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German Pages 323 Year 1984
Recht als Sinn und Institution
RECHTSTHEORIE Zeitschrift für Logik. Methodenlehre, Kybernetik und Soziologie des Rechte
Beiheft 6
Recht als Sinn und Institution
Herausgegeben von
Dorothea Mayer-Maly / Ota Weinherger Michaela Strasser
DUNCKER &
HUMBLOT I BERLIN
Zitiervorschlag: Peter Kampits, Lebenswelt versus Institution, in: RECHTSTHEORIE Beiheft 6 (1984), S. 11 - 17
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Recht als Sinn und Institution I hrsg. von Dorothea Mayer-Maly ... - Berlin: Duncker und Humblot, 1984. (Rechtstheorie: Beiheft; 6) ISBN 3-428-05723-6 NE: Mayer-Maly, Dorothea [Hrsg.]; Rechtstheorie I Beiheft
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlin 41 Ge druckt 1984 bei Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany
© 1984 Duncker
ISBN 3-428-05723-6
Vorwort Zum Andenken an den bekannten Rechtsphilosophen, Normenlogiker, weisen und liebenswerten Denker Ilmar Tammelo (25. Februar 1917 bis 7. Februar 1982) haben die Salzburger Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR, Österreichische Sektion) und das Institut für Rechtsphilosophie, Methodologie der Rechtswissenschaften und Allgemeine Staatslehre der Universität Salzburg ein internationales Gedächtnissymposium vom 18. bis 20. Mai 1983 veranstaltet, um den Gründer dieser Sektion und Vorstand des Instituts zu ehren. Bedeutende Denker ehrt man, indem man sich mit ihrem Werk befaßt, sozusagen das Gespräch mit ihnen im Geiste fortsetzt, und dadurch, daß man in der von ihnen initiierten Arbeit fortfährt. Bei dem Symposium kam beides zur Geltung. Der erste Teil des Symposiums bestand in einer Festsitzung, die sich mit dem Leben und Werk unseres verstorbenen Freundes befaßte. Unter Vorsitz von Hofrat Dr. Winfried Bauernfeind sprachen Prof. Dr. Helmut Schreiner über "Ilmar Tarnmelos Leben und Werk", Prof. Dr. Jes Bjarup über "Ilmar Tammelo's Thoughts about Justice", und Univ.-Ass. Dr. Alfred Schramm legte "Anmerkungen zu Ilmar Tarnmelos Theorie der Gerechtigkeit" vor. Diese Arbeiten sind zusammen mit Prof. HeinrichE. Strakoschs, M. A., kurzem Abriß von Ilmar Tarnmelos Lebenslauf und der profunden essayistischen Studie aus der Feder von Prof. DDr. Michael W. Fischer "Esoterikoi Logoi. Die stille Revolte des Ilmar Tammelo" in dem soeben erschienenen Buch "Objektivierung des Rechtsdenkens. Gedächtnisschrift für Ilmar Tammelo", hrsg. von W. Krawietz, Th. Mayer-Maly, 0. Weinberger, Duncker & Humblot, Berlin 1984, abgedruckt. Der zweite Teil des Symposiums war dem Generalthema "Das Recht als Sinn und Institution" gewidmet. Die Veranstalter gingen von der Auffassung aus, daß die Problematik des institutionellen Daseins des Rechts zu den aktuellsten Problemen der Rechtsphilosophie gehört. Nach dieser Auffassung sind die normative Sinnsphäre des Rechts und das Rechtsleben mit seinem gesamten soziologischen und politischen Umfeld nicht ontisch strikt abgetrennte, sondern zusammenwirkende Realitäten. Diese theoretische Ausgangsposition war für das Symposium
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Vorwort
zweckmäßig, weil sie gleichzeitig soziologische und politologische, strukturtheoretische und logische, sowie hermeneutische und Wertfragen (Gerechtigkeit und Ausgewogenheit der sozialen Rollen) aufwirft. Das Generalthema wurde in drei Bereiche eingeteilt: Soziologie und Politologie der Institutionen; Logik, Strukturtheorie und Hermeneutik des Rechts; Institutionen, Rollen und Gerechtigkeit. Die aufgrund der Diskussionen überarbeiteten Referate des zweiten Teils des Gedächtnissymposiums werden nun in zwei Sammelbänden publiziert. In den vorliegenden Band wurden jene Arbeiten aufgenommen, die Fragen des Sinns der Rechtsordnung, das institutionelle Dasein des Rechts und die Wesensbeziehungen der rechtlichen Sinnsphäre zur sozialen Realität betreffen. Wir möchten besonders unterstreichen, daß sich in den vorliegenden Arbeiten eine reiche Verschiedenheit der Zutrittsweisen und auch der von den Autoren vertretenen Meinungen manifestiert. Darin liegt unserer Ansicht nach gerade die Bedeutung und anregende Wirkung des Buches. Der zweite Teil der beim Symposium vorgetragenen Arbeiten wurde als Beiheft des ARSP unter dem Titel "Hermeneutik und Strukturtheorie" von M. W. Fischer, E. Mock und H. Schreiner herausgegeben. Die Durchführung des Gedächtnissymposiums wurde durch bedeutende Förderungsbeiträge der Rechtswissenschaftlichen Fakultät Salzburg, der Steiermärkischen Landesregierung und der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, Wien, ermöglicht. Ihnen gilt unser Dank. Die Herausgeber
Inhaltsverzeichnis I. Menschliche Freiheit, Ordnung der Lebenswelt und Weltordnung Peter Kampits:
Lebenswelt versus Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Balduin Schwarz:
Die Würde des Menschen als Rechtsgut
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Manfred Stelzer:
Freiheit und Institution. Anmerkungen zur Diskussion um den institutionellen Gehalt von Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . 27 Michaela Strasser:
"Das Recht als allgemeiner Wille". Allgemeine Anmerkungen zu den kognitiven Entstehungsbedingungen des Frühliberalismus aufgezeigt am Beispiel des Rechtsvoluntarismus Carl von Rottecks . . . . . . . . . . . . . 43 Ivanhoe Tebaldelschi:
World Federation and Mankind
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Rudolf Weiler :
Ein aktueller Vergleich: Das Völkerrecht zur Zeit der spanischen Spätscholastik und seine Wiederkehr heute nach der Periode des nachgrotianischen Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... . . . 71
II. Verfassung staatlicher Ordnung und rechtsstaatlicher Alternativen Thomas Chaimowicz:
Die Institution Staat bei Montesquieu
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Willi Donner:
Zum Machtbegriff in der "Nouvelle Philosophie". Vom soziologischen zum philosophisch-aufgelösten Machtbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Hans-Ulrich Evers:
Grenzen der Verfassungsänderung? . . ...... . . . .............. ... . .... 115 Reinhold Knall:
Kognitive Diskrepanz in Rechtsansprüchen (Alternativbewegung und Rechtsstaat) . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Nicolas L6pez-Calera:
Die alternative Anwendung der Legalität des Franeoregimes und die Geburt der spanischen Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
Inhaltsverzeichnis
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III. Ontologische, anthropologische und soziologische Voraussetzungen der Institutionentheorie des Rechts Jan M. Bro.ekman:
Text als Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Raimund Jakob:
Zur Bedeutung behördlicher Entscheidungsbegründung ... · · · · · · · · · · · 169 Helmut Kohlenberger:
Zur soziologischen Transformation des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Peter Koller: J. M. Buchanans Versuch einer ökonomischen Begründung rechtlicher Institutionen . . . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Werner Krawietz:
Rechtssystem als Institution? über die Grundlagen von Helmut Schelskys sinnkritischer Institutionentheorie .. ,........... . .. . ... . .. . . . . ... 209
Ota Weinberger:
Das institutionelle Dasein des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
IV. Recht, Rechtsverwirklichung und Rechtsdurchsetzung im Prozeß Klaus Adomeit:
Objektivität im Recht. Ein Beitrag zur juristischen Methodenlehre in 51 Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Gerhard Luf:
Rechtsverwirklichung im Spannungsfeld von Entscheidung und Rechtfertigung. Überlegungen zum Problem der Objektivität rechtlicher Begründungen in der Sicht analytischer Rechtstheorien . . . . . . . . . . . . . . 269 Norbert A. Schoibl:
Der Prozeß als soziale Institution .. .. ..... .,. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Rudolf Wassermann:
Machtgefälle und Kommunikationsprobleme in der Institution Prozeß 305
Verzeichnis der Mitarbeiter
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I. Menschliche Freiheit, Ordnung der Lebenswelt und Weltordnung
LEBENSWELT VERSUS INSTITUTION Von Peter Kampits, Wien Das Unbehagen an der Kultur und gegenwärtigen Zivilisation wächst. Es wächst trotz oder vielleicht sogar wegen der zunehmenden Verbesserung materieller Lebensbedingungen oder Lebenschancen. Helmut Schelsky, wahrhaftig nicht einer anarchischen oder systemverändernden Kultur- und Sozialkritik verdächtig, hat Belehrung, Betreuung und Beplanung als Grundkategorien der neuen Formen der Herrschaft namhaft gemacht. Wir können in unserem Zusammenhang die allgemeine Verrechtlichung unseres Lebens hinzufügen, die zugleich den Eindruck erweckt, als würde sie unmittelbar in eine immer größer werdende Entrechtlichung des einzelnen umschlagen. Damit ist zunächst ganz naiv das uns allen bekannte und zugängliche Phänomen gemeint, daß Gesetz und Recht für den einzelnen immer undurchschaubarer, immer entzogener und fremder zu werden scheinen. Die alljährlich auf uns herabprasselnde Gesetzesflut hat zu inflationären Entwicklungen geführt, die sich ebenso darin niederschlagen, daß bestimmte Gesetze gar nicht mehr vollziehbar sind, wie auch darin, daß einzelne Lebensbereiche nahezu total in Bestimmungen, Satzungen und Verordnungengefaßt sind. Das alte Spannungsverhältnis zwischen der Freiheit oder- geringer angesetzt - dem Freiheitsspielraum des einzelnen und demjenigen, was nicht zuletzt auch im Bereich des Rechtes und der mit ihm zusammenhängenden Wirklichkeit unserer Welt als notwendige Macht, als Institution gefaßt werden kann, wird immer größer. Freilich läßt sich das Unbehagen an den Institutionen, die in unserer aktuellen Wirklichkeit äußerst komplexe Gebilde darstellen, herabspielen, als subjektives oder romantisches Unbehagen abqualifizieren (von der Sehnsucht des einzelnen bis zur Sozialromantik eröffnet sich hier ein weites Feld), es bleibt aber das Problem bestehen, wie der Anspruch der Freiheit, die wir zumindest in ihrer neuzeitlichen Fassung als Freiheit des Individuums verstehen können, und die Macht von Institutionen miteinander vereint werden können. Diese Kontroverse ist nicht neu. Sie hat gerade in den letzten Jahren auf sozialphilosophischem, soziologischem, aber auch rechtstheoretischem Terrain viele Facetten gewonnen und wird mit hohem theoretischen Scharfsinn und einem beachtlichen Arsenal an ArgumentP.n 7.wischen
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Peter Kampits
Spät- und Gegenaufklärern, Vertretern eines emanzipativen Freiheitsverständnisses und Verfechtern sogenannter anthropologischer Konstanten ausgetragen. Die Grabenkämpfe, die sich hier zwischen Anthropologen a la Gehlen und geschichtsphilosophisch orientierten Soziologen a la Lepenies oder Willms auftun, sollen in ihrer an die Scholastik gemahnenden Ausprägung von Orthodoxen, Häretikern und Ketzern nicht nachvollzogen werden. Der weitgespannte theoretische Aufwand ist ja ein weiteres Indiz für eine Entwicklung, deren Unbehagen letztlich von uns allen gespürt und auch geteilt wird. Ohne einen gordischen Knoten hier gleichsam gewaltsam durchhauen zu wollen, empfiehlt es sich vielleicht, einige grundsätzliche Überlegungen anzustellen, die man - selbst nicht ohne Rekurs auf traditionelle Positionen - unter den Titel Lebenswelt versus Institution stellen könnte. Beides verlangt den Mut zur Naivität. Aber ohne diesen Mut, der sich gerade dort empfiehlt, wo die theoretische Diskussion ins Unüberbietbare, man könnte sagen, selbst schon Institutionalisierte geraten ist, wird es kaum gelingen, die bisher beschrittenen Wege zu verlassen. Es verschlägt dabei wenig, daß sowohl der Ausdruck "Lebenswelt" wie auch derjenige der "Institution" historisch vielfach vorbelastet sind: nichts kann uns verbieten, der Beschlagnahme eines Wortes durch eine bestimmte Theorie und Deutung ihren vielleicht ursprünglicheren Gebrauch entgegenzuhalten, auch wenn im folgenden bewußt etliche Anleihen an traditionellen Deutungen gemacht werden sollen. Sieht man von einer spezifischen Theorie der Institutionen ab, wie sie in der Rechtswissenschaft vornehmlich von M. Hauriou begründet oder als institutionelle Rechtsauffassung im Anschluß an Savigny fortgebildet wurde, so begegnet uns in einem weiter gefaßten Sinn das Recht selbst in der Weise einer Institution, entlastend, die primäre Bedürfnisdisposition des Menschen gleichsam erfüllend und uns von der Vorsorge um das schiere Leben freisetzend, wie dies A. Gehlen immer wieder dargestellt hat. Zugleich aber ist der Institution auch eine Verselbständigungstendenz zu eigen, die der gleiche Gehlen so beschrieben hat: "Dieselben Einrichtungen also, die die Menschen in ihrem Denken und Handeln untereinander hervorgehen lassen, verselbständigen sich ihnen zu einer Macht, die ihre eigenen Gesetze wiederum bis ins Herz hinein geltend macht." Die Institutionen erscheinen so als die großen, bewahrenden, uns weit überdauernden und vielleicht auch verzehrenden Ordnungen und Verhängnisse, in die die Menschen sich sehenden Auges hineinbegeben, wie Gehlen an anderer Stelle ausführt. Sie haben zumindest eine konsumierende Tendenz, die sie zu unverfügbaren, den einzelnen transzendierenden Mächten hinaufstilisiert, vor allem wie wiederum Gehlen
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selbst konstatiert, im nicht mehr lenkbaren Gefüge unserer industriellen Kultur, die selbst ein Zusammenwirken von exakter Wissenschaft, Technik und industrieller Auswertung darstellt. Max Weber hat diesen Zusammenhang ungleich schärfer pointiert, wenn er eine "Hörigkeit der Zukunft" prophezeit, in der die Menschen wie die Fellachen im altägyptischen Staat ohnmächtig sich zu fügen gezwungen sein werden, und wo eine rein technisch gute, rationale Beamtenversorgung und -Verwaltung den einzigen Wert des Handelns darstellt. Kronzeugen für diese Entwicklung gibt es genug: das Unbehagen des Individuums, das seine Freiheit immer mehr an die Institutionen zu verlieren droht, hat sich inzwischen mannigfach artikuliert: Von neoanarchischen Versuchen bis zur Sehnsucht nach dem ganz Anderen, von der Hoffnung, durch Veränderung der ökonomischen Strukturen die Macht der Institutionen zu brechen, bis zu offenen und sublimierten Verweigerungen, wie sie etwa die Bewegung der Bürgerrechtler oder des ökologischen Protestes unserer Tage darstellen. Die Macht der Institution und der Freiheitsanspruch des Individuums scheinen zueinander in einen festgefahrenen Gegensatz zu geraten, an dem alle wohlmeinenden Vermittlungsversuche (etwa in Naturrechtsund Rechtsstaatsdiskussion) sich brechen. Der Versuch, Freiheit und Institution miteinander zu vermitteln, wie dies vornehmlich auf dem Boden antiken Denkens möglich schien, bricht sich an der Festgefahrenheit der Gegensätze im aufklärerischen bzw. spätaufklärerischen Bewußtsein. Reflexion, Freiheit, Kritik, Selbständigkeit und Autonomie werden auf Seiten des Individuums angesiedelt, während die sogenannte "institutionelle Verfaßtheit des Handelns" (J. Ritter) als freiheits- und autonomieberaubend, als antireflexiv (im Anschluß an Gehlens biologisch motivierte Fassung der Institutionen als "zweiter Natur") und antigeschichtlich erscheint. Nicht selten wird auch die in der Anthropologie wurzelnde Deutung der Institutionen zum Anlaß genommen, um die Institutionen im Sinne eines archaischen Erbes der Menschheit mit mythischer Macht auszustatten und das Subjekt, das den Zwang der Natur bereits gebrochen habe, auf den Schicksalsglauben der Antike oder das Opferritual der primitiven Religionen zurückzuschrauben (so J. Taubes). Nun ist dieser Gegensatz selbst durchaus nichts Selbstverständliches, sondern nicht von ungefähr ein Produkt und Kind der Aufklärung, und mithin eines - wenn man so will - naturgeschichtlichen Geschehens. Die spezifische Gegensätzlichkeit von Individuum und Institutionen, deren Polarisierung uns gerade heute wieder in verstärktem Maße in unserer Daseinswirklichkeit zu bestimmen scheint, kann erst dort entstehen, wo dem gleichsam transinstitutionellen Anspruch des Indi-
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Peter Kampits
viduums eine unreflektierte Identität der Institution gegenübersteht. Man kann dies natürlich in verschiedenster Weise deuten: emanzipativ-progressive Auslegungen und kulturkonservative werden hier wiederum ihr ganzes Arsenal an Begrifflichkeit aufzubieten vermögen. Ebensowenig aber, wie die Institution von Anfang an als bedrohendes und im wesentlichen sinnentleertes, sich auf Grund von Eigendynamik immer mehr verselbständigendes abstraktes Gebilde verstanden werden kann, läßt sich der Anspruch des Individuums und seiner Freiheit von Anfang an zurückweisen. Ja es scheint, als sei die Geschichte des neuzeitlichen Denkens immer schon durch eine nachgerade dialektisch zu verstehende Aufeinanderbezogenheit beider Größen bestimmt. Ebensosehr, wie die Institution von einem Anspruch an das Subjekt getragen scheint, ist das Subjekt selbst Ergebnis oder Konsequenz einer geschichtlichen Verwandlung der Institution. Deshalb muß auch eine Aufhebung von beidem, wie sie gewiß bewundernswert und großartig von Regel versucht wurde, für uns heutige belanglos bleiben. Hegels Versuch, die Institutionen als Wirklichkeit der sich in ihrer Innerlichkeit und Moralität bestimmenden Subjektivität zu begreifen, und so die auf Freiheit gegründete Institution als sittlich zu verstehen, kann angesichts der Probleme des postindustriellen Zeitalters und seiner verschärften Spannungen nicht mehr weiterhelfen. Der Konflikt zwischen Individuum und Institution ist nicht aufgehoben, sondern im Gegenteil nur verschärft wor· den. Der Versuch, Freiheit in die vorgegebenen, durch Institutionen bestimmten Lebensverhältnisse einzuordnen, wie auch diese durch die Interessen des freien Individuums umzugestalten, muß solange problematisch bleiben, als wir hier immer noch dem Grundzug aufklärerischen Denkens und seiner Scheidung von Individuum und Allgemeinheit, Freiheit und Institutionalisierung, Natur und Geschichte verhaftet bleiben. Daraus aber ergibt sich auch ein auf Autonomie und Emanzipation gegründetes Freiheitsverständnis, das sich nun besonders an der Institution als ihres Gegenbegriffes festmachen muß, gewissermaßen von neuemden Kampf zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung aufnehmend, da die Emanzipation von den Zwängen der Natur weitgehend geleistet ist und sich nun gegen die Institution als einer zweiten Natur des Menschen richtet. Es gilt zweifellos, dieses Unbehagen ernstzunehmen und nicht von vornherein abzudrängen oder auf einen der genannten Gegensätze aufzurechnen. Dennoch aber stellt sich die Frage, ob nicht der geforderte Ausgleich oder die Versöhnung zwischen dem Freiheitsanspruch des einzelnen und der Verbindlichkeit der Institutionen erst dann überhaupt in den Blick genommen werden kann, wenn wir uns auf eine Instanz besinnen, die gleichsam vorinstitutionell ebenso wie vorautonom den Boden darstellt, auf dem sich diese Forderungen erst in ihrer ganzen
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Vielschichtigkeit sichtbar machen lassen. Diese Instanz kann weder die Berufung auf eine allgemeingültige menschliche Natur darstellen, noch kann sie - geschichtlich motiviert - das Recht von Reflexion, Freiheit und Autonomie gegenüber einer solchen vertreten. Wir können sie an das genannte Unbehagen anschließend mit E. Husserl als Lebenswelt bezeichnen, wobei freilich die spezifische Position und Auslegung, die sich bei Husserl findet, nur als Anstoß dienen soll. Husserl hat in seinem Werk "Philosophie als strenge Wissenschaft" diesen Zusammenhang folgendermaßen gekennzeichnet: "Die geistige Not unserer Zeit ist in der Tat unerträglich geworden. Wäre es doch nur die theoretische Unklarheit über den Sinn der in den Natur- und Geisteswissenschaften erforschten Wirklichkeiten, was unsere Ruhe störte ... Es ist vielmehr die radikalste Lebensnot, an der wir leiden, eine Not, die an keinem Punkt unseres Lebens haltmacht. Alles Leben ist Stellungnehmen, alles Stellungnehmen steht unter einem Sollen, einer Rechtsprechung über Gültigkeit oder Ungültigkeit, nach prätendierten Normen von absoluter Geltung. Solange diese Normen angefochten, durch keine Skepsis bedroht und verspottet waren, gab es nur eine Lebensfrage, wie ihnen praktisch am besten zu genügen sei. Wie aber jetzt, wo alle Normen bestritten oder empirisch verfälscht und ihrer idealistischen Geltung beraubt werden?" 1 Auch wenn Husserl hier in erster Linie das Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt anvisiert, kann uns seine Konzeption der Lebenswelt und der auf ihrem Boden stehenden Erfahrungen, Sinnansprüche und Geltungen auch gegenüber dem Problem der Institutionen zeigen, daß jenseits von aller bereits als abstrakt zu deutenden Scheidung zwischen Subjektivität und Objektivität der Institutionen, die Lebenswelt den Boden darstellt, von dem aus die Seinsgeltung verobjektivierter Gebilde zu bestimmen ist. Dabei gilt es, diesen Rückgang auf die Lebenswelt weniger als Sehnsucht und Nostalgie nach dem "Heilen und Natürlichen" zu verstehen (auch wenn manches in der Konzeption Husserls dazu zu neigen scheint), als vielmehr im Hinblick auf eine Sinn- und Seinsgestaltung, an die auch eine Institution wie das Recht gebunden ist. Ebensowenig kann dies als Aufforderung verstanden werden, den weiteren Weg Husserls, der ihn in die Problematik des Gegebenseins der Seinsart von Gegenständen und damit in weitere Konstitutionsfragen der transzendentalen Subjektivität führte, als maßgeblich zu erachten. Die Ernstnahmeder Husserl'schen Konzeption der Lebenswelt bedeutet vielmehr für unser Problem, daß die Institution und damit auch das 1
E. Husserl, Philosophie
als strenge Wissenschaft, S. 65 f.
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Recht als ein Zweckgebilde gefaßt werden kann, das seinen Geltungsbereich, seinen Sinn und seine Gültigkeit nicht aus sich selbst beziehen kann. Aber hinsichtlich dieses Bereiches bleibt die Lebenswelt, die wie Husserls in "Erfahrung und Urteil" einmal formuliert, "ohne jedes Zutun, ohne Hinwendung des erfassenden Blickes, ohne alles Erwachen des Interesses immer bereits da ist", die unübergehbare Instanz. Ebenso nun, wie Husserl die Krisis der Wissenschaften auch als Verlust ihrer Lebensbedeutsamkeit für uns gekennzeichnet hat, könnten wir im Hinblick auf die Institutionen - bei aller Ernstnahme ihrer Macht- von einem Verlust ihrer Lebensbedeutsamkeit sprechen, oder auf das Recht bezogen, von einer Art Eigendynamik, die zu einem solchen Verlust geführt hat. J. Habermas hat in einem durchaus ähnlichen - freilich auf Wissenschaft und Technik gemünzten Zusammenhang dies in die Frage gekleidet, was es denn eigentlich heiße: "daß sich die rationale Form von Wissenschaft und Technik, also die in Systemen zweckrationalen Handels verkörperte Rationalität zur Lebensform, zur geschichtlichen Totalität einer Lebenswelt erweitert" .2 Verkürzend und in unserem Zusammenhang nur richtungsweisend kann eine weitere Formulierung Husserls aufgegriffen werden, in der diese sekundären Zweckgebilde im Kleid der Symbole aufgefaßt und bestimmt werden: "Das Ideenkleid macht es, daß wir für wahres Sein nehmen,_was eine Methode ist." 3 Wir sind vom Unbehagen an den Institutionen und am Recht ausgegangen. Vornehmlich unsere Freiheit scheint in der Institution ihren Gegensatz und ihre Ermächtigung zu finden, was auch für eine juristische Institutionenlehre gilt, die einerseits das Subjektive und Objektive im Recht miteinander zu vermitteln versucht, andererseits die soziale Wirklichkeit mit dem Recht in Zusammenhang setzt. Da der Gesetzgeber in unseren Staats- und Rechtssystemen nahezu ein Monopol auf die Rechtsetzung und ihre Gestaltung ausübt, ist in der Rechtsstaats- und Grund- bzw. Verfassungsgesetzdiskussion vornehmlich in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren immer wieder auf die Spannung zwischen individueller Freiheit und Freiheit als institutionalisierter {beispielsweise in der Grundgesetzdebatte) hingewiesen worden. Die Polarität der hier einerseits geforderten Einordnung der Freiheit in die vorgegebenen, institutionalisierten Lebenszusammenhänge und einer Umgestaltung dieser in Hinblick auf das freie Individuum setzt aber bei aller Nuancierung doch wieder an einer Überspannung beider, der Institution und des freien Individuums 2
3
J. Hab ermas, Technik und Wissenschaft als Ideologie, S. 19. E. Husserl, Krisis, S. 52.
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ein. Daraus kann die Situation entstehen, daß um der Freiheit der Institutionen, oder der Freiheit als Institution willen, die individuelle Freiheit eingeschränkt werden muß. Der Spielraum des Rechtes, der gerade hier zum Tragen kommt, ist ebenso groß, wie in seinen Konsequenzen prekär. Die immer mehr als dumpfe Nötigung empfundene Macht der Institutionen, und die sich dann gerade gegen sie als Freiheit bestimmenden Alternativen individuellen Handeins sind aber als solche eben nur die Konsequenzen einer Entwicklung, in der das Handeln des einzelnen und die Wirklichkeit der Institution nicht mehr wirklich aufeinander bezogen wurden. Eine Institution, die nicht mehr nur im Handeln selbst Wirklichkeit gewinnt, muß ein totes, verdinglichtes Gehäuse werden, wie eine Freiheit, die sich außerhalb jeder normativen Verpflichtung stellt- was nicht Freiheit nach Maßgabe der Gesetze bedeutet-, keine Wirklichkeit gewinnen kann. Beide, Freiheit und Institution, müssen in ihrer Bezogenheit aufeinander neu bedacht werden. Für die Bestimmung ihres Sinnes und ihrer Seinsgestaltung bildet der Verweis Husserls auf die Lebenswelt eine mögliche Ausgangsbasis.
DIE WÜRDE DES MENSCHEN ALS RECHTSGUT Von Balduin Schwarz, Salzburg Das Recht ist ein Bereich des Humanum; dies in doppelter Weise: Es ist um des Menschen willen da, d. h. es soll dem Menschen helfen, ein wahrhaft menschliches Leben zu führen. Es ist aber zugleich auch ein Werk des Menschen, sowohl in seiner Gestaltung als Gesetzgebung wie auch in seiner Anwendung, also als Rechtsprechung mit allem, was zum Rechtsvollzug dazugehört. "Das Recht gehört zum Wesen des Menschen und gründet in ihm" sagt Verdross1• Nun ist es eine bemerkenswerte Tatsache, daß in Verfassungen, Grundsatzerklärungen, Grundgesetzen seit etwa einem halben Jahrhundert in wachsendem Maße der Begriff "Würde des Menschen" neben den vielberufenen Grundbegriff der "Menschenrechte" getreten ist. Es ist dies zunächst ein Ausdruck für eine wachsende Klärung im Prozeß der Besinnung auf das eigene Wesen, die in den Dokumenten der Rechtssetzung zu beobachten ist. Rückgang auf die "Würde" des Menschen bedeutet: Rückgang auf das, woraus seine Rechte, aber auch - und das ist sehr bedeutsam - seine Pflichten erwachsen. Die Menschenrechte sind nur durch die Anderen und die Staatsmacht gefährdet. Die eigene Würde verletzt der Mensch in jeder Verantwortungslosigkeit. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 darf in seiner straffen Formulierung als repräsentativ gelten. "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt". Der Hintergrund ist hier die Absicht des Gesetzgebers, die neue staatsrechtliche Ordnung grundsätzlich vom Hitler-Unstaat und seinem Grundsatz: Recht ist, was dem deutschen Volk nützt, abzusetzen. Ursprünglich sollte in den Text der Präambel der Absatz eingefügt werden: " ... in dem Willen, nach einer Zeit der Willkür und Gewalt die alten Freiheitsrechte und die geschändete Menschenwürde zu schützen und zu wahren" 2 • Über den speziellen Anlaß hinaus, ist hier etwas zur Formulierung gebracht, was von überzeitlicher Gültigkeit ist: Das Ganze der rechts1 Atfred Verdross, Die Würde des Menschen in der abendländischen Rechtsphilosophie, Festschrift Messner, Innsbruck 1961, S. 353. 2 Zitiert bei Christian Starck, Menschenwürde als Verfassungsgarantie im modernen Staat, JZ Tüb. 17. Juli 1981, S. 458, Anm. 9.
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staatlichen Ordnung ist in das Umfassende des Humanen eingefügt. Es wird die ihm zukommende dienende Rolle zum Ausdruck gebracht. Dabei weist die Formulierung darauf hin, daß die staatliche Gewalt den ihr unterstehenden "Rechtsgenossen" die Achtung und den Schutz schuldig ist, also selber in der Pflicht steht und zwar um desUr-Rechtsgutes willen, um der dem Menschen eigenen Würde willen. Das Grundgesetz- und ähnliche grundsätzliche Erklärungen- nehmen "Würde des Menschen" als etwas Vorgegebenes an. Ich glaube, man muß, um der Begriffsklarheit willen, noch weitergehen als Nipperdey in seinem großen Artikel Die Würde des Menschen, wenn er sagt: "Der Grundsatz des Art."l Abs. 1 ist ein naturrechtliches Elementarprinzip, er ist vorstaatliches, überpositives Recht". 3 Der erste Satz "Die Würde des Menschen ist unantastbar" ist eine metaphysische Aussage! Erst der Folgesatz über die Achtungs- und Schutzpflicht der staatlichen Gewalt kann als naturrechtlicher Grundsatz gelten. Wir haben hier eine der Nahtstellen, nicht so sehr zwischen positivem Recht und Naturrecht, als vielmehr zwischen diesen beiden und dem metaphysischen Bereich. Das Recht ist um des Menschen willen da, und wenn es die Menschenwürde zum höchsten Rechtsgut erklärt, so ist es notwendig, das Menschenbild ins Auge zu fassen, bei dem der Begriff "Würde" sich als eine sinnvolle Aussage erweist. Wo von der Würde des Menschen gesprochen wird, da ist offenbar die Rede von einem "Seinswert", der dem Menschen als solchem, d. h. auf Grund seiner Wesensnatur zukommt. Hier sind zwei philosophische Voraussetzungen gegeben, denen nur eine Philosophie entspricht, die erstens metaphysische Aussagen, als echte Aussagen über ein unserem erkennenden Geiste gegenüber transzendentes Seiendes zuläßt, also Aussagen über die Wesensnatur der wirklichen Welt einschließlich der Menschenwelt; und ferner eine Philosophie, bei der der Übergang von Seins- zu Sollensaussagen zulässig ist. Idealistische sowohl wie positivistische Systeme schließen solche Aussagen aus. Ist es da nicht verwunderlich, daß in der Literatur über die Rolle der Menschenwürde im Verfassungsrecht immer wieder auf Kant hingewiesen wird\ von dem doch die Metaphysik-Feindlichkeit der letzten zweihundert Jahre ihren Ausgang genommen hat- allerdings nicht allein von ihm, sondern auch von Hume, mit dem Kant's kritische Philosophie sich auseinandersetzt? 3 In: Die Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, hrsg. von Neumann, Nipperdey und Scheuner, 2. Aufi. Berlin 1968. 4 So z. B. Norbert Hoerster, in: Juristische Schulung 1983, Heft 2, S. 93 ff.
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Hier liegt ein historisches Paradoxon vor. Zwar ist von Kant, im Zuge des deutschen Idealismus, eine metaphysik-feindliche Tendenz ausgegangen, aber diese Tendenz hat sich an einen einzigen Aspekt der Philosophie Kant's gehalten, wie er vor allem im Hauptwerk, der Kritik der reinen Vernunft hervortritt, während in der Tradition der Rechtsphilosophie ein anderes Werk vor allem von Einfluß geworden ist, jenes Werk, in dem Kant am ausführlichsten und tiefgründigsten die Würde des Menschen behandelt hat - mehr als irgendeiner der großen Philosophen der Neuzeit, nämlich die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785. Hier zeigt Kant, daß es ihm wirklich ernst war mit dem, was die Prolegomena im Titel ausdrücken: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Denn was Kant in der Grundlegung vorbringt, ist echte Metaphysik. Kant gründet die Würde des Menschen im Sein des Menschen und zwar im moralischen Sein. Hier ist eine Art Wechselbeziehung gegeben. Der Kategorische Imperativ lautet in der Fassung der Grundlegung zur Meta·physik der Sitten: "Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst". Dieser Imperativ gründet in der Seinsaussage: Personen sind von absolutem Wert, sie sind "Zwecke an sich" und zwar als Wesen, die nicht naturbedingt sind, sondern in Freiheit sich selbst bestimmen können. Die theoretische Rechtswissenschaft hat diese Kant'sche Metaphysik der Person viel ernster genommen, als die Philosophen! Diese haben vielmehr Kant's Abweisung jeder "Direkt-Metaphysik" herausgestellt und ihn mit Bezug auf die Metaphysik "den alles Zermalmenden" genannt. Tatsächlich hat aber Kant die Grundthesen der abendländischen Metaphysik über "Gott, Freiheit und Unsterblichkeit" - um diese geht es ihm- als erwiesene Wahrheiten betrachtet, nämlich als "Bedingungen der Möglichkeit" für freies, verantwortliches Handeln. Sie sind "Postulate" der "Praktischen Vernunft". Nun ist diese indirekte Begründung wohl deswegen kaum rezipiert worden, weil sie logisch schwach ist; sie setzt nämlich zwei Dinge voraus und zwar als eines Beweises nicht bedürftig, also als "einsichtig": daß der Kategorische Imperativ absolute Geltung hat und daß für seine Geltung "Gott, Freiheit und Unsterblichkeit" notwendige Bedingungen sind. Zwar steht Kant mit diesen beiden Thesen durchaus auf dem Boden der abendländischen metaphysischen Tradition, aber in striktem Widerspruch zu der Grundthese der Kritik der reinen Vernunft, die keinen "Vernunftgebrauch jenseits der Grenze aller Erfahrung" zuläßt.
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Hier ist der entscheidende Punkt: Die Rehabilitierung der Metaphysik als einer Wissenschaft- nicht nach dem Wissenschaftsmodell der Naturwissenschaft, sondern auf die ihr eigene Weise als Lehre von dem, was in sich selbst evident und deswegen einsichtig ist oder aus Einsichtigem folgt, wird auch für die Fundierung des Rechtes und gerade ihres obersten Grundsatzes- der ja metaphysischen Charakter hat- wichtigste Aufgabe: "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Der Mensch als naturwissenschaftlich oder sozialwissenschaftlich erklärbares Wesen würde gerade das nicht besitzen, was mit "Würde" gemeint ist: seine personale Werthaftigkeit. So hat denn der Amerikaner Skinner, der Vater des Behaviorismus, mit seinem Idealbild einer "Technologie des Verhaltens" Begriffe, wie "Freiheit, Wert und Würde" überflüssig machen wollen.5 Nun könnte man einwenden, der Würde-Begriff, der metaphysisch fundiert ist, sei im Grunde ein theologischer und deswegen stehe und falle er mit dem Glauben an die christliche Offenbarung. Das ist aber nicht der Fall und wäre sogar vom Standpunkt eben dieses Glaubens abzuweisen als "Fideismus" d. h. Ausschließung aller natürlicher Wahrheitserkenntnis. Das Christentum schließt eine Metaphysik ein, hat ihr auch zur volleren Durchartikulierung verholfen - etwa durch die "personaDiskussion" der Trinitarischen Konzilien oder die "natura-Klärungen" in christologischen Zusammenhängen. Man kann geradezu von einer meeutischen Funktion der Theologie gegenüber der Philosophie sprechen. Aber diese "Herkunft" macht die betreffenden metaphysischen Aussagen nicht zu theologischen. 6 Es ist unleugbar, daß die lebendige Präsenz des Christentums im Abendland die Unantastbarkeit der Person und die Achtung vor der Würde des Menschen im Rechtsbewußtsein ungemein gefestigt hat. Was seit dem Sacramentarium Leoninum, also etwa seit dem 5. Jahr-hundert immer von neuem gebetet wurde: "Deus qui humanae substan:.. tiae dignitatem mirabiliter condidisti" ist in das abendländische Bewußtsein tief eingesenkt. Hier ist Urgestein der abendländischen Auffassung vom Wesen des Menschen, und auf diesem Urgestein ist die abendländische Rechtsauffassung gegründet. Der im Säkularisierungsprozeß und in Abkehr vom Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts hervortretende Emanzipationsbegriff ist dem gegenüber sekundär. Im Österreichischen Verfassungsrecht gibt es bekanntlich kein Grundgesetz. Der N. R. hat der Europäischen Menschenrechtskonvention und Vgl. dazu die Ausführungen von Christian Starck, l.c.,S. 461. Vgl. dazu den Aufsatz des Verfassers: Wahrheit und Lebendigkeit. Bemerkungen zu einer Regelsehen Frühschrift, in: Salzb. Jahrb. f. Philos. XVII/ XVIII- 73174, S. 175 ff. 5 6
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dem Zusatzprotokoll in seiner Sitzung vom 10. Juli '58 verfassungsrechtlichen Status zuerkannt. Dort wird zwar der Terminus "Würde des Menschen" nicht gebraucht, sondern es ist von "Wahrung und Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten" die Rede, aber die inhaltliche Füllung dieser Rahmenerklärung läßt den Schluß zu, daß der Sache nach in einem Staat, der die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert und ihr verfassungsgleichen Status gewährt hat, die Würde des Menschen, als Quellgrund der "Menschenrechte und Grundfreiheiten", also als oberstes Rechtsgut betrachtet wird, wobei unterstellt werden darf, daß "Würde des Menschen" den einzigartigen Wertcharakter der menschlichen Person, der ihr auf Grund ihrer besonderen Wesensnatur zukommt, bezeichnen soll. Hier nun ergibt sich ein weiteres Problem für die Philosophie angesichts der Behandlung des Begriffs "Würde des Menschen" im juridischen Kontext. Das bundesdeutsche Grundgesetz bezieht nämlich - per implicationem - in einer viel diskutierten philosophischen Streitfrage eindeutig Stellung. Die Frage lautet: Können normative Sätze mit Seinsätzen begründet werden? Mit dem Satz "Die Würde des Menschen ist unantastbar" wird ein Seins-Satz aufgestellt, aus dem dann SollSätze grundsätzlichen Charakters folgen, wie: "Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen". Der Sinn ist: Auf Grund seines ihm eigenen Wesens, dem Personsein, kommen dem Menschen bestimmte Werte objektiv zu, die im Begriff "Würde" zusammengefaßt sind. Aus dem absoluten Wertcharakter des zu achtenden und zu schützenden Rechtsgutes ergibt sich die normative Kraft der Gesetze. Der Gesetzgeber des Grundgesetzes der Bundesrepublik hat sich damit die vorreflektierte Überzeugung des "reifen und verantwortungsbewußten Menschen" im Sinne von Aristoteles, Ethica Nicom. 1095 b 2 sq - und auch die Scheler-Hildebrandsche Lehre vom objektiven Charakter der Werte zu eigen gemacht. Der Gesetzgeber bringt diese Überzeugung dadurch zum Ausdruck, daß er der Würde "Unantastbarkeit" zuschreibt, d. h. nicht durch "wertendes" Verhalten von Menschen wird dem Menschen Würde zugesprochen, sondern er besitzt sie auf Grund seines Seins. Und ferner: Es geht vom Wertcharakter der menschlichen Person eine Forderung aus. Die Würde des Menschen ist zu respektieren. In der Wertlehre Dietrich von Hildebrands, die in gleicher Weise -wenigstens in ihren Grundthesenvon sittlich relevanten Gütern, wie von Gütern mit Rechts-Relevanz gilt, ist von einer "Gebührensbeziehung" die Rede, wie sie die lateinische Gerundiv-Form zum Ausdruck bringt, z. B. im Rechtsgrundsatz "Pacta servanda sunt". Hildebrand formuliert dies so: Die "Wertantwort steht in einem sinnvoll komplementären Verhältnis zu dem Wert des Gutes, dem sie erteilt wird. Dies zeigt sich deutlich darin, daß dem werttragen-
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den Gut eine positive Antwort geschuldet ist".7 Auf eine kurze Formel gebracht: Es liegt im Wesen des Wertes eine Art "VerwirklichungsAspiration". Auf meine eigene Stellungnahme in der Diskussion der Frage nach der Verankerung sittlicher und ebenso rechtlicher Normen im Seienden zurückgreifend: "Die Verankerung des Sittlichen (und der Rechtsnormen) im Sein ergibt sich ... aus der Wertnatur des Wirklichen (hier: des Menschen) und der Wirklichkeits-Aspiration des Wertes auf der einen, und aus der menschlichen Befähigung zur Werterfassung und zur freien wert-erhaltenden und -verwirklichenden Antwort auf der anderen Seite. "8 Eng damit zusammenhängend ist das philosophische Problem der "Werterkenntnis" und seiner intersubjektiv zu verankernden Gültigkeit. Wenn nämlich "die Würde des Menschen" als absolutes Rechtsgut behandelt wird, so daß jedes Gesetz und jede Verordnung an dieser Grundnorm gemessen werden muß und im Falle der Inkompatibilität als verfassungswidrig zu erklären ist, dann ergibt sich die Frage, wie "Werte" zu erkennen sind und ihr Erkanntsein intersubjektiv gesichert werden kann, bzw. für einen wissenschaftlichen Beweis zugänglich sind. Terminologisch: Etwas wird in der Ethik als "ein Gut" bezeichnet, wenn es einen "Wert" hat oder besser: "wenn in und mit ihm ein Wert realisiert" ist. Die Erkenntnis: "ein Etwas hat einen Wert" und zwar -in der wohl durch Kant eingeführten Terminologie- einen "absoluten Wert", d. h. eine nicht durch Relation zu etwas anderem entstehende Bedeutsamkeit in sich selbst, ist dort, wo es sich um einen Seinswert handelt, im Grunde nicht verschieden von der metaphysischen Erkenntnis. Der "Seinswert" des Menschen, der mit dem Wort "Würde" ausgedrückt ist, ist mit diesem Sein dergestalt verbunden, daß die Erkenntnis der Würde des Menschen von der Erkenntnis des Seins des Menschen (seines "Wesens") nicht zu trennen ist. 9 In der Rechtsauslegung ist dies am unmittelbarsten bedeutsam für die Abtreibungsfrage. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 25. 2. 1975 die Fristenlösung (Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs bis zum dritten Monat) als verfassungswidrig erklärt. 10 Ethik, Gesam. Werke, Bd. II. S. 250. Wert und Freiheit, in: Akten des XIV. Internationalen Kongresses für Philosophie, Wien 1968, Bd. IV, S. 8. 9 Vgl. Josef Seitert!Edgar Morscher, über die Grundlagen der Ethik. Ein Dialog, in: Vom Wahren und Guten, Festschrift für Balduin Schwarz zum 80. Geburtstag, Salzburg 1982, S. 102 ff. 1~ Vgl. zum Grundsätzlichen und zu den Österreichischen Rechtsverhältnissen in der Frage des Schwangerschaftsabbruches: Wolfgang Waldst ein, Das Menschenrecht zum Leben!, Berlin 1982. 7
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Man hat in der Diskussion um die Freigabe der Abtreibung des öfteren argumentiert, es könne hier ein Konflikt vorliegen zwischen der Würde des nasciturus - konkretisiert in seinem Lebensrecht - und der Würde der Schwangeren, konkretisiert in ihrem Selbstbestimmungsrecht. Die Frage, ob hier eine Konkretisierung des Würde-Prinzips mit einer Konkretisierung desselben Prinzips bei einem anderen Individuum in Konflikt steht, ist durchaus zu trennen von der Frage des Vorranges eines Rechtsanspruches vor einem anderen; im gegebenen Fall des Lebensrechtes des nasciturus gegenüber dem Verfügungsrecht der schwangeren Frau über ihren eigenen Leib. Denn die Frage, wie ein Konflikt zu lösen ist, ist der Frage untergeordnet, ob überhaupt ein Konflikt vorliegt. Die eigentliche Frage ist ja die, ob die schwangere Frau ein aus ihrem Selbstbestimmungsrecht ableitbares Verfügungsrecht über die in ihr reifende Leibesfrucht besitzt. Die Gegner der Freigabe der Abtreibung argumentieren ja dahin, daß der nasciturus selber eigenständiger Inhaber von Rechten ist, vorab des Rechts auf das eigene Leben, und daß er auf Grund der natürlichen Gegebenheiten zu seiner Mutter im Verhältnis des Schutzbefohlenen steht. Es kann sich nur um die Grenzen der Schutzpflicht handeln, Grenzen, die aus dem Anspruch auf Schutz des eigenen Lebens sich ergeben, nicht aber um ein Verfügungsrecht über das Leben des nasciturus mit der Begründung, dieses Leben sei in den Bereich des Rechtes auf Selbstbestimmung der Frau eingeschlossen, da die Leibesfrucht sich im Bereich des eigenen Leibes entwickelt. Diese Frage ist eine quaestio facti und nicht eine Frage, bei der die herrschende Auffassung als Entscheidungsinstanz angerufen werden kann, noch eine Frage des individuellen Ermessens - der Betroffenen oder einer richterlichen Instanz - sondern eine der positiven Wissenschaft. Nach der Innidation des fökundierten Ovum entsteht im Mutterleib ein von diesem Mutterleib behütetes und genährtes eigenes lebendiges Etwas, mit eigenem Pulsschlag ab dem 8. Tage usw. Die Kontinuität der Entwicklung und damit die individuelle Identität des nach dem je eigenen "genetischen Code" sich Entwickelnden, ist zum mindesten seit Le Jeune und Blechschmidt nicht mehr kontrovers. Der Gesetzgeber hat nicht darüber zu entscheiden, da der Human-Biologe die quaestio facti bereits entschieden hat. Der nasciturus ist seinsidentisch mit dem Geborenen. Daß der nasciturus die aus der Menschenwürde erfließenden Menschenrechte besitzt, war seit alters (zum mindesten seit der Existenz des Römischen Rechts) Grundlage der Gesetzgebung und Rechtsprechung u. zw. nicht nur im Sachenrecht, sondern auch im Personenrecht. Die neuere Naturwissenschaft hat dieser Auffassung neue Gründe der Bestätigung ihrer Richtigkeit zugeführt: die gesamte Entwicklung des nasciturus ist von der in den 46 Chromo-
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somen des befruchteten Eies niedergelegten "Information" unabänderlich als eine eindeutig individuell-menschliche determiniert. Selbst wenn nur eine Vermutung anzusetzen wäre, daß die Leibesfrucht in jedem ihrer Entwicklungsstadien real identisch ist mit der geborenen menschlichen Person und deswegen im Besitz dessen, was wir die Würde des Menschen nennen, schon dann müßte der Gesetzgeber dem Ungeborenen Rechtsschutz zukommen lassen. Heute aber ist über die Realidentität der sich entwickelnden Leibesfrucht und des geborenen Menschen, wie über die eines Menschen im Augenblick der Geburt und im Augenblick des Sterbens, kein Zweifel; und somit hat für jedes Stadium zu gelten: "Die Würde des Menschen ist unantastbar".
FREIHEIT UND INSTITUTION Anmerkungen zur Diskussion um den institutionellen Gehalt von Grundrechten Von Manfred Stelzer, Frankfurt a. M./Wien*
I. Vorbemerkung Die Problematik der Beziehung von Freiheit und Institution hat in der Rechtswissenschaft umfangreiche Diskussionen ausgelöst1, die ihrer Thematik nach weit in philosophische und soziologische Forschungsbereiche hineinragen. Auf Grund dieser thematischen Breite kann für die vorliegende Arbeit nicht in Anspruch genommen werden, die gesamte Auseinandersetzung in ihrer vollen Tragweite darzustellen; sie beschränkt sich daher auf markante Positionen und bleibt in ihren Darlegungen notwendigerweise skizzenhaft. Abgesteckt wird das Spannungsfeld, innerhalb dessen sich die Diskussion abspielt, einerseits durch die begrifflich scharfe Trennung von Freiheit und Institution durch Carl Schmitt 2 und andererseits durch die Ineinssetzung von Freiheit und Institution durch Peter Häberle. 3 • 4 Ob*) Stark überarbeitete Fassung eines Vortrages, den der Verfasser am 20. 5. 1983 im Rahmen des IVR-Symposiums "Recht als Sinn und Institution" in Salzburg gehalten hat. Die Arbeit kam mit Hilfe eines DAAD-Forschungsstipendiums an der Universität Frankfurt a. M. zustande. Den Diskussionsteilnehmern in Salzburg sei für zahlreiche Anregungen herzlich gedankt. NamentLich Dank gebührt den Herren Professoren Dr. Erhard Denninger und Dr. Gerhard Dilcher, Frankfurt a. M., sowie Herrn Prof. Dr. Dieter Grimm, Bielefeld, für intensive Gespräche und zahlreiche fruchtbringende Hinweise zur Überarbeitung. 1 Vgl. aus der Fülle der Literatur: C. Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien der Reichsverfassung, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätz& (1973), S. 140; ders., Verfassungslehre5 (1970), S. 170ff.; Abel, Die Bedeutung der Lehre von den Einrichtungsgarantien für die Auslegung des Banner Grundgesetzes (1964), m. w. N.; Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht (1961), S. 239 ff.; Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art.19 Abs. 2 Grundgesetz2 (1972); Luhmann, Grundrechte als Institution (1965); Steiger, Institutionalisierung der Freiheit? Zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Bereich der Grundrechte, in: Schelsky (Hrsg.), Zur Theorie der Institution2 (1973), S. 91. 2 In: Verfassungsrechtliche Aufsätze (FN 1), S. 140 ff. (insbes. S. 167). a Wesensgehaltgarantie (FN 1), z. B. S. 97 ff. 4 Vgl. dazu auch Steiger, in: Schelsky (FN 1), S. 92.
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wohl C. Schmitt die grundsätzliche Verschiedenheit von soziologischem und juristischem Institutionenbegriff betont5 , soll hier trotzdem der Versuch unternommen werden, soziologische und auch philosophische Grundpositionen für die vorstehende Frage fruchtbar zu machen, freilich auch dies in der gebotenen Knappheit. Ferner beschränkt sich die Verhandlung rechtswissenschaftlicher Beiträge auf den Streit um den institutionellen Gehalt von Grundrechten, in dem ja auch der Freiheitsbezug praktisch am sinnfälligsten wird0 •
II. Philosophischer und soziologischer Hintergrund Die Aufklärung hatte das Subjekt aus transzendenten Ordnungszusammenhängen gelöse, indem sie dem mittelalterlichen Kosmosgedanken einen rein subjektivistischen, abstrakten Freiheitsbegriff8 gegenüberstellte. Von dieser "Bastion" des Subjekts aus wurden auch alle intersubjektiven Bezüge9 gedeutet. Die historische Leistung dieser Philosophie ist unverkennbar. Ohne diese Freisetzung des Individuums sind wohl die gesellschaftlichen, ökonomischen und technischen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte undenkbar. Dennoch war die Subjektphilosophie sehr bald Gegenstand heftigster Kritik. Schon das "Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus" 10 1796/97 11 suc.l}te eine Versöhnung aufklärerischer Subjektspaltung. Eine der ersten sy stematisch ausformulierten Kritiken findet sich in
Hegels Rechtsphilosophie. 12 Sicher beeinflußt durch die Erfahrungen der
5 In: Verfassungsrechtliche Aufsätze (FN 1), S.172; so auch Luhmann, Grundrechte (FN 1), S. 12 Anm. 14. 6 Siehe dazu Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, S. 1529 (1532 f.). 7 Siehe dazu Heintel, Die naturrechtliche Fundierung des Ordogedankens in der Tradition, in: Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte, Aspekte ihrer Begründung und Verwirklichung (1978), S. 23; Willms, Gesellschaftsvertrag und Rollentheorie, in: Die Funktion des Rechts in der modernen Gesellschaft, JB für Rechtssoziologie und RechtstheoDie Bd. 1, S. 275; Ritter, Institution ,ethisch'. Bemerkungen zur philosophischen Theorie des Handelns, in: Schelsky (FN 1), S. 59 ff. 8 Freiheit kann hier im philosophischen Sinne verstanden werden als Autonomie, d. h. als Möglichkeit zur Selbstgesetzgebung. 9 Als signifikantestes Beispiel seien die Gesellschaftsvertragstheorien genannt. Über die juristische Kategorie des Vertrages wird die "Gesellschaft" auf die Selbstbindung der Individuen zurückgeführt. 10 Abgedruckt in: Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 1: Frühe Schriften, Redaktion: Moldenhauer/Michel (1971), S. 234. 11 Sein Verfasser dst wohl nicht eindeutig feststellbar. Schelling, Hölderlin und Hegel kommen dafür in Frage. Vgl. dazu die Anm. der Redaktion in H egel, Werke, Bd. 1 (FN 10), S. 628. 12 Werke (FN 10), Bd. 7: Gr undlinien der Philosophie des Rechts, §§ 4- 30.
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französischen Revolution13 stellt er dem rein abstrakten und - in seiner Terminologie - negatorischen Freiheitsbegriff der Aufklärung die These entgegen, daß eine so verstandene Freiheit nie real gelebt werden kann. Um in gesellschaftliche Erlebniszusammenhänge umgesetzt werden zu können, muß sich die abstrakte Freiheit konkretisieren - und damit immer auch schon "beschränken". Dabei wird aber Schranke nicht als etwas von außen Hinzukommendes, sondern als Konstituens real erlebbarer Freiheit gedacht. Freiheit muß also in diesem Sinne, um real erlebbar zu sein, in gesellschaftliche Zusammenhänge eingebracht werden. Sie muß als Position des Individuums, auf die es sich zurückziehen kann und aus der heraus es seine autonome Lebensgestaltung entwickeln kann, enttäuschungsfest erwartbar sein. Kurzum, sie muß institutionalisiert werden. Unter Institution kann hier ein "Komplex faktischer Verhaltenserwartungen, die im Zusammenhang mit einer sozialen Rolle aktuell werden und durchweg auf sozialen Konsens rechnen können" 14 verstanden werden. Von diesem Ansatz aus erscheint nun ein Freiheitsbegriff, der sich gegen Institutionen qua Institutionen wendet, als zu kurz gegriffen. Freiheit muß nach diesem Verständnis schon immer auf Verwirklichung in einem sozialen (oder kommunikativen) Interaktionszusammenhang gedacht werden und erhält aus dieser Vermittlung ihren realen Gehalt. Diese Vermittlung bedeutet in liberalistischer Terminologie stets eine Beschränkung oder Schranke. Hier wird sie verstanden als conditio sine qua non für real erlebbare Freiheit. Deshalb kann sich ja auch de facto die Konsequenz der Aufklärung letztlich nicht in Richtung nach Abschaffung von Institutionen schlechthin stellen, sondern in Richtung nach Schaffung aufgeklärter Institutionen bzw. "Umbau" bestehender Institutionen im Zeichen der Aufklärung. 15 Ein solcher ist aber keine aprioristisch zu lösende Aufgabe18, sondern ist wesentlich durch das geschichtliche Umfeld bedingt. Der subjektivistische Freiheitsbegriff kann damit selbst als historisches Phänomen begriffen werden, der zweifellos konkrete geschichtliche Wirkungen entfalten konnte und zwar eben durch sein kritisch-negatorisches Moment. Dies gilt es auch weiterhin zu bewahren, wenngleich der Blick auch auf die Notwendigkeit der Vermittlung 13 Vgl. dazu Ritter, Hegel und die französische Revolution, in: Metaphysik und Politik, Studien zu Aristoteles und Hegel (1977), S. 183. 14 Luhmann, Grundrechte (FN 1), S. 12 f. Demgegenüber dst der nicht systemtheoretisch beeinflußte Institutionenbegriff mehr an statischen Ordnungsmodellvorstellungen orientiert. Siehe dazu Luhmann, Institutionalisierung Funktion und Mechanismus im sozialen System der Gesellschaft, in: Schelsky (FN 1), S. 27 (28). 15 Diesen Aspekt betont innerhalb der rechtswissenschaftliehen Diskussion auch Steiger, in: Schelsky (FN 1), S. 118. Siehe dazu näher unten. 16 Vgl. Hege!, Werke (FN 10), Bd. 7, Vorrede, insbes. S. 26.
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in kommunikativen Zusammenhängen und in historischen Situationen gerichtet werden muß. Neben den kurz angedeuteten philosophischen Dimensionen sollte man für die juristische Diskussion auch auf soziologische Fragestellungen zurückgreifen. In der Soziologie streiten ebenfalls personalistische Ansätze wider institutionalistische.17 Ohne auf die dortigen Problemstellungen näher eingehen zu können, sei aber v. a. auf die dort interessierenden Entlastungsfunktionen von Institutionen hingewiesen. Anthropologische Ansätze18 zeigen, daß die aus Instinktmangel bedingte Weltoffenheit des Menschen durch soziale Institutionen reduziert wird, was ihm offenbar erst eine Orientierung innerhalb der Welt gestattet. Das bedeutet aber auch, daß diese Entlastungsfunktionen, die Institutionen übernehmen können, erst einen Rahmen schaffen, in dem Freiheit erlebbar wird. Dadurch nämlich, daß Fragen realer Existenzbedingungen vorab durch den Verweis auf Institutionen gelöst werden können, eröffnet sich die Möglichkeit, in einem durch sie ausgegrenzten Feld Freiheit im Sinne von autonomer Weltgestaltung zuzulassen. 19 (Darüber darf allerdings nicht vergessen werden, daß Institutionen selbst in diesem Sinne aus gesellschaftlicher autonomer Weltgestaltung entspringen, d. h., daß sie selbst Ausfluß menschlicher Freiheit sind.) In soziologischer Terminologie heißt das, daß Institutionen "ihrerseits erst die entlasteten Handlungsfelder schaffen, in denen dann sekundär funktionale Zweckmäßigkeiten untergebracht werden und zum Zuge kommen können".20 Genau genommen werden aber in diesen Theorien -so scheint es mir jedenfalls - Institutionen nur als Bedingungen aufgezeigt, die über eine Entlastungsfunktion den einzelnen frei machen, "Freiheit" zu erleben. Damit werden zwar die Begriffe "Freiheit" und "Institution" funktional miteinander verknüpft, es ist aber fraglich, ob sich von daher subjektive Freiheit überhaupt gegen die Institutionen aufrecht erhalten läßt. Wenn man nämlich das Freiheitsproblem individualistisch konstruiert und gegen Institutionen stellt, dann wird jenes Gefahr laufen, zu unterliegen. Man muß daher Freiheit nicht rein individualistisch denken, sondern individuelle Freiheit als gesamtgesellschaftliche Errungen17 Vgl. dazu nur Schelsky, Zur soziologischen Theorie der Institution, in: Schelsky (FN 1), S. 9 (10). 1 s z. B. Gehlen, Mensch und Institution, in: ders., Anthropologische Forschungen (1961), S. 69. 19 Siehe dazu Gehlen, Anthropologische Forschungen (FN 18), S. 72: "Vom Inneren der Einzelperson her gesehen bedeutet das die ,bienfaisante certitude', die wohltätige Fraglosigkeit oder Sicherheit, eine lebenswichtige Entlastung, weil auf diesem Unterbau innerer und äußerer Gewohnheiten die geistigen Energien sozusagen nach oben abgegeben werden können; sie werden für eigentlich persönliche, einmalige und neu zu erfindende Dispositionen frei." 20 Schelsky, in: Schelsky (FN 1), S. 23.
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schaft aufzeigen, die in ihren Funktionen für die Gesellschaft unentbehrlich ist und eine unhintergehbare Position darstellt. Diesen Versuch unternimmt Luhmann21 in systemtheoretischer Rekonstruktion des oben entwickelten Freiheitsbegriffes, indem er die Institutionalisierung von Freiheit als Folge der Systemdifferenzierung aufzeigt. Sie bedeutet dort die Möglichkeit individueller Rollenkombinationen - und das ist gleichsam das personalistische Moment - innerhalb einer differenzierten Gesellschaft, deren Subsysteme über größere Irrelevanzhereiche und engere Systemanforderungen22 breitere Zugangsmöglichkeiten eröffnen und damit komplexere Möglichkeiten individueller Selbstdarstellung zulassen. Dies geschieht im Zeichen gesellschaftlichen Fortschritts, der durch Systemdifferenzierung charakterisiert ist, was eine größere Leistungsfähigkeit der einzelnen Subsysteme durch ihre Spezialisierung bewirkt. Vor diesem philosophischen und soziologischen Hintergrund, der nur allzu kursorisch ausgeleuchtet werden konnte, immerhin aber erkennen ließ, daß von diesen Ansätzen her Freiheit, um innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft erlebbar zu sein, als institutionell vermittelt gedacht werden muß, soll nun die juristische Diskussion um den institutionellen Gehalt von Grundrechten behandelt werden. 111. Die Diskussion um den institutionellen Gehalt von Grundrechten
Zunächst kommt man nicht umhin festzuhalten, daß es Schwierigkeiten bereitet, eine Definition des in dieser Auseinandersetzung verwandten Institutionenbegriffs zu finden23, der von dem der Sozialwissenschaften auch noch dazu verschieden sein soll. 24 Es muß also zunächst versucht werden, die zentralen Punkte juristischer Theorien um den institutionellen Gehalt von Rechtsnormen zu rekonstruieren, wobei freilich das Risiko eingegangen wird, relevante Teile zu verkennen. Die Theorie, Rechtsnormen, insbes. Verfassungsnormen hätten einen institutionellen Gehalt, wurde zunächst von C. Schmitt entwickelt.25 Sie bedeutet auf Verfassungsebene einmal entweder eine Institutionsgarantie, d. h. eine "verfassungsrechtliche Gewährleistung von dem Verfassungsgeber vorgefundener stabiler Ordnungselemente, nämlich in der Grundrechte (FN 1), S.l4 ff. Vermutlich ist das systemtheoretisch formuliert der Gehalt dessen, was oben ,.Umbau bestehender Institutionen im Zeichen der Aufklärung" genannt wurde (bei FN 15). 23 So auch Steiger, in: Schelsky (FN 1), S. 104 f. 24 Siehe FN 5. 25 Siehe dazu Abel, Einrichtungsgarantien (FN 1), S. 18 ff. 21
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Wirklichkeit funktionierender, in öffentlich-rechtlichen Normen gegründeter Zusammenhänge mit der Wirkung, daß die garantierte Institution nur im Wege der Verfassungsänderung ... abgeschafft oder in ihrem Wesenskern angetastet und im übrigen weder durch die Legislative noch durch die Exekutive beseitigt oder ausgehöhlt werden darf." 26 Oder aber die Bestandsgarantie betrifft ein Rechtsinstitut (sog. Institutsgarantie), d. h. "verfassungsrechtliche Gewährleistungen von dem Verfassungsgeber vorgefundener Komplexe privatrechtlicher Vorschriften" 27 mit der oben genannten Konsequenz bezüglich der Veränderung. Die Lehre von den Institutionsgarantien behauptet damit eine stärkere Bindung des Gesetzgebers über den reinen Verfassungswortlaut hinaus an unterverfassungsrechtliche Normen, die über ein Verfassungsgebot gleichsam mit "Ewigkeitsanspruch" ausgestattet werden. Bemerkenswert ist also hier, daß der Institutionenbegriff in der rechtswissenschaftlichen Diskussion zumindest in seinem Kern als Komplex von Rechtsnormen verstanden wird. Darüber hinaus bekommt er durch das Definitionsmerkmal "in Wirklichkeit funktionierender (Ordnungselemente)" einen eigenartigen Bezug zu sozialen Zusammenhängen, der wohl sehr unscharf ist und dessen genaue Bedeutung sowie Funktion eher undurchsichtig bleibt. Jedenfalls erscheint mir die Analyse gerechtfertigt, daß dieser Institutionenbegriff in erster Linie an statischstrukturellen Ordnungszusammenhängen orientiert ist, die dann einfach über ein verfassung•srechtliches Gebot ZJUmindest innerhalb der Rechtsordnung die Geschichte überdauern sollen. 28 (Zwar wäre interessant, ob sich bei Wegfall des "Funktionierens in der Wirklichkeit" Konsequenzen für den verfassungsrechtlichen Schutz ergeben, doch dürfte dieses "Funktionieren" vein definitol'isch auf den Zeitpunkt der Erlassung der Verfassungsgarantie abgestellt sein, so daß der verfas· sungsrechtliche Schutz auch den Wegfall der Funktion überdauert. Anders beurteilt dies allerdings Häberle, der die reale Umsetzung, d. h das Funktionieren in der Wirklichkeit als Korrektiv benutzt.29) Es liegt nun zum einen Teil an dieser statischen Struktur, zum anderen an einem rein subjektivistischen Freiheitsbegriff, daß C. Schmitt diE Lehre von den Institutionsgarantien den Freiheitsrechten diametral ent· gegensetzt.30 Grundrechte können dann- genau genommen- überhaupt 26 27
Abel, Einrichtungsgarantien (FN 1), S. 89 f. Abel, Einrichtungsgarantien (FN 1), S. 90.
28 Diese statische Struktur kritisiert auch H. Willke, Stand und Kritik der neueren Grundrechtstheorie (1975), S. 152 f., der den Grund dafür in der Verfassungssituationder Weimarer Republik erblickt. 29 Wesensgehaltgarantie (FN 1), S. 118 ff. 3° In: Verfassungsrechtliche Aufsätze (FN 1), S. 167 ff.; Verfassungslehre (FN 1), S. 170 ff.
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keine institutionellen Beziehungen und Gehalte besitzen: dies ist ja dann auch die Konsequenz relativ neuerer Arbeiten, die sich auf den Schmitt'schen Gegensatz zwischen Institution und "negativem" Freiheitsrecht stützen.31 Demgegenüber versucht Häberle, gerade die institutionellen Bezüge der Grundrechte im Zeichen von Freiheit aufzuzeigen, wobei er sich der Sache nach der oben skizzierten Regelsehen Kritik am subjektivistischen Freiheitsbegriff bedienta2 und Freiheit als Institut verstehen will.33 Er geht dahei von der völlig richtigen Einsicht aus, daß Grundrechte nicht abstrakte "Freiheiten" gewähren (genauer formuliert müßte man dann sogar den Plural weglassen und die Frage stellen, warum überhaupt Grundrechte und nicht ein einziges Freiheitsrecht?), sondern immer schon konkret auf bestimmte Lebenbereiche hin formuliert sind: etwa Eligentum, Versammlungen, Vereine, Famiti