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German Pages 340 Year 1984
H E I N R I C H GEDDERT
- RECHT UND MORAL
Schriften
zur
Rechtsthe
Heft 111
Recht u n d M o r a l Zum Sinn eines alten Problems
Von
Heinrich Geddert
DUNCKER & H U M B L O T /
BERLIN
G e d r u c k t m i t U n t e r s t ü t z u n g d e r Deutschen Forschungsgemeinschaft
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Geddert, Heinrich: Recht und Moral: Z u m Sinn e. alten Problems/ von Heinrich Geddert. — Berlin: Duncker und Humblot, 1984 (Schriften zur Rechtstheorie; H. 111) I S B N 3-428-05631-0 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1984 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1984 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-05631-0
Inhaltsverzeichnis Vorwort 0.
9 Einleitung: Rechtsphilosophie als Sinnklärung — Was ist der Sinn der Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral?
12
0.1
Sinnklärung als Aufgabe der Philosophie
0.11 0.111 0.12 0.121 0.122 0.13 0.2
Empirischer Sinn 18 Ethische Sätze 20 Philosophischer Sinn — Philosophie und Linguistik 21 Reflexivität der Philosophie 25 Praktische Bedeutung der Philosophie 26 Die Begriffe „sinnlos", „unsinnig" und „Scheinproblem" 28 Inwiefern ist die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral sinnvoll? - Beschränkung der Fragestellung dieser Untersuchung ...
0.21 0.22
0.24
Theoretischer und unmittelbar praktischer Sinn Deskriptive und normative Theorien zum Verhältnis von Recht und Moral Eine Klassifikation aller Fälle, in denen das Verhältnis von Recht und Moral unmittelbare praktische Bedeutung hat Das traditionelle Problem der Verhältnisbestimmung
0.3
Programm dieser Untersuchung
1.
Die traditionellen rechtstheoretischen Unterscheidungen zwischen Recht und Moral: Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
0.23
Vorüberlegungen 1.1 1.11 1.12
Die Normativität
12
31 32 34 36 39
41 41
von Recht und Moral
Recht und Moral als Normenkomplexe Einige Bedeutungen von „Norm" — Recht und Moral als präskriptive Normen 1.13 Präskriptivität und Verbindlichkeit — Zur Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt 1.131 Die Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt im Erkennungssinn 1.1311 Exkurs: „Erklären" und „Verstehen" menschlicher Handlungen .. 1.132 Die Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt im Wertungssinn
43 43 49 61 63 65 69
6
Inhalt
1.133 1.134 1.14 1.141
Zum Begriff der Regelbefolgung Der Begriff der Präskriptivität Rechtfertigung des präskriptiven Normbegriffs Exkurs: Freiheit oder Determinismus
1.2
Ein Katalog möglicher Kriterien Moral
1.21 1.211 1.212 1.2121 1.2122 1.21 1.22 1.221
Der Ursprung der Norm Gesetzte und ungesetzte Normen Verschiedene Normgeber Staat und Gesellschaft I Autonome und heteronome Normen Zusammenfassung Der Geltungsgrund der Norm Unterschiedliche Geltungsgründe von Recht und Moral als Normenkomplexen ' Normen ohne Geltungsgrund — der Begriff der „absoluten Geltung" Das Verhältnis unterschiedlicher Geltungsmodi von Recht und Moral zueinander Autonomie und Heteronomie Unterschiedliche Geltungsgründe einzelner Rechts- bzw. Moralnormen Zusammenfassung Der Regelungsgegenstand der Normen Äußere Handlungen — innere Gesinnung Recht regelt das Gemeinschaftsleben, Moral das Individualleben Recht und Moral dienen verschiedenen Zwecken Staat und Gesellschaft II — Recht und Moral regln verschiedene soziale Rollen Verschiedene Normadressaten Verschiedene Arten des geregelten Sollens Zusammenfassung Die Form der Normen Rechtsnormen verbieten, Normalnormen gebieten Rechtsnormen sind imperativ-attributiv, Moralnormen nur imperativ; Rechtsnormen berechtigen, Moralnormen verpflichten Rechtsnormen sind hypothetische Imperative, Moralnormen unbedingte Imperative Rechtsnormen sind Mittel, Moralnormen Zwecke Rechtsnormen gebieten eine Sanktion zu verhängen, Moralnormen nicht Die Komplexe Recht und Moral haben unterschiedliche formale Eigenschaften Zusammenfassung Die Reaktion auf die Verletzung der Normen Recht und Sanktion
1.2211 1.2212 1.2213 1.222 1.22 1.23 1.231 1.232 1.2321 1.233 1.2331 1.2332 1.23 1.24 1.241 1.242 1.243 1.2431 1.2432 1.244 1.24 1.25 1.251
73 77 78 81
zur Unterscheidung von Recht und 86 90 91 95 95 104 107 107 111 114 116 118 125 129 130 130 140 144 145 155 158 160 160 162 163 167 170 171 174 175 176 176
Inhalt 1.252 1.25 1.2
Unterschiedliche emotionale Raktionen auf Normverletzungen .. Zusammenfassung Zusammenfassung und einige Bemerkungen zum Verhältnis der verschiedenen Unterscheidungsgesichtspunkte zueinander
184 186 186
2.
Zur Angemessenheit unterschiedlicher Begriffe von Recht und Moral — Was an dem Verhältnis von Recht und Moral ist analytisch und was empirisch? 190
2.1
Die Unterscheidung menhang
2.11 2.12
Quines Kritik an der Unterscheidung „empirisch — analytisch" .. Die Grenzen der Definitionsfreiheit
2.2
Theorie und Wirklichkeit - Das Problem der praktischen Unterscheidung zwischen begrifflicher (analytischer) und empirischer Ebene ..
2.3
Zur Frage nach der Realität von Normen
2.4
Naturrecht
2.41 2.42 2.421
Verfehlt der Rechtspositivismus das Wesen des Rechts? Ist der Rechtspositivismus unzweckmäßig? MißVerständlichkeit als Zweckmäßigkeitskriterium
2.5
Die begriffliche
3.
Lassen sich Normen begründen?
3.1
Lassen sich Normen erklären?
zwischen empirischem und analytischem Zusam193
oder Rechtspositivismus
195 196
211
- Das „Hitler-Argument"
217
218 225 233
Beziehung von Recht und Moral als normatives Problem 2
3.11 „Erklärung" 3.111 „Deduktiv-nomologische Erklärungen" 3.112 „Induktiv-statistische Erklärungen" 3.113 Geisteswissenschaftliche Erklärungen 3.1131 Erklärung und Praktischer Syllogismus 3.12 Lassen sich Normen erklären? 3.2
Lassen sich Normen begründen?
3.21 3.22 3.221 3.222 3.23 3.231 3.24
„Begründung" (im engeren Sinn) Normative — empirische Begründung Zum Verhältnis von Sein und Sollen Sind Normen wahrheitsfähig? Endlichkeit von Begründung Unmöglicher Weltbildrelativismus Lassen sich Normen begründen?
3.3
Lassen sich Normen rechtfertigen?
3.31 3.311 3.32
„Rechtfertigung" Rechtfertigung und Interaktion Lassen sich Normen rechtfertigen?
241 242 243 243 245 246 251 256 257 257 260 261 266 272 275 284 286 286 288 292
8
Inhalt
3.321
Die theoretische (logische) Möglichkeit der Rechtfertigung von Normen 3.3211 Die logisch mögliche Rechtfertigung von Normen — Ein Modell 3.3212 Die Subjektivität des Einigungsgewinns — Lagebeschreibung und Präferenzen 3.3213 Die Sicherheit des Einigungsgewinns — das GefangenenDilemma 3.322 Die empirische Möglichkeit der Rechtfertigung von Normen . . . . 3. Zusammenfassung 4.
292 295 299 304 307 30$
Der Sinn der Frage nàch dem Verhältnis von Recht und Moral. Zusammenfassung der Ergebnisse dieser Untersuchung und einige Andeutun* gen zur materialen Diskussion über einen angemessenen normativen Rechtsbegriff 311
Anhang 1. Literatur zum Verhältnis von Recht und Moral 2. Literatur zur Begründung von Normen Namen- und Sachregister
315 328 335
Vorwort In Diderots „Gespräch eines Vaters mit seinen Kindern" gibt es eine Stelle, die das Problematische am Verhältnis von Recht und Moral in vorzüglicher Weise zusammenfaßt. Nach einer längeren Diskussion über verschiedene Beispiele schwer entscheidbarer Fälle im Grenzbereich von Recht und Moral geht der Vater zu Bett. „Als ich an der Reihe war, ihm gute Nacht zu sagen und ihm seinen Kuß zu geben, flüsterte ich ihm ins Ohr: Lieber Vater, im Grund genommen gibt es keine Gesetze für den Weisen ... Sprich leiser ... Da es von allen Gesetzen Ausnahmen gibt, bleibt es ihm überlassen, von Fall zu Fall zu entscheiden, ob man sich dem Gesetz zu unterwerfen hat oder ob man sich darüber hinwegsetzen darf. Ich hätte nichts dagegen, antwortete er mir, wenn es in der Stadt ein oder zwei Bürger wie dich gäbe; aber ich würde dort nicht wohnen wollen, wenn alle so dächten." * Mein Interesse an der Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral entstammt einem ursprünglichen Interesse an der Frage nach der Begründung, Entstehung und Durchsetzung von Normen — und zwar ungefähr in dieser Reihenfolge, sofern man bei miteinander zusammenhängenden Fragen überhaupt von einer Reihenfolge sprechen kann. Die Überschrift „Recht und Moral" schien mir geeignet, diesem ursprünglicheren Interesse nachzugehen; in dieser Erwartung wurde ich nicht enttäuscht. Allerdings mußte ich bald feststellen, daß sie ein gar zu weites Feld umschreibt. Es gibt praktisch kein rechtsphilosophisches Problem, das nicht irgendwie mit diesem Verhältnis zusammenhängt. Daher war ich in mehrfacher Hinsicht zu Einschränkungen und UnVollständigkeiten gezwungen. Eine erste und wichtige Einschränkung ergibt sich aus dem Untertitel. Ich versuche nicht, die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral zu beantworten, sondern ich untersuche das Problem, wie mögliche Antworten auf diese Frage aussehen könnten. Diese Beschränkung ist mir schwer gefallen, denn die Untersuchung von mehr oder minder aktuellen Problemen mit dem Ziel unmittelbarer Handlungsorientierung ist in mancherlei Hinsicht spannender. Sie erlaubt es nicht nur, in aktuellen politisch-moralischen Diskussionen dezidiert Stellung zu beziehen, sondern sie ist auch mit der Erörterung von „Sachfragen" verbunden, ermöglicht es also, ins empirische Detail zu gehen. Beides trägt dazu bei, daß man bei einer materialen ethi• Denis Diderot: Gespräch eines Vaters mit seinen Kindern, München 1978, S. 61.
10
Vorwort
sehen Diskussion sehr viel genauer weiß, mit wem man worüber streitet, als wenn man über den Sinn eines solchen Streits nachdenkt. Gerade in Ansehung der Diskussion über das Verhältnis von Recht und Moral scheint es mir jedoch notwendig, den theoretischen Rahmen, innerhalb dessen man sinnvoll streiten kann, umfassend zu klären, denn dies ist noch nicht in ausreichendem Maße geschehen. Auch innerhalb des durch diese thematische Beschränkung gesetzten Rahmens gibt es noch eine solche Vielzahl von Problemen, daß ich mich häufig zu einer kursorischen Behandlung gezwungen sah. Es wäre eine Kleinigkeit, etwa den Teil über die Begründbarkeit von Normen auf ein Mehrfaches seines jetzigen Umfangs zu erweitern. Meinem ursprünglichen Arbeitsplan nach sollte er z.B. noch eine ausführliche Auseinandersetzung mit den verschiedenen Varianten der Diskurstheorie enthalten. Hier wie an vielen anderen Stellen mußte ich mein Vorhaben beschränken. Trotzdem hoffe ich, daß man über das, was ich geschrieben habe, diskutieren kann, ohne sogleich über das reden zu müssen, was ich nicht geschrieben habe. Im übrigen gestehe ich natürlich sofort zu, daß man auch andere Schwerpunkte setzen könnte. Die von mir behandelten Fragen stehen in einem systematischen Zusammenhang. Wenn ich mich auch nicht in der Lage fühle, ein rechtsphilosophisches System zu entwerfen, so glaube ich doch, daß der hier vorgelegte Text so etwas wie die Vorarbeit zu einem solchen System darstellt. Daß so etwas wie systematisches Philosophieren heute noch möglich ist, wird vielfach bestritten. Daran ist sicherlich wahr, daß wir heute die Schwierigkeiten solcher Versuche genauer kennen als die vorkritischen Philosophen. Aber solange Philosophie mit dem Anspruch antritt, intersubjektiv verständliche und überprüfbare wahre Sätze aufzustellen, ist sie systematische Philosophie, ob sie diesen Anspruch nun einlöst oder nicht. Der philosophische Wahrheitsanspruch selbst ist eine Tatsache, und als solche unterliegt er weder einer Rechtfertigung noch einer Kritik — er wird sich wohl ebensowenig wie der Sündenfall anders rückgängig machen lassen als durch das jüngste Gericht. Nach dem bisher Gesagten wird es kaum überraschen, daß von Anfang an die Wahl eines geeigneten Ausgangspunktes, die Organisation meiner Gedanken und die Auswahl der ausdrücklich behandelten Fragen meine Hauptprobleme waren. Es gibt keinen unbezweifelbaren Ausgangspunkt für die Behandlung von Fragen der hier gestellten Art; die in jedem Ausgangspunkt enthaltenen Voraussetzungen lassen sich nicht unabhängig von den Ergebnissen rechtfertigen. Das spätestens seit Hegel allbekannte Problem des Anfangs läßt keine unter allen Bedingungen richtige Lösung zu. Weder können anspruchsvolle Theorien auf wenige grundlegende Hypothesen zurückgeführt werden, noch ist innerhalb solcher Theorien der Ableitungs-
Vorwort Zusammenhang so eindeutig, daß man strikt zwischen Voraussetzungen und Schlußfolgerungen unterscheiden kann. Vor einem solchen Hintergrund wird die Wahl des Ausgangspunktes und der Richtung der Argumentation zu einer praktischen Frage. Es gilt, beides so zu bestimmen, daß es für den Leser möglichst von Anfang an plausibel ist. Da es jedoch den Leser nicht gibt, nicht einmal als eine Durchschnittsgrößc, wird jeder Autor sich mehr oder weniger eindeutig an sein Publikum wenden, d.h. an Menschen, die in ähnlichen Denktraditionen aufgewachsen sind wie er selbst, ähnlichen Richtungen zuneigen etc. Bei mir bedeutet das eine merkwürdige Mischung aus idealistischer und analytischer Philosophie — wobei ich selbst diese Mischung natürlich nicht als „merkwürdig", sondern als sachgerecht empfinde. Es ist hier nicht der Ort, diesen irgendwo zwischen Autobiographie und Philologie angesiedelten Fragen weiter nachzugehen. Ich wollte nur deutlich machen, welcher Art die Probleme waren, die ich bei der Gliederung dieses Buches hatte, um auf diese Weise sowohl allzu heftiger Kritik seitens derjenigen, die sie nicht überzeugend finden werden, als auch allzu heftigem Lob der Gegenseite — die es hoffentlich auch geben wird — den Boden zu entziehen. Da ich nicht damit rechnen kann, daß jeder Leser alle von mir behandelten Fragen interessant finden wird, habe ich mich bemüht, meine Kapitel als in sich verständliche — wenn auch natürlich aufeinander verweisende — Stellungnahmen zu abgrenzbaren Problemen zu formulieren. Dabei habe ich in gewissem Umfang auch Wiederholungen in Kauf genommen. Meine Absicht war es, meine Gedanken so um bekannte Problemstellungen herum zu gruppieren, daß auch ein eiliger Leser schnell das findet, was ich zu den Fragen zu sagen habe, die ihn interessieren. Daß auch insoweit nur ein Kompromiß möglich ist, versteht sich von selbst. Schließlich noch ein Wort zu Sprache: Ich habe mich um eine einfache Ausdrucksweise bemüht. Dennoch stelle ich bei der Lektüre meiner Texte fest, daß sie nicht einfach zu verstehen sind. Ich kann nur hoffen, daß sich hierin Schwierigkeiten der Sache widerspiegeln und nicht Unklarheiten meines Denkens. Einige solcher Unklarheiten sind mir bei Überarbeitungen aufgefallen, und ich habe mich bemüht, sie zu beseitigen. Besonderen Dank schulde ich in diesem Zusammenhang Prof. Dr. Kulenkampff, mit dem ich eine große Anzahl von Problemen diskutieren konnte und dessen scharfsinnige Kritik mir immer wieder Anlaß zu Präzisierungen und Korrekturen war. Die Liste der Freunde und Bekannten, die mir in der einen oder anderen Weise geholfen haben, ist zu umfangreich, um sie hier abdrucken zu können. Die Verantwortung für den Inhalt dieses Buches trage ich allein.
0. Einleitung: Rechtsphilosophie als Sinnklärung — Was ist der Sinn der Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral? Die meisten Autoren, die sich mit dem Verhältnis von Recht und Moral beschäftigen, haben sich nicht die Mühe gemacht, den Sinn der Frage nach diesem Verhältnis ausdrücklich zu behandeln. Man darf wohl annehmen, daß sie dies deshalb für überflüssig hielten, weil ihnen die Bedeutung des Problems klar zu sein schien. Bedenkt man jedoch, wie lange schon über das Verhältnis von Recht und Moral gestritten wird und wie wenig definitive Ergebnisse sich bisher ergeben haben, dann liegt es nahe, diese Voraussetzung in Zweifel zu ziehen. Denn zumindest eine mögliche Erklärung der Ergebnislosigkeit einer jahrtausendealten Diskussion könnte darin bestehen, daß die Problemlage nicht genügend genau analysiert wurde. Und tatsächlich werden wir finden, daß sich hinter der Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral eine Vielzahl Fragen verbergen, zwischen denen häufig nicht genau genug differenziert wurde. Was also ist der Sinn der Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral? Wirft man ein derartiges Problem auf, dann sieht man sich sogleich äußerst fundamentalen Fragen gegenüber. Wann hat eine Frage überhaupt einen Sinn, bzw. was heißt es, daß eine Frage einen Sinn hat? Was ist Sinn? Die Beschäftigung mit derartigen Problemen wird manchem höchst spekulativ und äußerst unpraktisch vorkommen. Und in der Tat: je abstrakter ein Gegenstand ist, desto größer ist auch die Gefahr, daß die Beschäftigung mit ihm esoterisch wird — was nichts weiter heißt, als daß sie „sinnlos" ist. Trotzdem ist es notwendig, derartige Fragen zu stellen, mehr noch, solche Fragen machen überhaupt den Gegenstand der Philosophie (und damit auch der Rechtsphilosophie) aus. Es wird eine Aufgabe dieser Arbeit sein, zu demonstrieren, daß man der oben skizzierten Gefahr nicht erliegen muß, d.h. daß es möglich ist, Philosophie zu betreiben ohne esoterisch (oder wie manche Philosophen sagen würden: metaphysisch) zu werden. 0.1. Sinnklärung als Aufgabe von Philosophie Hierbei setze ich natürlich ein bestimmtes Verständnis, mein Verständnis, von Philosophie voraus. Wenn auch die Frage, was Rechtsphilosophie oder, allgemeiner, Philosophie ist1, hier nicht ausführlich erörtert werden kann, so 1
Daß die Frage nach dem Wesen der Philosophie selbst bereits eine philosophische
0.1 Sinnklärung als Aufgabe von Philosophie
13
ist zum Verständnis des Folgenden doch zumindest eine knappe Skizze erforderlich. Diese Arbeit ist zu einem wesentlichen Teil rechtsphilosophisch und Rechtsphilosophie ist ein nur durch seinen besonderen Gegenstandsbereich abgrenzbarer Teil der Philosophie. Was nun Philosophie ist, das ist eine Frage, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Ich möchte deshalb auch für das, was ich im Folgenden über die Aufgaben der Philosophie sage, nicht in Anspruch nehmen, daß es eine vollständige Bestimmung ihrer Aufgaben und damit ihres Begriffes (in bestimmter Hinsicht) ist, und schon gar nicht, daß es eine vollständige Beschreibung desjenigen ist, was Philosophen im akademischen oder sonst irgendeinem Sinne tatsächlich tun. Meine Bemerkungen sollen eher dazu dienen, einen Eindruck davon zu vermitteln, was ich hier vorhabe; sie sollen weniger eine hieb- und stichfeste Begriffsbestimmung von Philosophie liefern als klarmachen, mit welcher Art von Denken man es hier zu tun haben wird. Philosophie beschäftigt sich mit der Erläuterung von Sprache. „Erläuterung" heißt dabei „Sinnklärung", „Sprache" bezeichnet beliebige sprachliche Handlungen, die nicht Philosophie sind. Natürlich findet auch Philosophie im Medium der Sprache statt, sie bezieht aber gegenüber ihrem Gegenstand stets eine Metaebene. Philosophie ist also eine Art des Sprechens über das Sprechen. 2 Frage ist, kann man in beinahe jedem philosophischen Werk nachlesen. Man könnte diese Frage überhaupt auf sich beruhen lassen, wenn es keinen Unterschied machte, ob man sich direkt über die Sachen streitet oder auf dem Umweg über die Begriffsbestimmung der Philosophie. Dies gilt jedoch zumindest insoweit nicht, als es um den Anspruch philosophischer Thesen geht, Erkenntnisse und Wahrheiten zu enthalten. Unter diesem Gesichtspunkt verdienen Versuche wie das von Herrmann Lübbe herausgegebene Buch „Wozu Philosophie?" (Berlin/NY 1978) Beachtung. In diesem Buch ist auch eine mehrere hundert Titel ausweisende Bibliographie zu „Rolle und Funktion der Philosophie" von Jürgen Chr. Regge enthalten. S. ferner Arend Kulenkampff (Hrsg.): Methodologie der Philosophie, Darmstadt 1979. Zwischen „Rechtsphilosophie" und „Rechtstheorie" unterscheide ich nicht, allerdings ziehe ich für das, was ich hier beabsichtige, die Bezeichnung Rechtsphilosophie vor. Gelegentlich wird versucht, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie begrifflich zu unterscheiden, vgl. Jürgen Schmidt: Die Neutralität der Rechtstheorie gegenüber der Rechtsphilosophie — Zwölf Thesen, in: Rechtstheorie 1971, 95-99. Diese Versuche haben sich jedoch bisher nicht durchsetzen können. Vgl. W. Hassemer Stich wort „Rechtsphilosophie" in: A. Görlitz (Hrsg.): Handlexikon zur Rechtswissenschaft, München 1972, 332 r.Sp.; Norbert Hoerster: Grundthesen analytischer Rechtstheorie, 129, in: Hans Albert u.a. (Hrsg.): Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 2, Düsseldorf 1972, 115-132, sowie auch andere Beiträge in diesem Band; Walter Ott: Der Rechtspositivismus, Berlin 1976, S. 18 f. In der englischsprachigen Diskussion gibt es übrigens ebenfalls keine deutliche Unterscheidung zwischen legal theory und philosophy of law, s. etwa W. Friedmann: Legal Theory, London 1953, Chap. 1 „The Place of Legal Theory". 2 Eine vorzügliche Einführung in die Grundtendenz des hier vertretenen Ansatzes bietet Richard Rorty (Ed.): The Linguistic Turn — Recent Essays in Philosophical Method,
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0. Einleitung
Im Gegensatz zu den empirischen Wissenschaften beschäftigt Philosophie sich nicht mit der Welt, sondern mit der Widerspiegelung der Welt in unseren Gedanken, oder — wie man vielleicht besser sagen sollte — mit unseren Gedanken über die Welt. Natürlich gehört auch diese Art der Beschäftigung ebenso wie ihr Gegenstand irgendwie mit zur Welt, aber doch in einem deutlich anderen Sinne, als es die Sätze der empirischen Wissenschaften tun. In der Einheit des Weltbildes mögen Philosophie und empirische Wissenschaften und, was man sonst noch alles denkt, verschmelzen, das ändert jedoch nichts daran, daß die methodische Trennung zwischen dem direkten Sprechen über die Welt und dem Sprechen über dieses Sprechen unaufhebbar bleibt. Das direkte Sprechen über die Welt bezeichne ich als empirisch, und sofern es in einer systematischen und durch eine Methode geleiteten Weise geschieht, als „empirische Wissenschaft". Den Sinn empirischer Sätze bezeichne ich als „empirische Gedanken". Empirische Wissenschaften haben es mit Dingen und raumzeitlichen Ereignissen zu tun, Philosophie mit Begriffen. Daß die Philosophie als begriffliche Wissenschaft noch nicht hinreichend bestimmt ist, ergibt sich schon daraus, daß auch Wissenschaften wie reine Mathematik und Logik als „begrifflich" gekennzeichnet werden können. Anders als diese Wissenschaften beschäftigt sich die Philosophie jedoch nicht damit, uninterpretierte Zeichensysteme (Kalküle) zu entwickeln, sondern ihre Aufgabe ist, bestimmte begriffliche Systeme, die durch Dinge und Ereignisse in der Welt tatsächlich oder angeblich bereits interpretiert sind, zu erläutern. Diese letzte Festsetzung beinhaltet Konsequenzen für Disziplinen wie z.B. die Philosophie der Logik, die vielleicht nicht jeder akzeptabel finden wird. Es folgt daraus nämlich, daß eine Philosophie der Logik (oder Mathematik) voraussetzt, daß ihr Gegenstand nicht mehr bloß als ein uninterpretiertes Kalkül angesehen wird. 3 Ich möchte dieser Frage hier nicht weiter nachgehen, denn falls dies eine unangemessene Sicht der Dinge wäre, hätte es im gegenwärtigen Zusammenhang keine schwerwiegenden Folgen. Eine Ergänzung scheint allerdings angebracht. Natürlich müssen die interpretierten Zeichensysteme, mit denen die Philosophie es zu tun hat, nicht unbedingt „elementare" empirische Theorien sein. Es können auch theoretische Zusammenfassungen mehrerer derartiger Theorien sein, und es ist vielleicht auch nicht notwendig, daß sie vollständig interpretiert sind. 4 Chicago/London 1967, dort werden auch — was hier nicht möglich ist, einige Einwände vorgestellt, die gegen diesen Ansatz vorgebracht werden können. 3 So beschäftigt sich etwa Hilary Putnam in seinem Buch „Philosophy of Logic" (London 1971) mit der Frage nach der Existenz der abstrakten Entitäten, von denen in Mathematik und Logik die Rede ist. M.E. ist in reiner Mathematik bzw. Logik von überhaupt nichts die Rede. 4 Der von mir hier zugrundegelegte Begriff von Empirie ist sehr weit. Er umfaßt alle nicht-sprachlichen Tatsachen sowie als reale Erscheinungen betrachtete sprachliche Phä-
0.1 Sinnklärung als Aufgabe von Philosophie
15
Auch viele sogenannte „philosophische Systeme" lassen sich als theoretische Zusammenfassungen empirischer Theorien verstehen, insofern sie einen empirischen Gehalt beanspruchen. Und selbst wenn sie das nicht tun, kann man sie unter Umständen als empirische Theorien deuten oder einfach der Frage nachgehen, was denn wäre, wenn sie solche Ansprüche stellten. Die Versuchung, aus einer begrifflichen Untersuchung in empirische oder normative Probleme hinüberzugleiten, ist stets sehr groß. Es besteht aber gar kein Anlaß, dies in irgendeiner Form für verwerflich zu halten, sofern nur deutlich wird, was einer gerade tut. Es zeigt sich hier nur, daß die Bestimmung der Philosophie als einer Wissenschaftsdisziplin und Aussagen darüber, was „Philosophen" als Personen oder als Angehörige eines institutionalisierten Wissenschaftsbetriebes tun, verschiedene Dinge sind. Meine Bemerkungen lassen sich in der These zusammenfassen: Philosophische Probleme haben die Form: Was bedeutet ein Begriff oder eine Verknüpfung von Begriffen im Rahmen eines bestimmten begrifflichen Systems, das beansprucht, etwas über die Welt auszusagen?5 Das rechtsphilosophische Problem des Verhältnisses von Recht und Moral lautet demnach allgemein gefaßt: Was kann die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral angesichts der verschiedenen vorhandenen empirischen Theorien alles bedeuten? Die hierbei angesprochenen empirischen Theorien über Recht und Moral sind wissenschaftssystematisch der Rechtssoziologie zuzuordnen, finden sich aber häufig in Schriften, die — von einem anderen Philosophieverständnis ausgehend — als „rechtsphilosophisch" bezeichnet wurden und werden. 6 Womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß alle „rechtsnomene. Deshalb ist es nicht notwendig, an dieser Stelle in die schwierige Diskussion darüber einzutreten, welche Arten von Tatsachen es gibt. Auch die von Ronald Dworkin in „No Right Answer" (in: P.M.S. Hacker/J.Raz (Eds.): Law, Morality and Society — Essays in Honour of H.L.A. Hart, Oxford 1977) postulierten „narrative facts" sind — sofern es sie gibt — empirische Tatsachen. Die Einschränkung, daß empirische Theorien möglicherweise nicht vollständig interpretiert sein müssen, ist wegen der in solchen Theorien vorkommenden „theoretischen Terme" erforderlich. Vgl. dazu u. 0.11. 5 Aber auch: Was bedeutet es, etwas über die Welt auszusagen? Vgl. dazu u. 0.121 Reflexivität der Philosophie. Derart allgemeine philosophische Fragestellungen sind regelmäßig mit dem Problem verbunden, daß sich nur sehr schwer sagen läßt, worauf sie sich beziehen. Was ist die Umgangssprache oder selbst die Sprache der Physik? Trotz dieser Schwierigkeiten halte ich derartige Versuche durchaus für sinnvoll. 6 Diese These ist schwer zu verifizieren, weil die meisten Autoren hinsichtlich der Kernthesen traditioneller rechtsphilosophischer Arbeiten nicht deutlich machen, ob sie begriffliche oder empirische Zusammenhänge behandeln. (Vgl. zur Unterscheidung analytisch (begrifflich) — empirisch u. 2.1). Häufig sind mehrere Deutungen möglich. Hans Ryffel: Recht und Ethik heute, in: Friedrich Kaulbach/Werner Krawietz (Hrsg.): Recht und Gesellschaft — Festschrift für Helmut Schelsky zum 65. Geburtstag, Berlin 1978, 507-525, vertritt z.B. folgende Ansichten zum Verhältnis von Recht und Moral: 1. Eine empirische Trennung zwischen Recht und Moral (Ethik), wie der Rechtspositivismus (Bentham, Austin, Hart) sie vornehme, sei möglich, und es könne auch unethisches
16
0. Einleitung
philosophischen" Schriften, denen ein anders als das hier skizzierte Verständnis von Philosophie zugrunde liegt, in Wirklichkeit zur Rechtssoziologie als einer empirischen Wissenschaft vom Recht zu zählen sind; sie können neben empirischen Teilen durchaus auch rechtsphilosophische Aussagen im hier skizzierten Sinn enthalten und tun das vielfach auch. 7 Recht geben (vgl. S. 509 und 525, wo er ein WiderstandsrecA/ gegen unethisches Recht für möglich hält. Die Doppeldeutigkeit des Wortes „Recht44 in diesem Zusammenhang ist unglücklich.) 2. Das bedeute jedoch nicht, daß das Recht (ebenso wie die Moral) nicht an obersten sittlichen Maßstäben gemessen werden müsse, die zwar nicht mehr ausformulierbar und ein für allemal feststehend seien, die man sich aber gleichwohl als absolut vorstellen müsse, und die die Funktion einer regulativen Idee erfüllten. Die erste These Ryffels ist offensichtlich empirisch. Die zweite, seine rechtsphilosophische Kernthese, hat hingegen einen unklaren Status. Immerhin kann man sie empirisch deuten. Wenn die obersten sittlichen Maßstäbe tatsächlich die Funktion einer regulativen Idee erfüllen, dann sollte man erwarten können, daß ein Gesetzgeber sich bemüht, seine Gesetze im Einklang mit ihnen zu geben. Ob etwas die Funktion einer regulativen Idee erfüllt, ist eine empirische Frage. Allerdings kann man Ryffels zweite These auch anders deuten (vgl. die nächste Anm.). Sehr deutliche Beispiele für empirische Behauptungen über das Verhältnis von Recht und Moral enthält Walter Schombardt: Recht und Sittlichkeit, Marburg 1938 (Diss.). Das folgende Zitat kennzeichnet seine rechtsphilosophische Kernthese: „Mit Recht spricht Manigk von der organisch-funktionellen Beziehung zwischen beiden Ordnungen. Sie wird vor allem deutlich in der ewig wirkenden Idee des Rechts, indem letztlich die empirische Geltung des Rechts in der philosophischen Geltung der Rechtsidee verankert ist,... Daher muß die staatliche Gesetzgebung die Stimme des Sittlichen rechtzeitig vernehmen. Das Volk verlangt nach der Übereinstimmung beider Ordnungen." (S. 44 Hervorhebung im Original). Es ist offensichtlich, daß Schombardt eine Art Anerkennungstheorie vertritt, die z.B. folgende Thesen abzuleiten erlaubte: Ein Zustand, in dem Recht und Sittlichkeit einander in erheblicher Weise widersprechen, ist instabil. Er macht einen gewaltsamen Umsturz wahrscheinlich etc. Das sind alles empirische Thesen. Rechtsphilosophisch betrachtet setzen diese Thesen die begriffliche Trennung von Recht und Moral im Sinne der postivistischen Auffassung voraus. (Schombardt problematisiert weder diese Voraussetzung noch versucht er seine äußerst globalen empirischen Thesen zu präzisieren und dadurch überprüfbar zu machen. Seine Arbeit ist deshalb weder als Rechtsoziologie noch als Gegenstand von Rechtsphilosophie besonders interessant.) Eine eindeutig begrifflich also rechtsphilosophisch orientierte Arbeit — um auch ein Kontrastbeispiel anzuführen — ist dagegen Giorgio del Vecchio: Ethik, Recht und Staat, in: ders.: Grundlagen und Grundfragen des Rechts, Göttingen 1963, S. 26-40. 7 Wiederum beziehe ich mich auf Ryffel, a.a.O., als Beispiel. Seine zweite These läßt sich auch so deuten: Sofern (vielleicht sogar: Gerade dann, wenn,..) man zwischen Recht und Ethik empirisch unterscheidet, muß man (logisch-begriffliches „müssen") darauf verzichten, etwas schon allein deshalb als richtig anzusehen, weil es Recht ist. Oder: Innerhalb einer empirischen Theorie, die Recht und Ethik trennt, impliziert Rechtmäßigkeit, nicht Richtigkeit. Es gehört innerhalb einer solchen Theorie nicht zum Sinn von „Recht", daß es richtig ist oder befolgt werden soll. Warum das so ist, begründet Ryffel nicht, aber man kann sich vorstellen, wie eine solche Begründung aussehen könnte: 1. Die Existenz mehrerer einander potentiell widersprechender Richtigkeitsordnungen ist damit unvereinbar, daß immer nur ein Verhalten geboten sein kann. 2. Die Besonderheiten des Rechts i.S. der positivistischen Trennung von Recht und Ethik, d.h. daß etwas in diesem Sinne „Recht" ist, ist unter Wertgesichtspunkten weitgehend zufällig und daher unerheblich.
0.1 Sinnklärung als Aufgabe von Philosophie
17
Was heißt es nun, daß philosophische Aussagen Erläuterungen eines (mit den skizzierten Einschränkungen) „empirischen" Sprachgebrauchs sind? Nehmen wir an, a und b seien erläuterungsbedürftige empirische Aussagen, Pa und Pb seien die Erläuterungen dieser Sätze (philosophische Aussagen über a und b). Der Sinn von a sei Sa, der von b sei Sb. Der Sinn von Pa ist dann: Der Sinn von a ist Sa. Da der Sinn eines Satzes durch diesen Satz selbst ausgedrückt wird, lautet die einfachste Formulierung von Pa: „Der Sinn von „a" ist a", wobei die Anführungszeichen bedeuten sollen, daß vom Satzsymbol die Rede ist. 8 Es ist klar, daß eine solche Formulierung nicht als „Erläuterung" angesehen werden kann, denn wenn wir nicht schon wissen, was der Sinn von „a" ist, dann wissen wir es auch nicht, wenn man uns sagt, er sei a. Eine Erläuterung hat stattdessen die Form: Der Sinn von „a" ist identisch mit dem Sinn von „b". Sie besteht also darin, daß ein unklarer Satz (hier „a") durch einen klaren Satz (hier „b") ersetzt wird. Sie ist zutreffend, wenn a identisch ist mit b, sie ist hilfreich, wenn derjenige, der „a" nicht verstanden hat, „b" versteht. Eine derartige „Übersetzung" eines Satzes in ein oder mehrere andere Sätze, läßt den Sinn des übersetzten Satzes unberührt. Sie besagt nicht mehr, als daß man für „a" auch „b" sagen kann — und enthält insofern eine in „a" und „b" nicht enthaltene Feststellung über die Sprache, ändert aber nichts am Sinn von „a" und „b". Wenn „a" sinnlos ist, dann ist auch „b" sinnlos, sofern Pa korrekt ist. Nur am Rande sei vermerkt, daß es auch noch andere Arten von Erläuterungen gibt, als die eben beschriebene. Z.B. kann ich einem des Deutschen Unkundigen die Bedeutung eines Ausdruckes erläutern, indem ich auf einen Gegenstand zeige. Wenn jemand lernen will, giftige Pilze von ungiftigên zu unterscheiden, dann tut er das am besten, indem er sich einem erfahrenen Pilzsammler anschließt. Man könnte sagen, der erfahrene Pilzsammler „erläutert" durch sein Beispiel, wie man eßbare Pilze erkennt. In einem solchen Sinne können vielleicht auch Meditationsübungen und Andachten „Erläuterungen" sein. Buddhistische Lehrgeschichten sind voller äußerst interessanter Beispiele nichtverbaler „Erläuterungen". 9 Ohne den Wert der8 Zur Unterscheidung zwischen Satz und Satzsymbol vgl. Alfred Tarski: Die semantische Konzeption der Wahrheit und die Grundlagen der Semantik, S. 58 f., in: Johannes Sinnreich (Hrsg.): Zur Philosophie der idealen Sprache, München 1972, 53-100. 9 „Ein Mönch kam zu Meister Hsing-hua und sagte: „Seit Jahren bemühe ich mich um die Erkenntnis und kann doch noch nicht einmal den Unterschied zwischen Schwarz und Weiß erkennen. Bitte Meister, helft mir!" Hsing-hua versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Da verstand der Mönch. Aus: ZenAussprüche und Verse der Zen-Meister, gesammelt v. Peter Weber-Schäfer, Frankfurt 1964 (Insel-Bücherei Nr.798), S. 33. Auf der gleichen Ebene liegen auch „schein-verbale" Erläuterungen, d.h. Erläuterungen, bei denen es weniger auf den Inhalt des Gesagten als darauf ankommt, die Situation, in der es gesagt wird, zu durchschauen, worauf der Inhalt des Gesagten dadurch hinweist, daß er in auffälliger Form an der Frage vorbeigeht:
2 Geddert
18
0. Einleitung
artiger Erläuterungen in Frage stellen zu wollen — wahrscheinlich sind sie von größerer lebenspraktischer Bedeutung als verbale Erläuterungen — schließe ich sie deshalb aus der weiteren Betrachtung aus, weil ich mich hier nur mit Philosophie als einer bestimmten Form theoretischer Wissenschaft beschäftige. Dabei lasse ich offen, ob es wesentlich auf nicht-verbalen Erläuterungen aufbauende Weltanschauungen geben kann, die den an eine Wissenschaft zu stellenden Intersubjektivitätsansprüchen genügen (ob also z.B. bestimmte Formen des Zen-Buddhismus eine Alternative zur analytischen Philosophie darstellen).
0.11 Empirischer
Sinn
Wenn eine philosophische Aussage nichts weiter als eine beliebige Übersetzung der skizzierten Art ist, können wir aus der Tatsache, daß eine derartige philosophische Aussage über „a" getroffen werden kann, nicht schließen, daß „a" auch einen Sinn hat, d.h. daß a ein mögliches Ereignis in der Welt beschreibt. Bevor wir uns der Frage zuwenden, welches der Sinn von „a" ist, sollten wir uns daher vergewissern, daß „a" überhaupt einen Sinn hat. Dazu benötigen wir ein „Sinnkriterium". Geht man davon aus, daß Sprache dazu dient, irgendwelche Zwecke zu verfolgen, und daß der Zweck empirisch deskriptiver Sätze darin besteht, etwas über die Welt auszusägen, was die Erfolgsaussichten praktischen Handelns in der Welt beeinflußt oder doch beeinflussen könnte, dann ist es zweckmäßig, Aussagen über die Welt nur dann als sinnvoll anzusehen, wenn sie sich prinzipiell überprüfen lassen, d.h. direkt oder indirekt zu Prognosen führen, die einer denkbaren Erfahrung widersprechen könnten. Die Anwendung dieses Sinnkriteriums kann man als einen besonderen Fall von Übersetzung ansehen: „a" muß durch klare Sätze ersetzt werden, die prinzipiell empirisch überprüfbar sind. Ein Einwand gegen die hier vorgetragene Auffassung könnte sich möglicherweise aus der Existenz „theoretischer Terme" ergeben. 10 „Theoretische Ein Mönch bat: „Meister, ich bin noch ein Neuling im Zen. Zeigt mir den Weg!" Dschaudschu fragte ihn: „Hast du gefrühstückt?" „Ja!" „Dann geh und wisch die Eßschale aus!" (a.a.O., S. 26). Vergleichbare, wenn auch weniger drastische Beispiele sind auch der abendländischen Philosophie nicht fremd, besonders Wittgenstein liebte „rätselhafte Formulierungen": „Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie — auf ihnen — über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig" (Ludwig Wittgenstein: Tractatus-Iogico philosophicus, Frankfurt a.M. 1960, 6.54). 1(1 Das schwierige Problem der theoretischen Terme kann hier nur erwähnt werden. Nach wie vor unerläßliche Voraussetzung einer ernsthaften Diskussion ist Rudolf Carnap: Theoretische Begriffe der Wissenschaft, in: G.L. Eberlein u.a. (Hrsg.): Forschungslogik der Sozialwissenschaft, Düsseldorf 1974. Vgl. ferner: Wolfgang Stegmüller-: Probleme und
0.1 Sinnklärung als Aufgabe von Philosophie
19
Terme" sind Ausdrücke, die im Rahmen einer wissenschaftlichen Theorie eine Rolle spielen, sich aber nicht vollständig empirisch interpretieren lassen. Als Beispiele werden häufig die physikalischen Begriffe „Masse" und „Entropie" genannt. Da — so würde der Einwand lauten — theoretische Terme anscheinend sinnvoll in Zusammenhängen vorkommen, in denen sie nicht vollständig empirisch interpretiert sind, kann der behauptete enge Zusammenhang zwischen Sinn und empirischer Bedeutung nicht bestehen. Meine Entgegnung ist — in aller Kürze — daß theoretische Terme nur insoweit sinnvoll sind, als die Theorie, in der sie vorkommen, insgesamt empirisch gehaltvoll ist (sog. Ramsey-Lösung). Und zwar nur dann, wenn sie in dieser Theorie eine wesentliche Rolle spielen, d.h. nur um den Preis der Aufgabe der Theorie gestrichen werden können. 11 In solchen Fällen ist die Theorie immer relativ weitgehend axiomatisierbar und kann als ein einziger besonders langer und komplizierter Satz angesehen werden. Ob eine derartige Theorie empirisch gehaltvoll ist, wird letzten Endes im Rahmen der natürlichen Sprache entschieden. Die natürliche Sprache ist keine Theorie und enthält auch keine theoretischen Terme. Da sowohl die Beantwortung der Frage, ob ein Satz einen Sinn hat, als auch die Klärung der Frage, welchen Sinn er hat, darin bestehen, daß der in dem Satz enthaltene Gedanke mit Hilfe anderer Sätze neu formuliert wird, die ihrerseits klar sind, setzt jede Bedeutungsklärung voraus, daß es irgendwelche Sätze gibt, deren Bedeutung klar ist. Diese Überlegung hat in den Anfängen des Wiener Kreises zur Annahme ein für allemal feststehender Basis- oder Protokollsätze geführt. 12 Eine solche Annahme ist jedoch nicht notwendig; es muß zwar immer irgendwelche klaren Sätze geben, aber es ist nicht erforderlich, daß dies stets dieselben sind. 13 Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie Bd. II (Studienausgabe Teile Β und C). 11 Zur Ramsey-Lösung (vgl. Stegmüller, S. 405 ff. Die Forderung, daß theoretische Terme innerhalb einer Theorie eine wesentliche Rolle spielen müssen, um sinnvoll zu sein, ergibt sich daraus, daß Theorien möglichst einfach sein sollen. 12
Vgl. Carl G. Hempel: Zur Wahrheitstheorie des logischen Prositivismus, in: Gunnar Skirbekk (Hrsg.): Wahrheitstheorien, Frankfurt 1977, 96-108. Protokollsätze sollten „Ausdruck reiner unmittelbarer Erfahrung ohne jeden theoretischen Zusatz" sein (a.a.O., S. 98). Eine besondere Variante dieser Theorie hat Moritz Schlick erfunden. Ihm zufolge gibt es eine besondere Satzart, die er als „Konstatierungen" bezeichnet, und die „im Unterschied zu gewöhnlichen empirischen Aussagen in einem Akt verstanden und verifiziert" werden (S. 103). Neurath und Carnap gelangten schließlich zu einem wie man vielleicht sagen könnte „funktionalen" Protokollsatzbegriff. Protokollsätze sind danach diejenigen Sätze, mit deren Hilfe wissenschaftliche Aussagen verifiziert bzw. falsifiziert werden, was aber genau Protokollsätze sind, ist weitgehend eine Frage von Konventionen. Ein derartiger Protokollsatzbegriff liefert natürlich keine feste Basis mehr. Vgl. Ernst Tugendhat: Tarskis semantische Definition der Wahrheit und ihre Stellung innerhalb der Geschichte des Wahrheitsproblems im logischen Positivismus, S. 208, in: Skirbekk (Hrsg.) S. 189-223.
2·
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0. Einleitung
Diese Relativität der Basis macht es möglich, daß zwei verschiedene Menschen mit demselben Satz Verschiedenes meinen. Daraus zogen einige Autoren dem Schluß, daß es ganz verschiedene Sprachen geben könnte, in denen sich der „gleiche" Sachverhalt verschieden darstellt, bzw. die Sachverhalte überhaupt erst konstituieren und die ineinander nicht übersetzbar sind, 14 und manche Philosophen wurden zu der Annahme verführt, es gäbe keine Möglichkeit, die Berechtigung unterschiedlicher Weltbilder (Paradigmata) objektiv zu klären. 15 Es wird jedoch unten gezeigt werden, daß ein solcher „Weltbildpluralismus" inkonsistent ist. 1 6
0.111 Ethische Sätze Bisher war nur vom Sinn empirischer Sätze und davon die Rede, daß philosophische Sätze empirische Sätze erläutern. Man wird die Frage stellen, wo denn da die Ethik bleibt, die doch offensichtlich im Zusammenhang mit Fragen von Recht und Moral eine große Rolle spielt. Das Verhältnis von Ethik und Empirie werde ich unten an verschiedenen Stellen ausführlich erörtern 17 . Hier möchte ich vorgreifend nur feststellen, daß es möglich und zweckmäßig ist, ethische Sätze im Rahmen philosophischer Sinnklärungen als empirische Sätze zu rekonstruieren, also eine „naturalistische Ethik" zu vertreten. „Ethik" verstanden als wissenschaftliche Beschäftigung mit einer bestimmten Klasse von Tatsachen (Sollens-Tatsachen) kann überhaupt nur mit Erfolgsaussicht betrieben werden, wenn es derartige Tatsachen in einem den sonstigen Tatsachen zumindest analogen Sinne gibt oder nicht gibt. Ethische Aussagen müssen prinzipiell dem oben für alle empirischen Aussagen skizzierten Sinnkriterium entsprechen. (Gerade solche Überlegungen haben Wittgenstein bekanntlich zu der Auffassung gebracht, eine Ethik sei unmöglich. 18 ) Daran ändert sich grundsätzlich auch dann nichts, wenn man die Welt in Sein und Sollen verdoppelt. Deshalb bezweifele ich, daß es 13
Otto Neurath, Protokollsätze, S. 74, in: H. Schleichert (Hrsg.) Logischer Empirismus
— Der Wiener Kreis, München 1975, S. 70-80: „Esgibt kein Mittel, um endgültig gesicherte saubere Protokollsätze zum Ausgangspunkt der Wissenschaft zu machen. Es gibt keine
tabula rasa. Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können." (Heraushebung im Original). 14 Darauf scheinen mir jedenfalls manche Behauptungen der „Ethnomethodologen" hinauszulaufen. Einzelheiten und Nachweise s.u. 3.231. 15 Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang, Frankfurt 1976, S. 384 f.; Helmut Spinner: Pluralismus als Erkenntnismodell, Frankfurt 1974, S. 81. 16 Vgl. u.3.231. 17 Vgl. u.2.3. Zur Frage nach der Realität von Normen; 3.221 Zum Verhältnis von Sein und Sollen: 3.222 Sind Normen wahrheitsfähig? IK Tractatus 6.421: „Es ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen läß.t. ..."
0.1 Sinnklärung als Aufgabe von Philosophie
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vernünftig ist, das zu tun. Auch Aussagen über ein vom Sein verschiedenes Sollen sollten einen Sinn haben. Dazu müssen sie dem oben angegebenen Sinnkriterium genügen, denn meiner Überzeugung nach müssen alle sinnvollen Aussagen über die Wirklichkeit diesem Kriterium genügen — in diesem Sinne ist es erschöpfend. Spräche man ethischen Aussagen nur einen „relativen" Sinn zu, nämlich einen Sinn innerhalb eines bestimmten ethischen Systems, würde sich sogleich die Frage nach dem Sinn dieses Systems insgesamt stellen. Das wäre dann zwar — unter Zugrundelegung eines solchen relativen Sinnbegriffs — keine sinnvolle ethische Frage mehr, es bliebe jedoch eine sinnvolle empirische Frage. Ich halte es für empirisch falsch, daß die Tatsache menschlicher Beschäftigung mit Ethik ebenso rational oder irrational ist wie eine Verdauungsstörung. Sie ist es aber nur dann nicht, wenn ethische Systeme an einer Sollenswirklichkeit gemessen werden können. Die Philosophie hat von den tatsächlichen praktischen Folgen der Ethik auszugehen, und zu versuchefi, einen „logischen" Zusammenhang zwischen diesen Folgen und den Inhalten der Ethik herzustellen, denn die interessante Frage ist, ob und wie sinnvolle Ethik möglich ist. Ein Ethik-Begriff, der bereits diese Möglichkeit ausschließt, kann bestenfalls eine bestimmte Art ethischen Denkens ad absurdum führen — und daß dies tatsächlich unsere Art des Nachdenkens über ethische Fragen ist, bezweifele ich. Sollte dies aber der Fall sein, so stellt sich sofort die Frage, wie wir das, was wir von dieser sinnlosen Art ethischen Denkens erwarteten, auf rationale Weise — und das schließt ein: mit Hilfe sinnvollen ethischen Nachdenkens — erreichen können. Wenn das, was man bisher unter Ethik verstand, ein sinnloses Unterfangen gewesen wäre, so verdiente das, was an seine Stelle zu setzen wäre, erst recht die Bezeichnung Ethik. Es schiene mir ganz verfehlt, den Namen einer Wissenschaft — und als solche wurde Ethik traditionell verstanden 19 —, wenn sich herausstellt, daß sie schwerwiegenden Irrtümern erlegen war, nach deren Aufdeckung für die Irrtümer zu reservieren.
0.12 Philosophischer Sinn - Philosophie und Linguistik Wenden wir das oben in 0.11 skizzierte Sinnkriterium auf philosophische Aussagen an, so ergibt sich, daß philosophische Aussagen sinnlos sind, sofern sie keine empirischen Aussagen sind, aber einen Sinn haben können, soweit sie Aussagen über die Sprache als etwas in der Welt sind. Es stellt sich die Frage, ob Philosophie nur eine empirische Sprachwissenschaft ist. 19 Vgl. Max Apel/Peter Ludz: Philosophisches Wörterbuch, 6. Berlin/NY 1976, Stichwort „Ethik". Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter, Bd. 2, Darmstadt 1971, Stichwort „Ethik".
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0. Einleitung
Zunächst sind Bedeutungsaussagen und Aussagen über den tatsächlichen Sprachgebrauch voneinander zu unterscheiden. Es ist etwas anderes, ob ich sage, daß ein bestimmter Sprachgebrauch tatsächlich existiert oder verbreitet ist (Viele Sprecher sagen statt „a" „b"), oder ob ich behaupte, daß eine bstimmte Äußerung etwas Bestimmtes bedeutet („a" ist gleichbedeutend mit „b"). Zum Beispiel kann es durchaus vorkommen, daß zwei Ausdrücke das Gleiche bedeuten und trotzdem tatsächlich nicht füreinander verwendet werden (dies gilt z.B. regelmäßig bei gleichbedeutenden Ausdrücken in verschiedenen Sprachen), und umgekehrt kann es einen verbreiteten Sprachgebrauch geben, nach dem nichtgleichbedeutende Ausdrücke verwendet werden, als seien sie Synonyme. Die Unterscheidung zwischen Bedeutungsaussagen und Aussagen über den empirischen Sprachgebrauch kann zur Abgrenzung von Philosophie und empirischer Sprachwissenschaft (Linguistik) herangezogen werden. Man hat versucht, eine solche Unterscheidung von Linguistik und Philosophie mit Hilfe des Begriffes der „logischen Analyse" 20 bzw. der „rationalen Rekonstruktion" 21 zu treffen. Norbert Hoerster formuliert folgende Anforderungen an eine analytische Rechtsphilosophie: „Was erforderlich ist, ist eine logische (verstanden im Sinne einer „informalen" Logik) Analyse der betreffenden Begriffe (z.B. „Recht", „Norm", H.G.), auf der Grundlage des allgemeinen Sprachgebrauchs. Es gilt, die — zwar im Sprachgebrauch enthaltenen, dem Teilnehmer an diesem Sprachgebrauch aber gewöhnlich nicht bewußten — Implikationen der Begriffe ans Licht zu bringen, explizit zu machen und die auf diese Weise erhellten Begriffe auf ihre logische Verträglichkeit hin zu prüfen." 22 Die Methode der rationalen Rekonstruktion wird im allgemeinen auf vorhandene Texte und nicht auf einen ganzen Sprachgebrauch bezogen, unterscheidet sich aber im übrigen ihrer Zielrichtung nach von der von Hoerster postulierten logischen Analyse nicht erheblich. Eine rationale Rekonstuktion einer Theorie oder auch eines umfassenden Sprachgebrauchs soll: 1. Mit den der Theorie oder dem Sprachgebrauch zugrundeliegenden wesentlichen Intuitionen in Einklang stehen, 2. Soweit wie möglich mittels präziser Begriffe dargestellt werden, 3. möglichst als konsistente Theorie entwickelt werden.23 Vgl. dazu Norbert Hoerster: Grundthesen analytischer Rechtstheorie, in: Hans Albert u.a. (Hrsg.) Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft — Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 2, Düsseldorf 1972, 115-132, 119 f.; s.a. Alfred Jules Aver: Sprache, Wahrheit und Logik, Stuttgart 1970 (l.engl. 1936), S. 90f. Wolfgang Stegmüller: Gedanken über eine mögliche Rationale Rekonstruktion von Kants Metaphysik der Erfahrung, in: Ders.: Aufsätze über Kant und Wittgenstein, Darmstadt 1970, 1-61, 1-5; zur Anwendbarkeit auf Rechtsphilosophie vgl. Hans-Joachim Koch: Seminar: Die juristische Methode im Staatsrecht, Frankfurt 1977, S. 18 f. " Hoerster S. 120
0.1 Sinnklärung als Aufgabe von Philosophie
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Ob damit bereits eine ausreichende Abgrenzung zwischen Philosophie und empirischer Sprachwissenschaft getroffen ist, erscheint fraglich. Es könnte sich durchaus auch um eine Abgrenzung zwischen beschreibender und erklärender Sprachwissenschaft handeln. Angenommen wir haben einen bestimmten Sprachgebrauch logisch analysiert, dann können wir mit Hilfe dieser Analyse Vorhersagen darüber machen, wie in bestimmten Anwendungsfallen ein Sprecher bestimmte Begriffe verwenden wird. Es ist zumindest möglich, die durch logische Analyse oder durch rationale Rekonstruktion ermittelte, im Einklang mit dem normalen Sprachgebrauch und seinen wesentlichen Intuitionen stehende, konsistente Theorie als empirische Erklärung des normalen Sprachgebrauchs aufzufassen. Das Aufstellen derartiger Theorien würde ich jedoch als Ziel einer empirischen Sprachwissenschaft ansehen. Daß die Abgrenzung einer solchen empirischen Sprachwissenschaft von Philosophie so schwierig ist, läßt sich relativ leicht erklären. Wenn man fordert, daß philosophische Sätze den Sinn sprachlicher Ausdrücke innerhalb eines bestimmten sprachlichen Bezugsrahmens (piner Sprache) erläutern, dann müssen sie ganz wesentlich auf der Kenntnis der einschlägigen Regeln der Bezugssprache beruhen. Zwar sind die Regeln einer Sprache nicht mit den Regelmäßigkeiten des tatsächlichen Sprachgebrauchs identisch, aber man wird einräumen müssen, daß der Regelbegriff letztlich voraussetzt, daß die Regeln auch befolgt werden, daß das Vorhandensein von Regeln sich also in wahrnehmbaren Regelmäßigkeiten ausdrückt. Sofern es Aufgabe der Philosophie ist, Sprachregeln zu finden und zu analysieren, erscheint es deshalb nicht von vornherein als ausgeschlossen, Philosophie und Linguistik gleichzusetzen. Ohne dieses schwierige Problem hier diskutieren zu können, möchte ich immerhin andeuten, daß meiner Auffassung nach Philosophie und empirische Sprachwissenschaft nicht identisch sind. Die Philosophie beschränkt sich keineswegs darauf, den im tatsächlichen Sprachgebrauch schon mehr oder weniger enthaltenen und eventuell verborgenen Sinn sprachlicher Äußerungen ans Licht zu bringen, sondern sie schafft auch neuen Sinn. In der dritten an eine rationale Rekonstruktion gestellten Anforderung, Theorien möglichst großer Konsistenz zu konstruieren, ist schon enthalten, daß der Bewertungsmaßstab für die Güte philosophischer Analysen nicht ihre 23 Bei Stegmüller lauten die Forderungen: (1) Die Theorie muß in solcher Form dargeboten werden, daß die Darstellung mit den Grundideen des betreffenden Philosophen im Einklang bleibt. (2) Soweit wie möglich soll die Theorie mittels präziser Begriffe dargestellt werden. (3) Sie soll als eine konsistente Theorie entwickelt werden, falls dies möglich ist (d.h. falls sich nicht alle rationalen Deutungen, welche die Forderungen (1) und (2) erfüllen, als inkonsistenî erweisen). (a.a.O., S. 2). Zur Anwendung auf einen umfassenden Sprachgebrauch war also nur eine Änderung des ersten Prinzips erforderlich.
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0. Einleitung
Prognosefähigkeit, sondern bestimmte theoretische Eigenschaften sind. Wenn philosophische Analysen konsistentere Sprachregeln ergeben, als sie im tatsächlichen Sprachgebrauch zum Ausdruck kommen, dann stellen sie Bedeutungsfestsetzungen oder Vorschläge zu einem neuen Sprachgebrauch dar. Derartige Vorschläge zu machen, gehört aber sicher nicht zu den Aufgaben einer empirischen Sprachwissenschaft. Mit Hilfe einer unten noch erläuterten Terminologie kann man sagen: Philosophie läßt sich deshalb nicht auf empirische Sprachwissenschaft reduzieren, weil sie im Gegensatz zu dieser der Sprache gegenüber einen internen Standpunkt einnimmt. 2 4 Philosophie ist kritisch und konstruktiv. Wenn Philosphie nicht mit empirischer Sprachwissenschaft identisch ist, dann ist sie nach Maßgabe des obigen Sinnkriteriums sinnlos. 25 Es besteht jedoch keine Notwendigkeit, es dabei zu belassen. Mit Hilfe ähnlicher Überlegungen, wie sie oben für empirische Aussagen angestellt wurden, kann man ohne allzu große Schwierigkeiten ein spezifisches Sinnkriterium für philosophische Aussagen entwickeln. Es ist der Zweck philosophischer Aussagen, die Bedeutung empirischer Aussagen zu klären, d.h. die Frage zu beantworten, ob anscheinend empirische Aussagen tatsächlich empirisch sind (einen Sinn haben), und die Frage zu beantworten, welchen empirischen Sinn sie haben. (Tatsächlich befassen sich Philosophen natürlich nur mit bestimmten besonders problematischen und interessanten Aussagen, nämlich gerade denjenigen, deren empirischer Status problematisch ist, und die gleichwohl praktische Bedeutung für sich in Anspruch nehmen. Möglicherweise wäre daher in eine vollständige Definition von Philosophie auch eine inhaltliche Beschränkung ihres Gegenstandsbereiches aufzunehmen. Da es mir hier jedoch nur darauf ankommt, bestimmte Merkmale desjenigen, was ich unter Philosophie verstehe, hervorzuheben, nicht jedoch darauf, eine vollständige Definition zu liefern, kann das dahingestellt bleiben.) Sofern philosophische Aussagen diesen Zweck erfüllen oder doch jedenfalls erfüllen können, sind sie sinnvoll. Man kann sagen, daß der Sinn philosophischer Aussagen ein vom Sinn empirischer Aussagen abgeleiteter Sinn ist, man kann das Verhält24
Zur Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt (hier gemeint: interner und externer Standpunkt im Wertungssinn) vgl. u. 1.132. 25 Zu diesem Ergebnis kam auch Wittgenstein im Tractatus (6.54). Er hielt es darüber hianus für unmöglich, ein spezielles Sinnkriterium für die Philosophie einzuführen. Später gab er die Vorstellung, es gäbe nur ein einziges, empiristisches Sinnkriterium, auf. Trotzdem hielt er am Sinnlosigkeitsverdacht jedenfalls bestimmten Arten der Philosophie gegenüber (Metaphysik) fest. Eine umfassende Untersuchung zu Wittgensteins Bestimmung der Philosophie liegt soweit ersichtlich bisher nicht vor, obgleich die WittgensteinLiteratur Bibliotheken füllt. Hinweise auf die Schwierigkeiten, mit denen eine solche Untersuchung es zu tun haben würde, und erste Ansätze zu ihrer Lösung enthält insbesondere Morris Lazerowitz: Wittgenstein on the Nature of Philosophy, in: Fann, K. T.: Ludwig Wittgenstein — The Man and his Philosophy, NY 1967. Nach Abschluß des Manuskripts erschien: Walter Schweidler: Wittgensteins Philosophiebegriff, Freiburg/München 1983.
0.1 Sinnklärung als Aufgabe von Philosophie
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nis aber auch umgekehrt auffassen (die Wahl einer materialistischen oder idealistischen Position hängt letzten Endes nur von Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten ab). Empirische Beschreibungen und Erklärungen sind sinnvoll, wenn und weil sie uns etwas über die Welt mitteilen (sie die Welt „abbilden") — diese Feststellung gilt nur für „Aussagen", nicht z.B. für Befehle, Aufforderungen, Bitten, Beschwörungen etc. Auch solche Äußerungen müssen aber einen deskriptiven Teil enthalten, der empirisch sinnvoll ist, d.h. sie enthalten Namen, die in sinnvollen empirischen Aussagen vorkommen können, und sie lassen sich darüberhinaus mit Hilfe derartiger Aussagen beschreiben (ζ. B. Tue x! = Er sagt,daß du χ tun sollst.) — philosophische Aussagen sind sinnvoll, wenn und weil sie uns mitteilen, was „Abbildung", Beschreibung und Erklärung der Welt allgemein oder im konkreten Fall heißt.
0.121 Reflexivität der Philosophie Man könnte nun meinen, daß sich die Hierarchie: Empirie, Ethik — Philosophie ad infinitum müßte fortsetzen lassen. Ebenso, wie man über empirisches Sprechen sprechen kann, müßte man auch über Philosophie sprechen können. Wäre dies möglich, dann müßte es eine Metaphilosophie geben, eine Meta-metaphilosophie und so weiter geben. Ich glaube jedoch nicht, daß das möglich ist. Die Frage, was es heißt, den Sinn von Begriffen zu klären, muß man sicherlich als eine philosophische Frage und nicht als eine meta-philosophische Frage ansehen. Denn wenn man diese Frage (oder entsprechende) stellt, dann kann man das sinnvoll nur vor dem Hintergrund einer bestimmten „Begriffsklärungspraxis" tun. Eine vollständigere Fassung der Frage würde also lauten: Was tun die Philosophen eigentlich, wenn sie — so wie sie es machen oder machen sollten — den Sinn von Begriffen klären? Es wird dabei nach dem Sinn einer bestimmten beobachtbaren oder vorgestellten Art von Begriffsklärung gefragt, und d.h. es wird nach dem Sinn eines empirischen Begriffs gefragt. Metaphilosophie kann es deswegen nicht geben, weil die Philosophie, sobald man sich ihr philosophisch nähert, zu einer Art Empirie wird. Diesen Zusammenhang kann man auch — allerdings wie mir scheint auf eine recht ungenaue und vielleicht sogar irreführende Weise — ausdrücken, indem man die Philosophie als „reflexiv" bezeichnet. „Reflexivität" hat hier im Grunde nur den negativen Sinn, daß Philosophie nicht zum Gegenstand einer Metaphilosophie gemacht werden kann. Irreführend ist diese Bezeichnung, sofern man sich vorstellt, daß Philosophie deshalb nicht zum Gegenstand einer Metaphilosophie gemacht werden kann, weil sie immer zugleich auch selbst ihr Gegenstand ist. Verstünde man hierunter — und eine andere verständliche Deutung fällt mir nicht ein — , daß Philosophie ein Satzsystem ist, welches eine mehr oder minder große
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0. Einleitung
Anzahl selbstreflexiver Sätze enthält (oder gar nur aus solchen besteht), dann hätte das die ganz unnötige Folge, daß man entweder Vieles nicht sagen dürfte oder sich dauernd in Paradoxien und Selbstwidersprüchlichkeiten verwickeln müßte.
0.122 Praktische Bedeutung der Philosophie Während durch das oben eingeführte Sinnkriterium für empirische Aussagen gesichert ist, daß empirische Aussagen immer zumindest potentiell praktische Bedeutung haben, ist dieser Zusammenhang bezüglich der philosophischen Aussagen weniger offensichtlich. Philosophie dient dem Fortschritt empirischer Wissenschaft bestenfalls auf eine sehr mittelbare Weise. Zwar ist der Fall denkbar, daß eine begriffliche Verwirrung empirische Forscher dazu veranlaßt, in falscher Richtung nach Lösungen ihrer Probleme zu suchen, und in diesem Falle könnte eine philosophische Aufklärung eine Umorientierung bewirken, es ist aber nicht klar, in welchem Umfang empirische Wissenschaftler auf eine solche Orientierungshilfe angewiesen sind. Zunächst einmal scheint der Maßstab unmittelbarer praktischer Bewährung ein sehr viel wirksameres Korrektiv wissenschaftlicher Fehlentwicklungen zu sein. Es ist sicherlich kein bloßer Zufall, daß wissenschaftssoziologisch betrachtet, die Philosophie der Entwicklung der empirischen Wissenschaften eher hinterherzuhinken scheint. Allerdings müssen ja nicht unbedingt die Philosophen die besten philosophischen Einsichten haben, und natürlich stellen empirische Wissenschaftler viele Überlegungen an, die in dem von mir skizzierten Sinne philosophisch sind. Aber es scheint doch so, als wenn in nicht unerheblichem Umfang Fortschritt in den empirischen Wissenschaften möglich ist, ohne daß irgendjemand den angemessenen philosophischen Hintergrund dazu liefern könnte. Dennoch glaube ich, daß auch sinnvolle philosophische Aussagen eine gewisse unmittelbare praktische Bedeutung haben. Diese Bedeutung besteht aber nicht darin, daß sie den Fortschritt in irgendwelchen mehr oder weniger selbständigen Teilbereichen menschlicher Aktivität befördern, sondern eher darin, allgemeines Orientierungswissen zu liefern. Aufgabe der Philosophie ist es, ein Weltbild in umfassendem Sinn zu liefern, das den verfügbaren Rationalitätsmaßstäben möglichst weitgehend genügt. Daß gerade eine Philosophie der hier skizzierten Art dazu in der Lage sein sollte, wird mancher vielleicht bezweifeln wollen. Ich will mich bemühen, diese Zweifel zu zerstreuen und zu zeigen, daß die Beschränkung der Philosophie auf Begriffliches keineswegs bedeutet, daß sie deswegen lebenspraktisch bedeutungslos würde. Das rationale — oder wie ich es nennen möchte — wissenschaftliche Weltbild, auf dessen Herstellung philosophische Bemühung gerichtet ist, kann zwar Religion nicht ersetzen, und es nimmt auch niemandem seine
0.1 Sinnklärung als Aufgabe von Philosophie
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Entscheidungen ab. Es kann aber umgekehrt zur Entscheidung in einem doppelten Sinne frei machen: einmal in dem Sinne, daß klar wird, welche Entscheidungen überhaupt zu treffen sind, zum anderen in dem Sinne, daß die Bedingungen klar werden, unter denen diese Entscheidungen zu treffen sind. Zu diesen Randbedingungen von Entscheidungen gehören natürlich auch die Ergebnisse empirischer und sonstiger Wissenschaften außerhalb der Philosophie. Aber es ist die spezifische Leistung der Philosophie, ein begriffliches Rüstzeug zu liefern, das es erlaubt, die Mannigfaltigkeit von Erfahrungen, Modellen, Wünschen und Theorien in ein einheitliches Weltbild zu integrieren. 26 In unserem Zusammenhang, aber auch in der heutigen Diskussion überhaupt, kommt der philosophischen Durchdringung der Ethik besonderes Gewicht zu. Daher möchte ich die praktische Bedeutsamkeit der Philosophie mit Hilfe eines aus der Ethik gewählten Beispiels illustrieren. Betrachten wir die Frage danach, ob es eine absolute Moral gibt. Das philosophische Problem, das diese Frage aufwirft, ist: Welchen Sinn kann der Ausdruck „absolute Moral" haben, in welchem Sinn könnte es so etwas „geben"? Philosophische Überlegungen führen nun dazu, daß jedenfalls bei einer bestimmten traditionellen Interpretation diese Frage sinnlos ist, da sich nicht angeben läßt, welche denkbaren Umstände uns erlauben würde, sie zu bejahen oder zu verneinen. (Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß die Frage in einer anderen Interpretation sinnvoll sein könnte, und wieder in einer anderen unsinnig.) Ein solches Ergebnis scheint demjenigen, der sich moralisch verhalten will, zunächst nicht zu helfen. Besonders dann, wenn er sich klare Anweisungen erhofft hatte, wird er enttäuscht sein. Aber ganz abgesehen davon, daß man ja, nachdem die „absolute Moral" erst einmal vom Tisch ist, weiter darüber nachdenken kann, wie man sich richtig verhält, bringt dieses Ergebnis doch auch insoweit eine praktische Entlastung, als bestimmte Arten der Suche nach einer absoluten Moral von vornherein nicht mehr unternommen werden müssen. Darüberhinaus können eine Vielzahl von ethischen Forderungen mit Absolutheitsanspruch ohne weitere Prüfung als unberechtigt verworfen werden. Dies sind meines Erachtens sehr handfeste praktische Konsequenzen. Als ein gemeinsames Merkmal sinnvoller Fragen — sei es im Bereich der empirischen Wissenschaften, sei es in der Philosophie — möchte ich festhalten, daß sie jedenfalls in der einen oder anderen Hinsicht praktische Bedeutung haben müssen. Dieser pragmatische Kern der Sinnkriterien erscheint mir sehr wichtig. Er sollte aber nicht so aufgefaßt werden, als müßte sich jede sinnvolle empirische oder philosophische Untersuchung sofort irgendwie 26
In jüngster Zeit hat John Kekes: The Nature of Philosophy, Guildford etc. 1980, die hier nur angedeutete Auffassung, daß es Aufgabe der Philosophie sei, Weltbilder zu konstruieren und zu rechtfertigen, brillant und sehr umfassend entwickelt und begründet.
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0. Einleitung
praktisch umsetzen lassen, und besagt erst recht nicht, daß dies auch tatsächlich geschieht. „Praktische Konsequenzen haben" bedeutet — so wie ich es hier gebraucht habe — ja nicht, daß etwas tatsächlich bestimmte Folgen hat (das können auch Irrtümer haben, aber Irrtümer haben keine Konsequenzen in dem von mir hier angesprochenen Sinne — ihre Folgen ergeben sich daraus, daß sie als Irrtümer nicht erkannt wurden), sondern daß jemand sich in einer bestimmten Situation aufgrund bestimmter Erkenntnisse in bestimmter Weise verhalten oder nicht verhalten würde, handelte er rational.
0.13 Die Begriffe
„sinnlos", „unsinnig" und „Scheinproblem"
Vor dem Hintergrund der bisherigen Diskussion darüber, was sinnvolle empirische und philosophische Aussagen und Fragen sind, können nun die Begriffe „sinnlos", „unsinnig" und „Scheinproblem" folgendermaßen eingeführt werden: Eine Aussage ist sinnlos oder unsinnig, wenn es aufgrund sprachlicher Zusammenhänge unmöglich ist anzugeben, unter welchen empirischen Bedingungen (abgesehen von Veränderungen der Sprache) man ihr zustimmen oder sie verwerfen würde. Eine Frage ist sinnlos oder unsinnig, wenn die möglichen Antworten auf sie sinnlose und unsinnige Aussagen sind, oder wenn aus sprachlichen Gründen eine Antwort überhaupt unmöglich ist. Diese beiden Bedingungen werden in der Regel nicht zu trennen sein; sie stellen nur zwei Seiten ein und derselben Medaille dar. Die Frage danach, ob es Gott gibt, ist in einer bestimmten Interpretation eine sinnlose Frage, dann nämlich , wenn derjenige, der sie stellt, nicht angeben kann, was als Existenzbeweis bzw. Widerlegung angesehen werden könnte, d.h. wenn das „gibt" in der Frage nicht interpretiert ist. Man könnte diesen Sachverhalt sowohl durch die Feststellung beschreiben, daß eine Antwort auf die Frage nach der Existenz Gottes unmöglich ist, weil hier der Begriff Existenz nicht interpretiert ist, als auch dadurch, daß man sagt, die grammatisch möglichen Antworten auf die Fage nach der Existenz Gottes: a. Es gibt Gott, b. Es gibt ihn nicht, wären sinnlose Aussagen, da in ihnen das hier nicht-interpretierte Prädikat „es gibt" vorkommt. 2 7 Während sinnlose Fragen deswegen nicht beantwortet werden können bzw. nur sinnlose Antworten auf sie möglich sind, weil diese Fragen nicht interpretierte Ausdrücke enthalten, und es daher aus logisch-semantischen Gründen unmöglich ist, sich zwischen möglichen Antworten begründet zu entscheiden, kann man bei den unsinnigen Fragen nicht einmal angeben, wie 27
Vgl. zu diesem Beispiel Ludwig Wittgenstein: Lectures & Conversations-on Aesthetics, Psychology and Religious Belief (Ed. by Cyril Barret) Oxford 1970, 59 f.
0.1 Sinnklärung als Aufgabe von Philosophie
29
denn eine Antwort aussehen könnte. 28 Sinnlose Fragen enthalten objektsprachlich nicht gedeutete Ausdrücke, sind also nicht vollständig interpretiert, unsinnige Fragen sind dagegen nicht interpretierbar. Unsinnige Fragen ergeben sich aus der Nichtbeachtung bestimmter sprachlicher Regeln, z.B. duch Kategorienfehler oder Verwechslung verschiedener Sprachebenen (Typenfehler). 29 Ein einfaches Beispiel einer unsinnigen Frage ist: Ist die Zahl Zwei grün? Nur Dinge können (außer in übertragenem Sinn) Farben haben, und Zahlen sind keine Dinge. Man kann Zahlen nicht einmal (außer in übertragenem Sinne) „farblos" nennen. Es ist einfach so, daß Farbprädikate auf Zahlen nicht angewandt werden können. Daher gibt es auf die Frage, ob die Zahl Zwei grün ist, weder eine richtige noch eine falsche Antwort, sondern nur die Feststellung, daß die Frage unverständlich ist. Weder eine sinnlose noch eine unsinnige Frage ist unter allen Umständen sinnlos oder unsinnig. Sinnlose Fragen lassen sich zu sinnvollen Fragen machen, indem man sie vollständig interpretiert. Dazu sind neue begriffliche Festsetzungen erforderlich, es ist jedoch nicht unbedingt notwendig, bereits bestehende sprachliche Festsetzugnen aufzugeben. W i l l man eine unsinnige Frage hingegen zu einer sinnvollen machen, dann muß man die bestehenden Konventionen verändern, gegen die sie verstößt. Um sinnlose Fragen zu sinnvollen zu machen, bedarf es also nur einer Ergänzung der Sprache, um unsinnige zu sinnvollen zu machen dagegen einer Revision. Fragen, die in bestimmten Kontexten sinnvoll sind, können in anderen Kontexten sinnlos oder gar unsinnig sein. Die oben angebenen Merkmale dieser Arten von Fragen sind daher als notwendige und nicht als hinreichende Bedingungen anzusehen. Umgangssprachliche Begriffe weisen eine bestimmte Vagheit 30 auf. Dies führt in den meisten Verwendungszusammenhängen nicht zu Problemen, weil die Begriffe hinreichend präzise für diese Verwendungen sind. Es lassen sich aber relativ leicht Fälle bilden, in denen die Vagheit dieser Begriffe zum Tragen kommt. Die oben als Beispiel verwandte Frage nach der Existenz Gottes illustriert diesen Zusammenhang. I m allgemeinen wissen wir, was es heißt von etwas auszusagen, daß es existiert. Es gibt durchaus einen klaren Bedeutungskern des Prädikates 31 „existiert", 28
Diese Unterscheidung ist an den Sprachgebrauch Wittgensteins im Tractatus angelehnt. Vgl. etwa 4.461 für „sinnlos" und 4.1272 für „unsinnig". 29 S. dazu Gunnar Skirbekk: Wahrheit und Voraussetzungen, in: ders. (Hrsg.): Wahrheitstheorien, Frankfurt 1977, 449-489, 468 ff. 30 Der Begriff Vagheit ist hier im weiten Sinne von „semantisch nicht eindeutig festgelegt" gebraucht. Zu den verschiedenen Arten semantischer Spielräume vgl. Koch (a.a.O. Fn 21) S. 41-55. 31 Der Ausdruck „Prädikat" wird hier in einem rein grammatikalischen Sinne gebraucht, so daß die Frage, ob Existenz ein Prädikat im logischen Sinne ist, auf sich beruhen kann (vgl. dazu G.E. Moore: Is Existence a Predicate, in: A.G.N. Flew (Ed.): Logic and Language, Second Series Oxford 1973, S. 82-94.) Die Schwierigkeit mit der Frage, ob Gott existiert, rührt vielleicht z.T. daraus her, daß es
30
0. Einleitung
dieser umfaßt insbesondere die Fälle der Existenz von Dingen oder Sachverhalten sowie Ereignissen. Sobald wir dieses Prädikat allerdings auf Ideen und Begriffe anwenden, wird unklar, was wir damit meinen. Sofern man sich unter Gott in der Frage einen alten Mann mit Rauschebart vorstellt, ist vollkommen klar, was die Frage nach seiner Existenz bedeutet. Stellt man sich unter ihm hingegen eine ideelle Macht vor, muß man angeben, in welchem Sinne man nach seiner Existenz fragt. Eine mögliche Interpretation des Prädikates wäre z.B.: Gott existiert, wenn man an ihn glaubt (wobei das „glauben" etwa präzisiert werden könnte als: bewußt sein Handeln nach dieser Idee ausrichten). Die Frage nach der Existenz Gottes wäre dann zu reformulieren: Gibt es eine mit dem Wort „Gott" zu bezeichnende Idee, an der man sein Verhalten ausrichten kann, und an der tatsächlich eine (mehr oder weniger große) Anzahl von Menschen ihr Verhalten ausrichtet? Ich will nicht behaupten, daß diese Frage schon klar ist, hoffe aber doch, daß erkennbar geworden ist, wie man ungefähr verfahren könnte, um eine sinnlose Frage sinnvoll zu machen. Die Frage nach der Existenz Gottes kann unter Umständen auch ein Beispiel für eine unsinnige Frage sein, dann nämlich, wenn man unter Gott etwas versteht, worauf das Prädikat „existiert" (wiederum in einer bestimmten Interpretation) nicht anwendbar ist. Formulierungen wie: „Gott ist unfaßbar, er übersteigt unser Vorstellungsvermögen", deuten in eine solche Richtung. Beim Wort genommen machen sie Fragen nach oder Aussagen über die Existenz Gottes zu Kategorienfehlern und damit unsinnig. Sowohl sinnlose als auch unsinnige Fragen kann man als Scheinprobleme bezeichnen. Scheinprobleme sind — im Gegensatz zu wirklichen Problemen — prinzipiell unlösbar. Sie können nur entweder „zum Verschwinden gebracht" oder auf ihren „realen Kern" zurückgeführt werden. Wirkliche Probleme, seien sie nun empirischer oder philosophischer Art, sind prinzipiell stets lösbar. Allerdings kann es sein, daß sie aus tatsächlichen Gründen nicht gelöst werden. In diesem Fall kann man jedoch stets angeben, was man wissen oder tun müßte, um sie zu lösen. Die trotz langwährender und umfangreicher Diskussion nach wie vor bestehende Uneinigkeit über das Verhältnis von Recht und Moral könnte ebensogut darauf beruhen, daß es sich bei der Frage nach diesem Verhältnis um ein Scheinproblem handelt, wie darauf, daß empirische Umstände ihre Lösung unmöglich gemacht haben. Im Rahmen einer systematischen Untersuchung kann es dahinstehen, welche der beiden Möglichkeiten in welchem Umfang den historischen Diskussionsverlauf erklärt (im allgemeinen liegt man richtig, wenn man ein Zusammenwirken von empirischen und begrifflichen Schwierigkeiten vermutet), es ist jedoch notwendig, sich zu vergewissern, inwiefern das hier mehrere Prädikate im logischen Sinne gibt, die mit dem grammatischen Prädikat „existiert" angesprochen sein können.
0.2 Beschränkung der Fragestellung dieser Untersuchung
31
erörterte Verhältnis von Recht und Moral tatsächlich problematisch ist und inwiefern es ein Scheinproblem sein könnte.
0.2 Inwiefern ist die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral sinnvoll? — Beschränkung der Fragestellung dieser Untersuchung Gemäß den beiden oben skizzierten Sinnkriterien ist eine Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral genau dann sinnvoll wenn verschiedene Antworten auf diese Frage bei ansonsten gleichen Prämissen zu unterschiedlichen praktischen Folgerungen fähren, d.h. wenn die Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Moral insofern praktische Bedeutung hat, als sich aus ihr bestimmte Verhaltensweisen begründen lassen. Eine derartige praktische Bedeutung hat das Verhältnis von Recht und Moral, wenn sich Situationen angeben lassen, in denen die Art seiner Bestimmung entscheidungsrelevant ist. 0.21 Theoretischer
und unmittelbar praktischer
Sinn
Genaugenommen können begriffliche Bestimmungen, und das schließt philosophische Begriffsanalysen ein, immer nur auf theoretischer Ebene entscheidungsrelevant sein. Ein Beispiel derartiger Entscheidungsrelevanz ist es etwa, wenn ein Rechts Wissenschaftler je nach seinem Rechtsbegriff das Völkerrecht zum Recht rechnet oder nicht. Derartige Probleme der Klassifikation oder allgemeiner gesprochen der Theoriebildung können durchaus in einem nichttheoretischen Sinne praktische Bedeutung haben (Einfachheit und Übersichtlichkeit von Theorien dienen dem wissenschaftlichen Fortschritt). Nur wenn dies der Fall ist, kann man sinnvoll danach fragen, ob eine Einordnung hier oder dort „richtig" ist. Ob die Frage nach der Rechtsnatur des Völkerrechts eine sinnvolle Frage ist, hängt z.B. seinerseits von den Konsequenzen ab, die man an eine Antwort knüpft. Hätte ihre Verneinung zur Folge, daß man die Vorschriften des Völkerrechts nicht befolgen muß, daß Völkerrecht nicht im Rahmen der juristischen Ausbildung gelehrt wird, oder dergl., dann hätte diese Frage einen Sinn. Würde sie jedoch nur dazu führen, daß dem Völkerrecht eine eigene Art von Verbindlichkeit zugesprochen werden müßte, wie wenn es Recht wäre, und daß es weiterhin an juristischen Fakultäten gelehrt würde, nur eben als Lehrstoff sui generis, dann wäre es in das Belieben jedes Einzelnen gestellt, ob er Völkerrecht als Recht ansehen will oder nicht, und die Frage danach, wie man es richtigerweise klassifiziert, hätte gar keinen Sinn. 32 n
Jedenfalls gäbe es keine theoretisch richtige Klassifikation im Sinne einer aus bestimmten theoretischen Festsetzungen logisch ableitbaren Klassifikation.
32
0. Einleitung
Auch bezüglich der rechtsphilosophischen Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Moral kann ich mir vorstellen, daß sie für die Angemessenheit von Rechtstheorien, rechtssoziologischen Theorien und anderen Theorien, die Recht und/oder Moral zum Gegenstand haben, von Bedeutung ist. Diese Frage kann jedoch zunächst zurückgestellt werden, denn eine derartige theoretische Bedeutung ist immer nur von einer unmittelbaren praktischen Bedeutung abgeleitet, wie sich in dem Ausdruck „Bedeutung für die Angemessenheit einer Theorie" zeigt. Angemessen ist eine Theorie dann, wenn sie die spezifischen Leistungen, die man von ihr erwartet, möglichst gut erbringt. Ob sie dies tut, wird nicht innerhalb der Theorie, sondern im Rahmen einer umfassenderen Theorie und letztlich im Rahmen eines Weltbildes entschieden.33
0.22 Deskriptive und normative Theorien zum Verhältnis von Recht und Moral Theorien über das Verhältnis von Recht und Moral können entweder die Aufgabe haben, dieses Verhältnis zu beschreiben und zu erklären, oder sie können die Aufgabe haben, Normen über das richtige Verhalten aufzustellen. Obgleich meiner Ansicht nach zwischen diesen beiden Arten von Theorien sehr weitgehende Beziehungen bestehen, — tatsächlich glaube ich, daß normative Theorien über das Verhältnis von Recht und Moral nur sinnvoll sind, wenn sie auch zu bestimmten empirischen Fragen dieses Verhältnisses Annahmen enthalten 34 — ist es doch zunächst unschädlich, sie getrennt zu behandeln. Eine Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Moral ist demnach sinnvoll: 1. wenn sie im Rahmen einer beschreibenden und/oder erklärenden Theorie erfolgt, und praktisch folgenreich ist, 2. wenn sie im Rahmen einer normativen Theorie erfolgt und praktisch folgenreich ist. Die Frage, wann das Verhältnis von Recht und Moral innerhalb sozialwissenschaftlicher Theorien bedeutsam wird, interessiert mich hier nur insoweit, als sie sich auf mit diesem Verhältnis verknüpfte normative Probleme auswirkt. Ich beschränke mich daher insoweit auf die Angabe eines illustrativen Beispiels. Angenommen, man versteht unter Moral die in einer Gesellschaft vorherrschenden Richtigkeitsüberzeugungen hinsichtlich von Handlungen und unter Recht die den Mitgliedern einer Gesellschaft als Forderung gegenübertretenden von einer besonderen Instanz gesetzten und durch einen besonderen Stab sanktionierten Normen, dann kann man das Verhältnis von 33 34
Zu den Begriffen Theorie und Weltbild vgl. ausführlich u. 3.23. Vgl. dazu u.3.32.
0.2 Beschränkung der Fragestellung dieser Untersuchung
33
Recht und Moral in einer Gesellschaft beschreiben. Man kann mehrere Gesellschaften unter diesem Gesichtspunkt vergleichen und man kann Hypothesen darüber aufstellen, welche Folgen es hat, wenn die Inhalte von Recht und Moral sich widersprechen, wenn es kein selbständiges Recht neben der Moral gibt etc. Solche Forschungen sind sicherlich sinnvoll. Merkwürdigerweise gibt es sie ûbrigëns kaum. Die meisten Sozialwissenschaftler arbeiten mit einem umfassenden Begriff der „sozialen Norm", den sie als Kontinuum auffassen, in dem sowohl Recht als auch Moral untergebracht werden. 35 Da innerhalb dieses Kontinuums keine klaren Grenzen gezogen werden können, kann auch das Verhältnis von Recht und Moral nur relativ vage als ein mehr oder weniger beschrieben werden und eignet sich demnach schlecht für empirische Untersuchungen. Dabei ist es ganz unklar, ob ein derart verwaschener Begriff der sozialen Norm besonders zweckmäßig ist. 36 Nicht nur Juristen denken vermutlich im Zusammenhang mit dem Thema „Recht und Moral" in erster Linie an normative Probleme. Die wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit derartigen Problemen befassen, sind Rechtswissenschaft und Ethik. In ihnen verbinden sich mit der Kontroverse über das Verhältnis von Recht und Moral Fragen wie z.B. die folgenden: 37 Darf oder muß man seinem Gewissen folgen, auch wenn es ein rechtswidriges Verhalten fordert? Darf man Überzeugungstäter bestrafen? Ist man verpflichtet, das Recht zu befolgen? Ist der Staat berechtigt, moralische Postulate mit den Mitteln des Rechts durchzusetzen? Gibt es Verbrechen ohne Opfer? Solche Fragen haben offensichtlich große praktische Bedeutung. Sieht man genauer hin, dann erkennt man allerdings, daß diese praktische Bedeutung immer schon entweder eine bestimmte Begriffsbestimmung von Recht und Moral voraussetzt, oder weitgehend unabhängig von dieser Bestimmung ist. Nicht so klar ist deshalb, ob im Rahmen derartiger Fragestellungen gerade die begriffliche Abgrenzung von Recht und Moral bedeutsam ist. Es könnte 35 Vgl. Rene König: Stichwort „Soziale Normen", in: Wilhelm Bernsdorf (Hrsg.): Wörterbuch der Soziologie, Bd. 3, Frankfurt 1972. 36 Die meisten Formulierungen des Begriffs der sozialen Norm (z.B. auch die von König enthalten nicht das Erfordernis, daß einer Regelmäßigkeit gegenüber in gewissem Umfang ein interner Standpunkt im Wertungssinne (vgl. dazu u. 1.132) bestehen muß, damit man sie als Norm in irgendeinem Sinne ansehen kann. Man darf bezweifeln, daß Sozialwissenschaftler ohne dieses von H.L.A. Hart in „The Concept of Law" aufgestellte Kriterium mehr als einen intuitiven Begriff von Gesellschaft entwickeln können. 37 Ein Katalog von im Zusammenhang mit Recht und Moral in der Bundesrepublik aktuellen Fragen findet sich bei Klaus Lüderssen: Können Paragraphen Schuldgefühle abschaffen? — Recht und Moral im Wechselspiel der Diskussion, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung von 24.1.1981, Tiefdruckbeilage S. 2.
3 Geddert
34
0. Einleitung
sein, daß bei einer anderen Begriffsbildung der Sache nach dieselben Fragen bestünden, nur anders formuliert werden müßten. Dieser Zusammenhang, der übrigens für beschreibende und erklärende Theorie ganz genauso besteht, wird noch genauer zu klären sein. Hier ist zunächst nur festzuhalten, daß es jedenfalls eine Reihe praktisch-normativer Probleme gibt, die unmittelbar mit dem Verhältnis von Recht und Moral in Verbindung gebracht werden können.
0.23 Eine Klassifikation aller Fälle, in denen das Verhältnis von Recht und Moral unmittelbare praktische Bedeutung hat Setzen wir einmal voraus, daß Recht und Moral Orientierungs- bzw. Bewertungsmaßstäbe für menschliches Handeln sind, lassen sich die Fälle, in denen ihr Verhältnis praktisch bedeutsam werden kann, folgendermaßen klassifizieren: 1. Eine Person (P) will sich rechtmäßig verhalten. Ρ weiß, was moralisch geboten ist, aber nicht, was rechtlich geboten ist. 2. Ρ will sich moralisch verhalten. Ρ weiß, was rechtlich geboten ist, aber nicht, was moralisch geboten ist. Sofern alle in 1. und 2. vorkommenden Begriffe interpretiert sind, hat in beiden Fällen die Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Moral praktische Bedeutung, denn es gilt: a. Wenn Recht und Moral identisch sind, dann weiß P, wie sie sich verhalten muß. b. Wenn es keinen Fall gibt, in dem Recht und Moral dasselbe vorschreiben, dann weiß Ρ nicht, wie sie sich verhalten soll, kennt aber einige Verhaltensweisen, die jedenfalls nicht in Frage kommen. c. Wenn Recht und Moral manchmal dasselbe vorschreiben und manchmal nicht, und es keine Regel gibt, mit deren Hilfe man angesichts einer bestimmten Situation entscheiden kann, ob sie dasselbe vorschreiben oder nicht, dann nützt Ρ die Kenntnis des jeweils anderen Maßstabes überhaupt nichts. Gibt es jedoch in manchen oder allen Fällen eine Regel, mit deren Hilfe man aus dem einen Maßstab auf den anderen folgern kann, dann kann Ρ in manchen oder allen Fällen ableiten, wie sie sich verhalten muß. 3. Ρ weiß sowohl, was moralisch geboten ist, als auch was rechtlich geboten ist. Die beiden Gebote sind unvereinbar. Ρ will möglichst dem höherrangigen Gebot bzw. demjenigen folgen, welches man einem übergeordneten Maßstab entsprechend zu befolgen hat. Ρ weiß nicht, ob eines der beiden Gebote höherrangig ist, oder ob es einen dritten übergeordneten Maßstab gibt und/oder, was er vorschreibt. Auch hier ist — sofern alle vorkommenden Begriffe interpretiert sind — sicher, daß die Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Moral praktische Bedeutung hat.
0.2 Beschränkung der Fragestellung dieser Untersuchung
35
Es bestehen zwei Möglichkeiten: a. Weder ist eines der beiden Gebote höherrangig, noch existiert ein übergeordneter Maßstab, dann ist der Widerspruch unlösbar. Jede Entscheidung P's ist gleich gut. Sofern entgegen der Voraussetzung unklar wäre, was „höherrangig" oder „übergeordnet" hier bedeutet, würde Ρ übrigens vor demselben Dilemma stehen, nur wäre schon der Versuch, es durch Rekurs auf einen höheren Maßstab zu lösen, sinnlos. Er wäre sogar unsinnig, wenn die Existenz eines höherrangigen Maßstabes schon begrifflich ausgeschlossen werden könnte. b. Es gibt einen höheren Maßstab (d.h. man kann Recht, Moral und den höheren Maßstab als ein umfassendes Normensystem auffassen — dabei ist der höherrangige Maßstab mindestens eine Präferenzregel, durch die die Konsistenz dieses Systems hergestellt wird) bzw. entweder Recht oder Moral sind höherrangig als der jeweils andere Maßstab, dann fällt die Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Moral mit der Bestimmung des höheren Maßstabes zusammen und entscheidet darüber, ob dem Recht oder der Moral gefolgt werden muß. Viele Juristen werden wahrscheinlich am ehesten den 3. Fall, den Normenkonflikt, mit dem Problem der Beziehung von Recht und Moral verbinden. Sie denken dabei z.B. an Richter im Dritten Reich, die Gesetze anwenden sollten, von deren Falschheit sie überzeugt waren, und denen sich die Frage stellte: Wann — wenn überhaupt je — darf man als Richter vom Gesetz abweichen? Solche Grenzsituationen sind zweifellos sehr instruktiv, aber sie erschöpfen das Problem nicht. Unter normalen Bedingungen ist der 1. Fall sicherlich viel bedeutsamer. Er betrifft sowohl den juristischen Laien, der sich rechtmäßig verhalten will, aber in Ermangelung differenzierter Gesetzeskenntnisse vielfach gar nicht anders kann, als aus seinen sonstigen Richtigkeitsvorstellungen abzuleiten, was wohl rechtens ist, als auch den Richter, der in Ermangelung einer gesetzlichen Regelung rechtsschöpferisch tätig werden muß, sei es daß das Gesetz ihn ausdrücklich dazu auffordert (wie z.B. in § 138 BGB), sei es, daß das Gesetz einfach schweigt und ihm daher keine andere Wahl läßt als sich anderswo nach einem Maßstab dafür umzusehen, was das Recht ist. Er betrifft schließlich auch den Gesetzgeber, der sich bemüht, mit Hilfe von Gesetzen das Recht zu verwirklichen. In den beiden vorhergehenden Sätzen habe ich zwischen Recht und Gesetz terminologisch unterschieden. Das soll jedoch keine Festlegung auf eine bestimmte Definition von Recht bedeuten. In dieser Arbeit geht es nicht um definitorische Probleme. Tatsächlich ist es für die Probleme, um die es hier geht, ziemlich gleichgültig, wie man Recht und Moral definiert, solange die Sprache, innerhalb derer das geschieht, genügend viele Ausdrucksmöglichkeiten besitzt, um die „wegdefinierten" Probleme neu zu formulieren. 38 Unterschiedliche Definitionen können allerdings dazu führen, daß ein Problem — in der obigen Klassifikation — anders eingeordnet werden muß. Setzt man Recht und Gesetz gleich, dann werden problematische Fälle eher 38
3·
S. u. 2.2 Theorie und Wirklichkeit.
36
0. Einleitung
als Normenkonflikte (3. Fall) erscheinen. Wer zwischen Recht und Gesetz unterscheidet, kann z.B. die folgende Situation als Spezifikation von Fall 1 diskutieren: Ein Gesetz schreibt a vor. Ein Richter kennt das Gesetz, glaubt aber, daß b moralisch richtiger wäre. Da Recht und Gesetz etwas Verschiedenes sind, kennt der Richter das moralisch Gebotene, nicht aber das rechtlich Gebotene. Dieselbe Situation muß von demjenigen, der Recht und Gesetze gleichsetzt, als unter Fall 3 fallend diskutiert werden. (Der Richter kennt Moral und Recht, die beiden widersprechen sich.) Letzterer meint dann mit der Frage nach einer höheren Normordnung oder einer Präferenzregel dasselbe wie ersterer mit der Frage nach dem Recht: Es ist ein wesentlicher Mangel vieler rechtsphilosophischer Diskussionen über das Verhältnis von Recht und Moral, daß derartigen terminologischen Fragen entweder zuviel Gewicht beigemessen wird, oder sie nicht genügend beachtet werden, so daß man sich entweder über Worte streitet oder aneinander vorbeiredet. 39
0.24 Das traditionelle
Problem der Verhältnisbestimmung
Wir haben oben ein Frageschema aufgestellt, das grundsätzlich alle sinnvollen Fragen nach dem Verhältnis von Recht und Moral erfaßt, soweit sie sich für den praktisch Handelnden stellen können, dessen Handlung nicht gerade darin besteht, Theorien über das Verhältnis von Recht und Moral aufzustellen. Es würde sich nun anbieten, in dieses Schema, innerhalb dessen ja die Begriffe Recht und Moral nicht vollständig interpretiert sind — lediglich, daß beides „Verhaltensanweisungen" sind, hatten wir vorausgesetzt — die diversen möglichen Definitionen dieser Begriffe einzusetzen, wobei die traditionelle Diskussion als Definitionslieferant dienen könnte. Man erhielte auf diese Weise eine Vielzahl sinnvoller Fragen, die man anschließend eine nach der anderen zu beantworten versuchen könnte. Obgleich ein solches Verfahren grundsätzlich möglich und in mancher Hinsicht vielleicht auch sinnvoll ist, steht es zur traditionellen Diskussion des Verhältnisses von Recht und Moral irgendwie quer. Diese Diskussion erschöpft sich keineswegs darin, das Verhältnis aller möglichen Gegenstände, die man mit Recht und Moral bezeichnen könnte, zueinander zu diskutieren, sondern setzt weitgehend voraus, daß man in der Definition von Recht und Moral nicht frei ist. Liegt dem eine richtige Annahme zugrunde, Typisch in diesem Zusammenhang insbesondere Stellungnahmen zum Rechtspositivismus. Martin Kriele: Recht und Praktische Vernunft, Göttingen 1979, S. 125ff. unterstellt, daß in Kelsens Reiner Rechtslehre Legitimität in Legalität aufgehe, so daß Widerstandsrecht ebenso wie Legitimitätsverteidigung des demokratischen Verfassungsstaates grundsätzlich ausgeschlossen seien. Für jeden Kenner Kelsens ist aber offensichtlich, daß Kelsen beides keineswegs ausschließt, sondern nur ausschließt, daß Widerstand gegen rechtsförmiges Handeln rechtlich geboten sein kann. (Vgl. zum Problemkomplex der Mitverantwortlichkeit des Rechtspositivismus für den Nationalsozialismus u. 2.4)
0.2 Beschränkung der Fragestellung dieser Untersuchung
37
dann muß man vor einer Einsetzung in das oben dargestellte Frageschema den Spielraum abgrenzen, innerhalb dessen man Recht und Moral so oder so definieren kann. Betrachtet man die traditionelle Diskussion, dann gewinnt man den Eindruck, daß gerade dies das Problem ist, um das gerungen wird. Zumindest implizit setzen fast alle Autoren voraus, daß ihre Interpretation von „Recht" und „Moral" die richtige ist. Das Verhältnis von Recht und Moral interessiert sie genaugenommen nur als Voraussetzung oder Konsequenz einer bestimmten Interpretation der beiden Begriffe. Während beliebige Einsetzungen in das Frageschema dazu führen würden, alle — innerhalb eines bestimmten sprachlichen Rahmens — sinnvollen Verhältnisse von Recht und Moral zu klären oder jedenfalls erst einmal als Frage aufzuwerfen, steht im Mittelpunkt der traditionellen Diskussion eindeutig das Problem, ob und in welchem Umfang das Verhältnis von Recht und Moral notwendig begrifflich bestimmt ist. 40 D.h. es geht um die Frage, ob man gezwungen ist, „Recht" und „Moral" in einer bestimmten Weise zu definieren, und was daraus für ihr Verhältnis folgt. Diese Frage ist letztlich eine Frage nach der Angemessenheit einer Rechtstheorie, denn bei ihr geht es — jedenfalls von rechtsphilosophischer Warte aus — um die Festlegung des Rechtsbegriffes. Nun ist es natürlich nicht gesagt, daß es tatsächlich so etwas wie die richtige Rechtstheorie gibt, und ebensowenig steht fest, daß — selbst wenn es so etwas gäbe — damit notwendig eine bestimmte Definition von Moral verbunden wäre. Man würde aber die bisherige Diskussion kaum richtig verstehen, wenn man nicht das Faktum festhielte, daß sie in erheblichem Maß von einer solchen Annahme bestimmt wird. Dies ist im übrigen auch keineswegs unplausibel. Denn wenn man versucht, den Gegenstand einer Theorie zu bestimmen (hier das Recht), dann besteht sicherlich die Hauptschwierigkeit darin, ihn genügend deutlich von irgendwie verwandten Gegenständen abzugrenzen. Und es ist offensichtlich, daß in der Umgangssprache Recht und Moral eng miteinander verbunden werden. So können wir z.B. die Beschreibung eines bestimmten Verhaltens mit dem Satz: „Das war recht", kommentieren, und meinen damit u.U., daß dies Verhalten moralisch richtig war. Ebenso sprechen wir davon, ein „Recht" auf irgendetwas zu haben, ohne damit notwendig zu meinen, daß wir es vor Gericht einklagen 40
Vgl. dazu Norbert Hoerster (Hrsg.): Recht u. Moral. Texte zur Rechtsphilosophie, München 1977, Vorwort S. 9 f., sowie die in Kapitel 1 abgedruckten Texte. Auch Fragen der Bewertung des Rechts (bei Hoerster, Kap. 2) können häufig als Konsequenzen einer bestimmten Auffassung vom Begriff des Rechts angesehen werden. Daher würde ich die Artikel von Messner u. H.L.A.Hart in Hoersters zweitem Kapitel auch noch zur Begriffsdiskussion zählen. Im allgemeinen diskutieren Rechtsphilosophen das Verhältnis von Recht und Moral auch systematisch im Zusammenhang mit der Bestimmung der Rechtsbegriffe. Vgl. nur Herrmann Kantorowicz: Der Begriff des Rechts, Göttingen o.J.). Kap. 4(S. 55 f.); Radbruch: Rechtsphilosophie, 8. Aufl., Stuttgart 1973, hrsg. v. Erik Wolf u. Hanspeter Schneider, § 5 (S. 127 ff.); Giorgio Del Vecchio: Lehrbuch der Rechtsphilosophie, Berlin 1937, I. Abschnitt (S. 244 ff.). Die Liste ließe sich beliebig verlängern.
38
0. Einleitung
könnten. Auch die Annahme, es könne eine richtige Rechtstheorie geben, ist zumindest in der Form aufrecht zu erhalten, daß man sich möglicherweie mit guten Gründen für eine Rechtstheorie als die beste entscheiden kann. Es ist nun keineswegs von der Hand zu weisen, daß die guten Gründe gerade in der Abgrenzjung von Recht und Moral liegen könnten. Angesichts dieser Ausgangslage ist es problematisch, bestimmte Rechtsund Moralbegriffe aus irgendwelchen Theorien zu nehmen, und in das obige Frageschema einzusetzen. Das Problem des Verhältnisses von Recht und Moral, so wie es sich für die klassische Diskussion stellte, würde dadurch gerade nicht gelöst, sondern nur verschoben. Denn ihr Problem ist gerade nicht, was unter Zugrundelegung bestimmter Rechtstheorien für das Verhältnis von Recht und Moral folgt, sondern ob sich aus dem Verhältnis von Recht und Moral bestimmte rechtstheoretische Grundentscheidungen ergeben. Ein solches Frageinteresse setzt aber voraus, daß die Einsetzungen in das obige Schema nicht irgendwelchen Rechtstheorien entnommen werden, sondern daß die Bedeutung der Begriffe „Recht" und „Moral" zumindest in gewissem Umfang vortheoretisch (intuitiv) feststeht, und daß es möglich ist, derartige Intuitionen begrifflich zu fassen. Diese Ausgangsposition darf nicht mit einem naiven Begriffsrealismus verwechselt werden. Es geht bei ihr nicht einfach um terminologische Fragen. Daß man das gleiche Phänomen verschieden bezeichnen kann, und je nach dem, wie man es bezeichnet, zu unterschiedlichen verbalen Schlußfolgerungen kommt, wird kaum jemand bestreiten wollen. So würde man z.B. die Kritik an der „Reinen Rechtslehre" Kelsens, wonach diese für den praktischen Juristen irrelevant ist 4 1 , mißverstehen, wenn man annähme, sie schlösse aus, daß man die Worte so verwenden kann, wie Kelsen das tut. Diese Kritik bestreitet, daß Kelsens Lehre das Phänomen erfaßt, um das sich anders orientierte Rechtsphilosophien bemühen. Die Annahme von einzelnen Theorien vorausgehenden Phänomenen ist jedoch, wie wir noch sehen werden 42 , unabdingbar.
41 So Wolfgang Schild: Die Reine Rechtslehre, S. 108 f., in: A. Kaufmann/W. Hassemer (Hrsg.): Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg/Karlsruhe 1977, 103-111. Ähnlich wohl schon Radbruch, der in seiner Rechtsphilosophie die Reine Rechtslehre einmal (S. 116) mit folgenden Worten erwähnt: „Gleichfalls Rechtsphilosophie des positiven Rechts, wenn überhaupt Rechtsphilosophie, eine eigenartige Verbindung des Positivismus mit seinem scheinbaren Gegenteil, der „normologischen" Sollenslehre, ist die sogenannte Reine Rechtslehre, die in ihrer unerbittlichen Entlarvung aller Hypostasierungen und Fiktionen die Aufgabe eines originellen Philosophen aus Ludwig Feuerbachs Schule (gemeint: Ludwig Knapp, H.G.) wieder aufzunehmen scheint: als „hohe Polizei des Wissens" alle „Rechtsphantasmen zu zerstören", um schließlich „sich selbst zu vernichten"." 42 Vgl. u. 2.2. Theorie und Wirklichkeit
0.3 Programm dieser Untersuchung
39
Die Frage, um die es hier geht, lautet also: Welches ist die angemessene rechtstheoretische Beschreibung des Verhältnisses von Recht und Moral in einem vortheoretischen Sinn? Eine solche Frage wirft schwierige wissenschaftstheoretische Probleme auf, denn der Begriff einer vortheoretischen Wirklichkeit ist generell schwer faßbar und bereitet im Zusammenhang mit Normen und Werten zusätzliche besondere Schwierigkeiten. Im Grunde sind es diese Schwierigkeiten, die die Diskussion über Recht und Moral in Gang halten. Dennoch hoffe ich, im Verlauf dieser Arbeit zeigen zu können, daß die Situation nicht aussichtslos ist.
0.3 Programm dieser Untersuchung A m Ende einer Einleitung erscheint es stets angebracht, den Gang der folgenden Überlegungen zu skizzieren und die Ereignisse anzudeuten, zu denen diese Überlegungen führen werden. Dies soll auch hier geschehen. Der Gegenstand dieser Untersuchung ist ausschließlich der Sinn der Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral. Drei Dimensionen dieses Problems lassen sich unterscheiden: a. Was wollen wir wissen, wenn wir nach dem Verhältnis von Recht und Moral fragen? b. Was gibt es für mögliche Antworten auf die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral? c. Wie können wir uns für eine bestimmte Antwort begründet entscheiden? Die Frage a. ist bereits in dieser Einleitung beantwortet worden. Es scheint mir nur fair zu sein, schon hier daraufhinzuweisen, daß dieses Buch auch insoweit ein philosophisches Buch im Sinn des oben skizzierten Philosophiebegriffes ist, als es da endet, wo eine materielle Diskussion beginnen müßte. A m Ende steht nicht eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral, sondern eine Erkenntnis darüber, wie eine solche Antwort möglich ist. Im nächsten Abschnitt werde ich versuchen, in enger Anlehnung an die traditionelle Diskussion eine Systematik der möglichen Antworten auf die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral zu entwickeln. Dabei gehe ich mit der Mehrheit der Autoren davon aus, daß der Begriff der Normen Oberbegriff von Recht und Moral ist, und es darauf ankommt, ihre spezifische Differenz zu bestimmen. Noch bevor über die verschiedenen Abgrenzungskriterien gesprochen werden kann, ist es deswegen notwendig, eine gewisse Klarheit über den Normbegriff herzustellen. In diesem Zusammenhang muß auch die Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt eingeführt werden. Ferner müssen Bedenken ausgeräumt werden, die
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0. Einleitung
sich daraus ergeben, daß einige Autoren das Verhältnis von Recht und Moral unter einer anscheinend anderen Perspektive diskutieren als der der Abgrenzung verschiedener Normkomplexe. In den beiden darauf folgenden Abschnitten wird es um die Frage gehen, ob man sich begründet für eine bestimmte Abgrenzung von Recht und Moral entscheiden kann. Diese Fragestellung werde ich insoweit einengen, als ich lediglich die Angemessenheit einer Abgrenzung in unmittelbar praktischer Absicht diskutiere. Im ersten der beiden, diesem Problem gewidmeten Abschnitte wird unter der Fragestellung, ob das Verhältnis von Recht und Moral empirisch oder analytisch ist, zunächst die „Angemessenheit" von Theorien sehr grundsätzlich erörtert. Das Verhältnis von Empirie und Begrifflichkeit, Wirklichkeit und Theorie, der Begriff des Weltbildes und der Weltbildanalyse sowie die Gegenüberstellung von Wesensdefinition und zweckmäßigem Sprachgebrauch sind einige der Themen. Ob derartige Überlegungen rechtsphilosophisch bedeutsam sind, hängt von der Wirklichkeit des Sollens ab, die ich im Ergebnis bejahen werde. Damit ist dann der Weg frei, um anhand einer Untersuchung der Frage, ob der Rechtspositivismus einen totalitären Unrechtsstaat begünstigt hat oder begünstigen könnte („Hitler-Argument"), die Frage nach der Analytizität des Verhältnisses von Recht und Moral zu beantworten. Dabei werde ich zu dem Ergebnis kommen, daß der Rechtsbegriff einer Rechtstheorie in unmittelbar praktischer Absicht ein ethischer Begriff ist, sodaß die Frage nach seiner Angemessenheit letztlich darauf hinausläuft, ob gute ethische Gründe für einen bestimmten Rechtsbegriff angegeben werden können. Diese Frage gehört als materielle ethische Frage nicht mehr zum Gegenstand dieser Arbeit, jedoch werde ich das Problem untersuchen, ob sich Normen überhaupt begründen lassen. Wie sich zeigen wird, ist dies in mehrfacher Bedeutung der Fall. Deshalb ist anzunehmen, daß sich auch ein angemessener Rechtsbegriff in unmittelbar praktischer Absicht begründen läßt. Als Recht soll man nur ansehen, was in bestimmtem Umfang moralischen Anforderungen genügt.
1. Die traditionellen rechtstheoretischen Unterscheidungen zwischen Recht und Moral: Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe Vorüberlegungen Die Frage nach dem „wirklichen" Verhältnis von Recht und Moral läßt sich auch als Frage danach formulieren, ob es Gründe gibt, eine bestimmte Definition dieser beiden Begriffe anderen möglichen Definitionen vorzuziehen; also als Frage nach den Adäquatheitsbedingungen einer Definition von Recht und Moral 4 3 . Die traditionelle rechtstheoretische Diskussion über das Verhältnis von Recht und Moral betrachte ich hauptsächlich als eine Diskussion eben dieses Problems. Zwar haben die meisten Autoren nicht einmal die Frage nach der Angemessenheit gerade ihres Abgrenzungsvorschlages deutlich gestellt, aber implizit beanspruchen sie doch, daß ihre Abgrenzung die richtige, d.h. angemessene sei 44 . Wenn auch die Gründe dieser Überzeugung 43 Ebenso Ralf Dreier: Bemerkungen zur Rechtserkenntnistheorie S. 102 f, in: Werner Krawietz u.a. (Hrsg.): Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz, Berlin 1979, 89-105. In einiger Ausführlichkeit diskutiert Walter Ott: Der Rechtspositivismus, Berlin 1976, S. 163-221 das Problem der Trennung von Recht und Moral als Problem der Adäquatheit einer Rechtstheorie. Er kommt zu dem Ergebnis, daß unter normalen politischen Bedingungen, die theoretische Trennung eher vorteilhaft ist, unter Bedingungen des Unrechtsstaates aber zu unhaltbaren Konsequenzen führt, obgleich ich dieser Schlußfolgerung gegenüber skeptisch bin — vgl. dazu unten die Diskussion der „Hitler-These" (2.4.), halte ich den Ansatz Otts für allein gerechtfertigt. Martin Kriele: Rechtspflicht und die positivistische Trennung von Recht und Moral, in: ÖZöR NF 16(1966)413-429, wirft dem Rechtspositivismus seine praktischen Konsequenzen vor (s.z.B. S. 422). Derartige Argumentationen, die sich häufig finden, stellen eine Kritik unter Adäquatheitsgesichtspunkten („Wirklichkeitsverlust", Kriele 413) dar. 44 S.z.B. Heinrich Henkel: Einführung in die Rechtsphilosophie. 2. Aufl. München 1977, S. 52-101. Henkel spricht so von Recht und Moral als seien die Bedeutungen dieser Begriffe feststehend. Er bedient sich, so könnte man unter Verwendung einer Terminologie Carnaps sagen, einer inhaltlichen Sprechweise und nicht einer formalen (vgl. Carnap, Rudolf: Logische Syntax der Sprache, 2.Aufl. Wien/NY 1968, S. 180f.). Andere Autoren stehen einer formalen Sprechweise näher. Vgl. z.B. Rudolf Laun: Recht und Sittlichkeit, Berlin 1935, S. 9: „Nun lehnt es aber eine sehr große Zahl von Menschen — bei den zivilisierten Völkern anscheinend einer mit steigender Kultur allmählich wachsender Mehrzahl — ab, das Recht nur kausal, nur als Gewalt zu betrachten." — Dies ist ein Argument zugunsten einer neuen Sprachregelung. Waldemar Lerner: Das Problem der Objektivität von rechtlichen Grundwerten, Zürich/St.Gallen 1967, S. 103-112 erörtert eine Vielzahl traditioneller Rechtsdefinitionen unter dem Gesichtspunkt der Wesensdefinition. Ernst von Hippel: Mechanisches und Moralisches Rechtsdenken, Meisenheim am Glan 1959 erkennt stellenweise deutlich, daß die Probleme der Abgrenzung von Recht und Moral Probleme der Theoriekonstruktion sind, vgl. S. 75, wo er das Verfahren der
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
häufig erschlossen werden müssen, ist doch unverkennbar, daß die Autoren Gründe zu haben meinten. Natürlich hat die mangelnde Klarheit der Fragestellung Mißverständnisse provoziert. Sie hat auch dazu geführt, daß die Auseinandersetzung zwischen Autoren unterschiedlicher Ansichten häufig oberflächlich blieb oder überhaupt nicht stattfand, weil der gemeinsame begriffliche Hintergrund, vor dem dies hätte geschehen können, nicht ermittelt wurde 45 . Trotzdem kann eine Betrachtung der bisherigen Diskussion in mehrfacher Hinsicht hilfreich sein. Erstens läßt sich ihr eine umfangreiche und — wie ich glaube — hinreichend vollständige Liste der in Betracht kommenden Abgrenzungskriterien entnehmen. Zweitens hat sie das Problem der Abgrenzung von Recht und Moral überwiegend und — wie mir scheint — zutreffend als ein Problem der Abgrenzung zweier Normenordnungen aufgefaßt. Drittens enthält sie — wenn auch häufig in unklarer Weise — eine Vielzahl von Argumenten, die für oder gegen eine bestimmte Begriffsbildung sprechen. Bevor man ernsthaft über die Angemessenheit von Definitionen diskutieren kann, muß man eine gewisse Vorstellung davon haben, in welchem Bereich die möglicherweise angemessenen Definitionen liegen. Logisch ist es nicht ausgeschlossen, „Recht" als gleichbedeutend mit „Kabeljau" zu definieren, aber ein entsprechender Vorschlag würde Befremden auslösen. Man kann mit der Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral intuitiv überhaupt nur einen Sinn verbinden, weil man sie automatisch mit einem bestimmten umgangssprachlichen Vorverständnis und als Jurist mit einem traditionellen Diskussionszusammenhang verbindet. Bevor man nach der Adäquatheit bestimmter Definitionen von Recht und Moral fragen kann, muß dieser Diskussionszusammenhang in gewissem Umfang rekonstruiert und systematisiert werden. Dies soll im folgenden in zwei Schritten geschehen: Erstens werde ich zeigen, daß die traditionelle Diskussion durchgängig auf die Fragestellung zurückgeführt werden kann, worin sich Recht und Moral als spezifische Normenordnungen unterscheiden (1.1...); zweitens werde ich eine Klassifikation der in der bisherigen Diskussion auftauchenden Abgrenzungskriterien vorschlagen, die diese Abgrenzungskriterien vollständig erfaßt und dadurch den Bereich sämtlicher unter der traditionellen Fragestellung möglichen Abgrenzungen definiert (1.2...). Rechtspositivisten mit einer unvernünftigen Sprachkonvention vergleicht. Am Ende bedient er sich aber doch wieder einer inhaltlichen Sprachnorm (Vgl. S. 222f. die Ausführungen zur Rechtsontologie). 45 Vgl. dazu: Gregor Edlin: Rechtsphilosophische Scheinprobleme und der Dualismuu im Recht, Berlin 1932, z.B. S. 245 (Kelsens fehlendes Verständnis für den Naturrechtsdenker). Unabhängig davon, ob man Edlins Auffassung für richtig hält, macht er deutlich, daß begriffliche Unklarheit für einen Großteil der rechtsphilospphischen Kontroversen insbesondere über den Anspruch der verschiedenen Rechtstheorien verantwortlich ist. Vgl. ferner die Bemerkungen von Hans Nef: Recht und Moral in der deutschen Rechtsphilosophie seit Kant, St. Gallen 1937, S. 100.
1.1 Die Normativität von Recht und Moral
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1.1 Die Normativität von Recht und Moral 1.11. Recht und Moral als Normenkomplexe Die meisten Autoren, die sich explizit zum Verhältnis von Recht und Moral geäußert haben, stimmen darin überein, daß Recht und Moral Normenkomplexe sind, d.h. entweder ausschließlich oder doch wesentlich aus Normen bestehen46. Dabei kann der Ausdruck „wesentlich aus Normen bestehen" so interpretiert werden: Recht und Moral bestehen wesentlich aus Normen, wenn etwaige andere Bestandteile (z.B. Legaldefinitionen) nur im Zusammenhang mit Normen bedeutsam werden 47 . Betrachtet man mit der Mehrzahl der Autoren „Normenkomplex" als Oberbegriff von „Recht" und „Moral", so besteht das Abgrenzungsproblem darin, die spezifische Differenz dieser beiden Normenkomplexe zu bestimmen. Von einer systematischen Darstellung des Abgrenzungsproblems muß man dann verlangen, daß sie möglichst vollständig die in Betracht kommenden Unterschiede erfaßt, und anschließend die Gründe darstellt, die für oder gegen eine bestimmte Abgrenzung sprechen. Erstaunlicherweise ist ein befriedigender Versuch einer solchen systematischen Darstellung noch nicht unternommen worden. A m weitesten in der skizzierten Richtung ist Hans Nef gekommen 48 . Nef verfährt grundsätzlich in der angegebenen Weise, übernimmt aber allzu unkritisch die Terminologie der klassischen Diskussion und erfaßt deshalb wohl die historisch vertretenen Abgrenzungen sehr vollständig, nicht aber alle systematisch möglichen 49 . Darüberhinaus beschränkt er sich allzusehr auf die Darstellung der unterschiedlichen Lehrmeinungen; das Problem, geeignete Angemessenheitskriterien zu formulieren, wird zwar ansatzweise erkannt 50 , aber nicht befriedigend gelöst oder auch nur in angemessener Weise dargestellt 51 . Trotz dieser Mängel ist seine Arbeit als strukturierte Materialsammlung außerordentlich nützlich und die Darstellung der 46
So heißt es z.B. bei Georg Jellinek: Allgemeine Staatlehre, 3. Aufl. Bad Homburg 1960, S. 332: „Kein Streit herrscht darüber, daß das Recht aus einer Summe von Regeln für menschliches Handeln besteht". Vgl. ferner Alf Ross: Towards a Realistic Jurisprudence, Kopenhagen 1946, S. 112; Hans Nef: Recht und Moral in der deutschen Rechtsphilosophie seit Kant, St. Gallen 1937, S. 15f., S. 32. 47 Eine präzisere Formulierung dieses Kriteriums findet sich bei Joseph Raz: The Concept of a Legal System, Oxford etc. 1970, S. 169. 48 Nef (a.a.O. Fn.45). 44 Vgl. dazu u. 1.2. 5(1 Vgl. Nefs Charakterisierung des Fortschritts, den die rechtsphilosophische Diskussion über das begriffliche Verhältnis von Recht und Moral gebracht habe (S. 126f.). 51 Tatsächlich wird bei Nef die Frage danach, welche Art von Gründen für eine bestimmte Begriffsbildung sprechen könnte, explizit überhaupt nicht gestellt. Gelegentliche eigene Stellungnahmen (s.z.B. S. 110) bleiben in ihrer Begründung naiv. Sie entspringen dem ungeprüften eigenen Angemessenheitsgefühl, d.h. der eigenen sprachlichen Intuition.
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
Abgrenzungskriterien in 1.2... ruht wesentlich auf dieser Vorarbeit. Insbesondere kann auf ein Referat einzelner Ansichten ganz überwiegend unter Hinweis auf die entsprechende Stelle bei Nef verzichtet werden. Wenn auch die meisten Autoren Recht und Moral als Normenkomplexe ansehen, so ist diese Auffassung doch keineswegs unbestritten geblieben. Unter den älteren rechtsphilosophischen Autoren haben Laun und Binder eine andere Ansicht vertreten 52 . Laun argumentiert, daß der kantische Begriff der „heteronomen Norm" in sich widersprüchlich sei, da Normen etwas Verpflichtendes seien, und sich eine Verpflichtung nur aus dem Verpflichtungsgefühl des Verpflichteten ergeben könne. Wenn man wie Kant das positive Recht als heteronom auffasse, dann sei es geradezu logisch ausgeschlossen, daß es als solches irgendeine verpflichtende Kraft habe 53 . Sofern Launs Argumentation berechtigt wäre, könnte durchaus ein Sprachgebrauch angebracht sein, innerhalb dessen die Vorschriften des positiven Rechts nicht als „Normen" bezeichnet werden. Die Argumentation Binders steht ganz und gar in der hegelianischen Tradition. Recht ist für ihn das Dasein des konkret-allgemeinen Willens, in welchem Moral als eines seiner Momente aufgeht 54 . Wenn die Moral sozusagen im Recht enthalten ist, ist es natürlich vergeblich, nach einer spezifischen Differenz zu suchen 55 . Ohne allzusehr zu vergröbern, wird man wohl sagen können, daß Binder und Laun letztenendes den vorherrschenden Normbegriff kritisieren. Sie bestreiten, daß es möglich ist, Recht und Moral auf eine Stufe zu stellen (als „Nebenbegriffe" anzusehen), sofern man eins von beiden als Normenkomplex auffaßt. Denn es kann immer nur einen Normenkomplex geben, — bei Laun ist es die Moral, bei Binder das Recht — der in einem spezifischen Sinne verbindlich ist. Eine solche Art von Verbindlichkeit betrachten aber beide als Merkmal des Normbegriffes. Neuerdings hat R.M.Dworkin die Frage aufgeworfen, ob Recht ein Normensystem ist 56 . Seiner Ansicht nach spielen neben dem, was man gewöhnlich als Rechtsnormen auffaßt, bei der Rechtsanwendung „Prinzipien" eine wichtige Rolle. Prinzipien und Normen sollen sich grundsätzlich voneinander unterscheiden lassen57. Dworkins These kann als moderne Variante der 52
Julius Binder: Grundlegung der Rechtsphilosophie, Tübingen 1935, S. 118, 122; Rudolf Laun: Recht und Sittlichkeit, 3. erw. Aufl. Berlin 1935 (1.1924), S. 30, 89. 53 Laun S. 6ff. 54 Binders. 118. 55 Binder S. 122. 56 R.M. Dworkin: Is Law a System of Rules?, in: ders. (Ed.): The Philosophy of Law, Oxford etc. 1977. Eine neuere Fassung dieses Aufsatzes und eines zweiten zum selben Problem findet sich in Dworkin: Taking Rights Seriously, Cambridge-1977 (The Model of Rules I und II). 57 Ob es wirklich möglich ist, logisch zwischen Prinzipien und Regeln im Sinne Dworkins zu unterscheiden, erscheint mir fraglich, mag aber hier dahingestellt bleiben.
1.1 Die Normativität von Recht und Moral
45
alten rechtsphilosophischen Lehre angesehen werden, daß einzelne Rechtsnormen nur in ihrer Beziehungs zur „Rechtsidee" korrekt interpretiert werden können 58 . Das Hauptproblem besteht für jeden derartigen Ansatz naturgemäß darin, die Rechtsidee zu beschreiben 59. In unserem Zusammenhang interessiert zunächst nur die Behauptung, daß Rechtsidee oder Prinzipien und Rechtsnormen voneinander unterscheidbare Bestandteile des Rechts sind, so daß es falsch ist, unter „Recht" einen Normenkomplex zu verstehen. Noch von einer anderen Seite ist bestritten worden, daß Recht und Moral „Normenkomplexe" seien, nämlich von Autoren, die Recht (und Moral) als soziale Phänomene ansehen. Einigermaßen repräsentativ für diese Auffassung dürfte das folgende Zitat aus A l f Ross: Towards a Realistic Jurisprudence sein: „Das Recht besteht tatsächlich zum Teil aus Normen, aber nicht in dem hergebrachten Sinn spezifischer Bedeutungen von oder Aussagen über normative Geltung, sondern ausschließlich als integralem Element des rechtlichen Phänomens, d.h. als psycho-physikalische Fakten, Äußerungen, die zum Teil Ausdruck realer Verhaltensweisen sind, zum Teil solche Verhaltensweisen erst schaffen. Nur als wirkliche Glieder dieser realen Funktionenkette sind normative Äußerungen beachtlich, nicht wie der juristische Dogmatismus unterstellt, als ein unabhängiges System normativer Behauptungen." 60 Eine derartige Auffassung wird typischerweise innerhalb der verschiedenen rechtsrealistischen Richtungen 61 sowie innerhalb der Rechtssoziologie vertreten 62 . Unter Inkaufnahme einiger Ungenauigkeiten läßt sich die Position, um die es dabei geht, vielleicht folgendermaßen charakterisieren: Was die Juristen „Recht" nennen, ist nur ein bestimmtes sprachliches und/oder gedankliches Verhalten, das immer solange unter Ideologieverdacht steht, bis nachgewiesen ist, daß es sich den Intentionen der Beteiligten entsprechend in wirkliches Verhalten umsetzt. Die Erfahrung zeigt jedoch, daß die „Wirklichkeit" des Rechts nämlich das, was die Leute, die Gerichte etc. tun, teils vom Recht im juristischen Sinne unabhängig, nämlich unterbestimmt, ist (weil sich aus dem Recht in diesem Sinne auch bei bestem Willen 58 Als Vertreter einer solchen Richtung kann z.B. Larenz angesehen werden (vgl. Rupert Schreiber: Die Geltung von Rechtsnormen, Berlin etc. 1966, S. 5f. m.w.N.). Auch der späte Radbruch gehört hierher (Vgl. seinen Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht", in: Gustav Radbruch: Der Mensch im Recht, Göttingen 1957). 59 Genau hier setzt der kritische Kommentar von Neil MacCormick: Wie ernst soll man Recht nehmen? in: Rechtstheorie 11(1980) S. 1-7 an. 60 Alf Ross: Towards a Realistic Jurisprudence, Kopenhagen 1946, S. 96, meine Übersetzung. 61 Vgl. zum amerikanischen Rechtsrealismus die Hinweise in meinem Aufsatz: „Der amerikanische Rechtsrealismus (legal realism)", in: JuS 1979,393ff.; zum skandinavischen Rechtsrealismus: Jens Bjarup: Skandinavischer Realismus, Freiburg/München 1978. 62 S. Thomas W. Bechtler: Der soziologische Rechtsbegriff, Berlin 1977.
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
nicht für alle Fälle Lösungen ableiten lassen) 63 , teils von diesem Recht abweicht und zwar nicht nur zufällig in einem mit menschlicher Unvollkommenheit erklärlichen Maße, sondern mit erkennbaren Regelmäßigkeiten 64 . Es kommt daher darauf an, unbefangen die Gesetze der Rechtswirklichkeit zu erforschen, wobei man insbesondere nicht voraussetzen darf, daß diese eine bloße Widerspiegelung der Rechtsnormen im dogmatisch-juristischen Sinne ist. Ebenso wie die Ansichten Launs und Binders sind auch Dworkins Prinzipien sowie soziologische Rechtsbegriffe mit der Behauptung in Einklang zu bringen, daß Recht und Moral Normenkomplexe sind, sofern man nur den Normbegriff genügend weit faßt. Warum sollte man nicht auch Prinzipien als Normen bezeichnen können? Und warum sollte der Begriff der Norm auf „normative Behauptungen" beschränkt sein? Wenn man allerdings den Normbegriff so weit faßt, daß er Prinzipien, soziale Sachverhalte, den „konkret-allgemeinen Willen" und individuelle Verbindlichkeitsüberzeugungen ebenso umfaßt wie Rechtsregeln im rechtsdogmatischen Sinn, dann sagt man sehr wenig über Recht und Moral, indem man sie als Normenkomplexe bezeichnet. Genaugenommen hat man das Problem nur verschoben; der Normbegriff ist kaum klarer als die Begriffe Recht und Moral 6 5 . Bezeichnet man beide sozusagen unbesehen als Normenkomplexe, dann setzt sich die Kontroverse über ihr Verhältnis als Kontroverse über den Normbegriff fort. Trotzdem soll im Folgenden unter Verwendung dieses weiten Normbegriffes einfach deswegen davon ausgegangen werden, daß Recht und Moral Normenkomplexe sind, weil der überwiegende Teil der rechtsphilosophischen Literatur so verfährt. Durch die Wahl dieses Ausgangspunktes ist die Extension des Normbegriffes in gewissem Maße festgelegt (Recht und Moral gehören jedenfalls dazu). Es gehört zu den regelmäßig zu beobachtenden Erscheinungen, daß in Bezug auf die Extension fundamentaler Begriffe (vgl. 63 Diese Behauptung setzt keine „Lücke" im logischen Sinn voraus — die es nicht geben muß, sofern eine „rule of closure" existiert (vgl. Carlos E. Alchourron/Eugenio Bulygin: Normative Systems, Wien/NY 1971, S. 134 ff., 190), sondern es reicht u. U. bereits die normale Vagheit der in Normen verwandten Begriffe (vgl. Hans-Joachim Koch: Einleitung: Über juristisch-dogmatisches Argumentieren im Staatsrecht, in: ders. (Hrsg.): Seminar: Die juristische Methode im Staatsrecht, Frankfurt 1977 zu den Begriffen „Mehrdeutigkeit", „Vagheit" und „Porosität" S. 4Iff.). M Vgl. zu letzterem McNaugton-Smith: Der zweite Code. Auf dem Wege zu einer (oder hinweg von einer) empirisch begründeten Theorie über Verbrechen und Kriminalität, in: Lüderssen/Sack (Hrsg.): Seminar: Abweichendes Verhalten II — Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität 1, Frankfurt 1975, S. 197ff. 65 Aus diesem Grund lehnt H.L.A. Hart: Der Begriff des Rechts, Frankfurt 1973, S. 29f. eine derartige Definition als unbrauchbar ab. Vgl. zu Harts Definition des Rechtsbegriffes Horst Eckmann: Rechtspositivismus und sprachanalytische Philosophie, Berlin 1978, Kap. IV, S. 129ff.
1.1 Die Normativität von Recht und Moral
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auch die Begriffe „Glück", „Philosophie") eine sehr viel größere Übereinstimmung besteht als hinsichtlich ihrer Intension 66 . Häufig genug gehen die Meinungsverschiedenheiten über die Intension solcher Begriffe so weit, daß sie auch den zunächst scheinbar bestehenden Konsens über ihre Extension in Frage stellen. Letztlich ist es gleichgültig, ob man die Extension eines Begriffes festlegt und dann über die korrespondierende Intension streitet oder ob man umgekehrt verfährt. Wenn man davon ausgeht, daß Recht und Moral Normenkomplexe sind, muß man versuchen, auch eine intensionale Definition von „Norm" zu finden, die damit vereinbar ist. Das eigentliche Problem besteht darin, eine Begrifflichkeit aufzubauen, in der extensionale und intensionale Definition „deckungsgleich" sind. Der Streit über die Intension des Normbegriffs berührt die Diskussion über das Verhältnis von Recht und Moral auf vielfältige Weise. Wenn Recht und Moral Normenkomplexe sind, dann können sie sich in Bezug auf alle diejenigen Merkmale, die zum Begriff der Norm gehören, nicht grundsätzlich unterscheiden. Sofern ein gewisser Grad an Verbindlichkeit zum Begriff der Norm gehört, kann es keine Rechts normen geben, die als solche prinzipiell unverbindlich sind. Sofern es zum Begriff der Norm gehört, in gewissem Umfang Aufforderungscharakter zu haben, kann es keine moralischen Normen geben, die allein der Bewertung vollzogener Handlungen dienen. Wenn man davon ausgeht, daß Recht und Moral Normenkomplexe sind, dann legt man durch eine intensionale Definition des Normbegriffes Gemeinsamkeiten der beiden Bereiche fest und grenzt dadurch den Bereich ein, innerhalb dessen sie sich unterscheiden können. Es ist sinnvoll, eine solche Festlegung vorzunehmen, bevor man die Frage nach den Unterschieden stellt. Allerdings muß man die Grenzen beachten, die sich daraus ergeben, daß das Verhältnis von Recht und Moral nicht bloß ein Definitionsproblem ist. Die intensionale Definition des Normbegriffes berührt darüber hinaus auch die Frage nach der Begründbarkeit von Normen, die ihrerseits wiederum Bedeutung für die Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Moral hat. Diese Zusammenhänge werden später deutlich werden und müssen hier zunächst ausgespart bleiben. Was ist nun eine Rechts- bzw. Moral norm! Mit dieser Frage ist dem oben Gesagten entsprechend gemeint: Wie faßt man den Normbegriff zweckmäßigerweise? „Zweckmäßig" ist dabei — wie bei allen Definitionen — diejenige Fassung, die erstens möglichst weitgehend mit der umgangssprachlichen 66 Der Unterschied zwischen exensionaler und intensionaler Definition läßt sich ganz grob folgendermaßen formulieren: Bei einer extensionalen Definition zählt man die Träger eines Namens (Elemente einer Klasse) auf, bei einer intensionalen Definition gibt man diejenigen Merkmale an, die dazu berechtigen, einen Gegenstand mit einem bestimmten Namen zu bezeichnen (einer Klasse als Element zuzuordnen). (Zu den Einzelheiten dieser Begriffsbildung s. Baum: Stichwort: Extension/Intension, in: Edmund Braun/Hans Radermacher: Wissenschaftstheoretisches Lexikon, Graz usw. 1978).
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
Verwendung des Normbegriffes im Einklang steht, wobei „umgangssprachlich" in einem weiten, auch etablierte Wissenschaftssprachen umfassenden Sinn verstanden werden kann, und die zweitens im Rahmen des Verwendungszusammenhanges, für den sie erstellt wird, möglichst brauchbar ist. Schon diese beiden Anforderungen können derart miteinander konkurrieren, daß es unmöglich ist, beiden gleichermaßen gerecht zu werden. Analysiert man sie einzeln, so stellt sich überdies heraus, daß sie auch selbst nicht einfach, sondern zusammengesetzt sind. Der umgangssprachliche Gebrauch eines Begriffes ist selten einheitlich; verschiedene Gruppen verwenden in verschiedenen Zusammenhängen ein und dasselbe Wort in unterschiedlicher Bedeutung. Die Brauchbarkeit eines Begriffes im Rahmen eines theoretischen Verwendungszusammenhanges umfaßt so unterschiedliche Werte wie Einfachheit, Präzision und einen möglichst großen Anwendungsbereich. Es ist vollkommen klar, daß unter solchen Umständen praktisch nie eine bestimmte Definition mit dem Anspruch auftreten kann, sie sei die allein vertretbare. Vielmehr wird es in aller Regel eine ganze Reihe von zweckmäßigen Definitionen geben, von denen jede ihre Vor- und Nachteile hat, so daß die Entscheidung für eine bestimmte Definition immer auch eine Frage des Geschmacks und des persönlichen Interesses ist. Genauso verhält es sich auch mit dem Begriff der Norm. Im folgenden soll nicht versucht werden, eine ins Detail gehende Diskussion der verschiedenen denkbaren Normbegriffe durchzuführen, sondern es soll lediglich dasjenige festgehalten werden, was m.E. den gemeinsamen Kern der Normativität von Recht und Moral ausmacht. Dabei werden weder etwaige Unterschiede zwischen Rechtsnormen und Moralnormen erörtert, noch — wo dies nicht unbedingt nötig erscheint — subtile Abgrenzungsfragen wie die Klassifizierung der Sitte oder der „normativen Kraft des Faktischen". Diejenigen Aussagen über den Normbegriff, die ich machen werde, beanspruchen allerdings dafür auch, mehr zu sein als bloße Geschmacksentscheidungen. Sie gelten meiner Ansicht nach für jede Normdefinition, die im Rahmen der Beziehungsbestimmung von Recht und Moral zu vertreten ist, sofern man sich überhaupt auf die klassischen Fragestellungen und die Terminologie, in der sie formuliert werden, einläßt. Versucht man eine solche „verbindliche Minimaldefinition" des Normbegriffes zu formulieren, dann sieht man sich vor allem zwei Fragenkomplexen gegenüber: 1. Was genau ist Präskriptivität? 2. Soll man sich für einen deskriptiven oder einen präskriptiven Normbegriff entscheiden? Diese beiden Fragenkomplexe hängen zusammen. Eine begründete Wahl zwischen deskriptivem und präskriptivem Normbegriff kann man erst treffen, wenn einigermaßen klar ist, was „Präskriptivität" bedeutet. Die Frage
1.1 Die Normativität von Recht und Moral
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nach dem Sinn von „Präskriptivität" ist keineswegs nur für die Entscheidung zwischen deskriptivem oder präskriptivem Norm begriff bedeutsam, sondern darüber hinaus auch noch für die Entscheidung zwischen verschiedenen denkbaren präskriptiven Normbegriffen. Letzteres Entscheidungsproblem stellt sich allerdings erst, wenn man sich grundsätzlich für einen präskriptiven Normbegriff entschieden hat, und kann im Rahmen der Aufstellung einer „verbindlichen Minimaldefinition" weitgehend offenbleiben. Bei der Wahl zwischen deskriptivem und präskriptivem Normbegriff geht es sehr grob gesprochen um die Frage, ob Normen beobachtbare soziale Sachverhalte oder eine bestimmte Art idealer Gegenstände (präskriptive ideale Gegenstände) sind. Die erste Position wird mehr oder minder deutlich von rechtsrealistischen Richtungen und bestimmten Vertretern eines soziologischen Rechtsbegriffes sowie von Behavioristen eingenommen, die zweite von der Mehrzahl der mehr der rechtsphilosophischen Tradition zuzurechnenden Autoren. Eine Präzisierung von „Präskriptivität" ist daher im Grunde genommen nichts anderes als eine Analyse des klassischen rechtsphilosophischen Normbegriffs. Eine solche Analyse soll im Folgenden zwar nicht umfassend aber doch ein Stück weit versucht werden. Sie wird sich in zwei Schritten vollziehen: Zunächst werden einige mögliche Bedeutungen des Begriffes Norm erörtert. Unter Zugrundelegung des Vorverständnisses, daß präskriptive Normen irgendwie der Steuerung menschlichen Verhaltens dienen, können bestimmte Normbegriffe als nicht-präskriptiv aus der weiteren Betrachtung ausgeschlossen werden. Daneben werden verschiedene präskriptive Normbegriffe erkennbar, zwischen denen man sich jedoch im Rahmen des hier verfolgten Programms einer verbindlichen Minimaldefinition nicht entscheiden muß. Sodann wird unter der neuen Überschrift: „Präskriptivität und Verbindlichkeit — Zur Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt" der Begriff der Präskriptivität direkt diskutiert. Bei dieser Diskussion wird deutlich werden, daß man präskriptiven Normen gegenüber einen deskriptiven Standpunkt einnehmen kann. Dadurch wird die Alternative deskriptiver oder präskriptiver Normbegriff geklärt und die anschließende Beantwortung der Frage, ob Recht und Moral als Normen im präskriptiven oder im deskriptiven Sinn angesehen werden sollten (1.14), ermöglicht. Übrigens wird sich bei dieser Diskussion ergeben, daß man Recht und Moral als Komplexe präskriptiver Normen ansehen sollte. 1.12 Einige Bedeutungen von „Norm 44 Recht und Moral als präskriptive Normen Wie viele andere Autoren, bin ich der Meinung, daß Recht und Moral irgendwie der Steuerung menschlichen Verhaltens dienen 67 und in diesem
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
Sinne präskriptiv sind. Dies bedeutet nicht notwendig, daß diese Funktion in den Normbegriff eingehen müßte 6 8 , es ist eher ein Merkmal meines Vorverständnisses von Recht und Moral. Aufgrund dieses Vorverständnisses blende ich zunächst einige umgangssprachliche Bedeutungen des Normbegriffes als in unserem Kontext nicht einschlägig aus. Der deutlichste derartige Fall liegt vor, wenn mit „ N o r m " nur das bezeichnet wird, was gewöhnlich (normalerweise) oder durchschnittlich der Fall ist. Bei diesem Sprachgebrauch ist „ N o r m " gleichbedeutend mit „Gesetzmäßigkeit" oder dgl. ohne Rücksicht auf ihre Ursachen. Komplizierter werden die Verhältnisse, wenn N o r m i m Sinne einer von Menschen gemachten Gesetzmäßigkeit verwendet wird. Normen in diesem Sinne kann man auch als Konventionen oder als Standards in einer Bedeutung dieser Begriffe bezeichnen 69 . Als ein Beispiel derartiger Normen kann man die DIN-Normen (was ein Pleonasmus ist, weil D I N schon die Abkürzung von „Deutsche Industrie Norm" ist) ansehen. Bezüglich derartiger Normen lassen sich zwei Aspekte unterscheiden: einerseits ist es eine bloße Definition, daß ein Blatt Papier im Format D I N A 4 Seitenkanten von 210 und 297 mm besitzt — Definitionen oder Bedeutungsfestsetzungen sind keine 67 S. z.B. limar Tammelo: Untersuchungen zum Wesen der Rechtsnorm, Heidelberg 1947, S. 54; Christos Dedes: Rechtsnorm(theorien) und Strafrecht, in: ARSP 62 (1976) 349-363, 349; Rüdiger Lautmann: Normen im Bereich der Jurisprudenz und Soziologie, in: ARSP 54 (1968) 523-538, bes. 536; Rene König: Das Recht im Zusammenhang der sozialen Normensysteme, in: Hirsch/Rehbinder: Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, Köln/Opladen 1967 (2. 1971 ), S. 36-53,36. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen (z.B. um Kelsen, Bierling, Fuller, Α. Piper). Die Art der Steuerung durch Normen wird allerdings unterschiedlich beschrieben. Zumindest muß man unterscheiden zwischen bewußter Gesellschaftspolitik und mehr hinter dem Rücken der Individuen sich durchsetzenden Normenstrukturen (vgl. Lautmann), zwischen der stabilisierenden und verändernden Funktion. So aber z.B. Ulrich Meyer-Cording: Die Rechtsnormen, Tübingen 1971, S. 25: Das entscheidende Kriterium der Rechtsnormen ist daher nicht die Herkunft von der staatlichen Legislative, sondern ihre soziale Funktion, den Gruppen und Institutionen als dauerhafte Strukturelemente zu dienen". Nach König (a.a.O.) müßte man dies wohl eher als ein Kriterium von Sozialnormen ansehen. Man kann sich darüber streiten, ob Meyer-Cording einen unzulässig weiten Rechtsbegriff vertritt oder König einen technisch verengten. Meyer-Cording kommt zu seinem weiten Rechtsbegriff aufgrund bestimmter rechtspolitischer Argumente. Dieser Begriff soll es erlauben, vieles in dogmatische Überlegungen miteinzubeziehen, was sonst ausgespart bleiben müßte. Die Angemessenheit eines soziologischen Rechtsbegriffes wird mithilfe seines Erklärungswertes begründet werden müssen. Wird im Rahmen einer soziologischen Begriffsbildung nur staatliches, gesetztes Recht als „Recht" angesehen, dann muß sich zeigen lassen, daß dieses Recht sich in seiner Funktionsweise von anderen sozialen Normen unterscheidet; ansonsten wäre diese Differenzierung beliebig. Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem „deskriptiven" Normbegriff erfolgt u. 1.14. bl> Umfassend zum Begriff der Konvention: David Lewis: Konventionen — Eine sprachphilosophische Abhandlung, Berlin/NY 1975. Vgl. aus der älteren Literatur Bierling: Rechtsnormen und Konventionalregeln, in: ARSP 3 (1909/10) S. 155-167.
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in unserem Kontext interessierende Art von Normen — andererseits beruht jedoch die praktische Bedeutung dieser Festsetzung darauf, daß die deutsche Papierindustrie tatsächlich Blätter in dieser Größe fertigt. Letzteres setzt so etwas voraus, wie den Grundsatz (die Norm): Man soll für bestimmte Zwecke Papierblätter nur entsprechend den DIN-Formaten produzieren und auf den Markt bringen! Sofern der Begriff „Norm" verwendet wird, um einen solchen Grundsatz zu bezeichnen, ist er durchaus in unserem Kontext interessant. Bei den DIN-Normen sind beide Momente wesentlich. Allgemeiner könnte man sagen: Konventionen sind Definitionen, die beachtet werden wollen. Normen in diesem Sinne ähneln dem, was man gemeinhin unter Rechts- und Moralnorm versteht, sie sind aber in gewissem Sinne schwächer. Eine präzise Abgrenzung von Rechtsnorm und Konvention — falls es sie gibt — ist in unserem Zusammenhang nicht erforderlich. Eine ähnliche Unterscheidung wie die zwischen Bedeutungfestsetzung und Verhaltensanweisung bei der DIN-Norm, kann man auch in Bezug auf Maßstäbe treffen, an denen etwas gemessen oder mit deren Hilfe etwas bewertet wird. Solche Maßstäbe werden mitunter ebenfalls als „Normen" bezeichnet. Lange Zeit war der Pariser Urmeter gleichzeitig der Norm-meter. Man kann sich dabei vorstellen, daß z.B. ein Zollstockfabrikant nach Paris fährt und einen Muster-Zollstock neben den Urmeter legt, um zu prüfen, ob seine Zollstöcke stimmen oder auch um den Musterzollstock zu eichen. Unser Zollstockfabrikant verwendet den Urmeter als Norm, und, indem er das tut, folgt er zugleich der — vom Urmeter durchaus verschiedenen — Norm, daß man den Urmeter als Norm verwenden soll. Zwar ist es diese zweite Norm, die den Urmeter erst zum Urmeter macht, aber deswegen sind doch der Urmeter und diese Norm nicht dasselbe: der Urmeter ist ein aus Metall gefertigter Stab mit bestimmten Merkmalen; die Norm, daß man nichts als einen Meter lang bezeichnen soll, was nicht genausolang ist wie der Urmeter, besteht — was immer man sonst über sie sagen mag — jedenfalls nicht aus Metall. Gleiches gilt für die Regeln, denen man bei der Verwendung des Urmeters folgt, also z.B.: Lege den Musterzollstock neben den Urmeter und prüfe, ob Anfang des Zollstocks und Ein-Meter-Markierung mit Anfang und Ende des Urmeters zusammenstoßen! Dieselbe logische Unabhängigkeit wie zwischen dem materiellen Urmeter und den immateriellen Normen, denen er seine Bedeutung verdankt, besteht auch zwischen immateriellen Maßstäben und den für sie konstitutiven Normen. Solche Maßstäbe sind z.B. mathematische Idealisierungen. Die Genauigkeit einer Kreiszeichnung wird durch „Vergleich" der Zeichnung mit dem idealen Kreis festgestellt, der seinerseits nicht gezeichnet werden kann. Der ideale Kreis und die Norm, daß ein gezeichneter Kreis dem idealen Kreis je nach Verwendungszusammenhang mehr oder weniger nahekommen soll, sind etwas voneinander Verschiedenes.
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
Ähnlich verhält es sich, wenn man Maßstäbe betrachtet, die in einer anderen Weise „wertend" sind. z.B. kann man gesellschaftliche Zustände am Maßstab möglichst vollständiger Harmonie messen, oder ein bestimmtes Verhalten am Maßstabe des Rechts. Auch hier gilt, daß es eine vom jeweiligen Maßstab unterscheidbare Norm geben muß, die den Maßstab zum Maßstab macht. Diese Norm ist dem jeweiligen Maßstab übergeordnet und sie kann prinzipiell dem von ihr konstituierten Maßstab nicht selbst angehören. Die von Kelsen als für die Rechtsgeltung konstitutiv angesehene „Grundnorm" ist daher z.B. selbst keine Rechtnorm 7 0 . Während Maßstäbe wie das Urmeter, der ideale Kreis, die Richter-Skala etc. eine Art von Normen darstellen, die uns hier nicht interessieren, gilt dies für Maßstäbe wie das Recht offensichtlich nicht. W i r können daher nicht ohne weiteres sagen, daß der Begriff „ N o r m " , soweit er zur Bezeichnung von Maßstäben gebraucht wird, in unserem Zusammenhang keine Rolle spielt, sondern müssen irgendwie zwischen verschiedenen Maßstäben unterscheiden. Betrachten wir den oben schon erwähnten Maßstab möglichst vollständiger Harmonie, so stellen wir fest, daß das Wörtchen „möglichst" ihn grundsätzlich von Maßstäben der erstgenannten Art unterscheidet. In Analogie zum Urmeter können wir uns eine Skala vorstellen, auf der verschiedene Grade von Harmonie eingetragen sind. Eine solche Skala könnten wir als Maßstab der Harmonie bezeichnen, aber nicht als Maßstab möglichst großer Harmonie, denn sie erlaubt es zwar, den Grad von Harmonie abzulesen, aber nicht, unterschiedliche Grade von Harmonie unterschiedlich zu bewerten. Ebensowenig, wie dreißig Zentimeter besser sind als zwanzig Zentimeter, ist große Harmonie besser als geringe Harmonie — es sei denn es gilt die Norm, daß möglichst große Harmonie herrschen soll. Der Ausdruck „Maßstab möglichst vollständiger Harmonie" kann folgendermaßen erläutert werden: Es gibt erstens einen Maßstab der Harmonie, und es gibt zweitens einen 7,1 Ebenso Rudolf Stranzinger: Der Normbegriff bei Hans Kelsen, in ARSP 63 (1977) 399-411, 401; Kelsen: Recht, Rechtswissenschaft und Logik, in: ARSP 52 (1966) S. 545552, S. 545; Felix Kaufmann: Juristischer und soziologischer Rechtsbegriff, in: Verdross (Hrsg.): Gesellschaft, Staat und Recht - Untersuchungen zur reinen Rechtslehre, Frankfurt 1967, S. 14ff., 30ff. Es gibt allerdings Formulierungen Kelsens, nach denen die Grundnorm als Norm und zwar als höchste Norm der Rechtsordnung also als Rechtsnorm bezeichnet wird (so selbst noch in der letzten Ausgabe der Reinen Rechtslehre), Wien 1960, S. 191: „Diese als höchste vorausgesetzte Norm wird als Gründnorm bezeichnet" (Hervorhebung von mir). Allerdings ist sie keine positive (gesetzte) Norm, sondern nur vorausgesetzt (Kelsen, Hans: Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus, Wien 1928, S. 64), so daß Kaufmann in seinem (erstmals 1931 veröffentlichten) Aufsatz noch in deutlichem Widerspruch zu Kelsen zu stehen glaubte (a.a.O., S. 35). Betrachtet man die Grundnorm als Basiskonzept der Rechtswissenschaft, dann gehört sie vielleicht zu jener merkwürdigen Kelsenschen Kategorie des „deskriptiven Sollens" (vgl. dazu Ronald Moore: Legal Norms and Legal Science — A Critical Study of Kelsen's Pure Theory of Law, Honolulu 1978, S. 71ff.).
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Präferenzmaßstab. Den Präferenzmaßstab kann man sich als eine Zahlengerade vorstellen, auf der Zustände gemäß ihrer Erwünschtheit, Gesolltheit oder Güte geordnet werden können, indem man einen weniger erwünschten Zustand einer niedrigeren Zahl und einen mehr erwünschten Zustand einer höheren Zahl zuordnet. Den Maßstab möglichst vollständiger Harmonie erhält man, indem man jedem Grad von Harmonie auf dem Harmoniemaßstab eine Präferenzzahl derart zuordnet, daß einem höheren Grad von Harmonie auch eine höhere Präferenzzahl zugeordnet ist. Der Maßstab möglichst vollkommener Harmonie ist also eigentlich ein durch Integration zweier Maßstäbe gewonnener Maßstab. Den Präferenzmaßstab kann man auch als „Wertmaßstab" bezeichnen, und die Zuordnung eines Punktes auf dem Wertmaßstab zu einem Sachverhalt als eine „Wertung". Folgt man diesem Sprachgebrauch, so kann man alle Maßstäbe, die durch Integration des Wertmaßstabes mit einem anderen Maßstab entstehen, als „wertend" bezeichnen, denn jede Zuordnung eines Sachverhalts zu einem Punkt auf einem derartigen integrierten Maßstab ist auch eine Zuordnung zu einem Punkt auf dem Wertmaßstab. 71 Nicht alle Wertungen lassen sich als Zuordnungen zu einem Punkt auf einem Wertmaßstab auffassen, denn es ist nicht gesagt, daß der Wertmaßstab beliebige Differenzierungen zuläßt. Bei weniger differenzierten Maßstäben kann man davon sprechen, daß etwas einem Abschnitt zugeordnet wird. Jeder Wertmaßstab muß mindestens zwei Abschnitte haben, so daß Relationen wie „gut — schlecht", „besser als ...", „schlechter als ..." dargestellt werden können. Recht als Maßstab ist zumindest in dem Sinn ein wertender Maßstab, daß zwischen „gesollt" und „nicht gesollt" unterschieden wird. Vielleicht kann man auch noch zwischen unterschiedlichen Graden des Sollens unterscheiden. Jedenfalls können wir festhalten, daß in unserem Kontext nur wertende Maßstäbe interessieren. Als Normen werden schließlich auch Forderungen bezeichnet 72 . Ob alle oder nur bestimmte Forderungen Normen sind, ist freilich umstritten. Treiber scheint nur „verbindliche" Forderungen als Normen ansehen zu wollen 73 . 71
Die hier vertretende Auffassung des „Wertens" hat große Ähnlichkeit mit dem, was J.O. Urmson in seinem Aufsatz „Einstufen", in: Grewendorf/Meggle (Hrsg.): Seminar: Sprache und Ethik, Frankfurt 1974 als „Einstufen" bezeichnet (vgl. S. 173 wo Urmson die Gründe erläutert, aus denen er von „Einstufen" und nicht von „Bewerten" spricht). Vielleicht würde Urmson meiner Konzeption des Präferenzmaßstabes nicht zustimmen (vgl. seine Bemerkungen zu den speziellen Problemen von „gut", S. 159ff., in denen ersieh ausdrücklich dagegen wendet, „Einstufen" und das bloße Ausdrücken von Vorlieben miteinander zu identifizieren. Eine solche Kritik entfallt m.E., sofern man den Präferenzmaßstab nicht als Ausdruck subjektiver sondern objektiver (gesellschaftlicher) Präferenzen ansieht). 72 Rüdiger Lautmann: Normen im Bereich der Jurisprudenz und Soziologie, in: ARSP 54 (1968) 523-538, S. 527. 73 Vgl. Helmut Treiber: Stich wort „Norm", in: Werner Fuchs u.a. (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie Bd. 2, Reinbek 1975, S. 470.
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Manche Autoren setzen Normen und Imperative gleich, andere verstehen unter Normen nur Verbote, wieder andere Gebote, Verbote und Erlaubnisse. Letztere Ansicht wird von Raz mit dem Argument bestritten, daß Erlaubnisse überhaupt keine Forderungen und damit auch keine Normen seien, da sie Verhalten nicht leiten könnten 74 . Abgesehen von der Frage, welche Forderungen Normen sind, wird auch darüber gestritten, welchen Inhalt diese Normen haben, ob sie Handlungen oder Zustände vorschreiben — insoweit räumt etwa v. Wright die Möglichkeit verschiedener Arten deontischer Logik ein 7 5 — und an wen sie sich richten, d. h. wer der Normadressat ist, die Sanktionsinstanzen, wie das gelegentlich behauptet wurde 76 oder die Bürger 77 . Ohne uns diesen Fragen im Einzelnen zuzuwenden, kann festgehalten werden, daß „Normen" i. S. von Forderungen jedenfalls Normen sind, mit denen wir uns im Kontext der Beziehungsbestimmung von Recht und Moral zu beschäftigen haben. Das bisherige Ergebnis läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß im Kontext von Recht und Moral Normen als wertende Maßstäbe und als Forderungen interessant sind, nicht aber in den anderen Bedeutungen des Begriffes. Das gibt nun Anlaß zu der Frage, wie sich diese beiden Bedeutungen von „Norm" zueinander verhalten. Eine naheliegende Antwort auf diese Frage ist die These, daß Forderungen Werturteile voraussetzen 78. Nur dann, wenn ein bestimmter Zustand oder eine bestimmte Handlung besser ist als ein anderer Zustand oder eine andere Handlung, kann die Forderung bestehen, daß dieser Zustand herbeigeführt oder diese Handlung vollzogen werden soll. Wir haben bei der Einführung des Präferenzmaßstabes allerdings auch die Möglichkeit offengelassen, diesen Maßstab selbst schon als einen Dringlichkeitsmaßstab für Forderungen zu interpretieren. Wenn ein bestimmter Zustand oder eine bestimmte Handlung stärker gesollt ist als ein(e) ander(r), dann ist das gleichbedeutend damit, daß dieser Zustand oder diese Handlung stärker gefordert wird als eine(e) andere(r). Läßt man diese Interpretation des Präferenzmaßstabes zu, dann kann man Forderungen auch als eine Teilklasse von Werturteilen ansehen. 74
Joseph Raz: The Concept of a Legal System, Oxford 1970, S. 170ff. von Wright, Georg Henrik: Normenlogik, 1974, S. 120 f., in: ders.: Handlung, Norm und Intention — Untersuchungen zur deontischen Logik, Berlin/NY 1977 (Hrsg. Hans Poser). Dieser Vortrag ist ebenfalls abgedruckt bei Hans Lenk (Hrsg.): Normenlogik, Pullach 1974, 25ff. 7i ' So insbesondere Julius Binder: Rechtsnorm und Rechtspflicht, Leipzig 1912 sowie: Der Adressat der Rechtsnorm und seine Verpflichtung, Leipzig 1927. 7 Hans Kelsen: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911, S. 379ff. hält die Frage nach dem Adressaten der Rechtsnorm für im Ansatz verfehlt, da sie von der irrigen Annahme ausgehe, daß Rechtsnormen Imperative seien. Stattdessen seien sie hypothetische Urteile. Kelsen hat diese Ansicht in der Reinen Rechtslehre, Wien 1960, S. 73f. aufgegeben. Er unterscheidet hier zwischen Rechsnorm und Rechtssatz und sieht nur noch den Rechtssatz als Urteil an. 7S Vgl. E. Husserl: Logische Untersuchungen, 2. Aufl. Halle 1913, Bd. 1. S. 40 f. 75
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Es ist vielleicht möglich, auch hierüber noch hinauszugehen und umgekehrt Werturteile als eine Teilklasse von Forderungen anzusehen, was im Ergebnis dazu führen würde, daß Werturteile und Forderungen stets ineinander übersetzt werden könnten, extensionsgleiche Begriffe wären. Zwar folgt aus einem Werturteil wie dem, daß ein bestimmtes Musikstück hervorragend ist, nicht ohne weiteres die Forderung, daß man dieses Musikstück auch hören oder spielen soll, es fragt sich andererseits aber, welchen Sinn ein Werturteil wie das angeführte hätte, wenn es nicht in bestimmten Handlungszusammenhängen eine Rolle spielte. Eine genaue Analyse würde vielleicht zeigen, daß die hypothetische Forderung gilt: „Wenn man Musik hören oder spielen will, soll man möglichst hervorragende Musikstücke spielen oder hören". Die Feststellung, daß ein bestimmtes Musikstück hervorragend ist, würde es dann der Klasse derjenigen Musikstücke zuordnen, die man unter bestimmten Umständen hören oder spielen soll. Sie wäre gleichbedeutend mit der bedingten Forderung, daß man dieses oder ein anderes hervorragendes Musikstück nach Möglichkeit spielen oder hören soll, sofern man überhaupt Musik spielen oder hören will 7 9 . Im Rahmen dieser Untersuchung kann offen bleiben, ob es generell möglich ist, Werturteile als bedingte Forderungen auszudrücken, denn es ist ziemlich klar, daß innerhalb von Recht und Moral nur solche Werturteile an zentraler Stelle auftauchen, bei denen das möglich ist. Soweit ich sehe, sind die meisten Autoren darin einig, daß Recht und Moral die Funktion haben, Verhalten zu steuern, also präskriptiv sind 80 . Normen im Sinne von nicht präskriptiven Wertmaßstäben — infrage kämen vielleicht Bewertungen wie: schlechtes, mäßiges, gutes Wetter, generell: „Wünschbarkeiten" 81 — können hier außer Betracht bleiben. Das Verhältnis von Normen im Sinne von Wertungen und von Normen im Sinne von Forderungen ist innerhalb der Rechtstheorie immer wieder kontrovers diskutiert worden. Dedes skizziert die Situation folgendermaßen: „Als Rechtsnorm kann nämlich die Wertung bzw. das aus ihr herauskommende Sollen oder der aus dem Sollen ergehende Imperativ angesehen werden. Die erste Meinung sieht die Rechtsnorm als Bewertungsnorm an, die zweite als Bestimmungsnorm. Eine dritte setzt beide Formen zusammen. Die 79 Ein interessantes Beispiel für eine solche Interpretation eines Werturteils findet sich bei Kelsen: „Zum Begriff der Norm", in: Festschrift für Carl Nipperdey z. 70. Geb., Bd. I, München/Berlin 1965, S. 57-70, S. 64, Fn. 9; Es geht um den Satz „Nur ein tapferer Krieger ist ein guter Krieger". Kelsen bemüht sich um den Nachweis, daß dieser Satz entgegen der Ansicht E. Husserls nur dann die Ableitung einer Forderung erlaube, wenn man ihn von vornherein als Forderung deute. Folgende Formulierung sollte für Kelsen und Husserl annehmbahr sein: Jede Forderung setzt logisch ein Werturteil voraus, d.h. impliziert ein Werturteil. Jedes Werturteil setzt pragmatisch die Möglichkeit voraus, daß es als Handlungsorientierung Verwendung finden kann. 8,1 Vgl. o. die Hinweise in Fn. 67. 81 Vgl. Kelsen: „Zum Begriff der Norm", S. 65, Fn. 9.
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vierte behauptet, daß Rechtsnorm der Rechtssatz sei, der den Charakter eines Imperativs habe, so daß für die Bewertungsnorm kein Platz mehr bliebe." 82 Auf einige der hiermit angesprochenen Probleme werde ich noch zu sprechen kommen. Was speziell das Verhältnis von Bewertungs- und Bestimmungsnorm betrifft, ergibt sich aus dem bisher schon Gesagten, daß meiner Ansicht nach Rechts- ebenso wie Moralnormen stets beides sind 83 . Anderer Ansicht ist z.B. Larenz, der unter Berufung auf Adolf Reinach Rechtssätze für Bestimmungssätze hält 8 4 . Der Grund für diese Auffassung ist seine Annahme eines selbständigen Bereiches rechtlichen Sollens. Ich werde später zeigen, daß ein solcher Bereich — jedenfalls in dem von Larenz gemeinten Sinn — nicht angenommen werden muß 8 5 . Im vorliegenden Zusammenhang ist noch darauf hinzuweisen, daß die Unterscheidung von Bewertungs- und Bestimmungsnorm — jedenfalls so wie ich diese Begriffe hier verwende — nicht mit einer anderen Unterscheidung verwechselt werden darf, die ich mit den Begriffen Ziel- und HandK2 Christos Dedes: Rechtsnorm(theorien) und Strafrecht, in: ARSP 62 (1976) 349-363, 351. Rüdiger Lautmann: Normen im Bereich der Jurisprudenz und Soziologie (a.a.O., Fn. 72, S. 527 meint, es werde zwischen Norm als hypothetischem Urteil, Imperativ und Bestimmung unterschieden. Norm i.S.v. hypothetischem Urteil soll bedeuten: „unter bestimmten Umständen (bei einem bestimmten Verhalten der Normunterworfenen) will der Staat gewisse Handlungen bzw. Unrechtsfolgen setzen". M.E. zwingt diese dritte Möglichkeit nicht zur Erweiterung der Alternative „Forderungen oder Werturteile", denn es ist jedenfalls möglich, den Begriff „hypothetisches Urteil" so zu rekonstruieren, daß damit entweder eine bedingte Forderung an eine Sanktionsinstanz gemeint ist oder ein bedingtes Werturteil. Eine solche Rekonstruktion wäre allerdings dann nicht möglich, wenn mit hypothetischem Urteil eine rein tatsächliche Prognose des Inhalts gemeint sein sollte: Wenn jemand sich so und so verhält, wird er wahrscheinlich bestraft. Betrachtete man derartige Prognosen als Rechtsnormen, würde man einen deskriptiven Rechtsbegriff vertreten. Ein solcher Rechtsbegriff ist im Augenblick nicht Thema. Der Vollständigkeit halber sei nochmals erwähnt (vgl. o. Fn. 77), daß Kelsen, den Lautmann als HauptGewährsmann für die These, daß Rechtsnormen hypothetische Urteile sind, zitiert, diese Auffassung zwar in den Hauptproblemen der Staatsrechtslehre vertreten, später jedoch aufgeben hat. Ein hypothetisches Urteil mit dem von Lautmann angegebenen Inhalt, ist der Reinen Rechtslehre zufolge keine Norm, sondern ein Rechtsjüf/z, d.h. ein Urteil über eine Rechtsnorm. Rechtsnormen sind wie alle Normen der Reinen Rechtslehre zufolge Imperative. (Reine Rechtslehre 2. Wien 1960, S. 4). Somlo, auf den Lautmann ebenfalls verweist, bezieht jedenfalls in der Juristischen Grundlehre (Leipzig 1917, S. 215-218) ausdrücklich keine eindeutige Stellungnahme zur Definition von Normen als hypothetischen Urteilen. 10 Ebenso Binding: Die Normen und ihre Übertretung. Bd. 1. Leipzig 1872, S. 3ff., 175; Jerome Hall: Foundations of Jurisprudence, Indianapolis etc. 1973, S. 162ff.; Richard A. Wasserstrom: The Judicial Decision, Stanford/London 1961, S. 36-38. Ähnlich: Brusiin, Otto: Über die Objektivität der Rechtsprechung, Helsinki 1949, S. 14. Nach Brusiin sind „soziale Normen" „verpflichtende Handlungsschemata". 84 Karl Larenz: Methodenlehre dër Rechtswissenschaft, 3. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York 1975, S. 238 f.; ebenso wohl Paul Bockelmann: Einführung in das Recht, München 1975, S. 22 f.; Felix Kaufmann: Die Kriterien des Rechts, Tübingen 1924, S. 98. Vgl. u. 3.221
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lungsnorm bezeichnen möchte. Wählen wir als die allgemeinste Form einer Norm „Tue x!" oder „x ist gesollt!" 86 so kann „x" entweder für eine im Einzelnen beschriebene Handlung stehen (z.B.: „Nimm keine fremde bewegliche Sache in der Absicht weg, sie dir rechtswidrig zuzueignen!") oder für die Herbeiführung eines bestimmten Zustandes ohne Rücksicht darauf, wie dieser Zustand herbeigeführt wird (z.B. „Verhalte dich so, daß dein Verhalten die bestehende Eigentumsordnung nicht gefährdet!"). Eine Norm der letzteren Art bezeichne ich als Zielnorm, eine Norm der ersten Art als Handlungsnorm* 1. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Arten von Normen sollten nicht übertrieben werden 88 . Vom Standpunkt eines Gesetzgebers aus ist es nur eine Frage der Zweckmäßigkeit, welche Art von Normen er wählt, um ein und dasselbe Ziel zu erreichen 89. Das Verhältnis von Ziel- und Handlungsnormen und insbesondere die Frage, wie die Strafrechtsnormen zu klassifizieren sind, ob es bei ihnen um „Rechtsgüterschutz" oder darum gehe, bestimmte Verhaltensweisen zu verhindern, spielt in dem strafrechtsdogmatischen Streit über die Objektivität der Rechtswidrigkeit eine Rolle 9 0 . Dabei werden auch die Termini Bestimmungs- und Bewertungsnorm im Sinne von Handlungs- und Zielnörm gebraucht, was zur begrifflichen Ver86 Es würde das Ergebnis nicht beeinflussen, wenn man noch eine Bedingung und/oder eine Folge (Sanktion) hinzufügte, daher ist diese Wahl hier unproblematisch. 87 Übrigens unterscheiden Klaus/Buhr (1964): Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie, Stichwort „Norm", innerhalb desjenigen, was ich hier als Handlungsnorm bezeichne, noch zwischen „Tätigkeits-" und „Instrumentalnorm". 88 Die Unterscheidung ist mit der zwischen Zweckprogrammen und Konditionalprogrammen verwandt. (Vgl. dazu: Niklas Luhmann: Zweckbegriff und Systemrationalität, 1. Tübingen 1968, hier zitiert nach der Taschenbuchausgabe, Frankfurt 1973, S. 101-105). Gesellschaftliche Teilsysteme wie das Recht sind immer beides. Vermutlich läßt sich übrigens auch zeigen, daß eine scharfe begriffliche Trennung zwischen den beiden Programmarten unmöglich ist. Eine weitere Verwandschaftsbeziehung besteht zur Unterscheidung zwischen Erfolgs- und Handlungsunwert. Auch hier wird man wohl zeigen können, daß eine Handlung nur deshalb als schlecht bewertet wird, weil sie typischerweise zu bestimmten negativen Erfolgen führt, Erfolge aber deshalb, weil sie typischerweise zu bestimmten negativen Handlungen führen. Sieht man als Zweck des Rechts die Erzeugung eines Rechtszustandes an, der durch das Unterlassen bestimmter Handlungen charakterisiert werden kann, nämlich solcher, die gegen das Prinzip der wechselseitigen Beschränkung von Willkür auf das für die Entstehung von Freiheit notwendige Maß verstoßen, wie Kant es getan hat, dann ist klar, daß dies schon begrifflich gilt, denn eine Verfehlung des Rechtszweckes — also des angestrebten Erfolges — ist eben gerade, daß rechtswidrige Handlungen begangen werden. Die empirische Umsetzung dieses Gedankens wäre: „Wo das Stehlen üblich wird, werden alle zum Dieb" — was immer „Stehlen" und „Dieb" hier noch bedeuten mögen. Vgl. zur kantischen Rechtsphilosophie in dem hier angezogenen Sinn Georg Geismann: Ethik und Herrschaftsordnung, Tübingen 1974, Kapitel IV (Das Vernunftsrecht der Freiheit) sowie besonders den Anhang zum Kategorischen Imperativ. 89 So im Ergebnis richtig, aber in der Formulierung abweichend und, wie ich meine, irreführend auch Dedes, a.a.O., Fn. 67. 90 Vgl. Dedes, a.a.O. Fn. 67 mit weiteren Verweisen.
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wirrung nicht unerheblich beiträgt 91 . Demgegenüber möchte ich festhalten, daß sowohl menschliche Handlungen als auch bestimmte äußere Zustände (Resultate, „Rechtsgüter") bewertet und geboten werden können. Eine erste Antwort auf die Frage, Normen in welcher Bedeutung dieses Begriffes uns hier interessieren, lautet also, daß hier nur solche Normen von Interesse sind, die sich als Antworten auf Fragen vom Typ „Was soll ich tun?" 9 2 bzw. „Welches Verhalten ist (mehr) gesollt?" formulieren lassen, wobei es nicht darauf ankommt, welche Formulierungen man wählt. Rechtsbzw. Moralnormen sind — so können wir sagen — Wert-bezogene Forderungen oder forderungsbezogene Werte. Derartige Normen werde ich im Folgenden häufig auch als Regeln bezeichnen. Die Frage, ob alle Normen, auf die diese Charakterisierung zutrifft, dem Recht oder der Moral zugerechnet werden können, muß hier nicht unbedingt geklärt werden. Sie stellt sich erst dann, wenn man weitere Normenkomplexe, etwa die Sitte oder theologisch-kirchliche Wertsystem mit in die Betrachtung einbezieht. Ebenso kann hier auch noch die Frage offen bleiben, ob unter Moral tatsächliche Wertüberzeugungen innerhalb einer Gruppe von Menschen bzw. einer Gesellschaft oder eine Ethik im Sinne einer idealen, vielleicht auch wahren und begründbaren Wertordnung verstanden werden soll. M.E. kann man zwischen diesen beiden möglichen Bedeutungen von „Moral" nicht streng differenzieren. Trotzdem hat die Unterscheidung zwischen idealer und tatsächlicher Moral (oder wie immer man sie bezeichnet) zweifellos ihren Wert. Es kann einen Unterschied zwischen den tatsächlichen Wertüberzeugungen der Menschen zu einer bestimmten Zeit und der zu dieser Zeit begründeten Ethik bestehen. Andererseits ist es jedoch nicht sinnvoll, sich unter einer begründeten Ethik etwas vorzustellen, was von den tatsächlichen Wertüberzeugungen der Individuen unabhängig ist. Diese Zusammenhänge werden später noch im Detail erörtert werden 93 . Vorerst verwende ich „Moral" in dem schillernden Sinn von empirischer und/oder idealer Moral. " In Wirklichkeit geht es m.E. bei diesem Streit allein um das Problem der Legitimation von Strafe, insbesondere darum, wie weitgehend legitimes Strafen schuld^aftes Handeln voraussetzt, und nicht um den Normbegriff. Nach Jesse Kaiin: Two Kinds of Moral Reasoning: Ethical Egoism as a Moral Theory, in: Canadian Journal of Philosophy 5 (1975) 323-356 soll die Frage „Was soll ich tun?" für die traditionelle Moralphilosophie kennzeichnend sein, während die nichttraditionelle Moralphilosophie fragt: Was sollen u /V tun? Diebeiden Arten von Moralphilosophie sollen voneinander logisch unabhängig sein, d. h. sich weder aufeinander reduzieren lassen noch in Widerspruch zueinander geraten können: Ob diese Unterscheidung berechtigt ist, kann hier dahingestellt bleiben; jedenfalls bedeutet die im Text gewählte Formulierung keine Vorentscheidung für eine der beiden Arten von Moralphilosophie. Auch Forderungen, die als Antworten auf die Frage „Was sollen wir tun?" gemeint sind, müssen sich letztlich in Anforderungen an den Einzelnen konkretisieren. Vgl. u. 3.32
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Mit der Feststellung, daß Recht und Moral Komplexe von Normen im Sinne von Forderungen und/oder Wertungen sind, ist genau genommen nur die Behauptung aufgestellt, daß Rechts- und Moralnormen sich mit Hilfe bestimmter Satzformen ausdrücken lassen. Als einfachste Form einer Forderung kann man den Satz „Tue x!" und als einfachste Form einer Wertung des Satz „x ist gut!" auffassen. Daß Rechts- und Moralnormen sich durch derartige Sätze ausdrücken lassen (oder durch irgendwelche Erweiterungen der angegebenen einfachsten Formen, z.B. hypothetische Imperative oder dgl.), ist ein notwendiges aber kein hinreichendes Merkmal eines präskriptiven Normbegriffes. Daß ein Satz die Form eines Werturteils oder einer Forderung hat, bedeutet nicht ohne weiteres, daß er auch etwas vorschreibt. Er sieht nur so aus als schriebe er etwas vor, ob er das aber wirklich tut, hängt von weiteren Merkmalen ab. Z.B. könnte man sich vorstellen, daß ein Sprachschüler eine grammatische Übung durchführt, in deren Verlauf er alle möglichen Sätze der skizzierten Form bilden muß. Man würde wohl nicht sagen, daß die von dem Sprachschüler gebildeten Sätze irgendetwas vorschreiben. Wenn einerseits — wie das hier geschehen ist — Präskriptivität als Merkmal von Normen vorausgesetzt wird, und andererseits Präskriptivität nicht identisch ist mit einer bloßen Satzform, dann stellt sich die Frage, welche weiteren Bedingungn erfüllt sein müssen, damit ein Satz präskriptiv ist. Das Beispiel des Sprachschülers legt es nahe zu sagen, daß die Präskriptivität eines Satzes von dem Gebrauchszusammenhang abhängt, innerhalb dessen der Satz verwendet wird. Der Schüler, der seine Sätze nur als Lernbeispiele verwendet, „gebraucht" sie in einem besonderen und von der normalen Verwendungsweise abweichenden Sinn. Man kann den Zusammenhang seiner Verwendung mit dem normalen Gebrauch vielleicht dadurch ausdrücken, daß man sagt: Indem der Schüler Forderungssätze bildet, fordert er nichts, er gebraucht also seine Forderungssätze nicht, sondern zitiert sie nur. Nehmen wir an, der Schüler habe gelernt, den Satz „Gib mir die Kreide!" zu bilden. Er will nun von seiner neuen Fähigkeit Gebrauch machen, und sagt zum Lehrer: „Gib mir die Kreide!" Man könnte sagen, er ist aus dem Stadium des Lernens eines Satzes in das Stadium des Gebrauchens dieses Satzes übergewechselt. Aber der Gebrauch, der hier in Rede steht, unterscheidet sich vom normalen Gebrauch immer noch so wie ein Manöver vom Ernstfall. Während wir den zur grammatischen Übung gebildeten Sätzen ohne weiteres Präskriptivität absprechen können, ist der hier gebildete Fall problematisch. Spiel und Ernst lassen sich nicht deutlich voneinander trennen. Wenn der Schüler tatsächlich etwas an die Tafel schreiben und dazu die Kreide vom Lehrer haben will und sich in dieser Situation an den eben gelernten Satz erinnert und ihn gebraucht, würde man wohl sagen, daß ein normaler Sprachgebrauch vorliegt. Will der Schüler nur deshalb etwas an die
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Tafel schreiben, damit er Gelegenheit hat, den Satz zu verwenden, könnte man jedoch in dieser Einschätzung schon schwankend werden. Wenn der Lehrer überhaupt keine Kreide hat, aber so tut, als übergebe er dem Schüler die Kreide, und der Schüler darauf eingeht und sich bedankt, als habe er die Kreide erhalten, würde man dann sagen, daß die Forderung des Schülers erfüllt wurde? Und wenn ja, war es dann die Forderung nach Kreide? Je mehr man zur Selbstbeobachtung in der Lage ist, desto problematischer wird die Abgrenzung von Spiel und Ernst. Ich bemerke, daß ich beim Spielen nicht nur spiele, und bei ernsthaften Beschäftigungen auch spiele. Ob eine Äußerung in der Form einer Forderung tatsächlich eine Forderung ist, hängt von dem Grad an Ernsthaftigkeit ab, den man für den Gebrauch der Sprache im eigentlichen Sinne fordert. Wie immer dieser Grad an Ernsthaftigkeit genau zu bestimmen ist, jedenfalls kann man eine Forderung nur dann als präskriptiv ansehen, wenn sie eine ernsthafte Forderung ist. Auch dies ist aber vielleicht wieder nur eine notwendige und keine hinreichende Bedingung für Präskriptivität. Natürlich können wir jeden ernsthaften auf fremdes Verhalten gerichteten Willen als „präskriptiv" bezeichnen, wir hätten dann aber einen sehr schwachen Begriff von Präskriptivität definiert. „Präskriptivität" würde den Versuch bezeichnen, fremdes Verhalten zu beeinflussen. Aber dieser Versuch kann hoffnungslos sein. Ein Kind sagt zu seiner Mutter: „ D u sollst nicht sterben!" Wir können uns vorstellen, daß das Kind seine Äußerung als ernsthafte Forderung meint. Dennoch schiene es mir nicht sinnvoll, zu sagen, das Kind schreibe der Mutter etwas vor. Neben der Ernsthaftigkeit einer Forderung ist also zumindest ihre Erfüllbarkeit Voraussetzung dafür, daß sie als präskriptiv angesehen werden kann. Der Versuch, fremdes Verhalten zu beeinflussen, kann weiter aber auch deshalb hoffnungslos sein, weil derjenige, der sich anders verhalten soll, das nicht will, und derjenige, der es fordert, keine Möglichkeit hat, seine Forderung durchzusetzen. Angenommen, daß beide beteiligten Parteien diesen Umstand kennen, würde man wohl an der Ernsthaftigkeit der Forderung zweifeln, es ist aber leicht, sich Fälle vorzustellen, in denen unterschiedliche Vorstellungen über die Möglichkeiten des Fordernden bestehen. Nehmen wir an, einem Ungläubigen wird für den Fall, daß er sich nicht an irgendwelche religiösen Regeln hält, mit dem Bann gedroht. Nehmen wir weiter an, daß mit dieser kirchlichen Sanktion keine sonstigen sozialen Nachteile verbunden sind und sein sollen. Würde man dann nicht sagen, daß der Ungläubige sich überhaupt keiner ernst zu nehmenden Forderung gegenübersieht? Solange er ungläubig ist, stellt die angedrohte Sanktion für ihn keine Sanktion dar. Also warum sollte er sich so verhalten, wie es von ihm verlangt wird. Oder wie ist die Forderung eines kleinen Kindes zu beurteilen, das damit droht, seine Eltern zu verhauen, wenn es seine Wünsche nicht erfüllt bekommt, oder die Forderung eines Wahnsinnigen, der mit dem Weltuntergang droht, ohne Zugang zu den dafür erforderlichen Mitteln
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zu haben? Damit man von einer ernst zu nehmenden Forderung sprechen kann, muß der Addressat der Forderung zumindest Anlaß haben, die Forderung als solche (und nicht nur als Symptom eines inneren Zustandes des Fordernden) in seinem Verhalten zu berücksichtigen. Wiederum kann offenbleiben, in welchem Maße eine Forderung zu solcher Berücksichtigung Anlaß bieten muß. Nach den bisherigen Überlegungen erscheint es angebracht, eine Forderung erst dann als präskriptiv anzusehen, wenn sie ernsthaft, erfüllbar und ernst zu nehmen ist. Für Bewertungen ließen sich entsprechende Kriterien formulieren. Trotz dieser schon recht erheblichen Einschränkungen und Komplizierungen gibt es immer noch Anlaß, daran zu zweifeln, daß damit alle wesentlichen Merkmale von Präskriptivität erfaßt sind. Die bloße Tatsache, daß irgendjemand ernsthaft und in ernst zu nehmender Weise von mir ein mögliches Verhalten fordert, bedeutet nicht, daß ich mich in irgendeiner Weise verpflichtet fühlen müßte oder objektiv verpflichtet wäre, der Forderung zu entsprechen. Es liegt aber nahe, eine Forderung nur dann als präskriptiv zu bezeichnen, wenn sie eine Verpflichtung begründet. Einerseits ist offensichtlich, daß wir umgangssprachlich zwischen irgendwelchen beliebigen Forderungen und Normen unterscheiden: den Befehl des Bankräubers bezeichnen wir nicht als Norm, andererseits suchen wir einen Normbegriff, der im Rahmen der Unterscheidung von Recht und Moral fruchtbar ist, und d.h. letztenendes bei der Formulierung einer Antwort auf die Fragen nützlich ist, die eingangs als der sinnvolle Kern der Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral erkannt wurden 94 , und als Fragen nach dem moralisch, rechtlich oder sonstwie richtigen Verhalten nicht irgendeine, sondern eine verbindliche Antwort fordern. Im Rahmen der Klärung des Normbegriffes muß daher auch die Frage untersucht werden, in welchem Sinne Normen verbindlich oder verpflichtend 95 sein können, und in welchem Maße sie es sein müssen, damit sie ihren Namen zu Recht tragen.
7.13 Präskriptivität und Verbindlichkeit Zur Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt Die Frage, in welcher Weise ein präskriptiver Normbegriff Verbindlichkeit impliziert, kann nicht beantwortet werden, ohne etwas eingehender die 94
Vgl. 0.022; 0.23. H.L.A. Hart: The Concept of Law, Oxford 1961, hier zitiert nach der deutschen Ausgabe: Der Begriff des Rechts, Frankfurt 1973, definiert auf S. 124 „Verpflichtung" durch das Merkmal einer „beharrlichen und allgemeinen Forderung nach Konformität" und einem beträchtlichen „sozialen Druck, der auf jenen lastet, die von der Regel abweichen oder sehr wahrscheinlich abweichen werden". Ich verwende den Begriff hier in einem weiteren Sinne, der es zuläßt, auch z.B. grammatische Regeln als verbindlich oder verpflichtend zu bezeichnen. 95
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt gegenüber von Normen (und nur in dieser Beziehung interessiert uns diese Unterscheidung hier) zu klären. Im Rahmen alltäglicher Erfahrung stellen wir immer wieder fest, daß andere Menschen von Normen überzeugt sind, die wir nicht teilen. So hat etwa das derzeitige (Februar 1979) Geschehen im Iran für den westlichen Beobachter etwas Befremdliches. Die schiitischen Glaubensüberzeugungen der handelnden Personen unterscheiden sich von unseren Glaubensüberzeugungen, ihre Normen erkennen wir nicht an. Derartige alltägliche Erfahrungen sind es, die der Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt zugrundeliegen und ihre Plausibilität begründen. Bleiben wir im Beispiel, so können wir sagen: Unser Standpunkt gegenüber den von den iranischen Schiiten vertretenen Normen ist ein externer Standpunkt. Sie selbst nehmen gegenüber ihren Glaubensüberzeugungen einen internen Standpunkt ein. Die Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt drückt zunächst nichts weiter als die Erfahrung aus, daß es etwas Verschiedenes ist, selbst eine bestimmte normative Überzeugung zu haben und diese Überzeugung zu betätigen oder festzustellen, daß jemand anders etwas glaubt und Überlegungen darüber anzustellen, was für diesen anderen daraus folgt. Dennoch — oder vielleicht gerade weil dieser Unterschied auf der Hand zu liegen scheint — hat man sich innerhalb der Rechtstheorie lange Zeit nicht genügend Gedanken über seine Konsequenzen gemacht und erst spät versucht, ihn zu präzisieren. Der, soweit mir bekannt, früheste systematische derartige Versuch ist 1961 von H.L. A. Hart in seinem Buch „The Concept of Law" unternommen worden 96 . Obgleich — wie wir sehen werden — die von Hart vorgenommenen Begriffsbestimmungen manche Fragen offen lassen, ist schon allein die Tatsache, daß er die Aufmerksamkeit auf Bedeutung und Problematik der Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt gelenkt hat, ein großes rechtstheoretisches Verdienst. Die Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt ist für viele grundsätzliche Fragen der Rechtstheorie von zentraler Bedeutung. Zunächst einmal werden durch sie unterschiedliche Bedeutungen von Präskriptivität festgelegt: schiitische Normen sind für mich nicht in dem Sinn präskriptiv, in dem es die meisten hiesigen Rechtsnormen sind. Man kann die Frage stellen, ob es überhaupt sinnvoll ist, etwas als eine präskriptive Norm anzusehen, was man selbst gar nicht für verbindlich hält. Damit ist bereits ein weiterer Fragenkomplex angesprochen, mit dem die Unterscheidung zwischen externem und internem Standpunkt eng zusammenhängt: die Begriffe % Hart 1961, a.a.O., Die Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt (Aspekt, Aussage, Gesichtspunkt) zieht sich durch das ganze Buch. Besonders einschlägige Passagen finden sich auf den S. 84ff., 128ff., 140ff.
1.1 Die Normativität von Recht und Moral
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von Verbindlichkeit und Geltung. Gelten für mich nur Normen, die ich als verbindlich ansehe, und sind umgekehrt alle Normen, die ich als verbindlich ansehe, gültig? Eine begründete Antwort auf solche Fragen wird in diesem Abschnitt nicht versucht, sie setzt aber die Unterscheidung von internem und externem Standpunkt voraus. Diese Unterscheidung wird sich schließlich auch für die Frage nach der Begründbarkeit von Normen als von erheblicher Bedeutung erweisen. Angesicht der großen Bedeutung der Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt für eine Reihe von Fragen, die mit dem Verhältnis von Recht und Moral zusammenhängen, ist es angezeigt, sie systematisch und einigermaßen umfassend zu diskutieren. Dabei nehme ich in Kauf, daß der unmittelbare Zusammenhang dieser Unterscheidung mit dem präskriptiven Normbegriff nicht durchgängig nachgewiesen werden kann. Am Ende dieser Diskussion werden wir jedoch sehr viel klarer angeben können, was es heißt, Recht und Moral als Komplexe präskriptiver Normen aufzufassen, und wir werden darüber hinaus einige begriffliche Vorarbeit geleistet haben, auf die in späteren Abschnitten zurückgegriffen werden kann.
1.131 Die Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt im Erkennungssinn Im Rahmen der Hartschen Rechtstheorie spielt die Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt eine zentrale Rolle, denn er benötigt sie, um zwischen sozialen Regeln und „Gewohnheiten" zu unterscheiden, und eine bestimmte Art von sozialen Regeln ist der Gegenstand der Rechtstheorie 97 . Soziale Regel und „Gewohnheit" sehen von außen betrachtet insoweit gleich aus, als ein Beobachter „regelmäßiges uniformes Verhalten" feststellen kann 9 8 . Aber eine solche beobachtbare Verhaltensgleichförmigkeit erlaubt noch nicht den Schluß, daß es sich um regelgeleitetes Verhalten handelt. Davon kann man nach Hart nur dann ausgehen, wenn ein interner Aspekt im Hinblick auf diese Gleichförmigkeiten existiert. Ob dies der Fall ist, kann ein Beobachter an bestimmten typischen Merkmalen des internen Standpunktes feststellen, insbesondere daran, „daß es als Standard eine kritische reflektive Einstellung zu bestimmten Verhaltensmustern" gibt, die sich „in Kritik (und Selbstkritik), Konformitätsforderungen und der Anerkennung, daß derlei Kritik und Forderungen gerechtfertigt sind", bekundet und in „der normativen Sprache" des „man sollte", „man muß", „richtig", „falsch", „recht" oder „unrecht" ihren charakteristischen Ausdruck findet 99 . 97 98 99
Hart (1961) S. 84. Hart (1961) S. 84f. Hart (1961) S. 86.
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Vielleicht kann man den Standpunkt Harts insoweit in der Formulierung zusammenfassen: Die Existenz eines internen Standpunkts setzt das Bewußtsein voraus, daß es in Bezug auf bestimmte Verhaltensweisen ein Rechtfertigungsproblem gibt. Schon hier ergibt sich eine Schwierigkeit. Ich hatte eingangs gesagt, daß die Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt hier insoweit interessiert, als diese Standpunkte Normenkomplexen gegenüber bestehen. Hart spricht jedoch an den angeführten Stellen vom internen bzw. externen Aspekt von Handlungen. Um den Zusammenhang zum Ausgangsproblem herzustellen, müßte es also ein Verknüpfungsprinzip geben. Ein solches Verknüpfungsprinzip könnte z.B. lauten: Wenn jemand einem bestimmten Normenkomplex Ν gegenüber einen internen Standpunkt annimmt, dann weisen alle Handlungen, auf die sich Ν bezieht, für ihn einen internen Aspekt auf. Sofern sich nun der Betreffende in dem einschlägigen Handlungsbereich auf eine bestimmte mit Ν systematisch zusammenhängende Weise verhält (z.B. so, wie die Normen von Ν es vorschreiben), kann man als unabhängiger Beobachter sein Verhalten als regelgeleitetes Verhalten qualifizieren. Eine solche Deutung scheint auch recht gut mit dem von Hart an dieser Stelle angeführten Beispiel zu korrespondieren. Es ist das Beispiel des Schachspielens. Für den Schachspieler ist das Ziehen der Figuren eine Handlung, die in Übereinstimmung (oder Nicht-Übereinstimmung) mit den Schachregeln vorgenommen werden muß (oder nicht vorgenommen werden darf). Soweit er sich regelmäßig verhält, wird er als Grund dieses Verhaltens anführen, daß die Regeln es vorschreiben. Daneben mag ein Schachspieler auch noch bestimmte Angewohnheiten haben, z.B. eröffnet er immer mit dem Königsbauern. Nach dem Grund dieses Verhaltens gefragt, würde er nicht auf die Schachregeln verweisen, und er würde auch nicht sagen, daß man beim Schachspiel mit dem Königsbauern eröffnen muß. Daß der Schachspieler diesen Unterschied macht, heißt, daß das Schachspielen einen internen Aspekt aufweist. Wenn man Hart bis hierher folgt, dann kann man folgende Thesen formulieren: 1. Wir machen die Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt tatsächlich in dem Sinne, daß wir bestimmte Verhaltensweisen unter wertenden Gesichtspunkten betrachten und uns den Ergebnissen dieser Betrachtung entsprechend verhalten. 2. Ein unabhängiger Beobachter, der die Fülle beobachtbaren Verhaltens in regelgeleitetes und bloß gewohnheitsmäßiges Verhalten aufteilen will, muß dazu wissen, welche Verhaltensweisen wir unter wertenden Gesichtspunkten betrachten und welche nicht.
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Den in diesen beiden Thesen ausgedrückten Sinn der Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt möchte ich als Erkennungssinn der Unterscheidung bezeichnen 100 . Die beiden Thesen ließen sich möglicherweise durch eine dritte ergänzen, die zwar so nicht ohne weiteres bei Hart zu finden ist, die aber seiner Analyse zweifellos zugrunde liegt und von Kelsen direkt angesprochen wird, wenn er von der Norm als einem „Deutungsschema" spricht 1 0 1 . 3. Ein Beobachter, der nicht zwischen internem und externem Aspekt einer Handlung unterscheidet, versteht diese Handlung nicht. Die dritte These zeigt auch den Zusammenhang der Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt mit anderen Unterscheidungen wie denen zwischen „erklären" und „verstehen", „Ursache" und „Grund" und — wie wir noch deutlicher sehen werden — zwischen „Sein" und „Sollen". „Erklären" bedeutet nämlich, unter Ausblendung des internen Aspekts einer Handlung (kausale) Ursachen dieser Handlung angeben; „verstehen" bedeutet die Gründe des Handelnden zu erkennen. Wenn man einen prinzipiellen Unterschied zwischen „erklären" und „verstehen" machen will, muß man annehmen, daß entweder Gründe keine Ursachen sind — d.h. daß zwischen Grund und Handlung noch eine ihrerseits erklärungsbedürftige Entscheidung liegt— oder daß Gründe Ursachen sind, die ihrerseits nicht erklärt werden können. Beide Annahmen sind äußerst problematisch. 1.1311 Exkurs: „Erklären" und „Verstehen" menschlicher Handlungen Der Begriff des internen Standpunktes im Erkennungssinne ist gelegentlich mit einer Art mystischer Aura umkleidet worden. Irgendwie scheint zum „verstehen" menschlicher Handlungen eine besondere Art von „Einfühlung" erforderlich zu sein, derer es bei der Erklärung „natürlicher" Vorgänge nicht bedarf. In besonderem Maße scheint dies der Fall zu sein, wenn es um Handlungen mit symbolischer Bedeutung geht — so weist Kelsen etwa auf das Erheben der Hand anläßlich einer Abstimmung h i n 1 0 2 . Richtig daran scheint mir, daß derjenige, der den Symbolwert von Handlungen verstehen will, wissen muß, was ein Symbol ist. Verfügt er über diesen Begriff, besteht m.E. kein prinzipieller Unterschied zwischen dem Verstehen menschlicher Handlungen, dem Entschlüsseln eines Geheimcodes oder eines Computerprogrammes und der „Erklärung" natürlicher Ereignisse. „Verstehen" kann dann als Sonderfall von „Erklären" aufgefaßt werden 103 . 1,K ' Neil MacCormick: Legal Reasoning and Legal Theory, Oxford 1978, S. 292 spricht in ganz ähnlichem Sinn von „cognitively internal point of view". 101 Hans Kelsen: Reine Rechtslehre, 2. Aufl. Wien 1960, S. 3ff. 102 Kelsen (1960) S. 2 103 A. Kulenkampff: Stichwort „Hermeneutik" in: Josef Speck (Hrsg.): Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe, Göttingen 1980, S. 271-281, weist darauf hin, daß
5 Geddert
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Gesetzt von einer Funkstation werden Signale aufgefangen, die sich anhören wie athmosphärische Störungen, dann ist es möglich, von der zunächst unsicheren Hypothese auszugehen, es handele sich dabei um codierte Nachrichten. Unter dieser Hypothese werden anschließend alle möglichen Versuche angestellt, aus den Signalen eine irgendwie verständliche Nachricht herzustellen. Wenn dies in der Form gelingt, daß schließlich eine einwandfrei verständlich gesprochene Nachricht zu hören ist, dann kann man so gut wie sicher sein, daß die Entschlüsselung gelungen ist, denn die Wahrscheinlichkeit, daß bei anderen Verfahren andere Nachrichten gefunden worden wären, ist relativ gering. Aber diese Möglichkeit besteht immerhin und kann erst ausgeschlossen werden, wenn sich aufgrund der empfangenen Nachricht Vorhersagen machen lassen, wenn also z.B. der Feind tatsächlich am angegebenen Ort angreift. Woher wissen wir, daß etwas, was wie die Abgabe einer Stimme durch Handzeichen aussieht, tatsächlich eine Stimmabgabe ist? Daher, daß wenn es eine Stimmabgabe ist, bestimmte praktische Konsequenzen auftreten, z.B. die Verkündung eines Gesetzes im Gesetzblatt. Der regelmäßige Zusammenhang zwischen dem Handheben innerhalb eines Gremiums und bestimmten praktischen Konsequenzen erlaubt es uns, das Handheben in einen ursächlichen Zusammenhang mit diesen Konsequenzen zu bringen, und nur, weil dieser tatsächliche Zusammenhang regelmäßig besteht, können wir das Handheben als Teilnahme an einer Abstimmung identifizieren. Wenn ein Gremium über etwas „abstimmt", dann bedeutet das, daß es einen bestimmten Kurs des Verhaltens festlegt, den die Handlungsorgane des Gremiums regelmäßig befolgen (sofern sie nicht durch äußere Einwirkungen daran gehindert werden). Bestünde dieser Zusammenhang nicht, dann hätte es keinen Sinn davon zu sprechen, daß Abstimmungen (jedenfalls im gebräuchlichen Wortsinn) ein institutionalisiertes Verfahren kollektiven Entscheidens sind, d.h. es gäbe die Institution der Abstimmung nicht. Es scheint nun, daß der ursächliche Zusammenhang zwischen einer Parlamentsabstimmung und der Verkündung eines Gesetzes sich irgendwie von den Zusammenhängen unterscheidet, die in Naturgesetzen der Physik wie z.B. den Gesetzen des elastischen Stoßes ausgedrückt werden. Wir könnten vielleicht in einer letzten Abstimmung beschließen, künftig auf Abstimmungen zu verzichten — etwa durch Einführung einer erblichen Monarchie, in der alle Entscheidungen vom Monarchen oder den von ihm ernannten Personen getroffen werden — und wenn wir das täten, dann gäbe es die Natur- und Geisteswissenschaft sich nicht in ihren Methoden, sondern in ihren Forschungsgegenständen unterscheiden (S. 275). Hat es die erste mit Kausalverläufen zu tun, so beschäftigt sich die zweite mit symbolischen Zusammenhängen, dem „konventionellbedeutungsmäßigen Aspekt soziokultureller Phänomene". Vgl. auch u. 3.113 zum Problem der geisteswissenschaftlichen Erklärung.
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Institution der Abstimmung nicht mehr. Wir können aber nicht beschließen, daß die Gesetze des elastischen Stoßes nicht mehr gelten. Ich möchte dahingestellt lassen, ob wir die Freiheit, Institutionen willkürlich einzuführen oder abzuschaffen, tatsächlich haben, denn unabhängig davon gilt, daß wenn eine soziale Regel besteht, jedenfalls auch äußere Zusammenhänge zu beobachten sind, und daß das Bestehen derartiger Zusammenhänge notwendige Bedingung auch für die Identifikation von Regeln ist. Solange wir nur die ursächliche Verknüpfung zweier Erscheinungen kennen, wissen wir allerdings noch nicht, ob es sich um einen naturgesetzlichen oder um einen andersartigen Zusammenhang handelt. Sofern wir aber überhaupt zwischen diesen beiden Arten von Zusammenhängen unterscheiden können, können wir auch — und zwar wiederum mit Hilfe der Beobachtung äußerer Regelmäßigkeiten — feststellen, welche Art von Zusammenhang vorliegt. Um zwischen Naturgesetzen und Regeln im Prinzip unterscheiden zu können, benötigen wir nur den allgemeinen Begriff des Symbols, denn regelgeleitetes Verhalten unterscheidet sich von bloßen Ereignissen in der Welt dadurch, daß es eine symbolische Bedeutung hat. Sofern wir über den Begriff des Symbols verfügen, können wir in Ansehung einer beobachteten Regelmäßigkeit eine Liste aller möglichen Erklärungen dieser Regelmäßigkeit aufstellen, in der auch diejenigen „Erklärungen" („Begründungen") enthalten sind, in denen irgendeine symbolische Bedeutung der beobachteten Ereignisse vorausgesetzt wird. Ebenso, wie wir unter verschiedenen möglichen Kausalerklärungen natürlicher Ereignisse diejenige auswählen, die sich besonders gut bewährt (d.h. eine gut bestätigte Theorie zusätzlich bestätigt, besonders einfach ist etc.), können wir auch aus dieser Liste Erklärungen auswählen. Ob es sinnvoll ist, in die Erklärung menschlicher Handlungen Motive, Regeln, innere Beweggründe oder dergleichen miteinzubeziehen oder nicht, ist letztlich eine empirische Frage. Die Tatsache, daß es an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Arten von Abstimmung gegeben hat, macht es z.B. unmöglich, eine bestimmte Art äußerlich wahrnehmbaren Handelns naturgesetzlich mit einer bestimmten Folge (der typischen Abstimmungsfolge) zu verknüpfen. Vielleicht kann überhaupt der abstrakte Begriff „Abstimmung" nur gewonnen werden, indem man unterstellt, daß den verschiedenen Erscheinungsformen von Abstimmungen eine einheitliche Absicht zugrunde liegt. Wenn dies so wäre und der Begriff „Abstimmung" in mindestens einer gut bewährten Erklärung menschlichen Verhaltens notwendig vorkäme, dann wäre es sinnvoll, bestimmte Verhaltensweisen als Abstimmung zu deuten. Generell gesprochen ist die Bezugnahme auf innere geistige Zustände im Rahmen von Handlungserklärungen (-begründungen) genau dann sinnvoll, 5*
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wenn diese Erklärungen sich nach den gleichen Gesichtspunkten bewähren, wie Erklärungen ohne derartige Bezugnahme. Nicht erforderlich ist, daß sie sich besser oder auch nur genausogut bewähren, sondern grundsätzlich reicht aus, daß sie sich überhaupt bewähren. B.F.Skinner hat bekanntlich letzteres bestritten 104 . Die von ihm zuletzt vorgetragenen Argumente gegen „mentalistische Handlungserklärungen" überzeugen jedoch im Ergebnis nicht. Er zeigt nämlich nur, daß es theoretisch möglich ist, Handlungen wie jedes andere Verhalten zu erklären. Weitgehend übersetzt er lediglich mentalistische Prädikate wie Absicht, Motiv, Bedürfnis, Gefühl in nichtmentalistische Prädikate wie Überlebenskontingenz, Verstärkung, Selektion. Aber selbst wenn er recht hätte, und die Welt des Geistes (der Seele) auf entbehrlichen Annahmen beruhte, eine Verdoppelung wäre, zu der kein zwingender Anlaß besteht 105 , könnte man mit Gründen überall dort an diesem Sprachspiel festhalten, wo es sich bewährt. Erstens ist der Behaviorismus vorderhand trotz mancher Erfolge weitgehend nur Programm (mentalistische Verhaltenstheorien sind zwar auch nicht viel mehr — aber auch nicht viel weniger), zweitens ist das mentalistische Sprachspiel im Gegensatz zum behavioristischen eingeführt, drittens kann es durchaus sinnvoll sein, mit verschiedenen Erklärungsansätzen parallel zu arbeiten (das Verhältnis zwischen Wellentheorie und Korpuskeltheorie des Lichts kann dafür als Beispiel dienen) — zumal neuere handlungstheoretische Entwürfe zeigen, daß es durchaus möglich und erfolgversprechend ist, innerhalb einer Hardlungstheorie behavioristische Ansätze und mentalistische Prädikate miteinander zu verbinden 106 . Wogegen Skinner sich freilich zu Recht wendet, und wovon sich selbst ein so bedeutender Rechtstheoretiker wie Kelsen nicht genügend deutlich abgesetzt hat, ist die Vorstellung, es gebe zwei verschiedene Welten, eine des verstehbaren Sinnes und eine der äußerlich beobachtbaren Ereignisse, die prinzipiell voneinander getrennt sind 1 0 7 . Alles was wir über die Welt des verstehbaren Sinnes wissen, wissen wir durch Beobachtung 108 . A u f eine äußerer Beobachtung unzugängliche Welt verstehbaren Sinnes könnten wir folgenlos verzichten. Der Begriff des internen Standpunktes im Erkennungssinn setzt die Existenz einer derartigen Doppelwelt aber nicht voraus, son11,4
B.F. Skinner: Wissenschaft und menschliches Verhalten, München 1973; ders.: Beyond Freedom & Dignity, NY 1971 (deutsch: Jenseits von Freiheit und Würde, Hamburg 1973); ders.: Was ist Behaviorismus? Hamburg 1978 (1. engl. NY 1974). Skinner: Was ist Behaviorismus, S. 23. I,6 K. Kaufmann-Mall: Kognitiv — hedonistische Theorie menschlichen Verhaltens, Wien 1978 (BH3 der Zeitschrift für Sozialpsychologie). II,7 Kelsen: Reine Rechtslehre (a.a.O., Fn.101), S. 78f. ,nK Hart hat daher vollkommen zu Recht seine Erkenntnisregel im Gegensatz zur Kelsenschen Grundnorm als eine empirische Tatsache eingeführt (vgl. Hart: Der Begriff des Rechts (1961), a.a.O.. Fn. 95, S. 350f.).
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dem gerade im Gegenteil, daß es beobachtbare Sachverhalte gibt, bei deren Erklärung die Annahme der Existenz von Regeln fruchtbar ist. Der Unterschied zwischen internem und externem Standpunkt im Erkennungssinn ist letztlich nicht prinzipieller Art, sondern besagt weiter nichts als daß bestimmte Phänomene besser erklärt werden können, wenn man berücksichtigt, was die handelnden Personen sich dabei denken. Beide Standpunkte sind Standpunkte eines Beobachters, der sich seinem Gegenstand gegenüber wertfrei verhält, und sind also in einem sofort zu besprechenden Sinn der Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt, nämlich im Wertungssinn dieser Unterscheidung, externe Standpunkte.
1.132 Die Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt im Wertungssinn Die Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt kommt bei Hart nicht nur im Erkennungssinn, sondern — terminologisch nicht gut unterschieden — noch in einer weiteren Bedeutung vor, die ich als Wertungssinn bezeichnen möchte 109 . In diesem Sinne einem Normensystem gegenüber einen internen Standpunkt einzunehmen, bedeutet, daß man das Normensystem anwendet, sich innerhalb eines Normensystems bewegt, einen Glauben betätigt. Hart selbst formuliert: „Die Verwendung nicht explizit formulierter Erkenntnisregeln von Gerichten oder von anderen Personen bei der Identifizierung einzelner Regeln des Systems ist für den internen Standpunkt charakteristisch" 110 . Durch diese Formulierung wird auch deutlich, um was für eine Art von Anwendung es sich handelt, nämlich eine, die in gewissem Umfang ohne das Bewußtsein erfolgt, daß es sich überhaupt um die Anwendung eines bestimmten Normensystems handelt. Ein Gericht geht z.B. ohne weiteres davon aus, daß ein vom Parlament erlassenes Gesetz gültig ist sofern es nicht der Verfassung widerspricht, und macht sich keine Gedanken darüber, daß dies eine Erkenntnisregel ist, und ob diese Erkenntnisregel gerechtfertigt ist 1 1 1 . Das bedeutet natürlich nicht, daß derartige Fragen nicht gestellt werden können. Es bedeutet aber, daß sie gewöhnlich nicht gestellt werden. Und der Grund dafür, daß sie nicht gestellt werden, besteht darin, daß die Gültigkeit der Erkenntnisregeln eines existierenden Normensystems ohne weiteres vorausgesetzt wird. Man kann geradezu formulieren: Daß ein Normensystem gültig ist (und d.h. hier: wirksam ist), ist identisch damit, daß die 1,19 MacCormick 1978, S. 292 spricht in ganz ähnlichem Sinn vom „„volitional internal" point of view". n " Hart (1961) S. 145. 1,1 Der Begriff der „Erkenntnisregel" erfüllt innerhalb der Rechtstheorie Harts eine ähnliche Funktion wie der der „Grundnorm" bei Kelsen, sie dient der Identifizierung der Normen eines Normensystems. Vgl. Hart (1961) S. 143 f.
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Erkenntnisregel(n) dieses Normensystems ohne weiteres als gültig (und das heißt hier: normativ gültig) vorausgesetzt werden. Nach der Gültigkeit der letzten Erkenntnisregel eines Normensystems kann man überhaupt nur fragen, wenn man den internen Standpunkt verläßt, denn vom internen Standpunkt aus ist die Frage nach der Gültigkeit der letzten Erkenntnisregel ebenso sinnlos wie die Frage, ob das Pariser Urmeter tatsächlich einen Meter lang ist 1 1 2 . Die Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt im Wertungssinn besagt also, daß derjenige gegenüber einem bestimmten Normensystem Ν einen internen Standpunkt einnimmt, der von der Gültigkeit der letzten Erkenntnisregel von Ν ausgeht, derjenige einen externen Standpunkt, der dies nicht tut. Was heißt nun „von der Gültigkeit der letzten Erkenntnisregel ausgehen"? Oder anders gefragt: Wann würden wir die Behauptung, Ρ gehe von der Erkenntnisregel E aus, für falsch halten? Zwei mögliche Bedeutungen dieses Ausdrucks können eine Rolle spielen: a. „von einer Regel ausgehen" heißt „von der Gültigkeit dieser Regel überzeugt sein" b. „von einer Regel ausgehen" heißt „eine Regel anwenden". Diese beiden Bedeutungen schließen einander natürlich nicht aus. Bei einer bestimmten Definition von „Überzeugung", dann nämlich, wenn man darunter eine Einstellung versteht, die zu entsprechendem Handeln führt, impliziert a. b. sogar. Andererseits kann man unter „Überzeugung" aber auch einfach das verstehen, was zutage tritt, wenn man jemanden danach fragt, was er von bestimmten Dingen denkt (Einstellungsmessung). In diesem Falle kann es durchaus sein, daß die Regeln, von deren Gültigkeit die Befragten überzeugt sind, von ihnen nicht befolgt (angewendet) werden, also a. vorliegt, nicht aber b., sowie umgekehrt, daß jemand Regeln befolgt, von deren Gültigkeit er nicht überzeugt ist, also b. vorliegt und nicht a.. In beiden Fällen kann der Ausdruck „von der Gültigkeit einer Regel überzeugt sein" sowohl bedeuten, daß man von der Richtigkeit einer Regel überzeugt ist (dabei ist vorausgesetzt, daß Richtigkeit Geltung impliziert, s. dazu u.) als auch, daß man unabhängig von der Richtigkeit einer Regel davon überzeugt ist, daß sie tatsächlich gilt, was z.B. heißen kann, daß die meisten Menschen von ihrer Richtigkeit überzeugt sind oder/und sie befolgen. Ein interner Standpunkt im Wertungssinne ist allerdings ein Standpunkt mit praktischen Konsequenzen für denjenigen, der ihn einnimmt. Im Rahmen der Definition dieses Standpunktes können wir daher nicht sagen, daß jemand von der Gültigkeit einer Regel überzeugt ist, wenn diese Überzeugung für ihn selbst nichts Normatives impliziert. Unabhängig davon, aus Hart (1961) S. 152.
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welchen Gründen man von der Geltung einer Norm überzeugt ist, bedeutet im Rahmen des internen Standpunktes im Wertungssinne eine derartige Überzeugung auch die Annahme einer Verpflichtung. Der Ausdruck „von der Gültigkeit einer Regel überzeugt sein" kann daher hier durch „sich zur Befolgung einer Regel verpflichtet fühlen" ersetzt werden (Dieser Sachverhalt deutet darauf hin, daß jedenfalls vom internen Standpunkt im Wertungssinn aus Gültigkeit und Richtigkeit einer Norm weitgehend dasselbe sind.). Damit gibt es mindestens drei Möglichkeiten, den internen Standpunkt im Wertungssinne zu definieren: i. Jemand fühlt sich verpflichtet, bestimmte Regeln zu befolgen, und befolgt sie. (Zu dieser Definition gelangt man auch, wenn man „Überzeugung" von vornherein so definiert, daß sie ein der Überzeugung entsprechendes Verhalten einschließt.) ii. Jemand fühlt sich verpflichtet, bestimmte Regeln zu befolgen. iii. Jemand befolgt bestimmte Regeln. Was heißt nun eine Regel „anwenden" oder „befolgen"? Da nach Hart nur dann eine Regel vorliegt, wenn sowohl ein interner Standpunkt im Erkennungssinn als auch ein interner Standpunkt im Wertungssinn besteht, kann es jedenfalls nicht heißen, daß man sich bloß regelmäßig verhält, d.h. so, daß ein Beobachter, ohne nach den Beweggründen zu fragen, eine Gesetzmäßigkeit des Verhaltens feststellen könnte, denn dann wären „einer Regel folgen,, und „eine Gewohnheit haben" dasselbe, und es wäre folglich nicht erforderlich, daß ein interner Standpunkt im Wertungssinne existiert, damit man von Regeln sprechen kann. Bedeutet es, sich einer Regel entsprechend zu verhalten, weil man sich dazu verpflichtet fühlt, dann sind die Definitionen i. und iii. identisch, d.h. wir brauchen iii. bei weiteren Erörterungen nicht mehr zu berücksichtigen. iii. wäre nur dann eine eigenständige Möglichkeit, den Begriff „interner Standpunkt im Wertungssinne" zu definieren, wenn man eine Regel befolgen könnte, obwohl man sich dazu nicht verpflichtet fühlt. In gewissem Sinne ist dies tatsächlich möglich. Gegenüber Radbruchs Naturrechtsdenken in der ersten Nachkriegszeit bemerkt Hart kritisch: „Denn alles, was er sagt, beruht auf dem Mißverständnis, daß mit der Anerkennung einer Norm als einer gültigen Norm des Rechts auch schon die moralische Frage „Soll man dieser Rechtsnorm Gehorsam leisten?" entschieden ist" 1 1 3 . Man kann also eine Norm (Regel) als Norm eines Normensystems, z.B. des Rechts erkennen und im Bewußtsein dieser Tatsache (deshalb) ihr entsprechend handeln. Gleichzeitig kann ein anderes Normensystem die Befolgung der Norm verbieten oder doch jedenfalls dazu führen, daß man sich nicht zur Befolgung der 113 H.L.A. Hart: Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral, S. 42, in: ders.: Recht und Moral, Göttingen 1971, S. 14ff.
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Norm verpflichtet fühlt. Es sind dann offenbar andere Gründe z.B. Furcht vor Strafe, die zum normgemäßen Verhalten führen. Soweit ich sehe, ist es nicht möglich, iii. anders als auf eine solche Weise, d.h. durch die Einführung eines Begriffs der „relativen Verpflichtung" (vor dem Recht bin ich verpflichtet, aber ich fühle mich nicht verpflichtet), zu einer eigenständigen Definition zu machen. Diese Definition aber möchte ich nicht als Definition des internen Standpunktes im Wertungssinne anerkennen, denn sie läßt offen, wie jemand seine Befolgung einer Regel bewertet. Um in diesem Sinn Regeln zu „befolgen", reicht es vollkommen aus, wenn man sie als solche erkennt, d.h. einen internen Standpunkt im Erkennungssinn einnimmt. Stehen demnach für die Definition des internen Standpunktes im Wertungssinne nur noch i. und ii. zur Verfügung, so kann man bereits festhalten, daß dieser Standpunkt jedenfalls voraussetzt, daß man sich durch die Norm (den Normenkomplex), der (oder dem) gegenüber man ihn einnimmt, verpflichtet fühlt. Fraglich ist allein, ob man auch dann einen internen Standpunkt im Wertungssinne einnimmt, wenn man sich trotz dieses Gefühls bewußt normwidrig verhält, z.B. aus Feigheit, Bequemlichkeit etc. Aus folgendem Grund tendiere ich dazu, diese Frage mit der Einschränkung zu bejahen, daß es zumindest möglich sein muß, der Verpflichtung zu genügen, d.h. man keinen internen Standpunkt im Wertungssinne gegenüber Normen einnehmen kann, die dem Grundsatz „ought implies can" widersprechen 114 . Wählt man i., so ist der Begriff des internen Standpunkts im Wertungssinn für einen Beobachter im Rahmen einer Erklärung des Verhaltens nicht sehr ertragreich, denn die Menge derjenigen, die einer Norm gegenüber einen internen Standpunkt im Wertungssinne einnehmen, ist eine Teilmenge derjenigen, die die Norm befolgen — nämlich diejenigen, die der Norm folgen und sich dazu verpflichtet fühlen. Daneben sollte es dann aber auch noch Personen geben, die sich verpflichtet fühlen, die Norm zu befolgen, dies aber dennoch nicht tun, da andernfalls die zweite Satzhälfte von i. entbehrlich wäre. Für die Beantwortung der Frage, was es heißt, eine Norm zu befolgen, weil man sich dazu verpflichtet fühlt, oder eine Norm nicht zu befolgen, obwohl man sich dazu verpflichtet fühlt, leistet dieser Begriff des internen Standpunkts im Wertungssinn daher nichts, i. ist auch stärker, als es erforderlich ist, um mit Hilfe des Begriffs „interner Standpunkt im Wertungssinne" zwischen Regel und Gewohnheit zu unterscheiden, denn das regelmäßige Verhalten für sich genommen kann bei dieser Unterscheidung keine Rolle spielen; es kommt also nur auf den Grund dieses Verhaltens an. 114
Vgl. die Unterscheidung zwischen „wollen" und „wünschen". Wünschen kann man auch Unmögliches, wollen nur Mögliches. „Sich verpflichtet fühlen" würde ich als eine Form des Wollens auffassen (der Norm genügen wollen).
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Wählt man dagegen ii., so kommt dem internen Standpunkt im Wertungssinne im Rahmen von Handlungsbegründungen und damit möglicherweise auch im Rahmen von Handlungserklärungen eine eigenständige Bedeutung zu. Nur dann, wenn die Einnahme eines internen Standpunktes im Wertungssinn gegenüber einer Regel noch nicht impliziert, daß man die Regel befolgt, kann man sie befolgen, weil man ihr gegenüber einen internen Standpunkt im Wertungssinne einnimmt. Dies bedeutet nicht, daß überhaupt kein Zusammenhang zwischen dem Haben einer Überzeugung und dem dieser Überzeugung entsprechenden Handeln besteht. Eine Überzeugung zu haben bedeutet zumindest, daß man sich um entsprechendes Handeln „bemüht" und sich also in der Regel seiner Überzeugung entsprechend verhält. Allerdings ist der Fall denkbar, daß man allem möglichen gegenüber einen internen Standpunkt im Wertungssinne einnimmt, sich aber ganz anders verhält. Dies muß nicht einmal heuchlerisch sein, sondern man könnte gleichzeitig ernsthaft bedauern, daß man nicht imstande ist, sich seinen eigenen Wertvorstellungen entsprechend zu verhalten. Wäre dies generell der Fall, könnte man aber das, demgegenüber dabei ein interner Standpunkt im Wertungssinne eingenommen wird, nicht als Regel bezeichnen. Denn eine Regel ist nur, was auch vom internen Standpunkt im Erkenntnissinn aus als Regel identifiziert werden könnte, und d.h. ein gesetzmäßiges Verhalten plus interner Standpunkt im Wertungssinn gegenüber den Gesetzen dieses Verhaltens (die dadurch zu Regeln werden).
1.113 Zum Begriff der Regelbefolgung Die Definition des internen Standpunktes im Wertungssinn durch ii. setzt einen bestimmten Begriff der Regelbefolgung voraus, sofern der Begriff des internen Standpunktes im Wertungssinn tatsächlich die ihm von Hart zugesprochene Bedeutung für den Normbegriff haben soll. Ich habe schon erwähnt, daß Hart die Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt benötigt, um zwischen bloßen Gewohnheiten (sozialen Gleichförmigkeiten) und sozialen Regeln zu unterscheiden. Es ist nun wichtig, festzuhalten, daß bei dieser Unterscheidung der interne Standpunkt im Wertungssinne eine besondere Rolle spielt. Dadurch, daß es ihn gibt, treten Normen überhaupt erst ins Dasein. Im Verhältnis zum internen Standpunkt im Wertungssinne ist der interne Standpunkt im Erkennungssinne etwas Abgeleitetes. Normen können nur deshalb zum Gegenstand wertfreier Erkenntnis gemacht werden, weil es auch Menschen gibt, für die sie mehr sind. Angenommen es gäbe niemanden, der sich irgendeiner Norm gegenüber verpflichtet fühlte, dann gäbe es Hart zufolge überhaupt keine Normen. Sich einer Norm gegenüber verpflichtet fühlen, bedeutet, sich zur Befolgung der Norm verpflichtet fühlen. Wenn die Einnahme eines internen Stand-
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
punktes im Wertungssinne als notwendige Voraussetzung für die Existenz einer Norm oder eines Normenkomplexes in dem Sinne ein Definitionsmerkmal des Normbegriffes ist, daß mit ihrer Hilfe Normen von Nicht-Normen abgegrenzt werden können, dann muß die Befolgung der Norm, zu der man sich bei Einnahme eines internen Standpunktes im Wertungssinn verpflichtet fühlt, mehr sein als bloß zufallig normgemäßes Verhalten. Zunächst einmal ist offensichtlich, daß Normen und Naturgesetze zu unterscheiden sind. Naturgesetze kann man nicht „befolgen" wie man Normen befolgen kann. Wenn Naturgesetze für menschliches Verhalten gelten, dann verhalten sich Menschen ihnen entsprechend, ohne daß es darauf ankäme, ob irgendjemand den Naturgesetzen gegenüber einen internen Standpunkt im Wertungssinne einnimmt (sofern man das Naturgesetzen gegenüber überhaupt tun kann). „Eine Regel befolgen" bedeutet: freiwillig tun, was die Regel vorschreibt, weil es die Regel vorschreibt. Wie groß die Freiheit sein muß, sich auch anders zu verhalten, kann hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist ausgeschlossen, daß ein unter unwiderstehlichem Zwang erfolgendes normgemäßes Verhalten als Normbefolgung angesehen werden kann. Zu tun, was eine Norm vorschreibt, weil es die Norm vorschreibt, setzt zunächst voraus, daß man die Norm kennt, d.h. einen internen Standpunkt im Erkenntnissinne ihr gegenüber einnehmen könnte, sobald man gefragt wird, weshalb man sich so verhält. Man kann darüber streiten, wie klar das Normbewußtsein desjenigen, der eine Norm befolgt, sein muß, aber man kann meines Erachtens nicht darüber streiten, daß ein gewisses Normbewußtsein für den Begriff der Normbefolgung vorausgesetzt werden muß, um Normbefolgung und bloße Verhaltensgleichförmigkeiten voneinander zu unterscheiden. Normbefolgung setzt nicht notwendig voraus, daß man die Norm, der man folgt, auch billigt. Z.B. kann man eine Norm, obwohl man sie für schlecht hält, deswegen befolgen, weil sie auf einer Mehrheitsentscheidung beruht, und man den allgemeinen Grundsatz vertritt, daß Mehrheitsentscheidungen zu respektieren sind. Dieses Beispiel zeigt aber auch, daß Normbefolgung und Billigung irgendwelcher Normen zusammenhängen. Zwar muß man nicht der konkreten Regel gegenüber, die man befolgt, einen internen Standpunkt im Wertungssinne einnehmen, aber wenn man dies nicht tut, dann muß man es einer anderen Regel gegenüber tun, aus der sich ergibt, daß man die erste Regel befolgen soll. Indem man eine Mehrheitsentscheidung respektiert, die man für falsch hält, befolgt man die Regel, daß Mehrheitsentscheidungen zu respektieren sind. Das Befolgen der durch die Mehrheitsentscheidung gesetzten Regel ist nur ein Anwendungsfall jenes Prinzips. Wenn es keine Regel gibt, aufgrund derer ich mich verpflichtet fühle, gemäß einer weiteren Regel zu handeln, die ich für sich genommen
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ablehne, dann kann ein dieser weiteren Regel entsprechendes Handeln nicht als deren Befolgung angesehen werden. Die zuletzt aufgestellte Behauptung ist keineswegs unproblematisch. Da die Unterscheidung zwischen Regelbefolgung und bloß regelmäßem Verhalten auch empirisch sinnvoll sein muß, führt sie im Ergebnis dazu, daß man eine menschliche Tendenz voraussetzen muß, Normenordnungen in Richtung auf größere Akzeptierbarkeit hin zu verändern. Diese Tendenz muß — soll der hier erörterte Normbegriff empirisch sinnvoll sein — die Erklärung sozialen Geschehens erleichtern. Bevor ich diese Konsequenz genauer ableite, möchte ich hervorheben, daß es eine Konsequenz ist, die sich unmittelbar aus dem Normbegriff im Sinne Harts ergibt. Wenn man einen solchen Normbegriff vertritt, dann muß man zugleich ein bestimmtes Menschenbild als empirisch sinnvoll voraussetzen, demzufolge der Mensch seiner Natur nach ein Überzeugungstäter ist. Betrachten wir den eben erwähnten empirischen Sinn des Befolgungsbegriffes genauer: Wenn wir sagen, daß jemand eine Regel befolgt, dann erklären wir damit nicht nur vergangenes Handeln, sondern wir stellen auch eine Prognose über künftiges Verhalten auf. Regelbefolgung kann als Argument in Erklärungszusammenhängen nur deshalb vorkommen, weil solche Prognosen sich in gewissem Umfang bewähren. Ein Begriff von Regelbefolgung, der es nicht erlaubte, irgendwelche Prognosen zu machen, wäre entbehrlich. Auch wenn strittig ist, welche Regeln jemand befolgt, kann man die Frage stellen, was für Prognosen sich aus den verschiedenen Alternativen ergeben. Bewahrheitet sich dann eine dieser Prognosen, so ist das ein gutes Argument für die Annahme, daß diejenigen Regeln befolgt wurden, die dieser Prognose zugrunde lagen. Mitunter kann man auch schon aufgrund der Plausibilität der sich ergebenden Prognosen darüber entscheiden, welches die Regeln sind, die tatsächlich befolgt werden. Betrachten wir als Beispiel ein Terrorregime. Mit Hilfe von brutaler Gewalt gelingt es den Machthabern, ein Verhalten der Bevölkerung zu erzwingen, das mehr oder weniger den von ihnen erlassenen Gesetzen entspricht. Kann man dann sagen, daß die Bevölkerung diese Gesetze befolgfi Sofern sich die Bevölkerung den Gesetzen gegenüber nicht auf irgendeine Weise verpflichtet fühlt, läßt sich die Prognose aufstellen, daß sie den Gehorsam gegenüber den Gesetzen einstellen wird, wenn ihr dies ohne Risiko möglich ist. Ist anzunehmen, daß sie sich tatsächlich so verhält, „befolgt" sie nicht die Gesetze ihres Regimes, sondern eher Klugheitsregeln der Selbsterhaltung. Konkret: Die nicht unbeträchtliche Anzahl von „DDR-Bürgern", die in die Bundesrepublik käme, wenn es die Mauer nicht gäbe, befolgt nicht das Verbot der „Republikflucht" (sie tut nur so als würde sie es befolgen). Der wesentliche Unterschied zum ersten Fall besteht darin, daß mich das Prinzip, die Mehrheitsentscheidung zu respektieren, dazu verpflichtet, eine
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
konkrete Mehrheitsentscheidung zu respektieren, mich aber auch ein als Verpflichtung verstandenes Selbsterhaltungsprinzip nicht dazu verpflichten würde, Republikfluchtregeln zu akzeptieren, sondern allenfalls dazu, lebensgefährliche Fluchtversuche zu unterlassen. Man kann diesen Zusammenhang allgemein so formulieren: Wenn jemand, nur um eine Sanktion zu vermeiden, normgemäß handelt, befolgt er die Norm nicht. Befolgung einer Norm setzt stets die Einnahme eines internen Standpunkts im Wertungssinne entweder dieser Norm oder einem übergeordneten Prinzip gegenüber voraus, aus dem sich ergibt, daß die Norm befolgt werden soll, und nicht nur, daß die Sanktion vermieden werden soll. Betrachten wir wieder die Untertanen eines Terrorregimes, von denen wir unterstellen, daß sie den Geboten dieses Regimes nur aus Furcht vor Sanktionen entsprechen. Wie wir gesehen haben, kann man nicht davon sprechen, daß sie die Gebote befolgen, sondern sie befolgen Klugheitsregeln mit dem Ziel, Sanktionen zu vermeiden. Wir können daher voraussagen, daß die Untertanen aufhören werden, den Geboten des Regimes Folge zu leisten, sobald sie bemerken, daß die Sanktionsmacht im konkreten Fall oder auch generell nicht besteht. Wir können aber auch noch einen Schritt weitergehen. Da es sich um ein Terrorregime handeln soll, kann die Einstellung der Untertanen zu den Geboten des Regimes nicht als neutral gekennzeichnet werden, sondern sie ist eher ablehnend. Je nach dem, wie stark diese Ablehnung ist, besteht eine mehr oder minder große Wahrscheinlichkeit dafür, daß Schwächen der Sanktionsmacht nicht nur ausgenutzt werden, um einzelne Gebote zu übertreten, sondern auch, um die Machtbasis des Regimes zu beschädigen. Ein Terrorregime wie wir es hier unterstellt haben, sieht sich ständig der Gefahr der Subversion, des Machtverfalls und der Revolution ausgesetzt. Das eben skizzierte Szenario würde allerdings dann nicht zutreffen, wenn man sich vorstellen könnte, daß die Untertanen nicht nur den Geboten des Terrorregimes gegenüber keinen internen Standpunkt im Wertungssinn einnehmen, sondern auch sonst keinen Normen gegenüber. Wäre diese Vorstellung richtig, dürften wir allerdings nicht sagen, daß sie die Gebote des Regimes beachten, weil sie Klugheitsregeln befolgen, denn das setzt ja den Klugheitsregeln gegenüber einen internen Standpunkt im Wertungssinne voraus. Wir müßten vielmehr eine Art unbewußten Triebes, Sanktionen zu vermeiden, als Ursache ihres Verhaltens ansehen. In einem solchen Fall könnte man die Untertanen als „wertblind" bezeichnen; es gäbe einfach keine Normen, denen gegenüber sie einen internen Standpunkt im Wertungssinn einnehmen. Vorausgesetzt, daß ein solcher Fall überhaupt möglich ist, müßte man von der Hartschen Position aus wohl sagen, daß die Untertanen in einer wesentlichen Weise entmenschlicht sind. Der Begriff des internen Standpunktes im Wertungssinne setzt nicht nur voraus, daß es den Men-
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sehen möglich ist, einen derartigen Standpunkt einzunehmen, sondern es liegt ihm die sehr viel stärkere Annahme zugrunde, daß Menschen im Normalfall gar nicht anders können, als jedenfalls irgendwelchen Normen gegenüber einen internen Standpunkt im Wertungssinne einzunehmen.
1.134 Der Begriff der Präskriptivität Die bisherigen Überlegungen erlauben es, nunmehr den Begriff der Präskriptivität sehr viel präziser zu definieren, als dies oben geschehen war. Ursprünglich hatte ich nur vorausgesetzt, daß Rechts- und Moralnormen menschliches Verhalten irgendwie steuern (1.12) und dies als Indiz ihrer im übrigen noch nicht erläuterten Präskriptivität akzeptiert. Inzwischen haben wir erkannt, daß es für Normen jedenfalls nach Ansicht Harts spezifisch ist, menschliches Verhalten dadurch zu steuern, daß sie befolgt werden, weil es zumindest einige Menschen gibt, die ihnen gegenüber einen internen Standpunkt im Wertungssinne einnehmen (1.133). Wenn dies das Wesen von Normen oder Regeln ist, und wir dieses Wesen als „Präskriptivität" bezeichnen, dann ergibt sich folgendes: Präskriptiv sind Normen zunächst einmal für denjenigen, der ihnen gegenüber einen internen Standpunkt im Wertungssinn einnimmt. Sie sind es weiter für denjenigen, der zwar ihnen selbst gegenüber keinen internen Standpunkt im Wertungssinn einnimmt, der aber anderen Normen gegenüber einen internen Standpunkt im Wertungssinn hat, aufgrund dessen er sich verpflichtet fühlt, die nur als fremde normative Forderungen erkannten Normen zu befolgen (Beispiel: Ein Heranwachsender nimmt aus Rücksicht auf die moralischen Vorstellungen seiner Eltern seine Freundin nicht mit nach Hause, obwohl er diese Vorstellungen albern findet. „Rücksicht" bedeutet in diesem Zusammenhang: Er will seine Eltern nicht verletzen. Man kann sich vorstellen, daß er das deshalb nicht will, weil er der Norm „ D u sollst deine Eltern ehren!" gegenüber einen internen Standpunkt im Wertungssinne einnimmt.). Normen, denen gegenüber man direkt oder indirekt einen internen Standpunkt im Wertungssinne einnimmt, möchte ich als „streng präskriptiv" bezeichnen. Schließlich können in einem übertragenen Sinn Normen auch für denjenigen präskriptiv sein, der zwar selbst ihnen gegenüber keinen internen Standpunkt im Wertungssinn einnimmt und sich auch nicht aus einer anderen normativen Überzeugung heraus zu ihrer Befolgung verpflichtet fühlt, der sie aber als etwas beschreibt, dem gegenüber irgendjemand einen internen Standpunkt im Wertungssinn einnimmt. Normen im Rahmen einer derartigen Beschreibung möchte ich als „schwach präskriptiv" bezeichnen. Wenn wir im Rahmen von Erklärungen oder Beschreibungen menschlicher Handlungen vom Begriff schwach präskriptiver Normen Gebrauch machen, dann behaupten wir immer auch, daß es Menschen gibt, für die diese Normen streng präskriptive Normen sind.
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
Wenn ich im folgenden von einem präskriptiven Normbegriff spreche, dann meine ich damit einen Normbegriff, der entsprechend einer der eben aufgeführten Möglichkeiten präskriptiv ist.
7.14 Rechtfertigung
des präskriptiven
Normbegriffes
Bisher wurde — um den Begriff der Präskriptivität zu klären — so getan, als sei schon ausgemacht, daß Recht und Moral als präskriptive Normenkomplexe angesehen werden müssen. Zwar sind die meisten Rechtsphilosophen der Überzeugung, daß dies der Fall ist, wir hatten jedoch gesehen, daß es durchaus eine Richtung gibt, nach der auch ein anderer — nämlich ein deskriptiver — Normbegriff in Betracht kommt (1.11). Bevor wir uns den traditionellen Unterscheidungen von Recht und Moral zuwenden, müssen wir uns vergewissern, daß sich aus dieser Richtung kein grundsätzlicher Einwand gegen die Voraussetzung eines solchen Vorgehens ergibt. Der deskriptive Normbegriff war oben dadurch charakterisiert worden, daß ihm zufolge Normen beobachtbare soziale Sachverhalte sind. Diese Charakterisierung ist im vorliegenden Zusammenhang nicht mehr ausreichend. Auch vom internen Standpunkt im Erkennungssinn aus beobachtet man soziale Sachverhalte und deutet sie normativ, beobachtet also, so könnte man sagen, auf eine indirekte Weise Normen. Zumindest kann man derartige normative Deutungen mit dem gleichen Recht als „Beobachtungen" bezeichnen, mit dem man vielleicht sagen kann, das Fallgesetz sei beobachtbar. Wenn „beobachtbarer sozialer Sachverhalt" weiter nichts heißen soll, als daß es ein Sachverhalt ist, der auch eine empirische Seite hat, dann besteht zwischen deskriptivem und präskriptivem Normbegriff kein wesentlicher Unterschied, allenfalls unterscheiden sie sich in ihrer Akzentuierung. Normen im Sinne einer „verstehenden" Soziologie sind präskriptive Normen in dem oben definierten Sinn. Eine derartige Soziologie teilt mit der rechtsphilosophischen Tradition die Überzeugung, daß es der Mühe wert ist, sich mit den in menschlichem Handeln zum Ausdruck kommenden Intentionen und Wertüberzeugungen zu beschäftigen. Wenn es sinnvoll ist, sich sozialwissenschaftlich und d.h. empirisch mit Normen zu beschäftigen, dann könnte es aber auch sinnvoll sein, dies mit den Mitteln einer radikal behavioristischen Verhaltenswissenschaft zu tun. Interpretieren wir die Gleichsetzung von Norm und sozialem Sachverhalt im Sinne einer solchen Verhaltenswissenschaft, so können Normen nicht mehr sein als Komplexe von Beobachtungen, die von einem externen Standpunkt im Wertungs- und Erkennungssinn aus gemacht werden. Gegen einen derartigen Standpunkt läßt sich natürlich nicht einwenden, daß seine methodologische Grundentscheidung es ihm unmöglich mache, Normen überhaupt in
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den Blick zu bekommen. Eine radikal-behavioristische Theorie setzt mehr voraus als eine methodologische Grundentscheidung. Sie klammert nicht einfach bestimmte Phänomene aus der Betrachtung aus, sondern sie behauptet, derartige Phänomene gebe es überhaupt nicht. Es erscheint mir fraglich, ob irgendjemand eine derartige Theorie vertritt. Skinner, dem das gelegentlich nachgesagt wurde, hat sich dagegen gewehrt. Selbst wenn niemand einen solchen Standpunkt vertreten sollte, scheint es mir trotzdem sinnvoll, in gehöriger Knappheit aufzuzeigen, weshalb ein solcher Standpunkt unvertretbar wäre, denn wenn es auch nicht möglich sein mag, einzelnen Autoren diesen Standpunkt nachzuweisen, gibt es doch durchaus Tendenzen in Richtung eines solchen Standpunktes. Solche Tendenzen finde ich nicht nur bei den „methodischen Behavioristen", sondern auch bei den Vertretern eines soziologischen Rechtsbegriffes. Es sind im wesentlichen zwei Gründe, die zur Ablehnung eines radikalbehavioristischen deskriptiven Normbegriffes führen: i. Ein solcher Normbegriff bietet keine Gewähr dafür, das zu erfassen, was wir intuitiv unter Normen verstehen. ii. Ein solcher Normbegriff berücksichtigt einen wesentlichen Teil unseres Selbstverständnisses nicht. ad i. Es gibt einen logischen Unterschied zwischen dem Normbegriff und den Kriterien, mit deren Hilfe ich entscheide, ob etwas eine Norm ist, also dem Normbegriff subsumiert werden kann. Obwohl dieser Unterschied besteht, ist es nicht vernünftig, sich Normbegriff und Normkriterien als etwas voneinander gänzlich Unabhängiges vorzustellen. Insbesondere wird man von einer Theorie, innerhalb derer ein bestimmter Normbegriff verwendet werden soll, verlangen müssen, daß sie nicht Grundannahmen verwendet, die in einem begrifflichen Widerspruch zu den Kriterien für das Vorliegen einer Norm i.S. der Theorie stehen. Wenn wir eine radikal behavioristische Verhaltenstheorie dadurch definieren, daß sie nur einen externen Standpunkt im Wertungs- und Erkennungssinn zuläßt, dann ist es für eine derartige Theorie offensichtlich unmöglich, Normen im landläufigen (präskriptiven) Sinn überhaupt zu identifizieren. Man kann sich diesen Zusammenhang an Holmes berühmtem Diktum verdeutlichen: „Voraussagen über das, was die Gerichte tun werden, und nichts sonst, nenne ich Recht". Selbstverständlich hat Holmes bei dieser Formulierung nicht an alle zukünftigen Handlungen der Gerichte gedacht — z.B. nicht daran, wie sich die Richter vermutlich schneuzen werden — sondern nur an bestimmte nämlich rechtlich bedeutsame Handlungen. Woran kann man aber erkennen, ob eine Handlung rechtlich bedeutsam ist oder nicht? Dies ist die Frage nach einem Rechtskriterium. Reine Beobachtung kann ein solches Kriterium nicht liefern. Zwar darf man als sicher unterstellen, daß jedes sinnvolle Rechtskriterium weitgehend
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
auf Beobachtungen beruht (vgl. o. 1.1311), aber die Einnahme eines internen Standpunktes im Erkennungssinne wird durch bloße Beobachtung allein niemals nahegelegt, sondern setzt zusätzlich die Annahme voraus, daß man durch die Einführungeines theoretischen Begriffs, nämlich des präskriptiven Normbegriffes zu empirisch fruchtbaren Hypothesen über künftiges Verhalten kommt. Da eine radikal behavioristische Verhaltenstheorie diese Annahme eben gerade nicht teilt, gibt es für sie keinen Grund in dem Sinne zwischen normgesteuertem Verhalten und anderem Verhalten zu unterscheiden, wie man das vom internen Standpunkt im Erkennungssinn aus tut. Ja, es wäre geradezu widersprüchlich, wenn sich ein radikaler Behaviorist darauf einließe, das, was ein „Präskriptivist" ihm als Recht bezeichnete, als einen abgrenzbaren Untersuchungsgegenstand zu akzeptieren, denn er hält ja gerade die Abgrenzungskriterien des Präskriptivisten für falsch. Wenn radikale Behavioristen etwas als Norm bezeichnen, müssen sie daher notwendigerweise eine ganz andere Intension mit diesem Begriff verbinden, als es Präskriptivisten tun. Eine denkbare radikalbehavioristische Rechtsdefinition könnte z.B. lauten: Recht ist alles, was mit einiger Regelmäßigkeit als Recht bezeichnet wird. Diese Definition ist so zu verstehen, daß solche Stimuli, die typischerweie, d.h. mit mindestens überzufalliger Häufigkeit eine bestimmte Klasse sprachlicher Verhaltensweisen auslösen, nämlich solcher, in denen auf bestimmte Art Worte wie Recht, Gesetz, Richter etc. vorkommen, als Recht angesehen werden. Ich möchte auf die Details einer derartigen Rechtsdefinition nicht eingehen. Das bisher Gesagte reicht aus, um festzustellen, daß es durchaus denkbar ist, eine radikalbehavioristische Rechtsdefinition derart zu konstruieren, daß ihre Extension sich der eines präskriptistischen Rechtsbegriffes nähert. Aber alle Gründe, die es dafür geben könnte, die Definition gerade so zu konstruieren, sind Gründe für die Einnahme eines internen Standpunktes im Erkennungssinn. Nur wenn die radikalbehavioristische Rechtsdefinition sozusagen zufällig mit der präskriptivistischen extensionsgleich wäre, d. h. allein der Gesichtspunkt empirischer Fruchtbarkeit zu dieser Übereinstimmung geführt hätte, könnte sie als gelungener Reduktionsversuch präskriptivistischer Intuitionen gelten. Es ist jedoch ebensogut möglich, daß ein radikalbehavioristischer Normbegriff eine ganz andere Extension haben müßte als ein präskriptiver. Dies wird umso wahrscheinlicher, je berechtigter der radikalbehavioristische Ansatz ist. Wie immer dem sein mag, zur intuitiven Bedeutung von Recht und Moral gehört ganz sicher ihre Präskriptivität. Sofern man den Begriff der Präskriptivität selbst schon für sinnlos hält, sollte man aus Gründen terminologischer Klarheit auch auf die Verwendung der Begriffe Recht und Moral verzichten. ad ii. Es ist eine Tatsache, daß wir alle als Handelnde frei zu sein glauben. Wir bilden uns normative Überzeugungen und glauben, aus diesen Überzeu-
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gungen heraus zu handeln. Selbst wenn wir gelegentlich Erfahrungen machen, die den Einfluß äußerer Faktoren auf unsere Überzeugungsbildung beweisen, können wir uns doch nicht als von solchen Faktoren vollkommen determiniert auffassen. Zwar schließt diese psychologische Tatsache nicht die Möglichkeit aus, radikal behavioristische Verhaltenstheorien über andere aufzustellen, ja solche Theorien kann man sogar auf sich selbst beziehen, sofern man sich nur als derjenige, der gerade Verhaltenswissenschaft betreibt, ausklammert. Unabhängig von der Frage, ob es nicht bereits theoretische Einwände gegen den prognostischen Wert derartiger Verhaltenstheorien gibt, sind sie jedenfalls derartig kontraintuitiv, daß es gute Gründe geben müßte, bevor man sich zu ihnen bekehren würde. Selbst wenn es eine radikalbehavioristische erfolgreiche Verhaltenstheorie gäbe, würde sich dadurch im übrigen vermutlich unser Selbstgefühl nicht verändern. Ob uns eine solche Theorie veranlassen müßte, unsere intuitiven Begriffe von Recht und Moral als präskriptiven Normenkomplexen aufzugeben, erscheint ebenfalls fraglich. Erst recht nicht ist einzusehen, warum schon die bloße Möglichkeit einer erfolgreichen radikalbehavioristischen Verhaltenstheorie uns dazu bewegen sollte, von unseren Intuitionen abzugehen.
1.141 Exkurs: Freiheit oder Determinismus Die eben zur Verteidigung eines präskriptiven Normbegriffes angeführten Argumente hängen aufs Engste mit der Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt im Wertungssinne zusammen und gehören in den Rahmen einer Argumentation zur klassischen Frage nach der menschlichen Willensfreiheit. Die Diskussion dieser Frage ist in jüngster Zeit durch zwei Veröffentlichungen von Ulrich Pothast dargestellt und fortgeführt worden 1 1 5 . Ich möchte das zum Anlaß nahmen, in knapper Form die Bedeutung zu skizzieren, die die Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt im Wertungssinne für das Freiheitsproblem hat, denn mir scheint, daß sich vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung die Vereinbarkeit persönlicher Verantwortungszuschreibung und deterministischer Verhaltenserklärung in einer Weise begründen läßt, die der Pothastschen Kritik an der „Vereinbarkeitsthese" 116 keinen Angriffspunkt bietet. 115 Ulrich Pothast (Hrsg.): Seminar: Freies Handeln und Determinismus, Frankfurt 1978; ders.: Die Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise — Zu einigen Lehrstücken aus der neueren Geschichte von Philosophie und Recht, Frankfurt 1980. 116 Ich beziehe mich hier nur auf Pothasts verallgemeinernde Bemerkungen zur Vereinbarkeitsthese insgesamt (Pothast 1980, S. 416ff.). Bei einer klaren Unterscheidung von internem und externem Standpunkt im Wertungssinne erkennt man z.B., daß — anders als Pothast auf S. 418 implizit voraussetzt — die Vereinbarkeitsthese Vergeltung als Strafzweck nicht notwendig ausschließt. Dabei verwende ich den Terminus „Vereinbarkeits-
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Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Unterscheidung von externem und internem Standpunkt im Wertungssinne, so können wir sagen, daß vom externen Standpunkt im Wertungssinne aus menschliche Handlungen überhaupt nicht in einem starken Sinne als frei angesehen werden können 1 1 7 . Von einem externen Standpunkt im Wertungssinne aus werden Handlungen immer nur erklärt. Selbst wenn in solchen Erklärungen Überzeugungen der Handelnden vorkommen, die diesen selbst als Gründe erscheinen, sind diese Überzeugungen doch vom externen Standpunkt im Wertungssinne aus nur eine besondere Klasse von Ursachen. Von einem externen Standpunkt im Wertungssinne aus wird der Mensch ungefähr aufgefaßt wie ein Computer, der auf bestimmte vorprogrammierte Weise Umweltreize (Inputs) verarbeitet. Die einzige Frage, die sich hier stellt, ist, wie man sich die Programmierung vorzustellen hat: Wie intelligent ist das Programm? Ist es empirisch sinnvoll, die Programmstrukturen in Handlungserklärungen miteinzubeziehen, weil nur so die Zuordnung von Input und Output erklärt werden kann, oder sollte man den Handelnden als black box betrachten und sich auf die Feststellung ihrerseits nicht gedeuteter gesetzmäßiger Zusammenhänge zwischen Input und Output beschränken? Wie diese Fragen zu beantworten sind, ist ein rein empirisches Problem. In keinem Falle ergibt sich, daß die Handelnden in einem starken Sinne frei sind, sondern es geht nur um die Art ihrer Determination. Vom externen Standpunkt im Wertungssinne aus kann Handlungsfreiheit in einem anspruchsvollen Sinne überhaupt nicht gedacht werden. Die Alterthese", ebenso wie Pothast das tut (vgl. S. 125ff.), nicht zur Bezeichnung einer bestimmten Theorie, sondern als charakteristisches Merkmal einer ganzen Klasse von Theorien, die lediglich im Ergebnis darin übereinstimmen, daß Willensfreiheit und Determinismus sich nicht ausschließen. (Eine Theorie, nach der wir zwar Handlungsfreiheit aber keine Willensfreiheit haben, würde ich — insoweit von Pothast abweichend — nicht als Vereinbarkeitstheorie ansehen (vgl. Pothast 1980, S. 125). Echte Vereinbarkeitstheorien müssen m.E. auf den Nachweis hinauslaufen, daß die Aussagen „Der Mensch ist frei" und „Der Mensch ist determiniert" aus logischen Gründen nicht miteinander in Widerspruch geraten können. Die von Pothast als Vereinbarkeitsthese bezeichnete schwächere Variante, nach der unser Wille determiniert ist, wir aber handeln können, wie wir wollen (S. 126), stellt meines Erachtens aber eine etwas undeutliche Vorwegnahme einer echten Vereinbarkeitsthese dar. Der Satz „Ein Mensch kann handeln, wie er will" hat einen unklaren Status. Von einem externen Standpunkt im Wertungssinne aus gesprochen, bedeutet er, daß in kausalen menschlichen Handlungserklärungen die Instanz des Willens berücksichtigt werden muß, vom internen Standpunkt im Wertungssinn aus gesprochen enthält er überhaupt keine „Aussage", sondern signalisiert, daß der Sprecher den internen Standpunkt im Wertungssinn eingenommen hat. Die Humesche Vereinbarkeitsthese, auf die Pothast seine Terminologie zurückführt, gewinnt ihre Plausibilität dadurch, daß sie von dieser Doppeldeutigkeit Gebrauch macht. Das dem determinierten Willen entsprechende Handeln ist, nur vöm Standpunkt des Wollenden aus sinnvoll als frei zu bezeichnen, daß der Wille determiniert ist, kann dagegen nur vom externen Standpunkt im Wertungssinne aus sinnvoll behauptet werden.) 1,7 Vgl. Pothast 1980, S. 33lf. (starker und schwacher Gebrauch von „können" in „Er hätte anders handeln können").
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nativen, zwischen denen man hier zu wählen hat, schließen Freiheit bestenfalls im Sinne von Zufälligkeit ein. Angenommen, es gäbe zufällige menschliche „Handlungen", würde das zwar einen strengen Determinismus widerlegen, aber es ergäbe sich daraus sicherlich kein Argument für das, was wir als menschliche Freiheit zur Grundlage von Verantwortungszuschreibungen machen 118 . Die Alternative „auf Ursachen zurückführbar oder zufällig" ist für den externen Standpunkt im Wertungssinn erschöpfend. Für persönliche Verantwortung bleibt da schon begrifflich kein Raum. Ganz anders stellen sich die Verhältnisse vom internen Standpunkt im Wertungssinne aus dar. Dieser Standpunkt ist dadurch charakterisiert, daß Werte und Normen als solche und nicht bloß als Überzeugungen von irgendjemand Realität haben (nämlich gelten). Aus der Existenz von Werten und Normen ergibt sich die Existenz von Rechten und Pflichten und damit die Bedingung dafür, daß man jemanden verantwortlich machen kann. Freiheit und Verantwortung sind nur von einem internen Standpunkt im Wertungssinne aus überhaupt möglich. Wie man leicht sehen kann, würden die Begriffe von Recht und Pflicht, Norm und Wert ihren Sinn verlieren, wenn es keine Verantwortlichkeit gäbe. Es wäre absurd, gleichzeitig an die Existenz von Normen und daran zu glauben, daß eine Befolgung dieser Normen in dem oben 1.133 dargestellten Sinn unmöglich ist. Diese Bemerkung betrifft aber natürlich nur die innere Logik des internen Standpunktes im Wertungssinn, sie würde jedenfalls theoretisch die Möglichkeit nicht ausschließen, daß der ganze interne Standpunkt im Wertungssinn eine Illusion ist. Bevor ich zu dieser Frage komme, möchte ich konstatieren: Vom internen Standpunkt im Wertungssinn aus sind Verantwortung (Schuld) und Freiheit notwendig. Hinsichtlich der Frage danach, ob der interne Standpunkt im Wertungssinn insgesamt eine Illusion ist, ergibt sich der Verdacht, daß diese Frage sinnlos ist, denn es ist unklar, wie eine Antwort auf diese Frage gefunden werden sollte. Es ist eine Tatsache, daß wir als Handelnde, und das schließt hier auch das theoretische Handeln des Wissenschaftlers oder Philosophen ein, immer schon einen internen Standpunkt im Wertungssinn eingenommen haben. Das Streben nach Erkenntnis und Wahrheit ist wertorientiertes Handeln. Gesetzt der interne Standpunkt im Wertungssinne wäre eine Illusion, so wäre er eine auch mit jeder Erkenntnis mit dem Anspruch auf Begründetheit notwendig verbundene Illusion. Wir müssen glauben, daß wir uns von Argumenten leiten lassen können, damit das Argumentieren einen 118 Deswegen würde es auch für das Freiheitsproblem wenig bringen, wenn sich im atomaren Bereich zufällige Ereignisse nachweisen ließen, von denen man vielleicht annehmen kann, daß sie auch bei neurophysiologischen Vorgängen eine Rolle spielen könnten. Wir werden einen Computer kaum als frei in dem hier in Rede stehenden Sinn bezeichnen» weil er einen Zufallsgenerator eingebaut hat.
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Sinn hat. In diesem Glauben liegt eine Unterstellung substantieller Freiheit, die man auch dadurch nicht umgehen kann, daß man sagt, wir seien eben auf Argumentation programmiert (verfügten über ein Argumentationsprogramm), denn wenn es wahr wäre, daß wir so programmiert sind, dann wären wir frei, das bessere Argument zu akzeptieren. Im übrigen ist die Aussage, daß wir auf Argumentation programmiert sind, in sich widersprüchlich, denn die Wahrheit dieser Aussage kann nur unter der Bedingung nachgewiesen werden, daß sie wahr ist, und ihre Falschheit könnte überhaupt nicht nachgewiesen werden. Wir können festhalten: Daß man interne Standpunkte im Wertungssinne einnimmt, ist eine Tatsache, die ihrerseits keiner Begründung fähig ist. Die Frage danach, ob man von der menschlichen Freiheit ausgehen sollte, kann sinnvoll nur unter Voraussetzung dieser Freiheit gestellt werden und also als prinzipielle Frage überhaupt nicht. Damit ist nun allerdings keineswegs eine uferlose Freiheitsvermutung gerechtfertigt. In Ansehung eines konkreten menschlichen Verhaltens können wir sehr wohl danach fragen, ob wir es als frei ansehen sollen oder nicht. Obwohl wir uns nicht als durchgehend determiniert auffassen können, können wir uns doch als sehr weitgehend determiniert begreifen. Zwar ist die Kategorie der Schuld bzw. Verantwortung unverzichtbar, daraus folgt jedoch keineswegs, daß wir notwendigerweise am Schuldstrafrecht überhaupt oder in seinem heutigen Umfang festhalten müßten. Es mag Gründe geben, die uns dazu veranlassen können, auf die Schuld als Strafgrund zu verzichten, oder dies jedenfalls in einer Vielzahl von Fällen zu tun. Wenn wir die kriminalpolitische Frage diskutieren, in welchem Umfang wir von der Verantwortlichkeit eines Straftäters ausgehen sollen, dann nehmen wir bestimmten kriminalpolitischen Zielen gegenüber einen internen Standpunkt im Wertungssinn ein. Hinsichtlich der Möglichkeiten aber, diese Ziele zu erreichen, können wir alles verfügbare empirische Wissen mobilisieren; insoweit hindert uns nichts an der Einnahme eines externen Standpunktes im Wertungssinne. Gehen wir z.B. davon aus, daß Strafen die Wahrscheinlichkeit krimineller Handlungen verringern sollen, dann ist Schuld i.S. von Verantwortlichkeit ein problematischer Anknüpfungspunkt, denn weder läßt sich ihr Vorhandensein im strengen Sinne nachweisen, noch kann man sie quantifizieren, noch bietet sie eine Grundlage für differenzierte Maßnahmen 1 1 9 . Die Berück"" Die Berechtigung dieser Behauptungen kann hier nicht nachgewiesen werden. Unterstellt man sie einmal, dann ergibt sich, daß die Strafpraxis einer Gesellschaft nicht darauf zurückgeführt werden kann, daß in dieser Gesellschaft von menschlicher Freiheit und Verantwortung ausgegangen wird. Es gibt keinen zwingenden Zusammenhang zwischen Verantwortungsdenken und rigidem oder unmenschlichem Strafen. Es ist daher auch verfehlt, das Schuldkonzept mit Hilfe der Schilderung von Folterszenen anzugreifen (Pothast 1980, S. 315-317). Schuld und Vergeltung hängen ebensowenig notwendig zusammen, wie Vergeltung mit dem Tallionsprinzip identisch ist. Wenn man die aktuelle
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sichtigung von Schuldgesichtspunkten ließe sich unter der angegebenen kriminalpolitischen Zielsetzung nur rechtfertigen, wenn ein Vergleich ganzer Justizsysteme erweisen würde, daß diejenigen, die Schuldgesichtspunkte berücksichtigen, insgesamt gesehen eine erfolgreichere Prävention bewirken. Dazu sind derzeit — und das dürfte sich kaum ändern — nur Spekulationen möglich 1 2 0 . Eine ganz andere Frage ist, ob wir uns tatsächlich auf die eben genannte kriminalpolitische Zielsetzung beschränken sollten. Diejenigen, die im Gefühl der Freiheit eine Gesellschaftsordnung entwerfen, und dabei weitgehend oder sogar umfassend den Mitgliedern dieser Gesellschaft gegenüber einen externen Standpunkt einnehmen, d.h. diese Mitglieder als determiniert auffassen und zugleich sich selbst als Entwerfende aus der Gesellschaft herausnehmen, müssen sich die Frage stellen, ob sie diese Abstraktion auch dann noch durchhalten könnten und wollten, wenn sie selbst zu den Betroffenen ihrer Regelungsentwürfe würden 1 2 1 . Es ist keineswegs nur ideologischer Schein, wenn die klassische Vergeltungstheorie Kants mit dem Anspruch auftritt, eben gerade durch Vergeltung im Verbrecher den Menschen zu ehren. Es erscheint mir nicht ausgemacht, daß wir nicht alle aus dem Gefühl unserer Freiheit heraus beanspruchen, daß — jedenfalls in gewissem Maße — positiv wie negativ Vergeltung an uns geübt werde. Strafpraxis einer Gesellschaft untersucht, wird man regelmäßig finden, daß diese Praxis mit Annahmen über die Wirkung der Strafe zusammenhängt. Die dem Vergeltungsgedanken zugrundeliegende Idee, daß sich durch Strafe eine Art Ausgleich von Recht und Unrecht erzielen und dadurch eine erzürnte Gottheit besänftigen läßt, ist älter als die Schuldkonzeption — sie setzt noch nicht einmal ein Strafrecht voraus, das dem Anspruch nach nur die Täter bestraft (Vgl. Paul Fauconnet: Warum es die Institution der „Verantwortlichkeit" gibt, in: Lüderssen/Sack (Hrsg.): Seminar: Abweichendes Verhalten II — Die gesellschaftliche Reaktion auf Kriminalität 1, Frankfurt 1975, S. 293-314, 300f.). Das Abstellen auf die Schuld läßt sich vermutlich selbst historisch gar nicht anders erklären, denn als Folge sozialer Zweckmäßigkeit. Dies gilt aber nur für die Frage, wen man straft, nicht für die Frage, wie man straft. Die sg. „schuldangemessene" Strafe hängt nicht von der Größe der Verantwortung ab (genau genommen kann man überhaupt nur entweder verantwortlich oder nicht verantwortlich sein), sondern von der Schwere der Tat, für die man verantwortlich ist (im Falle „verminderter Schuld" ist man für eine weniger schwerwiegende Tat voll verantwortlich). 120 Das gilt sowohl für Schuld in dem hier interessierenden Sinn von „Verantwortlichkeit" als auch für Schuld im Sinne von „Schwere der Tat", bzw. „Größe des Unrechts" (vgl. umgangssprachlich: Er trug an einer schweren Schuld). Zum Problem vgl. die Aufsätze von Hassemer und Lüderssen, in: Hassemer/Lüderssen/Naucke: Hauptprobleme der Generalprävention, Frankfurt 1979, sowie meinen Aufsatz „Das Dilemma des Justizsystems" in: Lüderssen/Sack (Hrsg.): Seminar Abweichendes Verhalten IV — Kriminalpolitik und Strafrecht, Frankfurt 1980, sowie die zu ganz anderen Ergebnissen gelangende Erwiderung darauf von Heinz Steinert. 121 Pothast 1980, S. 28-38 erkennt durchaus den Zusammenhang zwischen Freiheitskonzeption und Selbst(wert)gefühl, bagatellisiert aber die Konsequenzen, die ein Verzicht auf Verantwortungszuschreibung hätte, weil er nicht genügend zwischen der Feststellung, daß jemand verantwortlich ist, und dem daran geknüpften, aber nicht daraus resultierenden Verhalten gegenüber dem Verantwortlichen unterscheidet.
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
Wenn es auch nicht sicher ist, daß die Achtung der Persönlichkeit (d.h. die Unterstellung ihrer Freiheit) notwendig dazu führt, daß unsere gesellschaftlichen Einrichtungen nicht die ihnen an sich mögliche Effektivität erreichen, so kann es doch auch nicht ausgeschlossen werden, daß es so ist, und daß wir bereit sind, dies in Kauf zu nehmen. Hier jedenfalls scheint mir im rechtlichen Bereich die Brisanz der Fragestellung nach Freiheit und Determinismus zu liegen: Müssen wir uns unsere Freiheit etwas kosten lassen, und was sind wir bereit, dafür zu zahlen? Das zugrundeliegende ethische Problem ist nicht, ob der Mensch frei ist oder nicht, sondern inwieweit wir uns selbst gegenüber einen internen Standpunkt im Wertungssinne einnehmen wollen und sollen. Und der Rahmen, innerhalb dessen dieses Problem diskutiert werden kann, ist ersichtlich nicht eine isolierte gesellschaftspolitische Fragestellung, sondern der Versuch, ein ethisches Weltbild zu begründen. 1.2 Ein Katalog möglicher Kriterien zur Unterscheidung von Recht und Moral Nachdem einigermaßen klar ist, was präskriptive Normen sind, und weshalb es angebracht ist, sich unter Recht und Moral präskriptive Normenkomplexe vorzustellen, kann nunmehr ein Katalog der möglichen Unterscheidungskriterien von Recht und Moral aufgestellt werden. Die hier zu besprechenden Kriterien können weitgehend der umfangreichen Diskussion über das Verhältnis von Recht und Moral entnommen werden. Allerdings erweist es sich dabei in einigen Fällen als notwendig, Autoren im Widerspruch zu ihrem expliziten oder vermutlichen Selbstverständnis zu rekonstruieren. Als Beispiel für eine derartige Notwendigkeit kann die oben bereits skizzierte Auffassung Launs dienen 122 . Nach dieser Auffassung kann man nicht zwischen autonomen und heteronomen Normen unterscheiden, da es ein begriffliches Merkmal von Norm ist, verbindlich und d.h: autonom zu sein. Genaugenommen stellt diese These ein Kritik an dem hier vorausgesetzten weiten Normbegriff dar. Wir werden sie im Folgenden jedoch so behandeln, als akzeptiere Laun einen Normbegriff, der die Unterscheidung zwischen autonomen und heteronomen Normen möglich macht, und lehne vor diesem Hintergrund eine Unterscheidung zwischen Recht und Moral mit Hilfe des Begriffspaares autonom - heteronom ab. Die sachliche Berechtigung einer solchen Behandlung ergibt sich daraus, daß es — jedenfalls in gewissen Grenzen — möglich ist, unterschiedliche Begriffssysteme (Sprachen) in ein Bezugssystem zu übersetzen, ohne daß die in den ursprünglichen Begriffssystemen formulierten Theorien ihren Sinn verändern 13 ' 3 . Über die Frage der Vgl. o. 1.11. Vgl. u. 3.231.
1.2 Mögliche Kriterien zur Unterscheidung von Recht und Moral
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Angemessenheit des Bezugssystems oder der anderen Begriffssysteme ist damit natürlich nicht entschieden. Daraufkommt es aber im gegenwärtigen Zusammenhang auch nicht an 1 2 4 . Noch in einer anderen Hinsicht werden im Folgenden die Literaturmeinungen einer Vereinheitlichung unterzogen, die möglicherweise den Intentionen der jeweiligen Autoren nicht vollkommen gerecht wird. Es wird nämlich durchgängig Recht und Moral gegenüber ein externer Standpunkt im Wertungssinne (zusammen mit einem internen Standpunkt im Erkennungssinne) eingenommen, d.h. die vorgeschlagenen Unterscheidungskriterien werden wertfrei betrachtet. Angesichts der in 1.13 vorgestellten Unterscheidung zwischen internem und externem Standpunkt im Wertungssinne ist ein solches Vorgehen jedoch keineswegs selbstverständlich. Es ist durchaus möglich, zwischen Recht und Moral danach zu unterscheiden, ob man dem jeweiligen Normenkomplex gegenüber einen internen oder einen externen Standpunkt im Wertungssinn einnimmt. Z.B. könnte jemand sagen: Moral, das sind diejenigen Normen, die für mich verbindlich sind (= denen gegenüber ich einen internen Standpunkt im Wertungssinne einnehme), Recht, das sind fremde Verhaltensforderungen mit bestimmten Merkmalen, zu denen das der Verbindlichkeit nicht gehört. Eine solche Verquickung zweier verschiedener Standpunkte Normen gegenüber könnte man vielleicht auch als Gegenüberstellung zweier verschiedener Normbegriffe charakterisieren; richtiger ist es, einen einheitlichen Normbegriff zu unterstellen, dem gegenüber in verschiedener Weise Stellung bezogen wird. Wenn die eigene Einnahme eines internen Standpunktes im Wertungssinne zur Unterscheidung von Recht und Moral herangezogen wird, dann kann das explizit nur geschehen, sofern derjenige, der das tut, sich selbst gegenüber einen externen Standpunkt im Wertungssinne insofern einnimmt, als er seine eigenen Wertungen wertfrei beschreibt. Aber natürlich kann es einem Theoretiker auch passieren, daß von ihm selbst unbemerkte Wertungen in die Unterscheidung von Recht und Moral eingehen. Beide Arten von Standpunktwechseln kommen in der Diskussion über die Unterscheidung zwischen Recht und Moral vor. Sie werden jedoch im Rahmen des hier aufgestellten Kataloges keine Rolle spielen. Als ein Charakteristikum von Rechtstheorien, in denen wertende und wertfreie Normbegriffe miteinander vermengt werden, kann gelten, daß solche Theorien sowohl auf die Frage danach, was Recht ist (was üblicherweise als Recht bezeichnet wird), als auch auf die Frage, was Recht sein sollte (was man als Recht bezeichnen sollte) eine Antwort geben, ohne daß zwischen diesen beiden Fragen deutlich unterschieden würde. Der späte Radbruch ist nur bereit, dasjenige als Recht anzusehen, was wenigstens der 124 Hier soll ja zunächst nur die Vielfalt der möglichen Unterscheidungen dargestellt werden.
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
Intention nach der Verwirklichung von Gerechtigkeit dient 1 2 5 . Drückt Radbruch damit seine private Ansicht aus, oder formuliert er ein Merkmal des umgangssprachlichen Rechtsbegriffes? Fuller behauptet, im Rechtsbegriff seien bestimmte Merkmale enthalten, die für eine „inner morality" des Rechts sorgten (die ihrerseits wiederum bestimmte gesellschaftliche Zustände zwar nicht logisch aber empirisch ausschließt) 126 . Ist das eine linguistische Aussage oder ein Plädoyer dafür, nur das Recht zu nennen, was wenigstens die von Fuller angeführten Merkmale aufweist? Selbst wenn man die auf den ersten Blick als Sollzustand doch wenig einladende Rechtsauffassung Kelsens betrachtet, fällt auf: sollte es sich dabei um die Rekonstruktion dessen handeln, was wir gewöhnlich unter Recht verstehen, so muß man sich fragen, weshalb jeder ernsthafte Versuch fehlt, die Angemessenheit einer solchen Rekonstruktion nachzuweisen 127 . Das Problem verschwindet, sobald man Kelsens Theorie als Explikation seiner eigenen Rechtsauffassung d.h. als Bedeutungsfestsetzung ansieht. Alle genannten Theorien beanspruchen, gleichzeitig wertfreie sozialwissenschaftliche und wertende Aussagen über das Recht zu machen. Nimmt man das „gleichzeitig" wörtlich, so ist das unmöglich. Stattdessen muß man in der Deutung der Theorien zwischen zwei verschiedenen Interpretationen hin und her wechseln, einer normativen und einer empirischen. Beide sind möglich und keine erschöpft den Gehalt der jeweiligen Theorie. Bei der von mir hier gewählten Vorgehensweise werden diese beiden Seiten der meisten Rechtstheorien voneinander getrennt. Die anschließende Dar125
Gustav Radbruch: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (1946), in: ders.: Rechtsphilosophie, 8. Aufl., Stuttgart 1973, S. 339-350, 345f. 126 Lon L. Fuller: The Morality of Law, New Haven (Conn.) 1964. Zu diesen Merkmalen zählen z.B. Allgemeinheit u. Dauer des Rechts. 127 Weder der allgemeine noch der juristische Sprachgebrauch sind auf Kelsens Rechtsbegriff festgelegt. Der allgemeine Sprachgebrauch läßt sich vermutlich sehr viel besser rekonstruieren, wenn man von Recht i.S. von „subjektivem Recht" ausgeht, der juristische, wenn man auf das Merkmal der „Wirksamkeit" gänzlich verzichtet. Einen einheitlichen Sprachgebrauch gibt es im übrigen weder bei den Juristen noch in der Umgangssprache. Ein Rechtssystem, das so funktionierte, wie Kelsens Konstruktion das nahelegt, hat es vermutlich nie gegeben (und wird es auch nicht geben). Seine Konstruktion beschreibt „wesentliche Teile" des Rechtssystems in zweierlei Hinsicht: Erstens gibt es bestimmte Bereiche, in denen Subsumtion und direkte Verhaltenssteuerung durch Anweisungen (Gesetze) einigermaßen unproblematisch funktioniert (und nur weil es solche Bereiche gibt, sind Gesetze überhaupt sinnvoll). Daneben gibt es allerdings stets auch Bereiche, in denen das Gesetz eher als Modell wirkt denn als direkte Verhaltensanleitung, und diese Bereiche sind für die politische Entwicklung einer Gesellschaft von großer Bedeutung. Zweitens kann eine bestimmte Vorstellung von der Funktionsweise des Rechts unabhängig davon, ob sie berechtigt ist, im Rahmen einer Erklärung des Verhaltens gegenüber dem Recht von Bedeutung sein. Rechtspositivismus als Ideologie des Rechtsstaates kann zur Erklärung von dessen Verhalten dienen. Jedoch ist offensichtlich, daß eine solche Erklärung nur sehr teilweise zutrifft. (Vgl. u. 2.4 zur Frage, inwieweit der Rechtspositivismus in der deutschen Justiz den Nationalsozialismus begünstigt hat).
1.2 Mögliche Kriterien zur Unterscheidung von Recht und Moral
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Stellung der möglichen Abgrenzungskriterien erfolgt wertfrei, d.h. die Abgrenzungskriterien werden unter dem Gesichtspunkt vorgestellt und diskutiert, welche Art von Phänomen sie erfassen, und inwieweit die erfaßten Phänomene mit den umgangssprachlich als Recht bzw. Moral bezeichneten Erscheinungen identisch sind. Obgleich es mir dabei in erster Linie darauf ankommt, die Vielzahl der möglichen Unterscheidungen vorzuführen, werde ich auf einige Probleme, die mit bestimmten Abgrenzungen verbunden sind, hinweisen und zur Entlastung der spätere Diskussion über die Angemessenheit konkurrierender Abgrenzungsvorschläge diejenigen Abgrenzungsvorschläge abschließend kritisieren, deren deskripitive Leistungsfähigkeit allzu offensichtliche Mängel aufweist. In der darauffolgenden Diskussion der Frage, ob es möglich ist, eine bestimmte Abgrenzung von Recht und Moral als vorzugswürdig aufzuweisen, werde ich zeigen, daß dies jedenfalls für die verschiedenen deskripitiven Verwendungen einer solchen Abgrenzung nicht in einheitlicher Weise möglich ist, vielmehr unter unterschiedlichen theoretischen Gesichtspunkten auch unterschiedliche Abgrenzungen als angemessen gelten müssen. Die rechtstheoretisch interessantere Frage ist jedoch die normative Seite des Abgrenzungsproblems: Wie soll man innerhalb einer umfassenden normativen Theorie das Verhältnis von Recht und Moral bestimmen? Hierbei geht es nicht darum, reale Phänomene zu beschreiben, sondern darum, einen bestimmten Sprachgebrauch mit praktischen Folgen zu rechtfertigen und zu etablieren. Es wird sich zeigen, daß es unter diesem Gesichtspunkt durchaus möglich sein kann, sich für eine bestimmte Abgrenzung von Recht und Moral zu entscheiden, daß die Berechtigung einer solchen Entscheidung jedoch davon abhängt, ob sich Normen begründen lassen oder nicht. Die nun zu besprechenden Unterscheidungskriterien lassen sich in fünf Gruppen einteilen. Diese Gruppen betreffen: 1. Den Ursprung der Normen (1.21..), 2. den Geltungsgrund der Normen (1.22..), 3. den Regelungsgegenstand der Normen (1.23..), 4. die Form der Normen (1.24..), 5. die Reaktion auf die Verletzung der Normen (1.25..) 128 . 128 Das hier vorgeschlagene Klassifikationsschema ist sicher nicht das einzig mögliche. Ζ. B. stellt Jeremy Bentham in seinem (aus dem Nachlaß von H.L. A. Hart edierten) Werk „Of Laws in General" (Oxford 1970) Kap. 1 eine umfangreichere Liste auf. Er unterscheidet Gesetze im Hinblick auf: 1. Ursprung (source). 2. Personen und Gegegenstände, auf die sie angewandt werden (subjects), 3. Handlungen (wohl Tatbestände), auf die sie angewandt werden (objects), 4. Allgemeinheitsgrad (extend), 5. Art der Bezugnahme auf 3. (aspects), 6. Durchsetzungsweise (force or corroborative appendages), 7. Ausdruck, Form (expression),
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
Die Abgrenzungskriterien der verschiedenen Gruppen lassen sich prinzipiell unterscheiden, werden aber in der Literatur nicht immer deutlich voneinander getrennt, so daß es im Einzelfall durchaus schwierig sein kann, die Stellung eines Autors zu bestimmen. So wird z.B. derjenige, der Moralnormen für „autonom" hält, damit häufig einen bestimmten Normursprung und einen bestimmten Geltungsgrund bezeichnen (nämlich individuelle Entscheidung und individuelles Gewissen). Es wäre aber denkbar, daß eine Norm individueller Entscheidung entspricht — also autonom ist — und gilt, weil sie im Einklang mit einem irgendwie gearteten Naturrecht steht. Genaueres zum Verhältnis der einzelnen Unterscheidungsbereiche zueinander wird noch zu sagen sein. Im übrigen können unterschiedliche Abgrenzungstheorien natürlich Unterscheidungen in mehreren Bereichen miteinander kombinieren, so daß sich eine Vielzahl denkbarer Abgrenzungstheorien ergibt, viel mehr als tatsächlich vertreten worden sind.
1.21 Der Ursprung der Norm Recht und Moral können sich zunächst darin unterscheiden, daß sie einen verschiedenen Ursprung haben. Z.B. ist es möglich, die Moral als ein göttli8. u.U. Hilfsvorschriften zur Schadensminderung bei Gesetzesübertretungen (remedial appendages). Auf die Einzelheiten dieser Liste kann hier nicht eingegangen werden. Benthams 2., 3. und 5. fallen unter meinen Begriff des Regelungsgegenstandes, Benthams 4. und 7. unter die Form der Normen, Benthams 6. (und, wenn es in unserem Zusammenhang einschlägig wäre, auch 8.) unter meinen Begriff der Reaktion auf die Verletzung von Normen. Allerdings dürfte es zwischen dem, was ich als Geltungsgrund bezeichne und dem, was Bentham unter 6. behandelt, Überschneidungen geben. Da Benthams Liste ja nur der Unterscheidung von Gesetzen und nicht der Abgrenzung von Recht und anderen Normordnungen dient, muß er nur zwischen verschiedenen Arten der Rechts%z\toin% unterscheiden, was wohl von 6. mit erfaßt werden soll. Hans Nef: Recht und Moral in der deutschen Rechtsphilosophie seit Kant, St. Gallen 1937, führt in seinem Kapitel über die begriffliche Unterscheidung von Recht und Moral (S. 15-51) nur folgende Klassifikationen auf: A. Rechtsnormen regeln äußere Handlungen, Moralnormen innere Gesinnung, B. Rechtsnormen regeln Gemeinschaftsleben, Moralnormen Individualleben, C. Das Recht ist heteronom, die Moral autonom, und D. Die Unterscheidung nach der Verpflichtungsweise. Diese Liste ist erstens zu knapp und zweitens zu unsystematisch. A. und B. stellen unterschiedliche Regelungsgegenstände dar, C. kann sowohl zum Urprung als auch zum Geltungsgrund und zur Form der Normen gehören. D. kann eine Frage des Geltungsgrundes sein, aber es kann auch die Frage nach der Reaktion auf Normverletzungen betreffen. Natürlich kommen die in meiner Klassifikation enthaltenen Unterscheidungen alle auch bei Nef irgendwo vor. Die Unterscheidung von Recht und Moral nach ihrem Geltungsgrund ist z.B. vorausgesetzt in den Kapiteln „Das Recht als Bedingung der Moral" und „Die Moral als Bedingung des Rechts". Es ist jedoch zumindest verwirrend, daß Nef die begrifflichen Abgrenzungen von Recht und Moral nicht als solche umfassend darstellt.
1.2 Mögliche Kriterien zur Unterscheidung von Recht und Moral
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ches Gebot anzusehen und das Recht als ein menschliches oder auch umgekehrt. In dieser Formulierung habe ich bereits unterstellt, daß jede Norm einen Normgeber voraussetzt — sofern man Gott als Normgeber ansehen kann. Es finden sich aber auch Abgrenzungen, die darauf hinauslaufen, daß es einen Normgeber nur im Falle des Rechts geben kann und sogar geben muß, nicht aber bei der Moral. Da diese Unterscheidung weitergeht als die zwischen verschiedenen Normgebern, beginne ich mit ihr.
1.211 Gesetzte und ungesetzte Normen Bei Riedel finden sich folgende Formulierungen: „Bei Moralnormen kann dagegen von ausdrücklicher Normerzeugung nicht die Rede sein". 129 „ I m Gegensatz zu Normen des positiven Rechts verknüpft sich mit Moralnormen kein explizit vollzogener und dem Normadressaten explizit mitgeteilter normativer A k t " . 1 3 0 In dem zitierten Aufsatz läßt Riedel es offen, woher die Moralnormen stammen, wenn sie nicht ausdrücklich gesetzt sind. Aus anderen Schriften dieses Autors kann man schließen, daß seiner Ansicht nach Moralnormen i.S. von „ethischen Normen" durch eine Analyse der Bedingungen von Kommunikation „gefunden" werden können. Da er in dem zitierten Aufsatz „Moral" aber nicht eindeutig in dem Sinne verwendet, daß darunter nur „ethische Normen" fallen könnten — die Unterscheidung zwischen faktischen Richtigkeitsüberzeugungen einer Menschengruppe, der faktischen Morat\ und denjenigen Richtigkeitsüberzeugungen, die sich vielleicht bei methodischem Nachdenken über ethische Fragen begründen lassen, der „idealen Moralwird häufig übersehen — sondern es im Gegenteil Hinweise dafür gibt, daß er auch mehr oder weniger zufallige lokale Anschauungen als Moral bezeichnet 131 , ist eine befriedigende Antwort auf die Frage der Herkunft der Moral daraus nicht zu erschließen. Ein erstes Bedenken gegen die Riedeische Unterscheidung ergibt sich somit aus dem Umstand, daß auch Moralnormen irgendwoher kommen müssen. Es erscheint keineswegs abwegig, von der Existenz moralischer Autoritäten auszugehen, die einem Gesetzgeber vergleichbar, moralische Normen aufstellen. Man könnte in diesem Zusammenhang etwa an Priester, den Papst oder Religionsstifter 129 Manfred Riedel: Moral und Rechtsnormen, in: ders.: Norm und Werturteil, Stuttgart 1979, S. 48-66, 58. Riedel steht mit dieser Auffassung keineswegs allein da und wird von mir lediglich als repräsentativer, deutschsprachiger Vertreter der These, daß Moralnormen nicht gesetzt seien, zitiert. Andere bedeutende Autoren, die dieser Auffassung sind, sind z.B. Kurt Baier und H.L.A. Hart. Vgl. dazu mit Nachweisen Conrad D. Johnson: Moral and Legal Obligation, in: The Journal of Philosophy 72 (1975), S. 315-333, 321-326. 130 Riedel S. 62. 131 Riedel S. 63.
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
denken, es kommen aber auch andere einflußreiche Meinungsmacher in Betracht. Ein zweites und vielleicht schwerwiegenderes Bedenken ergibt sich aus der Betrachtung des Gewohnheitsrechtes. Sofern.man ein Gewohnheitsrecht für möglich hält, kann man kaum die Existenz von Rechtsnormen leugnen, deren Setzung im Dunkeln liegt. Selbst wenn man Gewohnheitsrecht nur als Recht ansieht, sofern es durch eine gesetzte Norm Rechtstatus verliehen bekommt, ist es irreführend, in Ansehung einer speziellen gewohnheitsrechtlichen Norm davon zu sprechen, daß sie gesetzt sei. Dieses zweite Bedenken ließe sich vielleicht dadurch ausräumen, daß man Gesetztheit nicht als eine notwendige Eigenschaft jeder Rechtsnorm ansieht, sondern nur verlangt, daß eine Rechtsordnung in einem wesentlichen Sinne auf gesetzten Normen beruht, wesentlich insofern, als alle Rechtnormen ihren Rechtsstatus aufgund gesetzter Normen erlangen — Gewohnheitsrecht etwa durch eine gesetzte Norm, die es zum Recht macht. Eine solche Modifikation hätte allerdings zur Folge, daß viele Normenordnungen nicht mehr als Recht angesehen werden könnten. Eine besondere Schwierigkeit ergibt sich daraus, daß es Rechtssysteme ohne geschriebene Verfassung gibt (z.B. das englische). Wenn aber die Fundamentalnormen eines Rechtssystems selbst gewohnheitsrechtlich sein können, dann kann Gesetztheit kein wesentliches Merkmal einer Rechtsordnung sein. Riedel selbst denkt übrigens in diese Richtung, wenn er bestimmte Moralnormen als „metarechtliche Grundnormen" bezeichnet 132 . Eine weitere Abschwächung ergibt sich, wenn man nur postuliert, daß eine Rechtsordnung jedenfalls auch gesetzte Normen enthält, eine Moralordnung aber nicht. Auch in dieser Abschwächung wäre die Abgrenzung freilich noch dem ersten Bedenken ausgesetzt. Die Unterscheidung zwischen Recht und Moral als zwischen gesetzten und ungesetzten Normen ließe sich vielleicht aufrechterhalten,, wenn man unter Moral nur in gewissem Sinne „erkennbare" Normen verstünde, seien es nun aus „der Natur der Sache" sich ergebende Naturrechtsnormen oder Normen, die als die Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation immer schon vorausgesetzt werden müssen, wenn zwei Menschen miteinander sprechen. Moral in diesem Sinne ist tatsächlich nicht „gesetzt" 133 . Sie müßte jeder Normsetzung vorausgehen, auch der rechtlichen. Das schließt freilich nicht Riedel S. 60. Es handelt sich dabei nicht nur um eine ideale Moral, sondern um eine transzendentale Moral im Sinne Karl-Otto Apels. Vgl. insb. das Kapitel „E)as Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik", in: Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, Bd. 2, S. 358-435, Frankfurt 1973. Aber auch: Karl-Otto Apel: Die Kommunikationsgemeinschaft als transzendentale Voraussetzung der Sozialwissenschaften, in: Neue Hefte für Philosophie 1972, H. 2/3, S. 1-40. m
1.2 Mögliche Kriterien zur Unterscheidung von Recht und Moral
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aus, daß es einen Bereich willkürlicher Rechtssetzung gibt, der dem Recht allerdings von einer solchen Moral jedenfalls in negativer Hinsicht zugewiesen wird. Wahrscheinlich ist es eine derartige Vorstellung, die Riedel vorschwebt. Nur am Rande sei bemerkt, daß die neuere Naturrèçhtslehre thomistischer Provenienz ganz entsprechend verfahrt 134 . Ob sich auf diesem Wege eine Abgrenzung von Recht und Moral erreichen läßt, hängt wesentlich davon ab, mit welchen Inhalten man das Naturrecht ausstattet, und in welchem Umfang man rechtliche Grundnormen und grundlegende Rechtsnormen zum Recht zählt. Betrachtet man z.B. — wie Cathrein das tut — das Verbot des Diebstahls und des Mordes als notwendige Schlußfolgerungen aus dem Naturrecht 1 3 5 , dann muß man eine Überschneidung von Recht und Moral konstatieren. Sieht man hingegen mit Riedel das an den Staat gerichtete Gebot, menschliches Leben zu schützen, als „metarechtliche Grundnorm" an, d.h. nicht als Recht im engen Sinne 1 3 6 , dann kann man durchaus an der Unterscheidung festhalten. Das Recht ist dann als Inbegriff der moralisch (im Sinne der natürlichen Moral) indifferenten Normen, von denen jedenfalls einige gesetzte Normen sein müssen, aufzufassen, wobei das Recht entweder auf moralisch untadelige Weise zustande gekommen oder ein moralischer Mangel seiner Entstehung nachträglich geheilt sein muß. Mit einem solchen Rechtsbegriff kann man arbeiten. Er würde allerdings Vieles von dem, was traditionellerweise als Recht, gelegentlich sogar gerade als Kernbereich des Rechts angesehen wurde 1 3 7 , ausklammern. Eine besondere Schwierigkeit für einen Abgrenzungsversuch der skizzierten Art ergibt sich, wenn man Verträge für den Ursprung des Rechts überhaupt oder doch jedenfalls für eine Rechtsquelle hält 1 3 8 . Zwar ist es 134
S. Viktor Cathrein S.J.: Moralphilosophie — Eine wissenschaftliche Darlegung der sittlichen, einschließlich der rechtlichen Ordnung, Leizpig 1924, S. 556f.; Emil Erich Hölscher: Sittliche Rechtslehre, Bd. 1, 2 München 1928, Bd. 1, S. 238, Bd. 2, S. 358f.; daß man solche Naturrechtsansätze jedenfalls begrifflich so konstruieren kann, daß sie beinahe beliebige Inhalte transportieren können, zeigt Wilhelm Korff: Norm und Sittlichkeit, Mainz 1973, S. 128. Stark vereinfachend gesagt ,verschafft nach diesem Autor erst die „Affirmation Gottes zum Menschen" der menschlichen Freiheit ihren Sinn. Allerdings muß es m.E. auch inhaltliche Vorgaben über Recht und Unrecht geben bevor man von Naturrecht sprechen kann. Innerhalb der protestantischen Naturrechtslehre spielen neben abstrakten theologischen Überlegungen sehr viel stärker konkrete Textstellen als Ausgangspunkt eine Rolle. Vgl. Theodor Herr: Zur Frage nach dem Naturrecht im deutschen Protestantismus der Gegenwart, München/Paderborn/Wien 1972, bes. S. 217f. 135 S. z.B. Cathrein S. 553f. 136 Riedel S. 60. 137 Hält man etwa mit Georg Jellinek: Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, Wien 1878, Neudruck Hildesheim 1967, S. 42, Recht für das ethische Minimum, dann muß man wohl den wesentlichen Teil des Rechts gerade in seinen moralisch bedeutsamen Normen sehen. 138 Die Frage, inwieweit alte (Hobbes, Rousseau), oder neue (Rawls) Vertragstheoretiker das tun, mag hier auf sich beruhen. Interessante Thesen zum Vordringen und neuerli-
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begrifflich nicht ausgeschlossen, die aus einem Vertrag sich ergebenden Rechte und Pflichten als durch den Vertragsschluß gesetzt zu bezeichnen, es ist dies aber jedenfalls eine andere Art von Setzung als diejenige, die von einem Souverän, sei es einer Person oder einer Personenvielheit z.B. einem Parlament, ausgeht. Hier, scheint mir, zeigt sich, daß der Begriff der Setzung noch präzisierungsbedürftig ist. Faßt man „Setzung" in dem weiten Sinne von „durch menschliche Aktivität erzeugt", dann wird man Recht und Moral als gesellschaftliche Normenkomplexe auch als gesetzt ansehen müssen. Lediglich Moral im Sinne von Ethik oder wahrer Sittlichkeit etc. könnte ungesetzt sein. Dies würde für richtiges Recht aber ebenfalls gelten, sofern es eine von Setzung unabhängige Richtigkeit des Rechts gäbe. Eine solche Annahme scheint mit der Anerkennung einer richtigen oder wahren Moral beinahe notwendig verbunden. Daher glaube ich nicht, daß Gesetztheit in diesem weiten Sinne als Kriterium zur Abgrenzung von Recht und Moral geeignet ist. Solche Bedenken entfallen, wenn man Setzung in einem sehr engen, technischen Sinn versteht, etwa als bewußte Normerzeugung im Wege bestimmter, einzeln aufzählbarer Verfahren. Ein solcher enger Begriff von Setzung kann so auf das Recht einer bestimmten Gesellschaft hin definiert werden, daß er für ihre besonderen Verhältnisse ein brauchbares Abgrenzungskriterium liefert. Jedoch bleibt auch in einem solchen Fall das Problem bestehen, daß erstens regelmäßig die grundlegenden Verfassungsnormen selbst nicht dem für spätere Normsetzungen festgesetzten Verfahren entsprechend gesetzt worden sind, und daß zweitens ein derart enger Begriff von Setzung mit einem umfassenden Rechtsbegriff, der auch rechtliche Erscheinungen in primitiven Gesellschaften erfaßt, unvereinbar ist. Setzungsbegriffe auf einer mittleren Ebene, die einerseits erfordern, daß es so etwas wie ein bewußt zur Normerzeugung eingesetztes Verfahren gibt, andererseits recht freizügig mit der Bezeichnung „Verfahren" umgehen, können in vielen Fällen brauchbare Ergebnisse liefern. Dennoch wird man im Ergebnis sagen müssen, daß Gesetztheit des Rechts eherein Charakteristikum moderner Gesellschaften als des Rechts schlechthin ist 1 3 9 . Dementsprechend sollte man sie eher als einen Indikator für Recht denn als eines seiner notwendigen Merkmale betrachten. chen Rückgang des Vertrages als Rechtsquelle präsentiert Ulrich Meyer-Cording: Die Rechtsnormen, Tübingen 1971. Diesem Werk kann man auch entnehmen, was man sich genauer unter einer Rechtssetzung durch Vertrag vorzustellen hat (S. 28, 54ff.), nämlich weniger Privatverträge zur Regelung einzelner Rechtsbeziehungen als die Erzeugung „institutioneller Normen44 (z.B. einer Vereinssatzung). m Vgl. den Begriff des „Gesetzesabsolutismus44 bei Hans Reichelt: Gesetz und Richterspruch, Zürich 1915, S. 5fT.; vgl. ferner Max Weber: Rechtssoziologie (aus dem Manuskript herausgegeben und eingeleitet von Johannes Winckelmann), 2. Neuwied/Berlin 1967 (Soziologische Texte, Bd. 2), §§ 6-8.
1.2 Mögliche Kriterien zur Unterscheidung von Recht und Moral
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1.212 Verschiedene Normgeber Definiert man „Setzung" so, daß Recht und Moral jedenfalls in irgendeiner Form gesetzte Normenkomplexe sind, dann lassen sie sich möglicherweise danach unterscheiden, wer sie gesetzt hat. Je nachdem, wie eng oder weit man den Begriff der Setzung faßt, kommt eine Vielzahl möglicher Normgeber in Betracht: Parlamente, Regierungen, einzelne Gruppen oder Verbände, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Massenmedien, Individuen für sich oder im Zusammenwirken mit anderen Individuen für eine Personenmehrheit. Einfache Unterscheidungen von Recht und Moral entsprechend der jeweiligen normsetzenden Instanz könnten die Form haben: Instanz a setzt das Recht, Instanz b setzt die Moral. Kompliziertere Unterscheidungen könnten bei beiden Setzungen eine unterschiedliche Beteiligung verschiedener Instanzen annehmen. Eine Theorie der Rechtssetzung, die sich an den wirklichen Verhältnissen orientierte, müßte sicherlich dem zweiten Typ angehören, denn in einigermaßen komplexen Gesellschaften stellt sich Gesetzgebung als ein Prozeß mit vielen Beteiligten dar, dessen tatsächliche Regeln durch Angabe seiner Formalien keineswegs beschrieben sind. Wir können uns im Folgenden nicht darauf einlassen, konkurrierende sozialwissenschaftliche Theorien der Normentstehung (-setzung) zu diskutieren. Das ist jedoch auch nicht erforderlich, denn die hier zu besprechende Unterscheidung von Recht und Moral nach verschiedenen Normgebern läßt sich unter zwei Gesichtspunkten recht vollständig erfassen: Recht wird vom Staat gesetzt, Moral von der Gesellschaft (1.2121); Recht ist heteronom, Moral ist autonom (1.2122).
1.2121 Staat und Gesellschaft I 1 4 0 Die Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft beruht auf der Vorstellung, daß sich der Staat als eine organisatorische Wirkeinheit isoliert betrachten und somit von der Gesellschaft abgrenzen läßt 1 4 1 . Zu den Entste14,1 Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft ist mit dem Verhältnis von Recht und Moral auf vielfaltige Weise verknüpft. Dementsprechend wird an verschiedenen Stellen darauf einzugehen sein (Eine Zusammenstellung enthält das Sachregister). Im Rahmen der Unterscheidungskriterien spielt die Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft im wesentlichen als Gegenüberstellung zweier normsetzender Instanzen eine Rolle (Staat und Gesellschaft I) und als Unterscheidung zweier Regelungsbereiche (1.233 Staat und Gesellschaft II). 141 Zur Bedeutung und Geschichte der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft vgl. vor allem Ernst-Wolfgang Bockenförde: Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: ders.: Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt 1976, S. 185-220; Claus-Ekkehard Bärsch: Der Staatsbegriff in der neueren deutschen Staatslehre und seine theoretischen Implikationen, Berlin 1974, S. 110-114, kann als Repräsentant der Kritik an dieser Unterscheidung genannt werden. Eine
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hungsbedingungen dieser Begriffsbildung gehört einerseits die Idee eines Souveräns, der den Staat verkörpert, andererseits die Forderung nach einem staatsfreien Raum individueller wirtschaftlicher, religiöser und emotionaler Betätigung. Dieser zwar dem Einfluß des Staates entzogene aber deswegen keineswegs unstrukturierte Raum kann als gesellschaftlich bezeichnet werden; „Gesellschaft" als dem Staat gegenübergestellter Begriff bezeichnet die in einem Staat lebenden Individuen unter dem Gesichtspuntk ihrer sich nach nicht-staatlichen Regeln vollziehenden Interaktionen. Eine Unterscheidung von Recht und Moral mit Hilfe des Begriffspaares Staat und Gesellschaft setzt zumindest voraus, daß der Staat, dem dabei das Recht zugeordnet wird, sich tatsächlich von der Gesellschaft abgrenzen läßt. Die liberale Forderung, daß der Einfluß des Staates auf bestimmte Bereiche begrenzt werden müsse, setzt eine solche Abgrenzbarkeit voraus, kann sie aber nicht begründen. Nach wie vor ist es die Idee des Souveräns, die es ermöglicht, den Staat als Einheit und damit als abgrenzbar anzusehen 142 . Diese der liberalen Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft vorausgehende, sie aber auch vorbereitende absolutistische Idee 1 4 3 , kann mit einer beachtlichen rechtsphilosophischen Tradition aufweisen. Autoren wie Hobbes, Kant, Hegel, Austin und, mit Einschränkungen, Kelsen — u m nur einige in diesem Zusammenhang besonders bedeutsame Namen zu nennen — haben die Vorstellung populär gemacht, daß man den Staat als eine Hierarchie auffassen kann, an deren Spitze ein Souverän (eine Person oder eine Körperschaft) steht. Die Einheit des Staates ergibt sich daraus, daß alle staatliche Macht von diesem Souverän oder obersten Gesetzgeber, der seinerseits keiner rechtlichen Beschränkung unterliegt, ausgeht 144 . Auswahlbibliographie des kaum übersehbaren Schrifttums zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft, die von R. Wahl zusammengestellt wurde, enthält der von Ernst-Wolfgang Bockenförde in der Reihe Wege der Forschung herausgegebene Sammelband „Staat und Gesellschaft" (Darmstadt 1976). Ergänzend sei hingewiesen auf Lelio Basso: Gesellschaftsformation und Staatsform. Drei Aufsätze, Frankfurt 1975, daraus besonders: Gesellschaft und Staat in der Marxschen Theorie; Carl Jantke: Vorindustrielle Gesellschaft und Staat, in: Arnold Gehlen/Helmut Schelsky (Hrsg.): Soziologie — Ein Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde, 6. Aufl. Düsseldorf 1966, S. 93-120; Hans Kelsen: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911, S. 208f.; Walter Schlangen: Demokratie und bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart etc. 1973; Klaus Grimmer: Zur Dialektik von Staatsverfassung und Gesellschaftsordnung, in: ARSP 62 (1976), S. 1-26. 142 Vgl. Bärsch S. 102f. 143 Nach Reinhart Koselleck: Kritik und Krise, Frankfurt 1973, S. llf. waren es die religiösen Bürgerkriege, die den Absolutismus wesentlich hervorbrachten. Sie machten einen der Gesellschaft gegenüberstehenden Staat erforderlich, um deren Selbstzerfleischung zu verhindern. 144 Die Idee der Souveränität in diesem Sinne wird im allgemeinen auf Johannes Bodin zurückgeführt. Bodin nahm jedoch noch ohne weiteres Beschränkungen des Souveräns durch göttliches Gesetz an, so daß man von der voll-entwickelten Souveranitätsidee besser erst bei Hobbes sprechen sollte. Zu Einzelheiten vgl. Helmut Quaritsch: Staat und Souveränität, Bd. 1: Die Grundlagen, Frankfurt 1970, S. 39-43, 243-394; Dieter Wyduckel:
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Man kann nun allerdings die Frage stellen, ob diese Konstruktion nicht allzu irreal ist. In Wirklichkeit hat es solche unbschränkte Gesetzgebungsmacht selbst im Absolutismus, der das anschauliche Leitmodell dieser Staatsvorstellung liefert 145 , faktisch vermutlich nie gegeben 146 . Derartige empirische Einwände zwingen allerdings nicht zur Aufgabe des einheitlichen Staatsbegriffes. Man kann ihnen begegnen, indem man den Souverän nicht als eine wirkliche Person oder Instanz auffaßt, sondern als etwas, was im Begriff des Rechtes vorausgesetzt wird, und in die Wirklichkeit — immer in gewissem Maße kontrafaktisch — hineingedeutet wird. Einen solchen „begrifflichen Souverän" muß man in der Person des geisteskranken Monarchen ebenso wie in dem zum Spielball von Interessengruppen gewordenen Parlament ehren 147 . Die Behauptung, daß in den Begriffen Recht und Staat die Idee eines Souveräns enthalten ist, kann letztenendes nur durch den Erklärungwert der auf ihr beruhenden Theorien gerechtfertigt werden. Eine solche Rechtfertigung setzt voraus, daß die Wirklicheit des Rechts, nämlich das, was die Rechtsunterworfenen tun, sich am besten durch die Annahme, daß die Rechtsunterworfenen selbst einer solchen Vorstellung anhängen, oder sich doch jedenfalls so verhalten als täten sie dies, erklären läßt. In gewissem Umfang mag das der Fall sein. Allerdings wird man nicht umhin können, auch einzuräumen, daß derartige Vorstellungen der Rechtsunterworfenen (zu denen ja auch die Richter und Beamten gehören) ihrerseits durch eine entsprechende Rechtstheorie gefördert werden, so daß nicht ganz klar ist, ob nicht das, was erklärt werden soll, durch die Erklärung zumindest teilweise hervorgerufen wird.
Princeps Legibus Solutus, Berlin 1979, S. 13,152-155; Ulrich Häfelin: Die Rechtspersönlichkeit des Staates, Tübingen 1959, S. 24ff.; Max Imboden: Johannes Bodin und die Souveranitätslehre, in: ders.: Staat und Recht — Ausgewählte Schriften und Vorträge, Basel/Stuttgart 1971. 145 Vgl. Hans Reichelt: Gesetz und Richterspruch. Zürich 1915. S. 2-5. 146 Voltaire: Republikanische Ideen XIV, in: Günther Mensching (Hrsg.): Voltaire: Schriften Bd. 2, Frankfurt 1979, S. 10, stellt fest, daß lediglich der König von Dänemark durch Gesetz über das Gesetz gestellt sei. Vgl. ferner Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. Göttingen 1967, S. 460f.; Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (Köln/Berlin 1964), Kap. IX §§ 1-3, S. 1034-1062; Ludwig Freund: Politik und Ethik, 2. Gütersloh 1961, S. 74ff.; Wyduckel S. 17 unter Berufung auf O. Brunner. 147 G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt 1970 (Werke Bd. 7), §§ 279-281, dazu: Werner Maihofer: Hegels Prinzip des modernen Staates, in: Iring Fetscher (Hrsg.): Hegel in der Sicht der neueren Forschung, Darmstadt 1973, S. 352-386, 378ff., Rolf K. Hocevar: Hegel und der Preußische Staat, München 1973, S. 48-53; Thomas Hobbes: Leviathan, Reinbek 1965, Teil 2 Kap. XIX u. XX, bes. S. 149. Konsequenz eines solchen Souveranitätsbegriffs ist die sg. Zweiseitentheorie, nach der zwischen dem Staat als rechtlichem und sozialen Phänomen zu unterscheiden ist (Hauptvertreter: Georg Jellinek).
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Im vorliegenden Zusammenhang ist allerdings festzuhalten, daß eine Staatstheorie, die die Einheit des Staates bloß auf einen begrifflichen und nicht auf einen realen Souverän zurückführt, als Theorie der Normsetzung von geringem Interesse ist. Ein begrifflicher oder gedachter Souverän setzt sicher keine Normen. Er kann allenfalls bei der Rekonstruktion der Rechtsgeltung eine Rolle spielen. Kelsen, der den Staat mit einem Recht identifiziert hat, das seinerseits auf souveräner Satzung beruht, wollte damit denn auch keine Theorie der Normgenese sondern eine der Normgeltung liefern 148 . A u f den Zusammenhang der Unterscheidung von Recht und Moral nach ihrem Geltungsgrund und der Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft wird unten noch einzugehen sein (1.22). Ohne die angedeuteten Zweifel an der empirischen Fruchtbarkeit der klassischen Staatsidee bei der Erklärung von Normsetzungen abschließend zu beurteilen, soll ein Gegenmodell grob skizziert werden. Diesem Modell zufolge hat man sich unter Normen nicht Setzungen irgendwelcher Personen oder personalisierbarer Instanzen vorzustellen, sondern soziale Sachverhalte, z.B. korrespondierende wechselseitige Verhaltenserwartungen, die überhaupt nicht „gesetzt", sondern durch Normsetzungsakte unter bestimmten günstigen Randbedingungen allenfalls herbeigeführt werden können 1 4 9 . Gesetzliche Vorschriften und was man sonst landläufig als „Rechtsnorm" bezeichnet, haben dann einen merkwürdigen Doppelcharakter. Einerseits beschreiben sie etwas, was nach Vorstellung der Normunterworfenen und des Verfolgungsstabes tatsächlich geschieht und geschehen soll, andererseits spielen sie bei der Hervorbringung dieser Vorstellung eine bedeutende Rolle. Ob das, was z.B. ein Parlament verabschiedet, zur Norm wird, d.h. als Beschreibung einer normativen Realität angesehen werden kann, oder Papier bleibt, hängt von mancherlei Bedingungen ab, die dem Zugriff des Parlamentes nicht offenstehen. Geht man von einem solchen — durchaus im Sinne der oben (1.134) eingeführten Begrifflichkeit „präskriptiven" — Normbegriff aus, so muß man sich unter der Normsetzung bzw. -entstehung einen ziemlich komplizierten unter vielfältigen äußeren und inneren Randbe148 Kelsen: Hauptprobleme (a.a.O. FN. 141) S. 467, faßt die legislativen Faktoren nicht als Staatsorgane auf. Er schließt jedoch nicht aus, daß man verschiedene an der Gesetzgebung beteiligte Instanzen als einheitliches Gesetzgebungsorgan begreift (S. 473). Von einer solchen begrifflichen Einheit macht er in der Formulierung der Grundnorm Gebrauch („Unter Bedingungen, die die oberste Autorität bestimmt, soll der Zwang ausgeübt werden, den diese Autorität bestimmt..." — Hervorhebung von mir — Kelsen: Die Philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechspositivismus, Wien 1928, S. 25), mit deren Hilfe er wiederum die Rechtsgeltung rekonstruiert (Reine Rechtslehre, 2. Aufl. Wien 1960, 197, 191). Zur Einheit von Recht und Staat vgl. noch Reine Rechtslehre, S. 319f. Hans Joachim Koch: Seminar: Die juristische Methode im Staatsrecht, Frankfurt 1977, S. 63ff. weist nach, daß Kelsens Kritik an Jellineks Zweiseitentheorie nicht triftig ist. 144 Vgl. die Hinweise in Fn. 60-62.
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dingungen ablaufenden Interaktionsprozeß zwischen Individuen und Gruppen vorstellen. Für einen Souverän ist in diesem Modell kein Platz 1 5 0 . Faßt man Normen als präskriptive soziale Sachverhalte auf, so setzt eine Unterscheidung von Recht und Moral nach verschiedenen Norm„gebern" voraus, daß mehrere verschiedene derartige Sachverhalte relativ unabhängig voneinander gleichzeitig existieren. Wie man sich so etwas vorstellen könnte, läßt sich recht gut anhand von Eugen Ehrlichs Rechtssoziologie verdeutlichen. Ehrlich faßt Normen als die Ordnung von Verbänden auf 1 5 1 . Der Staat ist ein solcher Verband und seine Ordnung ist das Recht oder doch jedenfalls ein beachtlicher Teil des Rechts. Daneben gibt es aber eine Vielzahl anderer Verbände, z.B. die Familie, Kirchen, Handelskreise, Gewerkschaften. Auch diese Verbände haben jeweils eine spezifische Ordnung. Wenn man unter Moral eine Gruppe außerrechtlicher Ordnungen oder eine einzelne derartige Ordnung versteht, dann kann man Recht und Moral einander als Ordnungen verschiedener gesellschaftlicher Subsysteme gegenüberstellen, und in dem Sinne, in dem man davon sprechen kann, daß ein Subsystem seine Normen erzeugt oder setzt, kann man zwischen Recht und Moral hinsichtlich ihres Normgebers unterscheiden. Damit man Recht und Moral als Ordnungen verschiedener Verbände voneinander unterscheiden kann, muß es möglich sein, den Staat als einen besonderen Verband auszugrenzen. Beim modernen, gewaltenteilig organi150
Diese Überlegung führt Kelsen in den Hauptproblemen S. 467 dazu, den Staat als Verkörperung eines Willens anzusehen, dessen Inhalt von außerstaatlichen Kräften bestimmt wird. Diese reichlich abstrakte und vom allgemeinen Sprachgebrauch weit entfernte Konstruktion hat Kelsen auch in der Reinen Rechtslehre durchgehalten (vgl. S. 289-320). Unabhängig davon, ob eine solche theoretische Konstruktion empfehlenswert ist, wird man Kelsen zugestehen müssen, daß seiner Lehre eine berechtigte Kritik am klassischen Staatsbegriff zugrunde liegt. Soziologische Untersuchungen von Gesetzgebungsprozessen sind — vermutlich ihrer Schwierigkeit wegen — selten. (Für das Strafrechf neuerdings Hans Haferkamp: Herrschaft und Strafrecht — Theorien der Normentstehung und Strafrechtssetzung, Opladen 1980). Häufig kann man nur retrospektiv aus den Gesetzesänderungen auf die zugrundeliegenden Prozesse schließen. Es ergibt sich dann leicht, daß man vom Recht „lediglich deutlicher als bisher sagen kann, daß es von der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung abhängig ist" (Wolfgang Naucke: Tendenzen in der Strafrechtsentwicklung, Karlsruhe 1975, S. 61). Ob es jemals so etwas wie eine umfassende Theorie der Gesetzgebung in sozialwissenschaftlich erklärender Absicht geben kann, ist äußerst fraglich. Eine solche Theorie müßte sicher auch angeben könne, wie Recht entstanden ist und sich entwickelt hat. Auch insoweit liegen aber erst Ansätze und Modelle vor. Vgl. etwa James Coolidge Carter: Law: Its Origin, Growth, and Function, 1. Aufl. NY 1898, Neuauflage NY 1974; Johan Volkshoff: Recht, Mensch und Gesellschaft — Zur Transformation gesellschaftlicher Kräfte in Rechtsnormen, Berlin 1972; Elman R. Service: Ursprünge des Staates und der Zivilisation — Der Prozeß der kulturellen Evolution, Frankfurt 1977; Klaus Eder: Die Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften, Frankfurt 1980; Margaret Gruter: Die Bedeutung der Verhaltensforschung für die Rechtswissenschaft, Berlin 1976. 151 Eugen Ehrlich: Grundlegung der Soziologie des Rechts, 3. Aufl., Berlin 1967 (unveränderter Nachdruck der 1. Aufl. von 1913), S. 49ff.
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sierten Staat macht das Schwierigkeiten. Er setzt sich offensichtlich selbst aus einer Mehrzahl in komplizierter Weise zusammenwirkender Institutionen zusammen: Regierung, Parlament, Gerichte, Bundesbank etc. Man kann versuchen, ein gemeinsames Merkmal all dieser Institutionen zu finden. Als solches kommt eventuell eine besondere Beziehung zur Staatsgewalt, der vom Staat monpolisierten Befugnis zur Gewaltanwendung in Betracht. Dabei bleibt aber unklar, ob es diese besondere Beziehung ist, aufgrund derer etwas zum Staat gerechnet wird, oder ob nicht umgekehrt der leichtere Zugang zur Staatsgewalt sich daraus ergibt, daß eine Institution als staatlich angesehen wird. Betrachtet man die rechtsdogmatischen Schwierigkeiten, die mit der Abgrenzung des öffentlichen Rechts verbunden sind 1 5 2 , dann erscheint es wenig aussichtsreich, den Staat als Organisationseinheit anders abzugrenzen als durch Anlehnung an bloße Sprachkonventionen. Unabhängig davon, ob sich der Staat als Organisationseinheit oder als Verband abgrenzen läßt, tauchen zusätzliche Schwierigkeiten auf, wenn man das Recht als Ordnung dieses Verbandes definieren will. Einerseits regelt das Recht nicht nur das Verhalten staatlicher Instanzen, und andererseits unterliegen staatliche Instanzen nicht nur rechtlichen Regelungen. Unter der Ordnung eines Verbandes würde man sich aber wohl zunächst den Inbegriff aller in diesem Verband geltenden Regeln vorstellen und nicht nur einen wesentlichen oder charakteristischen Teil dieser Regeln. Auch diese Schwierigkeit ließe sich vielleicht bewältigen, wenn man den Staat als einen übergeordneten Verband auffassen könnte, dessen Ordnung durchaus auch andere Verbände betrifft. Eine solche Vorstellung würde voraussetzen, daß ein Verband nicht durch die ihm angehörigen Mitglieder und seine spezifische Ordnung definiert würde, sondern allein durch seine Ordnung. Insoweit sie sich rechtlich verhalten, verhalten sich Individuen als Mitglieder des Staates, insoweit sie sich moralisch verhalten, als Mitglieder der Gesellschaft. Wenn Verband auf diese Weise mit Ordnung gleichgesetzt wird, ist die Unterscheidung von Recht und Moral als Ordnungen verschiedener Verbände jedenfalls unter dem hier behandelten Gesichtspunkt ihrer unterschiedlichen Herkunft nicht einschlägig (sie betrifft dann verschiedene Regelungsgegenstände - vgl. u. 1.233). Zwar zeigt die politische Realität der meisten — wenn nicht aller — Staaten, daß Recht und Moral nicht als Ordnungen verschiedener nebeneinander bestehender Verbände angesehen werden können, aber Verhältnisse, unter denen eine solche Beschreibung möglich wäre, sind nicht undenkbar. 152 Die nach Klaus Stern: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, S. 5 heute vorherrschende "modifizierte Subjektstheorie" ist zu einer grundsätzlichen Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht schon deshalb nicht geeignet, weil man sie nur anwenden kann, wenn man zumindest einige Subjekte öffentlichen Rechts als solche identifizieren kann. Zum Problem vgl. Alfred Rinken: Stichwort „Öffentliches Recht", in: Axel Görlitz (Hrsg.): Handlexikon zur Rechtswissenschaft, München 1972, S. 276ff.
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Ob ein Recht, das lediglich die Ordnung eines sozialen Subsystems wäre, diesen Namen verdiente, erscheint mir allerdings sehr zweifelhaft. Ohne auf diese und andere Schwierigkeiten einer solchen Konstruktion einzugehen, kann festgehalten werden, daß es jedenfalls auch Bedingungen gibt, unter denen Recht und Moral nicht als nebeneinanderstehende Ordnungen verschiedener Verbände angesehen werden können, daß es also auch nicht möglich ist, auf diesem Wege eine begriffliche Trennung von Recht und Moral zu erreichen. Im Sinne des normalen Sprachgebrauchs näherliegend ist es ohnehin, unter Moral das zu verstehen, was Ehrlich als „religiöse oder philosophische" Ethik bezeichnet, „die ihre Sittlichkeit nicht auf einen einzelnen menschlichen Verband" beschränkt 153 . Moral in diesem Sinne ist die Ordnung eines vorweggenommenen alle Menschen umfassenden Verbandes. Folgt man diesem Definitionsvorschlag, so kann man von Moral nur insoweit als einer sozialen Wirklichkeit sprechen, als das Ideal des antizipierten Menschheitsverbandes verhaltenssteuernde Kraft entfaltet. Inwieweit man in einem solchen Falle von Setzung sprechen kann, erscheint fraglich. Immerhin könnte man sich vorstellen, daß unterschiedliche Gruppen unterschiedliche Vorstellungen von der idealen Ordnung entwickeln, und sich erst im Zuge ideologischer und/oder argumentativer Auseinandersetzungen so etwas wie ein herrschendes Ideal entwickelt 154 . Moral wäre dann nicht die Ordnungeines dem Staate nebengeordneten sozialen Subsystems, sondern ein alle Ordnungen beeinflußendes gesamtgesellschaftliches Regulativ. Da es gegenwärtig in erster Linie darum geht, ein Spektrum der möglichen Unterscheidungen zwischen Recht und Moral vorzuführen, ist es nicht erforderlich, zu dieser Möglichkeit der Zuordnung von Recht und Moral zu Staat und Gesellschaft abschließend Stellung zu nehmen. Dennoch sollen einige rechtstheoretische Konsequenzen dieses, von einem soziologischen Normbegriff ausgehenden Modells angedeutet werden, die sehr zu seinen Gunsten sprechen. Diese Konsequenzen ergeben sich daraus, daß der soziologische Normbegriff dynamisch ist. 153
Ehrlich S. 66. Dieses Ideal muß nicht notwendig eine Synthese sein, es kann auch ein — den Betroffenen als solches nicht einmal bewußtes — Gemenge sein. So können etwa die drei Typen von Moral, die Theodor Geiger: Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, Neuwied/Berlin 1964, S. 303ff. unterscheidet (traditionelle, dogmatische und autonome Gewissensmoral), sich in ihrer Wirksamkeit überlagern. Für divergierende Gruppenmoralen gilt mit Einschränkungen dasselbe — etwa in dem Fall, daß jemand mehreren Gruppen angehört. Ob die These richtig ist, daß eine Gesellschaft, die eine Vielzahl verschiedener Moralen zuläßt, deshalb auf andere als moralische „Ordnungsgefüge und Mechanismen" ausweichen muß (Geiger S. 313), erscheint mir allerdings fraglich. Zumindest setzt die Wirksamkeit dieser anderen Mechanismen voraus, daß sie in gewissem Maße als (auch moralisch) richtig akzeptiert werden. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, sie als gemeinsame Moral der verschiedenen Gruppen zu betrachten. 154
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Rechtsnormen i.S. von Geboten eines tatsächlichen Souveräns („klassischer" Rechtsbegriff) sind nicht notwendig von gesellschaftlichen Einflüssen unabhängig — solche Umstände können den Souverän veranlassen, bestimmte Rechtsnormen zu setzen — die Abhängigkeit von gesellschaftlichen Umständen geht jedoch in ihren Begriff nicht ein. Dementsprechend berührt eine Veränderung der gesellschaftlichen Randbedingungen ihre Geltung grundsätzlich nicht (Ausnahmen: hypothetische Formulierung der Norm und Wegfall der Bedingung, teilweiser oder umfassender Verfall der Macht des Souveräns). Versteht man dagegen unter Normen Elemente realer sozialer Ordnungen, die das Ergebnis sozialer Interaktionen sind, so verändern sie sich mit neuen Interaktionsbedingungen sozusagen automatisch. Die in den Gesetzbüchern verzeichneten „paper rules" 1 5 5 mögen zu einem bestimmten Zeitpunkt angemessener Ausdruck der normativen Realität einer Gesellschaft gewesen sein. In diesem Zeitpunkt fallen der soziologische und der „klassische" Rechtsbegriff extensional zusammen. Entfernt die Rechtswirklichkeit sich von den Gesetzen, hält der „klassische" Rechtsbegriff solange es irgend geht an der Fiktion fest, daß die Gesetze die rechtliche Wirklichkeit der Gesellschaft sind. Die soziologische Betrachtung führt im Gegensatz dazu sehr viel schneller zur Feststellung einer Rechtsänderung. Zwar ist auch für sie die Fixierung eines normativen Zustandes in Gesetzesform keineswegs unerheblich, sie ist jedoch nur in dem Maße von Bedeutung, in dem sie tatsächlich die normative Realität der Gesellschaft bestimmt. Etwas zugespitzt könnte man sagen: Je stärker der Einfluß der klassischen Rechtsauffassung ist, je mehr die handelnden Individuen von der Vorstellung bestimmt werden, Gesetzesform garantiere Geltung, desto größere Bedeutung wird auch für die soziologische Betrachtung die Gesetzesform haben. Aber es ist sehr zweifelhaft, ob es jemals Gesellschaften gab, in denen das legalistische Denken so ausgeprägt war, daß die „klassische" Rechtskonzeption als zutreffende Beschreibung der normativen Realität hätte angesehen werden können. Selbst wenn es solche Gesellschaften gegeben haben sollte, dürften die modernen westlichen Gesellschaften diesem Bild nicht entsprechen. Nehmen wir an, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt t die in einer Gesellschaft geltenden Rechtsnormen mit den in Gesetzblättern etc. enthaltenen Vorschriften übereinstimmen. Zu diesem Zeitpunkt, so könnte man sagen, repräsentieren die Gesetze die Rechtswirklichkeit. Zu einem späteren Zeitpunkt t' werden neue veränderte Gesetze verabschiedet. Nehmen wir weiter an, daß diese neuen Gesetze einer veränderten Rechtswirklichkeit entsprechen. Soll man dann davon ausgehen, daß in der Zeit von t bis t ' die Rechtswirklichkeit konstant dem Zustand zum Zeitpunkt t entsprach und lvV
Dieser Ausdruck wurde gern von den amerikanischen Rechtsrealisten gebraucht. Vgl. z.B. S. Frank: Courts on Trial — Mvth and Realitv in American Justice, Princeton 1949. S. 3.
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sich im Zeitpunkt ( sprunghaft verändert, oder liegt es nicht —jedenfalls in manchen Teilbereichen — sehr viel näher anzunehmen, daß sich die Rechtswirklichkeit zwischen t und t' von ihrem früheren Zustand auf den späteren hin entwickelt hat. Der soziologische Normbegriff ermöglicht es, Veränderungen der Rechtswirklichkeit trotz unveränderter Gesetzeslage als Rechtsänderungen anzusehen. Der „klassische" Rechtsbegriff erlaubt eine solche Einschätzung nur dann, wenn man mit Hilfe etwas gewaltsamer Konstruktionen — insbesondere weit gefaßter Auslegungsregeln — behauptet, der ursprüngliche Gesetzestext stehe mit dem späteren Zustand nicht in Widerspruch. Aber betrachtet man Beispiele wie etwa die Entwicklung der Rechtsprechung zum „Schmerzensgeld" bei schweren Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts 156 , so wird man kaum umhin können, zuzugeben, daß die Gerichte contra legem geurteilt und sich damit durchgesetzt haben. Selbst wenn man annimmt, daß der „klassische" Rechtsbegriff mithilfe eines geeignet gebildeten Begriffs der Auslegung angesichts vieler Veränderungen der Rechtwirklichkeit an der Fiktion des konstanten Rechts festhalten kann, bleiben doch genügend Fälle, in denen er mit der Veränderung der Rechtswirklichkeit sozusagen nicht mitkommt. Ganz abgesehen davon führt ein sehr weiter Begriff der Auslegung dazu, daß der Gesetzeswortlaut einen sehr geringen semantischen Gehalt hat, und schwächt dadurch die deskriptive Leistungsfähigkeit des „klassischen" Rechtsbegriffs 157 . Normativ gewendet erweitert der soziologische Rechtsbegriff den Handlungsspielraum des Rechtsstabes. Wenn z.B. Richter nicht an das Gesetz, sondern an die normative Wirklichkeit einer Gesellschaft gebunden sind, vergrößert sich durch die Vagheit dieses Begriffes (in begrifflicher ebenso wie in empirischer Hinsicht) objektiv ihr Entscheidungsspielraum. Ob man diese Art der „Rechtsbindung" postulieren soll oder nicht, ist eine politische Frage. Wenn der soziologische Rechtsbegriff empirisch angemessen ist, dann bedeutet dies allerdings, daß Richter, die vom Gesetz abweichende Entschei156 Vgl. BGHZ 26,349; 35,367; 39,131; BVerfG NJW 73, 1221. Kritisch dazu PalandtHeinrichs Rdn. 1 zu § 253 BGB, in: Palandt: Bürgerliches Gesetzbuch, 39. Aufl., München 1980, zustimmend Palandt-Thomas Rdn. 15 F zu § 823. Umfangreiche Literaturnachweise zum Meinungsstand finden sich bei Volker Krey: Zur Problematik richterlicher Rechtsfortbildung contra legem (I), in: JZ 78, 361-368, Anm. 14. Als eine Veränderung der Rechtswirklichkeit kommt nicht nur die Rechtsprechung contra legem sondern auch die praeter legem in Betracht — die Grenze zwischen beiden ist ohnehin häufig schwer zu ziehen (vgl. Dieter Simon: Die Unabhängigkeit des Richters, Darmstadt 1975, S. 98f.). 157 Zur Problematik des Verhältnisses von Auslegung und Rechtsfortbildung vgl. Simon S. 68-103; Hans-Joachim Koch: Seminar: Die juristische Methode im Staatsrecht, Frankfurt 1977, S. 20-60; Karl Larenz: Über das Verhältnis von Interpretation und richterlicher Rechtsfortbildung, in: Festschrift für Karl Olivecrona, Stockholm 1964, S. 384ff.; ders.: Richterliche Rechtsfortbildung als methodisches Problem, NJW 1965, S. Iff.; ders.: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. Berlin/Heidelberg/NY 1975, S. 350-354.
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düngen treffen, weil sie glauben, daß das Gesetz die Rechtswirklichkeit der Gesellschaft nicht repräsentiert, sofern dies tatsächlich der Fall ist, damit durchkommen werden. Das angesprochene politische Problem besteht also letzlich in der Frage, ob man die Richter auffordern sollte, das, was sie ohnehin tun können, bewußt zu tun 1 5 8 .
1.2122 Autonome und heteronome Normen Im Anschluß an Kant, sind Recht und Moral immer wieder danach unterschieden worden, ob sie auf autonomer oder auf heteronomer Satzung beruhten 159 . Dabei wurde stets das Recht als die heteronome Ordnung 158 Zu den Entwicklungstendenzen Simon S. 167-189. Vgl. ferner Krey: Rechtsfindung contra legem als Verfassungsproblem (III), in: JZ 1978, 465-468; Hans Hattenauer: Reform durch Richterrecht?; in: ZRP 78,83; Görg Haverkate: Untaugliche Warnung vor dem Richterrecht, in: ZRP 78,88; sowie die differenzierte Behandlung dieses Problems bei Ingwer Ebsen: Gesetzesbindung und „Richtigkeit" der Entscheidung, Berlin 1974(Schr. z. Rechtstheorie H.35). Letztenendes läuft die im Text gestellte Frage darauf hinaus, ob man die Richter ermutigen soll, ihre Spielräume auszuschöpfen oder nicht. Die Beantwortung dieser Frage hängt einerseits von einer Reihe ungesicherter empirischer Annahmen darüber ab, ob die Richter ihre Spielräume bisher bereits ausgenutzt haben (aber vielleicht über den für den Richter weniger problematischen Weg der Beweiswürdigung), andererseits von erst recht unsicheren Prognosen darüber, wie sie ihre Spielräume künftig ausnützen würden (gesetzt sie hätten es bisher noch nicht getan), und darüber, ob eine solche Ermutigung auf lange Sicht zu einer Erweiterung des richterlichen Entscheidungsspielraumes führt, und was das für politische Konsequenzen hat. In diesem Zusammenhang ist auch anzumerken, daß eine etwaige Rechtspflicht des Richters, ein grob unsittliches Gesetz nicht zu beachten, zwar möglicherweise eine contra legem Entscheidung von ihm verlangt (die begrifflichen Schwierigkeiten einer solchen Klassifikation seien hier ausgespart) aber jedenfalls eine contra legem Entscheidung anderer Art als derjenigen, von der hier die Rede war. Wendet man einen soziologischen Rechtsbegriff auf das Dritte Reich an, muß man vermutlich eine Vielzahl von sogar den formell gültigen Gesetzen widersprechenden Entscheidungen als rechtmäßig ansehen. Der Widerstand eines Richters gegen dies System, womöglich unter Berufung auf das Gesetz, hätte sich eher gegen die vorherrschenden rechtlichen Verhaltenserwartungen als gegen die Gesetzeslage richten müssen (Vgl. zu diesem Problemkreis auch u. 2.4). 154 Vgl. die Literaturnachweise bei Hans Nef: Recht und Moral, St. Gallen 1937, S. 35-37. Als wesentliche Vertreter einer solchen Auffassung werden Fries, Rotteck, Knapp, Kelsen, Somlo, Jellinek, Binding, Binder, Burckhardt und Löwenstein genannt. Jedenfalls hinsichtlich des späteren Kelsen (seit der Reinen Rechtslehre) wird man seiner verkappten Anerkennungstheorie wegen (vgl. dazu Arend Kulenkampff: Methodenfragen der Gerechtigkeitstheorie, in: Analyse und Kritik 1 (1979), 90-104, 94f.) eine solche Einordnung nicht mehr ohne weiters vornehmen können. Als Kritiker werden bei Nef Weigelin, Laun und Roeder angeführt. In der neueren Rechtsphilosophie ist die Unterscheidung etwas aus der Mode gekommen, wird aber — wenn auch mit mancherlei Einschränkungen — durchaus noch vertreten (vgl. etwa Heinrich Henkel: Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., München 1977, S. 81f.). Während Weigelin und Laun die Unterscheidung heteronom — autonom im wesentlichen mit der Behauptung angriffen, es gebe nur heteronome Normen (Weigelin) bzw. es gebe nur autonome Normen (Laun), argumentie-
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angesehen. I n der Unterscheidung von autonomen und heteronomen Normen vermischen sich im allgemeinen eine Vielzahl von Gesichtspunkten. Sie wird nicht nur im Zusammenhang mit der Normsetzung, sondern auch in Verbindung mit dem Geltungsgrund von Normen, ihrer Verbindlichkeit und dem Grund der Normbefolgung angeführt. Es wird daher auch noch in anderen Zusammenhängen auf diese Unterscheidung hinzuweisen sein. Die Einordnung der Unterscheidung „autonome — heteronome Normen" unter die Überschrift „verschiedene Normgeber" ist nicht ganz unproblematisch, weil nicht ganz klar ist, was es heißen soll, daß jemand sich selbst eine Norm setzt. Besondere Schwierigkeiten ergeben sich, wenn man Normen mit Imperativen gleichsetzt, denn man kann eigentlich nur metaphorisch davon sprechen, daß jemand sich selbst etwas befiehlt 1 6 0 . Trotzdem ist es natürlich nicht unmöglich, einen derartigen Sprachgebrauch zuzulassen. Eine solche Entscheidung wird dadurch erleichtert, daß die meisten Autoren unter der Autonomie einer Norm nicht verstehen, daß sie die höchstpersönliche Erfindung des Normgebers ist, sondern daß sie erst durch einen Anerkennungsakt für den Anerkennenden zur Norm wird. Felix Kaufmann formuliert: Die Autonomie kann sich von der Heteronomie allein dadurch unterscheiden, „ob der Wertgesichtspunkt, nach dem sich die Maxime richtet, durch eigene oder fremde Bewertung gegeben erscheint" 161 . Eine autonome Setzung besteht letzenendes also darin, einer Norm gegenüber einen internen Standpunkt im Wertungssinne einzunehmen. Sofern man unter Normen Imperative versteht, muß man sich also nur in dem Sinne etwas befehlen, wie man das tut, wenn man einen Befehl billigend akzeptiert 1 6 2 . ren neuere Autoren häufiger damit, daß das Recht zugleich autonom und heteronom sei (Vgl. Ernst Weigelin: Sitte, Recht und Moral, Berlin 1919, S. 12ff.; Rudolf Laun: Recht und Sittlichkeit, 3. Berlin 1935; Arthur Kaufmann: Recht und Sittlichkeit, in: ders.: Rechtsphilosophie im Wandel, Frankfurt 1972, S. 219-250,234f. (auch als selbständige Veröffentlichung, Tübingen 1964 = Recht und Staat H. 282/283); Erich Fechner: Rechtsphilosophie, 2. Tübingen 1962, 202ff. spricht von „Gegebenheit und Aufgegebenheit" des Rechts (204). Dieser Doppelcharakter von Recht macht es nicht nur unmöglich, Recht generell als etwas „Gesetztes" anzusehen, sondern entzieht dadurch auch der Unterscheidung von Recht und Moral mit Hilfe des Begriffspaares autonom-heteronom den Boden. Die Argumentation Kaufmanns entspricht dem in der Sache.). 160 Vgl. Weigelin. 161 Felix Kaufmann: Logik und Rechtswissenschaft, Tübingen 1922, S. 84. 162 Durch derartige Überlegungen sind Rechtsphilosophen, die eine gewisse Akzeptiertheit des Rechts als dessen Geltungsvoraussetzung ansehen, zu Auffassungen geführt worden wie der, daß die Rechtsordnung insgesamt akzeptiert werden muß, insoweit also autonom ist, einzelne Rechtsnormen jedoch heteronom sein können (Vladimir Kubes: Grundfragen der Philosophie des Rechts, Wien/New York 1977, S. 61), oder daß das Recht von der Mehrheit der Rechtsunterworfenen akzeptiert werden müsse, im Verhältnis zu diesen also autonom sei, sich jedoch Minderheiten gegenüber erzwingen lasse, insoweit also — im Gegensatz zur Moral — heteronom sei (Luis Legaz y Lacambra: Rechtsphilosophie, Neuwied/Berlin 1965, S. 407f.). Auf diese Weise wird die Unterscheidung zwischen
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Wenn dies der ganze Unterschied zwischen autonomen und heteronomen Normen bezüglich des Normgebers ist, dann können ursprünglich heteronome Normen durch nachträgliche Anerkennung zu autonomen Normen gemacht werden und bei einer Gleichsetzung von Recht mit einer heteronomen Normenordnung kann das Recht durch Anerkennung als solches zum Verschwinden gebracht werden. Gegen diese Konstruktion wird man einwenden, daß das Spezifische der heteronomen Normen sei, daß sie unabhängig davon gelten, ob man sie sich zu eigen macht oder nicht. Dazu wird unten (1.222) noch Stellung zu nehmen sein. Hier ist dieser Einwand unbeachtlich, weil die Unterscheidung nur unter dem Gesichtspunkt verschiedener Normgeber betrachtet wird. Diese Überlegung führt zu der merkwürdigen Schlußfolgerung, daß eine Unterscheidung zwischen Recht und Moral unter Verwendung des Gegensatzpaares autonome — heteronome Normen, sofern diese Unterscheidung sich auf den Normgeber bezieht, das Recht als diejenigen Normen (oder ein Teil dieser Normen) bestimmt, die nicht anerkannt sind. Daß diese Unterscheidung nicht generell zutrifft, ergibt sich bereits daraus, daß zweifellos manche Rechtsnormen von vielen Rechtsunterworfenen anerkannt werden. Selbst eine abgeschwächte Fassung, wonach nur erforderlich wäre, daß das Recht wesentlich oder doch zumindest auch Normen enthalten müsse, die nicht anerkannt werden, kann angesichts der historischen Realität demokratischer Staaten nicht ohne weiteres aufrecht erhalten werden. Demnach erscheint es nicht zweckmäßig, Recht und Moral danach zu unterscheiden, ob sie vom Normunterworfenen selbst oder einem anderen gesetzt sind.
Recht und Moral nach dem Maßstab ihrer Autonomie jedenfalls bis zu einem gewissen Grade verteidigt. Allerdings besteht zwischen der Anerkennung einer Rechtsordnung im Ganzen und der Anerkennung einzelner Rechtsnormen sicherlich insoweit ein Zusammenhang, als erstere stets voraussetzt, daß letztere überwiegend vorhanden ist. Hinsichtlich der zwangsweisen Durchsetzung von Recht gegenüber Minderheiten wird man fragen müssen, ob insoweit zwischen Recht und Moral ein Unterschied besteht. Dies ist wohl nur dann der Fall, wenn man moralisches Handeln als grundsätzlich nicht erzwingbar ansieht, weil es durch seinen Beweggrund (aus Pflicht, aus richtiger Einsicht) definiert ist. Ob die Moralität von Handlungen und ob moralische Handlungen erzwungen werden können, sind allerdings zwei nicht unbedingt identische Fragen. Verwendet man den Ausdruck „Moral" ausschließlich zur Bezeichnung des Gebots, sich moralisch, d.h. hier in einer durch Angabe des Beweggrundes nur formal bestimmten Weise zu verhalten, dann stellt sich nicht nur die Frage, ob dieses „Gebot" nicht eine paradoxe Handlungsaufforderung ist (der Form: Folge freiwillig diesem Gebot!) und damit überhaupt kein Gebot im normalen Wortsinn, sondern dann muß man auch den hier vertretenen Ausgangspunkt, daß Recht und Moral Normenkomplexe sind, ablehnen, da ein solches Gebot kein Normenkomplex sondern bestenfalls eine Norm sein kann.
1.2 Mögliche Kriterien zur Unterscheidung, von Recht und Moral 1.21
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Zusammenfassung
Die vorausgegangene Diskussion über die Möglichkeiten, Recht und Moral nach ihrem Ursprung zu unterscheiden, hat ergeben, daß lediglich eine bestimmte Variante der soziologischen Rechtsauffassung ein aussichtsreicher Kandidat für eine derartige empirische Unterscheidung zwischen Recht und Moral ist. Dieser Auffassung zufolge muß Recht als wirkliche Ordnung konventionell und funktional abgegrenzter sozialer Subsysteme (Staat) angesehen werden, die sich in bestimmten Verhaltenserwartungen der Gesellschaftsmitglieder ausdrückt. Moral dagegen als eine etwas diffuse Menge gesamtgesellschaftlich wirksamer Richtigkeitsüberzeugungen mit universellem Geltungsanspruch. Wenig erfolgversprechend erscheinen — jedenfalls unter empirischen Gesichtspunkten — Versuche, zwischen Recht und Moral als gesetzten und ungesetzten Normen, als Ordnungen verschiedener Verbände oder gesellschaftlicher Subsysteme oder als heteronomen bzw. autonomen Normenkomplexen zu unterscheiden.
1.22 Der Geltungsgrund der Norm Recht und Moral können auch nach ihrem Geltungsgrund unterschieden werden. Zwar wird eine solche Unterscheidung im allgemeinen nicht ausdrücklich als begriffliche Abgrenzung gekennzeichnet 163 , sie ist jedoch in einer Reihe rechtsphilosophischer Entwürfe mehr oder weniger vorausgesetzt. Insbesondere rechtspositivistische Autoren tendieren dazu, Positivität als einen rechtsspezifischen Geltungsgrund anzusehen 164 . 163 Hans Nef: Recht und Moral in der deutschen Rechtsphilosophie seit Kant, St. Gallen 1937, führt die Unterscheidung von Recht und Moral nach ihrem Geltungsgrund nicht unter der Überschrift der begrifflichen Abgrenzungen. Sie spielt jedoch sowohl bei den Unterscheidungen eine Rolle, die Nef als „Unterscheidungen nach der Verpflichtungsweise" bezeichnet, als auch bei der Untersuchung der Frage, ob das Recht die Moral bedingt oder die Moral das Recht. So wird etwa im 4. Kapitel (Das Recht als Bedingung der Moral) die Frage untersucht, ob das Recht die Moral ermögliche. Diese Frage läßt sich auch als Frage danach formulieren, ob das Recht der Geltungsgrund der Moral sei. Im 5. Kapitel (Die Moral als Bedingung des Rechts) geht es wesentlich um die Frage, ob die Moral den Verpflichtungsgrund des Rechts enthalte. Hier geht es also darum, ob die Moral der Geltungsgrund des Rechts sei. Daß „Geltungsgrund" im ersten und im zweiten Fall etwas Verschiedenes bedeutet, drängt sich auf (dazu u. im Text). Hier sei nur darauf hingewiesen, daß Recht als Geltungsgrund der Moral selbst einen anderen Geltungsgrund haben muß, sich also in seinem Geltungsgrund von der Moral unterscheidet, und umgekehrt dasselbe von der Moral als Geltungsgrund des Rechts gilt, und zwar weitgehend unabhängig davon, was man unter Geltungsgrund genau zu verstehen hat, sofern es nur einen Sinn hat, in dem Sinne, in dem der eine Normenkomplex als Geltungsgrund des anderen behauptet wird, auch nach der Geltung dieses Normenkomplexes zu fragen. 164 Dies ist zumindest für den frühen Rechtspositivismus kaum bestreitbar. Vgl. dazu Gerhard Dilcher: Der rechtswissenschaftliche Positivismus, in: ARSP 61 (1975), S. 497528, 522ff. Es dürfte aber auch für moderne Rechtspositivisten zutreffen (wobei ich naturgemäß den Begriff des Rechtspositivismus hier nicht erläutern kann — vgl. dazu
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
Jede Untersuchung von Recht und Moral nach ihrem Geltungsgrund setzt voraus, daß einigermaßen klar ist, was unter einem Geltungsgrund zu verstehen ist. Da bereits der Begriff der Geltung sehr verschiedene Bedeutungen haben kann, bedarf der Begriff des Geltungsgrundes erst recht einer Klärung. Sie wird zweckmäßigerweise von den unterschiedlichen Bedeutungen von „Geltung" auszugehen haben, und sich alsdann der Frage zuwenden müssen, was als „Grund" der verschiedenen Arten von Geltung in Betracht kommt. Angesichts der rechtsphilosophisch sehr umstrittenen Problematik des Geltungsbegriffes 165 kann die folgende terminologische Skizze nicht mehr sein als ein hoffentlich plausibler Entwurf. In seiner immer noch grundlegenden Monographie über die Geltung von Rechtsnormen unterscheidet Rupert Schreiber drei mögliche Bedeutungen von Geltung: faktische, verfassungsmäßige und ideelle Geltung 1 6 6 . „Eine Rechtsnorm gilt faktisch, soll bedeuten, eine Rechtsnorm ist wirksam derart, daß immer dann, wenn der Tatbestand der Rechtsnorm erfüllt ist, die Rechtsfolge eintritt". 1 6 7 Da dies vermutlich nie der Fall ist, wird diese Definition dahingehend eingeschränkt, daß eine Rechtsnorm auch dann noch faktisch gilt, „wenn sie bis zu einem gewissen Grade wirksam ist" 1 6 8 . „Eine Rechtsnorm ist verfassungmäßig gültig, soll heißen, gemessen an den Vorschriften der Verfassung über die Geltung von Rechtsnormen ist diese Rechtsnorm gültig". 1 6 9 „Eine Rechtsnorm hat ideelle Geltung, soll bedeuten, daß die Rechtsnorm von einem Autor als allgemeine Lösung eines Interessenkonflikts vorgeschlagen ist". 1 7 0 Da Schreiber keinen dieser drei Geltungsbegriffe mit dem seiner Ansicht nach wissenschaftlich unbrauchbaren Begriff der Verbindlichkeit gleichsetzt 171 , kommt Geltung i.S.v. Verbindlichkeit als ein vierter Geltungsbegriff in Betracht. Zwar hat Schreiber zweifellos insoweit recht, als von einem Walter Ott: Der Rechtspositivismus, Berlin 1976, S. 33-110), so etwa für H.L.A. Hart; nach Harts überwiegend in deskriptiver Absicht formuliertem Geltungsbegriff beinhaltet die Behauptung, daß eine bestimmte Regel gültiges Recht sei, regelmäßig die Anwendung einer nicht nur vom Behauptenden sondern auch generell akzeptierten Anerkennungsregel (vgl. dazu Horst Eckmann: Rechtspositivismus und sprachanalytische Philosophie, Berlin 1969, S. 121 m. Nachweisen). Daß die dem Recht zugrundeliegende Anerkennungsregel generell akzeptiert ist, ist ein entscheidendes Merkmal der Positivität des Rechts. 165 Vgl. etwa den von Ernesto Garzón Valdés in seinem Aufsatz „Modelle normativer Geltung" (in: Rechtstheorie 8 (1977), S. 41-71) unternommenen Versuch, die verschiedenen rechtsphilosophischen Geltungsbegriffe in ein Schema von insgesamt acht möglichen Geltungsbegriffen einzuordnen. 166 Rupert Schreiber: Die Geltung von Rechtsnormen, Berlin etc. 1966, S. 58ff. 167 Schreiber S. 58. 168 Schreiber S. 59. Schreiber S. 64. 17,1 Schreiber S. 66. 171 Schreiber S. 140.
1.2 Mögliche Kriterien zur Unterscheidung von Recht und Moral
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externen Standpunkt im Wertungssinne aus Verbindlichkeitsbehauptungen Unterfälle idealer oder verfassungsmäßiger Geltung 1 7 2 sind. Aber für denjenigen, der eine Norm vom internen Standpunkt im Wertungssinne aus für verbindlich hält, ist die Verbindlichkeit dieser Norm nicht nur Gegenstand seiner privaten Meinung, denn mit Verbindlichkeitsbehauptungen ist ein Universalitätsanspruch verbunden. Es ist ein Unterschied, ob ich sage, daß ich eine Norm für verbindlich halte, oder ob ich eine Norm lediglich vorschlage. Und dieser Unterschied kann durchaus auch in einer wertfreien Beschreibung meines Verhaltens berücksichtigt werden. Die Tatsache, daß vom externen Standpunkt im Wertungssinne aus keine Verbindlichkeitsbehauptungen aufgestellt werden können, berechtigt für sich genommen noch keineswegs dazu, derartige Behauptungen auch als Beschreibungsgegenstand auszuschließen. Hier unterläuft Schreibereine Verwechslung zwischen dem „Wertrelativismus" als einer Eigenschaft des externen Standpunkts im Wertungssinn und dem Wertrelativismus als einer ethischen Position, der eine klammert die Frage nach der Existenz von Werten aus methodologischen Gründen aus, der andere verneint sie. Unterstellen wir, daß die drei von Schreiber genannten Geltungsbegriffe sowie Geltung im Sinne von Verbindlichkeit sich derart präzisieren lassen, daß sie den Bedeutungsspielraum von „Geltung" erschöpfen 173 , dann stellt sich als nächstes die Frage danach, was als Grund der einen oder anderen Art von Geltung in Betracht kommt. Gründe der faktischen Geltung einer Norm können z.B. sein: die Autorität oder Macht desjenigen, der sie erlassen hat, oder ihre Durchsetzung durch andere Normenunterworfene, oder einen besonderen Stab oder freiwillige Befolgung. Diese unmittelbaren Gründe von Wirksamkeit können ihrerseits auf Richtigkeitsüberzeugungen oder Anerkennung der Normunterworfenen oder des Durchsetzungsstabes und/oder auf bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen beruhen, wobei es die Vielzahl der in Betracht kommenden 172 Letzteres etwa, wenn eine Rechtsordnung mit dem Anspruch auf moralische Verbindlichkeit auftritt. 173 Bereits der Begriff der faktischen Geltung oder — in der Teminologie Kelsens — Wirksamkeit einer Norm wirft einige nicht ganz einfache Probleme auf. Zunächst einmal ist zu bezweifeln, daß die Normgemäßheit eines Geschehens mit der Wirksamkeit einer Norm identisch ist, denn sonst könnten Naturgesetze als faktisch wirksame Normen angesprochen werden (vgl. in diesem Zusammenhang auch oben 1.133 zum Begriff der Regelbefolgung). Sodann würde die Schreibersche Definition im Ergebnis dazu führen, daß die Wirksamkeit einer Norm immer nur rückblickend festgestellt werden kann. Es gibt aber auch einen prognostischen Begriff der Wirksamkeit, der z.B. von Alf Ross: On Law and Justice, London 1958, S. 44 vertreten wird, demzufolge eine Regel dann ein gültiges Gesetz darstellt, wenn sie voraussichtlich bei zukünftigen rechtlichen Entscheidungen angewandt werden wird. Will man nicht einen zurückgewandten und einen in die Zukunft gerichteten Begriff der faktischen Geltung haben, dann muß man faktische Geltung zumindest als Disjunktion der beiden Begriffe formulieren.
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
gesellschaftlichen Größen geradezu verbietet, hier auch nur den Versuch einer annähernden Vollständigkeit zu erreichen. Es kann sich um bloße gesellschaftliche Gewohnheiten, unterschiedliche Eigentumsverhältnisse, Zugehörigkeit zu verschiedenen Stämmen oder Familien, den Stand der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung oder — generell — Entwicklung und Vieles andere handeln. Hervorzuheben ist, daß als Gründe faktischer Geltung einer Norm insbesondere auch die Geltung dieser Norm in den drei übrigen Bedeutungen in Betracht kommt. Es kann sein, daß eine Norm deswegen faktisch gilt, weil sie verfassungsmäßig gilt, und es in einer Gesellschaft üblich ist, verfassungsmäßig geltende Normen anzuwenden. Wenn eine Norm deshalb faktisch gilt, weil Viele sie für richtig halten, dann gilt sie aufgrund ihrer idealen Geltung faktisch, und je nach dem Inhalt dieser Richtigkeitsüberzeugungn vielleicht auch wegen ihrer Verbindlichkeit. Der Grund verfassungsmäßiger Geltung ist in der Definition dieser Geltungsart schon enthalten. Eine vollständige Aufzählung der Vorschriften der Verfassung über die Geltung einer Rechtsnorm kann kaum gegeben werden, denn hier kommen nicht nur die Regelungen der Normerzeugung in Betracht, sondern auch die durch andere Verfassungsbestimmungen wie z.B. Grundrechte vorgegebenen inhaltlichen Anforderungen, sowie die besonderen Regelungen für das Zusammentreffen formaler Rechtmäßigkeit mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit und umgekehrt. Die Gründe ideeller Geltung sind zunächst einmal all das, was von demjenigen, der eine Norm vorschlägt, als Begründung dieses Vorschlags angeführt werden kann. Dazu gehört auch die Geltung der Norm in einer oder mehreren der anderen Bedeutungen von Geltung. Darüber hinaus könnte man als Grund ideeller Geltung aber auch die Ursachen ansehen, aufgrund derer jemand eine Norm vorschlägt. A n dieser Stelle kommt dann alles ins Spiel, was im Rahmen der Erklärung menschlicher Handlungen eine Rolle spielen kann 1 7 4 . Wenden wir uns nunmehr der Frage zu, auf welche Weise die skizzierten Geltungsgründe zur Abgrenzung von Recht und Moral herangezogen werden können, dann müssen wir zunächst zwischen zwei Typen von Geltung und — daraus resultierend — zwei verschiedenen Abgrenzungsstrategien unterscheiden: der Geltung eines Normenkomplexes insgesamt und der Geltung einzelner Normen 1 7 5 . Die Frage danach, warum Recht und Moral gelten, kann sowohl bedeuten „Warum gilt Recht (bzw. Moral) insgesamt?" als auch „Warum gelten die einzelnen Rechts- (bzw. Moral-)normen?". A u f beide Fragen könnte es Antworten geben, die auf Unterschiede von Recht und Moral hinweisen. 174
Vgl. dazu o. 1.1311. Alexander Peczenik: The Structure of a Legal System, in: Rechtstheorie 1975, s. 1-16, S. 4 spricht von externer Geltung (= Geltung einer Norm innerhalb eines Normen175
1.2 Mögliche Kriterien zur Unterscheidung von Recht und Moral
111
1.221 Unterschiedliche Geltungsgründe von Recht und Moral als Normenkomplexen Wenn wir danach fragen, warum Recht und Moral als Normenkomplexe gelten, dann kann „Geltung" nicht in allen oben angeführten Bedeutungen verstanden werden. Eine verfassungsmäßige Geltung ganzer Normkomplexe würde die Existenz einer diesen Normkomplexen übergeordneten „Verfassung" voraussetzen, in der Geltungsregeln für die untergeordneten Normkomplexe enthalten sind. Bereits die Vorstellung eines dem Recht und der Moral in diesem Sinne übergeordneten Normkomplexes ist nicht unproblematisch. Sie ist allerdings bei geeigneter Definition insbesondere der Moral auch nicht unmöglich. Etwa ließen sich dem Recht und der Moral als wirklichen Ordnungen in der Welt göttliche Gebote gegenüberstellen, die dazu führen, daß manche Vorschriften des Rechts oder der Moral zumindest unverbindlich sind. Derartige göttliche Gebote würden also in ähnlicher Weise Geltungsregeln darstellen wie Grundrechte. Aber selbst wenn eine solche göttliche Wertordnung sich nicht nur als möglich vorstellen, sondern auch als wirklich nachweisen und inhaltlich bestimmen ließe, dürfte sie kaum in einem solchen Umfang Geltungsregeln enthalten, wie das notwendig wäre, um von der verfassungsmäßigen Geltung des Rechts bzw. der Moral insgesamt zu sprechen. Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist! Und dabei spielt es keine Rolle, wie er auf den Thron gelangt ist. Verfassungsmäßige Geltung setzt jedoch die Existenz von Normerzeugungsregeln voraus, deren Einhaltung eine notwendige Bedingung verfassungsmäßiger Geltung ist. Bevor nach den Gründen der faktischen Geltung von Recht und Moral gefragt werden kann, ist auf eine mit der obigen Definition faktischer Geltung verbundene Schwierigkeit hinzuweisen. In dieser Definition ist eine bestimmte Form von (Rechts-)Normen vorausgesetzt. Sie läßt sich nur auf Normen anwenden, die sich als Verknüpfung eines Tatbestandes und einer Sanktion (im positiven oder negativen Sinne) rekonstruieren lassen. Die Frage nach der Form von Rechts- bzw. Moralnormen wird jedoch erst unten (1.24) erörtert. Wenn hier dennoch über die Gründe einer faktischen Geltung von Recht und Moral diskutiert wird, so geschieht dies in der Annahme, daß sich faktische Geltung für Normen verschiedenster Form definieren läßt. Versteht man unter moralischen Normen z.B. reine Bewertungsmaßstäbe, so könnte man von der faktischen Geltung dieser Normen dann sprechen, wenn diese Bewertungsmaßstäbe tatsächlich angewandt werden (Dabei kann offen komplexes). Weil das Begriffspaar intern-extern bereits zur Bezeichnung unterschiedlicher Standpunkte Normenkomplexen gegenüber herangezogen wurde, möchte ich diesen Sprachgebrauch nicht übernehmen. Er erscheint mir auch generell zu sehr auf die Probleme der verfassungsmäßigen Geltung zugeschnitten. Während es die verfassungsmäßige Geltung nur innerhalb eines Normenkomplexes geben kann, kann Geltung in den übrigen Bedeutungen dieses Begriffes sowohl intern als auch extern im Sinne Peczeniks sein.
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
bleiben, ob schon eine Bewertung als solche eine Sanktion darstellt oder ob eine Sanktion darüber hinausgehende praktische Konsequenzen erfordert.). Es versteht sich, daß die hier gewählte Reihenfolge der Erörterungen nur dann gerechtfertigt ist, wenn die faktische Geltung von Normen verschiedener Form wesentlich gleich ist. Dies zu zeigen, bereitet Schwierigkeiten, da faktische Geltung sich schlecht definieren läßt, ohne daß in der Definition irgendeine bestimmte Form der Normen vorausgesetzt wird. Für den gegenwärtigen Zweck reicht es jedoch aus, sich die Definition der faktischen Geltung etwa folgendermaßen vorzustellen: Eine Norm gilt faktisch = def.: Die Norm verknüpft eine Sanktion mit einem Tatbestand und immer (meistens), wenn der Tatbestand erfüllt ist, wird die Sanktion verhängt, oder die Norm ist ein Bewertungsmaßstab und wird als solcher tatsächlich angewandt, oder die Norm ist ein Imperativ und wird befolgt, oder ... Eine Unterscheidung zwischen Recht und Moral nach den Gründen ihrer faktischen Geltung könnte, wie die folgenden, konstruierten Beispiele zeigen, auf vielfältige Weise getroffen werden: a. Wenn Recht faktisch gilt, so deshalb, weil die Macht hinter ihm steht, Moral dagegen beruht auf Überzeugung. b. Moral gilt, weil sie richtig ist, Recht, weil es im Gesetz steht, c. Recht gilt faktisch, weil die Polizei dafür sorgt, Moral gilt faktisch, weil wir alle (oder die Kirche oder...) dafür sorgen. Es ist offensichtlich, daß sich diese Liste beliebig verlängern läßt. Angesichts der kaum überblickbaren, denkbaren Urachen und Gründe dafür, daß ein Normenkomplex faktisch gilt, wäre der Versuch, eine einigermaßen vollständige Liste der insoweit möglichen Unterscheidungen zwischen Recht und Moral aufzustellen, ein uferloses Unterfangen. Wir können uns jedoch zunächst darauf beschränken, den Typus einer Unterscheidung von Recht und Moral nach ihren faktischen Geltungsgründen als solchen zur Kenntnis zu nehmen. Die allgemeine Form einer solchen Unterscheidung hat die Form: Recht gilt faktisch, weil a, Moral gilt faktisch weil b. Dabei stehen a und b für zwei beliebig komplexe, unterschiedliche Erklärungen. Entsprechende allgemeine Formen der Unterscheidung von Recht und Moral nach ihren Geltungsgründen lassen sich auch hinsichtlich der ideellen und verbindlichen Geltung formulieren. In allen drei Fällen können in den Erklärungen Ursachen jeder Art vorkommen. Es ist möglich zu behaupten, daß das Recht faktisch gilt, weil die Rechtsunterworfenen es anerkennen, sofern man unterstellte, daß Anerkennung die Ursache rechtmäßigen Verhaltens sein kann. Ebensogut kann man die faktische Geltung des Rechts auf lauter objektive Ursachen zurückzuführen versuchen, die außerhalb des Bewußtseins der handelnden Individuen liegen. Erklärungen der idealen Geltung und der verbindlichen Geltung — die hier ja nur als Unterfall der idealen Geltung in Betracht kommt — können ebenfalls diesen weiten Spielraum von Argumenten ausschöpfen. Eine entsprechende psychologi-
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sehe Theorie vorausgesetzt, kann ich behaupten, daß jemand etwas für verbindlich hält, weil er auf bestimmte Weise konditioniert wurde. Ebensogut kann ich aber auch das als Ursache seiner Verbindlichkeitsüberzeugung annehmen, was er selbst auf Befragung als ihren Grund angibt. Das bis hierher skizzierte, recht simple Modell der Unterscheidung von Recht und Moral nach den Geltungsgründen dieser Normkomplexe insgesamt bedarf noch einer, die Dinge etwas komplizierenden Erweiterung. Auch die Frage nach der Geltung einer Rechtsordnung insgesamt kann verschieden verstanden werden. Sie kann einmal bedeuten: Warum gilt in der Bundesrepublik die bestimmte Rechtsordnung, die dort gilt? Sie kann aber auch bedeuten: Warum gelten überhaupt irgendwo irgendwelche Rechtsordnungen? Antworten auf die zweite allgemeinere Fragestellung könnten etwa in der Angabe anthropologischer Sachverhalte bestehen, im Entwurf einer Evolutionstheorie der Normenkomplexe, oder in dem Nachweis, daß es bestimmte häufige Entscheidungssituationen gibt, die nur erfolgreich bewältigt werden können, wenn Normen einer bestimmten Art gelten 1 7 6 . Antworten auf die speziellere erste Frage würden dagegen auf Ereignisse der neueren Verfassungsgeschichte, die Situation des parlamentarischen Rates, die weltpolitische Lage nach dem 2. Weltkrieg, deutsche Rechtstraditionen und gesellschaftliche Verhältnisse etc. verweisen. Die allgemeine und die spezielle Fragestellung können als Extreme eines Kontinuums aufgefaßt werden. In der Mitte liegen Fragen wie: Warum gelten Rechtsordnungen des kontinentaleuropäischen Typs oder des anglo-amerikanischen Typs? Es ist klar, daß eine Unterscheidung zwischen Recht und Moral nach ihren Geltungsgründen nur dann wohl gebildet ist, wenn beide Seiten der Unterscheidung auf dem gleichen Allgemeinheitsniveau stehen. Angesichts der vielfältigen Möglichkeiten, zwischen Recht und Moral nach den Gründen ihrer verschiedenen Arten von Geltung als Normenkomplexen zu unterscheiden, würde eine Darstellung und Diskussion der einzelnen Möglichkeiten uferlos. Eine solche Darstellung liegt überdies auch schon deshalb nicht nahe, weil in der traditionellen Diskussion das Schwergewicht auf einer etwas anderen Version der Fragestellung liegt, auf der Frage nämlich, ob nicht für Recht und Moral unterschiedliche Arten von Geltung wesentlich sind (vgl. dazu u. 1.2212). Immerhin sei erwähnt, daß sich hier vermutlich relevante Unterschiede finden lassen. Im Bereich der faktischen Geltung dürfte Moral in stärkerem Maße auf Anerkennung angewiesen sein als Recht 177 . Formalisierung und Institutio176
Vgl. zu letzterem: Ullmann-Margalit: The Emergence of Norms, Oxford 1977. Ebenso Klaus Lüderssen: Können Paragraphen Schuldgefühle abschaffen? Recht und Moral im Wechselspiel der Diskussion, in: FAZ v. 24.1.1981 (verkürzte Fassung von ders.: Recht, Strafrecht und Sozialmoral, in: Analyse und Kritik (1981), S. 194-222). Das schließt allerdings nicht aus, daß es einen hochgradig anerkannten Kernbereich des Rechts
8 Geddert
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nalisierung von Normenerzeugung und -durchsetzung sind zumindest für das moderne Recht charakteristisch und führen dazu, daß faktische Rechtsgeltung von inhaltlicher Anerkennung der Normunterworfenen weniger abhängig ist als die faktische Geltung von Moral oder Ethik. Ob die geringere Abhängigkeit des Rechts von inhaltlicher Anerkennung durch eine größere Abhängigkeit von Anerkennung der Institutionen und Verfahren als solcher sozusagen kompensiert wird, darf als fraglich gelten. Die rationale Ablehnung der Legitimation durch Verfahren findet erst dort ihre Grenze, wo die Kompliziertheit der Lebensverhältnisse einen so großen Regelungsbedarf erzeugt, daß Verfahren bestimmter Art einfach notwendig sind. Im Bereich der idealen Geltung korrespondiert dem eben skizzierten Unterschied in den faktischen Geltungsgründen, daß die Notwendigkeit einer berechenbaren äußeren Ordnung als Argument für Formalisierung und Institutionalisierung des Rechts dienen kann. M i t dem Argument der Rechtssicherheit können u.U. auch inhaltlich unbefriedigende Rechtszustände gerechtfertigt werden. Ob dieser Argumentation auf Seiten der Moral etwas entspricht, ist zumindest fraglich. Versteht man unter Moral die tatsächlichen moralischen Überzeugungen der Menschen, dann dürften moralische Traditionen und Gewohnheiten in Rechtfertigungen eine Rolle spielen. Die Trägheit tatsächlicher Moral hat sicherlich soziologisch gesehen ähnliche Funktionen wie die Richtssicherheit und kann daher auch entsprechend gerechtfertigt werden. Für die ethische Frage danach, was inhaltlich richtig ist, spielen solche Trägheitsmomente nur noch als empirische Randbedingungen eine Rolle. Ob sich so etwas wie „Moralsicherheit" ethisch rechtfertigen läßt, erscheint umso fraglicher, desto deutlicher sich zwischen institutionalisierter staatlicher Ordnung (Recht) und tendenziell für andere unmittelbar folgenloser, und daher freier, privater Moral unterscheiden läßt.
1.2211 Normen ohne Geltungsgrund — der Begriff der „absoluten" Geltung Wenn jemand von der absoluten Geltung eines Normenkomplexes überzeugt ist, dann kann er möglicherweise diesen Normenkomplex von anderen dadurch abgrenzen, daß jene nur relativ gelten. Er könnte also vielleicht einen Satz formulieren wie: Moral gilt absolut, Recht relativ. Von einem externen Standpunkt im Wertungssinne aus, kann eine solche Unterscheidung natürlich nicht getroffen werden. Sie läßt sich aber durchaus als Unterscheidung, die von jemandem tatsächlich gemacht wird, beschreiben. Absolute Geltung erscheint dann als besondere Variante der verbindlichen Geltung. gibt, innerhalb dessen das Recht so etwas wie ein moralisches Minimum darstellt (vgl. dazu u. 1.2213).
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Verbindlichkeit und absolute Geltung sind nicht dasselbe. Auch derjenige, der einem Normenkomplex gegenüber einen internen Standpunkt im Wertungssinne einnimmt, kann dies in unterschiedlicher Weise tun. Er kann es aus bestimmten Gründen heraus vernünftig finden, daß dieser Nortnenkomplex gilt, ohne damit die Möglichkeit anderer Regelungen auszuschließen. So könnte z.B. jemand vorschlagen, das deutsche Recht durch das englische zu ersetzen. Ein solcher Vorschlag würde dem englischen Recht auch in Deutschland zu einer gewissen ideellen Geltung verhelfen. Er beinhaltete keineswegs, daß der Vorschlagende auch der Meinung sein müßte, es sei schon aufgrund seines Vorschlages dem englischen Recht entsprechend zu verfahren. Hält jemand dagegen einen Normenkomplex für verbindlich, so ist das mit dem Anspruch verbunden, daß auch dementsprechend verfahren werden müsse. Wer etwa glaubt, daß eine bestimmte göttliche Normenordnung existiert, die allem weltlichen Recht vorgeht, der kann dieser Normenordnung zuwiderlaufende Rechtsvorschriften nicht als gültig akzeptieren. Die Überzeugung, daß es eine menschlicher Satzung übergeordnete Wertordnung gebe, kann in zweierlei Gestalt auftreten. Sie kann mit dem Anspruch auftreten, vernünftig begründbar zu sein, sie kann aber auch als ihrerseits nicht mehr bezweifelbare Glaubensgewißheit erscheinen. Nur im zweiten Falle möchte ich davon sprechen, daß die absolute Geltung der betreffenden Überzeugung beansprucht wird, im ersten Fall dagegen spreche ich von einer Verbindlichkeitsüberzeugung. Die Unterscheidung zwischen absoluter und verbindlicher Geltung kann in der oben dargestellten allgemeinen Form einer Unterscheidung von Recht und Moral nach den Gründen ihrer verbindlichen Geltung ohne weiteres berücksichtigt werden. Sie stellt dennoch insoweit eine Herausforderung meiner Systematik der möglichen Abgrenzungen von Recht und Moral dar, als derjenige, der an eine dem Recht gegenüberstehende absolute Moral (Ethik) glaubt, die Vielzahl der hier aufgezeigten Unterscheidungsmöglichkeiten allenfalls als gedankliche Spielereien akzeptieren kann, die soweit sie praktisch berechtigt sind, ihre Berechtigung aus dem fundamentalen und (für ihn) evidenten Unterschied absolut gültiger Normen und relativ gültiger Normen beziehen. Daher erscheint mir der Hinweis angebracht, daß keine logische Notwendigkeit besteht, irgendwelche Normen für absolut gültig zu halten. Zwar nehmen wir bei jeder praktischen Tätigkeit irgendwelchen Normen gegenüber einen internen Standpunkt im Wertungssinne ein, dies bedeutet jedoch nicht, daß diese Normen mit dem Anspruch auf absolute Geltung auftreten müßten. Dies ist vielmehr nur dann der Fall, wenn die Einnahme des internen Standpunktes in einer unreflektieren (dogmatischen) Weise geschieht. Wer eine Wertung trifft, ohne sich der Tatsache bewußt zu sein, daß er eine Wertung trifft, wird allerdings dazu neigen, das Ergebn^ seiner
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
Wertung für absolut zu halten. Hierbei handelt es sich um einen — wie man sagen könnte - impliziten oder unbewußten Absolutheitsanspruch. Man wird annehmen dürfen, daß jeder Mensch zu jeder Zeit in diesem Sinne von der absoluten Geltung bestimmter Werte ausgeht, weil sonst nicht erklärbar wäre, wie Wertungen überhaupt möglich sind. Aber diese psychologische Tatsache berechtigt keineswegs dazu, die absolute Geltung irgendwelcher Normen ausdrücklich zu behaupten. Es liegt hier hinsichtlich der Normen der gleiche Sachverhalt wie bei den Basis- oder Protokollsätzen im Bereich der Empirie vor: Nie können wir alle derartigen Sätze gleichzeitig in Frage stellen, aber zu jeder Zeit jeden. Und sollten wir tatsächlich nicht dazu in der Lage sein, so wäre das ein psychologisches Problem und kein logisches. Obwohl wir stets irgendwelche Basissätze als feststehend ansehen müssen, wäre es sinnlos, irgendeinem Basissatz absolute Wahrheit zuzuschreiben, denn einen Erfahrungssatz kann man nie als absolut wahr bezeichnen — da dies auch hieße: „unabhängig von jeder Erfahrung wahr", und was sollte das in Bezug auf einen Erfahrungssatz wohl bedeuten? Wenn wir für eine Norm, von deren Gültigkeit wir überzeugt sind, absolute Geltung beanspruchen, dann tun wir mehr als von ihrer Gültigkeit auszugehen. Wir behaupten dann auch, daß es unmöglich sei, dies nicht zu tun. Aber woher könnten wir das wohl wissen, sofern man nicht Offenbarungen zuläßt? Eine Einschränkung muß möglicherweise gemacht werden. Sofern man die Gesetze der Logik und vielleicht auch sofern man bestimmte sehr elementare Gesetze der Kommunikation als Normen bezeichnet, könnte für diese „Normen" etwas anderes gelten. Ich möchte auf dieses Problem hier nicht weiter eingehen, sondern mich auf die Bemerkung beschränken, daß mir dies ein Argument dafür zu sein scheint, derartige Gesetze nicht als Normen zu bezeichnen. Im übrigen verweise ich auf das, was unten zu den Versuchen gesagt werden wird, auf der Grundlage derartiger Gesetze Normen zu begründen (3.3211). Angesichts der Sinnlosigkeit des Begriffs der „absoluten Geltung" liegt es vielfach nahe zu vermuten, daß absolute Geltung lediglich in der einen oder anderen Hinsicht von Bedingungen unabhängige Geltung sein soll. Z.B. könnte man Moral als insoweit „absolut" gültig ansehen, als sie nicht von einer Setzung abhängt (vgl. o. 1.211). Derartige Begriffe von sozusagen „relativ absoluter Geltung" können selbstverständlich durchaus sinnvoll verwandt werden. 1.2212 Das Verhältnis unterschiedlicher Geltungsmodi von Recht und Moral zueinander Unterscheidungen von Recht und Moral nach ihrem Geltungsgrund könnten sich auch daraus ergeben, daß bei Recht und Moral verschiedene begriff-
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liehe Beziehungen zwischen den einzelnen Arten von Geltung bestehen. Dabei ist besonders an Thesen folgender Art zu denken: a. Verbindliche Moral muß absolut gelten, verbindliches Recht nicht, b. Recht kann nur verbindlich gelten, wenn es faktisch gilt, die Verbindlichkeit von'Moral ist dagegen unabhängig von faktischer Geltung, c. Faktische Geltung des Rechts impliziert verbindliche Geltung, ein solcher Zusammenhang besteht bei der Moral nicht, d. Umkehrung von c. In allen vier genannten Thesen wird ein bestimmtes begriffliches Verhältnis verschiedener Geltungsarten von Recht bzw. Moral zueinander behaup 1 tet, das für den jeweiligen Normenkomplex spezifisch ist. Die Thesen erschöpfen die logischen Möglichkeiten nicht, sie können aber vielleicht als repräsentativ für Abgrenzungsversuche der hier zu besprechenden Art gelten. Derartige Abgrenzungsversuche finden sich in der Literatur wegen der im allgemeinen unzureichenden Differenzierung unterschiedlicher Geltungsarten nicht explizit, werden aber häufig implizit vorgenommen. So dürfte es z.B. naheliegen, aus Kelsens Betonung der Bedeutung der Wirksamkeit für die Rechtsgeltung 178 zu folgern, daß eine verbindliche Rechtsordnung auch faktisch gelten muß (b). Die These c. kann als etwas zugespitzte Formulierung eines radikalen Rechtspositivismus angesehen werden, wie ihn etwa Bergbohm vertreten hat 1 7 9 . Ihre Umkehrung ergibt sich, wenn man unter Moral nur eine verbindliche Wertordnung versteht. Solche Moral bleibt begrifflich auch dann verbindlich, wenn sie faktisch gilt 1 8 0 . Die These a. könnte sich ergeben sofern Moral als eine für den menschlichen Verstand letztenendes unergründliche, nämlich nicht rational zu begründende, ideale Tatsache angesehen wird. Sinnvoll ist sie nur, wenn eine „relativ" absolute Geltung gemeint ist, z.B. eine Geltung unabhängig von Setzungsakten o. dgl. Es ist offensichtlich, daß Thesen der angeführten Art unmittelbar mit dem Begriff von Recht bzw. Moral zusammenhängen. Daß nach Kelsen verbindliche Geltung des Rechts seine Wirksamkeit voraussetzt, ergibt sich daraus, daß für ihn Wirksamkeit zum Rechtsbegriff gehört. Eine bloß gedachte oder nur proklamierte Rechtsordnung, die nie Wirksamkeit erlangte, war demzufolge nie eine Rechtsordnung. Auch wenn Bergbohm die Frage nach der 178 Hans Kelsen: Reine Rechtslehre, Wien 1960 (2. Aufl.), S. 10, 122 (Definition der Wirksamkeit einer Rechtsordnung), 205. 179 Karl Bergbohm: Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 1. Band, Leipzig 1892, z.B. S. 49: „Die Prädizierung des Rechts als „geltendes" oder „positives" enthält ohne Zweifel einen Pleonasmus; ..." S. auch das Zitat in Fn. 181. 1X0 Es ist zumindest möglich und wahrscheinlich herrschender Sprachgebrauch, unter Ethik nur solche Ideale und Bewertungsmaßstäbe zu verstehen, denen gegenüber ihre Vertreter eine bestimmte Einstellung haben; ethische Anschauungen treten mit dem Anspruch auf, verbindlich zu sein. Liegt im Begriff von Ethik der Anspruch auf Verbindlichkeit, dann kann man von der faktischen Geltung einer Ethik nur dann sprechen, wenn es in einer Gesellschaft Bewertungsmaßstäbe und Ideale gibt, die nicht nur faktisch gelten sondern auch verbindlich gelten.
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verbindlichen Geltung des Rechts dadurch auf merkwürdige Weise auflöst, daß er sie in eine rechtliche Frage und eine allgemeine Frage unterteilt und hinsichtlich der rechtlichen Frage Positivität und Verbindlichkeit als Einheit betrachtet, hinsichtlich der allgemeinen Frage möglichen Antworten rechtliche Bedeutung abspricht 181 , zeigt sich darin ein spezifischer Rechtsbegriff. Für Bergbohm ist Recht die wirkliche Ordnung der Gesellschaft 182 . Wer schließlich Moral einerseits als existent und verbindlich geltend andererseits gleichzeitig als unbegründbar annimmt, wird durch einen solchen Moralbegriff gezwungen, verbindliche Geltung mit absoluter Geltung gleichzusetzen, und wer Moral begrifflich mit Verbindlichkeit ausstattet, muß faktische Moral für verbindlich halten. Mehr noch als bei anderen Versuchen, Recht und Moral voneinander abzugrenzen ist hier offensichtlich, daß über die Berechtigung der verschiedenen möglichen Thesen nur im Rahmen einer umfassenden Diskussion des Rechts- bzw. Moralbegriffs entschieden werden kann.
1.2213 Autonomie und Heteronomie 183 Die bereits im Zusammenhang mit dem Normursprung aufgeführte Unterscheidung von Recht und Moral nach ihrer Auto- bzw. Heteronomie (1.2122) läßt sich auch als Unterscheidung der Geltungsgründe von Recht und Moral deuten. Tatsächlich dürfte sie von ihren Vertretern meist, vielleicht sogar immer, in erster Linie so gemeint sein 184 . In dieser Deutung kann 181
Bergbohm, S. 400: „Das positive Recht, wenn es dies ist, hat seine Begründung und Rechtfertigung schon in seinem Bestehen, womit durchaus nicht gesagt ist, daß nicht bereits heute sein Anspruch, morgen noch weiter zu gelten, aus hundert Gründen, aber nicht einem einzigen Rechtsgrunde, verneint werden könne." 182 Bergbohm S. 407: „Das Recht, das wirklich als Recht funktioniert, ist in sich Widerspruchs- und lückenlos und bildet die Grundlage aller Ordnung unter den Menschen; . . Damit diese Bemerkung nicht allzu negativ erscheint, sei angemerkt, daß Bergbohm Recht nicht mit Gesetz gleichsetzt, sondern auch Gewohnheitsrecht, Rechtsdogmatische Lehrmeinungen und Richterrecht einbezieht (vgl. S. 382f., 383, 381). 183 Vgl. die Literaturhinweise in 1.2122 (Fn. 159-162). 184 Das übersieht Hans Nef: Recht und Moral in der deutschen Rechtsphilosophie seit Kant, St. Gallen 1937, S. 35ff., der die Unterscheidung nur im Zusammenhang mit „der Instanz, von der die Normen ausgehen" also wohl dem Normursprung behandelt. Daß eine solche Einschätzung unzutreffend ist, hätte sich für Nef bereits aus den von ihm selbst wiedergegebenen Zitaten ergeben haben müssen. Dies ist besonders deutlich bei den Zitaten aus Kelsens Hauptproblemen der Staatsrechtlehre, die darauf abheben, daß das Recht ein vom Wollen der Normunterworfenen unabhängiges Sollen begründet, während die Moral das nicht tut. Dieser Unterschied mache es für die rechtliche Betrachtung erforderlich, strikt zwischen Sein und Sollen zu unterscheiden (vgl. etwa Hans Kelsen: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911, S. 41); während man hinsichtlich der autonomen Moral die faktische Zustimmung der Betroffenen als Geltungsgrund ansehen könnte, gilt für das Recht in der juristischen Betrachtung etwas Anderes: „der Grund der formalen Geltung des Gesetzes liegt doch gewiß nicht in diesem inneren
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man sie etwa folgendermaßen formulieren: Recht gilt unabhängig davon, ob ich es will, Moral weil ich selbst sie will. Betrachtet man diese Unterscheidung genauer, so erkennt man, daß hier lediglich verschiedene Geltungsbegriffe gegeneinander ausgespielt werden, insbesondere faktische und verbindliche Geltung. Das Recht erscheint als vorgefundene, tatsächlich zwingende Ordnung — also als etwas, was faktisch gilt — die Moral erscheint als diejenige Ordnung, die ich selbst für verbindlich halte, — also als etwas, was (für mich) verbindlich gilt. Wenn man das Recht unter dem Aspekt seiner ideellen Geltung als Ausdruck eines fremden Willens der Moral als Ausdruck meines Willens gegenüberstellt, kann man auch den Gegensatz von fremder und eigener Verbindlichkeit als Unterscheidung gewinnen. Da der in Betracht kommende fremde Wille der eines Gesetzgebers oder Souveräns ist, ergeben sich allerdings die oben (1.2121) diskutierten Probleme. Sofern man schließlich die Heteronomie nicht auf das Recht insgesamt sondern auf einzelne Rechtsnormen bezieht, kann man auch die verfassungsmäßige Geltung einzelner Rechtsnormen und die verbindliche Geltung der Moralnormen unter der Überschrift heteronom vs. autonom einander gegenüberstellen 185. Daraus ergibt sich, daß die UnterVerhältnis zur Volksüberzeugung, sondern in der äußeren Tatsache, daß es formell gültig erlassen wurde" (Kelsen S. 40). Kelsen will also das Recht durch seine besondere Geltungsart von der Moral unterscheiden. Es kann im Übrigen kaum zweifelhaft sein, daß diese Auffasung des Gegensatzes von Autonomie und Heteronomie der kantischen Tradition entspricht. Alle von Nef zitierten Autoren heben die besondere Bedeutung der Akzeptanz für die Moralität des Handelns hervor. Aber daß eine Moralnorm für mich nur gilt, wenn ich sie akzeptiere, bedeutet nicht, daß ich die Moralnorm setze. Kant jedenfalls kennt durchaus moralische Normen, die dem Individuum vorgegeben sind, die man jedoch anerkennen muß, um sie befolgen oder gegen sie verstoßen zu können (vgl. Metaphysik der Sitten, Einleitung zur Tugendlehre, A 28,29 — Was ist Tugendpflicht?). 185 Bei Kelsen (Hauptprobleme der Staatsrechtslehre S. 33-51) ist übrigens nicht vollkommen klar, ob er mehr auf die faktische Geltung des von der Zustimmung der Betroffenen unabhängigen Rechts abstellt (dafür spricht z.B. S. 40: „Während die Normen der Moral nur scheinbar von außen ihre Befehle an das Subjekt richten, nur durch den gedanklichen Prozeß der Objektivierung die gesetzgebende Autorität nach außen projiziert wid, geht der Rechtssatz unzweifelhaft von einer Macht aus, die von vornherein außerhalb des Individuums steht und welcher der Mensch unterworfen ist kraft der tatsächlichen, faktischen Herrschaft, die sie über ihn ausübt ohne Rücksicht auf seine Zustimmung, seinen Willen") oder ob die verfassungsmäßige Geltung des Rechts für ihn im Vordergrund steht (dafür spricht S. 47: „der formale Gegensatz von Sein und Sollen spiegelt sich umso ungetrübter in dem Verhältnis von Natur- und Rechtsgesetz, als der Begriff des Rechtsgesetzes ein rein formaler ist und Berücksichtigung von Seinsmomenten nicht zuläßt, ..."). Kelsen erkennt vollkommen zutreffend, daß der Übergang von der faktischen Geltung zur formalen (verfassungsmäßigen) Geltung auch einen Standpunktwechsel vom externen, erklärenden Standpunkt des Soziologen zum internen, anwendungsbezogenen Standpunkt des Juristen — wenn es denn dessen Standpunkt sein sollte — indiziert. Er scheint jedoch die Existenz des internen Standpunktes den Rechtsnormen gegenüber für eine auch extern betrachtet wichtige Tatsache zu halten, bleibt dafür aber letztlich die Begründung und den empirischen Nachweis schuldig.
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Scheidung von Recht und Moral als heteronom bzw. autonom letztlich weiter nichts besagt, als daß verbindliche Geltung dem Recht nicht wesentlich ist, das Wesen der Moral dagegen geradezu ausmacht. Die Berechtigung einer derartigen Unterscheidung ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Empirisch betrachtet, erscheint es sehr fraglich, ob das, was man gemeinhin unter Recht versteht, tatsächlich von Anerkennung gänzlich abgekoppelt ist. Selbst wenn man einräumt, daß Rechtsgeltung in geringerem Maße auf Anerkennung angewiesen ist als die Geltung von Moralnormen — wobei die Konkretisierung des geringeren Maßes von Anerkennung naturgemäß die Hauptschwierigkeit bildet 1 8 6 — kann man doch mit guten Gründen behaupten, daß jedenfalls ein gewisses Maß an Anerkennung notwendig ist, damit eine Ordnung als Rechtsordnung angesprochen werden kann. In der Rechtsphilosophie H . L . A . Harts etwa muß es einige Individuen geben, die dem Recht gegenüber einen internen Standpunkt im Wertungssinn einnehmen, damit man von einer Rechtsordnung sprechen kann 1 8 7 . Hart präzisiert insofern jedoch nur eine Anforderung, die beinahe als allgemeine Ansicht aller neueren Rechtsphilosophen angesehen werden kann 1 8 8 . Trotz der unbestreitbaren Schwierigkeiten, die praktisch alle Varianten der Anerkennungstheorie im Detail bereiten 189 , muß zumin186
Vgl. o. S. 148f. und u. S. 160f. Vgl. H.L.A. Hart: Der Begriff des Rechts, Frankfurt 1973 z.B. S. 142f. 188 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung Kelsens. In den Hauptproblemen der Staatsrechtslehre S. 346ff. profilierte er sich als scharfsinniger Kritiker der sog. Anerkennungstheorien. Die Konzeption der Grundnorm als einer bloß gedachten Deutungsvoraussetzung, die Kelsen erst in der Reinen Rechtslehre (a.a.O., Fn. 178) S. 196ff. deutlich entwickelte, stellt der Sache nach jedoch selbst eine Variante der Anerkennungstheorie dar (was freilich nicht ausdrücklich eingestanden wird). (Vgl. Arend Kulenkampff: Methodenfragen der Gerechtigkeitstheorie, in: Analyse und Kritik 1 (1979), S. 90-104, 94f.). I81 ' Vgl. dazu Lothar Kuhlen: Normative Konsequenzen selektiver Strafverfolgung, in: Klaus Lüderssen/Fritz Sack (Hrsg.): Seminar: Abweichendes Verhalten IV — Kriminalpolitik und Strafrecht, Frankfurt 1980, S. 30-43 m.w. Nachweisen. Nach Kuhlen ergibt sich für alle Anerkennungstheorien daraus ein Dilemma, daß sie einen Rechtsbegriff finden wollen, der gleichzeitig mit dem umgangssprachlichen Rechtsbegriff einigermaßen extensionsgleich ist und es erlaubt, die Kluft zwischen Recht und Moral zu leugnen. Plausibel finde ich diese Kritik nur hinsichtlich von Anerkennungstheorien, die es ausschließen, daß etwas als Recht anerkannt und zugleich für unmoralisch gehalten wird. Dies ist aber z.B. bei einer Anerkennungstheorie, nach der das Recht insgesamt anerkannt wird, hinsichtlich einzelner Rechtsnormen nicht der Fall. Ob insgesamt unmoralische Rechtsordnungen umgangssprachlich noch als Recht bezeichnet werden, erscheint mir bereits fraglich. In diesem Zusammenhang ist besonders zu beachten, daß es natürlich möglich ist, von einem externen Standpunkt im Wertungssinne aus eine insgesamt unmoralische Ordnung als Rechtsordnung zu bezeichnen, weil die dieser Normordnung Unterworfenen sie als Recht anerkennen. So hätte etwa ein Engländer über Nazi-Deutschland sagen können, daß dort eine durch und durch unmoralische Rechtsordnung bestehe, ohne daß sich daraus ein Einwand gegen die Anerkennungstheorie ergeben könnte. Ich habe den Verdacht, daß das von Kuhlen konstatierte Dilemma für einen Anerkennungstheore187
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dest festgehalten werden, daß kein Beispiel für eine gänzlich ohne Anerkennung wirksame Rechtsordnung, die wir als solche bezeichnen würden, existiert. Sicherlich ist es möglich, Recht und Moral mit Hilfe ihres Institutionalisierungsgrades zu unterscheiden, und Institutionalisierung bedeutet stets eine gewisse Verselbständigung normativer Strukturen gegenüber den aktuellen Wünschen, Bedürfnissen und Überzeugungen der Menschen. Ungeachtet der Tatsache, daß Recht in primitiven Gesellschaften vielleicht auch in nicht-institutionalisierter Form auftreten kann, und daß es durchaus auch moralische Institutionen gibt, ist doch unverkennbar, daß wir uns unter Recht etwas vorstellen, was mit Hilfe von Parlamenten, Gerichten, Gerichtsvollziehern und Gefängnissen oder ähnlichen Einrichtungen besonderer Art exekutiert wird, für die es im Bereich der Moral keine Entsprechungen gibt. Aber auch wenn für Recht faktische Geltung in größerem Maße bedeutsam sein sollte als für Moral, berechtigt das nicht zu dem Ümkehrschluß, daß etwas schon allein deshalb Recht ist, weil es faktisch gilt. Eine vertragstheoretische Rechtsbegründung würde z.B. zu dem Ergebnis führen, daß eine Institution dann eine Rechtsinstitution ist, wenn sie der notwendigen Durchsetzung allgemein akzeptierter Normen dient. Im Rahmen einer solchen Rechtsbegründung muß Recht auch — und zwar in doppelter Weise — verbindlich gelten: einerseits müssen Rechtsnormen von den Vertragspartnern als richtig angesehen werden, andererseits müssen die Vertragspartner darüber hinaus der Auffassung sein, daß es sich um Normen handelt, deren faktische Geltung institutionell gesichert werden soll. Folgt man dem, so liegt es nahe, weniger die faktische Geltung für sich genommen als Wesensmerkmal des Rechts anzusehen, als die von den Rechtsunterworfenen gewollte faktische Geltung, also eine — wie man vielleicht sagen könnte — verbindliche faktische Geltung. Empirisch liegt die Vermutung nahe, daß insbesondere solche Normen verrechtlicht werden, die für den Bestand einer Gesellschaft unverzichtbar sind, d.h. ein moralisches Minimum sowie moralisch neutrale, notwendige technische Regelungen (Rechtsfahrgebot etc.). Es ist ferner wahrscheinlich, daß einzelne Gruppen oder schwache Mehrheiten versuchen werden, ihre politischen Ziele mit rechtlichen Mitteln durchzusetzen. Der Grund, daß zu solchen Zwecken Rechtsnormen geschaffen werden, ist die ansonsten geringe Wahrscheinlichkeit entsprechenden Verhaltens. Regelmäßig findet man, daß Rechtsordnungen einen oft über sehr lange Zeiträume praktisch unveränderten allgemein akzeptierten Kern und einen mehr oder weniger großen, heiß umkämpften, problematischen Bereich aufweisen 190 . Die Möglichkeit tiker erst dann entsteht, wenn es seine eigene Anerkennung ist, ohne die etwas kein Recht sein kann. Dazu neigt naturgemäß wer an eine absolut gültige Wertordnung glaubt. ,yn Otto von Gierke: Recht und Sittlichkeit, Darmstadt 1963(1. 1916/17),S. lOvertritt die Ansicht, daß erst die gesellschaftliche Ausdifferenzierung von Recht und Moral den
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der gewaltarmen Durchsetzung umstrittener Normen mit Hilfe des Rechts ist Folge des Akzeptanzvorschusses, den die Rechtsinstitutionen aufgrund des akzeptierten Kernbereichs genießen. Bei der individuellen Bewertung einer Rechtsordnung wägen wir zwischen ihrem Nutzen und ihrem Schaden ab. Das Ergebnis wird wesentlich dadurch bestimmt, in welchem Maße wir Herrschaft für erforderlich halten, was uns als notwendiger und was uns als noch tragbarer Preis der erforderlichen Herrschaft erscheint. Dabei spielen unser Menschenbild, unsere gesellschaftliche Erfahrung, unsere historischen Annahmen, das Maß an Identifikation mit denjenigen, die von einer Ordnung profitieren oder ihre Opfer sind, und — sehr wesentlich — unsere Vorstellung davon, wie andere Menschen die Rechtsordnung bewerten 191 , sowie die Angst vor einem Ergebnis, das uns zum Widerstand verpflichten könnte, und viele andere Faktoren 1 9 2 eine Konflikt und damit den „Kampf ums Recht" hervorruft. Plausibler erscheint mir die Annahme, daß auch in Gesellschaften, in denen es keine institutionalisierte Trennung gibt, zischen einem unangefochtenen und einem umstrittenen Normbereich unterschieden werden kann. Da solche Gesellschaften im allgemeinen stark traditionsbestimmt sind und nur eine sehr geringe Dynamik aufweisen, fallt das lediglich nicht so auf. Im übrigen sei darauf hingewiesen, daß der unproblematische Kernbereich des Rechts oder der Moral nicht unbedingt als ein Bestand an ewig gültigen Normen angesehen werden muß. Es ist durchaus möglich, daß ursprünglich umstrittene Normen in den Kernbereich aufgenommen werden oder umgekehrt Normen aus dem Kernbereich zu umstrittenen werden. Derartige Vorgänge benötigen aber viel Zeit. Als Beispiel kann die Sklaverei dienen. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis sich die Überzeugung durchsetzte, daß Sklaverei schlecht ist. Inzwischen dürfte diese Überzeugung ebenso fest verankert sein, wie es in der Antike die gegenteilige war. Auch ursprünglich bloß technische Regelungen („Richtungsnormen") können durch gewohnheitsmäßige Akzeptanz in den Kernbereich des Rechts hineinwachsen (vgl. Marschall v. Bieberstein: Vom Kampf des Rechtes gegen die Gesetze, Stuttgart 1927, S. 127). 191 Vgl. Serge Moscovici/Philippe Ricateau: Konformität, Minderheit und sozialer Einfluß, in: Serge Moscovici (Hrsg.): Forschungsgebiete der Sozialpsychologie Bd. 1, Frankfurt 1975, S. 155ff. m.w. Verw.; Solomon E. Asch: Änderung und Verzerrung von Urteilen durch Gruppen-Druck, in: Martin Irle (Hrsg.): Texte aus der experimentellen Sozialspychologie, Neuwied/Berlin 1969, S. 57ff.; Wolfang Stroebe (Hrsg.): Sozialpsychologie Bd. 1: Interpersonale Wahrnehmung und soziale Einstellung, Darmstadt 1978 (WdF 369). ,y2
Zur Korrumpierbarkeit mit nachfolgender Einstellungsveränderung vgl. Jozef M. Nuttin Jr.: Einstellungsänderung und Rollenspiel, in: Serge Moscovici (Hrsg.) S. 103ff. In dem dort berichteten Experiment wurden Studenten aufgefordert, für das belgische Fernsehen ein Plädoyer zugunsten eines von ihnen abgelehnten Prüfungsverfahrens zu halten. Praktisch alle angesprochenen Studenten waren (unter den Bedingungen des Experimentes, von dem sie nichts wußten,) dazu bereit, das Plädoyer zu halten; anschließend standen sie dem Prüfungsverfahren weniger ablehnend gegenüber als zuvor. Eine Vergleichsgruppe schätzte die Wahrscheinlichkeit, daß ein Student zu einem derartigen Plädoyer bereit sein würde, auf weniger als ein Zehntel der tatsächlichen Wahrscheinlichkeit ein. Der „Versuchungscharakter" der experimentellen Bedingungen war allerdings stark (geschickte Versuchsleiterin, Bezahlung (gering), Prestige des Fernsehens, angeblich hatten schon zehn Studenten gegen das Prüfungsverfahren gesprochen, so daß eine Gegenstimme benötigt wurde).
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Rolle. Im Extremfall können wir zu der Beurteilung glangen, daß überhaupt keine Rechtsordnung (mehr) vorliegt. Von einem externen Standpunkt im Wertungssinn aus wird die Beantwortung der Frage, ob in einer Gesellschaft eine Rechtsordnung besteht oder nicht, davon abhängig gemacht werden müssen, wie die Mitglieder dieser Gesellschaft durchschnittlich darüber denken. Angesichts der glücklicherweise immer noch bestehenden Unmöglichkeit, große Völker zu unterdrücken, ohne daß eine zahlenmäßig erhebliche Gruppe aus Überzeugung oder um ihres eigenen Vorteils willen den Terror unterstützt, kann ein gewisses Maß an Anerkennung im allgemeinen schon aus der Stabilität eines Systems geschlossen werden. Ungeachtet dessen bleibt natürlich das Problem, wieviele Mitglieder einer Gesellschaft eine Ordnung als Rechtsordnung anerkennen müssen, damit wir sie vom externen Standpunkt im Wertungssinne aus als Rechtsordnung anzusehen haben, und was für Anforderungen an eine solche Anerkennung zu stellen sind — ob also z.B. eine auf Täuschung beruhende Anerkennung nicht zu berücksichtigen ist etc. Die Lösung dieses Problems kann vom externen Standpunkt im Wertungssinne aus nur nach empirischen Kriterien getroffen werden. Sie hängt von der Frage ab, ob sich die Annahme einer Rechtsordnung in Erklärungen von Entwicklungen der betroffenen Gesellschaft und von Handlungen ihrer Mitglieder bewährt 193 . Auch sofern man immer nur dann empirisch fruchtbar von einer Rechtsordnung ausgehen kann, wenn diese Ordnung in gewissem Maße anerkannt ist, folgt daraus noch nicht ohne weiteres, daß dieser empirische Zusammenhang von Recht und Anerkennung in den Rechtsbegriff aufgenommen werden muß. Es wäre auch denkbar, daß er Folge anderer Merkmale ist etwa derjenigen, die Lion L. Fuller unter der Überschrift „inner morality of the law" zusammenfaßt 194 . Eine abschließende Stellungnahme zu diesem schwierigen Problem ist hier nicht erforderlich. 193
Vom externen Standpunkt im Wertungssinn aus wird man z.B. der Ordnung des NS-Staates kaum wegen fehlender Anerkennung ihren Rechtscharakter absprechen können (äußerst instruktiv ist hierzu der Erlebnisbericht von Dieter Güstrow: Tödlicher Alltag — Strafverteidiger im Dritten Reich, Berlin 1981; vgl. aber auch Wolfgang Preiser: Über die Verwirklichung des Naturrechts in der Zeit der Gewaltherrschaft, aus: Festschrift für Fritz Hippel, Tübingen 1967. Beide Berichte von Gegnern des Nationalsozialismus zeigen, daß eine — vorsichtig gesagt — nicht unerhebliche Anzahl von Menschen das System anerkannte oder zumindest tolerierte). Zumindest in Teilbereichen mag jedoch das Maß an Willkür derartig groß gewesen sein, daß es aus diesem Grunde nicht mehr sinnvoll ist, von rechtlicher Regelung auszugehen lg4 Als deskriptiver Begriff hat Recht natürlich nur dann einen Wert, wenn Recht und Unrecht unterscheidbar sind. Als formelle Minimalbedingung wird dazu im allgemeinen verlangt (u.a.), daß rechtliche Regelungen zu einer gewissen Vorhersehbarkeit und Gleichförmigkeit staatlicher Reaktionen führen. (Solche und andere Minimalbedingungen, die sich aus dem Rechtsbegriff ergeben sollen, faßt Lion L. Fuller: The Morality of Law, Harmondsworth 1971 (1.1968) unter der Überschrift „inner morality of law" zusammen,
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Die hier in Rede stehende Unterscheidung von Recht und Moral nach ihrer Auto- bzw. Heteronomie erscheint nicht nur aufgrund des empirischen Zusammenhangs von Recht und Anerkennung problematisch sondern auch deshalb, weil ein in ähnlicher Weise dazu querstehender empirischer Zusammenhang zwischen Moral und Zwang besteht. Sofern man Moral überhaupt als ein empirisches Phänomen auffaßt — auch wenn man das tut, kann man noch zwischen faktischer und idealer Moral oder Ethik unterscheiden 195 — wird man kaum leugnen können, daß moralische Überzeugungen welcher Art auch immer, zumindest einen gewissen Erwartungsdruck ausüben, daß es keine Moral gibt, die nicht in gewissem Umfang sanktioniert ist 1 9 6 . Auch insoweit muß natürlich nicht die Folgerung gezogen werden, daß deshalb der empirisch immer auch vorhandene Zwangscharakter von Moral in den Moralbegriff aufgenommen werden muß. Der kantische Moralbegriff kann als der Versuch einer Rekonstruktion des umgangssprachlichen Moralbegriffes aufgefaßt werden. Das, was Kant als die Autonomie der Moral ansieht, ist zumindest als Tendenz im umgangssprachlichen Moralbegriff angelegt 197 . Die Begriffe des Individuums und seines Gewissens sind in einer einflußreichen und sicherlich im Bewußtsein Vieler verankerten philosophischen Tradition, die von Sokrates über die Stoa und Luther bis zu Kant und über ihn hinaus reicht, geradezu auf Autonomie hin konstruiert. Dennoch fragt es sich, ob eine allein in dieser Tradition stehende Rekonstruktion des umgangssprachlichen Moralbegriffes nicht eine andere ähnlich geschichtsmächtige, gerade die Abhängigkeit des Individuums von der Gesellschaft betonende Tendenz (Rousseau, Marx) allzusehr außer acht läßt. Der Kantische Moralbegriff ist doch am psychologischen Alltagswissen gemessen reichlich abstrakt 198 . Auch insoweit bedarf es hier jedoch keines abschließenden Urteils. da sie seiner Ansicht nach bestimmte extreme Formen des Unrechts ausschließen. Nach Ansicht Fullers besteht darüber hinaus ein empirischer Zusammenhang derart, daß die Einhaltung des formalen Erfordernisses des Rechts tendenziell gerechte Zustände begünstigt, bzw. solche Zustände voraussetzt). Jemand kann gleichzeitig die Forderungen der Bergpredigt für gültige moralische Ideale halten und für den Alltagsgebrauch einen weniger anspruchsvollen moralischen Standard bereit haben. Das eine ist das, was eigentlich richtig wäre, das andere das, was man auch unter Berücksichtigung der menschlichen Schwäche verlangen kann. ,y6 Das ist nicht nur empirisch so, sondern folgt bereits aus dem pragmatischen Sinn von „Norm". Normen, deren Einhaltung oder Verletzung gänzlich konsequenzlos bliebe, wären als präskriptive Normen nutzlos. Wenn es für mein Handeln keinen Unterschied bedeutete, ob ich bestimmte Wertungen vornehme oder nicht, könnte ich auf Wertungen überhaupt verzichten. 1,7 Wir bezeichnen eine Handlung vorzugsweise als moralisch gut, wenn der Handelnde nicht nur im Ergebnis gut gehandelt hat, sondern dies auch aiis guten Beweggründen tat. Ein Handeln aus Pflicht kommt in unseren Alltagstheorien ebensowenig wie in Wirklichkeit vor. Wir sind offenbar recht gut in der Lage, so etwas wie einen vielleicht faulen, aber jedenfalls praktischen Kompromiß zwischen Verantwortlichkeit und Deter-
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Schließlich kann man noch die Frage aufwerfen, ob die Begriffe von Recht und Moral nicht so gebildet werden sollten, daß die hier besprochene Unterscheidung zutrifft. Diese normative Variante der Unterscheidung wäre allerdings angesichts der angedeuteten Abweichung vom normalen Sprachgebrauch in besonderem Maße begründungsbedürftig. Ohne dies hier im Detail erörtern zu können, möchte ich anmerken, daß mir sowohl bei Kants Moralbegriff als auch bei Kelsens Rechtsbegriff der Gewinn an theoretischer Übersichtlichkeit durch den Verlust an praktischer Bedeutung reichlich hoch bezahlt zu sein scheint 199 .
1.222 Unterschiedliche Geltungsgründe einzelner Rechts- bzw. Moralnormen Die Unterscheidung von Recht und Moral nach ihren Geltungsgründen muß sich — wie eingangs schon erwähnt — nicht unbedingt auf die Geltung ι von Recht und Moral als Normenkomplexen beziehen, sondern kann auch auf die Geltungsgründe der einzelnen Rechts- bzw. Moralnormen abstellen. Sofern die Geltungsgründe von Recht und Moral als Normenkomplexen immer auch zugleich die Geltungsgründe der einzelnen diesen Komplexen angehörenden Normen wären, würden sich weitere Erörterungen erübrigen. Es könnte jedoch sein, daß z.B. Recht und Moral als Normenkomplexe nur faktisch gelten, und zugleich die einzelne Rechtsnorm verfassungsmäßig gilt, während im Gegensatz dazu moralische Einzelnormen auch nur faktisch gelten. Dieses, wiederum der Deutlichkeit halber, sehr grobe Beispiel zeigt, welche Art von Unterscheidungen nach dem Geltungsgrund hier noch zu besprechen ist. Es geht um die Frage, ob sich Recht und Moral unabhängig davon, weshalb sie als Normenkomplexe gelten, in den Geltungsgründen ihrer einzelnen Normen unterscheiden. Eine naheliegende Differenzierung könnte sich insoweit daraus ergeben, daß die verfassungsmäßige Geltung zumindest auf den ersten Blick etwas für das Recht sehr Typisches zu sein scheint, während man im Zusammenhang mit Moral wohl kaum von verfassungsmäßiger Geltung sprechen würde. Das könnte eine Formulierung nahelegen wie: Recht und Moral unterscheiden sich dadurch, daß die Normen des Rechts verfassungsmäßig gelten, die der Moral nicht. So plausibel eine solche These auf den ersten Blick erscheint, ist sie doch einigen Bedenken ausgesetzt. Zunächst einmal bedeutet „Verfassungsmäßigkeit" einer Norm, wenn der Begriff zur allgemeinen miniertheit zu schließen. Die Strafbemessungspraxis, die unter der grundsätzlichen Voraussetzung der Verantwortlichkeit des Täters alle möglichen schulderschwerenden oder erleichternden Faktoren berücksichtigt, dürfte ein recht getreues Abbild der commonsense-Einstellung zu diesen Problemen sein. 11)9 Zur Frage der Angemessenheit einer Unterscheidung von Recht und Moral vgl. u. 2.
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Beschreibung von Normenkomplexen verwandt wird, nichts weiter als daß ein gewisser hierarchischer Zusammenhang zwischen den Normen eines Komplexes besteht. Eine Norm gilt dann verfassungsmäßig, wenn sie sich entweder aus anderen Normen des Normenkomplexes, die ihrerseits verfassungsmäßig gelten, ableiten läßt, oder von einer Instanz gesetzt wurde, die dazu durch eine verfassungsmäßig geltende Norm ermächtigt ist. Verfassungsmäßige Geltung kann also nur bei Normenkomplexen auftreten, in denen eine Anzahl von Normen als „Verfassung", d.h. als einer Geltungsableitung nicht bedürftig, aufgefaßt werden, und die Geltung der übrigen Normen auf diese Verfassung zurückgeführt wird. Es ist nun weder vollkommen klar, ob alle Rechtssysteme sich so beschreiben lassen, noch ob die Moral einer solchen Beschreibung nicht genügt. Selbst das auf dem Grundgesetz als einer geschriebenen Verfassung aufbauende deutsche Rechtssystem weist in seiner Wirklichkeit Züge auf, die es zweifelhaft erscheinen lassen können, ob der Begriff der verfassungsmäßigen Geltung ein sehr wirksames deskriptives Werkzeug ist. Es gibt nämlich sowohl bei der Kompetenzabgrenzung normsetzender Instanzen als auch bei den inhaltlichen Anforderungen der Verfassungsmäßigkeit recht erhebliche Unklarheiten und Spielräume. In jüngerer Zeit wurde z.B. mehrfach dem BVerfG vorgeworfen, es maße sich gesetzgeberische Kompetenzen an 21)(l . Die Entscheidungen, auf die dieser Vorwurf sich bezieht, sind durch sehr vage Denkfiguren wie die „Wertordnung des Grundgesetzes" ermöglicht worden 2 0 1 . Zwar kann man sagen, daß die notgedrungen politische Konkretisie2nn Vgl. z.B. Wolfgang Däubler/Gudrun Küsel (Hrsg.): Verfassungsgericht und Politik — Kritische Beiträge zu problematischen Urteilen, Reinbek 1979; hinsichtlich des dort nicht gesondert besprochenen Urteils zur Fristenlösung vgl. die Hnweise in Fn. 48 meines Aufsatzes „Abtreibungsverbot und Grundgesetz (BVerfGE 39, Iff.)" in: Klaus Lüderssen /Fritz Sack (Hrsg.): Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften für das Strafrecht, 2. Teilband, Frankfurt 1980, S. 333-386, 379. 201 Vgl. Helmut Goerlich: Wertordnung und Grundgesetz — Kritik einer Argumentationsfigur des Bundesverfassungsgerichts, Baden-Baden 1973. Goerlich kommt zu dem Ergebnis, daß man auf Argumentationen mit der Wertordnung ihrer Beliebigkeit wegen verzichten sollte (S. 187). Zur Rolle der „objektiven Wertordnung" in der Abtreibungsentscheidung vgl. meinen Aufsatz S. 338 mit w. Verw. Erhard Denninger: Staatsrecht 2, Reinbek 1979, S. 200 erwähnt in einem vergleichbaren Zusammenhang folgende „vielfältig valutierbare, abstrakte Formeln und Kategorien: der Rekurs auf die „fundamentalen Ordnungsprinzipien des Grundgesetzes" (BVerfGE 42, 64ff. 73). In dieser Entscheidung ging es um die richterliche Hinweispflicht gem. § 139 ZPO bei einer Zwangsversteigerung wegen Auflösung der bis zur Scheidung bestehenden Gütergemeinschaft zweier Ehegatten. Da die Frau die Bedeutung des Geschehens nicht begriff, ersteigerte der Mann das zum Gesamtgut gehörende Hausgrundstück für einen Spottpreis. Die gegen den Zuteilungsbeschluß gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg, H.G.) oder auf das allgemeine „Willkürverbot" des Art. 3 Abs. 1 GG.. anstelle speziell einschlägiger Grundrechte, die „stete Orientierung am Gerechtigkeitsgedanken" und „ähnliche Leerformeln ... ", hält allerdings einen „relativ hohen argumentativen Spielraum" des Gerichts zur Erfüllung seiner Aufgaben für nötig. Insoweit die genannten Leerformeln dazu dienen, einen Bereich zu umreißen, innerhalb dessen das BVerfG frei argumentieren kann, halte ich diese
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rung der Verfassung dem Bundesverfassungsgericht eben gerade zugewiesen ist, und daß dementsprechend der Grundsatz der Gewaltenteilüng gewisse Einschränkungen erfährt 202 . Aber wenn — allgemein gesprochen — die Grenze von Rechtsanwendung und Rechtspolitik nicht scharf gezogen werden kann, dann bedeutet das auch, daß es einen Bereich gibt, innerhalb dessen die Normsetzungsbefugnis nicht eindeutig einer bestimmten Instanz zugewiesen ist. Innerhalb dieses Bereiches können konkurrierende Normen mit dem Anspruch auf verfasungsmäßige Geltung auftreten, und es ist eine Frage der tatsächlichen Verhältnisse, welche Normen sich durchsetzen werden. Das Modell der hierarchischen Rechtsordnung, das dem Begriff der verfassungsmäßigen Geltung zugrundeliegt, ist insoweit in seinem Erklärungswert eingeschränkt; die Geltungsableitung von Rechtsnormen ist teilweise nur eine Darstellungsform, die mit vagen oder sogar leeren Prämissen arbeitet. Es sind keineswegs nur die „politischen Entscheidungen" des Bundesverfassungsgerichts, die die Annahme nahelegen, daß die Rechtssetzungskompetenz im deutschen Rechtssystem in gewissem Maße der rechtlich nicht erfaßbaren politischen Konkurrenz unterliegt. Für diese Annahme sprechen auch Undeutlichkeiten in der Kompetenzzuweisung an Bund und Länder 2 0 3 , Bundestag und Bundesrat 204 sowie Beispiele erfolgreicher contra legem Ansicht für zutreffend, nicht jedoch insoweit diese Leerformeln eine detaillierte Argumentation ersetzen. Interessant in diesem Zusammenhang BVerfGE 39, 334ff. C III 3 wo ein Verstoß beamtenrechtlicher Vorschriften, nach denen ein Bewerber jederzeit die Gewähr bieten muß, zum Eintreten für die freiheitlich demokratische Grundordnung bereit zu sein, gegen Art. 3 III GG unter Hinweis auf den „Gesamtzusammenhang der Verfassung", aus dem heraus Art. 3 III GG ausgelegt werden müsse, verneint wurde. Kritisch dazu Wulf Damkowski: Radikale im öffentlichen Dienst, Recht im Amt 1976, S. 1-12, 4. In diesen Zusammenhang gehört auch die mit den Stichworten „Gemeinschaftsvorbehalt" und „immanente Schranken" umrissene Problematik. Vgl. zum Problemkomplex Erhard Denninger: Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer H. 37 (1979), S. 7-51, hier: S. 11-14 „Die Grundwerte-Diskussion"; Dimitris Th. Tsatsos: Einführung in das Grundgesetz, Stuttgart 2 etc.2 01976, S. 157-161. Denninger: Staatsrecht 2, S. 198-201; Martin Hirsch: Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsgerichte in der Bundesrepublik Deutschland sowie in anderen Staaten, in: Däubler/Küsel (Hrsg.): Verfassungsgericht und Politik, S. 179-190. Vgl. Zur Gesetzgebungskompetenz Klaus Stern: Staatsrecht I, München 1977, III 3 19, S. 511. Problematisch ist z.B., daß das Bedürfnis nach einer bundesgesetzlichen Regelung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung vom BVerfG als Ermessensfrage angesehen wird: Vgl. ferner Denninger Staatsrecht 2, S. 111. Probleme gibt es natürlich auch im Bereich der Verwaltungskompetenz der Länder und im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung (Stern § 12 (Kommunale Selbstverwaltung) u. § 19 III 3 c (Zuständigkeitsverteilung auf dem Gebiet der vollziehenden Gewalt) m.w. Nachw.); Albert v. Mutius: Sind weitere rechtliche Maßnahmen zu empfehlen, um den notwendigen Handlungs- und Entfaltungsspielraum der kommunalen Selbstverwaltung zu gewährleisten? 53. Deutscher Juristentag, Berlin 1980, Gutachten E. 21,4 Z.B. im Falle der Änderung eines Zustimmungsgesetzes, vgl. BVerfG NJW 1974, S. 1750-1761.
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Rechtsprechung 205 . Wenn dies bereits bei einem Rechtssystem, das auf einer geschriebenen Verfassung beruht, und also auf das hierarchische Modell der Rechtsordnung hin konstruiert ist, dazu führt, verfassungsmäßige Geltung als eine juristische Fiktion mit beschränktem Erklärungswert aufzufassen, erscheint es erst recht problematisch, verfassungmäßige Geltung der einzelnen Rechtsnormen als spezifisches Merkmal aller Rechtsordnungen anzusehen. Bei Rechtsordnungen ohne geschriebene Verfassung 206 wird man meist feststellen, daß das, was man die ungeschriebene Verfassung einer solchen Ordnung nennen könnte, sich erst als Produkt einer verfassungsmäßige Geltung der wirklichen Verhältnisse fingierenden Rekonstruktion ergibt: Was für eine Verfassung müßte es in England geben, damit die englische Rechtswirklichkeit als verfassungsgemäß angesehen werden könnte? Selbst wenn der Begriff der verfassungsmäßigen Geltung im Rahmen empirischer Erklärungen der Rechtswirklichkeit nur von eingeschränktem Erklärun^swert wäre, könnte sich das Recht doch dadurch von der Moral unterscheiden, daß im Rechtsbegriff der Gedanke der verfassungsmäßigen Geltung enthalten ist. Juristen haben anscheinend eine schwer widerstehliche Neigung, Recht als ein in hohem Maße abgeschlossenes System zu rekonstruieren und entwickeln beachtliche Phantasie, wenn es darum geht, eine ihrem Systemdenken widersprechende Wirklichkeit so zu deuten, daß wieder alles seine Ordnung hat. Auch wenn man annimmt, daß Recht schon begrifflich ein Normen.syste/w und nicht nur ein Noxmznkomplex ist, ergibt sich allerdings eine Abgrenzung zur Moral nur dann, wenn es sich dort anders verhält. Das aber erscheint höchst zweifelhaft. Das Systematisierungsstreben von Ethikern ist dem von Juristen jedenfalls ebenbürtig, das, was man als faktische Moral bezeichnen kann, läßt sich ganz ähnlich Wiedas Recht als System rekonstruieren. Als Handelnde bemühen wir uns im allgemeinen um die Einhaltung einer „geraden Linie" und unabhängig davon, ob uns das gelingt, tendieren wir dazu, uns ein Selbstbild zu machen, nach dem unsere Handlungen derart mit unseren Zielen und Lagebeurteilungen verknüpft waren, daß sie als rationales Verhalten einer im Handeln jeweils vorausgesetzten kontinuierlichen Person erscheinen. Systemdenken ist ein generelles Phänomen im Bereich von Handlung, vielleicht universell, vielleicht an einen bestimmten historischen Individualitätsbegriff gebunden, ist es jedenfalls kein Spezifikum des Rechtsdenkens. Daraus ergibt sich schon, daß auch die normative Frage, ob nicht Recht im Gegensatz zur Moral als hierarchisches System vorgestellt werden sollte, falsch gestellt ist. Wenn es Gründe dafür gibt, im Bereich des Rechts am 2 5
" Vgl. o. Fn. 156. Wie z.B. der englischen. Vgl. Dieter Blumenwitz: Einführung in das AngloAmerikanische Recht, 2. Aufl. München 1976, S. 16ff.; Herbert Morrison: Regierung und Parlament in England, München 1966 (1. Engl. Oxford 1954). 2,16
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Begriff der verfassungsmäßigen Geltung festzuhalten, dann gibt es solche Gründe auch im Bereich der Moral. Es spricht sogar Vieles dafür, daß es in beiden Fällen dieselben Gründe sind, nämlich Erhaltung oder Ausfluß der fiktiven oder wirklichen Konsistenz der Persönlichkeit, aus denen heraus mit Hilfe des Begriffs der verfassungsmäßigen Geltung die Einheit normativer Ordnungen herzustellen versucht wird und vielleicht auch werden soll. 1.22
Zusammenfassung
Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, Recht und Moral nach ihren Geltungsgründen zu unterscheiden. Recht und Moral können als Normenkomplexe faktisch und ideel gelten. Innerhalb der ideellen Geltung läßt sich wiederum je nach dem mit einer Geltungsbehauptung verbundenen Anspruch zwischen einfacher ideeller Geltung, verbindlicher Geltung und absoluter Geltung unterscheiden. Hinsichtlich jeder dieser verschiedenen Arten von Geltung kann es unterschiedliche Gründe geben, aus denen heraus Recht und Moral gelten. Als spezifischer Grund der faktischen Geltung von Recht kommt z.B. eine hinter dem Recht stehende Macht in Betracht aber auch eine besondere Art der Anerkennung. Vermutlich muß man sowohl hinsichtlich von Recht als auch von Moral zur Erklärung ihrer faktischen Geltung eine Vielzahl auf komplizierte Weise zusammenwirkender Faktoren heranziehen. Im Bereich der ideellen Geltung von Recht und Moral können sich Unterscheidungen daraus ergeben, daß unterschiedliche Gründe dafür angegeben werden, weshalb etwas als Recht oder Moral gelten soll. Verpflichtungen sich selbst gegenüber wird man z.B. — sofern man sie annimmt — kaum zu Rechtssätzen erheben wollen. Die Überzeugung von der Richtigkeit einer Norm reicht noch nicht aus, um auch zu behaupten, daß sie als Rechtsnorm gelten soll oder sogar gilt. Die bereits insoweit mögliche Vielfalt der Unterscheidungen erlaubte es nicht, einzelne Unterscheidungsmöglichkeiten zu diskutieren (1.221). Recht und Moral können nicht nur danach unterschieden werden, aus welchen Gründen sie in der einen oder anderen Hinsicht gelten, sondern auch danach, in welcher Weise diese unterschiedlichen Geltungen voneinander abhängen, und danach, ob bestimmte Arten von Geltung für Recht und Moral eine besondere Rolle spielen. Die Möglichkeit einen der beiden Normenkomplexe als absolut gültig auszuzeichnen wurde aus begrifflichen Überlegungen heraus verworfen (1.2211). Die verschiedenen möglichen Beziehungen unterschiedlicher Geltungsmodi bei Recht und Moral konnten lediglich angedeutet werden (1.2212). Auch insoweit scheint die Möglichkeit von Unterscheidungen zu bestehen. Die Diskussion der überwiegend in diesen Zusammenhang gehörenden Unterscheidung von Recht und Moral als heteronomen bzw. autonomen Normenkomplexen (1.2213) belegt jedoch, daß einfache Lösungen kaum überzeugen dürften. Schließlich wurde auf die Möglichkeit hingewiesen, Recht und Moral danach zu unterscheiden, weshalb die einzelnen Normen dieser Komplexe gelten. Von exemplarischem Interesse war in diesem Zusammenhang das Problem, ob das Recht sich dadurch von der Moral unterscheidet, daß seine Normen verfassungsmäßig gelten. Auch insoweit ergaben sich jedoch erhebliche Bedenken.
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Alles in allem kann festgestellt werden: Viele Unterscheidungen von Recht und Moral nach ihrem Geltungsgrund sind denkbar. Eine begründete Wahl zwischen diesen Möglichkeiten oder auch die Feststellung, daß keine von ihnen in Betracht kommt, setzt ausführliche Überlegungen zu den Angemessenheitskriterien einer Unterscheidung von Recht und Moral voraus. Vom umgangssprachlichen Rechtsbegriff und einfachen empirischen Überlegungen aus, erscheint zumindest in deskriptiver Hinsicht das Verhältnis der Geltungsgründe von Recht und Moral derart verwickelt, daß es keine unmittelbar einleuchtende Unterscheidung nach den Geltungsgründen gibt.
1.23 Der Regelungsgegenstand der Normen Recht und Moral nach ihrem Regelungsgegenstand zu unterscheiden, ist immer wieder versucht worden 2 0 7 . Zwei Gegenüberstellungen spielen in der traditionellen Diskussion eine besondere Rolle. Nach der ersten und wichtigeren bezieht sich Recht auf äußere Handlungen und Moral auf innere Gesinnung (1.231), nach der zweiten regelt das Recht das Gemeinschaftsleben, die Moral das Individualleben (1.232). Diese beiden Möglichkeiten schöpfen das Reservoir an denkbaren Unterscheidungen mit Hilfe des Regelungsgegenstandes nicht aus. Möglichkeiten wie die Differenzierung nach den geregelten Rollen spielen vornehmlich in neueren soziologischen Theorien eine beachtliche Rolle. Sie lassen über unterschiedliche Bestimmungen der geregelten Rollen eine Vielfalt von Abgrenzungen zu (1.233).
1.231 Äußere Handlungen — innere Gesinnung 208 Der Unterschied zwischen Gesinnung und Handlung kann selbst auf verschiedene Weise bestimmt werden. Eine genauere Diskussion führt sogleich zu den mit den Begriffen Handlung und Absicht (Intention) verknüpften Schwierigkeiten 209 . Einerseits können Handlungen als beabsichtigtes (intendiertes) Verhalten definiert werden, andererseits muß das Haben einer Absicht (das Beabsichtigen) selbst womöglich als eine Art innerer : 7 " Vgl. dazu Hans Nef: Recht und Moral in der Deutschen Rechtsphilosophie seit Kant, St. Gallen 1937, S. 17-35 mit Nachweisen. :nK Vgl. dazu Nef S. 17-32. 2(W Die Literatur zur Problematik des Handlungsbegriffes ist außerordentlich umfangreich. Als Einleitung und Übersicht sehr brauchbar ist: Georg Meggle (Hrsg.): Analytische Handlungstheorie Bd. 1 — Handlungsbeschreibungen, Frankfurt 1977, Ansgar Beckermann (Hrsg.): Analytische Handlungstheorie Bd. 2 — Handlungserklärungen, Frankfurt 1977. In dem von Meggle herausgegebenen Band ist ein umfangreiches Literaturverzeichnis enthalten. Auf Einzelheiten kann in unserem Zusammenhang natürlich nicht eingegangen werden.
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Handlung angesehen werden. Problematisch ist nun, wie innere und äußere Handlungen voneinander abzugrenzen sind. Das Problem in unserem Zusammenhang besteht darin, daß nicht ohne weiteres klar ist, was es heißt, wenn man sagt, daß die Moral Gesinnungen fordere oder gar regele. Für Forderungen gilt der Satz „nemo ultra posse obligatur", gefordert werden kann also sinnvollerweise nur ein Verhalten, das demjenigen, an den die Forderung gerichtet ist, auch möglich ist 2 1 0 . Wenn man sagt, daß die Moral bestimmte Gesinnungen fordere, dann unterstellt man, daß es — soweit solche Forderungen aufgestellt werden — möglich ist, sich für bestimmte Gesinnungen zu entscheiden. Nur wenn es im Ermessen des Normadressaten liegt, selbst zu entscheiden, welche Gesinnung er haben will, kann eine bestimmte Entscheidung sinnvoll gefordert werden. Wenn es so etwas, wie die Wahl einer bestimmten Gesinnung überhaupt gibt, dann könnte man diese Wahl als eine innere Handlung betrachten. Gewöhnlich versteht man unter „Gesinnung" allerdings wohl eher etwas, was man einfach hat, und in Bezug auf das eine Wahl nicht möglich ist. Betrachten wir den in der grammatischen Form eines Imperativs auftretenden Satz „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!". Nur wenn man sich dafür entscheiden kann, jemanden zu lieben, ist dieser Imperativ sinnvoll. Aber kann man sich dafür entscheiden? Wenn es darum geht, in sich Liebesgefühle dem Nächsten gegenüber zu erzeugen, dann kann allenfalls Autosuggestion zu gewissen Erfolgen führen. Diese Erfolge sind stets gefährdet und reichen nicht sehr weit. Eine Forderung, die darauf hinausliefe, daß man sich selbst etwas vormachen solle, würde eine bestimmte innere Handlung verlangen, und zwar eine, die als Substrat der Moral zu postulieren — milde ausgedrückt — eine fremdartige Moralvorstellung voraussetzen würde. Wird eine derartige Forderung dazu noch von außen erhoben und gleichzeitig mit der Kautele versehen, daß sie „freiwillig" erfüllt werden müsse, dann handelt es sich außerdem um eine „paradoxe Handlungsaufforderung" 211 . Man wird kaum unterstellen dürfen, daß Kant, auf den die Unterscheidung von Recht und Moral mithilfe des Begriffspaares Handlung und Gesinnung wesentlich zurückgeht 212 , unter Moral (er sagte „Ethik") derartige 2,0
Vgl. o. 1.12. Zum Begriff der „paradoxen Handlungsaufforderung" vgl. P. Watzlawick/J.H. Beavin/D.D. Jackson: Menschliche Kommunikation, 2. Aufl. Berlin etc. 1971, S. 184f. Die Paradoxie besteht im Beispiel darin, daß Freiwilligkeit gefordert wird. 212 Kant seinerseits knüpfte an Christian Thomasius an (Vgl. Hendrik Jan von Eikema Hommes: Law and positive morality, in: Festschrift Schelsky, Berlin 1978, S. 133-140; Karl Engisch: Recht und Sittlichkeit in der Diskussion der Gegenwart, in: Festschrift M. Schmaus, München/Paderborn/Wien 1967, Bd. 2, S. 1743-1760, 1746\ ders,: Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, München 1971, S. 85ff.). Die Unterscheidung findet sich 211
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Forderungen verstanden hat. I n seiner „Einleitung in die Rechtslehre" grenzt Kant Recht und Moral folgendermaßen gegeneinander ab: Recht sei „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereint werden k a n n " 2 1 3 , das Recht erlaube also jedem, sich beliebige Zwecke zu setzen, es bestimme aber die Bedingungen für die Verfolgung dieser Zwecke. Dagegen sage die Ethik, welche Zwecke man sich setzen soll 2 1 4 . W i l l man die kantische Abgrenzung vor der oben skizzierten und als Inhaltsbestimmung der Moral wenig plausiblen Konsequenz bewahren, moralische Gebote forderten, daß man bestimmte Gefühle habe, die man tatsächlich nicht hat, so bietet sich als Ausgangspunkt eine zweite Deutung des Gebots der Nächstenliebe an: Handele so, als ob du deinen Nächsten liebtest wie dich selbst! 215 Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß bei dieser Interpretation wiederum ein äußeres Verhalten gefordert wird. Das scheint sie innerhalb einer Abgrenzung von Recht und Moral als Regelung äußeren und inneren Verhaltens unbrauchbar zu machen. Aber wenn man sich an die Formulierung hält, nach der die Ethik vorschreibt, welche Zwecke man sich setzen soll, so verschwindet dieser Eindruck. Das auf ein bestimmtes äußeres Verhalten gerichtete Gebot der Nächstenliebe kann durchaus auch als die Bestimmung eines Zieles gedeutet werden. Mache dir zum Ziel, dich so zu verhalten, als liebtest du deinen Nächsten wie dich selbst! Und ein solches Ziel kann man sich aus vielerlei Gründen setzen ganz unabhängig davon, wie man seinem Nächsten gegenüber tatsächlich empfindet. Betrachtet man als den Inhalt moralischer Gebote, daß man sich bestimmte Ziele setzen solle, so kann man sagen, daß derartige Normen jedoch auch schon bei Thomas Hobbes: Vom Menschen — Vom Bürger, Hamburg (Meiner) 1959, S. llOff. (Vom Bürger Kap. 3, Nr. 27-31). :n Immanuel Kant: Die Metaphvsik der Sitten — Einleitung in die Rechtslehre, Königsberg 1797, A 33. 214 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten — Einleitung zur Tugendlehre, Königsberg 1797, A 5. Vgl. auch die knappe und präzise Darstellung der kantischen Theorie bei Nef (a.a.O.), S. 17-19. Kants eigene Lösung des Problems geht zumindest in diese Richtung, wenn er in der Tugendlehre § 25 ( A 118) sagt: „DicLiebe wird hier aber nicht als Gefühl (ästhetisch), d.i. als Lust an der Vollkommenheit anderer Menschen, nicht als Liebe des Wohlgefallens, verstanden (denn Gefühle zu haben, dazu kann es keinen Verpflichtung durch andere geben), sondern muß als Maxime des Wohlwollens (als praktisch) gedacht werden, welche das Wohltun zur Folge hat". In § 27 heißt es dann: „Die Maxime des Wohlwollens (der praktischen Menschenliebe) ist aller Menschen Pflicht gegen einander; man mag diese nun liebenswürdig finden oder nicht, nach dem ethischen Gesetz der Vollkommenheit: Liebe deinen Nebenmenschen als dich selbst" (A 121). Problematisch wird dann allerdings die Bestimmung des Inhalts dieser Handlungspflicht. In diesem Zusammenhang unterscheidet Kant zwischen dem Wohlwollen des Wunsches und dem praktischen Wohltun. Die allgemeine Menschenliebe ist nur ersteres, also „eigentlich ein bloßes Wohlgefallen am Wohl jedes anderen " (A 122) — und somit wohl doch wieder nur ein Gefühl.
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einen bestimmten Bereich des „inneren Verhaltens" regeln, nämlich den Bereich der Zielsetzung oder normativen Überzeugungsbildung. Es liegt auf der Hand, daß für eine Regelung dieses Bereiches nur Raum ist, wenn die Menschen auch insoweit frei sind. Insofern Kants Moralphilosophie als angemessene Rekonstruktion eines existierenden Sprachgebrauchs angesehen werden kann, setzt dieser Sprachgebrauch die Freiheit im Bereich der normativen Überzeugungsbildung begrifflich voraus. Ob ein solcher Sprachgebrauch angesichts der empirischen Wirklichkeit berechtigt ist, läßt sich nicht sinnvoll prüfen, denn im Rahmen jeder derartigen Prüfung müßte notwendigerweise vorausgesetzt werden, daß jedenfalls derjenige, der sie vornimmt, die gerade zu überprüfende Willensfreiheit im Bereich normativer Überzeugungsbildung besitzt. Wer danach fragt, ob man so sprechen sollte, als seien die Menschen in ihrer normativen Überzeugungsbildung frei, kann dies sinnvoll nur tun, wenn er die Möglichkeit unterstellt, sich selbst den Ergebnissen seiner Untersuchung entsprechend zu verhalten 216 . Wie diese Überlegungen schon zeigen, bedeutet Freiheit im Bereich normativer Überzeugungsbildung nicht Willkür sondern die Fähigkeit, sich begründet zu entscheiden. Empirische Daten jeder Art können als Gründe in derartige Entscheidungen eingehen. Zu diesen Daten gehören auch z.B. Gefühle, die jemand tatsächlich hat. Insofern sie Gründe für normative Entscheidungen darstellen, können Gefühle und Triebregungen das Ergebnis eines normativen Entscheidungsprozesses auch determinieren. Dennoch macht es einen Unterschied, ob Gefühle und Triebe das Verhalten unmittelbar bestimmen, oder ob ein Verarbeitungsprozeß zwischengeschaltet ist. Die Fähigkeit eines Systems, sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen, und d.h. die Fähigkeit, rational zu handeln, wird dadurch beträchtlich erhöht. Eine so verstandene Willensfreiheit ist nicht metaphysisch und steht insbesondere der prinzipiellen Erklärbarkeit menschlichen Verhaltens nicht im Wege. Sie läßt sogar naturalistische Ethik-Konzeptionen zu. In Anlehnung an die kantische Lehre können wir also zu folgendem Moralbegriff kommen: Erstens gibt es eine moralische Fundamentalnorm „Entscheide dich vernünftig und verhalte dich deiner Entscheidung entsprechend!", zweitens kann alles Verhalten als moralisch angesehen werden, das die Befolgung einer Norm darstellt, für die man sich vernünftig entschieden hat. Da nach Kant Vernunftgründe dazu führen, nur den kategorischen Imperativ als allgemein-verbindliche Grundlage der Gesetzgebung zu akzeptieren, und da das Recht zumindest seiner Idee nach eine, wenn nicht sogar die praktische Verwirklichung des kategorischen Imperativs ist, ergibt sich das Recht als ein oder sogar der Inhalt der Moral. Möglicherweise muß man nicht so weit gehen wie Fries, der Moralität als den Willen zur Legalität 2,6
Vgl. zum Problem der Willensfreiheit auch o. 1.141.
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bestimmt hat 2 1 7 , oder wie Nelson, für den das Rechtgesetz der Inhalt des Sittengesetzes ist 2 1 8 , sondern kann daneben auch noch andere Inhalte der Moral anerkennen, z.B. „Pflichten gegen sich selbst". Ich möchte dieser Frage hier nicht weiter nachgehen, sondern nur festhalten, daß die Unterscheidung von Recht und Moral danach, ob äußeres bzw. inneres Verhalten geregelt wird, aufgrund der bisherigen Diskussion viel von ihrem scheinbaren Inhalt verloren hat. Einerseits gibt es keinen ausschließlich dem Recht vorbehaltenen Regelungsbereich „äußeres Verhalten". Andererseits wird jede Handlung dadurch moralisch, daß sie aus Einsicht in die handlungsleitende Norm geschieht. Schließlich kann jede vernünftige Norm als Moralnorm bezeichnet werden. Eine Norm zu befolgen, weil sie vernünftig ist, heißt, sich diese Norm zum Ziel zu setzen. In Ansehung von Geboten, die äußeres Verhalten vorschreiben, ergibt sich das Problem, daß man es weder diesen Geboten selbst noch den ihnen entsprechenden Handlungen ohne weiteres ansehen kann, ob sie als moralisch oder als rechtlich zu qualifizieren sind. Ob jemand, der das Gebot der Nächstenliebe befolgt, dies deshalb tut, weil die Befolgung dieses Gebotes sein Ziel ist, oder ob er es deshalb tut, weil er dadurch andere Ziele zu erreichen hofft, kann man seinem Verhalten selbst, d.h. ohne Berücksichtigung eines genügend weiten Kontextes nicht ansehen. Ebensowenig ergibt sich schon aus der Form dieses Gebotes, ob es ein Rechtsgebot, ein Moralgebot, beides oder keins von beidem ist. Um darüber etwas sagen zu können, muß man vielmehr in eine Untersuchung seiner möglichen Begründungen eintreten. Vom Handelnden selbst ebenso wie vom Betrachter kann demnach jede beliebige Norm, die ein äußeres Verhalten vorschreibt, sowohl als Rechts- als auch als Moralnorm aufgefaßt werden, je nachdem, ob man sie als Ziel oder als Mittel begreift. Ob man eine Norm so oder so auffassen muß, ist freilich nicht ins Belieben gestellt. Aber wenn man die richtige Auffassung ermitteln will, dann ist man sehr schnell gezwungen, auf „letzte Ziele" bzw. „oberste Prinzipien" zu rekurrieren, denn die Unterscheidung zwischen Zielen und Mitteln ist mit Ausnahme letzter Ziele nur relativ. Wenn ich eine bestimmte Norm (Ni) befolge, um dadurch einer moralischen Norm (N:) zu genügen, die ihrerseits ein Ziel für mich ist, dann kann mein Verhalten unmittelbar auf N : bezogen und in dieser Beziehung als moralisch bezeichnet werden. Also muß man, um die Moralität einer Handlung zu beurteilen, immer alle Zielsetzungen des Handelnden kennen. 217
Vgl. Jakob Fries: Philosophische Rechtslehre, Jena 1803, S. 27-30, 68; ders.: Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft, 2. Aufl. Heidelberg 1831 (1.1807), S. 180ff. (§ 207). Die Formulierung im Text ist übernommen von Felix Kaufmann: Logik und Rechtswissenschaft, Tübingen 1922, S. 85. 218 Leonard Nelson: System der philosophischen Rechtslehre, Leipzig 1920. Vgl. die Zitate bei F. Kaufmann S. 85 Fn. 2.
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Auch alltägliche Handlungspläne können eine große Anzahl von „Zwischenzielen" vorsehen. Z.B. will ich zunächst dieses Kapitel fertigschreiben, dann ein anderes Kapitel überarbeiten usw. um dann dieses Buch insgesamt fertigstellen zu können. A l l dies mag dazu dienen, den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt zu fördern, mir wissenschaftlichen Ruhm zu erwerben, mir eine akademische Karriere zu eröffnen oder um anderen Autoren „eins auszuwischen". Letztenendes will ich damit vielleicht mein Selbstwertgefühl steigern, anderen imponieren, viel Geld verdienen, oder nur einfach das tun, was mir Spaß macht. Es dürfte schon mir selbst sehr schwer fallen anzugeben, was eigentlich meine letzten Ziele beim Schreiben dieses Buches sind. Erst recht muß es für andere — die notgedrungen viel weniger über mich wissen als ich selbst — so gut wie unmöglich sein, eine begründete Annahme über meine letzten Ziele zu äußern. Sofern es für die moralische Beurteilung eines Verhaltens darauf ankäme, müßte eine solche Beurteilung in vielen Fällen praktisch unmöglich sein. Um Miß Verständnisse zu vermeiden, sei an dieser Stelle daraufhingewiesen, daß Ziele nicht dasselbe sind wie Motive. Daraus, daß ich meine Motive nicht durchschaue, würde noch nicht unbedingt folgen, daß ich mir über meine Ziele im unklaren bin. Jemand kann aus unklaren Motiven heraus ein vollkommen klares Ziel verfolgen. In gewissem Umfang setzt jede Handlung voraus, daß man ein klares Ziel hat, sonst würde man sie gar nicht als Handlung bezeichnen. Mein klares Ziel im angegebenen Beispiel ist z.B. die Fertigstellung dieser Arbeit. Das klare Ziel eines Richters in einem Prozeß mag es sein, ein begründetes Urteil zu fallen. Aber wann ist diese Arbeit fertig, und wann ist ein Urteil begründet? Vielleicht dann, wenn der Richter und ich glauben, daß das Publikum und andere Instanzen, die darüber zu befinden haben, sich zufrieden geben. Zielsetzungen, in denen Standards eine Rolle spielen, können nicht klarer sein als diese Standards es sind. Meine Vorstellungen darüber, wann eine Arbeit der hier unternommenen Art „fertig" ist, haben sich während der Arbeit verändert. Diese Veränderung ist als solche nicht einmal überraschend, sondern sie war vorhersehbar und gewollt. Wenn man sich absichtlich auf eine Reise begibt, von der man nicht weiß, wohin sie führen wird, dann kann man nur sagen, was man sich davon erhofft. Beim Versuch, diese Hoffnungen zu präzisieren, verschwimmt der Unterschied zwischen Ziel und Motiv. In der Literatur ist die kantische Unterscheidung häufig mit dem Hinweis angegriffen worden, daß auch das Recht die Gesinnung regele oder jedenfalls regeln könne 2 1 9 . Dabei ist unter „Regelung" zu verstehen, daß an das Haben 219
Vgl. neben den bei Nef (a.a.O. Fn.207) S. 31f. zitierten Autoren etwa Erich Bemheimer: Probleme der Rechtsphilosophie, Berlin 1927, S. 14; Paul Bockelmann: Einführung in das Recht, München 1975, S. 25f.; Fritz Berolzheimer: System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. 3 — Philosophie des Staates samt den Grundzügen der Politik, München 1906, S. 147 (§ 26 Nr. 5) — Die Liste ließe sich fortsetzen.
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oder Nicht-Haben bestimmter Gesinnungen eine Rechtsfolge geknüpft wird. Auch im gegenwärtigen Strafrecht setzt Strafe Schuld voraus, können bestimmte Beweggründe zu einer Entschuldigung des Täters führen (Putativnotwehr), seine Strafe mildern (z.B. vermeidbarer Verbotsirrtum in §§ 35 I I , 46 I I StGB) oder verschärfen (z.B „niedrige Beweggründe" in § 212 StGB). Ähnliche Regelungen lassen sich auch im Zivilrecht finden (z.B. das Schikaneverbot des § 226 BGB, die Nichtigkeit sittenwidriger Rechtsgeschäfte nach § 138 BGB in Fällen, in denen die Sittenwidrigkeit auf der mit dem Geschäft verfolgten Absicht beruht). Historisch liefert die Inquisition ein eindrucksvolles Beispiel für unmittelbar an die Gesinnung anknüpfende rechtliche Regelungen 220 . Ich glaube nicht, daß sich die kantische Unterscheidung angesichts dieser Beispiele mit dem Argument verteidigen läßt, daß auch hier die rechtliche Regelung nicht an die Gesinnung als solche, sondern an Handlungen anknüpfe, in denen sie zum Ausdruck komme. Eine Gesinnung als solche ist naturgemäß nur für denjenigen, der sie hat, erkennbar und kann daher irgendwelche Rechtsfolgen nur auslösen, wenn sie sich nach außen hin manifestiert. Dennoch wäre es falsch zu sagen, das Recht knüpfe nur an derartige Manifestationen an, denn deren Wert oder Unwert wird im Rahmen rechtlicher Argumentation auf die Gesinnung zurückgeführt. Äußerlich gleiche Handlungen werden je nach dem, welche Gesinnung ihnen zugrunde gelegen hat, in unterschiedlicher Weise bestraft. Zwar wird heutzutage eine Gesinnung nur dann bestraft, wenn sie auf eine bestimmte — im Strafgesetzbuch geregelte — Weise zum Ausduck gekommen ist, aber in diesem Rahmen wird sie eben doch bestraft, denn sie bestimmt die Tat. Ob ein Studienrat, der mit einem PKW seine fahrradfahrende, von ihm getrennt lebende Frau bei einem „Verkehrsunfall" tötet, den er zumindest fahrlässig mitverursacht hat, wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB), Totschlags (§ 212 StGB) oder Mordes (§211 StGB) bestraft wird, hängt allein von seiner Gesinnung, nämlich davon ab, was er sich bei der Tat gedacht hat. Die Rechtfertigung einer so unterschiedlichen strafrechtlichen Reaktion auf ein und dieselbe äußere Tat liegt im unterschiedlichen Unrechtsgehalt der Tat je nach der ihr zugrundeliegenden Gesinnung. Ganz besonders deutlich erscheint dieser Zusammenhang dann, wenn die strafbare Handlung eine Unterlassung oder ein untauglicher Versuch war 2 2 1 . 220 Vgl. Bernheimer S. 10; vgl. zur Inquisition Rudolf His: Geschichte des deutschen Strafrechts bis zur Karolina, Darmstadt 1967 (Nachdruck der Ausgabe München/Berlin 1928, S. 106ff.; Heinrich Rüping: Grundriß der Strafrechtsgeschichte, München 1981, S. 48ff. Materialreiche Darstellungen speziell der Hexenverfolgung sind Soldan-Heppe: Geschichte der Hexenprozesse Bd. 1 u. 2, Darmstadt 1972 (Nachdruck der Ausg. 3. Aufl. München 1912) sowie Gabriele Becker/Silvia Bovenschen/Helmut Brakert u.a.: Aus der Zeit der Verzweiflung — Zur Genese und Aktualität des Hexenbildes, Frankfurt 1977. Die juristische Seite der Hexenprozesse beleuchtet eingehend Siegfried Leutenbauer: Hexereiund Zaubereidelikt in der Literatur von 1450 bis 1550, Berlin 1972.
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Selbst wenn Kant keine stärkere Behauptung aufstellen wollte, als die, daß Recht niemals bloße Gesinnung fordere, sondern stets in erster Linie ein äußeres Verhalten 2 2 2 , könnte man noch an der Berechtigung seiner Unterscheidung zweifeln. Auch wenn das Recht tatsächlich immer so formuliert werden könnte, als stellte es jedermann frei auch z.B. mörderische Gesinnungen zu haben, sofern er sie nur nicht betätige, wäre doch fraglich, ob diese Freiheit der nicht-betätigten Gesinnung mehr ist als Ergebnis der praktischen Unmöglichkeit, eine bloße Gesinnung zu erkennen. Aus den beschränkten technischen Möglichkeiten, bloße Gesinnungen zu erkennen und zu bestrafen, ergibt sich nicht ohne weiteres, daß sie nicht rechtlich gefordert sein können. I m heutigen deutschen Strafrecht wird glücklicherweise auf die Bestrafung bloßer Gesinnung verzichtet, in anderen Rechtsgebieten kann jedoch die bloße Gesinnung Rechtsfolgen haben. So muß nach h.M. der Beamte die Gewähr bieten, jederzeit zum Eintreten für die freiheit221 Eine sehr scharfsinnige Erörterung der Frage, ob bloße Gesinnung strafrechtlich relevant sein kann, von Herbert Morris ist unter dem Titel „Punishment for Thoughts" in den von Robert S. Summers herausgegebenen „Essays in Legal Philosophy", Oxford 1970, S. 95-120 abgedruckt. Morris kommt zu dem Ergebnis, daß eine Bestrafung der bloßen Absicht, andere zu schädigen, im Widerspruch zu dem (Rawlschen) Prinzip einer gerechten Verfassung steht, nach dem Jedem gleichermaßen die größtmögliche, mit der Freiheit Anderer zu vereinbarende Freiheit zusteht. Sofern man — wozu Morris neigt — glaubt, daß dieses Prinzip im Rechtsbegriff enthalten ist, ergibt sich auch begrifflich, daß die Bestrafung bloßer Gesinnung rechtlich nicht möglich ist (Morris S. 120). Die skizzierte Ansicht erscheint mir als Rekonstruktion des alltagssprachlichen Rechtsbegriffes wenig überzeugend, als Vorschlag zu einer Begriffsfestsetzung sehr beachtlich (vgl. auch meine Bemerkung zur Möglichkeit, die hier diskutierten Unterscheidungen von Recht und Moral als Definitionsvorschläge anzusehen, weiter unten im Text). Sie wirft das allgemeine Problem auf, in welchem Maße man zwischen Rechtsbegriff und Rechtsidee unterscheiden kann und muß. Selbst wenn man in den Rechtsbegriff aufnimmt, daß die Realisierung von Gerechtigkeit wenigstens angestrebt wird (Radbruch), muß man freilich damit noch keine Festlegung auf den liberalen Gerechtigkeitsbegriff von Rawls verbinden. Der Aufsatz von Morris ist nicht nur vom Ergebnis her interessant, sondern auch deshalb, weil er — in weit größerem Maße als das hier geschehen ist — die Schwierigkeiten aufzeigt, die es macht anzugeben, was genau mit der These (Straf-)Recht regele äußeres Verhalten gemeint ist. 222 Naheliegender ist wahrscheinlich die Deutung, nach der Kant die stärkere These: „Recht fordert nur Handlung, Moral Handlung aus bestimmter Gesinnung", vertreten hat (vgl. Nef S. 20 sowie Georg Geismann: Ethik und Herrschaftsordnung — Ein Beitrag zum Problem der Legitimation, Tübingen 1974, S. 6Iff.). Die beiden von Nef getrennten Varianten der Unterscheidung nach dem Regelungsgegenstand äußere Handlung — innere Gesinnung: c. Recht fordert Handlung und berücksichtig auch die Gesinnung, Moral fordert Gesinnung und berücksichtigt auch die Handlung, d. Recht und Moral fordern beide Gesinnung, das Recht aber nur, wenn sie auf einen äußeren Erfolg abzielt, (vgl. Nef S. 29ff.) können zusammen besprochen werden, da sie sich letztlich nur in Formulierungen unterscheiden und im übrigen weitgehend mit der Unterscheidung von Recht und Moral nach ihrer Regelungsabsicht (Rechtsnormen regeln Gemeinschaftsleben, Moralnormen Individualleben) zusammenfallen — vgl. dazu u. 1.232.
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lieh demokratische Grundordnung bereit zu sein 223 , und der Kriegsdienstverweigerer muß seine Gewissensgründe glaubhaft machen 224 . Weniger plausibel ist, warum einige Autoren — und zwar ebenfalls unter Berufung auf Kant — gemeint haben, daß die Moral nur Gesinnungen und keine äußeren Handlungen verlange 225 . Es ist vollkommen klar, daß Kant die moralische Bewertung äußerer Handlungen zuläßt. Äußere Handlungen sind moralisch, wenn sie regelgeleitet sind, d.h. die Befolgung einer Regel darstellen, und wenn diese Regel selbst moralisch d.h. als Regel vernünftig ist 2 2 6 . Das „Aufstellen" vernünftiger Regeln und ihre Befolgung sind nur zwei Seiten derselben Medaille. Beide Tätigkeiten werden letztlich am selben Maßstab (der Vernünftigkeit) gemessen. Wenn man innerhalb der Anwendung dieses Maßstabes nun wiederum zwei Bereiche unterscheidet, nämlich seine Anwendung auf Normenbegründung und Normenbefolgung, so hat das etwas Willkürliches. Die Rechtfertigung einer solchen Differenzierung kann eigentlich nur darin liegen, daß man auf diese Weise eine strikte Trennung von Recht und Moral erhält. Gleichzeitig gelangt man aber zu dem mit der kantischen Ansicht ebensowenig wie mit dem allgemeinen Sprachgebrauch vereinbaren Ergebnis, daß äußere Handlungen sich einer moralischen Wertung schlechthin entziehen. Wenn — wie die hier kritisierte Ansicht ja ebenfalls unterstellt — die Moral gebietet, daß man bestimmte Gesinnungen habe, nämlich — wie ich das oben interpretiert habe — sich vernünftigte Normen zum Ziel setzt, d.h. sich vornimmt, diesen Normen entsprechend zu handeln, weil sie vernünftig sind, dann gebietet die Moral auch, daß man sich tatsächlich diesen Normen entsprechend verhält. Wenn die Norm Ν geboten ist, dann ist auch das in Ν gebotene Verhalten geboten. Schreiben wir für Ν den Ausdruck !V (lies: geboten V) so können wir diesen Sachverhalt folgendermaßen formulieren: ! (!V) !V Wollte man diese Folgerungsbeziehung bestreiten, so hätte das zur Folge, daß Normbegründungen prinzipiell keine Konsequenzen für praktisches Verhalten hätten. Man müßte also z.B. sagen: Es ist richtig, daß Ν gilt, aber das bedeutet nicht, daß man sich auch dementsprechend verhalten soll. Eine solche Formulierung aber ist in sich widersprüchlich. Ein Vertreter der hier kritisierten Ansicht könnte sich möglicherweise mit dem Argument verteidigen, daß er ja die Verbindlichkeit von Ν nicht bestreite. Er differenziere lediglich terminologisch zwischen der Moralnorm ! Ν und ihrem Inhalt Ν (bzw. ! V). Die moralische Ebene sei eine Metaebene 221
BVerfGE 39,334ff. BVerwGE 41,54. 225 Vgl. Nef S. 25ff. m. Nachweisen. 226 Der Begriff der „Befolgung" wird hier in dem ο. 1.133 definierten Sinn verwendet. Zur Kant Interpretation vgl. Paul Natorp: Recht und Sittlichkeit, in Kant-Studien 18 (1913), S. 1-79, 4-6. 224
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im Verhältnis zu den Normen für äußeres Verhalten, und nur dies wolle er begrifflich zum Ausdruck bringen, das bedeute aber natürlich nicht, daß nicht die Normen für das äußere Verhalten verbindlich sein könnten und zwar deshalb verbindlich sein könnten, weil sie den moralischen Normen für das Aufstellen von Normen für äußeres Verhalten genügten. Eine solche Verteidigung scheint mir möglich. Sie hat allerdings zur Folge, daß man in Ansehung bestimmter Normen fur das äußere Verhalten eine Differenzierung zwischen solchen Normen, die der Moral genügen und solchen, die das nicht tun, einführen muß. Es gibt dann Moralnormen, und z.B. richtiges (moralisches) und falsches (unmoralisches) Recht. Diese Differenzierung hätte Kant nicht ohne weiteres mitgemacht. Es scheint mir jedoch nicht allzu schwierig, seine Lehre damit in Einklang zu bringen. Unmöglich schiene mir hingegen eine Theorie, der zufolge die Moral tatsächlich nur gebietet, was einer über Richtig und Falsch denken soll, und es gleichzeitig eine von diesen Gedanken ganz unabhängige Normenordnung geben könnte, nach der sich richtet, ob ein äußeres Verhalten geboten ist oder nicht. Eine solche Theorie würde in unzulässiger Weise mit dem Unterschied zwischen internem und externem Standpunkt (im Wertungssinne) spielen. Natürlich kann es sein, daß jemand an die Richtigkeit einer bestimmten Norm glaubt, gleichzeitig aber jemand anders sein Verhalten aufgrund anderer Normen bewertet. Aber derjenige, der eine bestimmte Norm für richtig hält, muß es auch für richtig halten, sich dieser Norm entsprechend zu verhalten. Er kann nicht zugleich ! Ν für richtig und ! V für falsch halten. Entsprechend gilt für den unabhängigen Beurteiler, daß er, wenn er glaubt, daß das Verhalten eines anderen nach einer von Ν verschiedenen allgemeingültigen Norm bewertet werden müsse, nicht gleichzeitig davon überzeugt sein kann, daß man sich Ν zum Ziele setzen solle. Man kann nicht ohne Widerspruch einer Norm gegenüber gleichzeitig einen externen und einen internen Standpunkt im Wertungssinne einnehmen. Wenn auch die drei besprochenen Varianten der Unterscheidung von Recht und Moral danach, ob sie äußere Handlungen oder innere Gesinnungen regeln, mit der gewöhnlichen Verwendung der Begriffe Recht und Moral kaum vereinbar sind, könnte es doch Gründe dafür geben, eine dieser Unterscheidungen als neue Sprachkonvention einzuführen. Es ist zumindest nicht auszuschließen, daß Kant und andere Vertreter der skizzierten Ansichten solche Sprachkonventionen vorschlagen wollten. Eine Diskussion über die Berechtigung solcher Vorschläge kann man nicht führen, ohne zu prüfen, welche Funktion eine Sprachkonvention innerhalb ihres theoretischen Umfeldes — hier also z.B. der praktischen Philosophie Kants — hat, und ob sie Bestandteil einer fruchtbaren Theorie ist. Wegen der Schwierigkeit dieser Fragen verzichte ich hier darauf, etwas zur Angemessenheit der angesprochenen Unterscheidungen unter dem Gesichtspunkt neuer sprachlicher Fest-
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
Setzungen zu sagen und verweise insoweit auf die allgemeine Diskussion der Angemessenheitskriterien für eine Unterscheidung von Recht und Moral u.
2.
1.232 Recht regelt das Gemeinschaftsleben, Moral das Individualleben Einige Autoren haben versucht, Recht und Moral über ihren jeweiligen Regelungsgegenstand in der in der Überschrift angedeuteten Weise zu unterscheiden 227 . Obgleich dieser Versuch in einer gewissen Nähe zu dem gerade besprochenen mit Hilfe der Unterscheidung inneres — äußeres Verhalten steht, ist er doch damit nicht identisch. Streng genommen ist jede nach außen hin erkennbare Handlung auch in sozialer Hinsicht bedeutungsvoll. Man könnte daraus folgern, daß sich Individualleben letztlich nur in höchst privaten, im Idealfall inneren Handlungen abspielen kann. Die Gegenüberstellung Gemeinschaftsleben — Individualleben wäre dann mit der Gegenüberstellung äußeres — inneres Verhalten weitestgehend identisch. Soweit eine solche Gleichsetzung die Intentionen des hier zu besprechenden Abgrenzungsversuches trifft, kann auf das Vorhergehende verwiesen werden. Es ist jedoch möglich, die Gegenüberstellung auch so zu interpretieren, daß bei ihr weniger daran gedacht ist, Gemeinschaftsleben und Individualleben von außen her zu unterscheiden, als daran, unterschiedliche Zielebenen des Handelns zu benennen. Wenn man sich vorstellt, daß die höchste Aufgabe des Menschen in persönlicher Vervollkommnung besteht, dann ist es konsequent, die Pflichten des Menschen sich selbst gegenüber höher zu stellen als die gegenüber anderen. Eine Verpflichtung zur Befolgung sozialer Normen wird im Rahmen einer solchen Konstruktion als abgeleitete Verpflichtung konstruiert. Für eine vernünftige Rechtsordnung setze ich mich ein, weil ich es mir selbst schuldig bin, nicht weil irgendjemand das Recht hätte, es von mir zu verlangen. Das Individualleben ist das Leben des Individuums unter dem Gesichtspunkt, was es für sich daraus macht, das Gemeinschaftsleben ist nur der Hintergrund, vor dem das geschieht 228 . 227 Vgl. die Nachweise bei Nef S. 32-35. Nef führt die hier besprochene Unterscheidung auf Stahl zurück. 228 Vgl. z.B. Marschall v. Bieberstein: Vom Kampf des Rechtes gegen die Gesetze, Stuttgart 1927, S. 50: „In der Tat ist jene Verschiedenheit des Gegenstandes der beiden Normsysteme (inneres — äußeres Verhalten, H.G.) vor allem eine Folge des Umstands, daß das Recht den Menschen in seiner sozialen Verbundenheit, die Moral (und Religion) dagegen ihn in seiner individuellen Isoliertheit im Auge hat und sein Verhalten zu seiner Umwelt nur im Hinblick auf seine (dadurch bekundete) innere Vervollkommnung, nicht dagegen unter sozialen Zweckgesichtspunkten betrachtet;...".
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Denkt man auf einer solchen Linie, dann erscheint die Regelung des Gemeinschaftslebens als ein Spezialproblem, daß sich, zumindest insoweit es dem Problem der individuellen Lebensgestaltung untergeordnet ist, abgrenzen läßt. Die so verstandene Unterscheidung zwischen Gemeinschaftsleben und Individualleben kann ihre theologische Herkunft kaum leugnen. Sieht man die Aufgabe des Menschen darin, sich ewige Seeligkeit zu erwerben, dann kommt soziale Verantwortung nur als Reflex dieser Aufgabe in den Blick. In dem Maße, in dem die Persönlichkeitsvorstellung „sozialisiert" wurde, mußte eine solche Betrachtung kritikwürdig werden 229 . Kant dürfte im wesentlichen die Grenzposition kennzeichnen, die auch heute noch vorherrscht. Einerseits wird das Individuum in seinen sozialen Bezügen gesehen, andererseits wird an einer prinzipiellen Autonomie der Person festgehalten. Die Spannung zwischen diesen beiden Betrachtungsweisen bleibt unaufgelöst. Betrachtet man, wie der Ausdruck „Würde des Menschen" in Art. 1 G G interpretiert wird, dann findet man diesçs Spannungsverhältnis wieder: Autonomie der sittlichen Persönlichkeit einerseits, der Mensch als soziales Wesen andererseits 230 . In der nachkantischen Philosophie hat es nicht an Versuchen gefehlt, die Autonomie der sittlichen Person als ideologischen Schein zu entlarven. I n erster Linie ist in diesem Zusammenhang sicherlich an den Marxismus zu denken 231 . Versteht man den Menschen als Produkt seiner sozialen Verhältnisse, dann ist nicht mehr klar, worin seine persönliche Autonomie liegen sollte. Es fehlt dann sozusagen der unmittelbare Bezug des Individuums zu Gott. Daraus ergibt sich auch, daß es Normen des Individuallebens ebensowenig geben kann, wie ein vom Gemeinschaftsleben sinnvoll abgrenzbares Individualleben. Diese Bemerkung leitet zur Frage über, ob denn der bei Kant und heutigen Verfassungsinterpreten begrifflich verankerte, in der marxistischen Tradition — aber nicht nur dort — als ungelöst konstatierte Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft überhaupt „gelöst" werden kann, und 229 Ich bin weit davon entfernt, so etwas wie eine Kontinuität oder sogar Zwangsläufigkeit in der Entwicklung der Persönlichkeitsvorstellung zu behaupten. Eher scheint es so als schwankte die h.M. zwischen den beiden Extremen autonome Person und Produkt der Umgebung (mit mehr oder minder großer Amplitude) hin und her und folgte dabei eher militärisch-ökonomischen Bedürfnissen und intellektueller Mode als fortschreitender Selbsterkenntnis. Ein interessanter Schauplatz der hier angesprochenen Kontroverse ist die Diskussion darüber, ob Geschichte von großen Persönlichkeiten gemacht wird oder nicht. Eng damit verbunden ist das Elitenproblem. 230 Vgl Werner Maihofer: Rechtsstaat und menschliche Würde, Frankfurt 1968 sowie die einschlägige Kommentarliteratur. Nach Maihofer ist Solidarität notwendiges Korrelat der Personalität. 231
Vgl. die Nachweise bei T. Borsche im Stichwort „Individuum, Individualität", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 4, Darmstadt 1976, S. 321.
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wenn ja, in welcher Richtung 2 3 2 . Die Beantwortung dieser Frage muß einen wesentlichen Einfluß darauf haben, ob die hier besprochene Unterscheidung zwischen Recht und Moral haltbar ist. Von einem externen Standpunkt im Wertungssinn aus ist es durchaus denkbar, daß sich Wertüberzeugungen restlos auf natürliche Bedingungen einschließlich sozialer Bedingungen zurückführen lassen. Wir haben oben schon gesehen, daß die Wahl eines solchen Forschungsansatzes grundsätzlich möglich, jedoch angesichts der tatsächlichen empirischen Ergebnisse derartiger Versuche bislang keineswegs zwingend ist 2 3 3 . I m Rahmen eines solchen Ansatzes bleibt weder für ein nennenswertes Individualleben noch für eine Moral, deren Aufgabe dessen Regelung wäre, Platz. Es ist jedoch ebensogut möglich, Individuen als abgegrenzte Systeme anzusehen, die untereinander und mit ihrer Umwelt interagieren. Verfährt man so, dann kann man sich durchaus vorstellen, daß Individuen Regeln für ihre Interaktion mit der Umwelt aufstellen und befolgen. Derartige Privat„regeln" wären entweder der Inhalt oder der Gegenstand einer das Innenleben regelnden Moral. Im ersten Falle müßte man unter Moral etwas vollkommen Privates verstehen, und somit einen vom allgemeinen Sprachgebrauch recht entfernten Moralbegriff vertreten. Im zweiten Falle würden moralische Regeln die Individuen anweisen, sich selbst bestimmte Standards zu setzen. Das Moralgebot, nicht zu lügen, würde also bedeuten, daß man es sich zum Standard machen soll, die Wahrheit zu sagen. Deutet man Moral auf diese Weise, dann ist gut verständlich, weshalb vielfach weniger das Sprechen der Unwahrheit für sich genommen als verwerflich angesehen wird, als vielmehr die Gesinnung, aus der heraus es geschieht. Auch die Wahl eines im skizzierten Sinne interaktionistischen Ansatzes bedeutet keineswegs unbedingt, daß das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft von anderen Regeln bestimmt werden müßte als von denen strenger Kausalität. Sie hat allerdings zur Folge, daß diese Kausalitätsverknüpfung praktisch unerforschbar wird, da alle Daten plötzlich auch in ihrer historischen Dimension betrachtet werden müssen, und dadurch die Welt ihre Eindeutigkeit verliert. Von einem internen Standpunkt im Wertungssinne aus besteht die Frage, ob ich mir selbst „Normen" setzen kann, nicht. Ich tue es. Von anderen gesetzte Normen erscheinen zunächst nur als fremde Anforderungen, die nur als Randbedingungen meiner eigenen Entscheidung Gewicht haben. Da fremde Anforderungen, die sich auf mein Innenleben beziehen, nicht wirk212
Vgl. zu dem hiermit angesprochenen, äußerst interessanten Problemkomplex John O'Neill (Ed.): Modes of Individualism & Collectivism, London 1973. Der Band dokumentiert auch die enge Verknüpfung von Methodenfragen der Sozialwissenschaften und Geschichtsphilosophie. 2 " Vgl. o. 1.311 und 1.14.
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sam sein können, sofern ich sie mir nicht zueigen mache, ist nicht ganz klar, was eine das Individualleben regelnde Moral anders sein könnte als eine private Wertüberzeugung. Es wäre dann zu definieren: Recht ist die Summe der wirksamen fremden Verhaltensanforderungen, Moral meine private Richtigkeitsüberzeugung. Eine solche Definition trifft jedoch ersichtlich nicht die hier zu besprechende Differenzierung, denn es ist klar, daß ich private Wertüberzeugungen auch bezüglich des Gemeinschaftslebens habe. Vom internen Standpunkt im Wertungssinne aus ist der Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft evident und unauflösbar (er würde nur mit diesem Standpunkt zusammen verschwinden). Wir können nun unsere Ausgangsfrage wie folgt beantworten: Von einem externen Standpunkt im Wertungssinn aus kann je nach Wahl des Forschungsansatzes, das Verhältnis Individuum — Gesellschaft so bestimmt werden, daß das Individuum als eigenständige Größe verschwindet oder bestehen bleibt; im letzteren Fall entweder als unerklärter oder als unerklärbarer Rest. Von einem internen Standpunkt im Wertungssinne aus ist das Individuum sich eine eigenständige Größe. I n jedem Falle ist unklar, was es heißen soll, daß die Moral das Individualleben im Gegensatz zum Gemeinschaftsleben regelt, es sei denn Moral wird als etwas Privates aufgefaßt, denn sofern es keine unabhängigen Individuen gibt, ist da nichts zu regeln, und wenn es sie gibt, kann wegen ihrer Unabhängigkeit nichts „geregelt" werden. Moralische „Normen", die ein Individuum sich erst als Maximen seines Handelns selbst setzen muß, damit sie für das betroffene Individuum gelten, regeln unmittelbar nicht die von den Maximen betroffenen Handlungen, sondern allenfalls das Aufstellen und Bewerten von Maximen, und auch insoweit kann man von einer „Regelung" nur sprechen, wenn beides in einem sozialen Kontext äußerlich wahrnehmbar geschieht — etwa in Diskussionen und Auseinandersetzungen. Wollte man wirklich von als autonom gedachten Individuen gewählte Maximen also eine „private Moral" als Regelung ansehen, dann müßte man überdies zulassen, daß sie auch das Gemeinschaftsleben regelt, denn es gäbe keinen Grund, weshalb sie sich auf innere Handlungen beschränken sollte. Die hier besprochene Unterscheidung zwischen Recht und Moral kann nur in zweierlei Weise aufrecht erhalten werden: 1. Das Recht regelt und die Moral empfiehlt. Während das Recht ein bestimmtes Verhalten im Sinne von äußerer Handlung vorschreibt, empfiehlt die Moral, sich bestimmte Normen zueigen zu machen. Wählt man diese Lösung, so besteht ein indirekter Einfluß der Moral auf soziales Verhalten über die Normen, deren Annahme sie empfiehlt. Es wäre daher richtiger zu formulieren, daß das Recht soziales Verhalten direkt regelt, die Moral aber indirekt 2 3 4 .
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2. Das Recht regelt einen für wichtig gehaltenen Bereich sozialen Handelns, die Moral einen für weniger wichtig gehaltenen 235 . Während die Normen des Rechts zwangsweise durchgesetzt werden, bleibt die Befolgung der Moral dem Individuum weitgehend selbst überlassen. Auch bei dieser Variante ist die These irreführend formuliert. I m übrigen handelt es sich weniger um eine Unterscheidung zwischen Recht und Moral über ihren Regelungsgegenstand als über die Reaktion auf die Nichtbefolgung ihrer Normen (dazu s.u. 1.25).
1.2321 Recht und Moral dienen verschiedenen Zwecken In einem engen Zusammenhang zur eben besprochenen Unterscheidung steht eine, die auf unterschiedliche Zwecke von Recht und Moral abhebt. Die Einordnung dieser Unterscheidung unter die Rubrik „verschiedener Regelungsgegenstand" bedarf einer kurzen Rechtfertigung. Wenn Recht und Moral verschiedenen Zwecken dienen 236 , so schließt das nicht aus, daß sie dies über verschiedenartige Regelungen desselben Regelungsgegenstandes versuchen. Zweck einer Normenordnung und Regelungsgegenstand sind jedoch so nahe miteinander verbunden, daß es sich nicht empfiehlt, hier weiter zu differenzieren. Bei genauerem Hinsehen ergibt sich, daß man im Zuge einer solchen Differenzierung nur dazu kommt, Zwecke unterschiedlicher Allgemeinheit gegeneinander abzusetzen. Die Regelung eines bestimmten Gegenstandes ist — wenn man so will — stets der unmittelbare Zweck einer Norm. Darüberhinaus mag ein weiterer übergeordneter Zweck angestrebt werden. I m Falle von Recht und Moral kann man es für möglich halten, daß die letzten Zwecke von Recht und Moral sich unterscheiden. Als Zweck des Rechts kann man z.B. die Herstellung eines erträglichen gesellschaftlichen Zustandes ansehen, als Zweck der Moral die individuelle Vervollkommnung. Bei einer solchen Betrachtungsweise antworten Recht und Moral auf verschiedene Fragen. Recht auf die Frage, „Was soll ich tun, damit die soziale Ordnung erhalten bleibt?", Moral auf die Frage, „Was soll ich tun, 234 Bei dieser Lösung steht die Moral gegenüber dem Recht auf einer Art Metastufe. Einige Autoren scheinen in dieser Richtung gedacht zu haben. Vgl. o. Fn.217f. die Hinweise auf Fries und Nelson sowie die Nelson-Zitate bei Nef S. 34. 235 So soll nach Stahl das Institut der Familie rechtlicher Regelung unterliegen, die wechselseitige Rücksichtnahme der Ehegatten jedoch eine moralische Frage sein. Vgl. Nef S. 33. 236 ich verwende den Begriff des Zweckes hier in einem sehr unspezifischen Sinn, der u.U. auch noch bloße Funktionen mit umfaßt. An dieser Stelle ließen sich weitere Differenzierungen bei einer Detaildiskussion nicht vermeiden (Vgl. Robert S. Summers: Professor Fuller on Morality and Law, in: Summers (Ed.): More Essays in Legal Philosophy, Oxford 1971, 101-130, S. 117f. zum Problem der Definition von „Purpose".).
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um meinen eigenen Möglichkeiten gerecht zu werden?". Im Zusammenhang mit dieser Unterscheidung kann man an die Weberschen Begriffe „Verantwortungs-" und „Gesinnungsethik" denken 237 . Im Beispiel wäre Recht Verantwortungs- und Moral Gesinnungsethik. Eine Unterscheidung zwischen Recht und Moral über ihre letzten Zwecke ist möglich, und hat eine beachtliche Tradition. Besonders über die begrenzten Ziele des Rechts (Friedenssicherung, Rechtssicherheit) besteht weitgehender Konsens. Ihre Problematik liegt hauptsächlich darin, daß das Verhältnis der unterschiedlichen Zwecke zueinander nicht klar genug ist. Entscheidet dieselbe Instanz, also z.B. das Individuum, darüber, was zur Verwirklichung beider Zielsetzungen geboten ist, dann ist es kaum vermeidbar eine Präferenzordnung aufzubauen . Entweder sind die Zwecke von Recht und Moral von vornherein so bestimmt, daß der moralische Zweck der höhere ist — dann ist Recht nur legitim insofern es mit diesem Zweck nicht in Widerspruch gerät; oder man kann nicht sagen, welcher von beiden Zwecken der höhere ist, dann muß es einen höheren (ethischen) Zweck geben, von dessen Warte aus sich im Konfliktfall zugunsten des einen oder anderen entscheiden läßt. Wenn etwa zur Erhaltung des Rechtszustandes eine Handlung notwendig ist, die als unmoralisch angesehen werden müßte, dann stellt sich die Frage, ob nicht bei richtigem Verständnis die Moral auch darüber Auskunft geben müßte, um welchen Preis der Rechtszustand notfalls noch aufrecht erhalten werden darf. Tut sie das nicht, spricht das gegen diese Moral. Diese Bemerkungen berühren die grundsätzliche Möglichkeit einer Unterscheidung über die Zwecke nicht, sie legen jedoch nahe, das Ergebnis einer solchen Unterscheidung eher als ^wsgrenzung denn als Abgrenzung anzusehen. Versteht man unter Moral Ethik, wird ihre Abgrenzung vom Recht über die jeweils verfolgten Zwecke m.E. regelmäßig dazu führen, daß man das Recht als einen Teilbereich der Ethik aufzufassen hat, nämlich als eine Normenordnung, die der Erreichung eines untergeordneten ethischen Werts dient. 1.233 Staat und Gesellschaft I I — Recht und Moral regeln verschiedene soziale Rollen War oben (1.2121) das Verhältnis von Staat und Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt einer unterschiedlichen Herkunft der Normen von Recht und Moral in den Blick geraten, so geht es jetzt um die Frage, ob Staat und Gesellschaft als abgrenzbare Regelungsgegenstände von Recht bzw. Moral 237 Vgl. Max Weber: Der Sinn der „Wertfreiheit" der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Tübingen 1973 (1. Aufl. des Aufsatzes 1917), S. 489-540, 505; s.a. H. Reiner: Stichwort „Gesinnungsethik", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 3, Darmstadt 1974 m.w. Verw.
10 Geddert
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angesehen werden können. Dabei wird dem Staate das Recht und der Gesellschaft die Moral zuzuordnen sein. Die Unterscheidung lautet also: Recht regelt den Staat, Moral die Gesellschaft. Unglücklicherweise ist es unmöglich, die Berechtigung einer solchen Unterscheidung zu beurteilen, ja sie überhaupt zu verstehen, ohne zunächst eine gewisse Klarheit darüber erlangt zu haben, was denn eigentlich unter Staat und Gesellschaft im Rahmen dieser Gegenüberstellung verstanden werden soll 2 3 8 . Ich sage deshalb „unglücklicherweise", weil die Gegenüberstellung alles andere als klar ist. Tatsächlich dürfte man der Wahrheit ziemlich nahekommen, wenn man sagt, daß die Diskussion über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft und die Diskussion über das Verhältnis von Recht und Moral zwei derart verschränkte Fragenkomplexe berühren, daß man beinahe die Überschriften austauschen kann, ohne eine erhebliche Problemverschiebung befürchten zu müsen. Jede irgendwie geartete Stellungnahme zum Verhältnis von Recht und Moral impliziert immer auch eine Stellungnahme zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft und umgekehrt. Angesichts dieser Sachlage wäre es weder möglich noch sinnvoll, das Verhältnis von Staat und Gesellschaft hier in extenso zu behandeln. Die folgenden Bemerkungen haben im wesentlichen die Aufgabe, die Wechselbeziehungen zwischen den Problemkomplexen deutlich zu machen. Die klarste — und daher für die Anknüpfung geeignetste — Stellungnahme stammt von Kelsen 239 . Für ihn ist der Staat mit der Rechtsordnung identisch. Aus einer solchen Bestimmung ergibt sich zwingend, daß die Regelung des Staates allein Sache des Rechts ist. Obwohl das nicht grundsätzlich ausschließen müßte, daß dieses Recht seinerseits der Moral genügt oder genügen muß, ist dies innerhalb der Auffassung Kelsens aufgrund seines Rechtsbegriffs und des von ihm vertretenen moralischen Relativismus der Fall. Auch wenn das bis hierher Gesagte diesen Anschein erwecken könnte, ist es nun nicht so, daß für Kelsen der Staat nur ein Rechtsbegriff ist, sondern er hat als Recht auch eine soziale Realität 2 4 0 , da Kelsen in seinen 238
Vgl. die allgemeinen Literaturhinweise zur Diskussion über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft o. in Fn. 141. 239 Vgl. Hans Kelsen: Reine Rechtslehre, 2. Aufl. Wien 1960, S. 270. Der Begriff des Staates im weiteren Sinne (im engeren Sinne bezeichnet er den Staatsapparat) „ist die Personifikation der totalen, das Verhalten aller auf dem Staatsgebiet lebenden Individuen regelnden Rechtsordnung, ...". 240 Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß Kelsen die von Jellinek vertretene „Zwei-Seiten-Theorie" des Staates heftig bekämpft hat (vgl. dazu Hans-Joachim Koch: Seminar: Die juristische Methode im Staatsrecht, Frankfurt -1977, S. 67-76). Die Ermittlung einer wie auch immer bestimmten minimalen Wirksamkeit einer Rechtsordnung ist ganz sicher als Problem einer empirischen Sozialwissenschaft zu qualifizieren. Wenn man Staat als Recht definiert und Wirksamkeit für eine notwendige Bedingung von Geltung hält, kann man nicht mehr sinnvoll bestreiten, daß es eine soziologische Betrachtung des Staates gibt.
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Rechtsbegriff die Wirksamkeit als eine notwendige Eigenschaft mit aufnimmt. Der Staat ist also — so könnte man formulieren — die tatsächliche bestehende Rechtsordnung. Ist der Staat einmal so bestimmt, dann ergibt sich zwanglos, was für die Gesellschaft noch übrigbleibt. Gesellschaft ist der Inbegriff aller neben dem Recht bestehenden Regeln menschlichen Zusammenlebens 241 . Als entscheidendes Abgrenzungskriterium rechtlicher und außerrechtlicher Regelungen ist nach Kelsen, die Sanktionsbewehrtheit der Rechtsnormen anzusehen 242 , daneben spielen das geordnete Erzeugungsverfahren, die Verknüpfungsform, der systematische Zusammenhang und die Existenz besonderer Organe zur Erzeugung, Anwendung und Durchsetzung eine Rolle. Legt man die Kelsensche Ansicht zugrunde, so ist unter der Überschrift „Staat und Gesellschaft" im wesentlichen darüber zu sprechen, in welchem Maße menschliches Leben verrechtlicht ist. Normativ geht es dann darum, einen Alternativenraum möglicher Weltzustände zu entwerfen, in denen es in unterschiedlichen Bereichen unterschiedlich viel Recht gibt, und sich zu überlegen, welcher dieser Weltzustände unter welchem Gesichtspunkt wünschenswerter ist als andere. Empirisch sind die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Staat aufzuklären. Versucht man das, dann zeigt sich sehr schnell, daß nicht beliebige Bereiche menschlichen Lebens in beliebiger Weise verrechtlich werden können, sondern daß alles Recht in gewissem Umfang auf Akzeptanz angewiesen ist. Wenn auch im Einzelnen durchaus unklar ist, wie groß die Spannung zwischen gesellschaftlicher Ordnung und Rechtsordnung werden darf, bevor letztere zusammenbricht, wird man doch festhalten dürfen, daß jedenfalls ein gewisser Einklang bestehen muß 2 4 3 . Hat man das erst einmal zugestanden, wird man sich die Frage stellen müssen, ob es unter solchen Umständen vernünftig ist, den Begriff des Rechts —jedenfalls vom Ansatz her — ohne Rücksicht auf Anerkennung zu definieren. Autoren wie Fuller bestreiten das mit dem beachtlichen Hinweis, daß es unmöglich sei, den Begriff der Ordnung vollkommen unabhängig von dem der guten Ordnung zu bestimmen. Rechtsordnung kann nur bestehen — so könnte man Fullers Ansicht wohl paraphrasieren — sofern sie bis zu 241 Kelsen bezeichnet Recht mitunter als Gesellschaftsordnung (z.B. Reine Rechtslehre, S. 34f.). Die hier gewählte Terminologie ist also nicht die Kelsens. Sie ergibt sich, wenn man versucht, Staat und Gesellschaft als abgi enzbare Regelungsbereiche einander gegenüberzustellen, was Kelsen nicht getan hat. 242 Kelsen: Reine Rechtslehre, S. 34f., 64. 243 Natürlich spielen neben der Akzeptanz auch Faktoren wie die Machtmittel der Herrscher, das Maß der vom Recht erwarteten Legitimation, Art und Umfang der den Rechtsunterworfenen zur Verfügung stehenden Kommunikations- und Organisationsmöglichkeiten etc. eine Rolle. Die im Text aufgestellte Behauptung setzt m.E. jedoch keine entwickelte Revolutionstheorie voraus (Einen Überblick über die Revolutionstheorien bietet Kurt Lenk:Theorien der Revolution, München 1973).
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einem gewissen Grade Anteil hat an der guten Ordnung 2 4 4 . Die Schwierigkeit eines solchen Ansatzes liegt offensichtlich im Begriff der guten Ordnungs. Sieht man als gute Ordnung das an, was Mitglieder einer beliebigen Gesellschaft sich darunter vorstellen, dann gibt es so viele denkbare Möglichkeiten, daß über den Begriff der guten Ordnung keine inhaltliche Einschränkung desjenigen, was Recht sein kann, zustande kommt. Anders ist es nur, wenn man die Auffassung vertritt, daß aus irgendwelchen Gründen bestimmte Merkmale der guten Ordnung feststehen. Eine solche Auffassung führt aber notwendig in enge Nachbarschaft zum Naturrechtsdenken 245 . In der Diskussion über das Verhältnis von Recht und Moral hat die Einschätzung des Nationalsozialismus eine große Rolle gespielt (vgl. dazu u. 2.4). Bewegt man sich innerhalb der Alternative Staat und Gesellschaft, dann legt die Verneinung der Rechtsqualität bestimmter nationalsozialistischer Erlasse, Gesetze etc. die Frage nahe, ob sie stattdessen dem Bereich gesellschaftlicher Regelungen zuzurechnen sind. Wenn es z.B., wie Fuller behauptet, bei vielen deutschen Gerichten in der Hochzeit des Nationalsozialismus eine große Bereitschaft gab, den Wortlaut des geschriebenen Rechts zu mißachten sofern seine Beachtung zu Entscheidungen 246 geführt hätte, die „oben" mißliebig gewesen wären — wofür manches spricht —, so scheint es mir sehr nahe zu liegen, eine solche Entwicklung als Ersetzung rechtlicher Regelungen durch gesellschaftliche (informelle) Regelungen zu beschreiben. Offenbar führt eine solche Ersetzung keineswegs notwendig zur Zerstörung jeglicher Ordnung. Anscheinend haben die deutschen Gerichte recht gut gewußt, was für Entscheidungen von ihnen erwartet wurden. Daraus folgt aber, daß Staat und Gesellschaft wenigstens in gewissem Umfang funktionale Äquivalente darstellen könnten. Es ist dann nicht ohne weiteres einzusehen, warum eine Rechtsordnung gegenüber einer gesellschaftlichen Ordnung den Vorzug verdienen sollte 247 . 244
Lon L. Fuller: Positivism and Fidelity to Law — A Reply to Prof. Hart, in: Harvard Law Review 71 (1957/58), S. 630-672, 644ff. 245 Bemerkenswerterweise hat Lon L. Fuller es in „The Morality of Law", New Haven (Conn.) 1964 unterlassen, sich mit dem Naturrecht anders als kritisch auseinanderzusetzen. Die von ihm wie man vielleicht sagen könnte als „funktionales Äquivalent" eingesetzte „inner morality of law" — damit meint er, daß es bestimmte Strukturmerkmale von Rechtsordnungen gibt, die auf Moralität des Rechts hinwirken (Fuller glaubt, „that coherence and goodness have more affinity than coherence and evil" — s. Positivism and fidelity to Law, S. 636) — kann bestenfalls eine empirische Tatsache sein (These: Es gibt keine ganze Völker erfassende, rechtsförmig organisierte Bosheit). Selbst wenn Fuller hier einen jedenfalls in der Tendenz zutreffenden empirischen Zusammenhang aufgedeckt hätte, ist doch fraglich, ob man sich darauf allein verlassen sollte (Vgl. auch Summers (a.a.O. Fn. 236) S. 126ff.). 246 Vgl. Bernd Rüthers: Die unbegrenzte Auslegung — Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, Frankfurt 1973 (1. Tübingen 1968). 247 Einem ähnlichen Gedanken folgend, aber mit anderen Beispielen im Kopf, wird heute von verschiedener Seite die Vergesellschaftung des Strafrechts gefordert (vgl. die Bemerkungen dazu bei Klaus Lüderssen: Recht, Strafrecht und Sozialmoral, in: Analyse
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Wenn Ordnung nicht unabhängig von guter Ordnung definiert werden kann, dann muß jede Ordnung, sei sie nun in einem formalen Sinne rechtlich oder gesellschaftlich, in gewissem Umfang die gute Ordnung verwirklichen 248 . Damit wird der ohnehin recht weite Maßstab der Teilhabe an der guten Ordnung ungeeignet, etwas zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft daraus abzuleiten. Die Grundfrage lautet dann eher: Chaos oder Ordnung? Ein wesentlicher Einwand gegen eine strikte Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im eingangs skizzierten Sinne würde sich ergeben, wenn sich zeigen ließe, daß der Staat notwendigerweise als ein Teil der gesellschaftlichen Ordnung verstanden werden muß, weil das Recht auf solche Weise in die normativen Vorstellungen der Gesellschaftsmitglieder eingebettet ist, daß es nicht isoliert betrachtet werden kann. Eine solche Ansicht wird nahegelegt durch Überlegungen zur Genese des Rechts in seiner modernen Form 2 4 9 . Der Prozeß der „Verrechtlichung" zwischenmenschlicher Bezieund Kritik (1981), S. 194-222). Wenn an Fullers These von der inner morality of law etwas dran ist, muß damit gerechnet werden, daß Vergesellschaftung des Strafrechts einen Verlust an moralischer Qualität bedeutet (jedenfalls sofern mit Vergesellschaftung mehr gemeint ist als eine Verfahrensreform — nämlich die Abschaffung oder doch Beschränkung von Verfahren). 248 An dieser Stelle zeigt sich ganz deutlich, daß es ein Fehler ist, Rechtsordnung mit Ordnung überhaupt gleichzusetzen. Fuller tut dies jedoch in „The Morality of Law" weitgehend. Zu Recht weist daher Summers in seiner Kritik (a.a.O., Fn. 236), S. 12lf. darauf hin, daß Fullers acht Möglichkeiten, bei der Rechtsschöpfung Fehler zu begehen ( 1. zu geringe Allgemeinheit der Regeln, 2. fehlende Publizität, 3. übermäßige Verwendung rückwirkender Gesetze, 4. Unverständlichkeit, 5. Widersprüchlichkeit, 6. Verstoß gegen den Grundsatz nemo ultra posse obligatur, 7. zu häufige Rechtsänderungen, 8. fehlende Kongruenz von erklärter Regel und ihrer Anwendung), in naiver Weise die Existenz von Regeln für die Erzeugung von Rechtsregeln und -Institutionen sowie eine Macht, die diesen Regeln entsprechend Recht setzen und Institutionen schaffen kann, voraussetzt. Fulles König Rex, der aus dem Nichts eine (Rechts-)Ordnung schafft, ist aber ein Unding. Daß Rex „König" ist, kennzeichnet bereits eine Ordnung. 249 Die folgenden Überlegungen beanspruchen natürlich nicht, mehr zu sein als Andeutungen. Vgl. aber etwa Uwe Wesel: Zur Entstehung von Recht in frühen Gesellschaften, in: KJ 12 (1979), 233-252, der allerdings die Verknüpfung mit den Produktionsverhältnissen wenig betont und die Entwicklung von Recht nicht als Fortschritt wertet; das korrigiert Wolfgang Müller: Entstehung von Recht und Staat und frühes griechisches Recht, in: KJ 12 (1979), 253-269, der einen Zusammenhang zwischen Warenaustausch und abstraktem Recht herstellt, der jedenfalls für unsere heutige entwickelte Gesellschaft kennzeichnend sei. Mir scheint, daß man noch einen Schritt weitergehen muß als Müller. Leistungssteigerungen des Systems Gesellschaft im Bereich der Güterproduktion setzen generell Spezialisierung und damit komplizierte Organisationsstrukturen voraus, die nur mit Hilfe des Rechts etabliert und aufrecht erhalten werden können. Es gibt nicht die Alternative „konkretes Recht" oder „abstraktes Recht", sondern nur die Alternative soziale Differenzierung oder nicht. Diese „bürgerliche" Auffassung findet sich auch bei William Seagle: Weltgeschichte des Rechts, München 1951 und für den systematischen Zusammenhang verschiedener Arten von Normen ohne Betonung des Evolutionsaspektes bei René König: Das Recht im Zusammenhang der sozialen Normensysteme, in: Ernst E. Hirsch/ Manfred Rehbinder (Hrsg.): Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, Köln/ Opladen 1967 (2.1971), S. 36-53.
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hungen kann auf gesellschaftliche Entwicklungstendenzen zurückgeführt werden. In dem Maße, in dem die Erzeugung von Gütern möglich wurde, ergab sich die Notwendigkeit, zuverlässige Regelungen über das Eigentum an solchen Gütern und die Formen ihrer Übertragung zu treffen, sofern die Gütererzeugung für die potentiellen Produzenten nicht von vornherein uninteressant sein sollte. Solange Produktion und Verteilung sich innerhalb von Kleingruppen abspielten, bedurfte es nicht unbedingt einer Formalisierung dieser Regeln. Auch mußten nicht unbedingt besondere Instanzen zu ihrer Durchsetzung geschaffen werden, sondern bereits existierende Macht- und Autoritätsstrukturen konnten die neuen Aufgaben übernehmen. In dem Maße, in dem zwischen mehrerern Kleingruppen Austauschbeziehungen und Arbeitsteilung entstand, bedurfte es jedoch der Schaffung übergeordneter Instanzen. Die Entwicklung von einer familiaren auf Gleichheit aller Beteiligten beruhenden Moral zu einem differenzierten, unterschiedliche Rechte und Pflichten vorschreibenden Rechtssystem kann als ein Kontinuunj ohne scharfe Abgrenzungen aufgefaßt werden. Sie führt überdies nicht dazu, daß frühere Stufen überholt werden, sondern eher zu deren Ergänzung. Betrachtet man unter dieser Perspektive den gesamten Normenbestand einer Gesellschaft, dann erscheint Recht als ein mehr oder weniger klar ausgrenzbarer Teilbereich dieses Normenbestandes aber nicht als etwas von Moral grundsätzlich Verschiedenes. Recht ist mit Sanktionsinstanzen und Sanktionen verknüpft, weil die besonderen Regelungsprobleme, auf die es zugeschnitten ist, das erfordern, aber nicht deshalb, weil moralische Normen nicht mit Sanktionen verknüpft wären. Nach wie vor bedürfen Normen, deren Einhaltung mithilfe außerrechtlicher Sanktionen garantiert werden kann — etwa im Bereich der Kindererziehung durch familiäre Sanktionen — keiner Verrechtlichung. Sie unterscheiden sich nicht strukturell von Rechtsnormen, sondern eher durch eine Nähe der Normunterworfenen zu den unmittelbar an der Normbefolgung Interessierten. Im Rahmen einer solchen Vorstellung ist es plausibel, den Staat als eine Ordnung aufzufassen, deren Größe die Schaffung besonderer Institutionen zu ihrer Aufrechterhaltung erzwingt. Dem so verstandenen Staat kann jedoch die Gesellschaft nicht ohne weiteres als etwas davon Verschiedenes gegenüber gestellt werden, es sei denn, man wäre bereit, Gesellschaft als bloßes Aggregat funktionierender Kleingruppen oder sonstiger vorstaatlicher Gesellungsformen aufzufassen. Ist man zu einem solchen, eigenwilligen Sprachgebrauch nicht bereit, sondern versteht unter Gesellschaft eine dem Staat mehr oder minder korrespondierende Großgruppe, dann liegt die Annahme nahe, daß auch die Existenz dieser Großgr.uppe nicht unabhängig vom Bestehen rechtlicher Regeln gedacht werden kann. Auf moderne Gesellschaften angewandt bedeutet das, daß die Existenz des Staates notwendige Bedingung für die Existenz der Gesellschaft ist, oder — wie man ebensogut formulieren könnte — daß moderne Großgesellschaften notwendigerweise
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in erheblichem Umfang verrechtlicht sein müssen. Rechtsform oder Staatlichkeit erscheint als Existenzmodus moderner Großgesellschaften. Aus den bisherigen Überlegungen folgt freilich nicht, daß Gesellschaft im Staat restlos aufgeht. Zunächst einmal bleiben nach wie vor eine Vielzahl mehr oder weniger intensiver Solidaritätsbeziehungen in Kleingruppen bestehen, die einer Verrechtlichung nicht nur nicht bedürfen, sondern auch in gewissem Maße dafür unzugänglich sind. Die Bedeutung solcher Kleingruppen kann wegen ihrer sinnstiftenden Funktion für den Einzelnen schwer überschätzt werden. Spannungen zwischen den in solchen Kleingruppen gültigen Regeln und Rechtsnormen sind nicht nur möglich, sondern geradezu die Regel. Freiheitliche Rechsordnungen tragen dem Rechnung, in dem sie ihren Mitgliedern weitgehend erlauben, sich im Konfliktfalle für die Kleingruppe und gegen die Gesammgesellschaft zu entscheiden. Dies drückt sich etwa im Verzicht auf eine Anzeigepflicht für Straftaten aus (§§ 138,139 StGB), in den Regelungen des Zeugnisverweigerungsrechts (§§ 52,53 StPO, 383, 384 ZPO) und in der Vorrangstellung, die (gelegentlich) Verpflichtungen aus dem Kleingruppenverhältnis (etwa Unterhaltsverpflichtungen) gegenüber sonstigen Verpflichtungen — auch im Verhältnis zum Staat — eingeräumt wird (§ 850c I ZPO). Darüberhinaus können (und werden im allgemeinen) vor dem Hintergrund eines funktionierenden Staates auch Anstandsregeln existieren, die das Verhalten in der Gesellschaft insgesamt (und zwar auch beim Umgang mit dem Recht) betreffen. Die normative Wirklichkeit einer Gesellschaft (um den Begriff „Rechtswirklichkeit") zu vermeiden, wird durch die in einer Gesellschaft bestehenden Rechtsnormen nicht eindeutig determiniert. Es gibt zum Teil erhebliche Auslegungs- und Anwendungsspielräume — teils im Gesetz ausdrücklich eingeräumt, teils contra legem — deren Ausfüllung nicht-formalisierten Regeln folgt. In Gesellschaften wie unserer besteht zum Beispiel weitgehende Übereinstimmung darüber, was guter journalistischer Stil ist. Diese Übereinstimmung prägt das Erscheinungsbild unserer Medien, und sie kann m.E. weder auf Interessen der Journalisten noch auf presserechtliche Vorschriften eindeutig zurückgeführt werden. Ein anderes Beispiel für diesen Zusammenhang ist das sogenannte „soziale Klima", also das Verhalten der Tarifparteien. Auch hier gibt es im internationalen Vergleich Stilunterschiede, die nicht allein mit unterschiedlichen gesetzlichen Reglungen erklärt werden können. Die Reihe der Beispiele ließe sich verlängern. Ihnen allen ist gemein, daß so etwas wie ein gesellschaftlicher Grundkonsens eine Rolle spielt. Dieser Grundkonsens existiert neben aber auch nicht unabhängig von der Rechtsordnung. Ohne ihn könnte eine Rechtsordnung in einem anspruchsvolleren Sinne als dem einer bloßen Zwangsordnung keinen Bestand haben, ohne Rechtsordnung wäre umgekehrt dieser Grundkonsens sehr bald dem Verfall preisgegeben.
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
Man kann die Frage stellen, ob der gesellschaftliche Grundkonsens die Rechtsordnung schafft oder umgekehrt. Ein wenig ähnelt diese Frage derjenigen, ob erst die Henne oder erst das Ei da war. Immerhin erscheint es möglich, folgende Differenzierung zu treffen: In demokratischen Staaten besteht die Tendenz, die Rechtsordnung dem jeweiligen gesellschaftlichen Grundkonsens anzupassen, hier ist es also eher so, daß der Grundkonsens die Rechtsordnung schafft. Man muß allerdings sofort einschränkend anfügen, daß der Grundkonsens selbst nicht aus dem Nichts entsteht, sondern immer auch durch die zuvor bestehende Rechtsordnung beeinflußt wird. In totalitären Staaten bildet sich über kurz oder lang ein Grundkonsens gegen die Rechtsordnung heraus. Es entsteht eine heimliche Solidarität der Bürger gegen den Staat, die abhängig vom Ausmaß der Unterdrückung entweder nur einzelne Rechtsbereiche oder diese staatliche Ordnung insgesamt erfaßt. Hier ist es also eher die Rechtsordnung, die (negativ) den Grundkonsens .250
erzeugt Die vorangegangenen Überlegungen deuten darauf hin, daß es wohl Gesellschaften ohne Staat geben kann 2 5 1 , nicht aber Staaten ohne Gesellschaft. Daß man sich unter nicht-staatlichen oder vor-staatlichen Gesellschaften etwas vorstellen kann, ist Voraussetzung (oder auch Folge) des Umstandes, daß wir „Staat" und „Gesellschaft" unabhängig voneinander definieren. Diese Unabhängigkeit besteht jedoch nur in einer Richtung: wir können „Gesellschaft" unabhängig von „Staat" definieren, indem wir von einem Staat nur sprechen, wenn bestimmte Merkmale wie zentrale Institutionen, die nach besonderen Regeln ihrerseits allgemeine Gesetze erzeugen und durchsetzen, etc. vorhanden sind. Im Rahmen des normalen Sprachgebrauchs können wir umgekehrt aber von einem Staat nur als von einer Gesellschaft mit bestimmten Merkmalen sprechen, durch die diese Gesellschaft zu einer staatlichen wird. Gesellschaft und Staat sind also nicht unterschiedliche Regelungsbereiche, sondern es gibt nur einen Regelungsbereich — die Gesellschaft —, in dem staatliche und nicht-staatliche Regelungen nebeneinander und sich teilweise überschneidend, einander teilweise widersprechend existieren. Die staatlichen Regeln kann man — insoweit Kelsen folgend — als „Recht" bezeichnen. Das ist aber nicht zwingend: es mag durchaus vernünftig sein, von vorstaatlichem Recht zu sprechen und zwar ebenso in historischem wie in naturrechtlichem Sinn 2 5 2 . Die nicht250
Bemerkenswerterweise scheint es so, als ob die Solidarität der Bürger einem maßvoll unterdrückenden Staat gegenüber dem Einzelnen u.U. ein größeres Geborgenheitsgefühl vermittelt, als ein demokratischer Staat dies vermag. :si Vgl. Wesel (a.a.O. Fn. 249). 252 Es erscheint mir sehr fraglich, ob die nach Wesel von den Ethnologen als fundamental erkannte Verschiedenheit von custom and law tatsächlich so wesentlich ist. Erstaunlicherweise neigen manche Soziologen zu einem recht engen, fast möchte ich sagen, positivistischen Rechtsbegriff. Es sei aber in diesem Zusammenhang immerhin darauf
.2 Mögliche Kriterien zur Unterscheidung von Recht und Moral
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staatlichen Regeln kann man als „gesellschaftlich" bezeichnen, sollte dabei aber nicht vergessen, daß dies in dem etwas metaphorischen Sinne von „nur" gesellschaftlich zu verstehen ist, und nicht zum Schluß berechtigt, staatliche Regeln seien nicht „auch" gesellschaftlich. Die Prädikate „staatlich" oder „gesellschaftlich" bezeichnen — auf Regeln angewandt — eher die Regelungsart als den Regelungsgegenstand, und verweisen auf Unterschiede in Form, Geltungsgrund, Herkunft und Reaktion auf Normverletzungen. Wenn sich auch Staat und Gesellschaft nicht als voneinander verschiedene Regelungsgegenstände abgrenzen lassen, mag es doch einen gewissen Sinn haben, zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Rollen 2 5 3 zu unterscheiden. Das Recht, so könnte man dann sagen, regelt die staatlichen Rollen, die Moral die gesellschaftlichen. Definiert man den Staat — wie das im letzten Abschnitt angedeutet wurde — durch das Auftreten bestimmter regelgeleiteter Institutionen zur Normenerzeugung und -durchsetzung, so kann man dasjenige, was ein Vertreter solcher Institutionen im Rahmen seiner institutionellen Tätigkeit tut, als ein besonderes Rollenverhalten ansehen. Die Rolle des Betreffenden kann als staatliche Rolle bezeichnet werden. Ebenso könnte man das Verhalten eines Individuums als Staatsbürger — also bei bewußter Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten — als ein staatliches Rollenverhalten ansehen. Dagegen kann das Verhalten außerhalb staatlicher Rollen gesellschaftlichen Rollen zugeordnet werden. Ohne im Detail auf die Probleme einer solchen Unterscheidung einzugehen, möchte ich darauf hinweisen, daß sie sich die Verschiedenheit der Regelungsbereiche in gewissem Maße gewaltsam schafft. Zunächst jedenfalls liegt es nahe, das handelnde Individuum als eine natürliche Einheit anzusehen. Daß sich Individuen durch unterschiedliche Rollenanforderungen in Konfliktlagen versetzt sehen können, ist damit nicht bestritten. Aber die Einheit des handelnden Individuums erweist sich gerade darin, daß es diese Rollenanforderungen miteinander vereinbart, ihnen gegenüber seine persönliche Integrität bewahrt. Es kann nun allerdings sein, daß diese natürliche hingewiesen, daß die historische Rechtsschule Gewohnheit für eine bedeutende, wenn nicht sogar die bedeutendste Rechtsquelle gehalten hat. Natürlich sind Gewohnheit und custom im Sinne der Ethnologen nicht unbedingt dasselbe. Aber vermutlich würde man durchaus im Geiste der historischen Rechtsschule eine Gesellschaft, in der es nur custom gibt, als einen vielleicht sogar paradiesischen Rechtszustand beschreiben können. Und es fragt sich auch, ob nicht eine solche Aufassung durchaus ihre Stützen in der Umgangssprache findet. Es wäre jedenfalls noch zu prüfen, ob bei Begriffen wie „Recht" und „gerecht" nicht eine vorstaatliche Herkunft nachzuweisen ist, die auch heute noch ihren Bedeutungshof beeinflußt. 253 Zum Rollenbegriff vgl. etwa: Ralf Dahrendorf: Homo Sociologus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, Köln 1958; kritisch dazu Friedrich H. Tenbruck: Zur deutschen Rezeption der Rollentheorie, KZfSS 13 (1961), S. Iff.; ferner Heinrich Popitz: Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie, Tübingen 1967; Bernard Willms: Funktion — Rolle — Institution, Düsseldorf 1971.
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
Auffassung der Person als Einheit mehr ein frommer Wunsch als ein Abbild der Wirklichkeit ist. In gewissem Maße handeln wahrscheinlich alle Menschen widersprüchlich. Rollentrennung läßt sich geradezu zum Lebensstil erheben, und die Einheit der Person kann etwas sehr Privates, beinahe Intimes sein. Wenn ich auch glaube, daß die weitgehende Einheit der Person, mag sie sich nach außen hin auch noch so widersprüchlich verhalten, eine prinzipiell erkennbare Realität ist (ich glaube nicht, daß Schizophrenie ein gesellschaftlich relevantes Massenphänomen ist), und daher behaupten würde, daß das in der einen Rolle scheinbar diesen und in der anderen Rolle scheinbar jenen Regeln folgende Individuum in Wirklichkeit in erster Linie beiden Rollen übergeordnete, gesellschaftliche Metaregeln befolgt, die ihm diese Rollentrennung überhaupt erst ermöglichen, will ich doch nicht leugnen, daß ich mich erstens in diesem Glauben täuschen könnte, und daß es zweitens — selbst wenn ich recht hätte — von einem gewissen Wert sein könnte, das Verhalten in den verschiedenen Rollen wie ein isoliertes und unabhängiges Verhalten zu beschreiben. Hinzukommt, daß es gruppen- oder klassenspezifische Spezialisierungen auf bestimmte Rollen derart geben könnte, daß vorzüglich die Angehörigen bestimmter Gruppen die staatlichen Rollen übernehmen. Eine solche Rollentrennung nach Gruppen verschiebt in gewissem Umfang das Problem der Vereinbarung widersprüchlichen Rollenverhaltens vom Einzelnen zur Gesellschaft und erlaubt es, zwischen verschiedenen Regelsystemen zu unterscheiden, die überwiegend für bestimmte gesellschaftliche Gruppen gelten 254 . Wenn Recht eine Angelegenheit von Klassenjustiz ist, dann kann ihm Gesellschaft als Lebensform der unterdrückten Klasse gegenübergestellt werden. Mit der gewöhnlichen Annahme, daß das Recht für alle gilt, würde diese These vielleicht durch die — natürlich erst empirisch nachzuweisende — Behauptung fertig werden können, daß die Allgemeinheit des Rechts bloß ein ideologischer Schein ist, der seinerseits durch die Träger staatlicher Rollen aufrecht erhalten wird (Wer unter Brücken schläft, wird bestraft! Die einen schlafen unter Brücken, die anderen bestrafen sie. Nur die, die bestrafen, befolgen die Norm.). Ein schwieriges Problem wäre es vermutlich, daß eine solche Klassengesellschaft kaum stabil sein könnte, wenn es nicht auch bei den Beherrschten Normen gäbe, aufgrund derer sie sich beherrschen lassen. Das „falsche Bewußtsein" der nicht-revolutionären Arbeiterklasse mag falsch sein, aber es ist vorhanden (Im Beispiel bedeutet es: Auch die, die unter Brücken schlafen, finden es in Ordnung, dafür bestraft zu werden.). Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den zuletzt angedeuteten Unterscheidungsmöglichkeiten würde dazu zwingen, in erheblichem Maße in sozialwissenschaftliche Kontroversen und Diskussionen einzusteigen. Dies Vorarbeiten zu einer marxistischen Rollentheorie unternimmt Hans Joas: Die gegenwärtige Lage der soziologischen Rollentheorie, Kronberg 1973.
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scheint mir im Rahmen einer Systematik der möglichen Unterscheidungen von Recht und Moral nicht angebracht. Ich begnüge mich daher mit der Feststellung, daß eine Unterscheidung von Recht und Moral danach, welche Rollen sie regeln, möglich sein könnte.
1.2331 Verschiedene Normadressaten Die bisherigen Überlegungen lassen von Unterscheidungen zwischen Recht und Moral nach jeweiligen Regelungsgegenständen nicht allzuviel übrig. Was auch noch bleiben könnte, ist die mehr äußerliche Feststellung, daß sie verschiedene Normadressaten haben. Wir haben schon gesehen, daß es in gewissem Umfang berechtigt sein könnte, Recht und Motal als Regelungen verschiedener, allerdings vermutlich keineswegs in jeder Beziehung klar voneinander abgrenzbarer, Rollen anzusehen. Man kann in dieser Richtung noch einen Schritt weitergehen, indem man als Adressat der Rechtsnorm grundsätzlich nicht den Einzelnen als Staatsbürger, sondern allein die Vertreter der für Rechtserzeugung und Anwendung zuständigen Instanzen ansieht. Strafrechtsnormen würden sich z.B. diesem Modell entsprechend nicht an die möglichen Täter, sondern an die Sanktionsinstanzen wenden. Ihr Inhalt wäre nicht, daß man bestimmte Verhaltensweisen unterlassen soll, sondern daß ein Richter oder eine andere berufene Instanz ein bestimmtes Verhalten in bestimmter Weise bestrafen soll 2 5 5 . Für eine solche Ansicht kann zumindest ihre Konsequenz ins Feld geführt werden. Sie erlaubt es, wirklich scharf zwischen Recht und Moral zu trennen, denn sie kann die moralische Beurteilung eines Verhaltens vollkommen dahingestellt sein lassen. Normunterworfene sind allein die Vertreter staatlicher Instanzen und zwar in ihrer Eigenschaft als Vertreter staatlicher Instanzen. Damit stellt sich weder die Frage ob das tatbestandliche Verhalten gut ist oder schlecht, noch die Frage, ob ein Mensch, der (zufällig) Richter ist, gut handelt oder schlecht handelt, wenn er dieses Verhalten mit der in einer Strafrechtsnorm vorgesehenen Sanktion belegt. Der Richter als Richter soll das tun, was der Mensch als Richter tun soll, ist ein anderes (moralisches) Problem 2 5 6 . 255 Vgl. Julius Binder: Rechtsnorm und Rechtspflicht, Leipzig 1912; ders.: Der Adressat der Rechtsnorm und seine Verpflichtung, Leipzig 1927. 256 Es sei darauf hingewiesen, daß eine solche Formulierung auch rechtspositivistischen Autoren nicht fern liegt. So wendet H.L.A. Hart gegen Radbruchs These, daß das Streben nach Gerechtigkeit zum Rechtsbegriff gehöre, ein, daß ihre Grundlage, die Annahme, der Rechtspositivismus habe den Nationalsozialismus begünstigt, auf dem Mißverständnis beruhe, „daß mit der Anerkennung einer Norm als einer gültigen Norm des Rechts auch schon die moralische Frage „Soll man dieser Rechtsnorm Gehorsam leisten?" entschieden" sei (H.L.A. Hart: Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral, in: ders.: Recht und Moral, Göttingen 1971, S. 14-57, 42).
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
Abgesehen von ihrer Konsequenz spricht allerdings fast alles gegen diese Auffassung. Zunächst einmal steht sie offensichtlich im Widerspruch zu der common-sense-Auffassung vom Sinn der Rechtsnormen. Nach dieser Auffassung wenden sie sich durchaus auch und sogar in erster Linie an denjenigen, dessen tatbestandliches Verhalten mit Strafe bedroht wird. Grundsätze wie „nulla poena sine lege" und Bestimmtheitsgebot beziehen daraus ihre Rechtfertigung. Aber selbst wenn man bereit wäre zuzugestehen, daß sich z.B. Strafrechtsnormen nur an den Richter wenden, ist immer noch fraglich was es heißen soll, daß sie sich an den Richter als Richter wenden. Soll das Verhalten eines konkreten Menschen, der Richter ist, bestimmt werden, dann kann es nicht ausreichen zu definieren, was er tun müßte, damit er sich so verhält wie ein Richter, sondern dieser Mensch soll dazu gebracht werden, sich auch tatsächlich so zu verhalten. Das setzt voraus, daß es Normen der Form gibt: Verhalte dich so und so! und zwar unbedingte Normen, also nicht: Wenn du dich wie ein Richter verhalten willst, verhalte dich so und so, sondern: D u bist ein Richter, also verhalte dich so und so! Derartige Normen implizieren, daß ein bestimmtes Verhalten als gut oder richtig bzw. umgekehrt als falsch oder schlecht qualifiziert wird, sie implizieren also eine Bewertung. Betrachtet man Rechtsnormen zumindest auch als Wertungen, dann kann man sie als rechtliche Wertungen nicht klar von moralischen Wertungen unterscheiden, ohne ihnen ihre unmittelbare verhaltenssteuernde Kraft zu nehmen. Ist das Recht nur ein relativer Wertmaßstab, dessen Anwendbarkeit in jedem Fall zuvor moralisch überprüft werden muß 2 5 7 , dann ist es keine erschöpfende Regelung des richterlichen Verhaltens, sondern muß sich diese Aufgabe mit der höherrangigen Moral teilen. Es kann nur dort verbindlich sein, wo die Moral ihm nicht widerspricht, und auch das nur, wenn es moralisch zumindest unbedenklich ist, daß überhaupt oder in dem konkreten Fall etwas rechtlich geregelt ist. Selbst wenn man zugäbe, daß Rechtsnormen nur an die Richter und sonstigen Normanwender gerichtet sind, würde also eine klare Unterscheidung von Recht und Moral nach ihren Adressaten dadurch kompliziert, daß man entweder das Recht als einen selbständigen und in seinem Bereich absoluten Wertmaßstab ansehen und den Richter als Person in seiner Rolle als Richter aufgehen lassen, oder einräumen müßte, daß sich die Moral auch an den Richter wendet. Im zweiten Falle kommt man zu Sätzen wie: Moral wendet sich an Jedermann, Recht nur an Richter. Es ist ohne weiters ersichtlich, daß es sich bei einer solchen These nur um eine besonders enge Variante der Unterscheidung von Recht und Moral nach den jeweils geregelten Rollen handelt. Das oben generell zur Möglichkeit derartiger Unterscheidungen 257
Vgl. die in Fn. 256 referierte Ansicht H.L.A. Harts.
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Gesagte gilt hier ebenfalls, allerdings widerspricht die skizzierte Unterscheidung in besonders krasser Weise dem common sense. Schwächt man die These, daß Recht sich an den Rechtsstab wende, dahingehend ab, daß Recht sich auch an den Rechtsstab wendet, während eine entsprechende besondere Empfangergruppe im Falle der Moral nicht existiert, so gewinnt man ein sehr beachtliches Unterscheidungskriterium. Moderne Rechtsordnungen regeln immer auch die Verfahren der Normsetzung und -durchsetzung. Bei der Moral dagegen kann man nicht davon sprechen, daß entsprechende Verfahren geregelt sind. Ebensowenig gibt es dem Rechtsstab vergleichbare moralische Instanzen. Daß das Recht neben dem Verhalten der Bürger auch das des Rechtsstabeis regelt, kann als Modifikation der These angesehen werden, daß Recht und Moral verschiedene soziale Rollen regeln. Es stellt vielleicht auch ein Indiz dafür dar, daß das Verhalten des Bürgers in einer bestimmten Beziehung geregelt wird. Unterscheidet sich der Regelungsgegenstand des Rechts dadurch von dem der Moral, daß das Recht immer auch seine eigene Erzeugung und Durchsetzung regelt, so hat das formale und, bei Wirksamkeit des Rechts, auch tatsächliche Konsequenzen. Unter beiden Gesichtspunkten wird die hier angedeutete Unterscheidung unten noch eingehender besprochen werden. Mit dieser Akzentuierung wird dem Umstand Rechnung getragen, daß die besonders heftig umstrittene Frage nach der Beziehung des Rechts zum Zwang im allgemeinen nicht als Frage des Regelungsgegenstandes diskutiert wurde 2 5 8 . An dieser Stelle genügt es, festzuhalten, daß ein Unterschied zwischen Recht und Moral durchaus darin gesehen werden kann, daß das Recht seine eigene Erzeugung und Durchsetzung regelt oder, wie man dafür auch sagen kann, sekundäre Regeln enthält 2 5 9 . Die Frage, ob dies ein wesentliches Merkmal des Rechts ist, muß offen bleiben. Vermutlich kann man sich 258
Vgl. z.B. Hans Nef: Recht und Moral in der deutschen Rechtsphilosophie seit Kant, St. Gallen 1937, S. 37 ff. 259 Es ist besonders H.L.A. Hart, der das Zusammenwirken von primären und sekundären Regeln als spezifisches Merkmal des Rechts hervorhebt (Vgl. Der Begriff des Rechts, Frankfurt 1973, S. 115ff.). Aber natürlich kommt dieser Gedanke auch bei anderen Theoretikern bereits mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck, so insbesondere bei Kelsen, der etwa in der Reinen Rechtslehre ( 2. Aufl. Wien 1960, S. 228) schreibt: „Im Vorhergehenden wurde schon wiederholt auf die Eigentümlichkeit des Rechts hingewiesen, seine eigene Erzeugung zu regeln." An anderer Stelle freilich heißt es: „Auch nicht in Bezug auf die Erzeugung oder die Anwendung ihrer Normen lassen sich Recht und Moral wesentlich unterscheiden." (s. 64). Zur Begründung letzterer These verweist Kelsen auf primitive Rechtsordnungen. Wie wir noch sehen werden, ist die auch von Kelsen vertretene „Zwangstheorie" des Rechts, wonach es sich durch seine Beziehung zum Zwang von der Moral unterscheidet, am besten zu begründen, wenn das Besondere der Beziehung von Recht und Zwang darin erblickt wird, daß das Recht selbst die Zwangsmittel zu seiner Durchsetzung bestimmt. Kelsen handelt sich also dadurch, daß er einerseits eine allgemeine Rechtsdefinition gibt, andererseits ansonsten eine Analyse moderner Rechtsordnungen vorlegt, möglicherweise vermeidbare Schwierigkeiten ein.
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1. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
primitive Rechtsordnungen vorstellen, die keine oder jedenfalls keine ausdrücklichen sekundären Normen enthalten. Bei modernen Rechtsordnungen — uiid die Moderne fängt in dieser Beziehung spätestens mit dem römischen Recht an — ist dies aber regelmäßig der Fall. Prima facie hat die angedeutete Unterscheidung daher eine beachtliche Plausibilität.
1.2332 Verschiedene Arten des geregelten Sollens Ebenfalls ein Unterfall der Unterscheidung von Recht und Moral nach den von ihnen geregelten Rollen und mit der Unterscheidung nach ihren jeweiligen Normadressaten eng verwandt, dürften die Versuche sein, den beiden Normenkomplexen unterschiedliche Arten des geregelten Sollens zuzuordnen. Als eine Variante einer derartigen These kann Larenz Behauptung aufgefaßt werden, daß Rechtsnormen „Bestimmungssätze" seien 260 . Bestimmungssätze sollen neben Aussagesätzen und Befehlen eine selbständige Klasse von Sätzen bilden, deren wichtigster wenn nicht sogar einzige Anwendungsfall die Rechtssätze sind 2 6 1 . Ihnen soll eine eigene Seinsebene, das „rechtlich Geltende" korrespondieren 262 . Trifft die Larenzsche Ansicht zu, so müßten die Regelungsgegenstände von Recht und Moral wohl auf unterschiedlichen Seinsebenen gesucht werden. Allerdings bestehen gegen das von Larenz skizzierte Modell erhebliche Bedenken, die sich in dem Verdacht zusammenfassen lassen, daß er das Rechtssystem allzusehr verselbständigt. Denn selbst wenn man zugeben könnte, daß Rechtssätze in erster Linie Bestimmungen darüber enthalten, was rechtlich gesollt ist, sich also auf das Rechtssystem selbst beziehen, kann doch dieses System seinerseits nicht unabhängig von außer ihm liegenden Zwecken verstanden werden. Das ganze Unternehmen Recht dient irgendwozu und/oder ist Ausdruck von etwas und insoweit unselbständig. Unter dem Regelungsgegenstand des Rechts wird man sinnvollerweise dasjenige verstehen, worauf sich das Recht insgesamt bezieht, also z.B. menschliches Verhalten überhaupt oder das Verhalten des Rechtsstabes, also einer Gruppe von Menschen oder das Verhalten aller Menschen oder einer Gruppe von Menschen in einer bestimmten Hinsicht. Es kann wohl auch kaum zweifelhaft sein, daß einzelne Rechtsregeln, selbst wenn sie dies über den Zwischenschritt der Bestimmung des „rechtlich Gesollten" erreichen, auf eine Regelung von wie auch immer zu definierendem, rechtlich relevan-
ff.
26,1
Karl Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. Berlin etc. 1975, S. 235
261
Larenz S. 239. Larenz S. 239.
262
1.2 Mögliche Kriterien zur Unterscheidung von Recht und Moral
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tem Verhalten abzielen. Dadurch, daß der Bereich des rechtlich Gesollten als ein abgesonderter Seinsbereich einfach behauptet wird, kann das rechtlich relevante Verhalten nicht definiert werden. Sofern die These von Larenz mehr sein soll als eine irreführend formulierte Hervorhebung der Bedeutung des Systems für das Recht 2 6 3 , kommen die bereits besprochenen Versuche, das rechtlich relevante Verhalten abzugrenzen, in Betracht. Auch die Unterscheidung von Recht und Moral danach, ob sie es mit hypothetischem oder absolutem Sollen zu tun haben 2 6 4 , dürfte sich auf die Behauptung reduzieren lassen, daß Recht und Moral verschiedene Rollen regeln. Ich habe o. 1.2211 bereits hervorgehoben, daß der Begriff einer absoluten Geltung nur insoweit Sinn hat, als damit die Unabhängigkeit der Geltung von irgend etwas Bestimmtem ausgedrückt werden soll. Entsprechendes gilt für das „absolute Sollen" 2 6 5 . Im Rahmen einer danach sinnvollen Verwendung dieses Begriffes könnte man die obige These dahingehend interpretieren, daß rechtliches Sollen von bestimmten Dingen abhängig ist, von denen moralisches Sollen nicht abhängt. I n Betracht kommen z.B. der Wille des Gesetzgebers, eine bestimmte rechtspolitische Zielsetzung, die Zugehörigkeit des Betroffenen zu einer bestimmten Gruppe (Staatsbürgerschaft), seine Zustimmung zur Rechtsordnung etc. Demgegenüber werden moralische Forderungen gerne mit einem Universalitätsanspruch verbunden 2 6 6 , der dahingehend interpretiert werden kann, daß all dies keine Rolle spielen soll. Das bedeutet aber natürlich nicht, daß die Geltung moralischer Normen nicht auch von irgendwelchen Voraussetzungen abhängig wäre, z.B. davon, daß es überhaupt Menschen gibt, daß diese Menschen unter bestimmten äußeren Bedingungen leben müssen und wollen, daß es zumindest theoretisch möglich ist, so etwas wie einen Zustand zu definieren, der dem Willen aller besser entspricht als jeder andere Zustand etc. Deutet man die These vom absoluten bzw. hypothetischen oder relativen Sollen in der skizzierten Weise, dann ergibt sich, daß auch hiervon verschiedenen Regelungsbereichen allenfalls insofern gesprochen werden könnte, als Recht und Moral die Normunterworfenen in unterschiedlicher Weise ansprechen, nämlich etwa als Staatsbürger oder als Menschen schlechthin 263 Unter Bedeutung des Systems für das Recht verstehe ich hier einen Aspekt der Technizität des Rechts. Die Darstellung des Rechts in Form eines möglichst abgeschlossenen und in sich widerspruchsfreien Normensystems ermöglicht Subsumtion, d.h. — in gewissen Grenzen — mechanische Rechtsa η Wendung. Durch diese Möglichkeit scheint sich das Recht allerdings von der Moral zu unterscheiden (vgl. dazu u. 1.243). 264 Vgl. Hans Nef: Recht und Moral in der deutschen Rechtsphilosophie seit Kant, St. Gallen 1937, S. 9-14 zur Deduzierbarkeit des Rechts aus dem Sittengesetz. 165 Ebenso Felix Kaufmann: Juristischer und soziologischer Rechtsbegriff, in: Alfred Verdross (Hrsg.): Gesellschaft, Staat und Recht — Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre, Frankfurt 1967, S. 14-41, 23. 266 S. z.B. Ota Weinberger: Die Pluralität der Normensysteme, in: ARSP 57 (1971), S. 423.
16
. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe
etc. Das zur Regelung unterschiedlicher Rollen durch Recht und Moral Gesagte gilt daher auch hier.
1.23
Zusammenfassung
Von den verschiedenen behandelten Möglichkeiten, Recht und Moral nach ihrem Regelungsgegenstand zu unterscheiden, können einige bestenfalls als Vorschläge zu neuen Sprachkonventionen angesehen werden: a. Bei dem Versuch, die Kantische Unterscheidung von Recht und Moral (Legalität und Moralität) danach, ob äußeres Verhalten oder innere Gesinnung geregelt wird, zu präzisieren, ergibt sich, daß Handlung und Gesinnung nicht voneinander getrennt werden können. Es ist die Gesinnung, die eine Handlung zu dem macht, was sie ist. Eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Gesinnung, einer Rechts- und einer Moralgesinnung, danach, ob jemand sich eine Norm zum Ziel setzt oder sie nur als Mittel befolgt, ist wenig praktikabel, zumindest insoweit erscheint es nicht empfehlenswert, zwischen rechtlich und moralisch gebotenen Handlungen danach zu unterscheiden, aus welcher Gesinnung sie erfolgen sollen. Sogar als in sich widersprüchlich muß — jedenfalls dann, wenn Moral präskriptiv ist — die Ansicht verworfen werden, daß Moral keine Handlungen fordere. Möglich ist es jedoch, den Regelungsbereich der Moral auf das Aufstellen von Normen für äußeres Verhalten zu beschränken, b. Sofern versucht wird, Recht und Moral danach zu unterscheiden, ob sie Individualoder Gemeinschaftsleben regeln, scheitern derartige Versuche am recht verstandenen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Nach der hier vertretenen Ansicht zu diesem Verhältnis ergeben sich bei einer entsprechenden Umdeutung der Begriffe Individualleben und Gemeinschaftsleben weitgehend dieselben Probleme wie bei der Kantischen Unterscheidung zwischen Gesinnung und äußerem Handeln. Auch vor dem Hintergrund des normalen Sprachgebrauchs möglich erscheint es, zwischen Recht und Moral nach den mit ihnen verfolgten Zwecken zu unterscheiden. Eine solche Differenzierung kommt ersichtlich der liberalistischen Staatsauffassung entgegen, dürfte allerdings regelmäßig dazu führen, daß man Recht als moralisches Minimum ansehen muß. Ebenfalls möglich erscheint die Unterscheidung von Recht und Moral danach, welche Rollen sie jeweils regeln. Wenn eine derartige Unterscheidung auch nicht bis ins Detail ausgeführt wurde, ergaben sich doch Anhaltspunkte dafür, daß man sie in einer Weise treffen kann, die mit den umgangssprachlichen Begriffen von Recht und Moral in Einklang steht.
1.24 Die Form der Normen Verschiedentlich wurde versucht, Recht und Moral-durch ihre Form zu unterscheiden. Dabei soll „Form" die logische Struktur des Satzes bezeichnen, mit dem sich eine Rechts- bzw. Moralnorm formulieren läßt. Z.B. wird behauptet, Rechtsnormen seien verbietende, Moralnormen dagegen gebie-
1.2 Mögliche Kriterien zur Unterscheidung von Recht und Moral
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tend (1.241). Träfe das zu, dann hätten Rechtsnormen die Form „Unterlasse a!" Moralnormen dagegen die Form „Tue a!". Ähnlich ausdrückbare Formunterschiede ergeben sich aus den Behauptungen, Rechtsnormen seien imperativ-attributiv, Moralnormen nur imperativ, bzw. Rechtsnormen seien berechtigend, Moralnormen dagegen verpflichtend (1.242), oder Rechtsnormen seien hypothetische Imperative, Moralnormen dagegen unbedingte Imperative (1.243). In den Zusammenhang dieser letzten Unterscheidung scheint mir auch die Behauptung zu gehören, Rechtsnormen seien Mittel, Moralnormen dagegen Zwecke (1.2431). Allerdings dürfte die Unterscheidung von Mittel und Zweck sich in dem äußeren Unterschied einer bedingten und einer unbedingten Formulierung nicht erschöpfen. Schließlich kann man auch die These, daß nur Rechtsnormen notwendigerweise Sanktionen vorschreiben als eine Variante der Unterscheidung von Recht und Moral nach il^rem hypothetischen bzw. absoluten Charakter auffassen (1.2432). Wie auch schon bei der Unterscheidung von Recht und Moral nach ihrem Geltungsgrund, so können auch bei der Unterscheidung von Recht und Moral nach ihrer Form sowohl die einzelnen Normen als auch die Normenkomplexe insgesamt als Anknüpfungspunkt gewählt werden. Als besondere Formmerkmale der Rechtsordnung kommen ein hierarchischer Aufbau, die Existenz von primären und sekundären Regeln, die Existenz von Kompetenznormen für die Normerzeugung, sowie das Bestehen spezieller rechtlich definierter Rollen innerhalb und außerhalb des Rechtsstabes in Betracht (1.244). Bevor ich auf die einzelnen Möglichkeiten, Recht und Moral nach ihrer Form zu unterscheiden, zu sprechen komme, scheint es mir angezeigt, einige allgemeine Bemerkungen zur Bedeutung dieser Unterscheidungen vorauszuschicken. Sie haben nämlich jedenfalls zum Teil sehr wenig mit den Problemen zu tun, die oben als der unmittelbar praktisch sinnvolle Kern der Frage nach dem Verhältnis von Recht und Moral herausgestellt wurden (vgl. o. 0.23). Daß diese Abrgrenzungsversuche hier dennoch in einer gewissen Breite vorgestellt werden, bedarf daher der Erläuterung. Gesetzt es gäbe so etwas wie den richtigen Begriff von Recht und Moral, dann würde sich aus diesen Begriffen auch die Antwort darauf ableiten lassen, wie Recht und Moral voneinander abzugrenzen sind. Umgekehrt folgt daraus, daß diese oder jene Abgrenzung möglich ist, kein Rechtsbegriff in einem derart angspruchsvollen Sinne. Jedoch wird auch eine Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Moral in normativer Absicht, empirisch sinnvolle Unterscheidungen desjenigen, was als Recht und Moral in Erscheinung tritt, berücksichtigen müssen. Dies gilt nun in ganz besonderem Maße für die zunächst rein äußerlichen, formalen Unterschiede, denn es gibt in der Rechtstheorie eine deutliche Tendenz, sich mit einer formalen Abgrenzung zu begnügen. Auch analytische Rechtsphilosophen neigen zu der Ansicht,
11 Geddert
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daß z.B. die Frage, ob man das Recht befolgen solle, mit dem Problem der Bestimmung des Rechtsbegriffes und der Abgrenzung von Recht und Moral nichts zu tun habe. Da ich die Berechtigung dieser Sicht bezweifele, fühle ich mich in besonderem Maße veranlaßt, auch diese — wie sich sich zeigen wird — letztlich für das eigentliche Problem relativ unerheblichen Abgrenzungen vorzustellen, denn das ist notwendig, um ihnen den Platz zuzuweisen, der ihnen zukommt.
1.241 Rechtsnormen verbieten, Moralnormen gebieten 267 Ganz abgesehen davon, daß eine solche Unterscheidung erheblich vom normalen Sprachgebrauch abweicht — es gibt viele Normen, die wir normalerweise als Rechtsnormert bezeichnen, obgleich sie als Gebote formuliert sind (z.B. § 242 BGB) — erscheint sie auch schon deswegen problematisch, weil es logisch gesehen prinzipiell möglich ist, ein Gebot als Verbot zu formulieren und umgekehrt. Wenn eine Handlung H geboten ist, dann sind alle anderen Handlungen (non H) verboten und umgekehrt (O(H) V(-H)) 2 6 8 . Angesichts dieser Austauschbarkeit von Gebots- und Verbotsformulierung könnte es nur ein mehr zufälliger äußerer Unterschied sein, wenn Rechtsnormen tatsächlich eher in der einen und Moralnormen eher in der anderen Form ausgedrückt würden. Da ein solcher Unterschied im Sprachgebrauch kaum auffindbar sein dürfte, und sich wohl auch keine überzeugenden Argumente dafür finden lassen dürften, zu einem der skizzierten Unterscheidung entsprechenden Sprachgebrauch überzugehen, darf man sie getrost als unzutreffend ansehen. Sofern die Unterscheidung dadurch mit Substanz angefüllt werden soll, daß sie auf Wesensmerkmale des Rechts zurückgeführt wird, komme ich unter anderer Überschrift darauf zurück. Wird etwa als allgemeinster Inhalt des Rechts das Verbot, subjektive Rechte zu beeinträchtigen, angesehen 269 , so kann auf diesem Wege kaum begründet werden, daß Recht in Verbotsform formuliert werden müßte. Stattdessen handelt es sich entweder um eine Variante der These, daß Recht imperativ-attributiv sei, oder um eine Unterscheidung von Recht und Moral nach den mit ihnen verfolgten Zwecken 270 . : 7
" Vgl. Karl Engisch: Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, München 1971, S. 92. S. Georg Henrik v. Wright: Norm and Action, London/New York 1963, S. 83; Bengt Hansson: An Analysis of Some Deontic Logics, in: Risto Hilpinen (Ed.): Deontic Logic: Introductory and Systematic Readings, Dordrecht 1971, S. 121-147, 122. Vgl. die Hinweise zu dieser Ansicht bei Engisch. ' 7 n Eine genaue Einordnung dürfte vielfach kaum möglich sein. Vgl. etwa folgendes Zitat aus Schopenhauers Preisschrift über die Grundlage der Moral (zitiert nach Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke, hrsg. v. Arthur Hübscher, Bd. 4, Wiesbaden 1972, S. 218f.): „Die Rechts/ehre ist ein Theil der Moral, welcher die Handlungen feststellt, die man nicht ausüben darf, wenn man nicht Andere verletzen, d.h. Unrecht begehen will. Die
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1.242 Rechtsnormen sind imperativ-attributiv, Moralnormen nur imperativ; Rechtsnormen berechtigen, Moralnormen verpflichten Der Grundgedanke dieser — recht häufig vertretenen 271 — Unterscheidung ist, daß im Falle des Rechts jeder Verpflichtung eine Berechtigung korrespondiert, dies jedoch bei der Moral im allgemeinen nicht der Fall sei. So steht etwa dem rechtlichen Tötungsverbot das Recht auf Leben gegenüber. Man kann vielleicht sogar sagen, das eine folgt aus dem anderen. Jedenfalls hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Abtreibungsentscheidung die Ansicht vertreten, daß sich aus dem Lebensrecht des nasciturus die Verpflichtung des Staates ergebe, Abtreibung, zumindest in bestimmten Fällen, unter Strafe zu stellen 272 . Besonders deutliçh ist der Zusammenhang zwischen Verpflichtung und Berechtigung im Zivilrecht, speziell im Vertragsrecht. Hier gilt: Wozu der eine verpflichtet ist, das kann der andere fordern, und umgekehrt 273 . Soweit sich im Recht Normen finden, die sich möglicherweise nicht als imperativ-attributiv oder „zweiseitig" charakterisieren lassen, handelt es sich um leges imperfectae, also allgemein gesprochen um Gesetze, deren VerletMoral hat also hierbei den aktiven Theil im Auge. Die Gesetzgebung aber nimmt dieses Kapitel der Moral, um es in Rücksicht auf die passive Seite, also umgekehrt, zu gebrauchen und die selben Handlungen zu betrachten als solche, die Keiner, da ihm kein Unrecht widerfahren soll, zu leiden braucht. Gegen diese Handlungen errichtet nun der Staat das Bollwerk der Gesetze als positives Recht. Seine Absicht ist, daß Keiner Unrecht leide: die Absicht der moralischen Rechtslehre hingegen, daß keiner Unrecht thue." An anderer Stelle entwickelt Schopenhauer seine Rechtslehre vollständiger (in § 62 Bd. 1 der „Welt als Wille und Vorstellung"), sagt jedoch nicht wesentlich mehr als in der zitierten Stelle zu dem hier interessierenden Problem, wie seine Abgrenzung von Recht und Moral genau aufzufassen ist. Man ist versucht zu sagen, nach Schopenhauer verfolgen Recht und Moral dasselbe Ziel auf verschiedenen Wegen. Nach dieser Interpretation bestünde der Unterschied zwischen ihnen tatsächlich in der Form. Man würde dann zu der These geführt, daß Recht im Gegensatz zur Moral imperativ-attributiv sei. Bei genauerem Hinsehen scheint es jedoch auch zumindest möglich, daß Schopenhauer Recht und Moral nach ihren Zwecken unterscheiden wollte. Denn wenn das Recht nicht duldet, daß jemand Unrecht leidet, dann ist sein Zweck offenbar die Aufrechterhaltung eines gerechten Weltzustandes. Dagegen könnte es durchaus Zweck der Moral sein, dafür zu sorgen, daß der Einzelne ein guter Mensch wird oder bleibt. Selbstverständlich ist nicht ausgeschlossen, daß Schopenhauer beide Unterschiede für gegeben hielt. 271 Z.B. von Leon Petracycki: Über die Motive des Handelns, Berlin 1907, S. 21-29; ders.: Law and Morality, Cambridge 1955, S. 62; Giorgio Del Vecchio: Lehrbuch der Rechtsphilosophie, Berlin 1937, S. 246; Erwin Riezler: Das Rechtsgefühl, 3. Aufl. München 1969, S. 75. Die Unterscheidung lehnen u.a. ausdrücklich ab: Emst Weigelin: Einführung in die Moral und Rechtsphilosophie, Leipzig 1927, S. 81 f. Felix Somló: Juristische Grundlehre, Leipzig 1917, S. 446, 486. 272 Vgl. dazu meinen Aufsatz „Abtreibungsverbot und Grundgesetz (BVerfGE 39, iff.)" in: Klaus Lüderssen/Fritz Sack (Hrsg.): Vom Nutzen und Nachteil der Sozial Wissenschaften für das Strafrecht, Bd. 2, Frankfurt 1980, S. 333-385, 345, 352ff. 273 Dementsprechend hat Somló nur das Zivilrecht als imperativ-attributiv n^sehen.
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zung nicht sanktioniert ist. Echte leges imperfectae sind selten, sie kommen vorzüglich bei den grundlegenden verfassungsrechtlichen Normen vor (Verfassungsaufträge z.B., wie in der Weimarer Reichsverfassung noch sämtliche Grundrechte). Selbst wenn es in einem Rechtssystem vereinzelte leges imperfectae gibt, ist dies für die These vom imperativ-attributiven Charakter des Rechts solange unschädlich, als sie notwendigerweise Einzelfälle bleiben müssen. Eine solche Notwendigkeit anzunehmen, gibt es gute Gründe. Dabei kann hier dahinstehen, ob sie als Folge der empirischen Notwendigkeit von Sanktionen selbst empirischer oder begrifflicher Natur ist. Wenn Menschen Engel wären könnte ihre Rechtsordnung—falls es dann noch eine wäre — ausschließlich aus leges imperfectae bestehen. Die im vorangegangenen Absatz angestellten Überlegungen zeigen, daß ein enger Zusammenhang zwischen der hier angesprochenen Unterscheidung und einer Unterscheidung zwischen Recht und Moral nach ihrer Sanktionsbewehrtheit (vgl. dazu u. 1.25) besteht. Insofern als mit der Behauptung, das Recht sei im Gegensatz zur Moral imperativ-attributiv, eine logische These formuliert wird, geht sie allerdings weiter als die Behauptung, Recht sei auf Sanktionen angewiesen. Man könnte sich einen Normenkomplex vorstellen, der aus lauter korrespondierenden Berechtigungen und Verpflichtungen besteht, jedoch keine Sanktionen vorsieht. Ob eine Norm, die mir verbietet χ zu tun, zugleich andere berechtigt, von mir zu verlangen, daß ich χ unterlasse, ist als logisches Problem von der Frage zu unterscheiden, ob die anderen rechtliche Möglichkeiten haben, gegen mich vorzugehen, wenn ich doch χ tue. Die Verknüpfung von Norm und Sanktion setzt die Existenz korrespondierender Verpflichtungen und Berechtigungen voraus, ist aber nicht mit dieser Korrespondenz identisch. Es scheint mir sinnvoll, davon auszugehen, daß einer Berechtigung eine Verpflichtung logisch notwendig korrespondiert und umgekehrt. „Berechtigung" und „Verpflichtung" dienen dazu, (mindestens) zweistellige Relationen von der einen bzw. der anderen Seite her zu bezeichnen. Sie sind durchaus mit den Ausdrücken „kleiner als", „größer als" zu vergleichen. Wenn jemand behauptet, einer Berechtigung entspräche keine Verpflichtung oder umgekehrt, dann ist das genauso unsinnig als würde er behaupten, aus dem Umstand, daß der eine Gegenstand größer ist als der andere folge nicht, daß der andere kleiner sei als der eine. Trifft die eben geäußerte Ansicht zu, dann sind selbstverständlich auch moralische Normen imperativ-attributiv. Es ist jedoch nicht ganz einfach zu beweisen, daß dies richtig ist. Die sonst bei der Klärung grundlegender logischer Fragen oft hilftreiche Bezugnahme auf den normalen Sprachgebrauch hilft deswegen nicht viel weiter, weil dieser sich auf die handfeste Verknüpfung von Norm und Sanktion beschränkt. Die meisten Menschen würden wohl sagen, daß A berechtigt ist, dem Β moralische Vorwürfe zu
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machen, wenn Β einer moralischen Verpflichtung gegenüber A nicht nachkommt. Sie würden also faktisch eine Korrespondenz von Berechtigung und Verpflichtung auch im Bereich von Moral annehmen, aber ob sie das aus logischen Gründen oder deshalb tun, weil sonst die Moral etwas sehr Unpraktisches wäre, läßt sich schwer entscheiden. Ich glaube dennoch, daß die hier vertretene Ansicht sich mit Hilfe zweier Argumente begründen läßt: 1. Die Annahme von Verpflichtungen, denen keine Berechtigungen korrespondieren, ist unnötig. Es gibt keinen sprachlichen Zusammenhang, zu dessen Rekonstruktion diese Annahme erforderlich ist. 2. Wenn die von mir behauptete logische Verknüpfung von Berechtigung und Verpflichtung nicht bestünde, dann müßten Normenkomplexe, aus denen sich sowohl Berechtigungen als auch Verpflichtungen ergeben, selbständige Verpflichtungs- und Berechtigungsnormen enthalten. Da dies tat^ sächlich nicht der Fall ist, erscheint eine Auffassung, die entsprechende Normen fingieren müßte, unpraktisch. ad 1: Bei den meisten Verhaltensregeln, die man als moralisch ansehen würde, entspricht einer Verpflichtung auf der einen Seite eine Berechtigung auf der anderen. Es gibt jedoch einen Bereich von Moral, in dem das anders zu sein scheint: die „ideale Moral". Als Beispiel derartiger Moral können die in der Bergpredigt aufgestellten Normen gelten. Es sind Normen, die man vielleicht befolgen sollte, aber kaum befolgen kann. Wer es fertigbringt, ist ein Heiliger, und Heilige sind rar. Aus diesem Grunde wird von niemandem erwartet, daß er sich entsprechend verhält. Derartige ideale, aber nicht sehr realistische Verhaltensnormen sind ihrer Leitbildfunktion wegen sicherlich eine nicht unbedeutende Erscheinungsform von Moral. In ihrem Falle scheint es eine Verpflichtung zu geben, der keine Berechtigung korrespondiert. Man sollte ein Heiliger sein, aber niemand kann das von einem anderen verlangen 274 . Bei genauerem Hinsehen wird allerdings fraglich, ob diese Formulierung den Sachverhalt nicht etwas zu einfach darstellt. In welchem Sinne drückt das „sollte" in dem Satz „Man sollte ein Heiliger sein!" eine Verpflichtung aus? Besteht eine derartige Verpflichtung, wenn sie überhaupt besteht, Gott, sich selbst oder anderen Menschen gegenüber. Es ist offensichtlich, daß man sie allenfalls Gott oder sich selbst gegenüber haben kann. Wenn man Gott gegenüber zu etwas verpflichtet ist, dann kann er es auch verlangen. Die Geschichten von Moses und Jonas beweisen, daß er es gelegentlich sogar tut. Wenn man sich selbst gegenüber zu etwas verpflichtet zu sein glaubt, sieht die Sache kaum besser aus. Unabhängig davon, wie man die beteiligten seelischen Instanzen im Einzelnen bezeichnet, dürfte klar sein, daß es sehr wohl 274 Den Unterschied zwischen idealer und Alltagsmoral hebt Lion L. Füller: The Morality of Law, New Haven, (Conn.) 1964 hervor.
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einen Sinn gibt, in dem man von sich selbst etwas fordern kann. Warum sollte man dann nicht auch zu solchen Forderungen berechtigt sein können. Selbst wenn man zugibt, daß Normen der idealen Moral keine Verpflichtung anderen Menschen gegenüber begründen — was sich auch durchaus bezweifeln läßt 2 7 5 — folgt daraus noch keineswegs, daß sie eine andere logische Struktur als sonstige Normen haben. Auch interne Verpflichtungen oder Verpflichtungen Gott gegenüber haben eine imperativ-attributive Struktur. Wenn ich einer Verpflichtung mir selbst gegenüber nicht nachkomme, dann ist mein Gewissen berechtigt, mir deshalb Ungelegenheiten zu bereiten. Ebenso unstreitig dürfte sein, daß Gott berechtigt ist, die Einhaltung seiner Gebote zu verlangen. ad 2.: Nimmt man an, daß Verpflichtung und Berechtigung einander logisch notwendig bedingen, dann kann man eine Norm entweder als Berechtigung oder als Verpflichtung formulieren. Soweit tatsächlich korrespondierende Verpflichtungen und Berechtigungen bestehen, ergibt sich daraus ein beachtlicher Darstellungsvorteil: man muß nur entweder die Berechtigungen oder die Verpflichtungen aufführen. Nimmt man dagegen an, daß Verpflichtungen und Berechtigungen voneinander logisch unabhängig bestehen können, dann muß man zur Beschreibung eines Normenkomplexes, aus dem sich sowohl Berechtigungen als auch Verpflichtungen ergeben, alle Berechtigungs- und Verpflichtungsnormen anführen. Dies ist ein praktischer Nachteil, den man nicht ohne Grund auf sich nehmen sollte. Das, was man umgangssprachlich unter Recht versteht, enthält jedenfalls auch Verpflichtungen, das, was man umgangssprachlich unter Moral versteht, auch Berechtigungen 276 . Wollte man Recht und Moral unter Zugrundelegung der hier kritisierten Ansicht rekonstruieren, müßte man in beiden Fällen Berechtigungs- und Verpflichtungsnormen formulieren. I m Falle des Rechts könnte man z.B. zunächst die Berechtigungsnormen aufzählen und anschließend entweder für jeden Einzelfall oder mit Hilfe genereller Regeln angeben, ob eine der Berechtigung korrespondierende Verpflichtung besteht. Bei der Moral müßte man umgekehrt von den Verpflichtungsnormen ausgehen und dann angeben, welchen Verpflichtungen auch eine Berechtigung gegenübersteht. Beides ist möglich, aber durch die geläufigen :7>
Es erscheint mir naheliegend, bei Normen der idealen Moral einen Anspruch desjenigen, der sie erfüllt, auf besondere Wertschätzung anzunehmen. Alltagsmoral und ideale Moral unterscheiden sich dadurch, daß bei ersterer negative Sanktionen drohen und bei letzterer Belohnungen locken. Allerdings setzt sich der Heilige, der den Anspruch einfordert, nun auch als solcher behandelt zu werden, dem Verdacht aus, es komme ihm nur darauf an, worunter sein Ansehen derart leiden kann, daß die Verpflichtung, ihn als Heiligen zu behandeln, entfällt. :7h
Ersteres ist evident, zu letzterem vgl. die Beispiele bei Ernst Weigelin: Einführung in die Moral und Rechtsphilosophie — Grundzüge einer Wirklichkeitslehre, Leipzig 1927, S. 81 f.
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Darstellungen der Normenbestände von Recht und Moral nicht nahegelegt. Im Recht gilt offensichtlich das Prinzip, daß aus einer Verpflichtung eine Berechtigung unmittelbar folgt, sofern nichts anderes bestimmt ist, und umgekehrt. Eines besonderen Ausdrucks bedarf diese Regel nicht, und so fehlt sie denn auch in den Gesetzestexten277. Hinsichtlich der Moral fällt es schwerer, eine entsprechende Feststellung zu treffen, weil es keinen Kodex anerkannter Formulierungen moralischer Normen gibt. Jedoch wird man im allgemeinen wohl feststellen, daß die moralischen Normen als Verpflichtungen formuliert werden, und daß aus den so formulierten Normen unmittelbar moralische Berechtigungen abgeleitet werden. So wird etwa ein K i n d seinen Eltern gegenüber einen versprochenen Zirkusbesuch mit den Sätzen einfordern: Ihr habt es mir versprochen. Was man verspricht muß man halten! Und die Eltern würden kaum antworten: Vielleicht sind wir verpflichtet, unser Versprechen zu halten, aber woher stammt deine Berechtigung, das von uns zu verlangen. Denn die Eltern ihrerseits verlangen vom Kind regelmäßig, daß es seine moralischen Pflichten erfüllt.
1.243 Rechtsnormen sind hypothetische Imperative, Moralnormen unbedingte Imperative 278 D u sollst nicht töten! Das ist die klassische Fassung des moralischen Tötungsverbotes. Dagegen heißt es im § 212 StGB „Wer einen Menschen tötet ... wird bestraft". Solche und ähnliche Formulierungsunterschiede können zu der Annahme verführen, ihnen müsse eine entsprechende logische Struktur zugrunde liegen. Das Recht knüpft die Rechtsfolge an einen Tatbestand, die Moral fordert unbedingt. Eine solche Unterscheidung hat zwei Seiten, eine technische und eine inhaltlich. Technisch verstanden besagt sie, daß Moralnormen typischerweise in einer anderen Form gefaßt werden als Rechtsnormen. Inhaltlich verstanden drückt sie die Behauptung aus, daß Moral es mit einer anderen Art des Sollens zu tun habe als Recht — mit einem absoluten Sollen. Im vorliegenden Zusammenhang ist allein der technische Sinn der Unterscheidung von Interesse, denn die inhaltliche Unterscheidung bezieht sich auf unterschiedliche Regelungsgegenstände (vgl. o. 1.2332). 277
Diese Feststellung steht nicht damit im Widerspruch, daß sich Regelungen darüber finden, wer ein Recht geltend machen kann (z.B. der Vormund für das Mündel etc.) und in welcher Form das geschehen darf (im Wege der Notwehr, der Klage etc.). 2 ™ Deutlich ergibt sich diese Auffassung aus der These, daß Rechtsnormen „Doppelnormen" sind, zusammengesetzt aus einer Primären und einer sekundären (Sanktions-) Norm, vgl. Felix Kaufmann: Logik und Rechtswissenschaft, Tübingen 1922, S. 91; ders.: Die Kriterien des Rechts, Tübingen 1924, S. 70; Kelsen: Reine Rechtslehre, 2. Wien 1960, S. 51f.
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Unterstellt man, das der behauptete Unterschied in der typischen Formulierung von Rechts- und Moralnormen besteht, erhebt sich die Frage nach der Bedeutung dieses Unterschiedes. Eine plausible Erklärung für sein Bestehen wäre bereits der Hinweis, daß Moral normalerweise nicht kodifiziert wird. Der Versuch, Normen so zu formulieren, daß durch bloße Subsumtion eine Vielzahl verschiedener Fälle gelöst werden kann, zwingt dazu, bereits in der Normformulierung den Anwendungsbereich der Norm zu begrenzen. Dies ist auch die Funktion der Tatbestände in Rechtsnormen. Die moralische Bewertung von Handlungen funktioniert weniger nach dem Subsumtions- als nach dem Abwägungsmodell 279 . Der moralisch Urteilende geht von einigen wenigen auf den zu beurteilenden Sachverhalt passenden und einander im Ergebnis widersprechenden Regeln aus, und überlegt sich dann, welcher Regel im konkreten Fall der Vorzug gebührt bzw. ob sich so etwas wie eine spezielle Regel bilden läßt. Die Gesichtspunkte, denen er dabei folgt, sind nur zum Teil selbst geläufige moralische Regeln, zum Teil werden sie ad hoc konstruiert. Die rechtliche und moralische Argumentation unterscheiden sich in einer ähnlichen Weise wie das Sprechen eines eingeborenen Sprechers (Moral) und das Sprechen eines Ausländers, der eine Sprache über ihre Grammatik gelernt hat (Recht). Letzterer wendet bewußt Regeln an, die dementsprechend vollständig formuliert sein müssen, ersterer müßte sich erst überlegen, wie die Regeln lauten, als deren Befolgung sein Sprechen gedeutet werden kann, und er wird das normalerweise erst dann tun, wenn ein Zweifel entsteht. Das eben skizzierte Modell ist sicherlich etwas überspitzt. Das Subsumtionsmodell ist zwar für das Recht typisch, es herrscht jedoch nicht unangefochten. Ganze Rechtsbereiche funktionieren überwiegend nach dem Abwägungsmodell. Es sind dies generell gesprochen alle diejenigen Bereiche, in denen die Kodifikation auf wenige allgemeine Grundsätze beschränkt ist, insbesondere die Grundrechtsinterpretation und ein beachtlicher Teil der sonstigen Verfassungsrechtssprechung sowie im Zivilrecht alle Fälle, in denen nach allgemeinen Grundsätzen zwischen den Interessen mehrerer In Radbruchs Rechtsphilosophie, 8. Aufl. Stuttgart 1973, § 25 (S. 277) findet sich die Formulierung: „Nur das Recht kennt ausschließlich kategorische Imperative, ... Der Gesetzgeber erhebt weder noch senkt er jemals seine gebietende Stimme, er fordert, was er fordert, durchgehends mit dem gleichen absoluten Verpflichtungswillen." Die Stelle zeigt, daß der Begriff des „kategorischen" bzw. „hypothetischen" Imperativs unterschiedlich gebraucht wird. Radbruchs Äußerung steht nicht im Widerspruch zu einer Auffassung, nach der Rechtsnormen gewöhnlich bedingte Normen (hypothetische Imperative) sind. Die in diesem Zusammenhang bedeutsame begriffliche Klärung liefert v. Wright in: Norm and Action, London 1963, S. lOf. wo er zwischen „directives" bzw. „technical norms" und „hypothetical norms" unterscheidet. Directives haben die Form: Wenn du das und das willst, muß du das und das tun. Hypothetische Normen haben dagegen die Form: Wenn eine bestimmte Bedingung eintritt, sollst du das und das tun! Es scheint mir deutlich, daß in diesem Sinne hypothetische Normen kategorische Gebote im Sinne Radbruchs darstellen.
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Beteiligter abzuwägen ist, also z.B. die Rechtsprechung zu § 242 BGB, zum Umfang der Schadenersatzpflicht und zu den Haftungsgrundsätzen bei der positiven Vertragsverletzung und der culpa in contrahendo, im Zivil- und Strafrecht das meiste, was zu den Maßstäben des Verschuldens gesagt wird 2 8 0 . Sieht man genauer hin, so unterscheidet sich das Recht von der Moral wohl weniger dadurch, daß es im Gegensatz zu dieser nach dem Subsumtionsmodell funktioniert als dadurch, daß es einige Teilbereiche des Rechts gibt, in denen dieses Modell eine wesentliche Rolle spielt, während sich solche Bereiche bei der Moral nicht finden. In dieser eingeschränkten Form scheint mir die hier besprochene Unterscheidung zwischen Recht und Moral jedenfalls auf der Ebene ihres äußeren Erscheinungsbildes empirisch zuzutreffen. So wie wir die Begriffe Recht und Moral gewöhnlich verwenden, drücken wir damit sicher auch die größere Technizität des Rechts aus. „Rechtsförmigkeit" hat etwas mit mechanischer Normanwendung und, damit verbunden, mit Konditional-Programmierung zu tun. Allerdings dürfte es sich hier nicht um einen begrifflichen Unterschied handeln. Es wäre jedenfalls denkbar, daß sich unter geeigneten Umständen eine dem Recht ebenbürtige moralische Kasuistik entwickelte. Man stelle sich nur ein Rechtssystem vor, das erstens an vielen Stellen an moralische Beurteilungen Rechtsfolgen knüpft — wie das ja auch das bestehende Rechtssystem t u t 2 8 1 — zweitens dadurch eine intensive außerjuristische Diskussion über die moralische Beurteilung spezieller Fälle auslöste — wovon gegenwärtig wohl nicht gesprochen werden kann 2 8 2 . 280 Die im Text folgenden Erläuterungen sind nur als Hinweise nicht als erschöpfende Darstellung dieser beiden Methoden gemeint. Eine strikte Trennung ist m.E. weder begrifflich möglich noch praktisch wünschenswert. Zur Problematik vgl. etwa Josef Esser: Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Frankfurt 1970, S. 142ff. („Konditionalprogramm und Zweckprogramm in der Rechtsfindung"). Ich vermute, daß auch Ronald Dworkins Unterscheidung von Regeln und Prinzipien etwas mit dem hier angesprochenen Problem zu tun hat (Regeln erlauben ein deduktives Vorgehen, Prinzipien nicht) vgl. dazu Ronald Dworkin: Taking Rights Seriously, Cambridge (Mass.) 1977, S. 14-80 (The Model of Rules I und II). 281 Was natürlich nicht ausschließt, daß in vielen Fällen ein gewisser rechtlicher Rahmen die im Rahmen der Abwägung relevanten Gesichtspunkte begrenzt, z.B. bei Fragen hinsichtlich des Umfangs der Schadensersatzpflicht der Grundsatz der Naturalrestitution oder bei der Feststellung wechselseitiger Verpflichtungen aus Verträgen oder vertragsähnlichen Verhältnissen die im Gesetz enthaltenen Vorschriften über die Vertragspflichten. Die Liste ist im übrigen keineswegs erschöpfend. Vgl. dazu die Aufzählung bei Otto v. Gierke: Recht und Sittlichkeit, Darmstadt 1963 (unv. Nachdruck der Ausgabe von 1916/17), S. 1-8, die zwar zum Teil veraltet ist, jedoch im wesentlichen die Situation zutreffend widergibt. Tatsächlich dürfte heute die Verwendung moralisierender Generalklauseln im Recht eher noch verbreiteter sein als zu Gierkes Zeiten, da in ganzen Rechtsgebieten wie z.B. dem Arbeits- und Mietrecht erst in neuerer Zeit solche Klauseln ihre Herrschaft angetreten haben, während umgekehrt eine Streichung von Verweisen auf die Moral lediglich in einzelnen Fällen im Strafrecht (Liberalisierung des Sexualstrafrechts) und recht begrenzt durch Abschaffung des Verschuldensprinzips im Scheidungsrecht vorgenommen wurde.
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. Recht und Moral als spezifische Normenkomplexe 1.2431 Rechtsnormen sind Mittel, Moralnormen Zwecke 2 8 3
Sofern die hier angesprochene Unterscheidung von Recht und Moral überhaupt als eine Unterscheidung nach der Form ihrer jeweiligen Normen angesprochen werden kann, ähnelt sie der eben besprochenen Unterscheidung. Sofern sie inhaltlich gemeint ist, stellt sie nur eine andere Formulierung der Unterscheidung nach unterschiedlichen Arten des geregelten Sollens dar (vgl. dazu 0. 1.2332) oder gehört in den Bereich der Unterscheidungen nach dem Geltungsgrund (vgl. o. 1.221). Ob eine Norm ein Zweck oder ein Mittel ist, kann man ihr im Regelfall äußerlich nicht ansehen. Aber im Rahmen eines festgelegten Zielsystems läßt sich durchaus zwischen den Zielen und den unter Zugrundelegung dieser Ziele geltenden Normen unterscheiden. Diese Normen können dann grundsätzlich mit der einschränkenden Klausel versehen werden, daß sie nur insoweit gelten, als sie der Verwirklichung der Ziele dienen. Sofern man sich also z.b. auf den Standpunkt stellt, das Recht diene der Verwirklichung der Sittlichkeit 2 8 4 , kann man als Normalform einer Rechtsnorm schreiben: Wenn ein bestimmtes Verhalten der Sittlichkeit dient, ist dies Verhalten geboten. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei darauf hingewiesen, daß eine solche Rechtsauffassung nicht etwa die Rechtssetzung entbehrlich macht, denn das „wenn" in obiger Formulierung ist nicht im Sinne von „immer dann, wenn" gemeint. Dadurch, daß ein Verhalten der Sittlichkeit dient, wird es also nicht automatisch schon zum rechtlich Gebotenen, sondern :>