Realitätsprägung durch Verfassungsrecht: Kolloquium aus Anlass des 80. Geburtstages von Peter Lerche [1 ed.] 9783428528639, 9783428128631

Am 12. Januar 2008 feierte Prof. Dr. Dr. h.c. Peter Lerche, emeritierter Ordinarius für Öffentliches Recht an der Univer

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Realitätsprägung durch Verfassungsrecht: Kolloquium aus Anlass des 80. Geburtstages von Peter Lerche [1 ed.]
 9783428528639, 9783428128631

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 50 RUPERT SCHOLZ / DIETER LORENZ / CHRISTIAN PESTALOZZA / MICHAEL KLOEPFER / HANS D. JARASS / CHRISTOPH DEGENHART / OLIVER LEPSIUS

Realitätsprägung durch Verfassungsrecht Kolloquium aus Anlass des 80. Geburtstages von Peter Lerche

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Realitätsprägung durch Verfassungsrecht

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 50

Rupert Scholz / Dieter Lorenz / Christian Pestalozza / Michael Kloepfer / Hans D. Jarras / Christoph Degenhart / Oliver Lepsius

Realitätsprägung durch Verfassungsrecht Kolloquium aus Anlass des 80. Geburtstages von Peter Lerche

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-12863-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Peter Lerche feierte am 12. Januar 2008 seinen 80. Geburtstag. Dies war für uns der Anlaß, unseren verehrten akademischen Lehrer mit einem wissenschaftlichen Kolloquium zu würdigen. Freunde, Weggefährten und Kollegen versammelten sich Peter Lerche zu Ehren am 18. Januar 2008 in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München; Bundespräsident a.D. Roman Herzog eröffnete das Kolloquium, wobei er die Persönlichkeit und die Verdienste Peter Lerches eindrucksvoll würdigte. Dieser Band dokumentiert die sieben dort gehaltenen Vorträge, für die jeweils nur eine Vortragszeit von 20 Minuten zur Verfügung stand. Unter dem Titel „Realitätsprägung durch Verfassungsrecht“ knüpfen wir an das Werk des Jubilars an und wollen die dirigierende Kraft der Verfassung über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinaus behandeln – ein Thema, das, wie wir wissen, auch Peter Lerche am Herzen liegt. Wir danken besonders der Carl Friedrich von Siemens Stiftung für ihre Gastfreundschaft und für ihre vielfältige organisatorische Unterstützung. Unser Dank gilt auch dem Verlag Duncker & Humblot für die verlegerische Betreuung dieses Bandes. Bei alledem wissen sich die sechs Erstunterzeichner in der Schuld von Oliver Lepsius, der Vergnügen und Mühe der Vor- und Nachbereitung auf sich versammelt hat. Schließlich und vor allem gilt unser großer Dank natürlich Peter Lerche. Ohne ihn wäre das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland nicht, was es ist, und auch wir wären nicht, was wir sind. So wie es eine Realitätsprägung durch Verfassungsrecht gibt, haben wir dankbar eine Persönlichkeitsprägung durch Peter Lerche erfahren.

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Vorwort

Hochverehrter, lieber Herr Lerche, zu Ihrem Geburtstag gratulieren wir auch von dieser Stelle auf das Herzlichste! Rupert Scholz Dieter Lorenz Christian Pestalozza Michael Kloepfer Hans D. Jarass Christoph Degenhart Oliver Lepsius

Inhalt Rupert Scholz Konstitutionalisierte Politik oder politisierte Konstitution? . . . . . . .

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Dieter Lorenz Die verdeckte Online-Durchsuchung als Herausforderung an die Grundrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christian Pestalozza Die Endlichkeit von Verfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Michael Kloepfer Verfassungsverstöße und Öffentliche Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans D. Jarass Die Konstitutionalisierung des Rechts, insb. durch die Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christoph Degenhart Realitätsprägung durch Verfassungsrecht – Verfassungsinterpretation und reale Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Oliver Lepsius Zur Bindungswirkung von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Kolloquium am 18. 1. 2008 in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung München (Foto) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Konstitutionalisierte Politik oder politisierte Konstitution? Von Rupert Scholz Blickt man auf bald sechs Jahrzehnte Grundgesetz zurück, so wird das Urteil über diese Verfassung und ihre Wirksamkeit wie Wirklichkeit in aller Regel nur höchst positiv ausfallen. Das Grundgesetz ist unbestreitbar zu einer wirklich funktionstüchtigen und im Wesentlichen allseits akzeptierten Verfassung geworden, die die Bundesrepublik Deutschland zu einem stabilen demokratischen Rechtsstaat geformt hat und die – unabhängig von vielen Reformerfordernissen, namentlich im Bereich der bundesstaatlichen Ordnung – alle, wenngleich und glücklicherweise bisher nur lauen Stürme überstanden hat – einschließlich und insbesondere den Prozeß der deutschen Wiedervereinigung, der über den damaligen Art. 23 GG in nahezu idealer Form vollzogen werden konnte. Dennoch und naturgemäß stellen sich immer wieder Fragen von grundsätzlicher Bedeutung vor allem im Hinblick auf das Verfassungsbewußtsein einerseits, das Verhältnis von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit andererseits und nach den realen Mechanismen, über die das Grundgesetz und seine Werteordnung die gesellschaftliche Realität, mit denen Politik heute buchstäblich „verfaßt“ wird und die naturgemäß auf die Verfassung selbst, ihre Interpretation, ihre Akzeptanz und ihr Verständnis massiv zurückwirken. Gerade anläßlich des 80. Geburtstags von Peter Lerche, einem der mit Sicherheit nicht nur klügsten, sondern auch sensibelsten Verfassungsrechtler wie Verfassungslehrer ist es sicherlich ebenso angemessen wie für den heutigen Jubilar treffend, über diese Fragen einmal kurz nachzudenken und sie ein wenig in Relation zu dem zu

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stellen, was Peter Lerche über Jahrzehnte ebenso vorgedacht wie verfassungstheoretisch vorgegeben hat. Wie jede Verfassung steht auch das Grundgesetz naturgemäß im permanenten Spannungsfeld von normativem Verfassungsrecht und realer Verfassungswirklichkeit. Zwischen beiden besteht ein permanentes Spannungsverhältnis – mit vielfältigen Wechselbezüglichkeiten, gegenseitigen Rückwirkungen und vielfältigem impliziten Verfassungswandel. Gerade Peter Lerche hat immer wieder darauf aufmerksam gemacht, wie offen und – in seinen Worten – auch sinnvariabel Verfassungsrecht sein muß, um wirklich und dauerhaft zeitgemäß zu sein, um gesellschaftliche Entwicklungsprozesse und deren Wandel immer wieder von neuem wirksam aufnehmen und auch disziplinieren zu können. Verfassungsrecht darf nie versteinern, Verfassungsrecht muß in den eigenen Grundwerten stabil und wirksam sein, Verfassungsrecht muß auf der anderen Seite aber auch offen sein und mit dem Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse Schritt halten können. Wohl niemand hat diese Notwendigkeiten so klar und immer wieder von neuem herausgearbeitet und betont wie Peter Lerche. Es war sicherlich ein zwar ungewollter aber impliziter Glücksfall, daß das Grundgesetz seinerzeit als mehr oder weniger bloße Übergangsordnung bis zur viel rascher erwarteten Wiedervereinigung gedacht war, daß die Mütter und Väter des Grundgesetzes sich demgemäß auf das buchstäblich „Wesentliche“ einer Verfassung beschränkt haben, daß sie vor allem in gesellschaftspolitischer Hinsicht ein enormes Maß an Offenheit zugrundegelegt haben und damit dem Grundgesetz insgesamt eben jenes Maß an Offenheit, Gestaltungs- und Wandlungsfähigkeit beschert haben, das zu einem der buchstäblichen Erfolgsgeheimnisse dieser Verfassung geworden ist. Die heute zu stellende Frage ist jedoch die, ob man sich eben dieses Erfolgsgeheimnisses bzw. dieser besonderen Qualität des Grundgesetzes heute noch allseits in dem Maße bewußt ist, wie dies nicht nur wünschenswert, sondern verfassungspolitisch auch notwendig ist? Ich fürchte, daß die Antwort auf

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diese Frage eher eine solche mehr negativer als positiver Art sein wird oder sein muß. Dies offenbart vor allem der Blick auf unsere Gesetzgebung bzw. ein Blick auf den heute real praktizierten Gesetzesbegriff. Schon vor Jahren hat Peter Lerche mit Recht gefragt, „ob das Verfassungsbild vom freien und souveränen Gesetzgeber, auf dem sie beruht, überhaupt noch besteht. Es muß gefragt werden, ob es nicht gerade die heute in so vielfältige Formen ausgebreitete Welt der an den Gesetzgeber gerichteten Verfassungsdirektiven ist, die zu Reduzierungen zwingt“.1 Ganz ähnlich konstatiert Peter Badura, daß „die Verfassung als Auftrag, Richtlinie und Grenzen der Politik und der Gesetzgebung die getrennten und oft widerstreitenden Finalitäten des Staatslebens und des Rechts bis zu einem gewissen Grad zusammenführen kann . . . Sie kann aber die selbständige Entscheidungsvollmacht der gesetzgebenden Volksvertretung nicht aufheben. Daß die Verfassung als ,politische Form und Grundorientierung der gesellschaftlichen Ordnung‘ (Scheuner) inhaltliche Grundlage der Politik im Sinne rechtlicher Gebundenheit an sachhaltige Richtlinien für das Staats- und Rechtsleben ist, bedeutet jedoch nicht, daß die Gesetzgebung als ,Verwirklichung‘ der Verfassung in der Art eines ,Verfassungsvollzugs‘ aufgefaßt werden dürfte“.2 In der Tat, das Verhältnis von Verfassung und Gesetzgebung ist in einige, vorsichtig formuliert, Unordnung geraten. Die Verfassung wird zunehmend als gesetzgebungspolitisches Programm verstanden, dem die gesellschaftliche Realität zu folgen habe, nach dessen Maßgabe gesellschaftliche Realität zu gestalten ist, obwohl die Verfassung eigentlich nur bestimmte Grundaussagen trifft, innerhalb derer sich Gesetzgebung und Politik nach Maßgabe ihres demokratischen Grundmandats zu entfalten und zu bewähren haben. Politik wird jedoch immer stärker als schlichter „Verfassungsvoll1 2

Lerche, AöR 90 (1965), 341 (345). Badura, in: Festschrift für R. Scholz, 2007, S. 3 (5).

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zug“ verstanden – mit der weiteren Konsequenz, daß auch das justitielle Mandat der Verfassungsgerichtsbarkeit in einem Maße angewachsen und überhöht worden ist, das gelegentlich auch die prinzipiellen Grenzen einer Verfassungsgerichtsbarkeit zu überschreiten droht. Dies gilt vor allem für ein überhöhtes Werteverständnis, das Verfassungsnormen, hier namentlich Grundrechten, imputiert wird und das sogar vor Organisations- und Verfahrensnormen der Verfassung nicht mehr Halt macht. Die weitere Konsequenz ist die, daß die Grenzen zwischen Verfassungsrecht und einfachem Gesetzesrecht zunehmend verschwimmen – wiederum mit der weiteren Konsequenz, daß auch die kompetenziellen Grenzen zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit immer fließender werden. Das Bundesverfassungsgericht ist längst und vielfältig zu einer auch fachgerichtlichen Superrevisionsinstanz geworden. Auf eine kurze Formel gebracht: Politik und demokratisches Gesetzgebungsmandat werden immer stärker und buchstäblich „konstitutionalisiert“; und dies bleibt wiederum nicht ohne prinzipale Rückwirkungen auf die Konstitution, also auf das Grundgesetz selbst. An die Stelle prinzipiell freier gesetzgeberischer Gestaltung treten angeblich verbindliche verfassungsunmittelbare Ableitungen bestimmter Rechtsfolgen – bis hin zu einem vielfältigen Übermaß auch an normativer, also fallmäßig-situativer Individualrechtsfolgen. Die Konsequenz dessen ist wiederum, daß die Verfassung naturgemäß und zunehmend mehr ihrerseits „politisiert“ wird, daß also politische Ziele oder politische Wunschvorstellungen – man spricht dann gern von „Verfassungserwartungen“ – der Verfassung interpretativ unterlegt oder imputiert werden, was der Verfassung wiederum ihre eigentlich normativitätsbegründende Allgemeinheit und Distanz nimmt. Mit anderen Worten: Die Verfassung verliert mehr und mehr die eigene Konstanz und Stabilität, die eigene gesellschaftspolitische Distanz, Offenheit und Allgemeinheit zugunsten von tagesaktueller Konkretheit oder tagespolitischer Wünschbarkeit.

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Dieser Entwicklungsprozeß macht im übrigen schon längst auch vor der Verfassungsurkunde nicht mehr Halt. Dies zeigt sich vor allem an der permanent wachsenden Suche und Propagierung verfassungsgesetzlicher Staatszielbestimmungen. Auf solche Staatszielbestimmungen bzw. verfassungspolitischen Programmvorstellungen hat das Grundgesetz gerade in seiner sehr prinzipiellen Offenheit und Zurückhaltung gegenüber gesellschaftspolitischen Entwicklungsprozessen bewußt verzichtet – wiederum die eigene Offenheit, Allgemeinheit und auch interpretative Sinnvariabilität so und wirksam bewahrend. Dies alles ist aber zunehmend in Vergessenheit geraten. Da werden Staatszielbestimmungen vor allem zu bestimmten sozialpolitischen Fragen gefordert, da werden Staatszielbestimmungen für Kultur, Sport, Kinder usw. propagiert – vor allem immer dann, wenn gerade ein „bestimmter Mißstand“ o. ä. „aufgedeckt“ worden ist; als ob die Verfassung diesen „Mißstand“ selbst und unmittelbar heilen könnte! Da werden vor allem „soziale Grundrechte“, die imgrunde auch nichts anderes als Staatszielbestimmungen sein können, vielfältig gefordert – angefangen vom immer wieder in die Debatte gebrachten „Recht auf Arbeit“. Dies alles bedeutet nichts anderes als Politisierung der Verfassung und damit auch Depolitisierung der Politik selbst. Die Verfassung wird buchstäblich „weich“ gespült. Politische Wunschvorstellungen werden in die Verfassung imputiert, um sie anschließend durch den „verfassungsvollziehenden“ Gesetzgeber realisieren zu können. Wie weise und gut beraten war der Verfassungsgeber von 1949 doch, als er sich mit dem Bekenntnis zum „Sozialstaat“ in Art. 20 und 28 GG bewußt auf eine außerordentlich offene und dennoch äußerst leistungsfähige Aussage zum gesellschaftspolitischen Gestaltungsmandat des Gesetzgebers beschränkte. Sozialstaatlichkeit bedeutet Auftrag zur gesellschaftspolitischen Gestaltung im Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse und nicht zementierte „Verfassungserwartung“ für eine bestimmte, vorab konkretisierte gesellschaftliche Ordnung (Sozialstaatsprinzip als permanenter Konkretisie-

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rungsauftrag).3 Wäre man anders verfahren, so hätte man nicht nur die Gegebenheiten von permanentem Verfassungswandel und permanenter Veränderung der sozialen Verhältnisse mißachtet, man hätte auch und buchstäblich Illusionen erweckt – IIlusionen, die in der Konsequenz nur das permanente Gerede vom „angeblich nicht erfüllten Grundgesetz“ ausgelöst hätten. Auch hierzu hat Peter Lerche schon alles Nötige gesagt und vor jener „verfassungspatriotischen Betrachtungsweise“ gewarnt, die „das Grundgesetz zu Unrecht mit illusionshaften Inhalten auflädt“.4 In der gleichen problematischen Richtung liegen Bestrebungen, schon auf der Ebene der Verfassung bereits bestimmte, vorrangig und allein politisch zu regulierende Mechanismen zu verankern, wie beispielsweise bestimmte Mehrheitserfordernisse. Ein klassisches Beispiel hierfür bildet der heutige Art. 23 GG, der von der nach der Wiedervereinigung eingesetzten Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat erarbeitet wurde, der damals unter dem Druck des Ratifikationserfordernisses für den Vertrag von Maastricht stand und der von den Ländern damals in der Verfassungskommission dazu genutzt wurde, fast geschäftsordnungsmäßig anmutende Detail- oder Verfahrensregeln in die Verfassung hineinzuschreiben – nur um möglichst schon von Verfassungs wegen bestimmte Machtansprüche der Länder, vermittelt über den Bundesrat, dem Bund gegenüber zu sichern. Daß diese Verfahrensregeln sich nicht bewährt haben, ist längst offenkundig. Dennoch hat die Föderalismus-Kommission I es nicht nur unterlassen, diese Fehler wieder zu reparieren und die Bundesrepublik Deutschland damit auf der europäischen Ebene wieder handlungsfähiger zu machen; nein, man hat diesen regulatorischen Widersinn, um nicht zu sagen: Unsinn, noch weiter verfestigt. Ähnlich verhält es sich mit der Neuregelung des Asylrechts in Art. 16 a GG sowie mit den Regelun3 Vgl. dazu schon Scholz, Sozialstaat zwischen Wachstums- und Rezessionsgesellschaft, 1981, S. 24 ff. 4 Lerche, in: Festschrift für P. Ansgar Paus, 2007, S. 406 (407).

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gen zur Unverletzlichkeit der Wohnung gemäß Art. 13 GG. Im letzteren Bereich versuchte beispielsweise und damals die SPD sogar, in der Verfassung selbst festzuschreiben, daß gesetzliche Änderungen nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit von Bundestag und Bundesrat beschlossen werden dürften; in der Konsequenz also der Einstieg in ein Quasi-Verfassungsrecht auf der Ebene unterhalb der Verfassung. Zum Glück konnte dies damals noch abgewehrt werden.5 Die Grundtendenzen heutiger Verfassungspolitik sind jedoch offenkundig. Den hiesigen Stichworten könnten noch vielfältig weitere und andere angefügt werden. Die sich hieran zwingend anschließende Frage ist naturgemäß die, was zu tun ist, um das Grundgesetz vor weiteren Diffusions- und Verwässerungsprozessen dieser Art zu schützen? Mit Sicherheit ist vor allem eines und zunächst zu fordern: nämlich endlich zurückhaltender mit der Propagierung neuer Staatszielbestimmungen ö. ä. zu werden. Noch wichtiger und von wahrhaft zentraler Bedeutung ist aber die Forderung, sich endlich wieder des Wesens und des eingangs zitierten grundsätzlichen Erfolgsgeheimnisses des Grundgesetzes zu besinnen: nämlich seines Bekenntnisses zur prinzipiellen Offenheit und Allgemeinheit. Nur so läßt sich wieder das demokratische Gestaltungsmandat und die demokratische Grundverantwortung der einfachen Gesetzgebung wiedergewinnen, nur so kann die Verfassung selbst ihre eigene Stabilität und Zukunftsfähigkeit zurückgewinnen oder wieder neu bewahren. Die Verfassung ist ein zu hohes Gut, um es weiter solchen Politisierungsprozessen auszusetzen. Das demokratische Gestaltungsmandat des Gesetzgebers darf – umgekehrt – nicht weiter „konstitutionalisiert“ oder unter dem Stichwort eines angeblichen „Verfassungsvollzuges“ entmündigt werden. Dies alles läßt sich nur erreichen, wenn man sich wieder auf die Grundstruktur der Verfassung besinnt. Und für solche Besinnung hat vor allem Peter Lerche schon vor vielen Jahren 5

Vgl. näher hierzu Scholz / Meyer-Teschendorf, DÖV 1998, 10 ff.

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die richtigen Maximen formuliert. Peter Lerche hat mit Nachdruck schon in seiner Habilitationsschrift „Übermaß und Verfassungsrecht“ aus dem Jahre 1961 darauf aufmerksam gemacht, daß innerhalb der Verfassung zwischen Regelungsinhalten von institutioneller Normativität und solchen von normativ weitgehend offener Grundsätzlichkeit unterschieden werden muß. Peter Lerche hat schon damals die grandiose Vorstellung und Interpretationsfigur der „dirigierenden Verfassung“ entwickelt und vorgestellt.6 Gerade diese Vorstellung könnte heute wahrhaftig helfen. Natürlich hat eine Verfassung die Politik auch zu „dirigieren“. „Dirigieren“ in diesem Sinne heißt aber, daß wiederum Allgemeinheit und normative Formalität in hinlänglichem Maße gewahrt werden. Freilich, und damit lassen Sie mich schließen, eine „dirigierende Verfassung“ bedarf auch des Dirigenten. Und hieran scheint es leider mehr und mehr zu fehlen. Wenn wir uns unsere heutigen Politiker und auch unsere heutigen Verfassungsinterpreten als ein großes, plurales und auch vielfältig diffuses Orchester vorstellen, so muß der Ruf nach dem überzeugenden „Dirigenten“ eigentlich unüberhörbar erschallen.

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Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 61 ff.

Die verdeckte Online-Durchsuchung als Herausforderung an die Grundrechtsdogmatik Von Dieter Lorenz

I. Problemstellung 1. Die veränderte Sicherheitslage

Die Bedrohung durch Terrorismus und internationale Schwerkriminalität hat in den letzten Jahren eine neue Dimension erreicht. Sie lässt die staatliche Schutzpflicht immer mehr in den Vordergrund treten. So wurden im Zuge der Bemühungen um einen effektiven Schutz der Bevölkerung und des staatlichen Gemeinwesens, ergänzend zu klassischen Instrumenten der Gefahrenabwehr, eine Vielfalt moderner hochtechnisierter Ermittlungsmethoden entwickelt, wie Raster-1 und Schleierfahndung,2 Videoüberwachung3 oder zuletzt die Vorratsdatenspeicherung.4 Ihr Einsatz zur Strafverfolgung, 1 Vgl. BVerfGE 115, 320; Petri, in: Lisken / Denninger (Hrsg.), HdBPolR, 4. Aufl. 2007, Rn. H 500; Geis / Möller, DV 37 (2004), S. 432; Schewe, NVwZ 2007, 174. 2 Vgl. zuletzt BayVerfGH, JZ 2006, 217 mit Anm. von Krane; dazu ferner Kastner, VerwArch 92 (2001), S. 238 ff.; Graf, Verdacht- und anlassunabhängige Personenkontrollen – polizeirechtliche und verfassungsrechtliche Aspekte der Schleierfahndung, 2006. 3 BVerfG (K), DVBl. 2007, 497; A. Geiger, Verfassungsfragen der Videoüberwachung, 1994; Büllesfeld, Polizeiliche Videoüberwachung, 2002. 4 Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006 / 24 / EG vom 9. 11. 2007, BGBl. I S. 3198. Vgl. dazu etwa Gola, NJW 2007, 2599; Leutheusser-Schnarrenberger, ZRP 2007, 9; R. Gitter / Schnabel, MMR 2007, 411; nunmehr BVerfG, B. vom 11. 3. 2008, 1 BvR 256 / 08, DVBl 2008, 569.

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Gefahrenabwehr und dieser vorgelagerten Gefahrenvorsorge5 bringen jedoch auch staatliche Überwachung und Kontrolle mit sich. Sie werden immer deutlicher als Bedrohung der Freiheit durch den Staat und Kehrseite der von eben diesem gewährleisteten und verlangten Sicherheit wahrgenommen, ja, haben sogar schon den Bundespräsidenten zu einem unübersehbaren Stirnrunzeln veranlasst. Dem befürchteten Freiheitsverlust setzt man den Grundrechtsschutz entgegen. In der Tat sind praktisch sämtliche, jenem Ziel der Inneren Sicherheit dienenden Überwachungsund Ermittlungsmaßnahmen einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung unterworfen worden. Diese hat allerdings bisher in keinem Fall zu einer prinzipiellen Beanstandung der Instrumente als solcher geführt, sie haben freilich auch durchweg nicht das Gütesiegel verfassungsrechtlicher Unbedenklichkeit erhalten. Die Verfassungsgerichte haben vielmehr versucht, durch Modifikationen und Begrenzungen, insbesondere auch verfahrensmäßige Sicherungen, die rechtsstaatliche Balance zwischen Freiheit und Sicherheit6 zu wahren. Dabei gewinnt man aus Gedankenführung und Diktion mancher Entscheidung den Eindruck, als ob diese nicht bloß das subjektive Grundrecht in seinem von der Verfassung vorgegebenen Gehalt – wenn auch im Verständnis des Verfassungsgerichts – anwendete, sondern sich eher als Ergebnis gerichtlicher Dezision im (freiheitlichen) Geist der Verfassung darstellte. Dies gilt in besonderem Maße bei der Subsumtion unter ein Grundrecht, das, wie das allgemeine Persönlichkeitsrecht, keinen fest bestimmten, sondern nur einen generalklauselartig umschriebenen Tatbestand7 aufweist. Haben vielleicht die Besonderheiten der Bedrohung durch den Terrorismus und seiner Bekämpfung Auswirkungen auf den Schutzmechanismus der 5 Vgl. Gusy, KritVj 2002, 483; Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 198 ff., 208 ff. 6 Vgl. zur Problematik BVerfGE 115, 320 (364 f.); Brugger und Gusy, VVDStRL 63 (2004), S. 129 ff., 151 ff.; Robrecht, SächsVBl. 2007, 80. 7 BVerfGE 54, 148 (153); Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 84.

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Grundrechte und ihre Funktionsweise? Und ist nicht gerade die moderne Informationstechnologie ein Einfallstor für eine effektive Freiheitssicherung durch Freiheitsbeschränkung? Auf den ersten Blick stellen sich jene Maßnahmen als normale Grundrechtseingriffe dar, und so werden sie auch durchgehend behandelt. Indes zeigt sich bei näherem Zusehen, dass sie sich dem gängigen Konzept von Grundrechtsschutz und Grundrechtseingriff nicht ohne weiteres einfügen. 2. Die verdeckte Online-Durchsuchung

Ein neuartiges Instrument aus dem Arsenal staatlicher Sicherheitsvorkehrungen durch Nutzung von Internet und Computer ist die verdeckte Online-Durchsuchung.8 Sie besteht in der behördlichen Durchsicht des an das Internet angeschlossenen Computers einer Zielperson ohne deren Wissen, um Kenntnis von ermittlungs- oder verfahrensrelevanten Daten zu erhalten, die auf dem Computer gespeichert sind. Hierzu wird in diesen ein spezielles Ausforschungsprogramm (sogenanntes Trojanisches Pferd) eingeschleust, mit dessen Hilfe die vorhandenen Daten kopiert und an die untersuchende Behörde zur Auswertung übertragen werden.9 – Im folgenden beziehe ich mich – ungeachtet ihrer computertechnischen Problematik10 – allein auf diese Methode; dagegen bleiben andere, in der Diskussion befindliche Varianten, wie etwa die manuelle Installation des „Trojaners“ auf dem Computer nach heimlichem Eindringen in die betreffende Wohnung, außer Betracht. Obwohl heftig umstritten, wurde die verdeckte OnlineDurchsuchung von deutschen Sicherheitsbehörden11 und – ge8 Vgl. dazu M. Hofmann, NStZ 2005, 121; Rux, JZ 2007, 285; Kutscha, NJW 2007, 1169; Kemper, ZRP 2007, 105; B. Huber, NVwZ 2007, 880, sowie neuerdings BVerfG, Urt. vom 27. 2. 2008, 1 BvR 370 / 07; 595 / 07, DVBl 2008, 582 m. Anm. von Volkmann. 9 Vgl. Gercke, CR 2007, 245 ff.; B. Huber, NVwZ 2007, 880. 10 Vgl. Gercke, CR 2007, 248 f. 11 So B. Huber, NVwZ 2007, 880 f.

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stützt auf §§ 102, 105 Abs. 1 StPO – Strafverfolgungsorganen12 eingesetzt und erst durch den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 31. Januar 200713 für das Strafverfahren mangels gesetzlicher Grundlage als unzulässig erklärt. Nichts anderes kann für entsprechende Aktivitäten zur Verfolgung sicherheitsrechtlicher Zielsetzungen gelten. Dementsprechend hat das Land Nordrhein-Westfalen, noch vor der Entscheidung des Bundesgerichtshofs, durch Gesetz vom 20. 12. 200614 das Verfassungsschutzgesetz mit Wirkung vom 30. 12. 2006 ergänzt und die Verfassungsschutzbehörde in § 5 Abs. 2 Nr. 11 zur Anwendung der verdeckten Online-Durchsuchung ermächtigt. Auch diese Regelung lag dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor,15 von deren Ergebnis die Einführung und gegebenenfalls Ausgestaltung dieses Instruments im Bund16 und in weiteren Ländern (so in Bayern) abhängen sollte. Die Verfassungsmäßigkeit speziell jenes Gesetzes soll hier nicht thematisiert werden. Gegenstand der folgenden Betrachtung sind vielmehr die grundsätzlichen strukturellen Fragen des Grundrechtsschutzes.

II. Die grundrechtliche Zuordnung Problematisch ist hier zunächst die grundrechtliche Zuordnung der verdeckten Online-Durchsuchung.

Vgl. Jahn / Kudlich, JZ 2007, 57. BGHSt 51, 211. 14 GV NRW S. 620. 15 Sie wurde inzwischen durch Urteil vom 27. 2. 2008 (vgl. oben Fn. 8) für nichtig erklärt. 16 Eine Regelung der Online-Durchsuchung ist nunmehr in dem vom Bundeskabinett am 4. 6. 2008 verabschiedeten Entwurf zum BKA-Gesetz vorgesehen. 12 13

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1. Grundproblematik

Die Grundrechte werden überwiegend als punktuelle Absicherung bestimmter, besonders wichtiger oder nach der historischen Erfahrung besonders gefährdeter Lebensbereiche verstanden.17 Dabei wird es oftmals schwerfallen, neuartige Bedrohungen grundrechtlich zu erfassen, die im Gefolge unvorhersehbarer tatsächlicher Entwicklungen eintreten und deshalb keine spezial-grundrechtliche Antwort des historischen Verfassungsgebers gefunden haben. Soweit für die neue Konstellation im Wege der Auslegung ein spezielles Grundrecht mobilisiert werden kann, streitet dieses mit seinem materiellen Wertgehalt für sie. So waren z. B. bei Erlass des Grundgesetzes im Jahre 1949 die Perspektiven der genetischen Revolution18 nicht erkennbar. Durch die Qualifizierung menschlicher Embryonen und Stammzellen als menschliches Leben19 konnten diese jedoch in das Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) einbezogen und dessen Schutz unterstellt werden. Vergleichbar ließ sich die akustische Überwachung einer Wohnung, der sogenannte „Große Lauschangriff“, als Verletzung der in Art. 13 GG garantierten Integrität der Wohnung erfassen. Dieses Grundrecht schützte traditionell nur gegen Durchsuchung und sonstiges Betreten einer Wohnung, also gegen ein physisches Eindringen in diese. Die unkörperliche Überwindung ihrer Außengrenze stellte demgegenüber eine neue Eingriffsform dar, deren Zulassung einer Verfassungsänderung bedurfte.20 Dem Verfassungsgeber sicher ebenfalls verschlossen war die Einsicht in die neuartigen Möglichkeiten einer staatlichen 17 Vgl. BVerfGE 6, 32 (37); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Aufl. 1993, Rn. 300, 428. 18 Vgl. Isensee, in: FS Hollerbach, 2001, S. 243 ff. 19 Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Komm. zum GG, 5. Aufl. 2005, Art. 1 Abs. 1 Rn. 19 ff.; D. Lorenz, in: HdBStR, Band VI, 2. Aufl. 2001, § 128 Rn. 11 ff. 20 Vgl. dazu BVerfGE 65, 1 (40); 109, 279 (309); Lepsius, Jura 2005, 586.

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Kontrolle und Überwachung, die durch die moderne Computer- und Informationstechnologie eröffnet wurden. Der Versuch, auf dieser beruhende Eingriffe einem der traditionellen Spezial-Grundrechte zuzuordnen, stößt jedoch schnell an seine Grenzen. 2. Grundrechtsschutz gegen Online-Durchsuchung

Dies gilt auch für die verdeckte Online-Durchsuchung. a) Freiheit der Telekommunikation Sie tangiert jedenfalls nicht den Schutzbereich der Telekommunikationsfreiheit.21 Das Fernmeldegeheimnis gemäß Art. 10 Abs. 1 GG bezieht sich auf die unkörperliche Übermittlung von Informationen mit Hilfe der verfügbaren Telekommunikationstechniken. Es schützt vor staatlicher Kenntnisnahme des Inhalts und der näheren Umstände der Telekommunikation,22 nicht aber der Daten, die nach Abschluss des Übermittlungsvorgangs in Bezug auf diesen entstanden und beim Teilnehmer gespeichert sind.23 Auf eben diese Daten richtet sich aber das Erkenntnisinteresse bei der verdeckten OnlineDurchsuchung. b) Unverletzlichkeit der Wohnung Demgegenüber wird in der verdeckten Online-Durchsuchung vielfach eine Wohnungsdurchsuchung oder ein dieser gleichzustellender Eingriff gesehen.24 Ebenso Rux, JZ 2007, 292. BVerfGE 106, 28 (36 f.); Jarass / Pieroth, Komm. zum GG, 9. Aufl. 2007, Art. 10 Rn. 5. 23 BVerfGE 115, 166 (183 ff.). 24 Vgl. Kutscha, NJW 2007, 1170; Valerius, JR 2007, 279; Rux, JZ 2007, 292 ff.; vgl. demgegenüber nunmehr BVerfG, Urt. vom 27. 2. 2008 (vgl. oben Fn. 8), Abs. 176. 21 22

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Der Computer sei zum Aufbewahrungsort von Daten, auch höchstpersönlicher Art, geworden, die, wenn sie in Schriftform verkörpert vorlägen, im Wege einer Wohnungsdurchsuchung ermittelt werden müssten. Es mache aber keinen Unterschied, ob ein Tagebuch im Schlafzimmer versteckt oder verschlüsselt auf einem Computer gespeichert sei. Der Computer sei ferner Ausgangspunkt, Grundlage und Teil eines Geflechts persönlicher Beziehungen in einer virtuellen Räumlichkeit. In dieser finde auch eine vertrauliche Kommunikation statt, die des gleichen Schutzes bedürfe25 wie in einer Wohnung, in der sie ebenfalls gegen heimliche Kenntnisnahme abgeschirmt sei.26 Diese Argumentation verkennt Charakter und Gewährleistungsgehalt des grundrechtlichen Schutzes der Wohnung. Auch trennt sie nicht hinreichend zwischen der räumlichen und der thematischen Komponente des Persönlichkeitsschutzes:27 Die Qualität des in einer Wohnungsdurchsuchung liegenden Eingriffs begründet sich nicht aus der besonderen Persönlichkeitsrelevanz der dabei entdeckten Gegenstände – für die Verwertung eines Tagebuchs spielt es keine Rolle wo es aufgefunden wurde. Entscheidend ist vielmehr die Nachhaltigkeit des staatlichen Eindringens in die besonders geschützte persönliche Sphäre. Sie ist in der Wohnung als realem menschlichem Lebensraum unmittelbar gegenständlich fassbar und als räumlicher Rückzugsbereich der Persönlichkeit gewährleistet.28 Gerade dieser wird aber beim „Großen Lauschangriff“, ungeachtet der direkten Zugriffsmöglichkeit auf innere Vorgänge, nicht respektiert. Demgegenüber bestehen virtuelle Räume nur als konstruktiv-fiktive Wirklichkeit, die sich in der Entfaltung der Persönlichkeit erst formt und keine von dieser unabhängige Existenz aufweist. Ihr Schutz richtet sich nicht auf die Sicherung uner25 26 27 28

Rux, a. a. O. Vgl. BVerfGE 109, 279 (313). Vgl. BVerfGE 101, 361 (82). BVerfGE 109, 279 (309).

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lässlicher äußerer Vorbedingungen freier Persönlichkeitsentfaltung, sondern auf diese selbst in einer bestimmten Erscheinungsform. Der virtuelle Raum weist wesensgemäß durch die Verbindung nach außen einen kommunikativen Sozialbezug auf und taugt nicht als Refugium zur Abschirmung der Persönlichkeit. Dass virtuelle Räume in diesem Sinn gleichwohl als Teil der Privatsphäre den Schutz des Persönlichkeitsrechts beanspruchen können,29 steht auf einem anderen Blatt. Der Computer kann also nicht – auch nicht im Wege einer Analogie – als einer Wohnung vergleichbare Räumlichkeit gedeutet werden. Damit sind auch nicht die für ihren grundrechtlichen Schutz geltenden Schranken und vor allem deren Begrenzung in Art. 13 Abs. 2 GG – der Richtervorbehalt ist ja das eigentliche Ziel jener Umdeutung30 – nicht auf die verdeckte Online-Durchsuchung übertragbar. Im übrigen hat das Wohnungsgrundrecht auch und gerade unter den veränderten Bedingungen der modernen technischen Entwicklung seine volle Berechtigung. Es würde aber durch die Ausweitung zu einem allgemeinen Privatsphärenschutz seiner eigenständigen Konturen beraubt. Zu Recht zieht das Bundesverfassungsgericht deshalb den Schutzbereichen der speziellen Persönlichkeitsrechte klare Grenzen gegenüber dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht: der Telekommunikationsfreiheit durch Ausklammerung der nach Abschluss des Telekommunikationsvorgangs im Herrschaftsbereich des Teilnehmers befindlichen Umstände (also der bei diesem gespeicherte Daten);31 dem Wohnungsgrundrecht durch Beschränkung auf die umgrenzte Räumlichkeit als physischen Rückzugsbereich.32

29 Vgl. C. Ahrens, in: FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, 2002, S. 619 f. 30 Deutlich Rux, JZ 2007, 292 f. 31 BVerfGE 115, 166 (183 f.). 32 BVerfGE 101, 361 (381 ff.); 109, 279 (309).

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c) Das allgemeine Persænlichkeitsrecht Damit ist die verdeckte Online-Durchsuchung am allgemeinen Persönlichkeitsrecht zu messen. Dieses soll lückenfüllend gerade auch dem Schutz gegen neuartige Gefährdungen der Persönlichkeitsentfaltung im Zuge des wissenschaftlich-technischen Fortschritts dienen.33 In seiner konkretisierenden Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt es vor einer unbegrenzten Erhebung, Speicherung und Verwendung persönlicher Daten,34 doch muss der Einzelne Beschränkungen hinnehmen, die durch überwiegende Allgemeininteressen gerechtfertigt und nicht unverhältnismäßig sind.35 Dabei richtet sich die Bewertung des Eingriffs nach dem Gewicht der individuellen Beeinträchtigung.36

III. Die Eingriffsproblematik 1. Freiheitssicherung durch Freiheitsbeschränkung

Diese Beurteilung ist bei den eingangs angesprochenen neueren Instrumenten staatlicher Informationsgewinnung ambivalent. Denn der Grundrechtseingriff dient, jedenfalls soweit er sich nicht gezielt gegen bestimmte Personen richtet, zugleich dem Schutz des Betroffenen, ist also – anders als in der für ihn kennzeichnenden Entgegensetzung von Allgemein- und Individualinteresse37 – durch deren Konvergenz gekennzeichnet. Dasselbe Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit und des Einzelnen legitimiert zugleich den Eingriff in dessen Grundrecht. Der sachliche Ausgleich von Individual- und AllgemeininteBVerfGE 54, 148 (153); 101, 361 (380). Nach dem Urteil des BVerfG vom 27. 2. 2008 (vgl. oben Fn. 8) stellt die verdeckte Online-Durchsuchung einen Eingriff in das „Grundrecht auf die Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“, ein aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abgeleitetes Computergrundrecht, dar. 35 BVerfGE 65, 1 (43 f.); 115, 320 (344 f.). 36 BVerfG, DVBl. 2007, 1023 Abs. 131. 37 Vgl. Lerche, in: HdBStR, Band V, 1992, § 121 Rn. 47. 33 34

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resse erfolgt damit nicht konfrontativ, sondern durch eine gewährleistungsimmanente Austarierung der Schutzziele für den Einzelnen. Die Abwägung zwischen dem Grundrechtseingriff und den Gründen, die diesen legitimieren, hat also auch das Interesse des Betroffenen an dem durch den Eingriff erlangten eigenen Schutz zu berücksichtigen. Sie bekommt dadurch eine von der typischen Eingriffskonstellation grundsätzlich abweichende Bedeutung. 2. Grundrechtsschutz und Allgemeininteresse

Das schließt die grundrechtliche Abwehr solcher allgemeiner Überwachungsmaßnahmen nicht aus, weist aber darauf hin, dass deren eigentliches Gravamen in einem Übermaß an Freiheitsverkürzung liegt, die den einzelnen Grundrechtsträger wie die Allgemeinheit trifft. Eingriffe etwa einer Rasterfahndung38 oder einer allgemeinen Videoüberwachung39 belasten den Einzelnen für sich genommenen nur wenig, weil sie nur persönliche Daten zusammenführen, die nicht besonders schutzwürdig und ohnehin bekannt sind beziehungsweise den Einzelnen nur kurzzeitig und punktuell erfassen.40 Die gleichwohl bejahte besondere Intensität solcher Informationseingriffe wird daraus hergeleitet, dass eine große Zahl unbeteiligter Personen betroffen werde (Streubreite)41 oder die Maßnahme eine Atmosphäre allgemeiner Einschüchterung erzeuge,42 also mit Erwägungen begründet, die außerhalb der individuellen Sphäre liegen. Sie werden damit nicht nur im Lichte individueller Betroffenheit, sondern wesentlich auch nach ihrer negativen Wirkung für die BVerfGE 115, 320 (343 ff.). BVerfG, DVBl. 2007, 497. 40 Vgl. Sondervotum der Richterin Haas, BVerfGE 115, 320 (371 ff.); Horn, DÖV 2003, 748 f.; Volkmann, JZ 2006, 919. 41 So etwa BVerfGE 100, 313 (380); 107, 299 (320); 113, 29 (52); 115, 320 (354 f.). 42 BVerfGE 113, 29 (46). 38 39

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Allgemeinheit beurteilt. „Der von der Grundrechtsausübung abschreckende Effekt“ – so das Bundesverfassungsgericht zur Rasterfahndung – beeinträchtigt auch das Gemeinwohl, „weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines . . . freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist.“43 Diese Allgemeinerheblichkeit trifft im Prinzip auch für die verdeckte Online-Durchsuchung zu. Diese nimmt zwar eine bestimmte Person ins Visier; in diesem Fall wird die subjektive Beeinträchtigung primär nach der Persönlichkeitsrelevanz der Information, den aus dieser drohenden Nachteilen sowie der Heimlichkeit des staatlichen Vorgehens bestimmt.44 Sie kann trotzdem nicht allein nach den Grundsätzen des gezielten individuellen Informationseingriffs beurteilt werden. Denn sie ist technisch auch verdachtlos, d. h. ohne einen personenbezogen-konkretisierten Verdacht, durchführbar und gleicht dann den bereits erwähnten flächendeckenden Maßnahmen. Umgekehrt besteht gerade durch die Nähe zum Internet als allgemein zugänglichem Medium prinzipieller Publizität generell eine erhebliche Gefahr für jedermann, in einen entsprechenden Verdacht zu geraten. Gerade diese Verunsicherung beeinträchtigt die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit des Bürgers, und sie besteht unabhängig von der Struktur der staatlichen Überwachung. 3. Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit

Allgemeiner gesprochen und auf einer höheren Ebene geht es um die Herstellung und Sicherung der Balance zwischen Freiheit und Sicherheit.45 Sie kann nur unter Berücksichtigung der kumulativen Wirkung der einzelnen informationellen Instrumente beurteilt werden. Diese lassen erst in ihrer Gesamtheit das tatsächliche Ausmaß staatlicher Überwachung und die Reichweite des von dieser belassenen Freiheitsraums er43 44 45

BVerfGE 115, 320 (355). Zusammenfassend BVerfG, DVBl. 2007, 1023 Abs. 131 ff. BVerfGE 115, 320 (358).

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kennen. Eine Störung durch übersteigertes Sicherheitsstreben betrifft den Einzelnen nur als Teil der Allgemeinheit, ist also nicht unmittelbar als Individualeingriff erfassbar. Grundrechtlicher Ansatzpunkt ist vielmehr lediglich die zur Prüfung gestellte Einzelmaßnahme, die jedoch für sich genommen noch nicht jene allgemeine Störung bewirkt. Dabei kann das Bundesverfassungsgericht jedoch den rein subjektiven Grundrechtsschutz zu einer Kontrolle jenes objektiven Freiheitsverlusts instrumentalisieren. Der subjektive Rechtsschutz wird so gleichsam repräsentativ für den Schutz der Gemeinschaft46 eingesetzt. Grundrechtsdogmatische Grundlage ist einerseits die objektiv-rechtliche Gewährleistung des Freiheitsprinzips in Art. 2 Abs. 1 GG47, andererseits der dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung innewohnende Schutz der Persönlichkeit vor den Gefährdungen durch staatliche Informationserhebung48 und damit auch durch ein Überwachungs- und Kontrollsystem, das zu einer allgemeinen Einengung der Entfaltungsfreiheit führt. Die inhaltliche Bestimmung des angemessenen Ausgleichs ist grundrechtlich nicht vorgegeben und liegt damit außerhalb der materiellen Steuerungskraft der Verfassung. Sie kann also nicht durch bloße verfassungsgerichtliche Rechtsanwendung erfolgen, sondern ist im freiheitlichen Geist der Verfassung auf institutionellem Wege durch arbeitsteiliges Zusammenwirken zu bewerkstelligen. Dabei obliegt es den demokratisch verantwortlichen Entscheidungsträgern, die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen unter Beachtung der Freiheit zu treffen, während die nachfolgende verfassungsgerichtliche Kontrolle die Erhaltung der Freiheit unter Beachtung der Sicherheitsanforderungen zu gewährleisten hat. Dem Bundes46 Vgl. dazu in allgemeinerem Zusammenhang Scholz, Wirtschaftsaufsicht und subjektiver Konkurrentenschutz, 1971, S. 152 ff. 47 Vgl. BVerfGE 113, 29 (46); 115, 320 (358). 48 Vgl. BVerfG, DVBl. 2007, 1023; Scholz / Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 23 ff., 71.

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verfassungsgericht wächst damit über seine ohnehin bereits wahrgenommene Funktion zur Bewahrung der Verfassung hinaus eine inhaltliche Mitverantwortung für die konkrete Gestalt eines freiheitswahrenden Sicherheitskonzepts zu. In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht die Anwendung der schon erwähnten Rasterfahndung nur insoweit als verfassungsgemäß und zulässig erklärt, als sie zur Abwehr einer konkreten Gefahr (für hochrangige Rechtsgüter) dient. Es genügt also nicht die allgemeine Terrorgefahr, sondern es muss sich aus konkreten Tatsachen die Wahrscheinlichkeit eines Schadens ergeben.49 Damit erscheint dieses Instrument allerdings ermittlungstechnisch nur noch bedingt tauglich, ja, es mag insoweit vielleicht sogar für die staatliche Sicherheitsvorsorge nicht mehr zur Verfügung stehen. Diese Entscheidung ist deshalb vielfach kritisiert worden,50 und man kann sicher darüber streiten, ob das sachliche Ergebnis der Abwägung zu billigen sei. Methodisch ist sie jedenfalls zu begrüßen. Denn das Bundesverfassungsgericht hat mit der Beschneidung dieses Instruments auf ein freiheitsverträgliches Maß die auch ihm obliegende politische Verantwortung wahrgenommen und damit nicht etwa gegen das Gewaltenteilungsprinzip und das Gebot richterlicher Zurückhaltung verstoßen. Wir sind sicher nicht auf dem Wege zu einem Überwachungsstaat. Es ist aber beruhigend zu wissen, dass das Bundesverfassungsgericht in der Lage wäre, einer unangemessenen Ausdehnung staatlicher Kontrolle im Kampf gegen den Terrorismus entgegenzutreten.

BVerfGE 115, 320 (364). Vgl. etwa Volkmann, JZ 2006, 918 ff.; Bausback, NJW 2006, 1922; Schewe, NVwZ 2007, 174. 49 50

Die Endlichkeit von Verfassungen1 Von Christian Pestalozza

I. Ansprüche von Verfassungstexten Verfassungen treten mit drei Ansprüchen auf, die andere Normtexte so und so geballt nicht haben. Sie pochen auf Höchstrang, Universalität und Dauerhaftigkeit. Ihren gesteigerten Anspruch auf Dauerhaftigkeit dokumentieren sie, indem sie Änderungen zwar zulassen, aber erschweren, in Kernbereichen sogar ausschließen2 und die Prozedur selbst regeln. Diese Vorkehrungen haben nicht verhindert, daß manche von ihnen oft und intensiv geändert worden sind. Zahlen kommen in den Sinn – 52 Änderungen des Grundgesetzes, 37 der 1 Zum Abdruck gelangt das am 18. Januar Vorgetragene. Erläuterungen und Ergänzungen, die das Verständnis und die Überprüfung erleichtern mögen, finden sich in den folgenden Fußnoten. 2 13 der 17 deutschen Verfassungen tun dies: vgl. Art. 79 Abs. 3 GG, Art. 64 Abs. 1 Satz 2 Baden-Württemberg, Art. 75 Abs. 1 Satz 2 Bayern, Art. 20 Bremen, Art. 150 Abs. 1 Hessen, Art. 56 Abs. 3 Mecklenburg-Vorpommern, Art. 46 Abs. 2 Niedersachsen, Art. 69 Abs. 1 Satz 2 NordrheinWestfalen, Art. 129 Abs. 2 Rheinland-Pfalz, Art. 11 Abs. 2 Saarland, Art. 74 Abs. 1 Satz 2 Sachsen, Art. 78 Abs. 3 Sachsen-Anhalt, Art. 83 Abs. 3 Thüringen. Sie tun dies nicht, weil sie annehmen, dadurch Umbruch verhindern zu können, sondern um deutlich zu machen, was sie als Umbruch ansehen – selbst er die sonstigen Änderungsprozeduren beachten würde. Drei Verfassungen geben sich der zusätzlichen Illusion hin, sie könnten die Vorsorge verstärken, indem sie anschließend die Unabänderlichkeitsklausel für unabänderlich erklären; vgl. Art. 20 Abs. 3 Bremen (mit Besonderheiten), Art. 150 Abs. 3 Hessen, Art. 129 Abs. 3 RheinlandPfalz.

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Berliner, 36 der rheinland-pfälzischen Verfassung.3 Und auch an größeren Revisionen (zu denen die Berliner Spiegelfechterei 19954 nicht gehört5) hat es nicht gefehlt, etwa schon 1979 im Saarland,6 1990 in Schleswig-Holstein,7 1993 in Niedersachsen,8 2000 in Rheinland-Pfalz9 und beinahe10 2005 in Hessen. Die Statistik nagt11 an der Vorstellung einer besonderen Langlebigkeit der Verfassungen. Auch wenn sie selten ein förmliches Ende erleben, wandelt sich ihre Erscheinung doch je nach Ausmaß und Häufigkeit ihrer Änderung derart, daß 3 An der Spitze liegen nicht zufällig Verfassungen, die ohne Beteiligung der Bevölkerung geändert werden können. 4 GVBl. 1995, S. 779. Die „überarbeitete“ Verfassung, die das Abgeordnetenhaus 1995 den Berlinern zur Abstimmung vorlegte, enthielt an Neuem lediglich einige (Z. T. nur umformulierte) Grundrechte und Volkskompetenzen. Alles andere, das also, was den Abgeordneten wirklich am Herzen lag, hatte man ohne Volksbeteiligung und z. T. Stunden vor der Beschlußfassung über die „Überarbeitung“ noch unter Dach und Fach gebracht, so daß man den Ausgang der Volksabstimmung über die „Überarbeitung“ ziemlich gelassen abwarten konnte. Zu Einzelheiten vgl. Verf., Die überarbeitete Verfassung von Berlin, LKV 1995, S. 344. Materialien und Literatur bei Verf., Einführung, in: Die Verfassungen der deutschen Bundesländer, 8. Auflage München 2005, RN 204. 5 Und ebenso wenig die Bundes-Reform 2006, wenn man nicht auf die Zahl der geänderten Artikel, sondern auf die Inhalte schaut. 6 ABl. 1979, S. 650. Materialien und Literatur bei Verf., FN 4, RN 213. 7 GVOBl. 1990, S. 391. Materialien und Literatur bei Verf., FN 4, RN 216. 8 Nds. GVBl. 1993, S. 107. Materialien und Literatur bei Verf., FN 4 , RN 210. 9 GVBl. 2000, S. 65. Materialien und Literatur bei Verf., FN 4 , RN 212. 10 Die Reform scheiterte, weil sich eine Mehrheit für das zuletzt noch von der SPD-Fraktion Geforderte nicht fand und sich die SPD-Fraktion daraufhin dem bisher Konsentierten wieder versagte (vgl. den Abschlußbericht der Enqueˆte-Kommission „Reform der Hessischen Verfassung“ vom 8. April 2005, LT-Drs. 16 / 3700; LT-PlPr. 16 / 67 vom 26. April 2005, S. 4586 – 4602). Schuldzuweisungen von außen scheinen mir dennoch nicht angebracht. 11 Auch wenn wir gegenläufige Zahlen haben, wenige oder keine Änderungen. Nur 7 Verfassungsänderungen in Hessen, 10 in Hamburg, 11 in Bayern, 13 in Niedersachsen stehen am anderen Ende der Skala. Daß die viel frischeren Verfassungen der „neuen“ Länder noch seltener oder (wie in Sachsen) noch gar nicht geändert wurden, überrascht dagegen wenig.

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das Urbild kaum noch erkennbar ist und auch die gerne getroffene Aussage, „die“ Verfassung habe sich in Jahrzehnten „bewährt“, mehr der geschmeidigen Wandlungsfähigkeit als sonstigen Qualitäten des ursprünglichen Textes gilt. Wie auch immer, die nähere Betrachtung unserer Verfassungen und ihrer Änderungen über einen längeren Zeitraum zeigt, daß jede Verfassung ein potentieller Pflegefall ist, der kaum je aus Eigenem in Würde altern kann. Jede von ihnen bedarf intensiver und kontinuierlicher, dabei minimalinvasiver Pflege von Anfang an. Auf ein hohes Alter ohne Demenz kann nur die Verfassung hoffen, in die nur, aber auch immer dann eingegriffen wird, wenn es wirklich not tut. Und dies ist vielleicht seltener der Fall, als wir gemeinhin denken. Mein Eindruck ist, daß es in der Bundesrepublik immer zu viele und immer zu wenige Verfassungsänderungen gegeben hat und daß aus beiden Gründen Verfassungen vorzeitig gealtert sind. Von den zu vielen, den überflüssigen Änderungen zu reden, ist hier nicht die Zeit. Auch müßte ich dafür, fürchte ich, mindestens zwei bayerische Beispiele12 – die Auslöschung des 12 Natürlich haben auch die meisten anderen Verfassungen überflüssige Änderungen zuhauf erlitten, an vorderster Stelle vielleicht das Grundgesetz. Nur zwei Beispiele: Die Reform 2006 sah einen Beitrag zur politisch gewollten „Entflechtung“ in der Beschränkung der Mitentscheidungszuständigkeit des Bundesrats bei der Bundesgesetzgebung. Dazu glaubte man vor allem die Voraussetzungen ändern zu müssen, unter denen Bundesgesetze der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Diesem Ziel dient vor allem der in furchterregender Weise mißlungene Art. 84 Abs. 1 GG. Es hätte mit der textlichen Klarstellung, daß entgegen der Annahme des Bundesverfassungsgerichts nur die einschlägige Vorschrift, nicht mit ihr zugleich das gesamte Gesetz zustimmungsbedürftig ist, und dem praktischen Verzicht auf einschlägige Vorschriften besser erreicht werden können. Als überflüssig hat sich unterdessen wohl auch die seit knapp 14 Jahren im Wachkoma liegende Nr. 25 des Art. 74 Abs. 1 GG („Staatshaftung“) und mit ihr Art. 74 Abs. 2 erwiesen. Kein Anzeichen ist sichtbar, daß sich der Bund an die überfällige Reform und Vereinheitlichung des Staatshaftungsrechts machte, obwohl der kompetentielle Stein des Anstoßes, der das (allzu schüchterne) Staatshaftungsgesetz der alten Bundesrepublik vom 26. Juni 1981 (BGBl. I S. 553) zu Recht zu Fall brachte (BVerfGE 61,

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Bayerischen Senats zum Jahr 200013 und den Texttausch bei der Menschenwürdegarantie im Jahre 200314 – nennen und könnte schon dadurch mein Gastrecht verwirken.

II. Überfällige Verfassungsänderungen Ich beschränke mich deswegen auf die zu wenigen Verfassungsänderungen, also den bislang nicht befriedigten Änderungsbedarf, die unzureichende Verfassungspflege: 149. Dazu, wie es danach ohne Verfassungsänderung hätte vorwärts gehen können, hat sich eindrucksvoll der Jubilar geäußert; vgl. Lerche, Mögliche Wege künftiger Staatshaftungsreform – zur Verzahnung von Bundes- und Landeskompetenzen, in: Börner / Jahrreiß / Stern [Hrsg.], Einigkeit und Recht und Freiheit. Festschrift für C. Carstens, Köln u. a. 1984 [Band 2], S. 687), durch Nr. 25 ausgeräumt war und obwohl die weise Entscheidung des Einigungsvertrages, das Staatshaftungsgesetz der DDR vom 12. Mai 1969 (GBl. I S. 34; geändert durch Gesetz vom 14. Dezember 1988, GBl. I S. 329) modifiziert als Landesrecht in den neuen Ländern weitergelten zu lassen (Einigungsvertrag vom 31. August 1990 [BGBl. II S. 889], Anlage II Kap. III, Sachgebiet B, Abschnitt III, Nr. 1 [S. 1168]), Anregung zu wirklich moderner Reform hätte geben können. 13 Näher dazu Verf., Aus dem Bayerischen Verfassungsleben 1989 – 2002, JöR n. F. 51 (2003), S. 121 (189 – 192). Ich nenne den Fall ohne politischen Kommentar, aber nicht ohne Wehmut. Auch wenn der Bayerische Verfassungsgerichtshof (BayVerfGH 52, 104; zu der Entscheidung vgl. Horn, BayVBl. 1999, 727; Schweiger, BayVBl. 2000, 195; Lege, DÖV 2000, 283; Herrmann, BayVBl. 2004, 513) meinte, der Senat habe nicht zu den vor Verfassungsänderungen gefeiten „demokratischen Grundgedanken“ der Verfassung gehört: Die ersatzlose Abschaffung eines Verfassungsorgans bleibt ein beispielloser Vorgang. Er läßt mich daran zweifeln, daß die Bayerische Verfassung seitdem das ist, was sie einmal war, und der Verlust an Rechtskultur und föderaler Vielfalt ist beklagenswert. 14 Die Verfassungsänderung 2003 (zu ihr Verf., in: Nawiasky / Schweiger / Knöpfle [Hrsg.], Die Verfassung des Freistaates Bayern [Stand 2003], Art. 100 FN *) tauschte den Satz, daß die Würde der menschlichen Persönlichkeit in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege zu achten sei (Art. 100 BV) gegen die Worte des Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes. Man fürchtete seinerzeit ungeachtet einer ihn kräftig und nach allen Seiten stützenden Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, der alte Satz würde sich gegen bestimmte bio-ethisch kritisierte Strömungen nicht hinreichend zur Wehr setzen können. Schade.

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Ich nenne vier Umstände, die Änderungsbedarf signalisieren: das redaktionelle Mißgeschick, die Fehlkonstruktion, die Lücke und die verfassungsgerichtliche Schöpfung. 1. Das redaktionelle Mißgeschick

Das redaktionelle Mißgeschick reicht von den Zweifeln des Grundgesetzes, ob es „deutsch“ groß oder klein schreiben soll,15 bis hin zur sybillinischen Redeweise der Berliner Verfassung von den „gewählten“ Abgeordneten.16 Manches MißVgl. die Schreibweisen in der Präambel und in Art. 146 GG. Die Verfassung von Berlin spricht an mehreren Stellen (Artt. 43 Abs. 1, 57 Abs. 3 Satz 1, 100 Satz 1 VvB. Das Adjektiv fehlt dagegen z. B. in Artt. 41 Abs. 3 Sätze 2 und 3, 42 Abs. 2 und 4 Satz 1, 45 Abs. 4 Satz 1, 54 Abs. 2 VvB) im Zusammenhang mit Mehrheits- oder MinderheitsQuoren von „gewählten“ Abgeordneten. Man denkt, wenn man dies liest, sogleich an die „nicht gewählten“ Abgeordneten, diejenigen Abgeordneten also, die aufgrund von Ausgleichsmandaten (die auch Berlin kennt) ins Parlament gelangt sind; denn wer, so könnte man es sehen, ein Ausgleichsmandat inne hat, ist nicht wirklich „gewählt“, sondern aufgrund Gesetzes entsandt. In Wirklichkeit geht es um etwas ganz anderes (zu den einschlägigen Beratungen vgl. Reichhardt [Hrsg.], Die Entstehung der Verfassung von Berlin. Eine Dokumentation, 1990, S. 2261 – 2269 [Bd. II]), seit mehr als einem halben Jahrhundert Überholtes, von vielen, darunter offenbar auch den Verfassungsänderern, längst Vergessenes oder nie Gewußtes: Art. 25 Abs. 2 VvB 1950 bestimmte, daß das Abgeordnetenhaus aus 200 Abgeordneten bestehe, doch konnten nach der Spaltung der Stadt erstmals bei der Wahl am 3. Dezember 1950 davon nur die 127 Abgeordneten in den zwölf Bezirken der Westsektoren gewählt werden, nicht auch die 73 auf den Ostsektor entfallenden Abgeordneten. Da Art. 25 Abs. 2 auch nach der Spaltung unverändert blieb (Die Reduzierung auf 127 Abgeordnete hätte die verfassungsrechtliche Akzeptanz der von der Sowjet-Union praktisch durchgesetzten Spaltung der Stadtverfassung und -verwaltung bedeutet), taugte die unveränderte Zahl „200“ natürlich nicht als Ausgangspunkt für die Berechnung von Mitglieds-Mehrheiten oder sonstigen -Quoren. Beispiel: Die „Mehrheit der Mitglieder“ wären (mindestens) 101 (von faktisch 127!), nicht (mindestens) 64, gewesen. Das erschien – zu Recht – unsinnig. Da nach dem Gesetz vom 27. März 1951 (GVBl. 1951 S. 297; zur Entstehung der in § 7 Abs. 2 des Wahlgesetzes [dort freilich noch nicht als förmliches Gesetz] vorgesehenen Regelung vgl. AH-PlPr. 1 / 1 vom 11. Januar 1951, S. 4; AH-Drs. 1 / 12 vom 27. Januar 1951; AH-Drs. 1 / 41 vom 15 16

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geschick haftet einer Verfassung von Geburt an an, manches kommt später, durch Änderungen des Textes oder der Wirklichkeit, hinzu. Die Festlichkeit des heutigen Tages verbietet mir, Sie näher ins redaktionelle Gruselkabinett zu bitten; eine kleine Inventur geht statt dessen zu Protokoll.17 Festhalten möchte ich 1. März 1951; AH-PlPr. 1 / 6 vom 1. März 1951, S. 49 – 52) dem Abgeordnetenhaus als Abgeordnete mit beratender Stimme die ehemaligen Stadtverordneten angehören sollten, die 1946 auf Kreiswahlvorschläge derjenigen Wahlkreise gewählt worden waren, „in denen am 3. Dezember 1950 die Durchführung der Wahl durch höhere Gewalt verhindert war, und am 3. Dezember 1950 ihren Wohnsitz im Ostsektor hatten“, lag die praktische Bedeutung des Adjektivs „gewählte“ auf der Hand: Es konnte in der Tat auch nicht gewählte, nur aufgrund des Gesetzes von 1951 ins Abgeordnetenhaus gelangende Abgeordnete geben, und es gab sie auch, wenngleich wegen der Spaltung der Stadt nur 6 von in Betracht kommenden 17 das Angebot annehmen (anders als das im Ostsektor inhaftierte SPD-Mitglied Rüdiger) konnten oder (anders als – natürlich – die zehn SED-Mitglieder) wollten (vgl. 11. Plenarsitzung des AH vom 19. April 1951, AHPlPr. 1 / 11, S. 221 [dort auch die Namen]; Krumholz, Stichwort „Abgeordnetenhaus von Berlin“, Berlin-ABC, Berlin 1965, S. 11 f.). Da sie als nicht aktuell Gewählte aber nur beratend tätig sein sollten, konnten sie in die Quoren nicht eingerechnet werden. 17 Um zunächst beim Grundgesetz zu bleiben: Warum gibt es das Adjektiv „deutsch“ dem Wort „Volk“ in der Präambel und in Art. 146 bei, nicht aber z. B. in Art. 20 Abs. 2 Satz 1, 21 Abs. 1, warum dem Bundestag in Art. 38 Abs. 1 Satz 2, aber sonst – wie auch den anderen Verfassungsorganen – nirgends? Warum spricht Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG von „Gegenstände[n] der Bundesgesetzgebung“ und nicht lediglich der „Gesetzgebung“, wenn wirklich nur der Gesetzesvorbehalt gemeint ist? Warum redet umgekehrt Art. 74 Abs. 2 GG von „Gesetzen“, wenn er doch nur Bundesgesetze meinen kann (und, könnte man hinzusetzen, warum steht der Satz überhaupt hier, jüngere Leser vielleicht zum Umkehrschluß verführend, daß alle nicht in Absatz 2 aufgeführten Gesetze nicht zustimmungsbedürftig seien). Das redaktionelle Mißgeschick in Art. 121 GG scheint verdeckter. Die Vorschrift versucht sich in einer Definition. Die andernorts verwendete Redeweise von der „Mehrheit der Mitglieder“ sei als „Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl“ zu verstehen. Daß sie damit die Zahl der Mitglieder meint, die der Bundestag unmittelbar nach dem Wahltag nach dem Gesetz hat, kommt nicht zum Ausdruck und erschließt sich erst, dann aber eindeutig, aus der Entstehungsgeschichte und aus dem zusätzlichen Umstand, daß die Vorschrift andernfalls überflüssig wäre. Einzelheiten bei Verf., Die „gesetzliche Mitgliederzahl“, Art. 121 GG, LKV 2008, 49.

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aber, daß ein höchstrangiger Text und der ihm pathetisch Unterworfene Anspruch auch auf höchste redaktionelle Sorgfalt Warum vergißt, und ich sinke auf Landesebene hinab, Berlin (Art. 39 Abs. 1) seit jeher, uns zu sagen, daß die Wahlen zum Abgeordnetenhaus nicht nur unmittelbar, gleich, allgemein und geheim, sondern auch „frei“ sein sollen? Warum – ich kann bei aller Vorliebe den Freistaat nicht beiseite lassen – hat man, als 1946 in letzter Minute Art. 98 weisungsgemäß in den Text der Bayerischen Verfassung gelangte und man wegen seiner Sätze 2 und 3 nun, nach der Sturzgeburt eines Generalgesetzesvorbehalts, alle, bislang einzelnen Grundrechten beigegebenen Gesetzesvorbehalte streichen konnte und mußte, einzelne Vorschriften übersehen? Und wenn die damalige Hektik einiges erklärt – immerhin führt die allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 101 BV, nicht den typischen Gesetzesvorbehalt bei sich und finden sich die anderen übersehenen Vorschriften durchweg außerhalb des Abschnitts „Grundrechte und Grundpflichten“ –, aber warum haben 61, jetzt fast 62 Jahre nicht ausgereicht, das zu bereinigen? Warum nennen Art. 101 („innerhalb der Schranken der Gesetze“), 142 Abs. 2 („im Rahmen der allgemein geltenden Gesetze“), Abs. 3 Satz 1 („den allgemein geltenden Gesetzen“), und 2 („innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze“), 151 Abs. 2 Satz 1 (Vertragsfreiheit „nach Maßgabe der Gesetze“), 155 Satz 2 („im Rahmen der Gesetze“), 159 Satz 1 („in den gesetzlich vorgesehenen Fällen“) und 171 BV („im Rahmen der Gesetze“) noch immer gesetzliche Schranken, noch dazu solche, die dem Art. 98 nicht entsprechen? Die Antwort liegt hier sicher auch in der Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, die nach einigem Zögern den offenbar allzu strengen Satz 2 des Art. 98 einfach beiseite geschoben hat; darauf komme ich noch. Vgl. zu all dem Verf., FN 14, Erläuterungen zu Art. 98 S. 1 – 3 BV. Andere – vergleichbare – Schönheitsfehler sind später hinzugekommen; sie entstehen bei Änderungen der Verfassungstexte, gelegentlich auch bei Änderungen der Verfassungswirklichkeit. Beispiele fürs erste liefert uns etwa die schleswig-holsteinische Verfassung. Aus „fünfundsiebzig“ Abgeordneten besteht der Landtag, schrieb und schreibt die Verfassung (Art. 10 Abs. 2 Satz 1) vor und schreibt die Zahl aus. Ab der 16. Wahlperiode verringert sich die Zahl auf „69“, sagt die Reform von 2003 und verwendet Ziffern (Art. 10 Abs. 1 Satz 2). Und Satz 4 des Art. 10 Abs. 1 fügt hinzu, die in Satz 1 genannte Zahl ändere sich durch Überhang- und Ausgleichsmandate, und vergißt dabei zu erwähnen, daß dies ab der 16. Wahlperiode auch (und nur noch) für die in Satz 2 genannte Zahl gilt. Oder, um in Schleswig-Holstein zu bleiben: Im Jahre 2004 wurde Art. 42 neu gefaßt. Das hinderte Art. 40 Abs. 2 nicht, weiter auf Sätze 5 und 6 des Art. 42 Abs. 2 zu verweisen, die es nun nicht mehr gab. Aber auch das Grundgesetz steht nicht nach. Beispiel: Art. 87c GG nahm zwölf Jahre lang von der Verfassungsreform 1994 keine Notiz; erst

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haben, soll nicht der Respekt vor dem Text und mit ihm vielleicht auch die Langlebigkeit einer Verfassung leiden. 2. Die Fehlkonstruktion

Ich komme dann sogleich zur zweiten Erscheinung, die eine Verfassung auszehren kann, zur Fehlkonstruktion. Nicht ganz selten trägt das Beharren auf oder Nichterkennen von Fehlkonstruktionen zu dem trügerischen Eindruck bei, ein Verfassungstext sei dauerhaft und verdiene ein langes Leben. Besser wäre es und zur Dauerhaftigkeit der Verfassung trüge es in Wahrheit bei, wenn die Fehlkonstruktion ersetzt würde. a) Alte Anmaûung Ein altes Beispiel bot die Anmaßung des früheren Art. 23 Satz 1 GG, der von der Geltung des Grundgesetzes in „Großdie Reform hat seinen unveränderten Verweis auf Art. 74 Nr. 11a statt auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11a aktualisiert (nunmehr: Art. 73 Abs. 1 Nr. 14). Eine Norm wie Art. 75 Abs. 4 der Bayerischen Verfassung, nach der Änderungen der Verfassung in deren Text oder in einem Anhang aufzunehmen sind, hätte derartiges wohl verhindert. Es zeigt sich, daß die Vorschrift, eine Verfassungsänderung müsse ausdrücklich den Wortlaut der Verfassung ändern, in der Eile der Geschäfte nicht immer ausreicht, sondern daß zusätzlich die zügige amtliche Publikation des konsolidierten Textes verfügt werden muß. Beispiele fürs Zweite, für Fehler, die sich Veränderungen außerhalb der Verfassung verdanken, liefert Berlin (mit seinen schon bei und in FN 16 erwähnten „gewählten“ Abgeordneten). Aber auch das Grundgesetz drängt sich erneut auf: Art. 144 Abs. 2 GG redet seit neunundfünfzig Jahren und auch noch 18 Jahre nach der deutschen Einigung ungebrochen davon, daß, soweit „die Anwendung dieses Grundgesetzes in einem der in Artikel 23 genannten Länder oder einem Teile eines dieser Länder Beschränkungen unterliegt“, das Land oder der Teil des Landes das Recht habe, Vertreter in den Bundestag und in den Bundesrat zu entsenden. Seit 1990 gibt es weder diesen Art. 23 (dessen Satz 1 überdies seit 1953 ein eigenes Beispiel für redaktionellen Anachronismus lieferte, weil er von Baden-Württemberg partout keine Kenntnis nehmen wollte) noch die gemeinten besatzungsrechtlichen Beschränkungen mehr. Das Grundgesetz als historisches Museum? Wer geltendes Recht in der aktuellen Verfassung erwartet, wird über solche Funde wenig erfreut sein

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Berlin“ sprach. Das war nicht visionär, sondern groß-sprecherisch und angesichts der bekannten Auffassung der Westallierten, daß nicht einmal die Westsektoren Berlins zur Bundesrepublik gehörten, riskant. Aber darüber ist die Geschichte hinweggegangen, deswegen sei der Blick auf anderes, Gegenwärtiges, gerichtet: b) Vertrauen als Maûstab Da ist das Thema Vertrauen in der Verfassung. Wir sind es gewohnt zu sagen, daß eine Regierung vom Vertrauen des Parlaments getragen werden soll. Eine Verfassung muß sich des Themas annehmen, weil sie entscheiden muß, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Verfahren sich beide, Regierung und Parlament, von einander trennen können oder müssen und auf wessen Kosten das gehen soll. Dabei ist jede Verfassung gut beraten, sich auf die Formalia zu beschränken und inhaltsschwere Tatbestandsmerkmale wie „Vertrauen“ oder „Mißtrauen“ zu vermeiden. Die Bayerische Verfassung z. B. sieht dies offenbar optimistisch etwas anders, wenn sie (Art. 44 Abs. 3 Satz 2) den Ministerpräsidenten zum Rücktritt verpflichtet, „wenn die politischen Verhältnisse ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten zwischen ihm und dem Landtag unmöglich machen“. Glücklicherweise mußte sich der Freistaat mit den Untiefen einer solchen, auf Inhalte abhebenden Bestimmung noch nicht auseinandersetzen. Aber der Umstand, daß eine Vorschrift noch nicht zur Anwendung gelangte, sagt nichts darüber, ob sie gelungen oder wenigstens unschädlich ist. Warum, frage ich, schiebt die Verfassung die Entscheidung darüber, ob das Verhältnis endgültig zerrüttet ist, dem Ministerpräsidenten zu, warum nimmt sie nicht statt dessen den Landtag auch, und zwar nur formal, in die Verantwortung, indem sie ihm voraussetzungslos die Abwahlkompetenz zugesteht? Besser zieht sich da das Grundgesetz aus der Affaire.

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Perfekt ist Art. 67 GG gelungen, weil er vom „Mißtrauen“ zwar redet, aber sich sogleich damit begnügt, es dokumentiert zu sehen in der Formalie der Ab- und Neuwahl eines Kanzlers. In ähnlicher Weise hebt auch Art. 68 GG, der die Zerreißprobe auf Initiative des Kanzlers thematisiert, zunächst allein auf die Formalie einer Mehrheit für oder gegen den Antrag des Kanzlers ab, und er sagt uns auch nicht, unter welchen Umständen der Kanzler den Antrag überhaupt stellen soll oder darf, und läßt ihn damit voraussetzungslos zu. Auch das ist weise. Aber der Parlamentarische Rat hatte dann doch an mehr und Grundsätzlicheres gedacht und sich vorgestellt, daß der Antrag nur im Falle echter Zerrüttung der Beziehungen zwischen Kanzler und Bundestagsmehrheit gestellt würde.18 Staatspraxis und Bundesverfassungsgericht19 haben das – diesmal sage ich: leider – aufgegriffen und beide Male, in denen sich die Mehrheit dem Kanzler versagte, als erstes danach gefragt, ob die Zerrüttungsvoraussetzungen für den Antrag vorlagen, und dies mit Mühe und anhand unbefriedigender Kriterien bejaht. Entsprechend wurde der dem Bundespräsidenten von Art. 68 Abs. 1 GG eingeräumte Ermessensspielraum drastisch reduziert. 18 Vgl. Lehr, Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (Anlage zum stenographischen Bericht der 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 5. Mai 1949), Bonn 1949, S. 17 (31). 19 1983: BVerfGE 62, 1 (dazu Delbrück / Wolfrum, JuS 1983, 758; Gusseck, NJW 1983, 721; H.-H. Klein, ZParl 1983, 402; Klemmt, ZParl 1983, 430; H.-P. Schneider, NJW 1983, 1529; Schultz, MDR 1983, 365; Seuffert, AöR 108 [1983], S. 403; Strohmeier, ZParl 1983, 422; Wiegand, VR 1983, 333). 2005: BVerfGE 114, 121 (dazu Jekewitz, Recht u Politik 2005, 204; Reutter, PVS 2005, 655; Starck, JZ 2005, 1053; van Ooyen, Recht u Politik 2005, 137; Wassermann, Recht u Politik 2005, 131; Buettner, DÖV 2006, 408; Gas, BayVBl 2006, 65; Dickmann, BayVBl 2006, 72; Edinger, ZParl 2006, 28; Herbst, Der Staat 45 [2006], S. 45; Hartwig, Der Staat 45 [2006], S. 409; Schenke, ZfP 2006, 26; Winkler, AöR 131 [2006], S. 441; Pieper, ZParl 2007, 287).

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Richtiger und einfacher wäre es wohl gewesen, Kanzlerantrag und Bundestagsabstimmung an keinerlei Voraussetzungen zu binden und dem Bundespräsidenten alles Weitere zu überlassen. Art. 68 gestattet diese Deutung,20 erzwingt sie aber nicht und ist deswegen imperfekt. Er sollte umformuliert werden. c) Reformdefizite 2006 Beispiele aus der Reform 2006 können nicht ausbleiben. Ich nenne nur eines:21 20 Verf., Art. 68 light oder Die Wildhüter der Verfassung, NJW 2005, 2817. 21 Ein anderes, vielleicht nicht ganz so offensichtliches Beispiel aus der Reform 2006: die Ergänzung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 um die Gebiete, die ihm nicht mehr unterfallen und damit in die ausschließliche Zuständigkeit der Länderabwandern sollten, darunter das „Recht der Gaststätten“. Wenn man weiß, daß der Begriff „Recht der Wirtschaft“ in all den Jahrzehnten ebenso wenig geklärt worden ist wie die Bedeutung der ungewöhnlichen in Klammern gesetzten Aufzählung einzelner Rechts- oder Sachgebiete, ahnt man nichts Gutes. Und das weniger Gute demonstrierte dann alsbald, nämlich 2007, die sog. Nichtraucherschutzgesetzgebung. Bund und Länder verständigten sich darauf, daß das Rauchen und Nichtrauchen in Gaststätten zum „Recht der Gaststätten“, nunmehr in die ausschließliche Kompetenz der Länder verwiesen, gehöre. Vergessen oder verdrängt war der Konsens während des Reformverfahrens („Die [vorgeschlagene] Übertragung des Gaststättenrechts in Länderkompetenz bezieht sich auf das Wirtschaftsrecht, anderweitige Bundeskompetenzen etwa im Bereich des Immissionsschutzes, des Arbeits-, Kinder- und Jugendschutzes bleiben unberührt“ – so das Schreiben Baden-Württemberg / Berlin vom 24. Juni 2004 an die Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, Projekt 5, Arbeitsunterlage 2 [CD-Rom „Zur Sache 1 – 2005“ des Bundestages und Bundesrates unter „PAU-5 / 0002“]; daran erinnert zutreffend Friedrich, Recht der Wirtschaft, in: Holtschneider / Schön [Hrsg.], Die Reform des Bundesstaates, Baden-Baden 2007, S. 239 [244 f.]), daß die Ausgliederung der nach den Klammern genannten Gebiete nur deren Wirtschaftsrecht, nicht aber etwa auch Gefahrenabwehrrecht betreffen sollte – so wie es der Wortlaut der Bestimmung, recht besehen, auch gebietet. Wer eine ambivalente Norm ergänzt, muß damit rechnen, daß die herkömmliche Ambivalenz auch das Neue infiziert. In solchen Fällen muß

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Art. 84 Abs. 1 Satz 5 GG ermächtigt den Bund, in „Ausnahmefällen wegen eines besonderen Bedürfnisses das Verwaltungsverfahren ohne Abweichungsmöglichkeit für die Länder“ zu regeln. Über die Bundesstaatswidrigkeit der Abweichungskompetenz verliere ich hier kein Wort. Ich frage nur dies: Wann besteht ein „besonderes Bedürfnis“, und wer urteilt über dieses Tatbestandsmerkmal, das betrübliche Erinnerungen22 an den früheren Art. 72 Abs. 2 GG weckt? Und: Wann liegt ein „Ausnahmefall“ vor?23 Wie läßt sich derartiges beim ersten, zweiten, dritten Gebrauchmachen von der Ermächtigung überhaupt feststellen? Mich tröstet wenig, daß ich24 weiß, daß man sich im Reformverfahren darauf verständigt hat, eine Umweltverwaltungsverfahrensregelung würde alle Voraussetzungen des Satzes 5 erfüllen. Aus dem Text der Vorschrift ergibt sich dies nicht, und allein darauf wird es ankommen.

man die Ambivalenz beseitigen und mag dann ändern; oder man muß auf die Änderung verzichten. 22 Auch z. B. bei Nierhaus / Rademacher, LKV 2006, 385 (393). Für praktisch im Sinne des Bundes gelöst hält die Frage offenbar dagegen z. B. Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249 (250, 252). 23 Wenn Rauber, Artikel 84 und das Ringen um die Verwaltungshoheit der Länder, in: Holtschneider / Schön (Hrsg.), Die Reform des Bundesstaates, Baden-Baden 2007, S. 36 (49 f.), eine „länderfreundliche“ Auslegung dieses Tatbestandsmerkmals vorschlägt, so hilft dies wohl nicht wirklich weiter: Die Formulierung „In Ausnahmefällen“ ist als solche „länderfreundlich“, denn sie will offenbar besagen, daß das „besondere Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung“ nicht stets, sondern eben nur ausnahmsweise zu einer Bundesregelung ohne Abweichungskompetenz der Länder ermächtigt. Aber sie gibt keinerlei Auskunft darüber, wann ein solcher Ausnahmefall vorliegt; da hilft auch keine zusätzlich „länderfreundliche“ Auslegung. 24 Wie alle Welt jedenfalls dank der Begründung des Reform-Entwurfs der Fraktionen der CDU / CSU und der SPD, BT-Drs. 16 / 813, S. 15. Schön, daß sich nach der dort zitierten Koalitionsvereinbarung von 2005 Bund und Länder (!) einig waren, daß unter Satz 5 (damals noch Satz 3, dann im Entwurf Satz 4 [diese – jetzt überholte – Zählung auch noch bei Benneter / Poschmann, Die Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen im Umweltbereich aus [der] Sicht des Bundes, in: Holtschneider / Schön, FN 23 , S. 175 [193]) das Umweltverfahrensrecht fallen werde.

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3. Die Lücke

Lassen Sie mich zu dem dritten Phänomen kommen, das die Pflegebedürftigkeit von Verfassungstexten indiziert, den Verfassungslücken. Es gibt empfindliche; die sollten geschlossen werden. Und es gibt läßliche; die können, müssen nicht, geschlossen werden. a) Empfindliche Lçcken Wohl die meisten empfindlichen Lücken finden sich im Parlamentsverfassungsrecht: Während die Landesverfassungen hier vieles nachgeholt haben, wirkt das Parlamentsrecht des Grundgesetzes unverändert und gänzlich unnötig schwindsüchtig und verschwiegen. Es verrät uns erstaunlich wenig über die Funktionen, die Wahl, die Zusammensetzung, Gliederung oder die Arbeitsweise des Bundestages. Ein vages und blutleeres Minimalgerüst, das für alles und jedes Raum läßt. Ich hebe nur dies heraus: Die Aussagen des Art. 38 GG zum Wahlrecht sind geradezu kümmerlich. Das denkwürdige Geschenk zweier Wahlstimmen statt nur einer25 gehört nicht weniger in die Verfassung als die Sperrklausel,26 die seit mehr als einem halben Jahrhundert den ausdrücklich27 verankerten Grundsatz der Wahlgleichheit durchbricht und deswegen ebenso ausdrücklicher verfassungstextlicher Legitimation bedarf. Völlig zu Recht war sich der Parlamentarische Rat in diesem Punkt einig,28 nicht ahnend, daß der eindeutige Befund später vom einfachen Gesetzgeber und dann vom Bundesverfassungsgericht29 beiseite geschoben werden würde.30 § 4 BWG. § 6 Abs. 6 Satz 1 BWG. 27 In Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. 28 Vgl. die zuverlässige Zusammenfassung bei von Doemming / Füßlein / Matz (Bearb.), Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR n. F. 1 (1951), S. 349 – 352 mit allen weiteren Nachweisen. 29 Beginnend mit BVerfGE 1, 208 (256). Zuletzt etwa BVerfGE 95, 408 (417 – 425). Konsequenzen für die Parteienfinanzierung sucht BVerfGE 111, 382 abzumildern. 25 26

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Auf die Dringlichkeit, eine Lücke ganz anderer Art zu schließen, hat uns der Terrorismus aufmerksam gemacht: Für den Einsatz der Bundeswehr in der Bundesrepublik mit den ihr spezifischen Waffen gegen terroristische Angriffe fehle es, so hat uns das Bundesverfassungsgericht31 belehrt, an der notwendigen verfassungsrechtlichen Ermächtigung. Sie wurde bisher trotz des Konsenses, daß es ohne Bundeswehreinsatz nicht gehen werde, und trotz der relativen Schlichtheit des Projekts32 nicht geschaffen. b) Låûliche Lçcken Schließlich ein kurzes Wort zu unschädlichen Lücken. Sie können, müssen aber nicht geschlossen werden. Wir betreten das Reich der Verfassungskosmetik. 30 Art. 38 GG tut uns noch Weiteres an. Er verschweigt uns auch die Größe des Parlaments; nicht einmal eine Mindest- oder Höchstzahl gibt er an. Von der Beschlußfähigkeit ist in dem Abschnitt ebenso wenig die Rede wie von den Fraktionen oder von der Macht der ständigen Ausschüsse – oder, schlimmer, aber auch verständlicher, noch, der Macht der über ihnen Schwebenden – vor allem im Gesetzgebungsverfahren, über das ohnehin wenig verlautet (Man denke nur an die kargen und beiläufigen Auskünfte zum Vermittlungsausschuß oder an die Zahl der Lesungen). Auch die zentralen Regelungen über die Abgeordneten gehören in die Verfassung. Derartige Lücken füllt, wenn man Glück hat, jedenfalls vorläufig die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte. Zum Beispiel: Das Schweigen der Verfassungen hat weder den Bayerischen Verfassungsgerichtshof (BayVerfGH 29, 69 [81]) noch – einige Zeit später – das Bundesverfassungsgericht (vgl. nur BVerfGE 70, 324 [350 – 352] mit Hinweisen auf ältere Rechtsprechung) daran gehindert, die Fraktionen in einer, wie es der Verfassungsgerichtshof 1996 formulierte, „die Verfassungswirklichkeit berücksichtigenden Betrachtungsweise“ als „in der Verfassung mit eigenen Rechten ausgestattete Teile“ des Parlaments anzusehen, mit entsprechenden Folgen etwa für den Organstreit. Derartige Entscheidungen sollten Anstoß für den Verfassungsänderer sein, die Fraktionen (und ausdrücklich jedenfalls deren Exklusivrechte) in Text der Verfassung aufzunehmen. 31 BVerfGE 115, 118. 32 Näher Verf., Inlandstötungen durch die Streitkräfte – Reformvorschläge aus ministeriellem Hause, NJW 2007, 492.

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Hierher rechne ich etwa die genauere Beschreibung des territorialen Geltungsbereiches einer Verfassung, vielleicht einschließlich der Verfahren ihrer Änderung. Vielleicht gehören auch die Kinderrechte hierher. Viele unserer Landesverfassungen widmen sich ihnen seit jeher oder doch seit jüngerer Zeit speziell und näher. Das Grundgesetz begnügt sich mit Art. 6 GG, und Vielen, auch der Kinderkommission des Bundestages,33 genügt dies nicht. Ich sehe, wie alle, die Lücke, aber ich erkenne auch als fünffach gesegneter Vater nicht, daß sie dringend geschlossen werden müßte. Auch Kinder sind „jedermann“, vielleicht sogar Deutsche, und ihnen kommen deswegen nicht mindere Verfassungsrechte zu als den Erwachsenen – wenn ich von den Wahl- und Ämterzugangsrechten absehe. Daß sie nicht auch Träger von Exklusivrechten sind, fügt ihnen Schaden wohl nicht zu. Ich schränke dennoch ein: Dasselbe könnte man z. B. von Frauen sagen, und dennoch begrüßen wir allgemein Zusagen nach Art des Art. 3 Abs. 2 und 3 GG. Wenn wir also Kinder als vielleicht nicht besonders benachteiligt, aber wegen ihrer Schwäche und Fürsorgedürftigkeit als durch uns Erwachsene besonders bedroht ansehen, ist nichts dagegen einzuwenden, daß sich die Verfassung auch ihnen gesondert – und über Art. 6 GG hinaus – zuwendet. Für notwendig halte ich es nicht. 4. Die Verfassungsgerichtsbarkeit

Den vierten, vielleicht wichtigsten Grund, der nach kontinuierlicher Änderung der Verfassungstexte im Interesse ihrer Langlebigkeit ruft, liefert die Verfassungsgerichtsbarkeit. De facto erfindet sie ungeschriebene Verfassungsnormen oder ändert sie geschriebene. Eine nachlesbare Reaktion des 33 Vgl. etwa deren Pressemitteilung vom 19. Dezember 2006 als Folge der von ihr veranstalteten öffentlichen Anhörung „Kinderrechte in die Verfassung?“ am 20. November 2006.

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bis dahin geltenden Verfassungstextes finden wir selten; es bleibt meist beim Alten, stillschweigend zustimmend oder resignierend. Vor zehn Jahren hat der Jubilar auf seine treffende Frage „Die Verfassung in der Hand der Verfassungsgerichte?“ subtile und versöhnliche Antworten gegeben.34 Ihnen weiß ich nichts hinzuzufügen, an ihnen nichts auszusetzen. Nur dies mag angemerkt werden dürfen: Richtig wäre es, wenn die Verfassungsgerichts-Rechtsprechung den gekorenen Verfassungsänderer auf den Plan riefe. Seine Sache wäre es, die richterliche Verfassunggebung zu übernehmen oder abzulehnen. a) Rezeptionsbedarf Ich nenne beispielhaft einige Verfassungsrechtssätze, die Verfassungsgerichte ersonnen haben und so einleuchten, daß der verfassungsändernde Gesetzgeber, der gehalten ist, zu ihnen Stellung zu nehmen, sie in den Text – ggf. mit Modifikationen – übernehmen sollte. Die drei ersten stammen aus dem staatsorganisatorischen Bereich, die drei weiteren aus dem grundrechtlichen. b) Drei staatsorganisatorische Erfindungen Dem Bundesverfassungsgericht verdanken wir erstens eine interessante Kombination von Parlaments- und Gesetzesvorbehalt: Bewaffnete Auslandseinsätze der Bundeswehr, so hat das Gericht eines Tages erdacht,35 bedürften eines Entsende34 Lerche, Die Verfassung in der Hand der Verfassungsgerichte? Festvortrag anläßlich des 50jährigen Bestehens der Bayerischen Verfassungsgerichtshofs am 1. Juli 1997 in München, in: Scholz u. a. (Hrsg.), Peter Lerche, Ausgewählte Abhandlungen, Berlin 2004, S. 522. 35 BVerfGE 90, 286 (381 – 390). Das Wort „Parlamentsvorbehalt“ ist hier sehr angebracht; es geht, da der Bundesrat nicht beteiligt ist, nicht um einen Gesetzesvorbehalt. Weniger gelungen ist die Redeweise von der

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beschlusses des Bundestags, und die verfahrensrechtlichen Details müßten fallübergreifend in einem Bundesgesetz geregelt werden.36 Jedenfalls der erste Teil leuchtet ein.37 Aber da er die Kompetenz der Regierung für das Auswärtige reduziert, braucht er eine Grundlage im Verfassungstext. Es gibt sie bis heute nicht. Dem Bundesverfassungsgericht ist auch die zweite staatsorganisatorische Erfindung, die ich erwähnen möchte, geschuldet. Das Gericht hat vor Jahren ersonnen, daß den Haushaltsgesetzgeber des Bundes für bestimmte Regelungen eine Begründungs- und Darlegungslast treffe.38 Genügt er ihr nicht, fällt das Gesetz, mag es noch so gut sein. In jüngerer Zeit hat das Gericht noch Dokumentationslasten des Abgabengesetzgebers hinzugefügt.39 Das Grundgesetz weiß davon nichts; entsprechend arglos waren die Gesetzgeber. Mittlerweile haben die Verfassungsgerichte in Niedersachsen,40 Berlin,41 Mecklenburg-Vorpommern42 und Hessen43 die Erfindung übernommen. Auch ihre Verfassungen schweigen dazu. Sie „konstitutiven Zustimmung“ (ebenda S. 290 [Tenor Nr. 2 a], 390); ist eine Zustimmung denkbar, die auf einem Vorbehalt beruht und dennoch deklaratorisch wäre? Die Terminologie verfällt später dann noch mehr, wenn BVerfGE 108, 34 (42 – 44) von einem „konstitutiven Parlamentsvorbehalt“ spricht: Gibt es irgendeinen Vorbehalt, der nicht konstitutiv wäre? Man macht sich Sorgen. 36 BVerfGE 90, 286 (389 f.). 37 Der zweite Teil scheint mir dagegen abwegig. Routine-Details zu Gegenständen von Parlamentsbeschlüssen gehören, sofern überhaupt regelungsbedürftig (Der Inhalt des schließlich folgsam beschlossenen Parlamentsbeteiligungsgesetzes [vom 18. März 2005, BGBl. I S. 775] läßt mich daran zweifeln), in die Geschäftsordnung des Parlaments. Was hat hier – anders als bei der Entsende-Entscheidung selbst – bei untergeordneten Verfahrensregularien der Bundesrat mitzureden? 38 BVerfGE 79, 311 (343 – 345) – 1989. 39 BVerfGE 108, 186 (218 f.); 110, 370 (393). 40 NdsStGH, NdsStGHE 3, 279 (291 – 293) – 1997. 41 BerlVerfGH, LVerfGE 14, 104 (119, 124 – 126) – 2003. 42 LVerfG MV, LVerfGE 16, 333 (346 – 349) – 2005. 43 HessStGH, LVerfGE 16, 262 (302 – 305) – 2005.

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sollten es nicht. Es geht um eine dem Verfassungstext nicht zu entnehmende neue verfassungsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers. Sie kann sicheren Bestand nur als geschriebener Verfassungssatz haben.44 Drittens, und damit komme ich wieder nach München: 1999 hat uns der Bayerische Verfassungsgerichtshof belehrt, daß der verfassungsändernde Volksentscheid, der einem Volksbegehren folgt, der Zustimmung einer Mehrheit bedarf, die mindestens einem Viertel der Stimmberechtigten entspricht, obwohl die Bayerische Verfassung von einem solchen Quorum nichts weiß.45 Mehr noch, der Gerichtshof hat wenig später Gelegenheit genommen hinzuzufügen, daß allein ein solches Quorum den „demokratischen Grundgedanken“ entspreche, die die Verfassung als unabänderlich schützt.46 Dieser Zusatz mag übertrieben sein, jener Kern liegt nahe. In jedem Fall muß die Verfassung diesen Satz, soll es bei ihm bleiben und will sie beanspruchen, Wesentliches selbst zu sagen, in ihren Text übernehmen. c) Drei grundrechtliche Erfindungen Von den grundrechtlichen Erfindungen der Verfassungsgerichte nenne ich – stellvertretend für viele – ebenfalls drei. 1993 entdeckte der Berliner Verfassungsgerichtshof in der Landesverfassung ein ungeschriebenes, dennoch rügefähiges Grundrecht der Menschenwürde.47 1995 wurde es in den Adelsstand geschriebenen Verfassungsrechts erhoben,48die einzig gebotene Reaktion auf eine solche nicht unmutige Entdeckung. 44 Vgl. bereits Verf., Vom hohen Rang des Verfassungsverfahrensrechts, NJ 2006, 1 (2 – 4). 45 BayVerfGH 52, 104 (127 – 136). Dazu und zur folgenden Entscheidung Verf., FN 13, S. 127 – 130. 46 BayVerfGH 53, 42 (60 – 67). 47 LVerfGE 1, 56 (60 – 62). 48 Vgl. Art. 6 VvB, der Art. 1 Abs. 1 GG kopiert.

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Auch die Berufsfreiheit war, zweitens, Gegenstand so mancher Entdeckungsfahrt von Verfassungsgerichten. Das Bundesverfassungsgericht kreierte ein sog. „einheitliches Recht der Berufsfreiheit“,49 mit dem sich alle Welt offenbar abgefunden hat, wenngleich der Verfassungstext von ihm wenig weiß. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof ist – im schützenden Schatten der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, der auch Gewißheit über das Geschriebene hinaus spendet – noch weiter gegangen und hat das Grundrecht der Berufsfreiheit als bayerisches gänzlich neu erfunden und, was nicht ganz fern liegt, der Geborgenheit des immerhin existierenden Art. 101 BV, der die allgemeine Handlungsfreiheit garantiert, anvertraut. Darüber wäre nicht allzu lange zu rechten, hätte er nicht gleichzeitig für alle Fälle, in denen es um Berufe geht, die Schranken des Art. 101 im Sinne der sog. DreistufenTheorie modifiziert.50 Ein Machtwort des Verfassungstextes ist auch hier, so oder so, vonnöten. Der Berliner Verfassungsgerichtshof ist dem Bayerischen an Mut und Entdeckungsfreude nicht nachgestanden: Art. 17 der Verfassung von Berlin garantiert u. a. die freie Wahl des Berufes als Unterfall des Rechts der Freizügigkeit. Der Verfassungsgerichtshof respektierte den Wortlaut und sah die Berufsausübung nicht grundrechtlich abgesichert;51 die allgemeine Handlungsfreiheit bot kein Asyl, denn sie gab es bis 1995 gar nicht. Nun gibt es sie (Art. 7), und nun sieht – seit 2001 – der Verfassungsgerichtshof auch die Ausübung garantiert, aber überraschenderweise nicht in Art. 7, sondern in eben dem Art. 17, der unverändert nur von der Wahl des Berufes spricht und im übrigen keinen tauglichen Gesetzesvorbehalt enthält.52 49 Von BVerfGE 7, 377 (402 – mit gewisser Vorsicht: „. . . jedenfalls in dem Sinn, . . .“) bis etwa BVerfGE 103, 172 (183). 50 Zu dieser Rechtsprechung vgl. Verf., in: Nawiasky / Schweiger / Knöpfle (Hrsg.), Die Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 101 RN 44 – 46, 67 (Stand 2000). 51 Vgl. zusammenfassend etwa LVerfGE 9, 45 (50 f.). 52 LVerfGE 12, 15 (20 – 24).

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Unvermeidlich ist es, drittens, die Verhältnismäßigkeit anzuführen. Das Bundesverfassungsgericht hat die alte Idee zu einem Verfassungsrechtssatz entwickelt, vor dem sich jeder Staat, wenn er Grundrechtsbezirke betritt, zu behaupten hat. Die meisten Verfassungen wissen von ihm allerdings nichts. Brandenburg (Artt. 5 Abs. 2 Satz 1, 23 Abs. 2), Sachsen-Anhalt (Art. 20 Abs. 2 Satz 1) und Thüringen (Art. 42 Abs. 4 Satz 1) kennen immerhin das Wort und stellen es unmittelbar neben die Wesensgehaltgarantie. Man darf annehmen, daß sie mit dem Wort die Schablone des Bundesverfassungsgerichts53 übernommen haben. Das ist besser als gar nichts und mehr, als die gänzlich schweigenden Verfassungen zu bieten haben. Sie alle sollten sich das Wort zu eigen machen und es uns darüber hinaus erläutern. Und wer sich erst einmal ans Werk macht zu definieren, wird vielleicht unversehens auch auf Subtileres stoßen, so wie wir es auch hier dem Jubilar54 verdanken. d) Klarstellungsbedarf In anderen Verfassungsbereichen sind die Verfassungsgerichte in einer Weise erfinderisch tätig geworden, die vielleicht – es ist Geschmackssache – weniger zur Aufnahme in die Verfassungsurkunde reizt als zur verwahrenden Klarstellung, dies aber immerhin. Die Zeit läßt nur ein einziges Beispiel zu:55 Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat nach anfänglichem Zögern den 53 Legitimes Ziel? Eignung? Erforderlichkeit? Zumutbarkeit? Vgl. schulmäßig zusammenfassend für den Bereich der Berufsausübung etwa BVerfGE 30, 292 (316 f.). Das Gericht ist erstaunlich lange ohne diesen heute recht automatisierten Vierklang (der dem Gesetzgeber viel zu sehr entgegenkommt) ausgekommen. 54 Von der ersten Auflage von Übermaß und Verfassungsrecht, Köln 1961, bis zur zweiten, Goldbach 1999, und darüber hinaus. 55 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bietet auch insofern ein reiches Reservoir, auf das im Vortrag aus Zeitgründen nicht zurückgegriffen werden konnte. Stichworte, die sich aufdrängen und bei denen es hier bewenden soll: (1) Das Gericht erklärt ohne Anhalt im Wortlaut des Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG die Legalenteignung für gegenüber der

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Grundrechtsgeneralvorbehalt des Art. 98 Satz 2 BV praktisch gestrichen und statt dessen die wenigen (eigentlich nur versehentlich) einzelnen Grundrechten noch beigefügten Gesetzesvorbehalte reaktiviert und andere einfach ersonnen.56 Der Bayerische Verfassunggeber ist gehalten, sich zu dem darin liegenden Verfassungsänderungsversuch zu äußern, in welcher Richtung auch immer. Nur eines, das schweigende Zusehen, ist nicht akzeptabel. e) Legitimationswirkung der Reaktion des Verfassunggebers Und warum sollte der eigentlich berufene Verfassungsänderer auf die Versuche der Verfassungsgerichte, Verfassungslükken zu schließen oder Verfassungstexte zu ändern, reagieren? Ich nenne zwei Gründe: Erstens können Verfassungsgerichte Verfassungsrecht zwar auslegen, aber sie können es nicht setzen. Die Grenzen mögen verschwimmen, aber das ändert nichts daran, daß die Verfassungen die Verfassungsgerichte nur zu ihrer Auslegung, nicht zu ihrer Änderung oder Ergänzung ermächtigen. Deswegen muß der eigentlich berufene Verfassunggeber ausdrücklich entscheiden, ob er die vom Gericht vorgeschlagene RichterAdministrativenteignung subsidiär. (2) Das Gericht entscheidet – den einfachen Gesetzgeber auf seiner Seite wissend, aber – gegen Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG in Organstreitverfahren über die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Verhaltens, nicht nur über die Auslegung des Grundgesetzes. (3) Das Gericht entscheidet gegen Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG – und diesmal ohne Rückendeckung durch den Gesetzgeber – im Verfassungsbeschwerdeverfahren auch dann, wenn gar keine Verfassungsbeschwerde vorliegt, weil der Antrag sich nicht gegen die öffentliche Gewalt, sondern gegen Private richtet. (4) Das Gericht segnet Kompetenzübergriffe des Bundesgesetzgebers gelegentlich unter der Voraussetzung ab, daß ihnen eine verständige, wenn auch leider kompetenzüberschreitende Konzeption zugrunde liegt. Von einem solchen konzeptionellen Sachzusammenhang, der auf eine Kompetenz-Kompetenz des Handelnden hinausläuft, weiß das Grundgesetz nichts. 56 Einzelheiten bei Verf., FN 14.

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Norm, eine Verfassungsinitiative sozusagen, übernehmen will oder nicht. Zweitens dulden Verfassungen, die ausweislich ihrer Änderungsbestimmungen ihren Wortlaut so ernst nehmen wie die geltenden deutschen Verfassungen, Ungeschriebenes neben sich eigentlich nicht, jedenfalls nicht auf Dauer. Wenn aus Gründen der Rechtsklarheit selbst der im sonst gehörigen Verfahren formulierte neue Text nichts am alten Text soll ändern dürfen, sofern er diese Änderungsabsicht nicht ausdrücklich mitteilt, dann steht dies ungeschriebenem Recht erst recht nicht zu; seine Existenz ist ja stets ungewiß, und zudem ist es seiner Natur nach in der Lage, Geschriebenes ausdrücklich zu ändern. Dies gilt57 auch für Ungeschriebenes aus der Feder der Verfassungsgerichte.

III. Wünsche: Neuordnung der Verfassungspflege Aus dem Beobachteten folgen Wünsche zur Neuordnung der Verfassungspflege. Ich nenne drei, die z. T. darauf hinauslaufen, die Verfassungsänderung der Verfassunggebung anzugleichen: 1. Verfassungskonsilien

Erstens und ohne jede Kritik an der Expertise und dem Engagement der bisher Beteiligten: Verfassungsänderungen sollten in andere Hände gelegt werden. Wir benötigen eine kontinuierliche und politisch desinteressierte Verfassungspflege, die den im politischen Tagesgeschäft Tätigen nicht zugemutet werden sollte. So wie die Verfassunggebung58 oft Nichtparlamentariern anvertraut wird, sollte es sich auch bei der Verfassungsänderung verhalten. 57

Wenn das etwas skurrile Bild erlaubt ist.

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Ich wünsche mir – beflügelt, ich gebe es zu, durch die Gesetzgebungskunst des 18. Jahrhunderts – ein außerparlamentarisches Verfassungskonsilium, das eigene und externe Änderungsvorschläge berät und – nach Anhörung der Öffentlichkeit – beschließt und sie dann dem Parlament und / oder dem Souverän zur Entscheidung vorlegt. Auch für das Parlament sollte es – wie bei Staatsverträgen – nur ein Ja oder Nein geben. Alles Inhaltliche ist zuvor dem Konsilium vorzulegen und dort zu beraten und zu bewerten. Wir vom Volk kennen diese Begrenzung der Entscheidungsmacht auf ein Entweder / Oder ohnehin bei jeder Volksabstimmung. Was hier Standard ist und sich mit Souveränität offenbar vereinbart, sollte auch dem Parlament, anders als bei einfachen Gesetzen, zugemutet werden dürfen. 2. Verfassungspflege

Zweitens. Das Konsilium hätte die Bewährung der Verfassung und die Entwicklung der Verfassungswirklichkeit kontinuierlich zu beobachten und Änderungsbedarf vorzumerken. Insbesondere hätte es die Rechtsprechung der Verfassungs58 Die Beobachtung der Verfassungsentwicklungen über einen längeren Zeitraum vermittelt den Eindruck, daß Verfassunggebung besser funktioniert als Verfassungsänderung. Es gibt bald zu viele, bald zu wenige, gelegentlich auch mißlungene Verfassungsänderungen. Ich bin sicher, daß dies nicht an der Qualität der Verfassungsänderer und ihrer Berater liegt, ebenso wenig am guten Willen, das Beste oder Bestmögliche zuwege zu bringen. Ein wesentlicher Grund mag sein, daß Verfassunggebung kein Tagesgeschäft ist. Sie wird meist durch eine bestimmte historische Konstellation erzwungen und steht unter Zeitdruck. Ihre wesentlichen Konturen werden zudem oft außerparlamentarisch geprägt. Anders in den weniger häufigen Fällen, in denen ohne Not und Zeitdruck Konsens hergestellt ist, daß ein normativer Neuanfang gewagt werden soll. Verfassungsänderer sehen sich kaum je unter Zeitdruck, auch nicht, wie wir jüngst gesehen haben, wenn es um Bundesstaatliches geht, und wenn – wie meist und zu Recht – der Eindruck vorherrscht, es gehe auch ohne Änderung, also wie bisher, recht gut, mag das Engagement für zügige und allein sachgesteuerte Reform begrenzt sein.

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gerichte und die Verfassungsrechtsprechung der Fachgerichte zu verfolgen, jene insbesondere unter dem Aspekt, ob sich richterliche Verfassungsänderungen oder Verfassungslückenschließungen anbahnen, die der Verfassungstext entweder aufnehmen oder ablehnen sollte. 3. Verfassungsänderung als Ausnahme

Drittens. Das Konsilium hätte den Verfassungsänderungsbedarf zu sammeln im Blick auf möglichst nicht mehr als eine Verfassungsänderung pro Legislaturperiode. So wenige Änderungen wie möglich, so viele wie nötig. Vom Parlament und / oder vom Souverän übernommene Vorschläge des Konsiliums träten i. d. R. erst in der darauf folgenden Legislaturperiode in Kraft. Ich schließe die Wunschliste eilig, denn die mir eingeräumten zwanzig Minuten, in den optimistischen Worten des Jubilars: eine „human begrenzte Zeit“,59 sind verstrichen.

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Lerche, FN 34, S. 522, freilich damals zu dreißig Minuten.

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I. Verfassungssicherung durch Öffentliche Meinung als Konzept Die Verfassung ist ein vornehmlich rechtliches System, das wesentliche Elemente der rechtlichen und politischen Eigensicherung in sich selbst trägt. Dabei soll an dieser Stelle weniger auf die Vorschriften zur Sicherung der formalen Verfassungssubstanz, also Art. 79 GG und Art. 19 Abs. 2 GG, und auch nicht auf das eigentümliche, grundgesetzspezifische Konzept der wehrhaften Demokratie, [also der Demokratiesicherung durch Demokratielimitierung einschließlich des Verfassungsschutzes im technischen Sinne] eingegangen werden [auch wenn hier der Wille der Verfassung zur dauerhaften Effektivität besonders sinnfällig wird. Schließlich sollen auch die übrigen institutionellen Sicherungen der Verfassungsgeltung wie die Verfassungsbindung aller staatlichen Gewalten und die Kontrolle dieser Bindung vor allem durch die Gerichtsbarkeit, speziell die Verfassungsgerichtsbarkeit, an dieser Stelle nicht erörtert werden.] Alle diese in Deutschland insgesamt relativ gut funktionierenden formalen und institutionellen, spezifisch rechtlichen Sicherungen vermögen die Effektivität der Verfassung im Ergebnis indessen nicht in gleicher Weise zu sichern wie der Ver* Der Vortrag wurde aus Zeitgründen im Kolloquium am 18. Januar 2008 nur ausschnittsweise vorgetragen. Die nicht vorgetragenen Teile sind durch eckige Klammern gekennzeichnet. Meinem Assistenten, Herrn Frederic Kahrl, danke ich sehr für seine Mitarbeit.

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fassungskonsens in der Gesellschaft, aber auch die Verfassungsloyalität bei staatlichen Funktionsträgern. Würden ein solcher Verfassungskonsens bzw. eine solche Verfassungsloyalität eines Tages nicht mehr bestehen, könnten die institutionellen Mittel der Verfassungssicherung dies dauerhaft gewiss nicht wettmachen. Verfassungskonsens und Verfassungsloyalität sind deshalb letztlich die entscheidenden Verfassungsvoraussetzungen und verfassungsrechtlichen Eigensicherungen in einer Demokratie. Good governance in einer Demokratie bedeutet deshalb auch die Sicherung, Herbeiführung und Stabilisierung des Verfassungskonsenses, der nicht einfach dekretiert und schon gar nicht erzwungen werden kann. Solche Verfassungsvoraussetzungen1 vermögen – wenn überhaupt – nur sehr begrenzt von der Verfassung selbst garantiert zu werden. Die Verfassung und ihre institutionellen Sicherungen können aber sehr wohl die Bildung und Aufrechterhaltung solcher Verfassungsvoraussetzungen schützen und ermöglichen, diese aber eben nicht selbst hervorbringen. [In diesem Schutz und in dieser Ermöglichung der Herausbildung von Verfassungsvoraussetzungen liegt zugleich eine wesentliche, wenn auch häufig bisher wenig beachtete Grundrechtsfunktion. Gewiss dienen die Grundrechte primär der Individualentfaltung. Indem sie aber dem Einzelnen die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und den Genuss fundamentaler Freiheiten gewährleisten und ihm die Chance eines hinreichenden Lebensunterhaltes etc. ermöglichen, sind sie stets auch wesentliche Quellen, aus denen sich ein Verfassungskonsens speist.] Von diesem Konzept aus gewinnt die Frage nach den Verfassungsverstößen und ihrer Wahrnehmung in der öffentlichen Meinung an exemplarischer und spezifischer Brisanz. Der ver1 Siehe dazu insbes. H. Krüger, Scheuner-Festschrift, 1973, S. 285 ff. Eine wichtige Untergruppe sind die Grundrechtsvoraussetzungen vgl. dazu M. Kloepfer, Grundrechte als Entstehenssicherung und Bestandsschutz, 1970, S. 15 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, 1988, S. 670 ff.; J. Isensee, HStR V, 1992, § 115, S. 356 ff. m. w. N.

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fassungsrechtlich, insbesondere grundrechtlich gesicherte freie Fluss von Informationen ist eben auch eine wesentliche Sicherung für das Verfassungssystem selbst. Die Massenmedien können Verfassungsverstöße publik machen und Kritik hieran schüren und nähren. Auch in dieser etwas anders gewichteten Sicht bewährt sich auf diese Weise das relativ frühe Wort des Bundesverfassungsgerichts2 von der für ein funktionierendes demokratisches Gemeinwesen schlechthin konstituierenden Bedeutung der Meinungs- und Pressefreiheit.

II. Zum praktischen Funktionieren dieses Konzepts Wie funktioniert nun dieses theoretische Konzept der Verfassungssicherung auch durch öffentliche Meinung in der Realität? Die Frage nach der Quantität, Intensität und Qualität der Berichterstattung in den Medien über Verfassungsverstöße oder Verfassungsbedenken lässt sich nicht einfach und schon gar nicht pauschal beantworten. Es muss zwischen und innerhalb der Medien differenziert werden. Insofern scheint mir die Berichterstattung über die einschlägigen Gerichtsentscheidungen zu Verfassungsfragen zwar heute nicht mehr so gut wie in früheren Jahrzehnten, aber insgesamt immer noch hinreichend zu sein. Dabei hilft auch die Pressearbeit der Gerichte, mithin die bisher relativ wenig beachtete Öffentlichkeitsarbeit der Justiz. Die Öffentlichkeitsarbeit der dritten Gewalt – nicht zu verwechseln mit problematischen öffentlichen Auftritten einzelner Richter im Kampf um die Lufthoheit über deutschen Stammtischen – erscheint grundsätzlich legitim, solange sie der Versuchung widersteht, getroffene Entscheidungen der Gerichte zu erklären oder gar zu verteidigen. Heute wird jedenfalls über die wichtigsten Entscheidungen etwa des BVerfG sowohl in den Printmedien als auch in Rundfunk und 2

BVerfGE 7, 198 (208) – Lüth.

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Fernsehen relativ häufig – und im Kern regelmäßig korrekt – berichtet. Dabei ist es freilich häufig nicht leicht, den hochkomplizierten Stoff dickleibiger Gerichtsentscheidungen in einer Zehn-Zeilen-Meldung oder einer halben Sendeminute zusammenzufassen. [Dies umso weniger, wenn der Entscheidung mehrere – bisweilen (jedenfalls die Öffentlichkeit eher) verwirrende – Sondervoten angefügt werden.] Hinzu kommt – in Zeiten bildfixierter Berichterstattung – die Schwierigkeit bildlicher Umsetzungen verfassungsrechtlicher Probleme, die nur sehr unzureichend mit ewig gleichen Bildern im Fernsehen über das Eintreten der Richter in den Verhandlungsraum kompensiert werden kann. Während in Deutschland aber insgesamt der Gerichtsbzw. Urteilsjournalismus im großen und ganzen durchaus zu akzeptablen Ergebnissen führt, dürfte dies bei der Berichterstattung über Verfassungsbedenken gegenüber noch laufenden oder künftigen politischen Vorhaben – also bevor gerichtliche Entscheidungen vorliegen – nicht immer in gleicher Weise der Fall sein. Das liegt aber weniger an den Medien selbst als vielmehr an der häufig eher beliebigen und unpräzisen Verwendung verfassungsrechtlicher Argumente in der allgemeinen politischen Diskussion. Heute wird bei vielen umstrittenen Gesetzesentwürfen beispielsweise sehr schnell auf teilweise recht unbestimmte Verfassungsbedenken – z. B. angebliche Verstöße in Steuerreformen gegen das Rechtsstaats- oder Sozialstaatsprinzip – zurückgegriffen, auch wenn diese nicht von juristischen Fachleuten stammen. Dabei ist an die verbreitete Vermischung der Argumente der politischen Unerwünschtheit einerseits und der angeblichen Verfassungswidrigkeit andererseits ebenso zu denken wie an den Missstand, dass es heutzutage gewiss nicht schwierig ist, für nahezu jede Verfassungsmeinung – auch die erkennbar unvertretbare – ein bezahltes Rechtsgutachten zu erhalten. Hier Spreu vom Weizen zu trennen, ist für Journalisten häufig nicht leicht. Im Zweifel wird der Journalist sich – schon wegen fehlender eigener rechtlicher Fachkenntnis – auf den Bericht über anderweit vorgetragene Verfassungsbedenken

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beschränken und eigene Verfassungssubsumtionen eher unterlassen. Trotz dieser Schwächen verkörpert aber gerade die Berichterstattung über Verfassungsdiskussionen in der Vorphase geplanter politischer Entscheidungen (auch im Fall ihrer Unausgewogenheit) die eingangs geschilderte Eigensicherung der Verfassung durch die Ermöglichung freier Bildung und Äußerung der öffentlichen Meinung. Läuft es gut, kann durch die öffentliche Verfassungsdiskussion ein drohender Verfassungsbruch eben vermieden werden. [Hier allerdings ist auf ein ernstes und zunehmend (gerade auch außerhalb der Verfassungsjustiz) um sich greifendes Phänomen einzugehen: auf die Ersetzung bzw. Vermeidung des Gangs zu den Gerichten durch den Gang in die Öffentlichkeit. Es ist ja eine keineswegs mehr seltene Einsicht, dass die Schilderung von Missständen in der Presse bisweilen eine weitaus schnellere und effektivere Abstellung von Missständen verspricht als die ex-post-Kontrolle von Gerichten. Das ist weder verfassungspolitisch abzulehnen noch gar verfassungswidrig, weil der Gang in die Öffentlichkeit ja nicht den späteren Weg zu den Gerichten verhindert, sondern diesen allenfalls überflüssig macht. Trotz seiner buchstäblich entscheidenden Stellung hat das BVerfG eben keine Monopolstellung bei der Sicherung der effektiven Verfassungsgeltung in Deutschland. Es konkurriert insoweit nicht nur mit anderen Gerichten und anderen staatlichen Organen (z. B. Bundespräsident, Bundesinnen- und Bundesjustizministerium, Beauftragte wie z. B. Wehrbeauftragte, Datenschutzbeauftragte etc.), sondern auch mit den Aktivitäten der Gesellschaft, der Medien und der Rechtswissenschaft. Seine Sonderstellung verdankt das Gericht nicht dem Auftrag zur Verfassungskontrolle – das machen letztlich viele –, sondern der Macht zur Letztverbindlichkeit dieser Kontrolle.]

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III. Gelingen des Konzepts? Gelingt nun mit dieser Einbeziehung der öffentlichen Meinung eine verstärkte gesellschaftliche Verfassungskontrolle und Verfassungssicherung? Erwächst hieraus Verfassungseffektivität bzw. eine verstärkte Realitätsprägung durch Verfassungsrecht? Theoretisch ja – in der Praxis insgesamt aber wohl doch nur in recht eingeschränktem Maße. Zu differenzieren ist hier zwischen – erstens – der Vermeidung von Verfassungswidrigkeit und – zweitens – der Beseitigung von Verfassungswidrigkeit insbesondere infolge der Nichtigkeitsfeststellung von Gesetzen etc. durch das BVerfG. Es kann gewiss nicht ausgeschlossen werden, dass Verfassungsbedenken in der öffentlichen Meinung gegen bestimmte politische Vorhaben im Ergebnis zur Aufgabe dieser Vorhaben führt. [In der Realität wird das Scheitern regelmäßig allerdings eher auf politischen Einwänden beruhen, die sich mit verfassungsrechtlichen Argumenten verbinden oder aber auch als solche tarnen werden. Die in Medien geäußerten Verfassungsbedenken von Journalisten allein gegen bestimmte Gesetze etc. werden selten die geistige Kraft haben, politische Projekte – mit Verfassungsbedenken – zum Scheitern zu bringen, wohl aber eventuell die hinter solchen Meldungen stehenden Gutachten und Expertisen, wenn sie z. B. die gesetzesvorbereitende Ministerialbürokratie zu überzeugen in der Lage sind.] Eines vermögen verbreitete Verfassungsbedenken in der öffentlichen Meinung nicht selten aber sehr wohl zu bewirken, nämlich dass evtl. notwendige Mehrheiten für ein bestimmtes Projekt zu bröckeln beginnen können. Soweit hingegen das BVerfG ein Gesetz etc. für verfassungswidrig erklärt hat, erlischt das mediale Interesse im allgemeinen sehr schnell, und allenfalls in Qualitätszeitungen wird noch über die geplante Füllung der – durch die Nichtigkeit eines Gesetzes – entstandenen Lücke berichtet bzw. spekuliert.

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IV. Zur politischen Folgenlosigkeit von Verfassungswidrigkeit Dieser Abbruch medialer Aufmerksamkeit nach der gerichtlichen Verfassungswidrigkeitsfeststellung ist einer der wesentlichen Gründe für den Umstand, dass – auch gerichtlich festgestellte – Verfassungswidrigkeiten in Deutschland regelmäßig ohne politische Konsequenzen bleiben. Dieses bemerkenswerte Phänomen der politischen Folgenlosigkeit von Verfassungswidrigkeit ist der Staatsrechtswissenschaft bisher anscheinend weitgehend verborgen geblieben, oder es ist ihr im Ergebnis gleichgültig, weil sie sich bisher – häufig überwiegend allzu juristisch fixiert – auf die Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit, also insbesondere auf die Nichtigkeit von Staatsakten, konzentrierte. Gerade die politischen Folgen der Verfassungswidrigkeit verdienen aber sehr wohl mehr Aufmerksamkeit. [Gewiss, die rechtliche Durchsetzung der Verfassung ist einer der großen und auch im Ausland anerkannten Erfolge der Bundesrepublik Deutschland. Gleichwohl: Verfassungswidrigkeit ist nicht allein ein rechtliches Phänomen, sie hat regelmäßig auch eine politische Dimension. Die juristische Negation (Nichtigkeit eines Gesetzes) der juristischen Negation (Verfassungsverstoß durch Gesetz) mag zwar das juristische Weltbild klären, blendet aber das Problem der politischen Verantwortung für Verfassungswidrigkeit aus.] Wenn das mediale Interesse an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes oder eines anderen staatlichen Aktes regelmäßig mit der ergangenen Nichtigkeitserklärung etc. in Karlruhe kulminierend sein Ende findet, mag das eine, wenn auch keine zwingende Erklärung für die weitgehende politische Folgenlosigkeit von aufgetretenen Verfassungswidrigkeiten sein. [Es handelt sich im Wesentlichen um einen Teufelskreis: Wenn in der Regel keinerlei politische Folgen an die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen und anderen Staatsakten geknüpft sind, ist es für Medien vergleichsweise uninteressant, länger am

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Thema der konkreten – und inzwischen amtlich festgestellten – Verfassungswidrigkeit zu bleiben. Und wenn Medien nicht an einem Thema bleiben, führt dies nicht selten zum politischen Vergessen.] Dies wäre anderes, wenn es so etwas gäbe wie einen Rücktritt (oder gar eine Entlassung bzw. Amtsentfernung) wegen vorsätzlichen bzw. evident verfassungswidrigen Verhaltens, zumal es gerade die Personalentscheidungen sind, welche die Sinne der Medien und der Öffentlichkeit fesseln. Nun zeigt allerdings eine schnelle Durchsicht durch ca. 250 Rücktrittsfälle in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,3 dass es solche Rücktritte wegen zu verantwortender Verfassungswidrigkeit praktisch nicht bzw. kaum gab und gibt. Allenfalls sind Rücktritte wegen Fehlverhaltens hierzu zu rechnen, bei denen neben Anstandsregeln und geltenden Gesetzen auch einmal Verfassungsbestimmungen verletzt wurden (SpiegelDurchsuchung).4 In ähnlichen Begründungszusammenhängen sind allenfalls noch regelmäßig die honorigen Fälle von Rücktritten zur Vermeidung vermuteter künftiger Verfassungswidrigkeit zu nennen (Großer Lauschangriff).5 Die an sich erstaunliche, tatsächliche Abwesenheit von Rücktritten wegen zu verantwortender Verfassungswidrigkeit 3 Siehe P. Beucker / F. Überall, Endstation Rücktritt, 2006; M. Philipp, Persönlich habe ich mir nichts vorzuwerfen, 2007. 4 Politisch entscheidend freilich war nicht der Rücktritt des Bundesverteidigungsministers, der nach bereits erfolgtem Rücktritt aller FDP-Minister im Zuge seines Kollektivrücktritts der von CDU und CSU gestellten Minister erklärt wurde, sondern sein Verzicht auf die Wiederinanspruchnahme des Amtes in einem neu zu bildenden Kabinett Adenauer. Dabei erfolgte der Amtsverzicht nicht infolge einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung, sondern dreieinhalb Jahre vor der die Verfassungswidrigkeit – entgegen der Meinung von vier Richtern – verneinenden Entscheidung des BVerfG (BVerfGE 20, 162 ff.). Siehe dazu Der Spiegel vom 8. Januar 2007, S. 94 ff.; ferner H.-P. Schwarz, Die Ära Adenauer. Epochenwechsel 1957 – 1963, 1983, S. 261 ff. 5 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 15. Dezember 1995, S. 1, 3 und 4. – Der regelungsgegenständliche § 100 c StPO wurde im Wesentlichen für nicht verfassungsgemäß erklärt in BVerfGE 109, 279 – Großer Lauschangriff.

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mag oberflächlich bzw. auf den ersten Blick gerade auch damit erklärt werden, dass die Verfassungswidrigkeit nichts anderes als die Feststellung der objektiven Unvereinbarkeit von Staatsakten mit einer besonders ranghohen Rechtsnorm, nach allgemeiner Ansicht aber keinen Vorwurf darstellt. Darin verbirgt sich allerdings ein grundlegender Irrtum über den Charakter des politischen Rücktritts, der eben keine Quasi-Sanktion oder Selbstbestrafung, sondern das politische Einstehen für Misserfolge und Missstände darstellt. Der Rücktritt setzt nämlich gerade nicht Schuld, sondern „nur“ Misserfolge bzw. Erfolglosigkeit voraus (z. B. eine verlorene Schlacht, Fehlfunktionen im Behördenapparat, misslungene Geiselbefreiungen, entkommene Gefangene, Wahlschlappen etc.). Er hat gerade dort guten Sinn, wo konkrete persönliche Vorwerfbarkeit nicht vorliegt oder zumindest nicht nachweisbar ist. Der Justizminister hätte vielleicht die Flucht der Gefangenen, der Politiker hätte die Fehler im Behördenapparat vermeiden oder die Wahl gewinnen können, etwaige Rücktritte in diesem Zusammenhang setzen aber gerade nicht an konkreter persönlicher Vorwerfbarkeit (sondern eher an fehlender „fortune“) an. Nichts anderes hat bei der Verantwortung für Verfassungswidrigkeit von Gesetzen und anderen Staatsakten zu gelten. Scheitert ein Gesetz eines Ministers wegen Verfassungswidrigkeit, ist seine dahinterliegende Politik zunächst einmal rechtlich (und nicht selten auch politisch) gescheitert. In entsprechend schwerwiegenden Fällen kann dies sehr wohl einen Rücktritt sinnvoll erscheinen lassen oder sogar nahelegen. Jedenfalls ist die bisherige nahezu völlige politische Folgenlosigkeit von aufgetretener Verfassungswidrigkeit auch wertungsmäßig kaum kompatibel mit den einschlägigen Grundwertungen des Grundgesetzes in Art. 61 GG (Präsidentenanklage) und Art. 98 Abs. 2, insbesondere S. 2, und Abs. 5 GG (Richteranklage). [Nach diesen bisher glücklicherweise nie praktisch gewordenen Vorschriften6 kann bekanntlich die vorsätzliche Verletzung des GG (oder eines einfachen Bundesge-

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setzes) zum Verlust des Amtes des Bundespräsidenten, also des höchsten Amtes im Staate, oder zur Entlassung aus dem Amte eines Richters7 führen. Diese Normen müssen – als Grundwertung naturgemäß aber nicht in den konkreten verfahrensmäßigen Konsequenzen – erst recht für politische Funktionsträger unterhalb des Ranges des Bundespräsidenten bzw. des in Art. 97 GG ausgestalteten Status der qualifizierten und sachlichen Unabhängigkeit eines Richters gelten. Es geht also nicht etwa um die entsprechende Anwendung der beiden genannten spezifischen Verfassungsbestimmungen, sondern um die Erkenntnis des materiellen Unwerturteils, das die Verfassung über Amtsträger fällt, die einen vorsätzlichen Verfassungsbruch begehen.] [Bei einer Forderung nach Rücktritten wegen erfolgter Verfassungswidrigkeit bleibt allerdings der Einwand zu bedenken, dass mit der exorbitanten Expansion und Banalisierung der Verfassung in den letzten Jahrzehnten eine nahezu unübersehbare Zahl an Fehlverhalten unter das Damoklesschwert des notwendigen Rücktritts geraten könnte und die knappen Personalressourcen brauchbaren politischen Führungspersonals eine deutliche Zunahme an Rücktritten gar nicht zuließen. Dem ist freilich u. a. entgegenzuhalten, dass Art. 61 GG weder eine Pflicht zur Anklage noch gar eine Pflicht zur Verlustigerklärung des Amtes vorsieht. Es darf auch hier – wie überall – kein krasses Missverhältnis zwischen dem Verstoß (hier: gegen 6 Zu einem der raren Fälle, in denen eine Richteranklage jedenfalls erwogen wurde, R. Wassermann, Richteranklage im Fall Orlet?, NJW 1995, 303 f. 7 Die sich auf Bundesrichter beziehenden Vorschriften des GG werden durch aufgrund der Ermächtigung des Art. 98 Abs. 5 S. 1 GG geschaffene Parallelnormen der Landesverfassungen ergänzt (Art. 66 Abs. 2 LVerf BW, 111 LVerf Brandenb., 63 Abs. 3 LVerf HH, 77 LVerf MV, 52 LVerf NS, 77 LVerf NRW, 32 LVerf RP, 80 LVerf Sachs., 84 Abs. 1 LVerf S-A, 43 Abs. 4 LVerf S-H, 89 Abs. 3 LVerf Thür.). Dabei ist dann das Bundesverfassungsgericht zuständig: Soweit geltendes Landesverfassungsrecht für die Richteranklagen gegen die Landesrichter die Zuständigkeit anderer Gerichte (siehe z. B. Art. 70 Abs. 2 VVB, Art. 138 LVerf Bremen) vorsieht, bleiben die Regelungen nach Art. 98 Abs. 5 S. 2 GG unberührt. Ausführlich G. Burmeister, Die Richteranklage, in: DRiZ 1998, 518 ff.

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die Verfassung) und der Sanktion (Amtsverlust) bestehen. Das muss entsprechend für eine politische Forderung nach einem Rücktritt wegen verfassungswidrigen Verhaltens gelten. Ein rücktrittsbegründender Verfassungsverstoß muss schwerwiegend und regelmäßig offenkundig sein.8] Aber auch mit dieser Einschränkung auf schwerwiegende und evidente Fälle von Verfassungswidrigkeit geht die Forderung nach Rücktritten in Deutschland bisher praktisch ins Leere. Es gibt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland keine nennenswerten Fälle des politischen Rücktritts wegen evident verfassungswidrigen Verhaltens. [Es kam zwar bisweilen zu einschlägigen Rücktrittsforderungen (wie z. B. beim Deutschland-Fernsehen9 und beim Zuwanderungsgesetz10 und soeben bei dem Eilbeschluss zur Vorratsdatenspeicherung11), die aber durchweg von den Betroffenen nicht beherzigt wurden.] 8 Politisch mag man sich zudem freilich – schon aus Beweisgründen – fragen, ob nicht auch die grob fahrlässige Verletzung des Grundgesetzes zu einem Ministerrücktritt führen sollte, wie dies in einigen Landesverfassungen bezüglich der Ministeranklagen vorgesehen ist (so in Art. 57 Abs. 1 LVerf BW, Art. 63 Abs. 1 LVerf NRW und Art. 131 Abs. 1 LVerf RP; Art. 115 Abs. 1 LVerf Hessen verlangt lediglich ein schuldhaftes Verhalten). 9 BVerfGE 12, 205 ff.; eine scharfe Rücktrittsforderung formulierte insoweit der Abgeordnete Erler, vgl. BT-Plenarprotokoll III / 147, S. 8317 B-C. 10 BVerfGE 106, 310 ff.; eher vereinzelte Rücktrittsforderungen erhoben sich sowohl vor (vgl. etwa taz Berlin vom 23. März 2002, S. 29) als auch nach dem verfassungsgerichtlichen Urteil (vgl. etwa taz vom 19. Dezember 2002, S. 4). Der Fall lehrt beispielhaft die opportunitätsorientierte Haltung der politischen Handlungsträger zu Entscheidungen des BVerfG: Im Hinblick auf das Minderheitenvotum der Richterinnen Lübbe-Wolff und Osterloh äußerte Wowereit lakonisch, er komme immer mehr zu der Einsicht, dass Frauen die besseren Juristen seien (siehe Die Welt vom 19. Dezember 2002, S. 1). 11 Nachdem das Bundesverfassungsgericht durch Eilbeschluss vom 11. 3. 2008 (1 BvR 256 / 08), verkündet am 19. 3. 2008, den vollzugsabhängigen Zugriff auf Daten im Rahmen der sog. Vorratsdatenspeicherung untersagte, forderte der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung den Rücktritt von Bundesjustizministerin Zypries wegen vorsätzlichen Verfassungsbruchs, siehe etwa Frankfurter Rundschau vom 20. 3. 2008, S. 4. Wie das

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Um Missverständnissen vorzubeugen: Wie bei der Präsidentenanklage kann ein Rücktritt wegen Verfassungswidrigkeit nur ultima ratio sein. [Das politische System hält eine Reihe „milderer“ Mittel der Einforderung politischer Verantwortung für Verfassungswidrigkeit bereit: die öffentliche Kritik, die parlamentarische Missbilligung und z. B. die Durchsetzung einschlägiger politischer Entscheidungen gegen den Willen des Politikers, der sich verfassungswidrig verhalten hat. Der öffentlichen Meinung und den Massenmedien kommt für die öffentliche Kritik an einem verfassungswidrigen Verhalten eine große Bedeutung zu. Solche Kritik in der Öffentlichkeit kann die Handlungsmöglichkeiten, das Gewicht und die Karriere eines Politikers und sein politisches Gewicht erheblich verringern und deshalb auf die Betroffenen sehr wohl wie eine „Sanktion“ wirken. Die Presse ist in ihrer Wächterfunktion für die Demokratie in hohem Maße dazu berufen, die politische Verantwortung für verfassungswidriges Verhalten einzufordern. Das gilt natürlich erst recht für das Parlament, das auch über die politischen Konsequenzen zu befinden hat.]

V. Zur tatsächlichen Verfassungsgeprägtheit von Politik Für das weitgehende Fehlen der politischen Verantwortung für verfassungswidriges Verhalten einschließlich der NichtExistenz von Rücktritten in der Bundesrepublik Deutschland wegen Verfassungswidrigkeit gibt es möglicherweise eine einleuchtende Erklärung, die ich im Zusammenhang mit dieser schönen Veranstaltung nur ungern ausspreche. Mit der Verfassungsprägung von Politik ist es in Deutschland eben doch nicht – oder jedenfalls nicht überall – so weit her, wie es sich die deutsche Staatsrechtslehre u. a. mit einem ihrer Lieblingsthemen, der Konstitutionalisierung von Politik, so gerne einDatum zeigt, handelt es sich um eine Forderung, die zeitlich nach dem hier vorliegenden Vortrag erhoben wurde.

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redet. Der Befund eines starken Verfassungseinflusses auf die Politik mag zwar für einige Politikfelder bzw. für eine nicht geringe Zahl von Politikern auch zutreffen. Es ist aber ein frommer Irrtum zu glauben, dass die Politik insgesamt der Verfassungsbindung tatsächlich einen besonderen Rang im Sinn herausgehobener Integrität zubilligte. Der besondere Rang der Verfassungsbindung wird von der Politik zwar oft betont, aber eben keineswegs ebenso oft beherzigt. Zwischen Recht und Politik herrscht eben keine prästabilisierte Harmonie, sondern eher eine latente Spannung, die im Verfassungsstaat zwar abgebaut, aber nicht völlig beseitigt werden kann. Den prinzipiellen Respekt vor der Verfassung leistete und leistet die Politik jedenfalls nur sehr begrenzt. So trug etwa die Gründung der Deutschland-Fernsehen-GmbH12 durch den großen Staatsmann Adenauer durchaus die Züge des Versuches eines juristischen Teilputsches gegen die Rundfunkverfassung. Die von vielen Seiten betriebene durchsichtige Komödie13 im Bundesrat um die Zustimmung zum Zuwanderungsgesetz – mit den Herren Wowereit, Stolpe und Schönbohm in tragenden Rollen – ließ Zweifel daran aufkommen, ob die deutsche Politik der Gegenwart durchgängig die unverfügbare und unmanipulierbare Verbindlichkeit von Verfassungsrecht wirklich zu einer Grundannahme ihres Handelns macht. Die in der Gesellschaft zunehmend verbreitete Akzeptanz von Regelverstößen macht bei Hoheitsträgern selbst vor der Verfassung nicht halt. Im Vordringen ist ein eher taktisches Verhältnis der Politik zur Verfassung: Der Verfassungsverstoß wird von der Politik versucht oder doch eventualiter in Kauf genommen, vielleicht kommt ja keiner „drauf“ oder die Sache geht i. S. einer Elastizitätsprobe des Grundgesetzes in Karlsruhe gerade noch durch. [Und wenn alles nicht hilft, bleibt ja BVerfGE 12, 205 ff. – Deutschland-Fernsehen. Vgl. etwa die Äußerung des saarländischen Ministerpräsidenten Müller, das Verhalten der Ministerpräsidenten der Unionsseite im Bundesrat habe „legitimes Theater“ dargestellt, wiedergegeben etwa in: Süddeutsche Zeitung vom 26. März 2002, S. 1; siehe aber auch den Selbstdeutungsversuch Müllers in: Die Welt vom 27. März 2002, S. 3. 12 13

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noch das Mittel des Ignorierens verfassungsgerichtlicher Entscheidungen.14] Der insgesamt dann doch begrenzte Respekt der Politik vor der Verfassung wird nicht selten kaschiert durch die häufig offenen Formulierungen und Wertungen der Verfassung, die typischerweise oft verschiedene Optionen offen hält. Aber diese Erklärung der Offenheit von Verfassungstext und Verfassungsaussage fruchtet dann nichts mehr, wenn das BVerfG – unterstellt, es hat eindeutig und hinreichend konkret entschieden – die Verfassungswidrigkeit eines Vorhaben ausdrücklich festgestellt hat. Wenn staatliche Organe dann – danach – trotzdem an ihrem verfassungswidrigen Vorhaben festhalten, kommt es gerade nicht zur Realitätsprägung durch, sondern zur Irrealität von Verfassungsrecht. Die Liste solcher „Auflehnungen“ gegen das Bundesverfassungsgericht ist zwar bisher nicht lang, sie wächst aber, und zwar auch außerhalb der sog. Appellentscheidungen, wo bisweilen die von Karlsruhe gesetzten Fristen verletzt werden. [Für das BVerfG stellen solche „Auflehnungen“ eine ernste Gefahr dar, denn es ist im Kern ein Verfassungsorgan (fast) ohne Schwert. Der große Einfluss des Gerichts beruht bisher maßgeblich auf der Einsicht der Politik, dass es notwendig für das Gemeinwesen ist, die verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zu befolgen.]15 Aus der inzwischen facettenreichen Empirie solcher politischer „Aufstände“ gegen das Bundesverfassungsgericht und letztlich gegen die Verfassung selbst sei hier nur ein einziger, 14 In einem ähnlichen Sinne auch H. Prantl, in: Süddeutsche Zeitung vom 20. September 2007, S. 4: „An die Stelle von schriller Kritik am Gericht, wie es sie vor einem Jahrzehnt gab, ist das Ignorieren seiner Entscheidungen getreten.“ 15 Auch wenn sie im Ergebnis zu befolgen sind, sind Entscheidungen des BVerfG allerdings mitnichten kritiklos hinzunehmen. Eine „substanzielle, rationale Kritik“ an Inhalten und Folgen verfassungsgerichtlicher Judikatur ist indessen keine Aufgabe der Politik, sondern die „geradezu selbstverständliche Aufgabe der Rechtswissenschaft“; vgl. P. Lerche, Rechtswissenschaft und Verfassungsgerichtsbarkeit, 2002, in: ders., Ausgewählte Abhandlungen, 2004, 529 (534).

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wenn auch besonders krasser Fall exemplarisch erwähnt, der weiterhin hohe Aktualität besitzt. Seit der – sicherlich nicht unproblematischen – Verwerfung des Luftsicherheitsgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht im Februar 200616 erhob sich die rechtliche und politische Frage, welche Handlungsoptionen dem Staat im Falle einer terroristischen Gefährdung durch Luftfahrzeuge verblieben.17 Dass der Abschuss eines Luftfahrzeuges, der evident verfassungswidrig sei, in aller Regel nicht in Frage komme, hatte das BVerfG weitestgehend18 explizit vorgegeben. 16 BVerfGE 115, 118 ff.; im Wesentlichen zustimmend K. Baumann, Das Urteil des BVerfG zum Luftsicherheitseinsatz der Streitkräfte, Jura 2006, 447 ff.; C. Burkiczak, NZWehrR 2006, 89 ff.; A. Poretschkin, Die Prüfung des LuftSiG durch das BVerfG, NZWehrR 2006, 123 f.; C. Starck, Zur Verfassungswidrigkeit des § 14 Abs. 3 LuftSG, JZ 2006, 417 ff.; F. Rettenmaier, Das Luftsicherheitsgesetz – Bewährungsprobe für den grundrechtlichen Lebensschutz?, VR 2006, 109 ff.; W. Hecker, Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz, KJ 2006, 179 ff.; P.-A. Albrecht, Menschenwürde als staatskritische Absolutheitsregel, KritV 2006, 295 (296 ff.); D. Winkler, Verfassungsmäßigkeit des Luftsicherheitsgesetzes, NVwZ 2006, 536 ff.; W.-R. Schenke, Die Verfassungswidrigkeit des § 14 III LuftSiG, NJW 2006, 736 ff.; B. Hirsch, Zum Verbot des Rettungstotschlags, NJW 2007, 1188; A. Schaar, Über den Abschuss von Passagierflugzeugen zur Terrorabwehr, ZLW 2007, 551 ff. – Kritisch demgegenüber etwa M. Baldus, Gefahrenabwehr in Ausnahmelagen: das Luftsicherheitsgesetz auf dem Prüfstand, in: NVwZ 2006, 532 (535); C. Gramm, Der wehrlose Verfassungsstaat, DVBl. 2006, 433 ff.; O. Depenheuer, Das Bürgeropfer im Rechtsstaat, in: Isensee-FS, 2007, 43 (46 ff.); S. Hobe, Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der Gefahrenabwehr im nationalen Luftraum, ZLW 2006, 333 – 339; C. Hillgruber, Der Staat des Grundgesetzes – nur bedingt abwehrbereit?, JZ 2007, 209 (214 ff.); E. B. Franz, Der Bundeswehreinsatz im Innern und die Tötung Unschuldiger im Kreuzfeuer von Menschenwürde und Recht auf Leben, Der Staat 45 (2006), 501 ff.; K. Rogall, Ist der Abschuss gekaperter Flugzeuge widerrechtlich?, in: NStZ 2008, 1 (5); J. Isensee, Not kennt Gebot, FAZ vom 21. 01. 2008, S. 9. 17 Vgl. nur D. Wiefelspütz, Vorschlag zur Neufassung des Art. 35 GG, in: ZRP 2007, 17 ff.; C. Pestalozza, Inlandstötungen durch die Streitkräfte: Reformvorschläge aus ministeriellem Hause, in: NJW 2007, 492 ff. 18 Ob der Gedanke einer solidarischen Einstandspflicht des Einzelnen für Staat und Verfassung einen Abschuss dann rechtfertigen könne, wenn der Angriff auf Zusammenbruch oder Zerstörung des rechtlich verfassten Gemeinwesens insgesamt abziele (solches mag bei einem gezielten Angriff

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Nach Pressemeldungen19 zuvor bekräftigte allerdings der amtierende Bundesverteidigungsminister Jung in einem Zeitschrifteninterview im September 2007,20 er werde im Falle des Falles auch ohne gesetzliche Grundlage den Befehl zum Abschuss geben und berief sich dabei auf die strafrechtliche Notstandsvorschriften. Daraufhin erhob sich jedenfalls teilweise öffentliche Entrüstung.21 Nicht im mindesten jedoch sah sich der Minister bemüßigt, auch nur einzugestehen, wie unvereinbar mit dem GG seine Haltung sei. Zu gar persönlichen Konsequenzen, wie teilweise von den Oppositionsfraktionen gefordert, äußerte er sich nicht. Eine Bundestagsdebatte überstand er ohne Folgen und stilisierte den offenen Verfassungsbruch quasi zur Gewissensentscheidung22 [etwa frei nach dem Motto: Hier schieße ich – ich kann nicht anders! Glücklicherweise verstieg er sich nicht bis zu der absurden Forderung nach einem Widerstandsrecht gegen Entscheidungen gegen das Bundesverfassungsgericht, wie dies beim Kruzifix-Urteil tatsächlich geschehen war.]23 auf ein Atomkraftwerk in Betracht kommen), glaubte der Senat unter Verweis auf den abweichenden (zutreffend wäre wohl eher: weiteren) Anwendungsbereich des § 14 Abs. 3 LuftSiG offen lassen zu dürfen, BVerfGE 115, 118, 159. Eine weitere „offene Flanke“ in der Entscheidung ergibt sich aus der strafrechtlichen Beurteilung eines verfassungswidrigen Abschusses (BVerfGE 115, 118, 157). 19 Siehe etwa Bonner Generalanzeiger vom 1. April 2006, S. 3; Süddeutsche Zeitung vom 8. Juni 2006, S. 26. 20 Focus vom 17. September 2007, S. 38 f. 21 Siehe etwa Die Welt vom 18. September 2007, S. 2; Berliner Morgenpost vom 19. September 2007, S. 3; Frankfurter Rundschau vom 20. September 2007, S. 4. 22 In einer Aktuellen Stunde im Bundestagsplenum erklärte der Bundesminister der Verteidigung (BT-Plenarprotokoll 16 / 114, S. 11777): „Ich denke, dass unverkennbar ist, dass eine solche Extremsituation eine enorme Gewissensbelastung für die Verantwortlichen darstellt. In dieser Situation ist auf unsere Rechtsordnung Rücksicht zu nehmen, die die Menschenwürde umfasst; es ist aber auch zu berücksichtigen, dass wir einen Eid geschworen haben, Schaden vom deutschen Volke abzuwenden“ (Hervorhebungen des Verf.). 23 Exemplarisch: Der frühere bayerische Kultusminister Maier hielt Widerstand für geboten, vgl. Focus vom 14. August 1995, S. 44, der Bun-

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Die Äußerungen des Ministers markierten mitnichten eine verfassungsrechtliche Petitesse, hatte doch das BVerfG bekanntlich sein Nichtigkeitsverdikt gegen das LuftSiG nicht allein auf dessen Kompetenzwidrigkeit, sondern – zweifelhafterweise – vor allem auf dessen Unvereinbarkeit mit Art. 1 Abs. 1 GG gestützt. Der Minister kündigte folglich in der konkreten Sache sowohl dem BVerfG als auch dem gemäß Art. 79 Abs. 3 GG unveränderlichen Kerngehalt der Verfassung in diesem Fall seine Gefolgschaft auf.24 Der offen angekündigte Verfassungsbruch und die insoweit verweigerte Loyalität gegenüber dem BVerfG blieben politisch folgenlos; aus der Sicht des Bundesverteidigungsministers besteht offenkundig weiter die Möglichkeit, seine Absicht im Ernstfall zu vollziehen. Das Medienecho auf die unhaltbaren Ausführungen des Bundesministers freilich blieb erstaunlicherweise eher lau.25 Dies mag damit erklärt, aber keineswegs legitimiert werdestagsabgeordnete Geis betonte, dem Verfassungsgericht seien seine Grenzen aufzuzeigen, und der stellvertretende CSU-Vorsitzende Friedrich sah das Widerstandsrecht aus Art. 20 Abs. 4 GG berührt, vgl. jeweils FAZ vom 22. August 1995, S. 1; ausführlich zu alledem R. Lamprecht, Zur Demontage des Bundesverfassungsgerichts, 1996, S. 39 ff. 24 Auf einem anderen Blatt steht, ob von der Politik eine Verfassungsänderung angestrebt werden sollte, um eine grundrechtliche Regelung des Abschusses von Luftfahrzeugen im Terrorfalle verfassungsrechtlich zu ermöglichen. Es ist allerdings eine Stilfrage, ob darüber ein öffentlicher Interview-Streit geführt werden sollte, wie zwischen dem Präsidenten des BVerfG und dem Bundesinnenminister, vgl. Der Spiegel vom 14. Januar 2008, S. 24, einerseits und Welt am Sonntag vom 20. Januar 2008, S. 4, anderseits. 25 Die öffentlich erhobene Kritik verlagerte ihren Schwerpunkt rasch von dem angekündigten Abschussbefehl auf die allgemeine Amtsführung des Ministers und sein taktisches Geschick. Unter Beachtung der Verfassungsrechtslage hingegen prononciert kritisch A. Hölscher, Haltet den Dieb!, in: Frankfurter Rundschau vom 17. September 2007, S. 11 („So einen nennen wir Verfassungsfeind und suchen ihn aus öffentlichen Ämtern zu bannen“); C. Bommarius, Die Republik als Bombodrom, in: Berliner Zeitung vom 19. September 2007, S. 4 (Der Minister habe „sein Amt verwirkt selbst ohne Rücktritt oder Rauswurf“); C. Semler, Macht vor Recht. Der Verteidigungsminister ignoriert die Bürgerrechte, in: taz vom 19. September 2007, S. 11; vorsichtig H. Prantl, Der Abschuss, in: Süddeutsche Zeitung vom 20. September 2007, S. 4. Unentschieden D. Vates, Der Nut-

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den, dass die Entscheidung des BVerfG von vielen Medien für problematisch gehalten wird. Ob die Medien insgesamt insoweit ihrer Wächterfunktion hinreichend gerecht geworden sind, kann man bezweifeln. Nicht bezweifeln kann man, dass ein Bundesverteidigungsminister, der dem BVerfG und damit der Verfassung selbst in einer so wichtigen Frage seine Loyalität versagen will, hätte zurücktreten müssen.26 Dieses Ergebnis gilt übrigens auch, wenn man die Auffassung des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit des Luftsicherheitsgesetzes nicht teilt. Die Frage der Loyalität zum Gericht stellt sich gerade erst dann, wenn man die Auffassung des Gerichts im konkreten Fall nicht für richtig hält. [In dieser Folgenlosigkeit eines angekündigten, vorsätzlich verfassungswidrigen Verhaltens im Fall des Luftsicherheitsgesetzes liegt keineswegs ein Einzelfall. Die Beispiele ließen sich rasch vermehren. Ein einziger Hinweis muss hier ausreichen: Da sind wieder und wieder Länderfinanzminister, deren Haushaltsgesetze von den Landesverfassungsgerichten reihenweise für verfassungswidrig erklärt wurden.27 Die jeweils pozen der Hypothese in der Politik, in: Berliner Zeitung vom 18. September 2007, S. 4. Die Position des Verteidigungsministers tendenziell befürwortend etwa G. Mayntz, Debatte über Abschuss nötig, in: Rheinische Post vom 18. September 2007, S. 2; G. P. Hefty, Befehlsgewalt für die Kanzlerin, in: FAZ vom 18. September 2007, S. 1; ders., Übergesetzlicher Notstand. Jenseits von Gesetz und Verfassung, in: FAZ vom 19. September 2007, S. 10; A. Seibel, Schäuble und Jung, in: Die Welt vom 22. September 2007, S. 4. Aus der Staatsrechtslehre befürwortend s. die Äußerungen von R. Scholz, in: Die Welt vom 18. September 2007, S. 1. 26 In Großbritannien freilich wäre die Nichtbeachtung einer gerichtlichen Entscheidung als sog. contempt of court sogar strafbar; eine solche Regelung ist in der britischen Besatzungszone bewusst nicht in das deutsche Rechtssystem übertragen worden. Vgl. dazu den Beschluss des Zonenbeirates der Britischen Zone vom 8. / 9. 7. 1947, TOP 308, abgedruckt in: G. Plum, (Bearb.), Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945 – 1949, Band 3, 1982, S. 238. 27 So in Berlin das Haushaltsgesetz 2002 / 2003, BerlVerfGH LKV 2004, 2 ff.; in Mecklenburg-Vorpommern das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2003, VerfG MV LKV 2006, 23 ff.; in Nordrhein-Westfalen die Haushaltsgesetze 2001 und 2002, VerfGH NRW DÖV 2004, 121 ff., und das Nachtragshaushaltsgesetz 2004 / 2005, VerfGH NRW DÖV 2007,

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litisch mögliche und sinnvolle Folge wäre jene des persönlichen Rücktritts gewesen; er trat nie ein.]

VI. Fazit So fällt die Antwort nach der Realitätsprägung durch Verfassungsrecht und der Rolle der öffentlichen Meinung insgesamt durchaus ambivalent und differenziert aus. Dies ist wahrscheinlich auch richtig so, weil wir vom verehrten Jubilar – neben vielem anderem mehr – gelernt haben, dass gerade im Verfassungsrecht der Kern der Wahrheit in der Differenzierung liegt. Das gilt auch für unser Thema. Grundsätzlich wird schwerlich bezweifelt werden können, dass die öffentliche Meinung und die Medien wichtige Verbündete bei der Sicherung der effektiven Verfassungsgeltung sein können. Dies kann allerdings letztlich nur dann zum Erfolg führen, wenn und soweit der Verfassungskonsens nicht nur in der Bevölkerung selbst verankert ist, sondern auch bei den Organwaltern und den Trägern von Verfassungsfunktionen selbst.

698 ff.; aus nicht in der Kreditaufnahme liegenden Gründen im Saarland (Gesetz über die Haushaltsfinanzierung und Haushaltssicherung 2005) AS RP-SL 34, 23 ff. Vgl. zu Fragen des Landeshaushalts Berlin M. Kloepfer / M. Rossi, VerwArch. 94 (2003), 312 ff.

Die Konstitutionalisierung des Rechts, insb. durch die Grundrechte Von Hans D. Jarass

I. Die Konstitutionalisierung des Rechts 1. Zentrale Rolle des Bundesverfassungsgerichts

Es ist viele Jahre her, lieber Herr Lerche, dass ich in einer Ihrer Lehrveranstaltungen saß, die mir besonders in Erinnerung geblieben ist. Sie nannten sie „Kolloquium zum Verfassungsrecht“ und behandelte aktuelle Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Die – übrigens tatsächlich als Kolloquium durchgeführte – Veranstaltung hat nicht nur mein Interesse für das Verfassungsrecht geweckt und gefördert, sondern auch für die Rechtswissenschaft, war also von erheblicher Bedeutung für meinen späteren Werdegang. Daher möchte ich mich heute mit der Stellung des Verfassungsrechts befassen. Dessen praktische Relevanz und vor allem die praktische Bedeutung der Grundrechte für das gesamte Recht haben sich seit 1949 in einem Maß entfaltet, wie das damals niemand für möglich gehalten hat. Nicht nur in den vielen Feldern des Verwaltungsrechts werden die Grundrechte immer häufiger angewandt. Auch im Strafrecht und im Zivilrecht kommen sie zunehmend zum Einsatz. Diese Entwicklung kann man als „Konstitutionalisierung des Rechts“ bezeichnen.1 Die wichtigste Ursache für sie dürfte in der Existenz und der Tätigkeit 1 Vgl. Schuppert / Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000. Die gegen die Benutzung des Begriffs im innerstaatlichen Bereich erhobenen Bedenken (Wahl, in: Eberle u. a. (Hg.), Festschrift für Brohm, 2002, S. 192 ff.) können nicht wirklich überzeugen, weil der Alternativbegriff der „Konkretisierung“ sehr viel blasser ist.

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des Bundesverfassungsgerichts liegen.2 Ihm kommt im Prozess der Konstitutionalisierung eine Schlüsselfunktion zu. Es fungiert, in Anlehnung an den in den USA entstandenen Terminus des „judicial activism“3 als aktives Verfassungsgericht, obwohl es als Gericht natürlich nicht selbst ein Verfahren einleiten kann. 2. Gründe für die Konstitutionalisierung

a) Auf Verfassungsrecht beschrånkter Prçfungsmaûstab Für den Prozess der Konstitutionalisierung, auch und gerade durch das Bundesverfassungsgericht, dürften drei Umstände eine zentrale Rolle gespielt haben. Der erste Umstand ergibt sich aus der Beschränkung des Bundesverfassungsgerichts auf das Verfassungsrecht. Von Sonderfällen abgesehen, ist es auf diesen Prüfungsmaßstab beschränkt.4 Das unterscheidet es von Gerichten wie dem US Supreme Court oder dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, die jede Art von Recht auslegen und anwenden, unter Einschluss des Verfassungsrechts. Ein Gericht wie das Bundesverfassungsgericht besitzt wegen dieser Beschränkung die institutionelle Tendenz, das 2 Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 7. Aufl. 2007, Rn. 550. 3 Vgl. Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, 1999, S. 53 ff.; zum „judicial activism“ in Deutschland Klein, in: Burmeister (Hg.), Festschrift für Stern, 1997, S. 1135 ff.; Stern, NWVBl 1994, 241 ff. Zum Gegenstück des „judicial self-restraint“; vgl. Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 7. Aufl. 2007, Rn. 505; Tomuschat, in: Badura / Dreier (Hg.), Festschrift 50 Jahre BVerfG, 2001, Bd. I, S. 269 ff. 4 Auf die Prüfung des Verfassungsrechts ist vor allem die Verfassungsbeschwerde beschränkt (Pieroth, in: Jarass / Pieroth, Grundgesetz, 9. Aufl. 2007, Art. 93 Rn. 72 f.), auch wenn die Abgrenzung gelegentlich Schwierigkeiten bereitet (dazu Wieland, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz, Bd. III, 2000, Art. 93 Rn. 76). Bei der im vorliegenden Zusammenhang ebenfalls bedeutsamen konkreten Normenkontrolle bildet das Verfassungsrecht im Wesentlichen den Prüfungsmaßstab (Pieroth, a. a. O., Art. 100 Rn. 18).

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Recht in verfassungsrechtlichen Dimensionen zu verstehen. Es betont die verfassungsrechtlichen Aspekte eines Rechtsstreits zu Lasten der Aspekte, die in anderen Gebieten des Rechts wurzeln. Einen Rechtsstreit, der von den Zivilgerichten bzw. den Verwaltungsgerichten als zivilrechtlicher oder als verwaltungsrechtlicher Konflikt gesehen wird, betrachtet ein aktives Verfassungsgericht als einen Rechtsstreit, der durch Probleme des Verfassungsrechts geprägt wird. Der Grund dafür ist naheliegend: Da ein Verfassungsgericht allein befugt ist, Verfassungsrecht auszulegen und anzuwenden, also staatliche Aktivitäten am Maßstab der Verfassung zu messen, wird es zwangsläufig die verfassungsrechtlichen Aspekte betonen, da es die Entscheidungen anderer Gerichte nur insoweit korrigieren kann, als der Streitfall verfassungsrechtliche Probleme aufwirft. Selbst wenn andere Gerichte den Fall allein auf der Grundlage des Gesetzesrechts lösen bzw. gelöst haben, muss das Verfassungsgericht verfassungsrechtliche Probleme finden, wenn es den Fall abweichend beurteilen will. Das führt, zumal bei einem „aktiven“ Verfassungsgericht, zu einer wachsenden Bedeutung des Verfassungsrechts in der Rechtsordnung. b) Normverwerfungsrecht und verfassungskonforme Auslegung Ein weiterer Umstand, der wesentlich zur Konstitutionalisierung durch das Bundesverfassungsgericht beigetragen hat, liegt in einer Befugnis, die viele, aber keineswegs alle Verfassungsgerichte besitzen und die in bestimmten Ländern auch bei Gerichten mit umfassender Zuständigkeit anzutreffen ist:5 Es geht um die Befugnis, förmliche Gesetze und damit Akte des Parlaments für ungültig und nichtig zu erklären, 5 Dementsprechend findet sich die Tendenz zur Konstitutionalisierung zum Teil auch in Ländern, die kein aktives Verfassungsgericht in dem hier beschriebenen Sinne besitzen.

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weil sie verfassungswidrig sind. Das Gericht verfügt somit über das Normverwerfungsrecht, auch im Hinblick auf parlamentarische Gesetze, was noch immer in vielen Staaten auf Bedenken stößt;6 in der niederländischen Verfassung wird es sogar explizit ausgeschlossen.7 Wenn ein Gericht diese Befugnis nicht nur besitzt, sondern von ihr auch mehr oder minder intensiv Gebrauch macht, stärkt das zusätzlich die Bedeutung des Verfassungsrechts. Förmliche Gesetze lassen sich allein auf der Basis des Verfassungsrechts kontrollieren, da nur das Verfassungsrecht Vorrang vor dem einfachen Recht hat.8 Die zweite Ursache der Konstitutionalisierung des Rechts kommt nicht nur dann zum Tragen, wenn ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt wird. In der Praxis noch erheblich wichtiger ist die durch das Normverwerfungsrecht entscheidend geförderte verfassungskonforme Auslegung des einfachen Rechts.9 Sie ermöglicht jedem Gericht, ja jeder Behörde, die verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Tragen zu bringen und dabei zu einer Auslegung des einfachen Rechts zu gelangen, die bei einer bloßen Betrachtung des einfachen Rechts fern gelegen hätte. Die Konstitutionalisierung wird damit nicht nur vom Verfassungsgericht, sondern auch von vielen anderen Akteuren bewirkt, die dabei allerdings unter dem Einfluss des Verfassungsgerichts stehen: Ihm kommt nicht nur im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Beurteilung das Letztentscheidungsrecht zu; es kann auch Entscheidungen der Gerichte und Behörden für unwirksam erklären.

6 Vgl. Starck, in: Starck / Weber (Hg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, 2. Aufl. 2007, Teilb. I, 28 ff. 7 Die Regelung findet sich in Art. 120 der Verfassung der Niederlande. 8 Genau genommen gibt es noch andere Fälle des Vorrangs; zu denken ist vor allem an das EU-Recht, aber auch an das internationale Recht. 9 Dazu Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 7. Aufl. 2007, Rn. 440 ff.; Lüdemann, JuS 2004, 27 ff.; Rieger, NVwZ 2003, 17 ff.; Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177 ff.

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c) ¹Flåchendeckendeª Zuståndigkeit Schließlich trägt zur Konstitutionalisierung durch das Bundesverfassungsgericht maßgeblich bei, dass es sozusagen flächendeckend angegangen werden kann, dass der Zugang zu ihm weit offen steht. Dazu tragen vor allem zwei Verfahrenstypen maßgeblich bei: Zunächst hat jeder Bürger durch die Verfassungsbeschwerde die Möglichkeit, sich an das Bundesverfassungsgericht zu wenden.10 Zum anderen kann jedes Gericht im Weg einer konkreten Normenkontrolle das Bundesverfassungsgericht einschalten.11 Insoweit unterscheidet sich das Bundesverfassungsgericht etwa vom französischen Conseil Constitutionnel und vom österreichischen Verfassungsgerichtshof.12 Diese flächendeckende Zuständigkeit lässt den Einfluss des Bundesverfassungsgerichts besonders wirksam werden und befördert damit in gewichtiger Weise die Konstitutionalisierung. 3. Folgen der Konstitutionalisierung

a) Stellung des Verfassungsgerichts gegençber Fachgerichten und Gesetzgeber aa) Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung ist mit weitreichenden Veränderungen verbunden. Zum Teil sind sie wohlbekannt. Dies gilt zunächst für den Umstand, dass die Stellung des Verfassungsgerichts gegenüber den Fachgerichten gestärkt wird. Das hat in der Vergangenheit zu Konflikten geführt, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß in den ver10 Zur Bedeutung der Individualbeschwerde rechtsvergleichend Weber, in: Starck / Weber (Hg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, 2. Aufl. 2007, Teilb. I, S. 350 ff. 11 Zur Bedeutung der konkreten (repressiven) Normenkontrolle rechtsvergleichend Weber, in: Starck / Weber (Hg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, 2. Aufl. 2007, Teilb. I, S. 334 ff. 12 Zur Rechtslage in Frankreich Fromont, in: Starck / Weber (Hg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, 2. Aufl. 2007, Teilb. I, S. 236 ff.; zur Rechtslage in Österreich Korinek, in: Starck / Weber (Hg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, 2. Aufl. 2007, Teilb. I, S. 79 ff.

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schiedenen Teilbereichen der Rechtsordnung.13 Die provokante Überschrift eines jüngst erschienenen Beitrags eines Zivilrechtslehrers illustriert das: „Von der Konstitutionalisierung des Zivilrechts zur Zivilisierung der Konstitutionalisierung“.14 bb) Zu den unschwer zu erkennenden Wirkungen der Konstitutionalisierung gehört weiter, dass die Macht des Gesetzgebers, also des Parlaments beschränkt wird:15 Die Konstitutionalisierung stärkt den Einfluss der Gerichte, vor allem des Verfassungsgerichts, zu Lasten des Einflusses des Parlaments, da dessen Entscheidungen für verfassungswidrig erklärt werden oder sich im Wege der verfassungskonformen Auslegung von der ursprünglichen Zielsetzung des Gesetzgebers entfernen können.16 Das ist zweifellos ein problematischer Effekt, da das Parlament durch das Volk gewählt wird und daher über eine besondere Legitimation verfügt.17 Für das Verfassungsgericht gilt das nicht. Andererseits sollte nicht übersehen werden, dass im demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess zwangsläufig bestimmte Interessen gefördert und durchgesetzt werden, während andere Interessen zurückzustehen haben. Bestimmte Belange kommen nicht zum Tragen, werden vielleicht sogar beeinträchtigt, unter anderem weil sie von der Mehrheit nicht für wichtig gehalten werden oder weil die an ihnen interessierten Personen über unzureichende Einflussmöglichkeiten 13 Zur Spannung zwischen Verfassungsgericht und Fachgerichten Kenntner, NJW 2005, 785 ff.; Roellecke, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 68 Rn. 11 ff.; Hillgruber / Goos, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2006, Rn. 33 ff.; HoffmannRiem, AöR 2003, 173 ff.; Korioth, in: Badura / Dreier (Hg.), Festschrift 50 Jahre BVerfG, 2001, Bd. I, S. 55 ff. 14 Hager, JuS 2006, 769. Der Beitrag selbst ist eher abgewogen. 15 Vgl. etwa Starck, in: Starck / Weber (Hg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, 2. Aufl. 2007, Teilb. I, S. 31 f. 16 Die verfassungskonforme Auslegung tritt mit dem Anspruch an, den Gesetzgeber zu schonen (vgl. BVerfGE 86, 288 / 320); doch kann sich das schnell ins Gegenteil verkehren (Voßkuhle, AöR 125 (2000), 183 f., 185 ff.). 17 Zum Problem Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 7. Aufl. 2007, Rn. 503 f.

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verfügen. Solche Belange, die durchaus legitim sein können, bedürfen daher eines eigenständigen Schutzes außerhalb der regulären politischen Willensbildung. Hier kann ein Verfassungsgericht aktiv werden. Zudem kann die Konstitutionalisierung das Aufbrechen verkrusteter Strukturen erleichtern, Strukturen, die das politische System nicht zu ändern in der Lage ist. So wurde die berufliche Freiheit in Deutschland durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in einem Maße ausgeweitet, wie das der Gesetzgeber vermutlich niemals geschafft hätte. Solche Effekte sind allerdings keine automatische Folge der Konstitutionalisierung, hängen vielmehr davon ab, wieweit sich das Verfassungsgericht solcher Belange tatsächlich annimmt. cc) Weniger erörtert wurde bislang der Umstand, dass das Verhältnis von Parlament und Gerichten durch die Konstitutionalisierung noch in einer weiteren Hinsicht beeinflusst wird. Wenn die Fachgerichte in Anwendung gesetzlicher Vorschriften eine bestimmte Position vertreten, kann das der Gesetzgeber durch eine Änderung der gesetzlichen Vorschrift korrigieren. Wenn aber die gerichtliche Entscheidung verfassungsrechtlich begründet ist, kann der förmliche Gesetzgeber daran eigentlich nichts ändern; eine Korrektur ist (an sich) nur durch Verfassungsänderung möglich, für die besondere Voraussetzungen gelten. Um insoweit die Stellung des Parlaments nicht zu sehr zu beeinträchtigen, hat das Bundesverfassungsgericht (genauer der Erste Senat) zu Recht festgehalten, dass der förmliche Gesetzgeber nicht gehindert ist, nach einer normverwerfenden Entscheidung eine inhaltsgleiche oder inhaltsähnliche neue Regelung zu beschließen, jedenfalls dann, wenn sich die maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse bzw. die zugrunde liegenden Anschauungen geändert haben.18 18 BVerfGE 77, 84 / 103 f.; 96, 260 / 263; Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 7. Aufl. 2007, Rn. 484; a.A. der Zweite Senat in BVerfGE 69, 112 / 115 (Normwiederholungsverbot); vgl. auch Kischel, AöR 2006, 219 ff.

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b) Inhaltlicher Einfluss auf das Recht Der Prozess der Konstitutionalisierung beeinflusst weiter das materielle Recht und dessen Eigenart. Auf einer dieser Auswirkungen, die Ausweitung der Grundrechtsfunktionen, werde ich noch näher eingehen. Eine andere besteht in der Generalisierung von Instituten und rechtlichen Figuren. Ein Institut, ein rechtliches Konzept, das in einem Rechtsbereich entwickelt wurde, kann in einem anderen Rechtsbereich unschwer zum Einsatz kommen, wenn es eine verfassungsrechtliche Basis erhält. Ein herausragendes Beispiel dafür ist das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, das Übermaßverbot, das bekanntlich in dem begrenzten Gebiet des Polizeirechts entwickelt wurde.19 Sobald es als verfassungsrechtliches Prinzip anerkannt war, wozu unser Jubilar mit seiner Habilitationsschrift „Übermaß und Verfassungsrecht“ maßgeblich beigetragen hat,20 wurde es auch in anderen Rechtsbereichen eingesetzt. Welches Konzept derart generalisiert wird, hängt natürlich von der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts ab. Dass das Prinzip der Verhältnismäßigkeit eine so ausgeprägte Generalisierung erfahren hat, dürfte damit zusammenhängen, dass es dem Verfassungsgericht weite Spielräume vermittelt. Gerade für ein aktives Verfassungsgericht muss das attraktiv sein. Weitere Fälle der Generalisierung durch Konstitutionalisierung finden sich insbesondere im Verfahrensrecht. Man denke an Beteiligungspflichten oder an die noch recht junge Pflicht, Grundrechtseingriffe zu dokumentieren.21

19 Vgl. dazu Pieroth / Schlink / Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 4. Aufl. 2007, § 1 Rn. 12. 20 In 2. Aufl. erschienen 1999. 21 Vgl. BVerfGE 100, 313 / 360 f. zu Art. 10 GG und BVerfGE 109, 279 / 379 f. zu Art. 13 GG.

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II. Konstitutionalisierung und Grundrechte 1. Auswirkungen auf die Funktionen der Grundrechte

a) Die Leistungs- und Schutzfunktion der Grundrechte aa) Ein interessanter und praktisch sehr bedeutsamer Aspekt der Konstitutionalisierung liegt in der Ausdehnung der Dimensionen und Funktionen der Grundrechte. Das klassische Verständnis der Grundrechte sieht in ihnen negative oder abwehrende Rechte: Die Grundrechte beschränken die Aktivitäten des Staates.22 Diese Seite der Grundrechte ist natürlich von großer Bedeutung. Doch kann sie nur zum Tragen kommen, wo der Bürger an weniger staatlichen Aktivitäten interessiert ist, nicht, wenn ihm an mehr staatlichen Maßnahmen gelegen ist. Um diese Begrenzung zu überwinden, hat das Bundesverfassungsgericht bekanntlich betont, dass die Grundrechte fundamentale Wertentscheidungen enthalten, die nicht nur dazu genutzt werden können, den Staat zu beschränken, sondern auch dazu, ihn zu positiven Aktivitäten zugunsten dieser Werte in die Pflicht zu nehmen.23 Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat übrigens aus den Grundrechten positive Verpflichtungen („positive obligations“) abgeleitet.24 22 Dazu Jarass, in: Mertens / Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 38 Rn. 15 ff.; Dreier, in: ders. (Hg.), Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Vorb. 84 ff. vor Art. 1. 23 Dazu Dreier, in: ders. (Hg.), Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Vorb. 89 ff. vor Art. 1; Jarass, in: Merten / Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 38 Rn. 5 ff., 22 ff.; Enders, in: Friauf / Höfling (Hg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Stand 2007, Vorb. 64 ff. vor Art. 1. 24 Dazu EGMR, Nr. 23144 / 93 vom 16. 3. 2000, § 42; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2008, § 19; Jarass, EUGrundrechte, 2005, § 5 Rn. 10.

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Diese Dimension oder Funktion der Grundrechte ist seit längerem der Gegenstand einer umfangreichen Diskussion gerade in der deutschen Rechtswissenschaft.25 Es ist von Leistungsfunktion oder von Schutzfunktion die Rede, von objektivem Gehalt oder Wertentscheidungsfunktion. Man könnte auch von einem Verfassungsauftrag sprechen, von einem Mandat für positive, fördernde Aktivitäten.26 Unabhängig von den gewählten Begriffen ist unmittelbar einsichtig, dass die Erweiterung der Grundrechtsfunktionen um die Leistungs- und Schutzfunktion den Prozess der Konstitutionalisierung gewaltig befördert. bb) Sehen wir uns das in einem interessanten Teilbereich etwas näher an, der als besonders fruchtbarer Anschauungsfall der Konstitutionalisierung bezeichnet wurde,27 im Bereich des Privatrechts: Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass Private nicht Adressaten der Grundrechte sind und damit Grundrechte in privatrechtlichen Beziehungen nicht unmittelbar zum Einsatz kommen. Gleichwohl sind sie auch hier bedeutsam, und zwar nicht nur dort, wo das Handeln des Gesetzgebers oder des Richters als Grundrechtseingriff eingestuft werden kann.28 Im Bereich des Privatrechts kommt auf jeden Fall die Schutz- und Leistungsseite der Grundrechte zum Tragen, die den Staat verpflichtet, den Kern der 25 Vgl. etwa Jarass, in: Badura / Dreier (Hg.), Festschrift 50 Jahre BVerfG, 2001, 35 ff.; mit einem rechtsvergleichenden Ansatz Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2001. 26 Die Funktion erinnert an die „affirmative action“ im Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten, die allerdings auf dem Gleichheitsrecht der Verfassung basiert; vgl. Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, 2. Aufl. 2001, § 12 IV. 27 Schuppert / Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, 18. 28 Dies ist unter bestimmten Voraussetzungen möglich; Herdegen, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Stand 2007, Art. 1 Abs. 3 Rn. 61 ff.; Jarass, in: drs. / Pieroth, Grundgesetz, 9. Aufl. 2007, Vorb. 56, 58 vor Art. 1; Hager, JZ 2006, 771 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, 88 ff., 141 ff.; Röthel, JuS 2001, 425; dagegen Epping, Grundrechte, 3. Aufl. 2007, Rn. 335 ff.

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Grundrechte auch zwischen den Bürgern sicherzustellen, selbst im Hinblick auf Vereinbarungen und Verträge zwischen den Bürgern.29 Daher hat die Schutz- und Leistungsseite der Grundrechte das Privatrecht gegenüber den Einflüssen des Verfassungsrechts in erheblichem Umfang geöffnet und damit die Konstitutionalisierung des Privatrechts befördert.30 b) Einschrånkungen der positiven Grundrechtswirkung, insb. im Privatrecht aa) Dieser Befund bedarf allerdings zweier Einschränkungen. Zunächst ist die Durchschlagskraft der positiven Grundrechtsseite deutlich geringer als die der negativen Seite. Die Wirkkraft der Grundrechte ist vergleichsweise strikt und präzise im Bereich der Abwehrfunktion. Im Unterschied dazu hat der Staat im Bereich der Schutz- und Leistungsfunktion ein weites Ermessen.31 Die positive Grundrechtsseite wird in den meisten Fällen nur zu einer gerichtlichen Entscheidung führen, die verlangt, dass der Staat irgendwie zugunsten des Grundrechts tätig werden muss. Welche genaue Maßnahme zu ergreifen ist, ergibt sich regelmäßig nicht aus der Verfassung. Nur in seltenen Fällen stellt sich das anders dar. Dies bedeutet, dass die Konstitutionalisierung, die mit dem positiven Verständnis der Grundrechte einhergeht, in ihrer Bedeutung begrenzt ist. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass die Aner29 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 166 ff.; Epping, Grundrechte, 3. Aufl. 2007, Rn. 327 ff.; Jarass, in: Badura / Dreier (Hg.), Festschrift 50 Jahre BVerfG, 2001, Bd. II, S. 40 ff.; Stern, Handbuch des Staatsrechts, Bd. III / 1, 1988, S. 1560 f.; Pieroth / Schlink, Grundrechte, 25. Aufl. 2007, Rn. 183; Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 457 ff. 30 Allgemein zur Konstitutionalisierung des Privatrechts Hager, JuS 2006, 769 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 61 ff.; speziell auf europäischer Ebene Hess, JZ 2005, 540 ff. 31 BVerfGE 77, 170 / 214 f.; 88, 203 / 226; 97, 169 / 176; Jarass, in: Merten / Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 38 Rn. 31 f.

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kennung der Leistungs- und Schutzfunktion das Gewicht der Grundrechte bei der Bewältigung von Rechtskonflikten verstärkt. bb) Des Weiteren wird der Einfluss der Grundrechte (insbesondere) im privatrechtlichen Bereich dadurch abgeschwächt, dass sich hier, wie angesprochen, regelmäßig beide Seiten auf Grundrechte berufen können. Das erweitert, worauf Peter Lerche deutlich hingewiesen hat,32 zwangsläufig den Spielraum des Privatrechtsgesetzgebers. Daher können privatrechtliche Vorschriften den Grundrechten engere Grenzen ziehen als öffentlich-rechtliche Vorschriften.33 Doch auch dieser Umstand setzt dem Einfluss des Verfassungsrechts nur gewisse Grenzen, Grenzen, über die im Übrigen das Bundesverfassungsgericht entscheidet. 2. Weitere Elemente der Konstitutionalisierung durch die Grundrechte und Grenzen

Konstitutionalisierung und Grundrechte hängen nicht nur im Hinblick auf die Erweiterung der Grundrechtsfunktionen zusammen. Die Bedeutung der verfassungskonformen Auslegung für die Konstitutionalisierung und damit auch und gerade grundrechtskonformen oder gar grundrechtsorientierten Auslegung wurde bereits angesprochen.34 Generell können Grundrechte in all ihren Facetten zur Konstitutionalisierung des Rechts eingesetzt werden, weshalb die Konstitutionalisierung des Rechts mit den objektiv-rechtlichen Gehalten der Grundrechte sogar gleichgesetzt wird.35 Das geht sicher etwas weit. Doch lässt sich nicht bezweifeln, dass die Grundrechte Lerche, in: Festschrift für Odersky, 1996, 223 f. BVerfGE 66, 116 / 135; Jarass, in: Merten / Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 38 Rn. 64. 34 Außerdem etwa Dreier, in: ders. (Hg.), Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl. 2002, Vorb. 96 vor Art. 1. 35 Dreier, in: Bogdandy / Villalón / Huber, Handbuch Ius Europaeum, Bd. I, 2007, § 1 Rn. 92. 32 33

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das Haupteinfallstor für die Konstitutionalisierung des Rechts bilden. Konstitutionalisierung heißt ganz überwiegend Prägung der Rechtsordnung durch die Grundrechte. Sie steht im Übrigen, um darauf abschließend wenigstens noch hinzuweisen, in einem bemerkenswerten Kontrast zur „Grundrechtsprägung“, also zur Prägung der Grundrechte durch das einfache Recht, die Sie, lieber Herr Lerche, in höchst eindrucksvoller Weise beschrieben haben.36 Gerade umgekehrt wie bei der Konstitutionalisierung geht es bei der Grundrechtsprägung um den Einfluss des einfachen Rechts auf die Grundrechte, was deutlich macht, dass nicht nur die Grundrechte auf das einfache Recht einwirken, sondern auch das einfache Recht auf die Grundrechte. Doch damit ist ein neues Thema eröffnet.

36 Vgl. Lerche, in: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 121 Rn. 38 ff.

Realitätsprägung durch Verfassungsrecht – Verfassungsinterpretation und reale Veränderungen Von Christoph Degenhart

I. Verfassung, Rechtsordnung und Realität 1. Verfassung und rechtlich strukturierte Realität

„Realitätsprägung durch Verfassungsrecht“ – die thematische Leitlinie unseres Kolloquiums zu Ehren unseres akademischen Lehrers ist, dem Anlass gemäß, anspruchsvoll formuliert. Es bringt den Anspruch des Verfassungsrechts zum Ausdruck, mehr zu sein als die Rahmenordnung für das Gemeinwesen, für Staat und Gesellschaft, für die Gestaltung der Realität.1 Es verdeutlicht den Anspruch, inhaltlich-prägend auf diese Realität einzuwirken. Konstitutionalisierung der Rechtsordnung2 – dies bedeutet auch Konstitutionalisierung der durch sie geordneten (mitunter auch weniger geordneten) Realität. Denn Realität ist stets auch rechtlich strukturierte Realität. Evident ist dies für den Grundrechtsbereich: in einer differenzierten Gesellschaftsordnung wie der des europäischen Verfassungsraums,3 deren wesentliches Ordnungs1 S. zu dieser Rahmenvorstellung Peter Lerche, Die Verfassung als Quelle von Optimierungsgeboten?, in: Festschrift Stern, 1997, S. 197 ff., wiederveröffentlicht in: Ausgewählte Abhandlungen, 2004, S. 72 ff. 2 S. hierzu den Beitrag von Hans D. Jarass in diesem Band; zur grundrechtlichen Durchdringung der Rechtsordnung s. Christoph Degenhart, Grundrechtsinhalte und Grundrechtswirkungen im deutschen und europäischen Recht, in: Teoria del Diritto e dello Stato, 2003, S. 162 (168 ff.). 3 S. hierzu Christoph Degenhart, Grundrechtsinhalte und Grundrechtswirkungen im deutschen und europäischen Recht, in: Teoria del Diritto e dello Stato, 2003, S. 162 (170 f.).

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und Gestaltungsmittel das Recht ist, bewegt sich der einzelne Grundrechtsträger weitgehend in rechtlich geprägten Beziehungen, wenn er grundrechtliche Freiheit wahrnimmt. Mit der entscheidenden Weichenstellung des Lüth-Urteils vor nunmehr exakt 50 Jahren4 wurde die Wirkung der Grundrechte in der Verfassungsinterpretation erlangten die Grundrechte des Grundgesetzes die Bedeutung eben nicht nur einer prägenden objektiven Wertentscheidung für die Gesamtrechtsordnung. Sie erlangten die Bedeutung einer prägenden Wertentscheidung auch für die ihr zugrunde liegende Realität. Wir sehen, wie die so prägnant formulierte Thematik sich in Facetten aufzulösen beginnt – auch dies dem Anlass angemessen. Die Vorstellung einer Realitätsprägung durch Verfassungsrecht erscheint so komplex, präzise und unscharf zugleich. Dies betrifft schon Begriffe wie Realität und Realitätsprägung: Realität, das ist die Lebenswirklichkeit und das sind die gesellschaftlichen Anschauungen, durch deren Blickwinkel sie sich dem Recht darstellt.5 Realität, dies ist regelmäßig auch rechtlich strukturierte Realität. Und so bewegen sich, um ein aktuelles verfassungsrechtliches und rechtspolitisches Konfliktfeld zu benennen, Interpretation und Realisation der Gewährleistung des Art. 6 GG im mehrpoligen Spannungsfeld von realer Wirklichkeit, hierauf bezogenen gesellschaftlichen Anschauungen, einfachgesetzlicher Ordnung6 aktiv-gestaltender oder passiv-reagierender Natur und Verfassungsnorm.

4 BVerfG vom 15. Januar 1958, BVerfGE 7, 198, vgl. Michael Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, 1988, § 69 I 3, S. 899 ff., S. 903; Georg Hermes,VVDStRL 61 (2002), 119 (121); Christoph Degenhart, Grundrechtsausgestaltung, in: Merten / Papier, HdBGR III, § 60, Rdnr. 4 zur Bedeutung dieses Urteils. 5 Vgl. für den Schutzbereich des Art. 6 GG Martin Burgi, in: Berliner Kommentar, Art. 6 (2002), Rdnrn. 13 f. 6 Vgl. hierzu Martin Burgi, in: Berliner Kommentar, Art. 6 (2002), Rdnrn. 13 ff.

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2. Normative Kraft der Verfassung als übergeordnete Auslegungsmaxime

Realitätsprägung durch Verfassungsrecht erfolgt – jedenfalls im hierfür vor allem relevanten Grundrechtsbereich – vermittelt durch die unterverfassungsrechtliche Rechtsordnung. Gesetzgebung, die die realen Verhältnisse ordnet, hierin unmittelbar realitätsprägend wirkt, wirkt andererseits als Grundrechtsausgestaltung.7 Grundrechtsausgestaltung ihrerseits wirkt positiv-entfaltend wie konkretisierend-begrenzend8 – auch Grundrechtsbegrenzung ist Funktion der Gesetzgebung.9 Das Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Verfassung, einfachem Gesetzesrecht und Verfassungsrecht10 ist also durchaus ambivalent, und dies gilt auch und erst recht für das Verhältnis von Realität und Verfassungsrecht. Das Verfassungsrecht des Grundgesetzes wird, insbesondere in den Grundrechten, auf eine effektive Verwirklichung in der Realität hin ausgelegt, und dies bedingt Effektuierung in der Praxis der Rechtsetzung und Rechtsanwendung. Dieses Prinzip der normativen Kraft der Verfassung,11 ihrer optimalen Wirkungskraft, das auch im Prinzip der praktischen Konkordanz angelegt ist,12 hat sich in der Verfassungsentwicklung 7 Vgl. zu diesen Wechselwirkungen Peter Lerche, Schutzbereich, Grundrechtsprägung und Grundrechtseingriff, in: Isensee / Kirchhof, HStR V, 1989, § 121 Rdnrn. 6, 16 f. 8 Näher Christoph Degenhart, Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtsbegrenzung, in: Merten / Papier, HdBGR IIII, 2008, § 60; s. bereits Peter Lerche, Grundrechtlicher Schutzbereich, Grundrechtsprägung und Grundrechtseingriff, in: Isensee / Kirchhof HStR V, 1. Aufl. 1992, § 121 Rdnrn. 1 ff. 9 Vgl. Peter Lerche, Grundrechtlicher Schutzbereich, Grundrechtsprägung und Grundrechtseingriff, in: Isensee / Kirchhof HStR V, 1. Aufl. 1992, § 121 Rdnrn. 7 ff. 10 S. hierzu auch Christoph Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976. 11 Vgl. Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995 Rdn. 75. 12 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995 Rdn. 20.

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als die eigentlich leitende Auslegungsdirektive erwiesen. Hiernach bestimmt sich in der Praxis der Verfassungsinterpretation – und dies bedeutet in erster Linie in der Praxis der Verfassungsrechtsprechung – Maßgeblichkeit, Bedeutung und Gewicht der klassischen Auslegungsregeln.13 Eine Verfassungsauslegung, die durch das Prinzip optimale Wirkungskraft der Verfassungsnorm geleitet wird, ist mithin bedingt durch jenen dezidierten Anspruch auf Realitätsprägung, der für das Verfassungsrecht des Grundgesetzes kennzeichnend ist. Dass dieser Anspruch auch weitgehend eingelöst wurde, hat nicht zuletzt dazu entscheidend beigetragen, dass das Grundgesetz ebenso zum „Erfolgsmodell“ wurde wie ein Verfassungsgericht, das dezidiert eben jenen Anspruch formulierte und zur Geltung brachte. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an die realitätsprägende Wirkung des Verfassungsrechts – was sollte und soll nicht alles „ins Grundgesetz“, wie die plakative Forderung lautet.14 Dem liegt die Vorstellung zugrunde, es käme vor allem darauf an, gesellschaftspolitischen desiderata die höheren Weihen des Verfassungsrechts zu verleihen, Missstände für verfassungswidrig zu erklären, um den entscheidenden Anstoß zu geben für einen Wandel in gesellschaftlichen Anschauungen und damit für reale Veränderungen. Dem kann aber auch die Intention zugrunde liegen, einen tatsächlichen oder auch nur behaupteten Wandel in den gesellschaftlichen Anschauungen festzuschreiben, ihn so der rechtspolitischen Diskussion zu entziehen.

13 Vgl. zur Bedeutung der klassischen Auslegungsmethoden für die Verfassungsinterpretation etwa Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland I, 2. Aufl. 1984, § 4 III 1 a), S. 125 f.; Michael Sachs, DVBl. 1984, 73 (77 f.); Friedrich Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997, S. 38 ff.; Christoph Degenhart, Volksgesetzgebungsverfahren und Verfassungsänderung nach der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, in: Neumann / von Raumer, Die verfassungsrechtliche Ausgestaltung der Volksgesetzgebung, 1999, S. 57 (68 ff.). 14 Vgl. hierzu Christoph Degenhart, SächsVBl. 2007, 201 (204).

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II. Verfassungsinterpretation und Verfassungswandel Verfassungsinterpretation allerdings ist auf geltendes Verfassungsrecht bezogen, sollte dies jedenfalls sein. Doch ist es nicht jedem gegeben, die Grenzen der Verfassungsauslegung so kreativ auszuloten, ohne sie je zu überschreiten, wie der Jubilar, zu dessen Ehren wir uns heute versammeln. Er hat auch bereits frühzeitig – warnend – auf jenen „stillen Verfassungswandel“ hingewiesen,15 der daraus resultiert, dass veränderte Wertungen des unterverfassungsrechtlichen Rechts mit einem geänderten Verständnis der zugeordneten Verfassungsnorm selbst einhergehen.16 Der Prozess jener verfassungsrechtlichen Durchdringung der Rechtsordnung, den mit der Ausweitung der Grundrechte zu wertentscheidenden Grundsatznormen entscheidend angestoßen wurde, verläuft also nicht nur in einer Richtung – sollte es anders sein, wenn Verfassungsrecht beansprucht, Realität zu gestalten? In jenem bereits angedeuteten Viereck von Lebenswirklichkeit und gesellschaftlichen Wertungen und Anschauungen, normativer Ordnung des einfachen Rechts und Verfassungsnormen steht Verfassungsrecht in vielschichtiger, wechselseitiger Beziehung zu Veränderungen der Lebenswirklichkeit und der gesellschaftlichen Anschauungen – die, wie wir gesehen haben, ihrerseits nicht beziehungslos nebeneinander stehen. Verfassungsnormen werden mit dem Anspruch auf effektive Gestaltung der Realität zur Geltung gebracht. Sie werden hierauf in ihrer Interpretation ausgerichtet. Verändern sich die realen Gegebenheiten, faktisch oder in ihrer gesellschaftlichen Bewertung, wird dies zurückwirken auf die Interpretation der Verfassungsnorm. Und erst recht bedarf die Interpretation der 15 Vgl. Peter Lerche, Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, in: Festg. Maunz, 1971, S. 285 ff., wiederveröffentlicht in: Ausgewählte Abhandlungen, 2004, S. 47 ff. 16 Vgl. zum Verfassungswandel im Bereich der Einrichtungsgarantien Kloepfer, Einrichtungsgarantien, in: Merten / Papier HdBGR II, 2007, § 43 Rdnr. 35.

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Verfassungsnorm der Überprüfung, wenn sich die realen Verhältnisse anders entwickelt haben, als der Verfassungsinterpret dies sich vorgestellt, als er es intendiert hat. Sollte der Verfassungsinterpret, und vor allem der höchste Verfassungsinterpret, der Verfassungsrichter, seine Interpretation der Rundfunkfreiheit17 nicht auf den Prüfstand der Realität stellen,18 wenn das Erscheinungsbild einer dualen Rundfunkordnung so gar nicht dem Idealbild entspricht, wie es das Gericht entworfen hat?

III. Verfassungsprägung durch Realität? – Einzelfälle Die grundsätzliche Frage, wie Auslegung und Anwendung der Verfassung durch Änderungen in der durch eben jene Verfassung geprägten Realität reagieren, wird generell für Sachbereiche bedeutsam, für die der Anspruch auf Realitätsprägung nachhaltig vertreten wird. Gestatten Sie mir einige Beispiele anzuführen. 1. Verfassungsinterpretation undVerfassungsnegation – zur aktuellen Sicherheitsdebatte

Reale Veränderungen können sich intensiv auf die Sicht der Verfassung durch ihre berufenen oder jedenfalls sich berufen fühlenden Interpreten auswirken – sie mögen aus sicherer akademischer Distanz urteilen, oder auch aus Höhe politischer Verantwortung, aus der offenbar mitunter die Konturen des Grundgesetzes an Schärfe verlieren. Wir erleben dies derzeit in nahezu beklemmender Regelmäßigkeit in der aktuellen Terror- und Sicherheitsdebatte – ein Beispiel übrigens dafür, dass 17 Zur Intepretation der Rundfunkfreiheit durch das Bundesverfassungsgericht vgl. näher Christoph Degenhart, in: Bonner Kommentar, Stand 2006, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rdnrn. 623 ff. 18 Vgl. in diesem Zusammenhang zum Wandel der maßgeblichen Normsituation etwa Matthias Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 69 ff., 80 ff.

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jene Veränderungen, die sich im Bewusstsein abspielen, nicht weniger real sind als Veränderungen in faktischen Gegebenheiten. Hier treffen wohl beide Erscheinungen zusammen. Ich möchte jedoch darauf verzichten, hierauf näher einzugehen – nicht aus einem an einem Ort des wissenschaftlichen Diskurses ohnehin nicht angebrachten Harmoniebedürfnis, sondern vor allem deshalb, weil es hier eher um Derogation und Negation der Verfassung geht,19 und nicht um Interpretation.20 Dies gilt sicher für eine Staatspraxis, auch sie ein Element der Verfassungsinterpretation, die in großkoalitionärer attitude geltende Verfassungsnormen vor allem als Hindernis für einen starken Staat zu interpretieren scheint – ich sehe eher die Gefahr einer Dekonstitutionalisierung als die einer Konstitutionalisierung der Politik, einer Kultur der Angst – wie sie auch in der Klimadebatte gepflegt wird21 – , die mit der vielzitierten Kultur der Freiheit22 wohl nur schwer vertragen dürfte. Letztere allerdings ist die dem Grundgesetz nähere. Die interpretatorischen Bemühungen der Verfassungslehre, soweit sie in die gleiche Richtung tendieren, bewegen sich zum einen in den Bahnen vertrauter Methodik der Abwägung, nicht ohne freilich das Grundaxiom der Abwägungsresistenz bestimmter Verfassungsgüter23 in Frage zu stellen24 – ein Grundaxiom, das ohnehin im geschickten Changieren zwischen Grundrechtstatbestands- und Rechtfertigungsebene 19 Symptomatisch Otto Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2. Aufl. 2007. 20 Das Verdikt des Verfassungsautismus, Otto Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2. Aufl. 2007, S. 26 ff. dürfen wir, zumal in der guten Gesellschaft des Bundesverfassungsgerichts, getrost in Kauf nehmen. 21 Mit dem Ziel erhöhter Akzeptanz von Grundrechtseingriffen. 22 So die gleichnamige Schrift von Udo Di Fabio. 23 Vgl. zur Menschenwürde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Dieter Hömig, EuGRZ 2007, 633 (640 ff.). 24 Dies betrifft insbesondere die Garantie der Menschenwürde des Art. 1 GG, so in der Kommentierung durch Matthias Herdegen, Maunz / Dürig, GG, Art. 1 (2005), Rdnrn. 43 ff., 50 ff.; dagegen Wolfram Höfling, in: Sachs, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 1 Rdnr. 11.

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durchaus überspielt werden kann.25 Dass es möglich ist, auf neue reale Gefährdungsquellen für Verfassungsgüter im Rahmen tradierter Methodik angemessen zu reagieren, zeigt für die Unverletzlichkeits- und Persönlichkeitsrechte des Grundgesetzes die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit ihren eingriffswehrenden Abwägungstopoi der Streubreite, der Heimlichkeit und Verdachtlosigkeit.26 Hier scheint eine gewisse Rezeptionsverweigerung27 nicht nur Teile der Verfassungspraxis, sondern auch der Verfassungsrechtslehre zu erfassen.28 Gravierender noch erscheint mir der Eingriff, wenn darüber hinaus – Stichwort Feindrecht – der Exekutivgewalt Befugnisse zugeordnet werden sollen, Verfassungsinhalte anlassbezogen und personenbezogen außer Kraft zu setzen29 – Carl Schmitt lässt grüßen (auch wenn bei genauerem Hinsehen dann doch Carl Schmittchen zum Vorschein kommt). Ob 25 Umso wichtiger erscheint es, die Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG im Tatbestand nicht ausufern zu lassen, vgl. Peter Lerche, Ausnahmslos und vorbehaltlos geltende Grundrechtsgarantien, in: Festschrift Mahrenholz, 1994, S. 515 ff.; wiederveröffentlicht in: Ausgewählte Abhandlungen, 2004, S. 218 (224); s. auch Wolfram Höfling, in: Sachs, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 1 Rdnr. 10. 26 Vgl. aus der Rechtsprechung BVerfGE 100, 313 (392); 107, 299 (321); 109, 279 (308, 353); 113, 348 (383); 115, 320 (353 f.); s. auch das Urteil zur Online-Durchsuchung vom 27. Februar 2008. 27 Vgl. auch zur Frage der Verantwortung für Verfassungsverstöße den Beitrag von Michael Kloepfer in diesem Band. 28 So etwa dann, wenn im Zusammenhang mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz die Rede ist von einer „Perversion des Rechtsdenkens“, „Verrat an den Ideen und Werten freiheitlicher Verfassungsstaatlichkeit, so bei Otto Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2. Aufl. 2007, S. 98; zu dieser Schrift s. etwa die Rezension durch Michael Stolleis, Merkur Nr. 703 vom Dezember 2007 (www.online-merkur.de). 29 So explizit Otto Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2. Aufl. 2007, S. 52 ff. (54) unter Rekurs auf Carl Schmitt: gleichzeitige Geltung von Normallage und Ausnahmerecht (das eben kein „Recht“ mehr ist) – hierüber entscheiden „die exekutiven Staatsorgane“; m. a.W.: der Exekutive soll die Befugnis zugewiesen werden, das Grundgesetz ad hoc partiell außer Kraft zu setzen – mit der rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes hat dies nichts mehr zu tun, die Selbstbehauptung wird zu einer Selbstaufgabe des Rechtsstaats.

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dies alles de constitutione lata, de constitutione ferenda oder gar praeter constitutionem gelten soll, wird dabei nicht so recht klar – jedenfalls wird hier der Pfad nicht nur der Tugend, sondern auch der Verfassungsinterpretation verlassen. 2. Rundfunkrecht

Der Anspruch auf Gestaltung der Realität wurde und wird insbesondere vom dem Gericht, dem die verbindliche Interpretation der Verfassung zukommt, mit besonderem Selbstbewusstsein, um nicht zu sagen Sendungsbewusstsein, für die Ordnung des Rundfunks zur Geltung gebracht. Und eben hier sieht sich die Deutung der Rundfunkfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG mit tatsächlichen Veränderungen im Normbereich ebenso konfrontiert, wie mit Entwicklungen, die es ganz anders intendiert hatte. Wir erinnern uns: bei allen verbalen Zugeständnissen an die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers30 hat das Gericht, ausgehend von seiner singulären Interpretation der Rundfunkfreiheit als dienender Freiheit,31 immer deutlich gemacht, was es will, weil es aus seiner Sicht der dienenden Funktion entspricht: einen starken Sektor des service public im Rundfunk. Es hat auch deutlich gesagt, was es nicht will: einen Rundfunkmarkt.32 Das Gericht hat mit seiner Grundrechtsinterpretation die Entwicklung der Medienordnung und der Medienwirtschaft für Jahrzehnte geprägt – sicher ein herausragendes Beispiel für Realitätsprägung nicht allein durch Verfassungsrecht, sondern vor allem auch durch Verfassungsinterpretation. Dies hat einerseits entscheidend beigetragen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk sich zu seinem aktuellen Bestand entwickeln 30 S. besonders BVerfGE 57, 295 (321, 325); 83, 238 (326); s. hierzu Christoph Degenhart, in: Bonner Kommentar, Stand 2006, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rdnr. 638. 31 BVerfGE 57, 295 (320); 74, 297 (324); 83, 238 (295); 87, 181 (197 f.). 32 BVerfGE 73, 118 (158); auch aus BVerfGE 57, 295 (319 ff.) spricht die Überzeugung des Gerichts, einen Rundfunkmarkt könne und dürfe es nicht geben.

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konnte, andererseits die Entstehung eines privatwirtschaftlichen Widerparts wohl doch nicht unerheblich verzögert. Es hat wohl auch bewirkt, dass Presseverlage sich hier nicht nachhaltig etablieren konnten.33 Das Eingriffsinstrumentarium, mit dem der Erwerb von ProSiebenSat1 durch jenes der Geschichte der Bundesrepublik so eng verbundene Verlagshaus verhindert wurde, ist nichts anderes als die Umsetzung der Forderungen des Bundesverfassungsgerichts.34 Ob es damit letztlich der Sache der Rundfunkfreiheit einen Dienst erwiesen hat, mag kontrovers beurteilt werden – immerhin ist es erstaunlich, wer permira ante portas35 alles seine Liebe zu Springer entdeckt hat. Im Urteil vom 11. September des vergangenen Jahres hatte das Gericht nun die Gelegenheit, auf Änderungen in der Realität der Medien zu reagieren – und es hatte an sich auch allen Anlass dazu angesichts seiner offensiv in die Gestaltung der rechtlichen wie wirtschaftlichen Ordnung ausgreifenden Deutung der Rundfunkfreiheit. Das Gericht beschreibt in der Tat die für seine Grundrechtssicht maßgeblichen realen Veränderungen, sowohl im kommunikationstechnischen – Stichwort Konvergenz – als auch im wirtschaftlichen Bereich. Die Konsequenzen hieraus sind noch ambivalent. Am methodischen Ansatz – Sonderdogmatik der dienenden Freiheit – hält die Entscheidung noch fest. Für den damit verbundenen Anspruch auf Gestaltung der Realität gilt dies nicht mehr uneingeschränkt. Das Gericht sieht, dass dessen Einlösung zusehends in Frage gestellt wird. Auch dies führt zu unterschiedlichen Akzenten in der grundrechtlichen Sicht; die diesbezüglichen zentralen Passagen der Entscheidung sind im öffentlich33 Wenn etwa BVerfGE 73, 118 (177), im Gefolge des BVerfG dann BayVerfGH, AfP 1987, 394 (395) Vorkehrungen gegen die Gefahr von „Doppelmonopolen“ forderten, so hatte dies weitreichende Konequenzen für das Recht der Konzentrationskontrolle im Rundfunk. 34 S. dazu etwa Hans-Heinrich Trute, in: Hahn / Vesting, Rundfunkrecht, 2. Aufl. 2008, § 26 RStV Rdnrn. 37, 49a. 35 S. dazu Christoph Degenhart, Rechtsfragen der Medienbeteiligung von Finanzinvestoren, AfP 2008, H.4.

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rechtlichen Begeisterungstaumel bei gleichzeitiger Sprachlosigkeit der Medienpolitik etwas untergegangen: für die öffentlich-rechtliche Seite spricht der Senat immerhin die Mahnung aus, einer Erosion ihrer Identifizierbarkeit36 entgegenzutreten. Für den privatwirtschaftlichen Sektor trifft er die resignativ anmutende Feststellung des gesetzgeberischen Vertrauens auf die Marktprozesse, das letztlich ebensowenig beanstandet wird, wie „Kapitalgesellschaften unter maßgeblicher Beteiligung von internationalen Finanzinvestoren“ der Zugang verweigert wird.37 Auch die nunmehr durchgängige Kennzeichnung des privaten Mediums mit „privatwirtschaftlich“ macht deutlich: den wirtschaftlichen Gegebenheiten, den bis dato mit Misstrauen betrachteten Marktprozessen wird Rechnung getragen38 und damit der bisherige Ansatz der Grundrechtsinterpretation zurückgenommen. Überzogene Gestaltungsansprüche der Grundrechtsinterpretation lassen sich gegenüber abweichender Entwicklung und Veränderung der Realität nicht dauerhaft durchsetzen. 3. Art. 6 Abs. 1 GG

Anders gestaltete sich die Herangehensweise im Urteil über die eingetragene Lebenspartnerschaft.39 Für Art. 6 GG wird hier eine von vornherein auf die reale Wirklichkeit, vor allem aber auf gesellschaftliche Anschauungen bezogene Grundrechtsdeutung entwickelt.40 Denn die Institutsgarantie41 bezieht sich auf die jeweilige gesetzliche Ausgestaltung;42 diese 36 BVerfG, U.v. 11. 09. 2007, Rdnr. 127 unter Distanzierung von den vorgenannten Judikaten. 37 BVerfG, U.v. 11. 09. 2007, Rdnr. 118. 38 BVerfG, U.v. 11. 09. 2007, Rdnr. 121. 39 BVerfGE 105, 313. 40 Vgl. Martin Burgi, in: Berliner Kommentar, Art. 6 (2002), Rdnrn. 13 ff. 41 Vgl. hierzu Michael Kloepfer, Einrichtungsgarantien, HdBGR II, 2007, § 43 Rdnrn. 65 ff.; Matthias Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S 339 ff.

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wiederum ist abhängig von der Realität: Der Gegenstand der Verfassungsgarantie ist zugleich Teil der Gesellschaft und von deren Veränderungen nicht ausgeschlossen. Auf solche kann der Gesetzgeber reagieren und die Ausgestaltung gewandelten Bedürfnissen anpassen. Damit ändert sich – für die Ehe – zugleich deren Verhältnis zu anderen Formen menschlichen Zusammenlebens; es bleibt abzuwarten, inwieweit die Deutung des Art. 6 GG etwa Tendenzen aufnehmen wird, die Schutzbereiche der Verfassungsnorm – Ehe und Familie – gegeneinander auszuspielen,43 hier einen Verfassungswandel zu postulieren.44 Gerade für die Institutsgarantie, die doch auf Gestaltung der Realität über die einfachgesetzliche Rechtsordnung ausgerichtet ist,45 scheint hier die Grundrechtsdeutung zurückzuweichen vor sich – tatsächlich oder vermeintlich – vollziehenden Veränderungen der Realität, hier unter dem Aspekt gesellschaftlicher Anschauungen. Dabei gehen tatsächlicher und gesellschaftspolitisch intendierter Wandel dieser Anschauungen ineinander über – so dass aus der realitätsprägenden unversehens eine zur Umformung der Realität instrumentalisierte Verfassung zu werden droht.

IV. Bilanz Verfassung prägt Realität. Verfassungsauslegung und Verfassungsanwendung beanspruchen daher, Realität zu prägen. Hierin ist jedoch Behutsamkeit geboten – jene differenzie42 Vgl. Michael Kloepfer, Einrichtungsgarantien, HdBGR II, 2007, § 43 Rdnr. 66. 43 Etwa bei Rolf Gröschner, in: Dreier, GG I, 2. Aufl. 2004, Art. 6 Rdnrn. 45 ff., 59; hiergegen Martin Burgi, in: Berliner Kommentar, Art. 6 (2002), Rdnr. 22; Gerhard Robbers, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG I, 5. Aufl. 2005, Art. 6 Rndrn. 17 ff. 44 S. hiergegen zutr. Martin Burgi, in: Berliner Kommentar, Art. 6 (2002), Rdnr. 15. 45 Vgl. zur Bedeutung der Institutsgarantie insbesondere zu BVerfGE 105, 313 das Sondervotum von Hans-Jürgen Papier, BVerfGE 105, 313 (357, 358).

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rende Behutsamkeit im dogmatischen Zugriff des Verfassungsrechts, die das Werk des Jubilars prägt. Denn die Wirkungszusammenhänge von Lebenswirklichkeit und hierauf bezogenen gesellschaftlichen Wertvorstellungen, normativen Wertungen des einfachen Gesetzgebers und Verfassungsrecht sind komplex.

Zur Bindungswirkung von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen Von Oliver Lepsius

I. Faktische Bindungswirkung als Problem Wir wissen: Die dirigierende Kraft der Verfassung geht über den Bereich des rechtlich unmittelbar Bindenden hinaus.1 Wie oft wird die Verfassung zu einem Argument in der politischen oder gesellschaftlichen Willensbildung, wie oft hört man, etwas sei „verfassungswidrig“ oder „verfassungsrechtlich zwingend geboten“. Auch wenn es in diesem gesellschaftlichen oder politischen Sinne viele Verfassungsinterpreten gibt,2 ihre unmittelbar rechtlich bindende Kraft verdankt die Verfassung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Am Ende entscheidet das Bundesverfassungsgericht, seine Interpretation obsiegt. Es sind die Entscheidungen des Verfassungsgerichts, die aus der Verfassung Verfassungsrecht machen. Dieses Phänomen beschrieb schon 1907 der spätere Chief Justice am U.S. Supreme Court, Charles Evans Hughes, mit dem viel zitierten Satz: „We are under a Constitution, but the Constitution is what the judges say it is“.3 1 Vgl. zur „dirigierenden Verfassung“ P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, 61 ff., insbes. 86 ff.; zur Grundrechtsprägung durch Gesetz ebd., 107 ff., 140 ff. sowie ders., Grundrechtlicher Schutzbereich, Grundrechtsprägung und Grundrechtseingriff, in: HbStR V, 1992, § 121 Rn. 10, 37 ff.; vgl. auch ders., Übermaß und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 1999, Bemerkungen zur Wiederauflage, S. VII, auch in: ders., Ausgewählte Abhandlungen, 2004, 244. 2 Siehe vor allem P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 2. Aufl. 1996, sowie ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980.

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Alsbald nach Gründung der Bundesrepublik galt dies auch für das Grundgesetz. Bereits 1962 konnte Rudolf Smend, ganz im Sinne von Hughes, feststellen: „Das Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinne.“4 Schenken wir Hughes oder Smend Glauben, scheint die Verfassung mit der Verfassungsrechtsprechung zusammenzufallen. Bei Peter Lerche freilich klingt es ein klein wenig anders. Die Entscheidungspraxis des Gerichts – sagt Lerche – habe im Konkreten das letzte Wort. In dieser Dimension stoße die Verfassungsgerichtsbarkeit jedoch gleichzeitig an die Grenzen ihrer Macht, denn, fährt Lerche fort, es übersteige die Kompetenz jeder Gerichtsbarkeit, ins Abstrakte gewendete Fragen konkreter Art endgültig zu beantworten.5 Mit anderen Worten: Die Aufgabe des Gerichts ist es, zu entscheiden. Hier, bei der Entscheidung von Fällen, mit Lerche gesprochen: im Konkreten, hat das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort. Aus der Kompetenz zur Entscheidung von Fällen folgt aber noch keine prinzipielle Kompetenz zur generell-abstrakten Auslegung der Verfassung als solcher. Verfassungsauslegung ist nur das Mittel, um einen konkreten Sachverhalt am Maßstab des Grundgesetzes entscheiden zu können. Auslegung hat eine dienende Funktion für die Sachentscheidung, aber sie ist kein Selbstzweck. 3 C. E. Hughes, Rede als Gouverneur des Staates New York vor der Handelskammer in Elmira / NY am 3. 5. 1907, vgl. Adresses and Papers of Charles Evans Hughes, Governor of New York, 1906 – 1908, 1908, 139; zum Kontext: D. Danelski / J. Tulchin (Hrsg.), The Autobiographical Notes of Charles Evans Hughes, 1973, 144; über Hughes (1862 – 1948, Richter am U.S. Supreme Court 1910 – 1916, Chief Justice 1930 – 1941): S. Hendel, Charles Evans Hughes and the Supreme Court, 1951; M. Pusey, Charles Evans Hughes, 2 Bde., 1951. 4 R. Smend, Festvortrag zur Feier des zehnjährigen Bestehens des BVerfG am 16. Januar 1962, in: Das Bundesverfassungsgericht 1951 – 1971, 2. Aufl. 1971, 15 (16); auch in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, 581 (582). 5 P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: P. Badura / H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre BVerfG, Erster Band, 2001, 333 (335 f.).

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In der Realität freilich ist es ganz anders. In ihr verselbständigt sich die Auslegung der Verfassung fast immer von den der Entscheidung einst zugrundeliegenden Sachverhalten. Wir beobachten, wie sich die politischen Akteure und die staatlichen Institutionen freiwillig an den verfassungsgerichtlichen Vorgaben aus Karlsruhe orientieren, sich ihnen bisweilen gar unterwerfen.6 Alles in allem wird man sagen dürfen: Der Bundestag hält sich an die Direktiven und Auslegungshinweise des Bundesverfassungsgerichts und auch die Fachgerichte befolgen sie; manchmal mürrisch, aber sie folgen. Entscheidungen aus Karlsruhe werden als generell-abstrakte Verfassungsinterpretation akzeptiert. Aber: Die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsauslegung setzt voraus, dass ein Fall vor das Gericht getragen wird („wo kein Kläger, da kein Richter“). Die Akzeptanz der Verfassungsauslegung geht indes weit über das kompetenzeröffnende Verfahren hinaus. Anders ausgedrückt: Die Wirkungen von Verfassungsgerichtsentscheidungen reichen über das konkrete Verfahren, das sie ausgelöst hat, hinaus. Dies jedoch ist keine Selbstverständlichkeit. Wie entsteht jener doch weithin akzeptierte legislatorische Anspruch des Bundesverfassungsgerichts? Wie erklärt sich dieser materiellrechtliche Erfolg, der die Zuständigkeit des Gerichts, nämlich 6 Zu solchen faktischen Bindungs- und Steuerungswirkungen: W. Hoffmann-Riem, Der Staat 13 (1974), 335 (339 f., 354); N. Achterberg, DÖV 1977, 649, auch in: ders., Theorie und Dogmatik des Öffentlichen Rechts, 1980, 396 (408 ff., 416 ff.); P. Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit als politische Kraft, in: ders., Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Politik und Rechtswissenschaft, 1980, 55 (59, 67 f.); C. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, 1985, 245, 261; R. Lippold, DVBl. 1989, 140 (142); S. Korioth, Der Staat 30 (1991), 549 (561); H. Bethge, in: Maunz / SchmidtBleibtreu / Klein / Bethge, BVerfGG, 20. Lfg. 2001, § 31 Rn. 8, 26; K.J. Grigoleit, BVerfG und deutsche Frage, 2004, 89 f.; H. Schulze-Fielitz, Wirkung und Befolgung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, in: P. Badura / H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre BVerfG, Erster Band, 2001, 385 (393 f.); H. Vorländer, Die Deutungsmacht des BVerfG, in: R. C. van Ooyen / M. Möllers (Hrsg.), Das BVerfG im politischen System, 2006, 189 (192 ff.).

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Fälle zu entscheiden, bei weitem übersteigt? Nicht zuletzt in dieser faktischen Bindung7 an die Normauslegung liegt der Schlüssel zur Machtfülle des Bundesverfassungsgerichts, zu dem, was respektvoll Kompetenz-Kompetenz8 oder, weniger respektvoll, Justizpolitik aus Karlsruhe genannt wird.9

II. Gesetzliche Bindung nach § 31 BVerfGG Eine nahe liegende Antwort verweist auf § 31 BVerfGG.10 Diese Norm regelt die Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen und dehnt sie über die formelle und materielle Rechtskraft, die allen Gerichtsentscheidungen eigen ist, aus.11 Danach binden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht nur die Verfahrensbeteiligten, sondern die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. 7 Typologische Analyse „faktischer Wirkungen“ durch E. Luetjohann, Nicht-normative Wirkungen des Bundesverfassungsgerichts, 1991, 4 – 6, 19 ff. 8 H. Simon, in: E. Benda / W. Maihofer / H.-J. Vogel (Hrsg.), HbVerfR, 2. Aufl. 1994, § 34 Rn. 19; E.-W. Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: ders., Staat, Nation, Europa, 1999, 157 (168). 9 Das bislang eindeutig negativ besetzte Diktum der Justizpolitik wird inzwischen aber auch positiv verstanden und mit Selbstbewusstsein in Anspruch genommen, so etwa W. Hassemer, JZ 2008, 1. Das BVerfG könne Justizpolitik bis zu einer Grenze betreiben, die begrifflich kaum zu sichern ist (2). Mangels klarer rechtlicher Grenzen sei eine kritische Öffentlichkeit das beste Mittel gegen Politik aus Karlsruhe (10). 10 K. Schlaich / S. Korioth, Das BVerfG, 7. Aufl. 2007, Rn. 482 ff.; H. Schulze-Fielitz, Wirkung (Fn. 6), 387 – 395; C. Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 1991, § 20 Rn. 82 ff.; E.-W. Böckenförde (Fn. 8), 166 – 169; G. Roellecke, HbStR II, 1988, § 53 Rn. 34 – 37; K. Schlaich, VVDStRL 39 (1981), 99 (138 ff.); K. Vogel, Rechtskraft und Gesetzeskraft der Entscheidungen des BVerfG, in: C. Starck (Hrsg.), BVerfG und Grundgesetz, Band I, 1976, 568 (598 ff.); siehe auch W. Heun, Rechtliche Wirkungen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, in: C. Starck (Hrsg.), Fortschritte der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Welt, Band 2, 2006, 173 ff. 11 H. Bethge (Fn. 6), § 31 Rn. 28 ff., 75 ff.; K.J. Grigoleit (Fn. 6), 99 f., 156 – 164.

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Diese gesetzlich angeordnete Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG bezieht sich aber nur auf das Urteil oder den Beschluss in einem konkreten Verfahren,12 kann also das Phänomen einer den Fallbezug überschreitenden materiellen Wirkung noch nicht erklären. Man könnte insofern aber auf die Gesetzeskraft verweisen, die durch § 31 Abs. 2 BVerfGG angeordnet wird.13 Aber auch sie reicht nicht hin,14 denn Gesetzeskraft erhalten nur Entscheidungen in den Verfahren der abstrakten, konkreten und inzidenten Normenkontrolle (und einiger anderer, weniger wichtiger Verfahrensarten), alle anderen Entscheidungen jedoch nicht. Der Grund liegt darin, dass Normenkontrollentscheidungen inter omnes wirken, für und gegen jedermann, und daher aus Gründen der Normenhierarchie mit einer generell-abstrakten Geltungskraft versehen sein müssen. Andere Entscheidungen verfügen über diese Gesetzeskraft jedoch nicht und dennoch wirken auch sie faktisch inter omnes. Eine andere Antwort könnte auf die Variationsbreite verfassungsgerichtlicher Tenorierungen verweisen.15 Wenn das Gericht eine Norm nicht für verfassungswidrig, sondern nur für 12 BVerfGE 24, 289 (297) [1968]: Auch die Bindung an die Entscheidungsgründe könne sich „aber nur auf den Streitgegenstand beziehen, über den das Urteil entschieden hat“. Für eine Ausrichtung der Bindung am konkreten Streit- und Entscheidungsgegenstand auch K. Rennert, in: D. Umbach / T. Clemens, BVerfGG Mitarbeiterkommentar, 1992, § 31 Rn. 54, 74; für eine enge Bindungswirkung nur des Tenors auch C. Pestalozza (Fn. 10), § 20 Rn. 69, 90; C. Gusy (Fn. 6), 245; siehe auch P. Lerche, Facetten der „Konkretisierung“ von Verfassungsrecht, in: ders., Ausgewählte Abhandlungen, 2004, 86 (97 f.): abstrakte Präzisierungen sind nur Bestandteil der Entscheidung des ganz konkreten Falls und wirken daher formal nicht über diesen ganz konkreten Fall hinaus. 13 BVerfGE 72, 119 (121) [1986]; K. Rennert (Fn. 12), § 31 Rn. 191 f.; E. Klein, in: E. Benda / E. Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, 1991, Rn. 1223 – 1227; C. Pestalozza (Fn. 10), § 20 Rn. 94 ff. 14 Siehe K. Schlaich / S. Korioth (Fn. 10), Rn. 511, die im Hinblick auf die Gesetzeskraft von Normenkontrollentscheidungen feststellen: „Materialprüfung ist nicht Produktion“. 15 C. Gusy (Fn. 6), 182 ff.; H. Bethge (Fn. 6), § 31 Rn. 206 ff.; K. Schlaich / S. Korioth (Fn. 10), Rn. 372 ff.

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unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt, eine Übergangszeit zubilligt und dem Gesetzgeber Regelungspflichten auferlegt, wenn es sogenannte „Appellentscheidungen“ erlässt und vom „noch verfassungsgemäßen“ Gesetz spricht oder zum Mittel der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen greift, gewinnt das Gericht zwar prospektive Gestaltungsmacht, aber auch sie bleibt letztlich auf den zu entscheidenden Einzelfall beschränkt.16 Sie hat Teil an der Bindungswirkung des § 31 BVerfGG, aber darüber hinaus geht auch sie nicht. Und schließlich bestimmt das Gericht selbst die Bindungswirkung des § 31 BVerfGG eher eng und betont den Fallbezug der Entscheidung zur Ermittlung des Bindungsumfangs: Nur der Tenor der Entscheidung und die im Einzelnen tragenden Gründe würden von der Bindungswirkung erfasst.17 Hier ent16 P. Lerche, Facetten (Fn. 12), 89, weist darauf hin, dass gerade bei der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen die Detailaussagen des Gerichts an die zuvor ausgeübte „Grundentscheidungsfreiheit“ des Gesetzgebers gebunden sind: „Der Gesetzgeber löst durch seine prinzipiellen politischen Gestaltungen das detaillierte Sprechen der Verfassung erst aus und hat dieses dann zu beachten. Der Gesetzgeber ist insoweit nicht lediglich Diktatempfänger, wohl aber Auslöser konkreter Verfassungssätze.“ Siehe auch E. G. Mahrenholz, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: P. Badura / R. Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung. Symposion aus Anlaß des 70. Geburtstages von Peter Lerche, 1998, 23 (32 f.). 17 Bindung an die tragenden Gründe seit BVerfGE 19, 377 (391 f.) [1966]; weitreichende Formulierung in BVerfGE 40, 88 (93 f.) [1975]: Bindungswirkung umfasse die tragenden Gründe, soweit diese Ausführungen zur Auslegung der Verfassung enthalten; engere Formulierung in BVerfGE 104, 151 (197) – NATO-Konzept [2001]: Die Bindungswirkung umfasse nur den in der Entscheidungsformel ausgedrückten konkreten Streitgegenstand. Die Rechtsprechung des BVerfG zu § 31 Abs. 1 BVerfGG dehnt die Bindungswirkung fallweise aus oder schränkt sie ein. Sie hat nur ansatzweise eine klare Linie erkennen lassen und scheint ergebnisorientiert vorzugehen. Besonders weit ging BVerfGE 36, 1 (36) – Grundlagenvertrag mit der DDR [1973]: Hier wurden die Auslegungsgrundsätze in abstracto der Bindungswirkung unterworfen. Eine enge Deutung der Bindungswirkung demgegenüber in BVerfGE 115, 97 (108) – Halbteilungsgrundsatz [2006]. Die Herleitung des Halbteilungsgrundsatzes ergebe sich nicht aus den tragenden Gründen von BVerfGE 93, 121 (136 ff.) und sei deswegen nicht bindend. Die Entscheidung zum Grundlagenvertrag hat seinerzeit zu einer kritischen Auseinandersetzung in der

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stehen erhebliche Abgrenzungsprobleme,18 die aber alle auf die einzelne Entscheidung zurückverweisen und damit interpretatorisch den Fallbezug einfordern. Die faktische Bindungswirkung, die für die Stellung des Bundesverfassungsgerichts gerade ausschlaggebend ist, lässt sich auch dadurch nicht erklären. Zudem sind obiter dicta von der Bindungswirkung in keinem Fall erfasst19 – und doch darf ihre Wirkung nicht unterschätzt werden, etwa weil sich hier Rechtsprechungslinien ankündigen und dermaßen aufgezeigte Leitlinien von Politik, Rechtsprechung und nicht zuletzt der Verfassungsrechtswissenschaft gerne aufgegriffen werden.20 Jedenfalls darf als Zwischenfazit festgestellt werden: Mit der im Gesetz angeordneten Bindungswirkung allein lässt sich die hohe tatsächliche Deutungsmacht des Bundesverfassungsgerichts nicht erklären. Man mag auch kaum glauben, dass sie sich nur einer Norm wie dem § 31 BVerfGG verdankt,21 einer Norm des einfachen Rechts zumal, in die gnädigen Hände des Bundestages gelegt.22 Wir stehen also weiterhin vor dem erLiteratur geführt, vgl. W. Hoffmann-Riem, Der Staat 13 (1974), 335 (338 f., 344 ff., 351 ff., 362); K. Vogel (Fn. 10), 575 – 582; R. Eckertz, Der Staat 17 (1978), 183 (184 f., 200); J. Jekewitz, Der Staat 19 (1980), 535 (546 f.); K. A. Bettermann, DVBl. 1982, 91 (95); C. Gusy (Fn. 6), 238 f., 243 f.; S. Korioth, Der Staat 30 (1991), 549 (568); K.J. Grigoleit (Fn. 6), 158 – 160; K. Schlaich / S. Korioth (Fn. 10), Rn. 487, 491 – 494. Anderer Ansicht: E. Klein (Fn. 13), Rn. 1243; H. Bethge (Fn. 6), § 31 Rn. 99; differenziert C. Pestalozza (Fn. 10), § 20 Rn. 90 – 92; H. Simon (Fn. 8), § 34 Rn. 37. 18 Näher K. Vogel (Fn. 10), 570 ff.; K. Rennert (Fn. 12), § 31 Rn. 70 – 74; H. Bethge (Fn. 6), § 31 Rn. 94 ff. 19 BVerfGE 115, 97 (108 – 110) – Halbteilungsgrundsatz [2006]; K. Schlaich / S. Korioth (Fn. 10), Rn. 488. 20 Vgl. C. Gusy (Fn. 6), 253 – 260; E. G. Mahrenzolz (Fn. 16), 36 f. 21 Vgl. E. Luetjohann (Fn. 7), 40: Das Institut der Bindungswirkung sei von der faktischen Maßgeblichkeit überholt und aufgesogen worden. 22 Freilich in den Grenzen des Art. 94 Abs. 2 GG, die jedoch nicht zu eng gezogen werden dürfen. Im Parlamentarischen Rat herrschte Einigkeit über eine enge Anwendung der Gesetzeskraft auf die Entscheidungsformel des konkreten Falles, nicht jedoch auf die Begründung der Entscheidung im Übrigen. Zur Entstehungsgeschichte dieser Norm K. Rennert (Fn. 12), § 31 Rn. 11, 11a; C. Gusy (Fn. 6), 251 f.; allgemeiner K. Niclauß, Der Parlamentarische Rat und das BVerfG, in: Das BVerfG im politischen

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klärungsbedürftigen Umstand,23 dass bindend regelmäßig nur konkrete Verfassungsrechtssätze sind, ihre Wirkung indes ins Allgemeine zielt und sich eine Bindung auch über den gesetzlich angeordneten Rahmen hinaus zu entfalten beginnt. Wie lässt sich diese gewissermaßen überschießende, faktische Bindungswirkung dann erklären? Man könnte, wie es in der Literatur getan wird, auf die inhaltliche Qualität oder die Überzeugungskraft der Entscheidungen als Voraussetzung ihrer faktischen Akzeptanz verweisen.24 Man könnte auf die besondere institutionelle Stellung des Gerichts und auf Prozesse der Gewaltenverschränkung abstellen.25 Man könnte auf die integrative Funktion des Gerichts verweisen.26 Jedenfalls gewinnt man aus der Literatur mitunter den Eindruck, als ob die faktische Bindungswirkung von BVerfG-Entscheidungen in erster Linie von gesellschaftlich-politischen AkzeptanzbedinSystem (Fn. 6), 117. Die weite Auslegung des § 31 Abs. 1 BVerfGG geht heute über das in Art. 94 Abs. 2 GG Geforderte weit hinaus; kritisch zu dieser verfassungsrechtlich nicht gebotenen weiten Auslegung des § 31 BVerfGG auch K. Rennert, ebd., Rn. 18 – 20, 53. 23 Vgl. auch – bezogen auf die verfassungsrichterliche Verfassungsfortbildung – M. Jestaedt, Rechtsprechung und Rechtsetzung, in: W. Erbguth / J. Masing (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsprechung im System der Rechtsquellen, 2005, 25 (36 ff., 49 ff., 55 ff.). 24 Statt vieler: H. Schulze-Fielitz, Wirkung (Fn. 6), 393 f. m. w. N. Zur Akzeptanz-fördernden Funktion gesellschaftlicher Grundkonsense, die vom BVerfG formuliert werden, siehe I. Ebsen, Der Beitrag des Bundesverfassungsgerichts zum politischen Grundkonsens, in: G. F. Schuppert / C. Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, 2000, 83 (88 f., 91 ff.); H. Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht und die öffentliche Meinung, ebd., 111 (123 ff., 136 ff.). 25 Vgl. K. Schlaich / S. Korioth (Fn. 10), Rn. 31 – 35, 505 ff. m. w. N.; C. Möllers, Gewaltengliederung, 2005, 95 – 97, 136 – 145; D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1994, 303 f.; W. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1992; C. Gusy (Fn. 6), 240 f., 245; K. Schlaich, VVDStRL 39 (1981), 106 ff. 26 P. Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit in der offenen Gesellschaft, in: R. C. van Ooyen / M. Möllers (Hrgs.), Das BVerfG im politischen System, 2006, 35 (43), der von einer gesamthänderischen Verantwortung zur Fortschreibung der Verfassung als Gesellschaftsvertrag spricht; skeptisch indes U. Haltern, Mythos als Integration, ebd., 47 (47), ders., JöR N.F. 45 (1997), 31.

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gungen abhängt und nicht auf im engeren Sinne rechtlichen Voraussetzungen beruht.

III. Das „C. I.-Problem“ Diesem Eindruck möchte ich ein klein wenig entgegentreten und auf einen Umstand hinweisen, der bei der Behandlung unseres Problems seltener ins Licht gerückt wird. Die faktische Bindungswirkung verdankt sich einer besonderen Begründungstechnik. Sie hängt nicht nur von inhaltlicher Qualität oder Akzeptanz ab, sondern zu einem guten Teil auch von Voraussetzungen, die das Bundesverfassungsgericht selbst in der Hand hat. Es teilt nämlich die Entscheidungsbegründung in einen Abschnitt auf, in dem allgemein gehaltene Aussagen zur Auslegung der Verfassungsnormen getroffen werden, den sog. Maßstäbeteil, und einen sich daran anschließenden zweiten Abschnitt, den Subsumtionsteil. Beide Begründungsteile werden voneinander deutlich abgesetzt und meistens mit dem Gliederungspunkt „C. I“ (für den Maßstäbeteil) und „C. II“ (für den Subsumtionsteil) bezeichnet. Der Maßstäbeteil bereitet die Subsumtion vor. Er enthält noch keine Aussagen, die einen spezifischen Fallbezug aufweisen, sondern behandelt die Auslegung der Verfassungsnorm als solche und auf generellabstrakte Weise. Im Maßstäbeteil werden die materiellen Weichen gestellt, ohne dass bereits auf die Eigenheiten des zu entscheidenden Falles eingegangen werden müßte. Dies leistet erst der Subsumtionsteil. Regelmäßig beginnt er mit Wendungen, wie etwa „Diesen Maßstäben wird die angegriffene Vorschrift nicht gerecht“ – oder „Das geltende Recht genügt den dargestellten verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht.“27 Weil beide Teile getrennt werden, wirken subsumierende Aussagen auf die Fortentwicklung der Maßstäbe höchst selten ein. Wenn das Gericht im Maßstäbeteil aus früheren Entschei27 Auf diese Art gebildet sind etwa die Formulierungen in BVerfGE 115, 118 (140) – Luftsicherheit [2006] und BVerfGE 117, 1 (37) – Erbschaftsteuer [2006].

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dungen zitiert, stammen diese Zitate wiederum aus den Maßstäbeteilen. Man gewinnt den Eindruck einer zeitübergreifenden und sachverhaltsunabhängigen, man könnte auch sagen: unhistorischen und unpolitischen Verfassungsauslegung. Alle Verfassungsinterpretationen ergingen jedoch aufgrund von konkreten Rechtsfragen und verdanken ihre Existenz einem Sachverhaltsbezug, der jedoch bei ihrer Weiterverarbeitung in späteren Maßstäbeteilen regelmäßig unter den Tisch fällt. Wenn ich recht sehe, folgt das Gericht dieser Begründungstechnik zwar nicht immer aber doch grundsätzlich – und zwar unabhängig von der Verfahrensart oder dem materiellen Schwerpunkt. Jedenfalls strukturiert und rationalisiert die Aufteilung in Maßstäbe- und Subsumtionsteil die Entscheidungspraxis und man gewinnt den Eindruck, dass der Senat auf die Formulierung des Maßstäbeteils mehr Sorgfalt verwendet als auf den Subsumtionsteil. Was auf den ersten Blick bloß der Klarheit und Strukturierung der Begründung dient, hat auf den zweiten Blick doch erhebliche materiellrechtliche Folgen. Denn mit Hilfe dieser Entscheidungstechnik kann das Bundesverfassungsgericht normative Aussagen vom Sachverhaltsbezug lösen. Möglicherweise hochgradig sachverhaltskontingente Aussagen können auf diese Weise von den Fakten neutralisiert und rechtlich objektiviert werden. Die Verfassungsinterpretation beginnt ein normatives Eigenleben zu führen. Dadurch entsteht eine normtheoretisch merkwürdige Zwischenkategorie, die an die Seite des Verfassungstextes tritt: der verfassungsrechtliche Maßstab.28 Zwischen die Norm und das Urteil wird etwas 28 E.-W. Böckenförde wies in der Aussprache auf dem Kolloquium am 18. 1. 2008 darauf hin, dass die Technik der Maßstäbeteile auch der einheitlichen Willensbildung im Senat geschuldet sei. Bewusst nicht auf einen Maßstäbeteil zurückgegriffen habe der Senat in BVerfGE 93, 319 (338 ff.) – Wasserpfennig [1995], weil dies ausnahmsweise die Entscheidungsbegründung erleichtert habe. Als Gegenbeispiel extremer Maßstabsetzung desselben Senats: BVerfGE 93, 121 (133 – 142) – Vermögensteuer / Halbteilungsgrundsatz [1995]; gegen die intensive Errichtung verfassungsrecht-

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Neues eingeschoben.29 Über diese neue Zwischenkategorie kann das Gericht autonom entscheiden, weil es bei der Formulierung und Fortentwicklung der Maßstäbe weder durch den Bezug zu den Sachverhalten noch durch die Verfahrensart begrenzt wird. Die Entscheidungskompetenz des Gerichts beruht jedoch formell auf einem bestimmten Verfahren und sie wird materiell auf die entscheidungserhebliche Rechtsfrage begrenzt. Indem das Bundesverfassungsgericht aber auf die Einbeziehung der Sachverhalte bei der Formulierung des Maßstäbeteils verzichtet, vermag es sich von den formellen und materiellen Kompetenzgrenzen freizuzeichnen. Man kann es auch anders formulieren: Die Karlsruher Normauslegung orientiert sich am Muster der Gesetzesbindung, nicht am Muster der Urteilsfindung. [Hier liegt nicht nur der Grund für die quasi legislatorische Bindungswirkung von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen, sondern auch die Antwort auf die Frage, warum § 31 BVerfGG einer überschießenden Bindung über das konkrete Ausgangsverfahren hinaus nicht entgegenwirkt. Weil die Entscheidungsbegründung in hohem Maße auf dem Maßstäbeteil beruht, müssen die zugrunde gelegten Maßstäbe regelmäßig zu den tragenden Gründen gezählt werden. Dann aber haben sie an der allgemeinen Bindungswirkung nach § 31 BVerfGG und gegebenenfalls auch an der Gesetzeskraft der Entscheidung teil.]

licher Maßstäbe in diesem Fall Sondervotum Böckenförde BVerfGE 93, 149 (157, 160). – Die Literatur zum Phänomen der „Maßstäbe“ ist – soweit ersichtlich – überschaubar: K. Schlaich, VVDStRL 39 (1981), 99 (111 f., 120, 124 f.); P. Lerche, Stil und Methode (Fn. 5), 336 – 340, 356 – 358. 29 Vgl. P. Lerche, Stil und Methode (Fn. 5), 337 – 339: In den Augen des Gerichts bilde die Verfassung einen Maßstab. An diesem werden die konkreten Fragen gemessen. Lerche fügt dann aber hinzu: „So selbstverständlich ist dies allerdings nicht. Wird die Verfassung als gesetzter Maßstab genommen, ist man inmitten der Flut unterschiedlichster allgemeiner Rechtsanwendungstheorien, die umgekehrt die Trennbarkeit von Norm und Handhabung bezweifeln.“

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IV. Die maßstabsetzende Gewalt Ist dieses Vorgehen noch mit rechtsprechender Tätigkeit vereinbar? Schließlich verselbständigt sich die Normauslegung von ihrem Anlass, nimmt aber zugleich die erst durch die Entscheidung eines konkreten Falles ausgelöste Bindungswirkung in Anspruch. Das Bundesverfassungsgericht bewegt sich hier zwischen rechtsprechender und rechtsetzender Gewalt;30 es mutiert zu einer Institution mit einem neuartigen Kompetenzzuschnitt, nämlich zur maßstabsetzenden Gewalt. Maßstäbe aber sind keine Rechtssätze mit bestimmbaren Adressaten, und doch werden sie in konkreten Entscheidungen immer wieder punktuell verbindlich.31 Sie sind Zwischenkonkretisierungen, die Entscheidungserwartungen stabilisieren aber nicht allgemein garantieren. Sie prägen gesellschaftliche und politische Erwartungen gegenüber dem Verfassungsrecht, ohne sie zu determinieren. Solche politischen Vorwirkungen und faktischen Bindungen jedenfalls lassen sich nicht unter Verweis auf § 31 BVerfGG oder durch Tenorierungen in Gestalt der verfassungskonformen Auslegung erklären. [In der Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit als maßstabsetzender Gewalt liegt wohl auch der Schlüssel des – von Lerche zurückgewiesenen32 – Vorwurfs, die Staatsrechtslehre betreibe nur noch einen Bundesverfassungsgerichtsgerichtspositivismus. Denn Verfassungsrecht wird auf diesem Wege einerseits einer sachverhaltsunabhängigen, abstrakten, objektiven, systematischen und auch zeitlosen Behandlung zugäng30 Zur Legitimation der legislativen Rechtserzeugung durch die Judikative: C. Möllers, Gewaltengliederung, 2005, 136 ff. 31 Auf die punktuelle, individualisierende Verfassungskonkretisierung weist besonders P. Lerche hin, vgl. Die Verfassung als Quelle von Optimierungsgeboten? in: Ausgewählte Abhandlungen, 2004, 72 (83 f.); Facetten (Fn. 12), in: Ausgewählte Abhandlungen, 86 (91 ff., 97); Stil und Methode (Fn. 5), 346 – 348; Die Verfassung in der Hand der Verfassungsgerichtsbarkeit?, in: Ausgewählte Abhandlungen, 522 (526); Verfassungsgerichtsbarkeit in besonderen Situationen, 2001, 13, 17. 32 P. Lerche, Rechtswissenschaft und Verfassungsgerichtsbarkeit, BayVBl. 2002, 649, auch in: Ausgewählte Abhandlungen, 2004, 529.

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lich und bleibt doch andererseits an die institutionelle Vorleistung des Gerichts zurückgebunden.33 Ersteres beschäftigt besonders die Staatsrechtslehre. Sie organisiert die Diskussion, Systematisierung und Fortentwicklung der maßstäblichen Verfassungsaussagen. Sie profitiert also im Ergebnis von der Ablösung der Verfassungsauslegung von den Sachverhalten. Zugleich bleibt ihre Bedeutungserhöhung aber an die Fähigkeit des Bundesverfassungsgerichts zur Maßstabsbildung gebunden. An ihr muß sich die Staatsrechtslehre orientieren, wenn sie mehr als bloßer Verfassungsinterpret wie jedermann sein will. Daher ist die Deutungskraft der Staatsrechtslehre nur um den Preis einer institutionellen Bindung an die maßstäblichen Vorgaben aus Karlsruhe zu erlangen. Daneben verstärkt die maßstabsetzende Gewalt des Bundesverfassungsgerichts zumindest jene eher beklagten Tendenzen der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung. Es mag der Eindruck entstehen, als ob im Angesicht omnipräsenter, vom Bundesverfassungsgericht verwalteter Maßstäbe im Grunde schon alles entschieden sei, so dass rechtspolitische Gestaltungsspielräume einzuschrumpfen scheinen. Ein Prozess der fortschreitenden Konstitutionalisierung der Rechtsordnung ist in der maßstabsetzenden Gewalt angelegt, weil neue Entscheidungsbegründungen auf den hergebrachten Maßstab verweisen und ihn zugleich anreichern und weiterentwickeln. Das erzeugt die Vorstellung kontinuierlicher verfassungsrechtlicher Verengung und schlägt sich dann nieder als Klage fehlenden Selbststandes des einfachen Rechts oder als Verlust eigenständiger Konkretisierungsspielräume der Fachgerichtsbarkeit wie der Gesetzgebung. Weil das allermeiste schon entschieden zu sein scheint, nimmt die Konstitu33 Lerche hat darin aber keinen Bedeutungsverlust der Staatsrechtslehre gesehen, sondern spricht von ihrer Bedeutungserhöhung im Gefolge des Bundesverfassungsgerichts, vgl. Rechtswissenschaft (Fn. 32) 530: „Die Verfassung erhält durch die Verfassungsgerichtsbarkeit sozusagen Schwert und Purpur. An diesem grundsätzlichen Rang-Schub nach oben nimmt aber die Rechtswissenschaft, soweit sie sich vom Verfassungsrecht speist, notwendig teil; sie partizipiert an diesem außerordentlichen Aufschwung.“

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tionalisierung der Rechtsordnung zu und der Gestaltungsfreiraum der Politik ab. Das Bundesverfassungsgericht versucht dem Rechnung zu tragen, indem in die jeweiligen Maßstäbe Formeln der institutionellen Rücksichtnahme eingeflochten werden, etwa die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers betont wird, oder immer wieder Wert auf die Feststellung gelegt wird, es würde nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts überprüft und dadurch mittelbar die Wahrung der Eigenständigkeit der Fachgerichtsbarkeit bezweckt. Doch auch für das Bundesverfassungsgericht wird diese Entscheidungstechnik mit fortschreitendem Zeitablauf zu einem Problem werden, weil von ihm eine Selbstbindung an eigene Maßstäbe erwartet wird, die es angesichts neuer Sachverhalte nur um den Preis ständiger Modifikationen oder gradueller Abstufungen gewährleisten kann; mit anderen Worten: durch eine kasuistische Auffächerung, die als Niedergang an Begründungskultur empfunden werden wird.34 Diese Entwicklung sollte indes nicht als Niedergang begriffen werden, sondern als unvermeidliche Folge einer durch bloßen Zeitablauf eintretenden Dynamik. Was anfangs noch als Ausdruck von Rationalität und Systematik der Entscheidungsbegründung geschätzt werden durfte, droht sich zu einer hausgemachten Hypothek für den Verfassungsrechtswandel auszuwirken. Es entsteht eine Spirale. Immer mehr Bereiche politischer Gestaltungsfreiheit aber auch rechtlicher Konkretisierungsspielräume werden von einer überschießenden Bindungswirkung verfassungsrechtlicher Maßstäbe erfasst. Aus ihr kann sich nur befreien, wer die Faktenabhängigkeit der Normauslegung wieder stärker in den Blick rückt, wer also die Verallgemeinerungsfähigkeit von Normauslegungen nicht nach dem Muster einer generell-abstrakten Bindungswirkung unterstellt, sondern auf die Entscheidungskontexte zurückbezieht. Die in den Maßstäbeteilen getroffenen Aussagen sollten daher his34 Als Kritik bereits formuliert durch B. Schlink, JZ 2007, 157 (160 f.); T. Vesting, Der Staat 41 (2002), 73 (75). Dauerkritik als neuer Normalzustand gedeutet durch H. Schulze-Fielitz, AöR 122 (1997), S. 1 (25 – 27).

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torisiert und kontextualisiert werden.35 Auf diese Weise könnte die Bindungswirkung von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen präzisiert und auf jene Wirkung konzentriert werden, die § 31 BVerfGG bezweckt. In der Konsequenz bedeutete dies eine Aufwertung der normativen Kraft der Verfassung im Konkreten und zugleich eine Abmilderung ihrer realitätsprägenden Wirkung im Übrigen. Entscheidungsspielräume würden punktuell und nicht prinzipiell begrenzt. Davon profitierte der Selbststand des einfachen Rechts, die Gestaltungsfreiheit der demokratischen Rechtspolitik und nicht zuletzt auch die zu eigenständigeren Konstruktionsleistungen aufgerufene Wissenschaft.] Die Karlsruher Rechtsprechung beeinflusst unser Verfassungsverständnis über das rechtlich Bindende hinaus, und darin liegt ihre Eigenheit und Macht. Darin liegt sicher auch ein Grund für das gesellschaftliche Ansehen und die politische Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts, weil es mit einer zu Maßstäben verdichteten sachverhaltsunabhängigen Auslegung die Verfassung diskursfähig aufbereitet und es ermöglicht, dass sich gesellschaftliche und politische Akteure – aber auch die Staatsrechtslehre – auf die Verfassung jenseits ihrer unmittelbaren Rechtswirkung berufen können.36 Diese erhebliche faktische Bindungswirkung verdankt das Bundesverfassungsgericht gerade auch seiner spezifischen Begründungstechnik, seinen Maßstäbeteilen. Letztlich sind sie es, mit denen die Verfassungsgerichtsbarkeit der Verfassung, wie Peter Lerche sagt,37 Schwert und Purpur verleiht. 35 Vgl. O. Lepsius, Was kann die deutsche Staatsrechtslehre von der amerikanischen Rechtswissenschaft lernen?, in: H. Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, 319 (354 – 361). 36 Insofern findet die Idee der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ hier einen verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkt ohne die Rechtsbindung des Verfassungsrechts und seine Institutionenordnung zu relativieren. Unter diesen Bedingungen ist die Idee der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ politisch möglich, ja wünschenswert, weil sie rechtlich zwingende Wirkungen gerade nicht erzeugt. 37 P. Lerche, Rechtswissenschaft und Verfassungsgerichtsbarkeit, in: ders., Ausgewählte Abhandlungen, 2004, 529 (530).

Kolloquium am 18. 1. 2008 in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung München, v.l.n.r.: Rupert Scholz, Oliver Lepsius, Dieter Lorenz, Peter Lerche, Bundespräsident a.D. Roman Herzog, Christoph Degenhart, Christian Pestalozza, Michael Kloepfer, Hans D. Jarass. Foto: Josef Auer.