliche Zuständigkeit des IStGH erstreckt sich auf die auch von Merkel als solche anerkannten Völkerstraftaten des Völkermords, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der Kriegsverbrechen und der Aggression.16 Zwischenzeitlich hatte Merkel die nicht unbegründete Sorge, im positiven Recht seien lediglich der Völkermord, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Kriegsverbrechen zu Völkerstraftaten erstarkt. Nicht ohne Grund befürchtete er, die gegen den Angriffskrieg gerichtete Völkerstrafdrohung könnte nach Nürnberg und Tokyo einer „destruktiven oder gleichgültigen Staatenpraxis zum Opfer gefallen“ sein.17 Noch das ursprüngliche IStGH-Statut gab dieser Befürchtung insofern Nahrung, als die Ausübung der Zuständigkeit über das Verbrechen der Aggression hierin bis zu der Einigung über die Tatbestandsfassung und die Bedingungen für die Ausübung der Zuständigkeit aufgeschoben worden war.18 Inzwischen ist die Einigung gelungen und Merkel dürfte es begrüßen, dass die Zuständigkeit des IStGH am 17. Juli 2018 auch über das Verbrechen der Aggression aktiviert worden ist.19 In Deutschland ist parallel zum IStGH-Statut das Völkerstrafgesetzbuch in Kraft getreten, mit dem auch Merkels Plädoyer für eine deutsche Kodifikation der Kriegsverbrechenstatbestände verwirklicht worden ist.20 Das Völkerstrafgesetzbuch bekennt sich auch zum Gedanken der Weltrechtspflege,21 wobei es im Verhältnis insbesondere zum IStGH im Geist Merkels Zurückhaltung obwalten lässt.22 13 Otto Triffterer/Kai Ambos (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court. A Commentary, 3. Aufl., München 2016. 14 Reinhard Merkel, Nürnberger Prozess, Fn. 1, S. 77 – 86. 15 Claus Kreß, The International Criminal Court as a Turning Point in the History of International Criminal Justice, in: Antonio Cassese (Hrsg.), The Oxford Companion to International Criminal Justice, Oxford 2009, S. 143 – 159. 16 S. Art. 5 IStGH-Statut. 17 Reinhard Merkel, Universale Jurisdiktion, Fn. 1, S. 269. 18 S. Art. 5 Abs. 2 IStGH-Statut a.F. 19 Claus Kreß, On the Activation of ICC’s Jurisdiction over the Crime of Aggression, Journal of International Criminal Justice 16 (2018), 1 – 18. 20 S. §§ 8 bis 12 VStGB. 21 S. § 1 Satz 1 VStGB. Nach § 1 Satz 2 VStGB gilt dies nicht, soweit es um den zwischenzeitlich eingefügten Tatbestand des Verbrechens der Aggression nach § 13 VStGB geht.

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Nichtsdestotrotz besteht im Hinblick jedenfalls auf zentrale Bausteine des Merkel’schen Völkerstrafrechtsgebäudes unverändert Streit oder zumindest Unklarheit. Umstritten bleibt bis heute zunächst, ob Völkerstraftaten, so wie es Merkels Völkerstrafrechtsverständnis entspricht, einer Verwurzelung im universellen Völkergewohnheitsrecht bedürfen.23 Demgegenüber besteht bis in die Rechtsprechung des IStGH hinein die Versuchung fort, das Völkerstrafrecht auf rein völkervertraglicher Basis expandieren zu lassen und damit hinzunehmen, dass sich das Völkerstrafrecht bereichsweise vom universellen Völkergewohnheitsrecht entkoppelt. In der Konsequenz einer solchen Expansion des sachlichen Umfangs des Völkerstrafrechts läge es, dass die ungeteilte Anbindung des Völkerstrafrechts an ein ius puniendi der internationalen Gemeinschaft „als Ganzer“ brüchig würde. Diese Konsequenz wird teilweise durchaus gesehen und ausdrücklich in Kauf genommen. So hat sich eine Verfahrenskammer des IStGH zu einer dezidiert völkervertragsgestützten Deutung des IStGH-Statuts bekannt, um so eine großzügig erweiternde Auslegung eines Kriegsverbrechenstatbestands abzusichern. Hiernach sei das IStGH-Statut „first and foremost a multilateral treaty which acts as an international criminal code for the parties to it.“24 Eine solche „völkervertragliche Reduktion“ des IStGH-Statuts und die hiermit verbundene Tendenz zur stillschweigenden Einebnung der von Merkel akzentuierten25 Unterscheidung von Völkerstrafrecht und transnationalem Strafrecht hat sich in der Rechtsprechung des IStGH bislang nicht durchgesetzt. Ihr entgegen steht insbesondere die folgende Feststellung einer Vorverfahrenskammer des IStGH: „(I)t is the view of the Chamber that more than 120 States, representing the vast majority of the members of the international community, had the power, in conformity with international law, to bring into being an entity called the ,International Criminal Court‘, possessing objective international personality, and not merely personality recognized by them alone, together with the capacity to act against impunity for the most serious crimes of concern to the international community as a whole and which is complementary to national criminal jurisdictions. Thus, the existence of the ICC is an objective fact. In other words, it is a legal-judicial-institutional entity which has engaged and cooperated not only with States Parties, but with a large number of States not Party to the Statute as well, whether signatories or not.“26 22 S. § 153 f StPO. Näher zur Weltrechtspflege und zu deren Subsidiarität und dabei mindestens im Kern wohl im Geist Merkels Claus Kreß, Universal Jurisdiction over International Crimes and the Institut de Droit International, Journal of International Criminal Justice 4 (2006), S. 561 – 585. 23 S. hierzu Claus Kreß, International Criminal Law, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law. Volume V, Oxford 2012, S. 721. 24 IStGH, Situation in the Democratic Republic of the Congo, Prosecutor v. Ntganda, Trial Chamber, Second decision on the Defense’s challenge to the jurisdiction of the Court in respect of Counts 6 and 9, Entscheidung vom 4. Januar 2017, ICC-01/04-02/06-1707, Nr. 35. 25 Reinhard Merkel, Universale Jurisdiktion, Fn. 1, S. 254. 26 IStGH, Pre-Trial Chamber, Decision on the „Prosecution’s Request for a Ruling on Jurisdiction on Article 19(3) of Statute“, Entscheidung vom 6. September 2018, ICCRoC46(3)-01/18 – 37, Nr. 48.

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Die Rechtsmittelkammer des IStGH hatte kürzlich die Gelegenheit, in ihrem Grundsatzurteil zur Frage der persönlichen Immunität amtierender Oberhäupter von Nichtvertragsstaaten im Verfahren vor dem IStGH zu diesen miteinander eng verbundenen Grundsatzfragen klärend Stellung zu beziehen. Denn das stärkste Argument für ein entsprechendes völkergewohnheitsrechtliches Immunitätsrecht setzte bei dem weithin anerkannten Befund an, dass ein solches Recht im Hinblick auf ein nationales Strafverfahren auch bei einer Völkerstraftat besteht. Dann, so hieß es, könne in einem Verfahren vor dem IStGH nichts anderes gelten, weil dessen Zuständigkeit im Kern auf der Delegation nationaler Zuständigkeiten beruhe und die delegierenden Staaten nicht mehr Rechte übertragen könnten, als sie besäßen. Demgegenüber hat die Rechtsmittelkammer zwar entschieden, dass (auch) Nichtvertragsstaaten vor dem IStGH kein völkergewohnheitsrechtliches Immunitätsrecht ratione personae geltend machen könnten.27 Doch hat es die Kammer versäumt, zur Begründung festzustellen, dass diese Völkerstraftaten notwendigerweise im universellen Völkergewohnheitsrecht wurzeln. Ebenso wenig findet sich in den Urteilsgründen die klärende Aussage, mit dem IStGH sei ein Organ der internationalen Gemeinschaft zur direkten Durchsetzung von dessen ius puniendi errichtet worden.28 Somit wird die Kontroverse über die vorstehend formulierten Grundfragen bis auf weiteres fortgeführt werden.29 Wie bereits eingangs bemerkt, dürften der Idee eines ius puniendi der internationalen Gemeinschaft und dem Gedanken von dessen direkter Durchsetzung durch den IStGH bis auf weiteres stürmischer Gegenwind beschieden bleiben. Dem kann hier nicht umfassend begegnet werden. Immerhin kann aber im Folgenden darauf hingewiesen werden, dass die entsprechenden Grundgedanken bereits in den Anfängen der Staatenpraxis zum Völkerstrafrecht gut sichtbar, wenn auch noch nicht in der inzwischen anerkannten Terminologie zum Ausdruck kamen.

IV. Das völkerstrafrechtliche Vermächtnis der Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg Merkel schreibt zu Recht: „Die unmittelbare Vorgeschichte des seit Nürnberg aktuellen und problematischen Völkerstrafrechts beginnt mit dem Ende des 1. Weltkriegs.“30 Zugleich stellt er fest, dass der Durchbruch in diesem historischen Moment 27 IStGH, Appeals Chamber, Judgment in the Jordan Referral re Al-Bashir Appeal, Urteil vom 6. 5. 2019, ICC-02/05-01/09-393-Corr, Nr. 114. 28 Für eine erste Analyse des Urteils unter Einschluss der im Text bezeichneten Unterlassungen, s. Claus Kreß, Preliminary Obyervations on the ICC Appeals Chamber’s Judgment of 6 May 2019 in the Jordan Referral re Al-Bashir Appeal, Brussels 2019. 29 Für eine neuere scharfsinnige, in zentralen Ergebnissen zwar nicht beifallswürdige, aber analytisch ihrer Präzision wegen weiterführende Studie s. Alexandre Skander Galand, UN Security Council Referrals to the International Criminal Court. Legal Nature, Effects and Limits, Leiden/Boston 2019. 30 Reinhard Merkel, Nürnberger Prozess, Fn. 1, S. 71; ders., Leidige Tröster, Fn. 1, S. 328.

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„auf der weltpolitischen Bühne coram publico“ misslang, insbesondere des Widerstands der USA31 wegen.32 Auch das ist im Kern richtig, und insofern verdient Merkels Einschätzung Zustimmung, die Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg seien (lediglich) als Prolog33 zum Völkerstrafrecht einzustufen. Denn der Versailler Vertrag erwähnt die Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht und spricht den Angriffskrieg in seinem Art. 227 nicht als Völkerstraftat, sondern als einen „Zwitter aus Recht und Moral“ an, „dessen Mangel an Begründung erkennbar mit einem Überschuss an Pathos behoben werden sollte“.34 Auch im Hinblick auf die Kriegsverbrechen schließlich vollzieht der Versailler Vertrag den völkerstrafrechtlich entscheidenden Schritt hin zur Internationalisierung der an die Staatsorgane als Einzelpersonen gerichteten Verhaltens- und Sanktionsnorm nicht, sondern verbleibt auf dem klassischen Boden35 der Zuständigkeit der unmittelbar von der jeweiligen Tat betroffenen Staaten zur extraterritorialen Erstreckung ihrer jeweiligen nationalen Strafgewalt. Dementsprechend folgt Art. 229 Abs. 2 des Versailler Vertrags selbst für den Fall einer unmittelbaren Betroffenheit einer Mehrheit von Staaten dem Modell der Delegation der jeweiligen nationalen Strafgewalten auf entsprechend multilateral besetzte Militärtribunale, anstatt der Errichtung eines weltgemeinschaftlichen Straftribunals den Weg zu bahnen.36 Am Ende zeugen die Art. 227 bis 229 des Versailler Vertrags damit deutlich von der Handschrift des US-amerikanischen Außenministers Robert Lansing, der in Paris gemeinsam insbesondere mit James Brown Scott, eine – von Präsident Woodrow Wilson in nicht wenigen Konsequenzen nicht geteilte – klassisch staatszentrierte Völkerrechtslinie vertrat,37 und der der Idee einer 31 Die ablehnende Haltung der USA kommt vielleicht am prägnantesten in der folgenden Passage des „Memorandum of Reservations“ zum Ausdruck, das die beiden US-amerikanischen Mitglieder der „Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalities“ dem „Report [dieser Kommission; C.K.] Presented to the Preliminary Peace Conference“ am 4. April 1919 beifügten: „The American representatives know of no international statute or convention making a violation of the laws and customs of war […] an international crime, affixing a punishment to it, and declaring the court which has jurisdiction over the offence. They felt, however, that the difficulty, however great, was not insurmountable, inasmuch the various states have declared certain acts violating the laws and customs of war to be crimes […]“; The American Journal of International Law 14 (1920), S. 146. 32 Reinhard Merkel, Nürnberger Prozess, Fn. 1, S. 73; ders., Leidige Tröster, Fn. 1, S. 331. 33 Diesen Begriff hat James F. Willis, Prologue to Nuremberg. The Politics and Diplomacy of Punishing War Criminals of the First World War, Westport 1982, geprägt. 34 Reinhard Merkel, Nürnberger Prozess, Fn. 1, S. 72; ders., Leidige Tröster, Fn. 1, S. 330. 35 Hierzu näher Claus Kreß, Crimes de guerre, in: Olivier Beauvallet (Hrsg.), Dictionnaire encyclopédique de la justice pénale internationale, Paris 2017, S. 288 – 296. 36 Die – auf einem Umweg – in die Leipziger Prozesse mündende Geschichte der Umsetzung von Art. 228 und 229 des Versailler Vertrags ist hier nicht nochmals zu erzählen. Für die ausführlichste Darstellung s. Gerd Hankel, Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003. 37 Lansing und Scott waren die Verfasser des in Fn. 31 erwähnten „Memorandum of Reservations“. Zu ihrem „konservativen Legalismus“ näher Marcus Payk, Frieden durch Recht? Der Aufstieg des Modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg,

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die Staaten überwölbenden völkerrechtlich relevanten internationalen Gemeinschaft geradezu feindselig gegenüberstand.38 Eine Ergänzung bedarf diese Rückschau indessen bereits auf der Ebene der am Ende ausgehandelten Friedensverträge: Der (Pariser Vorort-)Vertrag von Sèvres, der dem Friedensschluss mit dem Osmanischen Reich diente, ging im Hinblick auf die während des Weltkriegs an den Armeniern begangenen Verbrechen einen entscheidenden Schritt weiter in Richtung Völkerstrafrecht als der Versailler Vertrag. Frankreich, Großbritannien und Russland hatten die in Rede stehenden Verbrechen bereits in einer gemeinsamen Note vom 24. Mai 1915 als „nouveaux crimes contre l’humanité et la civilisation“ bezeichnet.39 Der in dieser Erklärung zum Ausdruck gebrachte Wille, die für diese Verbrechen Verantwortlichen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, schlug sich in Art. 230 des Vertrags von Sèvres von 1920 wie folgt nieder: „The Turkish Government undertakes to hand over to the Allied Powers the persons whose surrender may be required by the latter as being responsible for the massacres committed during the continuance of the state of war on territory which formed part of the Turkish Empire on August 1, 1914. The Allied Powers reserve to themselves the right to designate the tribunal which shall try the persons so accused, and the Turkish Government undertakes to recognise such tribunal. In the event of the League of Nations having created in sufficient time a tribunal competent to deal with the said massacres, the Allied powers reserve for themselves the right to bring the accused persons mentioned above before such tribunal, and the Turkish Government undertakes equally to recognise such tribunal.“

Zwar wird der Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit hier nicht verwandt. Doch nimmt diese Bestimmung die Möglichkeit in den Blick, die so genannten Massaker zum Gegenstand eines internationalen Strafverfahrens zu machen. Hiermit erreicht der Vertrag von Sèvres anders als der Versailler Vertrag die völkerstrafrechtliche Schwelle.40 Das ist zusätzlich deshalb bemerkenswert, weil es sich bei den Verbrechen an den Armeniern um Taten von Staatsangehörigen des Osmanischen Reichs gegen Staatsangehörige des Osmanischen Reichs auf dem Gebiet des Osmanischen Reichs handelte; nach einem strikt zwischenstaatlichen Völkerrechtsverständnis also um Taten in der dem völkerrechtlichen Zugriff entzogenen domaine reservé. Das war den Völkerrechtsberatern Großbritanniens, deren politische Führung zur treibenden Kraft bei dem Bemühen um die Strafverfolgung avancierte, Berlin/Boston 2018, S. 268 ff.; zu Lansings beträchtlichem (mittelbaren) Einfluss auf die Formulierung der Art. 227 bis 229, s. ebendort S. 498 ff. 38 Robert Lansing, Some Legal Questions of the Peace Conference, The American Journal of International Law (1919), 649: „Nationalism must be maintained at all hazards. It must not be supplanted by Mundanism.“ 39 Zit. nach The United Nations War Crimes Commission (Hrsg.), History of the United Nations War Crimes Commission andf the Development of the Laws of War, London 1948, S. 35. 40 Payk, Fn. 37, S. 514 f.

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natürlich bewusst. Doch entschied man sich in der britischen Politik nun, an die bereits im 19. Jahrhundert zum Ausdruck gebrachte Bereitschaft zur (möglichst kollektiven) diplomatischen und notfalls auch militärischen Intervention im „Namen der Menschheit“ anzuknüpfen und dieser ein weiteres Instrument hinzuzufügen.41 Hier tritt also im historischen Geschehen – wohl erstmals – der systematische Zusammenhang zwischen militärischer und juristischer Intervention hervor,42 den Merkel zum Gegenstand einer Reihe bedeutsamer Abhandlungen gemacht hat.43 In Nürnberg sollte es denn auch folgerichtig der englische Chefankläger sein, der diesen Zusammenhang explizieren würde.44 Bei alldem dürfen indessen die Gesichtspunkte nicht unberücksichtigt bleiben, die den Stellenwert von Art. 230 Vertrag von Sèvres im Rahmen der weiteren völkerrechtlichen Entwicklung erheblich begrenzen. Zum einen hatten die USA ihre Rechtsüberzeugung zwischenzeitlich nicht etwa geändert. Vielmehr beteiligten sie sich an den Verhandlungen zu Art. 230 Vertrag von Sèvres nicht mehr.45 Zum anderen blieb diese Bestimmung nicht nur ohne praktische Folgen, sondern sie wurde mit dem Vertrag von Lausanne, der die signifikant veränderte machtpolitische Konstellation nach den militärischen Erfolgen der Türkei unter 41 Lesenswert Michelle Tusan, „Crimes against Humanity“: Human Rights, the British Empire, and the Origins of the Response to the Armenian Genocide’, American Historical Review 119 (2014), S. 47 – 77. 42 Hochinteressant ist hier etwa, dass der britische Ministerpräsident David Lloyd George die Delegation des Osmanischen Reichs am 19. Juli 1920 mit einer Formulierung konfrontierte, die den Begriff der Schutzverantwortung („responsibility to protect“), der nach dem Weltgipfeldokument von 2005 mit der staatlichen Souveränität verbunden sein soll (hierzu Reinhard Merkel, Demokratischer Interventionismus?, in: Jochen Bung/Armin Engländer (Hrsg.), Souveränität, Transstaatlichkeit und Weltverfassung, ARSP-Beiheft 153, 2017, S. 15 ff.), wie folgt vorwegnimmt: „There is a great deal of proof that it [die Regierung des Osmanischen Reichs; C.K.] took upon itself to organize and lead attack of the most savage kind on a population that it ought to have protected.“; zit. nach Tusan, Fn. 41, S. 63. 43 Reinhard Merkel, Fn. 42, S. 21; ders., Die Intervention in Libyen. Völkerrechtliche und rechtsphilosophische Anmerkungen zu einem weltpolitischen Trauerspiel, in: Claus Kreß (Hrsg.), 10 Jahre Arbeitskreis Völkerstrafrecht. Geburtstagsgaben aus Wissenschaft und Praxis, Köln 2015, S. 173; noch nicht so deutlich ders., Das Elend der Beschützten. Rechtsethische Grundlagen und Grenzen der sog. humanitären Intervention und die Verwerflichkeit der NATO-Aktion im Kosovo-Krieg, in: Reinhard Merkel (Hrsg.), Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, Frankfurt a.M. 2000, S. 76 ff. 44 Sir Hartley Shawcross, Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg, Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bände 19 – 20, S. 526 f.; hierzu näher Claus Kreß, Der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone im hundertjährigen Prozess der Reflexion über den Völkerstraftatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Juristen Zeitung 71 (2016), S. 951. Zum ideengeschichtlichen Zusammenhang zwischen der Debatte im 19. und frühen 20. Jahrhundert über die militärische humanitäre Intervention und die spätestens mit den Verbrechen an den Armeniern einsetzende Debatte über die juristische Intervention bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit, s. die instruktiven Darlegungen von Sévane Garibian, Le crime contre l’humanité au regard des principes fondateurs de l’Etat moderne. Naissance et consécration d’un concept, Genf/Zürich/Basel 2009, S. 35 ff. 45 Payk, Fn. 37, S. 515.

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Mustafa Kemal Atatürk46 widerspiegelt, bereits 1923 auch rechtlich obsolet. Letzterer Vertrag enthielt nicht nur keine Entsprechung zu Art. 230 Vertrag von Sèvres. Vielmehr war dem Vertrag von Lausanne sogar eine (unveröffentlichte) Amnestievereinbarung beigefügt.47 Das völkerstrafrechtliche Vermächtnis der Friedensverhandlungen lässt sich indessen durch den Blick auf den Text der ausgehandelten Friedensveträge auch dann nicht ausschöpfen, wenn man den Vertrag von Sèvres mit seinem bemerkenswerten Art. 230 wie soeben geschehen in die Betrachtung mit einbezieht. Denn normativ bedeutsam ist auch die Staatenpraxis insbesondere Frankreichs und Großbritanniens im Vorfeld des Vertragsschlusses. Zu dieser bemerkt Merkel, sie sei als der „Vorschlag einer völkerrechtlichen Revolution“48 einzustufen. In der Tat hatten diese beiden Staaten, wie die neuere historische Forschung betont, nicht nur ihre Kriegsrhetorik stark (auch) auf die Verteidigung der internationalen Rechtsordnung ausgerichtet, sondern sie waren entschlossen, nach dem Krieg zur Wiederherstellung des Rechts und zu seiner Neubefestigung zu neuen völkerrechtlichen Ufern vorzudringen.49 Sir Ernest Pollock, Solicitor General und damit einer beiden Law Officers of the Crown, brachte den rechtspolitischen Impetus für Großbritannien wie folgt zum Ausdruck: „(W)e regard the occasion of the Peace Conference – with its association of, I think I am right in saying, something like fifteen or sixteen countries – as an opportunity when those countries, in accord with the traditions and principles of law, may bring up to date the duties which now arise from the settled opinion of civilised States.“50

Wie sich diese rechtspolitische Überzeugung bei der Frage eines ius puniendi der internationalen Gemeinschaft äußerte, sei nun in Ergänzung zu Merkels hierzu bereits getroffenen Feststellungen ein wenig näher dargelegt. Dabei empfiehlt es sich, den Blick zunächst auf die französische Völkerrechtspolitik zu lenken. Bemerkenswert ist bereits eine Passage aus der wissenschaftlichen Abhandlung „De l’application du droit pénal aux faits de guerre“ des ebenso bedeutenden wie regierungsnahen französischen Völkerrechtsgelehrten Louis Renault51 aus dem Jahr 1915.52 Renault entwirft den Rechtsrahmen für eine strafrechtliche Ahndung deutscher Kriegs46 Margaret MacMillan, Peacemakers. Six Months that Changed the World, London 2001, S. 377. 47 Payk, Fn. 37, S. 517. 48 Reinhard Merkel, Nürnberger Prozess, Fn. 1, S. 74. 49 Insbesondere Payks in Fn. 37 zitiertes Buch beleuchtet diesen Aspekt eingehend. 50 Zitiert nach William A. Schabas, The Trial of the Kaiser, 2018, S. 115. Bei Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law 1870 – 1960, Cambridge 2002, S. 293, heißt es zu der Grundüberzeugung in Frankreich: „Clearly, a much more fundamental spiritual and political reconstruction than a mere technical adjustment of the Hague Treaties [die Haager Konventionen von 1899 und 1907; C.K.] was needed.“ 51 Zu ihm näher Martti Koskenniemi, Fn. 50, S. 274 ff. 52 Louis Renault, „De l’application du droit pénal aux faits de guerre“, Journal du droit international 42 (1915), 313 – 344.

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verbrechen im Ausgangspunkt ganz im Geist des klassischen Völkerrechts. Doch bei seinem Plädoyer gegen eine Amnestieregelung, so wie sie einer seit 1648 verbreiteten europäischen Staatenpraxis entsprochen hätte,53 bringt er zum Ausdruck, worin die spezifische Qualität der deutschen Verbrechen im Ersten Weltkrieg zu sehen sei: „Il est difficile de soutenir qu’il suffit que la paix intervienne pour que le voile soit jeté sur toutes les horreurs dont nous avons été victimes, parce que, à mon avis, ce n’est pas simplement en ce qui nous concerne, c’est en ce qui concerne le monde entier, que la proclamation de l’impunité serait immorale et scandaleuse (Hervorhebung von C.K.).“54

Mit dieser Ausrichtung der Verbrechensfolgen auf „die ganze Welt“ wird, wenn auch gewiss avant la lettre, eine genuin völkerstrafrechtliche Tonlage angeschlagen. Während es bei Renault bei diesem behutsamen Anklang bleibt, errichten die beiden Pariser Professoren Ferdinand Larnaude und Albert de Lapradelle in ihrem 1919 veröffentlichten „Examen de la responsabilité pénale de l’empereur Guillaume II d’Allemagne“55 ein veritables völkerstrafrechtliches Gedankengerüst für die Strafverfolgung von Wilhem II. Dieses verdient an dieser Stelle eine etwas nähere Betrachtung. Denn das „Examen“ war nicht lediglich ein wissenschaftliches Traktat. Vielmehr war es von dem französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau in Auftrag gegeben und auf der Friedenskonferenz von Frankreich zirkuliert worden. Larnaude und de Lapradelle lassen ihre Leser über die Grundrichtung ihrer Darlegungen nicht im Unklaren: „Un droit international nouveau est né“56 heißt es ausdrücklich, womit der Akzent gegenüber der britischen Position leicht dahin verschoben wird, die Friedenskonferenz solle das in den sozialen Tatsachen und im Weltgewissen bereits grundgelegte neue Völkerrecht lediglich noch in die gebotene Form bringen.57

53 Zu der Amnestieregelung in den beiden westfälischen Friedensverträgen, s. J. F. Scheidt, Traité sistématique touchant La Connoissance De l’Etat Du Saint Empire Romain De La Nation Allemande, ou le Droit Public De Cet Empire, tiré Des Loix Fondamentales De La Jurisprudence Politique (et) des Auteurs Les Plus Célébrés Et Les Plus Désintéressés. Tome quatrième, 1754, S. 156; https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/ bsb10561571_00001.html. 54 Louis Renault, Fn. 52, S. 339. 55 Ferdinand Larnaude/Albert de Lapradelle, „Examen de la responsabilité pénale de l’empereur Guillaume II d’Allemagne“, Journal de Droit International 45 (1919), S. 131 – 159. 56 Ferdinand Larnaude/Albert de Lapradelle, Fn. 55, S. 144. 57 Zum Prozess der Rechtsentstehung heißt es bei Ferdinand Larnaude/Albert de Lapradelle, Fn. 55, S. 153 wörtlich: „Le droit international nouveau qui naît des faits et sort tout armé de la conscience universelle des peuples, réveillée si énergiquement par les messages du président Wilson (…)“. Zu der Betonung sozialer Tatsachen für den Prozess der Rechtsentstehung im zeitgenössischen französischen Rechtsdenken s. Martti Koskenniemi, Fn. 50, S. 269, 288 ff., 299, 327. S. ebendort S. 302 ff. auch zur internationalen Ausstrahlung dieses französischen Rechtsdenkens. Für den seinerzeitigen griechischen Außenminister und Völkerrechtler, Nicolas Politis, etwa, der Griechenland in der „Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalities“ vertrat, die von der Friedenskonferenz zur Vorbereitung der Strafrechtsbestimmungen eingesetzt worden war, entsprang das Recht sozialen Tatsachen ähnlich wie bei Larnaude und de Lapradelle dergestalt, dass die

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Das von Larnaude und de Lapradelle „erkannte“ neue Völkerrecht enthielt eine genuin völkerstrafrechtliche Komponente: „Alors que l’infraction à la paix publique d’un Etat entraîne les peines les plus graves, on ne comprendrait pas qu’une atteinte à la paix du monde demeurât sans sanction. (…) La solution que nous adoptons a d’ailleurs le mérite d’être en harmonie avec ce principe nouveau des peuples libres et honnêtes qui veut que tout droit s’accompagne d’un devoir. Le droit moderne ne connaît plus d’autorités irresponsables, même au sommet des hiérarchies. Il fait descendre l’Etat de son piédestal en le soumettant à la règle du juge. Il ne peut dès lors être question de soustraire au juge celui qui est au sommet de la hiérarchie, soit dans l’application du droit interne, soit dans l’application du droit international. Chef d’Etat, l’empereur allemand avait droit à toutes les prérogatives du droit internationale : immunité juridictionnelle, honneurs, préséances. Au regard du droit international, il doit avoir la charge de responsabilités internationales. Ubi emolumentum, ibi onus esse debet. Qu’on réfléchisse enfin, et ce sera notre conclusion, à l’irremédiable atteinte que porterai au droit international nouveau l’impunité de l’empereur allemand. (…) Le principal de la démonstration est acquis : Guillaume II peut être accusé d’avoir commis des crimes, et les crimes qu’il a commis – guerre préméditée dans l’injustice, violation de la neutralité de la Belgique et du Luxembourg, violation des règles établies par la coutume internationale et les conventions de la Haye – sont des crimes de droit international (Hervorhebungen von C.K.).“58

Es gehe also um solche Taten, die sich gegen den Weltfrieden richteten und daher unmittelbar nach Völkerrecht strafbar sein müssten, und dies gerade auch dann, wenn sie von denjenigen in den höchsten Staatsämtern begangen werden. Interessanterweise betonen die beiden Autoren die Vorzüge einer internationalen Strafverfolgung solcher Taten sogar kompromissloser als Merkel und das heute geltende Recht. Denn im „Examen“ scheint eine nationale Strafverfolgung von Völkerstraftaten im Wege der Weltrechtspflege nicht einmal hilfsweise akzeptiert zu werden: „Pour prononcer contre les crimes dont il s’agit la sanction solenelle et purificatrice réclamée par la conscience publique, il faut une juridiction plus élévée, les débats retentissants, une scène plus grande. (…) Il faut trouver un Tribunal qui, par sa composition, par la place qu’il occupera, par l’autorité dont il sera investi, puisse rendre le verdicte le plus solennel que le monde ait encore entendu. (…) Or, cette solution, c’est le droit international seul qui peut nous la fournir. Les faits reprochés à Guillaume II sont des crimes internationaux: c’est par un Tribunal International qu’il doit être jugé.“59

Diese Rigorosität erstaunt, zumal gerade die französische Völkerrechtswissenschaft in der Gestalt von Georges Scelles Figur des „dedoublement functionelle“ der Staatsorgane eine völkerrechtsdogmatische Grundlage für die treuhänderische Durchsetzung des weltgemeinschaftlichen ius puniendi durch einen einzelnen

nachfolgende Gesetzgebung es im Kern festzustellen und nicht erst zu schaffen hatte (ebendort S. 306). 58 Ferdinand Larnaude/Albert de Lapradelle, Fn. 55, S. 151 f. 59 Ferdinand Larnaude/Albert de Lapradelle, Fn. 55, S. 143 f.; s. in demselben Sinn S. 152.

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Staat entwickeln sollte.60 Im hiesigen Zusammenhang ist dies indessen nur eine Beobachtung am Rande. Zentral ist demgegenüber, dass Larnaude und de Lapradelle die Zuständigkeit des von ihnen geforderten internationalen Strafgerichtshofs – konsequentermaßen – nicht mit der Delegation nationaler Strafverfolgungszuständigkeiten erklärten, sondern dass sie diese Zuständigkeit originär im Völkerrecht angesiedelt wissen wollten. Hören wir sie ein letztes Mal: „Et quant aux crimes que, séparément, elles ne pourraient atteindre, ne peut-on dire qu’en réunissant, elles prennent sur lui compétence parce qu’elles constituent le seul organisme de fait capable d’élaborer la loi du monde? Elles agissent comme un gouvernement de fait international (Hervorhebungen von C.K.).“61

Gewiss erscheint hier noch nicht der Begriff der „international community as a whole“, verstanden auch als ein völkerrechtlicher Referenzpunkt für ein ius puniendi im Hinblick auf Völkerstraftaten. Selbst das Nürnberger Urteil wird später nicht so eindeutig in diesem Sinn formulieren, wie es erst der Internationale Gerichtshof (IGH) im Streitfall Barcelona Traction tun sollte,62 an dessen Feststellungen wiederum die Völkerrechtskommission (ILC) der Vereinten Nationen sollte anknüpfen können.63 Doch es wäre ahistorisch, offiziellen Rechtsüberzeugungen, die sich an (welt-) politischen Weggabelungen artikulieren, deshalb die normative Relevanz zu bestreiten, weil sie eine letzte rechtsbegriffliche Schärfe (aus späterer Warte) noch vermissen lassen. Die britischen Juristen waren, so wie es von vier Richtern der Rechtsmittelkammer des IStGH zuletzt verdienstvollerweise nachgezeichnet worden ist,64 in etwa zeitgleich zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt wie ihre französischen Kollegen. Auch hier wird festgestellt, dass es an einer umfassenden nationalen Strafverfolgungszuständigkeit, die hätte delegiert werden können, fehle.65 Nichtsdestotrotz wird vorgeschlagen, ein Strafverfahren vor einem internationalen Straftribunal durchzuführen. Denn, so führen die englischen Juristen aus: „It seems to us that the trial of the Kaiser ought to be by an International Tribunal, free from national bias, the decision of which would possess unquestionable authority, which would 60 Erhellend hierzu Antonio Cassese, Remarks on Scelle’s Theory of „Role Splitting“ (dédoublement fonctionnel) in International Law, European Journal of International Law 1 (1990), S. 210 – 231. 61 Ferdinand Larnaude/Albert de Lapradelle, Fn. 55, S. 154. 62 IGH, Barcelona Traction, Light and Power Company, Limited (Belgium v. Spain), Urteil v. 5. Februar 1970, ICJ Reports 1970, S. 32, Nr. 33. 63 Etwa ILC, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, Bericht vom 3. April 2006, UN. Doc. A/CN.4/ L.682, Nr. 380. 64 IStGH, Joint Concurring Opinion of Judges Eboe-Osuji, Morrison, Hofmánski and Bossa on Appeals Chamber, Judgment in the Jordan Referral re Al-Bashir Appeal, Urteil vom 6. 5. 2019, ICC-02/05-01/09-397-Anx1-Corr 17-05-2019 1/190 NM PT OA2, S. 31 – 35 (Nr. 77 – 86). 65 IStGH, Joint Concurring Opinion, Fn. 64, Nr. 82.

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speak in the name of the conscience of the world, which would help to re-establish and strengthen International Law, and which in the future would be a deterrent and warning to rulers and highly placed officials who meditated or instigated offences against International Law (Hervorhebungen von C.K.).“66

Auf der Grundlage dieser Rechtsüberzeugung nahmen Frankreich und Großbritannien in der von der Friedenskonferenz67 eingesetzten68 „Commission on the Responsibility of the Authors of the War and on Enforcement of Penalities“ (Kommission) Stellung. Da sich die Mehrheit der dort vertretenen Staaten69 dieser Rechtsüberzeugung anschließen sollte, kam es zum bereits angesprochenen „Vorschlag einer völkerrechtlichen Revolution“70 immerhin im Hinblick auf Kriegsverbrechen und – so die embryonale Form der späteren Verbrechen gegen die Menschlichkeit: – „crimes against the laws of humanity“: Die entsprechenden deutschen Straftaten sollten vor einem internationalen Straftribunal nach Völkerrecht verfolgt werden.71 Aufschlussreich ist schließlich, dass und wie diese Streitfrage am Ende auf der höchsten Verhandlungsebene – im „Council of Four“72 – behandelt werden sollte. Dank der Aufzeichnungen des Übersetzers Paul Mantoux ist es möglich, das von Georges Clemenceau, David Lloyd George, Vittorio Orlando und Woodrow Wilson hierzu geführte Gespräch nachzuvollziehen und dank der schönen Aufbereitung dieser Aufzeichnungen durch William A. Schabas ist dies inzwischen sogar auf besonders angenehme Weise möglich geworden.73 Bei dem – lohnenden – Studium des Gesprächs stößt man auf die Frage eines zögerlichen Wilson, ob die Sieger sich zu Strafrichtern über die Besiegten erheben dürften. Von Lloyd George erhielt er zur Antwort, dass es verkürzt sei, England oder die USA als die Opfer der Straftaten anzusehen: „We both made war for justice“.74 Als Wilson speziell im Hinblick auf den Angriffskrieg nachsetzte und fragte, ob in der Zukunft ein Staat, der Adressat eines völkerrechtswidrigen Angriffs geworden sei, einen nationalen Strafprozess gegen die für den Angriff Verantwortlichen führen dürfe, erwiderte Lloyd George ganz auf der Linie des „Examen“:

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IStGH, Joint Concurring Opinion, Fn. 64, Nr. 85. Strenggenommen handelte es sich zunächst um vorläufige Beratungen, was in dem englischen Begriff „Preliminary Peace Conference“ zum Ausdruck kommt; s. Payk, Fn. 37, S. 220. 68 Zur Organisation der (vorläufigen) Friedenskonferenz, s. Payk, Fn. 37, S. 220. 69 In der Kommission waren Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan und die USA jeweils mit zwei Mitgliedern und Belgien, Griechenland, Polen, Rumänien und Serbien jeweils mit einem Mitglied vertreten. 70 Reinhard Merkel, Fn. 48. 71 Für die entscheidende Passage des Berichts der Kommission, siehe The American Journal of International Law 14 (1920), S. 122 (sub 3.). 72 Hierzu näher Payk, Fn. 37, S. 246. 73 Schabas, Fn. 50, S. 174 ff. 74 Schabas, Fn. 50, S. 177. 67

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Claus Kreß

„Not at all. Then the League of Nations would intervene in accordance with fundamental rules that we will have laid down. In the present case, it is not Belgium and France that will have to judge the offenders. If we want to have the League of Nations to have a chance to succeed, it must offer more then mere lip service. The violation of treaties is precisely the sort of crime in which the League of Nations has a direct interest.“75

Auch der britische Ministerpräsident bekennt sich also in einem entscheidenden Moment der Verhandlungen zu der Idee eines ius puniendi der internationalen Gemeinschaft und deren direkter Durchsetzung durch ein von dieser Gemeinschaft hierzu berufenes Organ. Damit rundet sich das Bild von einer anfänglichen Staatenpraxis zum Völkerstrafrecht, die fürwahr der Erinnerung lohnt.

V. Schluss Merkel hat es eine „sinistre Ironie“ genannt, dass die offizielle Völkerrechtspolitik der USA bei den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg Argumente formulierte, „die 26 Jahre später von den Verteidigern der Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg vorgebracht und dort vor allem auf Betreiben der Amerikaner ausnahmslos abgewiesen worden sind“.76 Hier ist wohl ein milderes Urteil möglich, da die USamerikanische Völkerrechtspolitik in keinem der beiden Fälle auf krude Machtpolitik reduziert werden kann. Vielmehr ist die durchaus komplexe völkerrechtspolitische Abwägung des jeweiligen amerikanischen Präsidenten in beiden Fällen mit der Folge unterschiedlich ausgefallen, dass sich erst in Nürnberg die Überzeugung Bahn gebrochen hat, dass die Gründe dafür überwögen, einen – rechtsstaatlich anfechtbaren – schöpferischen völkerstrafrechtlichen Präzedenzfall zu setzen. Weniger milde muss indessen das Urteil über die völkerrechtspolitischen Positionen ausfallen, die die meisten derjenigen Staaten, die dem Verbrechen der Aggression in Nürnberg und Tokyo zu seinem Auftritt auf der Weltrechtsbühne verhalfen, zu der Forderung der großen Staatenmehrheit bezogen haben, das entsprechende Nürnberger und Tokyoter Vermächtnis im IStGH-Statut zu bestätigen. Denn diese Positionen siedelten zwischen Zurückhaltung und Ablehnung. Speziell im Hinblick auf die Völkerstrafrechtspolitik Frankreichs und Großbritanniens darf nach der vorstehenden Reminiszenz vielleicht tatsächlich von einer veritablen Ironie der Völkerstrafrechtsgeschichte gesprochen werden: Diese beiden Staaten waren es, die nach dem Ersten Weltkrieg erstmals und mit größter Leidenschaft dafür gestritten haben, die Aggression zur Völkerstraftat zu erheben. Dieselben Staaten hätten in einer langen Dezembernacht des Jahres 2017 mit einer bemerkenswert intransigenten Haltung um ein Haar – und dann vielleicht für sehr lange Zeit – verhindert, dass ihre Rechtsidee von Versailles ein Jahrhundert später Rechtswirklichkeit werden kann.77 Die Rechtswissenschaft ist nicht zur rechtspolitischen Entscheidung berufen. Sie darf es sich 75

Schabas, Fn. 50, S. 178. Reinhard Merkel, Nürnberger Prozess, Fn. 1, S. 75. 77 Claus Kreß, Fn. 19.

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Die Anfänge des Völkerstrafrechts

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aber zu ihrem Anliegen machen, die Rechtspolitik der Staaten an Rechtsprinzipien zu erinnern, die im historischen Prozess zu einer praktischen Geltung gelangt sind, die bei nachfolgenden rechtspolitischen Weichenstellungen auf dem Spiel steht. Merkels Arbeiten (auch) zum Völkerstrafrecht sind diesem Anliegen verpflichtet. Möge Reinhard Merkel den Eindruck gewinnen, dass bei der Niederschrift dieser kleinen völkerstrafrechtshistorischen Reminiszenz, die ihm in langjähriger freundschaftlicher Verbundenheit dargebracht wird, derselbe Antrieb wirksam geworden ist.

Von den trüben Quellen und seichten Mündungen des Völkerstrafrechts Von Bernd Schünemann

I. Vorbemerkung Reinhard Merkel hat nicht nur, aber ganz besonders durch seine richtungsweisenden Analysen zum Kosovo-Krieg1 und zu den westlichen Interventionen und Bombardements in Libyen2 und Syrien3 weit mehr als nur seine wissenschaftliche Brillanz und Unbestechlichkeit bewiesen4 ; er hat die Ehre der Jurisprudenz in einer Epoche gerettet, in der die Bereitschaft der Bundesregierung und der von ihr faktisch beherrschten Parlamentsmehrheit zur aktiven Beteiligung an kriegerischen Konflikten von der NATO-Perspektive dominiert wird und sich das BVerfG aus einer inhaltlichen Entscheidung anhand des Verbots des Angriffskrieges des Art. 26 GG bisher herausgehalten hat5. Mit meinen nachfolgenden kritischen Überlegungen zu den dubiosen Anfängen einer anderen „heiligen Kuh“ des heutigen rechtswissenschaftlichen mainstreams möchte ich seiner unerschrockenen Haltung meine Reverenz erweisen.

II. Die großen Hoffnungen und die fragwürdige Wirklichkeit des Völkerstrafrechts 1. Man darf wohl ohne Übertreibung sagen, dass das sog. Völkerstrafrecht die erfolgreichste akademische Disziplin im Bereich der Jurisprudenz der letzten Jahrzehnte ist. Es gibt heute kaum eine juristische Fakultät in der Bundesrepublik 1

Merkel (Hrsg.), Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht, 2000. Merkel, „Und nächste Woche Bomben auf Damaskus? Die Intervention in Libyen schafft falsche Erwartungen, desavouiert die UN und beschädigt das Völkerrecht“, Die Zeit, Nr. 14/ 2011 vom 31. März 2011. 3 Merkel, „Syrien: Der Westen ist schuldig.“, FAZ v. 2. August 2013. 4 Ein weiteres Beispiel bietet seine Analyse des Beschneidungsproblems, s. Merkel, „Die Haut eines anderen“, SZ v. 30. 8. 2012. 5 Zur Tolerierung des neuen strategischen Konzepts der NATO s. BVerfGE 90, 286; zur Vermeidung einer Stellungnahme im Kosovo-Krieg aus prozessualen Gründen s. BVerfGE 100, 266; BVerfG (2. Senat 1. Kammer) EuGRZ 2013, 563; unveröff. Entscheidung Az. 2 BvQ 17/99. 2

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Deutschland mehr, an der nicht ein dieses Rechtsgebiet vertretender Lehrstuhl offiziell ausgewiesen ist, und zwar als Spezialgebiet nicht des Völkerrechts, sondern des Strafrechts6. Es verschlägt deshalb auch wenig, dass die Bezeichnung in mehrfacher Hinsicht unglücklich erscheint: erstens, weil es ja gar nicht um die Bestrafung von Völkern, sondern von Individuen geht; und zweitens, weil die traditionelle deutsche Übersetzung des „ius gentium“ mit „Völkerrecht“ im Vergleich zu dem weniger prätentiösen englischen Ausdruck „international law“ in einer Zeit, in der die (in der Präambel zum GG zweimal verwendete) Redeweise vom „Volk“ im politisch korrekten Sprachgebrauch tunlichst vermieden und namentlich in den Medien als ein rechtspopulistischer Unbegriff behandelt wird, heikel geworden ist. 2. Gravierender als diese linguistischen Feinheiten sind die Effektivitätsmängel des Völkerstrafrechts, derentwegen sich die Frage stellt, ob seine Geltungslücken und Selektivität noch im Rahmen der Unvollkommenheiten jeder Rechtsordnung verbleiben oder jenes Minimum an Geltung und Gleichbehandlung unterschreiten, ohne das eine faktische Ordnung nicht als gerechtes Recht angesehen werden kann. a) Die hochgestimmten Erwartungen, mit denen gerade in Deutschland die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes begleitet wurde, waren im Hinblick darauf, dass auch die USA als seit Jahrzehnten in globaler Hinsicht alleinige, dafür aber umso aktivere kriegführende Macht am Rom-Statut aktiv mitgearbeitet hatten, durchaus verständlich. Aber mittlerweile sind sie dreifach zerstoben: erstens durch die Verweigerung einer Ratifizierung durch die USA, zweitens durch das amerikanische Gesetz zum Schutz des eigenen Militärpersonals, das, zumal in Verbindung mit den teilweise erfolgreichen Versuchen, andere Staaten auf diese Seite zu ziehen, geradezu auf eine aktive Untergrabung der Effektivität des Rom-Statuts gerichtet ist7. Und drittens haben sich letztlich sogar die Organe des ICC dieser Politik unterworfen, als die Vorverfahrenskammer II am 12. 04. 2019 die Aufnahme von Ermittlungen wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen in Afghanistan ablehnte.8 b) Angesichts der Zahl von bisher nur drei rechtskräftigen Aburteilungen durch den ICC, allesamt Afrikanern,9 erscheint die für Rechtserscheinungen zu fordernde Minimal- oder Residualeffektivität problematisch und die in Afrika verbreitete Meinung, der ICC sei im Grunde genommen eine neokoloniale Einrichtung10, zwar unzutreffend, aber verständlich.

6 Wobei freilich als Bezeichnung, Frankfurt/Oder ausgenommen, nicht mehr „Völkerstrafrecht“, sondern „Internationales Strafrecht“ dient. 7 Durch den American Service-Members’ Protection Act (ASPA) und zahlreiche bilaterale Immunitätsabkommen (BIAs). 8 icc-cpi.int/Pages/item.aspx?name=pr1448, abgerufen am 24. 10. 2019. 9 Ambos, Internationales Strafrecht, 5. Aufl. 2018, S. 131 ff. 10 Zahlr. Nachw. b. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 8. Aufl. 2018, § 14 Rn. 39.

Von trüben Quellen und seichten Mündungen des Völkerstrafrechts

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3. Und das setzt sich auf der nationalen Ebene fort, wo der deutsche Gesetzgeber sich einen höchst problematischen Schachzug einfallen ließ, um das in Art. 26 GG enthaltene Verbot der Vorbereitung eines Angriffskrieges und die dazugehörige Bestrafungspflicht politisch geschmeidiger zu machen. Durch das Gesetz zur Änderung des Völkerstrafgesetzbuches vom 22. 04. 201611 ist § 80 StGB, der in (teilweiser) Ausführung von Art. 26 GG die Vorbereitung eines (d. h. jedes) Angriffskrieges unter Strafe stellte, durch § 13 VStGB ersetzt worden, der außer Angriffskriegen auch Angriffshandlungen erfasst, „die ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstellen“. Die Übernahme dieses sog. Kampala-Kompromisses, durch den der Tatbestand der Aggression in das Statut des ICC übernommen wurde, also der sog. „Schwellenklausel“12, in das deutsche Recht war keinesfalls zwingend13 und führt praktisch zum völligen Leerlaufen dieser Vorschrift. Das zeigt beispielsweise die Stellungnahme von Ambos zu der „US-geführten Invasion des Irak in 2003, weil es sich dabei zwar um eine rechtswidrige Aggressionshandlung handelte, (wohl) aber nicht um ein Aggressionsverbrechen, weil die von einer beachtlichen wissenschaftlichen Mindermeinung vertretene Rechtfertigung der Invasion … das Merkmal der ,Offensichtlichkeit‘ nahm“14. Denn weil der als Anlass behauptete Besitz von Massenvernichtungswaffen durch den Diktator Saddam Hussein nichts anderes als amerikanische Fake News war, knapp unterhalb der Höhe des angeblichen Überfalls polnischer Truppen auf den Sender Gleiwitz15, kann die von Ambos sog. „beachtliche wissenschaftliche Mindermeinung“ offensichtlich beliebig manipuliert werden und führt damit die ganze Vertatbestandlichung ad absurdum16. Erst recht wird die neuerdings im Völkerrecht Konjunktur genießende Doktrin von der „humanitären Intervention“ (scil. auch ohne Beschluss des Sicherheitsrates gem. Art. 53 der UN-Charta)17 die Kategorie des eine offenkundige Verletzung der UN-Charta darstellenden Angriffskrieges für die Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit auf innerafrikanische Scharmützel beschränken und den Generalbundesanwalt von der früher bestehenden Notwendigkeit, zur Vermeidung der Strafbarkeit einer bundesdeutschen Beteiligung an amerikanischen Angriffskriegen verzwickte Argumentationen zu ersinnen18, ein für alle Mal befreien. 11

BGBl. I S. 3150. Dazu näher Ambos, ZIS 2010, 649, 654 f. m.w.N. 13 Jeßberger, ZIS 2015, 514, 519. 14 ZIS 2010, 656; zutreffend kritisch Paulus, EJIL 20 (2009), 1117, 1123. 15 Nachw. b. Schünemann, GA 2019, 620, 627, 634. 16 So auch Deisenroth, vorgänge #217, 95 ff. 17 Dazu Randelzhofer/Dürr, in: Simma/Khan/Nolte/Paulus (Hrsg.), The Charter oft he United Nations, Oxford 2012, Vol. I, Art. 2 (4) n. 52 ss.; Ipsen, Völkerrecht, 6. Aufl. 2014, § 52; Walzer, Die Debatte um humanitäre Interventionen, polylog 2007, 11 ff.; Fremuth, NZWehrr 2012, 89 ff.; Klose, Militärgeschichtl. Ztschr. 72 (2013), 1 ff. 18 Vgl. GBA JZ 2003, 908; Ablehnung einer Verfahrenseinleitung wegen des KosovoKriegs durch Bescheid v. 26. 1. 2006, 3 ARP 8/06 – 3; v. 14. 6. 2016, 3 ARP 101/15 – 4 u. ö. 12

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4. Das gerade in Deutschland so lebhaft und vollmundig begrüßte Völkerstrafrecht bildet deshalb (um naheliegender Weise ein afrikanisches Bild zu gebrauchen) längst nicht mehr einen kräftigen Strom der Rechtsdurchsetzung nach Art des Okawango-Mittellaufes, sondern gleicht eher dessen letzten Rinnsalen in seinem Delta in der Trockenzeit, die sich im Mühlsand der Politik verlaufen. Liegt darin das tragische Scheitern einer anfangs großen Idee, oder spiegelt dieser gegenwärtige Befund womöglich ein schon am Anfang stehendes Gebrechen wider?

III. Der Anfang des Völkerstrafrechts 1. Den „Anfang“ oder „Prolog“ des Völkerstrafrechts bilden unstreitig der „Versailler Friedensvertrag“ und die „Leipziger Kriegsverbrecherprozesse“19. Die einzelnen Stufen bildeten die vorbereitende Friedenskonferenz, die auf ihrer Plenarsitzung vom 25. 01. 1919 zum Zweck der Untersuchung der Verantwortlichkeiten für den Krieg eine „Kommission über die Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges und die Durchsetzung von Strafen“ auf Grundlage der Untersuchung von de Lapradelle und Lamaude über die strafrechtliche Verantwortlichkeit Kaiser Wilhelms II.20 einsetzte; deren Bericht vom 29. 03. 191921, in dem die Auslösung eines Angriffskrieges freilich als solche nicht als ein direkter Verstoß gegen das positive Recht angesehen wurde, den man erfolgreich vor ein Strafgericht bringen könne; der Widerspruch vor allem des englischen Premierministers Lloyd George, der seinen Wahlkampf 1919 unter die Devise gestellt hatte: „Hang the Kaiser“; und schließlich Art. 227 des Versailler Vertrages, in dem „Die Alliierten und assoziierten Mächte Wilhelm II. … unter öffentliche Anklage (stellen) wegen des höchsten Verstoßes gegen internationale Moral und die Heiligkeit der Verträge. Ein spezieller Gerichtshof soll errichtet werden, … (es) wird seine Pflicht sein, die Strafe festzusetzen, die er als festzusetzen ansieht.“22

Nach dem eindeutigen Wortlaut von Art. 227 sollte es sich bei dem Prozess gegen Wilhelm II. um einen echten Strafprozess handeln, auch wenn der Gegenstand der ihm anzulastenden Verstöße in dem „internationalen Sittengesetz und der Heiligkeit 19 Satzger (Fn. 10), S. 313 f., widmet ihnen ein Siebtel seines Kapitels über die „historische Entwicklung des Völkerstrafrechts“; das Große Lehrbuch von Ambos (Fn. 9) beginnt das Kapitel „Von Versailles nach Den Haag“ (S. 110) mit dem Verweis „zu historischen Vorläufern, insbesondere dem Versailler Friedensvertrag“ auf die 1. Auflage (S. 114), während Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, 4. Aufl. 2016, diesen völkerstrafrechtlichen „Prolog“ als ein „neuartiges und überaus ehrgeiziges Bestrafungsmodell“ auf S. 8 – 12 darstellen und dahin resümieren, dass ihm die praktische Umsetzung versagt blieb, aber trotzdem die erstmalige Anerkennung in einem völkerrechtlichen Vertrag nicht unterschätzt werden dürfe. 20 Journal de Droit International, 1919, 131 ff. 21 14 American Journal of International Law, 1920, 95 ff. 22 Wörtliche Übersetzung aus dem Englischen, in der deutschen Fassung heißt es „die er für angemessen erachtet“.

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von Verträgen“, also nicht eigentlich in Strafrechtsnormen bestand. Es ging also nicht nur um die moralische Verurteilung, sondern um die Bestrafung der Auslösung eines Angriffskrieges, dessen (alleinige Kriegs-)Schuld in Art. 231 des Versailler Vertrages im Sinne des den Alliierten „durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges“ beantwortet wurde, wodurch intrasystematisch die Grundlage für die Anklage gegen Wilhelm II. geschaffen war. 2. In der nachfolgenden Betrachtung muss ich mich allein schon aus Raumgründen auf diese Hauptfrage der im Versailler Vertrag konstitutiv für strafbar erklärten23 Verletzung des „ius in bellum“ beschränken, die in Art. 228 ff. des Vertrages intendierte Verfolgung der Kriegsverbrechen durch Verletzung des „ius in bello“ und deren völlig unzulängliche Realisierung in den Leipziger Prozessen24 dagegen unerörtert lassen. Weil die historische Schuld im Völkerstrafrecht zum Rechtsbegriff avanciert ist und die in Art. 231 des Versailler Vertrages dem Deutschen Reich abgenötigte Anerkennung der Kriegsschuld ähnlich wie ein „plea agreement“ oder eine „Urteilsabsprache“ die Wahrheitsfrage außerhalb des konkreten Verfahrens nicht beantwortet, macht es sogar einen dreifachen Sinn, die in der Geschichtswissenschaft seit über 100 Jahren fast ohne Unterlass diskutierte Kriegsschuldfrage aus einer juristischen Perspektive zu erneuern: erstens und vor allem, weil die Geschichtsschreibung weitgehend die normative Schuldprämisse der Rechtswidrigkeit ignoriert hat, indem nicht nur das Attentat von Sarajewo als condicio sine qua non des Ersten Weltkrieges, sondern etwa auch schon frühere Völkerrechtsverletzungen, die die allgemeine Kriegsgefahr wesentlich verschärften,25 als factum brutum genommen und dadurch von jeder Verantwortlichkeit befreit werden; zweitens, weil die strafrechtliche Vorsatzdogmatik für die (gewöhnlich allein für relevant erachtete) Vorsatzschuld präzisere Differenzierungen erwarten lässt; und drittens, weil die strafrechtliche Zurechnungslehre in das extrem verwickelte Kausalgeflecht bei der Auslösung des 1. Weltkrieges eine gewisse Ordnung bringen könnte. Natürlich wäre es vermessen, in einem umfangmäßig bescheidenen Beitrag auf einem wissenschaftlich derart abgegrasten Feld zu völlig neuen Erkenntnissen gelangen zu wollen, weshalb ich mich nur anheischig machen kann, unter Verwertung des bekannten historischen Materials einige bisher vernachlässigte Denkanstöße zu geben.

23 Denn bis dahin war, wovon auch die Untersuchung von de Lapradelle und Lamaude ausging, völkerrechtlich das freie Kriegsführungsrecht souveräner Staaten nur von der (vom Deutschen Reich beachteten) Einhaltung gewisser formeller Voraussetzungen abhängig (Jensen, Krieg um des Friedens willen, 2015, S. 237 ff. m.z.w.N.). 24 Dazu Willis, Prologue to Nuremberg, 1982; Hankel, Die Leipziger Prozesse, 2003; Wiggenhorn, Verliererjustiz, 2005. 25 Z. B. die französische Verletzung der Akte von Algeciras als Grund der 2. Marokkokrise, die den Anfangspunkt einer danach nicht mehr abreißenden Kette gefährlicher, oft am Rande des Krieges verlaufender Krisen gebildet hat (s. Kießling – Fn. 34, S. 40 ff.).

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IV. Die Kriegsschuldfrage 1. Es ist eine aus der Geschichte der Strafrechtsdogmatik altbekannte Erfahrung, dass bei Diskussionen, die über 100 Jahre andauern, Erkenntnisse und Argumente nach einiger Zeit in Vergessenheit geraten und dann gewissermaßen neu entdeckt werden, wobei ihr Stellenwert aber vom jeweils wechselnden Zeitgeist abhängt. Für mein Thema sind die Fakten eigentlich seit den 20-er Jahren des vorigen Jahrhunderts weitestgehend – d. h. soweit damals und heute möglich – geklärt, vor allem durch die großen Akteneditionen der hauptkriegführenden Mächte (allen voran Deutsches Reich und Großbritannien), die Erschließung der zaristischen Archive nach der Oktoberrevolution, zahllose Briefeditionen und (naturgemäß sehr differenziert zu analysierende) Memoiren der wichtigsten Protagonisten.26 Eine vollständige und bis heute quasi „neutralste“ Auswertung findet man bereits in den damaligen Untersuchungen eines kanadischen und zweier US-amerikanischer Historiker27. Auf demselben Niveau standen anfangs auch die meisten deutschsprachigen Analysen, erst nach und nach ist damals an deren Stelle eine einseitige Polemik gegen die sog. Kriegsschuldlüge getreten. Ein erneutes Aufflammen der Diskussion haben die 60-er Jahre des vorigen Jahrhunderts gezeitigt, als die These Fritz Fischers und seiner Schule über das die deutsche Alleinschuld implizierende planmäßige Hinarbeiten auf den Weltkrieg28 zwar in Historikerkreisen heftig attackiert und widerlegt29, aber in der allgemeinen Publizistik zunehmend übernommen wurde, ließ sich doch auf diese Weise eine scheinbare Kontinuität der deutschen Geschichte von 1900 – 1945 herstellen. Dieses „Narrativ“ hat dann allerdings durch die eine breite Leserschaft erreichenden Darstellungen des in Cambridge lehrenden australischen Historikers Christopher Clark und zweier der Rechtslastigkeit unverdächtiger Publizisten, Jörg Friedrich und des Soziologen Herfried Münkler,30 einen vernichtenden 26 Man vergleiche dies einmal mit den krampfhaften Versuchen der heutigen Regierungen, die letzten Gründe ihres Handelns und/oder politischer Skandale, solange es nur geht, zu sekretieren, etwa für die USA zu 9/11 oder für Deutschland zu NSU. 27 Die amerikanischen Werke stammen von Sidney Bradshaw Fay, The Origins of the World War, New York 1928, von dem (sich erst später aus der seriösen Forschung verabschiedenden) Harry Elmer Barnes, Genesis of World War, New York/London 1927, sowie von dem Kanadier John Skirving Ewart, The Roots and Causes of the Wars (1914 – 1918), New York 1925. Nachfolgend stütze ich mich durchgehend auf diese sowie auf die in Fn. 28 – 30 zit. Literatur, ohne diese immer wieder im Einzelnen nachzuweisen. 28 Fischer, Der Griff nach der Weltmacht, 1961; ders., Krieg der Illusionen, 1969. 29 Ritter, HistZtsch. 194 (1962), 646 f.; Zechlin, Krieg und Kriegsrisiko, 1979. 30 Clark, The Sleepwalkers, 2012, dt. „Die Schlafwandler“, 2013 (ähnlich bereits vor ihm der mittlerweile in Harvard lehrende britische Historiker Ferguson, The Pity of War, 1998, dt. „Der falsche Krieg“, 1998); Friedrich, 14/18 – Der Weg nach Versailles, 2014; Münkler, Der Große Krieg, 2013. Noch weitaus detaillierter und dementsprechend deutlicher hinsichtlich der „indirekten Kriegsentfesselung“ durch die Politik Poncarés, der „russischen Ursprünge des 1. Weltkrieges“ und Greys Strategie für den Kriegseintritt Großbritanniens McMeekin, The Russian Origins of the First World War, Cambridge (Mass.)/London 2011; ders., July 1914 – Countdown to War, London 2013; Newton, The darkest Days, London/New York 2014;

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Stoß erlitten. Für mein Thema, die Bewertung der Quellen des Völkerstrafrechts, könnte ich es dabei belassen, denn weder Clarks „Schlafwandler-Metapher“31 noch die semantisch unklare Rückzugslinie des vorherigen publizistischen mainstreams, das Deutsche Reich trage die „Hauptverantwortung“, würde eine ausreichende Legitimitätsbasis für die Art. 227, 231 des Versailler Vertrages bilden. Doch möchte ich immerhin noch einige Hinweise zu geben versuchen, in welche Richtung eine rechtswissenschaftliche Analyse der Kriegsschuldfrage zu führen wäre, die nach 100 Jahren immer noch aussteht. 2. Eine weitaus überzeugendere Integration des riesigen, wenn auch in einigen wichtigen Punkten wohl definitiv lückenhaft bleibenden Faktenmaterials als Clarks Schlafwandler-Hypothese oder die entgegengesetzte „Hauptschuldthese“ verspricht eine Analyse (1) anhand der in den kriegführenden Mächten bis Juni 1914 dominierenden Ziele und (2) der in den beteiligten Staaten miteinander rivalisierenden Protagonisten, wobei wiederum über die zum Krieg hinführenden internationalen Entwicklungen (3) ein Schema von Aktion und Reaktion gelegt werden muss, weil keine Maßnahme aus sich allein, sondern nur unter Berücksichtigung einer vorhergegangenen Maßnahme der anderen Seite erklärt werden kann. An diesen beiden Punkten liegt übrigens der doppelte methodische Fehler von Fritz Fischer, der aus der deutschen Kriegszieldiskussion nach Ausbruch des Krieges auf die vorherige latente Bereitschaft geschlossen hat, um dieser Ziele willen einen Krieg zu riskieren, und der sich später in seiner Interpretation der deutschen Vorkriegspolitik auf die deutschen Quellen konzentriert und die ausländischen Aktionen und Quellen nur höchst selektiv berücksichtigt hat. a) Von den Zielen her sind konservative (einen Kriegsausbruch eigentlich verhindernde) einerseits sowie auf eine Veränderung der Landkarte Europas gerichtete revolutionäre Ziele andererseits zu unterscheiden, die naturgemäß nur über einen europäischen Krieg zu verwirklichen waren. (1) In Frankreich ging es um die Revancheidee des Rückerwerbs von Elsaß-Lothringen, die zwar über lange Zeit weitestgehend zurückgedrängt worden32, ausgerechnet am Vorabend des 1. Weltkrieges aber in Gestalt des Präsidenten Poincaré wieder in den Vordergrund getreten war. (2) Das seit 2008 dominierende russische Ziel, die Verhältnisse auf dem Balkan zu revolutionieren und die Kontrolle über die Meerengen zu erlangen, wurde von den russischen Botschaftern in Paris Iswolski und in Serbien Hartwig verkörpert; letzterer hatte bereits über die Stiftung des Balkanbundes und den durch diesen ausgelösSchmidt, „Revanche por Sedan“ – Frankreich und der Schlieffenplan, HistZtsch 303 (2016), 393 ff. 31 Ähnlich bereits Lloyd George, War Memoirs, Bd. 1, London 1933, S. 32. „Europe slithered over the brink into the boiling cauldron of war“. 32 So insbesondere zur Zeit der 2. Marokko-Krise, s. Hildebrand, Das vergangene Reich, 1995, S. 265 f.; Fay (Fn. 27) Vol. I, S. 277 ff.; Stieve, Deutschland und Europa 1890 – 1914, 1927, S. 103.

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ten ersten und zweiten Balkankrieg den weitgehenden Umsturz der durch den Berliner Kongress von 1878 auf dem Balkan hergestellten fragilen Ordnung bewirkt, aber ebenso wenig wie vor ihm Iswolski in der bosnischen Annexionskrise die türkischen Meerengen, also den Bosporus und die Dardanellen, für Rußland öffnen bzw., weniger euphemistisch, unter die Kontrolle Rußlands bringen können. Nach dem verlorenen russisch-japanischen Krieg war dieses Thema wieder ins Zentrum der russischen Expansionspolitik getreten und zum dominierenden Ziel einer russischen Kriegspartei geworden, deren Anführer der Großfürst Nikolaj Nikolajewitsch der Jüngere (ein Onkel in der Seitenlinie von Zar Nikolaus II.) war; er war übrigens mit einer montenegrinischen Prinzessin verheiratet, aus deren Korrespondenz mit ihrem Vater der (ebenso wie der berüchtigte deutsche „Blankoscheck“ an Österreich-Ungarn nur mündlich ausgestellte) französische „Blankoscheck“ im Juli 1914 sehr gut rekonstruiert werden kann. (3) Auch in Österreich gab es naheliegender Weise eine Kriegspartei, die umgekehrt die Befestigung oder in gewisser Weise sogar die Wiedererlangung des Großmachtstatus der Doppelmonarchie durch die Niederwerfung Serbiens zu erreichen suchte, hierbei aber in den Balkankriegen vom deutschen Reich nicht unterstützt worden war und deshalb dieses Ziel zunächst hatte zurückstellen müssen. (4) Im Deutschen Reich bestand das dominierende Ziel in Bezug auf Europa in der Erhaltung des Status Quo, seine Expansionsbestrebungen erstreckten sich auf weitere Kolonien und die Anerkennung als Weltmacht. Mit diesem Ziel geriet das Deutsche Reich eigentlich sogar erst sehr spät in einen Konflikt mit Großbritannien, was zur Entstehung einer in sich freilich gespaltenen Kriegspartei führte. Tirpitz und mit ihm verbundene weitere Kräfte hielten auf die Dauer eine Auseinandersetzung mit England für unvermeidbar, wollten diese aber bis zur Vollendung der hierfür geplanten deutschen Seemacht möglichst lange hinausschieben. In Militärkreisen gewann dagegen der Präventivkriegsgedanke Raum, weil man Deutschland mehr und mehr umzingelt sah und im Rüstungswettlauf zu unterliegen fürchtete. Durch die mit französischen Geldern finanzierte gewaltige russische Aufrüstung, der in Frankreich die Verlängerung der aktiven Wehrdienstzeit entsprach, glaubte man sich etwa ab 1917 dem russisch-französischen Bündnis nicht mehr gewachsen, weil zur gleichen Zeit Italien de facto aus dem Dreibund ausscherte und Österreich immer schwächer wurde. (5) Parallel zu dieser Entwicklung in Deutschland gewann im Vereinigten Königreich eine germanophobe Stimmung Raum, die nach neueren Forschungen zwar noch nicht mit Beginn des deutschen Hochseeflottenbaus33, aber doch in dessen Verlauf das deutsche Kaiserreich als Bedrohung der britischen Weltgeltung empfand. Diese Germanophobie war zwar im englischen Kabinett in einer deutlichen Minderheit, fand ihr Zentrum aber im Außenministerium in Gestalt des für Deutschland zuständigen Abteilungsleiter Eyre Crowe, der übrigens eine deutsche Mutter hatte und in Deutschland aufgewachsen war. Dessen Germanophobie paarte sich wiederum in 33

Geppert/Rose, HistZtschr 2011, 401 ff.

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eigenartig verstärkender Weise mit einer konkreten Angst vor russischen Angriffen auf die englische Stellung in Indien, deretwegen nach Meinung des britischen Gesandten in St. Petersburg Buchanan wie auch des Unterstaatssekretärs Nicolson die Beibehaltung und Intensivierung einer Freundschaft mit Russland eine geradezu höchstwertige Notwendigkeit der britischen Politik sei. Der englische Außenminister Grey stand stark unter dem Einfluss von Buchanan, Nicolson und Crowe und hatte durch die Duldung von Militärabsprachen mit Frankreich, die vor den meisten Ministern des Kabinetts und erst recht dem Parlament raffiniert vertuscht worden waren, die Erwartungen des französisch-russischen Bündnisses auf einen aktiven Beistand Englands enorm gesteigert. Trotzdem blieb die Entwicklung des Verhältnisses Deutschland-Großbritannien offen, nachdem die sog. Haldane-Mission des britischen Kriegsministers zwar keinen Neutralitätsvertrag gebracht, aber doch immerhin die Möglichkeit einer Annäherung gezeigt hatte, die dann in den Kolonialverhandlungen und in der Zusammenarbeit bei der Beendigung der Balkankriege gewisse Früchte gebracht hatte34. Als höchst zweischneidige Folge ergab sich daraus jedoch einerseits die Hoffnung des der Friedenspartei angehörenden deutschen Reichskanzlers Bethmann Hollweg auf eine Neutralität Englands in der Julikrise 1914, während er andererseits langfristig wegen der vom englischen Außenminister Grey in dem o. erwähnten Geist unternommenen weiteren Annäherung an Russland durch die Aufnahme von (von Grey abgeleugneten!) Flottenverhandlungen für die Zukunft eine Verstärkung der Tripel-Entente Frankreich-Großbritannien-Russland zu einer Tripel-Allianz befürchtete. b) Auf diese von mir mit ganz groben Strichen al fresco an die Wand gezeichnete Ausgangssituation ist sodann die juristische Bewertung der Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo und die anschließende Entscheidung Bethmann Hollwegs zu projizieren, Österreich-Ungarn den sog. Blankoscheck des deutschen Beistands für ein aggressives Vorgehen gegen Serbien auszustellen.35 (1) Für den Strafrechtsdogmatiker lässt sich der subjektive Tatbestand von Bethmann Hollwegs Entscheidung elegant qualifizieren: nämlich als die Absicht, eine Beschränkung der kriegerischen Auseinandersetzung auf den Balkan zu erreichen und dadurch Österreich-Ungarn als den letzten verbliebenen Bundesgenossen vor 34

Dazu eingehend Kießling, Gegen den „großen Krieg“? – Entspannung in den internationalen Beziehungen 1911 – 1914, 2002, S. 95 ff., 224 ff. 35 Wobei das politische Kalkül Bethmann Hollwegs historisch geklärt sein dürfte: Weil er die Bereitschaft Russlands zur Aufnahme des Fehdehandschuhs nach diesem Mord als eher gering, diejenige Frankreichs als noch geringer und die Aussichten auf eine Neutralität Großbritanniens als verhältnismäßig hoch einschätzte, andererseits aber eine etwaige gegenteilige Entscheidung dieser Mächte als Beweis ansah, dass sie nach der in drei Jahren veranschlagten Beendigung der russischen Rüstungen ohnehin bereit wären loszuschlagen, müsse die Probe aufs Exempel gewagt werden, da Deutschland nach Auskunft des (die Präventivkriegsidee aggressiv vertretenden) Generalstabschefs Moltke im Augenblick die letzte Siegeschance besitzen würde.

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dem drohenden Zerfall zu bewahren, verbunden mit einem dolus eventualis, in der unwillkommenen, aber ernst genommenen Alternative den sonst später unter aussichtslosen Randbedingungen stattfindenden Großen Krieg besser heute als morgen noch erfolgreich zu bestehen. (2) Hiermit hat das Deutsche Reich zweifellos eine Anfangsbedingung für den Weltkrieg gesetzt, doch bleibt natürlich zu prüfen, ob dies auch eine rechtswidrige Bedingung war. Denn es steht aufgrund der schon 1914 zu vermutenden und während des Krieges wenigstens teilweise aufgeklärten Hintergründe des Attentats von Sarajewo mit praktischer Sicherheit fest, dass dieses von serbischen Militärstellen jedenfalls mit Wissen des serbischen Ministerpräsidenten Pasic und hochwahrscheinlich mit Absegnung durch die russische Kriegspartei organisiert worden ist.36 Auf diese letzte Frage kommt es für die rechtliche Beurteilung des weiteren österreichischen Vorgehens und des deutschen Blankoschecks aber überhaupt nicht an, denn bezüglich der Verantwortlichkeit des serbischen Staates über Dimitrijevic, über Pasic und über die das Attentat insgesamt organisierende, letztlich die Macht im Staat ausübende37 „Schwarze Hand“ kann gar kein Zweifel bestehen. Es handelt sich deshalb bei dem Attentat um einen kriegerischen Anschlag des serbischen Staates, der selbstverständlich Österreich-Ungarn nach dem damaligen Völkerrecht dazu befugte, militärisch zurückzuschlagen. Dass die österreichischen Dienststellen diese Zusammenhänge damals noch nicht im einzelnen kannten, kann die serbische Verantwortlichkeit nicht ungeschehen machen. (3) Auch nach der damals nicht vollständig aufgeklärten Situation war jedenfalls das österreichische Ultimatum inhaltlich eine berechtigte Forderung, nämlich dass ein Staat, von dessen Boden aus das Attentat eingefädelt worden war, die zu dessen Aufklärung und zur Bestrafung der Hintermänner des Attentats erforderliche Hilfe leisten möge. Gerade aus heutiger Sicht sticht die durchaus maßvolle Art des österreichischen Vorgehens ins Auge, wenn man das von der NATO unter höchst aktiver Mitwirkung des deutschen Außenministers Fischer der Republik Rest-Jugoslawien 36

Die sorgfältige Vorbereitung und Einfädelung lag in den Händen des Majors im serbischen Generalstab und Führers der halbstaatlichen Terrororganisation „Schwarze Hand“, Dragutin Dimitrijevic genannt Apis. Dieser hatte sich seine Sporen als Attentäter bereits 1903 bei der bestialischen Ermordung des Königs Alexander aus der Dynastie Obrenovic verdient, und das Ziel der Ermordung des österreichischen Thronfolgers war von ihm seit langem vorbereitet worden. Weiter steht fest, dass der serbische Ministerpräsident Pasic eingeweiht war. Dass die ganze Aktion nicht ohne Information des russischen Botschafters in Belgrad, Hartwig, geplant worden sein kann, ist nicht, jedenfalls nicht mehr dokumentiert, kann aber angesichts der wirklichen Machtverhältnisse in Serbien und der Tatsache, dass ohne russischen Beistand das Attentat für Serbien selbstmörderisch gewesen wäre, vernünftigerweise nicht bezweifelt werden. Aus Montenegro, dessen König Schwiegervater des Hauptes der russischen Kriegspartei war, sind zahlreiche weitere Äußerungen überliefert, die ebenfalls kaum einen Zweifel übriglassen, dass die russische Kriegspartei vorab eingeweiht war. 37 Siehe heute § 13 Abs. 4 VStGB: „Beteiligter einer Tat nach den Absätzen 1 und 2 (scil. Verbrechen der Aggression) kann nur sein, wer tatsächlich in der Lage ist, das politische oder militärische Handeln eines Staates zu kontrollieren oder zu lenken.“

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im Jahre 1999 ultimativ vorgelegte Rambouillet-Abkommen38 oder den nach dem Attentat vom 11. September von den USA geführten Afghanistan-Krieg als Vergleichsmaßstab nimmt. Dabei ist gerade die Parallele des Afghanistan-Kriegs zur österreichischen Kriegserklärung an Serbien frappierend, weil der identische Kriegsgrund in der Nichtauslieferung bzw. -verfolgung mutmaßlicher Terroristen bestand. Und nachdem ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister den Angriffskrieg gegen Afghanistan und dessen anschließend unter deutscher militärischer Beteiligung erfolgende Besetzung damit gerechtfertigt hat, Deutschlands Freiheit werde am Hindukusch verteidigt39, lässt es sich schwerlich anders als mit Ignoranz erklären, dass jüngst ein sozialdemokratischer Außenminister anlässlich einer geradezu Fakenews-Niveau40 erreichenden offiziellen Falschdarstellung der zentralen Parameter der deutschen Wiedervereinigung auch noch gleich ein implizites Bekenntnis zur These der deutschen Alleinschuld abgelegt hat.41 3. Die vollständige Berechtigung des österreichischen Ultimatums bildet deshalb einen Brennpunkt für die Beurteilung der Kriegsschuldfrage, ihre weitgehende Vernachlässigung in der Historiographie eine der schlimmsten Unterlassungssünden. Dem weiteren Verlauf der Julikrise von gerade noch einmal 8 Tagen mit den Instrumenten der strafrechtlichen Zurechnungslehre nachzugehen, würde den Rahmen des vorliegenden Themas sprengen und muss einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben. Es sei nur so viel angemerkt, dass von den 4 entscheidenden weiteren Stationen bis zum endgültigen Kriegsausbruch – der konkludente französische Blankoscheck an Russland beim Besuch Poincarés in Sankt Petersburg, der anschließende russische Blankoscheck an Serbien unter gleichzeitiger (!!), verheimlichter Vorbereitung der Generalmobilmachung, die Teil-Ablehnung des Ultimatums unter sofortiger Kriegserklärung seitens Österreich-Ungarns sowie schließlich die russische Generalmobilmachung auch gegenüber Deutschland – 3 von der Entente und nur 1 von den Mittelmächten zu verantworten war, während der übrig bleibende moralische Vorwurf gegen das Deutsche Reich, nach dem Scheitern der Hoffnungen auf eine Lokalisierung des Krieges Österreich-Ungarn nicht rasch und energisch genug zurückgehalten zu haben, in ähnlicher Form auch die Politik Greys gegenüber Russland trifft. Jedenfalls lässt sich die zur Grundlage des Versailler Vertrags gemachte These von der Alleinschuld Deutschlands so oder so nicht halten. 38

Zitiert bei Clark (Fn. 30), S. 585. Regierungserklärung des Kabinetts Schröder/Fischer, Verteidigungsminister Struck, vom 11. 3. 2004. 40 Zur Gefahr der Fake news speziell durch Amtsträger Schünemann, GA 2019, 620, 631 ff. 41 „Namensbeitrag“ des Außenministers Heiko Maas vom 2. 11. 2019 „Wo waren Sie, als die Berliner Mauer fiel“, der die ausschlaggebende freie Entscheidung der Sowjetunion, die Wiedervereinigung stattfinden zu lassen, nur nachrangig und verschwommen („Politik von Glasnost und Perestroika“) erwähnt, die Verhinderungsversuche Frankreichs und Großbritannien ableugnet („Geschenk Europas an Deutschland“) und implizit auch die Kriegsschuld am 1. Weltkrieg anerkennt („am Ende eines Jahrhunderts, in dem Deutsche unvorstellbares Leid … gebracht hatten); www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/maas-30-jahre-mauerfall/ 2262374, abgerufen am 7. 11. 2019. 39

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V. Die Haltung des Kaisers 1. Im letzten Teil meiner Überlegungen möchte ich mich noch kurz den auf die Person Wilhelm II. bezogenen Vorwürfen zuwenden. Sie lassen sich noch eindeutiger widerlegen als die Alleinschuldthese. Wilhelm ist in der Vorkriegszeit auch international ganz überwiegend nach seinen Handlungen als Vertreter einer Friedenspolitik gewürdigt worden, auch wenn seine vielfachen unkontrollierten Bramarbasierungen, die immer wieder in ein sinnloses Säbelrasseln führten, auf der Oberfläche den gegenteiligen Eindruck vermitteln konnten. Es kommt hinzu, dass er sich durchweg für Vertragstreue und die Friedensoption entschied, obwohl juristisch das Deutsche Reich im Recht und nach damaligem Völkerrecht durchaus zur Führung eines Krieges berechtigt gewesen war.42 Um nur einige Stichworte zu geben: a) Seine Entscheidung, den Rückversicherungsvertrag mit Russland 1890 nicht zu verlängern, der in der Geschichtsschreibung allgemein als ein Kardinalfehler angesehen worden ist, beruhte auf der Erkenntnis, dass dieser Vertrag dem gleichzeitig bestehenden Zweibund mit Österreich-Ungarn widersprach und also eine offenkundige Doppelzüngigkeit der Geheimdiplomatie Bismarcks repräsentierte. b) Die sog. Krüger-Depesche 1896, mit der er damals die englische Öffentlichkeit maßlos erzürnte, war juristisch vollauf berechtigt, denn er gratulierte darin zur Niederschlagung eines nichtswürdigen Anschlages, den eine Kreatur von Cecil Rhodes, dem damaligen Ministerpräsidenten der Kap-Republik, namens Jameson gegen die Autonomie der Buren-Republik unternommen hatte. c) In der ersten Marokko-Krise 1905 hatte sich Wilhelm instinktiv dagegen gewehrt, durch die spektakuläre Landung in Tanger den deutschen Widerspruch gegen die Verletzung des Abkommens von Madrid durch Frankreich (!) zu manifestieren, was in diesem Fall einen richtigen politischen Instinkt verriet, aber keinesfalls rechtlich erzwungen war. Wilhelm gab dann wie auch in vielen anderen Fällen gegenüber seinem Kanzler Bülow nach, worin sich die im Grunde selbst bramarbasierende Redeweise vom persönlichen Regiment widerlegt. d) Erst recht befand sich die Reichsregierung im Recht, als Frankreich die Akte von Algeciras verletzte und sie 1911 hiergegen mit der Entsendung des Kanonenboots Panther in den Hafen von Agadir protestierte. Die innerhalb des britischen Kabinetts abgesprochene, berüchtigte sog. Manor House-Rede des damaligen Schatzkanzlers Lloyd George mit ihrer freilich verhüllten Kriegsdrohung war deshalb ein rechtswidriger Stein des Anstoßes, auf den Wilhelm zunächst schäumend reagierte, ohne aber die durchaus möglichen Folgerungen zu ziehen. Wilhelm war zur Führung eines (damals durchaus Erfolg versprechenden) Krieges nicht bereit, was er dann freilich wiederum mit großsprecherischen Formeln zu überdecken versucht hat.

42

44 f.

Vgl. nur Clark (Fn. 30), S. 534 f.; Münkler (Fn. 30), S. 80; Kießling (Fn. 34), S. 37, 40 f.,

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e) Bevor ich auf Wilhelms Aktivitäten in der Juli-Krise eingehe, will ich noch kurz bemerken, dass er am 24. Juli 1905 in den finnischen Schären in persönlichem Einsatz ein Defensivbündnis mit dem russischen Zaren ausgehandelt hatte, das auch dessen Unterschrift und damit die verbindliche Verpflichtung des autoritären Herrschers trug, aber auf den Einspruch Frankreichs hin von Russland kassiert wurde. f) Dass der deutsche Blankoscheck an Österreich, den Wilhelm durchaus nicht einseitig ausstellte, sondern über den letztlich Bethmann Hollweg entschied, gerade bei dem vom dynastischen Prinzip tief durchdrungenen Wilhelm keinesfalls als eine Maßnahme zur Auslösung eines Weltkrieges gemeint war, ist evident. Es war für ihn unvorstellbar, Monarchien wie Russland und England könnten sich für die serbischen „Königsmörder“ zu einem Weltkrieg entschließen. Danach wurde Wilhelm auf Nordlandreise geschickt, weil man in der Wilhelmstraße nicht ohne Grund befürchtete, er könne sonst wieder, wie man im militärischen Jargon zu sagen pflegte, „abschnappen“ und eine offensive Politik zu früh durchkreuzen. Die gefährliche Zuspitzung ab dem 23. Juli vollzog sich zunächst völlig ohne Zutun und Wissen von Wilhelm, der aus eigenem Entschluss vorzeitig von der Nordlandreise zurückkehrte und dann am 28. Juli vor den Scherben von Bethmann Hollwegs Politik stand. Auch dieses Mal war seine Intuition richtig, er schrieb an den Rand der serbischen Antwort auf das Ultimatum, dass dies eine vorzügliche Leistung und damit jeder Kriegsgrund fortgefallen sei. Dass die Reichsregierung diese Entscheidung zunächst blockierte und dann nur in abgeschwächter Form weitergab, kann nicht Wilhelm angelastet werden. Er hat auch danach noch den Versuch gemacht, durch direkte Kontaktaufnahme mit dem russischen Zaren den Krieg zu verhindern, was in den zwischen beiden hin- und hergewechselten Telegrammen, den sog. Nicky-Willy-Telegrammen, einen lebhaften Ausdruck fand. g) Sein letzter Versuch bestand schließlich darin, wenigstens den Kriegseintritt Englands zu verhindern, indem er dem jüngeren Moltke als Chef des Generalstabes die (wegen der Existenz nur noch eines einzigen Aufmarschplanes militärisch nicht durchführbare) Anweisung gab, zum Angriff nicht gegen Frankreich, sondern gegen Russland aufzumarschieren und die belgische Neutralität unangetastet zu lassen. 2. Aus alledem ist zu folgern, dass Wilhelm zwar wegen seiner (auf einer tiefenpsychologisch leicht erklärbaren Neurose beruhenden43) menschlichen Schwächen sehr leicht als Popanz des deutschen Militarismus aufgebaut werden konnte44, in den entscheidenden Fragen aber stets den Frieden zu bewahren versucht hat. Ihn 43

S. Röhl, Wilhelm II: die Jugend des Kaisers, 1993, S. 24 ff., 38 ff. Für diese in der Kriegspropaganda naturgemäß zum Exzess gesteigerte Verzeichnung bei gleichzeitiger medialer „Gentrifizierung“ der britischen Weltmachtpolitik während der Regentschaft Edward VII. in Gestalt der Entente cordiale mit Frankreich und des Ausgleichs mit dessen Bündnispartner Russland könnte man 2 Möbelstücke als Symbole anführen, nämlich den von Wilhelm als Sattel ausgestalteten Schreibtischstuhl, auf dem er seine berüchtigten spontanen Randbemerkungen niederschrieb, und die für die häufigen Besuche Edwards in Paris eigens konstruierte Sitzgelegenheit, damit er trotz seiner zunehmenden Leibesfülle die Zärtlichkeiten der dortigen Kokotten genießen konnte. 44

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als den Hauptschuldigen für den Kriegsausbruch hinzustellen, war und ist eine grotesk falsche Behauptung. Wenn auch den Alliierten bei Ausarbeitung des Versailler Vertrages nicht sämtliche Interna der deutschen Politik bekannt gewesen sein dürften, so war doch seine Friedensneigung in der Vorkriegszeit durchaus allgemein bekannt, was auch für die Nicky-Willy-Telegramme gilt.

VI. Ergebnis Das Resultat meiner Überlegungen lässt sich damit wie folgt zusammenfassen: Sowohl die These von der Alleinschuld Deutschlands als auch Art. 227 des Versailler Vertrages über die Strafverfolgung Wilhelms II. erweisen sich nicht etwa als Frühformen einer völkerstrafrechtlichen Gerechtigkeit, sondern als ein typisches Beispiel für ungerechte Siegerjustiz. Und damit schließt sich der Kreis zu meinen eingangs angestellten Überlegungen. Die trüben Quellen des Völkerstrafrechts bestehen in der Siegerjustiz des Versailler Vertrages, und die heutige Rechtswirklichkeit ist von einer gleichmäßigen wie von einer auch nur residual effektiven Rechtsanwendung noch weit entfernt.

Verfolgung und Anklage von Völkerrechtsverbrechen nach deutschem Recht: wie weit zulässig und geboten?* Von Dorothea Magnus

I. Einleitung Die Legitimation der Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen gehört zu den schwierigsten und wichtigsten Aufgaben des Völkerstrafrechts. Die Frage, wer unter welchen Voraussetzungen schwerste Menschenrechtsverletzungen verfolgen und anklagen kann, scheint für das deutsche Recht § 1 VStGB zu beantworten. Das in § 1 VStGB geregelte (echte) Weltrechtsprinzip ermöglicht der deutschen Justiz, bestimmte Verbrechen, welche die internationale Staatengemeinschaft wegen der Verletzung universal anerkannter Rechtsgu¨ ter als strafwu¨ rdig ansieht, unabha¨ ngig von Tatort, Nationalita¨ t von Ta¨ ter und Opfer und Tatortrecht zu bestrafen.1 Das Weltrechtsprinzip erlaubt mithin die weltweite Verfolgung extraterritorialer Taten unabha¨ ngig von nationalen Anknüpfungspunkten.2 Dieser Grundsatz u¨ berzeugt bei völkerrechtlichen Verbrechen, die schwerste Menschenrechtsverletzungen darstellen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schwere Kriegsverbrechen und mit Einschränkung auch Verbrechen der Aggression.3 Hier liegt es im Interesse der Vo¨ lkergemeinschaft, dass ein universeller Schutz vor solchen Verbrechen besteht, unabhängig davon wer, wo, gegen wen eine solche Straftat veru¨ bt hat. Der eingreifende Staat wird hier nicht nur im eigenen Interesse, sondern im Interesse der * Dem Jubilar in hoher Wertschätzung und Verbundenheit gewidmet. Vgl. Merkel, in: Jeßberger/Geneuss, Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 1. Aufl. 2013, 45 ff.; Merkel, in: Lu¨ derssen (Hrsg.), Aufgekla¨ rte Kriminalpolitik oder der Kampf gegen das Bo¨ se?, 1998, Bd. 3, S. 237 ff.; zum spezifischen Unrecht der Kernverbrechen und die Bedeutung der Gesamttat für den Charakter eines Kernverbrechens vgl. Ambos, NStZ 2001, 628; zur Begründung der „Weltbetroffenheit“ s. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre, 2005, 245 ff.; dies., ZStW 120 (2008), 375, 385 ff.; dies., Anm. zu BGH, Urt. v. 27. 7. 2017 – 3 StR 57/17, NJW 2019, 2627, 2635. 2 Vgl. O’Keefe, JICJ 2 (2004), 745; Ambos, Internationales Strafrecht, 2011, S. 52; Behrendt, Die Verfolgung des Vo¨ lkermordes in Ruanda durch internationale und nationale Gerichte, 2005, S. 53. 3 Für das Verbrechen der Aggression (§ 13 VStGB) gilt das Weltrechtsprinzip nur eingeschränkt für deutsche Staatsangehörige oder bei gegen Deutschland gerichteten Taten, vgl. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 8. Aufl. 2018, § 17 Rn. 39 a. 1

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gesamten Staatengemeinschaft tätig, indem er Sicherheitsinteressen aller Staaten verteidigt und Verstöße gegen universell anerkannte Rechtsgüter verfolgt. Dahinter steht der Gedanke internationaler Solidarität bei der Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen.4 Nur vor diesem Hintergrund kann der Eingriff in die Souveränität anderer Staaten, der zwingend mit einer Verfolgung von ausländischen Straftätern von Völkerrechtsverbrechen im Ausland ohne Anknüpfungspunkt zum Inland einhergeht, gerechtfertigt werden. Bei anderen Völkerstraftaten versagt hingegen diese Begründung.5 Reinhard Merkel hat sich ganz grundlegend mit der Legitimation der Weltrechtspflege auseinandergesetzt.6 Dabei hat er in einem seiner Werke das Augenmerk auf die normative Überwindung fremdstaatlicher Souveränität gerichtet (1. Legitimationsbedingung) und zudem die Rechtfertigung eines ius puniendi gegenüber dem Beschuldigten in den Blick genommen (2. Legitimationsbedingung). Beides begründet er überzeugend aus einem rechtphilosophisch-normativen Blickwinkel. Die folgende Untersuchung möchte hierauf Bezug nehmen und zwei Fragestellungen nachgehen, die sich im Zusammenhang der Legitimation der Weltrechtspflege stellen. Die erste bezieht sich auf die Legitimationsmöglichkeit des Weltrechtsprinzips an sich und im Hinblick auf Tatortstaat, Täterstaat und den Beschuldigten. Insbesondere bei der Legitimation gegenüber dem Beschuldigten ist zu hinterfragen, ob Gründe des verfahrensrechtlichen Schutzes des Beschuldigten ein von Merkel konstatiertes Legitimationsdefizit überwinden können. Die zweite Fragestellung, die Gegenstand der folgenden Untersuchung ist, zielt demgegenüber auf eine andersgelagerte Problematik. Sie betrifft die Stellung des Weltrechtsprinzips im Völkerstrafjustizsystem. Gibt es andere Prinzipien, die vorrangig vor dem Weltrechtsprinzip zu berücksichtigen sind? Darf ein Drittstaat die Strafverfolgung auf Grundlage des Weltrechtsprin4 BT-Drs. 14/8524 v. 13. 3. 2002 (Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches), 37. 5 Näher hierzu Magnus, D., in: Mankowski/Wurmnest (Hrsg.), FS U. Magnus, 2014, 693 ff.; Ambos, NStZ 2013, 46; Kreß, International Criminal Law, in: The Max Planck Encyclopedia of Public International Law 2008; Cryer/Wilmshurst, in: Cryer et al., An Introduction to Criminal Law and Procedure, S. 4 f.; Gaeta, in: Cassese (Hrsg.), The Oxford Companion to International Criminal Justice, 2009, S. 69; Luban, Fairness to Rightness: Jurisdiction, Legality, and the Legitimacy of International Criminal Law, in: Besson/Tasioulas (Hrsg.), The Philosophy of International Law, 2010, 572. 6 S. Merkel, Zu Legitimation der Weltrechtspflege, in: Jeßberger/Geneuss, Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 1. Aufl. 2013, 45 ff.; ders., Zur universalen Jurisdiktion bei völkerrechtlichen Verbrechen im Zusammenhang mit dem Weltrechtsprinzip des § 6 StGB, in: Lu¨ derssen (Hrsg.), Aufgekla¨ rte Kriminalpolitik oder der Kampf gegen das Bo¨ se?, 1998, Bd. 3, S. 237 ff.; ders., Zu Kants Friedensschrift und der Idee eines Völkerstrafgerichtshofs, in: Merkel/Wittmann (Hrsg.), Zum ewigen Frieden, Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, 1996, 309 ff.; ders., Zur Legitimation der Weltrechtspflege, in: Jeßberger/Geneuss, Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 2013, 45 ff.; ders., Zu Gru¨ nden fu¨ r den Ausschluss der Strafbarkeit im Vo¨ lkerstrafrecht, in: ZStW 2002, 437 ff.; ders., Zur Intervention der NATO in Libyen, ZIS 10/2011, 771 ff. sowie Die Zeit Nr. 14, 31. 3. 2011, S. 15, sowie Die Zeit Nr. 37, 8. 9. 2011, S. 60; ders., Zum Vo¨ lkermord und seiner Leugnung, FAZ 26. 1. 2012, S. 8.

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zips erst betreiben, wenn Tatort-, Täter- oder Opferstaat dazu nicht bereit oder nicht in der Lage sind? Beide Fragestellungen gehen auf den Ursprung der Frage zurück, wie weit der Schutz vor schwersten Menschenrechtsverletzungen reichen soll.

II. Legitimation des universalen Schutzes vor Völkerrechtsverbrechen Die folgenden Ausführungen beziehen sich allein auf das echte Weltrechtsprinzip des § 1 VStGB, nicht hingegen auf das bedingte Universalitätsprinzip des § 6 StGB, der einen Katalog von Straftaten gegen besonders schützenswerte Rechtsgüter enthält und durch dessen globale Ausdehnung dem Prinzip stellvertretender Strafrechtspflege folgt.7 Nicht Gegenstand der folgenden Ausführungen sollen auch die Voraussetzungen sein, die das deutsche Recht an Völkerrechtsverbrechen iSd §§ 6 ff. VStGB stellt. Zunächst zu den Legitimationsmöglichkeiten des Weltrechtsprinzips im Allgemeinen und im Besonderen gegenüber dem Tatort- und Täterstaat und dem Beschuldigten: 1. Normative, völkerrechtsimmanente Legitimationsbegründung Das Weltrechtsprinzip des § 1 VStGB soll gewährleisten, dass Deutschland stets in der Lage ist, die Verbrechen, die in die Zuständigkeit des IStGH (Internationalen Strafgerichtshofs)8 fallen, selbst zu verfolgen9 und damit seine internationalen Verpflichtungen aus dem IStGH-Statut umzusetzen.10 Auf diese Weise verwirklicht das VStGB den Grundsatz der Komplementarität, der besagt, dass der IStGH, der die nationale Strafgerichtsbarkeit nur ergänzen soll, ein Verfahren nicht betreiben darf, wenn in einem Staat bereits Ermittlungen laufen oder eine Strafverfolgung in Gang gesetzt wurde (Art. 17 IStGH-Statut).11 Nach dieser Vorschrift kann der Internationale Strafgerichtshof nur tätig werden, wenn die zuständigen Stellen „nicht willens oder nicht fähig“ sind, das Verfahren ernsthaft zu betreiben. Nach § 1 VStGB ist Deutschland fähig, Verfahren nach seinem Recht zu betreiben. Die Form der universalen Strafverfolgung sieht sich jedoch dem Vorwurf ausgesetzt, dass sie den Nicht7 Zur Unterscheidung von echtem und bedingtem Weltrechtsprinzip s. Magnus, D., in: Mankowski/Wurmnest (Hrsg.), FS U. Magnus, 2014, 693 ff. sowie Weigend, in: Arnold u. a. (Hrsg.), FS Eser, 2005, 955 ff. 8 Vgl. zur Idee eines Völkerstrafgerichtshofs Kant, Zum ewigen Frieden, Akademieausgabe Bd. VIII, 1912, 355 sowie dazu Merkel, in: Merkel/Wittmann (Hrsg.), Zum ewigen Frieden, Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, 1996, 309 ff. 9 BT-Drs. 14/8524 v. 13. 3. 2002, 12; Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Rn. 438. 10 Safferling, in: Münchener Kommentar, Einleitung zum StGB, 3. Aufl. 2018, Rn. 6. 11 Safferling, Internationales Strafrecht, 2011, 318.

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einmischungsgrundsatz des Art. 2 UN-Charta verletzt, der die Souvera¨ nita¨ t der Staaten garantieren soll.12 Indem das Weltrechtsprinzip die Verfolgung von Auslandstaten durch Staaten erlaubt, die keine inla¨ ndischen Anknu¨ pfungspunkte (genuine links) zum Tatort, Täter oder Opfer haben, greift deren Strafverfolgung unmittelbar in die Souveränität des betroffenen Staates ein, der unmittelbare Gerichtsbarkeit über die Sache hat. Dem Vorwurf wird jedoch mit dem Argument begegnet, es ko¨ nne bei Angelegenheiten, die keine innere Angelegenheit eines Staates, sondern der gesamten Staatengemeinschaft der Welt seien, keine nationalen Souvera¨ nita¨ tsrechte geben. Das Weltrechtsprinzip solle vor solchen Verbrechen schu¨ tzen, deren Begehung „den Frieden und die Sicherheit der Menschheit verletzt oder gefa¨ hrdet.“13 Wo es aber keine nationalen Souvera¨ nita¨ tsrechte gebe, ko¨ nnten diese auch nicht von eingreifenden Staaten verletzt werden.14 Wenn also der Nichteinmischungsgrundsatz gar nicht erst tangiert sei, so bedu¨ rfe es auch keines nationalen Anknüpfungspunktes, um die Strafverfolgung durch einen Staat zu legitimieren.15 Nach ganz h.L. scheidet daher in diesen Fa¨ llen ein Verstoß gegen das Nichteinmischungsprinzip aus.16 Diese Legitimation der universalen Verfolgung extraterritorialer Staaten ist offensichtlich völkerrechtsimmanent. Sie zieht ihre Begründung aus dem Sinn der Norm des § 1 VStGB selbst, nicht indes anderen übergeordneten Prinzipien. Eine weitere normative Legitimationsbegründung folgt daraus, dass Verbrechen dieser Art zugleich die internationale Sicherheit im Sinne der Art. 39, Art. 42 der VN-Charta gefährden. Selbst wenn ein Staat innerhalb seiner eigenen Landesgrenzen ein Völkerrechtsverbrechen begeht, gefährdet er die internationale Sicherheit. Bliebe ein so schwerwiegender Normbruch folgenlos, würde das früher oder später zu einer Normerosion führen, welche auch einen Effekt auf die innere Sicherheit anderer Staaten haben würde.17

12 BGHSt 34, 334, 338; 45, 64, 68 f.; NStZ 1994, 232, 233; BGHStV 1999, 240; BGH NStZ 1999, 236; so auch BayObLG NJW 1998, 392, 395; Krajweski, Völkerrecht, 2017, § 8 Rn. 37 ff. 13 Scharf, LCP 64 (2001), 80; Ambos, Internationales Strafrecht, S. 53; Weigend, in: Festschrift fu¨ r Eser, S. 967, 975. 14 Eser, in: FS Meyer-Goßner, 2001, S. 19; Neubacher, Kriminologische Grundlagen einer internationalen Strafgerichtsbarkeit, 2005. 15 S. Scharf, LCP 64 (2001), 76; Broomhall, NELR 35 (2001), 400; Ho¨ pfel, FS Eser, 2005, S. 773; Kreicker, in: Eser/Kreicker (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung vo¨ lkerrechtlicher Verbrechen, 2003, S. 252; Ambos, Internationales Strafrecht, S. 53. 16 Werle, JZ 2000, 755, 759; Werle/Jeßberger, JuS 2001, 141,142; Jeßberger, JR 2001, 432, 434; Lagodny, JR 1998, 475, 478; Lagodny/Nill-Theobald, JR 2000, 202 ff.; Wirth/Harder, ZRP 2000, 144, 147; Kreß, NStZ 2000, 617, 624; Eser, FS BGH IV, 2000, S. 26 ff.; ders., FS Meyer-Goßner, 2001, S. 14 ff.; ders., FS Trechsel, 2002, S. 228 ff.; Triffterer, FS Roxin, 2001, S. 1415, 1444; Ambos/Wirth, in: Fischer/Kreß/Lu¨ der (Hrsg.), International and National Prosecution of Crimes under International Law, 2001, S. 779; Satzger, NStZ 2002, 125,131; i.E. auch Keller, FS Lu¨ derssen, 2002, S. 434. 17 S. hierzu Merkel, in: Jeßberger/Geneuss, Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 53 ff.

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2. Rechtsphilosophische Legitimationsbegründung Die Zulässigkeit der Intervention von Drittstaaten auf der Grundlage des Weltrechtsprinzips lässt sich auch aus einem rechtsphilosophischen Blickwinkel begründen. Merkel entwickelt eine Legitimationsbegründung aus der politischen Philosophie Thomas Hobbes. Seine Grundthese ist, dass eine universale Zuständigkeit für Eingriffe in den Innenraum einzelstaatlicher Souveränität sich nur aus dem (partiellen) Verlust dieser Souveränität begründen lasse.18 Merkel zieht diese These aus dem Grundsatz, der seit Thomas Hobbes in der politischen Philosophie und Rechtstheorie dominiert, dass „sich der Staat als rechtliche und faktische Zwangsordnung vor seinen Bürgern zu legitimieren hat, nicht dagegen umgekehrt diesen ihre Subjektstellung erst von Gnaden jenes zuteil wird, wie es der aristotelisch geprägten allgemeinen Auffassung vom Gemeinwesen noch bis in die beginnende Neuzeit entsprach“.19 Fehle es an dieser (demokratischen) Legitimation des Staates gegenüber seinen Bürgern oder missbrauche der Staat, d. h. die normative und exekutive Machtordnung, seine Stellung als Garant des inneren Friedens, so führe das zu einer Aufhebung seiner inneren Legitimität (gegenüber seiner Bevölkerung). Der Staat, der zum Feind seiner eigenen Bürger (hostis populi) werde, werde jedoch auch nach außen illegitim. Dies sei sinnbildlich in Fällen des Völkermordes an (wesentlichen Teilen) seiner Bevölkerung der Fall. Da der Staat seine Souveränität aus seiner Legitimation gegenüber seinen Bürgern ableite, führe deren Verlust auch zu einem Verlust seiner Souveränität gegenüber anderen Staaten. Mit anderen Worten, die rechtswidrige Gewalt, die ein hostis populi gegenüber seinen Bürgern einsetze, entfalte ihre destruktive Wirkung auch nach außen und führe zur externen Illegitimität seiner selbst. Nur aus diesem Grund lasse sich dann ein zwangsweiser Eingriff durch Drittstaaten und eine Einmischung in den Innenraum fremder Souveränität legitimieren. Er stellt die Grundlage der Legitimierung des Weltrechtsprinzips durch normative Überwindung fremdstaatlicher Souveränität dar. Diese Begründung Merkels unterscheidet allerdings nicht zwischen dem Tatortstaat, in dem die Intervention stattfindet und dem sie gegenüber einerseits zu legitimieren ist, und zum anderen gegenüber dem Täterstaat, dessen Bürger die Kernverbrechen, ggfs. auch in Drittstaaten begehen. Eine Legitimation gegenüber dem Opferstaat hingegen scheint aus sich heraus schon schlüssig und bedarf keiner näheren Begründung. Die Legitimationsbegründungen gegenüber Tatort- und Täterstaat können jedoch unterschiedlich ausfallen. 3. Legitimation gegenüber dem Tatortstaat Es lässt sich bereits fragen, ob eine Legitimation der Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen gegenüber dem Tatortstaat überhaupt erforderlich ist. Sind die 18 19

Merkel, in: Jeßberger/Geneuss, Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 50 ff. Merkel, in: Jeßberger/Geneuss, Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 50.

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Taten weder ihm noch seinen Bürgern zuzuordnen, so scheint die Legitimation entbehrlich. Dagegen spricht jedoch, dass es keineswegs selbstverständlich ist, dass ein Staat eine internationale Intervention auf seinem Boden dulden muss. Diese könne wie die Interventionen in Syrien und Libyen in jüngster Zeit gezeigt haben, durchaus zu einer Anfachung der Kriegshandlung statt zu deren – schnellem – Ende führen.20 Allerdings werden solche Interventionen durch den UN-Sicherheitsrat und ggfs. in Abstimmung mit dem betroffenen Land beschlossen, so dass bereits auf diesem Wege eine Legitimation erreicht werden kann. Wie fragwürdig eine solche jedoch sein kann und wieweit sie sich von ursprünglichen Beschlüssen in ihren katastrophalen Folgen entfernen kann, sei hier nur angedeutet, soll aber nicht Teil der vorliegenden Ausführungen sein.21 In Bezug auf den Tatortstaat könnte man behaupten, die Legitimationsbegründung Merkels beschränke sich zu sehr auf das Verhältnis des Staates zu seinen eigenen Bürgern. Sie überzeuge daher besonders in Fällen des Bürgerkriegs im eigenen Land oder des Völkermordes an Teilen der eigenen Bevölkerung. Doch verliert diese Begründung bei den anderen Kernverbrechen des VStGB an Überzeugungskraft. So muss es beispielsweise bei Kriegsverbrechen an Personen in einem internationalen bewaffneten Konflikt gem. § 8 ff. VStGB, keineswegs zwingend sein, dass sich diese Kriegsverbrechen gegen die eigene Bevölkerung richten; typischerweise trifft es die gegnerische Seite. Ein Legitimationsdefizit des Staates gegenüber der eigenen Bevölkerung kann sich allenfalls dann ergeben, wenn der Staat bewusst zu Kriegsverbrechen aufgerufen hatte und dabei bewusst die potentiellen Opfer, die erwartungsgemäß auch aus den eigenen Reihen bei Kriegsverbrechen verletzt werden, in Kauf genommen hatte. Weder ist aber eine solche Zahl bezifferbar, noch entspricht es der Realität, dass die Exekutive zu Kriegsverbrechen aufruft, und es entlastet auch nicht die Straftäter von ihrer Verantwortung, für die unter ihrer Befehlsgewalt oder durch ihre Hand begangenen Kriegsverbrechen. Eine Überwindung fremdstaatlicher Souveränität durch den Verlust interner und externer Legitimität lässt sich, wollte man Merkels Legitimationsbegründung in diesem Sinne verstehen, hierauf nicht gründen. Eine ähnliche Argumentation hat auch für die anderen Kernverbrechen zu gelten, sofern sie sich gegen fremde Nationen richten. Sieht man mit Merkel die Aufhebung der externen Legitimität (des Staates gegenüber anderen Staaten) nur darin möglich, dass der Staat seine primäre Aufgabe, Garant des inneren Friedens zu sein, welche seit Hobbes eine Zwangs(rechts)ordnung erst zu rechtfertigen vermag, aufhebt, so wäre diese Funktion keineswegs gefährdet, wenn ein solcher Staat Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord auf fremdem Grund und Boden und gegenüber einem fremden Staatsvolk durchführte (bzw. zurechenbar durchführen lässt). Eine solche Argumentation setzt aber ein zu enges Verständnis 20 S. zur Intervention der NATO in Libyen Merkel, ZIS 10/2011, 771 ff.; ders., in: Die Zeit Nr. 14, 31. 3. 2011, S. 15; ders., in: Die Zeit Nr. 37, 8. 9. 2011, S. 60. 21 S. ausführlich Merkel zum Vo¨ lkermord und seiner Leugnung, FAZ 26. 1. 2012, S. 8; zur Intervention der NATO in Libyen, ZIS 10/2011, 771 ff.; ders., in: Die Zeit Nr. 14, 31. 3. 2011, S. 15; ders., in: Die Zeit Nr. 37, 8. 9. 2011, S. 60.

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dessen voraus, was als innerer Frieden zu verstehen ist. In diesem Sinne darf man Merkel nicht missverstehen. Versteht man den Begriff des inneren Friedens weiter, so kann sehr wohl ein Staat den inneren Frieden seiner Bevölkerung gefährden, wenn er auf seinem Territorium Kriegsverbrechen bzw. andere Völkerrechtsverbrechen duldet, auch wenn diese von anderen Mächten begangen werden. Seine Pflicht Garant für den inneren Frieden zu sein, kann auch in einem Unterlassen der Friedenssicherung bestehen. Der Schutz der Opfer vor Völkerrechtsverbrechen und der Zivilbevölkerung gehört zur ureigensten Aufgabe der Friedenssicherung. Eine eigene Begehung der Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit u. a. durch aktive Täterschaft etwa des eigenen Militärs ist konsequenterweise nicht Voraussetzung für eine Intervention von außen im Sinne des § 1 VStGB. Die Intervention von Drittstaaten, die vom Weltrechtprinzip gedeckt ist, lässt sich im Merkelschen Sinne gegenüber dem Staat legitimieren, der innerhalb seiner Landesgrenzen ein Völkerrechtsverbrechen geschehen lässt. So gesehen gelingt eine Legitimation der Intervention gegenüber dem Tatortstaat auf der Grundlage des Weltrechtsprinzips auch aus dem genannten rechtsphilosophischen Blickwinkel. 4. Legitimation gegenüber dem Täterstaat Gegenüber dem Täterstaat, dessen Bürger die Kernverbrechen als Täter kraft Anordnung oder aus eigenem Antrieb in einem anderen Land begehen, lassen sich verschiedene Überlegungen zur Legitimation des Einschreitens einer Drittmacht anstellen. Der innere Frieden der Bevölkerung als ganzer, d. h. auch der Daheimgebliebenen scheint nicht gefährdet, wenn Straftäter im Ausland Völkerrechtsverbrechen begehen. Auch sind diese Völkerrechtsverbrechen nicht per se dem Staat zuzurechnen, sofern sie nicht von ihm angeordnet wurden. Eine partielle Legitimation darüber zu erreichen, dass auch die Sicherheit der eigenen Soldaten gefährdet ist, die Völkerrechtsverbrechen begehen, überzeugt ebenfalls nicht. Damit lässt sich die rechtsphilosophische Legitimation, die gegenüber dem Tatortstaat als Begründung sinnvoll war, nicht gleichermaßen auch auf den Täterstaat übertragen. Doch könnte man bereits in jedem massiven Rechtsbruch wie er in Form von schwersten Menschenrechtsverletzungen vorliegt, auch eine Verletzung der Rechtsordnung des Täterstaates annehmen, die dessen inneren Frieden bedroht. Nur auf diesem Wege und in Verbindung mit der völkerrechtsimmanenten Legitimationsbegründung ließe sich der rechtsphilosophische Legitimationsgedanke hier verwenden. Eine Verfolgung und Anklage der Straftäter des Täterstaats lassen sich damit in überzeugender Weise wohl nur auf die oben unter II.1. geschilderte normative Überwindung fremdstaatlicher Souveränität stützen.

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5. Legitimation gegenüber dem Beschuldigten Von zentraler Bedeutung ist die Frage nach der Legitimationsmöglichkeit eines ius puniendi gegenüber dem Beschuldigten. Merkel hat auf diese bis dahin weitgehend unerörterte Frage aufmerksam gemacht und sie normativ-rechtsphilosophisch beantwortet. Zunächst zu der Fragestellung: Warum darf gerade der mit Zwangsgewalt intervenierende Staat den Beschuldigten verfolgen, anklagen und ggfs. bestrafen? Was rechtfertigt gerade seine Strafgewalt über den Beschuldigten? Merkels Grundthese, die er an Hobbes’ Gedanken aus dem Leviathan anlehnt, lautet folgendermaßen: „Dass nämlich ein Staat den Gehorsam seiner Bürger gegenüber seiner (gegebenenfalls strafbewehrten) Normenordnung nur soweit zwangsrechtlich einfordern kann, wie er ihnen auch deren Schutz garantiert“.22 Das bedeutet also, dass nur derjenige, der „im genuinen Sinn bestrafen will, nämlich zur (kontrafaktischen) Durchsetzung der Geltung einer verletzten Norm, der muss sich legitimieren können als Garant für eben diese Normgeltung in ihrer ganzen Reichweite, also nicht nur für ihr sanktionierendes, sondern auch für ihr protektives Element“.23 Verfolgt und klagt nun ein Drittstaat mit Zwangsgewalt auf Grundlage des Weltrechtsprinzips den Beschuldigten an, so ließe sich mit dieser Begründung eine Bestrafung des Beschuldigten nicht rechtfertigen. Der Drittstaat, der den Bürger eines fremden Landes seiner Strafgewalt unterwerfen will, hat diesem vor dem Rechtsbruch keinen Schutz gewährt. Das protektive Element, dass ein Staat seinen Bürgern durch die Garantien seiner Rechtsordnung gewährt, würde fehlen, während allein das sanktionierende Element übrigbliebe, dass allein für eine Legitimation der gewaltsamen Intervention nicht ausreicht. Merkel zieht daraus den Schluss einer Legitimationslücke der Anwendung von Zwangsgewalt gegenüber dem Beschuldigten. Die Annahme einer Legitimationslücke setzt offensichtlich voraus, dass der Bestrafende dem Bestraften vorher „den Schutz der Norm garantiert haben muss, unter deren strafende Rechtsfolge er ihn jetzt beugt“.24 Mit Norm kann hier nur die Normierung des Völkerrechtsverbrechens selbst gemeint sein (wenngleich auch die Rechtsordnung als Ganzes nicht unplausibel wäre, denn auch die anderen Normen seiner Rechtsordnung garantiert der bestrafende Staat dem Beschuldigten vor dem Rechtsbruch nicht). Nun ließe sich freilich fragen, welchen Schutz sich der Täter eines Völkerrechtsverbrechens von einer vorherigen Garantie der Strafvorschriften durch den ihn später strafenden Staat versprechen kann. Allenfalls kann dieser potentielle Schutz, nicht selbst Opfer eines Kernverbrechens zu werden, dessen Täter ungestraft bleibt, zur positiven Normverdeutlichung beitragen und abschreckend auf Täter und Allgemeinheit wirken. Doch ist zum einen nicht gesagt, dass in der Mehrzahl der Völkerrechtsverbrechen die Täterstaaten nicht ebenfalls in 22

Merkel, in: Jeßberger/Geneuss, zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 56.; Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, 2011, 21. Kap. 212 f. 23 Merkel, in: Jeßberger/Geneuss, zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 56. 24 Merkel, in: Jeßberger/Geneuss, Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 56.

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ihrer Rechtsordnung solche Verbrechen unter Strafe gestellt haben und damit den besagten Schutz gewähren. Begeht bspw. ein zum IS übergelaufener französischer Staatsbürger ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien, so könnte, falls Frankreich die Strafverfolgung ablehnt, Syrien nicht willens oder fähig ist, zu verfolgen und auch der IStGH seine Zuständigkeit ablehnt, Deutschland per Weltrechtsprinzip intervenieren.25 In diesem Fall würde der Täterstaat (Frankreich) dem Beschuldigten den Schutz vor Völkerrechtsverbrechen durch seine Rechtsordnung, d. h. sein eigenes Völkerstrafrecht gewähren, selbst wenn er die Strafverfolgung und Sanktionierung nicht selbst übernimmt. Keinesfalls ist der Beschuldigte eines Völkerrechtsverbrechens rechtlos gestellt und zwar auch nicht im Verhältnis zum verfolgenden Drittstaat. Denn sofern die Verfahrensrechte und Justizgrundrechte bei Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen gewahrt sind, gewährt auch der Drittstaat dem Beschuldigten Schutz. Würde Deutschland in dem genannten Beispiel die Strafverfolgung (nach seinem eigenen Recht, §§ 1, 7 VStGB!) übernehmen, müsste es alle seine rechtsstaatlichen Garantien eines fairen Verfahrens, insbesondere den Anspruch auf rechtliches Gehör, das Recht zur Verteidigung, die Unabhängigkeit seiner Gerichte, die Freiheitsgarantien, das Verbot der Doppelbestrafung, das Verbot des Einsatzes von verbotenen Vernehmungsmethoden, das Verbot von Ausnahmegerichten, das Verbot der Todesstrafe sowie alle anderen für Beschuldigte einschlägigen Rechte dem Beschuldigten zuerkennen und im Verfahren anwenden. Zudem sind für die Auslegung des VStGB insbesondere auch das IStGH Statut heranzuziehen, das eine Verfahrens- und Beweisordnung (Rules of Procedure and Evidence) sowie Verbrechensmerkmale (Elements of Crimes), enthält, die für die Vertragsstaaten wie Deutschland, die das IStGH Statut ratifiziert haben, bindend sind.26 Ein Defizit des rechtlichen Schutzes des Beschuldigten lässt sich mithin nur insoweit konstatieren, als nicht Deutschland (als die intervenierende Drittmacht) bzw. der IStGH, sondern allein Frankreich den materiellen Schutz vor der Tat gewährt hatte. Der französische Staat gewährt allen seinen Bürgern und damit auch seinen potentiellen und künftigen Völkerrechtsverbrechern bereits vor deren Taten den vollen Schutz des materiellen Völkerstrafrechts. Nimmt man den formellen Rechtsschutz des deutschen Rechts hinzu, so kann man von einer Lücke im Rechtschutz des Beschuldigten nicht ernsthaft sprechen.

25

Zur Rangfolge des Territorialitäts-, aktiven und passiven Personalitätsprinzips, sowie Weltrechtsprinzips s. sogleich unter III. 26 Für die Auslegung der Vorschriften des VStGB sind nicht nur das IStGH-Statut selbst, sondern auch das Völkergewohnheitsrecht (s. Art. 25 GG) und insb. die Spruchpraxis des Ruanda- und Jugoslawien- Strafgerichtshofs heranzuziehen; vgl. nur IStGH-Statutsgesetz BGBl. 2002 II, S. 1393. Hätte der IStGH hingegen auf zweiter Stufe die Strafverfolgung übernommen, wäre der Beschuldigte auch hier nicht rechtlos gestellt, da das IStGH-Statut eine Verfahrens- und Beweisordnung sowie Verbrechensmerkmale etc. enthält. Werle und Jeßberger lehnen hingegen eine Bindungswirkung der Elements of Crimes aus Gründen der Verhandlungsgeschichte des IStGH-Statuts als auch mit Hinweis auf den Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 IStGH-Statut ab, s. Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Rn. 218.

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Geht man auf den Ursprung des kontraktualistischen Arguments Hobbes’ zurück, nach dem „die Verpflichtung der Untertanen gegen den Souverän nur so lange dauert, wie er sie auf Grund seiner Macht schützen kann, und nicht länger“27, so wäre bei enger Auslegung eine Übertragung der Gewalt des Strafen von einem Staat auf einen anderen nicht möglich. Auch eine stellvertretende Strafrechtspflege wäre strenggenommen nicht möglich. Das ist gewiss richtig, wenn man Hobbes so versteht, dass sich der Bürger unter die Strafgewalt seines Staates nur begibt, wenn er im Gegenzug auch dessen Schutz durch eben diese Rechtsordnung erhält. Denn andernfalls würde er einen massiven Rechtsverlust erleiden, wenn ihm die (eigene) Rechtsordnung den Schutz nicht gewährt, ihn aber gleichzeitig ihrer Gewalt des Strafens unterwirft. So lässt sich auch – im oben bereits unter I. ausgeführten Sinne – das Unterwerfen des Bürgers unter eine Zwangsrechtsordnung nur rechtfertigen, wenn diese ihm im Gegenzug auch Schutz im Sinne eines inneren Friedens sichert. Die Entrechtlichung des Bürgers, die durch dieses kontraktualistische Argument verhindert werden soll, kann jedoch faktisch ein Drittstaat auffangen. So ließe sich im oben genannten Beispiel keineswegs von einer Entrechtlichung des Beschuldigten eines Völkerrechtsverbrechens sprechen. Weder verwirkt er seine Rechte, noch verliert er faktisch gesehen seinen materiellen und formellen Rechtsschutz. Versteht man Hobbes in einem weiter gefassten Sinne und trägt dem Umstand Rechnung, dass im 17. Jahrhundert auch das Prinzip der stellvertretenden Rechtspflege im heutigen rechtsstaatlichen Sinne noch nicht entwickelt war, so ließe sich das konstatierte Legitimationsdefizit überwinden. Merkel freilich wählt einen anderen Weg. Er greift auf die Konzeption von John Rawls „non-ideal theory“ aus dessen Opus Magnum „A Theory of Justice“ zurück.28 Diese zeigt einen Ausweg aus einem Dilemma einer nicht-idealen Wirklichkeit. Bei empirisch-praktischen ebenso wie bei normativen Problemen nicht anders auflösbarer Widersprüche ist auch die nicht-ideale Variante hinnehmbar, „weil ihre einzige verfügbare Alternative im langwierigen Übergang bis zur Verwirklichung des Postulats einer idealen Theorie noch weitaus weniger akzeptabel erscheint“.29 Übertragen auf die Legitimation der Weltrechtspflege gegenüber dem Beschuldigten bedeutet das, dass die von Merkel festgestellte Legitimationslücke gegenüber dem Beschuldigten hinzunehmen ist, da im Sinne einer non-ideal theory die einzig verfügbare Alternative, nämlich die Nichtverfolgung von Völkerrechtsverbrechen mit einer normdestruktiven Folge weit weniger akzeptabel wäre. Diese „nicht-ideale“ Abhilfe aus einem Dilemma sei aber auf Ausnahmefälle normativen Notstands zu beschrän27 Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, 2011, 21. Kap. 212 f. 28 Rawls, A Theory of Justice, 1971, 244 ff. 29 S. bei Merkel, in: Jeßberger/Geneuss, Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 59, den Verweis auf Rawls, A Theory of Justice, 1971, 244, 245 („Though the specific conditions of our world – the status quo – do not determine the ideal conception of (that long term goal), those conditions do affect the specific answers to questions of non-ideal theory. For these are questions of transition“).

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ken. Ein solcher dürfte indes bei Verbrechen, die die Menschheit angehen, regelmäßig gegeben sein. Gleichwohl ist eine enge Anwendung des Weltrechtsprinzips geboten.

III. Begründung des Weltrechtsprinzips als Teil eines Völkerstrafjustizsystems Nachdem sich der erste Teil dieses Beitrags mit der Legitimation des universalen Schutzes vor schwersten Menschenrechtsverletzungen befasst hat, wendet sich der zweite Teil der Frage nach der Stellung des Weltrechtsprinzips im Völkerstrafjustizsystem zu. Welchen Platz in der Hierarchie völkerrechtlicher Prinzipien nimmt das echte Weltrechtsprinzip ein? Darf ein Drittstaat die Strafverfolgung auf der Grundlage des Weltrechtsprinzips erst betreiben, wenn Tatort-, Täter- oder Opferstaat dazu nicht bereit oder nicht in der Lage sind? 1. Das 3-Stufen-Modell i.V.m. dem Komplementaritätsprinzip Im deutschem Recht herrschend ist das 3-Stufen-Modell, welches eine Rangfolge völkerrechtlicher Prinzipien vorsieht. Es wird vom BVerfG und herrschenden Teilen der Lehre vertreten und vom deutschen Gesetzgeber weitgehend voraussetzt.30 Das BVerfG fordert eine „gestufte Zuständigkeitspriorität“ für Auslandstaten, die unter das Völkerstrafgesetzbuch fallen: „Primär sind zur Verfolgung der Tatortstaat und der Heimatstaat von Täter oder Opfer, sekundär der Internationale Strafgerichtshof und gegebenenfalls sonstige internationale Strafgerichte und tertiär die nach dem Weltrechtsprinzip vorgehenden Drittstaaten berufen“. Dieses 3-StufenModell vermeidet die Straflosigkeit schwerster Menschenrechtsverletzungen, indem es einen umfassenden Schutz durch seine drei Ebenen vorsieht. Ambos, der eine Hierarchie der völkerrechtlichen Anknüpfungspunkte (genuine links) bereits für das deutsche Strafanwendungsecht entwickelt hatte31, sieht hierin die Einbettung des deutschen Rechts in ein „Völkerstrafjustizsystem“ verwirklicht.32 Auf der ersten Stufe soll das Territorialitäts- und Personalitätsprinzip Priorität mit der Folge haben, dass der Tatort-, Täter- oder Opferstaat die Strafverfolgung vorrangig zu betreiben habe. Diese Einteilung erscheint auf den ersten Blick sinnvoll. Sie entspricht auch der Rangfolge, welche § 153f StPO im Hinblick auf die Gerichtsbarkeiten erkennen lässt (§ 153f Abs. 1, Abs. 2 Nr. 4 StPO), sowie der ratio legis des 30 BVerfG, NStZ 2011, 353, 354; ebenso Ambos, in: Mu¨ nchener Kommentar, StGB, 3. Aufl. 2018, § 1 VStGB Rn. 21 ff.; Weißer, GA 2012, 416, 430; vgl. auch Werle/Jeßberger, JZ 2002, 724, 733; Weigend, GS Vogler, 2004, 208; ders., FS Eser, 2005, 973, 976; BTDrs. 14/8524, S. 37. 31 Ambos, in: Mu¨ nchener Kommentar, StGB, Vor § 3 Rn. 63 ff. 32 Ambos, in: Mu¨ nchener Kommentar, StGB, 3. Aufl. 2018, § 1 VStGB Rn. 2.

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Gesetzgebers.33 So soll nach der Gesetzesbegründung zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches Vorrang vor der Gerichtsbarkeit eines Drittstaats neben dem IStGH auch der Tatort-, Täter- oder Opferstaat haben.34 Für diese Einteilung spricht, dass der Tatortstaat die Beweismittel besser gewinnen und die Strafgewalt über sein Territorium ausüben kann, um dort den sozialen Frieden wiederherzustellen. Das Territorialitätsprinzip genießt auch im Strafanwendungsrecht (§ 3 StGB) oberste Priorität vor den anderen Prinzipien. Seine hervorgehobene Stellung in dem 3-Stufen-Modell erscheint daher gerechtfertigt. Auch der Opferstaat hat ein großes Interesse, die Verfolgung und Verurteilung des Täters zu betreiben, um dem Opfer Genugtuung und Ausgleich zu verschaffen, steht aber häufig vor der Schwierigkeit, den Täter selbst zu erfassen und im Ausland dessen eigene Strafverfolgung zu betreiben. Und schließlich hat der Täterstaat ein Interesse an der Bestrafung seiner Staatsangehörigen entsprechend ihrer Schuld, wobei dieses Interesse eingeschränkt sein kann, wenn es sich um Teile des eigenen Machtregimes handelt.35 Einschränkend wird vorgeschlagen und gefordert, dass der Tatort-, Täter- oder Opferstaat zur Strafverfolgung „willens und fähig“ sein muss.36 Gleichwohl sollte die (Letzt-)Entscheidung über die Effektivität der nationalen Strafverfolgung auch hier dem IStGH zustehen, wie dies auch im Rahmen des Art. 17 IStGH-Statuts der Fall ist.37 Auf zweiter Stufe soll die Verfolgung und Aburteilung durch den IStGH als vorrangig gegenüber einer Aburteilung durch einen Drittstaat per Weltrechtsprinzip sein. Dadurch sollen „diplomatische Spannungen zwischen den beteiligten (gleichgeordneten) Staaten vermieden werden“.38 Auch vermag der IStGH den „Gedanken der internationalen Solidarita¨ t am besten zur Geltung zu bringen und verfu¨ gt typi-

33 BVerfG, Beschl. v. 1. 3. 2011 – 2 BvR 1/11, NStZ 2011, 353, 354: „Für Fälle mit Inlandsbezug, das heißt wenn der Beschuldigte sich im Inland aufhält und/oder Deutscher ist, ergibt sich im Umkehrschluss aus § 153f Abs. 1 StPO eine grundsätzliche Verfolgungspflicht. Liegt keinerlei Inlandsbezug vor (vgl. § 153 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StPO), ,kann insbesondere‘ von der Strafverfolgung abgesehen werden, sofern ein internationales Gericht oder der Tatortoder Heimatstaat von Täter oder Opfer die Verfolgung übernimmt (§ 153f Abs. 2 S. 1 Nr. 4 StPO)“. 34 BT-Drs. 14/8524, 38 („ein unmittelbar betroffener und damit vorrangig zuständiger Staat“); ebenso AEVStGB, 87; Werle/Jeßberger, JZ 2002, 724, 733. 35 Vgl. zu dieser Begründung BT-Drs. 14/8524, 38; Ambos, in: Mu¨ nchener Kommentar, StGB, § 1 VStGB Rn. 23. 36 Vgl. hierzu sogleich im Folgenden; s. auch zur Übertragung des Komplementaritätsprinzips auf die zwischennationale Ebene Ambos, in: Mu¨ nchener Kommentar, § 1 VStGB Rn. 23; Weigend, GS Vogler, 2004, 208; ders., FS Eser, 2005, 973, 976; Werle/Jeßberger, JZ 2002, 724, 733; Eser, FS Trechsel, 2002, 219; Keller, GA 2006, 25, 34 ff.; Kurth, ZIS 2006, 81, 84; Geißler/Selbmann, HuV-I 2007, 160, 164; Ryngaert, CLF 19 (2008), 153, 157 ff., 176, 178. 37 Vgl. hierzu Verhoeven, NYIL 23 (2002), 3, 20; Ambos, in: Mu¨ nchener Kommentar, StGB, § 1 VStGB Rn. 22. 38 Ambos, in: Mu¨ nchener Kommentar, StGB, § 1 VStGB Rn. 24.

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scherweise u¨ ber weiterreichende Mo¨ glichkeiten, Beweismittel im Wege der strafrechtlichen Zusammenarbeit zu erlangen“.39 Auf dritter Stufe greift nach diesem Modell das echte Weltrechtsprinzip ein, wenn weder der Tatort-, Opfer-, oder Täterstaat zur Strafverfolgung bereit oder in der Lage ist, noch der IStGH die Strafverfolgung übernimmt. Dann eröffnet das Weltrechtsprinzip Drittstaaten wie Deutschland, die es kodifiziert haben, die Möglichkeit, die Strafverfolgung zu betreiben. Das echte Weltrechtsprinzip fungiert nach diesem Modell auf dritter Stufe als Auffangtatbestand, um Menschenrechtsverbrechen nicht unbestraft zu lassen. Es ermöglicht verfolgungsbereiten Drittstaaten, ihre Strafgewalt auf die völkerrechtlichen Kernverbrechen auszudehnen. Sind mehrere Drittstaaten dazu bereit, hat grundsätzlich der das Verfahren zuerst eröffnende Staat den Vorrang.40 Dieses 3-Stufen-Modell lehnt sich stark an das Komplementaritätsprinzip des Art. 17 IStGH-Statut an. Dieses besagt, dass die Strafverfolgung durch den IStGH unzulässig ist, wenn ein Staat, der Gerichtsbarkeit darüber hat, Ermittlungen oder eine Strafverfolgung durchführt, es sei denn, der Staat ist nicht willens oder nicht in der Lage, die Ermittlungen oder die Strafverfolgung ernsthaft aufzunehmen. Nicht willens, die Strafverfolgung durchzuführen, ist ein Staat nach Art. 17 Abs. 2 IStGH-Statut insbesondere dann, wenn er das Verfahren führt bzw. geführt hat, um die betroffene Person vor strafrechtlicher Verantwortlichkeit für die Völkerrechtsverbrechen zu schützen. Ebenso zeigt sich der mangelnde Wille eines Staates zur Strafverfolgung darin, dass er das Verfahren ungerechtfertigterweise so verzögert oder verzögert hat oder es nicht unabhängig, nicht unparteiisch oder auf andere Weise so führt oder geführt hat, dass dies auf die fehlende Absicht schließen lässt, den Betroffenen vor Gericht zu stellen. Nicht fähig ein Strafverfahren zu führen, ist nach Art. 17 Abs. 3 IStGH-Statut ein Staat, der wegen des völligen oder weitgehenden Zusammenbruchs oder der mangelnden Verfügbarkeit seines innerstaatlichen Justizsystems nicht in der Lage ist, des Beschuldigten habhaft zu werden oder die erforderlichen Beweismittel und Zeugenaussagen zu erlangen oder aus anderen Gründen nicht in der Lage ist, ein Verfahren zu führen. Gleichwohl lassen sich trotz dieser konkreten gesetzlichen Vorgaben Fälle denken, in denen ein Staat willens und fähig ist, die Strafverfolgung zu übernehmen, und trotzdem eine Aburteilung in seinem Land und nach seinem Recht nicht geboten erscheint. Ist ein Unrechtsstaat zulässigerweise in der Lage, ein Völkerrechtsverbrechen seiner Strafgewalt zu unterwerfen? Prima facie läge der Wille zur Strafverfolgung vor, sofern er das Verfahren nicht verzögert, es nicht parteiisch und nicht abhängig führt und auch die betroffene Person vor strafrechtlicher Verantwortlichkeit für die Völkerrechtsverbrechen nicht ungerechtfertigterweise zu schützen beabsichtigt. Auch wäre ein solcher Staat fähig die Strafverfolgung zu betreiben, sofern sein 39

BT-Drs. 14/8524, 37. Hall, in: Lattimer/Sands (Hrsg.), Justice for Crimes Against Humanity, 1. Aufl. 2003, 59 Ambos, in: Mu¨ nchener Kommentar, StGB, § 1 VStGB Rn. 24. 40

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innerstaatliches Justizsystem nicht zusammengebrochen ist und er grundsätzlich in der Lage ist, des Beschuldigten habhaft zu werden und die erforderlichen Beweismittel und Zeugenaussagen zu erlangen. Und doch erscheint es nicht geboten, einem Staat, der etwa die Todesstrafe eingeführt hat, drakonische Strafen bei Vergehen vorsieht, einen unmenschlichen Strafvollzug hat und keine verfassungs- und verfahrensrechtlichen Garantien vorsieht, die einem Rechtsstaat entsprechen, die Strafverfolgung zu überlassen. Das IStGH Statut sieht deshalb die schon erwähnte Verfahrensund Beweisordnung vor (Rules of Procedure and Evidence), die den IStGH und alle Vertragsstaaten bindet.41 Hinter diesen Regelungen müssen abweichende bzw. widersprechende Verfahrensordnungen als subsidiär zurücktreten.42 Eine andere Auffassung wäre völkerrechtswidrig und würde nicht nur gegen das IStGH-Statut, sondern auch gegen die UN-Grundrechtecharta und andere völkerrechtliche Regelungen verstoßen. Zudem können Unrechtsstaaten von der Möglichkeit der Ratifizierung des IStGH-Statuts ausgeschlossen werden. Ob – und wenn ja, wie – diese Hürden für das 3-Stufen-Modell, für die sie weder entwickelt noch vorgeschlagen wurden, gelten, ist fraglich. Inwieweit sich das Komplementaritätsprinzip, das für den IStGH entwickelt wurde, tatsächlich auf ein umfassendes Völkerstrafjustizsystem übertragen lässt, soll im Folgenden untersucht werden. 2. Kritische Würdigung des 3-Stufen-Modells und der Übertragung des Komplementaritätsprinzips Das 3-Stufen-Modell fordert, dass der IStGH vorrangig vor Drittstaaten die Strafverfolgung und Anklage von Völkerrechtsverbrechen übernehmen soll. Das ist aus mehreren Gründen problematisch. Der Vorrang der Strafverfolgung durch den IStGH soll „diplomatische Spannungen zwischen den beteiligten (gleichgeordneten) Staaten“ vermeiden und auch Art. 17 Abs. 1 a, b IStGH Statut soll einer solch restriktiven Auslegung des Komplementaritätsprinzips nicht entgegenstehen, „denn damit soll in erster Linie dem tatnäheren Tatort-, Täter- oder Opferstaat eine Vorrangzuständigkeit eingeräumt, nicht aber ein tatentfernter Drittstaat zur Strafverfolgung ermuntert werden“.43 Dass die Verfolgung durch den IStGH vorrangig vor der der Drittstaaten sein soll, die auf Grundlage des Weltrechtsprinzips vorgehen, ist fragwürdig.44 Aus dem Wortlaut des Art. 17 IStGH Statut ergibt sich dieser Vorrang nicht. Vielmehr deutet 41

Triffterer/Ambos/Broomhall, Rome Statute, 3. Aufl. 2016, Art. 51 Rn. 35 ff.; Werle/ Jeßberger, Völkerstrafrecht, Rn. 221. 42 S. Art. 51 Abs. 5 IStGH Statut; vgl. auch IStGH, Beschl. v. 17. 1. 2006 (situation in DRC, PTC), para. 47. 43 So bereits BT-Drs. 14/8524, 37 und BVerfG, NStZ 2011, 253, 254; ebenso Ambos, in: Mu¨ nchener Kommentar, StGB, § 1 VStGB Rn. 24. 44 Bereits Art. 18 Abs. 2 IStGH-Statut könnte darauf hindeuten, jedenfalls den Drittstaaten die Strafverfolgung zu überlassen, die Zugriff auf den Beschuldigten haben, indem dem Aufenthaltsstaat des Beschuldigen Gelegenheit dazu zu geben ist, das Verfahren vor nationale Gerichte zu ziehen, s. hierzu und zum Verhältnis einer „Weltstrafverfolgung“ durch den IStGH, Weißer, in: Jeßberger/Geneuss, Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 65, 71.

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der Wortlaut die grundsätzliche Subsidiarität des IStGH im Verhältnis zur nationalen Strafjustiz an. Die Formulierung in Art. 17 Abs. 1a IStGH Statut eröffnet die Strafgewalt des IStGH gegenüber jedem „Staat, der Gerichtsbarkeit darüber hat“ nur, wenn dieser nicht willens oder in der Lage ist, die völkerrechtlichen Kernverbrechen zu verfolgen.45 Staaten, die in diesem Sinne Gerichtsbarkeit über Kernverbrechen haben, können mithin auch Drittstaaten sein. Haben diese – wie Deutschland – das Weltrechtsprinzip in ihrem Recht verankert und sind sie willens und fähig, die Strafverfolgung zu betreiben, so eröffnet das ihre Gerichtsbarkeit und zwar vorrangig vor dem IStGH.46 Ob eine sehr restriktive Auslegung, die Drittstaaten aus dem Anwendungsbereich des Art. 17 IStGH Statut ausklammert, dem Wortlaut gerecht wird, ist zumindest hinterfragbar. Insoweit ist das Stufenverhältnis, das eine Subsidiarität des IStGH verneint, angreifbar. Doch auch andere Gründe können gegen das Stufenmodell sprechen. Wenn der IStGH auf zweiter Stufe seine Zuständigkeit verneint, kann das zwei Gründe haben: Entweder hält er sich nicht für zuständig, weil einerseits der Tatortstaat nicht das IStGH-Statut ratifiziert hat bzw. ein anderer Staat vorrangige Gerichtsbarkeit hat oder er hält andererseits die Voraussetzungen für ein Völkerrechtsverbrechen für nicht gegeben. Im zweiten Fall sperrt das die grundsätzliche Verfolgungsmöglichkeit eines Drittstaats. Denn lehnt bereits der IStGH die Voraussetzungen für ein Völkerrechtsverbrechen (auf zweiter Stufe) ab, so kann ein Drittstaat (auf dritter Stufe) im Gegensatz dazu nicht die Voraussetzungen eines Völkerrechtsverbrechens annehmen. Dies würde einen eklatanten Widerspruch zur Entscheidung des IStGH bedeuten. Wesentlich in diesem Zusammenhang ist die Frage, wer die Einschätzungsprärogative hat, ob ein Völkerrechtsverbrechen vorliegt. Ist die Sichtweise des IStGH maßgeblich bzw. gilt hier ein objektivierter Standard? Oder kann der Drittstaat nach Ablehnung der Völkerrechtswidrigkeit durch den IStGH den Sachverhalt (ohne neue Erkenntnisse) dennoch als Völkerrechtsverbrechen einstufen und nun selbst verfolgen? Wäre eine Verfolgung nach dem Weltrechtsprinzip schlichtweg nicht mehr möglich, dann würde damit die dritte Stufe des Modells wohl in vielen Fällen nicht zum Zuge kommen. Ist hingegen die Sichtweise des Drittstaats maßgeblich, so dürfte aber weder seine Definition des Völkerrechtsverbrechens noch seine Auslegung wesentlich von der des IStGH Statuts abweichen. Die Legitimation einer eigenen Auslegung der Völkerrechtsstraftaten, etwa die Annahme eines Kriegsverbrechens bei einfacher Nötigung einer nach dem humanitären Völkerrecht zu schützenden Person, wäre völkerrechtswidrig. Zwingend notwendig ist daher stets eine völkerrechtskonforme Auslegung. Die Einschätzungsprärogative, ob ein Völkerrechtsverbrechen vorliegt, liegt damit beim IStGH bzw. der völkerrechtskonformen Auslegung 45 Der IStGH wird daher auch als „Notfall- und Reservegericht“ bezeichnet, s. Ambos, in: Mu¨ nchener Kommentar, StGB, § 1 VStGB Rn. 21. 46 Anders die h.M. im Schrifttum vgl. Kreß, NStZ 2000, 617, 625; KK-StPO/Schoreit, 6. Aufl., § 153f Rn. 3; Ambos, in: Mu¨ nchener Kommentar, StGB, § 1 VStGB Rn. 23; offen gelassen BVerfG, NStZ 2011, 353, 354.

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in seinem Sinne. So sind beispielsweise die Legaldefinitionen der Kernverbrechen des IStGH-Statuts für die Auslegung der Kernverbrechen des VStGB im konkreten Fall maßgeblich.47 Fällt mithin auf der zweiten Stufe des Stufenmodells die Entscheidung gegen die Verfolgung eines Völkerrechtsverbrechens, kann ein Drittstaat seine Gerichtbarkeit nicht mehr ausüben. Der Weg über die dritte Stufe ist dann versperrt, sofern nicht neue Erkenntnisse den Sachverhalt in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen. Fällt indes der IStGH auf der zweiten Stufe die Entscheidung für eine Verfolgung des Völkerrechtsverbrechens, so kann er nach dem Stufenmodell vorrangig seine Gerichtsbarkeit ausüben. Auch in diesem Fall wäre der Weg über die dritte Stufe nicht mehr begehbar, sofern der IStGH die Verfolgung dann selbst übernimmt. In diesen Fällen kommt man über die zweite Stufe nicht hinaus. Damit nach dem 3-Stufen-Modell die dritte subsidiäre Stufe nicht häufig leerläuft, muss ein Drittstaat berechtigt sein, Völkerrechtsverbrechen anzuklagen und zu verfolgen, wenn sich ein gegenüber der ablehnenden Entscheidung des IStGH hinreichend veränderter Sachverhalt ergeben hat (und der IStGH dies nicht selbst aufgreift) bzw. der IStGH die für zulässig und nötig erachtete Strafverfolgung nicht selbst übernimmt. Gleiches gilt auch, wenn der IStGH die „situation“ als nicht so gravierend ansieht, dass er selbst eingreifen müsse, sondern einem Drittstaat die Strafverfolgung überlässt. Zudem kann die Strafverfolgung auf Ebene des IStGH durch das Veto anderer Länder scheitern. So scheiterte bspw. bislang die Strafverfolgung von Tätern aus dem Syrien-Konflikt an dem Veto Russlands und Chinas.48 Insgesamt ist die Zulässigkeit der Intervention durch einen Drittstaat unter Berufung auf das Weltrechtsprinzip damit als deutliche Ausnahme einzustufen. Nach der völkerrechtsimmanenten und normativ-rechtsphilosophischen Begründung des Weltrechtsprinzips lässt sich der strikte Ausnahmecharakter dieses Prinzips zumindest rechtfertigen (s. o.). Für das 3-Stufen Modell in diesem Sinn spricht auch der Verweis auf die Rangfolge der Gerichtsbarkeiten in § 153f Abs. 1, Abs. 2 Nr. 4 StPO und die Begründung des Gesetzgebers. Nach dessen Willen soll Vorrang vor der Gerichtsbarkeit eines Drittstaats neben dem IStGH auch der Tatort-, Täter- oder Opferstaat haben. So heißt es wörtlich in der Begründung zum Gesetzentwurf zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches: „In erster Linie sind zur Verfolgung der Tatortstaat und der Heimatstaat von Ta¨ ter oder Opfer sowie ein zusta¨ ndiger internationaler Gerichtsof berufen; die (an sich gegebene) Zuständigkeit von Drittstaaten ist demgegenu¨ ber als ¨ brigen Auffangzusta¨ ndigkeit zu verstehen, die Straflosigkeit vermeiden, aber im U ¨ ¨ die primar zustandigen Gerichtsbarkeiten nicht unangemessen zur Seite dra¨ ngen soll“.49 Dies impliziert zwar auf den ersten Blick eine Zwei-Stufen-Folge mit der Gerichtbarkeit des IStGH und Tatort-, Täter- oder Opferstaats auf der ersten Stufe und 47 OLG Stuttgart (5. Strafsenat), Urt. v. 28. 09. 2015 – 5 – 3 StE 6/10, BeckRS 2015, 118449, Rn. 1228. 48 Safferling/Petrossian, JA 2019, 401 (408). 49 BT-Drs. 14/8524, 37.

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des Drittstaats nachrangig auf der zweiten Stufe. Zum Rangverhältnis von IStGH und Tatort-, Täter- und Opferstaat äußert sich die Gesetzesbegründung freilich nicht explizit. Sie stellt lediglich fest: „dem Tatortstaat und dem Heimatstaat von Ta¨ ter oder Opfer gebu¨ hrt der Vorrang wegen ihres besonderen Interesses an der Strafverfolgung und wegen der regelma¨ ßig gegebenen gro¨ ßeren Na¨ he zu den Beweismitteln“.50 Ob damit der Vorrang gegenüber dem IStGH oder der Vorrang vor der subsidiären Strafverfolgung durch Drittstaaten gemeint ist, bleibt undeutlich. Mit Blick auf Art. 17 Abs. 1a IStGH-Statut liegt es jedoch deutlich näher, die Subsidiarität der Gerichtsbarkeit des IStGH gegenüber jener der Tatort-, Täter- und Opferstaaten anzunehmen. Der deutsche Gesetzgeber hat sich in der Begründung zum Gesetzentwurf zur Einführung eines Völkerstrafgesetzbuches jedenfalls nicht gegen das 3-Stufen-Modell für ein Völkerstrafjustizsystem ausgesprochen. Dessen oben ausgeführte Vorzüge sind unstreitig. Es hat deshalb auch bei uns seinen berechtigten Platz. Doch bleiben die vorstehend erörterten Differenzierungen zu beachten. Die Vollzugspraxis zeigt, dass auf der Grundlage des 3-Stufen Modells in nur sehr seltenen Fällen Drittstaaten von ihrer Strafverfolgungsmöglichkeit Gebrauch gemacht haben. Das überhaupt erste VStGB-Verfahren, das in Deutschland mit einem erstinstanzlichen Urteil abschloss, erging am 28. 9. 2015 vor dem OLG Stuttgart – also 13 Jahre nach Erlass des VStGB – und betraf die Beihilfe zu Kriegsverbrechen an der kongolesischen Bevölkerung und Rädelsführerschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung (FDLR).51 Die Angeklagten hatten 20 Jahre in Deutschland gelebt und teilweise von Deutschland aus agiert, so dass die Strafverfolgungsbehörden in diesem Fall nicht von ihrem Ermessen nach § 153f StPO Gebrauch gemacht haben, die Strafverfolgung einzustellen52. Eine echte Entscheidung zum Weltrechtsprinzip ist hierin nicht zu sehen, da auch die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung gem. §§ 129a,129b StGB verfolgt und angeklagt wurde, die in Tateinheit zu dem Vorwurf der Beteiligung an Kriegsverbrechen stand, und für die das Weltrechtsprinzip nicht gilt. In seiner jüngsten Entscheidung zur Leichenschändung als Kriegsverbrechen im Syrienkonflikt hat der BGH eine Strafbarkeit von Leichenschändungen nach § 8 Abs. 1 Nr. 9 VStGB angenommen.53 Die Besonderheit der Entscheidung liegt darin, dass der BGH eine Annexkompetenz zu § 1 VStGB bejaht hat. Statt eine näher liegende Gesetzeskonkurrenz für die mitverwirklichten Körperverletzungsdelikte anzunehmen, weitet der BGH die Zuständigkeit der deutschen Strafgerichtsbarkeit nach dem Weltrechtsprin-

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BT-Drs. 14/8524, 37. OLG Stuttgart (5. Strafsenat), Urt. v. 28. 09. 2015 – 5 – 3 StE 6/10, BeckRS 2015, 118449. 52 Zwar durchbrechen die §§ 153c und 153 f StPO das Legalitätsprinzip; in Fällen, in denen sich der Beschuldigte aber bereits im Inland aufhält – wofür bereits eine Durchreise ausreichen soll –, besteht jedoch eine Ermittlungs-und Verfolgungspflicht, s. BT-Drs. 14/8524, 38. 53 BGH, Urt. v. 27. 7. 2017 – 3 StR 57/17, NJW 2019, 2627. 51

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zip durch die Annahme einer Annexkompetenz deutlich aus.54 Indem er das Weltrechtsprinzip auf neben den Völkerrechtsverbrechen verwirklichte Delikte erstreckt, verzichtet er auch bezüglich dieser Delikte auf einen Inlandsbezug. Das widerspricht der Beschränkung des Weltrechtsprinzips auf die völkerrechtlichen Kernverbrechen und ist entsprechend kritisch zu sehen. Diese Tendenz der jüngsten Rechtsprechung zielt auf eine Ausweitung des Weltrechtsprinzips, das seiner Art nach bislang subsidiär und in der Praxis eine Ausnahme war. Allerdings können aktuelle Entwicklungen vor allem im Zusammenhang des bewaffneten Konflikts in Syrien dazu führen, dass das VStGB in nationalen Strafverfahren an Bedeutung gewinnt. Ob die Rechtsprechung die Rolle des Weltrechtsprinzips weiter ausdehnen wird, wird die zukünftige Rechtsprechungsentwicklung zeigen.

IV. Zusammenfassende Schlussbetrachtung Ausgangspunkt der Überlegungen war die grundsätzliche Frage, wie weit die Legitimation des universalen Schutzes vor schwersten Menschenrechtsverletzungen reichen soll. Dafür relevant war zum einen die Frage nach den Legitimationsmöglichkeit des Weltrechtsprinzips an sich sowie im Hinblick auf den Tatortstaat, den Täterstaat und den Schutz des Beschuldigten. Zum anderen war die Frage von Bedeutung, welche Stellung das Weltrechtsprinzip im Völkerstrafjustizsystem einnimmt. Die normtheoretische Legitimation des echten Weltrechtsprinzips gelingt gegenüber dem Tatortstaat, dem Täterstaat und dem Beschuldigten auf unterschiedliche Weise. Neben völkerrechtsimmanenten Begründungsansätzen sind rechtsphilosophisch-normative Ansätze zur Legitimationsbegründung sinnvoll. Reinhard Merkel hat diese in Teilen seines Werkes überzeugend entwickelt. Für eine Legitimation der Strafverfolgung aufgrund des Weltrechtsprinzips zieht Merkel die politische Philosophie Thomas Hobbes’ heran. Gegenüber dem Tatortstaat erscheint die Idee Hobbes’ gerechtfertigt, dass ein Staat seine innere Legitimität (gegenüber seiner Bevölkerung) verliere, wenn er seine Stellung als Garant des inneren Friedens missbrauche, die auch zum Verlust seiner äußeren Legitimität gegenüber anderen Staaten führen kann. Ob hingegen diese Idee Hobbes’ ein Legitimationsdefizit eines ius puniendi gegenüber dem Völkerrechtsverbrecher erklären kann, ist fraglich. Hier scheint sich die Legitimationslücke durch einen umfassenden materiellen und formellen Rechtsschutz im Völkerstrafjustizsystem schließen zu lassen. Die Frage nach der Stellung des Weltrechtsprinzips im Völkerstrafjustizsystem führte zu dem im deutschen Recht vorherrschenden 3-Stufen-Modell. Danach darf ein Drittstaat die Strafverfolgung per Weltrechtsprinzip erst betreiben, wenn Tatort-, 54 S. hierzu kritisch Gierhake, Anm. zu BGH, Urt. v. 27. 7. 2017 – 3 StR 57/17, NJW 2019, 2627, 263; vgl. auch Weigend, in: Münchener Kommentar StGB 3. Aufl. 2018, § 2 VStGB Rn. 3, 7; Jeßberger, HRRS 4/2013, 119, 121; NK-StGB/Böse, 5. Aufl. 2017, § 6 Rn. 6 m.w.N.

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Täter- oder Opferstaat dazu nicht bereit oder nicht in der Lage sind und auch der IStGH seine an sich gegebene Zuständigkeit nicht wahrnimmt, etwa aus Überlastungsgründen, nicht wahrnehmen kann oder durch ein Veto an der Strafverfolgung gehindert ist. Keine Drittstaatzuständigkeit besteht dagegen, wenn der IStGH den Tatbestand eines Völkerrechtsverbrechens verneint hat und auch keine neuen Erkenntnisse zu einer hinreichend veränderten Beurteilung geführt haben. Dass damit der Anwendungsbereich des Weltrechtsprinzpips recht beschränkt ist, ist durchaus so gewollt. Zu Recht soll das Weltrechtsprinzip Ausnahmecharakter haben. Gleichwohl hat sich gezeigt, dass das 3-Stufen-Modell weiterer Differenzierung bedarf. Die Gerichtsbarkeit des IStGH auf zweiter Stufe stellt zwar eine erhebliche Hürde dar, die Drittstaaten aber berechtigt sein müssen, zu überwinden.55 Die bislang weitgehende Bedeutungslosigkeit des Weltrechtsprinzips in der Strafverfolgungspraxis dürfte sich dann auch ändern. Freilich bleibt die Situation, dass politisch mächtige Staaten auf internationaler Ebene durch außenpolitischen Druck Drittstaaten von ihrer Jurisdiktionsausübung nach dem Weltrechtsprinzip abhalten können.56 Insgesamt führt sowohl die Stellung des Weltrechtsprinzips im völkerstrafrechtlichen System als auch seine Legitimationsbegründung nur zu einer beschränkten Anwendung dieses Prinzips in – freilich klar konturierten – Ausnahmefällen. Der jüngsten Tendenz der Rechtsprechung, den Anwendungsbereich des Weltrechtsprinzips durch eine fragwürdige Annex-Kompetenz auszuweiten, bedarf es vor diesem Hintergrund nicht.

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Vgl. auch noch die Fälle, in denen die in Rede stehende Tat nicht ausreichend schwer ist, um ein Eingreifen durch den Internationalen Strafgerichtshof zu rechtfertigen (Art. 17 Abs. 1d des IStGH-Statuts). 56 S. zur Schwächung des Weltrechtsprinzips durch eine selektive nationale Strafverfolgung in politisch mächtigen Staaten Weißer, in: Jeßberger/Geneuss, Zehn Jahre Völkerstrafgesetzbuch, 65, 69.

Kollateraltötungen und Optimierungspflichten Von Ulrich Steinvorth Reinhard Merkel hat gezeigt, wie man als „Mitbewerber im Wettstreit um die besseren Argumente“ auf die Öffentlichkeit wirken kann. Er ist selbst ein Beispiel für das, was er den christlichen Morallehrern zu sein empfahl, einer der „regulären Konkurrenten neben anderen, vor allem der Philosophie“. Und für ihn gilt, was er der Moraltheologie bescheinigt: „die Kompetenz eines über Jahrhunderte betriebenen profunden Raisonnements mit(zu)bringen, auf die der allgemeine ethische Diskurs der Gesellschaft nicht ohne Nachteil verzichten könnte“ (2002:17). Mit seiner Kompetenz hat Merkel auf die Öffentlichkeit vor allem durch zwei Aktionen gewirkt. Er verurteilte den von der NATO 1999 geführten Krieg gegen den damaligen Staat Jugoslawien als „illegal, … illegitim und keiner ethischen Rechtfertigung zugänglich“ (2000:66), und er kritisierte das Embryonenschutzgesetz als „Doppelmoral“ und „moralische Hehlerei“ (2002:14). Seine Kritik am Embryonenschutzgesetz halte ich für vorbildlich. Seine Kritik am Kosovokrieg dagegen scheint mir problematisch. Es geht mir nicht darum zu zeigen, dass er legitim war, wie ich selbst meinte. Merkels konkrete Argumente an der Durchführung des Kriegs scheinen mir vielmehr zu Zweifeln an dessen Legitimität zu berechtigen. Vielmehr geht es mir um die Kritik der Absolutheit, mit der Merkel den Krieg für „keiner ethischen Rechtfertigung zugänglich“ behauptete. Dabei teile ich mit Merkel die Kriterien, an denen er Handlungen und Gesetze, den Kosovokrieg und das Embryonenschutzgesetz, moralisch und rechtlich misst. Jedoch weiche ich von einigen seiner Annahmen über die Moral ab, vor allem der, dass die Moral unserem Handeln bedingungslos gültige oder absolute Normen bereitstellt. Diese Annahme teilt Merkel mit Kant. Daher werde ich in diesem Punkt auch Kant kritisieren, kann dies aber hier nur in der Kürze eines Festschriftbeitrags tun, die für eine Kantkritik natürlich nicht ausreicht.

Zu Merkels Moralverständnis Merkel orientiert sich an zwei Kriterien der moralischen Beurteilung gesellschaftlichen und individuellen Handelns, denen auch die meisten Philosophen und Laien folgen. Nach dem ersten Kriterium, das in seinem Urteil über den Kosovokrieg den Ausschlag gibt, ist eine Handlung zu verwerfen, wenn sie einen Unschuldigen verletzt; nach dem zweiten, das in seinem Urteil über das Embryonenschutzgesetz den Ausschlag gibt, ist eine Handlung zu empfehlen, soweit sie Leiden verringert.

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Diese zwei Kriterien entsprechen genau den beiden inhaltlichen Zielen, die die Moral vorschreibt, zumindest wenn wir dem alltäglichen Moralverständnis folgen. Danach verlangt die Moral einerseits, niemanden zu verletzen, und anderseits, allen soweit möglich zu helfen. Auch die allermeisten Philosophen finden in der Moral diese zwei Ziele. Ihre Übereinstimmung verdient Hervorhebung, da sie zur nüchternen Beurteilung von Kants Moraltheorie beiträgt. Kants Moraltheorie aber wird in der folgenden Diskussion der Plausibilität von Merkels Kritik am Kosovokrieg eine Rolle spielen. Daher möchte ich kurz auf das gewöhnliche Moralverständnis und Kants von ihm abweichende Moraltheorie eingehen. Am klarsten hat Schopenhauer das gewöhnliche Moralverständnis artikuliert, als er zwischen dem „hoti“, dem „dass“ oder Inhalt, und dem „dioti“, dem „weil“ der Moral (die er „Ethik“ nennt) unterschied: Das Princip oder der oberste Grundsatz einer Ethik ist der kürzeste und bündigste Ausdruck für die Handlungsweise, die sie vorschreibt … Es ist … das hoti … der Tugend. Das Fundament einer Ethik hingegen ist das dioti der Tugend, der Grund jener Verpflichtung … Die meisten Ethiker verwischen … geflissentlich diesen Unterschied: wahrscheinlich weil das hoti so leicht, das dioti hingegen so entsetzlich schwer anzugeben ist. (1979:43)

Der „Ausdruck, den ich für den allereinfachsten und reinsten halte“, ist folgender Doppelimperativ: Neminem laede; imo omnes, quantum potes, juva (1979: 34 f) – Verletze niemanden, sondern hilf allen, soweit du kannst.

Schopenhauer erklärte auch, wie der Doppelimperativ näher zu verstehen sei. Das Verletzungsverbot ist das Prinzip des erzwingbaren Rechts, das Hilfegebot das Prinzip der vom Recht unterschiedenen nicht erzwingbaren Moralität. Aber er bemühte sich nicht um Belege, dass tatsächlich alle Welt in diesem Doppelimperativ den Inhalt der Moral findet.Er hätte jedoch gute Belege finden können. Denn schon Platon lässt Sokrates beiläufig als eine Selbstverständlichkeit erklären, Das Schlechte ist das, was vernichtet und zerstört, das Gute, was bewahrt und nützt. (Rep. X, 608e, tr. Vretska)

Und Augustin erklärt das zweite von Jesus’ zwei „großen Geboten“ – das Gebot, seinen Nachbarn wie sich selbst zu lieben, nach dem ersten, Gott zu lieben – genau so, dass er als Schopenhauers Quelle erkennbar wird. Jedem sei geboten, so Augustin, primum ut nulli noceat, deinde ut etiam prosit cui potuerit. (Civ. Dei XIX cap. 14; ed. Migne col. 643) erstens niemandem zu schaden, sodann auch zu helfen, wem er helfen kann.

In Konfuzius’ Lehre, ren, Wohltätigkeit, Menschlichkeit, gehöre zu den höchsten Tugenden, wird man ebenfalls Schopenhauer bestätigt finden können. Selbst wenn Konfuzius und Platon im Verletzungsverbot noch nicht das Prinzip des Rechts und im Hilfegebot nicht das Prinzip der nicht erzwingbaren Moralität gesehen

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haben sollten, Schopenhauers inhaltliche Bestimmung der Moral ist schwer abzuweisen. Auch Merkels Auffassung vom Inhalt der Moral stimmt mit Schopenhauers These überein. Der Kosovokrieg ist „keiner ethischen Rechtfertigung zugänglich“, weil er bewusst die Tötung Unschuldiger – „Kollateraltötungen“ – in Kauf nahm; das Embryonenschutzgesetz ist „Doppelmoral“ und verwerflich, weil es Stammzellenforschung verbietet, obgleich solche Forschung niemanden verletzt und die Verringerung unnötigen Leidens verhindert, und doch zugleich Forschung an importierten Stammzellen erlaubt. Anders als einige Philosophen folgt Merkel einer klaren Hierarchie, wenn die beiden Kriterien konfligieren: das Verletzungsverbot hat Vorrang. Auch das entspricht dem von Schopenhauer artikulierten Moralverständnis. Niemand zu verletzen ist das Prinzip der Gerechtigkeit. Sowohl nach dem gewöhnlichen Moralverständnis wie nach den empirische Daten andrer Gesellschaften und Zeiten hat dies Prinzip Vorrang vorm Prinzip der von der Gerechtigkeit unterschiedenen Moralität, dem Prinzip, allen Notleidenden zu helfen, soweit es möglich ist. Daher sticht das Argument, der Kosovokrieg habe von Vergewaltigung, Tötung und Vertreibung bedrohten Albanern geholfen, nicht gegen die Feststellung, der Krieg habe unschuldige Serben getötet.

Worin Merkel vom alltäglichen Moralverständnis abweicht Merkels Kritik des Embryonenschutzgesetzes zeigt, dass er im Hilfegebot nicht eine nur freiwillig zu erfüllende Pflicht sieht, die den Staat nichts angeht. Denn er sagt von den „klinisch-therapeutischen Hoffnungen“, die man in die Stammzellenforschung setzte: Sind solche Chancen auch nur entfernt realistisch, dann gibt es eine gewichtige moralische und daher auch politische Pflicht zu ihrer Förderung. Denn sie sind Chancen der Hilfe für eine unabsehbare Zahl schwerkranker, leidender, sterbender Menschen. (2002:12)

Mit dieser Aussage weicht Merkel vom traditionellen liberalen Pflichtverständnis ab. Nach diesem hat der Staat nur die Rechtspflicht, Unrecht notfalls auch mit Zwang zu verhindern (und muss Unrechttäter bestrafen), aber darf Hilfe nicht erzwingen und Hilfe Verweigernde nicht bestrafen. Der Staat hat die Rechtspflicht, alle Handlungsweisen zu schützen, solange sie nicht jemand Unrecht tun, sei die Handlung eine Hilfeleistung und moralisch gut, oder seien sie wertneutral und nur moralisch zulässig. Doch mit der Annahme einer „politischen Pflicht“, Hilfe für leidende Menschen zu fördern, wenn sie niemanden verletzt, schreibt Merkel dem Staat eine Optimierungspflicht zu, wie ich sie nennen möchte, die Aufgabe, nicht nur Unrecht notfalls mit Zwang zu verhindern, sondern auch, wenn es niemandes Recht verletzt, Hilfe für Notleidende zu fördern. Allerdings erkennt auch der deutsche Staat eine Körperschaft als gemeinnützig, mildtätig oder kirchlich an und begünstigt sie steuerlich, „wenn ihre Tätigkeit darauf

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gerichtet ist“, „die Allgemeinheit“, „Personen“ oder „eine Religionsgemeinschaft, die Körperschaft öffentlichen Rechts ist“, „selbstlos zu fördern“ oder „zu unterstützen“ (Abgabenordnung AO §§ 52 – 54). Sogar in den traditionell liberaleren angelsächsischen Staaten werden charity- und non-profit-Körperschaften steuerlich begünstigt. Aber mit der Annahme einer politischen Pflicht des Staats, Forschung zu fördern, die Leiden verringert, schreibt Merkel dem Staat eine Aufgabe zu, die über das traditionelle liberale Staatsverständnis hinausgeht. Er erwartet vom Staat, nicht nur die Wohltätigkeit seiner Bürger zu schützen und zu fördern, sondern selbst im Wohltun aktiv zu werden. Diese Erwartung spielt heute in den philosophischen und juristischen Überlegungen zu Staatsaufgaben, Menschenrechten und humanitären Interventionen eine wichtige Rolle. Mehr als Philosophen misstrauen jedoch Juristen der Erwartung, der Staat sollte selbst im Wohltun aktiv werden. Aus guten Gründen, da sein Gewaltmonopol den Staat leicht zum Missbrauch seiner Macht verleiten kann. Trotz seiner Kritik am Embryonenschutzgesetz misstraut auch Merkel dieser Erwartung in seiner Kritik am Kosovokrieg. So konnte es zur bemerkenswerten Konstellation kommen, dass Juristen, traditionell eher zu wohlwollendem Urteil über Staatsakte bereit als Philosophen, den Kosovokrieg verurteilten (außer Merkel sei Köhler 2003 genannt), während ihn Philosophen wohlwollender beurteilten (Höffe 2003, Steinvorth 2004, 2005). Die Annahme einer politischen Pflicht des Staats, die Welt zu optimieren, wie ich es nenne, ist zugleich naiv und realistisch. Sie ist naiv, weil der Staat nur eine von skrupellosen Fürsten geschaffene Institution ist, die unter dem Vorwand, Gerechtigkeit durchzusetzen, Gesellschaften beherrscht, und realistisch, weil der Staat nun einmal, wie die Dinge liegen, vielleicht nicht die einzige Institution mit der Macht ist, die Welt zu verbessern, aber doch eine der wenigen. Wenn wir die Gesundheitsbedingungen verbessern wollen, wie können wir da nicht vom Staat verlangen, aktiv zu werden? Wie können wir dem Staat nicht eine politische Pflicht zuschreiben, selbst aktiv zu werden und die Forschung zu fördern, die Leiden verringert? Dieser Überlegung folgt auch Merkel. Aber wenn wir die Selbstbehauptungsbedingungen von Minderheiten verbessern wollen, von Frauen, Kindern, Religionen oder ethnische Minderheiten in einem Staat A, müssen wir da nicht auch den Staaten B, C, D eine politische Pflicht zuschreiben, aktiv zu werden und notfalls Staat A zur Respektierung der Minderheit zu zwingen, soweit ihre Ressourcen den Staaten B, C, D solche Aktivität erlauben? Vor dieser Überlegung warnt Merkel mit guten Gründen. Denn die hier angenommene politische Pflicht gibt dem Staat eine Macht, die er zu leicht missbrauchen kann und, wenn wir nur auf die empirischen Daten blicken, immer wieder missbraucht. Da er grundsätzlich dem Staat eine politische Pflicht zuschreibt, die Pflicht, wie ich es nenne, selbst in der Weltoptimierung aktiv zu werden, erklärt Merkel (gegen Köhler) Notrechte und Nothilfekriege auch ohne Ermächtigung durch den Weltsicherheitsrat für grundsätzlich legitim (2003:30 ff.). Doch er besteht darauf, dass

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eine Nothilfe keine Unschuldige opfern darf. Das scheint ein vernünftiger widerspruchsfreier Weg, an der Idee einer politischen Pflicht des Staats zur Weltoptimierung und seiner Kritik am Embryonenschutzgesetz festzuhalten und zugleich den Kosovokrieg als „keiner ethischen Rechtfertigung zugänglich“ zu verwerfen. Aber gilt das Verbot, Unschuldige zu opfern, so absolut, wie Merkel behauptet? Zum Beleg führt er einen Fall an, in dem wir eine mögliche Ausnahme finden könnten, aber nicht dürfen: Erwägen wir ein pointiertes Beispiel: Hätte ein Hitler-Attentäter, der mit dem Diktator zugleich die Ursache für die drohende Vernichtung vieler Millionen Menschen beseitigt hätte, nicht auch dann richtig gehandelt, wenn er seine Bombe erfolgreich während eines Kindergartenbesuchs Hitlers gezündet und dabei (wie er vorausgesehen hat) zehn oder fünfzehn Kinder mitgetötet hätte? … Die Antwort lautet: nein … Wer das Recht eines Helfers behauptet, Unschuldige zu töten, um viele andere Unschuldige zu retten, behauptet damit zugleich eine Pflicht der Getöteten, ihr Leben zugunsten anderer zu opfern … Wie aber eine solche Pflicht, sein Leben für andere zu opfern, denen man nichts getan hat, nichts tun will und die man weder bedroht noch auch nur kennt, zu begründen sein sollte, ist schlechterdings unerfindlich. Wer dies dennoch behauptet, überprüfe seine Auffassung mit einem sozusagen kantianischen Test: Wäre er bereit, sich selbst und etwa noch seine Familie töten zu lassen, um jemandem wie Slobodan Milosevic die weitere Misshandlung, Vertreibung, Tötung von Albanern unmöglich zu machen. (2003:45 f.)

Ich nehme mit Merkel an, das Recht eines Helfers, Unschuldige zu töten, impliziere eine Pflicht der Getöteten, ihr Leben zugunsten anderer, genauer, anderer in einer sehr viel größeren Zahl, zu opfern. Doch unerfindlich ist es keineswegs, wie eine solche Pflicht begründbar ist: eben mit der viel größeren Zahl der Geretteten. In seiner Begründung seines absoluten Nein auf die Frage der möglichen Rechtmäßigkeit eines Attentats auf Hitler, bei dem zehn oder fünfzehn Kinder mitgetötet würden, verweigert Merkel genau das zu erörtern, worum es geht, nämlich ob Zahlen bei der Tötung Unschuldiger eine Rolle spielen. In seiner Überlegung dafür, das fiktive Hitlerattentat sei zu verwerfen, stützt sich Merkel auf die von Utilitarismuskritikern verfochtene These, töten sei grundsätzlich von sterben lassen zu unterscheiden. Töten sei grundsätzlich unmoralisch, sterben lassen dagegen gewöhnlich moralisch neutral. Viele Philosophen, am wirksamsten vermutlich Philippa Foot und Robert Nozick, haben sich für diese Unterscheidung auf anschauliche Fallbetrachtungen gestützt. Zu den Fallbetrachtungen, die in der Diskussion um die Plausibilität des Utilitarismus zu den wichtigsten wurden, gehört der Vergleich folgender Wahlmöglichkeiten. Ich muss entscheiden (a) entweder ein Boot mit zehn oder eins mit fünf Menschen aus Seenot zu retten, ohne die Möglichkeit, beide zu retten, (b) entweder eine Weiche so zu stellen, dass ein nicht mehr bremsbarer Zug nur fünf Menschen statt der zehn tötet, die ohne meine Weichenstellung getötet würden, oder die Weiche nicht zu betätigen.

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Der Vergleich, so die Utilitarismuskritiker, weckt unsere moralischen Intuitionen, und mit ihrer Hilfe erkennen wir zwei Dinge. Erstens erkennen wir einen moralisch relevanten Unterschied zwischen töten und sterben lassen. Stelle ich die Weiche um, töte ich fünf Menschen und lasse zehn sterben. Rette ich das Boot mit zehn Menschen und lasse die fünf Unglücklichen ertrinken, töte ich nicht; ich lasse sie sterben. Zweitens erkennen wir, dass ich berechtigt bin und vorziehen sollte, die Weiche nicht zu betätigen. Denn so töte ich die fünf Menschen nicht; ich lasse nur zehn andre Menschen sterben. Wie wir auch sagen könnten, ich mache mir meine Hände nicht schmutzig; ich beflecke mich nicht mit Tötungen. Im ersten Punkt wird kaum jemand den Utilitarismuskritikern widersprechen. Es gibt einen Unterschied zwischen töten und sterben lassen, und er ist moralisch relevant. Aber der zweite Punkt ist angreifbar. Meine moralischen Intuitionen sagen mir jedenfalls nicht, ich sollte die Weiche nicht betätigen und zehn Menschen das Leben retten, auch wenn ich so fünf Menschen opfere. Im Gegenteil sagen sie mir, ich dürfe mich meiner Verantwortung nicht entziehen und müsse handeln. Ich mache mich dadurch allerdings schuldig an den fünf unschuldigen Menschen, die ich den zehn Menschen opfere, aber ich würde mich noch schuldiger machen, wenn ich es nicht täte. Ich mache meine Hände schmutzig, aber meine Untätigkeit würde mir noch weniger meine Unschuld erhalten. Utilitarismuskritiker und Merkel als Verfechter des absoluten Verbots, Unschuldige wofür auch immer zu opfern, führen gegen diese Überlegung an, wenn eine kleinere Zahl von Menschen für eine größere Zahl geopfert werden dürfe, dann dürfe auch ein Chirurg einen Gesunden opfern, um mit dessen Organen einer größeren Zahl das Leben zu retten: Welcher Utilitarist möchte denn in einer Welt leben, in der er jederzeit gegen seinen Willen als Organspender für fünf andere zwangsgeschlachtet werden dürfte? Oder eben: in der zur Eliminierung der verbrecherischen Politik von Diktatoren, für die er nichts kann, Bomben auf sein Haus, seine Familie, sein Leben geworfen werden dürften? (2003:47)

Doch Merkel und die Utilitarismuskritiker übersehen den Unterschied zwischen den zwei Welten, die sie hier vergleichen. Eine Welt, in der ich jederzeit als Organspender zwangsgeschlachtet werden darf, ist in der Tat keine Welt, in der jemand leben möchte. Eine Welt dagegen, in der Diktatoren wie Hitler getötet werden dürfen, auch wenn ihre Tötung Unschuldige opfert, ist eine Welt, die nicht offensichtlich schlechter oder verwerflicher ist als eine Welt, in der Hitler nicht so getötet werden darf. Deshalb ist die Antwort auf Merkels abschließende Frage an den Befürworter der Pflicht, für eine größere Zahl zu sterben, nicht so eindeutig, wie er unterstellt: „Wäre er bereit, sich selbst und etwa noch seine Familie töten zu lassen, um jemandem wie Slobodan Milosevic die weitere Misshandlung, Vertreibung, Tötung von Albanern unmöglich zu machen“. Natürlich geht es in der strittigen Pflicht nicht darum, jemandem wie Milosevic etwas unmöglich oder möglich zu machen, sondern um die Be-

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dingungen der moralischen Richtigkeit von Kollateraltötungen. Diese sind nicht so eindeutig, wie Merkel unterstellt. Merkel sagt, dass seine Antwort „mit geläufigen Intuitionen nicht zusammenpasst“ (2003:45). Er kann vielleicht für seine Antwort behaupten, sie appelliere nicht an „geläufige Intuitionen“. Aber an moralische Intuitionen appelliert auch er, nämlich an die, die Utilitarismuskritiker mit dem Vergleich von (a) und (b), der Seenotrettung und der Weichenumstellung, wecken wollen, um die moralische Gleichsetzbarkeit von töten und sterben lassen zu widerlegen. Aber ich kann und sollte diesen Unterschied anerkennen und kann dennoch argumentieren, unter besonderen Umständen sei Töten moralisch besser als Sterbenlassen. Hier ist ein Beispiel. Ein Attentäter droht glaubhaft, alles Leben auf der Welt durch Giftgasbomben zu vernichten, die er über die Erde verteilt hat und mit einem Knopfdruck sprengen kann. Pervers wie er ist, kann er nur durch Folterung eines Kinds vor seinen Augen daran gehindert werden. Nach Merkel ist das Opfer des Kinds absolut verboten. Mir scheinen die moralischen Intuitionen schwerer zu wiegen, die das Opfer, obgleich es offensichtlich größtes Unrecht ist, legitimieren, weil das Sterbenlassen der gesamten Menschheit ein noch größeres Unrecht ist. Noch einmal, mir geht es hier nicht um die Legitimierung des Kosovokriegs, sondern um die Kritik der Absolutheit, die Merkel für das moralische Verbot behauptet, Menschen zu opfern. Es gehört vielmehr, so vermute ich, zur Moral, keine absoluten Imperative zuzulassen. Denn was der Schaden ist, den die Moral verbietet, und was die Hilfe, die sie fordert, lässt sich nicht bedingungslos oder absolut bestimmen, sondern nur bedingt.

Zur Kritik an Kants Moraltheorie Damit widerspreche ich allerdings dem Kern von Kants Moraltheorie, nach der es einen kategorischen, das heißt, unbedingten Imperativ gibt. Dem entspricht Merkels wiederholte Berufung auf Kant. Merkel hat in der Tat eine starke Autorität auf seiner Seite. Ich kann nur dann glaubwürdig an der Absolutheit seiner These rütteln, wenn ich auch an Kants kategorischem Imperativ rütteln kann, den nicht nur Merkel für eine Autorität hält. Dies ist weniger schwer, als es Kants Autorität annehmen lassen kann. Ich kann meine Kantkritik hier jedoch nur andeuten und muss für ausführlichere Argumente auf Steinvorth 2020 verweisen. Kants kategorischer Imperativ verlangt von uns, nur nach verallgemeinerbaren Maximen zu handeln. Diese Handlungsweise setzt Kant mit Moralität gleich. Doch die Moral verlangt nicht, nach verallgemeinerbaren Maximen zu handeln, sondern niemandem zu schaden und jedem zu helfen. Auch nach Kant ist Handeln nach verallgemeinerbaren Maximen nicht das, was das geläufige Moralverständnis erwartet, sondern was die praktische Vernunft verlangt. Im Handeln nach der praktischen Vernunft findet Kant den einzigen Weg, selbstdeterminiert statt naturdeterminiert zu

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handeln. Solches Handeln fordert die praktische Vernunft, da sie Autonomie verlangt. Deshalb nennt Kant den kategorischen Imperativ ein Prinzip der Autonomie und versteht Moral als Produkt der praktischen Vernunft. Kant macht faszinierende Annahmen zur Autonomie und praktischen Vernunft, die auch mir sehr plausibel scheinen. Aber er leitet aus ihnen Annahmen über die Moral ab, die eine verblüffende Konsequenz haben. Für die geläufige Moral ist Freiheit eine Bedingung der Moral, aber nicht identisch mit Moral. Für Kant dagegen ist Moral identisch mit Willensfreiheit oder Autonomie, weil er die Moral als die Gesetzgebung der praktischen Vernunft betrachtet und nicht als ein System von Normen, das der Menschheit bei ihrem Überleben hilft. Praktische Vernunft wiederum ist nach Kant das Vermögen, mit dem wir unsre Handlungen so beurteilen, dass wir uns selbst als ihre Urheber und für sie verantwortlich betrachten können. Daher ist für ihn das Sittengesetz das Prinzip der Autonomie. Daher kann meine Freiheit nicht darin bestehen, auch unmoralisch zu handeln. Daher erklärt Kant paradox, aber konsistent, daß die Freiheit nimmermehr darin gesetzt werden kann, daß das vernünftige Subjekt auch eine wider seine (gesetzgebende) Vernunft streitende Wahl treffen kann, wenngleich die Erfahrung oft genug beweist, daß es gescheht (wovon wir doch die Möglichkeit nicht begreifen können). (Kant 1954:30; Rechtslehre, Einleitung in die Metaphysik der Sitten IV)

Mit andern Worten, wir sind nicht frei, wenn wir unmoralisch handeln; daher auch nicht verantwortlich für unsre unmoralischen Handlungen. Denn unmoralische Handlungen haben nicht „das vernünftige Subject“ zum Urheber, sondern nur das natürliche empirisch erfahrbare Subjekt. Dies ist der kausalen Naturdetermination unterworfen und so wenig verantwortlich für seine Bewegungen wie Planeten oder Billiardkugeln für ihre Bewegungen. Also sind wir nur für unsere moralischen Handlungen verantwortlich. Diese Konsequenz scheint mir ein klarer Fall für eine demonstratio ad absurdum von Kants Moraltheorie zu sein. Wie konnte er trotzdem sich selbst und so viele Kantianer von seiner Theorie überzeugen? Weil er mit seinem kategorischen Imperativ in der Tat für eine plausible absolute Norm argumentiert: für die Norm, mit der eignen Freiheit auch seine Vernunft zu erhalten. Diese Norm verlangt von uns jedoch nicht, moralisch zu handeln, sondern so, dass wir in unserem Leben Sinn und Bedeutung finden können. Eine solche Norm sollte man nicht als moralisch, sondern als metaphysisch verstehen, wie ich Normen nennen möchte, die angeben, wie man Sinn findet. Zugleich ist die Konsequenz aus Kants Moraltheorie, uns für nicht verantwortlich für unsere unmoralischen Handlungen zu erklären, ein Beleg für die Wahrheit der Annahme der geläufigen Moral, nach der Freiheit, oder Autonomie, die Bedingung der Möglichkeit sowohl moralischer wie unmoralischer Handlungen ist und nicht identisch mit Moral. Dies spricht wiederum dafür, dass das Sittengesetz kein Prinzip der Autonomie ist, sondern ein Gesetz, das Schaden verbietet und Hilfe gebietet. Dieses Gesetz ist kein kategorischer, sondern ein bedingter Imperativ, bestimmt durch

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das, was wir, bedingt durch wechselnde Umstände, als Schaden und Hilfe verstehen müssen. Wir können zwar den Doppelimperativ der Moral, nicht zu schaden sondern zu helfen, bedingungslos oder absolut nennen. Aber aus diesem Imperativ lässt sich keine absolut gültige Handlungsanweisung ableiten, weil wir nicht mit unbedingter Gültigkeit ableiten können, was Schaden und was Hilfe ist. Vielmehr ist die Bestimmung, was konkret unter gegebenen Bedingungen Schaden und Hilfe ist, eine der wichtigsten Aufgaben der Moraltheorie und der Gesetzgebung. Die Konsequenz meiner Kritik an Merkels Kritik des Kosovokriegs ist, dass allein sein Hinweis darauf, der Krieg habe Kollateraltötungen und das Opfer Unschuldiger in Kauf genommen, ihn nicht als illegitim ausweisen kann. Vor der Behauptung, er habe ihn als illegitim ausgewiesen, schreckt Merkel jedoch zurück, wenn auch vielleicht nur, um seine Verurteilung des Kosovokriegs am Ende zu verstärken. Denn er sagt: Hier werden nun, stelle ich mir vor, der Realpolitiker und der ihn unterstützende ,realistische‘ politische Philosoph und etwa noch der Völkerrechtler ungeduldig und sagen ungefähr folgendes: ,Tötungen unschuldiger Zivilisten sind in einem modernen Krieg niemals vermeidbar. Wenn es aber kriegerische Aktionen gibt, die als Nothilfe gerechtfertigt sind, dann muss die in solchem Rahmen unvermeidliche Tötung von Zivilisten irgendwie ohne Vorwurf gegen den Kriegführenden hingenommen und wenn schon nicht gerechtfertigt, dann zumindest entschuldigt werden.‘ Dass auch diese Überlegung Hand und Fuß hat, ist nicht zu bestreiten. Da sie mit meinen vorherigen Überlegungen offensichtlich nicht zu vereinbaren ist, präsentiert sie (mir jedenfalls) ein Dilemma, für das ich derzeit keine befriedigende Lösung sehe … Vielleicht enthält alle internationale Politik tatsächlich … ein Element von Tragik. Man kann das allerdings auch profaner … artikulieren, dass Außenpolitik ein ,business of dirty hands‘ sei. Damit bliebe dem Normwissenschaftler aber immer noch die bescheidene Feststellung, dass die Hände eben schmutzig sind. (2003:48 f.)

Diese Feststellung ist in der Tat bescheiden, weil jeder erfahrene Mensch anerkennen wird, dass niemand sein Leben verantwortlich führen kann, ohne seine Hände schmutzig zu machen. Die Frage ist nicht, ob wir unsre Hände schmutzig machen dürfen; die Frage ist, wie schmutzig wir sie machen dürfen. So gefragt ist die Antwort, die Opferung Unschuldiger sei absolut verboten, von vornherein unbefriedigend.

Merkels konkretere Kritik am Kosovokrieg und ein möglicher Ausweg aus seiner Ratlosigkeit Tatsächlich begnügt sich Merkel auch nicht mit dem Hinweis auf ein kategorisches Verbot, Unschuldige zu opfern. Zusätzlich konzentriert er seine Kritik auf eine Besonderheit des Kosovokriegs, die ,neue‘, ,elegante‘, ,chirurgische‘, auf der eigenen Seite ,opferlose‘ Kriegsart (und was dergleichen deplazierte Kennmarken sonst sind) – nämlich die Bombardierung nicht nur der

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Militär-, sondern der gesamten Nervenstruktur eines Landes aus großen, für die Luftabwehr unerreichbaren Höhen. Das ist ein prinzipiell und offensichtlich verwerfliches Verfahren. Die militärische ,Feigheit‘, die möglichst jedes Opfer an Menschenleben auf der eigenen Seite vermeiden will, ist im Grundsatz selbstverständlich vollkommen vernünftig und richtig, ja normativ geboten … Wer aber jemandem anderen helfen will, indem er zur Behebung von dessen Not unbeteiligte Dritte mit ihrem Leben bezahlen lässt, obwohl er dies durch Inkaufnahme eigener Lebens- und Leibesrisiken vermeiden könnte, folgt einer schäbigen Maxime; er desavouiert noch die Norm selbst, auf die er sich für sein Handeln beruft.“ (2003:50)

Diese Kritik ist völlig berechtigt, ebenso wie Merkels moralische Entrüstung in seiner Beschreibung der Handelsweise der NATO als einer schäbigen Maxime folgend. Merkel hat auch recht, den Spiegel-Journalisten anzuprangern, der Merkels „Satz, man dürfe nicht Unschuldige töten, um andere Unschuldige zu retten, schlicht für absurd erklärt(e) (vgl. Spiegel Nr. 21, 1999, S.125)“ und auf Nachfrage, „aus welchen Gründen denn die Norm einmal gelte und einmal nicht, im Tone unbeirrter Überzeugung erwidert(e), weil Politik so nicht funktioniere“ (2003:49 n35). Der Spiegel-Journalist war offensichtlich inkonsistent, aber dass Politik nicht so funktioniert, wie kantianische Rechtsphilosophen es wünschen, darin hatte er recht. Auch Merkel räumt dies ein, wenn er am Ende den Leser und sich selbst ratlos lässt, wie Rechtsphilosophie und Völkerrecht auf Verbrechen wie Völkermord reagieren sollten, die zwar eine humanitäre Intervention nahelegen, aber das Verbrechen nur durch eine militärische Intervention beenden können, die „Lebens- und Leibesrisiken“ der eingreifenden Seite in Kauf nimmt. Daher möchte ich abschließend einen Vorschlag skizzieren, dieser Ratlosigkeit zu begegnen. Er deckt sich weitgehend mit Überzeugungen Merkels; daher vermute ich, Merkel könnte ihm zustimmen. Mein Vorschlag besteht in (A) einem Plädoyer dafür, nur Gründe als zu humanitärer Intervention berechtigend anzuerkennen, die dazu auch verpflichten, (B) einem Hinweis auf eine Möglichkeit militärischer Intervention, die Lebens- und Leibesrisiken der intervenierenden Seite in Kauf nimmt, ohne das Recht der intervenierenden Soldaten „auf die Unversehrtheit von Leib und Leben“ (so auch Merle 2003:58) zu verletzen. (A) Nur die „massive“ Verletzung eines „fundamentalen“ Menschenrechts wie ein Völkermord kann nach verbreiteter Auffassung zu humanitärer militärischer Intervention berechtigen (vgl. Merle 2003:67). Merkel spricht von „der erforderlichen (Mindest-)Qualität der verteidigten Menschenrechte und der erforderlichen (Mindest-)Quantität ihrer Verletzungen“ (2003:35). Als „eindeutig“ gelten „der Genozid an den Juden, der Fall Ruanda … oder (die) mit Mordaktionen vermischte organisierte Vertreibung einer Gruppe vom Territorium“ wie der Genozid „an den in die Wüste getriebenen Armeniern“ (Köhler 2003:96, vgl. Merkel 2003:38). Wie immer man die Legitimitätsbedingungen militärischer humanitärer Intervention definiert, wenn man diese nicht auch zu Bedingungen erhebt, die zu militärischer

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Intervention verpflichten, dient die Intervention nicht allein dem Schutz von Rechten oder des Völkerrechts oder des Rechts überhaupt, sondern auch einem Eigennutzen der Interventionsmächte. Sowenig aber auf nationaler Ebene das Eingreifen des Staats zur Durchsetzung des Rechts mit einem zusätzlichen Interesse verbunden sein darf, sowenig auf internationaler Ebene das Eingreifen der internationalen Gemeinschaft zum Schutz des Rechts. Daher müssen die Bedingungen, die zu humanitärer Intervention berechtigen, zu ihr auch verpflichten, insbesondere die Bedingungen zu einer militärischen humanitären Intervention. (B) Die Massaker in Ruanda werden allgemein als ein Fall anerkannt, der eine militärische humanitäre Intervention rechtfertigt. Dass sie trotzdem nicht erfolgte, gilt als Versagen der internationalen Staatengemeinschaft, die zum Schutz „massiver“ und „fundamentaler“ Menschenrechtsverletzungen bereit ist, und der Vereinten Nationen, die zu ihrem Schutz eingerichtet wurde. Eine militärische humanitäre Intervention blieb aus, weil weder die UNO noch eine andere Institution bereit war, das Risiko für Leib und Leben der intervenierenden Soldaten zu tragen. Das ist erstaunlich, weil eine der in den letzten Jahrzehnten entstandenen und oft beklagten privaten und profitorientierten Militärfirmen (PMCs) sich zur Intervention bereit erklärte. Der damals amtierende UNO-Generalsekretär lehnte das Angebot ab, weil er den Einsatz privater Firmen für unvereinbar mit dem Ziel hielt, das Völkerrecht zu schützen (McFate 2014:155, 164). Mit dieser Auffassung stand er nicht allein. Merle etwa nennt zwar „eine Interventionstruppe von freiwilligen Soldaten“ eine „unproblematische Lösung“ des Problems der Gefährdung intervenierender Soldaten, aber hält sie für „aus organisatorischen Gründen kaum denkbar“ und fügt hinzu: „Denn Nicht-Regierungsorganisationen dürften wohl an der humanitären Intervention teilnehmen, jedoch nicht an ihrem militärischen Teil!“ (2003:59). Der Grund dieser Auffassung ist vermutlich die Überzeugung, ebenso wie auf nationaler müsse es auf internationaler Ebene ein Gewaltmonopol geben, genauer eine und nur eine Instanz, die das Recht hat, über (1) die Legitimität des Gebrauchs von Gewalt, (2) deren Einsatz in jedem bestimmten Fall und (3) ihre Durchführung zu entscheiden. Das Gewaltmonopol wird gewöhnlich dem Staat zugeschrieben, ohne zugleich anzugeben, warum oder unter welchen Bedingungen es ihm zukommen sollte. Der Grund ist, dass das Gewaltmonopol sicher stellen soll, dass die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht eindeutig und von der Allgemeinheit, dem Allgemeinwillen oder dem Gemeinwohl tragbar ist, die der Staat vertreten soll. Bei einem Auftrag der UNO an eine private Militärfirma würden Bedingungen (1) und (2) zwar eingehalten, nicht aber Bedingung (3). Mir scheint dieser Punkt jedoch für die grundsätzliche Ablehnung des Einsatzes profitorientierter Firmen weder auf nationaler noch internationaler Ebene auszureichen. Bedingung (3) des Gewaltmonopols kann in der Tat dann das Gewaltmonopol der Allgemeinheit gefährden, für die der Staat und die internationale Staatengemeinschaft zum Schutz des Rechts stehen, wenn die Militärfirma zum Monopolisten auf

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dem „Markt für Gewalt“ wird, der in den letzten Jahrzehnten entstanden ist (Avant 2007:441). Solange jedoch die Militärfirmen mit andern konkurrieren und die Käufer der Gewalt über Bedingungen (1) und (2) entscheiden, ist das Gealtmonopol der Allgemeinheit nicht gefährdet. Es liegt an den heutigen Staaten, der UNO und der internationalen Staatengemeinschaft, die zum Schutz des Rechts bereit sind, sich diese Freiheit zu erhalten. In diesem Fall kann der Kauf der Gewalt von Militärfirmen das Problem lösen, Soldaten einen militärischen Einsatz zu befehlen, bei dem sie Leib und Leben riskieren. Wenn der Einsatz einer PMC Massaker wie die in Ruanda verhindern kann, scheint er mir moralisch geboten. Statt zu Konkurrenten mit Staaten um das Gewaltmonopol würden so eingesetzte PMCs zu einem Mittel, mit dem Staaten ihren Optimierungspflichten nachkommen. Zugleich würden sie damit dem Verletzungsverbot entsprechen, dem Prinzip des erzwingbaren Rechts, dessen Erzwingung als erstes Ziel jeder Staatlichkeit anerkannt ist und ohne dessen Verfolgung weder ein Nationalstaat noch eine internationale Staatlichkeit die Allgemeinheit vertreten kann. Die Staaten würden eine Rechtfertigung ihrer Existenz liefern, ebenso wie eine Rechtfertigung ihres Anspruchs, die Allgemeinheit zu vertreten. Sie würden Gewalt vermindern. Literatur Augustinus: De Civitate Dei. In Documenta Catholica Omnia (ed. Migne), online 2006, http:// www.documentacatholicaomnia.eu/04z/z_0354-0430__Augustinus__De_Civitate_Dei__ MLT.pdf.html Avant, Deborah: „Selling Security: Trade-Offs in State Regulation of the Private Security Industry“, in: Jäger, Thomas/Gerhard Kümmel (Hg.), Private Military and Security Companies. Chances, Problems, Pitfalls and Prospects. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007, 419 – 42 Beestermöller, Gerhard (Hg.): Die humanitäre Intervention – Imperativ der Menschenrechtsidee? Rechtsethische Reflexionen am Beispiel des Kosovo-Krieges. Stuttgart: Kohlhammer 2003 Höffe, Otfried: „Humanitäre Intervention? Rechtsethische Überlegungen“, in: Beestermöller 2003, S. 11 – 28 Kant, Immanuel: Metaphysik der Sitten. Hg. Vorländer. Hamburg: Meiner 1954 Köhler, Michael: „Zur völkerrechtlichen Frage der ,humanitären Intervention‘“, in: Beestermöller 2003, S. 75 – 100 McFate, Sean: The Modern Mercenary. Private Armies and What They Mean for World Order. New York: Oxford UP 2014 Merkel, Reinhard: „Das Elend der Beschützten. Rechtsethische Grundlagen der sog. Humanitären Intervention und die Verwerflichkeit der NATO-Aktion im Kosovo-Krieg“, in: R. Merkel (Hg.), Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht. Frankfurt: Suhrkamp 2000, S. 66 – 98

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Merkel, Reinhard: Forschungsobjekt Embryo. Verfassungsrechtliche und ethische Grundlagen der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen. München: dtv 2002 Merkel, Reinhard: „Können Menschenrechtsverletzungen militärische Interventionen rechtfertigen? Rechtsethische Grundlagen und Grenzen der ,humanitären Intervention‘ am Beispiel des Kosovo-Kriegs“, in: Beestermöller 2003, S. 29 – 52 Merle, Jean-Christophe: „Neue Beweislast und neue Prinzipien für militärische humanitäre Interventionen“, in: Beestermöller 2003, S. 53 – 73 Platon: Der Staat. Hg. Karl Vretska. Stuttgart: Reclam 1961 Schopenhauer, Arthur: Preisschrift über die Grundlage der Moral. Hamburg: Meiner 1979 Steinvorth, Ulrich: „Zur Legitimität der Kosovo-Intervention“, in: Georg Meggle (Hg.), Humanitäre Interventionsethik: was lehrt uns der Kosovo-Krieg? Paderborn: Mentis, 2004, S. 19 – 30. Engl. tr: „On the legitimacy of der NATOs Kosovo intervention“, in: Georg Meggle (Hg.), Ethics of humanitarian interventions. Frankfurt: Ontos-Verl., 2004, S. 279 – 291 Steinvorth, Ulrich: „Justifications for and limits to military violence“, in: Oliver Jütersonke/ Peter Schaber (Hg.), Justifying the Use of Force. Ethical Considerations and Humanitarian Intervention. PSIS Special Study Number 6, 2005, S. 83 – 107. Tr. O. Jütersonke und Maya Brehm Steinvorth, Ulrich: A Secular Absolute. How Philosophy Discovered Authenticity. New York: Palgrave Macmillan 2020

Tödliche „Kollateralschäden“ durch militärische Aktionen: zu deutscher Mitverantwortung für ausländische Drohneneinsätze Von Albin Eser*

I. Vorbemerkung Zu den Themen, mit denen sich Reinhard Merkel, dem dieser Beitrag zu seinem 70. Geburtstag gewidmet ist, wiederholt beschäftigt hat, gehört auch das Töten im Krieg, wie insbesondere die – oft verharmlosend als „Kollateralschaden“ bezeichnete – Tötung von Zivilisten. Auch wenn der grundlegende Beitrag des Jubilars dazu bereits mehrere Jahre zurückliegt,1 lohnt es sich, darauf zurückzukommen. Und zwar schon aus konkretem Anlass, hat es doch vor kurzem erstmals ein deutsches Obergericht gewagt, die von militärischen Drohneneinsätzen verursachte Tötung von unbeteiligten Zivilisten am Verfassungs- und Völkerrecht zu messen und dabei, weil von Ramstein aus mitgesteuert, auch die Frage nach deutscher Mitverantwortung aufzuwerfen.2 Doch so wenig in dieser Entscheidung auf die von Merkel aufgezeigten rechtsethischen Grundlagen und Grenzen tödlicher Nebenwirkungen humanitärer Interventionen Bezug genommen wurde, so wenig tiefgehend ist das Oberverwaltungsgericht bis zur Grundfrage legitimen Tötens im Krieg vorgedrungen.3 Nachdem dieser Verzicht auf eine radikale Hinterfragung militärischer Tötungslizenz auch in anderen neueren Veröffentlichungen zu vermissen ist, erscheint es mir angebracht,

* Professor Dr. Dr. h.c. mult., M.C.J., Direktor em. am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg. 1 Reinhard Merkel, Die „kollaterale“ Tötung von Zivilisten im Krieg. Rechtsethische Grundlagen und Grenzen einer prekären Erlaubnis des humanitären Völkerrechts, in: Ulrich Bielefeld/Heinz Bude/Bernd Greiner (Hrsg.), Gesellschaft – Gewalt – Vertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag, Hamburg 2005, S. 204 – 228; in überarbeiteter Fassung in JuristenZeitung (JZ) 2012, 1137 – 1145, sowie in einer weiteren Überarbeitung in: Prittwitz/ Bauermann/Günther/Jahn/Kuhlen/Merkel/Nestler/Schulz (Hrsg.), Rationalität und Empathie. Kriminalwissenschaftliches Symposion für Klaus Lüderssen zum 80. Geburtstag, Nomos Baden-Baden 2014, S. 223 – 247. Zu weiteren thematisch einschlägigen Veröffentlichungen von Merkel vgl. die Nachweise in den Fn. 7, 12, 36, 57, 68. 2 OVG Münster – 4 A 1361/15 (Fall Jemen) – Urteil vom 19. 03. 2019. 3 Vgl. dazu meinen Leserbrief „Drohneneinsätze nicht einfach hinnehmen“ in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. April 2019.

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mich in Fortführung eigener Vorarbeiten4 erneut auf die Suche nach einer möglichen Legitimationsgrundlage von Tötung im Krieg zu machen und dabei insbesondere die Frage nach deutscher Mitverantwortung für ausländische Militäraktionen zu stellen. Dies möchte ich in drei Schritten tun: Zunächst zur grundsätzlichen Frage, ob und inwieweit sich durch den schlichten Verweis auf Krieg das Töten von Menschen legitimieren lässt, wobei dies nicht zuletzt im Licht der Begründungsversuche von Merkel betrachtet werden soll (II.). Sodann werden insbesondere die tödlichen Kollateralschäden ferngesteuerter Drohneneinsätze zu beleuchten sein (III.). Abschließend bleibt zu untersuchen, inwieweit sich daraus auch eine deutsche Mitverantwortung – von welch unterschiedlicher Art auch immer – ergeben kann (IV.). Wie sich von selbst versteht, wird all das in diesem Rahmen nur ansatzweise zu bewältigen sein.

II. Mangelnde Legitimationsbasis von Tötung im Krieg Auch wenn es als ein Don Quijottischer Kampf gegen Windmühlen erscheinen mag, gilt es, gegen die als selbstverständlich hingenommene Meinung anzurennen, wonach im Krieg alles erlaubt sei, was nicht ausdrücklich verboten ist – mit der Folge, dass, um ein ganz aktuelles Beispiel zu nennen, die kriegerisch motivierte Einrichtung kollateral todbringender autonomer Waffen, weil bislang nicht verboten, als erlaubt und demzufolge als straflos anzusehen ist.5 Demgegenüber ist einmal mehr die mangelhafte Rechtsbasis dieser Praxis zu monieren und auf eine klare positive Rechtsgrundlage hin zu insistieren. Wenn man sich vor Augen führt, dass ein „normaler“ Totschlag, sofern nicht konkret gerechtfertigt, selbstredend als rechtswidrig zu verstehen ist, kann man sich nur wundern, mit welcher Nonchalance Töten im Krieg, soweit nicht ausdrücklich verboten, grundsätzlich als rechtmäßig hinzunehmen sei, ohne dass es dafür einer besonderen Begründung bedürfe.6 Von einer solchen grundsätzlichen Tötungslizenz 4 Albin Eser, Rechtmäßige Tötung im Krieg: zur Fragwürdigkeit eines Tabus, in: Dieter Dölling/Bert Götting/Bernd-Dieter Meier/Thorsten Verrel (Hrsg.), Verbrechen – Strafe – Resozialisierung. Festschrift für Heinz Schöch, Berlin 2010, S. 461 – 480 = www.freidok.uni-frei burg.de/volltexte/9710; ders., Tötung im Krieg: Rückfragen an das Staats- und Völkerrecht, in: Ivo Appel/Georg Hermes/Christoph Schönberger (Hrsg.), Öffentliches Recht im offenen Staat. Festschrift für Rainer Wahl zum 70. Geburtstag. Duncker & Humblot, Berlin 2011, S. 665 – 687 = www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/9714; ders., Tötung im Krieg: auf der Suche nach einer Legitimationsgrundlage, in: Martin Löhnig/Mareike Preisner/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Krieg und Recht. Die Ausdifferenzierung des Rechts von der ersten Haager Friedenskonferenz bis heute. Edition Rechtskultur, Regenstauf 2014, S. 239 – 254 = www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/9722; ders., Killing in War: Unasked Questions – IllFounded Legitimisation, in: Criminal Law and Philosophy (2018), 12: 309 – 326 = http://link. springer.com/article/10.1007/s11572-017-9426-9. 5 Vgl. Silja Vöneky, „Es gibt die große Gefahr einer Verantwortungslücke“, in: Badische Zeitung vom 11. Juli 2019, S. 24. 6 Vgl. den Überblick über die gängige Lehrbuch- und Kommentarliteratur in Eser (o. Fn. 4), Schöch-FS S. 443 ff. sowie (mit Ergänzungen) Wahl-FS S. 667 ff. Obwohl dieser

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im Krieg dürfte, um dies kurzum an Rechtsprechungspraxis zu demonstrieren, nicht nur der Einstellungsbeschluss des Generalbundesanwalts im Kundus-Fall ausgegangen sein,7 vielmehr sieht sich die grundsätzliche Zulässigkeit von Tötungen im Krieg auch neuerdings vom OVG Münster nicht infrage gestellt. Fragt man sich, wie es zur Annahme einer grundsätzlichen – nämlich nicht begründungs-, sondern allenfalls einschränkungsbedürftigen – Tötungslizenz im Krieg kommen konnte, so ist an verschiedenartige Hypothesen zu denken. Die sozialpsychologisch einfachste Erklärung ist die, dass man, falls man nicht hoffnungslos lebensfremd erscheinen will, Krieg als ein menschheitsgeschichtliches Phänomen – und damit unvermeidlich verbundenen Todesopfern – als ein nicht weiter zu hinterfragendes Tabu meint akzeptieren zu müssen. Wenn demzufolge, wie bereits von Marcus Tullius Cicero zur Verteidigung des Volkstribunen Milo wegen der Ermordung seines Gegners Clodius vorgetragen, im Krieg die Gesetze zu schweigen haben8 und dies von Thomas Hobbes als ein „fond saying“ bezeichnet werden konnte,9 so liegt das auf der gleichen Linie, auf der sich – wie Jan-Philipp Reemtsmas Kriegsstudie von Reinhard Merkel gedeutet – „die moderne Kollektivseele auf dem unvollendeten Weg ihrer Zivilisierung seit eh und je mit einer normfeindlichen Sphäre so gewaltigen Ausmaßes wie der des Krieges zu arrangieren weiß“.10 Seitdem es allerdings nicht mehr als menschenrechtlich tolerabel erscheint, den Krieg samt damit verbundenen tödlichen Folgen in derart radikaler und umfassender Weise als dem Recht völlig entzogen zu sehen, gibt es mehr oder weniger weitgehende Differenzierungs- und Eingrenzungsversuche, von denen hier lediglich die zwei wichtigsten angesprochen seien. So erstens die Unterscheidung zwischen dem – nach anglo-amerikanischer Terminologie sogenannten – „law enforcement paradigm“ und dem „war paradigm“: Während auf tödliche Aktionen, die in die „rubric of criminal law“ gehören, das allgemeine Strafrecht anwendbar sein soll, sollen Tötungen Überblick schon rund zehn Jahre zurückliegt, ist inzwischen kaum ein Meinungsumschwung zu konstatieren. Auch soweit gelegentlich auf meine Infragestellung mangelnder Legitimation von Tötung im Krieg hingewiesen wird (wie etwa von Detlev Sternberg-Lieben, in: Schönke/ Schröder, StGB-Kommentar, 30. Aufl. München 2019, Vor § 32 Rn. 91 ff. oder Philip Kunig, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz, 6. Aufl. München 2012, Art. 2 Rn. 44), werden daraus kaum Konsequenzen gezogen. Als bemerkenswerte Ausnahme sei beispielhaft hingewiesen auf Markus Löffelmann, Rechtfertigung gezielter Tötungen durch Kampfdrohnen?, Juristische Rundschau (JR) 2013, 496 – 513 (507 f.), mit dem ich mich hinsichtlich der von ihm geforderten Anpassung der Schnittstelle zwischen Völkerrecht und Strafrecht durchaus einig sehe. 7 Einstellungsverfügung des Generalbundesanwalts im Ermittlungsverfahren gegen Oberst Klein – 3 BJs 6/10-4 vom 19. 04. 2010, veröffentlicht in: Neue Zeitschrift für Wehrrecht (NZWehrR) 2010, S. 172 – 174. – Zur Kritik von Reinhard Merkel, Die Schuld des Oberst, in: die Zeit, 21. 01. 2010 Nr. 04: „Die Tötung von Zivilisten im Krieg ist kaum strafbar – aber dennoch Unrecht“, vgl. auch u. IV. 3. zu Fn. 115. 8 „Silent enim leges inter arma“: M. Tulli Ciceronis Pro T. Annio Milone Oratio, Clarendon Press, 1895, Ch. IV no. 11. 9 Thomas Hobbes, On the Citizen, (1642) Cambridge 1998, Chap. V, para. 2. 10 Merkel (Fn. 1), JZ 2012, 1137.

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in der „rubric of war“ nach den Regeln des humanitären Völkerrechts zu behandeln sein.11 Was dabei auf den ersten Blick harmlos klingen mag, hat jedoch gravierende Folgen: Wenn beispielsweise Drohneneinsätze nach dem „law enforcement paradigm“ zu behandeln sind, ist jedenfalls die Tötung von unschuldigen Zivilisten als tatbestandsmäßig im Sinne des allgemeinen Strafrechts (wie im deutschen Recht nach § 212 StGB, wenn nicht sogar wegen Gemeingefährlichkeit nach § 211 StGB) und demzufolge als rechtfertigungsbedürftig anzusehen. Sollen solche Tötungen dagegen, weil militärisch veranlasst, unter die „rubric of war“ fallen, seien sie, soweit nicht unverhältnismäßig, nach humanitärem Völkerrecht (wie etwa gemäß Art. 51 Abs. 5 (b) Zusatzprotokoll I zu den Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte vom 12. August 1949) nicht verboten und sollen demzufolge auch keiner Rechtfertigung nach dem allgemeinen Strafrecht bedürfen. Ein zweiter Schritt weg von der einstmals totalen Tötungslizenz mittels simpler Berufung auf Krieg ist in der Etablierung der internationalen Strafgerichtsbarkeit zu sehen. Seit den Internationalen Militärtribunalen von Nürnberg und Tokio nach dem Zweiten Weltkrieg – mit regionaler Reichweite fortgeführt mit den Internationalen Strafrechtshöfen für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda sowie schließlich, wenngleich mit bedauernswerten Lücken, universalisiert durch die multilaterale Einrichtung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag – sind bestimmte Verletzungen des ius in bello als Völkerrechtsverbrechen pönalisiert (wie insbesondere in der detaillierten Auflistung von Kriegsverbrechen in Art. 8 des Rom-Statuts). Doch so begrüßenswert solche Einschränkungen tödlicher Militäraktionen auch sein mögen, ist damit die traditionelle Tötungslizenz im Krieg keineswegs grundsätzlich aufgehoben. Ganz im Gegenteil: Wenn nach den Statuten der Internationalen Strafgerichtsbarkeit nur vereinzelte Verletzungen des Kriegsrechts strafbar sein sollen, bleibt Krieg als Tötungsbefugnis so lange erlaubt, als nicht die Schwelle zu einem völkerstrafrechtlichen Kriegsverbrechen überschritten wird. Und wenn nach der im Völkerrecht vorherrschenden Lehre und Praxis im Krieg alles erlaubt sein soll, was nicht ausdrücklich durch humanitäres Völkerrecht verboten ist, wenn also aus dem Nichtverbotensein einer tödlichen Kriegshandlung auf deren Erlaubtheit soll geschlossen werden können, dann wird die angebliche Humanisierungsabsicht des humanitären Völkerrechts geradezu in ihr Gegenteil verkehrt: indem der bis dahin lediglich gewohnheitsrechtlich angenommenen Tötungslizenz im Krieg durch einen Umkehrschluss von nichtverboten als erlaubt eine scheinbare Rechtsgrundlage verschafft wird. Dass dieser Schachzug nicht nachvollziehbar ist, dazu mag kurz zusammenfassend auf einige bereits an anderen Stellen näher erläuterte Einwände hingewiesen sein. Dabei bleibt von vornherein im Auge zu behalten, dass infolge des in bewaffnete 11

Näher dazu wie auch zum Folgenden Eser (Fn. 4), CrimLaw&Phil 2018, 310 ff.

Tödliche „Kollateralschäden“ durch militärische Aktionen

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Konflikte aller Art ausufernden Kriegsbegriffs12 die Grenzlinie zwischen der allgemeinstrafrechtlichen „rubric of criminal law“ und der völkerrechtlich lizenzierenden „rubric of war“ immer unschärfer wird und selbst bei den der letzteren unterfallenden tödlichen Aktionen unklar sein kann, ob diese, wenn und weil nach humanitärem Völkerrecht verboten, auch strafbar sein können. Sollen sie gleichwohl zu rechtfertigen sein, so scheinen sich zunächst allgemeinstrafrechtliche Rechtfertigungsgründe anzubieten. Solche aber gibt es, sofern man sich nicht mit vordergründigen Annahmen begnügen will, nicht einmal zwischen Kombattanten, ganz zu schweigen von einer allgemeinstrafrechtlich noch weniger begründbaren Rechtfertigung der Tötung von unbeteiligten Zivilisten.13 Auch aus verfassungsrechtlichen Ermächtigungen ist schwerlich eine allgemeine Erlaubnis zur Tötung im Krieg, sofern nicht ausdrücklich verboten, abzuleiten. Soweit man dies mit einem Verweis auf die der Bundesrepublik in Art. 87a GG eingeräumte Kompetenz zur Aufstellung und zum Einsatz von Streitkräften meint begründen zu können, wird übersehen, dass mit dieser Ermächtigung keineswegs Eingriffsbefugnisse in individuelle Grundrechte begründet werden, die über bereits dort vorgesehene Schutzschranken hinausgehen würden. Das aber heißt gerade für das durch Tötung zutiefst betroffene Recht auf Leben, dass in dieses „nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden“ darf (Art. 2 Abs. 2 GG) – mit der Folge, dass diesem formalgesetzlichen Erfordernis kaum mit schlichter Umdeutung eines fehlenden Tötungsverbots in eine positive Tötungserlaubnis zu genügen ist.14 Diesem Mangel einer positiven – und damit einer nicht negativ durch einen Umkehrschluss aus einem fehlenden Verbot abgeleiteten – Tötungsbefugnis im Krieg ist auch nicht durch die übliche Berufung auf Völkerrecht abzuhelfen. Selbst wenn etwa aus Art. 22 der Haager Landkriegsordnung, wonach „die Kriegführenden kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Feindes (haben)“, zu entnehmen ist, dass dabei offenbar von einer der Beschränkung vorausliegenden Verletzungsbefugnis bis hin zu möglicher Tötung von Menschen ausgegangen wird, oder selbst wenn in sonstigen internationalen Abkommen partiell nur besonders unmenschliche Tötungsmittel verboten oder lediglich bestimmte Exzesse gegenüber 12 Wie insbesondere gegenüber der Ausweitung auf Terrorismusbekämpfung auch kritisiert von Reinhard Merkel, Frankreichs Terrorkampf: Wen sollen wir denn da bekriegen?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. 11. 2015. 13 Näher zu diesen – weder im Schrifttum noch in der Rechtsprechung ernsthaft wahrgenommenen – allgemeinstrafrechtlichen Rechtfertigungsmängeln Eser (Fn. 4), Schöch-FS S. 464 ff., Wahl-FS S. 667 ff., CrimLaw&Phil 2018, 313 ff.; speziell zur fragwürdigen Legitimierung „kollateraler“ Tötung von Zivilisten vgl. u. III. 14 Näher zu diesen verfassungsrechtlichen Aspekten Eser (Fn. 4), Wahl-FS S. 671 ff., Krieg und Recht S. 244 ff., CrimLaw&Phil 2018, 316 ff. – Soweit in meinen deutschen Publikationen auf die Menschenwürde Bezug genommen wird (wie in Wahl-FS S. 672 bzw. in Krieg und Recht S. 245), bleibt klarzustellen, dass Art. 2 Abs. 2 GG nicht nur für den Umfang des Lebensschutzes, sondern auch, wie in der englischen Version unmissverständlich zum Ausdruck gebracht (CrimLaw&Phil 2018, 317), für Gegenstand und Maß der Menschenwürde bestimmend ist (BVerfGE 88, 203, 251).

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der Zivilbevölkerung untersagt werden sollten, ohne damit das Töten als solches auszuschließen, so mögen solche Schlussfolgerungen zwar logisch korrekt, nicht aber auch normativ vertretbar sein. Denn dies wären sie nur dann, wenn durch den Verzicht auf ein Verbot eine bereits bestehende Handlungsfreiheit gewahrt bliebe. Das aber wäre im Hinblick auf die Garantie des Lebens nur dann der Fall, wenn die Tötung menschlichen Lebens zur allgemeinen Entfaltungsfreiheit gehören würde. Eine solche weitreichende primäre Tötungsfreiheit, wie sie sich vielleicht noch Thomas Hobbes vorgestellt haben mag, wäre jedoch schwerlich mit allgemeinen Rechtsüberzeugungen vereinbar, wie insbesondere nicht mit modernen Menschenrechten und deren Höchstrecht auf Leben. Daher ist es nicht das Recht auf Leben, sondern dessen Verletzung, wofür es einer Rechtfertigung bedarf. Kurzum: da die Tötung von Menschen grundsätzlich verboten (und dadurch tödliche Freiheitsentfaltung von vornherein eingeschränkt) ist, lässt sich kriegsbedingtes Töten nicht einfach aus dem Fehlen eines ausdrücklichen Tötungsverbots im Kriegsrecht legitimieren.15 Dies ist auch dem gelegentlich von Völkerrechtlern zu vernehmenden Vorschlag entgegenzuhalten, aus Art. 43 Abs. 2 und Art. 51 des Zusatzprotokolls I zum Genfer Abkommen der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte eine – im Unterschied zu „Kämpfern“ nicht-internationaler Konflikte – speziell und allein für „Kombattanten“ eingeräumte Befugnis zum Ergreifen nicht ausschließlich verbotener Kriegshandlungen herauszulesen.16 Denn auch auf diesem Weg ist, soweit es um die Vernichtung menschlichen Lebens geht, nicht daran vorbeizukommen, dass sich eine solche Tötungslizenz lediglich negativ aus einem Nichtverbotensein erschließen ließe, eine solche Schlussfolgerung jedoch normativ voraussetzen würde, dass menschlichem Leben gegenüber nicht ausdrücklich verbotenen Kriegshandlungen schon grundsätzlich kein Schutzanspruch zustehe – eine weder mit grund- noch mit menschenrechtlichen Lebensgarantien vereinbare Annahme.17 15

Näher zu diesen kriegsvölkerrechtlichen Legitimierungsversuchen – einschließlich ihrer teils aus Souveränitätsaspekten zu erklärenden Hintergründe – Eser (Fn. 4), Schöch-FS S. 469 ff., Wahl-FS S. 678 ff., Krieg und Recht S. 248 f., CrimLaw&Phil 2018, 320 ff. 16 In diesem Sinne dürfte etwa auch OVG Münster (Fn. 2), Rn. 392 zu verstehen sein. 17 Dies gilt unbeschadet der in Art. 6 Abs. 1 S. 3 des Internationalen Paktes für bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) vorgesehenen Einschränkung, dass niemand „willkürlich“ seines Lebens beraubt werden darf; denn das damit für „nicht willkürliche“ Tötung eröffnete Tor wird schwerlich dahingehend zu verstehen sein, dass Kriegshandlungen, sofern nicht ausdrücklich verboten, generell nicht „willkürlich“ seien und demzufolge im Krieg dem menschlichen Leben grundsätzlich kein Lebensschutz garantiert sei – ganz abgesehen davon, dass in anderen menschenrechtlichen Verbürgungen, wie insbesondere in Art. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und Art. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Charta), keine dem IPbpR vergleichbare Einschränkung vorzufinden ist. Bezeichnenderweise finden sich selbst zu den Lebensschutzeinschränkungen in Art. 2 EMRK – wie (neben dem zunächst in dessen Abs. 1 S. 2 eingeräumten, inzwischen jedoch durch Art. 2 des Protokolls 6 zur EMRK obsolet gewordenen Vorbehalt zugunsten der traditionellen Todesstrafe) in der nach Abs. 2 (a) nicht als Verletzung der Lebensschutzgarantie zu betrachtenden Tötung zwecks unbedingt erforderlicher Verteidigung gegen rechtswidrige Gewalt – keine Hinweise auf vergleichbare Tötungsbefugnisse im Krieg (wie beispielsweise weder bei Jochen Abr. Frowein, Art. 2 [Recht

Tödliche „Kollateralschäden“ durch militärische Aktionen

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Wie schwer es gleichwohl fällt, sich der Grundfrage nach der Legitimation von Tötung im Krieg überhaupt zu stellen und sich dabei nicht auf bestimmte Tötungskonstellationen wie insbesondere tödliche „Kollateralschäden“ an Zivilisten zu beschränken, lässt sich kaum eindrucksvoller als an der in neuerer Zeit wohl umfangreichsten Untersuchung zum deutschen Einsatz tödlicher Gewalt im Ausland von Carl-Wendelin Neubert demonstrieren.18 Einerseits sehe ich in dieser gleichermaßen völkerrechtlich wie verfassungsrechtlich ungemein tiefgründigen und kompetenten Arbeit meine Zweifel an einer derzeit mangelnden Rechtsgrundlage für Tötung im Krieg insofern bestätigt, als Neubert auch im Kriegszustand die Achtung von Grundund Menschenrechten auf Leben nicht suspendiert sieht und demzufolge tödliche Eingriffe einer Ermächtigung bedürfen,19 dass sich solche Erlaubnisnormen insbesondere nicht im Umkehrschluss aus nur partiellen Verbotsnormen ableiten lassen,20 ebenso wenig wie sich mangelnde gesetzliche Ermächtigungen durch Berufung auf Gewohnheitsrecht oder sonstige „zusammengesetzte Rechtsgrundlagen“ ersetzen ließen21 – mit dem daraus von Neubert für den auswärtigen deutschen Einsatz tödlicher Waffengewalt gezogenen Ergebnis, dass es dafür derzeit an einer verfassungsgemäßen parlamentsgesetzlichen Eingriffsgrundlage fehle und demzufolge innerhalb einer ausnahmsweisen Übergangsfrist eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage zu schaffen sei.22 So sehr diesem Befund zuzustimmen ist, soweit es unbeteiligte Zivilisten als Todesopfer militärischer Aktionen betrifft, so sehr ist andererseits zu bedauern, dass Neubert – aus welchen Gründen auch immer – davon absah, sich der generellen Legitimitätsfrage rechtmäßigen Tötens im Krieg, und damit auch zwischen gegnerischen Kombattanten, zu stellen. Ohne in Zweifel ziehen zu wollen, dass sich bei der Tötung von Kombattanten, Zivilisten oder sonstigen Teilnehmern an Kampfhandlungen angesichts ihrer verschiedenartigen Rolle23 die Rechtfert