Reanalyse und Grammatikalisierung in den romanischen Sprachen [Reprint 2016 ed.] 9783110924824, 9783484304109

In the context of the increasingly lively debate on paths and processes operative in language change, the concepts gramm

277 88 14MB

German, French Pages 215 [220] Year 1999

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Reanalyse und Grammatikalisierung. Zur Einführung in diesen Band
Reanalyse als metonymischer Prozeß
Wie entsteht Grammatik? Kognitive und pragmatische Determinanten der Grammatikalisierung von Tempusmarkern
Sprachwandel durch Reanalyse und Parameterwechsel. Kritische Betrachtungen generativer Sprachwandeltheorien am Beispiel der Entwicklung der Verbstellung im Französischen
Zur Herausbildung einer formalen Aspektopposition auf der temporalen Nullstufe: être en train de + Infinitiv als teilgrammatikalisierte Verlaufsform des Gegenwartsfranzösischen
Lateinische und romanische Periphrasen mit ‘haben’ und Infinitiv: zwischen ‘Obligation’, ‘Futur’ und ‘Vermutung’
Agens mit Leib und Seele. Zur Grammatikalisierung romanischer Adverbbildungen
Französische Voranstellungsstrukturen - Grammatikalisierung oder universale Diskursstrategien?
Reanalyse von Spaltsatzkonstruktionen und grammatikalisierte Prädikationsexplizierung. Zur Entwicklung des Enunziativs que im Gaskognischen
“Nous aurons entendu cela.” Temporalität und Modalität - zur Dynamik der Kategorienorganisation beim futur antérieur
L’émergence de catégories grammaticales dans les langues créoles: grammaticalisation et réanalyse
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Reanalyse und Grammatikalisierung in den romanischen Sprachen [Reprint 2016 ed.]
 9783110924824, 9783484304109

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Linguistische Arbeiten

410

Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Herbert E. Brekle, Gerhard Heibig, Hans Jürgen Heringer, Heinz Vater und Richard Wiese

Reanalyse und Grammatikalisierung in den romanischen Sprachen Herausgegeben von Jürgen Lang und Ingrid Neumann-Holzschuh

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1999

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Reanalyse und Grammatikalisierung in den romanischen Sprachen / hrsg. von Jürgen Lang und Ingrid Neumann-Holzschuh. - Tübingen : Niemeyer, 1999 (Linguistische Arbeiten ; 410) ISBN 3-484-30410-3

ISSN 0344-6727

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Buchbinder: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren

Inhalt

Vorwort Jürgen Lang, Ingrid Neumann-Holzschuh Reanalyse und Grammatikalisierung. Zur Einführung in diesen Band

VII

1

Richard Waltereit Reanalyse als metonymischer Prozeß

19

Ulrich Detges Wie entsteht Grammatik? Kognitive und pragmatische Determinanten der Grammatikalisierung von Tempusmarkern

31

Georg A. Kaiser Sprachwandel durch Reanalyse und Parameterwechsel. Kritische Betrachtungen generativer Sprachwandeltheorien am Beispiel der Entwicklung der Verbstellung im Französischen

53

Julia Mitko Zur Herausbildung einer formalen Aspektopposition auf der temporalen Nullstufe: être en train de + Infinitiv als teilgrammatikalisierte Verlaufsform des Gegenwartsfranzösischen

75

Barbara Schäfer-Prieß Lateinische und romanische Periphrasen mit 'haben' und Infinitiv: zwischen 'Obligation', 'Futur' und 'Vermutung'

97

Thomas Krefeld Agens mit Leib und Seele. Zur Grammatikalisierung romanischer Adverbbildungen

111

Elisabeth Stark Französische Voranstellungsstrukturen - Grammatikalisierung oder universale Diskursstrategien?

129

Claus D. Pusch Reanalyse von Spaltsatzkonstruktionen und grammatikalisierte Prädikationsexplizierung. Zur Entwicklung des Enunziativs que im Gaskognischen

147

VI

Angela Schrott "Nous aurons entendu cela." Temporalität und Modalität zur Dynamik der Kategorienorganisation beim futur antérieur

161

Daniel Véronique L'émergence de catégories grammaticales dans les langues créoles: grammaticalisation et réanalyse

187

Vorwort

Der vorliegende Sammelband ist aus der Sektion "Zwischen Lexikon und Grammatik. Reanalyse in den romanischen Sprachen" des vom Romanistischen Dachverband organisierten Kongresses Romania I in Jena (28. September - 2. Oktober 1997) hervorgegangen. Er enthält eine Auswahl der in der Sektion gehaltenen Vorträge in überarbeiteter Fassung* sowie einen zusätzlich aufgenommenen Beitrag von Julia Mitko (Regensburg). Wenn der Titel dieses Sammelbandes "Reanalyse und Grammatikalisierung in den romanischen Sprachen" von dem der Sektion abweicht, so wegen der im Verlauf der Sektionsarbeit gewonnenen Überzeugung, daß Reanalyse und Grammatikalisierung als zwei am Sprachwandel beteiligte Prozesse häufig in Kombination auftreten, ohne deswegen zwangsläufig miteinander gekoppelt zu sein. Bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Jenaer Sektion möchten wir uns an dieser Stelle sehr herzlich für ihre Vorträge, Koreferate und Diskussionsbeiträge bedanken. Ein herzliches Dankeschön ergeht sodann an Frau Iris Feld und Frau Julia Mitko für ihre wertvolle Hilfe bei der Endredaktion dieses Bandes.

Jürgen Lang

Ingrid Neumann-Holzschuh

Da - in der Sektion intensiv besprochene Aufsatz von Martin Haspelmath "Does grammaticalization need reanalysis?" ist 1998 in Studies in Language 22-2, S. 49-85, erschienen.

Jürgen Lang (Erlangen), Ingrid Neumann-Holzschuh (Regensburg)

Reanalyse und Grammatikalisierung. Zur Einfuhrung in diesen Band

Die in den letzten Jahren wieder verstärkt geführte Diskussion über das Phänomen Sprachwandel hat auch innerhalb der Romanistik ihren Niederschlag gefunden. Nun war die diachrone Betrachtung sprachlicher Phänomene von jeher eine der wichtigsten Domänen der romanischen Sprachwissenschaft und eine Abkoppelung der Synchronie von der Diachronie stand von daher nie wirklich zur Debatte; seit geraumer Zeit ist allerdings bei sprachhistorisch orientierten romanistischen Arbeiten eine Hinwendung zu stärker theoretisch ausgerichteten Analysen festzustellen, die deutlicher als früher Ansätze aus der Typologie- und Universalienforschung sowie der Grammatikalisierungsforschung mit einbeziehen. Mehrere umfangreiche Arbeiten und Sammelbände zu diesem Thema1 legen ein beredtes Zeugnis davon ab, daß Grammatikalisierung als ein entscheidender Faktor bei der Veränderung von Sprache angesehen wird, wobei auch Einigkeit darüber besteht, daß es sich hier um ein Bündel von Mechanismen handelt. Die Darstellung ausgewählter Erscheinungsformen von Grammatikalisierung innerhalb der romanischen Sprachen war bereits das Thema der Teilsektion "Grammatikalisierung in der Romania" beim Romanistentag von Münster 1995.2 Während Grammatikalisierung also "Konjunktur" hat, scheint das für das Phänomen Reanalyse nicht in gleichem Maße zu gelten. Eher beiläufig wird in den Abhandlungen zur Grammatikalisierung meist auch Reanalyse erwähnt, oftmals fehlt es jedoch an ausreichender begrifflicher Differenzierung sowie an einer deutlicheren Abgrenzung der beiden Begriffe. Dabei ist das Phänomen der Reanalyse im Gegensatz zu dem Terminus als solchem keineswegs eine Entdeckung der neueren Linguistik. Die Beschäftigung mit dem Phänomen selbst weist bereits eine längere Tradition auf, worauf auch Haspelmath (1998) mit Recht hinweist. So fuhrt etwa Hermann Paul im 16. Kapitel ("Verschiebung der syntaktischen Gliederung") seiner Prinzipien der Sprachgeschichte [1. Auflage 1880] aus, dass gewisse Wörter, namentlich Pronomina oder Partikeln, die ursprünglich dem Hauptsatze angehören, zu Verbindungsgliedern zwischen diesem und einem psychologisch untergeordneten Satz werden, der bis dahin von noch keiner Partikel eingeleitet war, ja überhaupt noch gar kein grammatisches Zeichen der Abhängigkeit hatte. Diese Wörter pflegen dann als ein Teil des Nebensatzes angesehen zu werden. Auf diese Weise sind eine Menge den Nebensatz einleitende Konjunktionen entstanden, und dieser einfache Vorgang der Gliederungsverschiebung ist eines der wesentlichsten Mittel gewesen, eine grammatische Bezeichnung für die Abhängigkeit von Sätzen zu schaffen. Meistens waren die betreffenden Wörter ursprünglich hinweisend auf den folgenden logisch abhängigen Satz. [...] Hierher gehört die wichtigste deutsche Partikel daz = engl, that, ursprünglich Nom.Akk. des Demonstrativpronomens. Ich sehe, dass er zufrieden ist ist hervorgegangen aus einem ich sehe das: er ist zufrieden; [...]. (H. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, Studienausgabe der 8. Auflage 1970, S. 299)

1

2

Lehmann (1982; 1995); Heine/Reh (1984); Traugott/Heine (1991); Heine/Claudi/Hünnemeyer (1991); Hopper/ Traugott (1993); Folia Lingüistica Histórica 13 (1992/93); Harris/Campbell (1995). Vgl. Michaelis/Thiele (1996).

2

Jürgen Lang / Ingrid

Neumann-Holzschuh

In dieser Einleitung versuchen wir zunächst sowohl vor dem Hintergrund älterer und neuerer Arbeiten zu Grammatikalisierung und Reanalyse als auch der Debatte innerhalb der Sektion in Jena, die beiden Begriffe Reanalyse und Grammatikalisierung zu definieren (I ). Sicherlich sind in der Sprachwissenschaft ganz unterschiedliche Verwendungen und Definitionen dieser Begriffe denkbar und legitim. Uns scheint es wichtig, die beiden Begriffe so zu definieren, daß nur solche Erscheinungen darunter fallen, die aufgrund der primärsprachlichen Motiviertheit der beiden Wörter mit ihrer Hilfe gefaßt werden können. Es bedarf wohl keines besonderen Hinweises darauf, daß sich unser Beschreibungs- bzw. Definitionsversuch keineswegs mit der Meinung der einzelnen Sektionsteilnehmer decken muß! In einem zweiten Schritt wollen wir die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes kurz vorstellen, wobei wir uns zum Teil auf die in der Sektion gehaltenen Koreferate stützen (II ).

I. Reanalyse und Grammatikalisierung - Versuch einer Begriffsklärung3 1. Allgemeinsprachliche Vorgaben Die Begriffe Grammatikalisierung und Reanalyse, die die neuere Sprachwissenschaft heranzieht, um bestimmte Benennungsbedürfnisse zu befriedigen, sollen hier zunächst einmal in ihrer Eigenschaft als 'durchsichtige' Wörter betrachtet werden. Mit 'durchsichtig' ist dabei die Tatsache gemeint, daß diese Wörter, wie alle mittels produktiver Wortbildungsverfahren gebildete Wörter, schon vor jeder terminologischen Fixierung durch die Bedeutung der zugrundeliegenden Wörter und die Anwendung bestimmter Wortbildungsverfahren auf diese semantisch motiviert sind. Diese Motiviertheit reicht allerdings nur bis zur 'Wortbildungsbedeutung' dieser Wörter (die gerade aus der Bedeutung des jeweiligen Grundwortes und dem angewendeten Wortbildungsverfahren resultiert). Sie gilt nicht mehr für die weitere Einengung dieser Wortbildungsbedeutung auf eine oder mehrere 'Wortschatzbedeutungen'.4 Ein durchsichtiges Wort wird im Bedarfsfall aber gerade nicht um seiner Wortbildungsbedeutung willen geschaffen, die noch zu unbestimmt ist, um wortschatzfähig zu sein, sondern um einer ganz bestimmten Redebedeutung willen, die von jener gedeckt wird. Wenn sein Gebrauch mit einer solchen Redebedeutung üblich wird, dann spricht man von einer Wortschatzbedeutung. Die Ausführungen in diesem Abschnitt gründen auf der Überzeugung, daß auch die wissenschaftliche Verwendung und terminologische Fixierung von Wortbildungsresultaten deren primärsprachlich gegebene Wortbildungsbedeutung respektieren sollte. Geschieht dies nämlich

4

Wir danken Ulrich Detges, Peter Koch und Richard Waltereit für ihre wertvollen Anmerkungen zu einer früheren Version dieses Abschnittes. Für die Begriffe Wortbildungs- und Wortschatzbedeutung vgl. Laca 1986: III, 1.2.

Einleitung

3

nicht, so wird die willkürliche terminologische Fixierung des dann ja 'undurchsichtigen' Begriffes in aller Regel von den Wissenschaftlern selbst nicht auf Dauer respektiert.5 Der Begriff Grammatikalisierung präsupponiert ein Verb grammatikalisieren, dieses ein Adjektiv grammati(kali)sch und dieses wiederum das Substantiv Grammatik (ganz unabhängig davon, ob die vier Begriffe historisch gesehen in dieser Reihenfolge aufgetreten sind oder nicht). Also: Grammatik -> grammati(kali)sch ->• grammatikalisieren ~> Grammatikalisierung. Und entsprechend gilt: analysieren -> reanalysieren -> Reanalyse bzw. analysieren -> Analyse -> Reanalyse. Beide Begriffe, Grammatikalisierung und (Re)analyse, setzen also unmittelbar ein Verb voraus: nämlich grammatikalisieren bzw. (re)analysieren. Diese Verben sind zwar beide transitiv, aber sie weisen dem jeweiligen direkten Objekt unterschiedliche semantische Rollen zu. Das Verb grammatikalisieren sieht für sein Objekt aufgrund seiner Motiviertheit (Grammatik ->• grammati(kali)sch -> grammatikalisieren) die Rolle eines 'affizierten' Objektes vor, eines Objektes also, das nach dem Vorgang der Grammatikalisierung nicht mehr dasselbe ist wie zuvor. Der Vorgang macht aus diesem Objekt offenbar ein grammatisches oder ein grammatischeres, d.h. (mehr als zuvor) zur Grammatik gehörendes Objekt. Das Verb grammatikalisieren ähnelt hierin Verben wie pulverisieren, romanisieren usw. Über das Wie des fraglichen Vorgangs sagt das Verb grammatikalisieren nichts. Es benennt lediglich die in dem affizierten Objekt eintretende Veränderung vom Resultat her. Demgegenüber ist das direkte Objekt von (re)analysieren gerade kein affiziertes Objekt. Es ist nach dem Vorgang der (Re)analyse noch dasselbe wie zuvor. Das Verb (rejanalysieren ähnelt hierin Verben wie interpretieren, beschreiben usw. Die Divina Commedia ändert sich - in dem hier interessierenden Sinne - nicht dadurch, daß sie von jemand (neu) interpretiert, also (re)analysiert wird. Das Verb (re)analysieren sagt etwas über das Wie des fraglichen Vorgangs aus. Über das durch den Vorgang nicht tangierte Objekt sagt es lediglich aus, daß es (unterschiedlich) analysierbar ist.

2. Definition der sprachwissenschaftlichen Termini Die Vorüberlegungen in Anbschnitt 1 sollten zeigen, welche primärsprachlichen Vorgaben ein wissenschaftlicher Gebrauch der Begriffe Grammatikalisierung und Reanalyse respektieren sollte. Jetzt ist zu klären, was in der Sprachwissenschaft jeweils mit dem direkten Objekt der diesen Bildungen zugrundeliegenden Verben gemeint sein kann. Als Beispiel soll uns dabei die Entstehung desfranzösischenfutur proche dienen (vgl. Je vais faire mes courses 'Ich gehe meine Einkäufe erledigen' vs. 'Ich werde meine Einkäufe erledigen'), die in diesem Band von Ulrich Detges in vorbildlicher Weise rekonstruiert wird.

In diesem Sinne ist z.B. die Verwendung des Begriffs 'Spezialisierung' in der wissenschaftlichen Literatur zur Grammatikalisierung beunruhigend (vgl. Hopper 1991: 3.3 und Hopper/Traugott 1993: 5.4.1). Es ist nicht klar, in welchem Sinne bei der Entwicklung von frz. pas zur Negationspartikel und seiner Generalisierung auf Kosten von Konkurrenten wie mie, goutte usw. eine 'Spezialisierung' von pas stattgefunden haben soll.

4

Jürgen Lang / Ingrid Neumann-Holzschuh

2.1. Grammatikalisierung Als sprachliches Objekt, das grammatikalisiert wird, kommt offenbar vor allem ein Zeichen der Sprache (langue) in Frage. Denn gerade als Elemente der langue verfugen die sprachlichen Zeichen (in den Köpfen der Sprecher) über eine gewisse Konstanz, ohne die 'Veränderung' gar nicht möglich ist. Grammatikalisierung sollte also als ein Vorgang definiert werden, bei dem ein Zeichen der langue in der Weise verändert wird, daß es zu einem grammatisch(er)en Zeichen wird.6 Die Kontinuität dieses Zeichens liegt auf der Seite seines signifiant, seine Veränderung auf der Seite seines signifié. Das schließt natürlich nicht aus, daß die Veränderung auf der Inhaltsseite über kurz oder lang auch ausdrucksseitigen Wandel nach sich zieht (phonische Verkürzung, Akzentverlust usw.). Gemäß den vorausgehenden Ausfuhrungen sollte man also z.B. nicht sagen, aller faire qc sei beim Übergang von der Interpretation von Je vais faire mes courses im Sinne von 'Ich gehe meine Einkäufe machen' zu der Interpretation im Sinne von 'Ich werde meine Einkäufe machen' zu einer oder als Verbalperiphrase grammatikalisiert worden. Denn aller faire qc war zuvor gar kein Zeichen der französischen Sprache (im Sinne von langue). Es wäre besser zu sagen, diese Reanalyse von Je vais faire mes courses impliziere die Grammatikalisierung von aller zum Hilfszeitwort einer erst im Zuge dieser Reanalyse entstehenden Verbalperiphrase aller faire qc. Darüber, wie diese Veränderung zustande gebracht wird (wie die Sprachbenutzer ein Zeichen grammatikalisieren), sagt der Terminus Grammatikalisierung per se nichts aus, und es scheint nicht ratsam, in seine terminologische (Wortschatz-)Bedeutung etwas hineinzulegen, was in seiner Wortbildungsbedeutung nicht angelegt ist. Alternativ zu der hier vorgeschlagenen Verwendung des Begriffes Grammatikalisierung kann man auch einen bestimmten sprachlichen Inhalt - z.B. einen bestimmten Typ von Futurität, der vor der Entstehung der Periphrase nur mit anderen, z.B. lexikalischen Mitteln zum Ausdruck gebracht werden konnte - zu dem Objekt erklären, das bei der Grammatikalisierung grammatikalisiert wird. Grammatikalisiert ist dann jeder Inhalt, der in der Grammatik der jeweiligen Einzelsprache einen systematischen Ausdruck gefunden hat. In diesem Sinne verwendet z.B. John Lyons den Begriff an einer von Lehmann (1982; 1995: 11) zitierten Stelle: Différent languages make a différent selection, as it were, from the set of possible distinctions that could be made and grammaticalize them (i.e. make them grammaticallv functional)...

Auch dieser Grammatikalisierungsbegriff erlaubt es nicht, von der Grammatikalisierung der Periphrase allerfaire qc zu sprechen. Statt dessen müßte jetzt von der Grammatikalisierung eines bestimmten Typs von Futurität durch die Entstehung der Periphrase aller faire qc die Rede sein. Gegen diesen zweiten Grammatikalisierungsbegriff ist nichts einzuwenden, wohl aber gegen den abwechselnden und undifferenzierten Gebrauch beider Grammatikalisierungsbegriffe. Das

Vgl. Lehmann (1982; 1995: 9): "The derivational pattern which the wordgrammaticalization belongs to suggests that it means a process in which something becomes or is made grammatical (...).... Secondly, in addition to the above explication, grammaticalization must mean a process in which something becomes or is made more grammatical (...)" (Hervorhebung von Lehmann).

Einleitung

5

eigentliche Forschungsinteresse der modernen Grammatikalisierungsforschung ist freilich auf die (fortschreitende) Grammatikalisierung sprachlicher Zeichen und nicht auf das viel allgemeinere Problem der Grammatikalisierung von Inhalten gerichtet. Deswegen beschäftigen wir uns in der Folge nur noch mit dem zuerst vorgestellten GrammatikalisierungsbegrifF.

2.2. Reanalyse Was nun den Begriff der Reanalyse anbelangt, so stellt sich auch hier die Frage, was bei dem sprachwissenschaftlichen Gebrauch des Verbs (re)analysieren als direktes Objekt fungieren soll. Was könnte hier (in bisher nicht dagewesener Weise) analysiert werden, ohne sich durch die (Re)analyse selbst zu verändern? Auch das Objekt der Reanalyse muß über eine gewisse Konstanz verfugen, wenn es fur Reanalysen verfugbar bleiben soll. Ja, es muß sogar - anders als dasjenige der Grammatikalisierung - ein im Prinzip unveränderliches Objekt sein, wenn wirklich von einer Reanalyse ein und desselben Objekts die Rede sein soll. Im Bereich des Sprachlichen trifft diese Bedingung der Unveränderlichkeit in einem bestimmten Sinne auf die Rede zu. Und zwar auf die Rede als Resultat, als Ergon, also auf den gesprochenen oder geschriebenen Text, weil dieser an ein einmaliges Sprech- oder Schreibereignis zurückgebunden bleibt. Reanalysiert wird also offensichtlich nicht Sprache {langue), sondern - in einem noch zu präzisierenden Sinne - Rede (parole). Ausgehend von dieser Erkenntnis, kann man sich dem hier interessierenden Reanalysebegriff in drei Schritten nähern: Ronald W. Langackers klassische Definition von Reanalyse als "change in the structure of an expression or class of expressions that does not involve any immediate or intrinsic modification of its surface manifestation"7 könnte dazu verfuhren, das nicht affizierte Objekt der Reanalyse kurzerhand mit der chaîne phonique bzw. der chaîne graphique gleichzusetzen. Das hieße, alle (Re)analysen zulassen, etwa so als ob man auch (neue) Interpretationen der Divina Commedia von Personen zuließe, die deren Text gar nicht lesen können, weil sie die Sprache des Originals oder der benutzten Übersetzung nicht verstehen. Dieser Reanalysebegriff ist ganz offenbar zu weit, um wirklich interessant zu sein. Um zu einem sprachwissenschaftlich interessanten (Re)analysebegriff zu kommen, müssen wir neben der Laut- oder Graphemkette zumindest noch den Gesamtsinn des fraglichen Redestücks zu dem sich nicht verändernden Objekt der (Re)analyse rechnen. Jetzt haben wir einen immer noch relativ weiten (Re)analysebegriff, der aber schon mit Gewinn auf den ungesteuerten Erst- und Fremdsprachenerwerb und die Kreolisierung angewendet werden kann, wo Menschen ausgehend von dem aufgrund der jeweiligen Situation vermuteten Gesamtsinn einer Rede versuchen, sich einen Reim darauf zu machen, wie der andere diesen Sinn artikuliert hat. Solche

Langacker (1977: 59). Es ist bekannt, daß Langacker im weiteren Verlaufseines Beitrags eine nicht ganz unproblematische Unterscheidung zwischen zwei Arten von Reanalyse macht, die auch kombiniert auftreten können. Der resegmentation als Veränderung hinsichtlich "occurrence and placement of morpheme boundaries" (vgl. S. 64) stellt er die syntactic/semantic reformulation gegenüber, "that involves aspects of structure more abstract than the occurrence and placement of morpheme boundaries; these aspects include rules, semantic and syntactic categories, and semantic or syntactic configurations (such as tree structures)" (vgl. S. 79).

6

Jürgen Lang/Ingrid

Neumann-Holzschuh

Versuche fuhren bekanntlich (zunächst) zu allerhand 'fehlerhaften' Segmentierungen und dazu, daß sogar 'richtig' segmentierten Elementen 'falsche' Bedeutungen unterstellt werden. Von Reanalyse kann man in diesen Fällen aber nur sprechen, wenn man die Analyse der Lerner mit der 'richtigen' Analyse vergleicht, über die die kompetenten Sprecher der Zielsprache schon verfugen. Der Lerner selbst reanalysiert hier nicht, was er zuvor anders analysiert hat. Er analysiert einfach, was für ihn bislang unanalysiert war. Um zu dem viel engeren Reanalysebegriff zu kommen, den Langacker wohl meint und den u.E. gerade auch die moderne Grammatikalisierungsforschung benötigt, müssen wir noch mehr als nur die Ausdrucksseite und den Gesamtsinn eines Stücks Rede zu dem durch den Vorgang selbst nicht veränderten Objekt der Reanalyse rechnen. Was noch hinzukommen muß, ist eine bestimmte Gliederung der Rede in aufeinander folgende Elemente, die dem Reanalysierenden aufgrund seiner Kenntnis der Sprache, in der gesprochen wird, zugänglich ist. Die Reanalyse ist Reinterpretation des Verhältnisses dieser Einheiten zueinander. Von Reanalyse möchten wir also dann sprechen, wenn ein Hörer, dem der vom Sprecher intendierte 'ordre structural' zugänglich ist, bei der Interpretation dem entsprechenden 'ordre linéaire' einen anderen 'ordre structural' unterstellt.8 (Die Möglichkeit, daß ein Sprecher eigene Rede reanalysiert, ist damit nicht ausgeschlossen.) Zur 'underlying structure' bzw. zum 'ordre structural' gehören für uns wie auch für Harris/Campbell sowohl die Richtung der Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den Konstituenten, die sich in dem sog. bracketing spiegelt, als auch deren in den sog. category labels zum Ausdruck kommende Natur.9 Die brackets ohne category labels geben nur eine reduzierte Darstellung von einer syntaktischen Struktur. Deshalb kann es auch echten Strukturwandel geben, der in einer auf das bracketing reduzierten Darstellung keine Spuren hinterläßt. Bestimmte Formen der graphischen Darstellung sollten nicht dazu verleiten, dem bracketing eine von der semantischen Natur der Beziehungen unabhängige Existenz zuzubilligen. Für die Sprachwandelforschung sind nun allerdings nur diejenigen Fälle interessant, bei denen die neue Analyse im bisherigen Sprachzustand noch nicht möglich war. Für diese Fälle wollen wir deshalb den Begriff der Reanalyse reservieren. Wenn z.B. A Jean peint Marie devant la fenêtre sagt und damit meint, daß Marie vor dem Fenster ist, während B versteht, daß Jean vor dem Fenster malt, dann hat das mit Sprachwandel nichts zu tun. Hier liegen einfach zwei verschiedene Analysen eines doppeldeutigen Satzes vor: A meint devant lafenêtre als Attribut zu Marie, B versteht es als Umstandsangabe zum ganzen Satz. Anders verhält es sich, wenn ein Hörer die Analyse von Je vais faire mes courses im Sinne von 'Ich werde meine Einkäufe erledigen' als neue Analysemöglichkeit konzipiert. Denn dieser Sprecher kann erst jetzt mit solchen Ausdrücken bald ein Gehen, bald ein zukünftiges Tun meinen, bzw. solche Ausdrücke, wenn sie ihm begegnen, bald so und bald so verstehen.

Vgl. z.B. Harris/Campbell (1995: 50): "Reanalysis is a mechanism which changes the underlying structure of a syntactic pattern and which does not involve any modification of its surface manifestation". Auch die Reinterpretation (!) einer Abfolge 'Demonstrativum + Nomen' im Sinne einer Abfolge 'Artikel + Nomen' ist demnach eine Reanalyse.

Einleitung

7

Bei der Reanalyse, so wie wir sie jetzt definiert haben, ist, wie man sieht, die Ambiguität des fraglichen 'ordre linéaire' nicht die Voraussetzung für die Reanalyse (wie u.a. Timberlake 1977: 148 und Haspelmath 1998: 56-61 meinen), sondern deren Folge (vgl. hier Waltereit, S. 21).10 Reanalysiert wird also immer eine lineare Abfolge von Elementen und nicht ein einzelnes Element. Deshalb sollte man z.B. nicht sagen, das Verb aller sei beim Übergang von der Interpretation von Äußerungen wie Je vais faire mes courses im Sinne von 'Ich gehe meine Einkäufe machen' zu der Interpretation im Sinne von 'Ich werde meine Einkäufe machen' als Hilfsverb reanalysiert worden. Man sollte eher sagen, die Reanalyse eines solchen Ausdrucks im Sinne von 'Ich werde meine Einkäufe machen' weise dem Verb die Funktion eines Hilfsverbs zu.11 Die vorausgehenden Ausfuhrungen dürfen nicht so mißverstanden werden, als könnten nur Syntagmen als Syntagmen reanalysiert werden. Häufig werden auch Syntagmen als komplexe Wörter bzw. komplexe Wörter als einfache Wörter reanalysiert. Eine Reanalyse der ersten Art hat z.B. auf dem Weg von lateinischen Syntagmen des Typs CLARA MENTE zu den romanischen Adverbien auf -ment(e) stattgefunden (vgl. den Beitrag von Thomas Krefeld in diesem Band), eine solche des zweiten Typs auf dem Weg von lat. TRIFOLIUM zu frz. trèfle. Auch die zweite dieser beiden Reanalysen fand definitionsgemäß nicht an einem komplexen Zeichen der langue, sondern an einem in einem gesprochenen oder geschriebenen Text vorkommendem TRIFOLIUM, also an einem token und nicht an einem type statt.12

3. Zum Verhältnis von Reanalyse und Grammatikalisierung Aus den vorausgehenden Ausführungen ergibt sich, daß mit Grammatikalisierung und Reanalyse in dem hier präzisierten Sinn nicht dasselbe gemeint sein kann. Die beiden Begriffe betreffen nicht die gleiche Ebene (reanalysiert wird eine Abfolge von Elementen in einer Rede, grammatikalisiert werden einzelne Elemente der Sprache), und sie haben auch in anderer Hinsicht einen unterschiedlichen Status (der Begriff Reanalyse informiert über das Wie, der der Grammatikalisierung über das Resultat eines Vorgangs). Die wichtige Frage lautet nun aber, ob diese beiden Begriffe wirklich verschiedene Vorgänge bezeichnen oder ob sie nicht vielmehr unterschiedliche Aspekte ein und desselben realen Vorgangs bezeichen oder zumindest bezeichnen können. Indem wir für die Erläuterung der beiden Begriffe dasselbe Beispiel benützt haben, haben wir diese Frage implizit schon beantwortet. Wir vertreten in der Tat die Auffassung, daß in 10

Freilich muß auch hier schon etwas da sein, was es den Sprechern erlaubt, bisher in ihrer Sprache nicht vorgesehene Analysen zu konzipieren. Es liegt auf der Hand, daß dies - in letzter Instanz - nur unsere allgemeinmenschliche Sprachbegabung sein kann, aufgrund derer wir wissen, mit welchen Typen von Satzteilfunktionen in Sprechakten und in den Sachverhaltsdarstellungen, über die solche Sprechakte vollzogen werden, allgemein zu rechnen ist. Bei dieser ganz allgemeinen Bemerkung müssen wir es hier belassen (vgl. aber weiter unten Anm.

n

14)

12

'

Eine Reanalyse kann also genau genommen nicht in "the development of a new grammatical category" bestehen (so Hopper/Traugott 1993:47 anläßlich der Entstehung der englischen Modalverben; vgl. ebenda:"..., the reanalysis consists of the development of a new grammatical category,..."). Reanalysiert wird Rede, nicht Sprache. Vgl. aber weiter unten Anmerkung 15.

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Jürgen Lang / Ingrid Neumann-Holzschuh

einer Sprache bislang noch nicht dagewesene Möglichkeiten der Analyse nur durch (zumindest tentative) Veränderungen möglich werden, die der Analysierende an seiner Sprache vornimmt. Diese Veränderung in der Sprache kann (muß aber nicht) in der Grammatikalisierung eines ihrer Elemente bestehen. Die erstmalige Interpretation eines gehörten Je vais faire mes courses im Sinne von 'Ich werde meine Einkäufe erledigen' wird z.B. nur dadurch möglich, daß jemand dem Verb aller in seiner Sprache eine Funktionsmöglichkeit einräumt, die ihm bislang verschlossen war. In diesem Beispiel besteht der Wandel tatsächlich in einer Grammatikalisierung: dem Verb aller wird die Möglichkeit eingeräumt, statt mit seiner lexikalischen Bedeutung mit einer instrumenteilen Bedeutung zu funktionieren, die die Futurität des über das nachfolgende Verb bezeichneten Sachverhalts anzeigt: [Je] [vais] [faire [mes courses]] I J I I [Je] [[vais] faire] [mes courses]

Jede Grammatikalisierung geht also mit einer Reanalyse einher,13 aber natürlich gehen nicht alle Reanalysen mit einer Grammatikalisierung einher. Im folgenden Fall besteht der Wandel in der Sprache lediglich darin, daß dem deutschen Dativ die Möglichkeit eingeräumt wird, vor einem Possessivum den 'Besitzer' zu kennzeichnen.14 Eine Grammatikalisierung im Sinne unserer Definition findet nicht statt: [Da] [zerriß] [dem Jungen] [seine Hose] I i i l [Da] [zerriß] [[dem Jungen] seine Hose]

Auch bei der Reanalyse einer Adjektiv-Substantiv-Verbindung als Substantiv-Adjektiv-Verbindung oder der Reanalyse eines TRIFOLIUM "Dreiblatt' im Sinne von 'Klee' findet keine Grammatikalisierung im Sinne unserer Definition statt.

13

14

Vgl. Harris/Campbell (1995: 92): "we consider reanalysis to be an important part of the process that is termed grammaticalization; ...". In der Literatur wird das Verhältnis von Reanalyse und Grammatikalisierung unterschiedlich gesehen. Vgl. u.a. Heine/Claudi/Hünnemeyer (1991a: 217), Hopper/Traugott (1993: 32) und Haspelmath (1998). Ermöglicht (im Sinne von Anm. 10) wird diese Reanalyse wohl dadurch, daß wir aufgrund unserer allgemeinmenschlichen Sprachbegabung in Sachverhaltsdarstellungen prinzipiell mit (u.a.) folgenden Arten von Angaben rechnen: Angaben der am Sachverhalt beteiligten 'Sachen', Angabe, wie es sich mit diesen verhält, Angaben zur näheren Bestimmung der beteiligten 'Sachen' bzw. zur näheren Bestimmung des Verhältnisses zwischen diesen. Im vorliegenden Fall wird aus dem, was nach der alten Analyse die Angabe einer von zwei am Sachverhalt beteiligten 'Sachen' war, nach der neuen Analyse eine Angabe zur näheren Bestimmung der nurmehr einzigen am Sachverhalt beteiligten 'Sache'.

Einleitung

9

Jede Reanalyse geht also mit einem Wandel in der Sprache deijenigen einher, die sie vornehmen:15 für den Hörer ist seine Reanalyse der redeseitige Anlaß für einen zunächst nur von ihm vorgenommenen Sprachwandel. Dieser Wandel kann, muß aber nicht in einer Grammatikalisierung bestehen. Es gibt keine relative Chronologie von Wandel (ggf. Grammatikalisierung) und Reanalyse wie sie z.B. Heine/Reh (1984: 96) erwägen. Alles Herumdoktern an der eigenen Sprache erfolgt aus konkreten Kommunikationsanlässen. Der mit einer Reanalyse einhergehende Wandel ermöglicht immer das gemeinsame Auftreten von Elementen, die seither nicht gemeinsam auftreten konnten (z.B. das gemeinsame Auftreten von aller und rester in Je vais rester). Und er legt noch andere Veränderungen an der 'Oberfläche' nahe, etwa in der Anordnung der Elemente oder in der Markierung der veränderten Funktionen. So wird man im Französischen, wenn es um die Verwendung der neuen Periphrase geht, eher Je vais faire mes courses en ville sagen als Je vais en ville faire mes courses. Im Deutschen wird man dazu tendieren, nach dem präpositionalen Ausdruck anstatt den Dativ zu verwenden und nicht mehr den Genitiv, der nach der präpositionalen Wortgruppe angebracht war, aus der der präpositionale Ausdruck gewonnen wurde (an (der) Statt eines Krankenhauses > anstatt eines Krankenhauses > anstatt einem Krankenhaus). Erst dadurch, daß solche Konsequenzen gezogen werden, wird die im Zuge einer Reanalyse von einem Individuum an seiner Sprache vorgenommene Veränderung wahrnehmbar und kann sich als Sprachwandel verbreiten. Oft werden aber nicht alle Konsequenzen gezogen, die ein solcher Wandel nahelegt, und kaum jemals werden sie alle sofort und gleichzeitig gezogen. Zu Recht hat deshalb Alan Timberlake schon im Titel seines wichtigen Beitrags von 1977 zwischen "reanalysis and actualization in syntactic change" unterschieden, wobei er unter actualization sehr allgemein "the graduai mapping out of the conséquences of the reanalysis" versteht (1977: 141). Die alte Bedeutung des oder der tangierten Elemente bleibt ja zumindest vorübergehend verfügbar (aller kann - auch in Je vais faire mes courses - weiterhin 'gehen' bedeuten). Die Sprecher wissen also noch, welche linearen Abfolgen aufgrund dieser Bedeutung schon vor dem Wandel möglich waren und welche nicht. Und zunächst können ihnen nur die ersteren vertraut vorkommen. Kurz: die Sprecher scheuen oft (lange) davor zurück, auf der Ausdrucksseite alle Konsequenzen zu ziehen, die durch den mit einer Reanalyse einhergehenden Sprachwandel nahegelegt werden. Imfrançais cultivé wird z.B. bis heute in dem mit avoir gebildeten passé composé das Partizip an ein vorausgehendes direktes Objekt angeglichen, obwohl dieser accord seit dem Übergang von einer Konstruktion des Typs URBEM OCCUPATAM HABET "Er verfügt über die/eine besetzte Stadt' zu einer Verbalperiphrase mit zunächst resultativer, später perfektiver und schließlich (im gesprochenen Französisch) präteritaler Bedeutung längst obsolet ist (was man z.B. gerade daran sieht, daß er im français cultivé arbiträrerweise nur noch bei vorausgehendem direktem Objekt und im français populaire gar nicht mehr vorgenommen wird).

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Im Falle der Reanalyse eines tokens von lat. TRIFOLIUM im Sinne eines einfachen Wortes besteht der entsprechende Wandel in der Umwandlung des komplexen types TRIFOLIUM T)reiblatt' in den einfachen type TRIFOLIUM Klee'. Dieser Parallelismus - die Reanalyse und der Sprachwandel betreffen genau dasselbe Element, wenn auch einmal als token, einmal als type - ist ein Sonderfall. Er rührt daher, daß wir es hier mit einer Reanalyse (und zwar einem Txmndaiy loss') innerhalb eines Wortes zu tun haben.

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Die Unterscheidung Timberlakes wird fast von allen Autoren gemacht, die seither einschlägige Werke verfaßt haben. Leider hat sie dabei eher an Schärfe verloren. Man vergleiche dazu z.B. die Ausfuhrungen von Bernd Heine und Mechthild Reh zu syntactic trcmsfer andadjustment (1984: Ü, 2.2), diejenigen von Paul J. Hopper und Elizabeth Closs Traugott zu reanalysis und analogy (1993: vgl. insbes. S. 32 und 56-61) und diejenigen von Alice C. Harris und Lyle Campbell zu reanalysis, actualization, extension und analogy (1995: vgl. insbes. S. 51, 77 und 82-84). Es ging in diesem Abschnitt darum, möglichst praxisnahe und praxisförderliche Definitionen für die Begriffe 'Grammatikalisierung' und 'Reanalyse' vorzuschlagen. Zu den Motiven, die Hörer dazu veranlassen können, Rede abweichend zu analysieren und dabei gegebenenfalls auch bislang lexikalischen Elementen eine grammatische Bedeutung zuzusprechen, haben wir uns nicht geäußert. Schon deshalb, weil sich mehrere der in diesem Band zu Wort kommenden Autoren sehr intensiv mit diesen beschäftigen (vgl. insbesondere die Beiträge von Ulrich Detges und Richard Waltereit).

II. Die Beiträge in diesem Band Die in diesem Sammelband enthaltenen Beiträge nähern sich der in seinem Titel angesprochenen Fragestellung aus unterschiedlichen Richtungen. In eine erste Gruppe gehören diejenigen Beiträge, in denen versucht wird, der theoretischen Reflexion über Reanalyse und Grammatikalisierung neue Wege zu weisen. Die Beiträge von Richard Waltereit zur Reanalyse und Ulrich Detges zur Grammatikalisierung (Reanalyse mit Grammatikalisierung) sind unserem eigenen in I. vorgetragenen Ansatz nah verwandt, gehen aber weit über diesen hinaus, indem sie sich der Frage nach den Bedingungen und Motiven stellen, die zu Reanalysen mit oder ohne Grammatikalisierung führen können. Georg Kaiser betrachtet Reanalyse aus dem Blickwinkel der generativen Grammatik und zeigt, wie diese zwischen zwei großen Typen von Reanalyse unterscheidet. Es folgen drei Beiträge aus dem klassischen Untersuchungsbereich der Grammatikalisierungsforschung: Barbara Schäfer-Prieß und Julia Mitko beschäftigen sich mit der Entstehung von romanischen Verbalperiphrasen, Thomas Krefeld betrachtet die Entstehung der romanischen Adverbien auf -mente aus einer neuen Perspektive. Die Beiträge von Elisabeth Stark und Claus D. Pusch bilden insofern eine Gruppe, als es hier wie dort um die Möglichkeit der Grammatikalisierung von Strukturen geht, die ursprünglich diskurspragmatische Hervorhebungsfunktion hatten. Gegenstand der Vorlage von Angela Schrott sind die Veränderungen in der semantischen Konfiguration des französischen futur antérieur und die damit einhergehende Entstehung neuer, modaler Verwendungsweisen. In Daniel Véroniques Beitrag steht die Frage im Mittelpunkt, inwiefern sich die beiden zur Diskussion stehenden Begriffe auf bestimmte Sprachwandelprozesse, die zur Herausbildung der französischen Kreolsprachen geführt haben, anwenden lassen. Richard Waltereits Artikel "Reanalyse als metonymischer Prozeß", in dem es um das Verhältnis von Syntax und Semantik in Reanalyseprozessen geht, dürfte für die weitere Diskussion über das Phänomen Reanalyse von grundlegender Bedeutung sein. Reanalyseprozesse sind für Waltereit essentiell semantischer Natur und werden durch nicht-intendierte hörerseitige Inferen-

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zen ausgelöst. Während die meisten neueren Analysen sich an der klassischen Definition von Langacker orientieren und Reanalyse als gleichsam zufalligen Prozeß auffassen, argumentiert Waltereit, daß morphologisch-syntaktische Reanalyse semantisch-pragmatisch motiviert und mit metonymischem Bedeutungswandel vergleichbar ist. Im Gegensatz zu der traditionellen Meinung, wie sie z.B. Haspelmath vertritt, wird Reanalyse nach Waltereit nicht durch eine bereits vorhandene syntaktische Ambiguität ausgelöst, sie setzt vielmehr ein Potential naheliegender semantischer Inferenzen voraus, die wiederum auf Kontiguitätsbeziehungen zwischen dem in dem alten Konstruktionstyp dargestellten und den inferierten Sachverhalten beruhen. Die oft als Auslöser fïir Reanalyse apostrophierte syntaktische Ambiguität wäre dann die Folge eines Reanalyseprozesses, nicht aber seine Voraussetzung. Mit anderen Worten: Nicht die Syntax, sondern die Semantik der neuen Struktur ist in der alten schon angelegt, so daß die Syntax der Semantik folgt und nicht umgekehrt. Wie beim metonymischen Bedeutungswandel handelt es sich auch bei Reanalyse um einen durch semantische Kontiguität ermöglichten Prozeß, der nach Waltereit nicht zwangsläufig an den Spracherwerb gekoppelt ist. Daneben sind für Reanalyse noch zwei weitere Kriterien kennzeichnend, nämlich die syntagmatische Mehrgliedrigkeit und die konstitutionelle Umstrukturierung. Reanalyse wäre bei Waltereit demnach ein abrupter, kontiguitätsbasierter Sprachwandel, bei dem der ordre linéaire einer Konstruktion zwar geich bleibt, bei dem sich aber die Hierarchierelationen innerhalb der syntaktisch komplexen Struktur durch die Umstrukturierung von Konstituenz verändern. Mit seinem Beitrag "Wie entsteht Grammatik? Kognitive und pragmatische Determinanten der Grammatikalisierung von Tempusmarkern" ist es Ulrich Detges vielleicht gelungen, die Grammatikalisierungsforschung aus einem Teufelskreis zu befreien, in dem sie sich seit ihrer Entstehung bewegt. Diese Forschungsrichtung verdankt ihre Existenz ja z.T. dem überwältigenden Eindruck, daß in den verschiedensten Sprachen - und in ein und derselben Sprache zu verschiedenen Zeiten - immer wieder neues Material in analoger Weise verändert wird. Und sie hat für diese, sie mit begründende Tatsache doch keine bessere Erklärung als die offenkundig zirkuläre des 'Bedeutungs- und Materialverschleißes'. Ulrich Detges fuhrt nun am Beispiel der Entstehung von Verbalperiphrasen mit temporaler Bedeutung und insbesodere an der Entstehung des französischen futur proche {(s'en) aller faire qc) aus, daß es diejenigen Strategien sind, mit denen Sprecher in Alltagsgesprächen nicht Augenfälliges (also z.B. vergangene und zukünftige Handlungen bzw. Absichten des Sprechers) expressiv beglaubigen, die die Richtung für den Wandel vorgeben. Die Sprecher behaupten, daß sie etwas getan haben oder zu tun beabsichtigen, indem sie - zumindest sprachlich - ein Resultat der fraglichen Handlung vorweisen bzw. sagen, daß sie sich schon auf dem Weg zur Ausführung der Handlung befinden. Die Hörer nehmen das Gemeinte als Bedeutung des Gesagten. Die 'kognitiven Brücken', die diese Sprecherstrategien und dieses Hörerverhalten ermöglichen, sind metonymischer Art, der dem Wandel zugrundeliegende semantische Mechanismus also "weder Metapher noch "bleaching", sondern Metonymie" (S. 36). die glaubhaft zu machende Handlung befindet sich in unserer Vorstellung in der Nachbarschaft ihres gegenwärtigen Resultats bzw. unserer gegenwärtigen Bewegung zum Ort ihrer Ausführung. Die Richtung, in der diese Brücken benutzt werden, ergibt sich dagegen aus dem, was jeweils besonderer Beglaubigung bedarf. Und da es gerade das Abstrakte, Problematische (also z.B. das Vergangene, Beab-

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sichtigte und das Zukünftige) ist, das der Beglaubigung bedarf, tritt immer wieder das Konkrete, Augenfällige dafür ein, und nicht umgekehrt. Mit anderen Worten: Der Sprecher nimmt Elemente ohne temporale Bedeutung, um temporale Inferenzen zu beglaubigen. Ist der Zirkel damit wirklich durchbrochen? Warum wird aus einer Strategie der expressiven Beglaubigung von Absichten bzw. zukünftigen oder vergangenen Handlungen immer wieder der normale Ausdruck für Absicht, Zukunft oder Vergangenheit? Wohl deswegen, weil es beim Hörer reicht, daß er glaubt. Ist dieser Effekt erreicht, dann kann er mit der Expressivität des Ausdrucks (die ihn vielleicht tatsächlich dazu bewogen hat, zu glauben) allenfalls noch als Sprecher bei anderen Gelegenheiten etwas anfangen. Als Hörer dagegen zieht er die Expressivität vom Ausdruck ab und ordnet diesem lediglich den intendierten Inhalt zu. Und er weiß (intuitiv), daß auch seine Hörer so verfahren. Was sich also abnützt, ist - wie Ulrich Detges auf S. 32/33 scharfsinnig bemerkt - die Expressivität einer Redeweise, nicht die Bedeutung eines Ausdrucks. Letztere ändert sich einfach. Einen anderen theoretischen Ansatzpunkt als Ulrich Detges und Richard Waltereit hat Georg Kaiser. In seinem Beitrag "Sprachwandel durch Reanalyse und Parameterwechsel. Kritische Betrachtungen generativer Sprachwandeltheorien am Beispiel der Verbstellung im Französischen" zeigt er, daß die generative Sprachtheorie auf dem Entwicklungsstand von "Principles and parameters" mit zweierlei Reanalysen rechnet: einer bescheideneren Reanalyse, die keine parametrisch festgelegten Strukturen betrifft, und einer radikaleren, die in der Neufixierung von Parameterwerten besteht. Obwohl auch Georg Kaiser prinzipeil mit diesen beiden Möglichkeiten rechnet, weist er doch für den Wandel in der Satzgliedstellung vom Alt- zum Neufranzösischen, d.h. den Wandel von einer Verb-Zweit-Sprache zu einer Nicht-Verb-ZweitSprache, die von der Mehrzahl der Generativisten bevorzugte Beschreibung als Parameterwechsel zurück. Georg Kaiser glaubt nicht, daß es auf dem Weg zum Neufranzösischen zu Veränderungen bei der Basisgenerierung der Finitheits- und Kongruenzmerkmale gekommen ist, die im Altfranzösischen in der COMP-Position parametrisch festgelegt gewesen wäre. Statt dessen rechnet er bei der Aufgabe der Verb-Zweit-Stellung und der Zunahme von Sätzen mit satzinitialem Subjekt mit einer Reanalyse der SpezIP-Position, die in zunehmendem Maße dem grammatischen Subjekt vorbehalten wird. Nach Kaiser betrifft der Wandel also nur die SpezIPPosition, deren Status jedoch nicht parametrisch festgelegt ist, so daß hier nicht von Parameterwechsel gesprochen werden kann. Wie es überhaupt zu einer Umsetzung von Parameterwerten kommen kann, ist in der generativen Theorie offenbar noch ungeklärt. Im letzten Satz des Beitrags klingt die Vermutung an, dieser von der Theorie vorgesehene 'Super-GAU' komme eventuell nur für die Erklärung von radikaleren Traditionsbrüchen wie etwa der Kreolisierung einer Sprache in Frage. Thema des Beitrags von Barbara Schäfer-Prieß "Lateinische und romanische Periphrasen mit 'haben' und Infinitiv: zwischen 'Obligation', 'Futur' und 'Vermutung'" ist die Weiterentwicklung der lateinischen Periphrasen mit HABERE/TENERE + Infinitiv (Infinitiv + HABERE, HABERE + AD + Infinitiv, HABERE + DE + Infinitiv, HABERE + QUOD + Infinitiv, TENERE + DE + Infinitiv,

TENERE + QUOD + Infinitiv), die in den romanischen Sprachen verschiedene modale und z.T. auch temporale (Ausdruck der Nachzeitigkeit) Bedeutungen angenommen haben. Ähnlich wie in dem Beitrag von Ulrich Detges geht es um die Herausbildung von Tempusmarkern aus konkreten Wortbedeutungen, also um die Entstehung von Grammatik. Nach Schäfer-Prieß durchlaufen die o.g. Periphrasen verschiedene Grammatikaliserungsprozesse, in deren Verlauf sich

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aus der Ausgangsbedeutung "Besitz' durch Reanalyse - dieser Begriff wird allerdings nicht weiter definiert - zunächst ein agensorientierter Obligationsausdruck entwickelt hat, aus dem wiederum über eine Stufe 'feste Absicht' ein Futur entstanden ist. Unter Einbeziehung der jeweils wirksamen semantischen Mechanismen werden die einzelnen Entwicklungsstufen vom Lateinischen v.a. zum Französischen, Spanischen und Portugiesischen nachgezeichnet, wobei das besondere Augenmerk auf der Entstehung der neuen konjekturalen Bedeutungen liegt, die sich sowohl aus der deontischen als auch der temporalen Bedeutung entwickelt haben. Zwischen den einzelnen romaraschen Sprachen werden in bezug auf die verschiedenen Periphrasen erhebliche Divergenzen sowohl hinsichtlich ihrer Frequenz als auch hinsichtlich des Grades ihrer Grammatikalisierung festgestellt. Die Besonderheit der Entwicklung der CANTARE HABEOKonstruktion, bei der die agensorientierte Bedeutung verlorenging, wird damit erklärt, daß das nachgestellte HABERE bald nicht mehr als Auxiliar einer Periphrase aufgefaßt wurde. In ihrem Beitrag "Zur Herausbildung einer formalen Aspektopposition auf der temporalen Nullstufe: être en train de + Infinitiv als teilgrammatikalisierte Verlaufsform des Gegenwartsfranzösischen" vertritt Julia Mitko, die unter Aspekt in Anlehnung an Elisabeth Leiss eine primär deiktische Kategorie versteht, überzeugend die Ansicht, daß das moderne Französische neben einer Aspektopposition des Typs 'perfektivisch/imperfektivisch' im Bereich der Vergangenheit (passé simple vs. imparfait im geschriebenen, passé composé vs. imparfait im gesprochenen Französisch) im Bereich der Gegenwart über eine teilgrammatikalisierte Verbalperiphrase être en train de faire qc fur den Ausdruck der Progression eines Verbalvorgangs verfugt. Unter ihren Argumenten für diese Grammatikalisierung und fur deren Unvollständigkeit spielt der noch zu klärende Begriff der Obligatorietät eine wichtige Rolle. Interessant ist vor allem auch der Teil, in dem Julia Mitko versucht, diejenigen Kontexte zu identifizieren, in denen es im Zuge eines metonymischen Prozesses zu einer Reanalyse von être en train de faire qc und damit zu einer Grammatikalisierung von (être) en train als Bestandteil der entstehenden Periphrase gekommen ist, einer Periphrase, in der (être) en train nicht mehr die Disposition des Subjekts, sondern die Betrachtungsweise des Geschehens charakterisiert. Im Zentrum von Thomas Krefelds Beitrag mit dem treffenden Titel "Agens mit Leib und Seele. Zur Grammatikalisierung romanischer Adverbbildungen" steht die schon oft behandelte Entstehung der romanischen Adverbien auf -ment(e). Das Thema wird aber so gewendet, daß sowohl für die Grammatikalisierungsforschung als auch für die Romanistik Neues und Wichtiges abfällt. Nach Krefeld nimmt die Grammatikalisierungsforschung eine von ihm auf S. 117 zitierte Bemerkung Lehmanns (vgl. ders. 1982; 1995: 21) zur rénovation nicht ernst genug. Lehmann gibt hier nämlich zu, daß ein Ausdruck A fur eine bestimmte grammatische Funktion a selten unmittelbar durch einen neuen Ausdruck B für dieselbe Funktion a ersetzt wird. Vielmehr koexistieren in aller Regel der alte und der neue Ausdruck vorübergehend mit etwas unterschiedlichen Funktionen. So gesehen ist die rénovation, also die Übernahme der Funktion a durch den Ausdruck B, in aller Regel eine Illusion der Betrachtung, die durch die Vernachlässigung von semantischen Zwischenstadien zustandekommt. Die -wen/^-Bildungen haben, so Krefeld, nicht einfach die nach ganz unterschiedlichen Verfahren gebildeten lateinischen Adverbien in der gleichen Funktion abgelöst. Vielmehr bildeten sie ursprünglich eine spezifische Gruppe mit eigener Semantik und Syntax: es waren - in Übereinstimmung mit dem in lat. MENTE enthaltenen intentionalen Element - Adverbien zur näheren Charakterisierung der Handlung eines menschlichen Agens. Daß es solche spezifischeren Adverbbildungen durchaus

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gibt, zeigt Krefeld an den italienischen und französischen Bildungen auf -oni bzw. -ons (z.B. it. (a) tastoni, frz. à tâtons 'tastend', vgl. sein Anhang 1) sowie den rumänischen Bildungen auf -i$ (z.B. haiti§ 'krummbeinig', vgl. sein Anhang 2), die den Agens freilich nicht nach seinem Seelenzustand, sondern in seiner Leiblichkeit charakterisieren. Diese und eine Reihe anderer frühromanischer Grammatikalisierungen bringen Krefeld auf den Gedanken, beim Übergang vom Latein zum Romanischen könne die Kategorie Agentivität beim Umbau der Grammatik eine herausragende Rolle gespielt haben. Bei dem Bildungsverfahren mittels -ment(e) wäre die ursprüngliche semantische und funktionelle Spezialisierung später allerdings wieder aufgegeben worden. Dadurch könnte der Eindruck entstehen, es handle sich um eine pure rénovation. (Zu bedenken ist dabei freilich auch, daß die romanischen 'Adverbien' auf -ment(e) heute gar nicht unbedingt im engeren Sinne 'adverbial', also sachverhaltscharakterisierend verwendet werden, sondern auch 'adadjektivisch' bzw. - als sog. Satzadverbien - den Sprechakt determinierend oder eine Tatsache bewertend.) In dem Beitrag von Elisabeth Stark "Französische Voranstellungsstrukturen - Grammatikalisierung oder universale Diskursstrategien?" geht es um ein bislang wenig beachtetes Thema aus dem Bereich der Syntax des gesprochenen Französisch, nämlich um "Voranstellungen", wobei den "absoluten Rahmensetzungen" (Typ: Notre manage on était seuls) besondere Bedeutung zukommt.16 Innerhalb dieser absoluten Rahmensetzungen gibt es nach Stark insofern Markiertheitsabstufungen, als diese Konstruktionen je nach Beschaffenheit des äußerungsinitial auftretenden, isolierten Elements mehr oder weniger aggregativ wirken. Dabei ist nach Stark nicht unbedingt davon auszugehen, daß diese Muster allmählich im Sinne von Lehmanns obligatorification grammatikalisiert werden. Auftreten und Gestalt der absoluten Rahmensetzungen sind nach wie vor ausschließlich diskurspragmatisch bedingt, d.h. es handelt sich um alltagsrhetorisch motivierte Versprachlichungsstrategien, die es in der Schriftsprache fast nicht gibt. Von Grammatikalisierung im o.a. Sinne könnte aber, so Stark, eigentlich erst dann gesprochen werden, wenn eine zunehmende Verankerung dieser Konstruktionen auch außerhalb der Mündlichkeit festzustellen wäre. Eine zentrale Rolle im Zusammenhang mit den absoluten Rahmensetzungen spielen Einleitungsfloskeln vom Typ quant à, pour ce qui est de, au niveau de, sur le plan de, du côté de etc., die dafür sorgen, daß die absoluten Rahmensetzungen stärker sprachlich integriert und somit auch distanzsprachlich akzeptabel werden. Hier handelt es sich z.T. um komplexe Präpositionen, die sich laut Stark aufgrund bestimmter metonymischer und metaphorischer Prozesse aus Substantiven mit lokaler Semantik entwickelt haben. Bei der Übertragung konkreter lokaler Relationen auf abstrakte Bereiche sowie bei der Entwicklung von Substantiven zu Einleitungsfloskeln handelt es sich, so die Verfasserin, nicht um Reanalyse im Sinne einer Umstrukturierung von Konstituenz, sondern um klassische Grammatikalisierungserscheinungen. Gegenstand des Beitrags von Claus D. Pusch "Reanalyse von Spaltsatzkonstruktionen und grammatische Prädikationsexplizierung. Zur Entwicklung des Enunziativs que im Gaskognischen" ist eine Besonderheit der gaskognischen Morphosyntax, nämlich das sogenannte "Enunziativ", das in jedem nicht-negierten Satz vor dem finiten Verb nach dem Subjekt (Substantiv oder selbständiges Pronomen) auftritt: Lo mainatge qu'avè mau de cap "Das Kind hatte Kopf-

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Vgl. auch Stark (1997).

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weh'. Pusch beschäftigt sich in seinem Beitrag ausschließlich mit dem enunziativen que (die anderen Enunziative des Gaskognischen e, be und ja werden nicht behandelt) und fragt zunächst nach Herkunft und Auftretensbedingungen von que. Nach Pusch liegt beim gaskognischen Hauptsatz mit enunziativem que eine reanalysierte Spaltsatzkonstruktion vor, deren Subordinator que sich zum präverbalen Marker eines nunmehr nicht mehr aus zwei Hierarchieebenen bestehenden Satzes entwickelt hat und in der Funktion als Assertionsmarker im Sinne des Lehmannschen Parameters der "obligatorification" grammatikalisiert wird. Pusch charakterisiert diese Entwicklung als "Weitergrammatikalisierung", da ein grammtisches Morphem (hier das alte Relativpronomen) in einer spezifischen Verwendungsweise obligatorisch wird und sein Gebrauch sich weitgehend automatisiert. Der Begriff Grammatikalisierung wird hier also im Sinne von "grammatischer werden" verwendet. Die Entstehung der neuen grammatischen Funktion des Funktionswortes que als Assertionsmarker erklärt Pusch mit Reanalyse, worunter er entsprechend der weiten Definition des Begriffs von Lessau (1994) "reinterpretations of one entity as another entity" versteht. Die Herausbildung des Enunziativs que, das Pusch auch in Relation zu dem polyfunktionalen romanischen que/che interpretiert, wäre demnach ein Beispiel fur den Zusammenhang von Reanalyse auf der Ebene mehrgliedriger sprachlicher Strukturen und der Grammatikalisierung sprachlicher Einzelelemente.17 In dem im Schnittbereich von Tempus- und Grammatikalisierungsforschung zu situierenden Beitrag von Angela Schrott mit dem Titel '"Nous aurons entendu cela.' Temporalität und Modalität - zur Dynamik der Kategorienorganisation beim furur antérieur" geht es um Veränderungen in der semantischen Konfiguration der Kategorie fiitur antérieur. Der Gebrauch, den Angela Schrott dabei von dem Begriff'Grammatikalisierung' macht, ist nicht der von uns in dieser Einleitung vorgeschlagene. Angela Schrott bezieht sich mit dem Begriff auf die Entstehung neuer Verwendungstypen einer grammatischen Form. Von Reanalyse kann dabei, dies räumt auch die Verfasserin ein, allenfalls im Sinne einer 'semantischen Reanalyse' die Rede sein, die innerhalb der Konfiguration semantischer 'Bausteine' einer grammatischen Form neue Akzente setzt (vgl. S. 178); von daher besteht allenfalls Analogie zur Reanalyse als einem die syntaktische Konfiguration betreffenden Prozeß. Für das futur antérieur unterscheidet Angela Schrott drei Redebedeutungstypen: das temporal-futurische fittur antérieur (Fin 2001 nous aurons terminé), das futur antérieur de probabilité zum Ausdruck von Vermutungen hinsichtlich bereits abgeschlossener Vorgänge (Elle aura pris ça pour un geste de menace) und das futur antérieur der retrospektiven Beurteilung (J'aurai eu trois sombres dates dans mon existence). Die beiden modalen Verwendungen, die auch sie für von der temporalen abgeleitet und damit jünger hält, behalten die wesentlichen Elemente der Futur- und Anteriorsemantik bei: so insbesondere die verschobene Verifizierbarkeit und die Relation zwischen einem abgeschlossenen Sachverhalt und einer Folgephase. Diese Elemente erscheinen aber in den Verwendungen, die die temporale Distanz (Futurität) im Sinne einer Distanz des Sprechers gegenüber seinem Text (futur antérieur de probabilité) bzw. einer Situierung des Gesagten in der Welt der Überzeugungen des Sprechers (futur antérieur der re-

in ihrem Koreferat wies Elisabeth Stark noch auf eine zweite wesentliche Funktion von que im Gaskognischen hin, wie sie von Raible (1992) beschrieben wird: es geht um que als Junktionsmarker, der topic continuity anzeigen und Vordergrundhandlungen markieren kann. Allerdings handelt es sich hier u.U. um eine Leistung, die nur im schriftsprachlich-literarischen Bereich von Bedeutung ist.

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trospektiven Beurteilung) uminterpretieren, 'pragmatisch angereichert' (S. 171). Bei der Entstehung dieser modalen Verwendungen des futur antérieur sieht Angela Schrott metaphorische und metonymische Vorgänge am Werk. Diese laufen allerdings auf unterschiedlichen Ebenen ab: während die Umdeutung der zeitlichen Distanz als partielle Distanzierung des Sprechers von dem, was er sagt, ein metaphorischer Vorgang wäre (man fühlt sich an Harald Weinrichs 'Tempusmetaphem' erinnert), sieht Frau Schrott in dem Verlust der Futurität des futur antérieur einen durch futurische Interpretationen ausschließende Kontexte ausgelösten, metonymischen Bedeutungswandel (eine 'context-induced reinterpretation', S. 166, 178): die Kontiguität der Form und einer bestimmten Inferenz ermögliche es, "daß die Implikatur allmählich in die Semantik der Form übergeht" (S. 166). Die Frage, wie das futur antérieur in die fraglichen Kontexte hineingerät, wird nicht gestellt. Daniel Véroniques Beitrag "L'émergence de catégories grammaticales dans les langues créoles: grammaticalisation et réanalyse" ist der einzige, in dem das Verhältnis von Reanalyse, Grammatikalisierung und Kreolisierung zur Sprache kommt, ein Thema, das insbesondere vor dem Hintergrund der Diskussion über Restrukturierung in den Kreolsprachen von größter Aktualität ist. Zwei Fragen bilden den Ausgangspunkt der Überlegungen: a) Welche Prozesse haben bei der Herausbildung von Kreolsprachen und ihrer Autonomisierung zu typologisch eigenständigen Sprachen eine Rolle gespielt?; b) Sind diese Prozesse grundsätzlich anderer Natur als jene, die bei der "normalen" Entwicklung einer Einzelsprache zu beobachten sind? Véronique vertritt die folgende These: Auch bei der Kreolisierung sind Reanalyse- und Grammatikalisierungsprozesse, so wie sie bei der Entwicklung historischer Einzelsprachen auftreten, von zentraler Bedeutung; aufgrund der besonderen Sprachkontaktsituation in den Kolonialgesellschaften spielen jedoch auch Veränderungsprozesse eine Rolle, wie sie beim Spracherwerb zu beobachten sind ("grammaticalisation acquisitionnelle"). Véronique untersucht exemplarisch die kreolischen Tempus- und Aspektmarker, die verschiedenen Modalverben sowie die Herausbildung des Subordinators pou in den französischen Kreolsprachen. Er zeigt, daß die Herausbildung neuer grammatischer Kategorien in den Kreolsprachen graduell erfolgte und daß jedes Subsystem seinen eigenen Entwicklungsrhythmus hatte. So gab es z.B. im Bereich der Modalverben von Anfang an eine weniger ausgeprägte rupture structurale mit der Basissprache als bei den Tempus- und Aspektmarkern, bei deren Generalisierung bestimmte in den afrikanischen Substratsprachen vorhandene Versprachlichungsmuster eine Rolle gespielt haben dürften. In den einzelnen Kreolsprachen sind die jeweiligen Grammatikalisierungsprozesse mit unterschiedlicher Schnelligkeit und Konsequenz abgelaufen, was sich sowohl durch Divergenzen innerhalb der Kreolsprachen selbst als auch durch die unterschiedliche Entfernung der einzelnen Kreolidiome von der Basissprache manifestiert.

Literatur Folia Lingüistica Histórica 13 (1992/93). Harris, Alice C. / Campbell, Lyle (1995): Historical syntax in a cross-linguistic perspective. - Cambridge etc.: Cambridge University Press (= Cambridge studies in linguistics 74). Haspelmath, Martin (1998): "Does grammaticalization need reanalysis?" - In: Studies in Language 22-2,49-85.

Einleitung

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Heine, Bernd / Reh, Mechthild (1984): Grammaticalization and Reanalysis in African Languages. - Hamburg: Buske. - / Claudi, Ulrike/Hünnemeyer, Friederike (1991): Grammaticalization: A conceptual framework. -Chicago: University of Chicago Press. Hopper, Paul J. (1991): "On Some Principles of Grammaticization". - In: E. C. Traugott, B. Heine (eds.): Approaches to Grammaticalization. Vol. I, II (Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins) (= Typological Studies in Language 19) 15-35. - / Traugott, Elizabeth Closs (1993): Grammaticalization. - Cambridge: Cambridge University Press. Laca, Brenda (1986): Die Wortbildung als Grammatik des Wortschatzes: Untersuchung zur spanischen Subjektnominalisierung. - Tübingen: Narr (= Tübinger Beiträge zur Linguistik 286). Langacker, Ronald W. (1977): "Syntactic Reanalysis". - In: C.N. Li (ed.): Mechanisms of Syntactic Change (Austin, London: University of Texas Press) 57-139. Lehmann, Christian (1995): Thoughts on Grammaticalization. - München, Newcastle: Lincom Europa (= Studies in Theoretical Linguistics 1) (erstmals 1982). Lessau, Donald A. (1994): A Dictionary of Grammaticalization (Band 2). - Bochum: Brockmeyer (= Bochum-Essener Beiträge zur Sprachwandelforschung 21). Michaelis, Susanne / Thiele, Petra (1996): Grammatikalisierung in der Romania. - Bochum: Brockmeyer (= Bochum-Essener Beiträge zur Sprachwandelforschung 28). Paul, Hermann (1970): Prinzipien der Sprachgeschichte. Studienausgabe der 8. Auflage. - Tübingen: Niemeyer (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaften 6) (erstmals 1880). Raible, Wolfgang (1992): Junktion. Eine Dimension der Sprache und ihre Realisierungsformen zwischen Aggregation und Integration. - Heidelberg: Winter (= Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse 2). Stark, Elisabeth (1997): Voranstellungsstrukturen und topic-Markierung im Gegenwartsfranzösischen (mit einem Ausblick auf das Italienische). - Tübingen: Narr (= Romanica Monacensia 51; Münchener Universitätsschriften :Philosophische Fakultät). Timberlake (1977), "Reanalysis and actualization in syntactic change". - In: Ch. N. Li (ed.): Mechanisms of syntactic change (Austin: University of Texas Press) 141 -177. Traugott, Elizabeth C. / Heine, Bemd (eds.) (1991): Approaches to Grammaticalization. Vol. I, II. - Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins (= Typological Studies in Language 19).

Richard Waltereit (Tübingen)

Reanalyse als metonymischer Prozeß

1. Reanalyse - ein schillernder Begriff Reanalyse ist ein in der jüngeren Literatur zum Sprachwandel vieldiskutierter Begriff, der besonders im Zusammenhang mit syntaktischem Wandel und Grammatikalisierung weite Beachtung findet - sowohl in der generativen als auch in der funktional-typologischen Linguistik.1 Prägnante Beispiele fur Reanalyse sind Sprachwandelprozesse wie die Entwicklung der französischen diastratisch niedrig markierten Fragepartikel ti aus der Inversionsfrage oder die Umdeutung des deutschen Demonstrativpronomens das zur Kompletivkonjunktion:2 (la) (lb) (2a) (2b)

Votre père part-il? > Votre père part-ti? Ingo sieht das: Elfi tanzt. > Ingo sieht, daß Elfi tanzt.3

Solche Beispiele lassen Reanalyse intuitiv als einen spektakulären, abrupten Wandel einer Konstruktion erscheinen (Heine/Claudi/Hünnemeyer 1991: 215). Die segmentale Oberfläche bleibt gleich, doch die syntaktischen Hierarchierelationen in der Gesamtkonstruktion verändern sich sprunghaft und ohne erkennbare Zwischenschritte:4 (la') NP[Votre père] s[vpart-PROil?] > (lb") sMVotre père] vPart-^ti?]] (2a') s[Ingo sieht das:] s[Elfi tanzt.] > (2b') s[Ingo sieht, s [daß Elfi tanzt.]]

Schematisch läßt sich die syntaktische (konstituentielle) Umstrukturierung mit Heine/Claudi/ Hünnemeyer (1991: 216) folgendermaßen symbolisieren (wobei A, B und C für beliebige Konstituenten stehen): (3) (4)

1

2

3

4

[A, B] c A[B,C]

Cf. für neuere Arbeiten Langacker 1977, Heine/Claudi/Hünnemeyer 1991, Roberts 1993, Hopper/Traugott 1993, Harris/Campbell 1995, Haspelmath 1998 sowie das Themenheft 13/1 (1993) von Folia Linguistica Historica Zu ti ist allerdings zu bemerken, daß diese manchmal gern als Merkmal des français populaire genannte Partikel im tatsächlichen Sprachgebrauch kaum (noch?) vorkommt. Cf. Behnstedt (1973:16). Cf. den bei Paul (1975: 299) genannten ahd. Beleg aus Otfrids Evangelienbuch (H 17): Vuanta unser Hb scal wesan thdz wir thlonost duen io thlnaz "Denn unser ganzes Leben soll sein, daß wir immer deinen Dienst tun'/ Denn unser ganzes Leben soll sein das: wir tun immer deinen Dienst'. Hier und im folgenden verwende ich die folgenden Abkürzungen: S = Satz, NP = Nominalphrase, V = Verb, A = Adjektiv, PRO = Pronomen, PTCL = Partikel.

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Richard Waltereit

Reanalysen entsprechen somit nicht dem Bild des graduellen Prozesses, das oft mit grammatischem Wandel verbunden wird (so z.B. beim Wortstellungswandel oder bei Grammatikalisierungen). Mit der Abruptheit einher geht die Intuition der Regellosigkeit und Isoliertheit. Während z.B. der Wandel der Wortstellungsstruktur oder Grammatikalisierungsvorgänge zwar nicht vorhersagbar sind, sich aber in der Rückschau oft schlüssig als Komponenten eines umfassenderen Systemumbaus darstellen, können Reanalyseprozesse zunächst unmotiviert und von weiteren diachronen Zusammenhängen abgetrennt wirken. Mit der anscheinend leichten intuitiven Zugänglichkeit der Reanalyse kontrastiert nun eine auffällige Unklarheit in ihrer begrifflichen Abgrenzung und theoretischen Aufarbeitung.5 Einerseits gelten syntaktische Umstrukturierungen wie (1) und (2) bei allen Autoren als Reanalyse. Jedoch fallen in vielen Arbeiten auch Teilaspekte derartiger Prozesse als solche schon unter diesen Begriff So gilt für Harris/Campbell (1995. 63) der Wortartwechsel eines Verbs zu einer Präposition in einer Serialverbkonstruktion als Reanalyse ("reanalysis of category labels"), obwohl - wie die Autoren selbst schreiben - sich bei einem solchen Sprachwandel die Konstituenzverhältnisse nicht ändern. In mancher Hinsicht vergleichbar sprechen König/Kortmann (1992) bei deverbalen Präpositionen (frz.pendant, engl, according to usw.) von "categorial reanalysis". In noch allgemeinerer Weise definiert schließlich Langacker in seiner frühen Arbeit Reanalyse "as change in the structure of an expression or class of expressions that does not involve any immediate or intrinsic modification of its surface manifestation" (1977: 58). Dieser extrem weite Begriffläuft darauf hinaus, jeden sprachlichen Wandel ohne Ausdrucksveränderung als Reanalyse zu bezeichnen. Er muß daher trivialerweise auch jeden (lexikalischen oder grammatischen) Bedeutungswandel einschließen, denn auch Bedeutungswandel ist Wandel ohne Ausdrucksveränderung. So verwenden auch Hopper/Traugott (1993: 45) im Anschluß an Langacker den Begriff "semantic reanalysis". Mit diesem Attribut bekommt der zunächst als morphologisch-syntaktisch erscheinende Prozeß der Reanalyse überraschenderweise eine semantische Facette. All diesen durchaus unterschiedlichen Konzeptionen ist eins gemeinsam: Sie fassen Reanalyse implizit als einen unmotivierten, gleichsam zufälligen Prozeß. Ich möchte hingegen in diesem Beitrag dafür argumentieren, daß Reanalyse semantisch-pragmatisch motiviert ist und daß die in (1) und (2) gezeigten morphosyntaktischen Veränderungen nur der Reflex eines primär semantischen Vorgangs sind. Ich werde mich dabei insbesondere mit zwei in der Forschung verbreiteten Ansichten über Reanalyse kritisch auseinandersetzen: Nämlich damit, daß Reanalyse eine syntaktische Ambiguität der Ausgangsstruktur voraussetze und daß Reanalyse auf "Übertragungsfehler" beim Spracherwerb zurückgehe. Die konsequent semantische Perspektive wird es auch erlauben, verschiedene Teilphänomene von Reanalyseprozessen im Sinne von (1) und (2) zu isolieren. Sie vermag möglicherweise die Intuitionen zu rekonstruieren, die dazu fuhren konnten, auf den ersten Blick so unzusammenhängende Phänomene wie Bedeutungswandel ("semantic reanalysis") und morphosyntaktischen Wandel unter ein Etikett zu subsumieren.

5

Diesen Befund macht auch Heine (1993: 116-119).

Recmafyse als metonymischer Prozeß

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2. Syntaktische Ambiguität oder semantisches Inferenzpotential? 2.1. Zum Verhältnis von Syntax und Semantik in Reanalyseprozessen In der Literatur zur Reanalyse wird oft vorausgesetzt (cf. Timberlake 1977: 142) oder explizit behauptet, daß eine syntaktische (konstituentielle) Ambiguität eine Eingangsbedingung für den Reanalyseprozeß sei. So schreibt Haspelmath (1998: 60): "[R]eanalysis presupposes a potential structural ambiguity of the original structure". Ähnlich behaupten Harris/Campbell (1995: 72): "[. . .] the conditions necessary for reanalysis to take place are that a subset of the tokens of a particular constructional type must be open to the possibility of multiple structural analyses". Betrachten wir hierzu ein in der Literatur geläufiges Beispiel aus dem Deutschen (nach Schrodt 1993 . 259 und Haspelmath 1998: 59): (5a) Da zerriß NP[dem Jungen] NP[seine Hose], > (5b) Da zerriß NP[NP[dem Jungen] seine Hose],

Der Pertinenzdativ in (5a) ist in manchen nähesprachlichen Varietäten des Deutschen als adnominaler Possessionsmarker (5b) reanalysiert worden.6 Die syntaktische Hierarchiestruktur ist nun in der Tat ambig, denn beide konstituentiellen Analysen sind mit der segmentalen Oberfläche verträglich. Aber ist diese Ambiguität Voraussetzung des Reanalyseprozesses? Eine ganz einfache Überlegung zeigt, daß die syntaktische Ambiguität nicht die Voraussetzung des Reanalysevorgangs ist, sondern ihr Ergebnis. Denn die Struktur (5) ist nur ambig, weil die Reanalyse bereits stattgefunden hat; vor diesem diachronen Schritt (als es den in (5b) gezeigten Typus der adnominalen Possessionsmarkierung also noch nicht gab) war selbstverständlich nur die (5a) entsprechende Struktur möglich. Syntaktische Ambiguität kann also nur eine Folge des Reanalyseprozesses sein, nicht ihre Voraussetzung.7 Diese leicht aufzuzeigende Einsicht wird zentral für meine Deutung der Reanalyse als Typ von Sprachwandel sein. Die traditionelle Ansicht, daß Reanalyse syntaktische Ambiguität voraussetze, speist sich vermutlich aus der (plausiblen) Intuition, daß in der alten Struktur die neue irgendwie schon enthalten ist. Ich möchte jedoch im folgenden dafür argumentieren, daß nicht die Syntax (im Sinne einer vorgängigen konstituentiellen Ambiguität), sondern die Semantik der neuen Struktur in der alten schon angelegt ist. Die Bedeutung der neuen Struktur ist nämlich nicht genau die gleiche wie die der alten, sondern entspricht einer sehr naheliegenden Inferenz aus ihr. Die neue Struktur aktiviert ein in der alten angelegtes Inferenzpotential. Die neue syntaktische Struktur ist nur ein Reflex dieses semantischen Wandels. So bedeuten (5a) und (5b) nicht immer genau das gleiche. Die Pertinenzkonstruktion in (5a) drückt rein satzsemantisch gesehen nur aus, daß der Referent der Dativ-NP von dem Sachverhalt des Hosenrisses betroffen ist. Es ist sehr naheliegend, hieraus

Ganz ähnlich ist wohl auch die im Afiz. und Mfiz. noch sehr gängige Possessionsmarkierung durch die Präposition a zu deuten (erhalten in Kollokationen wie fils ä papä). Auch Harri s/Camp bell (1995:70) bezweifeln zunächst, daß Ambiguität eine Voraussetzung von Reanalyse sei. Sie ziehen ans diesem Zweifel aber keine Konsequenzen und fallen dann (1995: 72) in ihrer abschließenden Wertung der Rolle syntaktischer Ambiguität auf das traditionelle Verständnis zurück.

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zu inferieren, daß die Hose des Jungen riß - das entspricht (5b). Eine zwingende Schlußfolgerung aus (5a) ist (5b) aber nicht. So könnte sich bei (5a) das Possessivpronomen auch auf jemand anderen als den Jungen beziehen, d.h. die Hose eines anderen würde reißen, und er selbst wäre dadurch nur betroffen. In (5b) hingegen muß das Possessivpronomen sich auf das Subjekt beziehen. Die naheliegende, aber nicht zwingende Schlußfolgerung ist charakteristisch für Inferenzprozesse. Die Inferenz ist in der alten Satzbedeutung (5a) angelegt; (5b) hat das Inferenzpotential aktualisiert und zu einer neuen Satzbedeutung gemacht. Dies äußert sich darin, daß der Pertinenzdativ zum adnominalen Possessionsmarker geworden ist. Hierdurch ist die syntaktische Struktur umorganisiert worden: Die NP dem Jungen ist der NP seine Hose nicht mehr als KoKonstituente gleichrangig nebengeordnet, sondern sie fungiert als Modifikator der Kopf-NP seine Hose, so wie es ihrer neuen Rolle als adnominalem Possessionsmarker entspricht. Die Syntax folgt also der Semantik; sie geht ihr nicht voraus. Auch die französische est-ce que-Frage ist das Produkt eines Reanalyseprozesses (cf. auch Harris/Campbell 1995: 65f). Die Wortfolge est-ce que, ursprünglich ein Matrixfragesatz, der eine indirekte Frage kataphorisch einleitete, ist zu einer morphosyntaktisch nicht mehr weiter gliederbaren Fragepartikel reanalysiert worden (cf. Brunot/Bruneau 1969: 487): (6a) (6b)

s [Est-ce, s [que s [[Est-ce

mon amie est morte],?] > que] mon amie est morte?]

(Der Referenzindex z in (6a) symbolisiert die phorische Beziehung zwischen dem Pronomen ce und dem eingebetteten Satz.) In (6a/b) stellt sich die Reanalyse zunächst nur als Neuordnung der Satzgliedhierarchie dar. Es gibt jedoch auch, genau wie in (5a/b), einen kleinen inhaltlichen Unterschied. (6b) kann nicht nur den Sprechakt "Frage" vertreten, sondern hat ein breiteres illokutives Spektrum; (6a) hingegen scheint illokutiv recht stark auf eine nachdrückliche Frage nach dem Wahrheitswert der Proposition festgelegt. Bekanntlich werden Fragen (als Satztypen) gerne verwendet, um indirekt über das bloße Erbitten von Informationen hinausgehende Handlungen zu vollziehen, z.B. Vorwürfe ("Hast Du etwa den Teller zerbrochen?").8 Das in (6a) exemplifizierte Verfahren ermöglicht es dem Sprecher, dieser "Zweckentfremdung" des Satztyps "Frage" gegenzusteuern und zu signalisieren, daß er vom Hörer lediglich wissen will, ob der betreffende Sachverhalt zutrifft oder nicht.9 Nun liegt es nahe, diese "Ausweichstrategie" wiederum als Frage im weiteren Sinne zu lesen; das ist der Reanalysevorgang mit der Struktur (6b) als Ergebnis. Ausgangs- und Endprodukt des Inferenzprozesses unterscheiden sich hier, im Gegensatz zu (5a/b), jedoch nicht in ihrer Bedeutung (im Sinne von Wahrheitsbedingungen), sondern in den mit ihnen jeweils verbundenen pragmatischen Potentialen. Syntaktischer Ausdruck dieses Wandelprozesses ist die Kompaktisierung der Sequenz est-ce que und, damit zusammenhängend, der Matrixstatus der Frageproposition. Auch dieses Beispiel zeigt, daß die Neuklammerung der Konstituenten (und damit auch die syntaktische Ambiguität) primär ein ausdrucksseitiger Reflex eines wesensmäßig semantischen (und ggf. pragmatischen) Prozesses ist.

8 9

Cf. hierzu z.B. Wunderlich (1976: 233-242). Dieses Verfahren gibt es selbstverständlich auch im heutigen Französisch (Est-il vrai que...) und in anderen Sprachen (cf. dt. Stimmt es, daß..., Ist es wahr, daß...).

Reanalyse als metonymischer Prozeß

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2.2. Kontiguität der Sachverhalte Es muß jetzt der semantische Mechanismus der Reanalyseprozesse genauer beleuchtet werden. Im Beispiel (5) konnte die neue Satzbedeutung aus der alten inferiert werden. Sprecher erwarten aufgrund ihres Weltwissens, daß, wenn der in (5a) dargestellte Sachverhalt (der Junge ist vom Hosenriß betroffen) der Fall ist, normalerweise auch der in (5b) dargestellte Sachverhalt (die Hose des Jungen riß) zutrifft. Es handelt sich hier also um Erwartungen im Bereich der Proposition. Im Beispiel (6) hat man es mit Erwartungen im Bereich des Sprechakts zu tun: Wenn ein Sprecher wissen will, ob etwas der Fall ist, so kann man vermuten, daß er einen mit der Frage zusammenhängenden Sprechakt vollzieht. Obwohl die beiden Beispiele unterschiedlichen Domänen des Sprachgebrauchs (dargestellter Sachverhalt bzw. Darstellung des Sachverhalts) angehören, ist der jeweilige semantische Mechanismus doch derselbe. Es handelt sich um eine Kontiguitätsrelation, eine Beziehung sachlicher Nähe von Entitäten oder Ereignissen in der menschlichen Wahrnehmung und Erfahrung.10 Kontiguitäten bestehen nicht isoliert, sondern sind üblicherweise in umfassendere Handlungs- und Erfahrungszusammenhänge (Frames) eingebettet (cf Koch im Druck). Kontiguitätsrelationen können unterschiedlich eng sein, d.h. ein gegebenes Ereignis kann in unterschiedlichem Maße die Erwartung des kontigen Ereignisses auslösen. Bei den unter (5) und (6) diskutierten Fällen ist die Kontiguität außerordentlich eng, sogar so eng, daß sich erst bei genauer Betrachtung zeigt, daß mit den jeweiligen Äußerungen unterschiedliche Sachverhalte beschrieben werden können. Dies scheint allgemein typisch für Reanalyse zu sein. Weniger ausgeprägt ist die Erwartbarkeit z.B. bei der Inferenz von Frage zu Aufforderung: Die Äußerung Könntest Du das Radio anschalten? ist als Frage erkennbar, wird aber meist als Aufforderung verstanden. Die Inferenz vom Ereignis "Frage" zum Ereignis "Aufforderung" ist jedoch offensichtlich nicht naheliegend genug, um in diesem Fall einen Reanalyseprozeß einzuleiten. Die Kontiguitätsrelation zwischen den beiden Ereignissen muß sehr eng sein, um einen Reanalysevorgang initiieren zu können. Weiterhin ist für Reanalyse nötig, daß nicht nur singulare Ereignisse kontig sind, sondern daß ganze Ereignistypen in einer regelmäßigen Erfahrungsbeziehung zueinander stehen, z.B., wie an den Beispielen illustriert, "Betroffenheit" - "Possession". Denn es werden ja nicht einzelne Sätze reanalysiert, sondern Konstruktionstypen (z.B.: Pertinenzkonstruktion, abhängiger Fragesatz), die per se eine offene Klasse von Ereignissen repräsentieren können. Der Konstruktionstyp muß daher in seiner vorherigen und in seiner reanalysierten Form jeweils einem Ereignistyp zuordenbar sein. Um diesen Abschnitt zusammenzufassen: Reanalyse setzt nicht eine vorgängige syntaktische Ambiguität voraus, sondern ein Potential sehr naheliegender semantischer Inferenzen. Die Inferenz wiederum ruht auf Kontiguitätsbeziehungen zwischen dem in der alten Struktur dargestellten Inhalt und dem inferierten Inhalt. Im Kern besteht der Reanalysevorgang darin, daß eine Inferenz aus der alten Konstruktionsbedeutung zur neuen Konstruktionsbedeutung wird. Da die reanalysierte Konstruktion insofern zwei Bedeutungen hat (die alte und die neue), ist sie, als Folge des Reanalyseprozesses, syntaktisch ambig.

10

Zu Kontiguitätsbeziehungen allgemein cf. z.B. Jakobson 1971, Schifko 1979, Waltereit 1998.

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3. Ist Reanalyse an den Spracherwerb gebunden? In der Forschung wird oft davon ausgegangen, daß Reanalyse Resultat eines Abduktionsvorgangs sei (Timberlake 1977: 141-143, Hopper/Traugott 1993: 41f ). Abduktion ist eine Schlußfigur, bei der ausgehend von einem bestimmten Oberflächenbefund und einer Regel auf einen zugrundeliegenden Tatbestand geschlossen wird. Sie ist ein in der menschlichen Lebenspraxis allgegenwärtiges Erklärungsmuster. So ist z.B. jede ärztliche Diagnose eine Abduktion, denn dort wird von einem Symptom als Oberflächenbefund und Regeln über den Zusammenhang von Krankheiten und ihnen zugehörigen Symptomen auf eine dem Symptom zugrundeliegende Krankheit geschlossen. Dieses Verfahren ist immer dann fehlbar, wenn die vorgängige regelhafte Zuordnung von zugrundeliegendem und Oberflächenbefund nicht mindestens in der Richtung "Oberfläche > Zugrundeliegender Sachverhalt" eindeutig ist. Um beim medizinischen Beispiel zu bleiben: Die Diagnose als Abduktion ist fehlbar, wenn verschiedene Krankheiten das gleiche Symptom zeitigen können. Analog wird oft Reanalyse als "falscher", auf mehrdeutigen Oberflächenstrukturen beruhender Abduktionsvorgang auf Seiten des Hörers beschrieben. So erklären Hopper/Traugott (1993: 41) den Funktionswandel von engl, back vom Substantiv zum Element einer komplexen Präposition als abduktionsbasierte Reanalyse: (7a) [[back] of the barn] > (7b) [back of [the bam]]

Sie schreiben hierzu (1993: 41f.): A hearer has heard the "output" [R.W. (7a)] (the "result"), but assigns to it a different structure [R.W. (7b)] (the "case") after matching it with possible nominal structures (specified by the "laws"). The conclusion is not identical with the original structure of which [R.W. (7a)] is a manifestation, but is nonetheless compatible with [R.W. (7a)] in that the surface string is the same.

In dieser Optik spielt eine etwaige Motivation für die Reanalyse überhaupt keine Rolle; die Reanalyse ist gewissermaßen Folge eines syntaktischen Mißverständnisses. Da ein solches Mißverständnis etwas mit sprachlicher Kompetenz bzw. einem Mangel an dieser zu tun hat, führen viele Autoren Reanalyse auf Ubertragungsfehler beim kindlichen Erstspracherwerb zurück (cf. Andersen 1973, Timberlake 1977: 142f., Haspelmath 1998; Battye/Roberts 1995: 7 verwenden hierfür den Begriff "misacquisition"). Diese Annahme findet sich insbesondere auch in generativen Arbeiten, die den Spracherwerb zum zentralen Locus des grammatischen Wandels machen (cf. z.B. Roberts 1993: 158). Es ist sicherlich sehr plausibel anzunehmen, daß der kindliche Erstspracherwerb in Teilen ein Abduktionsvorgang ist. Das Kind versucht, neue, unbekannte Strukturen anhand bereits gelernter Regeln auf bekannte Strukturen zurückzuführen, wodurch nicht-zielsprachenkonforme Äußerungen produziert werden können; ein Beleg hierfür sind die Übergeneralisierungen in der Morphologie (z.B. *prendu als Partizip Perfekt von prendre, cf. Clark 1985: 703). Andererseits ist die Annahme, daß Fehler beim Spracherwerb Sprachwandel einleiten, zwei naheliegenden Einwänden ausgesetzt: a) Es ist evident, daß Kinder beim Spracherwerb Fehler machen. Jedoch zeigt alle Erfahrung, daß solche Fehler bald wieder korrigiert werden. Daher ist unklar, ob überhaupt und unter welchen Umständen Lernfehler beim Erstspracherwerb sich verfestigen können.

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b) Selbst wenn ein Individuum einen zufalligen Lernfehler in seinem Idiolekt verfestigen würde, so reichte das nicht, um einen Sprachwandel einzuleiten. Es müßten in einer bestimmten Generation so viele Lerner denselben Fehler weitertragen, daß er zu einer neuen Norm werden kann. Es ist völlig unklar, wie es dazu kommen kann. Die weitverbreitete Vorstellung, daß Reanalyse an Übertragungsfehler im Spracherwerb geknüpft sei, ist aus der Sicht der Spracherwerbsforschung wenig plausibel. Als Alternative bleibt nur übrig, den Reanalyseprozeß sowohl als singulare Innovation als auch als Übernahme in die Norm im Sprachgebrauch der Erwachsenen anzusiedeln.11 Der spracherwerbsorientierten Auffassung von Reanalyse ist jedoch wieder in einem Punkt zu folgen, nämlich darin, daß Reanalyse eine hörerseitige Innovation ist. Hörer inferieren aus einer gegebenen Äußerung eine vom Sprecher nicht enkodierte und vermutlich auch nicht intendierte, gleichwohl aber naheliegende Folgerung. Manifest wird dies, wenn die Hörer ihrerseits als Sprecher die betreffende Struktur im Sinne der neuen Funktion verwenden. Wegen dieses Naheliegens, wegen der starken Kontiguität zwischen der tatsächlichen und der inferierten Satzbedeutung ist es plausibel, daß viele Hörer diese Inferenz machen, ihr auch in ihrem eigenen Sprechen folgen und somit die Übernahme in die Norm unbeabsichtigt betreiben. So kann die inferierte Satzbedeutung usualisiert werden und zur neuen Norm avancieren, d.h. einen Sprachwandel einleiten.

4. Reanalyse zwischen syntagmatischer Mehrgliedrigkeit, Neustrukturierung von Konstituenz und metonymischem Bedeutungswandel Der Usualisierungsprozeß von etwas auf Kontiguitätsbasis Inferiertem macht nun endgültig auf eine Parallele des Reanalyseprozesses zum lexikalischen, im speziellen Fall metonymischen, Bedeutungswandel aufmerksam. Auch der metonymische Bedeutungswandel ist ein Usualisierungsprozeß und fängt daher zunächst als Innovation an (Blank 1997: 119-125). Ein Wort wird in einer Weise verstanden, die nicht seiner lexikalischen Bedeutung entspricht, sondern zu dieser in einer Kontiguitätsrelation steht. So kann der Bedeutungswandel von altfrz. prison 'Gefangenschaft' > 'Gefängnis' hypothetisch (aber durchaus plausibel) auf eine hörerseitige Inferenz zurückgeführt werden (Koch im Druck: 13).12 Vernimmt ein Hörer z.B. die Äußerung il est en prison (cf Koch ibid.), die als 'er ist in Gefangenschaft' vom Sprecher gemeint war, so kann er die naheliegende Inferenz machen, unter prison den Ort 'Gefängnis' zu verstehen, weil die Relation von Gefangenschaft und Gefängnis als konzeptuelle Verschiebung eine offensichtliche Kontiguitätsbeziehung konstituiert. Diese Innovation kann lexikalisiert werden, indem hinreichend viele Sprecher sie übernehmen. Reanalyse hat also mit vielen Fällen metonymischen Bedeutungswandels gemeinsam, daß eine unbeabsichtigte, aber naheliegende Hörer-Inferenz zur neuen semantischen Funktion eines Aus11 12

Im Sinne von Coseriu (1958: 44-46). Allerdings kann nicht jeder metonymische Bedeutungswandel plausiblerweise auf eine hörerseitige Inferenz zurückgeführt werden. Viele Fälle metonymischer Polysemie oder metonymischen lexikalischen Bedeutungswandels müssen mit Ökonomie- oder Expressivitätsbedürfiiissen der Sprecher in Zusammenhang gebracht werden, z.B. tête Terson' in la faute retombe sur sa tête, prendre qc sur sa tête usw. Cf. Koch (im Druck: 14).

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drucks wird. Damit wird auch der von manchen Autoren (cf. Abschnitt 1.) konstatierte semantische Aspekt des primär morphologisch-syntaktischen Reanalyseprozesses verständlich. Aber was ist der Unterschied zwischen Reanalyse und hörerinduziertem metonymischen Bedeutungswandel? Zunächst die jeweilige syntagmatische Reichweite. Metonymischer Bedeutungswandel beruht auf einer Kontiguität einzelner Konzepte (wie eben Gefangenschaft - Gefängnis), die sprachlich als ein semantischer Wandel einzelner Wörter umgesetzt wird. Reanalyse hingegen beruht auf einer Kontiguität von Sachverhaltstypen (wie Betroffenheit - Possession), denen in der Sprache typischerweise nicht einzelne Wörter, sondern syntagmatisch komplexe Ausdrücke korrespondieren. Entsprechend sind Reanalyseprozesse als Wandel von (per se syntagmatisch komplexen) Konstruktionen zu beschreiben. Die syntagmatische (syntaktische) Komplexität allein genügt jedoch noch nicht, um Reanalyse von metonymischem Bedeutungswandel abzugrenzen. Denn Reanalyse ist in einem engen Verständnis immer auch, wie oben in 1. gesehen, Umstrukturierung von Konstituenz (Abraham 1992/93: 13), d.h. sie involviert nicht nur syntaktisch komplexe Strukturen, sondern verändert auch die hierarchischen Relationen in ihnen. Die hier diskutierten Beispiele haben dies noch einmal illustriert. Nun kann sich die Frage stellen, ob diese Eigenschaft für die Abgrenzung von metonymischem Bedeutungswandel und Reanalyse nicht redundant ist, nachdem die syntagmatische Komplexität bereits als Spezifikum der Reanalyse identifiziert wurde. Die syntaktische Umstrukturierung wäre genau dann ein spezifisches (d.h. nicht redundantes) Merkmal von Reanalyse, wenn es eine weitere, dritte Klasse Sprachwandelphänomene gäbe, die mit metonymischem Bedeutungswandel die Kontiguitätsbasis und mit Reanalyse die syntagmatische Mehrgliedrigkeit teilen, ohne dabei syntaktische Umstrukturierungen zu sein. Nur wenn es solche Sprachwandelphänomene gibt, kann die konstituentielle Umstrukturierung - neben der syntagmatischen Mehrgliedrigkeit - als kriteriales Merkmal von Reanalyse gelten. Anscheinend gibt es solche Phänomene tatsächlich. Ich denke hierbei an den metonymischen Wandel semantischer Aktantenrollen. Folgende Beispiele zeigen, wie die Objektleerstellen einzelner transitiver Verben eine neue semantische Rolle übernehmen können, die zur früheren in einer Kontiguitätsbeziehung steht (zu diesem Phänomen genauer Waltereit 1998: 63-108): (8)

risquer. Kontiguität Gefährliches - Bedrohtes 'etwas in Gefahr bringen': risquer sa vie, son argent etc. (ab ca. 1600, cf. RH s.v.) > 'etwas Gefährliches wagen': risquer le passage, le combat etc. (ab 18. Jh., cf. F s.v.)

(9)

servir: Kontiguität Speise - Empfänger 'jemanden bei Tisch bedienen': La nuitfu serviz au mangier/De tant de mes que trop i ot (Yvain, Ende 12. Jh., cit. AFW s.v.) > 'jemandem etwas servieren': Je vous servirai ici de la commune opinion (E. Pasquier, Recherches de la France, cit. H s.v.)

Hier wandelt nicht ein einstelliger Ausdruck (wie z.B. das Substantiv prisori) metonymisch seine Bedeutung, sondern eine semantische Funktion (direktes Objekt) drückt eine andere semantische Aktantenrolle aus. Eine Reanalyse ist dies nicht, denn die syntaktischen Abhängigkeitsbeziehungen zwischen dem Prädikat und seinem Objekt haben sich nicht geändert. Wohl aber hat man

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Reanalyse als metonymischer Prozeß

es hier mit syntagmatisch mehrgliedrigen Strukturen zu tun, denn eine semantische Rolle ist immer nur im Zusammenspiel mehrerer Satzglieder, nämlich dem rollenvergebenden Prädikat und dem rollentragenden Aktanten, zu verstehen. Diese Abgrenzung zeigt, daß Reanalyse (mindestens) drei kriteriale Merkmale hat: Die semantische Kontiguitätsbeziehung, die syntagmatische Mehrgliedrigkeit und schließlich die konstituentielle Umstrukturierung.13 Dies sei in folgendem Schema noch einmal verdeutlicht (die Zeilen stehen fiir die jeweiligen Sprachwandelphänomene, die Spalten für ihre "Ingredienzen"): (10)

Metonymischer Bedeutungswandel Metonymischer Wandel sem. Aktantenrollen Reanalyse

Kontiguität zwischen alter und neuer Bedeutung +

Syntagmatische Komplexität

+

+

+

+

-

Konstituentielle Umstrukturierung -

+

5. Ausblick Nach der hier dargelegten Auffassung ist Reanalyse ein essentiell semantischer Prozeß. Sie wird durch nichtintendierte hörerseitige Inferenzen ausgelöst und ist daher ein kontiguitätsbasierter Sprachwandel, der insofern bestimmten Fällen metonymischen Bedeutungswandels vergleichbar ist. Die syntaktische Neuklammerung ist nur ein Ausdruck des semantischen Wandels der jeweiligen Konstruktion und ihm daher nachgeordnet. Es schließt sich nun insbesondere die Frage an, wie unter den hier erörterten Vorgaben das Verhältnis von Reanalyse und Grammatikalisierung einzuordnen ist. Einige Autoren betrachten Reanalyse und Grammatikalisierung als wesensmäßig unabhängig voneinander (Haspelmath 1998), andere nehmen an, daß Reanalyse konstitutiver Bestandteil von Grammatikalisierungsprozessen sei (Heine/Claudi/Hünnemeyer 1991: 217-219, Hopper/Traugott 1993: 32). Die hier

13

Die diskutierten Merkmale erlauben auch den Bezug zu einem vierten Typ von Sprachwandel: der Volksetymologie! Einige volksetymologische Umdeutungen wie lat. A[prior] 'der Erste' > frz. N[v[pri]N[eur]] 'Prior' sind konstituentielle Neuklammerungen ohne syntagmatische Komplexität im hier verstandenen Sinne (d.h. Neuklammerungen in der Morphologie) und beruhen gleichzeitig auf außersprachlicher Kontiguität der jeweiligen Konzepte (der Prior ist der "Erste" in einer Gemeinschaft Betender). Cf. zur Volksetymologie und zu ihrer Kontiguitätsbasis Blank (1997: 303-317), zu weiteren Beispielen dieser Art bes. S. 314f.

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vorgelegte Auffassung von Reanalyse würde es erlauben, die Merkmale des Reanalyseprozesses zu faktorisieren und so möglicherweise zu einer nuancierteren Bewertung der Rolle von Reanalyse in Grammatikalisierungsvorgängen zu gelangen.

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Reanafyse als metonymischer Prozeß

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Ulrich Detges

(Tübingen)

Wie entsteht Grammatik? Kognitive und pragmatische Determinanten der Grammatikalisierung von Tempusmarkern

0. Grammatikalisierung bedeutet, von ihrem Resultat her betrachtet, daß lexematische Vollwörter mit begrifflicher, meist konkreter Bedeutung sich zu unselbständigen Einheiten mit deiktischer oder grammatisch-relationaler Bedeutung entwickeln. Auch in semantischer Hinsicht haben Grammatikalisierungsprozesse also eine Richtung. Sprachvergleichende Studien zeigen, daß die semantische Entwicklung von Lexemen zu Grammemen polygenetisch immer wieder in analoger Weise erfolgt. Inzwischen sind die konzeptuell-semantischen "Trampelpfade" der Grammatikalisierung1 gut erforscht (Heine/Claudi/Hünnemeyer 1991, Bybee/Perkins/Pagliuca 1994, Raible 1996a). Deshalb muß es erstaunen, daß in der Forschung eine merkwürdige Unsicherheit in bezug auf die semantischen Mechanismen herrscht, die diesem Wandel zugrunde liegen, und auf die Kräfte, die seine Richtung festlegen.

1. Die "bleaching"-Hypothese Einer landläufigen Vorstellung zufolge "bleichen" Lexeme, die sich zu grammatischen Einheiten entwickeln, im Zuge dieser Entwicklung "aus". Diese Vorstellung scheint so selbstverständlich, daß sie häufig ohne den Anspruch theoretischer Konsistenz geäußert wird.2 Bedeutungsverlust infolge von "bleaching" kann man sich in verschiedenen Formen vorstellen:3

1.1. Als einen Prozeß, in dessen Verlauf ein Element allmählich auf seinen "Bedeutungskern" reduziert wird.4 Abstrakt könnte man diesen Prozeß folgendermaßen darstellen (der "semantische Kern" des betreffenden Elementes ist mit einem Großbuchstaben notiert):5 (1)

a, b, C

>

a, C

>

C

Dieses Modell gibt die Intuition wieder, daß die Funktion bestimmter Grammeme (etwa die Funktion 'rezente Vergangenheit' von venir de in Luc vient de travailler) in der Bedeutung des

1 2 3 4

5

Diese Metapher verwendet Koch (im Druck a: 1) im Anschluß an Keller (1990: 95ff.). So etwa in Fleischman (1982: 58,82,128). In den Abschnitten 1.1. und 1.2. orientiere ich mich an Heine (1993: 89-99). Zu einer kritischen Würdigung einzelner Vertreter solcher Auffassungen s. Heine (1993: 89) und Lehmann (1995: 128f.). Lehmann (1995:129) selbst kommt dabei zu dem Schluß: "Grammaticalization rips off the lexical features until only the grammatical features are left". Eine ahnliche Darstellungsweise findet sich bei Heine (1993: 89).

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Ulrich Detges

Quellexems (etwa in Luc vient de son boulot) bereits angelegt und damit in gewisser Weise aus dieser vorhersagbar zu sein scheint (Givön 1973: 917ff). Zudem bewahren Grammeme in vielen Fällen Eigenschaften, die sich diachronisch nur als Relikte früherer Stadien ihrer Entwicklung deuten lassen.6 Gegen diese Sichtweise läßt sich aber einwenden, daß ein- und dasselbe Element Ausgangspunkt für sehr verschiedene Grammatikalisierungsprozesse sein kann.7 Man denke etwa an die parallele Entwicklung von frz. venir zu einem Marker der unmittelbaren Vergangenheit und zu einem Hilfsverb zur Bezeichnung der Nachzeitigkeit (les vivres vinrent ä manquer) - es ist leicht einzusehen, daß unmöglich beide Bedeutungen gleichzeitig "Kernbedeutung" von venir sein können. Umgekehrt finden wir in den romanischen Sprachen als Quellen zur Bezeichnung der Konzepte ZUKUNFT/NACHZEITIGKEIT so unterschiedliche Lexeme wie ire/vadere/am-

bulare/ambitare, venire, habere, velle, debere, per/pro, die kaum 'ZukünftigkeitVNachzeitigkeit' als gemeinsame Grundbedeutung haben dürften.

1.2. Als Auswahl (irgend)einer nicht notwendigerweise charakteristischen Bedeutungskomponente des Ausgangslexems. Der Vorteil dieser Sichtweise besteht darin, daß divergierende Entwicklungen aus ein- und demselben Ausgangslexem, wie im Fall von frz. venir, beschrieben werden können. (2)

>

a, b,

>

a

>

b, c

>

c

a, b, c

Allerdings lassen sich Beispiele anfuhren, bei denen keinerlei semantische Gemeinsamkeit von Ausgangslexem und Endprodukt mehr gegeben ist: dies gilt etwa für die französischen Negationspartikeln pas, point, personne mit Quellexemen in den Bedeutungen 'Schritt', 'Punkt', 'Person'.8 Angesichts solcher Ungereimtheiten wird verständlich, wieso in neueren Arbeiten "bleaching" nicht länger als "holistisches" Modell zur Erklärung des gesamten Grammatikalisierungsprozesses herangezogen wird, sondern nurmehr für bestimmte typische Szenarien, vor allem Spätphasen, für die keine besseren Erklärungen zur Verfügung stehen (vgl. Hopper/Traugott 1993: 93). Auch mit einem dermaßen eingeschränkten Geltungsanspruch weisen "bleaching"-Modelle ein zentrales Problem auf: wie läßt sich solch ein Bedeutungsverlust aus der Perspektive der Sprecher plausibel erklären? Lehmann (1995: 126) stellt ihn in Zusammenhang mit der phonologischen Erosion von Elementen auf dem Weg zur Grammatikalisierung. Nach dem Prinzip des "geringsten Aufwandes" artikulieren Sprecher lautliche Segmente nachlässig, die - wie grammatikalisierte Einheiten dies tun - besonders häufig auftreten. Die betreffenden Elemente verlieren so allmählich ihre lautliche Substanz, bis sie schließlich ganz verschwinden. Ahnliche Vorstellungen stehen hinter "bleaching"-Konzepten: sprachliche Einheiten "verschleißen" - dieser Sichtweise zufolge - aufgrund einer geheimnisvollen Isomorphie zwischen lautlicher und semantischer Erosion (vgl. Lehmann 1995: 127) oder weil sie aufgrund häufigen Gebrauchs mehr und 6 7 8

Hopper/Traugott (1993: 90) diskutieren dieses Phänomen unter dem Begriff persistence. Vgl. Heine (1993: 91). Das Beispiel stammt aus Heine/Claudi/Hünnemeyer (1991: 40) und Hopper/Traugott (1993: 115f.).

Wie entsteht Grammatik?

33

mehr semantische Merkmale verlieren.9 Zwar trifft zu, daß häufiger Gebrauch einer ursprünglich innovativen metaphorischen oder metonymischen Neuprägung deren Expressivität mindert. Dadurch verändert sich aber keineswegs ihre Bedeutung - im Gegenteil: die Abnahme von Expressivität infolge häufigen Gebrauchs geht im lexikalischen Wandel Hand in Hand mit der Lexikalisierung (und das heißt: einer Stabilisierung) der neuen Bedeutung (Koch/ Oesterreicher 1996: 78). Welche subjektiven Gründe könnten aber Sprecher haben, einzelne Elemente einer Bedeutung einfach "ausfallen" zu lassen?

1.3. Semantische Generalisierung. Bybee/Perkins/Pagliuca (1994: 289ff.) stellen die Hypothese eines "Ausbleichens" auf semantischer Ebene in Zusammenhang mit der Tatsache morphosyntaktischer Verallgemeinerung des betreffenden Elementes. Ein Lexem, das sich zum Tempus-Marker entwickelt, wird im Laufe dieser Entwicklung mit immer mehr semantischen Klassen von Verben kompatibel, bis es schließlich mit allen Verben einer Sprache kombiniert werden kann. Dieser morphosyntaktische Prozeß muß notwendigerweise Hand in Hand gehen mit einem semantischen Prozeß des Verlustes an Bedeutung. Dabei stellt sich allerdings die Frage nach Ursache und Wirkung: verliert das Element semantische Merkmale, weil es in immer mehr Distributionen verwendet wird (Bybee/Perkins/Pagliuca 1994: 292),10 oder ist, umgekehrt, der Verlust an semantischen Merkmalen die Ursache für morphosyntaktische Generalisierung (Bybee/Perkins/Pagliuca 1994: 289)11 und muß seinerseits erklärt werden? Auch die erstere Annahme scheint wenig plausibel: Sprecher haben im allgemeinen nicht die Absicht, sprachliche Elemente zu grammatikalisieren (indem sie deren Distributionen ausweiten), sondern sie wollen effizient kommunizieren. Das zentrale Problem von "bleaching'-Modellen besteht darin, daß sie sich nicht überzeugend aus dieser Motivationslage begründen lassen.

2. Grammatikalisierung als metaphorische Abstraktion 2.1. Seit der einflußreichen Arbeit von LakofFJohnson (1980) wurde in der Grammatikalisierungsforschung die Ansicht vertreten, die Metapher sei der zentrale semantische Mechanismus in Grammatikalisierungsprozessen.12 Durch die Annahme metaphorischen Bedeutungswandels geben beispielsweise Heine/Claudi/Hünnemeyer (1991: 45ff.) Antwort auf die Frage nach der Ursache für die Richtung der Bedeutungsentwicklung im Grammatikalisierungsprozeß. Für die Metapher ist charakteristisch, daß sie, onomasiologisch gesehen, abstrakte Konzepte durch Übertragung konkreter Konzepte analysiert, etwa das abstrakte Konzept VERSTEHEN durch kon-

9

10

11

12

Explizit formuliert wird diese Sicht etwa bei Haiman (1994: 12): "Part of the driving mechanism which reduces words to meaningless sounds is erosion through repetition. [...] repetition drains meaning from words". "[...] use in more contexts causes a shift in the primary message being conveyed, which contributes eventually to the loss of specific features of meaning." "Generalization is the loss of specific features of meaning with the consequent expansion of appropriate contexts of use for a gram." Vgl. Sweetser (1990), für einzelne Bereiche etwa Lichtenberk (1991) und Keller (1995: 230).

34

Ulrich Detges

krete Konzepte wie GREIFEN, AN- oder UMFASSEN in lt. capere > it. capire oder lt. comprehendere > frz. comprendre (Blank 1997: 173). In semasiologischer Sicht fuhrt dies dazu, daß ausgehend von der konkreten Bedeutung eines Zeichens eine weitere, abstraktere gebildet wird. Durchläuft ein Zeichen mehrere metaphorische Prozesse hintereinander, so werden die sich dabei ergebenden neuen Bedeutungen notwendigerweise immer abstrakter. Dieses Modell beschreibt Bedeutungswandel im Rahmen der Grammatikalisierung nicht als unilinearen, sukzessiven Abbau von Bedeutungsmerkmalen - wie "bleaching"-Modelle dies tun - , sondern als Austausch (Heine/Claudi/Hünnemeyer 1991; 110) einer alten, eher lexikalischen konzeptuellen Bedeutung gegen eine neue, eher grammatische. (3)

KL

> abrtr

K2

> abvtr.

K3

Als Problem dieses Ansatzes formulieren Heine/Claudi/Hünnemeyer (1991: 61ff.) den Umstand, daß metaphorischer Bedeutungswandel sich in klar unterschiedenen Etappen ("conceptual 'jumps'") vollziehe, semantischer Wandel im Grammatikalisierungsprozeß dagegen - wie Grammatikalisierung überhaupt - kontinuierlich. Kontinuität aber ist Heine/Claudi/Hünnemeyer zufolge die Bewegungsform der Metonymie. Aus diesem (selbstgeschaffenen) Dilemma helfen sie sich, indem sie zwei Ebenen des semantischen Wandels in der Grammatikalisierung postulieren: eine mikrostrukturelle, auf der semantischer Wandel metonymisch und kontinuierlich erfolgt, sowie eine makrostrukturelle, auf der der Wandel sich in metaphorischen "Sprüngen" vollzieht. Problematisch ist dieser Vorschlag schon deshalb, weil schwer vorstellbar ist, wie die Interaktion zwischen beiden Ebenen in der konkreten Aktivität der Sprecher aussehen soll.13

2.2. Eine mögliche Sprechermotivation stellt Stolz (1994) in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Die Quellkonzepte, die polygenetisch in Grammatikalisierungskanäle "eingespeist" werden, stammen häufig aus dem perzeptuellen Nahbereich, dessen Zentrum der menschliche Körper ist. Diesen Konzepten ist gemeinsam, daß ihre Kenntnis als so weit internalisiert anzusehen ist,"[...] daß ihre außersprachliche Umsetzung keinerlei sprachliche oder sonstige Bewußtmachung im Vorlauf mehr benötigt: man weiß sozusagen auswendig, wie es funktioniert" (S. 33). Die Metapher dient den Sprechern dazu, konzeptuell schlecht zugängliche Bereiche sprachlich strukturierbar zu machen. Auf diese kognitive Leistung der Metapher ist im Bereich des lexikalischen Wandels immer wieder hingewiesen worden (Ulimann 1973: 270, Blank 1997: 173ff.). Es fragt sich allerdings, ob dieser Gesichtspunkt gerade in der Grammatikalisierung eine Rolle spielt. Wenn der primäre Zweck des semantischen Wandels in der Grammatikalisierung tatsächlich die kognitive Erschließung opaker Bereiche wäre, dann brauchte es ihn in einer gegebenen Sprache pro

13

Fast alle der von Heine/Claudi/Hünnemeyer (1991) diskutierten Beispiele sind zudem - was die Autoren nicht zu bemerken scheinen - keine Metaphern, sondern Metonymien. Dies gilt etwa filr die Bedeutungsverschiebungen 'jung' > 'unerfahren' > '(noch) ohne Examen' > 'erfolglos'; Nachfahre von' > 'klein' > 'unbedeutend' sowie die Funktion DiminutiV, die vom Ewe-Lexem vi', 'Kind', abgeleitet sind (vgl. krit. Heine/Claudi/Hünnemeyer 1991: 79ff).

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Wie entsteht Grammatik?

grammatischer Funktion nur ein einziges Mal zu geben. Erklärt werden muß aber gerade der zyklische Charakter des Sprachwandels, d.h. die sich immer wieder neu vollziehende Ablösung etablierter grammatischer Elemente durch neue.14

3. Grammatikalisierung als Konventionalisierung konversationeller Implikatur Das bislang interessanteste Modell semantischen Wandels geht auf Traugott/König 1991 zurück. Ein Satz wie Pendant que Luc travaille, Max reste au lit stellt zwei Vorgänge zunächst als gleichzeitig dar. In einer Äußerung kann dieser Satz nun dazu dienen, daß die beiden Vorgänge Luc travaille und Max reste au lit miteinander verglichen werden, etwa weil das eine Verhalten als normal, das andere als abweichend gilt. Aus der überraschten Feststellung der Gleichzeitigkeit kann die gegensätzliche Bewertung beider Verhaltensweisen erschlossen werden. Häufen sich solche Verwendungen für pendant que, so verwandelt sich die vom Sprecher intendierte Implikatur des Gegensatzes zwischen beiden Verhaltensweisen in eine neue, adversative Bedeutung, die neben die alte, rein temporale Bedeutung von pendant que tritt. "Neue" Bedeutung kommt diesem Modell zufolge dadurch zustande, daß sie aus dem Kontext (als "Gemeintes") auf das tatsächlich Gesagte übertragen wird:15 (4)

Kontext ("Gemeintes"): Zeichen ("Gesagtes"):

pq klm

4 >

z pq

4 >

z

Dieses Modell erklärt Traugott/König zufolge die Richtung des Grammatikalisierungsprozesses: Was in "bleaching"-Modellen als Ausfall bzw. Schwächung lexikalischer Bedeutung gedeutet wird, erscheint hier als Stärkung abstrakterer "pragmatischer" Information: Der Mechanismus in (4) sieht ja vor, daß Bedeutung mit Referenz zur "objektiven" Welt ersetzt wird durch Bedeutung, die auf Sprechereinstellungen und -meinungen zum Gesagten basiert. Die semantische Entwicklung verläuft diesem Modell zufolge nicht in der Richtung konkret > abstrakt sondern objektiv/referentiell > (inter) subjektiv/pragmatisch. Konventionalisierungen konversationeller Implikaturen sind nicht reversibel: zwar läßt sich, wie oben skizziert, die adversative Bedeutung von pendant que aus der temporalen ableiten; die Ableitung in umgekehrter Richtung dagegen ist ausgeschlossen. Problematisch an diesem Modell ist, daß es so scheint, als sei die Beziehung zwischen alter und neuer Bedeutung irgendwie zufällig. Die Existenz polygenetischer "Trampelpfade" legt aber nahe, daß es kognitiv besonders plausible konzeptuelle Brücken zwischen den Bedeutungen gibt, die Elemente im Verlaufe ihrer Grammatikalisierung annehmen. Diese Dimension wird aber vom Modell der Konventionalisierung konversationeller Implikatur gar nicht erfaßt. Trotz fundamentaler Unterschiede ist allen bisher skizzierten Modellen eines gemeinsam: Die Erklärung für die Richtung des Grammatikalisierungsprozesses wird unmittelbar aus der Natur

14 15

Vgl. etwa Hopper/Traugott (1993: 121). Diesen Prozeß identifizieren Traugott/König (1991: 21 Off.) als Sonderfall metonymischer Bedeutungsverschiebung, die auf der wiederholten Situationellen Kontiguität von Implikatur und Zeichen beruht.

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des jeweils angenommenen Wandelmechanismus' abgeleitet. Es ist der Mechanismus selbst, der diese Richtung festlegt. Im folgenden möchte ich an Beispielen von Grammatikalisierungsprozessen aus romanischen Sprachen zeigen, (a) daß weder Metapher noch "bleaching", sondern die Metonymie der semantische Mechanismus ist, der dem Wandel zugrundeliegt, und ich möchte (b) aus der Perspektive von Sprecherstrategien plausibel machen, warum es zu solchen Wandelprozessen kommt.

4. Was ist Metonymie? Unter dem Terminus "Metonymie" will ich im folgenden Verschiebungen der Art BEHÄLTER > INHALT, TEIL > GANZES, HANDLUNG > RESULTAT usw. (s. Blank 1997: 249ff.) verstehen. M e t o -

nymie als rhetorischer Tropus ("ad-hoc"-Metonymie) wie als Typ von Polysemie (d.h. als lexikalisierte Metonymie in Folge eines Sprachwandels) meint einen bestimmten Typ von semantischer Beziehung, die auf der assoziativen Relation der Kontinuität (d.h. der "Nähe") von Designaten sprachlicher Zeichen beruht. Designate sind Konzepte, die unseren Vorstellungen von den Dingen entsprechen, auf die wir mittels sprachlicher Zeichen referieren. Die Kontiguität solcher Designate ist zunächst eine außersprachliche Relation.

Designate sind in Frames, d.h. in stabilen konzeptuellen Zusammenhängen organisiert. Die Relation, die die Elemente des Frames untereinander verbindet und den Frame insgesamt zusammenhält, ist die Kontiguität. Zu unserem Wissen über das Konzept KOPF gehört zum Beispiel, (1) daß der Kopf Teil des Körpers bzw. der Person ist, (2) daß dieser Teil (beim Menschen) sich über bzw. (beim Tier) vor dem restlichen Körper befindet, (3) daß der Kopf Sitz des Intellektes und der Sinne ist, und (4) damit der Koordination von Bewegungen und Wahrnehmungen dient (Abb.l). Metonymie meint nun die Verschiebung der Bedeutung eines Zeichens in der Weise, daß anstelle des bisherigen Designates ein anderes, kontiges Designat eintritt. Ein solcher Prozeß hat stattgefunden bei der Verschiebung cabeza, 'Kopf > 'Person' (tres pesetas por cabeza) oder "Kopf > 'Intelligenz' (tiene/es una gran cabeza). Metonymie ist ein Figur-Grund-EfFekt innerhalb eines Frames (Koch im Druck a: 17f ). Jedes Konzept, das der Bedeutung eines lexikalischen Elements entspricht, erscheint als Figur. Diese Figur steht in Kontiguitätsbeziehung zu

37

Wie entsteht Grammatik?

weiteren Elementen desselben Frames, welche assoziativ "unauffällig" präsent sind, d.h. im Hintergrund bleiben. Irgendwann können bestimmte konzeptuelle, pragmatische oder emotionale Faktoren dazu fuhren, daß eines der Hintergrundkonzepte fokussiert wird, so daß Figur und Grund ausgetauscht werden. Dies ist die Bewegungsform metonymischen Bedeutungswandels.

f Körp er

/" Körpa

Rumpf

Rumpf

[ Rücken r

Sitz des Intellektes

Sitz des Intellektes Steuerungsfunktion

Steuerungsfunktion Psyche

Psyche

Fuß

Fuß \

•=¿J

cabeza}'Person'

Abb. 2

cabeza, 'Intelligenz'

Abb. 3

Die Metapher (mit der die Metonymie gerne verwechselt wird) beruht auf der assoziativen Relation der Ähnlichkeit/Similarität. Eine solche Relation liegt vor zwischen cabeza, "Kopf und 'Oberhaupt' wie in cabeza de familia, cabeza de casa, cabeza de la Iglesia, wo das Element STEUERUNGSFUNKTION auf die Frames verschiedener sozialer Organismen übertragen wird. Während die Metonymie eine Bewegung innerhalb eines Frames ist (Koch 1996: 39), bedeutet die Metapher einen Transfer zwischen zwei distanten Frames. In dieser Perspektive ist die Metonymie eine äußerst "welthaltige", auf der faktischen Welt (so wie wir sie wahrnehmen) basierende, aber häufig auch sehr unauffällige Beziehung (Blank 1997: 234). Die Metapher dagegen, "bei der ja gerade die eigentliche Inkompatibilität der verbundenen Konzepte sinnstiftend wirkt, also die Tatsache, daß Spender- und Empfängerbereich nichts miteinander zu tun haben" (Blank, ebend.), ist eine eindeutig "geschaffenem" Beziehung.

4.1. Metonymie und Verbvalenz am Beispiel von frz. aller In Fällen wie cabeza, 'Kopf > 'Person', besteht die Kontiguitäts-Relation zwischen KOPF und lediglich "in absentia": cabeza bedeutet immer nur entweder "Kopf oder 'Person'. Dagegen stellt die Valenz den Sonderfall dar, daß mehrere Elemente desselben Frames gleichzeitig realisiert werden. Der (typischerweise verbale) Valenzträger gibt den Frame vor,16 seine AktanPERSON

16

Vgl. Heringer (1984), der anstelle des Begriffs Frame den Ausdruck "Verbszene" verwendet, sowie Waltereit (1997).

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ten und Zirkumstanten nennen die Instanzen, die als Partizipanten des verbalen Sachverhaltes zum entsprechenden Frame gehören. Dabei repräsentieren Aktanten eher zentrale, Zirkumstanten eher periphere Elemente des prototypikalisch organisierten Frames.17 eller Im Frame GEHEN, wie ihn frz. aller bezeichnet, kommen zwei zentrale Elemente vor, nämlich (a) das AGENS einer Bewegung u n d ( b ) d a s ZIEL, a u f d a s

dieses AGENS sich zubewegt. Daneben sieht der Frame weitere periphere, als Zirkumstanten realisierte Elemente vor (z.B. GESCHWINDIGKEIT der Bewegung, INSTRUMENT der Fortbewegung etc.). Eines von vielen solcher peripheren Elementen ist die ABSICHT, mit der sich das AGENS auf sein Ziel zubewegt." Sprachlich wird dieses Element in der Regel als Satz oder als satzartiges Gebilde realisiert (in der Graphik habe ich dementsprechend ein Stemma in die Position Absicht eingetragen). Dieser Frame ist Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen zur Grammatikalisierung von aller zum Futurmarker. Diese vollzieht sich in zwei getrennten Etappen. In der ersten (4.2.) wandelt aller seine Bedeutung von 'gehen' zu 'die Absicht haben, etwas zu tun', in der zweiten (4.3) bildet aller sich zum Futurmarker aus.

4.2. Etappe 1: Vom

GEHEN

zur

ABSICHT

Ein bei Verben der Bewegung naheliegender Typ von ABSICHTEN bezieht sich auf Sachverhalte, die das AGENS durchfuhren möchte, wenn es sein ZIEL erreicht hat. Sprachlich werden solche ABSICHTEN als Infinitivkonstruktion realisiert, deren "logisches" Subjekt das AGENS von aller ist, wie in Luc va au magasin (pour) faire des courses. Dabei kann der Fall eintreten, daß für den Sprecher die Absicht der Bewegung die eigentlich wichtige Information darstellt, so daß der Absichts-Sachverhalt den Ziel-Aktanten ganz ersetzt. Diese Möglichkeit ist ganz allgemein bei Verben der Bewegung in vielen Sprachen gegeben: (5) (6)

A: Wohin fährst Du? B: (Ich fahre) Zigaretten kaufen. Exien lo ver mugieres et varones. (Cid 16)

In (5) und (6) drückenfahren und exir immer noch echte Bewegungen im Raum aus: Erfragt werden die Infinitivkonstruktionen in (5) und (6) nämlich präferentiell durch die für die Bewegung im Raum charakteristische

Durch die (in der Regel auf drei begrenzten) Aktanten ist natürlich die Zahl der zentralen Elemente des entsprechenden Frames keineswegs ausgeschöpft. Auch hier kann metonymischer Sprachwandel stattfinden. Man vergleiche etwa die Varianten guérir un malade und guérir une maladie, wo erst das für das Konzept des HEILENS zentrale Element der zu HEILENDEN PERSON und dann das nicht minder zentrale Frame-Element der zu HEILENDEN KRANKHEIT versprachlicht wird. Eine ABSICHT findet sich als randständiges Element im Frame jedes Verbs, das eine HANDLUNG ausdrückt.

39

Wie entsteht Grammatik?

Frageform wohin?/¿adonde? und nicht durch die für eine Absicht typische Form wozu? / ¿para qué? (vgl. Kotschi 1981: 100). Solche Konstruktionen sind also dadurch charakterisiert, daß der Absichts-Sachverhalt syntaktisch in die Leerstelle des Zielaktanten einrückt. Die Möglichkeit, in der dargestellten Weise die ABSICHT einer Bewegung für deren ZIEL einzusetzen, beruht darauf, daß das ZIEL der Bewegung aus der ABSICHT in aller Regel erschlossen werden kann. Insgesamt ergibt sich eine vierstufige Typologie, je nachdem wie explizit die konzeptuelle Nähe von ZIEL und ABSICHT sprachlich gestaltet wird: (a) Das ZIEL der Bewegung wird in der infinitivischen ABSICHTS-Konstruktion explizit genannt: (7)

[...] alerent a veoir Costantinople

(Villeh. 192, cf. TL)

(b) Das ZIEL der Bewegung ist aus dem weiteren sprachlichen Kontext inferierbar: (8)

Nos alomes la messe oír; / Tun alomes vers le mostier. (Ren. 12582, cf. L)

(c) Das Ziel der Bewegung ist aufgrund von Weltwissen aus dem Kontext inferierbar: (9)

II me'ismes ala trois serjans apeler. (Berte XVII, cf. L)

(d) Das Ziel der Bewegung ist für den Sprecher nebensächlich; es braucht aus diesem Grund auch vom Hörer nicht mehr inferiert zu werden: (10) Ich gehe mal eben Zigaretten kaufen; danach sollten wir tanken fahren.

Als pragmatische Sprechermotivation für die Bildung von Konstruktionen wie in Abb. 5 lassen sich sprachökonomische Gründe ausmachen: das Streben, eine Information nur jeweils einmal (in (7) nur einmal im Satz, in (8) nur einmal im Text) zu versprachlichen, in (9) und (10) der Wunsch, eine für unwichtig erachtete Information nicht zu kodieren.19 Die kognitive Grundlage, die diese Sprecherstrategien sich zunutze machen, ist nicht eine ontologische Metapher der Art "eine Handlung ist ein Ort",20 sondern eine Kontiguitätsrelation des (trivialen) Inhalts "eine Handlung findet typischerweise an irgendeinem Ort statt (egal, ob dieser explizit genannt wird oder nicht)". Die Kontiguität von HANDLUNG und ORT DER HANDLUNG spielt eine zentrale Rolle bei allen Grammatikalisierungsprozessen, von denen Verben der Bewegung betroffen sind (s.u., 4.4.). In allen bisher diskutierten Fällen bedeutet aller 'gehen' im Sinne einer tatsächlichen Bewegung im Raum und ist der infinitivische ABSICHTS-Sachverhalt weiterhin durch oü? 'wohin?' erfragbar. Dies gilt auch für Verwendungen wie (10), wo nicht mehr das räumliche ZIEL der Bewegung, sondern der an (irgendeinem ZIEL ausgeführte) ABSICHTS-Sachverhalt ausgedrückt wird. Demgegenüber manifestiert sich in (11) eine neue Phase der Entwicklung: (11) liest bien temps de deviser / Les personnaiges et nommer. / Je vous les veubc nommer ä tous. /Je voys au Monde commencer. (Mor. de Char., cf. G: 98)

19

20

Insofern stellt wohl die Beobachtung, in solchen Fügungen stelle die Infinitivkonstruktion "kein prototypisches, dh. kein gutes Lokalkomplement" dar (Stolz 1994: 23, Hervorh. im Original), eher die Sicht des typologisch geschulten Sprachwissenschaftlers dar. Aus der Sicht der Sprecher erfüllt diese Realisierung in optimaler Weise bestimmte kommunikative Bedürfhisse, und nur so ist ihre übereinzelsprachliche Verbreitung zu erklären. Stolz (1994: 35) in Anschluß an Lakoff/Johnson (1980). Die folgenden Überlegungen bestätigen aber die von Stolz (1994: 35) im Anschluß an Lakoff formulierte Auffassung, daß eine Handlung metonymisch für einen Ort eintreten könne. Wie im folgenden deutlich werden wird, handelt es sich dabei aber nicht, wie Stolz annimmt, um eine Behälter-Inhalt-Metonymie.

40

Ulrich Detges

In (11) drückt je voys kein wirkliches 'gehen' mehr aus: Um bei der Vorstellung der Personen des Stückes mit einer bestimmten Gruppe (le Monde) zu beginnen, braucht sich der Erzähler nicht mehr im Raum fortzubewegen. Daß je voys hier nur noch bedeutet: 'ich will, ich habe die Absicht...', wird auch durch die Parallele zu je veulx in der vorangehenden Zeile transparent. Völlig analog entwickelt sich s'en allerfaire qc., bei dem unklar ist, ob es sich um eine Variante von aller faire qc. oder um eine eigenständige Konstruktion handelt.21 (a) Bewegung auf ein Ziel hin, verbunden mit einer bestimmten Absicht: (12) [...] Gautier de Briene qui s'en aloit en Puille conquerre la terre sa femme. (Villeh., cf. L)

(b) Das Ziel ist nur mehr aus dem Kontext oder aus der Absicht inferierbar: (13) Je m'en va tué une sauvesoury. (Héroard 14.01.05, cf. E)

(c) Das Ziel der Bewegung ist kommunikativ irrelevant: (14) Je m'en va faire semban de domi. (Héroard, 06.06.06, cf. E)

(d) Die Bedeutung "Bewegung auf ein Ziel hin' ist in den Hintergrund getreten; die Inferenz eines ZIELS ist nicht mehr nur irrelevant, sondern ausgeschlossen. (15) Je m'en vais clorre ce pas par un verset ancien. (Mont., I., 336, cf. L)

Der "Kippeffekt" in der Bedeutung von (s'en) aller von 'gehen' zu 'die Absicht haben, etwas zu tun' tritt ein in Kontexten wie (10), (14), in denen fur (s'en) aller beide Interpretationen zulässig sind - auch wenn fiir die Sprecher immer nur eine einzige Interpretation zutrifft. Die folgende Darstellungsweise ist übernommen aus Koch (im Druck b). Je (m'en) vais le faire

GEHEN

ABSICHT

alte B e d e u t u n g

'Ich gehe das tun'

Figur

Grund

neue Bedeutung

'Ich habe die Absicht, es zu tun'

Grund

Figur

Der kognitive Effekt des Ausfalls der konkreten Bedeutung "Bewegung auf ein Ziel hin" ist das unbeabsichtigte Resultat des Strebens der Sprecher nach kommunikativem Erfolg. In der Forschung ist bekannt, daß die (s'en) a//er-Konstruktion (bzw. ihre Entsprechungen in anderen Sprachen) besonders gerne in der ersten Person verwendet werden.22 Diese Beobachtung ist dadurch zu erklären, daß die Sprecher diese Periphrase vor allem verwenden, um Sprechakte wie Versprechen zu kodieren, in denen ja gerade die Absicht, etwas zu tun, im Vordergrund steht. Dazu eignet sich die (s'en) allerfaire qc.-Konstruktion in besonderem Maße, weil sie die Ernsthaftigkeit des Sprechers, eine bestimmte Handlung durchzuführen, metonymisch glaubhaft macht. Je vais le faire im wörtlichen Sinne von 'ich gehe das tun' drückt aus: "Ich realisiere jetzt eine Bewegung, die zu meiner eigentlichen Absicht überleitet. Aus der Tatsache, daß ich diese Bewegung realisiere, kannst du ersehen, wie ernst es mir mit meiner Absicht ist". Je (m'en) vais

22

Mein Eindruck ist, daß s'en allerfaire qc. während der in diesem Abschnitt behandelten frühen Phase seiner Entwicklung eine Variante von allerfaire qc. ist. Zu einer eigenständigen Konstruktion (deren Grammatikalisierung diachronisch in einer "Sackgasse" endet) entwickelt sich .s 'en aller faire qc. erst später (vgl. Gougenheim 1971: 98, 103ff, s. Anm. 23). Für das Mittelfranzösische s. Werner (1980: 138f.), fllr Alt-, Mittel- und klassisches Französisch Gougenheim (1971: 103), für das Quibec-Französische Dörper (1990: 110), für sp. ira Söll (1968: 247) und Hunnius in Meieretal. (1968: 343).

Wie entsteht Grammatik?

41

le faire dient also dazu, eine Absicht auf besonders expressive Art und Weise auszudrücken. Derselbe semantisch-pragmatische Zusammenhang von Bewegung und Absicht ist uns aus alltäglichen Situationen vertraut: etwa der Situation, daß der Kellner im Restaurant auf unser Zeichen, daß wir zahlen wollen, mit einem "J'arrive" oder "Ich komme!" reagiert (obwohl er in Wirklichkeit keinerlei Anstalten macht, sich unserer anzunehmen) (Koch 1995). Für diese Strategie der expressiven "Beglaubigung" ist es nicht gleichgültig, daß es sich bei der verwendeten rhetorischen Figur um eine Metonymie und nicht etwa um eine Metapher handelt: die der Metonymie zugrundeliegenden konzeptuellen Zusammenhänge (hier: der Zusammenhang zwischen BEWEGUNG und ABSICHT) sind ja in den unmittelbaren Realitätserfahrungen der Sprecher und Hörer verankert. Einen solchen Effekt mit einem geschaffenen konzeptuellen Zusammenhang wie der Metapher herzustellen, dürfte weit schwieriger sein. Die besondere Eignung des konkreten Konzeptes BEWEGUNG zu einer überzeugenden Darstellung des abstrakteren Konzeptes ABSICHT äußert sich u.a. darin, daß dieser konzeptuelle Zusammenhang zwei Punkte eines polygenetischen "Trampelpfades" von Grammatikalisierungsprozessen markiert (vgl. Bybee/Perkins/Pagliuca 1994: 266ff). Der Wandelprozeß, so wie ich ihn bisher beschrieben habe, hat also zwei Ebenen, die sorgfältig voneinander getrennt werden müssen, nämlich (a) eine kognitive Ebene, auf der es um die "konzeptuellen Brücken" (Blank 1997: 295) des Sprachwandels geht, und (b) eine pragmatische Ebene, auf der die Richtung festgelegt wird, in der die konzeptuellen Brücken begangen werden. Im Falle von (s'en) allerfaire qc. wird diese Richtung festgelegt durch das kommunikative Bedürfnis der Sprecher, einen abstrakten, intersubjektiven Akt wie Versprechen/Ankündigen durch den Rekurs auf das konkrete Konzept GEHEN ZU beglaubigen.

4 . 3 . E t a p p e 2: V o n d e r ABSICHT z u r ZUKUNFT

Eine Handlung, die irgendjemand auszufuhren beabsichtigt, ist ein Sachverhalt, der sich - abhängig von der Kompetenz des Absichtsträgers und von seinem volitiven Druck - mit einiger Wahrscheinlichkeit in der Zukunft ereignen wird. Ein beabsichtigter Sachverhalt ist also implizit bereits ein zukünftiger Sachverhalt. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen ABSICHTS-Sachverhalten und reinen ZUKUNFTS-Sachverhalten. Man kann sagen: Alle Menschen werden einmal sterben, aber nicht * Alle Menschen haben die Absicht, einmal zu sterben. Nicht jeder Typ verbalen Sachverhaltes kann also Gegenstand einer Absicht sein: Absichten beziehen sich obligatorisch auf Handlungen, deren Agens identisch ist mit dem Träger der Absicht. Die diachronische Entwicklung von (s'en) aller faire qc. von der Bedeutung 'die Absicht haben, etwas zu tun' zur Bedeutung 'Zukunft' ist dadurch gekennzeichnet, daß die Art und Zahl von Verben, die in die Position der Infinitivphrase eintreten können, sich allmählich erweitert. Zuerst treten dort Verben ein, die keine vom Absichtsträger kontrollierbaren Handlungen mehr bezeichnen (vgl. (16), (18), (22)) - eine gewisse Rolle in dieser Entwicklung spielen Formeln der Art il (s'en) alloit mourir (neben: il voulut mourir) in der Bedeutung 'er schickte sich an zu steiben' (vgl. Gougenheim 1971: 103); schließlich werden Verben mit nicht-belebten und unper-

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sönlichen Subjekten möglich. S'en aller wird als Konsequenz dieser Entwicklung mit passivischen Infinitivphrasen kombinierbar, aus denen sich - als Resultat der Ellipse von être - eine Konstruktion der Form s'en aller Partizip II entwickelt.23 (a) Aller faire qc. (16) Par deffaulte de patience, / Tu vas perdre ta conscience. (Mor. de Char., cf. G: 98) (17 ) La paix va refleurir, les beaux jours vont renaître. (Rae., Andr., II, 4, cf. L)

(b) S'en aller faire qc. (18) Ho, Riche, t'en vas-tu mourir? (Mor. de Char., cf. G: 98)

Die "Desemantisierung" von s'en aller manifestiert sich in hübschen contresens-Effekten: (19) Le jour s'en va paraître. (Mol., Ec. des/, V, 1, cf. L)

(c) S'en aller + PartII (20) Courage! l'accord s'en va fait. (Fournier, 1649, cf. G: 111) (21) Tout s'en va perdu. (Malherbe, cf. G: 111)

(d) Im Spanischen erfolgt bei ir a hacer eine analoge Entwicklung: (22) Me voy a morir. (Lope de Vega, cf. M: 336) (23) El viento se va a mudar. (Breton de Herreros, cf. M: 338) (24) Esta boda se va a hacer. (Bretón de Herreros, cf. M: 338)

(e) Vouloir, das sich ja ebenfalls dazu eignet, Absichts-Sachverhalte zu denotieren (vgl. auch Gougenheim 1971: 88), und dessen semantische Struktur der von aller faire qc. in der Bedeutung 'die Absicht haben, etwas zu tun' sehr ähnlich ist, wird im Alt- und Mittelfranzösischen als Futurmarker verwendet. Diese Funktion hat es in einigen ostfranzösischen Dialekten bis heute behalten. Im rumänischen Futur des Typs voifu) cinta fungiert ebenfalls ein Verb des WOLLENS als Futurmarker. Bei frz. vouloir zeigt sich im Übergang von 'wollen/die Absicht haben' zu 'Zukunft' dieselbe Erweiterung möglicher Kontexte wie bei (s'en) aller faire qc. : (25) Or me voeljou taire un petit des Escos et des Englès, et me retrairai au roi Charlon de France, et as ordenances de celui royaume. (Froissart, Chron., cf. G: 88) (26) Et ordonna son héritage, quand il voulut mourir, à son premier né. (Mor. de Char., cf. G: 89)

23

Daran anschließend entwickeln sich Konstruktionen wie II s'en va temps, il s'en va midi, il s'en va heure, il s'en va trois heures (vgl. Gougenheim 1971: 113). Die Konstruktion mit s'en aller ist ebenso wie die mit aller als mündlich markiert. Zum Ende des 17. Jhd. verschwindet s'en aller aus den literarischen Texten; es wird aber noch im 18. Jhd. von Sprachpuristen kritisiert, was auf seine Langlebigkeit hindeutet (Gougenheim 1971: 103). Bis heute hat es sich in bestimmten Dialekten des Französischen, z.B. dem Pikardischen (Gougenheim 1971: 105) und dem québécois (Dörper 1990), gehalten.

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Wie entsteht Grammatik?

(27) Dagoucin, dist Hircan, vous voulez tomber en une faulse opinion. (Marg. de Navarre, Hept., cf. G: 89) (28) Nous y atandismes jusques à ce qu'il feust si tard que le soleil se vouloit coucher. (Monluc, cf. G: 89)

Dem aufmerksamen Leser wird bereits klar geworden sein, daß wir es hier mit dem "klassischen" Szenario distributioneller Generalisierung zu tun haben (s.o., 1.3.). Im folgenden möchte ich darlegen, daß es sich hier nicht um Fälle von "bleaching", sondern wiederum um Metonymien handelt, und ich möchte die Sprecherstrategien herausarbeiten, die den metonymischen Bedeutungswandel unabsichtlich in Gang setzen und ihm seine Richtung geben. Wie weiter oben bereits angedeutet, werden in echten Absichts-Sachverhaltsdarstellungen Handlungen in die Zukunft projiziert. Die Zukünftigkeit beabsichtigter Handlungen ist Bestandteil unseres Weltwissens und kann entsprechend bei Bedarf explizit gemacht werden. Allerdings steht sie bei Lexemen, die eine Absicht denotieren, nicht im Vordergrund. Umgekehrt kann aber ein Sprecher, dem es darauf ankommt, seinem Gegenüber das Eintreten einer zukünftigen Handlung glaubhaft zu machen, auf Lexeme rekurrieren, die eine Absicht denotieren. Anders als in j'achèterai des cigarettes werden in je veux/je vais acheter des cigarettes oder j'ai l'intention d'acheter des cigarettes die in der Gegenwart von Sprecher und Hörer liegenden Bedingungen angegeben, unter denen der fragliche Sachverhalt in der Zukunft eintreten wird: die Kompetenz des Absichtsträgers, sein volitiver Druck und seine Glaubwürdigkeit - alles Dinge, die der Sprecher unauffällig aber wirksam in die Waagschale werfen kann. Übrigens können Verben der BEWEGUNG schon in konkreter Bedeutung eingesetzt werden, um die Zukünftigkeit von Handlungen zu beglaubigen, weil ja anstelle der in ich gehe das tun angelegten Implikatur ABSICHT ebensogut deren Frame-Element ZUKUNFT gemeint sein kann. Ich gehe das tun oder je vais le faire haben dann die Implikatur "Ich realisiere jetzt eine Bewegung, die in eine Handlung einmündet - an der Tatsache, daß ich diese Bewegung realisiere, kannst du ersehen, daß diese Handlung wirklich bald stattfinden wird". Solche Äußerungen sind überzeugender als "reine" Verweise auf die Zukunft mittels des bereits grammatikalisierten Futurs. Koch (1995) bewertet solche Verfahren als spezifisch der konzeptionellen Mündlichkeit zuzuordnende alltagsrhetorische Tricks, mit denen die Sprecher der Unsicherheit zukünftigen Geschehens entgegentreten wollen. Wenn nun Sprecher solche Konstruktionen benutzen, um in expressiver Weise auf Zukünftigkeit zu referieren, dann ist es wahrscheinlich, daß das im Frame ABSICHT enthaltene Element Z U KUNFT als eigentlich gemeintes Designat in den Vordergrund tritt. Dieser Wechsel vollzieht sich - zunächst unbemerkt - in Kontexten wie den folgenden, in denen nicht klar entscheidbar ist, welche der beiden Lesarten vorliegt. (29) Je lui voys mander un cartel. (Pantagruel, IV, 32, cf. G: 99) (30) Yo voy a responder et obedecelle. (Lope de Vega, cf. M: 336) (31 ) Je m'en vueil aler a la foire. (Pathelin, cf. G: 89)

Je (m 'en) vais le faire Voy a hacerlo Je veux le faire

ABSICHT

ZUKUNFT

expressives Mittel

'Ich habe die Absicht, es zu tun'

Figur

Grund

eigentlich Gemeintes

'Ich werde es tun'

Grund

Figur

Fig. 2

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Entscheidend an diesem Vorgang, als dessen Resultat Konstruktionen möglich werden wie le

jour s'en va paraître oder es will wieder Winter werden, ist nicht der Ausfall semantischer Merkmale des jeweiligen Verbs (etwa der Merkmale [agentiv], [menschlich], [belebt]); entscheidend ist vielmehr die Tatsache, daß im Rahmen ganz bestimmter kommunikativer Strategien ein Frame-Element auf Kosten eines anderen fokussiert und in den Vordergrund geschoben wird.

4.4. Die Metonymie und die Verben der Bewegung Was in 4.2. zur metonymischen Relation zwischen dem Ziel einer Bewegung und der Absicht der Bewegung gesagt wurde, läßt sich auch auf die Relation zwischen dem Ausgangspunkt der Bewegung und Handlungssachverhalten übertragen: Die Grammatikalisierung von venir de faire qc. als Marker des passé récent setzt an bei Konstruktionen vom Typ Quant [les marchands] vienent de marchéander, ilfont mesoner lor mesons (Ree. fabl. cf. G: 122), in denen der räumliche Ausgangspunkt der Bewegung (hier wohl le marchié/lafoire) metonymisch inferiert werden kann oder kommunikativ irrelevant ist. Um nun den semantischen Prozeß der Verschiebung der ursprünglichen, räumlichen Bedeutung von venir (de) hin zu seiner temporalen Bedeutung zu beschreiben, ist es gar nicht notwendig, die Metapher zu bemühen, wie dies bisweilen geschieht (vgl. S t o l z 1994: 3 3 f F ) . D e r Ü b e r g a n g BEWEGUNG IM RAUM > BEWEGUNG IN DER ZEIT findet

nämlich nicht als Transfer eines Frames (RAUM) auf einen anderen Frame (ZEIT) statt. Vielmehr ist eine BEWEGUNG IM RAUM implizit immer auch schon eine BEWEGUNG IN DER ZEIT.24 Dt. kommen ist ein reines Bewegungsverb ohne eigenständige temporale Bedeutung; trotzdem impliziert eine Äußerung wie Ich komme vom Angeln, daß der Sprecher vor einer unbestimmten (nicht allzu langen) Zeit geangelt hat. Die BEWEGUNG IN DER ZEIT ist hier allerdings noch im H i n t e r g r u n d d e s F r a m e s BEWEGUNG IM RAUM angelegt.

Der eben skizzierte Mechanismus funktioniert in analoger Weise, wenn die ZIEL-Leerstelle eines Verbs der Bewegung Ausgangspunkt der Grammatikalisierung ist: In einer Aussage wie Ich kam zum Angeln oder Ich kam, um zu angeln ist im Hintergrund bereits angelegt, daß der Vorgang des Angelns auch in zeitlicher Hinsicht den Endpunkt eines vorangegangenen Geschehens bildet. Ebenso ist in einer eigentlich strikt räumlich gemeinten Aussage wie Ich kam zum Angeln zurück oder Ich kam zurück, um zu angeln im Hintergund bereits angelegt, daß es auch

24

Auf diesen Umstand wird bisweilen hingewiesen. Für frz. venir de vgl. etwa Große (1996: 8). Trotzdem spricht sie von Metaphorisierung. Ähnlich für Verben des KOMMENS, GEHENS und ZUROCKKEHRENS in ozeanischen Sprachen Lichtenberk (1991); Lichtenberk erwähnt zwar am Rande die Metonymie (S. 484), versteht darunter jedoch einen Typ von innersprachlicher Kontiguität. Bybee/Perkins/Pagliuca (1994: 291 f.) stellen zwar ausdrücklich fest, daß im Konzept einer Bewegung im Raum dasjenige einer Bewegung in der Zeit bereits enthalten sei, machen aber trotzdem Generalisierung im oben (1.3) dargelegten Sinne für die Entstehung temporaler Bedeutung aus Bewegungsverben verantwortlich. Hopper/Traugott (1993: 82ff.) wiederum interpretieren die Entstehung des engl. go-Futurs zwar als Fall von Metonymie, doch verstehen sie darunter nicht eine auf konzeptueller Kontiguität basierende assoziative Relation, sondern die Konventionalisierung von (morpho-syntaktisch induzierten) kcmversationellen Inferenzen (s.o., 3.). Die These einer metonymischen Entwicklung im hier dargelegten Sinne vertritt dagegen Brinton (1988, bes. 188) für die Entstehung der Aktionsart-anzeigenden Funktion der aengl. Präfixe purh-, ford-, ofer-, up-, Ol-, ymb- usw. aus räumlichen Bedeutungen.

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in zeitlicher Hinsicht zu einer Wiederholung der Handlung gekommen ist.25 Der für die Entwicklung der allerJiwre-Periphrase dargestellte "Umweg" über das Konzept ABSICHT fugt sich nahtlos in dieses Bild ein, denn der ABSICHTS-Sachverhalt markiert ja bei Verben der Bewegung genau wie das ZIEL nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich den Endpunkt der Bewegung. Konstruktionen wie vinieron a ser reyes de toda España oder il vient de chanter sind also nicht Produkte metaphorischer, sondern metonymischer Prozesse. Die Kontiguität zwischen konkret erfahrbarer Bewegung im Raum und nicht konkret erfahrbarer Zeit ist wahrscheinlich der Grund dafür, daß aus der Vielzahl von Verben für Vorgänge aus unserem unmittelbaren kognitiven Nahbereich ausgerechnet die Verben der Bewegung (vgl. Große 1996: 8f.) und nicht beispielsweise Verben für die anthropologisch viel zentraleren Sachverhalte ESSEN, TRINKEN oder SCHLAFEN (Raible 1996b: 74) so häufig Ausgangspunkte für die Grammatikalisierung von Tempus- und Aspektmarkern sind. In der hier dargelegten Sichtweise bilden sich grammatische Bedeutungen aus lexikalischen nicht derart aus, daß Bedeutungselemente auf mysteriöse Weise "verloren gehen". Entscheidend ist vielmehr, daß die Sprecher aus ganz bestimmten Gründen neue Designate (die als Teil-Ganzes-Kontiguität im Hintergrund der alten Designate bereits angelegt sind) aktiv fokussieren und in den Vordergrund stellen. Gleichzeitig erklärt aber auch das Metonymie-Modell die Intuition, daß die diachronisch spätere grammatische Bedeutung häufig in der früheren lexikalischen "irgendwie" bereits enthalten ist. Es erklärt beispielsweise, warum der aspektuelle Wert der Vorderglieder der spanischen "Schau"-Periphrasen des Typs estoy/voy/vengo/sigo/ando cantando sich jeweils durch Merkmale unterscheidet, die bereits in den entsprechenden Bewegungsverben angelegt sind. In der hier dargelegten Sicht ist der Sprachwandel insbesondere bei Verben der BEWEGUNG sogar eingeschränkt prognostizierbar, weil sich in der Regel nur solche Designate zu grammatischen Bedeutungen entwickeln, die im Frame des Quellexems bereits angelegt sind. Trotzdem ist, wie ein Vergleich der höchst unterschiedlichen Grammeme zeigt, die sich aus Verben zur Bezeichnung des Konzeptes KOMMEN entwickeln können, das mögliche Resultat des Bedeutungswandels nicht deterministisch vorherbestimmt:26 zu einer neuen Bedeutung können prinzipiell alle möglichen Hintergrunddesignate des Frames KOMMEN werden. 27

25

26

27

Petra Thiele (1996) interpretiert die Grammatikalisierung von pt. voltar a fazer, tornar a fazer, asp. tornar a, sp. volver a hacer als Raum-Zeit-Metapher, die sich zuerst in schriftsprachlichen, diskursorganisierenden Formeln wie agora tornamos a fablar de Hercules, in denen der Erzähler einen alten Handlungsstrang wiederaufnimmt, manifestiert haben. Wenn die These einer metaphorischen Übertragung zutrifft, was ich bezweifle, dann hätten wir es hier nicht mit der Metapher RAUM > ZEIT ZU tun, sondern mit einer Übertragung der Art BEWEGUNG IM RAUM > BEWEGUNG IM TEXT. Das temporal-repetitive Element von pt. voltar, tornar, asp. tornar a, sp. volver, auf dessen Herleitung es Thiele ja ankommt, wäre aber sowohl in der Bewegung im Raum als auch in der Bewegung im Text nur implizit enthalten, d.h. Thiele läßt gerade unerklärt, wie dieses Element zur Bedeutung von pt. voltar, tornar, asp. tornar a, sp. volver werden konnte. Einmal ganz davon abgesehen, daß natürlich die Antwort auf die Frage, wann bzw. ob es überhaupt zu einem Sprachwandel kommt, in keiner Weise vorherbestimmt ist. Die Vielzahl von grammatischen Funktionen (Tempus-, Aspekt,- Richtungs-, Distanz- und Passivmarker), die sich aus Verben des KOMMENS, GEHENS und ZURÜCKKEHRENS entwickeln können, illustriert Lichtenberk ( 1 9 9 1 ) .

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5. Wie entstehen Tempusmarker? Auch für die Grammatikalisierung gilt, daß jeder Fall von Bedeutungswandel seine eigene Geschichte hat. Deshalb kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß in Einzelfällen nicht doch Metaphern oder ein wie auch immer geartetes "Ausbleichen" der Bedeutung eine Rolle spielen. Ich hoffe aber, es ist deutlich geworden, daß (a) "bleaching"-Szenarien sich plausibler als Fälle metonymischen Wandels beschreiben lassen und daß (b) ein zentraler Bereich der Grammatikalisierung, nämlich die Entwicklung von Verben der Bewegung zu Tempus- und Aspekt-Markern, für den bislang in der Regel metaphorischer Wandel angenommen wird, in Wirklichkeit auf metonymische Bedeutungsverschiebungen zurückzuführen ist. Die Metonymie ist, mit anderen Worten, ein bisher stark vernachlässigter, für die Grammatikalisierung aber hochgradig typischer semantischer Mechanismus. Diese Annahme wirft nun aber ihrerseits Fragen auf, die die Richtung von Grammatikalisierungsprozessen betreffen: die Metonymie ist nämlich, was den Parameter konkret / abstrakt angeht, eine nicht-gerichtete Relation. Einerseits läßt sie zwar Wandelprozesse in der Richtung konkret > abstrakt zu, andererseits kann aber metonymischer Wandel durchaus auch in umgekehrter Richtung verlaufen.28 Dieser Unterschied zur Metapher wird in Arbeiten zur lexikalischen Semantik immer wieder hervorgehoben (Ullmann 1973: 276; Blank 1997: 246). Somit ist klar, daß es nicht der semantische Mechanismus als solcher ist, der den Wandel im Rahmen von Grammatikalisierungsprozessen auf eine bestimmte Richtung festlegt. Daraus ergibt sich nun aber die Frage, wo die Gründe für die allgemeine Tendenz von Grammatikalisierungsvorgängen gesucht werden müssen, begrifflich-konkrete Bedeutung durch grammatische zu ersetzen. Die bisherigen Darlegungen enthalten bereits den Kern einer Antwort. In jedem konkreten Fall von Sprachwandel, gleich ob es sich um Grammatikalisierung handelt oder nicht, sind es ganz bestimmte, im einzelnen höchst unterschiedliche Bedürfnisse und Strategien der Sprecher, die sozusagen "hinter deren Rücken" die Richtung des Wandels festlegen. Für die Genese grammatischer Formen mit temporaler Bedeutung scheint nun entscheidend zu sein, daß die Sprecher zunächst Elemente ohne temporale Bedeutung einsetzen, um temporale Inferenzen zu beglaubigen. Diese Vermutung bestätigt sich durch einen Blick auf die Entstehung von grammatischen Formen zur Bezeichnung der Vergangenheit, die zunächst mit den eben diskutierten Verben der Bewegung gar nichts zu tun zu haben scheinen.

5.1. Die Genese von Perfektmarkern als Resultat von Beglaubigungsstrategien Diachronisch entwickeln sich Perfekta häufig aus Resultativ-Konstruktionen, die ihrerseits aus einem Partizip II und einem ein- oder zweiwertigen flektierten Verb (typischerweise esse oder habere) bestehen. Das Partizip n denotiert qua grammatischer Funktion das Resultat eines abgeschlossenen Vorganges, die flektierte Verbalform setzt, je nach eigener Wertigkeit, einen oder zwei Mitspieler in Beziehung zu diesem Resultat: 28

Ein typisches Beispiel aus dem lexikalischen Wandel wäre administration, 'Tätigkeit des Verwaltens' > 'Personengruppe, die mit der Tätigkeit des Verwaltens betraut ist' > 'Ort, an dem sich diese Personengruppe normalerweise aufhält.'

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(32) Kit. Hic murus bene constructus est, 'Diese Mauer ist wohlgebaut' (33) Kit. Ventus sum, vlt. Venutus sutn - 'Ich bin ein Gekommener' (34) Kit. [...] Rhodios [...] naves complures instructas etparatas in aqua habere [...] (Cic., Fam. XII, 15, 2, cf. R: 99).'[daß] die Rhodier eine Menge an Kriegsschiffen ausgerüstet und vorbereitet zu Wasser hielten' [...]

Solche Konstruktionen entwickeln eine temporale Bedeutung, indem vom gegenwärtigen Resultat eines Vorganges metonymisch auf den vorangegangenen Vorgang selbst geschlossen wird. Aus einer Äußerung wie diese Mauer ist gut gebaut kann inferiert werden diese Mauer ist gut gebaut worden. Entsprechend bezeichnet lt. constructus est neben dem Zustandspassiv auch das Perfekt Passiv. Aus vlt. venutus sum in der in (33) angegegeben Bedeutung entwickeln sich it. sono vertuto, frz. je suis venu, rätorom. sun vegnius, 'ich bin gekommen'. Aus der habere-Konstruktion in (34) entwickeln sich Perfekta wie una tienda a dexada (Cid, 582). Der vormals präsentische Charakter der Konstruktion spielt in den neuen Perfekta zunächst als Präsensrelevanz weiterhin eine Rolle als Hintergrundkonzept.29 Der Umschlag vom Konzept GEGENWÄRTIGES RESULTAT zum Konzept ZURÜCKLIEGENDE HANDLUNG läßt sich in einer ambivalenten Äußerung wie dt. er hat seine Haare kurz geschnitten nachvollziehen, die in beide Richtungen offen ist. Pragmatisch ist dieser Bedeutungswandel dadurch motiviert, daß die Sprecher das Resultat einer Handlung, etwa factum habeo, 'ich habe diese Sache fertig', präsentieren, um möglichst eindrucksvoll zu beglaubigen, daß sie eine bestimmte Handlung auch wirklich durchgeführt haben30

e x p r e s s i v e s Mittel eigentlich Gemeintes

factum habeo

gegenwärtiges RESULTAT

zurückliegender

'Ich habe es als Getanes'

Figur

Grund

'Ich habe es getan'

Grund

Figur

VORGANG

Fig. 3

5.2. Ein Gegenbeispiel? Beglaubigung temporaler Inferenzen ohne Grammatikalisierung Die Verschiebung in der in 5.1. dargestellten Richtung stellt eine breite übereinzelsprachliche Tendenz dar (Bybee/Perkins/Pagliuca 1994: 68f.). Allerdings läßt sich, ebenfalls übereinzelsprachlich, für einen kleinen, relativ fest umrissenen konzeptuellen Bereich ein Wandelprozeß in der umgekehrten Richtung feststellen. Lat. novi, ursprünglich Perfekt von noscere, 'erfahren', verändert seine Bedeutung von 'ich habe erfahren' (ZURÜCKLIEGENDER VORGANG) ZU 'ich weiß', 'ich kenne' (GEGENWÄRTIGES RESULTAT eines ZURÜCKLIEGENDEN VORGANGES). I n der g l e i c h e n

Weise hat sich dt. wissen (< mhd. wizzen < ahd. wizzan < g. *wait) aus idg. woida, 'ich habe gefunden / erblickt / erkannt' entwickelt. Dt. können und dt. kennen (< mhd. kunnen, künnen < g. 29 30

Zu den verschiedenen Stadien der diachronen Entwicklung solcher Perfekta s. Harris (1982). Dazu paßt die Beobachtung von Jacob (1996: 281), das spanische perfecto compuesto gehe auf eine lateinische Verwendungsweise von habeo factum zurück, die er als "deontisch" charakterisiert. In dieser Verwendungsweise geht es zentral um die "Darstellung einer Handlung in ihrer Relevanz für den Handelnden, einer Handlung, aus der eine Schuld, ein Verdienst, eine Verpflichtung, ein Anspruch, kurz: Folgen in einem System interpersonaler Beziehungen erwachsen". Ahnliche Überlegungen zum englischen present perfect finden sich in Slobin (1994).

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*kann) gehen auf ein Perfekt von idg. gend/gnö 'kennen', 'wissen' zurück. Gr. oída, 'ich weiß', 'ich kann' ist die Perfektform von iöeiv 'sehen', 'erblicken'.31 Eine pragmatische Motivation für eine solche Verschiebung ist gerade Wissenschaftlern gut vertraut: um sein Wissen als besonders zuverlässig und glaubwürdig auszuweisen, kann ein Sprecher metonymisch auf den Vorgang des Wissenserwerbs ausweichen und darstellen, woher sein Wissen stammt, wie gründlich es erworben wurde usw.32 Obwohl im zuletzt diskutierten Beispiel ebenfalls temporale Inferenzen beglaubigt werden, ist es hier nicht zu Grammatikalisierung gekommen. Das hängt einerseits damit zusammen, daß die Beglaubigung eines Resultats durch den Verweis auf einen vorangegangenen Vorgang eben nur beim Konzept WISSEN sinnvoll und deshalb nicht verallgemeinerbar, d.h. "grammatikfähig" ist. Darüber hinaus unterscheidet sich aber der hier skizzierte Prozeß von den in 4.3. und 5.1. dargestellten Beispielen für Grammatikalisierung vor allem dadurch, daß die Verschiebung von der VERGANGENHEIT in die GEGENWART erfolgt. Für die Grammatikalisierung von Tempusmarkern scheint aber die umgekehrte Verschiebungsrichtung, also GEGENWART > NICHT-GEGENWART (d.h. ZUKUNFT oder VERGANGENHEIT) Bedingung zu sein. Warum ist das so?

5.3. Die Entstehung von Tempusmarkern im Kontext konzeptioneller Mündlichkeit Neue Tempusmarker sind in aller Regel Produkt der konzeptionellen Mündlichkeit.33 In mündlichen, direkten Kommunikationssituationen spielen zwei Sorten von Gegebenheiten eine Rolle: solche, die für Sprecher und Hörer sichtbar und hörbar sind und auf die sie sich unmittelbar beziehen können, und solche, die von Sprecher und Hörer nicht unmittelbar erfahren werden können. Zur zweiten Klasse von Gegebenheiten gehören Ereignisse, die sich in der Vergangenheit abgespielt haben (die zwar möglicherweise erfahren wurden, nun aber beendet sind), und - in noch stärkerem Maße - Ereignisse, die sich in der Zukunft abspielen werden, weil diese ja nur in der Vorstellung von Sprecher und Hörer existieren. Nicht-gegenwärtige Sachverhalte sind in hohem Maße beglaubigungsbedürftig. Die Sprecher benutzen zunächst Formen ohne temporale Bedeutung (z.B. Konstruktionen mit Verben der Bewegung), um temporale Inferenzen zu beglaubigen, indem sie etwas Gegenwärtiges und Sichtbares (etwa eine gegenwärtige Bewegung) einsetzen, um die Realität von etwas Nicht-Gegenwärtigem, Unsichtbarem (etwa: die künftige Handlung am Ende der Bewegung) zu belegen. Ziel der Sprecher ist es also nicht einfach, (vergangene oder künftige) ZEIT sprachlich zu strukturieren, darzustellen oder darauf zu referieren-, dazu könnten sie sich auch der bereits fest grammatikalisierten Tempusformen oder - noch besser - lexikalischer Zeitaus-

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33

Diese Entwicklung, die semantisch das Spiegelbild der Entstehung von Perfekta aus präsentischen Resultativkonstruktionen darstellt, belegt anschaulich den nicht-gerichteten Charakter der Metonymie. In den romanischen Sprachen vollzieht sich der Übergang von ERFAHREN ZU WISSEN nicht zwischen VERGANGENHEIT und GEGENWART, sondern zwischen 'perfektiv' und 'imperfektiv': j'ai su, 'ich habe erfahren'-je sais, 'ich weiß' / je savais, 'ich wußte'Je connus, 'ich habe kennengelernt' - je connais, 'ich kenne' /je connaissais, 'ich kannte'. Für Futurmaiker ganz allgemein vgl. Koch (1995), für frz. (s 'en) allerfaire qc. Gougenheim (1971: 98), filr sp. voy a hacerlo Söll (1968: 241).

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drücke bedienen.34 Es geht ihnen vielmehr darum, nicht-gegenwärtige Sachverhalte möglichst glaubhaft zu assertieren. Grammatikalisierung bedeutet in diesem Fall, daß die Assertion von Nicht-Gegenwart zur neuen, grammatischen Bedeutung einer ursprünglich nicht-temporalen Form wird. Tempus ist das unbeabsichtigte, konventionalisierte Resultat solcher Strategien zur Assertion von nicht-gegenwärtigen Sachverhalten. Diese Motivation erklärt die häufige Grammatikalisierung von Verben der BEWEGUNG ZU Tempusmarkem,35 denn Bewegungen, die sich in der Gegenwart von Sprecher und Hörer vollziehen, sind entweder über ihren Ausgangspunkt in der Vergangenheit verankert oder ragen über ihren Zielpunkt in die Zukunft. Eine alternative Strategie zur Beglaubigung zukünftiger Sachverhalte besteht darin, daß Sprecher ihren aktuellen WELLEN oder eine bestimmte OBLIGATION anfuhren; diese Strategie führt zur Grammatikalisierung von velle und debere36 oder von Konstruktionen wie habeo cantare 37 Ganz ähnlich motiviert ist der Rekurs auf Konstruktionen, die zunächst einen ZWECK oder eine BESTIMMUNG ausdrücken, wie etwa sp. estarpara hacer u.c., ser por hacer u.c. usw.38 Ein weiteres häufig genutztes Verfahren zur Beglaubigung von Zukünftigkeit besteht schließlich darin, den betreffenden Sachverhalt sprachlich in die Gegenwart zu verlegen: 'ich bin doch gerade dabei, es zu tun' - auf diese Weise entwickelt sich z.B. im haitianischen Kreolisch der Progressivmarker ap (apr, pr, apej39 zum Ausdruck der nahen Zukunft (Spears 1990: 125). Eine schlichte und unspektakuläre Variante dieses Verfahrens besteht darin, das Präsens für das Futur einzusetzen.40

5.4. Grammatikalisierung und temporale Markiertheitshierarchien Die eben dargelegten Thesen fügen sich nahtlos ein in gängige Überlegungen zur Markiertheitshierarchie der Tempora (vgl. etwa Comrie 1985: 43f ). Die "Normalzeit" mündlicher Kommunikation ist die Gegenwart. Sie ist unproblematisch und bedarf keiner besonderen Beglaubigung. Entsprechend ist die grammatische Kategorie zur Bezeichnung der Gegenwart, das Präsens, diachronisch extrem stabil41 und morphologisch zumeist unmarkiert. Zudem greift in vielen Spra-

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Diese Überlegung erklärt auch, warum Maiker, deren Quellexeme bereits temporale Bedeutung haben, universell seltener sind als Ausdrücke, bei deren Quellexemen sich Temporalität erst durch metonymische Inferenzen herstellt. Bsp. s. in Lehmann (1995: 29ff.), Bybee/Perkins/Pagliuca (1994: 82f., 266ff). Z.B. rum. voi(u) cinta, sard. deppo cantare (aus Koch 1995), Bsp. für nicht-roman. Sprachen in Lehmann ( 1995 : 30) sowie Bybee/Perkins/Pagliuca (1994: 254ff ). Sp. he de cantar (inzwischen als Futurmarker aus dem Gebrauch gekommen), pt. hei de cantar, sard. ap' a cantare. Auf fiz. être pour geht der seychellenkreolische Futurmarker pu zurück. Ap < fiz. après in je suis après (à) le faire -'ich bin dabei, es zu tun' (17. Jhd., heute noch in Québec üblich). Bybee/Perkins/Pagliuca ( 1994: 275ff.) stellen zahlreiche Fälle dar, in denen Futurmarker sich aus ehemaligen Präsens- und Progressivformen entwickelt haben. Koch (1995) unterscheidet zwischen Sprachen, die zum Verweis auf die Zukunft keine eigene grammatische Kategorie besitzen, und "futurschwachen" Sprachen, die trotz der Existenz eines Futurs zum Verweis auf die Zukunft das Präsens bevorzugen. Zu den Sprachen ohne Futur gehört das Kalabresische, zu den futurschwachen Sprachen rechnet Koch u.a. das geprochene Italienisch und das Deutsche. Fälle wie der unter 5.2. geschilderte stellen Ausnahmen dar.

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chen das Präsens als grammatische Kategorie der "unproblematischen" Zeitstufe häufig auf D o m ä n e n der übrigen Tempora aus, 42 während Ausgriffe in der umgekehrten Richtung seltener sind. Eine extrem "problematische" Zeitstufe ist dagegen die Zukunft. Aussagen über Sachverhalte, die in der Zukunft liegen, bedürfen einer besonders aufwendigen Beglaubigung. D i e Sprecher m ü s s e n sich mit anderen Worten ständig neue Tricks einfallen lassen, mit denen sie ihre Hörer davon überzeugen, daß die fraglichen Sachverhalte auch wirklich eintreten werden. D i e s e Überlegung erklärt die Beobachtung, daß unter allen Tempusformen gerade im Bereich der Futurmarker in vielen Sprachen eine besonders schnelle und häufige Erneuerung stattfindet. E s erklärt auch den scheinbar entgegengesetzten Befund, daß es nämlich Sprachen ohne eigene grammatische Kategorie zur Bezeichnung der Zukunft gibt: diese benutzen zum Verweis auf die Zukunft das Präsens. Diachronisch gesehen ist dieser Zustand das Resultat einer (unter vielen m ö g lichen) Beglaubigungsstrategien, deren Besonderheit darin besteht, daß sie die Grenzen zwischen Gegenwart und Zukunft überhaupt verwischt.

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42

In Sprachen, die über ein lebendiges Futur verfügen, gibt es z.B. fast immer die Möglichkeit des Praesens pro futuro.

Wie entsteht Grammatik?

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Georg A. Kaiser (Hamburg)

Sprachwandel durch Reanalyse und Parameterwechsel. Kritische Betrachtungen generativer Sprachwandeltheorien am Beispiel der Entwicklung der Verbstellung im Französischen1

1. Einleitung Spätestens seit Andersen (1973) und Langacker (1977) kann Sprachwandel im Bereich der Grammatik so verstanden werden, daß zu einem gegebenen Zeitpunkt Kinder im Verlauf ihres Erstspracherwerbs das zu erwerbende System 'reanalysieren'. Es wird angenommen, daß dabei interne Regeln und zugrundeliegende Strukturen des zu erwerbenden Sprachsystems restrukturiert werden, ohne daß dies (zunächst) unmittelbare Auswirkungen auf dessen oberflächliche Strukturen hat. Veränderung durch 'Reanalyse' vollzieht sich demzufolge in den Kernbereichen der Sprache, während Mechanismen, wie etwa die der 'Grammatikalisierung' oder 'lexikalischen Entlehnung', primär die Ebene der parole betreffen (Abraham 1992/93: 8). In sprachtypologisch und primär empirisch orientierten Arbeiten ist es allerdings bisher nur ansatzweise gelungen, eine klare Differenzierung zwischen diesen beiden Typen des Sprachwandels herauszuarbeiten. Einer der Gründe hierfür liegt vor allem darin, daß diese Ansätze in aller Regel über kein theoretisches Modell verfugen, das eine Modellierung zugrundeliegender Strukturen ermöglicht. Somit kann die Beschreibung von Prozessen, die durch die Umstrukturierungen dieser Strukturen gekennzeichnet sind, nur sehr vage ausfallen.2 In einer strenger gefaßten Verwendung des Konzeptes der Reanalyse wird davon ausgegangen, daß es nur im Rahmen einer "nuancierten, streng geregelten syntaktischen Konstituentenanalyse" adäquat erfaßt werden kann und daher "in einem naturwissenschaftlichen Sinne absolut theorieverpflichtet" ist (Abraham 1992/93: 7). Eine solche Herangehensweise ist für Ansätze im Rahmen der generativen Grammatiktheorie kennzeichnend. Diese Theorie verfugt über ein explizites Modell der Beschreibung zugrundeliegender Strukturen und erlaubt daher eine präzisere und adäquatere Erfassung von Veränderungen dieser Strukturen und der sich daraus ergebenden Konsequenzen. Das in den 80er Jahren entwickelte generative Prinzipien- und Parametermodell bietet darüber hinaus die Möglichkeit, komplexere (und radikalere) Reanalyseprozesse auf prinzipiell andere Weise zu erfassen, als es in bisherigen Analysen möglich war. Im Rahmen dieses Modells können solche Prozesse als 'Parameterwechsel' beschrieben werden, d.h. als Umfixierungen von einzelsprachlich festgelegten Parameterwerten. Ein solcher Wechsel, dem die Reanalyse einzelner zugrundeliegender Strukturen vorausgehen kann, besteht in einer umfassenden Restrukturierung der Gram-

ich bedanke mich bei Jürgen M. Meisel (Hamburg) für hilfreiche Kommentare. Zu neueren Versuchen einer expliziteren Unterscheidung zwischen Reanalyse und Grammatikalisierung cf. Abraham (1992/93) und Haspelmath (1998).

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Georg A. Kaiser

matik. Das heißt, er bleibt nicht auf die zugrundeliegende Struktur beschränkt bzw. fuhrt nicht zu allmählichen Veränderungen an der Oberflächenstruktur, sondern hat darauf unmittelbare und radikale Auswirkungen. In dem vorliegenden Beitrag sollen diese Konzepte der Reanalyse und des Parameterwechsels am Beispiel des Wandels der Stellung des finiten Verbs im Französischen kritisch durchleuchtet werden. In den meisten generativen Analysen wird für diesen Wandel eine Reanalyse mit anschließendem Parameterwechsel postuliert. Es soll jedoch gezeigt werden, daß diese Annahme sowohl aus theoretischen wie aus empirischen Gründen nicht haltbar ist. Die These lautet, daß der Stellungswandel des finiten Verbs im Französischen erklärt werden muß, ohne die Reanalyse parametrisch festgelegter Strukturen und die Umsetzung des entsprechenden Parameterwertes anzunehmen. Ziel des Beitrages ist es, hierfür einen Lösungsansatz zu skizzieren. Dabei soll deutlich werden, daß die Kritik an generativen Sprachwandelanalysen nicht dazu fuhren muß, die generative Grammatiktheorie als Grundlage für die historische Linguistik generell in Frage zu stellen, sondern daß es vielmehr möglich ist, im Rahmen dieser Theorie zu neuen, möglicherweise adäquateren Analysen zu gelangen.

2. Sprachwandel durch Reanalyse und Parameterwechsel 2.1. Die generative Parametertheorie und ihre Anwendung in der historischen Linguistik Die Annahme, daß sich grammatischer Wandel durch das Umsetzen einzelner Parameterwerte vollziehen kann, hat ihren Ursprung in der Revision des Modells der generativen Transformationsgrammatik durch die Einführung der Prinzipien- und Parametertheorie (Chomsky 1981, 1986). Diese Theorie zeichnet sich gegenüber früheren generativen Grammatikmodellen vor allem dadurch aus, daß nicht mehr konstruktions- und sprachenspezifische Regeln und Beschränkungen, sondern allgemein gültige und modular organisierte Wohlgeformtheitsbedingungen formuliert werden. Es wird versucht, sprachliche Variation u.a. durch die Annahme zu erfassen, daß die Anwendung bestimmter Regeln und Prinzipien 'parametrisch' festgelegt ist. Mit anderen Worten, für jede Einzelsprache sind hinsichtlich dieser Regeln und Prinzipien die entsprechenden Parameter aufjeweils einen bestimmten Wert festgelegt. Ein entscheidendes Argument für eine solche Grammatikkonzeption basiert auf theoretischen Überlegungen über den kindlichen Erstspracherwerb, denen zufolge der sprachliche Input, dem Kinder während des Erwerbs der Erstsprache ausgesetzt sind, 'defizitär' ist, d.h. nicht ausreicht, um einen erfolgreichen Erwerb zu gewährleisten. Das Parametermodell versucht diesem 'logischen Problem des Spracherwerbs' durch die Annahme Rechnung zu tragen, daß die Aufgabe eines Kindes im Laufe des Erstspracherwerbs - abgesehen vom Erlernen der idiosynkratischen Eigenschaften der Muttersprache wie z.B. dem Lexikon und sprachspezifischen Regeln - darin besteht, (angeborene) universale Prinzipien lediglich zu aktivieren und für vorgegebene Strukturoptionen ('Parameter1) nur die für die zu erwerbende Einzelsprache relevanten Werte festzulegen. Das bedeutet, daß ein Kind durch das Aktivieren der universalen Prinzipien und durch die Festlegung der einzelnen Parameter auf einen bestimmten Wert Eigenschaften seiner Sprache erwirbt, ohne diese im Detail erlernen zu müssen. Es wird außerdem angenommen, daß der Spracherwerbs-

Sprachwandel durch Reanalyse und Parameterwechsel

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prozeß zusätzlich dadurch vereinfacht ist, daß die Fixierung von Parametern den Erwerb mehrerer - oberflächlich voneinander unabhängiger - Eigenschaften implizieren kann. Dieses Prinzipien- und Parametermodell hat auch Eingang in die generative historische Linguistik gefunden und zu einer beträchtlichen Zunahme generativer Sprachwandeluntersuchungen geführt. Die Attraktivität des Modells für die historische Linguistik liegt u.a. darin, daß es auf Beobachtungen aus dem kindlichen Erstspracherwerb basiert und diese zu erklären versucht. Dadurch wird die Möglichkeit geschaffen, explizitere Aussagen über den Zusammenhang zwischen Sprachwandel und Spracherwerb zu machen. Ein weiterer Vorteil der Verwendung dieses Grammatikmodells zur Erfassung von Sprachwandelprozessen wird darin gesehen, daß Variation auf grundsätzlich andere Weise erfaßt werden kann als in anderen Grammatiktheorien und somit für diachrone Variationsprozesse ein anderes Erklärungsmodell zur Verfügung steht als in bisherigen Sprachwandeltheorien. Es liefert nämlich die Möglichkeit, diachronische Sprachwandelprozesse als Veränderungen bei der Fixierung einzelner Parameterwerte zu erfassen. Als typisches Beispiel für einen solchen Wandel wird die Änderung der Stellung des finiten Verbs im Französischen angesehen. Die Annahme lautet, daß sich das Französische von einer Sprache mit parametrisch festgelegter Verb-Zweit-Stellung zu einer Nicht-Verb-Zweit-Sprache entwickelt hat. Um die Analysen dieses Wandels besser darstellen zu können, sollen zunächst kurz am Beispiel des Deutschen die Eigenschaften einer Sprache illustriert werden, für die postuliert wird, daß die Verb-Zweit-Stellung parametrisch festgelegt ist.

2.2. Die Verb-Zweit-Stellung als parametrisch festgelegte Eigenschaft Alle germanischen Sprachen - mit der Ausnahme des modernen Englischen - sind durch die gemeinsame Eigenschaft charakterisiert, daß in deklarativen Matrixsätzen das finite Verb stets als zweite Konstituente auftritt. Anders als bei vielen anderen Wortstellungsmustem spielen hierbei semantische oder pragmatische Faktoren keine Rolle. Wie die Beispiele aus dem Deutschen in (1) zeigen, ist diese Stellung des finiten Verbs unabhängig von der Art und der syntaktischen Funktion der satzeinleitenden Konstituente: (1) (a) Paul liest gerade ein Buch. (b) Ein Buch liest Paul gerade. (c) Gerade liest Paul ein Buch. Die generativen Analysen dieses Verb-Zweit-Phänomens basieren auf der Beobachtung, daß in den meisten germanischen Sprachen, wie auch im Deutschen, eine komplementäre Distribution zwischen der Zweitstellung des finiten Verbs einerseits und dem Auftreten von subordinierenden Konjunktionen (Komplementierern) andererseits besteht: (2) (a) Ich weiß, daß Paul gerade ein Buch liest. (b) Ich weiß, gerade liest Paul ein Buch. (c) *Ich weiß, daß gerade liest Paul ein Buch.

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Georg A. Kaiser

Dieser Asymmetrie zwischen eingeleitetem und nicht eingeleitetem Satz wird durch die Annahme Rechnung getragen, daß dasfiniteVerb in Sprachen wie dem Deutschen nach COMP angehoben wird, d.h. in die Position, in der Komplementierer basisgeneriert werden. Die Anhebung des finiten Verbs nach COMP ist daher nur in den Sätzen möglich, die nicht durch eine Konjunktion eingeleitet sind. Ein deutscher Hauptsatz wie (lc) hat damit folgende S-Struktur: 3

(3) SpezCP

INFL

Gerade

liestj t

PauL ^

Eine der entscheidenden Fragen, die aufgrund einer solchen Analyse gestellt werden muß, ist die nach dem Auslöser (Trigger1) der Anhebung des finiten Verbs in die COMP-Position. Diese Frage resultiert aus der im Prinzipien- und Parameter-Modell allgemein akzeptierten Forderung, wonach jede (syntaktische) Bewegung einen grammatischen Auslöser haben muß. Der ursprüngliche und am weitesten akzeptierte Lösungsvorschlag4 besteht in der Annahme, daß in Sprachen, in denen das finite Verb regelmäßig in der Zweitposition erscheint, die Finitheits- und Kongruenzmerkmale in der COMP-Position basisgeneriert sind. Dies hat zur Folge, daß das finite Verb über die INFL-Position, in der üblicherweise diese Merkmale generiert werden, nach COMP angehoben werden muß, um diese Merkmale zu erhalten.5 In Verb-ZweitDieser Struktur liegt das X'-Schema zugrunde, wodurch der hierarchische Aufbau von Phrasen festgelegt wird. Die oberflächliche lineare Abfolge der Konstituenten ergibt sich durch die Anwendung der Regel Bewege a', wobei die zugrundeliegende Struktur allerdings erhalten bleiben muß (Strukturerhaltungsprinzip). Dies wird dadurch gewährleistet, daß in der Ausgangsposition der bewegten Elemente leere Spuren ('/(races)') zurückbleiben müssen. Für eine ausführlichere Darstellung dieses Ansatzes und eine kritische Zusammenfassung alternativer Analysen, aufdie im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden kann, cf. Haider (1993: Kap.2) oder Vikner (1995: Abschn.II). In neueren Analysen, die im Rahmen des 'Minimalistischen Programms' (Chomsky 1995) eingebettet sind, wird davon gesprochen, daß die Merkmale 'gecheckt' werden müssen (Branigan 1996). Unabhängige Evidenz für die Generierung der Finitheits- und Kongruenzmerkmale in der COMP-Position wird unter anderem darin gesehen, daß in (süd-deutschen und niederländischen Dialekten Konjunktionen offensichtlich Flexionsmerkmale tragen können. Dies ist z.B. im Bairischen der Fall (Bayer 1983/84, Hoekstra & Maräcz 1989: 78):

Sprachwandel durch Reanalyse und Parameterwechsel

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Sprachen erscheint das finite Verb daher stets dann in der COMP-Position, wenn diese nicht durch eine andere Konstituente besetzt ist. Mit anderen Worten, das finite Verb tritt in den Matrixsätzen dieser Sprachen syntaktisch immer in der Zweitposition auf. Die Erstposition, d.h. die Spezifizierposition von CP, kann dabei lexikalisch entweder durch das Subjekt oder eine Topik-Konstituente besetzt sein. Für die Fälle, in denen das Verb satzinitial auftritt, wie in Entscheidungsfragesätzen oder verbinitialen Konditionalsätzen, wird angenommen, daß die SpezCP-Position lexikalisch leer ist und stattdessen einen leeren Operator enthält (Roberts 1993: 57). Die Dritt-Stellung des Verbs wird in vielen Analysen ausgeschlossen, indem postuliert wird, daß die Adjunktion weiterer Konstituenten an eine CP prinzipiell ausgeschlossen bzw. nur auf bestimmte Ausnahmefälle beschränkt ist (Iatridou & Kroch 1992). Es wird angenommen, daß diese Verb-Zweit-Eigenschaft parametrisch festgelegt ist. Nicht-Verb-Zweit-Sprachen sind dadurch charakterisiert, daß die Finitheits- und Kongruenzmerkmale in der INFL-Position basisgeneriert sind, während in Verb-Zweit-Sprachen COMP die Basisposition dieser Merkmale bildet. Für den Erstspracherwerb bedeutet dies, daß Kinder den diesbezüglichen Parameter entsprechend der Sprache, die sie erlernen, lediglich auf den entsprechenden Wert setzen müssen, um die korrekte Stellung des finiten Verbs zu erwerben. Die Frage, die im folgenden diskutiert werden soll, lautet, inwiefern auf diese Weise der Wandel der Verbstellung im Französischen adäquater erfaßt werden kann als in bisherigen generativen wie nicht-generativen Analysen.

2.3. Die Entwicklung der Verb-Zweit-Stellung im Französischen In zahlreichen romanistischen Untersuchungen ist immer wieder darauf hingewiesen worden, daß das Altfranzösische und andere frühe romanische Sprachen Worstellungsmuster aufweisen, die in den modernen Varianten dieser Sprachen entweder nur noch auf bestimmte Kontexte beschränkt oder völlig verschwunden sind (cf. Richter 1903, Foulet 1928, Lerch 1934). Insbesondere hinsichtlich der Stellung von Subjekt und Verb sind einige Unterschiede zu beobachten. Für das Altfranzösische wurde gezeigt, daß das Subjekt wesentlich häufiger als im modernen Französischen in postverbaler Stellung auftrat und dabei auch zwischen das finite Verb und den infiniten Verbteil treten konnte. Auf Grund der Ähnlichkeiten mit typischen Wortstellungsmustern im Deutschen und anderen germanischen Sprachen wird diese Besonderheit häufig auch als 'germanische Inversion' bezeichnet (Rohlfs 1982). In einigen romanistischen Arbeiten wird daher betont, daß die Besonderheit der altfranzösischen Wortstellung weniger in der häufigen Inversion des Subjekts zu sehen ist, als vielmehr in der festen Zweit-Stellung des finiten Verbs (Thurneysen 1892, Herman 1954). Diese Auffassung entspricht auch den Analysen der Entwicklung der französischen Wortstellung im Rahmen der generativen Prinzipien- und Parame-

(i)

(a) I woaß, daß/ (du) a Spitzbua bist. (b) I woaß, daßts (ihr) Spitzbuam seits. Es wird angenommen, daß auch in denjenigen germanischen Sprachen, die diese Affigierungsmöglichkeit der Flexionsmerkmale nicht besitzen, die Flexionsmerkmale des finiten Verbs in der COMP-Position basisgeneriert werden, da sie die gleichen Wortstellungsmuster aufweisen wie die Dialekte mit offener Komplementiererkongruenz.

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Georg A. Kaiser

tertheorie. Es wird angenommen, daß die 'germanische Inversion' im Altfranzösischen das Ergebnis der Bewegung des finiten Verbs nach COMP ist (cf. Adams 1987a,b, Kroch 1989, Roberts 1993, Vanee 1995). Das bedeutet, daß das Altfranzösische als Verb-Zweit-Sprache analysiert wird, in der das finite Verb regelmäßig in Matrixsätzen in der zweiten Position erscheint, und zwar unabhängig davon, ob das Subjekt postverbal auftritt oder nicht. Es besaß diesen Analysen zufolge die parametrisch festgelegte Eigenschaft, daß die Finitheits- und Kongruenzmerkmale in der COMP-Position basisgeneriert waren. Da das Französische im Laufe seiner historischen Entwicklung die regelmäßige Verb-Zweit-Stellung aufgegeben hat, muß angenommen werden, daß die Basisgenerierung dieser Merkmale zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Änderung erfahren hat. Die Annahme lautet, daß diese Änderung das Ergebnis einer 'radikalen Reanalyse' (Kroch 1989) oder eines 'Parameterwechsels' (Roberts 1993) ist. Alle generativen Untersuchungen des Verlustes dieser Verb-Zweit-Eigenschaft im Französischen (und auch im Englischen) gehen allerdings davon aus, daß diesem radikalen Wandel eine Periode eines graduellen Wandels vorausgeht. Dieser graduelle Wandel besteht zunächst in einer allmählichen Abnahme der Auftretenshäufigkeit von Sätzen mit satzinitialen Elementen, die nicht als Subjekt des Satzes fungieren, und dementsprechend in einer Zunahme von Sätzen mit satzinitialem Subjekt. Solche "shifts in the available trigger experiences" (Lightfoot 1997: 269) bedeuten allerdings nicht, daß sich die Grammatik geändert hat, sondern lediglich, daß ihr Gebrauch einen Wandel erfahren hat. Erst in einem zweiten Schritt kommt es zu einer Veränderung der Grammatik. Die Annahme lautet, daß dieser Schritt dadurch ausgelöst wird, daß die Häufigkeit von Sätzen mit satzinitialen Subjekten derart zugenommen hat, daß die Sätze von den Kindern (einer bestimmten Generation) nicht mehr als abgeleitete Strukturen erkannt werden (können). Mit anderen Worten, Kinder interpretieren Matrixsätze mit einer oberflächlichen SVO-Stellung nicht als Sätze mit einer V-nach-COMP-Bewegung, sondern als Sätze, in denen das Verb nur bis nach INFL angehoben wird (cf. Adams 1987a: 25): (4)

[CP S, [COMP V, [N. t, h O ] ] ]

->

[ffSVO]

Eine entscheidende Voraussetzung für diese Art der Reanalyse ist nach Ansicht vieler Autoren die Tatsache, daß das Altfranzösische eine zugrundeliegende SV(X)-Stellung besaß und in eingebetteten Nebensätzen daher sehr häufig eine SV(X)-Stellung aufwies. Die Kinder hatten daher reiche Evidenz für eine SV(X)-Stellung ohne eine V-nach-COMP-Bewegung und interpretierten die SV(X)-Stellung in Matrixsätzen in Analogie zu den Nebensätzen: En effet, toute proposition SV(X) en surface peut représenter l'ordre de base ou une structure V2 avec antéposition du sujet. Or, cette séquence est la plus neutre et la plus fréquente en principale et encore davantage en subordonnée. Cette prépondérance de SV(X) favorise une réanalyse dans laquelle le sujet apparaît obligatoirement devant le verbe, d'où la chute de V2. (Côté 1995: 184)

Eine solche Analyse des Verlustes der Verb-Zweit-Stellung würde der Tatsache gerecht, daß es in Verb-Zweit-Sprachen mit einer zugrundeliegenden Verb-End-Stellung, wie z.B. dem Deutschen, bisher nicht zu einer solchen Reanalyse wie in (4) gekommen ist. Demgegenüber läßt sich jedoch einwenden, daß die skandinavischen Sprachen bis heute ihre stabile VerbZweit-Stellung in Matrixsätzen erhalten haben, obwohl sie eine zugrundeliegende SV(X)-Stel-

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Sprachwandel durch Reanalyse und Parameterwechsel

lung besitzen und somit einen hohen Anteil von SV(X)-Sätzen aufweisen. Aus diesem Grund wird vermutet, daß die zunehmende Häufigkeit von S V(X)-Sätzen nicht allein für die Reanalyse der Satzstruktur im Alt- bzw. Mittelfranzösischen ausschlaggebend war. Ähnlich wie in vielen romanistischen Arbeiten (cf. Geisler 1982, Marchello-Nizia 1995) werden neben morphophonologischen Faktoren, insbesondere dem Abbau der Kongruenz- und Kasusmerkmale, vor allem prosodische Faktoren als zusätzlicher bzw. primärer Auslöser für die Reanalyse in (4) aufgeführt. Ein Vorschlag lautet, daß es im Zusammenhang mit einer Schwächung des satzinitialen Akzents zu einer generellen Proklitisierung schwachtoniger Elemente und zur Klitisierung präverbaler Subjektspronomina gekommen ist (cf. Adams 1988: 25, Kroch 1989, Platzack 1995, Hulk & Kemenade 1995). Man geht davon aus, daß sich das klitisch gewordene Subjektspronomen an das Verb bindet, bevor die Anhebung des Verbs nach COMP stattfindet. Mit anderen Worten, durch die Klitisierung der Subjektspronomina konnte es dazu kommen, daß das klitisierte Subjektspronomen zusammen mit dem Verb nach COMP bewegt wurde. Die Annahme lautet nun, daß diese scheinbaren Verb-Dritt-Strukturen von den Kindern, die diesen Sätzen in ihrem Input ausgesetzt waren, nicht als CP-Strukturen erkannt wurden. Sie werden als IPStrukturen reanalysiert, d.h. das Verb wird nur nach INFL bewegt, während das klitische Subjektspronomen die SpezIP-Position einnimmt und eine eventuell voranstehende Topikkonstituente an die IP adjungiert wird (cf. Adams 1987b: 206): (5)

[CP

(Xj)

t

[COMP

SKl+Vj [n> t\ (/,)]]]

.->

[(X,)

SKI V (f,)]

In einem nächsten Schritt kommt es demnach zu einer Generalisierung dieser Reanalyse, d.h. sie wird auch auf Sätze mit w/c/rt-pronominalem Subjekt übertragen. Daraus ergibt sich, daß in allen Sätzen mit einem präverbalen Subjekt das Verb nur noch nach INFL angehoben wird. Basierend auf einer Reihe theoretischer Vorannahmen fuhrt Roberts (1993) demgegenüber einige theorieinteme Argumente an, um den Verlust der Verb-Zweit-Stellung im Französischen und deren Erhalt in den skandinavischen Sprachen zu erfassen. Eines seiner Argumente basiert auf der Annahme, daß in den meisten skandinavischen Sprachen das finite Verb nicht nach INFL (bzw. nach AGR(eement) in der von Roberts benutzten Terminologie) angehoben wird, da diese Sprachen eine schwache Verbflexion aufweisen. Somit gibt es nach Roberts (1993: 152) in den skandinavischen Sprachen keine Evidenz für eine Reinterpretation von Matrixsätzen, in denen das Verb direkt nach COMP angehoben wird, da es in den Nebensätzen dieser Sprachen nicht zu einer V-nach-INFL-Bewegung kommt. Einen weiteren Grund dafür, daß das Altfranzösische - im Gegensatz zu den skandinavischen Sprachen - die Verb-nach-COMP-Bewegung verloren hat, sieht Roberts (1993: 156) darin, daß der kindliche Erstspracherwerb durch die sogenannte "Least Effort Strategy" geleitet ist. Diese Strategie besagt, daß Kinder während des Spracherwerbs versuchen, möglichst solche Strukturen zu verwenden und zu erwerben, die mental möglichst leicht zu verarbeiten sind. Roberts geht dabei davon aus, daß die in der Theorie angenommenen Bewegungsoperationen mit der mentalen Verarbeitung von Sprache korrelieren. Er nimmt also an, daß die Kinder versuchen, möglichst diejenigen Strukturen zu verwenden, die die geringste Zahl der Bewegungen (bzw. Kettenbildungen) erfordern.

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Das Problematische einer solchen Analyse ist jedoch, daß dadurch den auf der Grundlage der generativen Grammatiktheorie entwickelten Strukturen eine psychologische Realität zugestanden wird, die bisher weder nachgewiesen werden konnte noch durch die Theorie intendiert ist. Ein weiteres Problem der Analyse von Roberts betrifft auch die meisten anderen generativen Analysen des Wandels der französischen Wortstellung. Es besteht darin, daß davon ausgegangen wird, daß Reanalysen wie in (4) oder (5) nicht zur vollständigen Aufgabe der V-nachCOMP-Bewegung fuhren. Vielmehr wird angenommen, daß das Französische die Möglichkeit der Bewegung desfinitenVerbs nach COMP erst in einem dritten Schritt verloren hat, nämlich auf Grund eines Parameterwechsels, der erst mit dem Ende des Mittelfranzösischen, d.h. zu Anfang des 16. Jahrhunderts, eingetreten ist. Mit anderen Worten, das Französische ist demnach über zwei Jahrhunderte hinweg eine "optional verb second language" gewesen, d.h. eine Sprache, deren Parameterwert hinsichtlich der Basisgenerierung der Finitheits- und Kongruenzmerkmale nicht festgelegt war (Roberts 1993: 197). Dadurch wird prinzipiell die Möglichkeit eingeräumt, daß Kinder im Laufe des Spracherwerbs bestimmte Parameterwerte nicht festlegen müssen. Eine solche Annahme stellt jedoch das gesamte theoretische Konzept der Parameter und die damit verbundenen Generalisierungen und Vorhersagen für den Spracherwerb radikal in Frage und schwächt in entscheidendem Maße die Erklärungskraft der Prinzipien- und Parametertheorie für Prozesse des Spracherwerbs. Der endgültige Verlust der Verb-Zweit-Eigenschaft hängt nach Roberts (1993) mit einer Veränderung hinsichtlich der Kasuszuweisungseigenschaften zusammen. Seiner Ansicht nach besteht der Wandel darin, daß das Französische die parametrisch festgelegte Eigenschaft verliert, Nominativkasus unter Rektion zuzuweisen Dieser Parameterwechsel hat zur Folge, daß das Subjekt nicht mehr Nominativkasus erhalten kann, wenn das Verb links von ihm steht. Mit anderen Worten, das Verb kann nicht mehr nach COMP angehoben werden und von dort aus dem postverbalen Subjekt in der SpezIP-Position Kasus zuweisen, sondern es muß in einer 'Spezifizierer-Kopf-Beziehung' zum Subjekt stehen, also in INFL. Dieser Analyse zufolge kommt der Verlust der Verb-Zweit-Eigenschaft indirekt zustande, nämlich indem das Verb aus kasustheoretischen Gründen nicht mehr nach COMP angehoben werden kann. Die - allerdings von Roberts nicht explizit formulierte - Folge ist die, daß die Finitheits- und Kongruenzmerkmale im Französischen nun "endgültig" in INFL basisgeneriert sein müssen. Das Französische ist folglich zu einer Mc/rf-Verb-Zweit-Sprache geworden.

3. Sprachwandel durch Parameterwechsel? Theoretische und empirische Einwände Es ist deutlich geworden, daß der Versuch, den Verlust der französischen Verb-Zweit-Stellung durch einen Parameterwechsel zu erklären, zu nicht unerheblichen Einbußen prinzipieller Grundannahmen des Prinzipien- und Parametermodells fuhrt. Im folgenden Abschnitt wird gezeigt, daß es noch einige weitere Probleme gibt, die sowohl die theoretische Konzeption dieser Auffassung als auch deren empirische Erklärungsadäquatheit betreffen.

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3 .1. Theoretische Einwände Ein Problem der Versuche, Sprachwandelphänomene als Wandel von Parameterwerten zu erfassen, besteht darin, daß gezeigt werden muß, inwiefern es überhaupt zu einer Umfixierung von Parameterwerten kommen kann. Wie bereits gesehen, wird vielfach angenommen, daß die Reanalyse von Verb-Zweit-Sätzen im Altfranzösischen (und der spätere Parameterwechsel) unter anderem dadurch ausgelöst wird, daß in verstärktem Maße im Input der Erwachsenen SV(X)-Sätze auftreten. Abgesehen davon, daß bei dieser Annahme die Frage, wie es zu einer solchen Häufung von SV(X)-Strukturen gekommen ist, gar nicht gestellt wird, bleibt unklar, warum durch eine Zunahme von SV(X)-Strukturen im erwachsenensprachlichen Input Kinder überhaupt dazu veranlaßt werden sollten, die gesamte Satzstruktur der zu erwerbenden Sprache umzuinterpretieren. Weerman (1989: 186) weist zu Recht daraufhin, daß im Input der Kinder auch in einer Phase, in der SV(X)-Strukturen in der Mehrheit sind, weiterhin Sätze auftreten, die eindeutiger Bestandteil einer Verb-Zweit-Grammatik und mit einer IP-Interpretation nicht kompatibel sind. Die gleiche Feststellung macht auch Platzack (1995: 206): We thus have a Situation where the language learners must have experienced a certain number of sentences which unambiguously indicated the presence of verb second, and a bulk of sentences which were structurally ambiguous between a verb-second interpretation and a basic S VO interpretation. It is unclear why the language leamers should ignore these unambiguous cases in favour of a particular interpretation of the ambiguous ones.

Untersuchungen aus der Erstspracherwerbsforschung bestätigen genau diese Beobachtung (cf. Meisel 1995: 14): Die Auftretenshäufigkeit von Strukturen spielt beim Fixieren von Parametern offenbar nur eine sehr geringe Rolle. Entscheidend ist vielmehr die Tatsache, daß es eindeutige Trigger" gibt, die die Festlegung von Parametern auf einen bestimmten Wert bewirken. Mit anderen Worten, solange eindeutige Evidenz für die Fixierung auf einen bestimmten Parameterwert vorhanden ist, spielt die Tatsache keine Rolle, daß es im erwachsenensprachlichen Input gleichzeitig Daten gibt, die hinsichtlich der Parameterfixierung ambig sind (Carroll 1989, Fodor 1998). Aus dieser Beobachtung folgt, daß die Reanalyse parametrisch festgelegter Strukturen und die Umfixierung eines Parameters erst dann möglich sein können, wenn es im Input der Erwachsenen keinerlei positive Evidenz mehr gibt für das Fixieren des Parameters auf seinen ursprünglichen Wert. Erwachsene dürften daher in ihrem Sprachgebrauch keine Strukturen mehr verwenden, die eindeutige Evidenz für den von ihnen gesetzten (ursprünglichen) Parameterwert liefern. Da den Erwachsenen jedoch diese Strukturen prinzipiell zur Verfügung stehen, solange der Parameter auf dem ursprünglichen Wert fixiert ist, ist dies sehr unwahrscheinlich. Es sollte nur dann möglich sein, wenn der Parameter bereits auf den neuen Wert umgesetzt worden ist. Dies würde aber bedeuten, daß die Umfixierung eines Parameters nicht im Laufe des kindlichen Erstspracherwerbs, sondern in der Erwachsenensprache stattfindet, da andernfalls die Kinder keine eindeutige Evidenz für das Festlegen auf den neuen Parameterwert hätten. Eine Konsequenz davon wäre, daß Sprachwandel, der sich durch Parameterwechsel vollzieht, losgelöst vom kindlichen Erstspracherwerb wäre. Dies führt zu der Frage, inwiefern es überhaupt möglich ist, daß Erwachsene ihre eigene Grammatik derart ändern, daß es zu einem Parameterwechsel kommt. Auch hier geben Überlegungen und Ergebnisse aus der Spracherwerbsforschung eine Antwort (cf. Meisel 1995: 3 lff):

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Ein Umfixieren von einmal gesetzten Parametern ist sowohl aus theoretischen wie auch empirischen Gründen ausgeschlossen. Dies ergibt sich zum einen aus der theoretischen Überlegung heraus, daß die Möglichkeit eines Umfixierens dem Kind ein prinzipiell unendliches Umfixieren erlauben würde, da es keine Möglichkeit hätte zu entscheiden, an welchem Punkt es den Parameter endgültig festlegen muß (Valian 1990). Zum anderen zeigen empirische Untersuchungen deutlich, daß Kinder einmal gesetzte Parameter nicht wieder umfixieren (Clahsen 1990/91). Dies hat die Konsequenz, daß ein Kind, das einen Parameter auf einen nicht-zielsprachlichen Wert gesetzt hat, die Festlegung nicht wieder rückgängig machen kann und die Eigenschaften, die mit der zielsprachlichen Fixierung verbunden sind, im einzelnen erlernen muß (Müller 1994).

3.2. Empirische Beobachtungen Ein Blick auf die historischen Quellen des Französischen hinsichtlich der Entwicklung der Stellung des finiten Verbs zeigt, daß die Annahme eines Parameterwechsels auch aus empirischen Gründen nicht haltbar ist. Wie auch in den generativen Analysen deutlich wird, vollzieht sich die Veränderung der Verbstellung im Französischen in allmählichen Schritten über Jahrhunderte hinweg. Somit liefert die Entwicklung der Verbstellung keine empirische Evidenz für die Annahme, daß sich der Parameterwechsel plötzlich vollzogen hat und möglicherweise sogar innerhalb einer Generation abgeschlossen worden ist. Auch die Versuche, die Auslöser für den Wandel der Verbstellung in morphophonologischen oder prosodischen Änderungen zu sehen, sind in zahlreichen empirischen Untersuchungen widerlegt worden. So weist etwa Hupka (1982) nach, daß die Aufgabe des Zweikasussystems kaum Auswirkungen auf die Wortstellung des Französischen gehabt haben kann (cf. auch Schasler 1984, Martinez Moreno 1993). Die Annahme, daß die Klitisierung der Subjektspronomina die Reanalyse von SV(X)-Strukturen ausgelöst hat, erweist sich unter anderem deshalb als empirisch nicht haltbar, weil sich in den Daten des Altfranzösischen keine (wenn auch noch so kurze) Phase des alleinigen Auftretens von XSPrV-Strukturen nachweisen läßt (Vance 1995). Vielmehr scheint es so zu sein, daß es sich bei vorangestellten Subjekten in altfranzösischen Verb-Dritt-Sätzen zunächst vor allem um Nomina statt Pronomina gehandelt hat (Lemieux & Dupuis 1995: 101f.). Diese empirischen Einwände sowie die oben gemachten theoretischen Überlegungen zum Parameterwechsel deuten somit daraufhin, daß der Wandel der Stellung des finiten Verbs im Laufe der Entwicklung vom Alt- zum Neufranzösischen nicht auf die Reanalyse parametrisch festgelegter Strukturen und das Umsetzen eines Parameterwertes zurückgeführt werden kann. Im folgenden soll dies an Hand einer Auswertung von Daten des Alt- und Neufranzösischen und eines Vergleiches mit Daten des Deutschen überprüft werden. Dabei sollen dahingehend Überlegungen angestellt werden, inwiefern es möglich ist, im Rahmen eines generativen Sprachwandelmodells den Verbstellungswandel im Französischen auf adäquatere Weise zu erfassen.

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4. Die Entwicklung der Verbstellung im Französischen am Beispiel der 'Quatre livre des reis' 4.1. Bisherige Untersuchungen und Forschungsergebnisse Grundlage für die hier vorgelegte eigene empirische Untersuchung bilden die Quatre livre des reis (QLR), eine altfranzösische Übersetzung der zwei Bücher Samuels und der zwei Bücher der Könige aus dem Alten Testament. Die Übersetzung, die auf der lateinischen Vulgata-Bibel des hl. Hieronymus (= vul) basiert, liegt in mehreren Varianten vor, die offenbar in verschiedenen Regionen entstanden sind. Die erste - vermutlich in England angefertigte - Übersetzung stammt etwa aus dem Jahre 1170, die anderen Übersetzungen sind später verfaßt worden. Eine kompilierte Edition dieser Übersetzungen wurde 1911 von E R. Curtius erstellt (= qlr). Einer der Vorteile bei der Analyse dieses Textes besteht darin, daß er eine gute Grundlage für einen diachronischen und synchronischen Vergleich innerhalb des Französischen einerseits sowie mit anderen romanischen und nicht-romanischen Sprachen andererseits bildet. Die Tatsache, daß in diesen Sprachen sehr viele und immer wieder neue Bibelübersetzungen angefertigt wurden, erlaubt es, auf ein umfangreiches Datenmaterial zurückzugreifen, das auf demselben Ursprungstext basiert und der gleichen Textsorte angehört. Somit kann bei einer diachronischen Untersuchung, die sich auf den Vergleich dieser Texte stützt, weitgehend ausgeschlossen werden, daß mögliche Variationen von Unterschieden des Textinhaltes oder der Textsorte herrühren. Obwohl es sich teilweise um direkte Übersetzungen aus dem Lateinischen (oder Griechischen und/oder Hebräischen) handelt, sind diese Texte sprachlich relativ unabhängig von den Originaltexten und gehorchen weitgehend den syntaktischen Regeln der jeweiligen Sprache, in die sie übersetzt wurden (cf. Herman 1954). Dies gilt umso mehr, als die Texte größtenteils in Prosaform verfaßt sind und sich dadurch wesentlich stärker an den syntaktischen Regeln der jeweiligen Sprache orientieren als poetische Texte. Ein weiterer Vorteil der Analyse des QLR-Textes ist der, daß bereits umfangreiche linguistische Untersuchungen der QLR vorliegen, die zu Vergleichszwecken herangezogen werden können. Die fundierteste Analyse ist zweifelsohne die von Herman (1954), in der die Kapitel 7-20 des dritten Buchs der QLR (= I Könige 7-20) ausgewertet sind.6 Herman beobachtet dabei eine deutliche Dominanz der Zweitstellung des finiten Verbs, die seiner Ansicht nach weder auf rhythmische Prinzipien zurückgeführt noch durch das sogenannte "Kontaktprinzip" (HaarhofF 1936) erklärt werden kann, wonach das Verb mit seinem Komplement eine zusammenhängende Einheit bildet und demzufolge stets dann vor das Subjekt tritt, wenn das Komplement satzinitial steht. Herman (1954: 269) vermutet vielmehr, daß das finite Verb als ein Bindeglied zwischen einer beliebigen satzinitialen, betonten Konstituente und dem übrigen Teil des Satzes fungiert: Quoiqu'il en soit, le verbe se plaçait d'habitude, dès les débuts de l'ancien français, en seconde place dans la proposition, dans ce sens qu'il suivait le premier terme syntaxique, la première unité «fonctionnelle» (sujet, complément, attribut), même si cette unité était composée de plusieurs mots ou de plusieurs groupes rythmiques. Quel-

Für eine kritische Auswertung weiterer Analysen der QLR und eine umfangreiche empirische Untersuchung der ersten drei Kapitel der QLR (= I Samuel 1-3) im Vergleich mit anderen romanischen und germanischen Übersetzungen cf. Kaiser (1998).

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les que fussent les origines de cette tendance, il en est résulté qu'au verbe échut le rôle d'indiquer la relation entre un terme initial et un ou plusieurs autres termes, ce terme initial étant un terme placé sous un accent de phrase. Ce qu'on appelle l'inversion du sujet n'était qu'une conséquence secondaire de cet état de choses: dès que le premier terme était autre chose que le sujet, force était de placer le sujet après le verbe, puisque ce dernier devait se joindre au terme initial.

Hermans Analyse zeigt allerdings auch, daß diese Regel der Verb-Zweit-Stellung nicht ausnahmslos eingehalten wird. Herman konstatiert zwei Gruppen von Abweichungen. Die eine Gruppe bilden Sätze, in denen das finite Verb - meist unmittelbar hinter der Konjunktion é - in derErsfposition steht. Diese Voranstellung liegt nach Herman (1954: 277) vor allem darin begründet, daß das Verb entweder hervorgehoben wird - wie etwa in Imperativsätzen - oder einen "terme de rappel" bildet - wie bei Verben wie respundre - oder unmittelbar an den vorangehenden Satz anknüpft, was Herman zufolge bei einer sogenannten "proposition complémentaire" der Fall ist. Die zweite Gruppe der Ausnahmen bilden Sätze, in denen dem finiten Verb "deux termes accentués" (Herman 1954: 269) vorausgehen, also Sätze mit Verb-DrittStellung. Einen Großteil dieser Abweichungen von der Verb-Zweit-Stellung fuhrt Herman (1954: 271) auf die "nécessités de la rime dans les passages rimés assez fréquents du texte" zurück. In diesen Fällen steht das finite Verb meist am Ende eines Satzes oder Satzteils und bildet einen Reim mit einer oder mehreren anderen Verbformen. Diejenigen Verb-Dritt-Stellungen, die in ungereimten Passagen auftreten, versucht Herman (1954: 269f.) in Anlehnung an Haarhofif (1936) teilweise dadurch zu erklären, daß es sich bei den voranstehenden Konstituenten um "schwere Einleitungen" handle, die meist durch eine Pause vom übrigen Satz getrennt werden können: (6) (a) Én cel tens Ahiel de Bethel edeflad é relevad Jericô (qlr 1 Kö 16,34) (b) Pur çô Ii reis Asa pris/ tut l'or é l'argent (qlr 1 Kö 16,2) Einen anderen Teil der Verb-Dritt-Stellungen, die nicht auf Reimzwänge zurückgeführt werden können, illustriert Herman (1954: 270) mit folgendem Beispiel: (7) E Ii prohetes Helves par la force é la volented nostre Seignur curùt devant lu réi jesque il vint en Jezraél. (qlr 1 Kö 18,46) Hier vermutet Herman (1954: 270f ), daß die Wortstellung vom lateinischen Original beeinflußt sein könnte: Nous estimons qu'on peut voir dans ces exemples des vestiges du type SC V très courant en latin, vestiges soutenus par des facteurs d'emphase, par les intentions stylistiques de l'auteur (et çà et là, par une influence directe de l'original); [...].

Als Ergebnis der Untersuchung von Herman kann somit festgehalten werden, daß in dem untersuchten Textabschnitt eine starke Dominanz der Verb-Zweit-Stellung existiert. Dieses Stellungsmuster ist unabhängig davon, welcher Art und Funktion die einleitende Konstituente ist. Sätze, in denen mehr als eine Konstituente vor dem finiten Verb stehen, sind vorwiegend in solchen Abschnitten anzutreffen, die in Reimform gebildet sind.

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4.2. Eigene Datenanalyse Die hier vorgelegte eigene empirische Analyse umfaßt die ersten drei Kapitel des ersten Buches der QLR(= I Samuel 1-3). Als Vergleichsgrundlage dienen eine neufranzösische Übersetzung der Samuelbücher von 1994 (= nfr) und die neuhochdeutsche Bibeleinheitsübersetzung von 1980 (= nhdt). Ebenso wie die von Herman (1954) analysierten Abschnitte enthalten die hier untersuchten Kapitel der QLR etliche Stellen, die in Reimform verfaßt sind und starke Abweichungen von der üblichen Syntax aufweisen. Oft dient in diesen Sätzen das Verb selbst als Reim. Es steht dabei am Ende eines Satzteiles und nimmt - wie die Beispiele in (8) zeigen - oft die dritte oder vierte Position im Satz ein. (8)

(a) Anna puis que ele out mangied e beüd levad e al sucurs Deu requerre tut sun quer turnad (qlr I Sm 1,9) (b) E ßfiu de rechief Samuel apela, e Samuel ehalt pas leva, vint a l'evesche, si Yäreisna. (qlr I Sm 3,6)

Auf Grund dieser Abweichungen sind diese Sätze in der vorliegenden Auswertung nicht berücksichtigt. 7 Die Wortstellungsmuster der übrigen Sätze sind im Anhang im einzelnen aufgeführt und denen der beiden anderen Textkorpora gegenübergestellt. Die Ergebnisse der Auswertung der altfranzösischen Übersetzung bestätigen zunächst weitgehend die der Untersuchung Hermans. In 67,2 % aller Matrixsätze erscheint das finite Verb in der zweiten Position. Der Vergleich mit dem Neufranzösischen und dem Neuhochdeutschen zeigt, daß hier ebenfalls eine starke Dominanz von Verb-Zweit-Sätzen existiert. Eine differenzierte Betrachtung der Sätze mit Verb-Zweit-Stellung bringt allerdings einen deutlichen Unterschied zutage: Während im Deutschen der Anteil von Verb-Zweit-Sätzen, in denen das Subjekt postverbal auftritt, 26,7 % ausmacht, liegt der Anteil dieser Konstruktionen im Altfranzösischen nur bei 8,7 %. Das Altfranzösische weist also einen deutlich geringeren Anteil an Konstruktionen auf, die eindeutige Evidenz für eine Verb-Zweit-Stellung liefern. Im Neufranzösischen ist dieser Konstruktionstyp weitgehend beschränkt auf w/j-Fragesätze oder auf durch bestimmte Adverben eingeleitete Deklarativsätze. 8

Siehe vor allem Dardel (1988) ftlr eine ausführliche Diskussion der gereimten Passagen im ersten Buch der QLR (= I Samuel) und deren syntaktische Besonderheiten. Auf dieses Phänomen der X V-Stellung im modernen Französischen kann im Rahmen dieses Beitrages nicht näher eingegangen werden. Bekanntlich ist dieses Wortstellungsmuster im Neufranzösischen nicht nur auf Interrogativsätze beschränkt, sondern auch in Deklarativsätzen anzutreffen (cf. v a. Le Bidois 1952). Beispiele hierfür finden sich auch in dem hier ausgewerteten Text: (i) (a) Ainsi agissaient-ils avec tout Israël, ceux qui venaient là à Silo (nfr I Sm 2,14) (b) Jamais ne sera expié le péché de la maison dUli, ni par le sacrifice ni par 1'ofirande. (nfr I Sm 3,14) Unklar ist allerdings, welche Struktur solche Deklarativsätze haben. Für die Zweit-Stellung des finiten Verbs in neufranzösischen Interrogativsätzen ist versucht worden zu zeigen, daß es sich um das Resultat einer V-nachCOMP-Bewegung handelt. Strittig ist hier, ob diese Bewegung in allen Interrogativsätzen mit Subjekt-Verb-Inversion Anwendungfindetund ob sie unabhängig von einer historischen Phase der Verb-Zweit-Stellung erklärt werden kann (cf. Kaiser 1996).

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Ein weiterer Unterschied zwischen der neuhochdeutschen und der altfranzösischen Übersetzung betrifft die Sätze mit Verb-Erst-Stellung. Anders als im Deutschen ist diese Stellung im Altfranzösischen nicht nur auf durch eine koordinierende Konjunktion eingeleitete Deklarativsätze beschränkt, in denen das Subjekt ausgelassen ist. Bekanntlich war das Altfranzösische eine Null-Subjekt-Sprache, die auch die Subjektsauslassung in nicht-koordinierten Deklarativsätzen erlaubte. Die Verb-Erst-Stellung in diesen Sätzen im Altfranzösischen resultiert daher zum großen Teil aus der Auslassung des Subjektspronomens. Lediglich in sieben der nicht-koordinierten Deklarativsätze mit Verb-Erst-Stellung tritt ein postverbales Subjekt auf. In den meisten dieser Fälle ist das Verb entweder ein verbum dicendi oder ein ergativisches Verb: (9) (a) Respundi Ii evesches: (qlr I Sm 3,7) (b) E vint la parole Samuel par tute la terre de Israel (qlr I Sm 3,21) Der einzige neufranzösische Beleg für diese Art von Konstruktion enthält ebenfalls ein Ergativverb: (10) Vint le jour oú Elqana sacrifiait. (nfr I Sm 1,4) Auch hinsichtlich der Sätze, in denen dem finiten Verb mehr als eine Konstituente voransteht, zeigen sich Unterschiede zwischen den drei untersuchten Texten. Obwohl die Sätze, die in Reimform stehen, nicht berücksichtigt worden sind, gibt es im Altfranzösischen immerhin 15 Sätze (6,6 %) mit einer Verb-Dritt-Stellung: (11) (a) é la parole Deu rélment fud óíé (qlr I Sm 3,1) (b) É Samuel á sun lit returna (qlr I Sm 3,9) Im neufranzösischen Text ist demgegenüber eine leichte Zunahme solcher Konstruktionen zu verzeichnen. Im Deutschen hingegen sind Verb-Dritt-Matrixsätze äußerst selten. Wie die beiden einzigen Verb-Dritt-Sätze des deutschen Korpus illustrieren, ist die Verb-Dritt-Stellung in deutschen Matrixsätzen - anders als im Alt- und Neufranzösischen - auf die Fälle beschränkt, in denen ein vorangehender mit wenn eingeleiteter Nebensatz durch ein Adverb noch einmal aufgegriffen wird:9 (12) (a) Herr der Heere, wenn du das Elend deiner Magd wirklich ansiehst, wenn du an mich denkst und deine Magd nicht vergißt und deiner Magd einen männlichen Nachkommen schenkst, dann will ich ihn für sein ganzes Leben dem Herrn überlassen; (nhdt I Sm 1,11) (b) Wenn er dich (wieder) ruft, dann antworte, (nhdt I Sm 3,9) Der Vergleich der Verb-Stellung in den drei untersuchten Texten kann somit folgendermaßen zusammengefaßt werden: Der altfranzösische Text enthält einige Belege für die für eine VerbNach Ansicht von Iatridou & Kroch (1992: 14) stellen diese Sätze einen der wenigen Fälle dar, in denen im Deutschen eine CP-Rekursion, d.h. die Adjunktion einer weiteren CP an die CP, erlaubt ist.

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Zweit-Sprache typische XV-Wortstellung. Die Anzahl der Sätze, die diese Wortstellung aufweisen, ist im Altfranzösischen zwar wesentlich geringer als im Deutschen. Entscheidend ist jedoch die Tatsache, daß die XV-Stellung in nahezu allen Kontexten möglich und weitgehend unabhängig von der Art und syntaktischen Funktion der satzinitialen Konstituente ist. Der Vergleich mit der neufranzösischen Bibelübersetzung macht deutlich, daß hier ein Wandel stattgefunden hat. Die XV-Stellung ist im Neufranzösischen nicht nur seltener, sondern auch auf wenige spezifische Kontexte beschränkt und abhängig von der Art der satzinitialen Konstituente. Der Anteil an Sätzen mit Verb-Dritt- oder Verb-Viert-Stellung ist im neufranzösischen Text hingegen wesentlich höher als im altfranzösischen. Bemerkenswert ist jedoch die Tatsache, daß es in der altfranzösischen Übersetzung Belege flir diese Wortstellungsmuster gibt und daß diese - anders als im Deutschen - nicht auf einen bestimmten Konstruktionstyp beschränkt sind. Auffallend ist außerdem noch der relativ hohe Anteil an nicht-koordinierten Deklarativsätzen mit Verb-Erst-Stellung im altfranzösischen Text. Er ist vor allem auf die Null-Subjekt-Eigenschaft des Altfranzösischen zurückzufuhren.

5. Ein Lösungsansatz Die hier vorgelegte empirische Auswertung stimmt somit mit den bisherigen empirischen Untersuchungen überein, die zeigen, daß das Französische die flir Verb-Zweit-Sprachen typischen XV-Konstruktionen weitgehend verloren hat. Damit scheint sich einmal mehr die These der generativen Analysen zu bestätigen, wonach sich das Französische von einer Verb-Zweit-Sprache zu einer Nicht-Verb-Zweit-Sprache gewandelt und damit einen Parameterwechsel bzgl. der Basisgenerierung der Finitheits- und Kongruenzmerkmale erfahren hat. Die obige Diskussion hat jedoch deutlich gemacht, daß diese Analyse des Wandels der Stellung des finiten Verbs im Französischen mit einer Reihe theoretischer und empirischer Probleme verbunden ist. Insbesondere ist die Annahme problematisch, daß dieser Wandel auf eine Reanalyse von Strukturen zurückzufuhren ist, die parametrisch festgelegt sind. Eine adäquatere Analyse für diesen Wandel könnte demnach darin bestehen, das Altfranzösische (und das Mittelfranzösische) als eine Sprache zu erfassen, die nicht durch die obligatorische Bewegung des finiten Verb nach INFL und COMP gekennzeichnet ist, sondern in der das finite Verb nur nach INFL angehoben wird, weil dort ebenso wie im Neufranzösischen die Finitheits- und Kongruenzmerkmale basisgeneriert sind. Diese Analyse des Alt- und Mittelfranzösischen ist keineswegs neu. Sie ist unter anderem von Côté (1995), Lemieux & Dupuis (1995) und Fontana (1997) aus unterschiedlichen Gründen vorgeschlagen worden. Ein Argument fur diese Analyse basiert auf der Beobachtung, daß im Alt- und vor allem Mittelfranzösischen nicht nur in Matrixsätzen, sondern auch in eingeleiteten Nebensätzen Verb-Zweit-Effekte zu beobachten sind. Damit weist es große Ähnlichkeiten zum Jiddischen und Isländischen auf. Diese beiden Sprachen werden als 'symmetrische' Verb-Zweit-Sprachen bezeichnet, da es in diesen Sprachen keine komplementäre Distribution zwischen Verb-Zweit-Effekten und dem Auftreten von Komplementierern gibt. Für das Jiddische ist aus diesem Grund vorgeschlagen worden, daß das finite

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Verb in Matrix- und in Nebensätzen stets nur nach INFL bewegt wird (Diesing 1990).10 Die Konsequenz dieser Analyse ist die, daß die SpezIP-Position nicht nur als Landeposition für Subjekte, sondern für Topikkonstituenten jeglicher Art dient, d.h. daß die SpezIP-Position sowohl als A- als auch A'-Position fungiert. Überträgt man diese Analyse des Jiddischen auf das Alt- bzw. Mittelfranzösische, folgt daraus, daß das Französische im Laufe seiner Entwicklung keine Änderung hinsichtlich der Verbbewegung erfahren hat, da sich die parametrische Festlegung der Basisgenerierung der Finitheits- und Kongruenzmerkmale nicht geändert hat. Die einzige Änderung, die eingetreten ist, betrifft den Status der SpezIP-Position. Im Alt- und Mittelfranzösischen hatte diese Position nicht nur den Status einer A-Position, sondern auch einer A'-Position. Letzterer ist im Neufranzösischen offenbar weitgehend verloren gegangen. Neueren Analysen des modernen Französischen zufolge ist dies allerdings keineswegs unumstritten. Hulk (1993) stellt in ihrer Untersuchung neufranzösischer Interrogativsätze die These auf, daß die SpezIP-Position im modernen Französischen typische Charakteristika einer A'-Position aufweist. Ihrer Ansicht nach handelt es sich hierbei um ein "Überbleibsel" aus dem Mittelfranzösischen (cf. auch Hulk & Kemenade 1995). Auch Untersuchungen des Erstspracherwerbs des Französischen belegen, daß Kinder erst lernen müssen, welchen Status die SpezIP hat. Fehler, die bei einigen Kindern im Verlauf des Erwerbs des Französischen zu beobachten sind, deuten daraufhin, daß sie die SpezIP-Position zunächst als A'-Position und damit als Landeposition für w/z-Elemente bzw. topikalisierte Elemente verwenden (cf. Müller 1994, Hulk 1996). Es gibt also Evidenzen dafür, daß die SpezIP-Position auch im modernen Französischen noch als A'-Position fungiert. Der diachronische Wandel, d.h. die Reanalyse dieser Position, scheint sich nur in sehr langsamen Schritten zu vollziehen. Im Spracherwerb muß der Status dieser Position offenbar mühsam erlernt werden. Diese Beobachtungen deuten daraufhin, daß der Status der SpezIP-Position - anders als die Basisgenerierung der Finitheits- und Kongruenzmerkmale - nicht parametrisch festgelegt ist. Mit anderen Worten, der Wandel des Status der SpezIP-Position im Französischen resultiert nicht aus der Reanalyse parametrisch festgelegter Eigenschaften und ist daher nicht das Ergebnis eines Parameterwechsel. Ein entscheidender Vorteil dieser Analyse besteht darin, daß sie der Tatsache gerecht wird, daß bereits im Altfranzösischen Verb-Dritt-Strukturen möglich waren. Auch wenn viele Sätze dieser Art auf Reimzwänge zurückgeführt werden können, besaß die Sprache auch in der Prosa die Möglichkeit des Auftretens dieser Wortstellungsmuster. Eine Analyse, die das Alt- bzw. Mittelfranzösische als eine Verb-Zweit-Sprache analysiert, in der das Verb nach COMP bewegt werden muß, kann dies nicht erklären. Der Vergleich mit dem Deutschen macht dies deutlich: Verb-Dritt-Strukturen sind hier i.d.R. ungrammatisch und nur auf einige spezifische Kontexte beschränkt. Dieser Tatsache wird die theoretische Grundannahme gerecht, wonach Adjunktionen an eine CP nur auf diese wenigen Kontexte beschränkt sind. Adjunktionen an eine EP hingegen unterliegen solchen Beschränkungen nicht. Eine Analyse, die altfranzösische Matrixsätze als IPs beschreibt, kann daher die Verb-Dritt-Strukturen als Adjunktion an eine IP erfassen. Unter der Annahme jedoch, daß in altfranzösischen Matrixsätzen stets eine Bewegung nach COMP stattfindet, muß die Hypothese aufgestellt werden, daß Verb-Dritt-Strukturen im Laufe

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Zu den Besonderheiten des Isländischen und den Unterschieden zum Jiddischen cf. Santorini (1994).

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d e s Mittelfranzösischen von den Kindern als IP-Strukturen reanalysiert wurden. Dabei bleibt v o l l k o m m e n ungeklärt, w i e diese Verb-Dritt-Strukturen, die die Reanalyse auslösten, in der Grammatik der Erwachsenen überhaupt gebildet werden konnten. 11 Der Wandel im Französischen scheint folglich lediglich darin zu bestehen, daß die SpezIPPosition in zunehmendem Maße nur noch Subjekten vorbehalten ist, da der Status dieser Position reanalysiert wurde. Möglicher Auslöser für diese Reanalyse könnte sein, daß Adverbien oder topikalisierte Elemente vorwiegend an die IP adjungiert werden, statt nach SpezIP angehoben zu werden. Entscheidend ist für diese Annahme der Reanalyse, daß dadurch keine parametrisch festgelegten Strukturen betroffen sind. Die Änderung solcher Strukturen erfordert o f fenbar weitaus radikalere Restrukturierungsprozesse, w i e sie möglicherweise im Falle der Kreolisierung zu beobachten sind.

6. Literatur 6.1. Primärliteratur Biblia Sacra. Iuxta vulgatam versionem. Tomus I. Genesis-Psalmi. Adiuvantibus B. Fischer, I. Gribomont, H.F.D. Sparks, W. Thiele. Recensuit et brevi apparata instruxit R. Weber. - Stuttgart: Württembergische Bibelanstalt, 1969 (=vul). Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Hrsg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Österreichs, der Schweiz, des Bischofs von Lüttich, des Bischofs von Bozen. - Freiburg: Herder, 1980 (= nhdt). Caquot, André / Robert, Philippe de ( 1994): Les livres de Samuel. Commentaire de l'ancien testament VI. - Genève: Labor et Fides (= nfr). Li quatre livre des reis. Die Bücher Samuelis und der Könige in einer französischen Bearbeitung des 12. Jahrhunderts. Nach der ältesten Handschrift unter Benutzung der neu aufgefundenen Handschriften. Hrsg. v. E.R. Curtius. - Dresden: Gesellschaft filr romanische Literatur, 1911 (= qlr).

6.2. Sekundärliteratur Abraham, Werner (1992/93): "Grammatikalisierung und Reanalyse: Einander ausschließende oder ergänzende Begriffe?" - In: Folia Linguistica 13,7-26. Adams, Marianne (1987a): "From Old French to the Theory of pro-drop". - In: Natural Language and Linguistic Theory 5, 1-32. (1987b): Old French, Null Subjects, and Verb Second Phenomena. - Ann Arbor: UMI Dissertation Services (= Ph.D. Diss. Los Angeles). (1988): "Les effets V2 en ancien et en moyen français". - In: Revue québécoise de linguistique théorique et appliquée 7,13-39.

Als ebensowenig überzeugend erweist sich die bereits erwähnte Annahme von Herman (1954), wonach VerbDritt-Strukturen in den QLR darauf zurückzuführen sind, daß sich der französische Übersetzer hier am Lateinischen orientierte, während er ansonsten eine sehr eigenständige, vom Original unabhängige Sprache verwendete. Ein Vergleich mit dem lateinischen Original der in (11) aufgeführten Sätze zeigt, daß zumindest hier die lateinische Vorlage nicht Auslöser für die Verb-Dritt-Stellung gewesen sein kann: (i) (a) et sermo Domini erat pretiosus Cvul I Sm 3.11 (b) abiit ergo Samuhel et dormivit in loco suo (vul I Sm 3,9)

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Anhang: I Samuel 1 - 1 Samuel 3: Finite Matrixsätze

altfranz&sisch (qlr)

VI Deklarativsatz

normal koordiniert u. elliptisch

Imperativsatz

neufranzösisch (nfr)

24 22

1 19

37

14

15

16

Optativ / Exklamativ Interrogativsatz

1

Satzfrage Wi-Frage

V(X)

Subj. = 0

V S(ubj.-)N(omen) V S 'Vorbestimmung' o.ä. > 'Zukunft' offenbar vereinbar. Zwar gibt es genügend Beispiele für Futurformen, die auf Quellen wie 'need', "be proper' und 'ought' zurückgehen, doch ist eine frühere Obligationsbedeutung nicht für alle Possessionsausdrücke mit Futurbedeutung eindeutig nachweisbar, so daß Bybee/Perkins/Pagliuca (1994: 263) - wohlgemerkt nicht zuletzt aufgrund der Darstellung Benvenistes für das Lateinische/Romanische - zu dem Schluß kommen: We are suggesting, then, that constructions with Tje' or 'have' auxiliaries may have a sense of predestination which can evolve directly into prediction, without necessarily going through a stage in which they express obligation. If this is so, then 'obligation path' falls short of an accurate characterization - in the case of possession (for Romance, Buriat, and Chepang) and, probably, for at least some futures with sources in constructions with "be1. (Bybee/Perkins/Pagliuca 1994: 262)6

Wenn sich das romanische synthetische Futur über einen obligativen Ausdruck entwickelt hat, also nicht wesentlich anders, als es fiir die sonstigen HABERE-Periphrasen mit einiger Berechtigung anzunehmen ist, bleibt der Einwand, daß im Romanischen nirgends eine eindeutige agensorientierte Bedeutung belegt zu sein scheint, auch in den Sprachen nicht, wo die Bildung noch zumindest eine Zeitlang (solange HABERE Vollverb war) transparent blieb und wo noch bis in die Neuzeit (Spanisch) bzw. bis heute (Portugiesisch) klitische Pronomen zwischen HABERE und dem Vollverb eingefügt werden konnten/können. Doch kann dies seinen Grund darin haben, daß agensorientierte Ausdrücke deutlich zu analytischen Formen tendieren (cf. Bybee/Pagliuca/Perkins 1991: 24), und das sind im Romanischen normalerweise solche mit vorangestelltem Periphraseverb. Interessanterweise verhalten sich die iberoromanischen Ausdrücke mit präpositionslos vorangestelltem HABERE semantisch wie die präpositionalen Periphrasen, d.h., sie können eindeutig agensorientierte Bedeutung haben (cf Rojo 1974. 96, Yllera 1980: 100;7 die Situation in den anderen Varietäten müßte im einzelnen untersucht werden), was allerdings auch auf Interferenz mit den präpositionalen Ausdrücken zurückzuführen sein könnte. Aufjeden Fall ließe sich auch auf diese Weise, und nicht nur durch die Annahme einer alternativen Entwicklung, die semantische Distanz erklären, die für Benveniste zwischen je travaillerai und j'ai ä travailler besteht.

Ziemlich eindeutig scheint ein Pfad 'Besitz' > 'Obligation' > 'Futur' in den Kru-Sprachen nachzuweisen zu sein (Marchese 1986: 138-141). Marchese zieht dabei eine Parallele zu den romanischen Sprachen (S. 138-139). Allerdings nimmt Strausbaugh (1936: 24) bei der aspan. /ia6er-Periphrase ohne Präposition eine stärker ausgeprägte futurische Bedeutung an als bei den Periphrasen mit a und de.

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2. 'Obligation' > 'Futur' Der Pfad 'Obligation' > 'Futur' ist universell gesehen ein geläufiger Entwicklungsweg. Ein Zusammenhang zwischen den beiden Bedeutungen wird bei vielen der präpositionalen Periphrasen erkennbar, beispielsweise bei denen des Typs HABERE DE, die sich auf der iberischen Halbinsel entwickelt haben. Dazu gehören: a. sp. haber de + Infinitiv: Im modernen gesprochenen Spanisch ist diese Periphrase selten, sowohl in obligativer als auch in futurischer Verwendung (cf. Gómez Torrego 1988: 76). Gómez Torrego fuhrt dies im ersteren Fall auf die Konkurrenz des /r-Futurs, im letzteren auf die der te«er-Periphrasen zurück. Im Altspanischen steht haber de neben haber a und präpositionslosem haber. Strausbaugh (1936:24) setzt auch hier sowohl obligative als auch futurische Bedeutung an, unterscheidet aber in der Gewichtung zwischen den Ausdrücken mit und ohne Präposition: All three of them express necessity, but the more usual sense oíauer plus infinitive is that of simple futurity, while auer a and auer de express necessity more often than not. Even in the prepositional construction, the instances in which there is a máximum of futurity and a minimum of necessity are easy to find.

Yllera (1980: 100) ordnet dagegen allen drei Konstruktionen die gleiche Bedeutung zu ("unos mismos valores derivados del concepto general de necesidad u obligación que puede atenuarse hasta presentar un valor esencialmente temporal"). Für beide Autoren ist jedenfalls die obligative Bedeutung die primäre, die futurische eine davon abgeleitete. Die Futurbedeutung von haber de muß imfrühneuzeitlichenSpanisch gut ausgeprägt gewesen sein, denn wie das Ergebnis einer Untersuchung von Sáez Godoy (1968) zeigt, macht die Periphrase in Texten von Cervantes und Lope de Vega noch einen Anteil von 17-18 % aller futurischen Ausdrücke (synthetisches Futur, haber de-Futur, /r-Futur und Präsens) aus; dieser reduzierte sich bis ins moderne Spanisch auf 1 %. Demnach wurde die Entwicklung der obligativen Periphrase zu einem Futur nach dem Siglo de oro, vielleicht durch die Konkurrenz der //--Periphrase, wieder weitgehend rückgängig gemacht. Bybee/Perkins/Pagliuca (1994: 263) halten es bei haber de + Infinitiv auch für denkbar, daß sich obligative und futurische Bedeutung auf zwei verschiedenen Entwicklungswegen aus der gemeinsamen Possessionsbedeutung entwickelten. Für diese Annahme bietet die Überlieferung allerdings keine verbindlichen Anhaltspunkte. In Anbetracht der Situation im Altspanischen scheint es auch kaum möglich, die Futurbedeutungen im frühen Neuspanisch etwa darauf zurückzuführen, daß sich neben der Obligationsperiphrase eine unabhängige Futurperiphrase entwickelt hatte. b. ptg. haver de + Infinitiv: Im heutigen (europäischen) Portugiesisch ist die Periphrase noch geläufig, und zwar sowohl in obligativer als auch in futurischer bzw. intentionaler Bedeutung. Die Distribution erfolgt im großen und ganzen nach der Person: In der 1. Person im Aussagesatz drückt haver de eine feste Absicht aus (Hei-de trabalhar ntuito amanha) aus, in der 2. eine Obligation (Hás-de dizer-me o quefixesteontem) (Vázquez Cuesta/Luz 1980: 429). In der 3. Person liegt wiederum eine nicht-obligative Bedeutung ("Sicherheit [des Sprechers]/bzw. seine feste Annahme, daß etwas geschieht", Hundertmark-Santos Martins 1982: 341) vor.

Lateinische und romanische Periphrasen mit 'haben' und Infinitiv

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c. gal. haber de + Infinitiv: Im modernen Galicisch ist die haber-Periphrase mit und ohne Präposition sowohl in der gesprochenen wie in der geschriebenen Sprache weit verbreitet (Rojo 1974: 94). Rojo (ibid.: 95) betrachtet die Periphrase mit de als Variante der präpositionslosen. Beide können obligative Bedeutung haben, werden jedoch auch umfassend in futurischer Bedeutung verwendet. Für Rojo ist es eindeutig, daß sich die temporale Periphrase aus der modalen ableitet und damit die gleiche Entwicklung genommen hat wie das synthetische Futur: Mediante la expresión de la obligación, referida por su mismo carácter al futuro, se llega a la simple expresión del futuro, en la que ya no existen matices obligativos. Este proceso es general a todas las combinaciones de haber y un infinitivo, con o sin preposición, antepuesto o pospuesto el auxiliar. (Rojo 1974: 93)

Daß hier, anders als etwa bei Benveniste für das Französische, keine Zweifel an dem Zusammenhang zwischen 'Obligation' und 'Futur' auftauchen, ist angesichts der Situation im Galicischen, wo cantaréi, hei cantar, hei a cantar und hei de cantar nebeneinanderstehen und bis auf das synthetische Futur alle sowohl Obligation als auch Nachzeitigkeit ausdrücken können, nicht verwunderlich. Wie man sieht, ist das Galicische in der Entwicklung 'Obligation' > 'Futur' am weitesten fortgeschritten bzw. hat bereits eingeleitete Entwicklungen nicht rückgängig gemacht. Rojo erwähnt keine Einschränkungen bezüglich der Person und fuhrt (S. 95-96) auch Belege in der 2. Person an, bei denen aber meiner Meinung nach eine obligative Bedeutung nicht ausgeschlossen ist. Daß die Abgrenzung zwischen den beiden Bedeutungen nicht eindeutig ist, hebt er mehrmals (z.B. S. 95) selbst hervor. Wenn man die Situation im Portugiesischen als eine Art Zwischenstufe betrachtet, wird die Verbindung zwischen 'Obligation' und 'Futur' am ehesten in einem Zwischenglied 'feste Absicht' zu suchen sein; die feste Absicht ist auf den Sprecher selbst bezogen und ergibt sich aus der Verpflichtung. Dies läßt sich auch in einer Reihe von anderen Sprachen feststellen, so z.B. im Englischen, wo shall, bezeichnenderweise nur in der 1. Person, vom ursprünglichen Obligationsmarker zum Futurmarker geworden ist. Especially infirstperson, a Statement of Obligation such as I have to go now or predestination as in I am to go now strongly implies that the speaker intends to leave soon. (Bybee/Perkins/Pagliuca 1994: 264)8

Die Sicherheit, daß das, zu dem man verpflichtet ist, auch ausgeführt wird, kann uneingeschränkt nur für die Person des Sprechers gelten. In der 2. Person ist die obligative Bedeutung dagegen relativ resistent. Bezüglich der 3. Person kann offenbar sowohl eine relative Sicherheit über die Ausführung zum Ausdruck gebracht werden als auch, wie unten zu sehen sein wird, eine Vermutung. Wenn das synthetische Futur nach diesem Muster aus einer obligativen Periphrase entstanden ist, stellt sich die Frage, ob man die imperativische und die konjekturale Bedeutung (s.u.), die sich in romanischen Sprachen finden, direkt auf die obligative Bedeutung zurückfuhren kann oder ob sich zunächst ein "neutrales" Futurparadigma bildete, aus dem diese Bedeutungen neu

Coseriu (1957: 16) nimmt an, daß im Romanischen das Christentum ein entscheidender Faktor für die Entstehung der futurischen Bedeutung aus der obligativen war: "no es el futuro 'exterior' e indiferente, sino el futuro 'interior', encarado con consciente responsabilidad, como intención y obligación moral".

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abgeleitet wurden. Hinsichtlich des französischen "Heischefiiturs" ist dies schon bei Lerch (1919: 51-54) diskutiert worden; seine alternative Deutung der lateinischen HABERE-Periphrase hat vor allem den Grund, eine solche Beziehung zu widerlegen. Letztendlich kann auch hier kein verbindliches Urteil gefällt werden. Es läßt sich nur soviel sagen, daß die imperativische, sprecherorientierte Verwendung eines Futurs keineswegs auf eine agensorientierte Vorform zurückgeführt werden muß, sondern sich direkt aus einer Futurform gleich welcher Herkunft ergeben kann (cf. Bybee/Perkins/Pagliuca 1994: 210-211).

3. 'Obligation' > 'Vermutung' Daß obligative Ausdrücke unterschiedlichster Herkunft eine konjekturale Lesart haben, ist ein weit verbreitetes Phänomen (cf. Sweetser 1990: 49). Im Spanischen beispielsweise sind beide Bedeutungen möglich bei haber de und tener que, aber auch bei deber bzw. deber de:9

z.B. sp.

Ha de llegar vs. Ha de estar en casa Tiene que llegar vs. Tiene que estar en casa Debe (de) llegar vs. De be de estar en casa

Es handelt sich hier nicht um eine Entwicklung im chronologischen Sinn, sondern obligative und konjekturale Bedeutung bestehen gleichzeitig nebeneinander, mehr oder weniger in komplementärer Verteilung. Eigentliche Grammatikalisierungspfade 'Obligation' > 'Vermutung' (oder gar umgekehrt) scheinen nicht bekannt zu sein. Die Beziehung zwischen beiden Lesarten wird oft als metaphorisch bezeichnet, als ein Übergang von einer deontischen in eine epistemische Welt (z.B. "from the domain of social obligations and physical necessities applied to an agent, to the epistemic domain that speaks of the necessary conditions under which a proposition can be true", Bybee/Perkins/Pagliuca 1994: 201202). Für die meisten Autoren bedeutet dies, daß die Verpflichtung, die sich bei der agensorientierten Modalität auf ein Agens bzw. eine Handlung bezieht, in der epistemischen Modalität in irgendeiner Form auf die Proposition, z.B. auf deren Wahrheitswert bezogen wird.10 Für Heine/Claudi/Hünnemeyer (1991: 175-178) handelt es sich um einen Übergang von einer "dynamischen" Welt der deontischen Modalität in eine "statische" Welt der epistemischen Modalität. Sie sehen darin eine Form von "PERSON-to-OBJECT"-Metapher, wobei die deontische Modalität die Welt von Handelnden und Handlungen repräsentiert, die epistemische eine Welt ohne notwendige Anwesenheit einer menschlichen Kategorie. Den Übergang von einer Kategorie zur anderen klassifizieren sie als eine Grammatikalisierung, die vom Konkreten zum Abstrakten fuhrt. Diese Analyse wird sowohl für must als auch für das konjekturale Futur vorgenommen.

10

Das frz. avoir ä + Infinitiv dagegen kann, im Gegensatz zu devoir, keine epistemische Lesart haben, ebensowenig wie dt. haben zu + Infinitiv. Einen Oberblick über verschiedene derartige Ansätze gibt Heine (1995: 37-41).

Lateinische und romanische Periphrasen mit 'haben' und Infinitiv

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Wenn man die Unterscheidung zwischen Handlungs- und Propositionsebene zugrundelegt, kann man die Semantik der 'müssen'-Ausdrücke folgendermaßen beschreiben: Sie muß nach Hause gehen. = Es muß sein, daß sie nach Hause geht. Sie muß (jetzt) zu Hause sein. = Es muß sein, daß "sie ist zu Hause" zutrifft. Daß bei Sätzen dieser Art ein Zusammenhang zwischen Obligation und Aktivität einerseits, zwischen Vermutung und Stativität andererseits besteht, ist offensichtlich. Allerdings kann dieser kaum so einfach sein, wie Heine/Claudi/Hünnemeyer, für die "deontisch" gleich "dynamisch" und "epistemisch" gleich "statisch" ist, ihn darstellen, schon allein deshalb nicht, weil die komplementäre Verteilung, die bei den 'müssen'-Ausdrücken festzustellen ist, nicht fur andere modalisierende Elemente gilt (cf. a. Vielleicht geht sie nach Hause / b. Vielleicht ist sie zu Hause, nach den Definitionen von Heine/Claudi/Hünnemeyer wäre a. deontisch, b. epistemisch).

'Zukunft' > 'Vermutung' Daß Verbformen, die primär Nachzeitigkeit ausdrücken, auf die Gegenwart bezogene konjekturale Bedeutung haben können, kommt wiederum in verschiedenen Sprachen vor. In der Romania ist der konjekturale Gebrauch des synthetischen Futurs sehr unterschiedlich ausgeprägt: Im Spanischen z.B. ist er sehr häufig und weitgehend, im Französischen dagegen sehr reduziert, und zwar bereits seit dem Beginn der Überlieferung (cf. Rohlfs 1922: 133-134). Das Französische kennt eine konjekturale Bedeutung des futur simple nur bei den Verben être und avoir. Die Sätze folgen weitgehend demselben Schema, bei dem die Aussage im Futur (häufig ce sera) einen Kommentar zu einer vorher getroffenen Feststellung oder Frage darstellt, z.B. Pour qui donc a-t-on sonné la cloche des morts? Ah! mon Dieu, ce sera pour Mme Rousseau (Grevisse 1980: 843). Wagner/Pinchon (1991: 376) sprechen deshalb von futur d'explication. Das Spanische kennt keine derartigen syntaktischen Restriktionen, und die konjekturale Bedeutung ist grundsätzlich mit allen Verben möglich, soweit die relative Stativität der epistemischen Konstruktionen (s.u.) dies zuläßt (cf. Cartagena 1981: 93). Für diesen Unterschied könnte verantwortlich sein, daß im Spanischen mit haber de eine primär obligative Parallelform besteht, deren konjekturale Lesart das synthetische Futur beeinflußt haben könnte. Rohlfs ( 1922: 131) vermutet eine konjekturale Bedeutung bereits bei der lat. habere-Periphrase und äußert deshalb die Vermutung, daß "das romanische Futurum als t e m p o r a l e r Verbalbegriff letzten Endes auf einen p o t e n t i a l e n Gedanken" zurückgehen könnte (ibid.), daß also eine Entwicklung 'Vermutung' > 'Zukunft' vorliegen könnte. Rohlfs verweist dabei auf italienische Dialekte, die nur einen konjekturalen, keinen temporalen Gebrauch des Futurs kennen.11 Dagegen spricht u.a., daß im Französischen schon seit Beginn der Überlieferung (cf. die Straßburger Eide) eine temporale, und zwar wohl eine ausschließlich temporale Bedeutung 11

Eine entsprechende Erklärung fllr das Deutsche wird von Saltveit (1962: 23 -29) propagiert. Seiner Auffassung nach entwickelte sich die Futurbedeutung der werden-Formen aus einer konjekturalen; auch Saltveit verweist auf Dialekte, die nur die modale Verwendung kennen.

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vorliegt und daß im Spanischen die konjekturale Verwendung seit dem 17. Jahrhundert immer stärker zugenommen hat (cf. Sáez Godoy 1968). Zudem wäre die Entwicklung 'Vermutung' > "Futur" ein Grammatikalisierungspfad, der sonst offenbar nicht belegt ist. Es ist also erheblich naheliegender, die konjekturale Bedeutung von der temporalen abzuleiten. Die verbreitetste Erklärung für diesen Prozeß, sowohl für das Spanische als auch für das Deutsche (cf. Cartagena 1981: 383; Saltveit 1962: 24-25), ist, daß die dem Futur innewohnende Unsicherheit auf die Gegenwart übertragen werde. Nach anderer Auffassung entsteht die modale Bedeutung aus der nachzeitigen: So heißt es bei Andrés Bello (zitiert bei Cartagena 1981: 384385): "La relación de posterioridad se emplea metafóricamente para significar la consecuencia lógica, la probabilidad, la conjetura". Auch Bybee/Perkins/Pagliuca (1994: 202) leiten die modale Bedeutung aus der temporalen ab: Ein Futur, das das Stadium der Vorhersage (prediction) erreicht hat, könne auch Vorhersagen über die Gegenwart machen, woraus ein Ausdruck der Wahrscheinlichkeit folge. Aus Sicht der Logik ist es plausibel, daß dem (nachzeitigen) Futur eine Komponente 'Unsicherheit', Möglichkeit' zugeordnet wird, denn es ist klar, daß über zukünftige Ereignisse keine so sicheren Aussagen gemacht werden können wie über Vergangenes oder Gegenwärtiges. Doch ist diese Feststellung nicht ohne weiteres für die Sprache gültig: Ein Sprecher kann auch die Zukunft als sicher charakterisieren, was er vor allem tut, soweit es seine eigene Person betrifft. Auch für die 3. Person kann eine nachzeitige Aussage ausdrücklich als sicher hingestellt werden (Lyons 1977: 815 bringt das Beispiel / krtow that it will rain tomorrow). Die Verwendung des Futurs allein reicht weder in der 1. noch in der 3. Person aus, um eine spezielle Unsicherheit bezüglich der zukünftigen Handlung auszudrücken: Sie wird morgen anwesend sein muß durch bestimmt oder vielleicht ergänzt werden, um die Sicherheit oder Unsicherheit des Sprechers auszudrücken. Eine epistemische Bedeutung ist, wie ich meine, im nachzeitigen Futur kaum deutlich genug angelegt, um als Grundlage für die präsentische konjekturale Bedeutung zu dienen. Neben der Unsicherheit des Futurs kommt die Nachzeitigkeit als Grundlage für eine konjekturale Bedeutung in Betracht. Die nachzeitige Bedeutung kann in Sätzen mit konjekturaler Verwendung noch erkennbar sein. Wenn als Reaktion auf das Klingeln an der Tür geäußert wird Das wird Marie sein (cf. Bybee/Perkins/Pagliuca 1994: 202; Fleischman 1982: 90-91), kann impliziert werden: 'wenn ich hingehe, werde ich feststellen können, daß es Marie ist'. Der Mechanismus dieses Prozesses kann analog zu den obligativen Ausdrücken beschrieben werden, d.h. mit einer Unterscheidung zwischen Handlungs- und Propositionsebene. Der Sachverhalt ist präsentisch ('Marie ist jetzt an der Tür'), aber die Verifikation der Proposition wird in die Zukunft verlegt ('es wird sein, daß "Marie ist an der Tür" zutrifft'). D.h., die Futurform bezieht sich hier, ähnlich wie 'müssen' in konjekturaler Bedeutung, nicht direkt auf die Verifizierung des Sachverhalts, sondern auf die Verifizierung der Proposition, die dadurch zu einer An nähme wird.12 Beim nachzeitigen Futur bezieht sich dagegen die Verifizierung auf den Sachver-

Schrott (1997: 296) spricht bei ihrer Analyse des konjekturalen Futurs von "verschobener Verifizierbarkeit", meint damit aber etwas anderes: "Versprachlichen Futura nun Sachverhalte, denen der Kontext eine vergangene oder präsentische Referenz zuweist, dann wird durch diese Diskrepanz der Zeitreferenzen die Futurität metaphorisch zum Wert der verschobenen Verifizierbarkeit umgedeutet".

Lateinische und romanische Periphrasen mit 'haben' und Infinitiv

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halt selbst : Marie wird morgen zu Besuch kommen = 'es ist wahr, daß Marie morgen zu Besuch kommen wird'. Diese Verwendung des Futurs setzt voraus, daß überhaupt eine Distanz zwischen dem Sachverhalt und seiner Verifizierung bestehen kann; sie entspricht im Normalfall auch einer räumlichen Distanz: Die 3. Person, auf die konjekturale Futurformen mit Präsensbezug fast ausschließlich bezogen werden, ist nicht präsent. Eine auffallende Eigenschaft des epistemischen Futurs ist seine Tendenz, statische Sachverhalte auszudrücken, entweder statische präsentische (Sie wird krank sein) oder resultative (Sie wird krank geworden sein). Schrott (1997: 302) fuhrt dies darauf zurück, daß "mit lexikalischen Mitteln die Anterior-Semantik desfutur antérieur" nachgebildet werde, was mit meiner Analyse kaum in Übereinstimmung zu bringen ist und auch keine Erklärung für das identische Verhalten der Obligationsausdrücke sein kann. Die Erklärung von Heine/Claudi/Hünnemeyer (1991: 178) wäre der generell statische Charakter der epistemischen Modalität. Da die epistemische Modalität üblicherweise mit den Wahrheitswerten von Propositionen befaßt ist (der Zusammenhang zwischen Wahrheitswerten von Propositionen' und 'Statik' wird von den Autoren allerdings nicht näher erläutert), könnte man die Vermutung aufstellen, daß statische Bedeutungen überall dort dominieren, wo nicht Sachverhalte, sondern Propositionen verifiziert werden. Dies bleibt genauer zu untersuchen. Was die Beziehung zwischen den obligativen und den nachzeitigen Ausdrücken betrifft, so handelt es sich, wenn meine Analyse zutrifft, um ähnliche Mechanismen, insofern als sich die gemeinsame Bedeutung 'Vermutung' aus einer Übertragung von der Handlungs- auf die Propositionsebene ergibt, wobei aber in dem einen Fall eine agensorientierte Modalität zugrundeliegt, in dem anderen eine rein temporale Beziehung besteht. Der Bedeutungsunterschied zwischen Satzpaaren wie Seron las tres/Tienen que ser las très läßt sich so beschreiben, daß die Vermutung im zweiten Fall als zwingender empfunden wird als im ersten.

5. Schluß Die Entwicklung der romanischen 'haben'-Ausdrücke läßt sich nach dem bisher Gesagten folgendermaßen vorstellen: Aus einem Ausdruck für Besitz' entwickelt sich durch Reanalyse ein Obligationsausdruck. Dieses Entwicklungsstadium repräsentieren beispielsweise frz. avoir ä + Infinitiv und die iberoromanischen TENERE-Periphrasen. Es handelt sich dabei vermutlich um relativ junge Entwicklungen, wie die altfranzösischen Belege einerseits, die Verwendung von TENERE als Hilfsverb andererseits nahelegen. Die Obligationsausdrücke können, vorrangig in der 3. Person, eine konjekturale Bedeutung haben. Diese besteht z.B. bei sp. tener que + Infinitiv, nicht aber bei frz. avoir ä + Infinitiv, was möglicherweise mit einem unterschiedlichen Grad der Grammatikalisierung zusammenhängen könnte.13

13

Frz. avoir à + Infinitiv kann wohl als eine relativ schwach grammatikalisierte Form betrachtet werden; cf. Grevisse (1993: 1195): "Avoir à + infinitif 'devoir' n'a peut-être pas tous les caractères du semi-auxiliaire, mais avoir y est assez éloigné de son sens primaire"

108

Barbara

Schäfer-Prieß

Aus dem Obligationsausdruck kann sich über eine Stufe 'feste Absicht' in der 1. Person ein Futur entwickeln, wie es oben an iberoromanischen HABERE DE-Ausdrücken gezeigt wurde. 14 Die agensorientierte Bedeutung ist nirgendwo ganz aufgegeben worden; besonders in der 2. Person scheint sie immer präsent zu sein. Dies ist ein entscheidender Unterschied zum synthetischen Futur, bei dem die sprecherorientierte obligative Bedeutung des Imperativs eher direkt aus dem Futur abzuleiten ist. Wie die obligativen Periphrasen können auch Futurformen eine epistemische Lesart haben. Ich habe vorgeschlagen, in beiden Fällen eine Übertragung der Verifikation von der Handlungs- auf die Propositionsebene anzunehmen, die zu ähnlichen, aber wegen der unterschiedlichen Grundlagen (Obligation und Nachzeitigkeit) nicht völlig identischen Bedeutungen fuhrt. Wenn das synthetische Futur auf die bisher beschriebene Weise aus einem Obligationsausdruck entstanden ist, muß die nachzeitige Bedeutung auf das gesamte Paradigma ausgedehnt worden sein, während gleichzeitig die agensorientierte Bedeutung verlorenging. Daß diese Entwicklung ausschließlich bei dem Typus CANTARE HABEO stattfand, läßt sich damit erklären, daß das nachgestellte HABERE nicht mehr als Periphraseverb aufgefaßt wurde und es zu einer - einzelsprachlich unterschiedlich stark ausgeprägten - Synthetisierung kam, denn agensorientierte Formen kommen ansonsten im Romanischen nur als Periphrasen vor (was als Tendenz auch übereinzelsprachlich gilt). Zur Chronologie wäre soviel zu bemerken: Das synthetische Futur und eventuell einige präpositionale HABERE-Periphrasen sind die ältesten und erwartungsgemäß am stärksten grammatikalisierten Ausdrücke. Bei den präpositionalen HABERE-Ausdrücken muß im Einzelfall entschieden werden, ob sie auf eine lateinische Basis zurückgehen oder später neu grammatikalisiert wurden. Um eine besondere Form von Neugrammatikalisierung handelt es sich bei den iberoromanischen TENERE-Ausdrücken mit ihrer abweichenden materiellen Grundlage. Doch um hierzu Genaueres sagen zu können, müßte die Entwicklung jeder einzelnen Periphrase, besonders unter Berücksichtigung von Analogien und Interferenzen, im Detail untersucht werden.

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14

Eine futurische Bedeutung (fiitur intentionnet) soll laut Gougenheim (1929: 205) auch bei afrz. avoir ä + Infinitiv möglich gewesen sein; leider werden keine Beispiele dafür angeführt. Gömez Torrego (1988: 82) setzt für sp. tener que + Infinitiv eine intentionale Bedeutung an in Sätzen wie Tengo que contaros la ultima noticia.

Lateinische und romanische Periphrasen mit 'haben' und Infinitiv

109

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Thomas Krefeld

(München)

Agens mit Leib und Seele. Zur Grammatikalisierung romanischer Adverbbildungen1

1. Eine diffuse Kategorie Wer auch immer den Sack aufschnürt, auf den die traditionelle Grammatik das Etikett 'Adverb' genäht hat,2 dem hüpfen so verschiedenartige Flöhe entgegen, daß er kaum mehr imstande sein dürfte, sie durch einen einzigen Begriff wieder einzufangen und zu hüten: Das sog. Adverb ist - mit anderen Worten - sicherlich keine Wortart wie Verb, Substantiv oder Adjektiv. Adverbien sind in semantischer, in morphologischer und syntaktischer Hinsicht so außerordentlich heterogen, daß sich eigentlich überhaupt die Frage nach der kategorialen Basis der zahlreichen unter diesem Terminus subsumierten Lexeme stellt.3 In semantischer Hinsicht sind Adverbien genauso heterogen wie alle anderen Wortklassen; sie können grundsätzlich alle möglichen Bedeutungen ausdrücken; eine besondere Affinität besteht zu den Begriffsbereichen 'Quantität', 'Modalität', 'Intensität', 'Temporalität' und 'Lokalität'. Da die historischen Einzelsprachen in diesen Dimensionen oft sehr komplexe grammatische Kategorien ausgebildet haben (Modi, Tempora, Steigerung etc.), werden auch Adverbien gerade hier gelegentlich funktionalisiert (so z.B. in der romanischen Steigerung). In morphologischer Hinsicht lassen sich die primären, stammhaften Adverbien (lat. diu, frz. lä, it. bene etc.) von den sekundären, abgeleiteten Adverbien unterscheiden. Die indogermanischen Sprachen kennen ja spezielle adverbiale Derivationsprogramme, und im folgenden wird es eben um die Entstehung einiger romanischer Verfahren der Abverbbildung gehen. Die gemeinsame kategoriale Basis aller als Adverbien klassifizierten Einheiten beruht jedoch weder auf der heterogenen Semantik noch auf den beiden morphologischen Optionen, sondern vielmehr auf der Syntax. Wegen der außerordentlich unterschiedlichen syntaktischen Eigenschaften der einzelnen Adverbien ist dieses gemeinsame Fundament jedoch nicht sehr solide. Ganz unabhängig vom zugrundegelegten Syntaxmodell läßt sich konstatieren, daß Adverbien auf sehr verschiedenen syntaktischen Hierarchiestufen eingesetzt werden können. Die Dependenzgrammatik arbeitet in der Regel mit vier hierarchischen Ebenen, die ich in Anlehnung an Tesniere als 'Konnexionsebenen' bezeichne; dazu das folgende Schema:

2 3

Mein Dank gilt den Sektionsteilnehmern, allen voran Angela Schrott (Bochum), filr zahlreiche fruchtbare Hinweise und Anregungen. Zur grammatikographischen Tradition vgl. Robins (1966). Zur Heterogenität der Kategorie vgl. Feuillet (1981), Geckeier (1993) und Guimier (1991 a).

112

Thomas Krefeld

Abbildung 1: Die vier syntaktischen Konnexionsebenen und ihre Hierarchie

Konnexionsebene 1

Konnexionsebene 2 Konnexionsebene 3 Konnexionsebene 4

Verb

modale Satzadverbiale

Aktanten Zirkumstanten | ("Verbattribute") Attribute I Attribute der Attribute

Adverbien können grundsätzlich auf den Ebenen 2 (vgl. etwa frz. //joue bien / lat. litteras tuas valde expecto (Catull)) und 4 (vgl. etwa frz. c'est une fiUe bien intelligente / lat. valde magnus (Cicero), valde optimus (Plinius); G II 3352) aktualisiert werden,4 einzelsprachlich, z.B. im Französischen, treten sie gelegentlich auch auf Ebene 3 auf (une femme bien). Es verfugen jedoch nicht alle Adverbien über alle syntaktischen Möglichkeiten. Bei Adverbien auf Ebene 2 ist ferner zu unterscheiden, ob sie sich nur auf das Verb, auf das Verb und manche oder alle seiner Aktanten ('Aktanz') oder auf die Gesamtprädikation (natürlich inklusive des Verbs) beziehen.5 Schließlich gibt es die häufig als 'modales Satzadverbial' bezeichnete Funktion (z.B. it. Sfortunatamente non e venuta), die syntaktisch schwer definierbare Relation dieser Satzglieder zum Verb-Aktanz-Zirkumstanz-Komplex - sie gehören zum plan du dit (vgl. Kotschi 1991: 129) - manifestiert sich z.B. in ihrer intonatorischen Absetzbarkeit (z.B. Non e venuta, sfortunatamente).

5

Eine in sich schlüssige Erklärung für diese doppelte syntaktische Option hat Gustave Guillaume vorgeschlagen. In seiner Sicht operieren Adverbien niemals über einzelnen Kategorien, sondern stets über Relationen mehrerer einzelner Kategorien, also etwa über einer Subjekt-Prädikat-Relation oder über einer Substantiv-Attribut-Relation. Sie konstituieren gewissermaßen syntaktische Relationen zweiten Grades ("incidences externes de second degré"). Mit derfllrdie Dependenzgrammatik grundlegenden Konzeption der Verbzentralität läßt sich diese Anschauung freilich nicht vereinbaren. Vielmehr setzt sie eine kategoriale Opposition zwischen Substantiv einerseits und Verb/Adjektiv andererseits voraus. Laut Guillaume verfügen sowohl Verb als auch Adjektiv ebenfalls ausschließlich über ein relationales, jedoch über ein fundamental-relationales Potential ("incidence externe de premier degré"), das sich stets auf die - gleichsam selbstgenügsamen - nicht relationalen Substantive richtet, die sich durch die Fähigkeit zu "incidence inteme" auszeichnen; vgl. zu Guillaume die sehr klare Zusammenfassung in Guimier (1991a: 31 ff). Vgl. den traditionellen Begriff des Satzadverb(ial)s, mit dem auch noch Pinkster ( 1988: 4f.) operiert. Die neueren Subklassifikationen der Kategorie Adverb sind Legion und können hier nicht annähernd vorgestellt, geschweige denn diskutiert werden: Die auch in der Romanistik stark rezipierte Arbeit von Greenbaum (1969) differenziert aus nicht-dependenzieller Sicht zwischen satzbezogenen ('disjuncts'), satzteilbezogenen ('adjuncts') und transphrastischen ('conjuncts') Adverbien (vgl. die Klassifikationstests in Pecoraro/Pisacane 1984); Gii ( 1995) faßt 'disjuncts' und 'conjuncts' zu 'Textadverbialen' zusammen; vgl. zur Klassifikation auch Lonzi ( 1991 ). Von Interesse ist der Vorschlag Guimiers (1991b), zwischen 'intra-prädikativen' (aktantenunabhängigen) und 'extra-prädikativen' (aktantenbezogenen) Adverbien zu unterscheiden; bemerkenswert ist vor allem seine detaillierte und differenzierte Analyse der subjektorientierten extra-prädikativen Adverbien (z.B. Anxieusement, la jeune mère regardait sa petite fille jouer près de l'eau). Der Ausdruck adverbe de sujet ist jedoch insofern irreführend, als auch diese subjektorientierten Adverbien die Existenz eines Verbs im selben Syntagma voraussetzen: *Quelle mère anxieusement.

Agens mit Leib und Seele

113

2. Polymorphie des Adverbs im Lateinischen Um nun die historische Eigenart der im Romanischen grammatikalisierten Adverbbildungen zu erfassen, ist es zunächst unabdingbar, einen Blick auf das Lateinische zu werfen, wo die skizzierte difiuse Konstitution unserer traditionellen Wortart durch eine geradezu unübersichtliche Polymorphie der adverbialen Derivationsprogramme besonders ausgeprägt ist. Hauptsächlich die folgenden Typen werden hier gewöhnlich unterschieden:6 1. Adverbien auf -e(d), selten auf -o der o-Adjektive; formal handelt es sich bei dieser Gruppe, in die auch idg. Instrumentalformen auf -ed, -od eingeflossen sind, um alte Ablative; vgl. recte, cito, certo, profecto. 2. Adverbien auf-ter, sie werden im Klat. von Adjektiven der 3. Dekl., im Alat. auch von solchen der 2. Deklination abgeleitet. Nach Leumann ist der Ursprung dieser Bildungen in der isolierten Form aliter zu sehen, nach der zunächst durch Kontamination mit pari modo die Form pariter (< par[i modo + al]iter), dann semantisch ähnliches similiter und schließlich semantisch beliebige Adverbien wie ampliter, duriter, largiter, breviter gebildet wurden.7 Mit diesem Suffix werden auch Adverbien aus Präpositionen abgeleitet: propter, praeter, inter, circiter. 3. Adverbien auf -tus; Belege für dieses seltene Programm sind divinitus 'von/durch Gott',y«wditus 'gründlich, von Grund auf. 4. Adverbien auf -tim; "die ältesten Bildungen sind adverbial erstarrte Akk. Sing, von ti- Abstrakten" (Leumann 1963: 300); vgl. partim, statim, olim, tributim, ordinatim etc.; es handelt sich also ursprünglich um desubstantivische Ableitungen. 5. Adverbiale Verwendung von Adjektivformen des Nom. Neutrum bzw. des Mask. Akk. (s.o. -im), multum, tantum, quantum, plurimum, die -wi-Form des Komparativs. 6. Manche stammhafte Adverbien zeigen ferner formale Analogien in Gestalt des "adverbialen -s" (plus, magis). Aus der Übersicht geht hervor, daß auch in das Paradigma der lateinischen Adverbialformen bereits zahlreiche Grammatikalisierungen eingegangen sind. Die Unübersichtlichkeit der einschlägigen Prozesse, die hier nicht kommentiert werden kann, zeigt schon ein Blick auf die zugrundeliegenden Kasusformen.8 Der Ablativ (Typ 1) ist geradezu erwartbar, denn er besitzt im Klat. eine hohe Frequenz in der "Peripherie" (Pinkster 1988: 64), d.h. im Bereich der Zirkumstanten. Für den Akkusativ (Typen 4 und 5), einen typischen Aktantenkasus, gilt dies jedoch gerade nicht, und der Nominativ (Typen 3 und eventuell 2) gehört ohnehin per definitionem zum Kern der Proposition. Der Genitiv ("der typische Kasus auf Wortgruppenniveau"; Pinkster 1988: 63) hat sich - erstaunlicherweise - in keiner Grammatikalisierung niedergeschlagen.

6 7

8

Vgl. vor allem Karlsson (1981: 17-43) sowie Leumann I (1963: 299f.); Kühner/Stegmann I (1955: 792ff). Die aus kognitiver Sicht plausible Erklärung des Suffixes aus einer Grammatikalisierung von lat. iter 'Weg', die bereits Osthoff vorgeschlagen hatte (breviter < breve iter; longiter < longum iter), wird von Leumann kategorisch abgelehnt Parallelen bietet durchaus nicht nur der dt. Typ kurzwegs, geradewegs; in der Italoromania finden sich analoge Ansätze zur Grammatikalisierung von via, so im Venezianischen von Rovigo, für das Rohlfs etwa a la vilana via 'villanamente' belegt (Rohlfs 1969: § 888,245). Vgl. zur Distribution der lateinischen Kasus das informative Kapitel 5 in Pinkster (1988: besonders 63ff. und 70£f.).

114

Thomas Krefeld

Keinem der genannten morphologischen Bildungstypen läßt sich ein semantisches Muster zuordnen. Im nachhinein erscheint es (wenigstens dem Linguisten) zwar plausibel, daß z.B. multum und tantum gerade Akkusativformen zeigen, da sie sich in Verbindung mit mehrwertigen Verben ohne Schwierigkeit als Objekt interpretieren lassen (alius quantum biberit, tantum edit, Plinius zit. in GI, 2336). Freilich ist diese Erklärung schon bei den Adverbien auf -im (statim, olim), die ebenfalls formale Analogie zum Akkusativ zeigen, alles andere als offensichtlich.9 Im übrigen begegnet auch multum schon seit frühester Zeit in Verbindung mit einwertigen Verben (vale multum 'leb recht wohl1, salve multum 'sei herzlich gegrüßt'; Plautus zit. in G II, 1047). Womöglich handelt es sich doch nur um mehr oder weniger kontingente und durchweg semantisch unsystematische Analogiebildungen. Allenfalls zeichnen sich insofern vage morphologische Regularitäten ab, als die beiden Typen auf -e und -iter ausschließlich deadjektivisch funktionieren und dabei jeweils an eine Deklinationsklasse gebunden sind (-e-Adverbien aus o-Adjektiven und -(^/er-Adverbien aus Adjektiven der 3., im Alat. auch der 2. Deklination; Leumann 1963: 299). In semantischer Hinsicht lassen sich noch am ehesten im Bereich der primären Adverbien systemhafte "Einsprengsel" feststellen, die auch im Signifikanten gekennzeichnet sind. Anthropologisch interessant ist das subtile, sprecherrollen-, d.h. kommunikationsbezogene System der Lokaladverbien mit drei sog. "Nähegraden" und 'hin'/'her'-Deixis.10 Um die Kategorie des Adverbs im Lateinischen zu resümieren, bietet es sich an, auf die von Lehmann zusammengestellten Kriterien der Grammatikalität zurückzugreifen. Lehmann unterscheidet im einzelnen sechs solcher Kriterien, die sich aus einer Kreuzklassifikation der Parameter 'weight', 'cohesion', 'variability' mit den Parametern 'syntagmatic' und 'paradigmatic' ergeben: Abb. 2: Grammatikalisierungsparameter nach Lehmann ( 1 9 9 5 : 1 2 3 )

paradigmatic

syntagmatic

weight

integrity

structural scope

cohesion

paradigmaticity

bondedness

variability

paradigmatic variability

syntagmatic variability

Jedes der sechs resultierenden Kriterien kann nun auf mehr oder weniger stark/schwach grammatikalisierte Weise in Erscheinung treten:

10

Leumann (1963: 300) sieht den Ursprung in Konstruktionen wie cursim cursam, statim stant signa (beide aus Plautus) etc. Dieses System läßt sich folgendermaßen schematisieren: - 1. Pers.: hic/hac 'hier', hinc (< *him + ce) 'von dieser Stelle aus', huc 'hierher'; zeitlich gebraucht werden hic 'hierauf, alsdann' und hac 'bis jetzt'; hinc 'von jetzt an' und huc werden anscheinend nicht zeitlich verwendet; - 2. Pers.: istic 'dort bei dir', istinc (< *istim + ce) 'von dir her', istuc 'zu dir hin'; nicht zeitlich; - 3. Pers.: illic/illac 'dort', Mine (< *illim + ce) 'von dort her', illuc 'dorthin'; nicht zeitlich. Dieses ebenso raffinierte wie konsequente Teilsystem ist auf dem Weg zum Romanischen aufgegeben worden; die 'hin'/'her'-Deixis ist spurlos verloren gegangen, und die Nähegrade wurden bekanntlich weithin auf zwei reduziert.

115

Agens mit Leib und Seele

Abb. 3: Korrelation der Grammatikalisierungsparameter nach Lehmann (1995:164) parameter

weak grammaticalization

process

strong grammaticalization

integrity

bundle of semantic features; possibly polysyllabic

attrition -

few semantic features oligoor monosegmental

paradigmaticity

item participates loosely in seman- paradigmaticization tic fields

small, tightly integrated paradigm

paradigmatic variability

free choice of items according to communicative intentions

obligatorification -

choice systematically constrained, use largely obligatory

structural scope

item relates to constituent of arbitrary complexity

condensation -

item modifies word or stem

bonded ness

item is independently juxtaposed

coalescence -

item is affix or even phonological feature of carrier

syntagma tic variability

item can be shifted around freely

fixation -

item occupies fixed slot

Wenn wir nun diesen Raster auf die Kategorie des Adverbs im Lateinischen projizieren, so ergibt sich ein vergleichsweise konsistentes Bild. Im Lateinischen stehen etliche Marker zur Markierung der Adverbialfunktionen zur Verfugung, die sich in bezug auf fünf der sechs Kriterien als maximal grammatikalisiert erweisen; aus der Reihe fällt lediglich die 'paradigmatic variability', da auch morphologisch nicht gekennzeichnete Adjektive nicht selten in der sonst für Adverbien typischen Distribution begegnen (Hofmann/Szantyr 1965: 170; Pinkster 1988: 233-236). Die Tatsache, daß diese grammatikalisierten Ableitungsprogramme im Romanischen nun ausnahmslos geschwunden sind, kann angesichts ihrer äußerst geringen Transparenz und vor allem vor dem Hintergrund des tiefgreifenden, auf analytische Organisation ausgerichteten typologischen Wandels keineswegs überraschen. Kontinuität findet sich lediglich im Bereich der primären Adverbien." Bemerkenswert ist es freilich, daß in der Westromania sowie in Mittelitalien ein neuer synthetischer Typ der Adverbbildung entsteht. Gemeint sind die Adverbien auf -ment(e), deren Bildungsweise seit je ein beliebter Gegenstand der historischen romanischen Sprachwissenschaft ist (vgl. Lausberg 1972: 99-103, Karlsson 1981, Geckeier 1995). Vor allem ist die morphosyntaktisch eigentlich gar nicht naheliegende Tatsache (vgl. unten) hervorzuheben, daß sich mit diesem neuen romanischen Typ wiederum ein genau dem Lateinischen entsprechendes Adverb grammatikalisiert, das sowohl auf der zweiten wie auf der vierten Konnexionsebene aktualisiert werden kann (vgl. z.B.: il dort vraiment und un lac vraimentprofond).

11

A b e r selbst so hochfrequente Lexeme wie lat. bene oder iam sind nicht panromanisch erhalten; bene fehlt in Süditalien und iam im Rum.; vgl. REW 1 0 2 8 , 4 5 7 2 .

116

Thomas Krefeld

3. Die geistige Dimension der Agentivität - und die Adverbien auf -ment(e) Zirkumstanzielle Verwendung von mente + Adjektiv begegnet schon in der klat. Literatur: furiata/simulata/percussa/tota mente (Vergil); secura... mente (CIL I 1732), sana mente (Cicero).12 Alla fine (ma non prima del secolo V), mente e divenuto un mero e meccanico espediente awerbiale. (Rohlfs III 1969: § 888, 244)

Die Komposition bleibt allerdings zunächst noch durchsichtig, so daß bei der Koordination von zwei Adjektiven nur eines mit -mente markiert werden muß; zu diesem Konstruktionstyp, der sich im Spanischen und Portugiesischen erhalten hat, vgl. den folgenden Beleg aus dem Novellino. - villana ed aspramente (Rohlfs ebd.). Schließlich kann -mente auch an andere Wortarten angeschlossen werden; vgl. die folgenden inzwischen wieder verschwundenen Beispiel (nach Rohlfs ebd.): seguentemente, seguitamente (Partizip); medesimamente, stessissimamente (Pronomen), lunghessamente (Pronomen). Sogar primäre Adverbien können redundant gekennzeichnet werden: insiememente, quasimente. Vor allem manifestiert sich die Generalisierung des Suffixes in frz. comment, anordit. comente, wo selbst die durchsichtige Adverbbildung von lat. quomodo (vgl. die dt. Entsprechung auf -weise) aufgelöst und ersetzt wird. Von den nicht auf primären Adjektiven basierten Bildungen ist lediglich die (semantisch motivierte) denominale Ableitung von Eigennamen bedingt produktiv (machiavellicamente, platonicamente).13 Da sich der Übergang von der freien syntaktischen Fügung zum Affix in historischer Zeit vollzieht und dementsprechend recht gut belegbar ist, gehören die -mente-Adverbien auch zu den bevorzugten Beispielen der Grammatikalisierungsforschung. Wie oft verfuhrt jedoch auch in diesem Fall die recht gute romanistische Ausgangslage dazu, sich mit einer allzu skizzenhaften Darstellung zu begnügen. In der Regel haben die romanischen Beispiele lediglich die Aufgabe, vorgefertigte Theorien zu dekorieren. Das heuristisch wertvolle, korrektive Potential, das eine detailliertere Auseinandersetzung mit dem romanischen Material freisetzt, wird in der nicht im engeren Sinn romanistischen Forschung dabei in der Regel nicht erkannt (geschweige denn genutzt). Dazu zwei Beispiele. Elizabeth Closs Traugott und Paul A. Hopper behandeln die rom. Adverbien in einem Kapitel, das sich mit 'clause-internal morphological changes' befaßt, als charakteristisches Beispiel einer 'morphologization':

12 13

Alle Beispiele aus Leumann (1963: 299); eine exhaustive Liste gibt Karlsson (1981: 135-148). Vgl. Pecoraro/Pisacane (1984); zu den Restriktionen im Italienischen Schwarze (1988: 526).

Agens mit Leib und Seele

117

The history of the French suffix -ment is a straightforward instance of grammaticalization: a new grammatical formative has come into existence out of a formerly autonomous word. It has done so in a familiar manner, by ousting its competitors such as modo 'manner', guise 'way, fashion' (specialization), and by forming a progressively closer grammatical relationship with the adjective stem. Semantically, too, the Latin word mente 'mind + ablative case' has lost its restriction to psychological states. The once independent lexical item mente has progressed all the way down the cline that leads to affixation to a stem. An affix such as French -ment which was once an independent word and has become a bound morpheme is said to be morphologized, and its historical lexical source (in this case, Latin mente) is said to have undergone morphologization. (Traugott/Hopper 1993: 130ff.)

Das ausfuhrliche Zitat macht deutlich, daß die beiden Autoren stillschweigend die Konstanz der betroffenen grammatischen Kategorie voraussetzen; die Kategorie Adverb sei, offenbar ohne sich qualitativ zu ändern, um ein neues Formativ bereichert worden. Differenzierter ist die Sicht von Christian Lehmann (1995: 20), der bei der Rekonstruktion von Grammatikalisierungsprozessen grundsätzlich zwischen 'innovation' und 'renovation' unterscheidet. Angewandt auf Adverbien heißt das: 1. Eine lat. Konstruktion des Typs clara mente wird einerseits grammatikalisiert zu it. chiaramente usw.; d.h., das it. Adverb setzt zwar die lat. Konstruktion fort, die lat. Fügung wird jedoch "in den Dienst" einer unabhängig von ihr bestehenden morpho-syntaktischen (grammatischen) Kategorie gestellt. Lehmann notiert diesen innovativen Vorgang folgendermaßen: lat. clara mente > it. chiaramente. 2. Gleichzeitig ersetzt it. chiaramente jedoch das lat. clare in der Funktion, 'modifier' eines verbalen 'head' zu sein. Diesen renovativen Vorgang notiert Lehmann: lat. clare fr it. chiaramente. Dabei ist es wichtig daraufhinzuweisen, daß Innovation und Renovation für Lehmann durchaus keine ganz starre Dichotomie bilden; vor allem im Blick auf die Renovation unterstreicht er die Tatsache, daß die jüngere Lösung die ältere durchaus nicht immer unmittelbar ersetzt, sondern daß mit Koexistenz und funktionaler Komplementarität beider Lösungen zu rechnen ist: As long as such a situation obtains, the two categories tend to be functionally non-identical, so that we have two categories where we formerly only had one. So far this is not really a conservative change. Conservatism asserts itself only when the old construction falls out of use and the new one takes over its function (and possibly its morphosyntactic form). So what is conservative about renovation is not the particular situation brought about by the introduction of the renovative periphrastic construction, but rather the reentering of a grammaticalization channel which, if run through, will lead to a result maximally similar to the situation which had obtained formerly. (Lehmann 1995:21)

Im Unterschied zu Traugott/Hopper impliziert Lehmann also keineswegs kategoriale Konstanz; vielmehr ist - gerade bei weitgehender funktionaler Äquivalenz von ersetzter und grammatikalisierter Form - mit der Wiedereinführung ('reentering') der jeweiligen Kategorie zu rechnen.

118

Thomas

Krefeld

Der erste Schritt der Grammatikalisierungsforschung muß, mit anderen Worten, in einer Klärung der kategorialen Grundlagen bestehen. Die Ausgangsfragen lauten also: • Entsteht im Zuge der Grammatikalisierung eine neue Kategorie (Lehmann nennt als Beispiel zu Recht den romanischen Artikel)? • Wird im Zuge der Grammatikalisierung eine bereits bestehende Kategorie modifiziert (wie etwa durch Entstehung des periphrastischen, ursprünglich wohl modalen Futurs)? • Wird die modifizierte Kategorie u.U. wieder restituiert (wie das Futur im Romanischen durch Synthetisierung des ehemals periphrastischen Typs und Wegfall des alten synthetischen Futurs klassisch-lateinischen Typs)? Diesen ersten Schritt (die Bestimmung des kategorialen Status) überschlagen nun sowohl Lehmann als auch Traugott/Hopper; sie überschlagen ihn wahrscheinlich deshalb, weil in beiden Modellen die Semantik des grammatikalisierten Elements bei der Beschreibung des Grammatikalisierungsprozesses ausgeblendet wird (vgl. oben, Abb. 2 und 3). Die Bedingungen der romanischen Adverbbildung auf -mente können deshalb nicht angemessen erfaßt werden: • Die Skizze von Traugott/Hopper bleibt defizitär, insofern die Autoren auf jegliche Erklärung verzichten, die plausibel machen würde, warum ausgerechnet mente und nicht einer der genannten Konkurrenten {modo, guise u.a.) grammatikalisiert worden ist. • Die Skizze von Lehmann ist in diesem Punkt offensichtlich historisch widersprüchlich, denn er erklärt die Selektion von mente aus dem zugrundeliegenden Ablativ.14 Abgesehen davon, daß auch der Konkurrent modo (den Lehmann nicht erwähnt) eine Ablativform repräsentiert, ist die Periphrase in einem Zeitraum grammatikalisiert worden, als die betroffene Varietät des Lateinischen sicherlich überhaupt keinen funktionierenden Ablativ mehr kannte. Vielmehr sollte man davon ausgehen, daß die Voraussetzung für die Grammatikalisierung von mente primär in der Bedeutung des zugrundeliegenden Substantivs und nicht in seiner ablativischen Konstruktion zu suchen ist.15 Ausgehend von der Bedeutung des Ausgangslexems mens, mentis erschließt sich der Weg der Grammatikalisierung. In syntaktisch freier, durch die Lexembedeutung motivierter Fügung setzt mente einen menschlichen Agens voraus. Das Lexem expliziert ja gerade eine Eigenschaft des prototypischen Agens: seine Intentionalität. Ausgangsort der Grammatikalisierung kann also nur die Verwendung als Zirkumstant eines Verbs, gewissermaßen als "Verbalattribut", aber nicht als Attribut eines Attributs sein (vgl. Abb. 1); genauer gesagt kommt nur die Verwendung als Zirkumstant eines Verbs in Frage, dessen Erstaktant auf eine Person referiert. Die Relationalität des Adverbs wird also in diesem Fall durchaus vom verbalen Regens, nämlich durch eine spezifische Aktanzbeziehung (zwischen

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Vgl. Lehmann (1995: 87f ): "Vulgar Latin x-menle meant 'in an x-sense', and Proto-Germanic x-lfko meant 'with an x-appearance'. Both of these nouns were in the ablative. What is interesting about these evolutions for our purposes is that the relationality which the resulting adverbs possess as adverbs is based on the ablative of the underlying nouns". In der Semantik von mente setzen auch schon die Erklärungsversuche von Voßler, Karlsson, Lausberg und Geckeier an; vgl. den Überblick in Geckeier (1995: 63-69).

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Verb und Erstaktanten) vorgegeben. 16 Die mente-Formen sind deshalb ursprünglich gewissermaßen "Aktanzattribute",17 die auf eine Konnexion zwischen Verb und agentivischem Aktant orientiert sind. Hierin liegt der fundamentale Unterschied zu den prädikativen Adjektiven, die sich ausschließlich auf Aktanten des Kopulaverbs (und eben nicht auf die Relation Aktant-Kopulaverb) beziehen. E s ist also zunächst ein dem Lateinischen unbekannter, semantisch motivierter Adverbtyp entstanden; erst auf dieser durchaus innovativen Grundlage ist im Verlauf fortschreitender Grammatikalisierung der dem Lateinischen entsprechende, von der Verbsemantik unabhängige Adverbtyp restituiert worden. Diese Restitution ist nicht gerade selbstverständlich, da über die prädikativen Adjektive bereits im Klat. die morpho-syntaktische Möglichkeit einer Verb-Adjektiv-Verbindung bestand. Diese Lösung hätte ja - wie in Süditalien und im Rumänischen geschehen18 - generalisiert werden können. In der Restitution des Adverbs zeigt sich auf sehr augenfällige Weise der verb- und vor allem satzsemantisch grundlegende Unterschied zwischen Kopulaverben auf der einen und "Vollverben" auf der anderen Seite. Offensichtlich ganz unabhängig von der Verbsemantik ist dagegen die letzte Etappe der Grammatikalisierung erfolgt, nämlich die Möglichkeit, ment(e) -Adverbien auf der Konnexionsebene 4 als "Attribut von Attributen" zu aktualisieren (vgl. etwa frz. extraordinairementplat). Die Adverbialform dürfte hier nurmehr die rein syntaktische Funktion haben, die Dependenzrelation zu markieren (und somit die koordinierende Interpretation zweier Adjektive auszuschließen).

4. Die körperliche Dimension der Agentivität - und die Adverbien auf -oni Der zweite Typ der Adverbialbildung, der hier diskutiert wird, kennzeichnet das Italienische, in geringerem Maß auch das Französische. Als Marker fungieren im Italienischen -oni (mit der Variante -one), z.B. in it. tastoni 'tastend', und im Fanzösischen -ons, z.B. in à tâtons. Die wenigen einschlägigen Formen des Französischen 19 werden, wie im genannten Beispiel, ausschließlich präpositional (mit ä) angeschlossen. Im Italienischen stehen präpositionaler und präpositionsloser Anschluß nebeneinander (a tastoni), ohne daß eine klare funktionale Opposition

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Lehmann (1995: 76) schließt diese Möglichkeit sehr nachdrücklich aus: "Since VA and AN relations are dependency relations, but not inherent in verbs or NPs, they must consequently be inherent in adverbial relators" und "a VA relation is a head-modifier relation. It is important to keep in mind that the relation between an adverb and its head is lexically contained in the adverb; we say the adverb is relational" (S. 87). Ludo Mélis (1983) spricht in seiner wegweisenden synchronischen Untersuchung von 'compléments du nœud actanciel'. Vgl. etwa siz. era viera buona 'era veramente buona', i ligna sicchi addùmanu boni (Rohlfs III 1969: 243; dort zahlreiche andere Beispiele). Außer dem genannten à tâtons sind eigentlich nur à califourchon und à reculons bekannt; für das ältere Französisch nennt Meyer-Ltlbke (1921: 120) noch à croppetons 'hockend', à chevauchons 'rittlings', agenouillons Tcnieend', à reusons 'rücklings' und à muschons Tieimlich', vgl. die exhaustive, auch Dialektbelege berücksichtigende Aufzählung in Heinimann ( 1953).

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ersichtlich wäre.20 Hinter der Konkurrenz der beiden Lösungen könnte sich jedoch der Beginn eines weiteren Grammatikalisierungsprozesses verbergen. Wir kommen darauf zurück. Zu den hochfrequenten Morphemen des Italienischen und noch weniger des Französischen gehören -oni/-ons zweifellos nicht; immerhin kommt im Italienischen bei maximalistischer Bestandsaufnahme eine ganze Reihe zusammen (vgl. Anhang). Seiner Marginalität zum Trotz gibt das italienische Suffix jedoch Stoff fiir ein ganzes Lehrstück in Sachen Grammatikalisierung. Ausgangspunkt ist das gleichlautende Nominalsuffix, das ursprünglich individualisierende Funktion besaß. Wie Spitzer sehr schön zeigt, konnte diese Individualisierung durchaus an oberflächlich einander widersprechende Züge der jeweils individuierten Referenten geknüpft werden; nach den Gegebenheiten war beispielsweise sowohl diminuierende als auch augmentierende Interpretation möglich. (Einzelsprachlich haben sich dann freilich Spezialisierungen zum Diminutiv im Französischen [Typ cruchon 'petite cruche'] und zum Augmentativ im Italo- und Iberoromanischen [Typ donnone 'donna di grossa corporatura'] ergeben ). Ohne viel Intuition können wir deshalb die eindeutig denominalen Beispiele21 unserer im Anhang abgedruckten it. Liste als Repräsentanten dieser ersten Grammatikalisierungsphase ansehen (bocconi 'auf dem Bauch, bäuchlings', ginocchioni 'auf den Knien', gomitoni 'auf den Ellenbogen'; hinzuzufügen ist (a) gattoni 'auf allen Vieren'). Die drei Körperteilbezeichnungen in dieser kleinen Beispielgruppe zeigen aber schon, in welche Richtung die "Individualisierung" weist: Es werden in erster Linie auffällige, vom "normalen" 'Sitzen', 'Stehen', 'Liegen' abweichende Positionen bezeichnet, in zweiter Linie eine auffällige äußere Erscheinung (bracaloni). Weniger offensichtlich, aber äußerst naheliegend ist nun die Vermutung, mit dieser semantischen Festlegung sei von vorneherein eine syntaktische Spezialisierung Hand in Hand gegangen; die Hypothese lautet: Die im genannten Sinn semantisch abgrenzbaren -o«;'-Derivate waren syntaktisch durchaus nicht auf beliebige Substantive orientiert, sondern auf solche in Aktantenfunktion, speziell, wenn damit die Rolle 'Agens' verbunden war (in der unmarkierten Aktivdiathese ist das in der Regel der Fall des Erstaktanten, des Subjekts). Wer Aktant sagt, sagt auch Aktanz und bringt dergestalt das Verb wieder ins Spiel. Damit kommen wir - aus einer ganz anderen Richtung - zu den Erstaktant-Verb-Attributen zurück, die uns von den -/wewte-Adverbien her schon vertraut sind. Die Verwendung von -o«/-Derivaten zur Qualifikation von Verbbedeutungen liegt deshalb nah.22 Der durch die denominalen Formen bereits etablierte semantische Horizont erweist sich nun darin, daß sämtliche deverbalen Bildungen von Bewegungsverben stammen; die statische (denominale) Bezeichnung auffälliger

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Mit regionalen Präferenzen ist natürlich zu rechnen; die zum Anhang befragten Informanten aus Norditalien machten entsprechende Kommentare zu den abgefragten Formen; so bevorzugt der Proband aus dem Veneto: a balzelloni, a rotoloni, a strasciconi, a tastoni und a tentoni. Auch balzelloni, rotoloni/ruzzoloni, saltelloni und - noch am ehesten - rovescione (-Ì) könnten denominal sein (von balzello 'Htlpfer', rotolo 'Rolle' / ruzzola 'Kreisel', saltello 'kleiner Sprung' und rovescio 'Rückseite'). Die Bedeutung und die semantische Analogie zu den eindeutig deverbalen, ausnahmslos von Bewegungsverben abgeleiteten Fällen wie carponi, penzoloni etc. spricht (außer bei rovescione) jedoch eher ftlr deverbale Herkunft (von balzellare, rutolare/ruzzolare und eventuell rovesciare). Vgl. auch Pinksters (1988: 235) auf das Lateinische bezogene Einschätzung des Nebeneinanders von prädikativem Adjektiv und Adverb: "Es macht keinen großen Unterschied, ob einer Person beim Ausführen einer Handlung eine bestimmte Eigenschaft zuerkannt wird (z.B. daß sie cupidus ist), oder ob die Handlung der Person selbst genauer bestimmt wird (z.B. daß sie cupide vor sich ging)".

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Positionierung (Typ boccorti) wird so durch eine deverbale Gruppe zur Bezeichnung dynamischer Auffälligkeiten der Position ('schaukelnd' etc.) bzw. des Gangs ('hüpfend, schwankend' etc.) ergänzt.23

5. Die Grammatikalisierung und Reanalyse der -ment(e)- und -ow-Adverbien im Vergleich Zum Zweck des Vergleichs greifen wir noch einmal auf die aus Abb. 3 bekannten, von Christian Lehmann formulierten Grammatikalisierungsprozesse zurück. Während die Prozesse 'paradigmaticization', 'condensation', 'coalescence' und 'fixation' gleichermaßen konsequent durchlaufen wurden, ergeben sich beträchtliche Unterschiede im Blick auf die 'integrity' und auf die 'paradigmatic variability' beider Gruppen. Zunächst zur 'integrity'. Die Entstehung der -mente-Adverbien setzt einen viel radikaleren Desemantisierungsprozeß ('attrition') voraus als die Genese der -o«;'-Adverbien; im ersten Fall wird aus der rein lexikalischen Bedeutung eines selbständigen Substantivs die rein kategorialsyntaktische Bedeutung 'Attribution auf Konnexionsebene 1 oder auf Konnexionsebene 4'. Im anderen Fall betrifft die Grammatikalisierung nicht ein Lexem, sondern bereits ein Wortbildungsmorphem; zudem hat sich die "Umkategorisierung" des modifizierenden Nominalsuffixes zum Adverbialsuffix vor einem gemeinsamen Bedeutungshorizont ('auffälliges Erscheinungsbild') vollzogen. Von einem vollständigen 'bleaching' kann deshalb im Unterschied zu -mente keine Rede sein. Dagegen ist das Ergebnis des Prozesses durchaus innovativ, da ein Adverbialmarker entsteht, der über die kategorial-syntaktische Bedeutung hinaus noch eine andere, eine "lexematische" Information enthält. Mit dieser lexikalischen Restbedeutung dürfte auch die präzisere kategorial-syntaktische Funktion der -oni-Adverbien zusammenhängen, die ja im Unterschied zur anderen Gruppe ausschließlich auf Konnexionsebene 2 aktualisiert werden können und die sich zudem niemals auf die gesamte Proposition, sondern allenfalls auf das Verb-Aktanten-Verhältnis beziehen können: -o/w'-Adverbien sind, traditionell gesagt, niemals Satzadverbien. Nun zur 'paradigmatic variability'. Weder im Fall der -mente, noch im Fall der -oni-Adverbien hat der einschlägige, von Lehmann als 'obligatorification' bezeichnete Prozeß zu einem ganz konsistenten Ergebnis gefuhrt. Wie es scheint, erweist sich der kategoriale Status beider Typen als prekär. Adverbien des -mente-Typs kommutieren unter bestimmten Bedingungen mit Adjektiven (andare piano, parler fort etc.); in manchen Varietäten wie z.B. dem français populaire ist dies bereits grundsätzlich möglich (vgl. Krefeld 1991). Soll man diese offenkundige Degrammatikalisierung als Reanalyse ansprechen? Das wäre eigentlich nur sinnvoll, wenn die reanalysierte Form, in dem Fall die -ment-Adverbien, als Aktualisierung anderer, durch den 23

Die -oni-Adverbien werden spätestens seit Meyer-Lübke gern mit den deutschen Bildungen auf -lings (bäuchlings, rücklings, rittlings) verglichen: "Sie (i.e. -ons und dt. -lings) geben eine Bewegungsform oder eine Stellung an und treten an Nominal- und Verbalstämme" (Meyer-Lübke 1921: 120). In bezug auf den semantischen Horizont 'Positionierung einer Person' ist das sicherlich richtig; analoge Belege zu deverbalen Ableitungen scheint es jedoch im Deutschen nicht zu geben.

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Wandel nicht betroffener, grammatischer Kategorien interpretiert werden könnte. Wenn jedoch ausnahmslos alle Adjektive in der Distribution von Adverbien begegnen können, hat sich unter der Hand auch die Kategorie des Adjektivs verändert. Hier ließe sich allenfalls von "Neuanalyse" reden. Anders sind die -ow-Adverbien zu beurteilen. Im Französischen hat hier bereits eine wirkliche Reanalyse stattgefunden, da sämtliche Vertreter unseres Typs obligatorisch in Verbindung mit der einleitenden Präposition à (à tâtons etc.) begegnen und insofern als Substantive "reanalysiert" worden sind. Die Existenz des homonymen (und etymologisch identischen) Nominalsuffixes einerseits und die Möglichkeit analoger präpositionaler Adverbiale (marcher à grandpas, muoversi a passi lenti etc.) andererseits mögen dazu beigetragen haben. Im italienischen Nebeneinander (vgl. die Belege in Anm. 20) deutet sich eine ähnliche Tendenz an.

6. Agentivität und die rumänischen Adverbien auf Die skizzierten Grammatikalisierungen von -ment(e) und -oni deuten daraufhin, daß die Agentivität in den romanischen Sprachen zum semantischen Kernbereich der Kategorie 'Adverb' zu zählen ist.24 Bestätigung findet diese Vermutung im Paradigma der rumänischen Adverbien auf -/#(vgl. die Liste im Anhang II). Dieses Suffix ist zwar etymologisch dunkel, so daß sich über seine Grammatikalisierung nichts Analoges sagen läßt. Die Parallelen zu den italienischen -oniAdverbien sind jedoch offenkundig. Sie betreffen in der Syntax das Nebeneinander von präpositionalem und nicht präpositionalem Anschluß25 sowie die ausschließliche Aktualisierung auf der zweiten Konnexionsebene. Vor allem zeigen sich jedoch lexikalisch-semantische Analogien. Zunächst gibt es eine ganze Reihe von Bildungen, die auf Körperteilbezeichungen beruhen: - bräfi§ 'mit den Armen umfassend', zu braf 'Arm'; - buzi§ 'nebeneinander', zu buzä 'Lippe'; - coti§ 'im Zickzack', zu cot 'Ellenbogen'; -fafi$ 'offen, anwesend, zugegen', zu faß 'Gesicht'; —frunti§ 'geradewegs, mutig', zu frunte 'Stirn'; -pieptip 'furchtlos, kühn, dem Feind die Brust entgegenstellend', zu piept 'Brust'. Mit Ausnahme von bräfi§ haben sich alle genannten Formen jedoch weit von den konkreten Ausgangsbedeutungen ihrer Basen entfernt; die Positionierung spielt hier keine Rolle, und der Bezug auf einen menschlichen Agens ist bei buzi§ und coti§ allenfalls noch etymologisch rekonstruierbar, im Fall von arci§ 'querüber' (zu arc 'Bogen') und lungi§ 'der Länge nach, entlang' (zu lung) fehlt er ganz.

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Für einen tieferen, außereinzelsprachlichen Zusammenhang zwischen der semantischen Kategorie der Agentivität und der syntaktischen Kategorie Adverb lassen sich auch aus anderen Sprachen Indizien beibringen; einschlägig sind etwa die Verhältnisse im Albanischen, wo die Auxiliarformen di 'je sais' und do 'tu veux' zu Adverbialmorphemen grammatikalisiert wurden; vgl. Duchet (1991: 192f ). Auch bei diesen Adverbien deutet sich also eine bereits alte Tendenz zur Reanalyse im Sinne einer nominalen Interpretation an; vgl. in poncif 'schräg' neben poncif, pe furif 'heimlich' neben älterem furif, in lungif si in curmezif 'längs und quer' neben lungif und curmezis, in crucif neben crucif etc.

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Deverbale Ableitungen spielen im Unterschied zu den -ow-Adverbien nur eine marginale Rolle (haiti$ 'krummbeinig' zu ung. hajtani 'biegen'; pituli§ 'verstohlen, heimlich', zu a pitula 'verstecken'; tirif 'schleppend, schleichend, kriechend' zu ase tiri 'sich dahin schleppen, schleichen, kriechen'). Allerdings zeigt sich in diesen Beispielen - wie im Italienischen - eine Affinität zur Bezeichnung auffälliger Bewegungen; sogar die denominale Ableitung grqpip 'kriechend' (zu grapä'Egge', auch tiri-gräpi§ 'mit Mühe und Not, schleppend') ist metaphorisch in diesem Sinn umgedeutet worden. Daneben kommen jedoch semantische Aspekte der Agentivität ins Spiel, die bei der Grammatikalisierung der -o/w'-Adverbien keine Rolle gespielt haben: - die Unreflektierheit (chiori§ 'blindlings') und - die Verletzung sozialer Interaktionsregeln (pituli$ 'verstohlen, heimlich', pe furi§ 'verstohlen, heimlich', hofi§ 'nach Räuberart, verstohlen', horp§ [Mold ] u.a. 'scheel, drohend', molcomi^milcomi§'im Stillen, in aller Stille, stillschweigend', morß$ 'hartnäckig', poncif 'scheel').

7. Typologischer Ausblick Die Grammatikalisierungsforschung wird bislang ganz überwiegend in allgemeinsprachwissenschaftlicher Perspektive betrieben; das ist nicht verwunderlich, denn die Systemlinguistik steht in Mißkredit. Grammatikalisierung wird also nicht eigentlich als 'Entstehung einzelsprachlicher grammatischer Systeme' verstanden, sondern als vergleichende Beschreibung ganz punktueller einzelsprachlicher Systemausschnitte,26 ohne daß die systemische Einbettung der jeweils grammatikalisierten Erscheinungen erörtert würde. Zweifellos sind dergleichen sprachfamilienübergreifende Studien von großem Erkenntnisinteresse. Die romanische Sprachwissenschaft sollte sich freilich nicht damit begnügen, detailhaft Belege für den einen oder anderen "Grammatikalisierungskanal" beizutragen. Die eigentlich faszinierende Herausforderung besteht darin, die romanischen Grammatikalisierungen in eine synthetisierende typologische Perspektive zu stellen. Die Rekonstruktion von Grammatikalisierungsprozessen sollte - mit anderen Worten - zu Prinzipien fuhren, die von grundlegender Bedeutung für die Organisation des Romanischen oder einzelner Ausprägungen des Romanischen sind. In diesem Sinn würde uns die Agentivität, die hier für die Rekonstruktion von Adverbbildungen bemüht worden ist, erlauben, eine Brücke zu ganz anderen romanischen Grammatikalisierungserscheinungen zu schlagen, so etwa zur Auxiliarisierung von habere, tenere und sedere, zur Futurbildung mittels *volere und debere, womöglich auch zum unvermeidlichen präpositionalen Akkusativ: Die romanischen Sprachen könnten sich im Vergleich mit dem Lateinischen überhaupt als agensorientierter erweisen. Es wäre geradezu überraschend, wenn die fun-

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Instruktiv ist ein Blick in das Inhaltsverzeichnis von Hopper/Traugott, wo z.B. unter dem Kapitel "Reanalysis" untereinander "The French inflectional future", "The Tarahumara third person pronoun" und "The English modal auxiliaries" stehen.

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damentale Dimension der Agentivität in der Epoche beschleunigten, ja krisenhaften Sprachwandels, aus dem die romanischen Sprachen hervorgehen sollten, keine zentrale, remotivierende Rolle bei der Umstrukturierung der Grammatik gespielt hätte.27

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Um einem möglichen Mißverständnis vorzubeugen, sei - post scriptum - daran erinnert, daß mit der Agentivität als motivierender Kraft von Grammatikalisierungen im Sprachwandel grundsätzlich zu rechnen ist: Agentivität hat in diesem Sinne gar nichts mit den von Voßler zur Erklärung der rom. -mente-Adverbien u.a. bemühten neuen "Denkformen" im Vulgärlatein zu tun, die für ihn Ausdruck des historisch ganz spezifischen, einmaligen Epochenumbruchs vom antiken "mythischen zum symbolischen Denken" des christlichen Mittelalters sind; vgl. Voßler (1954: 152) und dazu Geckeier (1995).

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Thomas

Krefeld

Anhang 1. Die italienischen Adverbien auf -orti. Die Geläufigkeit der folgenden it. -ow-Adverbien wurde in einer Stichprobe überprüft; gefragt wurde, ob das Stichwort bekannt sei, und wenn ja, ob es im italiano colloquiale gebräuchlich sei. Die acht Probanden (Studenten, Hochschulabsolventen) sind zwischen ca. 22 und 56 Jahre alt; sie stammen aus dem Veneto (1), aus Bergamo (2), aus Como (2), aus Kalabrien/Ligurien (1), aus Umbrien (1) und aus Neapel (1). Über eine eventuelle diatopisch divergierende Verbreitung kann nichts Definitives gesagt werden; eine markante Abnahme nach Süden hin deutet sich jedoch an. - balzelloni - Ti scrìvo un po' balzelloni, con sobbalzi 'ungleichmäßig' "conosciuto": 2; davon 2: "usato in italiano colloquiale" - barcolloni - Un prepotente attraversa barcolloni quel pavimento di groppe, 'senza equilibrio1 "conosciuto": 6; davon 1 : "usato in italiano colloquiale" - bocconi - La ragazza, appena entrata, si era gettata bocconi sul letto 'prona, in giù' "conosciuto": 7; davon 4:"usato in italiano colloquiale" - carponi - Si ritrovano in un angolo del giardino, tutti e due carponi in un 'aiuola 'ginocchia e mani a terra' "conosciuto": 8; davon 6: "usato in italiano colloquiale" - cavalcioni - Sedeva cavalcioni sulla sedia 'una gamba da una parte e l'altra dall'altra /con le gambe incrociate' "conosciuto": 8; davon 7: "usato in italiano colloquiale" - ciondoloni - Si addormentava la sera di botto, e la portavano con le gambe ciondoloni nel suo lettino 'penzoloni' Si era abbandonato, rifinito, su una seggiola, con le braccia ciondoloni (nominal attributiv) "conosciuto": 8; davon 5: "usato in italiano colloquiale" - coccoloni - Sedeva coccoloni nel prato con le gambe incrociate 'accovacciato, seduti sui talloni' "conosciuto": 1 ; "non usato in italiano colloquiale" - ginocchioni - Che fai ginocchioni sul pavimento? "conosciuto": 6; davon 3: "usato in italiano colloquiale" - gomitoni 'con i gomiti ben appoggiati', 'a colpi di gomito, a gomitate' (Battaglia) "conosciuto": 1 ; "usato in italiano colloquiale" - gropponi, grappoloni 'als Traube1 "conosciuto": 0 ; grappoloni durch eine andere Informantin bestätigt - penzoloni \gl. ciondoloni "conosciuto": 8; davon 7: "usato in italiano colloquiale" - quattoni — Se ne stava quatton quatton, veniva avanti quatton quatton 'kauernd, schleichend' "conosciuto": 5; davon 2: "usato in italiano colloquiale" - rotoloni/ruzzoloni/sdruccioloni - Ho fatto le scale quasi rotoloni 'rotolando, scivolando' "conosciuto": 2 (rotoloni), 5 (ruzzoloni), 0 (sdruccioloni); davon 5:"usato in italiano colloquiale" - rovescione (-i), - buttarsi rovescione sul letto 'in posizione rovesciata lungo disteso' (Zing. 1537) "conosciuto": 1 ; "non usato in italiano colloquiale" - saltelloni - venire avanti (a) saltelloni 'a piccoli salti' (Rohlfs, Zing. 1553) "conosciuto": 6; davon 4: "usato in italiano colloquiale" - strasciconi - portare il vestito/camminare/avanzare strasciconi 'schleppend' (Rohlfs, Zing. 1759) "conosciuto": 3; davon 1 : "usato in italiano colloquiale" - striscioni -1 soldati mandati in perlustrazione avanzarono striscioni fin sotto le linee nemiche "conosciuto" 1 ; "non usato in italiano colloquiale" - strofinoni - stare strofinoni in terra, zu strofinare 'polieren' (Rohlfs, Zing. 1763) "conosciuto": 0

Agens mit Leib und Seele

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- tastoni - Trovò tastoni l'interrutore della luce; vgl. tentoni "conosciuto": 6; davon 6: "usato in italiano colloquiale" - tentoni - In questa faccenda si procede alquanto tentoni, 'alle cieca, senza sicurezza' "conosciuto": 8; davon 6: "usato in italiano colloquiale" - zoppiconi -Cammino ancora un po' zoppiconi 'zoppicando' "conosciuto": 4; 0 : "usato in italiano colloquiale"

2. Die rumänischen Adverbien auf Die maximalistische Liste ist nach Heinimann 1953 und Ciompec 1985 zusammengestellt worden. Es wurden jedoch nur die Adverbien berücksichtigt, die bei Tiktin, Rumänisch-deutsches Wörterbuch (T), verzeichnet sind; von Tiktin stammen auch die Bedeutungsangaben. Die überwiegende Mehrheit der Belege gehört der Gegenwartssprache nicht mehr an; die wenigen, nach Auskunft einer Bukarester Informantin gebräuchlichen Formen sind mit einer entsprechenden Bemerkung versehen worden. - areif 'querüber', zu arc 'Bogen' (T1,206) - bräpf 'mit den Armen umfassend', zu Ära/'Arm' (T 1,374) - buzif 'nebeneinander', zu buzä'Lippe', a tnhäma caii buzif 'die Pferde nebeneinander anspannen' (T1,408) -chiorif 'schielend, scheel, blindlings', zu chior 'einäugig', a se uita cineva chiorif 'jmdn. scheel ansehen', in Munt. dafür auch chiondorif (T I, 520); chiorif ist gebräuchlich; - cotif 'im Zickzack', zu cot 'Ellenbogen' (T1,659) - crucif 'über Kreuz, kreuzweise', crucif fi curmezif 'kreuz und quer', a se uita crucif 'schielen', a inghifi crucif 'sich verschlucken' (T 1,684); gebräuchlich, zu cruce 'Kreuz' - curmezif 'der Quere nach, querdurch, querüber', zu a curma 'quer durchschneiden' (T I, 713); gebräuchlich - fäpf' offen, anwesend, zugegen', zu faß 'Gesicht' (T II, 146); gebräuchlich - fruntif 'geradewegs, mutig' (T II, 193), zu frunte 'Stirn' - furif 'verstohlen, heimlich', jetzt gebräuchlich pe furif, zu für 'Dieb' (T II, 202) - gräpif 'kriechend', zu grapä'Egge' (T II, 255), gebräuchlich ist tirif-gräpif 'mit Mühe und Not, schleppend'; - haitif 'krummbeinig', umblähaitif 'er/sie geht krummbeinig', zu ung. hajtani "biegen' (T II, 277) - horpfQAold.) 'schief, schräg, scheel, drohend', Etymologie dunkel (T II, 309) - hopf 'nach Räuberart, verstohlen', zu hof 'Räuber' (T II, 311) - lungif'der Länge nach, entlang', zu lung (T II, 586) - molcomif (milcomif) 'im Stillen, in aller Stille, stillschweigend', zu molcom 'still' (T II, 687) - morpf 'hartnäckig', zu moarte 'Tod' (T II, 695); gebräuchlich -pieptif 'furchtlos, kühn, dem Feind die Brust entgegenstellend', zu piept 'Brust', fätif fi pieptif (T III, 74); gebräuchlich -piezif'schief, schräg', auch Adj., zu gleichbedeutendempiez (T III, 77); gebräuchlich -pitulif 'verstohlen, heimlich', zu a pitula 'verstecken' (T III, 89) -poneif 'schief, schräg, quer1, etymologisch dunkel, a se uita poneif la cineva 'jmdn. scheel ansehen', in älterer Sprache auch a se pune/a sta (in) poneif 'sich widersetzen' (T II, 145) - titif 'schleppend, schleichend, kriechend', zu a se tiri 'sich dahin schleppen, schleichen, kriechen' (T III, 669); gebräuchlich

Elisabeth Stark (München)

Französische Voranstellungsstrukturen - Grammatikalisierung oder universale Diskursstrategien?

1. Einleitung 1.1. Sprachwandel im syntaktischen Bereich ist immer auch unter dem Gesichtspunkt positionstypologischer oder allgemein topologischer Auffälligkeiten diskutiert worden. Im Zentrum der Diskussion um Veränderungen im romanischen Konjugationssystem (Entstehung einer Objektkonjugation bzw. einer "supplementären Subjektkonjugation" im Französischen1) steht die Interpretation von übereinzelsprachlich existierenden Konstruktionen, die diskurspragmatisch der explizitento/wc-co/wnewf-Gliederung2von Äußerungen dienen ("Herausstellungsstrukturen",3 besonders Dislokationen), als syntaktische "Aktantenmarkierung". Grammatikalisierung kann grundsätzlich synchron wie diachron aufgefaßt werden und soll im folgenden als the linguistic process, both through time and synchronically, of Organization of categories and of coding. (Traugott/Heine 1991:1)4

verstanden werden. Synchron wie diachron wird dabei von einem engen Zusammenhang zwischen übereinzelsprachlichen diskurspragmatischen Prinzipien und einzelsprachlich jeweils spezi-

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Vgl. dazu Heger (1966), Rothe (1966), v.a. Bossong (1979), (1980), (1981). Unter topic soll im folgenden der "Aussagegegenstand" einer Äußerung verstanden werden, während comment das Element einer Aussage ist, das dem topic als "Satzaussage" zugeordnet ist. Aussagentheoretisch läßt sich eine Äußerung als zweigeteilt in "Aussagegegenstand" oder "Topik" bei Tschida (1995) und "Aussageziel" oder "Comment" präsentieren, wobei die Wahl eines der am geschilderten Sachverhalt Beteiligten als topic im Ermessen des Sprechers liegt und syntagmatisch meist durch positionelle Verfahren signalisiert wird. Topic und comment sind relationale Begriffe; der comment schreibt seinem topic, für das er eine Leerstelle eröffnet, eine Eigenschaft zu oder ordnet es in einen Sachverhalt ein ("Adskriptionsfunktion", vgl. Tschida 1995: 171f.). Informationsstnikturelle Kategorien wie "gegeben", "alt", "unwichtig" usw. spielen für die aussagentheoretische Identifikation von topic und comment keine Rolle (vgl. dazu Tschida 1995: 139-202). Zu Begriff lind Definition vgl. Altmann (1981: 10 und 46f.) . Mit "Herausstellungsstrukturen" sind syntaktische Konstruktionstypen außerhalb der Satzgrenze, aber offensichtlich noch zugehörig zur Gesamtäußerung gemeint. "Satz" ist dabei eine syntaktische Einheit, die vor allem mit Kriterien der Korrektheit und Vollständigkeit identifiziert wanden kann. Charakterisiert werden solche Herausstellungsstrukturen durch die fehlende vollständige syntaktische Integration (Abstufungen sind dabei durchaus möglich, z.B. eine Teilintegration über Intonation, Kongruenz, Reihenfolgebeziehungen) und ihre prinzipielle Fakultativität (ihnen kann keine syntaktische Funktion wie Subjekt, Prädikat, Objekt usw. zugeordnet werden). Weiterhin stellen sie formal-syntaktisch keine vollständigen Sätze dar (sie sind selbst niemals satzförmig), obwohl sie manchmal durchaus satzwertig sein können - ihre semanto-pragmatische Funktion ist meist erst im Zusammenhang mit dem Folgenden zu entscheiden. Diese Definition umfaßt durchaus den ursprünglichen Meilletschen Begriff (vgl. etwa Abraham 1992/93: 8f., Lehmann 1985: 303), der auf die Entstehung einer neuen romanischen Konjugation problemlos beziehbar ist.

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Französische

Voranstellungsstrukturen

fischen formalen Strukturen ausgegangen.5 Grammatikalisierung als 'Zunahme an grammatischem Charakter" einer Form6 umfaßt eine Vielzahl einzelner Prozesse paradigmatischer und syntagmatischer Natur, die mit Lehmann (1985) als "attrition", "paradigmaticity", "obligatorification", "condensation", "coalescence" und "fixation"7 bezeichnet werden können und auf einzelsprachlich spezifische Veränderungen im Bereich topologjscher und pronominaler top/oMarkierungen mehr oder weniger leicht angewendet werden können. In einer neueren Arbeit definiert Haspelmath den diachronen Aspekt treffend wie folgt: Grammaticalization is the gradual drift in all parts of the grammar toward tighter structures, toward less freedom in the use of linguistic expression at all levels. (Haspelmath 1998: 52)

Givön (1976) beschreibt den Prozeß der Grammatikalisierung von Subjekt-Prädikat-Kongruenz aus einer ursprünglichen 'topzc-Prädikat-Kongruenz', also die Grammatikalisierung von pragmatisch und syntaktisch markierter, fakultativer Doppelbesetzung von Satzgliedern durch volle lexikalische NP und Pronomina und Reanalyse letzterer als Konjugationsaffixe folgendermaßen: The process by which this is done may be called de-marking. A subject topic-shift construction is over-used in a weaker context. Speakers eventually recognize the context as being much too weak to justify a marked status for the TS construction. Thus they re-analyze it as the neutral syntax. The erstwhile topic-subject gets re-analyzed as 'mere' subject, while the topic-agreement anaphoric pronoun gets re-analyzed as subject-agreement. (Givön 1976: 154f., Hervorhebungen im Text)

Hier entsteht der Eindruck, daß Grammatikalisierung und Reanalyse, zusammen mit 'Demarkierungserscheinungen'8 und Verlust an pragmatischer Bedeutung,9 fast untrennbar miteinander verbunden wären. Tatsächlich ist Reanalyse als change in the structure of an expression or class of expressions that does not involve any immediate or intrinsic modification of its surface manifestation (Langacker 1977: 58)

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Mit Givón (1979) nehme ich an, "that there are many facts supporting the existence of some structural level called syntax, but [. ..] in order to explain the formal properties of that structural level, one must make reference [...] to a number of substantive explanatory parameters of language. Rather than winding up with an independent, formal, and autonomous level of structural organization in language, we indeed find syntax to be a dependent, functionally motivated entity, whose formal properties reflect - perhaps not completely but nearly so - the properties of the explanatory parameters which motivate its rise" (Givón 1979: 208, Hervorhebungen im Text). Wobei die nach wie vor problematische Trennung von 'lexikalischen' und 'grammatischen' Elementen in Lexikon und Morphologie aufgerufen ist, die hier aber nicht näher diskutiert werden kann (vgl. dazu Hopper 1991 ). Vgl. Lehmann (1985: 309) und Heine et al. (1991: 18f.). Der Markiertheitsbegriffist problematisch und kann hier nicht eingehend diskutiert werden; als Grundlage dienen folgende Bemerkungen von Benincà/Salvi/Frison (1988:115): "La marcatezza di una frase va considerata in modi diversi, dipendenti dalla prospettiva che viene scelta. Una frase può essere infatti non marcata 'pragmaticamente' e con questo si intende che essa può essere adatta ad un numero più alto (teoricamente infinito) di contesti linguistici o di situazioni. Una frase non marcata 'sintatticamente' è invece quella in cui l'ordine dei costituenti corrisponde all'ordine che essi hanno nella struttura della lingua che viene ricostruita dalla teoria linguistica". 'Syntaktisch markiert' bedeutet also 'abweichend von einer angenommenen Grundtopologie' bzw. 'abweichend von einer syntaktischen (Standard-)Grundstruktur'. Vgl. Haspelmath (1998).

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ein u.U. an Grammatikalisierung beteiligter, davon aber prinzipiell unabhängiger Prozeß,10 wie die folgenden Überlegungen zu Herausstellungsstrukturen im Gegenwartsfranzösischen zu zeigen versuchen.

1.2. Der Begriff der Herausstellungsstrukturen umfaßt einerseits bekannte und vieldiskutierte Erscheinungen wie Links- und Rechtsversetzung ("dislocation à gauche", "dislocation à droite")11 und Freies Thema ("thème détaché"),12 andererseits auch Konstruktionen wie (1)

Oh oeuh, mais tu sais, l'métro, avec la Carte Orange, tu vas n'importe où. (Barnes 1985: 101, Hervorhebung im Text)

Hier ist le métro einer vollständigen satzförmigen Äußerung vorangestellt, innerhalb derer es auf den ersten Blick keiner syntaktischen Funktion zugeordnet werden kann. Bezüglich aller relevanten syntaktischen Parameter erweist es sich als isoliert: Eine satzgliedfähige, durch eigenständigen Tonhöhenverlauf und nachfolgende Pause gleichsam als satzwertige Konstruktion markierte Konstituente befindet sich, syntaktisch fakultativ, vor einer satzförmigen Äußerung, die keinerlei mit dieser Konstituente koreferente Elemente enthält und mit der sie in einer rein semantopragmatisch beschreibbaren und rekonstruierbaren Relation steht. Die Konstituente ist weiterhin nicht als von der Verbrektion abhängig gekennzeichnet, sie läßt sich kaum als adverbiale Verboder Satzergänzung kategorisieren, also nicht als Satzglied des folgenden Bezugssyntagmas. Im Gegensatz zu den herausgestellten Konstituenten bei Linksversetzung oder Freiem Thema sind solche Strukturen nicht in die Folgeäußerung einfugbar, auch formal nicht. Durch das Fehlen von koreferenten Elementen scheinen sie aus dem Bereich der traditionell insgesamt als

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Vgl. dazu im einzelnen Abraham (1992/93: 13£); Heine et al. (1991: 215 und 219f ); Traugott/Heine ( 1991: 7); Haspelmath (1998). Dislokationen zeichnen sich aus durch im Bezugssyntagma obligatorisch auftretende koreferente und kongruente Klitika, ebenso durch syntaktische 'Wiedereinfilgbarkeit' an der Argumentstelle, an der sie durch die 'pronominale Kopie' vertreten werden: Ce garçon, je le connais (Linksversetzung, im folgenden LV); Je le connais, ce garçon (Rechtsversetzung, im folgenden RV). Kategoriell gefüllt sein können Dislokationen durch NP (vollständige Substantivgruppen, einfache Substantive oder starktonige Pronomina), PP, VP (d.h. Infinitive), Gliedsätze, Adverbien und prädikative Adjektive, wobei bezüglich der syntaktischen Funktionen im Französischen hauptsächlich Subjekte, gefolgt von Herausstellungen direkter Objekte, betroffen sind (sekundäre syntaktische Funktionen, also Attribute bzw. compléments de nom sind von der DL-Position ausgeschlossen). Insgesamt treten Linksversetzungen im gesprochenen Französisch wesentlich häufiger auf als Rechtsversetzungen, beide werden in pronominaler Form etwa doppelt so häufig wie lexikalisch realisiert. Mit seinem hanging topic (= Freies Thema, FT) identifiziert Cinque ( 1977 und 1979) den zweiten Herausstellungstyp 'links' von der Folgeäußerung, der syntaktisch unabhängiger ist als die an die Gesamtäußerung gebundene Linksversetzung. Vor allem die Faktoren der obligatorischen pronominalen Reprise und obligatorischen Kongruenz mit koreferenten Elementen in der Folgeäußerung fallen weg; Freie Themen tragen auch bei Koreferenz mit präpositionalen Ergänzungen zum Verb u.ä. keinerlei präpositionale Markierung. Sie treten unmarkiert als einfache NP auf, weshalb sie in entsprechenden Beobachtungen zu den Verhältnissen im Lateinischen auch als nominativus pendens klassifiziert wurden: Paul, j'ai vu cet idiot au café hier. Wie dieses Beispiel zeigt, können die herausgestellten FT-Konstituenten mit einfachen klitischen, aber auch mit starktonigen Pronomina und prädikativen NP mit demonstrativem Déterminant koreferent sein oder auch einfach wörtlich in der Folgeäußerung wiederholt werden.

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Französische Voranstellungsstrukturen

"Satzsegmentierung" bezeichneten anderen Herausstellungsstrukturen herauszufallen; der vermeintliche Prozeß des expliziten Herauslösens eines Äußerungsbestandteils und dessen Markierung durch formale morphologische Doppelbesetzung scheint Äußerungen in zwei Teile zu spalten, zu segmentieren, wobei die herausgestellte Konstituente als Aussagegegenstand (topic) explizit hervorgehoben werden soll. Derartiges ist für Äußerungen wie Beispiel (1), welches auf den ersten Blick aus drei größeren rhythmischen und syntaktischen Einheiten besteht, nicht mehr anzunehmen. Bezüglich Reintegrierbarkeit und Nicht-Rekonstruierbarkeit von koreferenten Elementen besteht also innerhalb der Herausstellungsstrukturen eher eine Zweiteilung in tatsächliche "Heraus-Stellungen' (Linksversetzung und Freies Thema) und echte 'Voran-Stellungen'. Innerhalb der Voranstellungsstrukturen müssen weiterhin drei verschiedene Typen unterschieden werden, die v.a. auch funktional voneinander abgrenzbar sind. Während erstens eine Variante des Freien Themas (FT) auch als Voranstellungsstruktur ohne mögliches koreferentes Element in der Folgeäußerung vorliegt, existiert zweitens die Voranstellung von syntaktisch (auch intonatorisch) relativ eng an die Folgeäußerung gebundenen Konstituenten, welche stets mit c'est beginnt und damit auf einen vor der die Voranstellungsstruktur enthaltenden Äußerung versprachlichten Sachverhalt verweist (TDc'est, also 'thème détaché c'est'): (2) (3)

Votre sucre, on dirait de la neige (FT) E: Moi, chez moi c'étaient toujours les les garçons. Ils pouvaient aller où ce qu'ils voulaient, bien sûr, rentrer à une heure limitée, mais ils pouvaient quand-même sortir mais ... les filles, chez moi euh... enfin moi c'est pas encore la même chose, parce que moi ie me défends13 (TDcW/) (vgl. Stark 1997: Kapitel II)

Obwohl diese Strukturen sicherlich 'aggregativer1 gestaltet sind als "Satzsegmentierungen", können die vorangestellten Konstituenten doch jeweils als topic der Folgeäußerung, die als comment dazu fungiert, interpretiert werden. Derartiges fallt im obigen Beispiel (1) schwerer - im Grunde eröffnet le métro einen thematischen Bereich, innerhalb dessen ein Element daraus (la Carte Orange) prädiziert wird. Diese diskurspragmatische Funktion ist erstmals von Chafe (1976) als eigenständige erkannt und unter der leider vieldeutigen Bezeichnung topic folgendermaßen definiert worden: Typically, it would seem, the topic sets a spatial, temporal, or individual framework within which the main prédication holds. (Chafe 1976: 50)

In diesem Zusammenhang wird dafür die Bezeichnung TOPIC14 gewählt. Den räumlichen, zeitlichen oder einfach thematischen ("individual") Rahmen einer Äußerung setzen übereinzelsprachlich in der Regel äußerungsinitiale Elemente,15 wobei ihre syntaktische Gestaltung und Funktion einzelsprachlich verschieden ausfallen können. Obwohl die NP le métro in Beispiel (1) ebenso wie notre mariage im folgenden Beleg formal auffällig wirken, ist ihre dis-

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Vgl. Honnigfort (1993: Korpus 7c). Tschida (1995) spricht recht anschaulich von "Exposition" (vgl. Tschida 1995: 166ff). Vgl. etwa Wandruszkas (1982) Untersuchungen zur Adverbialstellung im Italienischen und verschiedene Untersuchungen von Givön.

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kurspragmatische Funktion als TOP/C-Markierung unschwer zu erkennen: (4)

notre mariage on était seuls (Deulofeu 1989: 114)

Derartige äußerungsinitiale und syntaktisch stark isolierte Konstituenten werden im folgenden in Anlehnung an die funktional verwandten, aber stets zweiteiligen "absoluten Konstruktionen"16 als 'absolute Rahmensetzungen' (ARS) bezeichnet. Sie bilden den dritten Typ der Voranstellungsstrukturen. Obwohl sie Abweichungen von der präskriptiv postulierten Standardtopologie des Französischen darstellen, sind sie problemlos - mindestens im mündlichen Sprachgebrauch17 - regelmäßig nachzuweisen.

1.3. Die Initialposition von Äußerungen ist kognitiv und kommunikativ zentral. An dieser Stelle wird das Rederecht verhandelt ('Dialogorganisation1), die Besetzung dieser Stelle entscheidet über den Blickwinkel, aus welchem der versprachlichte Sachverhalt konzeptualisiert wird, sie dient aber auch der 'Informationsorganisation' von Äußerungen in diskurspragmatischer Hinsicht. In Abhängigkeit vom referentiellen Status von Referenten ist sie - neben engen Foki18 universal von "neuen" tapies oder TOPICs besetzt, d.h. der Sprecher nennt Referenten, die zum Zeitpunkt seiner Äußerung mutmaßlich noch nicht im Vordergrund des Hörerbewußtseins sind, die er aber zum "Rahmen' oder 'Gegenstand' seiner Äußerung machen will, vor der eigentlichen Aussage darüber.19 In den hier interessierenden romanischen Sprachen existieren nun, neben den genannten Heraus- und Voranstellungsstrukturen, bereits 'syntaktisierte' Besetzungen dieser wichtigen Position. Im pragmatisch und syntaktisch unmarkierten französischen Satz wird das topic als Subjekt kodiert, das TOPIC, soweit es als "neuer" Referenzbereich explizit zu versprachlichen ist, als Adverbiale in der Gestalt von Präpositional- oder einfachen Nominalphrasen: (5)

Tu sais, à Paris, avec la Carte Orange, tu vas n'importe où

oder (6)

Tu sais, l'année dernière, avec la Carte Orange, nous sommes allés n'importe où

Rein oberflächenstrukturell betrachtet ist das Temporaladverbiale im letzten Beleg eine syntaktisch (auch intonatorisch) ebenso deutlich isolierte Nominalphrase wie die absoluten Rahmensetzungen. Die Gesamtkonstruktion wirkt aber dennoch weit weniger markiert als etwa der obige Beleg (4). Der Abbau der 'Markiertheit' und das Nebeneinander von voll integrierten und stark aggregativen syntaktischen Mustern zur Versprachlichung von TOPICs sollen im folgenden als mögliche 'Grammatikalisierungsindikatoren' untersucht werden.

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Wie etwa: l'haleine lui manquant, il eut du mal à finir sa phrase (vgl. die ausführliche Untersuchung von Mûller-Lancé (1994)). Vgl. Stark (1997 : Kapitel VI). Vgl. dazu Primus (1993). Vgl. dazu Chafe (1976), Givôn (1985: 198f.), Gundel (1988: 224-231).

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Französische Voranstellungsstrukturen

2. Grammatikalisierung I: Absolute Rahmensetzungen und Adverbiale Im Kontext einer Fernsehtalkshow zu Scheidungserlebnissen wird ein Studiogast nach seiner Kindheit gefragt, die geprägt war von ständigen Aus- und Wiedereinzügen seines Vaters: (7)

Mod: Comment vous avez vécu, vous ...le [unverständlich] le premier retour déjà ...du du du du père à la maison? Est-ce que... Vous aviez quel âge? Z: Le premier retour, je peux pas en être conscient, parce que le premier retour, je devais avoir deux ans... Mod: Le deuxième alors, le deuxième... Z: Le deuxième retour, c'est, c'est bien sûr une ioie. parce que le ta ioie des enfants, c'est de voir leurs parents réunis et... d'avoir un tout cohérent autour d'eux... Euh. Mais bien sûr, il y a des anxiétés, parce que c'est la personne sur laquelle on a tapé sur les doigts, qui se souvient que ça fait mal, donc, euh, inévitablement, eh, c'est mêlé, à la fois euh un certain bonheur et aussi une certaine ... un certain réalisme qui fait que ...

Diskurspragmatisch konstruiert Z seinen Beitrag vollkommen sinnvoll: Er greift den Fragefokus des Moderators auf und macht ihn zum TOPIC seiner Antwort, deren topic er selbst ist.20 Syntaktisch erscheint der Äußerungsbeginn auf den ersten Blick aggregativ und normfern, da er nicht eine hier zu erwartende Präpositionalphrase enthält (lors du premier retour o.ä.). Der Sprecher nutzt hier allerdings eine im System21 des Französischen prinzipiell angelegte und lediglich mit dem lexikalischen Element retour in der Norm (noch) nicht etablierte Möglichkeit der kategoriellen Füllung eines Temporaladverbiales durch eine einfache NP. Ein Ersatz von le premier retour durch la première fois o.ä. würde völlig unauffällige französische Äußerungen hervorbringen mit einer der Definition von absoluten Rahmensetzungen allerdings weiterhin vollständig entsprechenden isolierten initialen satzgliedfähigen NP. Im Grunde scheint innerhalb der Gruppe der absoluten Rahmensetzungen insofern ein 'Markiertheitskontinuum' zu existieren, als äußerungsinitial formal isolierte Elemente auftreten, die je nach kategorieller Füllung mehr oder weniger aggregativ und syntaktisch markiert wirken: (8)

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(Co erklärt vorher seine Ansicht, daß Glaube und Religion nicht auf ein Leben nach gewissen Grundwerten reduzierbar seien.) A: O-, o-, Ok, moi, moi je je j'ai compris le fait que tu dises ilfaut partager la foi, mais a-, après, la la deuxième chose, j'ai pas compris, le système des valeurs. Co. Non ... sss ...Ok. Système de valeurs, c'est-à-dire, je me suis posé une question en me disant, mais finalement, la religion, est-ce que... à la li-.... bon, je me suis posé la question, finalement, la religion finalement est-ce que c'est pas tout simplement, est-ce que c'est pas inné à la société, est-ce que une société a pas intérêt finalement à la limite à mettre, à mettre en place une religion quelconque pour, finalement, à la limite, pas s'autodétruire? Parce que finalement ...

Derartige wörtliche Wiederholungen eines ursprünglich postverbalen Elementes zur Anknüpfung werden auch als "glissements vers la gauche" bezeichnet, vgl. Blanche-Benveniste (1993). Ich möchte sie 'metakommunikative absolute Rahmensetzungen' nennen, da sie v.a. der Dialogorganisation dienen: Indem die vorangegangene Formulierung wörtlich übernommen wird, wird der gesamte Sprechakt, nun auf der metakommunikativen Ebene, als Äußerungsereignis in den Äußerungskontext gestellt und signalisiert so die Bereitschaft des Antwortenden, auf den durch den Fragenden etablierten "neuen", daher postverbal eingeführten thematischen Bereich einzugehen und seinen Gesprächsschritt zu übernehmen. Nach Coseriu (1952).

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(Gesprächsthema ist eine ballaststoffreiche und ausgewogene Ernährung.) X: Mais combien de fibres est-ce qu'ilfaut manger, pour ne pas que j'exagère? Est-ce qu'il y a une limite euh... M: Ah écoute, moi je vais te ... euh, là, j'ai une... une documentation là euh assez assez poussée. Del: Pourquoi ilfaut pas trop en manger? M: Ah non non, ilfaut euh ... par exemple, par exemple, eh ... une chose, le son ...je sais pas comment ... Bon. Pour les ... [X spricht gleichzeitig im Hintergrund.] M: ...fibres, les fibres, parce que ce sont des fibres, pour les intestins ... et ça. le son, alors là. euh, on voit des aliments, mangez du son, à la publicité, mandez euh... (X: Oui.) M:... tous les matins pour le transit intestinal et autres.

Hier ist im ersten Fall die unvollständige kategorielle Füllung der absoluten Rahmensetzung22 sicherlich der Hauptgrund ihrer Markiertheit. Im zweiten Beleg scheint die Semantik der ARSNP eine adverbiale Interpretation, v.a. eine temporale, nicht zuzulassen (während formal nach wie vor Parallelität zu voll grammatikalisierten initialen Adverbialen wie ce jour-là u.ä. vorliegt), was die beiden nächsten Belege schon etwas leichter gestatten: (10) (Gesprächsthema sind Austern. ) H: Eh eh eh. l'in-. l'intérieur, ils sont comme ça... (X: D'accord.) H:... alors ilfaut aimer, hein. (11) H:... normalement tous les mois en r. c'est-à-dire avril alors... X: Tous les mois en r... H:... oui, alors sept-, euh oct-. septembre... (X: Octobre.) H:... octobre, novembre, décembre, janvier, février, mars, avril... c'est bon. Après, elles sont laiteuses. Bon. Elles sont bonnes ...

Diese Markiertheitsabstuiungen23 innerhalb der Gruppe synchron koexistierender absoluter Rahmensetzungen werfen die Frage nach einer passenden synchronen wie möglicherweise auch diachronen Interpretation der absoluten Rahmensetzungen auf, da mit einer derartigen Besetzung der Initialposition von satzförmigen Äußerungen vor der ersten syntaktisch integrierten Konstituente, dem Subjekt, im Französischen syntaktische Strukturen entstehen, die die prinzipiellen topologischen Gesetzmäßigkeiten dieser Sprache nicht durchbrechen, sondern diese im nähesprachlichen Bereich im Hinblick auf sonst anders grammatikalisierte pragmatische Funktionen erweiternd ausschöpfen. Offensichtlich ist im Zusammenhang mit TOPICs im Französischen die präpositionale kategorielle Füllung die Norm, die nur im Falle geeigneter (temporaler) Semantik auch als nominale auftreten kann (wie etwa bei la première fois, wo fois wohl den Ausschlag gibt). Phrasen wie le premier retour stellen durch das Zahladjektiv premier das Substantiv re-

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Die ähnlich wie bei Beleg (7) metakommunikative Funktion hat. Als Begleiterscheinung von Grammatikalisierung sieht Givön (1976 und 1979) den Markiertheitsabbau (vgl. Givon 1979:39). Givön bezieht sich dabei v.a. auf "diskursive Markiertheit": "I think one may define discourse markedness as the 'degree to which a discourse phenomenon constitues a surprise, a break from the communicative norm'" (Givôn 1979: 88, Hervorhebung im Text).

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tour in eine zeitliche Folge von Ereignissen und erlauben so eine Reinterpretation der gesamten Nominalphrase als initiales Adverbiale. Ob damit bereits ein 'Grammatikalisierungsprozeß' in Gang gekommen ist, wird zu diskutieren sein.

3. Grammatikalisierung II: Substantive als "Einleitungsfloskeln" 3.1. Eine Möglichkeit, absolute Rahmensetzungen standardsprachlich akzeptabel zu machen, d.h. ihre Markiertheit in bezug auf diefranzösischeStandardvarietät abzubauen, stellt ihre Kombination mit den sogenannten "Einleitungsfloskeln"24 dar. Einleitungsfloskeln sind Elemente, die in Verbindung mit Heraus- und Voranstellungskonstituenten auftreten und deren topic- oder 7W/C-Status explizit anzeigen, weshalb sie systematisch bei "Neuheit" der Referenten und großer thematischer Relevanz derselben für das Folgende vorkommen. Einleitungsfloskeln wie quant à oder pour ce qui est de usw. erweitern dabei die Konstituente in absoluter Rahmensetzung, und diese Kombination ist keine Frage von 'stilistischer Aufwertung' der Gesamtäußerung und schon gar kein Reflex eines vermeintlichen früheren Zustandes, in dem alle absoluten Rahmensetzungen präpositional gefüllt gewesen wären:25 (12) (Thema ist das Einwanderungsproblem in Frankreich und die unentschlossene Haltung der Regierung.) Yv: Mais on laissepasser des des des choses... de même sur le platt de la Sécurité sociale... on a-, on accepte des choses, des systèmes de la part euh de des immigrés que on n'accepterait pas de la part des Français. An: On accepte qu'un immigré ait trois femmes à charge. [unverständlich] Yv: C'est une erreur fondamentale, la la la tolérance ... tout ça...

In einem eher allgemeinen Gespräch über das Einwanderungsproblem in Frankreich und die Verschiedenheiten der Kulturen wird von Yv der Aspekt des Mißbrauchs des Sozialsystems durch islamische Einwanderer ins Gespräch gebracht (wovon bisher noch nicht die Rede war). Er wird im folgenden noch einige Zeit gelten, bevor die unterschiedliche Auslegung der Gesetze für Franzosen und islamische Einwanderer im allgemeinen zum neuen Rahmen für das ständig geltende Gesprächsthema 'Ausländerprobleme in Frankreich' wird. Die fast unmittelbare Übertragbarkeit solcher absoluter Rahmensetzungen26 vom nähesprachlichen in den distanzsprachlichen und vom medial mündlichen in den medial schriftlichen Bereich

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Zu diesem Begriff vgl. Altmann (1981 ). Eine andere Bezeichnung wurde von Morel ( 1992) geprägt, die von "introducteur de thème" spricht. Ihr Auftreten ist also tatsächlich nicht varietätensensitiv, sondern pragmatisch bedingt; vgl. dazu Stark (1997: Kapitel IV und V). Um diese handelt es sich nach wie vor, da Fakultativität und ihr Status der völligen syntaktischen und intonatorischen Isoliertheit von der Folgeäußerung klar vorliegen. Zwar wirken solche Strukturen adverbial, sie lassen sich aber keiner der üblichen semantischen Adverbialklassen und auch keiner syntaktischen Funktion in den jeweiligen Sätzen zuordnen. Tests wie Substitution durch koreferente Pronomina oder Erfragbarkeit scheitern. Sie sind nun zwar formal in die Folgeäußerung integrierbar, verlieren dann aber ihre TOP/C-Funktion; es entstehen kontextuell und pragmatisch anders gelagerte Äußerungen (vgl. Stark 1997: Kapitel IV).

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bewirken einzig die expliziten Einleitungsfloskeln, die die 'Rahmenfunktion' der TOPICs in thematischer Hinsicht in vergleichbarer Weise anzeigen wie etwa pendant oder dans die von TOPICs mit temporaler oder lokaler Funktion. Derartige Einleitungsfloskeln treten im Französischen vorwiegend als komplexe Präpositionen auf (à propos de, sur le plan de usw.), neben satzförmigen Ausdrücken mit finitem Verb (pour ce qui est dé) und schließlich vollständigen Sätzen, die ebenfalls die kommunikative Funktion der expliziten 'TOPIC- oderto/wc-Kennzeichnung'besitzen (quand on parle de X). Daneben finden sich aber auch einfache Präpositionen wie pour oder avec, die neben absoluten Rahmensetzungen auch Kausal- oder Instrumentaladverbiale begleiten können. Morel (1992) beobachtet in diesen Fällen Folgendes: Le système de marquage par un introducteur lexical se révèle très stable dans l'ensemble du corpus. Il s'opère á l'aide d'une préposition ou d'une locution prépositionnelle qui n'est pas liée à la construction du verbe, qui pourrait, certes, dans certains cas, être considérée comme un introducteur de circonstant [...], mais qui, dans la majorité des cas, semble avoir perdu son sens propre et s'être spécialisée dans le rôle d'introducteur de thème [...]. (Morel 1992: 6 4 f

Der Eindruck größerer Integriertheit der absoluten Rahmensetzungen im vorliegenden Fall beruht also auf kategorieller Parallelität der absoluten Rahmensetzungen mit Einleitungsfloskeln zu initialen Präpositionalphrasen.

3.2. Im Zusammenhang mit Fragen der Grammatikalisierung interessant ist eine genauere Untersuchung des Paradigmas der französischen Einleitungsfloskeln, unabhängig von der vorangegangenen Diskussion um die Markiertheit' absoluter Rahmensetzungen. Ausdrücke, deren Verwendung als Einleitungsfloskeln neueren Datums zu sein scheint, sind neben den oben genannten auch au niveau de, du côté de u.ä., wobei nicht nur deren ursprünglich lokale Semantik verblaßt ist, sondern auch insofern eine interne Umstrukturierung der Präpositionalsyntagmen stattfindet, als die ursprünglichen Modifikatoren des präpositionalen Kopfes nun ihrerseits zu Präpositionen werden. Niveau, côté, question und einige andere2* finden sich in Äußerungen wie (13)

Côté valeurs mobilières, à revenu toujours aussi variable, les actions nationalisables continuent à opérér des réajustements.

(14) Côté économies, le gouvernement mise sur trois tableaux...; côté récoltes, le conseil des ministres a opté pour un cocktail. (Noailly-Le Bihan 1982: 334, Hervorhebungen im Text)

Sowohl valeurs mobilières als auch économies lassen sich problemlos als absolute Rahmensetzungen und funktional auch als TOPICs der Folgeäußerungen beschreiben, womit côté hier eindeutig als Einleitungsfloskel auftritt. Bei der Entwicklung von Substantiven zu Einleitungsfloskeln, die in ihrem Kernbereich ja präpositionalen Charakter haben, vollziehen sich sowohl in formaler als auch semantischer Hin27

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Vgl. hierzu auch die Untersuchung von Cadiot ( 1990), der das "élargissement interprétatif (1990: 156-162) von avec, ausgehend von dessen komitativer Bedeutung, genau nachzeichnet. Vgl. dazu genauer Noailly-Le Bihan ( 1982).

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sieht wichtige Veränderungen. Hilfreich zu ihrer Beschreibung ist Hoppers (1991) Liste von Phänomenen, die Grammatikalisierungsprozesse in actu zu erkennen gestatten, bevor die Lehmannschen Parameter (s.o.) manifest werden. In formaler Hinsicht auffällig ist zum einen die "De-Kategorialisierung" der betroffenen Substantive, die ihre Modifizierbarkeit und Artikelfähigkeit verlieren.29 Interessanterweise ist allerdings auch die Modifizierbarkeit der folgenden Substantive eingeschränkt, was auf einen noch nicht abgeschlossenen Grammatikalisierungsprozeß hindeutet: Les autres prépositions dufrançaismoderne, lorsqu'elles sont suivies d'un nom commun, exigent - ou au moins permettent - une suite articulée: dans le/ton/ce/aucun jardin [...] L'emploi voisin de côté et de ses satellites a au contraire ceci d'original qu'il exige une séquence sans déterminant: côté cuisine, [...] *côté la/une/cette cuisine. (Noailly-Le Bihan 1982: 334f., Hervorhebungen im Text)

In funktional-semantischer Hinsicht können "Divergenz" und "Persistenz" beobachtet werden. Unter "Divergenz" versteht Hopper das Phänomen, daß Grammatikalisierungsprozesse eines lexikalischen Elementes Polysemie bewirken können, wenn die betreffende sprachliche Einheit auch mit ihrer ursprünglichen Bedeutung und Verwendung im Sprachsystem weiterexistiert.30 Dies gilt für einen Großteil derfranzösischenEinleitungsfloskeln, wobei fur pour (und z.T. auch avec, nicht aber quant à) sogar Standardgrammatiken entsprechende Beobachtungen enthalten.31 Du côté de oder au niveau de sind durchaus noch lokal verwendbar, sur le plan de trotz ursprünglich lokaler Semantik nicht (mehr). Im Unterschied zu Einleitungsfloskeln mit finitem Verb sind es Präpositionen oder komplexe Präpositionalphrasen, die in den allermeisten Fällen Polysemie aufweisen. "Persistenz" bedeutet nach Hopper (1991) kontextuelle Verwendungsbeschränkungen von Elementen auf dem Wege zur Grammatikalisierung, die durch spezielle semantische Selektionsrestriktionen der ursprünglichen lexikalischen Einheit bedingt sind und erst am Ende eines Grammatikalisierungsprozesses, wenn überhaupt, wegfallen.32 Im Bereich der Einleitungsfloskeln zeigen côté, niveau usw. eine relativ große Kombinierbarkeit mit allen möglichen semantischen Klassen von ARS-Substantiven, während dans le cas de und dans le cadre de, die in Korpusanalysen funktional durchaus quant à oder en ce qui concerne zur Seite gestellt werden können, noch gewisse Selektionsrestriktionen zu besitzen scheinen. Dans le cas de wird beispielsweise auffallend häufig von Sprechern verwendet, die berufsbedingt von 'Fällen' sprechen: (15) (Moderator fragt eine Vermittlerin in Scheidungsfällen nach dem Sinn der Vermittlungsversuche bei scheidungswilligen Paaren.) Verm: Oui, je le pense, parce que, si vous voulez, l'objectif de la médiation, c'est de faire que le couple conjugal qui... s'estompe enfin qui est détruit, qui est s-, ... séparé, euh, reste euh et demeure, que les

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Vgl. dazu Hopper (1991: 22 und 30f ). Vgl. Hopper (1991: 22 und 24f.). Vgl. die Einzelstudien von Cadiot (1990), Cadiot/Fradin (1990), dann aber auch Grevisse (121986: 1582ff.) und Togeby et al. (1984. 170). Vgl. Hopper (1991: 22 und 28ff.). Vgl. dazu auch Abraham (1992/93: 1 lf.), der zunächst von "primärer lexikalischer Selektionsverletzung", dann von "Erweiterung der Kontexte" spricht.

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deux personnes demeurent quand-même un couple parental. Donc ça paraît important effectivement dans fe cas de Madame, sa fille est grande, et ie pense qu 'elle peut effectivement euh choisir quandmême si elle peut renouer sa relation avec sa mère, mais dans le cas d'enfants plus jeunes, je trouve que la médiation, c'est très important, dans la mesure où les parents vont décider eux-mêmes des conséquences de leur séparation. C'est-à-dire, comment, euh, vont-ils euh décider ensemble de la résidence ... habituelle de l'enfant, comment vont-ils exercer conjointement l'autorité parentale, parce que ça ça paraît extrêmement important.

Ähnlich dans le cadre de: (16)

(vorher Einspielung des Interviews mit einem nach mehreren Scheidungen obdachlos gewordenen Mann) Mod: Est-ce que vous comprenez ce qui ce qu-, ce qu 'il ressent, M. Y? Y: Personnellement, je le comprends. Dans le sens où j'ai ...j'ai un peu passé son parcours. Excepté que moi, j'ai pu euh à un moment donné, certainement, passer un peu plus vite cette étape que lui. Et j'ai aussi trouvé une structure qui m'a permis de ... comment est-ce qu'on peut appeler ça... de me, pas me [unverständlich], mais de retrouver une image. Quand on se trouve à la rue, il y a ... il y a un gros problème, c'est qu'on perd son image ... sa propre image personnelle. Elle est... elle est partie, on la voit plus, on se voit plus par rapport à la société. Et c'est aussi ce que ... le gros reproche qu'on peut faire à la justice, c'est que ... dans le cadre des familles monoparentales ... le cas d'un homme ou d'une femme ... rien n'est fait pour leur redonner des structures, pour pouvoir reprendre pied dans la société.

Während sur le plan de in Beispiel (12) relativ problemlos mit du côté de usw., eventuell auch dans le cas de, permutieren kann, ergeben Sprecherbefragungen, daß ?dans le cadre de la Sécurité sociale aus semantischen Gründen kaum akzeptabel ist. Das ARS-Substantiv muß eine 'Rahmenvorstellung' erlauben, so daß die "Persistenz" der lokalen Semantik offensichtlich ist. Das Paradigma der präpositionalen französischen Einleitungsfloskeln zeigt also eine ständige lexikalische Erneuerung,33 während am anderen Ende der "Grammatikalisierungsskala"34 mit côté in zumindest einer Bedeutung und kategoriellen Ausprägung eine grammatikalisierte Präposition steht, die klar das Ergebnis von "Paradigmatisierung", von semantischen Veränderungen im Sinne einer "attrition" und "Kondensation"35 ist, d.h. die in ein relativ geschlossenes Paradigma integriert ist, ihre Referenz- und Prädikationsfähigkeit verloren hat und, so scheint es, von einer lokalen Bedeutung hin zu einer rein textuellen Indikatorenfunktion 'semantisch verblaßt' ist ("bleaching" bzw. "attrition").

3 .3. Von den verschiedenen Grammatikalisierungsaspekten soll diese semantische Veränderung näher diskutiert werden, v.a. auch deshalb, weil semantischer Wandel morphosyntaktischen Veränderungen u.ä. stets vorausgeht bzw. sogar deren Voraussetzung darstellt.36 Der 'Grammatikalisierungskanal' von Substantiven mit lokaler Semantik zu Präpositionen ist hinreichend beschrie-

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Zu diesem allgemeinen Phänomen im Bereich 'grammatischer'Morpheme vgl. u.a. Hopper/Traugott (1993: 65). Vgl. Lehmann (1985: 309ff). Vgl. Lehmann (1985: 309). Vgl. etwa Heine et al. (1991: 212f): "When a new, more grammatical meaning arises, then the means used to express it tends to retain its original form and morphosyntactic behavior for some time [...]; that is, conceptual/semantic shift precedes morphosyntactic and phonological shift".

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ben worden und gerade im Französischen leicht zu belegen (vgl. etwa afrz. lez aus lat. latus). Dieser Grammatikalisierung liegt eine "context-induced reinterpretation"37 zugrunde, ein metonymischer Prozeß, der eine Interpretation des ursprünglich lokalen Kerns einer komplexen Nominalphrase als Präposition bewirkt. Kontiguität besteht hier oberflächenstrukturell in der textuellen Nähe derfraglichenElemente, semantisch in räumlicher Nähe ('die Seite von etwas' wird zu 'auf der Seite von etwas', also 'neben', 'bei'). Die weitere funktionelle Entwicklung von Präpositionen zu Einleitungsfloskeln ist darüber hinaus ein rein semantischer, genauer metaphorischer Prozeß, der nur noch die Inhaltsseite der fraglichen sprachlichen Einheiten betrifft, während sie sich formal in das Präpositionenparadigma einordnen lassen. Die häufigsten präpositionalen französischen Einleitungsfloskeln sind semantisch mit wenigen Ausnahmen38 in zwei Gruppen einteilbar: diejenigen mit lokaler Semantik und eine Gruppe, die 'sprechaktbezogene' Elemente enthält. (Au) niveau (de), chez, (du) côté (de), dans le cadre de, point de vue, sur le plan de stehen Ausdrücken wie à propos de, concernant, en matière de, quant à, question" gegenüber.40 Abgesehen von weiteren, früheren Grammatikalisierungserscheinungen41 entspricht bei der zweiten Gruppe die Kernbedeutung der Einleitungsfloskeln bzw. der in ihnen enthaltenen Substantive genau ihrer Textfunktion, nämlich der expliziten metakommunikativen Signalisierung des im folgenden geltenden Referenzbereiches (70PIC). Sie versprachlichen direkt, was im allgemeinen die bloße Voranstellung indiziert, also, daß alle folgenden Ausfuhrungen zu einem topic 'hinsichtlich X", 'im Bereich X' oder 'die Frage X betreffend' verstanden werden sollen. Die erste Gruppe weist dagegen Substantive mit klarer lokaler Semantik auf, die z.T. noch spürbar und in anderen Verwendungen der Präpositionalsyntagmen voll wirksam ist (dans le cadre de, du côté de), z.T. den Sprechern nicht mehr bewußt ist (point de vue, sur le plan de)*2 - diese Präpositionalsyntagmen liegen nur in 'abstrakter' Bedeutung vor. Innerhalb des Paradigmas findet sich damit eine geradezu 'klassische' Grammatikalisierungserscheinung,43 nämlich die Übertragung konkreter lokaler Relationen auf abstraktere Bereiche, hier den der Diskurs- bzw. Textorganisation. TOPICs sind hier versprachlicht als Punkte oder Bereiche, denen im Textverlauf eine bestimmte Stelle (Seite oder Ebene) unter anderen zugewiesen werden kann, d.h. die thematische Grobgliederung von Texten wird als horizontal oder vertikal regelmäßig aufgeteilter

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Vgl. Heine et al. (1991: Kapitel 3, S. 65-97). Zu den komplexen semantischen und diskurspragmatischen Verhältnissen bei avec und pour vgl. Cadiot ( 1990) und Cadiot/Fradin ( 1990). Vgl. dazu Noailly-Le Bihan ( 1982). Noailly-Le Bihan (1982) präsentiert in ihrer Untersuchung außerdem façon, style, version u.a., die völlig ihrer Semantik entsprechend ausschließlich appositionell verwendet werden: "un manteau style houppelande" (Noailly-Le Bihan 1982: 337). Von ursprünglich lokaler Semantik zu 'abstrakterer' bei concerner, von elliptischem quantum ad zu quant à etwa im Sinne eines \vieviel noch zu X zu sagen wäre' o.ä., von konkretem matière zu 'abstrakterem' 'Lehrstoff, 'Bereich' usw. Zu einigen allgemeinen Kriterien des 'Grammatikalisierungsgrades' von Kategorien vgl. Heine et al. (1991: 156ff). Vgl. dazu beispielsweise Lehmann (1985: 303f.).

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Raum konzeptualisiert. Diese Abbildung räumlicher Verhältnisse auf einen 'Textraum' kann als metaphorisch beschrieben werden.44 Die "primäre lexikalische Selektionsverletzung" (s.o.) besteht hier wohl in der Kombination beispielsweise von côté mit abstrakten Substantiven (z.B. valeurs mobilières, s.o.), die keine 'Seite' besitzen und auch nicht 'auf einer Seite von X' vorstellbar sind. Côté muß sinnvoll, also in einem metaphorischen Sinne interpretiert, auf eine 'räumliche' Struktur des Textes übertragen werden. Es tritt allmählich eine "Erweiterung der Kontexte" ein, die eine Reinterpretation bedingen.45 An diesem Punkt sind Überlegungen innerhalb der Grammatikalisierungsdiskussion zu beachten, die das Sprecher-Hörer-Verhältnis als wichtige pragmatische Größe bei Grammatikalisierungsprozessen ins Spiel bringen: Traugott/König (1991) präsentieren eine grundsätzliche Grammatikalisierungsrichtung von propositionaler, außersprachlicher Bedeutung zu textueller Bedeutung zu sprecherbezogener ('modaler') Bedeutung.46 Wesentlich ist dabei eine Übertragung der "äußeren" auf eine "innere Situation", von dieser wiederum auf die textuelle Situation.47 Die Rolle des Hörers ist dabei insofern tragend, als er Selektionsrestriktionsverletzungen erkennt und aufgrund von Konversationsmaximen eine sinnvolle Aussage inferiert.48 Diese Sichtweise relativiert die These des 'Verblassens' ("bleaching") von Bedeutung als automatische Begleiterscheinung von Grammatikalisierung (s.o.). Wenn 'lexikalische', außersprachlich relevante Bedeutung in einer bestimmten Verwendung eines Lexems (côté u.a.) oder sogar in jeder Verwendung verlorengeht, kommt doch eine neue diskurspragmatische Funktion ('7W/C-Marker') hinzu. Bedeutungswandel als Grammatikalisierungsprozeß verläuft nicht in Richtung 'Bedeutungsverlust',49 sondern muß zunächst als Wandel von 'semantischer Bedeutung' zu 'pragmatischer Bedeutung' gesehen werden, worauf Automatisierung und "bleaching" allenfalls folgen können.50 Der Fall der Verwendung von Elementen mit lokaler Semantik als Einleitungsfloskeln mit diskurspragmatischer Funktion zeigt schließlich die prinzipielle Unabhängigkeit von Grammatikalisierung und Reanalyse. Wenn au niveau de und du côté de nicht nur lokal, sondern auch als rOP/C-Marker auftreten, haben sie in einer Verwendung einen metaphorischen Bedeutungswandel erfahren, der ihre formale und syntaktische Gestalt nicht aflfiziert. Sie bleiben die präpositionalen Köpfe von Präpositionalsyntagmen, ähnlich wie die Grammatikalisierung von Demon-

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Vgl. hierzu die kognitive Studie von Greenberg (1985) zur Abbildung der räumlichen Deixis auf die textuelle im Falle der Grammatikalisierung von Demonstrativpronomina zu Artikeln und Personalpronomina. Vgl. auch Heine et al. (1991: 179f., 186f). Wie sehr viele'abstrakte' Kodierungen und grammatische Kategorien gehen also auch Einleitungsfloskeln auf Lexeme mit lokaler Semantik zurück, allerdings nicht alle (s.o.), was gegen eine starke "lokalistische" Hypothese spricht, derzufolge allen grammatischen Kategorien räumliche Situierungen oder Relationen zugrundeliegen. Vgl. hierzu den Überblick bei Heine et al. (1991: 113-118). Zur genauen, schrittweisen Schematisierung dieser Vorgänge vgl. Heine et al. (1991: 71f.). Vgl. z.B. Traugott/König (1991: 289). "Semantic-pragmatic Tendency /: Meanings based in the external described situation > meanings based in the internal (evaluative/perceptual/cognitive) situation. [...] Semantic-pragmatic Tendency II: Meanings based in the described external or internal situation > meanings based in the textual situation" (Traugott/König 1991: 208, Hervorhebungen im Text). Vgl. dazu genauer Traugott/König (1991: 191). "Rather there is a balance between loss of older, typically more concrete, meanings, and development of newer, more abstract ones that at a minimum cancel out the loss" (Hopper/Traugott 1993: 96). Vgl. hierzu genauer Hopper/Traugott (1993: 5).

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strativa zu anaphorischen Elementen deren syntaktischen Status nicht tangiert.51 In diesen Fällen kann nicht von "Restrukturierung von Konstituenz", also Reanalyse, gesprochen werden. Auch wenn côté als Modifikator von de und Kopf der abhängigen folgenden Präpositionalphrase heraustritt (du côté des valeurs mobilières) und als präpositionaler Kopf in Parallelität zu (au) point de vue52 oder niveau verwendet wird, hat nur ein Kategorienwechsel, aber keine Veränderung der zugrundeliegenden Konstituentenstruktur stattgefunden. Die Entwicklung von dem Substantiv le côté zur Einleitungsfloskel côté ist also ein Fall von Grammatikalisierung. Voraussetzung dafür ist der oben skizzierte semantische Wandel, womit die These, daß Bedeutungswandel allen anderen sprachlichen Veränderungen vorgeordnet ist, eine weitere Illustration erfahren hat.

4. 'Grammatikalisierte' Voranstellungsstrukturen? Wie sind nun das Auftreten und der unterschiedliche Markiertheitsgrad von Voranstellungsstrukturen, insbesondere von absoluten Rahmensetzungen, zu beurteilen? Ist eine Entwicklung von vollständigen Präpositionalsyntagmen (absolute Rahmensetzungen mit Einleitungsfloskeln) zu zunehmend weniger integrierten Voranstellungsstrukturen zu beobachten und/oder die Zunahme absoluter Rahmensetzungen nach dem Modell initialer Temporaladverbiale? Geht damit die u.a. von Haspelmath betonte steigende Verbindlichkeit solcher Strukturen ("less freedom in the use of linguistic expression", s.o.) einher? Der syntaktischen Norm des Französischen entspricht aus standardsprachlicher Sicht eben nur die temporale 7W/C-Markierung in einfachen NP in 'absoluter Rahmensetzung1. Synchron ist "Markiertheitsabbau' bei parallel zu interpretierenden absoluten Rahmensetzungen denkbar, d.h. die in die Folgeäußerung nicht integrierten NP werden als adverbiale Konstituenten derselben interpretiert. Das betrifft aber nur die Bewertung einer Äußerung im Einzelfall, keine systematische Tendenz der quantitativen Zunahme solcher absoluter Rahmensetzungen. D.h. dieser Markiertheitsabbau' ist lediglich von metasprachlicher Relevanz (ex post in der Bewertung durch Muttersprachler), er bewirkt keine vermehrte 'Produktion' von absoluten Rahmensetzungen. Damit bleibt die Angemessenheit der Anwendung des (diachronen) Grammatikalisierungsbegriffes auf diese Erscheinungen fraglich. Ein wesentlicher Grammatikalisierungsparameter ist nämlich bisher noch nicht diskutiert worden, derjenige der "obligatorification".53 Diese kann sicherlich fürfrühereto/wc-Markierungs-Konstruktionenmit vereinzeltem obligatorischen Charakter beispielsweise im Spanischen festgestellt werden (vgl. Einleitung), für 70/VC-Markierungen in Form von absoluten Rahmensetzungen im Französischen und allgemein romanischen Bereich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht.

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Vgl. Heine et al. (1991:219). (Thema ist die Bergwelt im Winter.) LS: Bah, re-, c'est réellement beau. HMe: C'est-à dire que l'hiver, tu sais, c'est beau, c'est plus imposant, mais au point de vue teintes, c'est moins varié que l'été. "The loss of paradigmatic variability may be called obligatorification. Within the paradigm, choice among its members becomes constrained by grammatical rules" (Lehmann 1985: 307, Hervorhebung im Text).

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Das Auftreten von absoluten Rahmensetzungen und ihre jeweilige kategorielle Gestaltung in konkreten Gesprächssituationen sind eindeutig hauptsächlich diskurspragmatisch bedingt. Korpusanalysen ergeben, daß physische Nähe der Kommunikationspartner, Dialogizität, ausgeprägte Kooperation und "emotionale Beteiligung" der Kommunikationspartner am aktuellen Thema ausschlaggebende Faktoren sind, während weitere "Nähe" konstituierende Faktoren wie Privatheit der Kommunikationssituation oder Vertrautheit der Kommunikationspartner, auch Spontaneität usw. dagegen keine entscheidende Rolle spielen.54 Schriftlich fixierte absolute Rahmensetzungen finden sich weiterhin praktisch nicht.55 Es läßt sich seit lateinischer Zeit auch keine 'Geschichte' von absoluten Rahmensetzungen aufzeigen (ihre Zahl nimmt weder zu noch ab, ihre Form wird weder kontinuierlich "integrativer" noch "aggregativer"), sie scheinen vielmehr aus kommunikationspragmatischen, gegebenenfalls auch rhetorischen Gründen (s.u.) hauptsächlich an den Realisationsmodus des Mündlichen, an den Dialog gebunden zu sein.56 Von Grammatikalisierung könnte sinnvoll erst bei einer signifikanten und nicht primär diskurspragmatisch bedingten Zunahme von absoluten Rahmensetzungen als 7ü/YC-Markierungen in der Sprachverwendung der französischen Muttersprachler gesprochen werden, und zwar über die oben festgestellten medialen Beschränkungen (phonisches Medium) hinaus. Sie wären dann ein Ergebnis des mit dem Namen Givöns verbundenen Prozesses der Entstehung syntaktischer Strukturen aus pragmatisch bedingten Anordnungen von sprachlichen Einheiten, vom Diskurs zur Syntax.57 Givön (1979) unterscheidet prinzipiell zwei 'Kommunikationsmodi', den pragmatischen und den syntaktischen,58 deren simultane Koexistenz in allen historischen Einzelsprachen Givön zu Recht betont und deren Sensitivität für diastratische und diaphasische Varietäten er nachweist.59 Denkbar ist jedoch auch die Gebundenheit des 'pragmatischen Modus', d.h. der unmittelbaren, 'noch nicht syntaktisierten' Kodierung pragmatischer Kategorien wie TOPIC, topic und comment, an Mündlichkeit' bzw. 'Schriftlichkeit', die sowohl medial wie konzeptionell nicht als Varietäten im strengen Sinne, sondern als universale Parameter menschlicher Kommunikation zu sehen sind. Wenn nun, wie oben angedeutet, rein diskurspragmatische Faktoren das Auftreten

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Zu den Begriffen der "kommunikativen Nähe" bzw. "Distanz" und den damit verbundenen Kommunikationsfaktoren und Versprachlichungsstrategien vgl. Koch/Oesterreicher (1990). Vgl. dazu Stark (1997: Kapitel VI.4.C): "Die absolute Rahmensetzung als Versprachlichungsstrategie phonisch realisierter Kommunikation". Ihre 'Markiertheit' entsteht möglicherweise sogar erst durch die schriftliche Fixierung; im Gesprächsverlauf werden sie nicht bemerkt und auch nicht metasprachlich kommentiert wie z.B. gehäufte Segmentierungen (z.B. moi je)Vgl. etwa Traugott/Heine (1991: 2f.) und v.a. Givön (1979: 208), s.o. Fußnote 5; dabei ist lexikalische Erneuerung natürlich beständig zu berücksichtigen: "If language constantly takes discourse structure and condenses it - via syntacticization - into syntactic structure, one would presumably expect human languages to become increasingly syntacücized over time. In fact, this is not the case. Rather, syntactic structure in time erodes, via processes of morphobgization and lexicalization. [. . .] Nevertheless, one must keep in mind that we are dealing here with cyclic waves, which may be characterized roughly as Discourse - Syntax - Morphology - Morphophonemics - Zero" (Givön 1979: 208f., Hervorhebungen im Text). "Furthermore, I would like to posit two extreme poles of communicative mode : the pragmatic mode and the syntactic mode. [...] That every human language known to us has both extremes - as well as any intermediate in between - will become rapidly obvious [...]" (Givön 1979: 222f., Hervorhebungen im Text). Vgl. Givön (1979: 229f ).

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und die Gestalt von absoluten Rahmensetzungen beeinflussen, unabhängig von diastratisch oder diaphasisch niedrig markierten Varietäten, wenn TOPICs in Adverbialen oder Nebensätzen wie in absoluten Rahmensetzungen versprachlicht werden können ("freedom in the use of linguistic expression"!), wird hier die Annahme von Grammatikalisierung als Übergang vom 'pragmatischen' zum 'syntaktischen' Kode unplausibel. Möglicherweise sind Voranstellungsstrukturen im besonderen und topologische Auffälligkeiten im allgemeinen ein Gebiet, in dem Hoppers (1987) Auffassung der "Emergent Grammar" sinnvoll wird: The Notion of Emergent Grammar is meant to suggest that structure, or regularity, comes out of discourse and is shaped by discourse as much as it shapes discourse in an on-going process. Grammar is hence not to be understood as a prerequisite for discourse [...]. Its forms are not fixed templates, but are negotiable in face-to-face interaction in ways that reflect the individual speakers' past experience of these forms, and their assessment of the present context. (Hopper 1987: 142)

So kann Grammatikalisierung als kontinuierliche Bewegung hin zu Struktur verstanden werden, als 'panchronische160 Vermittlung zwischen Sprecher-Kreativität und kommunikativen Erfordernissen, von welcher Reanalyse als spezifischerer syntagmatischer Interpretationsprozeß grundsätzlich geschieden werden muß.61 Lediglich in dem eng begrenzten Bereich der Einleitungsfloskeln läßt sich Sprachwandel als beständige Erneuerung des Paradigmas konstatieren, nicht aber beim Auftreten von Voranstellungsstrukturen im allgemeinen, die als möglicherweise universale Versprachlichungsstrategien keine Geschichte haben.62 Dieser Gesichtspunkt sollte bei allen diachronischen Untersuchungen und Hypothesen zu pragmatisch bedingten topologischen Auffälligkeiten auch und gerade in der Romania stets berücksichtigt werden. In einer anderen Sicht kann die Verwendung von Voranstellungsstrukturen ohne 'Integrationsmarker' wie Einleitungsfloskeln schließlich auch als bewußte alltagsrhetorisch motivierte Versprachlichungsstrategie betrachtet werden, die in Analogie zu Temporaladverbialen ein vor dem Hintergrund der grammatikalisierten französischen Standardsyntax auffälliges und jeweils individuell neues 63 7ö/YC-Markierungsverfahren darstellt. Dessen Markiertheit ist dann nicht sekundär durch rein pragmatisch gesteuerte Versprachlichung ohne Berücksichtigung vorliegender syntaktischer Muster bedingt, sondern bewußt in Kauf genommen, ja durch expressive,64 d.h. sprecherbezogene Ausdrucksziele motiviert. Erst wenn diese Motivation abnehmen sollte, sich die Verwendung von absoluten Rahmensetzungen als rhetorisch nicht mehr nutzbares, weil demarkiertes syntaktisches Muster ausbreiten sollte,65 könnte Grammatikalisierung als Erneuerung des äußerungsinitialen Adverbialparadigmas konstatiert werden.

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Vgl. Heine et al. (1991: 248ff.). Vgl. in diesem Sinne auch Haspelmath (1998). Zu diesem Gedanken vgl. Emst (1980). D.h. in der Norm und im betreifenden Einzelfall; wie oben dargelegt, liegen absolute Rahmensetzungen möglicherweise sogar universal vor und entsprechen durchaus dem französischen System. "These new and innovative ways of saying things are brought about by speakers seeking to enhance expressivity. This is typically done through 'deroutinizing' of constructions, in other words, through finding new ways to say old things" (Hopper/Traugott 1993: 65). Also ähnlich wie bei den eingangs erwähnten ursprünglichen /opic-Markierungsverfahren durch Aktantenverdoppelung, vgl. Einleitung.

Elisabeth Stark

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Claus D. Pusch (Freiburg)

Reanalyse von Spaltsatzkonstruktionen und grammatikalisierte Prädikationsexplizierung. Zur Entwicklung des Enunziativs que im Gaskognischen

0. Der vorliegende Beitrag befaßt sich mit einem morphosyntaktischen Spezifikum des Gaskognischen, dem sog. Enunziativ, vor dem Hintergrund der Frage nach Komplementarität vs. Exklusivität von Reanalyse und Grammatikalisierung.1 In Abschnitt 1 werden diese beiden sprachdynamischen Prozesse kurz gegenübergestellt. Das frequenteste Enunziativmorphem des Gaskognischen ist präverbales que im Hauptsatz. Romanisch que ist ein typischer Subordinator, der aber auch in anderen romanischen Sprachen außerhalb von syntaktisch eindeutig untergeordneten Propositionen auftritt, was in Abschnitt 2 dargelegt wird. Abschnitt 3 geht auf die Distribution des Enunziativs ein und stellt die bisher vorgeschlagenen Herleitungen des Morphems vor. Diesen wird in den Folgeabschnitten eine Alternativhypothese gegenübergestellt, derzufolge das Enunziativ aus dem Spaltsatz hervorgegangen ist. Dazu wird in Abschnitt 4 kurz auf den Zusammenhang von Spalt- und Relativsatz eingegangen, um in Abschnitt 5 Argumente für und wider den postulierten Ablauf des Sprachwandels im gaskognischen Hauptsatz abzuwägen. In Abschnitt 6 wird die von jüngeren Arbeiten zum Thema 'Enunziative' formulierte These, das Enunziativ sei ein modalisierender Assertionsmarker, auf ihre Vereinbarkeit mit der hier vorgebrachten 'Spaltsatzhypothese' geprüft. Abschnitt 7 faßt das Zusammenspiel von Reanalyse und Grammatikalisierung im vorgestellten Fallbeispiel zusammen.

1. Reanalyse scheint im Kern auf'Mißverständnisse', auf strukturell angelegte Ambiguität zurückzugehen. Daher stellt Lessau (1994) in seinem Lexikonartikel "Reanalysis" unter Verweis auf Heine (1993) zusammenfassend fest: "Summarily seen, reanalysis does not seem to mean anything more substantive than simply 'the reinterpretation of one entity as another entity'" (Lessau 1994: 719). Dies entspricht dem, was Lessau mit Heine/Claudi/Hünnemeyer (1991: 215) als "conceptual manipulation" bezeichnet und als gemeinsames Charakteristikum von Grammatikalisierung und Reanalyse erachtet. Zur Abgrenzung dieser Konzepte sagen Heine und Reh (1984), daß bei enger Korrelierbarkeit beider Prozesse der Wandel auf unterschiedliche sprachliche Segmente einwirke. So definieren die Autoren: "we wish to distinguish between the evolution of lexical or grammatical morphemes on the one hand and that of syntactic or

1

Zum Enunziativ aus syntaktischer Sicht siehe u.a. Lafont (1967), Campos (1992), Joseph (1992); aus semantisch-pragmatischer Perspektive u.a. Joly (1976), Field (1985), Wüest (1985); aus pragmatisch-textlinguistischer Perspektive Pilawa( 1990), Raible( 1992). Zu Reanalyse und Grammatikalisierung im hier zugrundegelegten Sinne siehe Langacker (1977), Lehmann (1995a [1982]), Heine/Reh (1984), Heine/Claudi/Hünnemeyer (1991). - Dank geht an die Sektionsteilnehmerinnen und -teilnehmer, deren Anregungen und Kritikpunkte teilweise in diese überarbeitete Fassung der Jenaer Diskussionsvorlage eingeflossen sind.

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Claus D. Pusch

pragmatic structures on the other. [...] We will reserve the label 'reanalysis' to the latter phenomenon" (Heine/Reh 1984: 95; Hervorh. C.P.). Bei Grammatikalisierung wie auch bei Reanalyse tritt vorhandenes sprachliches Material in neue (d.h. bisher von ihm nicht ausgefüllte) Funktionen ein. Während die Grammatikalisierung im Idealfall vom semantisch vollwertigen Lexem zum nicht mehr autonomen grammatischen Morphem fuhrt, aber nie umgekehrt verläuft, gilt für die Reanalyse dieses Unidirektionalitätsprinzip nicht in demselben Maße: "it [reanalysis] may have pragmatic structures as its input and syntactic structures as its output, but opposite évolutions are also possible" (Heine/Reh 1984: 96). Reanalysevorgängen eignet also das größere Reinterpretationspotential. Dem (in dieser Hinsicht engen) Reanalysebegriff Langackers (1977) zufolge fuhrt diese Reinterpretation nicht zwangsläufig zu overter Manifestation. Wenn man aber als potentiellen input von Reanalyse(n) sprachliche Strukturen, also mehrgliedrige Segmente vorsieht, ist durchaus erwartbar, daß der Reanalysevorgang an einem Element der Struktur sichtbar wird. Dieses Element hat dann einen Grammatikalisierungsprozeß durchlaufen. Wie ist in diesem Zusammenhang aber ein sprachdynamischer Prozeß zu werten, dessen overte Manifestation das Verhalten eines bereits im /«pwi-Stadium hochgradig grammatikalisierten Elements darstellt, das auf eine zugrundeliegende, offenkundig reinterpretierte Struktur verweist? Ein solcher Fall liegt vor mit dem gemeinromanischen Subordinationsmorphem que in seinem spezifischen Gebrauch im gaskognischen Hauptsatz.

2. In gesprochenen Varietäten romanischer Sprachen erscheinen vielfach Äußerungsgefuge, die durch gehäuftes Auftreten des Unterordnungsmorphems que / che gekennzeichnet sind, ohne daß zugrundeliegende Subordinationsverhältnisse eindeutig bestimmt werden könnten. Dazu ein Beispiel aus dem Katalanischen (1): (1)

és que jo jo voldria de dir dir una d - això em sembla que encara que sigui una mica farregós és important - perquè - una cosa - que és / que a mi em sembla fonamental - és entendre que la Televisió Catalana . sigui la que sigui des del punt de vista juridic - que depèn del procès legislatiu - però la televisió que VQlem - que sigui catalana - i que ha de tenir la màxima - hegemonia (Guàrdia 1985: 30 [4-13])

Im Französischen findet sich diese Erscheinung oft in der (konzeptionell) nähesprachlich realisierten Redeausleitung: (2)

(3)

Dites donc, qu'il lui fait, vous pourriez pas faire attention, qu'il ajoute, on dirait, qu'i pleurniche, quvous lfaites essprais, qu'i bafouille, deummarcher toutltemps sullé panards, qu'i dit. (Raymond Queneau, Exercices de style)2 Eh bien qu'elle se dit, la Pélagie, j'avais bien beau point le prendre dans ma charrette, le sorcier. J'avais bien en bel! (Antonine Maillet, Pélagie-la-Charrette f

Diese Verwendung des Subordinationsmorphems que im Hauptsatz hat Thun (1976) als Strategie der mise en relief analysiert, wobei das que als Präsentativ fungiert, das das Voranstehende

2 3

zit. n. Ausg. Paris 1982, p. 64 (= folio 1363). zit. n. Ausg. Paris 1981, p. 36 (= Livre de poche 5496).

Zur Entwicklung des Enunziativs que im Gaskognischen

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hervorhebt und den nachfolgenden Verbalkomplex defokalisiert. Krefeld (1989) greift diese Analyse Thuns auf, wenn er sagt: "Inhaltlich gesehen funktioniert que als Einleitung des Themas bei vorangestelltem Rhema" (Krefeld 1989: 25). Er lehnt es jedoch ab, die durch dieses Thematisierende que bewirkte Hervorhebung mit der durch die gängige Fokuskonstruktion des Spaltsatzes, also mittels c'est... que/qui bewirkte Fokalisierung in Zusammenhang zu bringen. Krefeld ordnet dem que im Hauptsatz vielmehr "kopulative Funktion" (ebd.) zu. Er bezeichnet diese syntaktische Konstruktion, die "zwischen hierarchisch eindeutiger Einbettung auf der einen und der hierarchisch ebenso klaren Junktion von Syntagmen gleicher Ebene auf der anderen Seite" (ebd.) liegt, als "Zuordnung". "Im genannten Sinn zuordnendes frz. que", so Krefeld weiter, "muß also klar vom sog. expletiven, vollständig automatisierten que des Gaskognischen getrennt werden" (Krefeld 1989: 26). Die Notwendigkeit dieser Trennung soll im vorliegenden Beitrag hinterfragt werden. Die Häufigkeit des Morphems que in gesprochener Sprache muß im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Parataxe und Hypotaxe in der Mündlichkeit untersucht werden. Hier weisen Koch/Oesterreicher (1990: 99f.) unter Rückgriff auf Arbeiten der italianistischen Sprachwissenschaft auf das che polivalente hin, das ein in der Romania weitverbreitetes Phänomen nähesprachlicher Pseudo-Hypotaxe zu sein scheint. Die Autoren fuhren u.a. folgende Korpusbelege aus dem Italienischen4 und Französischen an: (4) (5)

Fanny