Wie pandektistisch war die Pandektistik?: Symposium aus Anlass des 80. Geburtstags von Klaus Luig am 11. September 2015 9783161550706, 3161550706, 9783161554599

Der schillernde Begriff "Pandektistik" wird meist in pejorativem Sinn als Beschreibung für eine Rechtswissensc

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German Pages 316 [317] Year 2017

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Table of contents :
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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Hans-Peter Haferkamp, Tilman Repgen: „Wie pandektistisch war die Pandektistik“? – Einleitung
Franz-Stefan Meissel: Joseph Unger und das Römische Recht – Zu Stil und Methoden der österreichischen „Pandektistik“
Martin Avenarius: Rechtswissenschaft als „Dogma“. Die Ablösung der Dogmatik vom positiven Recht und die Weiterentwicklung des Rechtsdenkens in Russland
Marju Luts-Sootak: Zu der Universalität der Pandektenwissenschaft – am Beispiel der baltischen Privatrechtswissenschaft nach der Kodifikation von 1864 geprüft
Riccardo Cardilli: Das römische Recht der Pandektistik und das römische Recht der Römer
Ulrich Falk: Haftung des Konkursverwalters in der Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1900: „Höchste Ungerechtigkeit und Willkühr“?
Nils Jansen: Naturrechtsfäden im Gewebe pandektistischer Theoriebildung: drei Beispiele aus dem Recht der Schuldverhältnisse
Boudewijn Sirks: War Mühlenbruch ein Pandektist?
Joachim Rückert: Pandektistische Leistungsstörungen?
Thomas Rüfner: Pandektistik und Prozessrecht
Martin Schermaier: „… nicht mit Willkühr ersonnen, sondern seit Jahrhunderten bereitet“: Die Auslegung römischer Quellen bei Savigny
Jan Schröder: Zur Aequitas/Billigkeit in der Rechtstheorie des 19. Jahrhunderts
Autorenverzeichnis
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Wie pandektistisch war die Pandektistik?: Symposium aus Anlass des 80. Geburtstags von Klaus Luig am 11. September 2015
 9783161550706, 3161550706, 9783161554599

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Wie pandektistisch war die Pandektistik? herausgegeben von Hans-Peter Haferkamp und Tilman Repgen

Wie pandektistisch war die Pandektistik? Symposion aus Anlass des 80. Geburtstags von Klaus Luig am 11. September 2015 herausgegeben von Hans-Peter Haferkamp und Tilman Repgen

Mohr Siebeck

Hans-Peter Haferkamp, geboren 1966, Dr. jur. 1993 und Habilitation 2002 an der HumboldtUniversität Berlin. Seit 2003 Direktor des Instituts für Neuere Privatrechtsgeschichte, Deutsche und Rheinische Rechtsgeschichte der Universität zu Köln. Tilman Repgen, geboren 1964, Dr. jur. utr. 1993 und Habilitation 2000 an der Universität zu Köln. Seit 2002 Lehrstuhl für Deutsche Rechtsgeschichte, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit und Bürgerliches Recht an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg. Seit 2010 Dekan.

ISBN 978-3-16-155070-6 eISBN 978-3-16-155459-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Garamond Antiqua gesetzt und auf alterungsb eständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Vorwort Dieses Buch vereint Beiträge zu einem Symposion unter dem Thema „Wie pandektistisch war die Pandektistik?“, das vom 10. bis 12. September 2015 in der Universität zu Köln stattfand. Der schillernde Begriff „Pandektistik“ wird meist in pejorativem Sinn als Beschreibung für eine Rechtswissenschaft verwendet, von der es sich abzugrenzen gilt. Unser Ziel war es, die Zuschreibungen zu diesem Begriff näher zu ergründen und dabei ganz bewusst „Romanisten“ und „Germanisten“ unmittelbar miteinander ins Gespräch zu bringen. Das erwies sich als ein ertragreiches Unterfangen. Einmal mehr bestätigte sich, dass die disziplinäre Grenzziehung innerhalb der Rechtsgeschichte mehr eine Frage der Denomination von Lehrstühlen als Forschungswirklichkeit ist. Dennoch zeigen auch die hier vorliegenden Studien differenzierte Perspektiven. Allen, die dieses wissenschaftliche Gespräch über die Wissenschaft vom römischen Recht im 19. Jahrhundert in dieser Weise möglich gemacht haben, gilt unser Dank: zunächst denen, die die Vorträge gehalten und die schriftlichen Beiträge ausgearbeitet haben, sodann allen, die sich an den intensiven und ertragreichen Diskussionen beteiligt haben. An der Organisation und Durchführung der Kölner Tagung und der Vorbereitung der Drucklegung haben zahlreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Köln und Hamburg mitgewirkt. Auch ihnen gilt unser Dank: Monika Helbig, Christof Steinforth, Magnus Clauss, Julian Liebe, Eric Zakowski, Laura Schwarz, Lea Neuhaus, Tanja Löfken, Daniel Krotov, Jacqueline Weertz in Köln sowie Sarah Bachmann, Helga Bergemann, Ellen Hakelberg-Pekol, Lars Regula, Cara Neipp, Jenny Thiessen und Laura Vejselji in Hamburg. Die Finanzierung wurde möglich durch die Verleihung des Hans-Kelsen-Preises an Hans-Peter Haferkamp im Jahr 2014 durch die Universität zu Köln. Der Termin der Tagung war durch den 80. Geburtstag von Klaus Luig bestimmt. Seine Beteiligung war den Herausgebern Freude und Ehre zugleich. Ihm ist dieser Band gewidmet. Hans-Peter Haferkamp Tilman Repgen

Inhaltsverzeichnis Hans-Peter Haferkamp, Tilman Repgen „Wie pandektistisch war die Pandektistik“? – Einleitung . . . . . . . . 1 Franz-Stefan Meissel Joseph Unger und das Römische Recht – Zu Stil und Methoden der österreichischen „Pandektistik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Martin Avenarius Rechtswissenschaft als „Dogma“. Die Ablösung der Dogmatik vom positiven Recht und die Weiterentwicklung des Rechtsdenkens in Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Marju Luts-Sootak Zu der Universalität der Pandektenwissenschaft – am Beispiel der baltischen Privatrechtswissenschaft nach der Kodifikation von 1864 geprüft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Riccardo Cardilli Das römische Recht der Pandektistik und das römische Recht der Römer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Ulrich Falk Haftung des Konkursverwalters in der Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1900: „Höchste Ungerechtigkeit und Willkühr“? . . 101 Nils Jansen Naturrechtsfäden im Gewebe pandektistischer Theoriebildung: drei Beispiele aus dem Recht der Schuldverhältnisse . . . . . . . . . . . 165 Boudewijn Sirks War Mühlenbruch ein Pandektist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Joachim Rückert Pandektistische Leistungsstörungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

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Inhaltsverzeichnis

Thomas Rüfner Pandektistik und Prozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Martin Schermaier „… nicht mit Willkühr ersonnen, sondern seit Jahrhunderten bereitet“: Die Auslegung römischer Quellen bei Savigny . . . . . . . . . . . . . . 257 Jan Schröder Zur Aequitas/Billigkeit in der Rechtstheorie des 19. Jahrhunderts . . . 289

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

„Wie pandektistisch war die Pandektistik“? – Einleitung Hans-Peter Haferkamp und Tilman Repgen I.  Pandektistik – ein Begriff? Als 1884 Jherings „Scherz und Ernst“ erschien, machte sich unter Privatrechtswissenschaftlern Unsicherheit breit. Wie erkannte man eigentlich diese Begriffsjuristen? Es begann die Zeit fröhlicher Zuweisungen. Ehrenberg verwies Thöl in den Begriffshimmel1. Bekker wollte auch Wächter „durch ein bisschen Fegefeuer“ für den Begriffshimmel reif machen 2 . Gustav Rümelin sah in Gierke einen Begriffsjuristen 3, was Bekker wiederum nicht nachvollziehen konnte4. Rümelin gestand zu, der Vorwurf sei „viel zu unbestimmt“ und man könne sich darunter „sehr verschiedene Dinge denken“5. Bekker vermutete, Jhering meine mit Begriffsjurisprudenz „die nächste Verwandte der mir besonders unsympathischen Naturrechtlerei“6 . Weshalb Jhering dann aber etwa Schloßmann7 in den Begriffshimmel geschickt hatte8 , verstand auch Bekker nicht. Brütt vermutete, dass Jhering diese willkürliche Zuweisung zur ‚Begriffsjurisprudenz‘ als Abrechnung mit alten Gegnern missbraucht hatte9. Er verwies darauf, dass Schloßmann Jhering 1876 vehement kritisiert hatte10 . 1  Zu diesem Bild Regina Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, Frankfurt am Main 1986, S.  217 ff.; Joachim Rückert, Handelsrechtsbildung und Modernisierung des Handelsrechts durch Wissenschaft zwischen ca. 1800 und 1900, in: Modernisierung des Handelsrechts im 19. Jahrhundert, hrsg. von Karl Otto Scherner, Heidelberg 1993, S.  19–66, S.  22 ff.; Ulrich Falk, Art. Thöl, Heinrich, in: Juristen. Ein biographisches Lexikon, hrsg. von Michael Stolleis, München 1995, S.  612. 2  Ernst Immanuel Bekker, Ernst und Scherz über unsere Wissenschaft. Festgabe an Rudolf von Jhering, Leipzig 1892, S.  126. 3  Gustav Rümelin, Methodisches über Juristische Personen, Freiburg im Breisgau 1891, S.  3. 4  Bekker, Ernst und Scherz (wie Fn.  2), S.  122. 5  Rümelin, Methodisches (wie Fn.  3), S.  4 f. Rümelin griff die Problematik nochmals auf in: ders., Zweckvermögen und Genossenschaft, Freiburg im Breisgau 1892, S.  1–108. 6  Bekker, Ernst und Scherz (wie Fn.  2), S.  123. 7  Siegmund Schloßmann, Der Vertrag, Leipzig 1876, §  26. 8  Rudolf von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, Leipzig 1884, S.  260, 317, 325. 9  Lorenz Brütt, Die Kunst der Rechtsanwendung, Berlin 1907, S.  88 Anm.  2. 10  Schloßmann, Vertrag (wie Fn.  7), §  31 (gegen Geist I).

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Hans-Peter Haferkamp und Tilman Repgen

An diese Debatten fühlt sich erinnert, wer heute die Diskussionen um den Vorwurf des Neopandektismus verfolgt, die seit den 1990er Jahren verstärkt auftauchten. Hintergrund war das Programm einer gegenwartsbezogenen Pandektistik von Reinhard Zimmermann, das etwa Pio Caroni immer wieder vor einer „neopandektistische[n] Botschaft“11, einer „neopandektistischen Vision“12 , und Mario Bretone gar vor neopandektistischen „Propheten einer Welt ohne Geschichte“ warnen ließ13. So wie man um 1900 hätte sagen können: Na und? Jede Wissenschaft operiert mit Begriffen, so hätten die Neopandektisten entspannt einwenden können: Was war so falsch am Pandektismus? Das tat jedoch niemand. So wie um 1900 niemand Begriffsjurist sein wollte, so wollte nun niemand Neopandektist sein. Martin Schermaier sprach von einem „Missverständnis“, da man verschiedene Geschichtlichkeiten nicht klar trenne14 ; auch Nils Jansen meinte, eine historisch arbeitende Rechtsdogmatik sei mehr als „neopandektistischer Chauvinismus“15. Okko Behrends fühlte sich „zwar selbst nicht gemeint“, wehrte sich aber doch gegen den „einseitig vergröbernden […] Vorwurf“16 . Auch er hatte aber ein Bild des Neopandektismus im Kopf, wenn er an anderer Stelle Flumes Rechtsakttheorie einen „ausgesprochen neopandektistischen Charakter“17 attestierte. Der Vorwurf des Neopandektismus zeigt sich in diesen Gesprächen als ein polemisch-emotional grundierter Kampfbegriff. Dazu passt, dass man ihn bisweilen auch mit anderen Verfehlungen kombinierte, so wenn Tomasz Giaro von einer „neopandektistische[n] ‚Anknüpfung‘ an den usus modernus“18 sprach und andererseits Andreas Wacke sich entschuldigte, er wolle nicht „neopandektistische Begriffsjurisprudenz betreiben“19. Gerade aus der Unschärfe gewinnt dieser Begriff seine polemische Wucht. 11  Pio Caroni, Nutzlos, nützlich, notwendig, in: ZNR 29 (2007), S.  131–140, hier S.  137 Fn.  31. 12  Caroni, Nutzlos, nützlich, notwendig (wie Fn.  11), S.  138. 13  Hier nach Okko Behrends, Die Person oder die Sache – was stand im Mittelpunkt des klassischen römischen Privatrechts? Die Kontinuitätsfrage im Streit zwischen junger „Neopandektistik“ und nicht mehr ganz junger „Neoromantik“, in: Labeo 44 (1998), S.  26–60, hier S.  26. 14  Martin Schermaier, Eigenschaftsirrtum und Kauf: Werner Flume rechtsgeschichtlich (30. März 2009), in: forum historiae iuris (http://www.forhistiur.de/2009-03-schermaier/), Rn.  4 4. 15  Nils Jansen, Binnenmarkt, Privatrecht und europäische Identität, Tübingen 2003, S.  79. 16  Behrends, Person oder Sache (wie Fn.  13), S.  26, 29 Fn.  6 . 17  Okko Behrends, Institut und Prinzip, Göttingen 2004, S.  270 Fn.  6 : „Es ist scharfsinnig, erklärt manches, vermag aber seiner Abstraktheit wegen in keiner Weise in die komplexen historischen Voraussetzungen des Denkens der römischen Juristen der literarischen Zeit einzudringen.“ 18  Tomasz Giaro, Europäische Privatrechtsgeschichte: Werkzeug der Rechtsvereinheitlichung und Produkt der Kategorienvermengung, in: Ius commune 21 (1994), S.  1–43, hier S.  3. 19  Andreas Wacke, Das Verbot der Darlehnsgewährung an Hauskinder und die Gebote wirtschaftlicher Vernunft, in: ZRG RA 112 (1995), S.  239–329, hier S.  290: „sondern lediglich

„Wie pandektistisch war die Pandektistik“? – Einleitung

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Diese Unschärfe des Begriffs, so unsere These, folgt auch daraus, dass es heute gar nicht mehr so einfach ist zu definieren, was Pandektismus eigentlich ist. 2001 betonte Tilman Repgen: Mancher werde die Arbeit von Rüfner über vertretbare Sachen „in eine Schublade mit der Aufschrift ‚Neopandektistik‘ einsortieren“20 . Er fügte aber hinzu: „Angesichts des Umstands, dass der bis vor wenigen Jahren noch einigermaßen konsistent erscheinende Begriff der Pandektistik selbst zunehmend in Auflösung begriffen ist, ist schon die Aussagekraft dieser Schubladenkategorie fraglich.“ Hier setzen unsere Überlegungen für diese Tagung an. Franz Wieacker konnte 1967 noch ein schön einhelliges Bild zuspitzen: Pandektist sei jemand, der „die Rechtssätze ausschließlich aus System, Begriffen und Lehrsätzen der Rechtswissenschaft ableitet, ohne außerjuristischen, etwa religiösen, sozialen oder wissenschaftlichen Wertungen und Zwecken rechtserzeugende oder rechtsändernde Kraft zuzugestehen.“21

Auch wenn dieses Bild wohl noch in manchen Köpfen herumspukt, entspricht es doch schon lange nicht mehr dem Stand unserer Wissenschaft. Es ist komplizierter geworden mit der Pandektenwissenschaft. Früher interessierte man sich vor allem für Savigny, den man noch nicht, und für den späten Jhering, den man nicht mehr als Pandektist einstufte. Das dazwischen liegende Feindbild war wohl auch deshalb so scharf, weil man gar nicht genauer hinsah. Über Puchta, Mühlenbruch, Keller, Windscheid, Brinz, Bekker, Kuntze, Dernburg oder Zitelmann begann man erst in den 1980er Jahren genauer zu forschen, während andere bis heute genauerer Untersuchung harren – ich nenne Unterholzner, Löhr, Huschke, Sintenis, Arndts, Böcking, Rudorff, Bethmann-Hollweg oder Regelsberger. Seitdem sind uns die schön konturierten Bilder brüchig geworden und momentan wird man wohl sagen können, dass ein einheitliches Bild der Pandektistik nicht existiert. Vor allem hat sich gezeigt, dass eine einheitlich konsentierte Methode der Pandektistik von Pandektenwissenschaftlern nie formuliert wurde. Die meisten Pandektisten formulierten überhaupt kein Methodenprogramm, das neben der in der Pandektenvorlesung traditionell vorgetragenen Auslegungslehre etwa auch Fragen der Begriffs- und Systembildung erfasst hätte. Die wenigen zeitgenössischen Versuche eines solchen Methodenprogramms stießen zudem auf so scharfe Kritik, dass sie kaum als pars pro toto taugen. Puchta beließ es stets bei Andeutungen zur Methode und fand für sein Juristenrecht trotzdem ganz weitgehend Kritik. Savignys Auslegungslehre wurde selbst von seinen engsten Schülern nicht übernommen. Nahezu durchweg Kritik fanden die in der Materie steckende Dialektik veranschaulichen, eine Zusammenschau der maßgeblichen Kriterien in ihrer logischen Verkettung geben“. 20  Tilman Repgen, Rez. Rüfner, Vertretbare Sachen?, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 69 (2001), S.  407–409, hier S.  409. 21  Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2.  Aufl. Göttingen 1967, 2. unveränderter Nachdruck Göttingen 1996, S.  431.

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die Methodenlehre des Juristenrechts von Reinhold Schmid aus dem Jahr 184822 , die „Juristische Wissenschaftslehre“ von Burkard Wilhelm Leist 23 aus dem Jahr 1854 und die symbolisch-naturalistische Betrachtungsweise des Rechts von Johannes Emil Kuntze24 aus dem Jahr 1856, sowie natürlich vor allem die zwischen 185625 und 185826 veröffentlichte „naturhistorische Methode“ Jherings. Zu Jherings zentralem Konzept der Konstruktion meinte Brinz schlicht, „daß das erst in unseren Tagen beliebte Wort der juristischen Construction das wichtige Ding, was Verf. darin erblickt, nicht bedeute, und daß dieses Ding in der ihm beigelegten wesentlichen Eigenschaft, d. i. in seiner specificatorischen Productivität nicht bestehe.“27

Das, was spätere Generationen so typisch pandektistisch fanden, also etwa den Begriff der Konstruktion, war in der Pandektenwissenschaft also keineswegs fest bestimmt. Zitelmann begann angesichts dieser Unklarheiten nach 1886 eine Sammlung über die mannigfache Bedeutung anzulegen, die der von Jhering kritisierten „Konstruktion“ bei einzelnen Schriftstellern zukam 28 . Zur damit zusammenhängenden Frage der Begriffsbildung stellte Gustav Rümelin 1878 fest, obwohl viele Juristen der Ansicht seien, „daß sie hier mit den wichtigsten und letzten Dinge der Jurisprudenz zu thun“ hätten, habe man bisher ein genaueres Eingehen auf diese Fragestellung nicht für notwendig gehalten und es scheine die „Ueberzeugung zu herrschen, daß es sich um einfache und klare Vorstellungen handelt, wenn nach Begriff oder Wesen eines Rechtsverhältnisses gefragt wird“29. Rümelin äußerte hier einen Verdacht, den auch Jan Schröder jüngst geteilt hat. Er deutet das Fehlen eines solchen Programms als Zeichen dafür, dass sich die Zeitgenossen besonders sicher über ihr Verfahren gewesen seien, eine explizierte Methodologie also gar nicht benötigten 30 . Dagegen spricht sicher die dargestellte Uneinigkeit über die zeitgenössischen Versuche, eine solche Methodologie dennoch zu formulieren. Gleichwohl: Hier steckt ein blinder Fleck der bisherigen Forschung. Wenn eine solche sozusagen intuitiv-verbin22  Reinhold

Schmid, Theorie und Methodik des bürgerlichen Rechts, Jena 1848, S.  255 ff. Burkard Wilhelm Leist, Über die dogmatische Analyse Römischer Rechtsinstitute, Jena 1854, S.  20 ff. 24  Johannes Emil Kuntze, Der Wendepunkt der Rechtswissenschaft, Leipzig 1856, hier nach Nachdruck Whitefish (Montana) 2010, S.  75 ff. 25  Rudolf von Jhering, Unsere Aufgabe, in: Jherings Jahrbücher 1 (1857), S.  1–52 (Heft 1 bereits 1856 erschienen), S.  8 ff. 26  Rudolf von Jhering, Der Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Dritter Theil, erste Abtheilung, Leipzig 1865, hier zitiert nach 3.  Aufl. Leipzig 1871, §§  37 ff. 27  Alois von Brinz, Rez. Jhering, Geist des römischen Rechts, zweiter Theil, in: Kritische Vierteljahresschrift 2 (1860), S.  1–37, hier S.  27. 28  Dies berichtet rückblickend Max von Rümelin, Zur Lehre von der juristischen Konstruktion, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 16 (1922/23), S.  343–355, hier S.  343. 29  Gustav Rümelin, Juristische Begriffsbildung. Akademische Antrittsschrift, Leipzig 1878, S.  6. 30  Jan Schröder, Recht als Wissenschaft, 2.  Aufl. München 2012, S.  250. 23 

„Wie pandektistisch war die Pandektistik“? – Einleitung

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dende Methode der Pandektistik existierte, kann man dies nur feststellen, wenn man ihr ins Feld folgt. Um nicht das zu finden, was man als Vorurteil sucht, muss man sozusagen induktiv die Quellenarbeit der Pandektenwissenschaftler analysieren. Um Besonderheiten zu erkennen, muss man diese Quellenarbeit mit den älteren Interpretationen der gleichen Quellen und unserem heutigen Verständnis der gleichen Texte vergleichen. All das muss man für verschiedene Autoren tun, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede entdecken zu können. Warum ist das bisher noch nahezu nicht geschehen? Ein entscheidender Grund scheint mir auf das eingangs geschilderte Bild der Neopandektistik zurückzuführen. Das Bild war Teil der großen Methodendebatte, die die Rechtsgeschichte seit den 1970er Jahren führte. Neopandektistik stand hier im Gegensatz zu ‚Neohumanismus‘31, es ging um applikativ vs. kontemplativ. Kritikpunkte waren Reduzierung der Rechtsvergangenheit auf das römische Recht, Rückprojektion einer europäischen Privatrechtseinheit, Ausklammerung von Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Wenn Martin Schermaier damals meinte: „Nicht umsonst stehen sich in der Diskussion um die ‚Geschichtlichkeit der Rechtsgeschichte‘ vorwiegend Germanisten auf der einen, und Romanisten auf der anderen Seite gegenüber“, dann stimmte das eigentlich nicht. Besonders scharfe Gegner einer applikativen Rechtsgeschichte wie Bretone, Fögen oder Simon waren sicher keine Germanisten. Richtig war daran jedoch, dass das Fach sich noch immer als gespalten präsentierte – eine Seite, welche die Nähe zu den Kollegen in der juristischen, eine Seite, welche die Nähe zu den Kollegen in der historische Fakultät suchte. Und dies führte dazu, dass auch die Forschung zur Pandektenwissenschaft eigentlich bis heute zweigeteilt blieb. Einerseits diejenigen, die Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts betrieben, andererseits diejenigen, die Geschichte des Römischen Rechts betrieben. Die einen lasen die Pandektenwissenschaft in ihrem Kontext, die anderen aus einer gemeinsamen Beschäftigung mit den antiken Quellen heraus. Und man sprach nicht miteinander, weil die eine Seite der anderen vorwarf, unhistorisch zu arbeiten, und die andere der einen, die römischen Quellen nicht zu kennen. Beide argumentierten mit Wissenschaftstheorie und wer die Apodiktik betrachtet, mit der man sich die gegenseitigen Standpunkte als wissenschaftstheoretisch verfehlt vorhielt, der fragt sich heute, ob hier nicht zwei Kulturen aufeinanderprallten und alles eher wenig mit Wissenschaftstheorie zu tun hatte. Wissenschaftstheorie ist ja eigentlich kaum für absolute Wahrheiten tauglich, da sie selbst ja eine Wissenschaft, nicht eine Wahrheit ist. In gewisser Weise wurden damit die Pandektenwissenschaftler in ihre zwei Seelen zerrissen. Einerseits waren sie die meiste Zeit mit der Interpretation antiker Quellen beschäftigt, also mit dem, was die moderne Romanistik an ihnen interessiert. Anderer31  Pio Caroni, Der Schiffbruch der Geschichtlichkeit. Anmerkungen zum Neo-Pandektismus, in: ZNR 16 (1994), S.  85–100, hier S.  85.

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Hans-Peter Haferkamp und Tilman Repgen

seits wissen wir auch, wie intensiv sich Savigny, Puchta, Huschke, Kuntze, Keller, Bluhme, Bethmann-Hollweg, später etwa Bekker, Gustav Rümelin oder Zitelmann mit zeitgenössischer Wissenschaftstheorie beschäftigt haben. Man kann sich ihnen also ganz legitim von zwei Seiten nähern. Theorie und Praxis. Und das sollte man am besten zusammen tun. Zu den wirklich erfreulichen Entwicklungen der letzten Jahre gehört, dass diese Gräben zunehmend verschwinden. Man ist als Wissenschaftshistoriker nicht mehr Germanist und unter Brunner begraben und arbeitet schon gar nicht einfach nur kontemplativ. Romanisten betreiben gleichfalls nicht einfach applikative Dogmengeschichte, sondern bilden ein breites Spektrum methodischer Zugänge ab. Oft ist es gar nicht so einfach zu entscheiden, ob ein Beitrag in die Romanistische oder die Germanistische Abteilung der Savigny-Zeitschrift gehört. Uns schien es also ganz dringend an der Zeit, die alten Gegensätze zu überbrücken und möglichst viele Kenner der Pandektenwissenschaft miteinander sprechen zu lassen – egal, wo sie sich selbst in den ehemaligen Methodenlagern verorten. Wichtig war nur, eine gemeinsame Basis zu finden – und das sind konkrete dogmatische Probleme. Hier treffen sich die römischen Quellen einerseits und die Methode andererseits und hier lässt sich auch die Frage am ehesten beantworten, ob es so etwas gab wie eine Methode der Pandektistik. Ein solches Unterfangen schien uns vor allem deshalb besonders glücklich, weil wir Klaus Luig ehren wollten. Kaum jemand ist wohl besser geeignet, um die Absurdität vieler früherer Grenzziehungen zu zeigen. Klaus Luig ist gelernter Romanist, forscht aber kaum in der Antike. Das eigentlich germanistische Naturrecht hat ihn nie in der hier vorherrschenden philosophischen Perspektive interessiert, sondern der eigentlich romanistische Blick auf die Dogmatik. Diese wiederum hat er nicht eigentlich romanistisch als Aufeinanderfolge dogmatischer Lösungsmodelle betrieben, sondern immer auch stark mit Blick auf den wirtschaftlichen und sozialen Kontext, also irgendwie auch germanistisch. Zugleich hat er das germanistische Naturrecht nie scharf vom romanistischen Usus Modernus getrennt, sondern beides oft zusammen untersucht. Im Umfeld des germanistischen Romanisten Coing wuchs Luig frei von diesen Einordnungen auf und hat sich stets frei von ihnen bewegt. Wer heute Luigs Artikel „Pandektenwissenschaft“ im dritten Band des HRG aus dem Jahr 1984 liest und dort die zu diesem Zeitpunkt fast überall noch dominierenden alten Klischees zu finden hofft, wird enttäuscht sein. Hier breitet ein Kenner ein ganzes Panorama von Themen der Forschungen zur Pandektistik aus, immer ausgewogen, vorsichtig, aber stets klar und nie am vorschnellen Urteil interessiert. Und ganz typisch: Die Dogmatik bleibt immer im Blick. Und in diesem Zusammenhang fällt ein Satz, den wir an den Beginn unserer gemeinsamen Arbeit setzen möchten: „Die P[andektenwissenschaft] ist bisher vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der vorstehend geschilderten Prinzipien, Methoden und ideengeschichtlichen Grundlagen Ge-

„Wie pandektistisch war die Pandektistik“? – Einleitung

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genstand der Forschung gewesen. Der materielle Gehalt des pandektistischen Vertragsrechts, Deliktsrechts und Mobiliarsachenrechts ist zwar in zahlreichen monographischen Arbeiten untersucht worden, die jedoch noch keine zusammenfassende Würdigung gefunden haben […] Wegen dieser Forschungslücke besteht nach wie vor eine gewisse Unklarheit in der Bewertung der P[andektenwissenschaft].“32

II.  Die Art des Zugriffs Versucht man, die soeben beschriebene „Unklarheit“ über die Bewertung dessen, was eigentlich die Pandektenwissenschaft ausmacht, zu beseitigen, so könnte man sich in eine ganz abstrakte Begriffsanalyse begeben. Die Leistungsfähigkeit oder Leistungsunfähigkeit eines Begriffs wie „Pandektistik“ muss sich aber immer an konkreten Quellen erweisen. Gut geeignet ist eine „Rückkoppelung“ an dogmatische Einzelfragen. Dieser Zugriff hat viel mit der Arbeitsweise des Jubilars zu tun, der stets gern einen „Lackmustest“ für die großen Thesen der Rechtstheorie gefordert hat. Beispiele, konkrete dogmatische Fragen und deren Lösungen helfen ungemein, wenn es darum geht, die Historiographie des Rechts zu verdeutlichen. Das sei zunächst anhand einer kleinen Probe erläutert: In der Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 2014 findet man unter anderem einen Aufsatz von Corjo Jansen zum Eigentumsrecht und Gemeinschaftsdenken 33. Dort liest man: „Das moderne europäische Eigentumskonzept wurde in der Blütezeit des Liberalismus gebildet, das heißt ab ungefähr 1850. Es weist pauschal vier Merkmale auf: Totalität, Abstraktheit, Absolutheit und Unendlichkeit.“34

Und wenig später: „Heutige deutsche Rechtshistoriker teilen die Betrachtungsweise … Sie betrachten die Definition des Eigentumsrechts in §  903 BGB als eine liberale Schöpfung, die die pandektistische Eigentumsauffassung widerspiegelt.“35

Ist eine „pandektistische“ Eigentumsauffassung auf eine besondere Art und Weise begründet? Hat sie eine politische Orientierung? Corjo Jansen bringt ein Windscheid-Zitat, um zu erklären, was „pandektistisches Eigentum“ sei36 . Dort heißt es:

32  Klaus Luig, Art. Pandektenwissenschaft, in: HRG III (1984), Sp.   1422–1431, hier Sp.  1429. 33  Corjo Jansen, Eigentumsrecht und Gemeinschaftsdenken im 20. Jahrhundert: Deutsche Inspiration und niederländische Nachahmung, in: ZNR 36 (2014), S.  246–260. 34  Jansen, Eigentumsrecht und Gemeinschaftsdenken (wie Fn.  33), S.  247. 35  Jansen, Eigentumsrecht und Gemeinschaftsdenken (wie Fn.  33), S.  249. 36  Jansen, Eigentumsrecht und Gemeinschaftsdenken (wie Fn.  33), S.  250.

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Hans-Peter Haferkamp und Tilman Repgen

„Das Eigenthum ist als solches schrankenlos, aber es verträgt Beschränkungen.“37

Sogleich folgt aber auch der Widerspruch Dernburgs, der gemeint hatte, das Eigentum sei „durch die Rücksicht auf die Gesellschaft beeinflußt und rechtlich gebunden“38 . Ist Dernburg nun weniger „pandektistisch“ als Windscheid – oder vielleicht gar kein Pandektist? Für Corjo Jansen offenbar ja. Luig hat Dernburg allerdings wiederholt als „Spätpandektisten“ tituliert 39. Letztlich wird über den Begriff „pandektistisch“ eine Wertung transportiert, die das 19. Jahrhundert vornahm, ohne dass diese auch heute noch überzeugen muss. Rudolph Sohm erklärte 1874: „Das römische Privatrecht will die Freiheit der Privatperson durch die Freiheit des Eigenthums erreichen. Das römische Eigenthum ist ein grundsätzlich unbeschränktes und unbeschränkbares Eigenthum. … Ganz anders im deutschen Recht. Das deutsche Eigenthum vermag ein beschränktes Eigenthum zu sein.“40

Wie leicht überliest man das Wörtchen „grundsätzlich“ bei Sohm! Damit befindet man sich in einer Art der Fragestellung, die die Arbeitsweise des Jubilars kennzeichnet. Es sind „große“ Fragen der Dogmatik, Rechtstheorie und Methode, die aus ihrer „kahlen“41 Abstraktion gelöst werden und mit konkreten, in der Regel dogmengeschichtlichen Fragen verbunden werden. Als Belegstücke mögen seine Studien zum Naturrecht der frühen Neuzeit dienen42 . Die Systementwürfe der Naturrechtler bleiben so nicht theoretische Gebilde rein philosophischer Art, sondern werden immer wieder auf die Auswirkungen 37  Bernhard Windscheid/TheodorKipp, Lehrbuch des Pandektenrechts, 8.  Aufl. Frankfurt am Main 1900, Bd. 1, §  167, S.  757. 38  Jansen, Eigentumsrecht und Gemeinschaftsdenken (wie Fn.  33), S.  250 mit Bezug auf Dernburg, Pandekten, I, 7.  Aufl. 1902, §  192 Anm.  7. 39  Klaus Luig, Heinrich Dernburg (1892–1907). Ein „Fürst“ der Spätpandektistik und des preußischen Privatrechts, in: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, hrsg. von Helmut Heinrichs, Harald Franzki, Klaus Schmalz und Michael Stolleis, München 1993, S.  231–247; ders., Der Spätpandektist Heinrich Dernburg als Begründer der Wissenschaft vom preußischen Privatrecht, in: 200 Jahre Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten. Wirkungsgeschichte und internationaler Kontext, hrsg. von Barbara Dölemeyer und Heinz Mohnhaupt, Frankfurt am Main 1995, S.  211–237 und in: Nihon University Comparative Law 12 (1995), S.  1–12. 40  Rudolph Sohm, Die deutsche Rechtsentwickelung und die Codifikationsfrage, in: Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart 1 (1874), S.  245–280, hier S.  248 f. 41  Den Ausdruck verwendet Otto Gierke, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das deutsche Reich, Leipzig 1889, S.  3, für den Charakter des gelehrten Rechts. 42 Insbesondere: Klaus Luig, Das Privatrecht von Christian Thomasius zwischen Absolutismus und Liberalismus, in: Christian Thomasius, 1655–1728, hrsg. von Werner Schneiders, Hamburg 1989, S.  148–172; ders., Die Pflichtenlehre des Privatrechts in der Naturrechtsphilosophie von Christian Wolff, in: Libertas. Grundrechtliche und rechtsstaatliche Gewährungen in Antike und Gegenwart. Symposion aus Anlaß des 80. Geburtstages von Franz Wieacker, hrsg. von Okko Behrends und Malte Diesselhorst, Ebelsbach 1991, S.  209–261; ders., Die Wurzeln des aufgeklärten Naturrechts bei Leibniz, in: Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution, hrsg. von Otto Dann und Diethelm Klippel, Hamburg 1995, S.  61–79. Alle drei Arbeiten auch in: Klaus Luig, Römisches Recht, Naturrecht, Nationales Recht, Goldbach 1998, unter Nrn.  10–12.

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in der Dogmatik befragt. Erst an Probestücken konkreter Dogmatik erweist sich die Kraft und Tragweite der jeweiligen Rechtstheorie, wenn sie nicht im mephistophelischen Sinn „grau“ bleiben möchte43. Für das 19. Jahrhundert sei etwa an den Aufsatz in der Festschrift Kroeschell erinnert, in dem Luig dem Begriff des Sozialen nachgegangen ist44. Einem angeblich liberalistischen Eigentumsbegriff des BGB wird gern in der Literatur des 20. Jahrhunderts eine „soziale Pflichtgebundenheit aller Privatrechte“ gegenübergestellt45. Ganz in der Deutung Hedemanns46 macht man eine „Entwicklung von liberaler zu sozialer Gestaltung“ des Privatrechts aus47. Aber überzeugt das heute noch? Bleibt man beim Beispiel des Eigentums, so ist im 19. Jahrhundert unbedingt die Verfassungsentwicklung mitzuberücksichtigen – insbesondere die Paulskirche. Dort erklärt §  164 I der Frankfurter Reichsverfassung das Eigentum für „unverletzlich“. Ist das aber auch schon immanent „unbeschränkt“? So möchte man vielleicht auf den ersten Blick glauben, aber dahinter steckte Georg Beseler, der gemeint hatte: „Jedes Recht ist ein gebundenes, – gebunden durch Pflichten“48 . Nehmen wir als Beispiel Georg Friedrich Puchta, den Schüler und Nachfolger Savignys49. In seinem Pandektenlehrbuch heißt es: 43  „Grau lieber Freund ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum“, in: Faust 1, Studierzimmer II, Mephistopheles zum Schüler in: Johann Wolfgang Goethe, Faust-Dichtungen, Bd. 1, hrsg. von Ulrich Gaier, Stuttgart 1999, S.  89 (Z.  2038–39). Grau erscheint in der Darstellung des Mephistopheles die Wissenschaft, da sie den Menschen in festgefügte Gedankengebäude sperre, ohne zu wirklicher Erkenntnis des menschlichen Lebens vorzudringen. 44  Klaus Luig, Die sozialethischen Werte des römischen und germanischen Rechts in der Privatrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts bei Grimm, Stahl, Kuntze und Gierke, in: Wege europäischer Rechtsgeschichte. Karl Kroeschell zum 60. Geburtstag dargelegt von Freunden, Schülern und Kollegen, hrsg. von Gerhard Köbler, Frankfurt am Main 1987, S.  281–307. 45  Z. B. Gustav Böhmer, Einführung in das bürgerliche Recht, 2.  Aufl. Tübingen 1965, §  35, S.  345. 46  Z. B. Justus Wilhelm Hedemann, Das Bürgerliche Recht und die neue Zeit. Rede, gehalten bei Gelegenheit der akademischen Preisverleihung in Jena am 21. Juni 1919, Jena 1919, insbesondere S.  12 ff. 47  Böhmer, Einführung (wie Fn.  45), S.  361. 48  Hier zitiert nach Bernd-Rüdiger Kern, Georg Beseler. Leben und Werk, Berlin 1982, S.  104. Ähnlich auch Beseler im Zusammenhang mit der Pressefreiheit, in: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Deutschen Constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Bd. 3. 1848, hrsg. von Franz Wigard, Frankfurt am Main 1848, S.  1614: „Es ist fast peinlich für mich, daß ich stets hier auf der Tribüne stehe als Vertheidiger dessen, was, wie es scheint, die Freiheit einschränken soll, in Fragen, wo der Ausschuß nicht soweit hat gehen wollen, als andere Mitglieder der hohen Versammlung, und wo ich diese weniger weitgehenden Anträge des Ausschusses vertreten muß; aber ich sehe es nicht blos für eine Pflicht an, die mir formell als Berichterstatter des Ausschusses obliegt, sondern ich halte dafür, daß wirklich der Freiheit gedient wird, wenn man derselben ihre Grenzen und ihr Maaß gibt, und ich bin überzeugt, daß dieß auch für die Presse nothwendig ist.“ (Hervorhebung von TR). 49 Bei Savigny, System, Bd. 1, S.  367 lautet die Definition: „unbeschränkte und ausschließliche Herrschaft einer Person über eine Sache“.

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„Das Eigenthum ist die volle rechtliche Unterwerfung einer Sache, die vollkommene rechtliche Herrschaft über einen körperlichen Gegenstand.“50

Das klingt nach einem absoluten Eigentumsbegriff. Freilich darf man diesen Satz nicht allein zitieren, da es wenige Zeilen später heißt: „Es ist aber eine Beschränkung (und zwar des Eigenthums selbst, nicht blos des Eigenthümers) möglich, sie besteht in der Herausnahme von Befugnissen, die an sich im Eigenthum liegen.“51

Schon diese wenigen Bemerkungen zeigen, dass es vielleicht doch gar nicht so klar ist, wann Eigentum pandektistisch ist.

III.  Die Pandektistik als ein „Treibhaus rechtswissenschaftlicher Ideen“ – Erträge einer Diskussion Die Kölner Tagung brachte im Gespräch zwischen den beteiligten Wissenschaftlern aus verschiedenen rechtshistorischen Disziplinen und unterschiedlichen Ländern ein ganz buntes Bild von der Epoche des 19. Jahrhunderts, die wir hier zunächst als „Pandektistik“ bezeichnet haben. Dieses Bild haben wir in einer Schlussdiskussion zusammengesetzt und es mag nützlich sein, die damals geäußerten Gedanken hier wiederzugeben 52 . Es ging darum, Kennzeichnendes über die Epoche zu formulieren, die ein „Treibhaus für rechtswissenschaftliche Ideen war“.

1.   Ad fontes – Umgang mit Quellen So könnte man als eine erste These eine im 19. Jahrhundert neue Art der Exegese, des Umgangs mit den Quellen konstatieren. Es war die Rede davon, man habe „souverän die Quellen gehorchen lassen“. Deutet eine solche Analyse eher auf eine gewisse Herrschaft über die Quellen, so betonten andere, es sei wie beim Ruf der Humanisten „ad fontes“ gerade um „Quellentreue“ gegangen, die zusammen mit „Systematik“ und „Sachgerechtigkeit“ die wichtigste Antriebskraft gewesen sei. „Reines römisches Recht“ sollte gleichsam ein „Urbild des Rechts“ sein, zu dessen Auffindung ein „Pluralismus der Erkenntniswege“ geführt habe. 50 

Georg Friedrich Puchta, Pandekten, 9.  Aufl. Leipzig 1863, §  144, S.  219. Puchta, Pandekten (wie Fn.  50), §  145, S.  220. 52  Die hier zum Teil wörtlich, zum Teil umschreibend wiedergegebenen Gedanken sind von unterschiedlichen Teilnehmern der Tagung mündlich geäußert worden. Die Urheberschaft wird hier jedoch nicht namentlich zugeordnet, da keine Wortprotokolle geführt worden sind und eine nachträgliche Autorisierung nicht möglich erscheint. Die Äußerungen wurden jedenfalls so von den beiden Herausgebern aufgefasst. 51 

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2. Verhältnis zum Naturrecht In einer stärker historisierenden Betrachtungsweise erschien die pandektistische Dogmatik hingegen als eine Fortsetzung der Trends des Naturrechts, die aber dadurch verdeckt worden seien, dass man jetzt mit einem direkten Rückgriff auf Justinian ohne die Vermittlung der Tradition auszukommen suchte. Ist diese Beobachtung richtig, so müsste man einen wichtigen Gesichtspunkt der im 20. Jahrhundert leitenden Erzählung über die Pandektenwissenschaft korrigieren, wie er noch prominent in Franz Wieackers Privatrechtsgeschichte begegnet, da das Naturrecht alles andere als eine entethisierte Privatrechtswissenschaft enthielt, wie sie aber für die „lebensfernen“ und sozial „blinden Begriffsjuristen“ angenommen wurde. Die Beziehung zwischen Naturrechtssystem und römischer Quellenexegese in der Pandektenwissenschaft wurde mit dem schönen Bild von „Webfäden“ verbunden. Dem römischen Recht im 19. Jahrhundert wurde in Köln attestiert, es stehe „unter einer Philosophie“, habe die Begriffe des Naturrechts fortentwickelt und sei dabei nicht ins Mittelalter zurückgefallen, sondern habe sie mit römischen Quellen „unterfüttert“. Das habe im Ergebnis dann doch zu neuen Konzepten geführt.

3. Systematik, Verwissenschaftlichung Mit diesen neuen Konzepten verbunden sind eine eigene Systematik und strenge „Verwissenschaftlichung“ des Rechts. Wichtig für die Systematisierungsleistung ist der Begriff des „Rechtsinstituts“, der geradezu ein „Pandektismus“ sei. Es entstand eine im Vergleich zu den antiken Quellen abstrakte Begrifflichkeit. Was in der Antike noch unsystematisch und fallbezogen gedacht wurde, gerinne nun, so hieß es, zu einem begrifflichen System, das in extremer Weise – philosophisch beeinflusst – von der Vielfalt der Realität menschlicher Verhältnisse abgesehen habe. Als konkretes Beispiel für diese These diente etwa der Begriff des Rechtsgeschäfts, der bei den Römern eben nur in Gestalt einzelner Typenverträge präsent, bei den Pandektisten aber in die Abstraktheit zweier übereinstimmender Willenserklärungen entwickelt worden sei. Es war die Rede von einer „Rationalisierung der Rechtserfahrung“, von „Systemleistung“, von dem Verständnis des römischen Rechts als „richtiger Wissenschaft“, die nach der Wahrheit des Rechts im oben erwähnten „Treibhaus“ suche.

4. Pandekten und Leben Die Wahrheitsfrage verweist zugleich zurück auf die Beziehung von „Leben“ und „Recht“ im Pandektenrecht oder der Pandektenwissenschaft. Letztere Begriffe solle man tunlichst an die Stelle des hohlen Kampfbegriffs „Pandektis-

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tik“, der mehr eine Chiffre für Politik sei, setzen. Darüber waren sich die Teilnehmer der Kölner Tagung ziemlich einig, was nicht davon abhielt, Thesen zur Differenz zwischen „Pandektisten“, die nach der „richtigen Lösung“ suchten und „Romanisten“, die in den Quellen einen Rechtsgedanken finden, zu formulieren. Die Pandektenrechtler hätten, so hieß es, eine assimilatio des römischen Rechts in melius angestrebt, „von selbst“ (um die Begrifflichkeit Savignys aufzugreifen) das Universelle im Recht erschlossen und dabei durchaus das „praktische Bedürfnis“ im Blick behalten. So gebe es schließlich keine Wahrheit, was ein Pandektist sei. Nötig sei vielmehr eine Nominaldefinition, die auf die Zugehörigkeit zur historischen Rechtsschule abstelle.

IV.  Übersicht über die Beiträge zum Sammelband Die im vorhergehenden Abschnitt zusammengefassten, thesenartigen Erträge der Diskussionen finden sich mit unterschiedlichen Nuancen und Schwerpunktsetzungen in den Beiträgen zu diesem Sammelband wieder, über deren Inhalt hier abschließend ein kurzer Überblick gegeben werden soll. Dabei orientiert sich die Reihenfolge im Druck am Verlauf der Tagung in Köln: Der österreichische Gelehrte Joseph Unger war vielleicht der prominenteste Vertreter der historischen Rechtsschule in Österreich im 19. Jahrhundert. Auf ihn, der als „Pandektist“ gilt, konzentriert sich Franz-Stefan Meissel in seinem Beitrag. Meissel arbeitet heraus, dass auch für Unger das Bild vom Juristen, der lebensfern die Digesten solange bearbeitet, bis er eine begrifflich stimmige Lösung findet, kaum passend ist. Ein sehr deutliches Beispiel ist die wirkmächtige Lehre Ungers über den Vertrag zugunsten Dritter, den Unger gerade auf ein ethisches Prinzip (aliis prodesse) gründet. Meissel versteht Unger als „pluralistisch-eklektisch“, keineswegs festgelegt auf eine strenge historische Methode. Die Pandektenwissenschaft war kein auf Deutschland allein begrenztes Phänomen. Martin Avenarius hat seinen Blick auf das russische Zarenreich des 19. Jahrhunderts gelenkt und dort eine „Neigung … zu Systembildung und Entwicklung einer kohärenten Begrifflichkeit bei einer gewissen Lösung von den eigentlichen Rechtsquellen“ festgestellt. Für russische Juristen war die „eigentliche“ Rechtsquelle das Svod Zakonov (1835), das als Gesetz abschließend und widerspruchsfrei zu sein beanspruchte, zugleich aber auch nicht ausgelegt werden durfte. Die Juristen suchten den Ausweg in der Ausbildung einer eigenständigen Dogmatik nach dem Vorbild der Pandektenwissenschaft in Deutschland. Allerdings konnten sie dabei nicht behaupten, eine Dogmatik des geltenden Rechts auszuformulieren. Sie bezeichneten Rechtsgrundsätze, die sie aus dem römischen Recht ableiteten, als „Dogma“ und maßen ihnen universelle Geltung zu. Anders als im Westen Europas macht Avenarius bei den russischen Juristen eine größere Bereitschaft aus, in den antiken Quellen eine Theorie, nicht aber

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„Fallrecht“ zu sehen. Bei Sergei Muromcev, einem Schüler Jherings, auf dessen Werk Avenarius näher eingeht, führt diese Form der Dogmatik zur Ausbildung eines soziologischen Rechtsdenkens, das möglicherweise später für das Werk Ehrlichs Relevanz hatte. Marju Luts-Sootak richtet das Interesse des Lesers auf das Baltikum. Ob man dort von einer Pandektenwissenschaft im 19. Jahrhundert sprechen sollte, ist nicht so einfach auszumachen. Seit dem 1. Juli 1865 galt im Baltikum eine eigene Privatrechtskodifikation. Carl Eduard Erdmann (1841–98) bezeichnete seine Erläuterungen dieser Kodifikation als „konstruierend“. Luts-Sootak stellt fest, der wissenschaftliche Anspruch der Pandektistik habe es möglich gemacht, trotz einer Kodifikation das gesamte Privatrecht systematisch darzustellen, dabei auf die römischen Rechtsquellen zurückgreifend. Diese hatten nach Erdmann subsidiäre Geltung im Verhältnis zum Gesetz. Zugleich baute die Kodifikation auf dem gemeinen Recht auf. Ein gutes Indiz für eine „Pandektisierung“ ist die Übernahme der Idee des Allgemeinen Teils, die Erdmann abweichend von der Legalordnung in seiner systematischen Behandlung des baltischen Privatrechts verwendet. Dennoch bleibt Luts-Sootak hinsichtlich der Einordnung unentschieden, weil derlei systematische Leistungen nicht ausschließlich ein Kennzeichen der Pandektenwissenschaft gewesen seien. Vorzugswürdig ist in ihren Augen die methodische Charakterisierung durch den Begriff der „Kon­ struktivität“. Das Gebiet der Rechtsgeschäftslehre wählt Riccardo Cardilli, um über Fortwirkungen der Lehren des Vernunftrechts bei den Pandektenrechtlern des 19. Jahrhunderts nachzusinnen – hierher gehören der Hang zur Verallgemeinerung und Abstraktion sowie eine eher individualistische Interpretation. Methodisch beschritt man zwar im 19. Jahrhundert neue Wege, indem man unmittelbar auf die antiken Quellen rekurrierte. Ideologisch habe man, so Cardilli, implizit die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts gefördert. Zentral wichtige Begriffe des auf die Pandekten gestützten Privatrechts seien: Rechtssubjekt, Rechtsobjekt, Willenserklärung als Kern des Rechtsgeschäfts und Rechtsverhältnis – alle ziemlich abstrakt und allgemein, geeignet, um in einem Allgemeinen Teil, herausgelöst aus der Komplexität des römischen Rechts, dargestellt zu werden. Anhand der Rechtsgeschäftslehre und des Begriffs der Obligation werden dann diese Thesen überprüft. Der Beitrag von Ulrich Falk nähert sich der Frage nach der Pandektistik nicht ausgehend von der Seite lehrhafter Dogmatik, sondern er zeigt, dass auch in der Zeit des 19. Jahrhunderts die Rechtspraxis handfeste Antworten auf drängende Fragen finden musste. Zu bedenken ist, dass die Akteure in den Gerichten überall an den Pandekten geschult worden waren. Dennoch waren die Richter keineswegs blind für die Realitäten des Alltags, wie es das Zerrbild eines Pandektisten vielleicht erwarten lassen würde. Falk erinnert daran, dass die Kritik bereits zeitgenössisch etwa von Ernst Fuchs oder – noch prominenter – von

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Rudolph von Jhering geäußert worden war. Falk wendet sich in seinem Aufsatz gegen die negativen Zuschreibungen einer konstruierenden, abstrakt-lebensfremden Rechtslehre, die bis heute von der Pandektistik auf das Konkursrecht übertragen werden. Falk spricht sich demgegenüber für eine nüchterne Verwendung des Begriffs Pandektenwissenschaft aus, der sich auf die Privatrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts bezieht, die als Textreferenz das Corpus iuris civilis verwendete. Er weist aber auch darauf hin, dass es illusorisch wäre anzunehmen, die alten Zerrbilder hätten sich in der Kritik, die daran seit ungefähr dreißig Jahren geübt wird, aufgelöst. Mit seiner Studie zum Konkurs der Waldbrauerei in der Nähe von Bergedorf bei Hamburg liefert Falk nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des Konkursrechts, sondern zugleich eine Antwort auf die Frage, wie pandektistisch die Pandektistik war – in der Rechts­ praxis des Konkursrechts am Beispiel der Waldbrauerei-Insolvenz muss die Antwort lauten: gar nicht. Das Reichsgericht war ganz und gar sachorientiert, mit den Schwierigkeiten der Insolvenzverwaltung durchaus vertraut, lebensnah und erging sich nicht in abstrakter Begriffshuberei. Wie es der Art des Zugriffs, die oben geschildert worden ist, entspricht, bietet der Beitrag Falks zugleich auch einen reichen Ertrag für die Geschichte der Haftung des Konkursverwalters seit der Konkursordnung, die 1879 in Kraft getreten ist. Die auch in anderen Beiträgen, z. B. bei Cardilli, konstatierten Verbindungen von Naturrecht und Pandektenwissenschaft werden intensiv von Nils Jansen aufgedeckt. Wie unter einem Vergrößerungsglas die einzelnen Fäden eines Gewebes deutlich werden, so bei Jansen die Anleihen des Pandektenrechts beim Naturrecht. Ausgangspunkt ist für ihn eine Kritik Windscheids an einer gewissen Verabsolutierung der (antiken) römischen Quellen. Man müsse, so Windscheid, eben auch spätere Entwicklungen als „berechtigt und lebensfähig“ an­ erkennen. Aus dem vernunftrechtlich geprägten Bemühen um abstrakte Rechtsbegriffe habe sich, so Jansen, für die Pandektistik ein besonderes Spannungsverhältnis zu den antiken Quellen ergeben. Dieses sei aber – im Unterschied zur heutigen Situation – eben nicht nur historisch, sondern auch juristisch bedeutsam gewesen. Ein erstes Beispiel ist für Jansen die „Bereicherung aus unserem Vermögen“ im Sinne einer Generalklausel, die Savigny mit dem Begriff des Eigentums verbunden hatte. Hier sieht Jansen die Restitutionslehre am Werk, die zunächst in der spanischen Spätscholastik aus der Moraltheologie heraus entwickelt und dann etwa von Pufendorf und Wolff aufgenommen worden war. Ohne das weite Verständnis des Begriffs dominium als einer umfassend geschützten subjektiven Rechtsposition wäre die Bereicherungsdogmatik Savignys kaum plausibel. Aus derselben Wurzel erwuchs nach Jansen auch die Lehre von den „unerlaubten Handlungen“, die „scheinbar unverbunden neben dem römischen Deliktsrecht“ gestanden habe. Ein drittes Beispiel für die Verbindung der Dogmatik des 19. Jahrhunderts mit dem Naturrecht ist schließlich der hier anhand von Friedrich Mommsen demonstrierte Begriff des „ganzen

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Interesses“. Insgesamt konstatiert Jansen, dass die Pandektisten „Fäden unterschiedlichster Herkunft“ in ihren Lehren verwoben hätten, darunter eben auch solche aus dem Naturrecht. „War Christian Friedrich Mühlenbruch ein Pandektist“, so fragt Boudewijn Sirks in seinem Aufsatz, anknüpfend an die Charakterisierung der Methode Mühlenbruchs durch Klaus Luig als „historisch-philologisch“. Sirks sieht bei den Pandektisten eine Suche nach neuen Regeln, nicht neuen Argumenten am Werk. Mühlenbruch habe, wie auch schon manche vor ihm, seine Aufmerksamkeit auf das antike römische Recht gelenkt, aber anders als manche Autoren seit Heineccius nach dem Vorbild von Karl Christoph Hofacker nicht mehr im Institutionenschema, sondern in einer neuen wissenschaftlichen Systematik, dabei diesen Quellen auch die Inhalte, nicht nur die Art und Weise des Umgangs mit dem Recht entnehmend. Dadurch sei es zu einer „ungeheuere[n] Vertiefung der Rechtswissenschaft“ gekommen. Mühlenbruch bot durch die Verortung der Zession im System der Rechtsverhältnisse etwas Neues, aber, wie Sirks herausarbeitet, ohne selbst ein solches System in Gänze zu entwerfen. Joachim Rückert überschreibt bewusst doppeldeutig seinen Aufsatz mit „Pandektistische Leistungsstörungen?“, da es nicht nur um die Dogmatik des Leistungsstörungsrechts geht, sondern auch darum, ob diese pandektistisch im polemischen Sinne (d. h. abstrakt, formalistisch, begriffsfixiert, lebensfremd, unsozial und unpolitisch) war und vielleicht selbst eine Leistungsstörung hatte. Rückert sieht in der Kritik an der Pandektenwissenschaft einen „normativen Wertungskampf“. Der Rückgriff auf ein konkretes dogmatisches Problem, hier die Leistungsstörungen, soll davor bewahren, die Methode mit solchen Wertungen zu verdecken. Hauptquelle sind für Rückert die Lehren Savignys, die er in seinen Vorlesungen zu diesem Thema entwickelt hat. Sie prägten, so Rückert, stark das spätere BGB. Ausgangspunkt der Überlegungen ist eine distinctio von Irnerius, die zwar die Probleme klar kategorisiert, aber eben doch keine allgemeine, prinzipiengeleitete Antwort enthielt. Diese wurde erst durch wichtige Beiträge von Heise und insbesondere Savigny möglich. Ihre Leistung betraf zunächst einmal die Systematisierung durch „Potenzierung“ der Abstraktion im Vergleich zum Irneriustext. Deutlich wird das vor allem in Savignys Pandektenvorlesung von 1824/25, in der bereits die Unmöglichkeit zum zentralen Oberbegriff des Leistungsstörungsrechts avancierte. – Rückert lenkt sodann den Blick auf die materiale Seite des Prinzips, die er in der Zurechnung der Störung aufgrund von Verantwortung für freies, kausales Handeln sieht. Das im Zusammenhang mit der Pandektenwissenschaft wenig beachtete Zivilprozessrecht stellt Thomas Rüfner in den Mittelpunkt seines Beitrags. Anhand von drei Beispielen untersucht er den erwartungsgemäß geringen Einfluss der Pandektistik auf das Prozessrecht. An der gemeinrechtlich üblichen Ausschließlichkeit des Gerichtsstands der belegenen Sache ließ ein Quellenfund in Gestalt von Frag. Vat. 326 zweifeln, der für eine lebhafte Diskussion sorgte und

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namhafte Wissenschaftler veranlasste, sich von der bisherigen Tradition abzuwenden. Hinsichtlich des praktisch wichtigen Zeitpunktes der litis contestatio waren es Savigny und Wetzell, die sich ohne Zögern aufgrund eines „unabweisbaren Bedürfnisses“ über die antiken Quellen hinwegsetzten. Als einen Ausdruck von Begriffs- und Konstruktionsjurisprudenz kritisierten schon Zeitgenossen die strikte Umsetzung des Mündlichkeitsprinzips in der Reichszivilprozessordnung von 1877, ohne dass sich das aus den Quellen nachweisen ließe. Die ältere Gesetzgebung hatte längst den Weg zum Mündlichkeitsprinzip geebnet. Die Anwendung von Savignys Methodenprogramm auf seine Dogmatik stellt Martin Schermaier in den Mittelpunkt seines Beitrags. Das Programm ist die Ableitung der Rechtssätze aus der geschichtlichen Erfahrung. Sie bietet Savigny zugleich das Potenzial zur Kritik des zeitgenössischen Rechts. Allerdings bleibe, so Schermaier, offen, wie sich erweist, welche Bestände geschichtlichen Rechts künftig gelten sollten. Zwar greife Savigny auf das antike Recht zurück, aber seine konkreten Lösungen seien „regelmäßig vernunftrechtlich geprägt“, eine Beobachtung, die auch im Aufsatz von Nils Jansen in diesem Band geteilt wird. Schermaier exemplifiziert das anhand der Begriffe Besitz, Verjährung, „unächter“ Irrtum und der Folgen nachträglicher Unmöglichkeit. Die historische Methode erscheint danach inkonsistent: Manchmal erweist sich die Argumentation als quellentreu, manchmal wird den Quellen eine zeitgenössische Dogmatik unterlegt. Manchmal dienen die römischen Quellen aber auch dazu, überkommene Lehren zu verdrängen. Jan Schröder unternimmt es, dem Formalismus-Vorwurf gegen die Pandektenwissenschaft mit einer Überprüfung ihres Verhältnisses zu einer materialen Gerechtigkeitsforderung zu begegnen. Es geht ihm um die Rolle der Aequitas in der Rechtstheorie des 19. Jahrhunderts, um ihre Funktion der Ergänzung lückenhaften oder der Korrektur unbilligen Rechts. Die Aequitas erscheint in der Pandektistik nicht mehr wie bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts als eine ergänzende Rechtsquelle, sondern sie wird integraler Bestandteil des positiven Rechts selbst, das seinerseits wiederum am Maßstab der Gerechtigkeit gemessen werden möchte. Aber einem direkten Rückgriff auf Billigkeitsvorstellungen scheint die Pandektenwissenschaft verschlossen gegenüber zu stehen. Das gilt auch, soweit es um die Korrektur im Einzelfall zu hart erscheinender Gesetze geht. Anders verhielt sich die Pandektenliteratur aus Billigkeitserwägungen nur in den Fällen restriktiver Gesetzesauslegung. Hier erscheine, so Schröder, „die pandektistische Auslegungstheorie als solche so liberal und unformalistisch, wie man es sich als Aequitas-Freund nur wünschen“ könne.

Joseph Unger und das Römische Recht – Zu Stil und Methoden der österreichischen „Pandektistik“ Franz-Stefan Meissel I. Einleitung Zu einer Tagung anlässlich des 80. Geburtstages Klaus Luigs beizutragen, ist für mich als österreichischen Privatrechtshistoriker eine besondere Ehre. Zunächst einmal, weil Luigs Schriften mich schon lange begleiten und er nicht nur zur Pandektistik1, sondern auch zur österreichischen Privatrechtsgeschichte allgemein 2 sowie speziell zu Unger als Dogmatiker3 mit seinen Untersuchungen vielfach beigetragen hat. Der zweite Grund der Freude war für mich das Tagungsthema: „Wie pandektistisch ist die Pandektistik?“ Eine Frage, die sich wahrscheinlich jeder von uns schon einmal gestellt hat, und auf die man sich belastbare Antworten wünschen würde, wenngleich und gerade weil man sie selber vielleicht noch gar nicht hat. – Nun hoffte ich insgeheim, als Gast des Auslands eher erst am Ende der Tagung zu sprechen und dann, schon belehrt von meinen Kolleginnen und Kollegen, auf sichererem Terrain meine eigenen Erkundigungen mitzuteilen. Die Regie der Kollegen Haferkamp und Repgen hat mir aber nun den ehrenvollen Platz ganz am Anfang zugewiesen, sodass ich mich nur mehr retten konnte, indem ich den Ausdruck Pandektistik in meinem Vortragstitel vorsichtshalber einmal unter Anführungszeichen setzte und damit die Frage vorläufig offen lasse, ob es denn eine „pandektistische“ Pandektistik in Österreich überhaupt gegeben hat und wenn dem so sei, ob Joseph Unger (1828–1913) als deren Repräsentant anzusehen wäre. 1  Siehe nur den „klassischen“ lexikalischen Beitrag Klaus Luig, Pandektenwissenschaft, in: HRG1, Bd. III, Berlin 1984, Sp.  1422–1431. 2  Klaus Luig, Franz von Zeiller und die Irrtumsregelung des ABGB, in: Forschungsband Franz von Zeiller (1751–1828), hrsg. von Walter Selb und Herbert Hofmeister, Wien – Graz – Köln 1980, S.  153–166, sowie in: Klaus Luig, Römisches Recht, Naturrecht, nationales Recht, Goldbach 1998, S.  455–468. 3  Vgl. zur Zessionslehre Ungers Klaus Luig, Zur Geschichte der Zessionslehre, Köln–Graz 1966, S.  80, 83, 108 und 114.

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„Pandektistische“ und „nicht-pandektistische“ Pandektistik: Als Genusbegriff ist hier an die gemeinrechtliche Zivilistik des 19. Jahrhunderts zu denken; die adjektivische Qualifikation nimmt dagegen wohl Bezug auf einen Idealtypus einer „Begriffs“- bzw. „Konstruktionsjurisprudenz“, wie er in der Privatrechtsgeschichte (beeinflusst von schon im 19. Jahrhundert auftretenden kritischen Stimmen – insbesondere von „Renegaten“ wie Jhering) polemisch gezeichnet wurde. Noch bei Wieacker finden wir demgemäß eine allgemeine Charakterisierung der Pandektenwissenschaft als wissenschaftlich positivistisch, apolitisch und angeblich neutral gegenüber „religiösen, sozialen und wissenschaftlichen (sic!) Wertungen“4. Als Beleg dafür dient dabei ein berühmtes Diktum Windscheids5 , demzufolge „ethische, politische oder volkswirtschaftliche Erwägungen (…) nicht Sache des Juristen als solchen“ seien. Im Übrigen aber ist „der“ Pandektist, obgleich typusgemäß ohne metaphysische Inklination, angeblich damit beschäftigt, sich in einer Art Begriffshimmel zu bewegen; er werkt an einer „Begriffspyramide“, innerhalb welcher „der Stellenwert der Begriffe“ und „der logische Systemzusammenhang stets eine folgerechte Füllung positiver Gesetzeslücken durch ,produktive Konstruktion‘“6 erlaube und dabei die „Rechtssätze und ihre Anwendung ausschließlich aus System, Begriffen und Lehrsätzen der Rechtswissenschaft“7 abgeleitet werden. 8 Das Material für die Begriffsbildung gewinnt der Pandektist Savignyscher Deszendenz dabei aus dem römischen Recht, der „Jurist als solcher“ ist damit gleichsam ein Geisteszwilling der iuris consulti der Antike. Versteht man unter Pandektistik zunächst einmal, um auf unseren Genusbegriff zurückzukommen, den romanistisch ausgerichteten Zweig der Historischen Rechtsschule, so ist Unger, den man gerne als Vater/Begründer der historischen Rechtsschule in Österreich apostrophiert, zweifellos darin zu verorten. Er war ja jener Gelehrte, dem im Zuge der Thun-Hohensteinschen Universitäts-Reformen in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Rolle zugedacht war, Savignys Lehren in der Rechtswissenschaft des Habsburgerreiches umzusetzen und zur offiziellen Doktrin zu formen. Ungeachtet der Tatsache, dass schon vor 1848 die historische Rechtsschule auch auf Österreich durchaus eine gewisse

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Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit 2, Göttingen 1996, S.  431. Bernhard Windscheid, Die Aufgaben der Rechtswissenschaft (1884), in: Gesammelte Reden und Abhandlungen, Leipzig 1904, S.  101. 6  Wieacker, PRG2 (wie Fn.  4) S.  436. 7  Wieacker, PRG2 (wie Fn.  4) S.  431. 8  Zur Überholtheit dieser und ähnlicher Vorstellungen siehe nur die differenzierten Analysen von Ulrich Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid. Erkundungen auf den Feldern der sogenannten Begriffsjurisprudenz, in: Veröffentlichungen des Max Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 38, Frankfurt a. M. 1989; Hans-Peter Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, Frankfurt a. M. 2004. 5 

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intellektuelle Ausstrahlung ausgeübt hatte9, muss eine Analyse der österreichischen Pandektistik bei Unger ansetzen, der wie kein anderer die österreichische Rechtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt hat und daher zurecht als praeceptor iurisprudentiae Austriacae gewürdigt wurde, als „Lehrer der österreichischen Rechtswissenschaft“, der die österreichischen Juristen „aus der Periode der blossen Gesetzeskenntnis zu der höheren der Rechtswissenschaft geführt“ habe10 . Ungers Wirken als Rechtslehrer, Politiker und Richter11 umfasst fast die gesamte lange Periode der Herrschaft Franz-Josephs (1848–1916); der Beginn ist 9  Hinzuweisen ist insbesondere auf frühe Ansätze der Umsetzung von Ideen der Historischen Rechtsschule durch den in Wien tätigen Johann Baptist Anselm Kaufmann (vgl. Theo Mayer-Maly, Die Pflege des römischen Rechts in Wien während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Studien zur Geschichte der Universität Wien II, Wien–Graz 1965, S.  41–60, 47 ff.; derselbe, J.B.A. Kaufmann, in: Labeo 11 [1965], S.  302 ff.) sowie dessen Nachfolger Anton Haimberger, dessen „Reines Römisches Privat-Recht“ (Wien 1834) bereits einen eigenen Abschnitt „Von Rechtsgeschäften“ enthielt (dazu Mayer-Maly, Pflege, S.  53). 10  Emil Schrutka von Rechtenstamm, Joseph Unger als Lehrer der Österreichischen Rechtswissenschaft (= Nachruf), in: Neue Freie Presse vom 3. Mai 1913, S.  2. 11  Zur Biografie Ungers siehe S(alomon) Frankfurter, Joseph Unger – Das Elternhaus – die Jugendjahre, Wien–Leipzig 1917; weiters Franz Klein, Joseph Unger †, in: JBl 1913, S.  215–216; Moriz Wlassak, Joseph Unger ein Nachruf, in: Almanach der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, 1913, S.  491–492; Emil Strohal, Joseph Unger †. Gedenkrede, Jena 1914; Egon Zweig, Josef Unger in: Biografisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog, Bd. 18, hrsg. von Anton Bettelheim, Berlin 1917, S.  187–213; Anton Bettelheim, Ein Jugendbrief Josef Ungers, in: Biographenwege, hrsg. von Anton Bettelheim, Berlin 1913, S.  192–197 = Österreichische Rundschau, Bd. 25 Heft 4 (1913), S.  315 ff.; Gino Segré, Sull’opera scientifica di Giuseppe Unger, in: Rivista di diritto civile, 1914, S.  585 ff. = Segré, Scritti giuridici I, 1930, S.  129–192; Gustav Walker, Zum 100. Geburtstage Josef Ungers, Wien 1928; Waltraute Sixta, Josef Unger als Sprechminister 1871–1879, Phil. Diss., Wien 1941 (leider ungenau und z. T. in unerträglichem NS-Jargon); Hugo Sinzheimer, Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft 2, Frankfurt a. M. 1953 (neu aufgelegt), S.  83–95.; Hans Lentze, Joseph Unger – Leben und Werk, in: Im Dienste des Rechtes in Kirche und Staat. Festschrift zum 70. Geburtstag von Franz Arnold, hrsg. von Willibald Maria Plöchl und Ingeborg Gampl, Wien 1963, S.  219–232; Werner Ogris, Die Historische Schule der österreichischen Zivilistik, in: Festschrift Hans Lentze, hrsg. von Nikolaus Grass und Werner Ogris, Innsbruck 1969, S.  4 49–496, insbes. ab S.  457 = Derselbe, in: Elemente europäischer Rechtskultur, hrsg. von Werner Ogris, Wien 2003, S.  345–401 insbes. ab S.  355; Herbert Hofmeister, Zum 70. Todestag Josef Ungers am 2.5.1983, in: RZ 1983, S.  119–120; Barbara Dölemeyer, Josef Unger (1828–1913), in: Juristen, hrsg. von Michael Stolleis, München 1995, S.  628–629; Jan Schröder, Joseph Unger, in: Deutsche und europäische Juristen aus neun Jahrhunderten4, hrsg. von Gerd Kleinheyer und Jan Schröder, Heidelberg 1996, S.  431–434; Wilhelm Brauneder, Joseph Unger, in: HRG1, Bd. 5, Berlin 1998, Sp.  483–487; Mario G. Losano, Briefwechsel Jherings mit Unger und Glaser, Engelsbach am Main 1996, bes. S.  43–56; Gunter Wesener, Josef Unger, in: Juristas universales, hrsg. von Rafael Domingo, Madrid–Barcelona 2004, S.  382–385; Bernhard Martin Scherl, Einleitung, in: Joseph Unger, Aufsätze und kleinere Monographien Bd. I, hrsg. von Bernhard Martin Scherl, Hildesheim 2005, S.  7–85; Gernot Posch, Joseph Unger, in: Gelebtes Recht, hrsg. von Gerhard Strejcek, Wien 2012, S.  316–324; Franz-Stefan Meissel, Joseph Unger. Der Jurist als „politischer Professor“, in Universität – Politik – Gesellschaft (650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert, Bd. 2), hrsg. von Mitchell Ash und Josef Ehmer, Wien 2015, S.  209–216.

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aber unmittelbar mit den Universitätsreformen des katholisch-konservativen Ministers des Kultus und des Unterrichts Leo Graf Thun-Hohenstein in den Jahren nach der 1848er Revolution verknüpft. Bevor wir deshalb auf einige ausgewählte Schriften Ungers näher eingehen und untersuchen, welche Rolle die Argumentation mit Quellen des römischen Rechts dabei jeweils einnimmt, gilt es kurz jenen faszinierenden universitätspolitischen Top-Down-Prozess zu beschreiben, in welchem ausgerechnet dem liberalen, aus jüdischer Familie stammenden Unger der Part zugedacht war, im Sinne der historischen Rechtsschule ein wissenschaftliches, zugleich aber auch konservatives Fundament der Juristenausbildung zu schaffen.

II.  Joseph Unger und die Thun-Hohensteinsche Reform Die Universitätsreformen Thun-Hohensteins wurden schon mehrfach ausführlich beschrieben12 (nicht zuletzt durch den Anfang dieses Jahres verstorbenen Werner Ogris, dessen ich hier mit Wehmut gedenken möchte). Diesen Meistererzählungen ist wenig hinzuzufügen: Nach den revolutionären Ereignissen des Jahres 1848 gingen dem Kaiserhaus nahestehende einflussreiche Kreise in Wien davon aus, dass das Aufbegehren insbesondere der studentischen Jugend durch die naturrechtliche Prägung der österreichischen Rechtswissenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts13 mitverursacht worden sei. Ähnlich wie in der Perspektive des jungen Savigny wurde damit ein Zusammenhang zwischen Naturrecht und Revolution (zunächst 1789, nun 1848) hergestellt. Gegen solches revolutionäres Gedankengut sollte eine rechtshistorische „Pandektenkur“ die akademische Jugend immunisieren. Zugleich aber ging es um einen Modernisierungsschub der Wissenschaft, der durch eine offensive Orientierung an den Trends der fortschrittlicheren deutschen Universitäten (Stichwort: Humboldt’sche Reformen) ausgelöst werden sollte. Pointiert und prägnant hat Thun-Hohenstein seine Anliegen im Bereich der Rechtswissenschaft in einer Rede anlässlich einer Sub-Auspiciis-Promotion 1852 zum Ausdruck gebracht:

12  Hans Lentze, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein (ÖAW, Phil.-hist. Klasse, Bd. 239, 2. Abhandlung), Graz–Wien 1962; Werner Ogris, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein (Wiener Universitätsreden, Neue Folge 8) 1999 = neu abgedruckt in: Elemente europäischer Rechtskultur, hrsg. von Werner Ogris, Wien 2003, S.  333–344; Thomas Simon, Die Thun-Hohensteinsche Universitätsreform und die Neuordnung der juristischen Studien- und Prüfungsordnung in Österreich, in: Juristenausbildung in Osteuropa bis zum 1. Weltkrieg, hrsg. von Zoran Pokrovac, Frankfurt a. M. 2007, S.  1–24. 13 Dass ausgerechnet der obrigkeitlich unterdrückten und kümmerlichst ausgestatteten Rechtswissenschaft des Vormärz dieser Vorwurf gemacht wurde, entbehrt nicht der Ironie.

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„Während in Deutschland durch den großen Rechtslehrer Savigny und andere eine mächtige Schule gegründet, und Rechtsgelehrsamkeit wahrhaft gefördert wurde, während diese Schule auch in Frankreich eine tiefere Bearbeitung des dortigen Rechts hervorrief, musste die juridische Literatur in Österreich bedauerlicherweise zurückbleiben (…) Wir sind aufgewachsen in blinder Anbetung des ABGB, wir lernten es (…) betrachten (…) als ein juridisches Evangelium. (…) Aus diesem Zustand des juristischen Schlafes hat uns das verhängnisvolle Jahr 1848 aufgerüttet, nachdem es uns tatsächlich bewiesen hat, wie nahe die Gefahr liegt, durch die Berufung auf hohle Phrasen des so genannten Naturrechts zu den größten Ungerechtigkeiten verleitet zu werden“14.

Während allerdings das politische Ziel der Schaffung eines konservativen, antiprogressiven Bollwerks gründlich misslingen sollte (dahin gestellt sei hier, ob dies überhaupt je das eigentliche Motiv war, oder ob dies von manchen im reaktionären Klima der frühen 1850er Jahre nur vorgeschoben wurde), so ist für den Prozess einer zeitkonformen Verwissenschaftlichung und Modernisierung der Universitäten zu konstatieren, dass die Reform des Ministers Thun im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tatsächlich enorme Aufschwünge brachte: den Anschluss an die internationale Forschung (durchaus nicht nur die deutsche, was wir hier beobachten können, ist eine erste Globalisierung in der Zeit von 1850–187015), methodische Offenheit und nicht zuletzt eine größere Selbständigkeit und Prestige universitärer Tätigkeit. Wie aber kam Joseph Unger ins Spiel? Aus verschiedenen Gründen schien er keine naheliegende Wahl16 für die Rolle als Champion einer antirevolutionär und national-konservativ ausgerichteten Rechtswissenschaft mit Savigny als Leitstern. 1852, im Jahr der soeben zitierten Rede Thuns, promovierte Unger an der Universität Wien in Rechtswissenschaften, zuvor hatte er bereits (1850) mit einer – von ihrer universalhistorischen Ausrichtung her offensichtlich von Gans inspirierten – Arbeit über Die Ehe in ihrer welthistorischen Entwicklung den philosophischen Doktorgrad (in Königsberg) erlangt. Als Promotionsvater fungierte dabei der Hegelianer Rosenkranz. Autodidaktisch hatte sich Unger zwar auch mit Savignys System des heutigen römischen Rechts (1840–1849) beschäftigt, dessen acht Bände er angeblich „wie einen Roman“17 verschlang, in seiner philosophischen Doktorarbeit verfolgte er aber einen geschichtsphiloso14  Leo Graf Thun-Hohenstein, Rede zur Sub-Auspiciis-Promotion des Dr. Julius Fierlinger vom 11. Mai 1852, Thun-Nachlass D 165; zitiert nach Lars Graf von Thun und Hohenstein, Bildungspolitik im Kaiserreich: Die Thun-Hohensteinschen Reformen insbesondere am Beispiel der Juristenausbildung in Österreich, Juristische Dissertation, Universität Wien 2014, S.  212. 15  Vgl. etwa Duncan Kennedy, Three Globalizations of Law and Legal Thought, in: The New Law and Economic Development, hrsg. von David M. Trubek und Alvaro Santos, Cambridge 2006, S.  19–73, 25–37. 16 Vgl. bereits Jakob Stagl, Die Rezeption der Lehre vom Rechtsgeschäft in Österreich durch Joseph Unger, in: Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 2007, S.  37–55, 44 f. 17  Ernst Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft Bd. 3/2 (Neudruck), Aalen 1978, S.  918; vgl. dazu Losano, Briefwechsel Jherings (wie Fn.  11) S.  47, Fn.  13.

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phisch-spekulativen Zugang. Der Göttinger Althistoriker Wilhelm Karl August Drumann hatte der Promotion in seinem Votum folglich nur mit dem Vorbehalt zugestimmt, dass im Diplom keine „Erwähnung historischer Kenntnisse“ erfolge. Lentze charakterisiert die Schrift zutreffend als „nicht tief wissenschaftlich, eher in journalistischer Manier, sodass sich alles plastisch zu einem Gesamtbild rundet“18 . Tatsächlich gelangt Unger in seinem Ehe-Essay zwar zur Verteidigung der Monogamie, spricht sich aber zugleich für die prinzipielle Auflösbarkeit der Ehe aus – eine liberale rechtspolitische Positionierung, die ihm prompt von katholischer Seite Kritik einträgt19, als ruchbar wird, dass Thun-Hohenstein ihn zum Außerordentlichen Professor des Zivilrechts an der Universität Prag berufen hat. Für konservativ-reaktionäre Zeitgenossen ist Unger aber noch aus einem anderen Grund suspekt: Bei der Revolution 1848 hatte sich Unger im Aktivistenkreis rund um Adolph Fischhof (1816–1893) im Zentrum des Geschehens befunden. Er war im Studentenkomitee, im Zentralkomitee der Akademischen Legion und fungierte als zweiter Schriftführer des Ausschusses der Studierenden sowie Mitglied des Ende Mai 1848 gebildeten sogenannten „Sicherheitsausschusses“20 ; Unger formulierte auch den von Pillersdorf angeregten schriftlichen Entwurf der Studentenschaft zur Änderung des Wahlgesetzes.21 Unter den Revolutionären gehörte er aber zu den mäßigenden Kräften. So dürfte der anlässlich der Abreise des Kaisers an die Arbeiter gerichtete Aufruf vom 18. Mai 1848, sich wieder dem Tagewerk zuzuwenden, von Unger nicht nur mitunterfertigt, sondern auch von ihm verfasst worden sein.22 Insgesamt agierte Unger so besonnen, dass er nur wenige Jahre später auch von Konservativen wie Leo Graf Thun-Hohenstein (1811–1888) und dem frühen Savigny-Schüler Anton von Salvotti (1789–1866) 23 protegiert und maßgeblich gefördert wurde. Für Unger sprach dabei nicht nur, dass er mittlerweile zum Katholizismus konvertiert war, sondern vor allem, dass er mit außerge18 

Hans Lentze, FS Arnold (wie Fn.  11) S.  219–232, 223. Post-Zeitung vom 28. August 1853: „Was soll man endlich sagen, wenn Herr Unger (…) dem heiligen Evangelisten Matthäus ,quod Deus coniunxit, homo non separet‘ entgegen behauptet: ‚Jede eheliche Gesetzgebung muss Ehetrennung gestatten‘ (…) Und mit diesen Ansichten wird man im katholischen Österreich Professor des Zivilrechts.“ Thuns anonyme Verteidigung Ungers findet sich dann in der Wiener Zeitung vom 14. September 1853. 20  Frankfurter, Unger (wie Fn.  11) S.  5 4 unter Berufung auf Moritz Smets; vgl. Heinrich Reschauer/Moritz Smets, Das Jahr 1848 (Geschichte der Wiener Revolution 2), Wien 1872, S.  324–327, 402–406. 21  Frankfurter, Unger (wie Fn.  11) S.  5 4. 22  Egon Zweig, Josef Unger, in: Biografisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog, Bd. 18, S.  187–213, 189. 23  Zu Salvotti siehe Karl Hugelmann, Salvotti, Anton von, in: Allgemeine Deutsche Biographie 31, hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München–Leipzig 1890, S.  772–779. 19 Augsburger

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wöhnlicher geistiger Beweglichkeit, brillantem Intellekt und großer Redebegabung ausgestattet war und damit in der Lage schien, gerade auf die anzusprechende akademische Elite einzuwirken.

III.  Römisches Recht und pandektistische Methodik in ausgewählten Schriften Ungers 1853 beantragt Unger mit einer Schrift über den Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Sachsen die venia legendi an der Universität Wien, und zwar für „das österreichische allgemeine Gesetzbuch in vergleichender Darstellung mit dem römischen, germanischen und altösterreichischen Rechte und mit den Gesetzgebungen des Auslandes“.24 Darin spiegelt sich bereits Ungers Programm: eine auf der Höhe der Zeit stehende, systematische Darstellung des geltenden österreichischen Privatrechts, die sowohl die historischen Grundlagen als auch die Rechtsvergleichung einbezieht, wie er dies insbesondere in seiner Prager Antrittsrede „Über die wissenschaftliche Behandlung des österreichischen gemeinen Privatrechts“ am 3. Oktober 1853 näher zum Ausdruck bringt. Diese ist es wert, näher referiert zu werden. Methodisch bekennt sich Unger hier im Hinblick auf das positive Recht zu einer Vorgangsweise, die nicht entsprechend der Legalordnung Paragraph auf Paragraph exegetisch kommentiert, sondern einen „systematischen“ Zugang verfolgt und dabei die aus einer Vielzahl von Rechtsregeln konstituierten „Rechtsinstitute“ erforscht. Puchta und Savigny dienen ihm dabei als Gewährsleute25 , so zitiert er aus Savignys System: „Es hat daher die einzelne Rechtsregel ihre tiefere Grundlage in der Anschauung des Rechtsinstituts, und wenn wir nicht bei der unmittelbaren Erscheinung stehen bleiben, sondern auf das Wesen der Sache eingehen, so erkennen wir in der That, dass jedes Rechtsverhältnis unter einem entsprechenden Rechtsinstitute als seinem Typus steht und (…) von diesem beherrscht wird“26 .

Unger selbst sieht es als Aufgabe der Rechtswissenschaft, „aus den einzelnen Paragraphen des Gesetzbuches jedes Rechtsinstitut nach all seinen Seiten und Besonderheiten so zu reconstruiren, wie es vor den Augen des Gesetzgebers stand. Während daher der Gesetzgeber analytisch zu Werke geht, und aus der Idee des von ihm gewollten Rechtsinstituts heraus die einzelnen Begriffe und Sätze durch Abstraction gewinnt, muß umgekehrt der wissenschaftliche Jurist synthetisch verfahren, indem er durch die Zusammenstellung und organische Gruppirung der einzelnen Geset24 

Frankfurter, Unger (wie Fn.  11) S.  4. Josef Unger, Über die wissenschaftliche Behandlung des österreichischen gemeinen Privatrechts, Wien 1853, S.  9 = Nachdruck in: Unger, Aufsätze und kleinere Monographien I, hrsg. von Bernhard Martin Scherl, Hildesheim 2005, S.  273–303 (hier 281). 26  Savigny, System des heutigen römischen Rechts I, Berlin 1840, S.  5. 25 

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zesstellen das Rechtsinstitut selbst wieder herstellt. Daher läßt sich die rein wissenschaftliche Thätigkeit gerade da am allerwenigsten entbehren, wo es förmliche Gesetzbücher gibt.“27

Ziel müsse es sein, „zur Kenntnis der Natur der Sache, der ratio iuris, als der, aus dem ganzen Zusammenhang der geltenden Rechts-Bestimmungen herfließenden Prinzipien“28 zu gelangen. Unger wendet sich aber keineswegs gegen die exegetische Methode als solche, sondern nur gegen ihren angeblichen Exklusivitätsanspruch – und er beruft sich immer wieder auch zustimmend auf seinen Lehrstuhlvorgänger Michael Schuster, der bereits 1818 auf die Notwendigkeit einer systematischen Methode hingewiesen habe.29 Daher formuliert Unger als Zielrichtung, das österreichische bürgerliche Recht in Form eines (pandektistisch ausgerichteten) wissenschaftlichen Systems darzustellen, sind doch auch – wiederum beruft sich Unger hier auf Savigny – „alle Rechtsinstitute (…) zu einem System verbunden und können nur in dem großen Zusammenhang dieses Systems, in welchem deren organische Natur erscheint, vollständig begriffen werden“30 . Die Relevanz der Rechtsgeschichte wird von Unger dann erst zweitrangig nach dem im Vordergrund stehenden Bekenntnis zum pandektistischen Systemzugang angeführt: Eher floskelhaft spricht er davon, dass „alles Gewordene nur aus seinem Werden begriffen werden könne und dass daher auch das geschichtliche Element im Recht zu berücksichtigen“ sei. Hier bekennt er sich auch zu einem überpositiven Rechtsbegriff, bei dem das Gesetz bloß als „das Organ des Rechts“, als „Erkenntnis-, nicht als Entstehungsgrund des Rechtes“ anzusehen sei.31 Dennoch fällt auf, dass Unger in der Folge den vernunftrechtlichen Rechtsbegriff und den Rechtsbegriff der historischen Rechtsschule (Recht als das „Erzeugnis des innersten geheimnisvoll wirkenden Volksgeistes“32) nebeneinander stellt, ohne letzterem Priorität einzuräumen. Zugleich plädiert er auch für einen gründlichen Unterricht im römischen Recht, weist diesem aber eine doppelte Bedeutung zu: Zum einen zeige dieser, in welchem Maße Übereinstimmung zwischen dem römischen Recht und dem geltenden österreichischen Recht bestehe, zum anderen aber entdecke man dabei auch die Abweichungen. Im Fall solcher Abweichungen sei aber nicht das Gesetz zu korrigieren, sondern vielmehr zu erforschen, aus welchen Gründen der Gesetzgeber eigene Wege gegangen sei und wie man diese konsequent weitergehen könne. Keineswegs gehe es darum, Grundsätze des wissenschaftlich erforschten „reinen römischen Rechts“ 27 

Unger, Wissenschaftliche Behandlung (wie Fn.  25) S.  10. Unger, Wissenschaftliche Behandlung (wie Fn.  25) S.  12. 29  Unger, Wissenschaftliche Behandlung (wie Fn.  25) S.  6 , 13 und öfter. 30  Unger, Wissenschaftliche Behandlung (wie Fn.  25) S.  15. 31  Unger, Wissenschaftliche Behandlung (wie Fn.  25) S.  18. 32  Unger, Wissenschaftliche Behandlung (wie Fn.  25) S.  18. 28 

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durch gezwungene Auslegung in die neuen Gesetzbücher zu übertragen und diese auf diese Weise „zurückzuromanisiren“.33 Bemerkenswert erscheint auch, dass sich Unger ganz affirmativ zu Bluntschlis Ansatz bekennt, demzufolge auch dort, wo die juristische Praxis im Laufe der Zeit vom römischen Recht – sei es auch irrtümlich – abgewichen sei, „ein Kern modernen Rechtsgefühls enthalten“ sein könne: „ihre römischen Irrthümer waren zuweilen deutsche Wahrheiten“.34 Unger merkt dazu an, dass auch die Forschungen der „römischen Civilisten“ nur dann von praktischer Bedeutung seien, „wenn sie die innere Natur der Sache, das rationale nicht aber das nationale Element im römischen Rechte aufhellen“.35 Neben dem römischen Recht gilt es nach Unger aber auch das deutsche Recht, sowie die Praxis der Zeit vor der Kodifikation zu erforschen, ja auch die Bildungsgeschichte der Redaktoren (Martini, Zeiller) und damit letztlich – ohne dass Unger es ausspricht – das naturrechtliche Ideenumfeld. Dazu gesellt sich in dem ambitionierten Programm des damals gerade 25-jährigen die Rechtsvergleichung, das Studium der Kodifikationen der übrigen Länder, welches nicht nur erlaube, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erkennen, sondern das auch der Fortentwicklung des Rechts dienlich sei. Zu all dem müsse aber die Philosophie des Rechts hinzutreten: „Diese Philosophie ist daher weder jenes ideale Naturrecht, welches von allen gegebenen Verhältnissen absieht und sich seinen Inhalt willkürlich gibt. Es ist auch nicht jene sogenannte Philosophie des positiven Rechts, welche in der Vergleichung des positiven Rechts mit Prinzipien besteht, welche man sich selbst ausgedacht hat, und alles gewordene Recht an einem Maßstab mißt, der nicht in ihm, sondern außer ihm, in der Idee des Beschauers liegt. Es ist vielmehr jene Philosophie, welche sich innig an das Gegebene anschließt, welche sich in das Positive vertieft, um aus dem Concreten das Allgemeine, aus dem bunten Spiel der Erscheinungen das Wesen herauszufinden, um in dem Wechselnden und sich Wandelnden den treibenden Gedanken zu begreifen.“36

Sich auf Feuerbach beziehend meint Unger, dass die Rechtswissenschaft damit nicht „schaffend, sondern bildend“37 wirken müsse, der Rechtstoff könne von ihr lediglich geformt und geistig belebt werden: Rechtswissenschaft ordnet den Stoff, sie schafft ihn aber nicht. Erweist sich Unger hier als „pandektistischer“ Pandektist? Zwar beruft er sich auf Savigny und Puchta, er tut dies aber eklektisch, auch Feuerbach, Eichhorn und Bluntschli, sowie der Prager Vorgänger Schuster werden prominent zitiert; was das römische Recht anbelangt, so steht dieses neben dem deutschen Recht und der Kodifikationsgeschichte, über allem aber schwebt eine nicht sehr 33 

Unger, Wissenschaftliche Behandlung (wie Fn.  25) S.  21. Johann Caspar Bluntschli, Deutsches Privatrecht, München 1864, S. XIV. 35  Unger, Wissenschaftliche Behandlung (wie Fn.  25) S.  23.  36  Unger, Wissenschaftliche Behandlung (wie Fn.  25) S.  26. 37  Unger, Wissenschaftliche Behandlung (wie Fn.  25) S.  26. 34 

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genau definierte „Philosophie des Rechts“. Im Zweifel sei weder pro jure romano zu entscheiden, noch auf das deutsche Recht als solches zu rekurrieren, sondern im Geiste des österreichischen Gesetzbuches38 eine Lösung zu suchen. Rechtsdogmatik ist ein anspruchsvolles Geschäft bei Unger, aber der Dogmatiker steht nicht über dem Recht, sondern soll dieses nur erhellen.39 Eine einseitige Pandektisierung40 kann ich in diesem Wissenschaftsprogramm jedenfalls nicht erkennen, wohl aber ein Bemühen um Ausgewogenheit und einen Pluralismus der Erkenntniswege bei grundsätzlichem Primat des Gesetzes, nicht zuletzt aber auch ein Bekenntnis dazu, dass sich die Theorie auch an den Bedürfnissen der juristischen Praxis zu orientieren habe. (Es findet sich übrigens in der gesamten Antrittsrede nur ein einziges Pandektenzitat41, dagegen viele Bezüge zum ABGB, vor allem aber zu Autoren des 19. Jahrhunderts.) Eine eigene Bedeutung kommt der Rechtsdogmatik aber insbesondere für die Rechtspolitik zu, wobei Unger hier zwischen der Betrachtung de lege lata und de lege ferenda klar unterscheidet und damit auch dem Rechtswissenschafter keineswegs die Befugnis einräumt, corrigendi gratia in das positive Recht einzugreifen. Eine bescheidene Einfallspforte für die Fortbildung des Rechts durch die Rechtswissenschaft deutet Unger lediglich dort an, wo das Recht lückenhaft erscheint. Unter Bezug auf die §§  6 und 7 ABGB entwickelt er dabei einen weiten Begriff der Interpretation, bei der – neben der Auslegung im engeren Sinn (der Sinnermittlung im Rahmen der Wortlautgrenze) und der Analogie – die in §  7 ABGB am Ende genannten natürlichen Rechtsgrundsätze eine Einbeziehung der „unmittelbaren Volksüberzeugungen“ erlaubten, welche „der Juristenstand als Repräsentant des Volks in rechtlichen Dingen ausspricht“.42 Erst in dieser allerletzten Fußnote seiner Programmschrift deutet Unger somit eine subsidiäre rechtsschöpferische Dimension der Doktrin an, verankert aber auch diese letztlich in einer Bestimmung des geltenden österreichischen Rechts. Von Thun-Hohenstein in der Folge großzügig mit Forschungszeit ausgestattet, geht Unger sogleich an die Verwirklichung seines Programms und kann so, kaum zwei Jahre nach seiner Antrittsrede bereits den, dem Allgemeinen Teil gewidmeten ersten Band seines Systems des österreichischen allgemeinen Pri38 

Unger, Wissenschaftliche Behandlung (wie Fn.  25) S.  27. Vgl. dazu Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts I, Leipzig 1856, S.  43; dazu näher sogleich unten bei Fn.  51. 40  Anderer Ansicht wohl Stagl, ZEuP 2007 (wie Fn.  16) S.  47, wenn er über Ungers System schreibt: „Diesem Plane einer Pandektisierung des österreichischen Privatrechts entsprechend, tritt das ABGB in der Darstellung vollkommen zurück. Und nicht nur das, es verliert auch überall dort an Legitimität, wo es mit dem Gedankengut der Historischen Rechtsschule in Konflikt steht.“ 41  D. 1.3.14: Quod vero contra rationem iuris receptum est, non est producendum ad consequentias. 42  Unger, Wissenschaftliche Behandlung (wie Fn.  25) S.  30 Fn.  1. 39 

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vatrechts vorlegen (1856; 2.  Band, 1857/59). Anders als beim Pandektenlehrbuch geht es hier nicht um eine Darstellung des gemeinen Rechts, sondern es gilt das geltende österreichische Zivilrecht in systematischer Form aufzubereiten; der Zugang ist aber jenem, wie ihn Wieacker für das ideale Pandektenlehrbuch (Windscheidschen Zuschnitts) postuliert hat, nicht ganz unähnlich; auch Ungers System geht es darum, „ein erschöpfendes und harmonisches Lehrgebäude“ unter Verarbeitung der dogmatischen Traditionen und gleichzeitigem Ausschluss alles „antiquarischen und quellen-exegetischen Beiwerks“43 zu erarbeiten. Die Relevanz des Römischen Rechts bzw. der Wissenschaft vom Römischen Recht in Ungers „System“ soll dabei anhand zweier Problemkreise verdeutlicht werden: der Rechtsquellenlehre Ungers einerseits und seiner Lehre von der Auslegung andererseits. In seiner Erörterung der „Entstehungsgründe der objectiven Rechtsregeln und Rechtsnormen“ nennt Unger zunächst als mögliche Rechtsquellen ganz allgemein Gesetzesrecht, Gewohnheitsrecht und Juristenrecht.44 Was das Gewohnheitsrecht anbelangt, so lehnt Unger sowohl die „mechanische materialistische“ Auffassung ab, der zufolge die bloße beobachtbare Konstanz des Verhaltens (consuetudo) bereits rechtsschöpferisch wirke45 , aber auch die von ihm als „spiritualistisch“ bezeichnete Theorie, der zufolge es nur auf die Rechtsüberzeugung (insbesondere jene von Rechtswissenschaftlern) ankommen soll und die tatsächliche Befolgung bloß eine Erscheinungsform des Rechts sei. Die tatsächliche Befolgung ist damit nach Unger zwar nicht alleinige Entstehungsursache, wohl aber Entstehungsform des Gewohnheitsrechts.46 Irrig sei daher auch die Auffassung, dass „die Wissenschaft Rechtsquelle, dass die Gewohnheit bloß Erkenntnismittel des Rechts sei“47. Tatsächlich müssten beide Elemente (consuetudo und opinio iuris) zusammenkommen, um Gewohnheitsrecht zu begründen. Für das positive österreichische Privatrecht schließt Unger das Gewohnheitsrecht unter Berufung auf §  10 ABGB als Rechtsquelle aber kategorisch aus: „Da sich nun das Gesetzbuch in keiner einzigen Stelle auf Gewohnheitsrecht beruft, so kann man den allgemeinen Satz aufstellen, daß das Gewohnheitsrecht in der Sphäre des österreichischen allgemeinen Privatrechts gänzlich aufgehört habe Rechtsquelle zu sein.“48 Beim Juristenrecht unterscheidet Unger zwischen dem durch Präjudizien geschaffenen „Gerichtsgebrauch“ (also einer Art Richterrecht), das als Produkt 43  So Wieackers Charakterisierung des Pandektenlehrbuchs (Wieacker, PRG2 [wie Fn.  4] S.  4 46). 44  Unger, System I (wie Fn.  39) S.  23. 45  Unger, System I (wie Fn.  39) S.  33. 46  Unger, System I (wie Fn.  39) S.  37. 47  Unger, System I (wie Fn.  39) S.  24. 48  Unger, System I (wie Fn.  39) S.  36.

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der praktischen Tätigkeit von Richtern geschaffen wird, und der theoretischen literarischen Tätigkeit der Rechtswissenschaft. Wenn, dann könne nur durch die Praxis Recht entstehen: „Die materielle productive Wirksamkeit des Juristenstandes kann nur das Resultat der praktischen Thätigkeit desselben sein. Neues Recht kann sich nur durch die Praxis d. h. durch fortgesetzte gleichförmige Entscheidungen der Gerichte bilden, wodurch der fragliche Satz in den Gebrauch des Gerichts übergeht“49. Puchtas Auffassung, dass auch die literarische Tätigkeit in Form einer communis opinio doctorum rechtsschöpfend sein könne, lehnt Unger dagegen explizit ab.50 Der tiefere Grund der Rechtsentstehung von Juristenrecht sei aber, dass dem Juristenstand eine „äußere Autorität“ als „Depositar der nationalen Rechtsüberzeugung“ zukommen könne, letztlich geht es also um eine Variante des Gewohnheitsrechts. Da aber Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle im österreichischen Recht nicht anerkannt sei, könne auch von einem Juristenrecht als Rechtsquelle keine Rede sein.51 Aufgabe der Rechtswissenschaft sei es dagegen, „das bestehende Recht zum wissenschaftlichen Bewußtsein zu bringen, den verborgenen Inhalt desselben zu Tage zu fördern, die Principien, auf denen es beruht, zu erkennen und darzulegen (…) die Lücken des positiven Rechts auszufüllen und den ganzen Rechtsstoff in ein System d. h. in ein organisches Ganzes sich gegenseitig bedingender Rechtssätze zu bringen. Dies ist kein Produciren eines neuen Rechts, sondern Entwicklung und Entfaltung des Gegebenen, Aufdecken des Vorhandenen.“52

Das produktive Potential der Rechtswissenschaft wird aber deutlicher, wenn man sich Ungers Auslegungslehre vor Augen führt, in der dieser, wie schon oben erwähnt, – durchaus im antiken Sinn – von einem weiten Begriff der interpretatio iuris ausgeht, die über die Auslegung im engeren Sinn deutlich hinausgeht53 und – so Unger – die „gesamte wissenschaftliche Entwicklung und Ausbildung des Rechts in sich“54 umfasst; dabei ist dann auch der gemeinrechtlichen Dogmengeschichte eine durchaus beachtliche Rolle zugedacht. Bei der Sinnermittlung des Gesetzes unterscheidet Unger zunächst zwischen der grammatischen und der logischen Auslegung, wobei letztere darauf gerichtet ist, „den Willen, die specielle Absicht des Gesetzgebers in Ansehung des 49  Unger, System I (wie Fn.  39) S.  42. Welche große Bedeutung Unger der Judikaturpraxis zumisst, zeigt sich nicht zuletzt in der von ihm und Glaser herausgegebenen „Sammlung von zivilrechtlichen Entscheidungen des kk Obersten Gerichtshofes“ (fortgeführt von Walther, Pfaff, Schey und Krupsky), Bde. I–XXXIV mit Entscheidungen aus 1853–1897. 50  Unger, System I (wie Fn.  39) S.  42 Fn.  3. 51  Unger, System I (wie Fn.  39) S.  42. 52  Unger, System I (wie Fn.  39) S.  43. 53 So gehört auch die Rechtsfindung jenseits der Wortlautgrenze dazu, d. h. die in §   7 ABGB angeführten Methoden der Analogie bis hin zur Rechtsergänzung durch „natürliche Rechtsgrundsätze“. 54  Unger, System I (wie Fn.  39) S.  7 7.

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einzelnen zu interpretierenden Gesetzes aus anderen Umständen zu erkennen.“ Dazu gehört die Erforschung der ratio legis, des historischen Kontexts der Entstehung (occasio legis), das systematische Element, aber auch die Berücksichtigung des geschichtlichen Ganges, also ein historisches Element, bei dem die „Motive, Berichte, Mittheilungen von Seite der mit der Abfassung des Gesetzes Beauftragten“ einzubeziehen seien.55 Hier kommt für Unger im Hinblick auf die konkrete Entstehungsgeschichte des ABGB auch die gemeinrechtliche Theorie als Faktor der historisch-teleologischen Auslegung prominent ins Spiel. Vor dem Hintergrund des Gemeinen Rechts könne sich ergeben, ob mit einer einzelnen Rechtsregel auf eine gesamte dahinter stehende gemeinrechtliche Lehre rekurriert werden sollte. So könne sich aus einer dogmengeschichtlichen Auslegung ergeben, dass der vom Gesetz angeführte Fall u. U. bloß demonstrativ zu verstehen sei und weitere Fälle als durchaus mitumfasst gelten. Dies sei z. B. bei §  366 ABGB am Schluss56 der Fall, wo ein Anwendungsfall der gemeinrechtlichen Lehre von der exceptio rei venditae et traditae in diesem Sinn von Unger als stellvertretend für alle von dieser Lehre erfassten Fälle verstanden wird.57 Die logische Auslegung, die nicht am Wortsinn, sondern am „wahren Sinn“ des Gesetzes orientiert ist, kann dabei auch zu einer Abweichung vom Wortlaut legitimieren und damit zu einer „ändernden Auslegung“58 führen, wozu neben der ratio legis insbesondere auch das „dogmengeschichtliche Element“ beitragen könne. Damit eröffnet Unger trotz seines an sich gesetzespositivistischen Ansatzes einen nicht unerheblichen Spielraum für die historisch-wissenschaftliche Doktrin, um über eine interpretatio abrogans den Wortlaut der Gesetze extensiv oder restriktiv zu korrigieren.59 Unser Bild bliebe mehr als unvollständig, wollten wir nicht auch Ungers Behandlung des Römischen Rechts in seinen genuin dogmatischen Arbeiten betrachten. Den berühmtesten und wirkmächtigsten Beitrag Ungers zur gemeinrechtlichen Wissenschaft des Privatrechts stellt wohl sein Aufsatz zum Vertrag zugunsten Dritter dar, der die Schaffung des §  328 BGB ebenso beeinflusste wie die Neufassung des §  881 ABGB im Zuge der – bekanntlich von Unger mitiniti-

55 

Unger, System I (wie Fn.  39) S.  82. §  366 ABGB: „Mit dem Rechte des Eigenthümers, jeden Anderen von dem Besitze seiner Sache auszuschließen, ist auch das Recht verbunden, seine ihm vorenthaltene Sache von jedem Inhaber durch die Eigenthumsklage gerichtlich zu fordern. Doch stehet dieses Recht demjenigen nicht zu, welcher eine Sache zur Zeit, da er noch nicht Eigenthümer war, in seinem eigenen Nahmen veräußert, in der Folge aber das Eigenthum derselben erlangt hat.“ 57  Unger, System I (wie Fn.  39) S.  83 Fn.  29. 58  Unger, System I (wie Fn.  39) S.  86. 59  Vgl. dazu in diesem Band den Beitrag Jan Schröders zur Billigkeitskorrektur durch einschränkende Auslegung (im Einklang mit der späteren Auslegungslehre Savignys nach 1840). 56 

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ierten60 – Teilnovellierung der österreichischen Zivilkodifikation im Jahre 1916 (3. Teilnovelle). Folgen wir einem verbreiteten, aber irrigen Bild, so stellen wir uns einen Pandektisten, wohlgemerkt, einen „pandektistischen“ Pandektisten, in diesem Zusammenhang so vor: ausgehend von römischem Digestenmaterial wird dieses so lange traktiert, bis dann ein den zeitgemäßen Bedürfnissen angemessener dogmatischer Ertrag erzielt werden kann. Lassen Sie mich die zugrunde gelegte Arbeitshypothese psychoanalytisch formulieren: Dieser Annahme zufolge bestimmt das antike Römische Recht gleichsam das juristische Über-Ich des Pandektisten, die Notwendigkeit der Adaptation wirke in ihm aber triebhaft Es-förmig, sodass qua Manipulation des römisch-rechtlichen Quellenmaterials eine dem Zeitgeist des 19. Jahrhunderts angepasste dogmatische Konstruktion erfolgt. Vergleicht man damit Ungers tatsächliche Vorgangsweise in seinem in Jherings Jahrbüchern 1869 erschienenen, 109-seitigen monographieartigen Traktat, so erweist er sich entweder als höchst „unpandektistisch“ oder – was wohl zutreffender ist – unser Idealbild des Pandektisten ist nichts anderes als eine Chimäre, die zugunsten differenzierterer Analysen zu entsorgen ist. Im weiteren Sinn zum Stellvertretungsrecht gehörend ist die Problematik der Versprechen zugunsten Dritter eine für das Verkehrsrecht des 19. Jahrhunderts virulente Frage, bei der für das, was damals „heutiges römisches Recht“ genannt wurde, die Bruchlinien zum überlieferten antiken römischen Recht offensichtlich waren. Die Regel alteri stipulari nemo potest stand hier der Zulassung eines echten Vertrags zugunsten Dritter im Wege, wenngleich sich zarte Ansätze zur Zulässigkeit eines im Drittinteresse gemachten Versprechens auch im Digestenrecht bereits ausmachen lassen. Unger, dem es unverhohlen darum geht, die Zulässigkeit des Vertrags zugunsten Dritter zu begründen, versucht nun gar nicht, die diesem entgegenstehenden Regeln des antiken Römischen Rechts zu leugnen, er bringt sie aber in Zusammenhang mit dem „nationalen“ und „ethischen“ Charakter des Rechts der Römer und leugnet, dass es sich bei der Regel alteri stipulari nemo potest um ein juristisch-logisch zwingendes Prinzip handle. Daher beginnt er seine Abhandlung mit einer, an Jherings Geist des römischen Rechts angelehnten61 Charakterisierung des Römischen Rechts als einer an der individuellen Selbstgestaltung und Tatkraft des Einzelnen ausgerichteten 60  Vgl. insbes. Unger, Zur Revision des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches. Eine legislativpolitische Studie, in: Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart 31 (1904) S.  389–406 = Nachdruck in: Unger, Aufsätze und kleinere Monographien II, hrsg. von Bernhard Martin Scherl, Hildesheim 2005, S.  303–320. 61  Rudolf von Jhering, Der Geist des römischen Rechts auf den Stufen seiner Entwicklung I, 2.  Aufl., Aalen 1866, S.  109: „Der persönlichen Thatkraft gehört die Welt, in sich selbst trägt der Einzelne den Grund seines Rechts, durch sich selbst muß er es schützen, das ist die Quintessenz altrömischer Lebensanschauung.“

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Rechtsordnung. 62 Die Unzulässigkeit einer verbindlichen Verpflichtung zugunsten eines Dritten deutet er damit als eine „rein positive und relative Unstatthaftigkeit“63 des einst geltenden römischen Rechts, aus der sich aber keineswegs eine „begriffliche und absolute Unmöglichkeit“ dieser Konstruktion für die moderne Privatrechtsdogmatik ergebe. Methodisch wegweisend ist dabei Ungers Unterscheidung zwischen römischen Rechtsregeln, die „in specifisch juristischen Principien“ wurzeln und solchen, die „in nationalen und ethischen Überzeugungen ihr Fundament haben“64. Während die römische Rechtsordnung ethisch als ein System des „disciplinirten Egoismus“ beschrieben werden könne, sei der „Sittlichkeits- und Rechtsimperativ“ der Gegenwart des 19. Jahrhunderts sozial ausgerichtet65 und laute: „Sorge für Andere wie für dich selbst! Wir müssen daher“, so setzt Unger fort, „zu den bekannten tria praecepta juris noch das vierte hinzufügen: aliis prodesse“. 66 Ungers Hauptlinie besteht also darin, die römische Ablehnung als national bzw. ethisch begründet zu interpretieren und sodann unter Hinweis auf gewandelte ethische Anschauungen darüber hinweg zu gehen. Möglicherweise an eine Äußerung Savignys anknüpfend67 stellt Unger die Rechtswissenschaft vor die Alternative, entweder die Jurisprudenz „mit den Forderungen des Lebens“ in Einklang zu bringen oder aber bloß, wie Francis Bacon es ausgedrückt hatte, in vinculis sermocinari, sich also gleichsam „eingekerkert zu unterhalten“. Ungers reichhaltiges auch nach 1869 kontinuierlich fortgeführtes literarisches Oeuvre, vor allem aber auch seine rechtspolitisch ausgerichtete Tätigkeit u. a. bei den Reformen im Schadenersatzrecht, der Schaffung einer modernen ZPO und nicht zuletzt seine staatspolitische Wirksamkeit, die rein äußerlich in seiner Tätigkeit als Reichsratsabgeordneter und Mitglied des Herrenhauses, in seiner Ministertätigkeit als Sprechminister der Regierung Auersperg in den 1870er Jahren und in seiner Berufung zum Präsidenten des Reichsgerichtes plastisch zum Ausdruck kommt, böte noch ergiebiges Material zur Untermau62  Vgl. den Beginn seiner Abhandlung (Unger, Die Verträge zu Gunsten Dritter, in: Jherings Jahrbücher 1869, 1 = Nachdruck in: Unger, Aufsätze und kleinere Monographien I, 2005, S.  367–475 [hier S.  367]): „Selbst ist der Mann! Dieses Fundamentalprincip männlicher Charakterstärke und selbstbewußter Thatkraft (…) hat kein Volk der Welt mit solch’ eisener Consequenz und unbeugsamer Starrheit aufgestellt und durchgeführt als das römische (…). Jeder gestalte sein Leben durch eigene Kraft und Thätigkeit, Jeder schaffe sich seine Welt durch sich und für sich – das ist das spezifische Agens, das eigentliche Lebensprinzip der römischen Welt (…).“ 63  Unger, Jherings Jahrbücher 1869 (wie Fn.  62) S.  13 f. 64  Unger, Jherings Jahrbücher 1869 (wie Fn.  62) S.  57. 65  Zur Vielfalt der sozialen Topoi in den Privatrechtsdebatten des späten 19. Jahrhunderts siehe Tilman Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, Tübingen 2001, bes. S.  50–122. 66  Unger, Jherings Jahrbücher 1869 (wie Fn.  62) S.  56. 67 Vgl. Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, S.  111 ff.

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erung der These, dass wir es bei ihm mit keinem Pandektisten in dem eingangs von Wieacker gezeichneten Sinne zu tun haben. Hier gäbe es noch viel Raum zu eingehenderer rechtshistorischer Bearbeitung, zu der meine heutigen Ausführungen nur als bescheidene Prolegomena anzusehen sind. Dass Unger ein höchst „politischer Professor“ war, jemand, der sich engagiert an rechtspolitischen Debatten beteiligte und auch politisch als Kämpfer für Konstitutionalismus und Rechtsstaatlichkeit in der Ära Franz-Josephs eine hervorragende Rolle einnahm, ist aufgrund seiner Biografie mehr als offensichtlich und soll hier nicht mehr näher ausgeführt werden. 68 Worum es in diesem Vortrag ging, war, auch anhand der Schriften des jüngeren Unger, also noch bevor Rudolf von Jhering (1818–1892) nach Wien kam, um dann (in Jherings Wiener Zeit, 1868–1871) gemeinsam mit dem Strafrechtler und Rechtsphilosophen Julius Glaser (1831–1885) und Josef Unger das legendäre „glänzende Dreigestirn der Wiener Juristenfakultät“69 zu bilden (das sich persönlich ebenso wie wissenschaftlich nahestand70), Ungers Zugang zum römischen Recht und seine dogmatischen Methoden anzusprechen. Meine ursprüngliche Arbeitshypothese war dabei, dass sich Unger – ähnlich wie Jhering „von einem der strengen Logik und der Systembildung zugewandten Pandektisten“ zu einem „für die sozialen Fragen des späten 19. Jahrhunderts sensiblen, die Abwägung der schutzwürdigen Interessen bei der Lösung von Konflikten affirmativ bejahenden Rechtswissenschaftler“ gewandelt habe.71 Unser Streifgang hat nun gezeigt, dass auch die Vorstellung von Unger als einem „der strengen Logik und Systembildung zugewandten Pandektisten“ nur mit der Maßgabe richtig ist, dass wir uns „den Pandektisten“ nicht allzu „lehrbuchhaft-pandektistisch“ vorstellen dürfen.

IV. Resümee Wir kommen damit zu unserem vorläufigen Resümee zu Ungers Umgang mit dem römischen Recht und zu Stil und Methodik seiner Dogmatik. Ohne Ungers beeindruckender Gelehrsamkeit Unrecht zufügen zu wollen, ist der Wegbereiter der historischen Rechtsschule in Österreich wohl nicht als Romanist und Rechtshistoriker im engeren Sinn einzuordnen, sondern als ein rechtshistorisch und rechtsvergleichend interessierter, umfassend gebildeter Zivilist.

68  Vgl. dazu Franz-Stefan Meissel, Joseph Unger. Der Jurist als „politischer Professor“, in: Universität – Politik – Gesellschaft (650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert, Bd. 2), hrsg. von Mitchell Ash und Josef Ehmer, Wien 2015, S.  209–216. 69  Jellinek, Ausgewählte Schriften, S.  259–260. 70  Ausführlich dazu Losano, Briefwechsel Jherings (wie Fn.  11) S.  7–56. 71  Meissel, Unger (wie Fn.  68) S.  213.

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Methodisch erscheint mir bereits der junge Unger pluralistisch-eklektisch, er zeigt sich als umfassend belesener Kenner der historischen Rechtsschule, versteht diese aber nicht als eine Richtung, die exklusiv auf die Vergangenheit blickt, sondern als eine, die „kräftig für die Gegenwart“72 (und – wie es auch sein Schüler Franz Klein so plakativ ausdrücken wird – „pro futuro!“) wirkt. In seiner dogmatischen Arbeit zeigt sich dabei eine frühe Wahlverwandtschaft mit jenem Jhering, der sich von der Konstruktionsjurisprudenz abgewendet hat; Unger sieht es als Aufgabe des Rechts, sachgerecht eine Balance individueller Interessen herzustellen und nimmt dafür Stellung, die Interessen insbesondere der Schwächeren zu schützen, um damit auch dem fremdnützigen Eintreten für andere den Weg zu bahnen. Trotz seines starken rechtspolitischen Engagements ist er stets bemüht, die Grenze zwischen der lex lata und der lex ferenda zu respektieren und die eigenen Wertentscheidungen möglichst am positiven Recht zu verankern. Insofern erschiene es mir nicht ganz falsch, ihn als einen frühen Exponenten einer methodischen Ausrichtung zu reklamieren, die später als Wertungsjurisprudenz die österreichische Rechtswissenschaft geprägt hat. Als liberaler Anhänger der Verfassungsstaatsidee ist Unger dabei vom Grundsatz her eher gesetzespositivistisch eingestellt, ohne aber eine exklusiv positivistische Rechtsidee zu verfolgen. Als Zivilrechtler ist Unger darüber hinaus stets bemüht um eine Theorie, die der Praxis entgegenkommt, wobei nochmals seine Sensibilität für soziale Fragestellungen hervorzuheben ist. Politisch vielfach tätig, nicht nur rechtspolitisch, sondern auch staatspolitisch in höchsten Funktionen, stellte Josef Ungers Leben eine Symbiose dar zwischen der lehrenden und forschenden Vita des Rechtsgelehrten, der ständigen Anteilnahme am politischen Diskurs als öffentlicher Intellektueller und dem politisch-praktischen Wirken als Parlamentarier und Verfassungsrichter. So vielseitig und differenziert konnte also ein Pandektist im 19. Jahrhundert sein!

72 

Unger, Wissenschaftliche Behandlung (1853) (wie Fn.  25) S.  18.

Rechtswissenschaft als „Dogma“ Die Ablösung der Dogmatik vom positiven Recht und die Weiterentwicklung des Rechtsdenkens in Russland Martin Avenarius I. Einleitung Die Frage, wie pandektistisch die Pandektistik gewesen sei, fordert mit ihrer Zirkularität zur Besinnung auf die besonders charakteristischen und wirkungsmächtigen Merkmale der Pandektenwissenschaft heraus. In diesem Sinne ist der vorliegende Beitrag der spezifischen Neigung der Pandektistik zu Systembildung und Entwicklung einer kohärenten Begrifflichkeit bei einer gewissen Lösung von den eigentlichen Rechtsquellen gewidmet. Er beschreibt in groben Zügen die Bedeutung dieses Merkmals für die Herausbildung der Privatrechtswissenschaft im russischen Zarenreich.1 Das russische Privatrechtsdenken nahm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Aufschwung, der sich von vorausgegangenen Zeugnissen des dortigen Rechtsdenkens in so bemerkenswerter Weise abhob, dass Rechtshistoriker und Juristen öfter geäußert haben, die russische Rechtswissenschaft habe überhaupt erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt. Im Vergleich zu Westeuropa ohnehin spät entwickelt, musste sie sich anschließend gegen erhebliche, tatsächlich begründete Schwierigkeiten behaupten wie die mangelnde Akzeptanz, die zahlreiche Menschen dem staatlich gesetzten Recht entgegenbrachten, sowie die unzureichende juristische Bildung vieler Akteure der Rechtspflege.

1 

Es handelt sich um einen Beitrag zu dem vom 10. bis zum 12.9.2015 zu Ehren von Klaus Luig abgehaltenen Kolloquium: „Wie pandektistisch war die Pandektistik?“. Der behandelte Gegenstand ist in meiner Monographie „Fremde Traditionen des römischen Rechts. Einfluß, Wahrnehmung und Argument des „rimskoe pravo“ im russischen Zarenreich des 19. Jahrhunderts“, Göttingen 2014, nur am Rande behandelt worden, weil er weniger das römische Recht berührt als vielmehr eine auf Grundlage eines spezifischen Merkmals der Pandektistik betriebene Entwicklung des Rechtsdenkens.

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Am schwersten aber wog in rechtswissenschaftlicher Hinsicht der staatlich verordnete Gesetzespositivismus. Das geltende Recht war auf den Wortlaut der Normtexte beschränkt. Es galt ein Verbot der Gesetzesauslegung, das erst seit den 1860er Jahren schrittweise abgemildert wurde. Das positive Recht, das im Svod Zakonov von 1835 aus zahlreichen älteren Normen zusammengestellt war, kennzeichneten eine heterogene Begrifflichkeit, Widersprüche und Lücken. Unter diesen Umständen begegneten die Juristen erheblichen Schwierigkeiten bei ihren Bemühungen, auch nur Grundstrukturen einer Rechtswissenschaft am positiven Recht anzuknüpfen. Die Vertreter wissenschaftlichen Rechtsdenkens behalfen sich, indem sie eine selbständige Dogmatik entwickelten. Den Weg wies eines der kennzeichnenden Merkmale der Pandektenwissenschaft: die Neigung zu gegenüber römischem Systemdenken eigenständiger Systembildung und die Entwicklung einer kohärenten Begrifflichkeit in einiger Distanz zu den Rechtsquellen, also denjenigen Texten des Corpus Iuris, die Gegenstand der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland gewesen waren. Bei den deutschen Juristen bedeutete dies eine Lockerung der Abhängigkeit vom normativen Gehalt der römischen Quellen. Regeln und Begriffe wurden zunehmend nicht mehr unmittelbar aus den Quellentexten abgeleitet, sondern verselbständigten sich ein Stück weit. Diese Loslösung der Dogmatik von den Normtexten einer bestimmten Rechtsordnung gab überdies Raum für die Übertragung der pandektistischen Begrifflichkeit auf andere geltende Rechte, wie z. B. im Fall der österreichischen Pandektisten auf das Recht des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs oder im Fall Heinrich Dernburgs auf das preußische Recht.2 Dieses Verfahren hatten zahlreiche führende Repräsentanten der Rechtswissenschaft des Zarenreiches in Deutschland und Österreich kennengelernt. Sie legten es ihrem eigenen Rechtsdenken zugrunde. Im Unterschied zur Dogmatik des Pandektenrechts, deren Herausbildung immerhin grundsätzlich von den Quellen des Gemeinen Rechts ausgegangen war, entwickelte sich diejenige des russischen Rechts allerdings sogar weitgehend unabhängig von den geltenden Rechtstexten und konnte daher – wegen des herrschenden Gesetzespositivismus – nicht beanspruchen, eine Dogmatik des geltenden Rechts zu sein.

2  Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2.   Aufl., Göttingen 1967, S. 445. Dazu differenzierend Klaus Luig, Der Spätpandektist Heinrich Dernburg als Begründer der Wissenschaft vom preußischen Privatrecht, in: 200 Jahre Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten, hrsg. von Barbara Dölemeyer und Heinz Mohnhaupt, Frankfurt am Main 1995, S.  211–237, 223 ff.

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II.  Das „Dogma“ als Konzept einer wissenschaftlichen Rechtsdogmatik Um trotz der dürftigen Grundlagen, die das positive Recht bot, und trotz der engen Vorgaben für eine Entwicklung des geltenden Rechts ein wissenschaftliches Zivilrechtsdenken hervorbringen zu können, etablierten die Juristen ein Konzept, für das sie den Ausdruck „Dogma“ verwendeten, der aus dem Griechischen (τό δόγμα) in die lateinische Wissenschaftsterminologie übernommen worden war und nun als eines von vielen Fremdworten in die russische Rechtssprache (догма) einging. Die Wahl dieses Ausdrucks für eine Rechtslehre von selbständiger Bedeutung lässt an eine sehr alte Tradition denken. Es ist bekanntlich für mittelalterliche Glossatoren verschiedentlich belegt, dass sie sich mit dem Ausdruck dogma, wenn auch mit einer im Einzelnen wechselnden Begrifflichkeit, auf eine Gesamtheit juristischer Regeln und Anwendungsgrundsätze bezogen hatten, also zentrale Elemente dessen, was als scientia, also als einem damaligen Wissenschaftsverständnis entsprechender Methodeninbegriff gelten konnte.3 Russische Juristen knüpften nicht an diese ältere Begrifflichkeit an. Sie ließen sich zur Verwendung des Ausdrucks vielmehr von der deutschen Rechtsliteratur anregen. Diese bediente sich, um den Inbegriff der Regelungen des geltenden Rechts zu kennzeichnen, allerdings überwiegend des Ausdrucks „Dogmatik“. Er bezeichnete unter den Teilbereichen der Rechtswissenschaft diejenige Jurisprudenz, die im Unterschied zu Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie spezifisch „praktisch“ konzipiert war.4 Was im Einzelnen unter Dogmatik verstanden wurde, unterlag Wandlungen und wurde zeitweise kontrovers diskutiert. Immerhin stand der Ausdruck überwiegend für ein methodisches Instrumentarium, welches das geltende Recht mit dem Ziel seiner systematischen Anwendung in einer kohärenten Ordnung von Begriffen zu fassen erlaubte.5 Als charakteristisch wird auch vielfach eine spezifische Autorität angesehen, 6 was natürlich naheliegt, sofern Dogmatik als solche des geltenden Rechts auftritt.

3  Dmitrij Poldnikov, Dogma and Legal History in Russian Science of Civil Law, in: Journal on European History of Law 1 (2011), S.  61–65, 63. 4  Für diese öfters vorgenommene Unterscheidung vgl. Rudolf v. Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft? (1868), hrsg. von Okko Behrends, Göttingen 1998, S.  19–92, 92. 5  Näher nun Christian Bumke, Rechtsdogmatik. Überlegungen zur Entwicklung und zu den Formen einer Denk- und Arbeitsweise der deutschen Rechtswissenschaft, in: Juristenzeitung 2014, S.  6 41–650, 642 f. 6  In diesem Sinne äußerte sich verschiedentlich Franz Wieacker; vgl. Martin Avenarius, Universelle Hermeneutik und Praxis des Rechtshistorikers und Juristen. Die Entwicklung ihres Verhältnisses im Lichte der Diskussion zwischen Gadamer und Wieacker, in: Juristische Hermeneutik zwischen Vergangenheit und Zukunft, hrsg. von Stephan Meder, Gaetano Carlizzi, Christoph-Eric Mecke und Christoph Sorge, Baden-Baden 2013, S.  59–103, 88 u. 91.

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Einzelne Autoren aber verwendeten neben dem Terminus „Dogmatik“ auch den Ausdruck „Dogma“.7 Angesichts der veränderlichen und umstrittenen Begrifflichkeit ist eine Profilierung des mit „Dogmatik“ und „Dogma“ jeweils Gemeinten sicherlich nicht in voller Schärfe möglich. Immerhin kann ein „Dogma“ durch ein wichtiges Merkmal von der Dogmatik schlechthin unterschieden werden: Hierunter wird (vor allem außerhalb juristischer Zusammenhänge) verschiedentlich ein Grundsatz verstanden, der nicht abgeleitet wird und dessen Richtigkeit insoweit nicht widerlegt werden kann. Man kennt diese Vorstellung vor allem aus dem Zusammenhang von Religion oder Weltanschauung, 8 wenn man z. B. von christlichen oder marxistischen Dogmen spricht, während in der Rechtswissenschaft eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der Wahrnehmung bestimmter Sätze als mit höherer Verbindlichkeit versehen bewirkt hat, dass man mit der Bezeichnung derselben als „Dogmen“ eher vorsichtig ist.9 Wo sie immerhin auftritt, bezieht sich die Rede vom Dogma zumeist auf einen bestimmten Satz, etwa auf einen wissenschaftlich anerkannten Lehrsatz10 oder sogar ein Rechtsprinzip. Einzelne Autoren kennen allerdings auch die Vorstellung von einer als „Dogma“ bezeichneten Lehre im umfassenden Sinn. Unter dem Eindruck dieser Literatur entwickelten russische Juristen nun ein eigenes Dogma-Konzept, das nach verbreitetem Verständnis mehrere charakteristische Gedanken miteinander verband: Man verwendete den Ausdruck für ein systematisch und begrifflich kohärentes Rechtsdenken, das erklärtermaßen nicht für das durch den Staat in Geltung gesetzte Recht stehen sollte, zugleich aber den Rang allgemeinverbindlicher Normen und Prinzipien beanspruchte. In dieser Bedeutung fand der Ausdruck „Dogma“ in der Rechtswissenschaft große Verbreitung.11 Zahlreiche Werktitel nahmen ihn auf.12 7  Für Jhering vgl. unten S.  45 f. Vgl. ferner Johann F. M. Kierulff, Theorie des Gemeinen Civilrechts, Bd. 1, Altona 1839, S.  6 4 („Grunddogma“). 8  Ulrich Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, Tübingen 1973, S.  6 –13. 9  Vgl. nur Uwe Diederichsen, Auf dem Weg zur Rechtsdogmatik, in: Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, hrsg. von Reinhard Zimmermann, Heidelberg 1999, S.  65–77, 67 mit weiteren Nachweisen. 10  Diederichsen, Auf dem Weg zur Rechtsdogmatik (wie Fn.  9 ), S.  67. 11  Poldnikov, Dogma and Legal History (wie Fn.  3), S.  63; vgl. dens., Dogovornye teorii klassicˇeskogo ius commune (XIII–XVI vv.) (Vertragstheorien des klassischen ius commune [13. –16. Jhdt.]), Moskva 2011, S.  30 ff. 12  Vgl. etwa Vasilij S. Balašov, Konspekt po dogme rimskogo prava (Übersicht über das Dogma des römischen Rechts), Sankt-Peterburg 1902; Vasilij V. Efimov, Dogma rimskogo prava. Ucˇebnyj kurs (Das Dogma des römischen Rechts. Ein Lehrkurs), S.-Peterburg 1901; David D. Grimm, Lekcii po dogme rimskogo prava (Vorlesungen über das Dogma des römischen Rechts), S.-Peterburg 1907; Sergej A. Muromcev, Cˇto takoe dogma prava? Kritikopolemicˇeskaja zametka po povodu stat’i g. Gol’mstena: „Neskol’ko myslej o pozitivizme v nauke prava“ v Žurn. Gražd. i Ugol. prava, 1884, No 3. str. 91–126 (Was ist das Rechtsdogma? Kritisch-polemische Anmerkung aus Anlaß des Aufsatzes des Hrn. Gol’msten: „Einige Gedanken über den Positivismus in der Rechtswissenschaft“ im Journal für Bürgerliches und

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Warum aber wählte man gerade den Ausdruck „Dogma“ statt „Dogmatik“? Könnte das Fremdwort „dogma“ vielleicht im Russischen als sprachlich weniger sperrig als der – auch, aber viel seltener vorkommende – Ausdruck „dogmatika“ empfunden worden sein? Man wird das nicht ausschließen können. Wir werden aber sehen, dass dies nicht – oder jedenfalls nicht hauptsächlich – ausschlaggebend gewesen ist. Man wollte vielmehr etwas anderes kennzeichnen. Die Vorstellung, bei dem „Dogma“ handele es sich ohnehin nicht notwendig um Aussagen über das positive Recht, gibt Raum dafür, dass es gewissermaßen modellhaft aufgefasst werden und als Theorie dienen konnte. Durch diesen Kunstgriff vermied das „Dogma“-Konzept die Schwierigkeiten, die der Widerspruch zwischen dem wissenschaftlich ausgearbeiteten Privatrecht einerseits und dem geltenden Recht des Svod Zakonov andererseits hätte aufwerfen können. Die als „Dogma“ bezeichneten Begriffe und Regelungen wurden in der Literatur vielmehr als allgemeine Rechtsgrundsätze betrachtet. Als solche fanden sie nach einer verbreiteten Vorstellung im römischen Recht Ausdruck. Ihre Relevanz ergab sich freilich nicht daraus, dass das römische Recht gegolten hätte, denn das war in Russland nicht der Fall, sondern sie schienen als universell – also nicht spezifisch römisch – gewissermaßen durch die Quellen hindurch. Da die wissenschaftliche Herangehensweise russischer Juristen an das Recht im 19. Jahrhundert maßgeblich von der deutschen Rechtswissenschaft befruchtet wurde, ist das Dogma – ungeachtet seiner Distanz zum positiven Recht – oftmals in die Nähe des in Deutschland geltenden „Heutigen römischen Rechts“ gerückt worden. Die Berechtigung dieser Vorstellung hängt für die einzelnen Autoren davon ab, wie stark sie jeweils an einem systematischen Privatrecht arbeiteten. Ihr leitendes Interesse war jedenfalls kein historisches. Diese Differenzierung fand z. B. darin Ausdruck, dass das Dogma als Fach der universitären Lehre von den rechtshistorischen Gegenständen getrennt behandelt wurde.13 Strafrecht 1884, Nr.  3, S.  91–126), in: Juridicˇeskij Vestnik 1884, Nr.  4, S.  759–765; ders., Cˇto takoe dogma prava? Kritiko-polemicˇeskaja zametka po povodu stat’i g. Gol’mstena: „Ne­ skol’ko myslej o pozitivizme v nauke prava“ v Žurn. Gražd. i Ugol. prava, 1884, No 3, str. 91–126. (Okoncˇanie [Schluß]), in: Juridicˇeskij Vestnik 1884, Nr.  5/6, S.  231–240; ders., Ešcˇë po voprosu o dogme. Po povodu vtorogo e˙tjuda g. Gol’mstena v Žurn. Gr. i Ug. prava, 1884 g., No 5. (Nochmals zur Frage nach dem Dogma. Aus Anlass der zweiten Studie des Hrn. Gol’msten im Journal für Bürgerliches und Strafrecht 1884, Nr.  5), in: Juridicˇeskij Vestnik 1884, Nr.  9, S.  683–691; ders., Cˇto takoe dogma prava?, Moskva 1885; Lev Petražickij, Bona fides v graždanskom prave. Prava dobrosovestnogo vladel’ca na dochody s tocˇek zrenija dogmy i politiki graždanskogo prava (Die bona fides im bürgerlichen Recht. Die Rechte des gutgläubigen Besitzers auf die Einkünfte von den Standpunkten des Dogmas und der Politik des bürgerlichen Rechts), S.-Peterburg 1897. 13  David Grimm teilte (und zitierte) Dernburgs Standpunkt: Die „Pandekten“ zielten darauf, eine allgemeine Theorie des Privatrechts zu präsentieren. Sie dienen diesem Zweck, indem sie „gemeines Recht“ behandeln, soweit dieses auf der römischen Rechtstradition beruht. „Und so bildet dieses Recht (d. h. das römische) die Grundlage, auf der unser heutiges Zivilrecht ruht“. Vgl. Grimm, Lekcii po dogme (wie Fn.  12), S.  4 mit Heinrich Dernburg, Pandekten, Bd. 1, 5.  Aufl., Berlin 1896, S.  1.

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Dass die Wissenschaft das Dogma auf einer abstrakten Ebene entwickelte, begünstigte den Gedanken, dass es jedenfalls Anregungen für das geltende Recht mochte liefern können. Hier herrschte teilweise ausgeprägtes Zweckdenken. So meinte der Sankt Petersburger Romanist Vasilij Efimov (1857–1902), das Dogma biete Hilfsmittel für gesellschaftliche Schieflagen; es erfülle insoweit eine Aufgabe wie die Medizin, die es den Ärzten ermögliche, jeweils die richtigen Arzneimittel zu verabreichen.14 Angesichts der Erfahrungen mit einem positiven Recht, das in vieler Hinsicht krankte, lagen solche „Apothekenmetaphern“ freilich nahe. Efimov repräsentierte eine verbreitete Auffassung vom Dogma, wie es sich um die Wende zum 20. Jahrhundert darstellte. Allerdings brachten viele juristische Autoren ihre jeweilige Ansicht von Wesen und Aufgabe des Dogmas nicht immer klar zum Ausdruck. Immerhin wird verschiedentlich deutlich, dass sich in Russland nicht allein eine an der Pandektistik orientierte wissenschaftliche Begrifflichkeit des Rechts entwickelte, sondern dass im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts im Rahmen des „Dogmas“ noch ein besonderes Rechtsdenken vordrang. Es deutet sich an, wenn Efimovs romanistischer Kollege David Grimm (1864–1941) bemerkt, die Vorlesung über das „Dogma des Römischen Rechts“ werde verstanden als die „systematische Lehre von Rechtseinrichtungen und Konzepten, welche spezielle gesellschaftliche Beziehungen verallgemeinert“. Dies bedeutete, wie Grimm meinte, dass das Dogma den Kern der Rechtswissenschaft bildete, indem hier nicht die gesellschaftlichen Beziehungen als solche, sondern die davon abgeleiteten abstrakten Typen derselben behandelt würden.15 Efimov wiederum führte das Dogma auf juristische Grundprinzipien zurück, die es erlaubten, alle Arten rechtlicher Erscheinungen erklären zu können.16 Welche Vorstellungen sich hier andeuten, werden wir noch sehen.

III.  Zentrale Merkmale des aufkommenden Rechtsdenkens Die spezifische Verselbständigung der Begrifflichkeit gab nicht nur – wie schon gesagt – Raum für die Herausbildung einer von dem in Russland relativ defizitären positiven Recht abgelösten Dogmatik, die das angewandte Recht – wenn auch mittelbar – gerade deswegen bereichern konnte, weil ihre Entwicklung von demselben jedenfalls nicht behindert wurde.17 Sie ermöglichte noch mehr. Hier ist auf zwei besondere Merkmale des aufkommenden Rechtsdenkens hin14 

Efimov, Dogma rimskogo prava (wie Fn.  12), S.  3. Grimm, Lekcii po dogme (wie Fn.  12), S.  2–5. 16  Efimov, Dogma rimskogo prava (wie Fn.  12), S.  3. 17  Selbstverständlich gab es, beginnend mit dem Werk Dmitrij I. Mejers (1819–1856), zahlreiche Beiträge zu einer Zivilrechtsdogmatik, die nicht von soziologischem Rechtsdenken berührt waren. Vgl. Avenarius, Fremde Traditionen (wie Fn.  1), S.  281 ff. 15 Vgl.

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zuweisen: 1) auf die Bereitschaft verschiedener russischer Juristen, in den Texten des römischen Rechts gerade Theorie wahrzunehmen, und 2) auf das in Russland früh entwickelte Konzept vom induktiv ermittelten Recht in Orientierung am tatsächlich gelebten Recht. Einen folgenreichen Beitrag zu einer Klärung der Frage, was unter dem Dogma richtigerweise zu verstehen sei, was es für das Recht bedeute und auf welcher Grundlage man dies eigentlich behaupten könne, leistete der Moskauer Romanist Sergej Muromcev (1850–1910).18 Er vertrat in einem dreiteiligen Aufsatz „Cˇto takoe dogma prava?“ („Was ist das Rechtsdogma?“) von 1884,19 der ein Jahr später in überarbeiteter Fassung selbständig im Druck erschien, 20 die Meinung, dass jener methodische Umgang mit dem Recht, der im Wege des Definierens, Systematisierens und Verallgemeinerns erfolge, keineswegs im Interesse der Lehre stattzufinden habe, sondern um praktischer Ziele willen.21 Gemeint war sicherlich auch das naheliegende Ziel einer Verbesserung der Anwendbarkeit des Rechts auf Grundlage eines Verständnisses, das durch eine wissenschaftlich entwickelte Begrifflichkeit geprägt war. Nachdem das tradierte Verbot der Auslegung des positiven Rechts der Verfolgung dieses Ziels lange Zeit grundsätzlich entgegengestanden hatte, war ein erstes Einfallstor für solche Verbesserungen mit der Zivilprozessordnung (Ustav Graždanskogo Sudopro18  Allgemeine historische Bedeutung erlangte Muromcev als Exponent der russischen Verfassungsbewegung. Er war 1906 Vorsitzender der 1. Duma, des ersten gewählten Parlaments im Zarenreich. Die Anerkennung seiner Verdienste bildete die Grundlage dafür, dass man „Muromcevs Datscha“, einen Nachfolgebau auf den historischen Fundamenten des Originals, sogar in sowjetischer Zeit wie ein inoffizielles Denkmal bewahrte. Nachdem das Gebäude 2010 durch einen Brand beschädigt worden ist, hat man es, Protesten zum Trotz, zügig abgerissen. Zur Biographie des Juristen vgl. Andrej Meduschewskij, Art. Muromcev, Sergej Andreevicˇ, in: Juristen. Ein biographisches Lexikon, hrsg. von Michael Stolleis, München 1995, S.  4 47–448; Oleg Šilochvost, Russkie civilisty seredina XVIII – nacˇalo XX v. (Russische Zivilrechtler von der Mitte des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts), Moskva 2005, S.  107 f.; Erinnerungen bei Nikolaj Davydov, K charakteristike S. A. Muromceva (iz licˇnych vospominanij) (Zum Charakter S. A. Muromcevs [aus persönlichen Erinnerungen]), in: Sergej Andreevicˇ Muromcev, Sbornik Statej, Red.: D. I. Šachovskij, Moskva 1911, S.  65‑74. 19  Für die bibliographischen Angaben s. oben Fn.  12. 20  Sergej Muromcev, C ˇ to takoe dogma prava? (Was ist das Rechtsdogma?), Moskva 1885; zitiert wird nachfolgend grundsätzlich die selbständige Druckfassung. Muromcev selbst sah sie im Vergleich zu dem dreiteiligen Aufsatz von 1884 als besser an. Er bemerkt im Vorwort, der Text liege nun in „verbesserter und erweiterter Gestalt“ vor, auch habe er den ursprünglich durch die vorherige Kritik an seinen Thesen herausgeforderten polemischen Stil der Arbeit etwas abgemildert. Das Werk ist noch im Jahr seines Erscheinens ins Deutsche übersetzt worden: Sergei Muromtzeff, Was heißt Rechtsdogmatik? Aus dem Russischen uebersetzt von Karl Esmarch, Prag 1885. Die spezifische Ausdrucksweise des Originals geht in der Übersetzung allerdings insoweit verloren, als Esmarch „dogma“ verschiedentlich mit „Dogmatik“ wiedergibt. 21 Muromcev äußert dies bei der Darstellung des konventionellen Verständnisses vom Dogma zu Beginn seiner Schrift; vgl. Cˇto takoe dogma prava? (wie Fn.  20), S.  8. Für ihn selbst steht freilich ein spezifisches Verständnis von der Beziehung zur Praxis im Vordergrund. S. dazu unten S.  45.

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izvodstva) von 1864 eröffnet worden, deren Art.  9 den Gerichten erlaubte, unter Umständen im Falle von Unvollständigkeit, Unklarheit, Mängeln oder Widersprüchlichkeit der Gesetze die Entscheidung auf den „allgemeinen Sinn“ derselben zu gründen. Diese Bestimmung wurde bald dahingehend verstanden, dass auf die „allgemeinen Grundsätze des Rechts“ – also nicht mehr nur auf die der Gesetze – zurückgegriffen werden konnte. Hier haben wir es nun – etwa im Unterschied zur pandektistischen Dogmatik – durchaus mit der Vorstellung von einer höheren Autorität des Systems von Rechtssätzen zu tun, die seine Bezeichnung als „Dogma“ mochte rechtfertigen können. Soweit dieses nun allgemeine Grundsätze, Begriffe oder Methoden anbot, konnte u. U. auch die Praxis darauf zurückgreifen.

1.  Die Wahrnehmung von Theorie in den römischen Quellen Wie zahlreiche andere russische Juristen wollte Muromcev das theoretische Potential des römischen Rechts nutzen. Eine „Theorie“ des Rechts mochte über den „allgemeinen Sinn“ der Gesetze Aufschluss geben, auf den es gemäß Art.  9 ZPO bei der Rechtsanwendung ankommen konnte, und ebenso über den „allgemeinen Sinn“ des Rechts. Bei einem Verständnis vom römischen Recht, das sich dessen theoretischem Gehalt verschlossen hätte, wäre dies nicht möglich gewesen. Indessen bewiesen verschiedene Juristen hier eine Wahrnehmungsbereitschaft, die sie womöglich gerade aufgrund ihrer spezifischen Distanz zur westeuropäischen Rechtswissenschaft entwickeln konnten. Theoretisches Potential erkannten sie keineswegs nur im „Heutigen römischen Recht“, also im hochentwickelten Pandektenrecht des ausgehenden 19. Jahrhunderts.22 Da sie nicht daran gebunden waren, das römische Recht einer bestimmten Entwicklungsstufe als geltendes Recht zu behandeln, richteten sie den Blick auch auf die Quellen als Zeugnisse antiken Rechts. In ihrer Vorstellung besaßen diese ihren Wert gerade nicht deswegen, weil sie Belege für einen besonders überzeugenden Umgang mit Einzelfällen gewesen wären.23 Mit der Bereitschaft, überhaupt 22 Vgl. Adriano Silvestri, The Contrast between Modernization and Tradition: Land Own­ership during the Last Decades of the Tsarist Empire, in: Review of Central and Eastern European Law 19 (1993), S.  1–29, 5. 23  Für die in der europäischen Romanistik bis heute verbreitete Vorstellung vom römischen Fallrecht vgl. nur Max Kaser, Das römische Privatrecht, Bd. 1, 2.  Aufl., München 1971, S.  2 f. und Wolfgang Waldstein/J. Michael Rainer, Römische Rechtsgeschichte, 11.  Aufl., München 2014, §  24 Rn.  18; für die Vorstellung von einer hiervon nur teilweise begrifflich unterschiedenen „Kasuistik“ vgl. nur die verschiedenen Arbeiten von Letizia Vacca, die in dem Band „Metodo casistico e sistema prudenziale. Ricerche“, Padova 2006, zusammengestellt sind; ferner dies., La giurisprudenza nel sistema delle fonti del diritto romano, Torino 1989 sowie dies., Contributo allo studio del metodo casistico nel diritto romano, Ndr. Milano 1982, ferner Manuel Jesús Garcia Garrido, Casuismo y jurisprudencia romana (Responsa), 4.  Aufl., Madrid 2008. Vgl. außerdem Luigi Lombardi, Saggio sul diritto giurisprudenziale, Milano

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Theorie – und nicht hauptsächlich „Fallrecht“ – in den römischen Quellen wahrzunehmen, unterschieden sich diese Juristen von einer in der westeuropäischen Romanistik der Jahrzehnte um die Wende zum 20. Jahrhundert verbreiteten Einstellung, die in abgemilderter Form bis in die Gegenwart fortwirkt.24 Wenn man die mangelnde Offenheit deutscher Romanisten derselben Zeit dafür, den theoretischen Gehalt der Quellen und womöglich sogar philosophische Grundlagen des Rechtsdenkens wahrzunehmen, jedenfalls zu einem maßgeblichen Teil auf Nationalromantik und auf die Überzeugung von einem hohen Stellenwert gerade der Gesetzgebung als Rechtsquelle zurückführen darf, 25 dann erweist sich, dass die in der letztgenannten Hinsicht im Zarenreich grundsätzlich anderen Bedingungen russischen Romanisten eine eigenständige und jedenfalls teilweise abweichende Sicht eröffneten. Sie erwarteten von der Gesetzgebung ebenso wenig wie von den Institutionen des autokratischen Staates überhaupt und setzten ihre Hoffnung auf die Fruchtbarkeit des wissenschaftlichen Rechtsdenkens. Daher waren sie bereit, verschiedene theoretische Entwürfe, welche römische Juristen hervorgebracht hatten, in ihrer jeweiligen Eigenart zu verstehen. Von einer Identität der Konzepte mit angewandtem Recht des Altertums gingen sie dabei nicht aus.26

1967, insbes. S.  21 ff.; Franz Horak, Osservazioni sulla legge, la casistica e il „case law“ nel diritto romano e nel diritto moderno, in: Legge, Giudici, Giuristi. Atti del convegno di Cagliari 1981, Milano 1982, S.  67–81; Dieter Nörr, Pomponius oder „Zum Geschichtsverständnis der römischen Juristen“, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II/15, Berlin (u. a.) 1976, S.  497–604, 508. 24  Martin Avenarius, „neque id sine magna Servii laude …“. Historisierung der Rechtswissenschaft und Genese von System und Methode bei Donellus, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 74 (2006), S.  61–93, 78 f. Behrends hat in mehreren Abhandlungen den Fallrechtsmythos als solchen herausgearbeitet, seinen Ursprung mit einer romantischen Fehldeutung des römischen Rechts im Rahmen der deutschen Historischen Rechtsschule erklärt und sein Weiterleben im 20. Jahrhundert auf den fortwirkenden Einfluss derselben zurückgeführt. Vgl. die kritische Auseinandersetzung mit der Auffassung vom römischen „Fallrecht“ bei Okko Behrends, Das Werk Otto Lenels und die Kontinuität der romanistischen Fragestellungen. Zugleich ein Beitrag zur grundsätzlichen Überwindung der interpolationistischen Met­ hode, in: Index 19 (1991), S.  169–213, 171 (= ders., Institut und Prinzip. Siedlungsgeschichtliche Grundlagen, philosophische Einflüsse und das Fortwirken der beiden republikanischen Konzeptionen in den kaiserzeitlichen Rechtsschulen, hrsg. von Martin Avenarius, Rudolf Meyer-Pritzl und Cosima Möller, Bd. 1, Göttingen 2004, S.  267–309, 270) sowie dens., Wie haben wir uns die römischen Juristen vorzustellen?, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Romanistische Abteilung) 128 (2011), S.  83–129. 25  Behrends, Das Werk Otto Lenels (wie Fn.  24), S.  171 (= ders., Institut und Prinzip [wie Fn.  24], Bd. 1, S.  270). 26  Für dieses Spannungsverhältnis vgl. Martin Avenarius, Marc Aurel und die Dogmatik des römischen Privatrechts. Kaiserliche Rechtspflege im System der Rechtsquellen und die Ausfüllung von Gestaltungsspielräumen in einer Übergangszeit der Rechtsentwicklung, in: Selbstbetrachtungen und Selbstdarstellungen. Der Philosoph und Kaiser Marc Aurel im interdisziplinären Licht, hrsg. von Marcel van Ackeren und Jan Opsomer, Wiesbaden 2012, S.  203–282, 207 ff.

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Wenn neben anderen Juristen auch Muromcev einen möglichen Rückgriff der Praxis auf diese Theorie in Betracht zog, dann bedeutet dies auch bei ihm nicht, dass das Dogma des römischen Rechts oder des bürgerlichen Rechts mit dem Anspruch betrieben werde, Aussagen darüber zu liefern, wie das positive Recht aufzufassen sei. Für ihn sollte es seine Aufgaben vielmehr im Sinne einer „juristischen Kunst“ (juridicˇeskoe iskusstvo) bewältigen.27 Eine „juristische Kunst“ sah Muromcev, wie er an anderer Stelle mitteilt, besonders bei den römischen Juristen verwirklicht.28 Es handelt sich um einen Ausdruck, den Muromcev als Romanist treffend für den spezifisch wissenschaftlichen Umgang mit dem Recht, also die ars iuris, verwendet.29 Das Dogma wird also, wie Muromcev durch die Beschreibung seiner methodischen Elemente offenlegt, als derjenige Bereich beschrieben, in dem das Recht durch Wissenschaft geprägt werde.30 Hiervon unterschied Muromcev die Rechtstheorie, als deren Ziel er die Ausarbeitung abstrakterer Konzepte, also Grundanschauungen vom Recht überhaupt beschrieb.

2.  Die Ausrichtung des Rechtsdenkens auf das „gelebte“ Recht Durch die relative Freiheit, die die Distanz zum positiven Recht bot, sowie aufgrund der Offenheit gegenüber methodischer Vielfalt konnte Muromcev nun die Hauptstoßrichtung seines wissenschaftlichen Denkens in eine andere Richtung entwickeln. Es wird hier genügen, bestimmte Grundauffassungen zu skizMuromcev, Cˇto takoe dogma prava? (wie Fn.  20), S.  11. Sergej Muromcev, Opredelenie i osnovnoe razdelenie prava (Bestimmung und Grundeinteilung des Rechts), Moskva 1879, S.  4 und passim. 29  Die klassische Tradition des römischen Rechtsdenkens hatte die ideale Verfahrensweise des Juristen mit dem Recht als ars iuris aufgefasst. Vgl. bereits Ciceros Programmschrift „De iure civili in artem redigendo“ („Über das auf Wissenschaft zurückzuführende ius civile“), deren historische Existenz Gellius, Noct. Att. 1,22,7 bezeugt, sowie Cicero, Brutus 41,152, einen Schlüsseltext für die Anfänge der spezifisch wissenschaftlichen Behandlung des Rechts; dazu Avenarius, Universelle Hermeneutik (wie Fn.  6), S.  80 f. mit Nachweisen. Für die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung der von Cicero referierten Auffassung aus moderner Sicht vgl. grundlegend Okko Behrends, Gesetz und Sprache. Das römische Gesetz unter dem Einfluß der hellenistischen Philosophie, in: Nomos und Gesetz. Ursprünge und Wirkungen des griechischen Gesetzesdenkens, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, 3.  Folge, Bd.  209, hrsg. von Okko Behrends und Wolfgang Sellert, Göttingen 1995, S.  137–249, 194–196 (= ders., Institut und Prinzip [wie Fn.  24], Bd. 1, S.  91–224, 160–162). 30  Muromcev, C ˇ to takoe dogma prava? (wie Fn.  20), S.  11. Muromcev beschreibt zwar das Dogma mit dem Ausdruck „iskusstvo“ (Kunst) und unterscheidet das Gemeinte von der„nauka“ (Wissenschaft). Daß er sich mit „iskusstvo“ allerdings auf die in der vorangehenden Fn. genannte ars bezieht, wird sofort anschließend bei der Erläuterung der einzelnen methodischen Elemente deutlich. Um klarzustellen, daß die als „iskusstvo“ bezeichnete Denkweise keineswegs irrationale Komponenten kennt, setzt Esmarch in seiner Übersetzung – sachlich zutreffend – zu „Kunst“ in Klammern den Ausdruck „Technik“ hinzu und greift damit die historische Lehnübersetzung des griechischen „téchne¯“ mit „ars“ auf. 27 

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zieren, weil es darauf ankommt, dass es offenbar gerade die Verselbständigung der Dogmatik, wie man sie von der Pandektistik her kannte, gewesen ist, die das Rechtsdenken offen für Einflüsse machte, welche dem rechtswissenschaftlichen Positivismus zuwiderliefen und letztlich zu seiner Überwindung beitrugen. Wenn Muromcev, wie gesagt, den Standpunkt vertrat, dass die als Dogma bezeichnete Begrifflichkeit richtigerweise gerade in Orientierung an der Praxis ausgearbeitet werden müsse, kam es ihm in erster Linie nicht auf den Zweck der praktischen Anwendbarkeit an, sondern auf die Orientierung am praktisch gelebten Recht, also an den Normen, nach denen sich die Menschen tatsächlich richten.31 Diese Auffassung weist auf Jhering.32 Dass Muromcev den Anschluss an ihn herstellt, dürfte ein wichtiger Grund dafür gewesen sein, dass sich in der russischen Juristensprache die Rede vom „Dogma“ anstatt von der „Dogmatik“ etablierte. Bereits Jhering nämlich hatte sich in dieser Weise ausgedrückt, wenn er mit dem Terminus „Dogma“ eine Lehre im umfassenden Sinn bezeichnete. In der zweiten Auflage von Band 1 seines „Geist des römischen Rechts“, also in der nach seiner berühmten Krise bearbeiteten Fassung von 1866, traf Jhering die in den späteren Auflagen fast unverändert beibehaltene Feststellung, es beschränke sich „die herrschende Methode im Wesentlichen auf eine Reproduction des Dogmas d. h. die Wiedergabe der Gesetze, Rechtssätze und Begriffe, welche die geschichtliche Tradition ihr überliefert hat. Ihr beständiger Refrain für das römische Recht ist Quellenstudium, und der kühnste Gedanke, dessen sie fähig ist, besteht in der Wiedererweckung der reinen römischen Theorie.“33

Jhering ordnet das bei ihm sogenannte „Dogma“ also der „herrschenden Met­ hode“ zu. Gemeint ist offenbar die Pandektenwissenschaft. Jhering kritisiert ihren Standpunkt und will sich von ihm absetzen. Er sieht aus der Distanz auf die Herausarbeitung eines Dogmas, das nach seiner Überzeugung nicht vollständig dem tatsächlich bestehenden Recht entspricht. Jhering beobachtet nämlich,

31 Vgl. Nikolaj Azarkin, Istorija juridicˇeskoj mysli Rossii (Geschichte des juristischen Denkens Russlands), Moskva 1999, S.  336. 32  Hierauf weist die Kritik hin; vgl. Semën Pachman, O sovremennom dviženii v nauke prava (Über die gegenwärtige Bewegung in der Rechtswissenschaft), in: Žurnal Graždanskogo i Ugolovnogo Prava 20 (1882), Heft 3, S.  1–68, 18. Zur weiteren Diskussion der Lehre Muromcevs vgl. Avenarius, Fremde Traditionen (wie Fn.  1), S.  424–428. 33  Rudolph Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 1. Theil, 2.  Aufl., Leipzig 1866, S.  47 (Hervorhebungen im Original). In der Fassung der 1. Auflage von 1852 (dort S.  38) hatte die Textpassage noch gelautet: „(…) beschränkt sich die herrschende Methode auf eine Reproduction der Rechtssätze und Begriffe, die von den Römern selbst aufgestellt sind. Ihr beständiger Refrain ist Quellenstudium, und der kühnste Gedanke, dessen sie fähig ist, besteht in der Wiedererweckung der reinen römischen Theorie“.

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„daß zwischen dem objectiven Recht, wie es tatsächlich herrscht und zur Anwendung gelangt, und seiner Fassung in Form von Rechtssätzen, dem Dogma keine vollständige Congruenz besteht (…)“.34

Er möchte demgegenüber die Rechtswissenschaft für die praktischen Erfordernisse der Zeit, aber auf Grundlage des „tatsächlich herrschenden“ Rechts weiterentwickeln.35 Muromcev hatte 1873 in Göttingen studiert und war dort Schüler Jherings geworden. Sein Werk verdankt dem Einfluss des Göttinger Gelehrten viel.36 Jhering hatte, wie gesehen, die von ihm abgelehnte, nicht hinreichend mit dem tatsächlich herrschenden Recht korrespondierende Vorgehensweise als „Dogma“ bezeichnet. In gleichfalls kritischer Absicht stellt nun Muromcev das „Dogma“ zunächst so dar, wie es als pandektistische Dogmatik verstanden wird – sein Beispiel ist naheliegenderweise Puchta 37 –, bevor er dasselbe dann in das Licht des von ihm selbst befürworteten Rechtsdenkens stellt. Bei diesem Rechtsdenken handelt es sich um ein solches, das an soziologischen Gesetzen orientiert ist.38 Ihm geht es also – anders als es der Titel seines Werkes „Was ist das Rechtsdogma?“ vermuten lassen mag – nicht um das herrschende, sondern um das nach seiner Meinung richtige Verständnis vom Dogma, nämlich u. a. um die jeweils richtig verstandene Bedeutung von Deduktion und Induktion.39 Vor­überlegungen zu seinem eigenen Rechtsdenken hatte Muromcev bereits 1875 in einem Aufsatz über das römische Recht als Gegenstand der Wissenschaft publiziert,40 also kurz nach seiner Rückkehr aus Göttingen. In ausgearbeiteter Form entwickelte er seine Grundsätze 1879 in seiner Schrift „Opredelenie i osnovnoe razdelenie prava“, also „Bestimmung und Grundeinteilung des Rechts“.41 In den genannten Arbeiten setzte sich Muromcev als einer der ersten 34  Jhering, Geist des römischen Rechts, 1. Theil, 2.  Aufl. (wie Fn.  33), S.  33; s. auch S.  55 mit der Gegenüberstellung von Dogma und Recht der Wirklichkeit. 35  Jhering, Geist des römischen Rechts, 1. Theil, 2.  Aufl. (wie Fn.  33), S.  47 f. mit S.  33. 36  Nikolaj Nowikow, Die Soziologie in Rußland. Ihre institutionelle Entwicklung von den Anfängen bis zur Oktoberrevolution 1917, Wiesbaden 1988, S.  48. Das Gesagte gilt auch für Muromcevs rechtshistorisches Werk. So enthält sein Hauptwerk „Graždanskoe pravo drevnego Rima“ (Bürgerliches Recht des Alten Rom) von 1883 eine Schilderung der geschichtlichen Entwicklung des römischen Rechts unter Berücksichtigung seiner sozialen Dimension. Der Verfasser erörtert die universelle Seite der Rechtsentwicklung sowie die Bedeutung des römischen Rechts innerhalb derselben, so wie es Jhering in seinem „Geist des römischen Rechts“ exemplarisch getan hatte. 37  Muromcev, C ˇ to takoe dogma prava? (wie Fn.  20), S.  11 und anschließend öfter. 38 Vgl. Muromcev, C ˇ to takoe dogma prava? (wie Fn.  20), S.  24. 39  Muromcev, C ˇ to takoe dogma prava? (wie Fn.  20), S.  31 f. 40  Sergej Muromcev, Rimskoe pravo kak predmet nauki (Das römische Recht als Gegenstand der Wissenschaft), in: Žurnal Graždanskogo i Ugolovnogo Prava 1875, Nr.  6 , S.  66–80. 41  Muromcev, Opredelenie i osnovnoe razdelenie prava (wie Fn.  28). Dazu ausführlicher Marcin Zielin´ski, Der Transfer juristischen Gedankenguts innerhalb Europas am Beispiel der Versuche der Modernisierung des Zivilrechts im ausgehenden Zarenreich, Hamburg 2007, S.  56 ff. Die genannten Schriften lösten jene kritische Diskussion der Thesen Muromcevs aus

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Juristen überhaupt für die Anwendung soziologischer Methoden in der Rechtswissenschaft ein.42 Muromcev ging auch in diesem Zusammenhang vom römischen Recht aus. Dessen Bedeutung lag für ihn – jedenfalls hier – nicht in erster Linie in bestimmten Regelungen oder methodischen Elementen. Für ihn kam es vielmehr darauf an, dass das römische Recht aufgrund seiner jahrhundertelangen und vielfältigen Entwicklung eine wertvolle Grundlage, „faktisches Material“43 für eine deskriptive Wissenschaft biete, die sich auf die Rechtswirklichkeit richte.44 In diesem Sinne sollte die wissenschaftliche Bearbeitung des römischen Rechts für Muromcev die richtige Zivilrechtswissenschaft repräsentieren.45 Muromcev legte ein am wissenschaftlichen Positivismus orientiertes Arbeitsprogramm zugrunde, dessen theoretische Grundlagen er bei Auguste Comte und John Stuart Mill entlehnte. Er ging von der Herausarbeitung derjenigen „Gesetze“ aus, die die Entstehung von Sachverhalten und Einrichtungen des Lebens sowie deren Verhältnis zueinander bestimmen. Muromcev hatte insoweit also nicht juristische, sondern positivistische Gesetze im Blick, allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich die Entstehensbedingungen und Folgen bestimmter Einrichtungen des Lebens bzw. ihr synchrones Verhältnis zueinander richten.46 Dieses Programm wandte er auf das Recht an. Es richtete sich hier auf die Ermittlung derjenigen Gesetze, die der Herausbildung einzelner Rechtsinstitute, z. B. bestimmter Vertragstypen aus anderen, zugrundeliegen. Hierher gehören etwa Beobachtungen wie die Entwicklung auf den Willen des Einzelnen ausgerichteter Rechtsordnungen aus Systemen, die grundsätzlich durch Formalismus geprägt sind. Ein anderer Typ des zu ermittelnden Gesetzes umfasste diejenigen, die das Verhältnis zwischen bestimmten Einrichtungen sowie zwischen denselben und nicht-juristischen Lebenssachverhalten bestimmen.47 Diesem Denken lag, wie Muromcev offenlegte, das Konzept von den dynamischen und den statischen Gesetzen der Soziologie zugrunde. Ausgehend von der Vorstel(vgl. a. a. O., S.  103 ff.), gegen die sich die „Polemik“ ihres Verfassers in der Ursprungsfassung von „Cˇto takoe dogma prava?“ gerichtet hatte (wie Fn.  20). 42 Vgl. Bogdan Kistjakovskij, Social’nye nauki i pravo. Ocˇerki po metodologii social’nych nauk i obšcˇej teorii prava (Sozialwissenschaften und Recht. Studien über die Methodologie der Sozialwissenschaften und die allgemeine Theorie des Rechts), Moskva 1916, S.  338 f.; Andrzej Walicki, Legal Philosophies of Russian Liberalism, Oxford (u. a.) 1967, Ndr. Notre Dame (u. a.) 1992, S.  357–359; Hugh W. Babb, Petrazhitskiı˘: Science of Legal Policy and Theory of Law, in: Boston University Law Review 17 (1937), S.  793–829, 798, Fn.  24. 43  Muromcev, Opredelenie i osnovnoe razdelenie prava (wie Fn.  28), S.  31; vgl. Zielin ´ski, Der Transfer juristischen Gedankenguts (wie Fn.  41), S.  71. 44  Andrej Meduschevskij, Konstitutionelle Projekte in Rußland am Anfang des 20. Jahrhunderts und ihre deutschen Prototypen, in: Reformen im Rußland des 19. und 20. Jahrhunderts, hrsg. von Dietrich Beyrau, Igor’ Cˇ icˇurov und Michael Stolleis, Frankfurt am Main 1996, S.  237–259, 247; Avenarius, Fremde Traditionen (wie Fn.  1), S.  421 f. 45 Vgl. Muromcev, Opredelenie i osnovnoe razdelenie prava (wie Fn.  28), S.  4. 46  Muromcev, Opredelenie i osnovnoe razdelenie prava (wie Fn.  28), S.  14. 47  Muromcev, Opredelenie i osnovnoe razdelenie prava (wie Fn.  28), S.  11 ff.

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lung einer induktiven Ermittlung dieser auf das Recht angewandten Gesetzmäßigkeiten auf Grundlage des historischen Materials erwartete Muromcev, dass sich auch die Entwicklung der Rechtseinrichtungen in der Gegenwart verstehen und sogar in einem verbessernden Sinne beeinflussen lasse.48 Die Anregung zu diesem an der rechtlichen Seite von Einrichtungen des Lebens orientierten Denken stammt offenbar von Jhering. Dieser hatte angesichts einer von ihm diagnostizierten „Verkennung des Wesens des Rechts“ die berühmten Programmsätze formuliert: „Das Leben ist nicht der Begriffe, sondern die Begriffe sind des Lebens wegen da. Nicht was die Logik, sondern was das Leben, der Verkehr, das Rechtsgefühl postulirt, hat zu geschehen, möge es logisch nothwendig oder unmöglich sein.“49

In späteren Auflagen schreibt Jhering sogar: „möge es logisch deduzierbar oder unmöglich sein“ – auf die Ableitbarkeit aus einem juristischen System soll es hiernach also letztlich nicht ankommen. In Jherings Werken und Lehre also hatte Muromcev Grundgedanken gefunden, von denen die Entwicklung einer soziologischen Betrachtung des Privatrechts ausgehen konnte.50 Der Verstehenshorizont der 1860er Jahre, in denen Jhering seine von Muromcev aufgegriffenen Vorstellungen erstmals formuliert hatte, konnte dies vielleicht noch nicht in aller Klarheit erkennen lassen, doch zeigt sich am späteren Echo in Russland, dass die Lehren Jherings dort den Boden für die Entstehung der soziologischen Bearbeitung des Privatrechts bereitet haben. Vermittelt und ausgearbeitet durch Muromcev wurden diese Vorstellungen Jherings russischen Juristen nahegebracht.51 Auch solche Autoren, die nicht speziell der soziologischen Denkweise im Recht anhingen, kannten sie.52 Sie 48  Vgl. Istorija politicˇeskich i pravovych ucˇenij (Geschichte der politischen und rechtlichen Lehren), Red.: Vladik S. Nersesjanc, 4.  Aufl., Moskva 2005, S.  637–639. 49  Rudolph Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschieden Stufen seiner Entwicklung, 3. Theil, 1. Abth., 1.  Aufl., Leipzig 1865, S.  302 f. 50  Muromcev, Opredelenie i osnovnoe razdelenie prava (wie Fn.  28), S.  27 ff. 51  Muromcev engagierte sich vielseitig für die Vermittlung von Jherings Werk an russische Juristen, u. a. indem er die russische Übersetzung von Jherings Buch „Zivilrechtsfälle ohne Entscheidungen“ redigierte: Rudol’f Iering, Graždansko-pravovye kazusy bez rešenii, Teil 1, Moskva 1883, nach der 4. deutschen Auflage übersetzt von V. Ognev unter der Redaktion von S. Muromcev, Teil 2, Moskva 1908, übersetzt nach der 10. deutschen Auflage durch V. Ognev und I. Novickij. 52  Razvitie russkogo prava vo vtoroj polovine XIX – nacˇale XX veka (Die Entwicklung des russischen Rechts in der zweiten Hälfte des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts), Red.: Evgenij A. Skripilev, Moskva 1997, S.  248 f. Jhering wusste um den Erfolg seiner Lehren im Zarenreich und erklärte in einem Brief an die Herausgeber der russischen Fassung seines Buches „Der Zweck im Recht“ dankbar: „Mir scheint, daß meine Tendenz und meine Ideen nirgendwo einen solch empfänglichen Boden wie in Rußland bekommen“; Pismo Rudol’fa Ieringa k russkim izdateljam ego knigi „Cel’ v prave“ (Brief Rudolf von Jherings an die russischen Herausgeber seines Buches „Der Zweck im Recht“), in: Žurnal Graždanskogo i Ugolovnogo Prava 1882, Buch 2, Zametki (Notizen), S.  1–3, 1.

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findet ein Echo, wenn Grimm von einer „Lehre von Rechtseinrichtungen und Konzepten“ spricht, „welche spezielle gesellschaftliche Beziehungen verallgemeinert“; auf sie spielt Efimov an, wenn er die „Arten rechtlicher Erscheinungen“ erklären will.53

IV.  Von Moskau nach Czernowitz? Die Leistung Muromcevs ist in ihrer Eigenart keineswegs nur im Zarenreich anerkannt worden, sondern auch von zahlreichen Autoren des Auslands.54 Betrachtet man die gesellschaftlichen Verhältnisse, dann wird es auch nicht verwundern, dass sich soziologisches Rechtsdenken relativ früh in Russland entwickeln konnte. Hier hatte man vielfache Erfahrung mit der mangelnden Umsetzung des positiven Rechts und damit der Abweichung vom tatsächlich „gelebten“ Recht gewinnen können.55 Es handelt sich insoweit um ganz ähnliche Rahmenbedingungen wie diejenigen, die in Czernowitz in der Bukowina herrschten, also an der Peripherie des Habsburgerreichs, wo das staatlich gesetzte Recht nur unvollständig durchgesetzt wurde, während lokale Gewohnheiten und verschiedene, in der heterogenen Bevölkerung vertretene Rechtsvorstellungen große Bedeutung hatten.56 Hier begründete nach praktisch übereinstimmender Auffassung in der deutschen rechtssoziologischen Literatur Eugen Ehrlich (1862–1922) die Rechtssoziologie.57 Ehrlich arbeitete seine Lehre erst seit etwa 1903 aus, also 20 Jahre nach Erscheinen der wichtigsten theoretischen Schriften Muromcevs.58 Freilich ist das positivistische, soziologische Rechtsdenken, für das Muromcev eingetreten war, mit seiner spezifischen Interessenrichtung nicht dasselbe wie Rechtssoziologie,59 und auch war die von Ehrlich 53 

S. oben S.  40. Vgl. nur Walicki, Legal Philosophies (wie Fn.  42), S.  214; Babb, Petrazhitskiı˘ (wie Fn.  42), S. 798. 55 Vgl. William E. Butler, Russian Law, 2.  Aufl., Oxford 2003, S.  6 4. 56  Manfred Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, 2.  Aufl., Berlin 1986, S.  32 ff. u. 126 f.; vgl. Susanne Baer, Rechtssoziologie, Baden-Baden 2011, S.  88; Klaus F. Röhl, Rechtssoziologie, Köln (u. a.) 1987, S.  27 f. u. 30. 57 Eingehend Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie (wie Fn.  56), S.  11 ff. und 101 f. mit weiteren Nachweisen. Vgl. auch Thomas Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, 6.  Aufl., Wien (u. a.) 2013, S.  82; Röhl, Rechtssoziologie (wie Fn.  56), S.  27 sowie die Einordnung von Ehrlichs Werk als „Pionierarbeit der Rechtssoziologie“ bei Erik Wolf, Rez. E. Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, Ndr.  1929, in: Deutsche Literaturzeitung 1929, Sp.  1162–1165. Vorsichtiger schon Hugo Sinzheimer, der Ehrlich als Begründer der Rechtssoziologie in Deutschland bezeichnet; Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft, Frankfurt am Main 1953, S.  187–206, 187. 58  Auf diese zeitliche Reihenfolge weist auch Nowikow hin; Die Soziologie in Rußland (wie Fn.  36), S.  48. 59  Georges Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts, 2.   Aufl., Darmstadt (u. a.) 1974, S.  45. 54 

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entwickelte „Rechtstatsachenforschung“ noch nicht durch Muromcevs Erforschung der Erscheinungen des Rechts im Leben und der ihre Entwicklung und ihr Verhältnis zueinander bestimmenden Gesetze vorweggenommen worden, insbesondere, soweit die Auswertung römischer Rechtstexte ihre Grundlage hatte bilden sollen. Aber Muromcev konnte der entstehenden Rechtssoziologie vieles anbieten. Ehrlich lebte in der slavischen Welt, verstand das Russische und arbeitete in seine Werke zahlreiche slavische Schriften ein. 60 Muromcevs Arbeiten waren als die zentralen Forschungsergebnisse eines der herausragenden russischen Juristen durchaus bekannt. Natürlich hatte auch Esmarchs Übersetzung der im hier behandelten Zusammenhang zentralen Schrift „Was ist das Rechtsdogma?“ von 1885 zur Verbreitung beigetragen, ebenso wie die deutsche Fassung der Kritik Semën Pachmans (1825–1910) am soziologischen Konzept des Rechtsdenkens.61 Muromcevs Lehre wurde von anderen prominenten Autoren wie etwa Joseph Kohler (1849–1919) zitiert und verarbeitet. 62 So scheint die Überlegung nicht abwegig, ob man womöglich einiges von dem, was als von Ehrlich begründet gilt, treffender als durch diesen vermittelt wahrnehmen kann.63 Angesichts der zahlreichen Hinweise darauf dürfte sich eine nähere Untersuchung dieser Frage lohnen.

60  Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie (wie Fn.  56), S.  19. Ehrlichs Grundlegung der Soziologie des Rechts (1.  Aufl., München Leipzig 1913) beruht teilweise auch auf einer Verarbeitung von Beobachtungen zu Recht und Lebensverhältnissen in der slavischen Welt. 61  Pachmans Schrift (oben Fn.  32), in deren Mittelpunkt der Angriff auf Muromcevs Lehre steht, erschien bereits 1882 in deutscher Sprache: Ueber die gegenwärtige Bewegung in der Rechtswissenschaft. Rede, gehalten in der Jahresversammlung der bei der St. Petersburger Universität bestehenden juristischen Gesellschaft am 14./26. Februar 1882, Berlin 1882. Der Text wurde neubearbeitet und herausgegeben von Manfred Rehbinder (Berlin 1986; unten Fn.  63), allerdings hat der Herausgeber den ursprünglich unter Mitwirkung Pachmans erstellten deutschen Text abgeändert. 62  Josef Kohler, Die schöpferische Kraft der Jurisprudenz, in: (Jherings) Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 25 (n. F. 13) (1887), S.  262–297, 270, Fn.  10. 63  Dies vermutet bereits mit guten Gründen Zielin ´ski, Der Transfer juristischen Gedankenguts (wie Fn.  41), S.  68; zustimmend offenbar Günter Baranowski, Rez. Zielin´ski, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 32 (2010), S.  307–311, 308. Vgl. ferner das Vorwort des Herausgebers in: Semen V. Pachman, Über die gegenwärtige Bewegung in der Rechtswissenschaft, neubearbeitet und herausgegeben von Manfred Rehbinder, Berlin 1986, S.  9 f.

Zu der Universalität der Pandektenwissenschaft – am Beispiel der baltischen Privatrechtswissenschaft nach der Kodifikation von 1864 geprüft Marju Luts-Sootak I. Einleitung Als „Pandektenwissenschaft oder Pandektistik“ wird die „deutsche romanistische Zivilrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts“ bezeichnet, „die fast ausschließlich mit den antiken römischen Rechtequellen – den Pandekten bzw. Digesten“ arbeitete.1 So schreibt Hans-Peter Haferkamp, allerdings mit dem Wörtchen ‚fast‘ in Bezug auf die Ausschließlichkeit der antiken römischen Quellen. Klaus Luig spricht in seinem HRG-Artikel zwar nicht gleich von der Romanistik. Da heißt es: „Pandektenwissenschaft ist der Stil oder die Methode, mit der die deutschen Juristen im 19. Jh. die positive Privatrechtswissenschaft als Exegese der Pandekten Justinians betrieben haben“.2 Aus Kölner Sicht scheint damit klar zu sein, dass die Pandektenwissenschaft eine Wissenschaft von den Pandekten war und die Bezeichnung nur die Romanistik betreffen kann. Tomasz Giaro dagegen hält oder hielt, 1993 noch von Frankfurt aus, die Pandektistik nahezu für omnipotent: „‚Pandektisieren‘ ließ sich alles: in Deutschland das antike Recht, auf dem Balkan, in Ungarn und Rußland das feudale Gewohnheitsrecht, in Preußen, Österreich und Frankreich die vernunftrechtlichen Kodifikationen.“3

Die Untersuchungen zu diesem Aufsatz wurden unterstützt durch den Kelsen-Preis von Prof. Hans-Peter Haferkamp und durch den Forschungsgrant der Estnischen Wissenschaftsagentur IUT-2050. Ich bin auch sehr dankbar für die Anregungen und weiterführende Fragen der Teilnehmer an der Montagsrunde am Institut für Neuere Privatrechtsgeschichte, Deutsche und Rheinische Rechtsgeschichte an der Universität Köln am 25. Januar 2016. Für die Korrekturen und Anregungen danke ich Prof. Joachim Rückert. 1 So Hans-Peter Haferkamp, Art. ‚Pandektenwissenschaft‘, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 9, Stuttgart/Weimar 2009, Sp.  777. 2  Klaus Luig, Art. ‚Pandektenwissenschaft‘, in: HRG1, Bd. 3, Berlin 1884, Sp.  1422. 3  Tomasz Giaro, Europa und das Pandektenrecht, in: Rechtshistorisches Journal 12 (1993), S.  328.

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Die Kölner Sicht erscheint auch nicht so sicher auf die Quellen des antiken römischen Rechts beschränkt zu sein. Haferkamp spricht von einem „europäischen Erfolg der Pandektenwissenschaft“4 und weist dabei auf die Darstellungen von Martin Avenarius zu Russland und Alfons Bürge zu Frankreich hin. Geographisch sollte es also um ganz Eurasien, vom Atlantik bis zum Pazifik gehen. Dazu kommt, dass für die Pandektistik-Tagung im September 2015 in Köln neben der deutschen Romanistik z. B. auch Österreich und Schweden mit einbezogen waren und auch der Romanist Martin Avenarius eben nicht über die deutsche Romanistik berichtete, sondern über die zarenrussische Zivilrechtswissenschaft um 1900. Österreich hatte eine neuzeitliche Privatrechtskodifikation, die das tradierte Privatrecht, darunter auch das rezipierte römische Recht verdrängen sollte; in Schweden und Russland hatte die Rezeption des römischen Rechts nicht einmal im Mittelalter oder der Frühen Neuzeit stattgefunden und man kann hier nur von einem pandektistischen ‚Stil oder Methode‘ der Rechtswissenschaft sprechen. Vor diesem weiten Hintergrund erscheint die Frage nach der sog. Pandektisierung in der (deutsch)baltischen Rechtswissenschaft5 durchaus berechtigt oder immerhin möglich und womöglich lohnend.

II.  Person und Werk von Carl Eduard Erdmann Für die Pandektenwissenschaft als Methode, als womöglich sogar universal einsetzbare Methode, soll hier vor allem das Werk von einem der beiden Dorpater Professoren „des in den Gouvernements Livland, Estland und Curland geltenden Provinzialrechts, desgleichen der juristischen Praxis“6 , nämlich Carl Edu4  Allerdings klar in Bezug auf den „universitären juristischen Anfangsunterricht im Pandektenrecht“ und mit der Begründung, dass „die territorialen deutschen und die meisten europäischen Privatrechte auf röm[isch-rechtlichen] Grundlagen fußten“. Haferkamp, Pandektenwissenschaft (wie Fn.  1), Sp.  778. 5  Geographisch geht es um die Territorien der heutigen Republiken Estland und Lettland. Im 19. Jahrhundert gehörten diese Gebiete zum Russischen Zarenreich und wurden wegen der deutschen Herrschaftsschicht manchmal auch als deutsche Ostseeprovinzen Russlands bezeichnet. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem ostseeprovinziellen bzw. baltischen (Privat-)Recht konzentrierte sich vor allem an der baltischen Landesuniversität zu Dorpat (estnisch: Tartu), die von der Neueröffnung im Jahr 1802 bis zu ihrer Russifizierung in den Jahren 1890–93 als eine deutsche Universität fungierte. Zur deutschen Privatrechtswissenschaft in den baltischen Ostseeprovinzen im Überblick: Marju Luts-Sootak, Die baltische Privatrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert zwischen deutscher Rechtswissenschaft und russischer Politik, in: Rechtswissenschaft in Osteuropa. Studien zum 19. und frühen 20. Jahrhundert, hrsg. von Zoran Pokrovac, Frankfurt am Main 2010, S.  165–209. 6  So lautete die offizielle Bezeichnung dieser Professuren nach den Universitätsstatuten vom 1865. Im Unterschied zu den übrigen Universitäten des Russischen Reichs, die den allgemeinen Reichsstatuten unterworfen waren, hatte Dorpat eigene und autonom verfasste Universitätsstatuten. Dadurch wich auch die Struktur der Juristenfakultät zu Dorpat von dem allgemeinen russischen Muster ab. Neben den zwei provinzialrechtlichen Professuren waren

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ard Erdmann (1841–1898) betrachtet werden.7 Erdmann hatte an der baltischen Landesuniversität Dorpat seit 1858 zunächst ein Jahr Philosophie und dann 1859–1862 die Rechtswissenschaft studiert. Von allen seinen Lehrern sollte gerade der Professor „des gemeinen Rechts, römischen und deutschen Ursprungs, der allgemeinen Rechtspflege und praktischen Rechtswissenschaft“8 , ab 1865 schlicht „des römischen Rechts“, Ottomar Meykow (1823–1894), in dem jungen Studenten einen besonderen Eindruck hinterlassen, weil „dessen Vorlesungen sich durch scharfe Logik des Systems und klare, quellenmäßige Begründung auszeichneten“.9 Erdmann setzte seine Studien in Heidelberg fort, wo Adolph von Vangerow10 sein Lehrer und Mentor gewesen sei. Erdmanns späterer Fakultätskollege, Professor des russischen Rechts, Johann Engelmann (1832–1912), hat den Einfluss von Vangerow auf seinen baltischen Schüler so bezeichnet: „Die konsequente Durchführung der streng römischen Doktrin, durch die sich dieser Rechtslehrer auszeichnete, war für Karl Erdmann eine gute Schulung“.11 Promoviert hatte Erdmann bei Vangerow allerdings nicht. Vielmehr nutzte er seine Heidelbergische Studienzeit oder eben nur die Ferien für die Befriedigung der Wanderlust, die „ihn im Verein mit mehreren Landsleuten durch einen großen Teil Deutschlands, der Schweiz und Italiens“ führte, mit dem Ergebnis, dass er „sein ganzes späteres Leben lang“ „mit Begeisterung von diesen schönen Wanderjahren“ sprach.12 Immerhin, er betonte bei dem Wandertrieb sehr auch die Kehrseite, das Heimweh,13 und kehrte nach seinen Wanderjahren in der Tat in die baltische Heimat zurück. Nachdem er fünf Jahre in der kurländischen Hauptstadt Mitau (lettisch: Jelgava) als Sekretärsgehilfe und Ratssekretär gewirkt hatte, wurde er 1869 als stellvertretender Universitätssyndikus zu Dorpat angestellt. Im Hintergrund stand die von der Juristenfakultät zugesicherte Aussicht auf eine akademische Karriere. Erdmann hatte sich nämlich schon als Student durch eine Preisschrift über die Wirkung der Klageverjährung nach röminoch vier weitere vorgesehen: die Professuren des römischen Rechts, des „Criminalrechts“, des russischen Rechts und die des Staatsrechts und des Völkerrechts. Siehe Statut der Kaiserlichen Universität Dorpat, Dorpat 1865, S.  17 (§  11: II). 7  Von der älteren Literatur zu seinem Leben und Werk: Johannes Engelmann, Professor Dr. juris Karl Erdmann, in: Baltische Monatsschrift 55 (1903), S.  1–27, u. a. ausführlich zur Familiengeschichte; derselbe, Art. ‚Erdmann: Karl E.‘, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 55, Leipzig 1910, S.  742–743. 8  So die offizielle Lehrstuhlwidmung nach Dorpater Universitätsstatuten vom 1820. Statut der Kaiserlichen Universität Dorpat, Dorpat MDCCCXX, S.  45 (§  74). 9 So Engelmann, Professor Erdmann (wie Fn.  7), S.  17. 10  Zu Vangerow jetzt Hans-Peter Haferkamp, Karl Adolph von Vangerow (1808–1870). Pandektenrecht und „Mumiencultus“, in: ZEuP 4 (2008), S.  813–844 m. w. N. 11  Engelmann, Professor Erdmann (wie Fn.  7), S.  17–18. 12  Engelmann, Professor Erdmann (wie Fn.  7), S.  18. 13  Über diese Antipoden allgemein vernünftelnd, aber auch konkret auf eigene Wanderjahre in Deutschland und in der Schweiz zurückblickend Carl Erdmann, Heimweh und Wandertrieb, in: Baltische Monatsschrift 40 (1898), S.  455–467.

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schem Recht ausgezeichnet, wofür ihm die goldene Medaille verliehen war.14 Nun wollte die Fakultät den begabten und fleißigen „Jünger der Themis“15 an die Landesuniversität binden. Beide Seiten wurden in ihren Hoffnungen bestätigt. Erdmann hatte noch im Jahr 1870 seine Magisterarbeit verteidigt und wurde daraufhin gleich zum sog. etatmäßigen, d. h. besoldeten Privatdozenten mit Lehrerlaubnis gewählt. Noch bevor er am 27. Mai 1872 durch die öffentliche Verteidigung seiner Doktorarbeit16 offiziell den Doktorgrad erlangte, wählte der Universitätsrat ihn am 11. Mai 1872 zum außerordentlichen und ein Jahr später, im Mai 1873, schon als vollberechtigten Dr. jur., zum ordentlichen Professor der baltischen Provinzialrechte. In dieser Eigenschaft blieb er an der Universität Dorpat angestellt bis 1893 als man ihn mit 52 Jahren in Ruhestand setzte – offiziell, weil er die gesetzesmäßigen 25 Dienstjahre erfüllt hatte; inoffiziell, weil er sich weigerte, seine Vorlesungen in Zukunft auf Russisch zu halten. So viel zur Person.17 Weiterhin zu Erdmanns Werk und dessen Rahmenbedingungen. In der deutschen Überblicksliteratur zur Privatrechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts kaum bekannt, gilt Erdmann aus deutschbaltischer Sicht als „bester Kenner des Zivilrechts und Zivilprozesses in den Ostseeprovinzen“.18 Er ist vor allem im Schatten seines Vorläufers auf der provinzialrechtlichen Professur in Dorpat, Friedrich Georg von Bunge (1802–1897) geblieben,19 der ei14  Es wurden jedes Jahr von jeder Fakultät die Themen der sog. Preisschriften oder -fragen ausgerufen, die die interessierten Studenten bearbeiten und in der Form einer wissenschaftlichen Abhandlung beantworten konnten. Anonym eingereichten Schriften wurden beurteilt und gegebenenfalls für die hohe wissenschaftliche Qualität mit einer goldenen oder silbernen Medaille oder bloß durch eine Auszeichnung gewürdigt. 15  So Erdmann selbst in seiner Magisterarbeit. Carl Erdmann, Die Wirkung der erfüllten Resolutivbedingung auf Rechtsgeschäfte unter Lebenden nach dem Privatrechte Liv-, Esthund Kurlands, eine Behufs Erlangung des Grades eines Magister der Rechte abgefasste und mit Genehmigung Einer Hochverordneten Juristenfacultät der Kaiserlichen Universität Dorpat zur öffentlichen Vertheidigung bestimmte Abhandlung, Dorpat 1870, S.  9. Die Arbeit wurde im selben Jahr noch erneut in der Zeitschrift für Rechtswissenschaft, hrsg. von der Juristenfakultät zu Dorpat (hier weiterhin ZfRW) 2 (1870), S.  134–194 abgedruckt. Magistergrad galt im Russischen Reich als erster wissenschaftlicher Grad, nicht bloß als Universitätsabschluss. 16  Carl Erdmann, Das Güterrecht der Ehegatten nach dem Provinzialrecht Liv-, Ehst und Curlands, Dorpat 1872. Dass die Arbeit erst nach der Disputation gedruckt wurde, ergibt sich nicht nur aus dem ‚Dr.‘ vor dem Namen des Verfassers, sondern auch aus dem Druckerlaubnisvermerk des Zensors vom 8. Juni 1872. 17  Manche weiteren persönlichen Angaben und zeitgenössischen Würdigungen sind noch referiert bei Marju Luts-Sootak, Person und Eigentum in der Lehre des baltischen Provinzialrechtlers Carl Eduard Erdmann, soll demnächst erscheinen im Sammelband der Stockholmer Tagung „Die idealistische Philosophie und Juristen“ vom 30.5.–2.6.2013. 18  S. Deutschbaltisches biographisches Lexikon (DBBL), Köln u. a. 1970, 21998; seit 2012 als eines der Digitalisierungsprojekte der Baltischen Historischen Kommission: (http:// www.bbl-digital.de/web/start). Für das sonst ganz lakonisch gefasste Nachschlagewerk ist diese Würdigung auffallend ausgiebig formuliert. 19 Vgl. Ernst Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, III Abth., 2.

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nerseits als Begründer der baltischen Provinzialrechtswissenschaft überhaupt gilt,20 andererseits vor allem als Hauptredakteur der baltischen Privatrechtskodifikation von 1864 berühmt ist. Diese Kodifikation wurde 1864 von Zar Alexander dem II. bestätigt 21 und ist am 1. Juli 1865 in Kraft getreten. Obwohl das Bungesche Gesetzbuch keinesfalls als eine einheitliche, kohärente und konzise moderne Kodifikation bezeichnet werden kann, hat es die Rechtslage für die baltischen Privatrechte22 doch grundlegend geändert. Einerseits durfte diese baltische Privatrechtskodifikation ebenso wie die russischen ReichsgesetzbüHbd., Text. München u. Berlin 1910, zu Bunge auf S.  559–561, Erdmann fehlt. So auch die späteren: Gerhard Wesenberg/ Gunter Wesener, Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte im Rahmen der europäischen Rechtsentwicklung, 3.  Aufl., Lahr/Schwarzwald 1976, Bunge auf S.   200, Erdmann fehlt; Hans Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte. Rechtsentwicklungen im europäischen Kontext, hier 9.  Aufl., Heidelberg 2001, S.  165, Erdmann fehlt. Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2.  Aufl., Göttingen 1967 erwähnt weder Erdmann noch Bunge. Die neueste Gesamtdarstellung zu der juristischen Germanistik kennt allerdings beide: Frank Ludwig Schäfer, Juristische Germanistik. Eine Geschichte der Wissenschaft vom einheimischen Privatrecht, Frankfurt am Main 2008, S.  467–470; auch da wird Bunges Werk eingehender behandelt als Erdmanns, obwohl Erdmann gerade für die Wissenschaftsgeschichte wichtiger und interessanter sein sollte als Bunge, der vor allem für die Kodifikationsgeschichte des einheimischen baltischen Recht als Hauptfigur zu betrachten ist. 20  Die jüngere estnische Forschung will in diese Begründungsgeschichte vor allem Bunges Lehrer Christoph Christian Dabelow (1768–1830) und seinen romanistischen Fakultätskollegen Carl Otto von Madai (1809–1850) stärker und in vielen Bereichen als bahnbrechend miteinbeziehen, siehe Marju Luts, Die Begründung der Wissenschaft des provinziellen Rechts der baltischen Ostseeprovinzen im 19. Jh., in: Geschichte und Perspektiven des Rechts im Ostseeraum, hrsg. von Jörn Eckert und Kjell Åke Modéer, Frankfurt am Main u. a. 2002, S.  147–168; dies., Die juristischen Zeitschriften der baltischen Ostseeprovinzen Russlands im 19. Jahrhundert: Medien der Verwissenschaftlichung der lokalen deutschen Partikularrechte, in: Juristische Zeitschriften in Europa, hrsg. von Thomas Simon und Michael Stolleis, Frankfurt am Main 2006, S.  86–99; dies., Baltische Privatrechtswissenschaft (wie Fn.  5), S.  191–197. 21 Provincialrecht der Ostseegouvernements. Dritter Theil. Privatrecht: Liv-, Est- und Curlaendisches Privatrecht, St. Petersburg 1864. Es wurde an der kaiserlichen Kanzlei gleich auch eine offizielle russische Übersetzung gemacht: Svod mestnych usakonenij gubernij ostsejskich. Tschastj tretja. Sakony grashdanskije, St. Petersburg 1864. Das Rangverhältnis zwischen diesen beiden Texten für den Fall der Bedeutungskollisionen war zunächst offen gelassen, wurde aber 1870 zugunsten der russischen Übersetzung entschieden. 22  Der Plural ist angebracht, weil sowohl die territorialen Abweichungen zwischen den drei Provinzen als auch die ständischen Unterschiede zwischen Land- und Stadtrechte, aber auch speziell die Rechte der evangelischen Geistlichen sorgfältig in das Gesetzeswerk aufgenommen und festgeschrieben wurden. Zur konservativen Gesetzesideologie dieser baltischen Privatrechtskodifikation im Allgemeinen Marju Luts, Private Law of the Baltic Provinces as a Patriotic Act, in: Juridica International: Law Review of Tartu University 5 (2000), S.  157–167, auch in http://www.juridicainternational.eu/index.php?id=12522; zu der privatrechtlichen Lage der damaligen Ostseeprovinzen überhaupt, wo neben dieser „großen“ Privatrechtskodifikation von 4636 Artikeln – allerdings nur für etwa 4% der Gesamtbevölkerungszahl, oder in Absolutzahlen: für ca. 180 000 Menschen – noch die provinziellen Bauerngesetzbücher für die absolute Mehrheit der Bevölkerung im Zuge der Bauernbefreiung und Agrarreformen belassen worden waren, siehe Marju Luts-Sootak, Die baltischen Privatrechte in den Händen

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cher im Allgemeinen nur das schon vorhandene Recht konsolidieren und neu systematisieren.23 In der baltischen Rechtsliteratur wurde deshalb besonders hervorgehoben, dass es sich nicht um ein „Gesetzbuch“, sondern nur um eine „bloße Kodifikation“ handelte.24 Im Prinzip sollte man diese ‚bloße Kodifikation‘ also eher als eine Reconnicatio oder Consolidatio vorstellen, wie sie z. B. von Leibniz für die Neuordnung des Corpus iuris civilis vorgeschlagen wurde.25 Pio Caroni relativiert die Differenzierung zwischen der bewahrenden Konsolida­ tion und abändernden Kodifikation, indem er das Schöpferische bei einer jeden Neuordnung einerseits und die Unmöglichkeit eines völligen Neubeginns andererseits betont.26 Dies gilt durchaus auch für die baltischen Privatrechte nach der Kodifikation von 1864. Nun waren deren Regelungen nicht mehr verstreut in den mittelalterlichen Rechtsaufzeichnungen, Einzelgesetzen, Erlassen, Verordnungen, königlichen Briefe und Plakaten etc. der Obrigkeiten von verschiedener Herkunft und Zeit, in den lokalen Gewohnheitsrechten, dem Gerichtsgebrauch und den Gerichtsobservanzen der einzelnen Gerichte, öfters auch in den Quellen des antiken römischen, des kanonischen und allgemeinen deutschen Reichsrecht als immer noch subsidiär geltenden gemeinen Recht. Am Anfang seiner wissenschaftlichen Laufbahn hat Erdmann diese neue Lage des ostseeprovinziellen Privatrechts sogleich benannt: „Seit dem Erscheinen des dritten Bandes27 des Provincialgesetzbuches ist die rechtswissenschaftliche Arbeit unsrer Provinzen (natürlich nur, insoweit sie das Privatrecht beder russischen Reichsjustiz, in: Rechtsprechung in Osteuropa. Studien zum 19. und frühen 20. Jahrhundert, hrsg. von Zoran Pokrovac, Frankfurt am Main 2012, S.  269–282. 23 Zur Verwerfung der früheren reformgesinnten Kodifikationspläne und zur direkten Einflussnahme des konservativen Zaren Nikolaus vor allem auf die Redaktion der Reichsgesetzbücher Norbert Reich, Kodifikation und Reform des Russischen Zivilrechts im neunzehnten Jahrhundert bis zum Erlaß des Svod Zakonov (1833), in: Ius commune 3 (1970), S.  152–185. Die baltische Privatrechtskodifikation wurde zwar erst später, unter dem Reformzaren Alexander dem II. vollgezogen. Aber Bunge und seine Gehilfen arbeiteten nicht am Justizministerium, wo die alexandrinischen Reformen angestoßen wurden, sondern in der Zweiten Abteilung Seiner Kaiserlichen Kanzlei, d. h. in der Kodifikationsabteilung der alten nikolaischen Regierung. 24  S. die Belege und Fundstellen bei Hesi Siimets-Gross, Das „Liv-, Est- und Curlaendische Privatrecht“ (1864/65) und das römische Recht im Baltikum, Tartu 2011, S.  16–20. 25  Zu diesen Ideen einer reconnicatio des corpus iuris oder präziser: zu der Unausführbarkeit solcher Versuche näher Philipp Heinrich Friedrich Haensel, Handbuch der Institutionen des Rechts in einem Commentar zu den Justinianeischen Institutionen des römischen Rechts dargestellt. Ein Hülfsbuch für angehende Juristen, Leipzig 1842, S.  68–69. 26  Siehe schon Pio Caroni, Art. ‚Kodifikation‘, in: HRG1, Bd. 2, Berlin 1978, Sp.  9 07–909. 27 Die zwei ersten Bände der baltischen Provinzialrechtskodifikation waren öffentlich-rechtlich: Provinzialrecht der Ostseegouvernements. Erster Theil: Behördenverfassung, St. Petersburg 1845; Provinzialrecht der Ostseegouvernements. Zweiter Theil: Ständerecht, St. Petersburg 1845. Zu dieser Kodifikationswelle Marju Luts, Modernisierung und deren Hemmnisse in den Ostseeprovinzen Est-, Liv- und Kurland im 19. Jahrhundert, in: Modernisierung durch Transfer im 19. und frühen 20. Jahrhundert, hrsg. von Tomasz Giaro, Frankfurt am Main 2006, S.  177–183. Nach dem ursprünglichen Plan und Zugeständnis der Zarenregie-

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trifft) in neue Bahnen getrieben worden. So wie früher die Gestaltung des geltenden Rechts aus dem Wust des verschiedenartigsten Materials, so ist es jetzt die Commentarisation des einmal als geltend Hingestellten, was den nächsten Vorwurf der privatrechtlichen Arbeit in den Ostseeprovinzen zu bilden hätte.“28

In der Tat kann man nicht einmal von eigentlichen Kommentaren sprechen – es gab eben keine. Die spärlichen Einzelbeiträge, die in den ersten fünf Jahren nach dem Inkrafttreten des Gesetzbuchs erschienen, 29 waren allerdings nicht bloß gesetzesnah exegetisch. Es stimmt aber wohl, dass Erdmann selbst im Gebiet des materiellen Privatrechts sehr schnell zum fruchtbarsten Autor sowohl in den baltischen Rechtszeitschriften 30 als in der allgemeinen Publizistik der Ostseeprovinzen wurde. Die Methode oder der Stil, den er bei der Behandlung der einzelnen Partien des provinziellen Privatrechts und bei der Klärung dessen Kontroversen befolgte, wurde zeitgenössisch als „konstruierende“ bezeichnet.31 rung sollten auch der provinzielle Zivil- und Strafprozess kodifiziert werden. Diese Entwürfe wurden aber nicht bestätigt und im Laufe der oktroyierten Justizreform vom 1889 hat man die allgemeinen russischen Prozessordnungen auch in den baltischen Provinzen in Kraft gesetzt, allerdings mit erheblichen Modifikationen. 28  Erdmann, Resolutivbedingung, in: ZfRW (wie Fn.  15), S.  136. 29 Vgl. Eduard Winkelmann, Bibliotheca Livoniae Historica. Systematisches Verzeichniss der Quellen und Hülfsmittel zur Geschichte Estlands, Livlands und Kurlands. 2. verbesserte und sehr vermehrte Aufl., Berlin 1878, S.  176–186. In der Rubrik „Civil-Recht und Civil-Process“ findet man für 1865–70 nur fünf Aufsätze zum geltenden Zivilrecht, alle in den zwei ersten Bände Dorpater Fakultätszeitschrift aus den Jahren 1868 und 1870. Die meisten Verfasser waren jedoch Praktiker. Der Dorpater Justizbürgermeister, ehemalige Mitauische Stadt­ sek­retär und Oberhofgerichtsadvokat Karl Victor Kupffer (1819–1896) schrieb im ersten Band zum Hypothekenrecht; der Mitauische Oberhofgerichtsadvokat Ferdinand Seraphim (1827–1894) ebenda zur Resolutivbedingung wie Erdmann selbst in seiner Magisterarbeit. Im zweiten Band, wo Erdmanns Magisterarbeit abgedruckt wurde, schrieben zu dem materiellen Privatrecht noch der junge Mitauische Sekretärgehilfe und späterer Oberhofgerichtsadvokat bzw. vereidigte Rechtsanwalt Julius Karl Theodor Schiemann (1845–1911) mit seiner Kandidatsarbeit über die Vertragsstrafe; der Obersekretär und Stadtsyndikus des Revalschen Rats und späteres Stadtoberhaupt Revals Thomas Wilhelm Greiffenhagen (1821–1890) zum Aftergrundzins; und der Dorpater Professor des römischen Rechts O. Meykow zur Rechtswohltat der Hingabe an Zahlungsstatt. Der zweite provinzialrechtliche Professor, Oswald Schmidt (1823–1890), publizierte zwar sehr rege, nicht aber zum materiellen Privatrecht, sondern zum Zivilprozessrecht und zum provinziellen Gerichtswesen. 30 Zu der Verfasserschaft aller baltischen Rechtszeitschriften aus dem 19. Jahrhundert Marju Luts, Die „respublicae litterariae“ um die juristischen Fachzeitschriften in den baltischen Ostseeprovinzen im 19. Jahrhundert, in: Juristen im Ostseeraum. Dritter Rechtshistorikertag im Ostseeraum, Helsinki und Turku 20.–22. Mai 2004, hrsg. von Jörn Eckert, Pia Letto-Vanamo und Kjell Åke Modéer, Frankfurt am Main u. a. 2007, S.  107–144. 31 Vgl. Engelmann, Professor Erdmann (wie Fn.  7), S.  21: „Hand in Hand mit seinen Vorlesungen ging eine lebhafte schriftstellerische Tätigkeit, indem er einzelne Lehren des provinziellen Privatrechts konstruierend auszugestalten suchte (…). Diese Arbeiten riefen eine lebhafte Polemik hervor und trugen wesentlich zur Klärung wichtiger Kontroversen des Privatrechts bei“ (Hervorhebung hinzugefügt). Erdmann legte selbst viel Wert darauf, dass die Kontroversen und Streitfragen auch in der Tat diskutiert werden sollten, dies notfalls in mehreren Abhandlungen. Das Ziel solcher schriftstellerischen Diskussionen war, die fragwürdigen Regelungen bis zur „Spruchreife“ zu klären, siehe dazu Erdmann, Noch einmal Resolu-

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Als Spitze oder sogar Vollendung seiner privatrechtsdogmatischen Aktivitäten ist Erdmanns vierbändige systematische Gesamtdarstellung zum geltenden baltischen Privatrecht zu betrachten.32 Man muss zugeben, dass er „seine Hauptaufgabe, die er sich gestellt hatte, eine Darstellung des Systems des baltischen Privatrechts nach der Kodifikation zu erproben“33, durchaus und mit großem Geschick erfüllt hat. So erscheinen die früheren Einzeluntersuchungen als Vorarbeiten bzw. „Vorstöße“34 zu diesem Gesamtsystem. Hier soll daher vor allem Erdmanns „System“ als Prüfstein der These von der Universalität der Pandektenwissenschaft als Stil oder Methode dienen. Im Einzelnen wird gegebenenfalls auf Erdmanns weitere Schriften zurückgegriffen. Es soll hier um die Frage gehen, ob und in wie weit ließ sich denn das kodifizierte baltische Privatrecht ‚pandektisieren‘? – um dies mit dem Vokabular von T. Giaro zu formu­ lieren.

III.  Erdmanns Einstellung zu dem zeitgenössischen deutschsprachigen Privatrechtsdiskurs In der Vorrede35 zum ersten Band seines Systems des baltischen Privatrechts stellte Erdmann fest, dass die Kodifikation die baltische Privatrechtswissenschaft in die Isolation gezwungen und von der Teilhabe an den aktuellen gemeinrechtlichen wissenschaftlichen Entwicklungen abgeschnitten hatte: „Mit dem Erscheinen der Codification von 1864 sind der Theorie wie der Praxis des Privatrechts der Ostseeprovinzen neue Wege gewiesen worden, auf welchen sie das gemeinsame Ziel der Ausgestaltung des Rechts aufzusuchen haben. An die Stelle der unmittelbaren Theilnahme an dem Leben und der Entwicklung des gemeinen Rechts, des unmittelbaren Mitgenusses und der Mitverwerthung jeder neuen Errungenschaft auf dem Gebiete gemeinrechtlicher Literatur ist eine Isolierung getreten, mit ihren Nachteilen und mit ihrem Segen.“36

Wenn hier mehr das Bedauern über die Nachteile der Trennung durchklingt,37 wird dagegen in einem Aufsatz ungefähr aus derselben Zeit, aus Anlass des tivbedingung, in: ZfRW 4 (1873), S.  133. Zu diesen Diskussionen, die meistens in der Dorpater Fakultätszeitschrift geführt wurden Luts, Zeitschriften (wie Fn.  20), S.  107–110. 32  Carl Erdmann, System des Privatrechts der Ostseeprovinzen Liv-, Est- und Curland. Riga, Bd. 1 1889, X u. 566 S.; Bd. 2 1891, VIII u. 504 S.; Bd. 3 1892, IX u. 514 S.; Bd. 4 1894, VI, 560 u. Register 29 S.; insgesamt 2206 Seiten, im Kontext der baltischen Rechtsliteratur eine erhebliche Anzahl. 33  Engelmann, Professor Erdmann (wie Fn.  7), S.  21. 34 Ebd. 35  Geschrieben in Dorpat, April 1889. Erdmann, System I (wie Fn.  32), S. IV. 36  Erdmann, System I (wie Fn.  32), S. III. 37  Vgl. auch Erdmanns Äußerung aus dem Jahr 1870: „Die gesetzgeberischen Gedanken in ihrer Klarheit hinzustellen, den Zusammenhang derselben mit den Rechtsquellen und namentlich mit dem gemeinen Recht nachzuweisen und so die Verbindung mit den aus derselben

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25-jährigen Jubiläums der baltischen Privatrechtskodifikation, der Grund des Segens näher beleuchtet: „Endlich dürfte auch die damals [d. h. unmittelbar nach der Vollendung der Kodifikation] nicht selten gehörte Klage, als trenne uns die Vollendung der Codification von der Theilnahme an der gemeinrechtlichen Arbeit und der gemeinrechtlichen Wissenschaft angesichts der Erfahrung verstummen müssen, dass diese Trennung überall zum Bedürfnis geworden ist und das Leben mehr der genauen Fixirung des Rechts bedarf, als der scharfsinnigen Interpretation nicht genügend fixirter Rechtsquellen. (…) Vor allem ist das höchste Gut, welches die Rechtsentwicklung eines Landes aufweisen kann, (…) die Rechtssicherheit, durch die Codification in reichem Masse gefördert worden. (…) Damit verband sich die Rechtserleichterung. Wie schwer war es früher, sich jedes mal völlige Sicherheit über das zu schaffen, was wirklich bei uns Rechtens war! Unter dem Wust der sich durchkreuzenden Gewohnheiten und Gesetze, in der schwer zu entziffernden Schrift alter Manuscripte und unleserlicher Pergamente lag oft gerade der Satz verborgen, der im frischen Leben Anwendung erheischt, und mochte diese Schwierigkeit der Arbeit, zu welcher namentlich noch die Pflicht der Durcharbeitung der gesammten Elaborate der gemeinrechtlichen Wissenschaft hinzutrat, dem einzelnen Juristen bisweilen besonderen Reiz verursachen, der Allgemeinheit konnte die Schwierigkeit der Rechtsherstellung nur den grössten Schaden verursachen und die Rechtserleichterung des III. Bandes nur zum Segen gereichen.“38

Die unmittelbare Teilnahme an den Fortschritten der gemeinrechtlichen Wissenschaft, die in Deutschland gerade im 19. Jahrhundert auf Hochtouren lief, konnte also die einzelnen, auf intellektuelle Höheflüge eingestellte Juristen begeistern, für die Praxis und Allgemeinheit sollte ein fixiertes Gesetzbuch vorteilhafter sein. So waren es in Wirklichkeit auch keine gemeinrechtlichen Werke, die Erdmann dann in der Vorrede zu seinem „System“ als wichtigste Vorbilder für seinen eigenen Zugriff angab, sondern die Gesamtdarstellungen von

Quelle strömenden Particularrechten Deutschlands stets im Gange zu erhalten, um die Resultate deutscher Arbeit auch für das provincielle Recht nicht blos als zugänglich, sondern als direct practisch verwerthbar zu erhalten, das ist das wahrlich ernster Anstrengung werthe Ziel, das sich der Jünger der Themis bei uns zu stellen haben wird“. Erdmann, Resolutivbedingung, in: ZfRW (wie Fn.  15), S.  136. 38  Carl Erdmann, Ein provinzielles Jubiläum, in: Baltische Monatsschrift 36 (1889), S.  751–753, Hervorhebungen wie im Original. Die Betonung der Sicherheit des Gesetzesrechts bedeutet jedoch nicht, dass Erdmann nur das gesetzlich gesetzte Privatrecht anerkannt bzw. die gesetzliche Fixierung für die Geltung der privatrechtlichen Normen für unentbehrlich gehalten hätte. Vgl. ebd. S.  748 f. „Es liegt in der Natur des Privatrechts, das conservativste aller Rechtsgebiete zu sein. Ist es doch einfach der directe Niederschlag der inneren Anschauungen der Privatpersonen und entzieht es sich doch daher – im Gegensatz zu Staatsrecht, Strafrecht, Process – der directen Regelung durch die Staatgewalt. (…) [D]iese eigenthümliche Natur des Privatrechts, welches man deswegen als dispositiv und nicht als präceptiv bezeichnet (…). Alle wahren privatrechtlichen Bestimmungen enthalten keine Befehle an die Privatpersonen, sondern sind nur eventuelle Auslegungen des eigenen Willens derselben. War derselbe schon an sich deutlich ausgesprochen, so bedarf es des privatrechtlichen Gesetzes gar nicht“.

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Carl Georg von Wächter zum württembergischen Privatrecht39 und Joseph Unger zum österreichischen Privatrecht40 . Erdmann hat damit die beste und die den Rahmenbedingungen nach ähnlichste Darstellung der deutschen oder deutschsprachigen Partikularrechte aufgegriffen.41 Wächters Handbuch wurde nicht nur zeitgenössisch als eine der „bedeutendsten Erscheinungen der juristischen Literatur“ geschätzt,42 sondern wird fortwährend als „die wohl beste Darstellung eines Landesprivatrechts im 19. Jh.“ gelobt.43 Wächters Vorgehen bei der wissenschaftlichen Behandlung des im Württemberg geltenden Privatrechts wird auch heute noch ausdrücklich als „Pandektisierung“44 und er selbst dementsprechend als „ausgewiesener Pandektist“45 oder bloß „Pandektist“46 bezeichnet. Unger wiederum sollte sein System des österreichischen Privatrechts unter den Rahmenbedingungen einer geltenden Privatrechtskodifikation herausarbeiten,47 genauso ja auch Erdmann. Obwohl Ungers Behandlungsgegenstand vor allem österreichisches ABGB und eben keine Quellen des antiken römischen Rechts waren, hat die Nachwelt auch ihn als einen „Klassiker der Pandektenwissenschaft“ gerühmt48 bzw. ohne besondere Evaluierung einfach als „Pandektist“ bezeichnet49.

39  Erdmann liefert keine exakten Literaturverweise und gibt in Fußnoten nur Kurztitel ohne Erscheinungsjahr an. Es ist aber wohl gemeint: Carl Georg von Wächter, Handbuch des im Königreiche Württemberg geltenden Privatrechts, Bd. 1–2, Stuttgart 1839–1851. 40  Joseph Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 1–2, 6, Leipzig 1856, 1857–1859, 1864. Die heute am leichtesten greifbare 5. Auflage der ersten zwei Bände von 1892 war für Erdmann vor 1889 noch nicht greifbar. 41  Sehr originell war er mit dieser Wahl nicht. Windscheid hat diese beiden Werke sogar in seiner Liste der wichtigsten Gesamtdarstellungen des Pandektenrechts angeführt. Siehe Bernhard Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts. Bd. 1, Düsseldorf 1862, S.  30: „Endlich dürfen nicht übergangen werden zwei Werke, welche, obgleich sie zunächst nur die Bearbeitung eines Particularrechts zum Gegenstande haben, doch auch für das gemeine Recht von ausnehmender Wichtigkeit sind“. 42  Ebd., S.  31. 43  Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten. Eine biographische Einführung in die Geschichte der Rechtswissenschaft, hrsg. von Gerd Kleinheyer und Jan Schröder, 5.  Aufl., Heidelberg 2008, S.  542. 44  Christoph Mauntel, Carl Georg von Wächter (1797–1880) – Rechtswissenschaft im Frühkonstitutionalismus, Paderborn u. a. 2004, S.  140. 45  Schäfer, Juristische Germanistik (wie Fn.  19), S.  416. 46  Hans-Peter Haferkamp, Dogmatisierungsprozesse im ‚heutigen Römischen Recht‘ des 19. Jahrhunderts, in: Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion, hrsg. von Georg Essen und Nils Jansen, Tübingen 2011, S.  272. 47  Dazu näher Stefan Meisel in diesem Band. S. auch Werner Ogris, Die Historische Schule der österreichischen Zivilistik (1969), in: ders., Elemente europäischer Rechtskultur. Rechtshistorische Aufsätze aus den Jahren 1961–2003, hrsg. von Thomas Olechowski, Wien u. a. 2003, S.  345–400 und ders., Die Universitätsreform des Ministers Leo Graf Thun-Hohenstein (1999), ebenda, S.  333–344. 48  Ogris, Historische Schule (wie Fn.  47), S.  352. 49  Haferkamp, Dogmatisierungsprozesse (wie Fn.  46), S.  272.

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Wie oben schon gesagt, hatte Erdmann seine Bemühungen um die ‚konstruierende‘ Durchdringung des kodifizierten baltischen Partikularrechts zunächst in zahlreichen Einzeluntersuchungen entfaltet. Nun sollten sowohl der Verfasser als das Recht gereift genug sein, um das gesamte geltende Privatrecht in einem Guss zu behandeln. Das Bedürfnis nach so einer Gesamtdarstellung war umso größer, dass es weder ein allumfassendes Lehrbuch noch ein Handbuch, auch kein Kommentar50 zu dem kodifizierten baltischen Privatrecht gab.51 Es ging nun Erdmann um die Gesamtheit des geltenden Privatrechts und gerade dieser Zugriff war für ihn wichtig auch bei Wächter und Unger. Erdmann hob für diese beide besonders vor, dass sie „wirklich das gesammte geltende Privatrecht des betr. Gebiets behandelt“ hatten.52 Allerdings haben sowohl Unger als Erdmann nur ein „allgemeines Privatrecht“ des Österreichs bzw. der baltischen Ostseeprovinzen behandelt, weil sowohl die beiden Kodifikationen als beide Wissenschaftler neben dem allgemeinen noch die besonderen Privatrechte der einzelnen Stände oder Territorien anerkannt hatten bzw. anerkennen sollten.53 Erdmanns Gesamtdarstellung war sowohl für die Studierenden als für die ostseeprovinziellen Praktiker bestimmt. Sein „System“ sollte also durchaus als ein praktisches Handbuch benutzbar sein, genauso wie Wächters „Handbuch“ zum Privatrecht in Württemberg.54 Erdmann hielt ein Handbuch für Praxis 50  Auf den ersten Kommentar zum ganzen Gesetzbuch sollte man noch länger warten. Erst 1909 hat das Mitglied des Bezirksgerichts zu Riga, Vladimir Bukovskij (1867–1937) einen Gesamtkommentar auf Russisch veröffentlicht und diesen in eine vermehrte und ergänzte zweibändige Auflage umgearbeitet, die 1914 kurz vor dem Ersten Weltkrieg erschien. Weil die Bungesche Kodifikation nach dem Krieg in den neuen Republiken Estland und Lettland nicht nur weitergalt, sondern deren Geltung auf die ganze Bevölkerung ausgedehnt wurde, war Bukovskij‘s Kommentar noch für mehr als zwanzig Jahre ein unumgängliches praktisches Hilfsmittel sowohl in Estland als in Lettland. Letztgesagtes gilt übrigens auch für Erdmanns „System“, das eine unumgängliche Grundlage für jede folgende wissenschaftliche Behandlung sowohl der baltischen als später der estnischen und lettischen Zivilisten blieb. In Lettland hat man 1937/38 die baltische Privatrechtskodifikation allerdings durch neues lettisches Zivilgesetzbuch ersetzt. In Estland dagegen war der Entwurf eines estnischen Zivilgesetzbuchs bis zur sowjetischen Besatzung 1940 noch in den parlamentarischen Verhandlungen und blieb unverabschiedet. Stattdessen hat man die sowjetrussischen Gesetzbücher in bemerkenswerter Eile übersetzt und in Kraft gesetzt. Für die Zeit der NS-deutschen Besatzung, d. h. 1941–1944 wurde in Estland allerdings wieder das baltische Privatrecht in Kraft gesetzt. 51 Vor der Kodifikation hat der künftige Hauptredakteur des Gesetzbuches, F. G. von Bunge, die Darstellungen zu est- und livländischem Privatrecht vereinigt und separat noch eine zu dem kurländischen Privatrecht geliefert: Friedrich Georg von Bunge, Das liv- und esthländische Privatrecht, wissenschaftlich dargestellt, 2 Bde., Dorpat 1838/39; 2.  Aufl., Reval 1847; ders., Das curländische Privatrecht, wissenschaftlich dargestellt, Dorpat 1851. 52  Erdmann, System I (wie Fn.  32), S. III. 53 S. Joseph Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 1, 5.  Aufl., Leipzig 1892, S.  5, dass es in diesem Werk nur um das allgemeine österreichische Privatrecht gehen wird; ganz ähnlich zu seinem Vorhaben Erdmann, System I (wie Fn.  32), S.  3. 54  Bei Wächters „Handbuch“ wird die praktische Relevanz insbesondere hervorgehoben. Näher: Mauntel, Wächter (wie Fn.  4 4), S.  135–140; differenzierter, auf die „abschwächende

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auch deshalb für notwendig, weil es keine publizierten „Präjudiziensammlungen“ zum einheimischen Recht gab.55 An dieser Stelle will ich meine erste vorläufige Folgerung für die These der universalen Brauchbarkeit der Pandektenwissenschaft ziehen: Es erscheint zunächst unbedeutend, ob das Privatrecht kodifiziert war oder nicht. Wenn Unger dazu gehört, sollte auch der baltischer Erdmann in den Rahmen passen, der ebenfalls ein kodifiziertes deutsches Partikularrecht behandelte. Giaro hat die Universalisierbarkeit der pandektistischen Methode auf ihre pure Wissenschaftlichkeit zurückgeführt: „Weil die Pandektistik mit keinem politischen, sondern nur mit einem wissenschaftlichen Anspruch auftrat, war sie als Modernisierungsvehikel willkommen und konnte auch auf solche Territorien vordringen, die sich früher gegen die Rezeption römischen Rechts gesträubt hatten.“56

In den baltischen Ostseeprovinzen brauchte sich das römische Recht nicht erst im 19. Jahrhundert und nicht erst durch das Vehikel der Pandektistik mühsam oder auf Umwegen Bahn zu brechen. Seit dem Mittelalter gehörten diese Territorien mindestens in Betreff der Herrschaftssicht und der obrigkeitlichen Institutionen dem deutschen Kulturraum an. Sie hatten die Rezeption des römischen Rechts in einer den norddeutschen Territorien gleichen Weise vollgebracht.57 Dass das Verfassungsband mit dem Heiligen Römischen Reich 1561 abgeschnitten war, hat die schon angebahnten Rezeptionsvorgänge nicht rückgängig gemacht auch deren Fortdauer nicht gehindert. Im Gegenteil, es kam z. B. zu einer neuen Rezeptionswelle im Stil der humanistischen Jurisprudenz im 16.–17. Jahrhundert, die u. a. zwar königlich unbestätigte aber immerhin schriftliche

theoretische Spitze“, d. h. auf die Rechtswissenschaft als Rechtsfortbildungsinstanz und das „praktische Bedürfnis“ mit der „romanistischen Tendenz“ ergänzend: Joachim Rückert, August Ludwig Reyschers Leben und Rechtstheorie. 1802–1880, Berlin 1974, S.  43 f. Für einen breiteren Autorenkreis den Stimmungswandel in die Richtung größerer Praxisbezogenheit nach 1850 nachweisend Hans-Peter Haferkamp, Pandektistik und Gerichtspraxis, in: Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno XI (2011), S.  198–206. 55  Erdmann, System I (wie Fn.  32), S. IV. Als einzige Ausnahme galt die Entscheidungssammlung der Stadtgerichte zu Riga: Civilrechtlichen Entscheidungen der Riga’schen Stadtgerichte, hrsg. von Victor Zwingmann, 8 Bde., Riga 1871–1888; auch diese war nicht vollständig, sondern eine Auswahlsammlung, und lieferte öfters nur Exzerpte statt der vollen Entscheidungen. Zum Problem der Praxis und Publikation der Gerichtsurteile in den Ostseeprovinzen durch das ganze 19. Jahrhundert eingehend: Luts-Sootak, Baltische Privatrechte und Reichsjustiz (wie Fn.  22), S.  343–357. 56  Giaro, Europa und Pandektenrecht (wie Fn.  3), S.  328. 57  S. dazu grundlegend Hermann Blaese, Bedeutung und Geltung des römischen Privatrechts in den baltischen Gebieten, Leipzig 1936; ders., Einflüsse des römischen Rechts in den Baltischen Gebieten, Mediolani 1962.

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Landrechtsentwürfe in Estland58 und Livland59 bzw. herzöglich-ständische Gesetzgebung in Kurland60 maßgeblich beeinflusste. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor der Kodifikation des baltischen Privatrechts, haben mehrere Schriftsteller darüber geklagt, dass die baltischen Gerichte lieber römisches als einheimisches Recht anwendeten und dies sogar in solchen Fällen, für die einheimische Rechtsquellen durchaus vorhanden und einschlägig seien. 61 In den erwähnten wissenschaftlichen Darstellungen der ostseeprovinziellen Privatrechte hatte Bunge sich nur auf die Partien des in den Ostseeprovinzen geltenden Privatrechts konzentriert, deren Ursprünge in den einheimischen Rechtquellen lagen. Wo das gemeine Recht als Subsidiarrecht anzuwenden war, hat er sich mit einem entsprechenden Hinweis begnügt. In seine Kodifikation hat er jedoch die ursprünglich gemeinrechtlichen Normen mit einbezogen und deren Inhalt dadurch zu primär geltendem Recht gemacht, allerdings abgetrennt von der ursprünglichen Fundstelle und in einer ganz neuen 58  In Estland hat der Assessor des königlichen schwedischen Burggerichts zu Reval, Phi­ lipp von Krusenstiern bzw. Philipp Crusius (1597–1676), im Jahr 1650 ein Ritter- und Landrecht verfasst. Es erfuhr allerdings erst 1699, schon am Ende der schwedischen Herrschaftszeit und unter dem Druck des Großen Nordischen Krieges, eine und immer noch bedingte königliche Bestätigung. In den estländischen Gerichten wurde jener Gesetzesentwurf allerdings schon vor der königlichen Bestätigung und ebenso nach der Eingliederung Estlands zum Russischen Reich im Jahr 1710/1721 bis zum Inkrafttreten der Kodifikationen des 19. Jahrhunderts angewendet. Die erste Druckfassung stammt ebenfalls erst vom 19. Jahrhundert: Des Herzogthums Ehsten Ritter- und Land-Rechte. Sechs Bücher. Erster Druck. Mit erläuternden Urkunden und ergänzenden Beilagen, hrsg. von Johann Philipp Gustav Ewers, Dorpat 1821. 59 Unter der Polnisch-Litauischen Herrschaft hat Rigaer Stadtsyndikus David Hilchen (1561–1610) einen Landrechtsentwurf für Livland verfasst, der für immer ohne herrschaftliche Bestätigung blieb, in den livländischen Gerichten aber angewendet und als Textgrundlage für die späteren Kodifikationsentwürfe des livländischen Landrechts benutzt wurde. Siehe dazu aus der jüngeren deutschen Forschung Thomas Hoffmann, Der Landrechtsentwurf David Hilchens von 1599. Ein livländisches Rechtszeugnis polnischer Herrschaft, Frankfurt am Main u. a. 2006; auf S.  185–282 befindet sich die Edition dieses Rechtsbuches. 60  Vor allem die sog. kurländischen Statuten vom 1617: Statuta Curlandica, seu jura et leges in usum nobilitatis Curlandicae et Semigallicae, de anno MDCXVII = Kurländische Statuten, oder Rechte und Gesetze für den Adel in den Herzogthümern Kurland und Semgallen, vom Jahre 1617, übersetzt von Heinrich Ludwig Birkel, Mitau 1804; aber auch die Piltenschen Statuten vom 1611: Des vormaligen piltenschen Kreises Gesetze und Statuten, oder die sog. piltenschen Statuten, aus dem Jahre 1611, in: Die Quellen des Curländischen Landrechts, Bd. 1, Lief. 4, hrsg. von Carl von Rummel, Dorpat 1850, S.  1–94. 61  Christoph Christian Dabelow, Die Praxis sowohl überhaupt, als in den Russischen Ostsee-Provinzen besonders, in: Jahrbuch für Rechtsgelehrte in Russland 2 (1824), S.  241; zu Bunges Kampf gegen die „unbegründete Vorliebe [der ostseeprovinziellen Gerichtspraxis] für das (…) römische Recht“ mit Belegen Marju Luts-Sootak, Das Baltische Privatrecht von 1865/65 – Triumphbogen oder Grabmal für das römische Recht im Baltikum?, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 58 (2009), S.  371–373; Madai bezeichnete 1841 das römische Recht als „einen [dem einheimischen Recht] gefährlichen Nebenbuhler“: Carl Otto von Madai, [Rezension zu] F. G. Bunge, Das Liv- und Esthländische Privatrecht 1838–39, in: Kritische Jahrbücher für deutsche Rechtswissenschaft 5 (1841), S.  844; dazu ausführlicher Luts, Begründung (wie Fn.  20), S.  161–167.

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systematischen Position im Gesetzbuch. Anders gesagt, war der in die Kodifikation übernommene Bestand des gemeineuropäischen ius commune zum ostseeprovinziellen Partikularrecht geworden. 62 Obwohl dieses Verfahren bei der Kodifizierung die weitere Geltung des römischen Rechts überhaupt, darunter auch die subsidiäre Geltung, eigentlich ausschließen sollte, gab es immer noch Autoren in den Ostseeprovinzen, die die fortwährende subsidiäre Geltung des römischen Rechts behaupteten. 63 Erdmann gehörte dazu. Das römische Recht sollte subsidiär immer noch gelten, wenn auch nur für den „verhältnißmäßig seltenen Fall einer Lücke im Gesetz, also der Nichtnormierung einer im thatsächlichen Leben gestellten Rechtsfrage“. Bei so einem Fall müsste man zwar „zuerst zu dem Hülfsmittel der Gesetzesanalogie“ greifen, „wenn aber diese kein Resultat ergäbe“, sollten die alten Subsidiarrechte wieder anwendbar sein, weil sie „in ihrer Geltung bisher nicht aufgehoben“ seien. 64 Es ist mir bisher allerdings keine Stelle in Erdmanns Schriften vorgekommen, wo er eine Gesetzeslücke zunächst vergebens durch Analogie zu schließen versucht hätte und dann doch auf die alten Subsidiarrechte zurückgreifen musste. 65 Das meinte nicht nur das gemeine Recht, sondern auch die „älteren Rechtsquellen der Provinzen und zwar verschieden je nachdem es sich um livländisches, curländisches oder estländisches Landrecht, um estländisches, livländisches oder narvasches Stadtrecht handelt,“ sollten für den Fall einer im Gesetz ermittelten Lücke ein62  Dies ist der Grund, warum ich das Bungesche Gesetzbuch, das sehr viele Normen vom römischen Recht übernahm, nicht als einen Triumph des römischen Rechts feiern will, sondern als ein Begräbnis – der noch durchaus lebendigen Rezeption des römischen Rechts in der ostseeprovinziellen Rechtspraxis sollte dadurch ein Ende gemacht werden, siehe Luts-Sootak, Triumphbogen oder Grabmal (wie Fn.  61), S.  357–379. 63  Zu der Diskussion um die Weitergeltung der früheren Subsidiarrechte nach der Kodifikation eingehend Hesi Siimets-Gross, Das Liv-, Est- und Curlaendische Privatrecht (1864/65) – die einzige Quelle des Privatrechts? in: Einheit und Vielfalt in der Rechtsgeschichte im Ostseeraum. Sechster Rechtshistorikertag im Ostseeraum, 3.–5. Juni 2010 Tartu (Estland)/ Riga (Lettland), hrsg. von Marju Luts-Sootak, Sanita Osipova und Frank L. Schäfer, Frankfurt am Main u. a. 2012, S.  275–285. 64  Erdmann, System I (wie Fn.  32), S.  6 . 65  Aus der Praxis des Vogteigerichts zu Riga (30.7.1869) ist zwar ein Fall bekannt, wo für die Bestimmung der Rangordnung der Befriedigung mehrerer an dem selben Tage entstandenen bzw. ingrossierten Hypotheken auf den Spruch von Marcianus in Digesten 20.1.16.8 hingewiesen wurde, siehe Zwingmann (Hrsg.), Entscheidungen I (wie Fn.  55), Nr.  53, S.  104–105. Ich bedanke mich bei Doz. Dr. Hesi Siimets-Gross für den Hinweis auf diesen Fall. Nach der Erklärung des Herausgebers sollte das Rigische Vogteigericht auch auf die gemeinrechtliche Literatur Bezug genommen haben, „namentlich auf die ‚Pandekten‘ von Puchta, Seuffert und Windscheid, auch auf Holzschuhers ‚Theorie und Casuistik‘“. Der Herausgeber hat dort auch auf die Gegenposition von Dernburg hingewiesen; es bleibt aber unklar, ob dies schon das Gericht selbst getan hatte. Immerhin, das Gericht hat hier nicht zuerst versucht, mit Hilfe der Analogie die Gesetzeslücke zu füllen, um erst danach zum römischen Recht zu greifen. Die einzige Analogie, die hier gezogen wurde, war die Ausdehnung der Bestimmung des römischen Rechts über die Bestellung des Pfandrechts als solcher auf die Hypotheken, die in das Grundbuch eingetragen sein sollten.

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greifen, und zwar schon vor den gemeinrechtlichen Rechtsquellen. 66 Der führende baltische Provinzialrechtler hat dem baltischen Gesetzbuch also ein Grundmerkmal der neuzeitlichen Kodifikation – die Ausschließlichkeit – abgesprochen. Aber nicht nur die in den Ostseeprovinzen historisch „recipirten [deutschen] Reichsgesetze und Gewohnheiten“, „endlich als Subsidiarrecht an letzter Stelle das canonische und römische Recht in dessen gemeinrechtlich feststehendem Rangverhältniß, wornach das canonische Recht regelmäßig dem römischen vorgeht“67, sollten weiterhin die Wirklichkeit des baltischen Privatrechts im Fall der Gesetzeslücke prägen. Trotz der in dem Jubiläumsaufsatz der baltischen Privatrechtskodifikation ausgesprochenen Abwertung gegenüber der „Durcharbeitung der gesammten Elaborate der gemeinrechtlichen Wissenschaft“68 hat Erdmann auch die gemeinrechtliche Literatur an der Tür des baltischen Privatrechts nicht abgewiesen. Dies sollte schon dadurch geboten sein, weil das römische Recht eine der wichtigsten Quellen der Kodifikation war: „Nachdem durch die Codification von 1864 das römische Recht auf das Intensivste mit dem einheimischen verschmolzen worden, kann es wohl nicht mehr fraglich sein, daß eine Darstellung des ostseeprovinziellen Privatrechts auch das erstere mit zu berücksichtigen hat.“69

Dies sollte zwar nicht bedeuten, dass das ganze gemeine Recht bzw. gemeinrechtliche Literaturtradition plötzlich wieder ins Boot geholt werden sollte: „Zwar wird es nicht erforderlich sein, den ganzen Detailschatz desselben [d. h. des römischen Rechts] zu verarbeiten, aber überall wo eine Verbindung desselben mit divergirenden altprovinciellen Normen, oder wo eine Entscheidung gemeinrechtlicher Controversen durch provincielle Gesetzgebung stattgefunden hat, wird ein Eingehen hierauf nicht zu vermeiden sein.“70

Die gemeinrechtliche Wissenschaftstradition sollte für das geltende baltische Privatrecht also doch eine größere Rolle spielen, als in der allerletzten Reihe für die bloße Lückenerschließung zu sorgen. Immerhin, zu weit und breit sollte diese Behandlung nicht gehen: „Auch über das Maaß der Heranziehung des römischen Rechts können leicht verschiedene Meinungen obwalten. Vorausgesetzt muß dessen Kenntiß aber bei jedem baltischen

66 

Erdmann, System I (wie Fn.  32), S.  8.

67 Ebd. 68 

Vor Fn.  38. Erdmann, System I (wie Fn.  32), S.  3, Anm.  3). 70 Ebd. 69 

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Rechtsgelehrten werden,71 so daß der Verfasser regelmäßig mit einer kurzen Anknüpfung an dasselbe genug gethan zu haben glaubt.“72

Der Unterschied zum früheren Verfahren von Bunge – gegebenenfalls nur die Anwendbarkeit des römischen Rechts zu erwähnen – bestand nun darin, dass Erdmanns kurze Anknüpfung an den deutschen gemeinrechtlichen Diskurs eine inhaltlich aufgreifende und gegebenenfalls weiterführende war. Ein separates Pandektenlehrbuch außer dem Landesprivatrecht, wie z. B. Wächter 73, hat Erdmann allerdings niemals geschrieben, obwohl er im Zwei- oder Drei-Jahrestakt74 während seiner ganzen Universitätslehrerlaufbahn ein populäres Pandekten-Repetitorium anbot.75 In seinem provinzialrechtlichen Werk hat Erdmann sich bei solchen Stellen, wo er die „heutige gemeinrechtliche Theorie“ erwähnte, etwa mit dem Hinweis auf Savignys „System“ und Windscheids „Pandekten“ begnügt.76 Etwas zugespitzt könnte man sagen, dass es aus der baltischen Sicht genügte, auf Anfang und Ende der Pandektenwissenschaft Bezug zu nehmen. Dies betrifft allerdings nur diejenigen Lehren, die die gemeinrechtliche Literatur mehr oder weniger einhellig vertrat. Ganz anders sah es aus, wenn etwas in der gemeinrechtlichen Literatur umstritten war. So z. B. hatte sich Erdmann bei der Bestimmung und Behandlung der juristischen Person an Savigny angeschlossen.77 Neben Savignys „System“ verweist Erdmann an dieser Stelle auch noch auf Unger. Dagegen habe die „Leugnung dieses Begriffs durch Brinz und Demelius“ „nur dazu geführt, einen neuen Begriff (das sog. Zweckvermögen) in das Recht einzuführen, ohne irgend eine Schwierigkeit, welche der alte Begriff darbot, zu vermeiden“.78 Erdmann hat also die gemein71  Das Inkrafttreten der Kodifikation hat das römischrechtliche Studienangebot in Dorpat nicht vermindert. Im Gegenteil, durch die gleichzeitig eingeführten neuen Universitätssta­ tuten und den neuen Studienplan vom 1865 ist die Stundenzahl des römischrechtlichen Unterrichts vielmehr gestiegen; siehe näher: Luts-Sootak, Triumphbogen oder Grabmal (wie Fn.  61), S.  376–377. Siehe zu der gleichzeitigen Hochkonjunktur des römischen Rechts im Rechtsstudium des russischen Reichs, die durch die Universitäts- und Studienreform 1864/65 zum Aufschwung kam, Martin Avenarius, Fremde Traditionen des römischen Rechts. Einfluß, Wahrnehmung und Argument des »rimskoe pravo« im russischen Zarenreich des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2014, S.  325–370. 72  Erdmann, System I (wie Fn.  32), S.  I V. 73 Vgl. Karl Georg von Wächter, Pandekten, 2 Bde. Leipzig 1880. 74  In den Jahren 1876, 1878, 1879, 1881, 1884, 1885 und 1888; siehe Alexander Nevzorov, Art. ‚Erdmann, Carl Eduard‘, in: Biograficˇeskij slovar’professorov i prepodavatelej Imperatorskogo Jurjevskogo, byvšego Derptskogo universiteta za sto let ego sušcˇestvovanija [Biographisches Lexikon der Professoren und Lehrkräfte der Kaiserlichen Universität Jurjev, ehemals Dorpat während hundert Jahre ihrer Existenz](1802–1902), hrsg. von Grigorij Levickij, Bd. 1, Jurjev 1902, S.  573. 75  Engelmann, Professor Erdmann (wie Fn.  7), S.  20. 76  Z. B. Carl Erdmann, Die Unterbrechung der Verjährung durch Mahnung nach Provincialrecht, in: ZfRW 6 (1878), S.  8 vor und in Anm.1). 77  Erdmann, System I (wie Fn.  32), S.  108–131. 78  Erdmann, System I (wie Fn.  32), S.  108, Anm.  1). In diesem Zusammenhang nahm Erdmann neben Unger auch Vangerow zu dem Kreis seiner Gewährsmänner mit.

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rechtlichen Streitfragen durchaus aufgenommen und dazu auch seinen eigenen Standpunkt entwickelt. Das bisher Gesagte betrifft vor allem die allgemeine Einstellung Erdmanns zu der deutschen gemeinrechtlichen Wissenschaft, ob romanistischen oder germanistischen. Dabei erscheint die Trennung oder gar Gegenüberstellung der Romanistik und Germanistik in keiner Weise grundlegend oder konstitutiv.79 Damit soll nicht behauptet sein, dass Erdmann seine Gewährsleute irgendwie willkürlich oder bloß pragmatisch auswählte, je nach eigenem Bedarf und Gutdünken. Es bestätigt vielmehr nur die methodisch-wissenschaftliche Gemeinsamkeit der beiden Arbeitsfelder. Oder wie Sten Gagnér es in Bezug auf Jherings „Aufgabe“ aus dem Jahr 185680 ausdrückte: „Zu dieser Aufgabe [der Konstruktion und der praktischen Rechtswissenschaft] gehörte als konstitutive Zielsetzung, daß man sich von dem Gegensatz zwischen Deutschem und Römischem befreie“.81 Es lässt sich in diesem Punkt festhalten, dass Erdmann einen durchaus informierten, um- und nachsichtigen, mit- und nachdenkenden Umgang mit der Gesamtheit der deutschen Rechtswissenschaft hatte. Er gestaltete sie von der baltischen Ecke her mit. Mindestens für die zeitgenössische Germanistik gehörte er irgendwie auch noch dazu: Z. B. nahmen Gierke82 und Gerber oder eher Cosack83 sein „System“ in die Liste über die deutschen Partikularrechte durchaus 79  Erdmanns Zugriff ähnelte sich also durchaus demjenigen von Wächter, der ja ebenfalls den Rechtsstoff „von verschiedenem Ursprung „verschmolzen“ hatte, um das in Württemberg geltende Privatrecht in seiner Gesamtheit darzustellen; dazu näher: Mauntel, Wächter (wie Fn.  4 4), S.  140. Zu der Untriftigkeit und Unhaltbarkeit jener Trennungslinie zwischen Romanisten und Germanisten schon vor einiger Zeit Rückert, Reyscher (wie Fn.  54), S.  128– 136. 80  Rudolf von Jhering, Unsere Aufgabe, Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 1 (1857), S.  1–52. 81  Sten Gagnér, Zielsetzungen und Werkgestaltung in Paul Roths Wissenschaft [1975], in: ders., Abhandlungen zur Europäischen Rechtsgeschichte, hrsg. von Joachim Rückert, Michael Stolleis und Maximiliane Kriechbaum, Goldbach 2004, S.  503. 82 Bei Otto von Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. 1, Leipzig 1895, S.   104 sind sowohl Bunges als auch Erdmanns rechtsdogmatischen Hauptwerke erwähnt. Die Rechte der Schweiz und der russischen Ostseeprovinzen waren für Gierke allerdings nur „vom geschichtlichen Standpunkt aus nicht abzutrennen“, dagegen sollten sie „für die dogmatische Betrachtung in die Reihe der fremden Rechte und somit der blossen Hülfsmittel des deutschen Privatrechts“ einrücken. Warum dagegen das österreichische Recht für Gierke „mit Fug auch heute unter dem Gesichtspunkt eines deutschen Partikularrechts behandelt werden“ konnte, hat er näher nicht begründet (s. ebd., S.  80). 83  Auf der Liste der Literatur zur wissenschaftlichen Behandlung der deutschen Partikularrechte sind auf der letzten, neunzehnten Stelle nach Österreich und Schweiz auch die Ostseeprovinzen erwähnt, wobei für Erdmann auf sein vierbändiges „System“, für Bunge aber auf seine Kodifikation vom 1864 hingewiesen wird, siehe Carl Friedrich von Gerber, System des deutschen Privatrechts, auf der Grundlage des Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich neubearbeitet von Konrad Cosack, 17.  Aufl., Jena 1895, S.  27. In der noch von Gerber selbst besorgten 16. Auflage aus dem Jahr 1891 sind die Ostseeprovinzen, wie auch die Schweiz, nicht erwähnt.

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auf. Bei den Detailfragen sind mir jedoch keine Hinweise auf seine Werke in der deutschen Literatur begegnet. Natürlich bedeutet die Benutzung der gemeinrechtlichen Literatur nicht automatisch, dass man damit auch schon inhaltlich dabei wäre. Deshalb will ich nun einige Einzelheiten aus Erdmanns Werk näher betrachten, die man wohl als charakteristisch gerade für die Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts bzw. als prinzipielle Weichenstellungen für die These der ‚Pandektisierung‘ einer Privatrechtswissenschaft betrachten kann.

IV.  Die Lehre vom Rechtsgeschäft Erdmann hat Privatrecht wie folgend definiert: „Unter Privatrecht im objectiven Sinne versteht man den Inbegriff derjenigen Rechtsnormen, welche die rechtlichen Beziehungen der einzelnen Rechtssubjecte in rein persönlicher und vermögensrechtlicher Hinsicht regeln.“84

Obwohl Erdmann bei dieser Bestimmung auf Joseph Unger und Heinrich Thöl85 hinweist, fehlt in seiner Definition ein Konzept, das seit Savigny und Stahl in der Pandektenwissenschaft Karriere gemacht hatte: das Rechtsverhältnis. Unger z. B. betonte ganz im Sinn von Savigny u. a.: „Erwägt man, daß alles Recht die Bestimmung hat gewisse Lebensverhältnisse und Lebensbeziehungen, in welchen die Menschen zu einander stehen, zu Rechtsverhältnissen und Rechtsbeziehungen zu erheben, daß diese Verhältnisse und Beziehungen es sind, welche die objective Grundlage des Rechts ausmachen, und daß somit die Rechtverhältnisse das Bestimmende, die einzelnen Rechte nur der durch sie bestimmte Inhalt sind (…) Diese Erhebung darf man sich nur nicht als eine rein äußerliche, mechanische vorstellen; das Recht tritt nicht als ein selbständiger Hebel von außen an die Rechtsverhältnisse heran, sondern in den Lebensverhältnissen selbst liegt die Macht, welche sie zu Rechtsverhältnissen gestaltet. Die Rechtsverhältnisse und die Rechtsinstitute werden nicht mechanisch durch den Gesetzgeber producirt und geordnet, sondern umgekehrt gehen vielmehr die Rechtssätze aus den Rechtsverhältnissen organisch hervor“.86

Für sein Konzept, wonach das Privatrecht als ein „Inbegriff der Rechtsnormen, durch welche alle Rechtsverhältnisse, in welchen die Privatpersonen zu einander stehen“ zu verstehen war,87 sollte Unger den Begriff der „älteren Doctrin“, auf dem auch die Legaldefinition des ABGB88 aufbaute, verdrängen. Dieser Be84 

Erdmann, System I (wie Fn.  32), S.  1. Heinrich Thöl, Einleitung in das deutsche Privatrecht, Göttingen 1851, S.  114–115 (§  41). 86  Unger, System I (wie Fn.  53), S.  2 f. und S.  3, Anm.  5). 87  Unger, System I (wie Fn.  53), S.  5. 88  Vgl. ABGB §  1: „Der Inbegriff der Gesetze, wodurch die Privat-Rechte und Pflichten der Einwohner des Staates unter sich bestimmt werden, macht das bürgerliche Recht in demselben aus.“ 85 

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griff sei als „teils zu eng, teils zu weit“ abzulehnen.89 Das Konzept der Rechtsverhältnisse eignete sich für ihn dagegen ganz genau für die Bestimmung des Privatrechts. Für Erdmann dagegen scheint Rechtsverhältnis kein konstitutives Konzept zu sein. ‚Rechtsverhältnis‘ kommt nicht einmal als Stichwort im Register zu seinem „System“ vor. Hat er dieses Konzept in der Tat abgelehnt, könnte man darin vielleicht ein Indiz dafür sehen, dass er mit seiner baltischen Privatrechtswissenschaft eben nicht im Kielwasser der deutschen Pandektenwissenschaft fuhr. Aber das Rechtsverhältnis taucht dann doch auch bei Erdmann auf und zwar bei der Lehre vom Rechtsgeschäft: „Ein Rechtsgeschäft ist jede zur Begründung, Aenderung oder Aufhebung von Rechtsverhältnissen erlaubter Weise unternommene Handlung.“90

Für Österreich hat Jakob Fortunat Stagl nachgewiesen, wie dort die Lehre vom Rechtsgeschäft eben nicht schon 1811 durch das ABGB, sondern erst durch die wissenschaftliche Leistung von Joseph Unger eingeführt wurde.91 Erdmann hat den Begriff des Rechtsgeschäfts allerdings schon in dem baltischen Gesetzbuch von 1864 vorgefunden – die Legaldefiniton im Art.  290992 deckt sich fast wortgleich mit der gerade zitierten Bestimmung. Das Rechtsgeschäft wird im Gesetzbuch neben den unerlaubten Handlungen und bestimmten Zuständen als ein Entstehungsgrund der Forderungen angeführt (Art.  2908). Der Begriff ‚Rechtsgeschäft‘ war in der baltischen Privatrechtswissenschaft gebräuchlich auch schon vor der Kodifikation. „Von Verträgen und Rechtsgeschäften überhaupt“ hieß der zweite Titel im dritten Buch „Recht der Forderungen“ in Bunges Darstellung des est- und livländischen Privatrecht schon im Jahr 1838.93 So blieb es auch in der zweiten Auflage jenes Werkes aus dem Jahr 1847, in der Darstellung des kurländisches Privatrechts aus dem Jahr 1851 und in seiner Kodifikation. Trotzdem wich Erdmanns Umgang mit der Lehre vom Rechtsgeschäft vom Gesetzbuch und von der früheren baltischen Tradition grundlegend ab. Früher und im Gesetz befand sich das Rechtsgeschäft nur in dem schuldrechtlichen Teil, und die Bestimmungen über die Rechtsgeschäfte sollten damit nur für die Verträge und andere Schuldrechtsverhältnisse gelten. Bei Erdmann dagegen steht die Lehre vom Rechtsgeschäft im Allgemeinen Teil des Privatrechts und soll damit für alle Rechtsgeschäfte in allen Partien des Privatrechts gelten. Das Gleiche gilt dann auch für die Behandlung der Willenserklärung bzw. Willens89 

Unger, System I (wie Fn.  53), S.  1–2. Erdmann, System I (wie Fn.  32), S.  203, Hervorhebung hinzugefügt. 91  Jakob Fortunat Stagl, Die Rezeption der Lehre vom Rechtsgeschäft in Österreich durch Joseph Unger, in: ZEuP 2007, S.  37–55. 92  Vgl.: „Rechtsgeschäfte sind Handlungen, welche zum Zweck der Begründung, Aenderung oder Aufhebung von Rechtsverhältnissen erlaubter Weise unternommen werden“. 93  Bunge, Das liv- und esthländische Privatrecht I (wie Fn.  51), S.  351. 90 

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bestimmung94 oder Irrtum (Art.  2954) – im Gesetzbuch stehen die entsprechenden Rechtssätze im vierten Buch „Recht der Forderungen“, Erdmann behandelt sie aber im Allgemeinen Teil als wesentlich für alle privatrechtlichen Handlungen. Er selbst hat seine Vorgehensweise so begründet: „Die Grundsätze über die Willensbestimmung werden von der Codifikation von 1864, entsprechend den meisten allgemeinen Lehren, in dem Abschnitt über das Forderungsrecht erörtert. Sowohl der Wortlaut des betr. Gesetzesartikel, als deren Inhalt zeigen aber deutlich, daß die Entstehung von Rechten aller Art, nicht bloß von Forderungsrechten, an die hier geschilderten Bedingungen gebunden wird.“95

Außer dem Wortlaut, der stets die Rechtsgeschäfte überhaupt, nicht nur die forderungsrechtlichen betreffe, sei auch entscheidend, dass „der ganze Abschnitt von Art.  2953 bis Art.  2988 (…) nur die gemeinrechtliche Lehre vom Irrtum u. s. w. überhaupt“ darstelle, „ohne Beschränkung auf bestimmte Handlungen“.96 In der Tat geben die Verweise zu diesen Artikeln97 nur die gemeinrechtlichen Quellen an, die justinianischen Digesten und den Codex. Bei der Behandlung des Zwanges als Aufhebungsgrund des Geschäftes (Art.  2986) und dessen Beweis (Art.  2988) werden zusätzlich auch die einheimischen Rechtsquellen angeführt: Estländisches Ritter- und Landrecht Buch IV, Titel 1 Art.  9, Livländisches Ritterrecht Capitel 223 und Kurländischen Statuten §§  122 und 139. In Wirklichkeit waren aber auch diese Bestimmungen der sog. einheimischen Rechtsquellen im Zuge der Rezeption aus dem Römischen Recht geschöpft. Erdmann hat so aus der gemeinrechtlichen Herkunft der Gesetzesnormen für sich ein Vermächtnis hergeleitet, sich an die aktuell laufenden Diskurse und Lehren der deutschen gemeinrechtlichen Literatur anzuschließen. Bei der Behandlung der Willensbestimmung und des Irrtums hat er die Werke von Savigny, Windscheid und Vangerow für seine Zwecke mobilisiert. Von der Partikularrechtsliteratur wird Ungers System des österreichischen Privatrechts herangezogen. In den Einzelfragen hat Erdmann allerdings sorgfältig differenziert, je nachdem, ob das baltische Gesetzbuch die älteren oder neueren Lehren und ob es sie vollständig oder teilweise aufgenommen hatte. Er verfuhr in seiner Wissenschaft also doch sehr eng am geltenden Gesetz, selbst wenn er sich gemein-

94  LECP unterscheidet zwischen Willenserklärung (Art.  2936 ff.) und Willensbestimmung (Art.  2953 ff.). 95  Erdmann, System I (wie Fn.  32), S.  190–191, Hervorhebungen wie im Original. 96  Erdmann, System I (wie Fn.  32), S.  190 Anm.  9 ). Erdmann hätte ebenso gut auch den vorhergehenden Abschnitt über die Willenserklärung hierher einbeziehen können – auch da wird nur auf die gemeinrechtlichen Quellen hingewiesen. 97  Anders als bei den westeuropäischen aber ähnlich wie bei den russischen Gesetzbüchern des 19. Jahrhunderts hat das LECP nach der Vorgabe des Zaren auf die ursprünglichen Quellen der Artikeltexte verwiesen. Eingehend zu diesen Quellenverweisen, deren Funktion und Stimmigkeit im LECP: Siimets-Gross, LECP und römisches Recht (wie Fn.  24), S.  11–15, 83– 117.

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rechtlicher Doktrin bediente.98 Auch sonst blieb er regelrecht gesetzesloyal, dies sogar dann, wenn er die gesetzlichen Lösungen für misslungen hielt.99 Dass er die Ideologie der baltischen Kodifikation durchaus teilte, zeigt sich in der Sperrung und den Ausrufezeichen, mit denen er die Losung am Schluss seines Aufsatzes zum 25. Kodifikationsjubiläum hervorhob. „Entwicklung ohne Zerstörung!“, heißt es da mit unverkennbarem Beifall.100 Umso erstaunlicher erscheint seine prinzipielle Bereitschaft und Entschiedenheit, vom Gesamtsystem des Gesetzbuchs abzuweichen.

V.  Allgemeiner Teil Die baltische Privatrechtskodifikation von 1864 ist in vier Bücher geteilt: Familienrecht (Art.  1–528), Sachenrecht (Art.  529–1690), Erbrecht (Art.  1691–2906) und als viertes und umfangreichstes Buch „Recht der Forderungen“ (Art.  2907– 4600). Einen Allgemeinen Teil gibt es nicht. Indem die vier Bücher aber fast die gleichen sind wie die vier Bücher der besonderen Teile im sog. Fünf-Bücher-Sys-

98  Z. B. hat Erdmann das Abstraktions- und Trennungsprinzip der Savignyschen bzw. gemeinrechtlichen Lehre nicht auf die Eigentumsübertragung im baltischen Recht ausgedehnt, weil das Gesetz ausdrücklich den Eigentumsübergang von der Gültigkeit des Kausalgeschäftes abhängig machte. S. Erdmann, System II (wie Fn.  32), S.  117. Unger fand im österreichischen ABGB ganz ähnliche gesetzliche Bestimmungen vor, scheute sich aber nicht, die neue gemeinrechtliche Lehre zu befolgen. Stagl sieht in Ungers Anerkennung des Abstraktionsprinzips einen seiner Schritte bei der Pandektisierung des österreichischen Privatrechts, siehe Stagl, Rezeption (wie Fn.  91), S.  47–48. 99  Z. B. hat das LECP das römisch-rechtliche Precarium als „Gunstrecht“ und selbständige Vertragsart im schuldrechtlichen Teil geregelt (Art.  3765–3776). Erdmann hat die gesetzliche Regelung – „einer weniger von den Gesetzen als von dem guten Willen des Gebers abhängigen Vergünstigung“ – für verkehrt und überflüssig gehalten, das Precarium in seinem „System“ aber trotzdem mitbehandelt. Erdmann, System IV (wie Fn.  32), S.  275–277. Näher zum Aufkommen und Verschwinden des Precariums als eigenständiger Vertragsart im baltischen und später im estnischen Privatrecht: Marju Luts-Sootak/Hesi Siimets-Gross, Das römischrechtliche precarium im deutsch-baltischen und estnischen Recht: eine Besonderheit aus der estnischen Rechtsgeschichte, in: Juridica International XX (2013), S.  222–230 (aufrufbar: http:// www.juridicainternational.eu/index.php?id=15339). Auch wenn Erdmann z. B. den gesetzlich festgelegten Begriff und das Institut des geteilten Eigentums (LECP Art.  942–952) als völlig unkompatibel mit dem ebenfalls gesetzlich festgelegten Begriff des absoluten Eigentums (LECP Art.  707 ff.) für verfehlt hielt, hat er die einzelnen Erscheinungsformen des geteilten Eigentums, wie sie im LECP vorkamen, alle sorgfältig mitbehandelt, nur die systematische Einordnung mancher davon berichtigend. Dazu eingehend Marju Luts-Sootak, Macht und Ohnmacht der juristischen Begriffe. ‚Geteiltes Eigentum‘ als Begriff und Phänomen in der modernen baltischen Rechtsgeschichte; der Beitrag soll demnächst erscheinen im Sammelband „Der allgemeine Teil des Privatrechts: Juristische Systematik, Methodik und Didaktik. Zu juristischen Begriffen und der Begrifflichkeit des Rechts“ der Stockholmer Tagung 29. –31. Mai 2014. 100  Erdmann, Jubiläum (wie Fn.  38), S.  754.

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tem der deutschen Pandektenwissenschaft und des BGB101, ist das System des baltischen Gesetzesbuches auch als ein Produkt der frühen Pandektistik gedeutet worden. Giaro spricht in diesem Zusammenhang vom „pandektistischen Korsett“.102 Das Gesetzbuch erscheint mit seinen 4636 Artikeln allerdings so voluminös, dass ein Korsett in der Tat erst vonnöten wäre und nicht als ohnehin schon vorhanden betrachtet werden kann. Erdmann wollte nun in der Tat die Volumina des baltischen Privatrechts in dem Fünf-Bücher-System bändigen, in das ganz auffällig ein Allgemeiner Teil deutscher Art miteinbezogen ist. Erdmann fand für seinen Zugriff die Berechtigung darin, dass mehrere Institute und Normen, die die zeitgenössische deutsche Rechtswissenschaft im Allgemeinen Teil behandelte und die im baltischen Gesetzbuch in speziellen Büchern untergebracht waren, dem Sinn und Wortlaut nach allgemein formuliert seien. So z. B. bei der schon erwähnten Regelung der Willenserklärung sollte in den Artikeln 2953 (über die erforderliche Freiheit der Willensbestimmung zusätzlich zu der bloßen Willenserklärung), 2961 (Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts wegen des wesentlichen Irrtums), 2962 ff. (die Folgen des unwesentlichen Irrtums bzw. des Missverständnisses), 2966 (die Folgen des Irrtums in Person und in den persönlichen Fähigkeiten) und 2969 ff. (die Folgen des Irrtums in der Quantität der vertretbaren Sachen), auch 2980 (gegenseitiger Betrug in zweiseitigen Rechtsgeschäften) und 2982 ff. (Zwang) „stets von Rechtsgeschäften überhaupt, nicht bloß von obligatorischen, die Rede“ sein.103 Anderenorts, etwa bei der Lehre von der Rechtsfähigkeit104 oder bei der Bestimmung der Begriffe und Arten der Privatrechte, hat Erdmann auf die Bestimmungen aus dem Erb- und Familienrecht bzw. aus dem Sachen-, Erb- und 101  Zu diesem Mathias Schmoeckel, vor §  1: Der allgemeine Teil in der Ordnung des BGB, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, hrsg. von Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert, Reinhard Zimmermann, Bd. 1, Tübingen 2003, S.  123–165. 102 Vgl. Tomasz Giaro, Modernisierung durch Transfer – Schwund osteuropäischer Rechtstraditionen, in: Modernisierung durch Transfer im 19. und frühen 20. Jahrhundert, hrsg. von Tomasz Giaro, Frankfurt am Main 2006, S.  307: „Im Gesetzbuch Liv-, Est und Curlands ordnete Friedrich Georg von Bunge im Jahre 1864 das angestammte Gewohnheitsrecht im Vier-Bücher-Schema nach Familien-, Sachen-, Erb- und Schuldrecht. Da die baltischen Rechte einen Doppelstatus aufwiesen, nämlich nicht nur als Partikularrechte des westlichen ius commune, sondern auch als Partikularrechte der russischen Ostseeprovinzen, betonte Bunge im Familien- und Erbrecht dem Moskauer Zentralismus zuwider die traditionellen ständischen und territorialen Partikularismen, die damals nur im pandektistischen Korsett präsentabel waren.“ Die Befolgung der zaristischen Vorgaben einer konservativen Konsolidierung des überlieferten Rechts wird hier zu einer baltischen Revolte gegen die Reichszentrale (die allerdings schon seit dem Peter dem Großen in St. Petersburg und nicht in Moskau ihren Sitz hatte) stilisiert. Aus polnischer Sicht und in Anbetracht mehrerer polnischer Aufstände gegen das Zarenreich wäre so etwas bestimmt erwartet, von den Balten jedoch niemals zustande gebracht. Revolutionär wurden die indigenen Völker Esten und Letten, aber auch diese erst im 20. Jahrhundert und ohne pandektistisches Korsett für das Privatrecht. 103  Erdmann, System I (wie Fn.  32), S.  190, Anm.  8 ), Hervorhebung wie im Original. 104  Erdmann, System I (wie Fn.  32), S.  75–76.

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Forderungsrecht hingewiesen, ohne explizit zu behaupten, dass sie von Anfang an allgemein gemeint und formuliert seien. Es ist in der Tat Erdmann schwerlich zuzustimmen, dass dies wenigstens bei den von Erdmann besonders erwähnten Bestimmungen über die Willenserklärung stimmte. Wenn die Normen in dem vierten Buch des „Rechts der Forderungen“ sozusagen von Anfang an und absichtlich eher allgemein und für das ganze Privatrecht formuliert wären, stellt sich die Frage, warum man dazu und mit sonstigen allgemeinen Lehren nicht gleich einen Allgemeinen Teil im Gesetzbuch gebildet hat. Die Vorbilder waren ja durchaus da, als Bunge von 1856 bis 1865 in St. Petersburg in der zweiten Abteilung seiner Majestät persönlicher Kanzlei für die Redaktion des baltischen Privatrechtsgesetzbuches angestellt war.105 In seinen rechtsdogmatischen Darstellungen der ostseeprovinziellen Privatrechte hat Bunge ebenfalls keinen Allgemeinen Teil gebildet. Als bester Ausdruck dieses Rechts und seiner Eigentümlichkeit erschien ihm das in den gangbaren deutschrechtlichen Gesamtdarstellungen benutzte System: „Es ist allgemein bekannt, daß für einen gegebenen Stoff, insonderheit für ein positives Recht, die äußere Form, in der man ihn darstellt, nichts weniger als gleichgültig ist: daß der Stoff nur dann in seiner Eigenthümlichkeit hervortritt, wenn er in dem gerade für ihn passenden, nach ihm geformten Gewande erscheint; daß er sich dagegen in einem fremden Kleide nicht frei bewegen kann, seinen besonderen Character verliert, ja ganz unkenntlich wird. Daher durfte der Verfasser den ihm vorliegenden Stoff nicht in jedes beliebige System einzwängen (…). Daß dieses System sich im Wesentlichen dem anschließt, welches für das deutsche Privatrecht – die Hauptgrundlage des provinciellen – als das zweckmäßigste anerkannt worden, kann nicht befremden. (…) Auch in Beziehung auf den Umfang des behandelten Materials ist der Verf. den gangbarsten Lehrbüchern des deutschen Privatrecht gefolgt“.106 105  Das 1856 gerade in Kraft gesetzte „Privatrechtliche Gesetzbuch für den Kanton Zürich“ von J. C. Bluntschli, womit die baltische Kodifikation in der Literatur öfters als ähnlich angesehen wird, hat zwar keinen Allgemeinen Teil, sehr wohl aber der Entwurf des bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen, der schon seit 1853 da war: Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen. Nebst allgemeinen Motiven und Inhaltsverzeichnisse, Dresden 1853. Angeblich ist dieser Entwurf bei der Fassung der baltischen Kodifikation auch rege benutzt worden. Eingehend zum sächsischen Gesetzbuch und anderen Vorbilder des LECP: Alexander Nolde, Ocˇerki po istorii kodifikacii mestnych graždanskich zakonov pri grafe Sepranskom. Vypusk II: Kodifikacija mestnago prava pribaltijskich gubernii [Grundzüge der Geschichte der Kodifikation der lokalen Privatrechte unter dem Graf Speranskij. Lieferung II: Kodifikation des lokalen Rechts der baltischen Gouvernements], St. Petersburg 1914, S.  567–576; anhand einiger ausgewählten Stücke näher prüfend und im Ergebnis im Einzelfall abweichend Siimets-Gross, LECP und römisches Recht (wie Fn.  24), S.  95–110. 106  Bunge, Das liv- und esthländische Privatrecht I (wie Fn.  51), S. VI; wörtlich wiederholend auch in der zweiten Auflage aus dem Jahr 1847, S. VIII. Im Vorwort zum kurländischen Privatrecht äußerte Bunge sich zu seiner Darstellungsordnung nicht und erwähnte nur, dass er „dasselbe System und dieselbe Methode“ befolgte, die er seiner früheren Darstellung des Privatrechts der zwei nördlicheren Schwesterprovinzen zum Grunde gelegt hatte. Bunge, Das curländische Privatrecht (wie Fn.  51), S. IX.

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Man kann vermuten, dass Bunge in seiner Literaturliste zum deutschen Privatrecht dann eben diejenigen Lehrbücher oder Gesamtdarstellungen angegeben hat, die er für brauchbar hielt. Im Jahr 1838 waren es diejenigen von Eichhorn107, Mittermaier108 und Maurenbrecher109 – das erste freilich ohne Allgemeinen Teil, die beiden letzten aber schon durchaus mit einem solchen. In seiner letzten dogmatischen Gesamtdarstellung zum kurländischen Privatrecht aus dem Jahr 1851 hatte Bunge als beste Lehrbücher des gemeinen deutschen Rechts diejenigen von Eichhorn110 , Mittermaier111, Maurenbrecher112 , Phillips113, Wolff114, Beseler115 und Gerber116 genannt – auch hier die meisten mit einem Allgemeinen Teil. Man kann also davon ausgehen, dass Bunge durchaus auch die Privatrechtsdarstellungen mit einem Allgemeinen Teil kannte, in seinem Werk – sei es als Universitätslehrer, Schriftsteller oder Gesetzgeber – auf den Allgemeinen Teil bewusst und absichtlich verzichtet hatte. Erdmann hat das Fehlen des Allgemeinen Teils in der Bungeschen Kodifikation mit der Analogie zum russischen Recht begründet. Auch der privatrechtliche Teil (Bd. X: 1) der russischen Gesetzessammlung vom 1835 kannte keinen Allgemeinen Teil. Infolge fand Erdmann „die sonst im allgemeinen Teil untergebrachten Lehren zerstreut im ganzen Gesetzbuch“.117 Auch Joseph Unger hatte in seinem „System“ des österreichischen Privatrechts von der Gesetzessystematik abweichend einen Allgemeinen Teil gebraucht, genauso wie Erdmann in seinem „System“. Stagl behauptet, „dass Allgemeiner Teil und Rechtsgeschäft einander bedingen, dass das eine ohne das andere nicht zu denken“ sei. Dabei stehe „der Allgemeine Teil in einem engen 107  Carl Friedrich Eichhorn, Einleitung in das deutsche Privatrecht. 4. Ausgabe, Göttingen 1836. 108  Carl Joseph Anton Mittermaier, Grundsätze des gemeinen deutschen Privatrechts. 4. Ausgabe, Landshut 1830. 109  Romeo Maurenbrecher, Lehrbuch des heutigen gemeinen deutschen Rechts, Bonn 1834. 110  Eichhorn, Einleitung (wie Fn.  107), nun allerdings die 5. Auflage, Göttingen 1845. 111  Mittermaier, Grundsätze (wie Fn.  108), nun die 7. Ausgabe, Regensburg 1847. 112  Maurenbrecher, Lehrbuch (wie Fn.  109). 113  Georg Phillips, Grundsätze des gemeinen deutschen Privatrechts. 3. Ausgabe, Berlin 1846. Das Werk war in der ersten Auflage von 1829 ganz eigenständig nach den angeblichen Hauptprinzipien des genuin deutschen Rechts gegliedert, hatte sich aber schon ab der zweiten Auflage vom 1838 dem sog. Pandektensystem genähert. Das 1. Buch im Band 1 heißt zwar „Hauptprinzipien des gemeinen deutschen Privatrechts und deren historische Begründung“ und nicht Allgemeiner Teil, man kann es aber inhaltlich durchaus mit einem solchen vergleichen. 114  Carl Wilhelm Wolff, Lehrbuch des gemeinen deutschen Privatrechts, Bd. 1, Göttingen 1843, hatte keinen Allgemeinen Teil. 115  Georg Beseler, System des gemeinen deutschen Privatrechts, Bd. 1, Leipzig 1847 – mit einem Allgemeinen Teil. 116  Carl Friedrich Wilhelm von Gerber, System des deutschen Privatrechts, Abt.   1, Jena 1848 nannte diesen Teil „Die allgemeinen Grundlagen des Privatrechts“, dem Inhalt nach war es ein geläufiger Allgemeiner Teil. 117  Erdmann, Resolutivbedingung, in: ZfRW (wie Fn.  15), S.  135 f.

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Zusammenhang mit der sog. pandektistischen Gliederung des Bürgerlichen Rechts“. Stagl sieht diesen besonderen Zusammenhang u. a. dadurch ausgedrückt, dass „Savigny beides am gleichen Ort entwickelt“.118 Man kann natürlich auch dagegen halten, dass Savigny ja an dieser Stelle sachgemäß genötigt war, seine Überlegungen und Begründungen zur Notwendigkeit eines Allgemeinen Teils mitzuteilen, wenn er schon entschieden hatte, einen solchen in seiner Darstellung des Privatrechts zu haben. Savigny lässt aber in der Tat den Allgemeinen Teil wie eine innere Notwendigkeit des Privatrechts erscheinen: „Wenn wir es versuchen, die einzelnen Rechtsinstitute in dem lebendigen Zusammenhang ihrer Theile, also vollständig darzustellen, so kommen wir dabey nothwendig auf manche Seiten ihres Wesens, die bey jedem anderen Institut gleichfalls erscheinen, wenngleich vielleicht mit einigen Modificationen. (…) Es giebt in der That kein Rechtsinstitut, in welchem nicht die Erörterung dieser Fragen nöthig und wichtig wäre. Wir könnten nun solche Stücke bey jedem Institut wieder ganz und von Neuem abhandeln, aber eine Wiederholung dieser Art würde weder für den Schriftsteller noch für den Leser erträglich seyn. Wir könnten sie ganz und vollständig bey dem ersten vorkommenden Rechtsinstitut (also nach unsrer Anordnung bey dem Eigenthum) abhandeln, und bey den nachfolgenden darauf verweisen: allein auch dieses Verfahren würde sogleich als willkührlich und unverhältnismäßig sich darstellen. Dazu kommt aber noch die wichtigere Rücksicht, daß das wahrhaft Gemeinsame in solchen Theilen der Rechtsinstitute gerade durch die Zusammenstellung gründlicher erkannt werden kann. Und so erscheint es denn von allen Seiten gerathen, dieses wirklich Gemeinsame auszuziehen und dem System der besonderen Rechtsinstitute voran zu stellen, um dann bey jedem einzelnen die Modificationen, die für dasselbe gelten, an jene gemeinsame Grundlage anknüpfen zu können.“119

Nach Rückert, der sonst eher sensibel für die Metaphysik bei Savigny ist120 , sollte es hier „auf Metaphysik gar nicht“ ankommen, „die juristische Bestimmung“ sei „maßgebend“.121 Savignys Text spricht m. E. dagegen. Es kommt nicht bloß auf einen Zusammenhang, sondern auf einen ‚lebendigen Zusammenhang‘ an; es ist nicht einfach zu betrachten und daraus etwas zu folgern, sondern ‚notwendig‘ auf die Gemeinsamkeiten zu kommen; diese wiederum sollten nicht bloß als gegeben oder ersichtlich sein, sondern ‚wahrhaft‘ und ‚wirklich‘ – im Gegensatz zu den falschen oder gemeinten bzw. ‚willkürlich‘ angenommenen; das Erkennen des Gemeinsamen sollte dann nicht z. B. leicht oder schwer oder etwa klar sein, sondern ‚gründlich‘. Immerhin, der erste Band von Savignys „System“ erschien im Jahr 1840, Erdmanns „System“ dagegen ein 118  Stagl, Rezeption (wie Fn.  91), S.  38 und in Anm.  11 dazu, freilich mit einem Druckfehler – es soll da Savignys System Bd. I stehen, nicht III. 119  Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts. Bd. 1, Berlin 1840, 390 f., die Hervorhebungen hinzugefügt. 120 Grundlegend Joachim Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, Ebelsbach 1984. 121  Joachim Rückert, [Rezension zu] Joachim Bohnert, Über die Rechtslehre Georg Friedrich Puchtas (1798–1846), in: ZS Rom. Abt.  93 (1976), S.  508.

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halbes Jahrhundert später. Man brauchte wohl gar nicht oder mindestens in dem deutschsprachigen Raum nicht mehr ausführlich begründen, warum die wissenschaftliche Behandlung des Privatrechts mit einem Allgemeinen Teil beginnen sollte. Windscheid z. B. hat es ganz trocken und ohne jegliche Suggestion ausgedrückt: „Nun gibt es aber rechtliche Grundsätze nicht bloß über die Rechte besonderen Inhalts, es gibt auch rechtliche Grundsätze, welche sich auf die Rechte als solche, abgesehen von ihrem besonderen Inhalt, beziehen. (…) Die Grundsätze über das Recht und die Rechte überhaupt müssen vorher vorgetragen werden, ehe von den besonderen Rechten gehandelt werden kann. (…) Die Abtheilungen I [Vom Rechte überhaupt] und II [Von den Rechten überhaupt] pflegt man zusammen als „allgemeinen Theil“ zu bezeichnen.“122

Windscheid muss mit seinem Lehrbuch des Pandektenrechts freilich ohne Zweifel in die Reihe der Pandektenwissenschaftler gezählt werden und man braucht bei seinem Werk nicht erst nach der ‚Pandektisierung‘ zu fragen. Andererseits hat aber Unger, dessen Allgemeiner Teil im österreichischen Privatrecht ebenfalls ein novum und gegen das Gesetzessystem durchzusetzen war, gleichfalls nur lapidar und ohne gründlichere Argumentation seine Überzeugung der Vorteilhaftigkeit dieses Systems behauptet: „Was die innere Gliederung des Systems selbst betrifft, konnte ich keinen Augenblick im Zweifel sein, daß das im Gesetzbuch befolgte System verlassen und jenes befolgt werden müsse, welches mit Abweichungen im Einzelnen heutzutage als das in der deutschen Rechtswissenschaft allgemein befolgte bezeichnet werden kann.“123

In diesem zeitgenössischen Kontext erscheint Erdmann mit seinen spärlichen Begründungen dann nahezu als ausgiebig argumentierend. In seinem „System“ hat er freilich nicht eingehend begründet, warum ein System des geltenden Privatrechts der baltischen Ostseeprovinzen bzw. des Privatrechts überhaupt einen Allgemeinen Teil brauchen sollte. Eine kurze Erklärung zu den Gründen seiner vom Gesetzbuch abweichenden Anordnung hat er in der Fußnote doch geliefert: „Der Mangel eines allgemeinen Theils in der Codification von 1864 hat sich in Theorie und Praxis in der mannigfachsten Weise fühlbar gemacht. Die demselben angehörigen Lehren, meist im Obligationenrecht untergebracht, werden in Folge dessen in der Praxis bald zu restrictiv behandelt, indem man sie bloß demjenigen Rechtsgebiet vindicirt, wel-

122 

Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (wie Fn.  41), S.  33 f. Unger, System I (wie Fn.  53), S. VII. Repgen hat für die Verhandlungen um die BGB-Entwürfe gut gezeigt, dass die Frage nach dem Befürworten oder Ablehnen des Allgemeinen Teils kaum berührt wurde. Das gewählte System mit Allgemeinem Teil wurde schon in den 1870-er Jahren für eine „nicht weiter zu hinterfragende Selbstverständlichkeit“ gehalten. S. Tilman Repgen, Soziale Aufgabe des Privatrechts. Eine Grundfrage in Wissenschaft und Kodifikation am Ende des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2001, S.  123–128, Zitat auf S.  126. 123 

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chem sie von der Codification einverleibt scheinen, bald zu extensiv, indem Sätze, welche bloß dem Obligationenrecht angehören, für allgemein gültig gehalten werden.“124

Darüber hinaus konnte er auf seine eigenen Erwägungen schon aus den Anfangsjahren seiner wissenschaftlichen Bemühungen um das baltische Privatrecht hinweisen. Gleich am Anfang seiner Magisterarbeit hatte er die rationalen und historischen Gründe für die Aufrechterhaltung der Absonderung und Voranstellung des Allgemeinen Teils erörtert. Rational sei es „mathematisch erforderlich (…), mehrfach in einer Gleichung sich wiederholende Größen in einen Werth zusammenzuziehen“.125 Den gemeinsamen Multiplizierer sollte man also vor die Klammern setzen. Als Beispiele hat Erdmann die Lehren von den Rechtsgeschäften und von der Schenkung genannt. Darüber hinaus gab es „eine nicht unbedeutende Anzahl rechtlicher Zustände“, die „heimathlos im System umherirren und vergebens eine Stätte suchen“, die „sie aufzunehmen bereit wäre“. Für diese Fälle seien „die Dogmen von der Nativität der Klage und von den juristischen Personen“ stellvertretend.126 Mindestens in den frühen Jahren seiner wissenschaftlichen Laufbahn teilte Erdmann also nicht die Abneigung gegenüber den „Vagabunden“, die im Allgemeinen Teil ihr „geräumige[s] Asyl“ finden konnten.127 Immerhin, die Lehren von der juristischen Person und von der Nativität der Klage hatten in den folgenden Jahrzehnten schon ziemlich verbreitet einen sicheren Platz im Allgemeinen Teil gefunden und im „System“ hat Erdmann sie nicht mehr als irgendwie heimatlos bezeichnet. Die historischen Gründe für einen Allgemeinen Teil sah der junge Erdmann darin, dass „das Recht sich an die genannte Art der Systematisierung gewöhnt hat“.128 Als Erklärung erscheint das irgendwie zu einfach. Man könnte fast an eine Sitte oder gar Unsitte des deutschen Rechts als solches denken, den Allgemeinen Teil zu gebrauchen. Erdmann warf aber auch Licht auf die Akteure, die sich bei der Schaffung, Anwendung und Erklärung des Rechts betätigen und entnahm daraus einen Grund für einen Allgemeinen Teil: „[W]eil eine Modification in dieser Beziehung den Gesetzgeber leicht zu Vergeßlichkeiten verleiten – da scheinbar selbstverständliche Dinge mehrfach codificirt werden müß124 

Erdmann, System I (wie Fn.  32), S.  69, Anm.  1). Erdmann, Resolutivbedingung, in: ZfRW (wie Fn.  15), S.  135. 126  Ebd., S.  134 f. 127 So Carl August Dominik Unterholzner, Ueber die Classifikation der Privatrechte, in: ders., Juristische Abhandlungen, München 1810, S.  184 Anm.  49; in diesem konkreten Fall ging es um die Lehre von der Rechtsfähigkeit. Zum Unbehagen gegen den Allgemeinen Teil als „Trödelbude“ (Puchta) oder Auffangbecken für Übriggebliebenes bei Puchta, Hugo, Savigny, Gans und anderen, s. Hans-Peter Hafekamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, Frankfurt am Main 2004, S.  267 f. Björne nennt noch weitere Beispiele und lässt die im Ausdruck durchaus eleganten und scharfsinnigen Urteile Revue passieren, allerdings gemischt mit allen anderen Bedenken gegenüber dem Allgemeinen Teil, siehe Lars Björne, Deutsche Rechtssysteme im 18. und 19. Jahrhundert, Ebelsbach 1984, S.  263–266. 128  Erdmann, Resolutivbedingung, in: ZfRW (wie Fn.  15), S.  135. 125 

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ten, – dem Richter falsche Restrictionen und falsche Extensionen nahe legen, dem Rechtslehrer die Pflicht auflegen würde, den Rechtsstoff anders zu gruppiren, als seine jüngste Quelle es thut.“129

Genau in dieser letztgenannten Lage befand sich Erdmann, als er seine Gesamtdarstellung des geltenden Privatrechts der baltischen Provinzen fassen wollte. Es sollten die im Gesetzbuch herumirrenden Lehren auf ihre richtige Stätte im Allgemeinen Teil zusammengezogen werden. Von Lehren über Rechtsgeschäfte, Willensbestimmung und Irrtum war bereits die Rede. Als ein weiteres Beispiel hat Erdmann die Verjährung aufgegriffen: „Hier wie an andern Stellen der Codification macht nämlich die Einschiebung einer ganz allgemeinen Lehre wie der Verjährung in das Obligationenrecht, den Eindruck, als sei nur von der Verjährung der Schuldforderungen die Rede. Daß dies nicht der Fall ist, sondern auch die übrigen Klagerechte hier mit besprochen werden, läßt sich aus einer Reihe von Artikeln leicht erweisen. Wir wären ja auch sonst gezwungen, eine Verjährung der Eigentumsklage und der meisten anderen dinglichen Klagen völlig in Abrede zu stellen. Der Mangel eines allgemeinen Theils straft sich hier wie in vielen anderen Fällen durch die Erzeugung eines Zweifels darüber ob irgend ein Rechtsinstitut bloß nach seiner örtlichen Classificirung einem bestimmten Rechtsgebiet vorbehalten oder der allgemeinen Fassung der Einzelbestimmungen und den gemeinrechtlichen Quellen gemäß auf alle übrigen Rechtstheile auszudehnen ist.“130

Erdmann ist hier insoweit zu korrigieren, dass es nicht gemeinrechtliche Quellen waren, die die allgemeinen Lehren in einen Allgemeinen Teil gefasst hatten, sondern die deutsche Privatrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts. Von Savigny war hier schon die Rede. Er hatte auch aufgelistet, welche Materien in den Allgemeinen Teil gestellt werden sollten: „Dahin gehört hauptsächlich die Natur der Rechtssubjecte, und insbesondere ihre Rechtsfähigkeit: ferner die Entstehung und Untergang der Rechtsverhältnisse: endlich der Schutz der Rechte gegen Verletzung, und die daraus hervorgehenden Modificationen der Rechte selbst.“131

All dies findet man dann auch in Erdmanns Allgemeinem Teil wieder: Sein erstes Kapitel „Die Personen“132 fällt unter Savignys Stichwort „Natur der Rechtssubjecte“. In diesem Kapitel wird auch die Rechtsfähigkeit behandelt: zunächst „Die Rechtsfähigkeit der physischen Person“ (§  14) und „Die Modifikationen der Rechtsfähigkeit durch verschiedene Zustände der Person“, worunter das Alter, die Gesundheit, das Geschlecht, das Religionsbekenntnis, der Wohnort, der Stand, die eheliche Geburt, die Verwandtschaft und die bürgerliche Ehre (§§  15–23) fallen sollten. Savigny nannte diese „positive Modificationen“ der 129 

Erdmann, Resolutivbedingung, in: ZfRW (wie Fn.  15), S.  135. Carl Erdmann, Die Unterbrechung der Verjährung durch Mahnung nach Provincialrecht, in: ZfRW 6 (1878), S.  9 f. 131  Savigny, System I (wie Fn.  119), S.  390. 132  Erdmann, System I (wie Fn.  32), S.  69–132. 130 

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„natürlichen Rechtsfähigkeit“.133 Dass es bei Erdmann so viele waren, lag nicht an seiner Vorliebe für die Staffelung der Rechtsfähigkeit, sondern am positiven Provinzial- und Reichsrecht seiner Zeit und seines Orts. Oben war davon schon die Rede, dass Erdmann die Lehre von juristischen Personen auch für das baltische Recht ausführlich ausarbeitete, obwohl „die Codification von 1864“ „nur einige zerstreute Andeutungen über das Wesen und die Eigenschaften der juristischen Person in privatrechtlicher Hinsicht“ enthielt und Erdmann deshalb „das gemeine Recht zur Aushülfe“ heranziehen sollte und zwar „vielfach“.134 Savignys „Entstehung und Untergang der Rechtsverhältnisse“ werden bei Erdmann im Kapitel 3: „Die Rechte“ behandelt, ebenso „der Schutz der Rechte“.135 Zwischen diesem dritten Kapitel und dem ersten über die Personen steht bei Erdmann noch das zweite Kapitel „Die Sachen“136 . Savigny hatte die Sachen bei der hier oben zitierten Aufzählung der Materien eines Allgemeinen Teils nicht erwähnt. Er hat sie auch in seinem 8-bändigen, aber immer noch unvollendeten „System“ nicht behandelt. Man könnte fast meinen, dass diese allgemeinen Bestimmungen über den Begriff, die Arten und die verschiedenen Einteilungen der Sachen für ihn nicht in den Allgemeinen Teil gehörten. Dagegen spricht aber die Tatsache, dass er in seiner Pandektenvorlesung im ersten Buch „Allgemeine Lehren“ im fünften Kapitel „Von den Sachen“, also nach den „Personen“ im vierten und vor den „Handlungen“ im sechsten Kapitel, gehandelt hatte.137 Genau an dieser Stelle kommen die Sachen auch in Savignys Vorlesungen über das Preußische Landrecht vor, also unter den allgemeinen Lehren nach den Personen.138 Man kann hier sowohl auf den Vergleich mit allen möglichen anderen Pandektenwissenschaftlern als auf ein gründlicheres Eingehen ins Detail verzichten. Erdmanns Allgemeiner Teil ist in der Tat sehr nach dem Vorbild der zeitgenössischen deutschen Privatrechtswissenschaft gefasst und hat auch inhaltlich seinen Stoff öfters nicht so sehr aus der baltischen Privatrechtskodifikation, sondern aus den gemeinrechtlichen oder gegebenenfalls von den geographisch weit entfernten deutsch-partikularrechtlichen Lehren geschöpft. Ob man das baltische Recht dadurch aber als ‚pandektisiert‘ bezeichnen kann oder gar soll, 133  Vgl. den Titel von §  60: „Natürliche Rechtsfähigkeit und deren positive Modificationen“ in Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 2, Berlin 1840, S.  1. 134  Erdmann, System I (wie Fn.  32), S.  108 f. 135  Erdmann, System I (wie Fn.  32), S.  174–348. 136  Erdmann, System I (wie Fn.  32), S.  132–174. 137  Friedrich Carl von Savigny, Pandektenvorlesung 1824/25, hrsg. von Horst Hammen, Frankfurt am Main 1993, S.  52–56. 138  Friedrich Carl von Savigny, Landrechtsvorlesung 1824. Drei Nachschriften, hrsg. von Christian Wollschläger, Hbd. 1: Einleitung. Allgemeine Lehren. Sachenrecht, Frankfurt am Main 1994, S.  100 f.

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ist immer noch eine Frage, die auch bei diesem eindeutigen System-Befund unbeantwortet bleibt. Einerseits war der Allgemeine Teil nicht in allen Gesamtdarstellungen des Pandektenrechts vorhanden,139 kann also nicht als ein unentbehrliches Element der Pandektenwissenschaft als solcher betrachtet werden. Andererseits hatte sich der Allgemeine Teil keineswegs nur in der Pandektenwissenschaft etabliert. Verwendet haben ihn durchaus auch die sog. germanistischen Privatrechtler, sowohl diejenigen, die sich um das gemeine deutsche Privatrecht bemühten, als auch die Partikularrechtler. Als Erdmann sein „System“ in den Jahren 1889–1894 veröffentlichte, war ein Allgemeiner Teil nicht nur im Sachsen oder Bayern140 als ein selbstverständlicher Bestandteil der Privatrechtskodifikation anerkannt, sondern höchst prominent auch im ersten Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das deutsche Reich von 1888. Über die noch wichtigere Rolle, die ein Allgemeiner Teil in den modernen Strafrechtskodifikationen gewonnen hatte, braucht man nicht zu sprechen. In der deutschen Tradition hat er sich auch im Verwaltungsrecht erfolgreich und folgenreich behauptet. Sein Siegeszug beschränkte sich nicht nur auf den deutschen bzw. deutschsprachigen Raum – wenn auch nicht flächendeckend, wäre die Geographie des Allgemeinen Teils noch weiter und breiter zu denken als das anfangs erwähnte Eurasien für die Pandektenwissenschaft. Die Benutzung eines Allgemeinen Teils bei einer systematischen Gesamtdarstellung des Privatrechts kann man damit nicht als einen Vorgang der ‚Pandektisierung‘ des baltischen Privatrechts durch Carl Eduard Erdmann betrachten – er hat das geltende Recht auf der Höhe des wissenschaftlichen Anspruchs seiner Zeit dogmatisch durchdrungen. Das reicht als eine schätzbare Leistung schon sehr aus und braucht keine weitere Veredelung durch die ‚Pandektistik‘ oder ‚Pandektisierung‘.

VI. Fazit Anhand meines Beispiels der wissenschaftlichen Behandlung des kodifizierten, aber trotzdem vormodernen baltischen Privatrechts lässt sich also nicht mit Sicherheit sagen, ob es just die Pandektenwissenschaft war, die sich als universal einsetzbar erwies. Als Stil oder Methode der (Privat-)Rechtswissenschaft fun139  Als Paradebeispiel sollte das Lehrbuch von Brinz gelten: Alois Brinz, Lehrbuch der Pandekten, 1. Abth., Erlangen 1857; 2.  Aufl., Bd. 1, Erlangen 1873. S. dazu auch Björne, Deutsche Rechtssysteme (wie Fn.  127), S.  261. Dass man Brinz trotzdem zu den Pandektenwissenschaftlern zählen soll, wurde weder zeitgenössisch noch im Nachhinein bezweifelt. In Windscheids Literaturliste steht Brinz’ Lehrbuch auf Platz 24 – s. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (wie Fn.  41), S.  30; für die heutige Nachwelt vgl. Luig, Pandektenwissenschaft (wie Fn.  2), Sp.  1423 und Haferkamp (wie Fn.  1), Sp.  778 – Brinz gehört immer dazu. 140  Ich meine den Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Bayern, 1. Hbd., München 1861, wo der erste Teil freilich nicht als Allgemeiner Teil genannt ist, sondern „Allgemeine Bestimmungen“.

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gierte sie in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wohl als eine Möglichkeit unter den anderen, vielleicht als primus inter pares, aber keinesfalls als das einzige souveräne Flaggschiff, nach dem sich alle Übrigen richteten bzw. richten sollten. Es ist auch klar, dass das ‚Pandektisieren‘, insbesondere wenn es um ein Rechtsgebiet geht, das außerhalb des antikrömischen Rechts der Pandekten oder Digesten bleibt, schon immer eine immanente Würdigung seitens des Redners in sich trägt. Diejenigen, die die prinzipienbewusste, in der Abstraktion wie im Detail konsequent und logisch durchdachte Rechtswissenschaft als eine formalistische Haarspalterei und Begriffsbeschwörung abtun wollen, sprechen vom Pandektisieren pejorativ. Auch die Bezeichnung ‚Pandektistik‘ für Pandektenwissenschaft fließt von dieser Tradition her.141 Wer dagegen die Art und Weise der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts schätzt und für vorbildlich hält, spricht von der ‚Pandektisierung‘ des genuin deutschen, des württembergischen oder des österreichischen, und meinetwegen auch des baltischen Privatrechts als einer vorbildlichen und achtungswerten wissenschaftlichen Leistung. Die unverkennbaren Verdienste der damaligen Wissenschaftler um den Aufbau und die dogmatische wie philosophische Begründung eines modernen Rechts lassen sich allerdings auch ohne den Gattungsbegriff ‚Pandektenwissenschaft‘ sachgemäß würdigen und schätzen. Wenn man aber unbedingt einen Gattungsbegriff benutzen will oder soll, der die Wissenschaft an den Pandekten als eine Wissenschaft zu sämtlichen Rechtsmaterien auffasst, dann bietet sich m. E. die zeitgenössisch vielbenutzte ‚Konstruktion‘ bzw. ‚konstruktiv‘ als durchaus erwägungswerte Alternative an. Auch dies ist freilich und vor allem in der deutschen Tradition polemisch benutzt worden und dadurch negativ, eher pejorativ beladen. Die rechtswissenschaftliche „Konstruktion“ braucht aber nicht zwangsläufig oder gar notwendig in einen halt- und belanglosen Konstruktivismus zu entarten.142 Wie die skandinavische Erfahrung zeigt,143 ist die konstruktive Methode oder Richtung durchaus als eine fruchtbare Konstruktivität denkbar.

141  Dazu näher Joachim Rückert in seinem Beitrag zu diesem Sammelband, wie schon auf der Tagung in Köln im September 2015. 142  Diese Deutungstradition ist zwar auf die zeitgenössisch eingesetzte und durch lange Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts geführte Polemik zurückzuführen, lebt aber auch heute noch. Siehe z. B. Schäfer, Juristische Germanistik (wie Fn.  19), S.  396–402, wo die konstruktive Methode von Gerber und Thöl schnell zu einem „Konstruktivismus“ wird. 143  Exemplarisch für diese Art der Rechtswissenschaft darf das Werk des norwegischen Rechtswissenschaftlers Francis Hagerup (1853–1921) gelten. Zu der „konstruktiven Methode“ bzw. „konstruktiven Richtung“ bei Hagerup und anderen skandinavischen Rechtswissenschaftler vor und neben ihm siehe Sten Gagnér, Hagerups Zeitschrift [von 1888 bis in die 1920er Jahre], in: ders., Abhandlungen (wie Fn.  81); S.  695–720. Björne hat den entsprechenden dritten Band seiner mehrbändigen Geschichte der nordischen Rechtswissenschaft als „Konstruktive Richtung“ betitelt, siehe Lars Björne, Den konstruktiva riktningen. Den nordiska rättsvetenskapens historia. Del III: 1871–1910, Lund 2002.

Das römische Recht der Pandektistik und das römische Recht der Römer Riccardo Cardilli I. Einleitung Die Zielsetzung des folgenden Beitrags ist es, anhand einiger Aspekte der Rechtsgeschäftslehre einerseits auf Verbindungslinien der Pandektistik zu der vorhergehenden Epoche des Naturrechts hinzuweisen, andererseits das gefundene Ergebnis mit dem antiken Recht der Römer zu konfrontieren. Im System Savignys und den Werken der Pandektisten des 19. Jahrhunderts kann man eine Weiterentwicklung der Trends beobachten, die schon in der Schule des Naturrechts begonnen haben. Leistungsfähige Prozesse wie Verallgemeinerung, Abstraktion und individualistische Interpretation kennzeichnen die Neugründung des Privatrechts. Aber anders als die Juristen der Naturrechtsschule, die sich oft – mit vollem Bewusstsein – gegen die mittelalterlichen und humanistischen Auslegungen wandten, stellten die Juristen des Pandektenrechts einen direkten Zusammenhang mit den römischen Quellen der justinianischen Gesetzgebung her, ohne wirkliche Vermittlung durch die Tradition des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen ius commune. Insofern besteht eine partielle Loslösung von der römischrechtlichen Tradition, die methodisch auf einer Neuinterpretation der römischen Quellen aufbaut und die sich auf neue Entdeckungen der Philologie, der Geschichte und der Philosophie im Laufe der Kulturbewegung des 19. Jahrhunderts (in den deutschen Universitäten) gründet. Wenn wir die Werke des frühen 19. Jahrhunderts im Vergleich zu denen des späten 19. Jahrhunderts lesen, haben wir den Eindruck, dass dieser dogmatische und methodologische Sprung eine systematische Neufassung der Rechtskenntnisse bewirkt. Es sind die Grundpfeiler der zukünftigen Rechtswissenschaft. Zwar kommen die Pandektisten aus einer festgefügten Tradition von Justinian bis zum usus modernus pandectarum1, aber sie bemühen sich doch darum, das antike Recht selbst wiederherzustellen. 1  Vgl.

Usus modernus pandectarum. Römisches Recht, Deutsches Recht und Naturrecht

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Es ist erstaunlich, dass in den Einleitungen der Pandektenrechtswerke nach Savigny nicht nur das juristische-politische Argument einer Kontinuität vom Imperium Romanum zum Deutschen Reich zugunsten einer Bestätigung der Gültigkeit des römischen Rechts im Sinne eines unsterbliches Urbilds des Rechts verwendet wird 2 . Das Pandektenrecht begreift das Privatrecht als geistiges Erzeugnis der Rechtswissenschaft in einem Kontext von nicht kodifiziertem Recht, das einerseits den Inhalt der zukünftigen Gesetzgebungen beeinflusst und andererseits dieselben Gesetzgebungen überlebt. Die Rechtssprache, die Rechtsbegriffe, das Rechtssystem sind bis heute sehr stark von pandektistischen Konstruktionen beeinflusst, auch in Rechtsordnungen, in denen die Gesetzgebung das pandektistische System nicht übernommen hat. Die Heroen der deutschen Philosophie laufen mit den Großen des neuen römischen Rechts, den Pandektisten, zusammen (und zum Teil sieht es so aus, als ob die Ersteren die Letzteren beeinflusst hätten – man denke an die Beziehung zwischen Kant und Savigny oder zwischen Schelling und Puchta). Eine solche Wiederherstellung der Kenntnisse vom antiken römischen Recht scheint durch zwei Faktoren, einen methodischen und einen ideologischen charakterisiert zu werden. Zunächst also methodisch: das neue System des Privatrechts im Rahmen eines nicht kodifizierten Rechts hängt unmittelbar vom römischen Recht des Kaisers Justinian ab. Es ist ein direkter Ausdruck der Überzeugung von der wichtigen Rolle und Bedeutung des römischen Rechts in der europäischen Rechtskultur. In dieser Hinsicht ist die detaillierte Kritik bedeutungsvoll, die Savigny in seiner berühmten Kontroverse mit Thibaut über die Zweckmäßigkeit der Gesetzgebung in Deutschland ausdrückt, wenn er sich gegen die französische Auslegung des römischen Rechts wendet. Die französische Rechtswissenschaft habe offensichtliche Fehler bei der Kodifizierung des römischen Rechts in dem Code Napoleon gemacht 3.

in der Frühen Neuzeit, K. Luig 70. G., hrsg. von H.-P. Haferkamp/T. Repgen, Köln – Weimar – Wien, 2007. 2  B. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts5, Bd. I, Stuttgart 1879, S.   2–3, schreibt: „Neben diesem Hauptgrunde wirkte als unterstützend mit die Idee, dass das römische Reich, dessen Krone der deutsche König trug, nur eine Fortsetzung des alten Reichs der römischen Imperatoren sei, daher den Justinianischen Rechtsbüchern die gleiche verbindende Kraft zukomme, wie einem Reichsgesetze“. Zur Verhältnis zwischen Imperium Romanum, Heiliges Römisches Reich und Deutsches Reich, zuletzt P. Catalano, Impero (romano) e Stati, in: Imperium, Staat, Civitas. Ein kritischer Beitrag zum postmodernen Konzept der Macht, hrsg. v. E. Calore/R. Marini, Stuttgart 2015, S.  11–19. 3  F. K. von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, S.  58–81.

Das römische Recht der Pandektistik und das römische Recht der Römer

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Der ideologische Faktor betrifft die Auswahl der römischen Rechtstexte, die beeinflusst war durch die historische und dogmatische Komplexität des römischen Rechts. Bei der Auffindung eines Rechtsbegriffs oder Rechtsinstituts ließ man sich zwar von den Quellen leiten, aber man wählte aus ihnen das Passende aus und gab damit den Quellen eine Richtung, die ‚auslegungsgeleitet‘ ist. Ein wichtiges Beispiel ist die Entwicklung des Begriffs der Unmöglichkeit als Grenze der vertraglichen Verantwortung oder die Neubildung der Kategorie der ‚Voraussetzung‘4. Schwieriger ist zu sagen, ob die pandektistische Auswahl, die die römischen Quellen lediglich zum Teil benutzt hat, nur das Ziel verfolgte, ein neues Privatrechtssystem zu bauen, oder aber auch das Ziel, die neue deutsche bürgerliche Gesellschaft zu unterstützen 5. Mein Eindruck ist, dass dieses zweite, zweckmäßige Ziel nicht bewusst war, i. e. die Pandektisten folgten ihren begrifflichen Gedankengängen, ohne dabei die historisch bedingten sozioökonomischen Wirkungen zu bedenken. Als Beispiel kann die Windscheidsche Voraussetzungslehre dienen6 . Hätte man seine Idee im Privatrechtssystem verwirklicht, wären Sicherheit und Stabilität des Rechtsverkehrs ernster Gefahr ausgesetzt gewesen7. Das römische Recht des Pandektenrechts ist die Grundlage der pandektistischen Arbeit, nicht im Sinne von einer „äussere[n] Gewalt“, sondern „durch die Macht wissenschaftlicher Überzeugung ist geschehen, dass das römische Recht, ähnlich wie die Philosophie der Griechen und die Geisteswerke der alten Welt überhaupt, bei uns Eingang und neues Leben fand“8 .

Die Perspektive ist einig mit Windscheid, der das Pandektenrecht definiert als „das Gemeine deutsche Privatrecht römischen Ursprungs“ und schreibt, „[d]as römische Recht ist in Deutschland zur Geltung gelangt nicht durch einem Akt der Gesetzgebung, sondern auf dem Wege des Gewohnheitsrechts, und zwar näher, nicht durch die Übung des Volkes, sondern durch die Übung der Juristen, welche das römi4 S. im Bereich des Leistungsstörungsrechts die Begriffe von Voraussetzung und Geschäftsgrundlage; R. Cardilli, Sopravvenienza e pericoli contrattuali: in Modelli teorici e metodologici nella storia del diritto privato, Napoli 2004, S.  1–37; im Bereich der Vertragshaftung der Begriff von der Unmöglichkeit; s. R. Cardilli, Un diritto comune in materia di reponsabilità contrattuale nel sistema giuridico romanistico: in Rivista di diritto civile, 44/3 (1998), p.  315–354. 5 Vgl. H. Wagner, Die Politische Pandektistik, Berlin 1985, S.  115 ff., zu lesen zusammen mit der starken Kritik von J. Schröder, in SZ Rom. Abt.  106 (1989), 706–709. F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1967, S.  430–458, spricht von „Selbstidentifizierung der Unternehmergesellschaft in der Gesamtgesellschaft“. 6 Vgl. R. Cardilli, Sopravvenienza (wie Fn.  4); Bona fides tra storia e sistema 3, Torino 2015, S.  216–221. 7 Wichtig U. Falch, Ein Gelehrter wie Windscheid, Frankfurt am Main 1999, S.  1–5, 193– 210. 8  G.F. Puchta, Pandekten12 , Leipzig 1877, S.  1–2. S. zu Puchta, H.-P. Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die ‚Begriffsjurisprudenz‘, Frankfurt am Main 2004.

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sche Recht ihren Rechtssprüchen und Rechtsgutachten zugrunde legten. Die Juristen wurden dabei hauptsächlich bestimmt durch die überwältigende geistige Macht, mit welcher das römische Recht ihnen entgegentrat. Das römische Recht war gegenüber dem einheimischen Recht nach Form und Inhalt so sehr das vollkommenere, dass es nicht mehr als ein Recht, sondern als das Recht erschien“9.

Und über die Auswahl der römischen Quellen sagt Windscheid: „Der Grund, weswegen nur das justinianische, weder das vorjustinianische noch das nachjustinianische Recht, die Quelle des Pandektenrechts bildet, ist, dass das römische Recht nur in derjenigen Gestalt in Deutschland rezipiert worden ist, in welcher es die Schule von Bologna lehrte, und dieser war nur das Justinianische Recht bekannt“10 .

Hier geht es spürbar um eine Idee der Bedeutung römischen Rechts in der Geschichte Europas. Das römische Recht ist etwas wie das Recht schlechthin, unvergleichlich mit anderen Rechten. Giovanni Pugliese sagte, mit Recht: „[I] Pandettisti, in sostanza, sono dentro e fuori della tradizione romanistica nello stesso tempo, per essere esatti tendono a formare una tradizione romanistica nuova, la quale, facendo un taglio netto col passato (fra Giustiniano e i loro giorni), crei una nuova serie di autori (…) disposti a tramandarsi e a fare propri (…) i loro rispettivi contributi“11.

Das so erzeugte Privatrechtsystem baut auf vier Grundbegriffen auf: auf dem Rechtssubjekt, dem Rechtsobjekt, der Willenserklärung als Antriebswelle des Privatrechts mit ihrer raffinierten Repräsentation, dem Rechtsgeschäft, und endlich dem Rechtsverhältnis. Die systematische Struktur ist durch starke Abstraktion und Verallgemeinerung charakterisiert und extrapoliert Rechtsregeln aus ihrem typischen rechtsgeschäftlichen Gebiet, um im Allgemeinen Teil die Rechtsgeschäftslehre zu begründen12 . Beispiele sind: die Nichtigkeit und die Anfechtbarkeit im Gegensatz zur Komplexität der römischen Inexistenz und inutilitas13 ; oder das Rechtsverhältnis im Gegensatz zum römischen Unterschied zwischen obligatio, debere, officium, etc.14 ; oder das Personenrecht in Gegensatz zur Beziehung von Personen und Menschen im römischen Recht15 ; oder die Rechtsobjekte in Gegensatz 9 

B. Windscheid, Lehrbuch (wie Fn.  2), Bd. I, S.  1–2. B. Windscheid, Lehrbuch (wie Fn.  2), Bd. I, S.  8. 11  G. Pugliese, I Pandettisti fra tradizione romanistica e moderna scienza del diritto, in: La formazione storica del diritto moderno in Europa, Firenze 1977, p.  29–72, 41. 12  S. für ein gesamtes Bild der historischen Komplexität der Systembildung P. Cappellini, Systema iuris, II, Milano 1985, p.  110–174. 13 S. M. Brutti, Invalidità a) Storia, in: Enciclopedia del Diritto. 22, Milano 1972, p.  560 ff.; M. Talamanca, Inesistenza, nullità, inefficacia dei negozi giuridici nell’esperienza romana, in: BIDR. 101–102, (1998–1999), p.  1 ff. 14  R. Cardilli, Considerazioni ‚storico-dogmatiche‘ sul legame tra contratto e obbligazione, in: Modelli teorici e metodologici nella storia del diritto privato, 2, Napoli 2006, p.  1–21. 15  S. Tafaro, Ius hominum causa constitutum. Un diritto a misura d’uomo, Napoli 2009. 10 

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zur res-Lehre des römischen Rechts16 ; oder das Rechtsgeschäft im Gegensatz zum römischen Typenzwang der Rechtsgeschäfte17. Dies wird durch eine starke Rationalisierung der Kategorie des Rechtsgeschäfts begleitet, um die Identifikation von gemeinsamen Regeln zu jedem Rechtsgeschäft zu begründen. Das führt die Pandektisten dazu, zwischen mehreren Rechtsvorschriften, die traditionsgemäß die gleichen Rechtsprobleme überlieferten, auszuwählen18 . Als klassische Beispiele können das Problem der unmöglichen Bedingung oder das Problem der Relevanz des Irrtums dienen19. Die Kennwörter sind Simplifikation versus Komplexität. Die Suche nach dem Sinn und der Anker der Vereinfachung der Komplexität der Rechtswirklichkeit charakterisiert die Juristen dieser Epoche. Die Entwicklung eines „Allgemeinen Teils“ ist ein deutlich sichtbarer Ausdruck davon.

II.  Rechtsgeschäft: Struktur und Funktion des Begriffs für die Pandektistik Das Rechtsgeschäft, mit den Worten von Flume „eine der Großtaten der Rechtswissenschaft“20 , erlebt heute – sozusagen – eine dritte Jugend. Nach der Phase seiner eindrucksvollen Bildung durch die späten Naturrechtsschüler, die historischen Schule und die Pandektistik und der Phase der Gesetzgebung im deutschen BGB, ist es nun präsent im Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, in den neuen Gesetzgebungen in Brasilien (2002) und Argentinien (2015) und steht im Mittelpunkt einer hitzigen Debatte in China nach der Ankündigung im November 2014, dass das kommende chinesische Zivilgesetzbuch einen Allgemeinen Teil haben soll. In der Willenserklärung dringt nach Bernhard Windscheid der Wille mittels seiner Erklärung nach außen, um die Entstehung, Veränderung oder den Unter16  R. Fiori, Il problema dell’oggetto del contratto nella tradizione civilistica, in : Modelli teorici e metodologici nella storia del diritto privato, 1, Napoli 2003, p.  169–238. 17  R. Cardilli, Brevi note sul nuovo Codice civile del Brasile, in: Roma e America, Modena 16 (2003), p.  217–227. 18  Als Beispiel, nenne ich den Konflikt zwischen der Regel alteri stipulari nemo potest im Vertragsrecht und der Möglichkeit eines legatum rei alienae, in dem der Begriff vom Rechtsgeschäft relevant ist; s. B. Windscheid, Lehrbuch (wie Fn.  2), Bd. I, 176–177 Fn.  1: „Man darf die Definition des Rechtsgeschäft nicht auf die eigenen Rechtsverhältnisse des Abschließenden beschränken: ein Rechtsgeschäft kann auch auf die Bestimmung der Rechtverhältnisse Dritter gerichtet sein, wie z. B. das Vermächtniß einer dem Erblasser nicht gehörigen Sache“. 19  Zum Irrtum wichtig M. Schermaier, Die Bestimmung des wesentlichen Irrtums von den Glossatoren bis zum BGB, Wien – Köln – Weimar, 2000, S.  467 ff.; S. über die Unmöglichkeit die modernen Begriffe von Nichtigkeit und Anfechtbarkeit in Bezug auf das römische Recht zu benutzen, s. M. Brutti, Invalidità (wie Fn.  12). 20  W. Flume, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, Bd. II. Das Rechtsgeschäft4, Berlin-Heidelberg 1992, S.  32.

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gang von Rechten zu erreichen 21. Der Wille ist gewissermaßen der innere Kern des Rechtsgeschäfts, vor allem in der engen Beziehung zwischen innerem Willen und der typischen Form der Willenserklärung. Lenel kritisierte hingegen die Rechtsgeschäftslehre Windscheids als eine exzessive Abstraktion 22 . Die Funktion des pandektistischen Begriffs Rechtsgeschäft ist meines Erachtens, die Privatautonomie als Zentralwert der Rechtsordnung zu sichern 23. Die Definition des Rechtsgeschäfts ist in unserer Tradition nicht nur ein Problem der Phänotypen, sondern auch ein Problem der Kompatibilität von Werten, die im Geschäft selbst ausgedrückt werden, und den Grundwertungen der Rechtsordnung. Als Beispiel nenne ich die Kritik der Pandektistik am mittelalterlichen Begriff der naturalia negotii, wo der typische Inhalt eines Rechtsgeschäfts nur mittelbar dem Willen der Parteien entspricht 24. Heute ist es klar, dass diese Frage neue Perspektiven im post-staatlichen Privatrecht einnimmt infolge einer Emanzipation der Rechtswissenschaft von der exklusiven Festlegung der Werte in den kodifizierten nationalen Rechtsordnungen. Auch wenn die Lehre vom Rechtsgeschäft den Aufbau eines überlegenen Konzepts erlaubt hat und in einem einzigen Begriff eine im römischen Recht nur fragmentarisch entwickelte Doktrin zusammengefasst hat, kann man nicht leugnen, dass seine Kodifikation durch den historischen Kontext konditioniert worden ist. Und das gilt nicht nur im Sinne einer ideologischen Anlage, sondern auch in Bezug auf die Begrifflichkeit. Man sollte hier allerdings die Verbindung

21  Die berühmte Definition von B. Windscheid, Lehrbuch (wie Fn.  2), Bd. I, S.  176 lautet: Ein „Rechtsgeschäft ist die auf die Entstehung, den Untergang oder die Veränderung von Rechten gerichtete Privatwillenserklärung“. 22  O. Lenel, Parteiabsicht und Rechterfolg, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 19 (1881), S.  154–253. S. auch G. Segré, Studi sul concetto di negozio giuridico secondo il diritto romano e secondo il nuovo diritto germanico: en Rivista italiana di scienze giuridiche 28 (1899), p.  161–253. Über die Divergenz zwischen innerem Willen und äußerem Erklärungstatbestand, s. U. Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid (wie Fn.  7), S.  30–41. 23  E. Betti, Diritto romano I. Parte generale, Roma, 1935, p.  12–16; E. Betti, Teoria generale del negozio giuridico, Torino 1950, p.  38 ff.; R Scognamiglio, Contributo alla teoria del negozio giuridico, Napoli 1950, p.  84 ff.; G. Grosso, Autonomia privata e negozio giuridico, in: Problemi generali del diritto attraverso il diritto romano2, Torino 1967, p.  111 ff.; W. Flume, Rechtsgeschäft und Privatautonomie, in: Festschr. Deutschen Juristentag, Bd. I, hrsg. v. E. von Caemmerer (u. a.), Karlsruhe 1960, S.  135 ff.; M. Kaser, Der Privatrechtsakt in der römischen Rechtsquellenlehre, in: Festschrift F. Wieacker 70. G., hrsg. v. O. Behrends, Göttingen 1978, S.  9 0 ff.; G. B. Ferri, Il negozio giuridico tra libertà e norma5, Rimini 1995, p.  27–47, 89–111; M. Schermaier, Vor §  104. Das Rechtsgeschäft, in: Historisch – kritischer Kommentar zum BGB I. Allgemeiner Teil §  1–240, hrsg. v. M. Schmoeckel/J. Rückert/R. Zimmermann, Tübingen 2003, S.  354 ff. 24  R. Cardilli, Il problema della resistenza del tipo contrattuale nel diritto romano tra natura contractus e forma iuris, in: Modelli teorici e metodologici nella storia del diritto privato, 3 (2009), p.  1–76, besonders p.  1–5.

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mit der Naturrechtsschule und ihrer Lehre vom subjektiven Recht in Erinnerung rufen 25. Die beiden Ansichten des Willens und der Selbstregulierung der Privatinteressen markieren den problematischen Bereich des Rechtsgeschäfts. Dies bedeutet jedoch keinen Relativismus, weil es ein stabiles Element der Kontinuität des Begriffs gibt: den Willen und seine Erklärung. Im Wesentlichen könnte das Rechtsgeschäft in juristischen Überlegungen implizit bleiben, aber sobald der Begriff expliziert worden ist, zeigt er seine Stärke und bestätigt, dass die Lesart der Pandektisten keine formelle Interpretation war, sondern in erheblichem Maß Auslegung, wenn auch starke Abstraktion. Der Begriff des Rechtsgeschäfts hat große systematisierende Kraft, da er in der Lage ist, Probleme im Zusammenhang verschiedener Typen von Rechtsgeschäften auf einer abstrakten Ebene zu lösen. Die damit verbundene Gefahr der Verallgemeinerung ist dem Prozess der Abstraktion inhärent. Sie kann jedoch schädliche Folgen im juristischen Diskurs haben 26 . Als Beispiel möchte ich auf die Gefahr der Verallgemeinerung der Bedeutung des Schweigens als Zustimmung aufmerksam machen. Das antike römische Modell verallgemeinert nicht die Aussagen über die Bedeutung des Schweigens. Für Justinian ist es schlicht irrelevant, sowohl in Bezug auf die Annahme, als auch in Bezug auf die Ablehnung, was schon der Jurist Paulus in Bezug auf das gerichtliche Geständnis ausdrückte (qui tacet non utique fatetur: sed tamen verum est eum non negare; Paul. 56 ad ed. D. 50, 17, 142). Ausgangspunkt sind stets Situationen, in denen es die Notwendigkeit einer ausdrücklichen Vereinbarung gibt, wie im Falle der Bestätigung der Erklärung durch den dominus bei der Erfüllung an den falschen Prokurator (Iul. 54 dig. D. 46, 3, 13; Ulp 80 ad ed. D. 46, 8, 12, 1–2), oder beim Schweigen als Zustimmung bei einer datio in adoptionem gegenüber dem Vater (Cels. 28 dig. D. 1, 7, 5). Darüber hinaus steht die typische Vorstellung von der Bedeutung der taciturnitas der Kontrahenten in Bezug auf die stillschweigende Verpachtung von landwirtschaftlichen Flächen oder städtischem Eigentum (Ulp.  32 ad ed. D. 19, 2, 13, 11) als tacita renovatio in einem Kontext, in dem das Schuldverhältnis ursprünglich sowieso auf Konsens gegründet war27. Im römischen Recht ist also die Bedeutung des Schweigens als eine Zustimmung zur Übernahme einer Pflicht immer außergewöhnlich und durch konkrete Probleme gerechtfertigt. 25 S.

M. Schermaier, Vor §104. Das Rechtsgeschäft (wie Fn.  20), S.  355–358. Noch gültig die Kritik von S. Schlossmann, Der Vertrag, Leipzig 1876, S.  134. Im Bereich von Irrtum s. auch E. Zitelmann, Der Wert eines ‚allgemeinen Teils‘ des bürgerlichen Rechts, in: Grünhuts Zeitschrift 33 (1906), S.  1 ff., besonders S.  20. 27 Vgl. F. Gallo, Sulla presunta estinzione del rapporto di locazione per iniziativa unilaterale, in: Synteleia Arangio-Ruiz, Napoli 1964, p.  1198 ff., besonders p.  1203–1204. 26 

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Das Problem wird wichtig, wenn es ein Problem der Bedeutung des Schweigens in einem typisierten Rechtsgeschäft ist. Um eine Bindung zu begründen, ist zu fragen, ob der Einklang mit einer qualifizierten Form der Zustimmung in der Erklärung oder bloßer, formloser Konsens oder sogar nur konkludentes Verhalten erforderlich ist. In dieser Perspektive ist wichtig, was Emilio Betti in einer Arbeit über einen allgemeinen Teil des römischen Rechts sagt: „Ganz angemessen für die Begründung eines Schuldverhältnisses, wie der Obligation, ist die Form der an eine bestimmte Person gerichtete Frage (spondesne?): sie bringt die Zwangslage der gegenüberstehenden Person deutlich zum Ausdruck. Diese darf sich nicht stumm verhalten: sie muß die Frage beantworten.“28 .

Anders ist es für Windscheids Rechtsgeschäftslehre, nach der auch Schweigen eine stillschweigende Willenserklärung sein kann 29. Für die Gefahr der Ausdehnung einer Rechtsregel, die für ein typisiertes Geschäft als eine Besonderheit begründet war, ist das Problem der unmöglichen Bedingung beispielhaft: Die Debatte zwischen Proculianen und Sabinianen im römischen Recht (Gai. 3, 98) 30 zeigt, dass die Verallgemeinerung schwierig zu lösen ist. Für die Prokulianen machte die unmögliche Bedingung immer auch das Rechtsgeschäft unwirksam, sowohl inter vivos, als auch mortis causa. Für die Sabinianen galt das Gegenteil: die unmögliche Bedingung wurde behandelt, als wäre sie nicht im Testament geschrieben. Im diesen Fall dann wurde durch Auslegung der wirkliche Wille verzerrt. Bernhard Windscheid, der die römischen Distinktionen sehr gut kannte, bildete eine Simplifikation der Komplexität des römischen Rechts und erklärte, „unmögliche Bedingungen schließen ihrem Begriffe nach die Wirksamkeit der Willenserklärung sogleich definitiv aus“31.

III.  Die römische Obligation und die pandektistische Obligation Die Vertiefung der Beziehungen zwischen schuldnerischer Freiheit und Verpflichtung verdanken wir im Wesentlichen der Naturrechtsschule32 . Die zu28  E. Betti, Der Typenzwang bei den römischen Rechtsgeschäften und die sogenannte Typenfreiheit des heutigen Rechts, in: Festschrift L. Wenger, Bd. I, München 1944, S.  249–282; die Zitation von S.  255. 29  B. Windscheid, Lehrbuch (wie Fn.  2), Bd. I , S.  337–338. 30  Item si quis sub ea condicione stipuletur quae existere non potest, veluti si digito caelum tetigerit, inutilis est stipulatio. Sed legatum sub inpossibili condicione relictum nostri praeceptores proinde deberi putant, acsi sine condicione relictum esset; diversae scholae auctores nihilo minus legatum inutile existimant quam stipulationem. Et sane vix idonea diversitatis ratio reddi potest. 31  B. Windscheid, Lehrbuch (wie Fn.  2), Bd. I, S.  490. 32  L. Lantella, Note semantiche sulle definizioni di ‚obligatio‘, in: Studi in onore di G.

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grundeliegende Sorge lässt kein Bewusstsein für die historischen Wurzeln einer solchen Beziehung in der römischen Urstruktur der Rechtsschemata erkennen, sondern beruht auf einer internen Anlage im Bau des Naturrechtssystems33. Die Naturrechtslehre scheint das Verhältnis zwischen natürlichen und zivilrechtlichen Pflichten umzukehren 34. Insbesondere wegen seiner Bedeutung in Bezug auf die Konstruktion des Rechtsgeschäfts durch Savigny, müssen wir die Definition von Grotius über die Auswirkungen der promissio faciendi als alienatio particulae nostrae libertatis in Erinnerung rufen, in Abgrenzung zur promissio dandi als rei alienatio35. Aber es ist die historische Schule, und insbesondere Savigny, die die Beziehung zwischen Verpflichtung und schuldnerischer Freiheit in neuer Weise auflöst, und zwar mit großem konstruktiven Aufwand. Folgen wir einige wenige Schritte seinen Gedanken: Savigny, Pandektenvorlesung (1824/25) 36 „Vom Begriff der Obligatio (…) Hier wird eine Person der Willkür einer andern partiell beschränkt unterworfen, so daß ihre Freiheit nicht aufhört (…) Ein Verhältnis zwischen zwei bestimmten Individuen, worin eine einzelne Handlung des einen der Willkür des andern unterworfen wird, ist das Wesen der Obligatio.“ Savigny, System I (1840) 37 „Nicht so einfach sind diejenigen Rechtverhältnisse, deren Gegenstände fremde Personen sind, da wir zu solchen in zwei ganz ungleichartigen Beziehungen stehen können. – Die erste mögliche Beziehung zu einer fremden Person ist die, worin dieselbe, auf ähnliche Weise wie eine Sache, in das Gebiet unserer Willkür herein gezogen, also unserer Herrschaft unterworfen wird. Wäre nun diese Herrschaft eine absolute, so würde Grosso, IV, Torino 1971, p.  168 Fn.  4. Grundlegend F. Wieacker, Die vertragliche Obligation bei den Klassikern des Vernunftrechts, in: Festschrift Welzel, hrsg. v. G. Stratenwerth, Berlin – New York 1974, S.  7 ff. 33 S. S. Pufendorf, De iure naturae et gentium, Francofurti et Lipsiae 1759 [Nachdruck Frankfurt a. M., 1967], S.  357 ff. 34 Vgl. H. Hattenhauer, Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts. Historisch-dogmatische Einführung, München 1982, S.  79–81; F. Wieacker, Die vertragliche Obligation bei den Klassikern des Vernunftrechts (wie Fn.  18), S.  11 ff. (Grotius, Hobbes, Pufendorf); K. Luig, Die Pflichtenlehre des Privatrechts in der Naturrechtsphilosophie von Christian Wolff, in: Libertas. Symposion 80. G. F. Wieacker, hrsg. v. O. Behrends/M. Diesselhorst, Ebelsbach 1991, S.  209 ff., über Christian Wolff. Über Pufendorf, s. G. Hartung, Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert 2, München 1999, S.  34 ff. 35  H. Grotius, De jure belli ac pacis. Libri tres in quibus ius naturae et gentium item iuris publici praecipua explicantur, Neudruck Aalen 1993 editionis anni 1939 curavit B. J. A de Kanter/Van Hettinga Tromp, II, 11 §  4.1, 329. Über das Bild von Grotius der alienatio particulae nostrae libertatis s. F. Wieacker, Die vertragliche Obligation bei den Klassikern des Vernunftrechts (wie Fn.  18), S.  148–151. 36  F. C. von Savigny, Pandektenvorlesung (1824/25), hrsg. v. H. Hammen, Frankfurt am Main 1993, S.  279 [=201]. 37  F. C. von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Berlin, 1840 [Neudruck Aalen 1981], Bd. I, S.  338–339.

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dadurch in dem Andern der Begriff der Freiheit und Persönlichkeit aufgehoben; wir würden nicht über eine Person herrschen, sondern über eine Sache, unser Recht wäre Eigentum an einem Menschen,[/339] so wie es das Römische Sklavenverhältnis in der Tat ist. Soll dieses nicht sein, wollen wir uns vielmehr ein besonderes Rechtverhältnis denken, welches in der Herrschaft über eine fremde Person, ohne Zerstörung ihrer Freiheit besteht, so dass es dem Eigentum ähnlich, und doch von ihm verschieden ist, so muss die Herrschaft nicht auf die fremde Person im Ganzen, sondern nur auf eine einzelne Handlung derselben bezogen werden; diese Handlung wird dann, als aus der Freiheit des Handelnden ausgeschieden, und unserem Willen unterworfen gedacht. Ein solches Verhältnis der Herrschaft über eine einzelne Handlung der fremden Person nennen wir Obligation.“ Savigny, Obligationenrecht I (1851) 38 „Sie [die Obligation] besteht in der Herrschaft über eine fremde Person; jedoch nicht über diese Person im Ganzen (wodurch deren Persönlichkeit aufgehoben sein würde), sondern über einzelne Handlungen derselben, die als aus ihrer Freiheit ausscheidend, und unserem Willen unterworfen, gedacht werden müssen. (…) In jeder Obligation finden wir zwei Personen, die einander in ungleichem Verhältnis gegenüber stehen. [/5] Auf der einen Seite erscheint die persönliche Freiheit erweitert über ihre natürliche Grenze hinaus, als Herrschaft über eine fremde Person; auf der anderen Seite erscheint die natürliche Freiheit eingeschränkt, als ein Zustand der Unfreiheit oder Notwendigkeit. (…) [6] Die Handlungen, deren Notwendigkeit das Wesen der Obligation bildet, wurden bezeichnet als einzelne, im Gegensatz der persönlichen Freiheit im Ganzen, und als ausscheidend aus der eigenen Freiheit des Handelnden. (…) Die Bezeichnung der Handlungen als einzelner ist nicht so zu beschränken, als ob durch jede Obligation stets nur eine einzige Handlung notwendig werden könnte; sie kann vielmehr auch auf mehrere einzelne gerichtet sein, ja auch auf solche die eine fortgesetzte, zusammenhängende Tätigkeit darstellen. Nur müssen sie stets im Verhältnis zum ganzen Umkreis der Freiheit des Schuldners als ein minimum erscheinen, weil nur durch dieses Verhältnis die in der Obligation enthaltene Unfreiheit gedacht werden kann, ohne die Persönlichkeit des Schuldners selbst aufzuheben. (…) Dann durch ihre Dauer, indem meist die Erfüllung der Obligation ihre augenblickliche Auflösung herbeiführt, in welchen Fällen es augenscheinliche ist, dass das Ziel der Obligation nicht die Unfreiheit der Person an sich, sondern nur die Gewissheit des Erfolges ihrer Tätigkeit sein soll.“

38  F. C. von Savigny, Das Obligationenrecht als Theil des heutigen Römischen Rechts, Bd. I, Berlin 1851, S.  4 –7.

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Das neuerliche Interesse an Savigny39, teilweise auf der Veröffentlichung neuen Materials beruhend, scheint mir in Verbindung mit einigen wichtigen Studien der frühen Nachkriegsjahrzehnte zu stehen40 . Der Punkt, der offensichtlich ist, ist das Problem in den Augen von Savigny: das „Rechtsverhältnis“ zu anderen Menschen (im Unterschied zum „Rechtsverhältnis“ mit sich selbst und zur „unfreien Natur“, das heißt zu den Dingen) und die Dialektik von Herrschaft versus Freiheit. Der Knoten wird in der Pandektenvorlesung von 1824 bis 1825 gelöst, umfassender dann im System behandelt und mit wichtigen und zusätzlichen Erläuterungen im Obligationenrecht versehen. Die Schwankungsbreite der Akzente, die die Verwendung von Worten wie „Willkür“, „Herrschaft“ und „Freiheit“ in den drei Werken aufweist, bedarf – als ein Moment, das grundlegend ist – einer Erläuterung durch das Konzept des „persönlichen Rechts“ von Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre aus dem Jahr 1797: „[96] Vom persönlichen Recht. Der Besitz der Willkür eines Anderen, als Vermögen sie, durch meine, nach Freiheitsgesetzen zu einer gewissen Tat zu bestimmen [/97] ist ein Recht. (…) [101] Was ist aber das äußere, das ich durch den Vertrag erwerbe? Da es nur die Kausalität der Willkür der Anderen in Ansehung einer mir versprochene Leistung ist (…) Durch den Vertrag also erwerbe ich das Versprechen eines Anderen (nicht das Versprochene) und doch kommt etwas zu meiner äußeren Habe hinzu; ich bin vermögender (locupletior) geworden, durch Erwerbung eine activen Obligation auf die Freiheit, und das Vermögen des Anderen. Dieses mein Recht aber ist nur ein persönliches, nämlich gegen eine bestimmte physische Person und zwar auf ihre Kausalität (ihre Willkür) zu wirken, mir etwas zu leisten, nicht ein Sachenrecht, gegen diejenige moralische Person“41.

39  Wichtig der internationale Kongress „Su Federico Carlo di Savigny“, in: Quaderni fiorentini 9 (1980) mit Beiträgen von P. Grossi, R. Orestano, P. Caroni, G. Marini, A. Schiavone, M. Bretone, A. Mazzacane, F. de Marini Avonzo, M. Brutti, K. Luig und J. Rückert. S. auch. A. Mazzacane, Savigny e la storiografia giuridica tra storia e sistema, Napoli 1976; J. Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, Ebelsbach 1984; D. Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre. Ein Versuch, Frankfurt am Main 1994; K. Luig, Rez. D. Nörr, in: Tijdschrift LXV (1997), S.  189 ff.; A. Mantello, Ancora su Savigny, in: BIDR. C, 1997 [pubbl. 2003], p.  361 ff.; A. Mazzacane, Jurisprudenz als Wissenschaft, in: F. C. von Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie (1801–1842), Frankfurt am Main 2004, S.  1–56; J. Rückert, Savigny-Studien, Frankfurt am Main 2011. 40  F. Wieacker, Gründer und Bewahrer, Göttingen 1959, S.  107 ff.; E. Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, Tübingen 1963, S.  467 ff.; G. Marini, Savigny e il metodo della scienza giuridica, Milano 1966. 41  Für die Betonung der Rolle von Kant und seines Einflusses auf Savigny, s. F. Dorn, Begriff des Schuldverhältnisses und Pflichten aus dem Schuldverhältnis, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, II: Schuldrecht: Allgemeiner Teil 1. Teilband §  241–304, hrsg. v. M. Schmoeckel/J. Rückert/R. Zimmermann, Tübingen 2007, S.  137 ff., besonders S.  151–152.

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Einerseits wurde hier festgestellt, dass die Konstruktion von Kant auf dem „Willen des Einzelnen“ beruht, während Savigny sich im System auf das Rechtsverhältnis stützt, fokussiert als „Sozialbindung des Menschen“. Aus dieser Sicht sind die beiden Positionen unterschieden. Aber man kann noch weiter gehen und versuchen, einige Nuancen zu erfassen: wie die Beziehung von ‚Besitz‘ (Kant) zu ‚Herrschaft‘ (Savigny), von „freiem Willen“ und seiner Koordination mit der „Freiheit“, von der Spaltung bei Kant zwischen „physischer Person“ und „moralischer Person“ in Bezug auf die Unterscheidung bei Savigny zwischen „[n]atürlicher Freiheit“ und „Persönlichkeit“. Eines scheint unbestritten: Kant sieht die Verpflichtung als eine Erweiterung des Willens aus der Sicht des Gläubigers, während Savigny sie im Einklang mit der traditionellen Linie im römischen Recht auf der Seite Schuldners erblickt. Kant ist auf die Erweiterung des Meinen projiziert, und daraus wird den Projektionen zufolge eine positive Auffassung des Berichts in Bezug auf den „Besitz der freien Wahl“, um eine Leistung vom Schuldner zu erzwingen. Aber die Folgen dieser Perspektive entgehen dem Philosophen nicht, denn „der Besitz der freien Wahl“ bedeutet für Kant konkret, dass der Gläubiger „eine Verpflichtung der Freiheit eines anderen Menschen“ gekauft hat. Der persönliche Charakter des Rechts für Kant wird nicht als ein Sachenrecht auf das Individuum in seiner moralischen Dimension gesehen, sondern als ein Besitz an der physischen Person, um von ihrem freien Willen ein bestimmtes Verhalten zu bekommen. Savigny betrachtet das Rechtsverhältnis aus der Perspektive der Schuldner. Die Perspektive ist vom kantischen Muster bedingt und hat sich fast zu einer ähnlichen Linie von der Kombination zwischen Sachenrechten und Pflichten durch das Vermögensrechtsystem orientiert. Besitz und Herrschaft zeichnen zwei unterschiedliche Antworten auf die gleiche Frage, deren ideologische Grundlage überprüfbar ist. Dieser Ansicht scheint Kant zu folgen, um nicht die Verlängerung des Willens des Gläubigers, sondern die Begrenzung des Willens des Schuldners zu unterstreichen. Der Haken, den bereits Kant gesehen hatte, ist die Trennung des freien Willens des einzelnen Schuldners und die Erhaltung seiner Persönlichkeit im moralischen Sinne. Das kehrt in voller Prominenz bei Savigny wieder in der problematischen Beziehung zwischen Herrschaft des Gläubigers und der Freiheit des Schuldners. Und hier, so meine ich, ergeben sich die dünnen Fäden die begrifflich zwischen Savigny und Kant bestehen. Der Jurist hat etwas weniger Finesse als die Strenge der Kantischen Unterscheidung zwischen der Person in seiner physischen und moralischen Identität, aber der rechtliche Gedankengang ist irgendwie von diesem geprägt worden: die physische Freiheit der Person muss einerseits quantitativ begrenzt sein (z. B. die Akzentuierung des minimum im Obligationenrecht) 42 , aber andererseits auch 42 

F. C. Savigny, Das Obligationenrecht (wie Fn.  38), S.  6 : „Nur müssen sie stets im Ver-

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qualitativ. Das wirkt sich nicht auf die „Persönlichkeit“ des Schuldners aus. Ich würde sagen, dass es eine bewusste Reifung der Gedanken von Savigny von der Pandektenvorlesung aus der 1824–1825 über den ersten Band des Systems im Jahr 1840 bis zum Obligationenrecht von 1851 gibt. Der Weg, der durch das quantitative Kriterium eröffnet wird, schöpft mit Bewusstsein43 aus Hegels Unterscheidung zwischen einzelnen Produktionen und Anwendungen von begrenzter Dauer der menschlichen Handlung, die nicht die „Persönlichkeit“, gekennzeichnet durch „Ganzheit“ und „Allgemeinheit“, beeinflussen würden44. Das quantitative Element wäre eine Bestimmung, die die Integrität des Schuldners als Mensch nicht anficht. Die Unterscheidung von Hegel zwischen der modernen Freiheit des Arbeitnehmers und der alten Sklaverei45 ist eine Bedingung der Regelung des Arbeitsverhältnisses in einem bürgerlich-rechtlichen Vertrag. Franz Wieacker beleuchtet in seinem Werk von 1969 über „Pandektenwissenschaft und industrielle Revolution“ eine Verbindung zwischen Savignys Einschränkung der subjektiven Rechte auf die Vermögensrechte und seinem Begriff der Obligation. Danach habe der Gläubiger nur eine Herrschaft über die Handlung einer anderen Person, die nicht zu physischem Zwang führen könne. Daraus leite Savigny die notwendige Folge ab, dass eine solche Macht oder Souveränität nur zulässig sei, um aus dem Vermögen des Schuldners ein monetäres Äquivalent zu erhalten. Daher liegt für Wieacker auf der Hand, was er „das stille Einverständnis der Pandektenwissenschaft mit einer mobilisierten Verkehrsgesellschaft, in der Freiheit wie Macht sich in der Verfügung über das ab­ strakte Kapital ausdrücken“, nennt46 . Es bestätigt für Wieacker die Marxsche hältnis zum ganzen Umkreis der Freiheit des Schuldners als ein minimum erscheinen, weil nur durch dieses Verhältnis die in der Obligation enthaltene Unfreiheit gedacht werden kann, ohne die Persönlichkeit des Schuldners selbst aufzuheben“. 43  F. C. Savigny, Das Obligationenrecht (wie Fn.  38), S.  6 Fn. d. 44  G. W. F Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke [Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845], Frankfurt a. M. 2000, Bd. VII, §  67, S.  144–145: „Von meinen besonderen, körperlichen und geistigen Geschicklichkeiten und Möglichkeiten der Tätigkeit kann ich einzelne Produktionen und einen in der Zeit beschränkten Gebrauch von einem anderen veräußern [d. h. den ein anderer davon machen kann], weil sie nach dieser Beschränkung ein äußerliches Verhältnis zu meiner Totalität und Allgemeinheit erhalten. Durch die Veräußerung meiner ganzen durch die Arbeit konkreten Zeit und der Totalität meiner Produktion würde ich das Substantielle derselben, meine allgemeine Tätigkeit und Wirklichkeit, meine Persönlichkeit zum Eigentum eines anderen machen. Es ist dasselbe Verhältnis wie (…) zwischen der Substanz der Sache und ihrer Benutzung; wie diese, nur insofern sie beschränkt ist, von jener verschieden ist, so ist auch der gebrauch meiner Kräfte von ihnen selbst und damit von mir nur unterschieden, insofern er quantitativ beschränkt ist; – die Totalität der äußerungen einer Kraft ist die Kraft selbst – (…) – der Besonderungen das Allgemeine“. 45  Anders die Glossatorenregel über das Verbot von locare operas in perpetuum, ne inutilis esset libertas (Glosse ‚reverti‘ ad D. 7, 1, 3, 2); wichtig T. Repgen, Vertragstreue und Erfüllungszwang in der mittelalterlichen Rechtswissenschaft, Paderborn 1994, S.  52–53. 46  F. Wieacker, Pandektenwissenschaft und industrielle Revolution, in: Juristen-Jahrbuch 9 (1968/69), S.  1 ff., 8.

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Idee, dass die moderne Gesellschaft kein anderes Verhältnis zwischen Mensch und Mensch sieht als „die gefühllose bare Zahlung“47. In der Tat überschreitet der Obligationsbegriff Savignys den in der sächsischen Rechtstradition bekannten Erfüllungszwang auch für facere-Leistungen48 , wenn er Geldersatz als Leistungsäquivalent ausreichen lässt. Die Lösung, die Freiheit der Person zu abstrahieren und dieselbe Freiheit quantitativ durch den Begriff der Freiheit auf die Leistung zu begrenzen, bewirkt, die Freiheit der Person im moralischen Sinn zu schützen. Das gilt jedoch nur, wenn wir von der kantischen philosophischen Ansicht aus starten. Auf jeden Fall gilt: In einem Privatrecht als Beziehung von Freien und Gleichen hat diese Definition eine erhebliche Akzeptanz gefunden. Die römischen Definitionen der Obligation (Inst. 3, 13 pr.: Obligatio est iuris vinculum, quo necessitate adstringimur alicuius solvendae rei secundum nostrae civitatis iura; und D. 44, 7, 3 pr. Paulus libro secundo institutionum: Obligationum substantiam non in eo consistit ut aliquod corpus nostrum aut servitutem nostram faciat sed ut alium nobis obstringat ad dandum aliquid vel faciendum vel praestandum) sind bis zur Entwicklung des Begriffs von der Obligation in der historischen Schule die Grundlagen gewesen, und vermitteln ein Bild, wie „unverhältnismäßig“ die rechtliche Struktur des Rechtsinstituts ist. Im Wesentlichen, wenn auch das Element der Pflicht zu einer Leistung in beiden Definitionen vorhanden ist – mit unterschiedlichen Eigenschaften – so scheinen sie doch ein Ungleichgewicht zugunsten der Haftung in Bezug auf die Schulden zu enthalten (iuris vinculum quo necessitate adstringimur / obligationum substantiam (…) consistit (…) ut alium nobis obstringat). Das Ungleichgewicht zwischen Schuld und Haftung ist nicht das Symptom einer original materiellen Bindung des Schuldners, sondern die Auswirkung einer ganz praktischen Schwierigkeit: Wie wäre es möglich, einen pater familias zu einer Handlung zu zwingen? Das angedeutete Missverhältnis ist nicht römisch und in der Tradition des Zivilrechts ist die Spaltung zwischen den beiden wesentlichen Elementen der ‚Schuld‘ und ‚Haftung‘ erst hinzugekommen – im Gegensatz zum alten deutschen Recht49. In dieser Hinsicht haben die Institutiones Iustiniani fast eine „autobiographische Definition von den Schuldnern“ formuliert50 , die diese Einheit zwischen Schuld und Haftung und die Einheit der Person des Schuldners voll zum Ausdruck bringt (adstringimur). Dieselbe Idee ist in Paulus D. 44, 7, 3 pr. bestätigt 47  F. Wieacker, Pandektenwissenschaft (wie Fn.  46), S.  8 , wo Wieacker in Fn.  15 das kommunistische Manifest zitiert. 48  S. Bressler, Schuldknechtschaft und Schuldturm: zur Personalexekution im sächsischen Recht des 13.–16. Jahrhundert, Berlin 2004. 49 S. E. Betti, Teoria generale delle obbligazioni. II. Struttura dei rapporti di obbligazione, Milano 1953, p.  59–60. Wichtig zum Schuldverhältnis F. Dorn, §  241 Begriff des Schuldverhältnisses und Pflichten aus dem Schuldverhältnis (wie Fn.  41), S.  137 ff. 50  L. Lantella, Note semantiche sulle definizioni di ‚obligatio‘ (wie Fn.  32), p.  180.

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(Obligationum substantiam (…) consistit (…) ut alium nobis obstringat ad dandum aliquid vel faciendum vel praestandum). Dies steht im Einklang mit dem, was strukturell als Archetyp der Verpflichtung bezeichnet werden kann, die das Muster der Obligation in unserer Rechtstradition charakterisiert: das ehemalige oportere ex sponsione. Die innige Verbindung zwischen Haftung und Schuld drückt sich beispielsweise zwischen zwei Menschen aus, die gleichberechtigt und gleich sind, wenn sie ein Rechtsverhältnis schaffen ohne Auswirkungen auf den Status, ohne so im Wesentlichen zu einer Unterwerfung zu führen. Es ist, wie es mit Autorität bestätigt wurde, eine „Beziehung zwischen Rechtssubjekten, die einander gegenüber gleichberechtigt sind: eine Beziehung zwischen Gleichen“51. Diese Anforderung, die in Bezug auf die Erhaltung der Fülle des Status der patres familias im archaischen Rom entstanden ist, zeigte eine universalistische Beziehung zwischen allen Männern, vor allem ein Konzept der formalen Gleichheit zwischen ihnen, wie derjenigen, die aus den von dem Naturrecht kodifizierten Recht vererbt worden ist. Mit einem provokanten Bild könnten wir sagen, dass die Geschichte von der Verpflichtung eine Teilhabe aller Menschen an einem Recht bedeutet, das ursprünglich eine Ausnahme der Beziehungen zwischen Aristokraten als patres familias in ius civile war. Assimilation in melius für uns alle – sozusagen.

IV. Schlussbemerkungen Es ist Zeit, eine Bestandsaufnahme zu versuchen. Die Notwendigkeit einer vereinfachten Organisation mit Konzepten der komplexen Realität der Beziehung zwischen Menschen markiert den Unterschied zwischen einer echten iurisprudentia und einer Rechtswissenschaft, deren Ziel nur die oberflächliche Beschreibung der Rechtsnormen ist. Der konstruktive Aufwand, um die Bedeutung der rechtlichen Komplexität durch einige grundlegende konzeptionelle Richtlinien im Nachhinein zu erfassen, hat seinen Sitz im Werk des großen Jurist Quintus Scaevola Mucius rund 100 v. Chr., den 18 Büchern des Zivilrechts, der primus generatim constituit ius civile. 51  E. Betti, La struttura dell’obbligazione romana e il problema della sua genesi, Camerino 1919, (Nachdruck Milano 1955), S.  55; Idem, Diritto romano I. Parte generale, Padova, 1935, S.  471–472. S. auch L. Mitteis, Römisches Privatrecht bis auf die Zeit Diokletians, Bd. I, Leipzig 1908, S.  74: „Natürlich kann diese einheitliche Herrschaftsgewalt nur dort eine ausreichende Grundlage des Rechtssystem bilden, wo es an Beziehungen zwischen gleichberechtigten Individuen – Obligationen – fehlt; denn der Begriff der Verpflichtung findet in jenem Gewaltverhältnis keine Unterkunft“ und G. Grosso, I problemi dei diritti reali nell’impostazione romana (Lezioni universitarie), Torino 1944, p.  218, welcher von „posizione di indipendenza“ spricht.

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Es besteht kein Zweifel, dass die Notwendigkeit der Vereinfachung und Systematisierung des Rechtsdiskurses sich auf die konkreten Bedürfnisse der Erfüllung der Arbeit der römischen Juristen auswirken würde. Bald trat jedoch ein neuer Bedarf für die Übertragung von Rechtskenntnissen an neue Generationen auf. Es ist kein Zufall, dass in den Werken der bürgerlichen Tradition ein epochales Moment die Umstellung des Rechtssystems vom ius civile des Quintus Scaevola Mucius (in seinen 18 Büchern) auf das ius civile von Masurius Sabinus (in nur drei Büchern) und die Institutionen von Gaius ist. Die Annahme des dreigliedrigen Systems von Gaius (personae res actiones) in der Gesetzgebung von Justinian zeigt die Expansionskraft des Musters der klassischen Jurisprudenz in Bezug auf ein Gesetzbuch. Etwas ähnliches, obwohl mit anderem Inhalt und anderer Systematik, ist zwischen der Pandektistik und dem BGB geschehen. Ein tiefgreifender Unterschied zwischen beiden Entwicklungen besteht jedoch auf der Ebene der Abstraktion der Rechtsbegriffe des römischen Rechts und des geltenden Rechts. Das römische Recht arbeitet mit konkreteren Begriffen, während das aktuelle Recht zu mehr abstrakten begrifflichen Kategorien neigt, die die oft sehr spezifische Wahl der Werte nicht explizit machen. Ein Beispiel ist die Ausblendung der Realität in den Begriffen von Rechtsgeschäft und Vertrag, der nie lediglich die Summe zweier Einzelwillen ist. Durch die Abstraktion des Rechtsgeschäftsbegriffs betrifft der Rechtsschutz des Vertrags nicht mehr das Prinzip des Vertrauens und der Solidarität, sondern den Willen des Rechtssubjekts. Das war eine Verschiebung hin zu einem individualistischen Prinzip der Rechtsordnung. Das römische Recht und die Rechtsgeschichte haben also heute das Potential zur Rechtskritik, um die bestehenden rechtlichen Kategorien zu dekonstruieren, um ihre ideologische Ladung durch den historischen Kontext zu offenbaren. Soweit das Recht eine Gesellschaft von Menschen und nicht einer menschenverachtenden Realität ausdrücken soll, soweit das Recht dem Menschen dienen soll (hominum causa omne ius constitutum est), ist eine Rückkehr der Juristen zur Achtung und Berücksichtigung der menschlichen Realität erforderlich. Die Anforderungen und Bedürfnisse der Menschen müssen zur Geltung gebracht werden. Die Rechtswissenschaft ist eine universale Wissenschaft bis zum 18. Jahrhundert gewesen. Aufgrund der Verstaatlichung und der Pseudo-Verstaatlichung des Rechts ist das Recht nicht mehr in der Lage, einer globalen Realität adäquat zu begegnen. Die Pandektistik, zeitgleich zu einer Bewegung der Neugründung eines nationalen Rechts, ist sich ihrer nichtstaatlichen Begründung völlig bewusst. Wir spüren die Notwendigkeit, einzelne Rechtsgrundsätze und Wertungen gemeinsam supranational zu nutzen. Das römische Recht ist für die Pandektisten ein Geschenk an die Welt. Nun ist wohl die Zeit, dass der Jurist nicht mehr nur Dolmetscher von Fertigpackungen einer Auswahl der Rechtsinhalten

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ist, sondern dass er wieder der zentrale Protagonist des Rechts wird. Es ist im Grunde ein tiefes Erbe der Werte des römischen Rechts, das die Pandektistik doch nicht ganz verraten hat, obwohl sie die historische Vielfalt und dogmatische Komplexität des römischen Rechts reduziert hat.

Haftung des Konkursverwalters in der Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1900: „Höchste Ungerechtigkeit und Willkühr“? Ulrich Falk I. Themenstellung Mein Beitrag liegt am thematischen Rande dieser Festschrift. Als pandektistisch kann man meinen Gegenstand wohl kaum bezeichnen, wie auch immer man diesen Begriff definieren mag. Es gibt aber Gemeinsamkeiten. Die Pandektenwissenschaft musste lange Zeit als Zielscheibe negativer Zuschreibungen herhalten, und ebenso erging es dem Bürgerlichen Gesetzbuch und der Rechtsprechung des Reichsgerichts. Das gleiche Schicksal war und ist der Konkursordnung und der darauf aufbauenden Verfahrenspraxis beschieden, und zwar ebenfalls zu Unrecht. Darum geht es in meinem Beitrag, einer Fallstudie aus der Praxis der Unternehmensinsolvenz und zugleich des Reichsgerichts im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Ich baue auf einen Aufsatz auf, den ich vor zwei Jahren veröffentlicht habe: Die Konkursübel. Forschungsfragen zur Geschichte des Konkursverfahrens in Deutschland.

II.  Pandektistik und Pandektitis Der Karlsruher Rechtsanwalt Ernst Fuchs (1859—1929) 1 war ein Vorkämpfer der Freirechtsbewegung. Mit missionarischem Eifer hatte er unterschiedslos die Pandektistik, das Bürgerliche Gesetzbuch und die Reichsgerichtspraxis gegeißelt. Schon die Titel seiner Hauptwerke sprachen für sich: Die Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz (1909) und Juristischer Kulturkampf (1912). Seine Anklagereden gegen das, das er als Pandektitis anzuprangern pflegte, muteten zwar deftig übertrieben an, vermittelten aber den Eindruck, dass sie im Kern wohl doch zutreffen könnten. Dadurch konnte seine wortge1  Zu ihm Ulrich Falk, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, 2. Auflage, hrsg. von Cordes / Lück / Werkmüller, 8. Lieferung 2008, Sp.  1868 f.

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waltige Polemik die spätere Wahrnehmung nicht wenig beeinflussen, vor allem in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Die wirkungsvollsten Beiträge im vielstimmigen Chor der Pandektistik-Kritiker stammen zweifellos von Rudolph von Jhering. Mit seinen Angriffen auf die sogenannte Begriffsjurisprudenz und die historische Schule, die er in Georg Friedrich Puchta (1798—1846) und Carl Friedrich von Savigny (1779—1861) verkörpert sah, trug er zu Fehleinschätzungen von großem Beharrungsvermögen bei. Auf breiter Front hat die rechtshistorische Korrektur erst in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts eingesetzt. Einen grundlegenden Beitrag hatte freilich schon Franz Wieacker in seinem Festvortrag zu Jhering beim 17. Deutschen Rechtshistorikertag 1968 geleistet. Dieser Vortrag wurde von den Zuhörern an der Universität Münster bejubelt. Der Aufsatz, der dem Vortrag in der Savigny-Zeitschrift nachfolgte2 , wurde von allen späteren Autoren, die auch zu Jhering publizierten, pflichtgemäß zitiert. In der Sache aber fand Wieackers Selbstkorrektur, die nicht nur viel über Jhering besagte, sondern im Umkehrschluss auch zu dessen Gegnern, verblüffend wenig Beachtung. Als ich in der Mitte der 80er-Jahre meine Doktorarbeit zu Bernhard Windscheid (1817—1892) 3, der Symbolfigur der Pandektenwissenschaft, ausarbeitete, blieb mir diese geringe Resonanz ein Rätsel. Ich war davon überzeugt, dass dieser großartige Aufsatz alsbald eine Vielzahl von Anschlussarbeiten hätte nach sich ziehen müssen, die kaum noch Bedarf für mein Windscheid-Buch gelassen hätten. Damals war mir die Beharrungskraft über Jahrzehnte tradierter, vom Mainstream einer Disziplin tief verinnerlichter Deutungsmuster – belief systems – noch unbekannt. Heute sind die Zuschreibungen Begriffsjurisprudenz, Positivismus und Formalismus gründlich widerlegt. Wichtige Beiträge haben nicht zuletzt Werner Schubert, Regina Ogorek, Joachim Rückert, Rainer Schröder, Hans-Peter Haferkamp, Tilman Repgen, Sybille Hofer geleistet.4 Auch ich habe seit 1989 eini2 

Franz Wieacker, Rudolph von Jhering, in: SZRom 86, 1969, S.  1 ff. ihm jetzt umfassend: Friedrich Klein, Bernhard Windscheid 26.6.1817–26.10.1892, Leben und Werk, Berlin 2014. In erklärter Parallelität zu meinen Arbeiten zu Windscheid hat Klein ebenfalls den Versuch unternommen, „das überkommene Klischee“, das sich um Windscheid rankt, „von Grund auf infrage zu stellen“ (S.  6 f.). Im Ergebnis hat er in seiner materialund quellenreichen Untersuchung meine Thesen „gestützt und bestätigt“ (S.  4 45). 4 Aufzählung in alphabetischer Reihenfolge: Hans-Peter Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, Frankfurt a. M. 2004 [zu diesem Buch Reinhard Zimmermann, Die juristischen Bücher des Jahres – Eine Leseempfehlung, NJW 2004, S.  3466– 3469, 3467]; ders., Karl Adolph von Vangerow (1808–1870) – Pandektenrecht und ‚Mumiencultus‘, ZEuP 16, 2008, S.  813–844; ders., Die sog. Begriffsjurisprudenz im 19. Jahrhundert – „reines“ Recht?, in: Die Reinheit des Rechts, hrsg. von Otto Depenheuer, Wiesbaden 2010, S.  79–99; ders., Positivismen als Ordnungsbegriffe einer Privatrechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts, in: Franz Wieacker – Historiker des modernen Privatrechts, hrsg. von Behrends / Schumann, Göttingen 2010, S.  181–211; ders. Pandektistik und Gerichtspraxis, in: Quaderni Fiorentini, 2011, S.  177–211; Sybille Hofer, Freiheit ohne Grenzen? Privatrechts theoretische Diskussion im 19. Jahrhundert, Tübingen 2001; Horst Heinrich Jakobs, Wissenschaft und Ge3  Zu

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ges beigetragen.5 Was das Konkursrecht angeht, steht die Korrektur noch aus. Das Schrifttum, das seit den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts im Zeichen der Insolvenzrechtsreform entstand, verzerrt die rechtshistorischen Zusammenhänge weiterhin. Die Widerlegung der tradierten Pandektistik- und BGB-Kritik ist in der insolvenzrechtlichen Literatur offenbar noch nicht angekommen, wird jedenfalls nicht mitgedacht, wenn es um die Charakteristik der Konkursordnung und die Konkurspraxis im Deutschen Kaiserreich geht. Die Wahrnehmung wird dort weiterhin von den Geschichtsbildern und Deutungsmustern bestimmt, die Franz Wieacker in seiner Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (2. Auflage 1967) großmeisterlich kodifiziert hat. 6 setzgebung im bürgerlichen Recht nach der Rechtsquellenlehre des 19. Jahrhunderts, Paderborn u. a. 1983, S.  101 ff., 151 ff.; Regina Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat. Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1986; dies., Privatautonomie unter Justizkontrolle, in: ZHR 150, 1986, S.  87 ff.; dies., Hermeneutisches Urgestein oder Thibauts Ahnungen von moderner Methodenlehre, in RJ 6, 1987, S.  46 ff.; Tilman Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts. Eine Grundfrage in Wissenschaft und Kodifikation am Ende des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2001; ders. Was war und wo blieb das soziale Öl?, in: ZNR 22, 2000, S.  406–424; ders., Das Vermieterpfandrecht im Kaiserreich, in: Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter, hrsg. von Falk/Mohnhaupt, Frankfurt a. M. 2000, S.  231–279; Joachim Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, Ebelsbach 1984; ders., Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, Hannover 1988, S.  86 ff.; ders., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit: Genese und Zukunft eines Faches?, in: Franz Wieacker – Historiker des modernen Privatrechts, hrsg. von Behrends/Schumann, S.  75–118; Rainer Schröder, Abschaffung oder Reform des Erbrechts, Ebelsbach 1981, S.  73 ff.; ders., Die deutsche Methodendiskussion um die Jahrhundertwende, in: Rechtstheorie 19, 1988, S.  326 ff. (348); Werner Schubert, Windscheid und das Bereicherungsrecht des 1. Entwurfs des BGB, in: SZRom 92, 1975, S.  186 ff.; Einen wichtigen Beitrag haben auch die verdienstvollen editorischen Arbeiten von Schubert und Jakobs zur Gesetzgebung im Deutschen Kaiserreich erbracht. 5  In chronologischer Reihenfolge: Ulrich Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid. Erkundungen auf den Feldern der sogenannten Begriffsjurisprudenz, 1.  Aufl., Frankfurt a. M. 1989 (2. unveränderte Aufl., Frankfurt a. M. 1999); ders., „Ein Gegensatz principieller Art“. Betrachtungen zur rechtsdogmatischen Diskussion um die Möglichkeit subjektloser subjektiver Rechte; in: Rechtshistorisches Journal 8, 1989, S.  221–240; ders., Der faule Kern im System. Bemerkungen zur Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive; in: Rechtshistorisches Journal 8, 1989, S.  144–154; ders., Das letzte Wort der deutschen Rechtswissenschaft. Zur Rechtslehre Bernhard Windscheids, in: Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten 1988–1990, hrsg. von Heinz Mohnhaupt, Frankfurt a. M. 1991, S.  188–210; ders., Der wahre Jurist und der Jurist als solcher. Bernhard Windscheid zum Gedenken, in: Rechtshistorisches Journal 12, 1993, S.  598–633; ders., Der Gipfel der Pandektistik. Windscheid, Jhering und die Begriffsjurisprudenz, in: Greifswald: Spiegel der Deutschen Rechtswissenschaft 1815–1945, hrsg. von Joachim Lege, Tübingen 2009, S.  129–150; ders., Windscheids Lehre von der Voraussetzung – Ein Fall von juristischem Psychologismus?, in: Psychologie als Argument in der juristischen Literatur des Kaiserreichs, hrsg. von Mathias Schmoeckel, Baden-Baden 2009, S.  194–211. 6 Zur Wieackers Deutung der Konkursordnung s. Ulrich Falk, Die Konkursübel. Forschungsfragen zur Geschichte des Konkursverfahrens in Deutschland, SZGerm 131, 2014, S.  266–324 (266, 270 f., 305, 307, 321); vgl. Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2.  Aufl., 1967.

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Mein Verständnis der Pandektistik habe ich im Jahr 2002 zusammenfassend dargelegt.7 Die Kernpunkte sind folgende: Dieser Begriff sollte deskriptiv benutzt werden, ohne ihn – soweit das denn überhaupt möglich ist – mit positiven oder negativen Wertungen aufzuladen. Er bezeichnet den romanistischen Teil der deutschen Privatrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts auf der Grundlage des Corpus Iuris Civilis. Dieses normative Fundament hatte mit Gesetzesnormen im heutigen Sinne wenig gemeinsam; in der Pandektistik sprach man von „Quellen“. In diesem Sinne könnte man die gesamte gemeineuropäische Jurisprudenz des Ius Commune8 seit dem Mittelalter als pandektistisch bezeichnen. Das enge Begriffsverständnis geht auf die prägende Literaturform der deutschen Privatrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts zurück, die Pandektenlehrbücher. Diese Lehrbücher waren trotz ihrer Titel keineswegs auf Studierende ausgerichtet. Ihre primären Adressaten waren Rechtspraktiker und Wissenschaftler. Die Rechtsregeln und -prinzipien, die in diesen Werken aus dem Quellenmaterial des CIC abgeleitet wurden, taugten zu gesetzesähnlicher Anwendung in der Gerichtspraxis. Eine Prämisse der Pandektenwissenschaft bestand im Fehlen eines deutschen Zivilgesetzbuchs. Dafür bot sie für ein volles Jahrhundert funktionalen Ersatz. Das Quellenmaterial des CIC war extrem umfangreich und von Widersprüchen durchsetzt. Ebenso vielschichtig war die gemeineuropäische Rechtsliteratur aus einem halben Jahrtausend (13.–18. Jahrhundert). Eine weitere Funktion der Pandektistik lag darum in der radikalen Reduktion von Überkomplexität durch programmatische Rückkehr zu den (vermeintlich) reinen, unverfälschten Quellen. Die Pandektisten transformierten den Quellenbestand in ein dogmatisches System abstrakter Rechtsbegriffe, Rechtsprinzipien und Rechtsinstitute, die als „Rechtsdogmatik“ bis heute den Kern der deutschen Rechtswissenschaft bilden. In ihren Wertungsgrundlagen war die Pandektistik dem Ethos des liberalen Bürgertums verpflichtet, namentlich den Grundprinzipien der Privatautonomie in ihren Ausprägungen als Vertrags-, Eigentums-, und Vereinigungsfreiheit, weiten, aber beileibe nicht schrankenlos gedachten Freiheiten. Im Ergebnis waren die Pandektenlehrbücher von strukturbildender Bedeutung für das Bürgerliche Gesetzbuch, das zum Jahr 1900 in Geltung trat. Die Akteure der rechtshistorischen Korrektur, die sich seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts vollzogen hat, sollten sich nicht der Erwartung hingeben, 7  Ulrich Falk, Pandektenwissenschaft, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 15/2, Stuttgart-Weimar 2002, S.  45–49. 8 Zu diesem Zentralbegriff der Europäischen Rechtsgeschichte s. Tilman Repgen, Ius Commune, in: Haferkamp/Repgen: Usus modernus pandectarum. Römisches Recht, Deutsches Recht und Naturrecht in der Frühen Neuzeit (FS Klaus Luig), Köln u. a. 2007, S.  157– 173.

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dass ihre Forschungsergebnisse schon zum selbstverständlichen Gemeingut der Rechtswissenschaft geworden seien. Einen Beleg für die Beharrungskraft der Leitbegriffe der Privatrechtsgeschichte von Franz Wieacker bietet zum Beispiel die Neuere Europäische Rechtsgeschichte von Hans Schlosser. In der zweiten Auflage des Lehrbuchs von 2014 liest man zur zeitgenössischen Kritik am Ersten Entwurf des BGB unter der Überschrift „Kleiner Windscheid“: „Sachlich war die Kritik im Wesentlichen berechtigt. (…) Hauptverantwortlich für das Misslingen war jedoch das begriffsjuristisch zentrierte, pandektistische Rechtsdenken der Redaktoren, das sich in Abstraktionen, Begriffen und Konstruktionen erschöpft hatte.“9

Eines der Mitglieder der Ersten Kommission, die den ersten Entwurf zum BGB zu verantworten hat, war bekanntlich Bernhard Windscheid.10 Den Vorsitz führte Heinrich Eduard von Pape (1816–1888), der ehemalige Präsident des Reichsoberhandelsgerichts, der sich sehr für Windscheids Eintreten und Verbleiben in der Kommission eingesetzt hatte. Eines der einflussreichsten Kommissionsmitglieder war der liberale Politiker Gottlieb Planck (1824–1910), Richter am Appellationsgericht Celle, der spätere Generalreferent der Zweiten Kommission. Ihm misst Schlosser „das entscheidende Gewicht“ bei.11 Werner Schubert hat den Briefwechsel, den Windscheid mit seinem Freund Planck nach dem frühen Ausscheiden aus der Kommission führte, eingehend untersucht. Begriffsjuristisch zentriertes Denken hat er in seinem Aufsatz vom Jahr 1978 bei beiden nicht vorgefunden.12 Franz Wieacker hat Planck in seiner Privat9  Hans Schlosser, Neuere Europäische Rechtsgeschichte, 2.  Aufl., München 2014, S.  292 = §  12 Rn.  33; vgl. auch S.  259 f. = §  11 Rn.  35–37. Die 1.  Aufl. datiert von 2012. Dieses Beharren ist umso bemerkenswerter, als Schlosser den Fortschritt der Forschung bei einigen Teilaspekten durchaus berücksichtigt hat, z. B. bei Georg Friedrich Puchta; vgl. S.  260 f. = §  11 Rn.  38– 41. Das suggestive Sprachspiel vom »kleinen Windscheid« stammt vom Jhering-Schüler Otto Bähr, Zur Beurtheilung des Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich, München 1888, S.  327; ähnlich Otto von Gierke, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht, 2.  Aufl., Leipzig 1889, S.  2. 10  Windscheid nahm an den Hauptberatungen in Berlin nur von Oktober 1881 bis September 1883 teil. Die institutionellen Hintergründe des vorzeitigen Ausscheidens, die im Wesentlichen in Zwängen an der Universität Leipzig lagen, wo ihn das Sächsische Ministerium und seine Fakultät als unentbehrlich erachteten und eine längere Beurlaubung verweigerten, beleuchtet Klein, Windscheid (wie Fn.  3), S.  359–370. 11  Schlosser, Rechtsgeschichte (wie Fn.  9 ), S.  289 = §  12 Rn.  27. 12  Werner Schubert, Windscheids Briefe an Planck und seine für Planck bestimmten Stellungnahmen zum Schuldrechtssystem und zum Besitzrecht der 1. BGB-Kommission, in: SZRom 95, 1978, 283 ff.; zu Planck im Überblick Ulrich Falk, Planck, Gottlieb, in: Juristen. Ein biographisches Lexikon, hrsg. von Stolleis (Hg.), S.  501 f. der Ausgabe München 2001. Zum methodisch zukunftsweisenden Interessenbegriff Plancks und seiner bemerkenswerten Umsetzung in der Rspr. des VI. Zivilsenats s. die Dissertationschrift meiner Schülerin Melanie Bohrer, Der morsche Baum. Verkehrssicherheit und Fahrlässigkeit in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, Frankfurt a. M. 2010, S.  113 f., 135–140, 174–176 und öfter; zu Parallelen im Konkursrecht s. Falk, Konkursübel (wie Fn.  6), S.  303–305.

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rechtsgeschichte von seiner Kritik pandektistischer Fehlleistungen ausgenommen. Planck sei „nicht Theoretiker von Geblüt, sondern mit Leib und Seele Praktiker im besten Sinne“ gewesen.13 Wie wenig die Judikatur des Reichsoberhandelsgerichts mit angeblicher Begriffsjurisprudenz zu schaffen hatte, hat Regina Ogorek in einer Studie vom Jahr 1986 eindrucksvoll vor Augen geführt.14 Aber um Windscheid, Pape und Planck geht es nicht einmal. Schlossers These ist auch dann unhaltbar, wenn man von diesen Einzelakteuren absieht. In der These wird die Polemik der erklärten Feinde der Pandektenwissenschaft in aller Pauschalität unbeirrbar fortgeschrieben. Ernst Fuchs darf sich in seinem abwegigen Fehl- und Vorurteil über die angebliche Pandektitis immer noch bestätigt fühlen.

III.  Unternehmenskonkurs: Waldbrauerei-Fall 1.  Erste Konkurseröffnung Der 17. Januar 1893 war für die Stadt Bergedorf bei Hamburg kein guter Tag. Das Amtsgericht Schwarzenbeck eröffnete als zuständiges Amtsgericht (§  64 Abs.  1 KO 1879) das Konkursverfahren über das Vermögen der Waldbrauerei Bergedorf, einer Aktiengesellschaft. Dadurch verlor die Waldbrauerei-AG das Recht, ihr Gesellschaftsvermögen durch ihre Organe selbst zu verwalten und darüber zu verfügen. Die Ausübung des Verwaltungs- und Verfügungsrechts ging kraft Gesetzes auf den Konkursverwalter über (§  5 KO 1879). Dieser hatte, wie es die Konkursordnung für das Deutsche Kaiserreich gebot, das gesamte zur Konkursmasse gehörige Vermögen, sofort in Besitz und Verwaltung zu nehmen und dasselbe zu verwerten (§  107 KO 1879), um die Konkursmasse zur gemeinschaftlichen Befriedigung der Konkursgläubiger verwenden zu können (§  2 KO 1879). Die Zitierweise „KO 1879“ bedarf der Erklärung. Die ursprüngliche Fassung der Konkursordnung hatte der Reichsgesetzgeber unter dem Datum vom 10. Februar 1877 ausgefertigt und zum 1. Oktober 1879 in Geltung gesetzt.15 Im heutigen Schrifttum wird dieser Gesetzestext vorrangig mit der Jahreszahl 1877 13  Wieacker, Privatrechtsgeschichte (wie Fn.  6), S.  473 Note 13; vgl. Falk, Windscheid (wie Fn.  5), S.  181. 14  Ogorek (wie Fn.  4), Privatautonomie unter Justizkontrolle, S.  87 ff. 15  Einen guten, immer noch lesenswerten Überblick über die Genese des Gesetzes und Forschungsdesiderate gibt Jürgen Thieme, Zur Entstehung der Konkursordnung, in: Einhundert Jahre Konkursordnung, 1877–1977, Uhlenbruck/Klasmeyer/Kübler, Köln u. a. 1977, S.  35–69; vgl. auch Anke Meier, Die Geschichte des deutschen Konkursrechts, insbesondere die Entstehung der Reichskonkursordnung von 1877, Diss. iur. Bochum, Frankfurt a. M. 2003. Kritischer Überblick über den konkursrechtshistorischen Forschungsstand bei Falk, Konkursübel (wie Fn.  6), S.  276–278 und passim.

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verbunden. So ist die einflussreiche Festschrift „100 Jahre Konkursordnung“, die Wilhelm Uhlenbruck, Bernd Klasmeyer und Bruno M. Kübler herausgegeben haben, im Jahr 1977 erschienen. Gegen die Zitierweise „KO 1877“ ist, für sich genommen, nichts einzuwenden. Konsequenterweise ist dann aber auch das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) dieser Zitierlogik zu unterwerfen. Auch hier ist dann nicht auf den 1. Januar 1900, sondern auf den Formalakt der Ausfertigung abzustellen. Die Rede vom „BGB 1896“ ist aber wenig gebräuchlich. Noch unüblicher ist die Zitierweise „InsO 1994“ für die heutige Insolvenzordnung, die in jenem Jahr vom Bundesgesetzgeber verabschiedet wurde, um zum 1. Januar 1999 in normative Geltung zu treten. Zum Verwalter im Konkurs der Waldbrauerei-AG hatte das Amtsgericht Schwarzenbeck einen Rechtsanwalt bestellt. Dem Originalurteil des III. Zivilsenats des Reichsgerichts vom 15. November 1895 – dem ersten Waldbrauerei-Urteil16 – ist zu entnehmen, dass es sich um einen „Rechtsanwalt Brünnecke in Reinbeck“ handelte. In der Textfassung dieses Revisionsurteils, das in der amtlichen Sammlung des Reichsgerichts in Zivilsachen einging (RGZ 39, 93), ist dagegen von einem „Rechtsanwalt B. in B.“ die Rede.17 Die Setzung des „B.“ auch als Ortsangabe anstelle des zu erwartenden „R.“ bietet ein erstes, noch mikroskopisch anmutendes Beispiel für einen bemerkenswerten Befund: Zwischen dem Originalurteil, das heute im Archiv des Bundesgerichtshof in Karlsruhe zugänglich ist, und dem veröffentlichten Urteilstext bestehen zahlreiche Unterschiede. Dazu zählt auch ein großer Unterschied, den man gewiss nicht erwarten sollte. Seinen Abschluss fand jener Konkursfall mit dem Revisionsurteil des VI. Zivilsenats des Reichsgerichts vom 5. Juli 1897, dem zweiten Waldbrauerei-Urteil (RGZ 39, 94).18 Die Fallstudie baut, was das prozessuale Geschehen angeht, ausschließlich auf dem reichsgerichtlichen Entscheidungsmaterial auf. Die Urteile der Vorinstanzen sind unveröffentlicht geblieben. Nicht verfügbar sind auch die konkursgerichtlichen Beschlüsse, die durch den Antrag „des früheren Direktors Heydel auf Eröffnung des Konkurses über das Vermögen der Waldbrauerei Aktiengesellschaft Bergedorf“19 seit Dezember 1892 veranlasst worden waren. Den Waldbrauerei-Urteilen kann man nur einige Eckdaten dieser verfahrensrechtlichen Auseinandersetzung entnehmen: Das Datum der Antragstellung 16  RG, Urteil vom 15.11.1895, Rep. III 228/95, veröffentlicht in erheblich gekürzter und z.T. veränderter Fassung in RGZ 36, 93–96. 17  RGZ 36, 93, 93. 18  RG, Urteil vom 5.7.1897, Rep. VI 204/97, veröffentlicht in geringfügig gekürzter, inhaltlich unveränderter Fassung in RGZ 39, 94–102. 19  Abschrift des Urteils vom 15.11.1895, Rep. III 228/95, Blatt 2 oben; vgl. RGZ 36, 93, 93. Zum rechtspolitischen Kontext der AG-Insolvenz s. Josef Kohler, Sanierung notleidender Aktiengesellschaften, in: Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 1902, 633–637.

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wird nicht mitgeteilt. Statistisch gesehen fiel der reichsweit höchste Anteil der Konkurseröffnungen im Jahresdurchschnitt auf die Monate November bis Februar,20 was mit der Praxis der Bilanzierung, aber auch mit witterungsbedingten Faktoren zusammenhängen wird. Ursprünglich hatte das Amtsgericht Schwarzenbeck den Konkursantrag mit Beschluss vom 8. Dezember 1892 abgelehnt. Am 14. Januar 1893 wurde der Amtsrichter vom zuständigen Beschwerdegericht, dem Landgericht Altona, zur Konkurseröffnung angewiesen. Dieser Verpflichtung kam er drei Tage später nach. Im Hintergrund des Falles stand neben einer wirtschaftlichen Krise der Waldbrauerei-AG auch ein gesellschaftsinterner Konflikt, über den die Revisionsurteile in den Haftungsprozessen gegen den beklagten Konkursverwalter keinen Aufschluss geben.

2. Verwalterfragen Am 17. Januar 1893 stand für die Betroffenen vermutlich die Befürchtung im Raum, dass der anwaltliche Konkursverwalter den Brauereibetrieb sofort einstellen und die Arbeitnehmer entlassen würde, um das vorhandene Bier und die Anlagen versilbern zu lassen. Diese Erwartungshaltung liegt in der historischen Rückschau sehr nahe: In der insolvenzrechtlichen Literatur seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Konkursordnung weithin als konzeptionell verfehlt wahrgenommen: Man beklagt eine Fortführungs- und Sanierungsfeindlichkeit, die in der Praxis einen rechtspolitisch verfehlten Schematismus der Zerschlagung insolventer Unternehmen ausgelöst habe. Dieses fragwürdige Deutungsmuster hat vor wenigen Jahren in vermeintlicher Selbstverständlichkeit auch zwei Fachgutachten zugrunde gelegen, die für die Deutsche Forschungsgemeinschaft erstattet wurden. Ich darf das anmerken, weil ich nicht der Betroffene war, der die zweifelhaft begutachteten Drittmittelanträge gestellt hatte. Als zerschlagungsfixiert hätte Rechtsanwalt Brünnecke womöglich eine erste grundlegende Entscheidung des Reichsgerichts zur Rechtsstellung des Konkursverwalters deuten können. Mit Urteil vom 13. März 1889, veröffentlicht in der amtlichen Sammlung (RGZ 23, 54), nahm der V. Zivilsenat eingehend Stellung zur Auslegung von §  5 KO 1879: Die Vorschrift verpflichte den Verwalter, die Konkursmasse in Besitz zu nehmen, festzustellen, zu verwalten und den Gläubigern Rechnung zu legen. „Alle diese seine Handlungen“ hätten dem Zweck zu dienen, „das Vermögen des Gemeinschuldners behufs der Verteilung an die Konkursgläubiger festzustellen und flüssig zu machen.“21

20 Dazu Klein, Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, 2. Jahrgang, 1893, Vormerkung, III.71. 21  RG, Urteil vom 13.3.1889, Rep. V 343/88, RGZ 23, 54–63, 59; fortgeführt im Urteil vom

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Bei isolierter Betrachtung, die über den inhaltlichen Zusammenhang der Urteilsgründe hinwegsieht, lässt sich diese Aussage als eindimensionale Aufgabenzuweisung deuten: Das Gebot der Verflüssigung des Schuldnervermögens zwecks Verteilung erscheint dann unvereinbar mit einer Fortführung von Schuldnerunternehmen. Das Gleiche gilt für den Inhalt von §  5 KO 1879, der zentralen Vorschrift im Dritten Titel der Konkursordnung zur Teilungsmasse: „Nach der Eröffnung des Verfahrens hat der Verwalter das gesamte zur Konkursmasse gehörige Vermögen sofort in Besitz und Verwaltung zu nehmen und dasselbe zu verwerten.“ Eine gesetzliche Definition dessen, was man unter „verwerten“ konkret zu verstehen hat, gab die Konkursordnung nicht. Im Entwurf des Gesetzes, der im Januar 1875 im Reichstag zur Vorlage gekommen war, hatte die Vorschrift weitgehend die gleiche Fassung, abgesehen aber von jenem Schlüsselbegriff: Aufgegeben war dem Verwalter seinerzeit noch, das Massevermögen zu „versilbern.“22 Diese Wortwahl, die der Entwurf durchgängig auch in anderen Vorschriften benutzte, ist im Fortgang des Gesetzgebungsverfahrens durch die abstraktere Begriffswahl „verwerten“ ersetzt worden.23 Wenn man einen engen Verwertungsbegriff zugrunde legte, konnte §  107 KO 1879 – für sich betrachtet – ebenfalls den Eindruck vermitteln, dass der gesetzliche Verwalterauftrag eine Fortführung massezugehöriger Unternehmen nicht umfasse. Gleichzeitig hatte der Gesetzgeber im selben Titel der Konkursordnung mit §  118 KO 1879 aber auch eine Vorschrift gegeben, die in die Gegenrichtung wies: „Bis zur Beschlussfassung durch eine Gläubigerversammlung hat der Verwalter nach seinem Ermessen das Geschäft des Gemeinschuldners zu schließen oder fortzuführen.“

Ein Gläubigerausschuss, der an Stelle des Konkursverwalters zur Wahl zwischen Fortführung und Schließung berufen gewesen wäre, war im Waldbrauerei-Fall nicht bestellt worden (vgl. §§  118 Abs.  1 Satz  2, 79 KO 1879). Dadurch wurde Rechtsanwalt Brünnecke am Tag der Konkurseröffnung eine eigenverantwortliche Ermessensentscheidung abverlangt: Sollte er den Betrieb der Waldbrauerei Bergedorf AG schließen? Oder sollte er ihn vorbehaltlich der Beschlussfassung durch eine spätere Gläubigerversammlung erst einmal fortführen? Bestimmte Tatbestandsmerkmale, die seinen Ermessensspielraum begrenzt hätten, gab ihm die Konkursordnung nicht vor. Bei seiner Entscheidung kann sich der anwaltliche Verwalter auch an der Kommentarliteratur orientiert haben. In Betracht kam nicht zuletzt der viel be18.12.1889, Rep. V 221/89, RGZ 25, 18–22; RG, Urteil vom 14.5.1914, Rep. VI. 164/14, Warneyer 1915, Nr.  65, 90–93, 91, 93. 22  Der Wortlaut des Entwurfs findet sich bei Carl Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 4: Materialien zur Konkursordnung, Neudruck Aalen 1983 der Ausgabe Berlin 1881, S.  4 –29, 17. 23  Zum Bsp. §  164 Abs.  2 KO 1879.

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nutzte KO-Kommentar, den der Reichsgerichtsrat Julius Petersen (1835–1909) 24 in Zusammenarbeit mit dem Prozessualisten und Strafrechtler Georg Kleinfeller (1857–1932),25 seinerzeit noch Privatdozent, verfasst hatte. Dieses Erläuterungswerk lag im Jahr des Waldbrauerei-Konkurses bereits in dritter Auflage vor. Die rechtliche Zulässigkeit von Betriebsfortführungen setzten Petersen/ Kleinfeller als selbstverständlich voraus, was wegen §  118 KO 1879 nicht überraschen kann. Bezeichnend wirkt die Beiläufigkeit einer Anmerkung zu §  5 KO 1879, dass Fortführungen „häufig wünschenswert, manchmal unvermeidlich“ seien.26 Der Verwalter dürfe „neue für die Masse und den Gemeinschuldner bindende Verpflichtungen eingehen“, 27 um seine „nicht immer auf einfache Weise“ lösbare Aufgabe zu erfüllen, „namentlich wenn es sich um die Fortführung eines Geschäfts handelt“.28 Die konkursrechtliche Zulässigkeit der einstweiligen Fortführung stand also außer Zweifel. Durch die Kommentierung aus der Feder eines Reichsgerichtsrats und die Gesetzesmaterialien durfte sich der Verwalter dazu sogar ermuntert fühlen. Er selbst hatte es in der Hand, einen Beschluss der Gläubigerversammlung herbeizuführen. Diese mochte dann entweder ein Ende setzen oder ihrerseits die Weiterführung verantworten. Dass er auf die Entscheidung der Versammlung mit seinem Bericht und seiner Diskussionsleitung in gewissem Umfang einwirken konnte, versteht sich. Hier konnte sich neben fachspezifischer Kompetenz auch rhetorisches Geschick als hilfreich erweisen. Die Rechtsprechung des 20. Jahrhunderts unter Geltung der Konkursordnung lehrt freilich, dass es mit dieser pragmatischen Sichtweise nicht immer getan war. In heikleren Konkursfällen kam es auf die normative Frage an, inwieweit sich der Verwalter durch Beschlüsse der Gläubigerversammlung wirklich vom drohenden Vorwurf einer Pflichtverletzung entlasten konnte. Nur vordergründig eindeutig auch der Begriff der „Fortführung“. Waren zeitliche Grenzen zu ziehen? War zu unterscheiden zwischen Fortführungen zur bloßen 24  Petersen war vor seiner Berufung zum RG zunächst als Polizeikommissar (seit 1862), besoldeter Assessor (seit 1866), Rechtsanwalt (seit 1868), Kammerpräsident am LG Straßburg (seit 1871) und Senatspräsident beim OLG Colmar (seit 1880) tätig, am RG dann 17 Jahre (1883–1900), zunächst im I. und dann im IV. Strafsenat, von 1886 bis zum Eintritt in den Ruhestand am 1.11.1900 im II. Zivilsenat; Lobe, Fünfzig Jahre Reichsgericht, 356, 393, 395. Von ihm stammen auch Kommentare zur Reichscivilprozeßordnung (CPO), zur AG und zur KG auf Aktien; s. Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 15, 1908, 656 f.; Verwechslungsgefahr besteht mit George Rudolf Peterßen, dem Präsidenten des III. Zivilsenats. 25  Kleinfeller wurde 1896 zum ordentlichen Professor an der Universität Kiel ernannt und blieb dort bis zu seiner Emeritierung (1925); Angaben nach Friedrich Volbehr, Professoren und Dozenten an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 4. Auflage, bearb. von Rudolf Bülck, abgeschlossen von Hans-Joachim Newiger, Kiel 1956, S.  38. 26  Julius Petersen / Georg Kleinfeller, Konkursordnung für das Deutsche Reich nebst dem Einführungsgesetz, 3.  Aufl., Lahr 1892, §  5 Ziffer III 1–3. 27  Petersen/Kleinfeller, KO (wie Fn.  26), §  118 Ziffer II. 28  Petersen/Kleinfeller, KO (wie Fn.  26), §  5 Ziffer 5 III 3.

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Anreicherung der Konkursmasse einerseits, etwa durch die Verarbeitung noch vorhandener Rohmaterialien bei einem Brauereibetrieb, und zu Sanierungszwecken andererseits, etwa durch Zukauf von Rohmaterial und Beschaffung von Sanierungsdarlehen, womöglich gar unter Ausweitung des Geschäftsbetriebs? Hier kam eine dritte Eigenschaft ins Spiel, die kompetenten Konkursverwaltern abverlangt wurde – wirtschaftlicher Sachverstand. Mit gutem Grund gehören zu den Teams, die anwaltliche Insolvenzverwalter bei heutigen Unternehmensinsolvenzen zum Einsatz bringen, auch Interimsmanager. Keine Auskunft erteilten das Gesetz und seine Kommentierung naturgemäß über eine rein faktische Frage: Wie hat man es sich konkret vorzustellen, wenn ein Konkursverwalter, der im Hauptberuf als niedergelassener Rechtsanwalt tätig ist, eine insolvente Aktiengesellschaft im Brauereigewerbe fortführt? Durfte man allen Ernstes erwarten, dass er über die nötige Sachkunde und Erfahrung verfügte, um diese unternehmerische Aufgabe zu bewältigen? Hätte das Konkursgericht, wenn es die normative Option einer Unternehmensfortführung bedachte, die §  118 KO 1879 eröffnete, nicht besser einen erfahrenen Kaufmann bestellt? Oder wäre ein solcher für das Verwalteramt nicht zu gewinnen gewesen? Wie war es seinerzeit um das Angebot an Personen, die zur Übernahme einer Konkursverwaltung dieser Größenordnung befähigt und bereit waren, bestellt gewesen? Bestanden womöglich ähnliche Engpässe bei der Gewinnung kompetenter und zu Betriebsfortführungen bereiter Verwalter wie in der Bundesrepublik Deutschland in den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts? 29 Das Gesetz hatte die Auswahlentscheidung mit lakonischen Worten in das freie Ermessen des zuständigen Richters gelegt: „Der Konkursverwalter wird von dem Gerichte ernannt.“ (§  70 Satz1 KO 1879). Eine ergänzende Vorschrift (§  71 KO 1879) erweiterte diesen Freiraum und gab zugleich einen unmissverständlichen Fingerzeig, dass es bei der Verwalterbestellung auf Kompetenz im wirtschaftlichen Sinne ankommen konnte: „Wenn die Verwaltung verschiedene Geschäftszweige umfaßt, so können mehrere Konkursverwalter ernannt werden. Jeder von ihnen ist in seiner Geschäftsführung selbständig.“

Die Novellierung der KO zum Jahr 1900 hatte dem nichts hinzuzufügen (vgl. §  70 Satz  1 KO 1900).30 In der Bundesrepublik hat die „nicht nur im Vergleich mit dem englischen Recht, sondern auch im Vergleich zu anderen europäischen Rechtsordnungen sehr geringe Regelungsdichte“ der Konkursordnung zur 29 Vgl. Volkmar Gessner / Barbara Rhode / Gerhard Strate / Klaus Ziegert, Die Praxis der Konkursabwicklung in Deutschland – eine rechtssoziologische Untersuchung, Köln 1978, S.  80; Thorsten Graeber, Die Entwicklung der Verwalterauswahl unter der Insolvenzordnung, in: FS Heinz Vallender, Köln 2015, S.  165–182 (167). 30  §  56 InsO, der 1999 in Kraft trat, lehnt sich an §  38 VerglO und §  5 Abs.  2 GesO an.

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Verwalterbestellung „zu einer lebhaft geführten Reformdiskussion“ geführt. Die Kritik an der konkursgerichtlichen Bestellungspraxis reichte bis zu kämpferischen, rhetorisch aufgeladenen Wortbildungen wie „Auswahlanarchie“ und „Auswahllotterie mit limitiertem Losverkauf“.31 Ein einschlägiges Reformgesetz, das ESUG, hat den Einfluss der Gläubiger auf die Verwalterbestellung vor wenigen Jahren erheblich erweitert. Ob das zum Besten des Insolvenzverfahrens geschehen ist, bleibt abzuwarten. Ich kann meine Skepsis nicht verhehlen. Aus rechtssoziologischer Perspektive drängt sich die Befürchtung auf, dass die Reform insoweit nur den institutionellen Großgläubigern in die Hände spielt und vielfältige Missbrauchsmöglichkeiten eröffnet. Wenn sich Rechtsanwalt Brünnecke im Geschäftsfeld der Aktienbrauerei nicht heimisch fühlte, konnte er mindestens drei Handlungsoptionen in Betracht ziehen: (1) Nichtübernahme der angetragenen Verwaltung, freilich unter Verzicht auf die Verwaltergebühren und womöglich mit Folgekosten, etwa bei der Vergabe künftiger Verwaltungen. (2) Übertragung der managementbezogenen Aufgaben auf andere Personen, die normative Zulässigkeit einer solchen Delegation und die Deckung der womöglich anfallenden Zusatzkosten vorausgesetzt. (3) Schließung des Betriebs, um alle Unwägbarkeiten und allen Arbeitsaufwand, der mit der Fortführung unweigerlich verbunden war, von vornherein abzuschneiden. Aus heutiger Sicht zählt die Entscheidung zwischen Fortführung und Schließung zu den schwierigsten und folgenreichsten, die bei Unternehmensinsolvenzen überhaupt zu treffen sind. Es ist eine altbekannte Erfahrungstatsache, dass die Erlöse, die in der Zwangsversteigerung der Einzelgegenstände eines Unternehmens erzielbar sind, meistens weit hinter dem Wert zurückbleiben, den die Gegenstände bei Fortführung des Unternehmens verkörpern würden.32 Eine ähnliche Problemsicht klingt in einem Urteil des VI. Zivilsenats des Reichsgerichts vom Mai 1914 zur persönlichen Haftung eines Konkursverwalters an: Die Zwangsversteigerung von Warenbeständen bewirke „immer mehr oder weniger eine Verschleuderung“, die „erhebliche Vermögenswerte vernichtet“. Der Senat rügte aus diesem Grund das Vorgehen jenes Verwalters, der die Versteigerung betrieben hatte, obwohl er ohne Nachteil noch habe zuwarten können, als „nicht billigenswert“.33 Im Hintergrund dieses Konkursfalls standen die vom Verwalter unterlaufenen Bemühungen des Gemeinschuldners, ei31  Malte Köster, Die Bestellung des Insolvenzverwalters. Eine vergleichende Untersuchung des deutschen und englischen Rechts, Baden-Baden 2005, S.  22 f. 32  Die grundsätzliche Problematik hat schon den Verfassern vieler Stadt- und Landrechte des 15. und 16. Jahrhunderts vor Augen gestanden, als sie Vorschriften erließen, die den Ausgleich der kollidierenden Interessen des Schuldners und seiner zwangsvollstreckenden Gläubiger im Verkauf seiner Güter zum Ziel hatten; vgl. Wolfgang Forster, Gant, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hrsg. von Cordes / Lück / Werkmüller, 2.  Aufl., 8. Lieferung, 2008, S.  1932 f. 33  RG, Urteil vom 14.5.1914, Rep. VI. 164/14, Warneyer 1915, Nr.  65, 90–93, 91, 93.

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nen Zwangsvergleich mit seinen Gläubigern zustande zu bringen, um seine Glas- und Porzellanwarenhandlung dauerhaft fortführen zu können. Auf eine tendenziell vergleichbare Einschätzung der Erträge von Zwangsversteigerungen trifft man auch in der amtlichen Begründung zum Entwurf der Konkursordnung (1875): „Die Veräußerung der Massestücke, welche unter dem Druck des Konkurszustandes und durch den Konkursverwalter erfolgt, bringt niemals denjenigen Erlös, welchen der Gemeinschuldner bei ungestörter Beachtung der Konjunktur erreichen wird“.34

Einsichten dieser Art waren es, die den Gesetzgeber dazu veranlasst hatten, neben der Liquidation insolventer Unternehmen einen weiteren, gleichberechtigten Verfahrensweg auszugestalten, der ebenfalls zur Beendigung des Konkursverfahrens führen konnte: Der Zwangsvergleich, der auf die Fortführung und Sanierung des gemeinschuldnerischen Betriebs abzielte (§§  160–179 KO 1879). Diesen Weg bezeichnete er sogar – das sollte den Verfechtern der These von der angeblichen Sanierungsfeindlichkeit zu denken geben – als den vorteilhafteren für alle Beteiligten.35 Die Konjunktur für Brauereien war seinerzeit keine günstige. Dem Anhang einer Untersuchung zum „Problem der Kreditversicherung“ aus dem Jahr 1904 ist zu entnehmen, dass die Gesamtzahl der Brauerei-Betriebe im Deutschen Reich von 17.700 im Jahr 1882 auf 13.300 im Jahr 1895 schrumpfte. Davon gerieten Jahr für Jahr bis zu hundert durch Konkurse in Wegfall.36 Die Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs wiesen für 1891 und 1892 in der übergreifenden Rubrik „Nahrungs- und Genußmittel“ jeweils 681 Konkurseröffnungen aus, denen 536 (1891) bzw. 641 (1892) Beendigungen gegenüberstanden. Von diesen Eröffnungen entfielen speziell auf „Brauereien“ 106 (1891) bzw. 113 (1892) und von den Beendigungen 83 (1891) bzw. 89 (1892).37 Die Nachfrage nach gebrauchtem Brauerei-Inventar – etwa Maschinen, Wagen, Pferde und Inventar einer zugehörigen Gastwirtschaft – 38 war daher wohl gering. Besser gelingen konnte die Versilberung der Lagerbestände an Braue34 

Hahn, Materialien IV (wie Fn.  22),S. 353, 395. Hahn, Materialien IV (wie Fn.  22), S.  348. Zum Zwangsvergleich Falk, Konkursübel (wie Fn.  6), S.  301–324; Matthias Alles, Haftung des Konkursverwalters bei Fortführung insolventer Unternehmen, Frankfurt a. M. 2016, S.  11–22, 75–118. 36  Angaben nach Emil Herzfelder, Das Problem der Kreditversicherung: Mit besonderer Berücksichtigung der berufsmäßigen Auskunftserteilung und des außergerichtlichen Vergleichs, Leipzig 1904, S.  226, Tabelle XVIII. Der Konkurszahl sind hinzuzurechnen alle Fälle des wirtschaftlichen Scheiterns, in denen kein Beteiligter einen Konkursantrag stellte, etwa wegen einer außergerichtlichen Einigung oder evidenter Masselosigkeit; dazu Klein, Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, 2. Jahrgang, 1893, Vormerkung, III.67 f. 37  Vierteljahreshefte zur Statistik (wie Fn.  20), III.72 f., 81, 87. 38  Diese Aufzählung ist angelehnt an einen Fall, über den in einer Sitzung des Hauptausschusses des Deutschen Handelstages im Oktober 1911 berichtet wurde; dazu Werner Schubert, Die Diskussion über eine Reform des Rechts der Mobiliarsicherheiten in der späten Kaiserzeit und in der Weimarer Republik, in: SZGermAbt 197, 1990, S.  153 f. 35 

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reiprodukten selbst, aber auch hier waren Preisabschläge in Kauf zu nehmen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wären die Versteigerungserlöse durch die Gerichts-, Verwalter- und Verwertungskosten, die als Massekosten „vorweg zu berichtigen“ waren (§§  50, 51 KO 1879),39 mehr oder weniger aufgezehrt worden. Am bitteren Ende hätte dann nur die Ausschüttung einer geringen Quote oder gar eine Nullverteilung gestanden, falls keine anderen werthaltigen Gegenstände zur Konkursmasse gehörten, namentlich Betriebsgrundstücke, deren Wert nicht schon durch Grundpfandrechte ausgeschöpft wurde. Obendrein war auch schon in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts damit zu rechnen, dass das Inventar und die Lagerbestände durch Sicherungsübereignung mit Absonderungsrechten gesicherter Gläubiger behaftet war.40 Im ungünstigsten Fall war das Konkursverfahren vorzeitig durch Beschluss des Konkursgerichts einzustellen, sobald sich ergab, dass eine den Kosten des Verfahrens entsprechende Konkursmasse nicht vorhanden war (§  190 KO 1879). Dazu kam es 1891 reichsweit bei vier und 1892 bei fünf Brauereikonkursen.41 Nachzutragen ist, um einem etwaigen Missverständnis vorzubeugen, dass keineswegs alle beendeten Verfahren den Marktaustritt der betroffenen Brauerei zur Folge hatten. Die Reichsstatistik unterschied fünf Arten der Beendigung, von denen nur zwei zu diesem Ergebnis führten: Die Eine war die Schlussverteilung, das heißt die quotale Befriedigung der Konkursgläubiger aus der bereinigten Teilungsmasse nach Abschluss der Liquidation des Unternehmens, die Andere die bereits erwähnte Einstellung mangels kostendeckender Masse. Zu Schlussverteilungen kam es 1891 in 46 Brauereikonkursen, 1892 in 59. Dem standen drei andere Formen der Beendigung gegenüber, von denen zwei allerdings sehr selten waren: die Zustimmung sämtlicher Konkursgläubiger (§  188 Abs.  1 KO 1879),42 und die Aufhebung des Eröffnungsbeschlusses durch das Beschwerdegericht (§  105 KO 1879).43 Die Zahl der Beendigungen durch allseitige Zustimmung beschränkt sich für 1891 auf zwei Fälle, 1892 sogar nur auf einen. Zur Aufhebung durch Beschwerdeentscheidung, die voraussetzte, dass das Konkursverfahren zu Unrecht eröffnet worden ist, verzeichnet die Konkursstatistik für 1891 nicht einen einzigen Brauereifall, für 1892 dann ei39  §  50 KO 1879: „Aus der Konkursmasse sind die Massekosten und Masseschulden vorweg zu berichtigen.“ §  51 KO 1879: „Massekosten sind: 1. die gerichtlichen Kosten für das gemeinschaftliche Verfahren; 2. die Ausgaben für die Verwaltung, Verwerthung und Vertheilung der Masse; 3. die dem Gemeinschuldner und dessen Familie bewilligte Unterstützung.“ 40 Dazu Schubert, Diskussion (wie Fn.  38), S.  134 f. 41  Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, 2. Jahrgang, 1893, III. 81, 87. 42  §  188 Abs.  1 Satz  1 KO 1879: „Das Konkursverfahren ist auf Antrag des Gemeinschuldners einzustellen, wenn er nach dem Ablaufe der Anmeldefrist die Zustimmung aller Konkursgläubiger, welche Forderungen angemeldet haben, beibringt.“ 43 §   105 KO 1879: „Sobald eine den Eröffnungsbeschluss aufhebende Entscheidung die Rechtskraft erlangt hat, ist die Aufhebung des Verfahrens öffentlich bekannt zu machen. Die Vorschriften der §§  103 Abs.  2, 104 finden entsprechende Anwendung.“

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nen. Hoch ist dagegen der Anteil der verfahrensbeendenden Zwangsvergleiche mit 31 (1891) bzw. 23 (1892).44 Im Ganzen endeten von den 83 brancheneinschlägigen Konkursverfahren, die 1891 abgeschlossen wurden, 46 = 55,42% durch Schlussverteilung, 31 = 37,34% durch Zwangsvergleiche, 4 = 4,82% auf Einstellungen mangels Masse, 2 = 2,41% durch Zustimmung sämtlicher Konkursgläubiger und keine durch Aufhebung des Eröffnungsbeschlusses. Im Jahr 1892 unterteilten sich die 89 Beendigungen in 59 = 66,29% Schlussverteilungen, 23 = 25,84% Zwangsvergleiche, 1 = 1,12% allseitige Zustimmungen, 5 = 5,61% Einstellungen mangels Masse und 1 = 1,12% Aufhebung. Am Markt verblieben waren also vermutlich im Jahr 1891 fast 40 % der vom Konkurs betroffenen Unternehmen, 1892 knapp 27%, mit welchen Zukunftsaussichten auch immer. Keine Auskunft gibt die Statistik über die Frage, wie viele von ihnen in den Folgejahren erneut in Konkurs fielen oder außerhalb dieses Verfahrens liquidiert wurden. Das Konkursverfahren der Waldbrauerei wies zudem eine Besonderheit auf, die dem Konkursverwalter ebenfalls zu denken gegeben haben muss: Die gemeinschuldnerische Aktiengesellschaft setzte sich mit dem Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde gegen die Eröffnung des Konkursverfahrens, das ihr früherer Direktor beantragt hatte, zur Wehr (§  101 KO 1879).45 Dieses Rechtsmittel entfaltete allerdings keine aufschiebende Wirkung, hemmte also nicht die Rechtswirkungen des angefochtenen Beschlusses.46 Für die Entscheidung im Beschlusswege war das Oberlandesgericht Kiel zuständig.47 Wenn der Verwalter unter diesem Vorzeichen eine Ermessensentscheidung für die Schließung treffen wollte, musste er den späteren Vorwurf einkalkulieren, unverantwortlich gehandelt zu haben, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass es zur Aufhebung der Konkurseröffnung kommen würde, statistisch gesehen, sehr klein war. Der amtlichen Statistik hätte er entnehmen können, dass im zurückliegenden Jahr (1891) branchen- und rechtsformübergreifend alles in allem 6159 Konkursverfahren beendet worden waren, davon 3973 = 64,5% durch Schlussverteilung, 1619 = 26,28% durch Zwangsvergleich, 196 = 3,18% durch allseitige Zustimmung und 356 = 5,78% mangels Masse, dagegen nur 15 = 0,24% durch Aufhebung des Eröffnungsbeschlusses. Aber auch ein solcher Hinweis würde den zu erwartenden Unmut der betroffenen Arbeitnehmer, der Leitungsorgane des Unternehmens und wohl auch der Bürgerschaft von Bergedorf kaum gedämpft haben. 44 

Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, 2. Jahrgang, 1893, III. 81, 87. §  101 KO 1879: „Die sofortige Beschwerde steht gegen den Eröffnungsbeschluß nur dem Gemeinschuldner, gegen den abweisenden Beschluß nur demjenigen zu, welcher den Eröffnungsantrag gestellt hat“. In der heutigen Praxis werden Eröffnungsbeschlüsse selten angegriffen; für einen Ausnahmefall: BGH, NZI 2006, 693–696 mit Anm. von Frenzel/Schirrmeister. 46  Petersen/Kleinfeller, KO (wie Fn.  26), §  101 Ziffer 3. 47  RGZ 36, 93, 93 f. 45 

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So besehen hatte Rechtsanwalt Brünnecke allen Grund, sich auf eine einstweilige Fortführung der Waldbrauerei-AG einzulassen, auch wenn er dies vielleicht nur ungern tat. Man steht also vor einem Sonderfall. Ein Übriges könnte eine Ankündigung der Leitungsorgane getan haben, im Schließungsfall eine einstweilige Verfügung zu erwirken, um irreparabel drohende Nachteile abzuwenden.48 Im Ergebnis entschied er sich tatsächlich für eine Betriebsfortführung, und zwar „durch den bisherigen Leiter des Geschäfts“.49 Die in Anführungszeichen zitierte Information findet sich im Tatbestand des ersten Waldbrauerei-Urteils des Reichsgerichts in der amtlichen Sammlung (RGZ), nicht jedoch – das ist erstaunlich – in der Abschrift des Volltexts des handschriftlichen Originalurteils. Um den Bedarf nach Rohmaterial zu decken, bezog der Verwalter im Namen und auf Rechnung der Konkursschuldnerin von einem Hamburger Kaufmann im März 1893 drei Ballen Hopfen zum Preis von 1585 Reichsmark, die am 15. Juli 1893 gezahlt werden sollten.50 Die gleiche Bereitschaft zeigten ein zweiter Hopfenhändler51 und mindestens drei weitere Geschäftspartner, die unterschiedliche, für die Fortführung nötige Leistung erbrachten; 52 Einzelheiten sind den Quellen nicht zu entnehmen. Das Vorgehen des Verwalters stand im Einklang mit einer Aussage der amtlichen Begründung des Entwurfs der KO, die ebenfalls im Januar 1875 dem Parlament vorgelegt worden war. Dort hieß es zum Aufgabenkreis des Konkursverwalters zum Beispiel: „Namentlich aber wird der Verwalter zur Verwerthung der Masse oft genöthigt sein, Kaufverträge abzuschließen oder Darlehen aufzunehmen und Gegenstände der Masse zu verpfänden. Dies wird vorzugsweise bei einem im Interesse der Masse durch den Verwalter fortgesetzten Betrieb eines Geschäfts des Gemeinschuldners vorkommen.“53

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Zu einem solchen Vorgehen Petersen/Kleinfeller, KO (wie Fn.  26), §  101 Ziffer 3. RGZ 36, 93, 94; vgl. Blatt 2 der Abschrift des Originalurteils (vgl. dort Blatt 2). 50  RGZ 39, 94, 94. Dass es sich um einen Hamburger Händler handelte, ist nur der Abschrift zu entnehmen. Die Vertretungsmacht des Verwalters stand rechtsdogmatisch außer Frage, unabhängig vom traditionellen Theorienstreit, der sich um seine Rechtsstellung rankt; dazu aus damaliger Sicht Petersen/Kleinfeller, KO (wie Fn.  26), §  5 Ziffer III 1–3; rückblickend z. B. Björn Laukemann, Die Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters. Eine rechtsvergleichende Untersuchung, Diss. iur. Heidelberg, Tübingen 2010, S.  12–18; zu den rechtshistorischen Defiziten dieser Schrift s. die Rezension von Ulrich Falk, JZ 2011, 464 f. 51  RGZ 36, 93, 94 spricht insoweit nur pauschal von „Forderung aus Hopfenlieferung“. 52  Dies ergibt sich aus der Abschrift des Originalurteils, Blatt 1 f.; in der RGZ – Version des Urteils sind die entsprechenden Angaben getilgt. 53  Hahn, Materialien IV (wie Fn.  2 2), S.  279; vgl. Volker von Danckelmann, Aus- und Absonderung im deutschen Konkursrecht. Eine Untersuchung über die Entwicklung des Verständnisses von Verwaltung und Verwertung fremdrechtsbelasteter beweglicher Sachen und Immobilien im deutschen Konkursrecht seit 1855, Berlin 2008, S.  134: Im Fortführungsfall war der Verwalter berechtigt und verpflichtet, „alle Handlungen wie ein freier Geschäftsmann vorzunehmen.“ 49 

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3.  Aufhebung des ersten Konkursverfahrens Am 20. April 1893 entschied das Oberlandesgericht Kiel über das Rechtsmittel der Aktiengesellschaft. Der landgerichtliche Beschluss wurde aufgehoben und der Antrag des ehemaligen Direktors auf Konkurseröffnung abgewiesen. Das Reichsgericht zu Leipzig bestätigte die Kieler Beschwerdeentscheidung am 16. Mai 1893. Daraufhin verfügte das Amtsgericht als zuständiges Konkursgericht am 31. Mai 1893 die Aufhebung des Konkursverfahrens und machte dies bekannt (§§  105, 68 KO 1879). Eingetreten war also gerade jene Möglichkeit, die aus statistischer Perspektive am unwahrscheinlichsten war. Nunmehr standen die zeitgenössischen Akteure vor einer Fallgestaltung, die in der Konkursordnung nahezu ungeregelt geblieben war, von einer reinen Verfahrensnorm, die nur die Form der Bekanntmachung der Verfahrensaufhebung betraf (§  105 KO 1879), abgesehen. Die Richtung, in die das Verfahren nunmehr zu lenken war, war offenkundig. Unverzüglich war der frühere Zustand wiederherzustellen. Besitz und Verwaltung des Vermögens waren – soweit denn möglich – ungeschmälert in die Hände der Aktiengesellschaft zurückzulegen. Das Faktum der zwischenzeitlichen Konkursverwaltung ließ sich freilich nicht mehr ungeschehen machen. Ein unabweisbares Gebot der Rechtssicherheit war es, dass die zahllosen einzelnen Rechtshandlungen, die der Verwalter in den Monaten der Fortführung vorgenommen hatte, zumeist vertreten durch den Geschäftsleiter, durch die Aufhebung des Verfahrens nicht rückwirkend unwirksam wurden. Die heutige Insolvenzordnung hat diese Konsequenz im Gesetzestext verankert; §  34 Abs.  2 Satz  2 InsO lautet: „Die Wirkung der Rechtshandlungen, die vom Insolvenzverwalter oder ihm gegenüber vorgenommen worden sind, werden von der Aufhebung nicht berührt.“

Der III. Zivilsenat des Reichsgerichts setzt im ersten Waldbrauerei-Urteil ohne nennenswerten Begründungsaufwand voraus, dass die Aufhebung nicht etwa das vorausgegangene Verfahren ex tunc vernichtet, sondern nur seine vorzeitige Beendigung bewirkt habe. Die Handlungen des Verwalters seien „für den Gemeinschuldner in derselben Weise bindend gewesen, wie bei der Beendigung des Konkurses durch ordnungsmäßigen Verlauf“.54 Diese normative Prämisse liegt dem zweiten Urteil des III. Senats unausgesprochen gleichfalls zugrunde. Der Reinbeker Verwalter hatte für die Waldbrauerei-AG also bestandskräftige Verträge geschlossen, wirksame Verbindlichkeiten begründet und Einnahmen verbucht. Daraus hätte er die Rechnung für den Hopfen bezahlen können,55 bevor er sein Amt endgültig beendete. 54 

RGZ 36, 93, 95. zweiten Waldbrauerei-Prozess war dies unstreitig: RGZ 39, 93, 95: Der Verwalter habe „genügend Mittel zur Befriedigung“ der Lieferanten „in der Hand“ gehalten; im ersten 55  Im

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4. Verwalterdilemma Auf einem anderen Blatt stand aber, ob er als Verwalter eines aufgehobenen Verfahrens ohne Zustimmung der Aktiengesellschaft überhaupt Zahlung leisten durfte und dies womöglich sogar musste.56 Insoweit war die Rechtslage völlig offen. Die KO 1879 hatte dazu keine Regelung getroffen. Für jede der drei Lösungsalternativen sprachen gute Gründe: sowohl für die Nichtberechtigung zur Zahlung, als auch für die Berechtigung wie für die Verpflichtung. Bei der Neufassung des Gesetzes vom Mai 1898, die der Anpassung an das Bürgerliche Gesetzbuch diente und zeitgleich mit diesem im Januar 1900 in Kraft trat, nahm der Gesetzgeber eine Klarstellung vor. Seitdem stand außer Frage, dass der Verwalter nach Aufhebung verpflichtet war, „aus der Konkursmasse die Masseansprüche zu berichtigen“ (§§  191 Abs.  1, 116 Satz  2 KO 1900; vgl. §§  176 Abs.  1, 105 KO 1879). Wie aber sollte der scheidende Konkursverwalter der Waldbrauerei-AG mit den Kaufpreisschulden verfahren, die zur Fortführung des Betriebs für die AG als neue Masseansprüche eingegangen waren (vgl. §  52 Ziffer 1 KO 1879; §  59 Abs.  1 Ziffer 1 KO)? 57 Sollte er, soweit ihm Barmittel zur Verfügung standen, noch selbst Zahlung veranlassen oder wenigstens eine Sicherstellung bewirken, etwa durch Hinterlegung? Oder sollte er die Geschäftsleitung der Aktiengesellschaft lediglich auf die Zahlungspflicht hinweisen? Für diese letzte Möglichkeit sprach unter anderem, dass die vorhandene Liquidität ungeschmälert blieb, zumal mindestens eine der beiden Forderungen erst einige Zeit später, am 15. Juli 1893, fällig wurde.58 Der Verwalter entschied sich in der Tat für diesen Weg, nahm also weder Zahlung noch Sicherstellung vor, was er später bereut haben wird. Der eingeschlagene Weg führte ihn gleich zweimal bis nach Leipzig vor das Reichsgericht, das 1879 seine Rechtsprechung aufgenommen hatte, zeitgleich mit Inkrafttreten der Konkursordnung. Gewissen Trost könnte dem Verwalter allenfalls die hypothetische Überlegung geboten haben, dass ihn die umgekehrte Entscheidung ebenfalls in RechtWaldbrauerei-Urteil sah sich der 3. ZS dagegen zur Aufhebung des Berufungsurteils des OLG Kiel veranlasst, weil eine entsprechende Feststellung zu dem seinerzeit noch streitigen Punkt unterblieben war: Blatt 5 oben der Urteilsabschrift. 56  Die Unterscheidung zwischen „mußte“ und „durfte“ wird im 2. Waldbrauerei-Urteil treffend herausgestellt, RGZ 36, 93, 101 a. E. 57 §   52 KO 1879: „Masseschulden sind: 1. die Ansprüche, welche aus Geschäften oder Handlungen des Konkursverwalters entstehen; 2. die Ansprüche aus zweiseitigen Verträgen, deren Erfüllung zur Konkursmasse verlangt wird oder für die Zeit nach der Eröffnung des Verfahrens erfolgen muß; 3. die Ansprüche aus einer rechtsgrundlosen Bereicherung der Masse“. 58  Zur Fälligkeit der anderen Forderung findet sich im einschlägigen RG-Urteil des 3. ZS keine Angabe, wie der 6. ZS rückblickend anmerkte; RGZ 39, 94, 102: „(…) erhellt nicht, daß in dem früheren Falle die Forderung des Klägers erst nach Aufhebung des Konkursverfahrens fällig gewesen ist“.

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fertigungszwänge und Haftungsnöte gebracht haben könnte. Die Zahlung der offenen Rechnungen der Lieferanten – dies waren mindestens fünf – aus der Konkursmasse und ebenso die Sicherstellung durch Hinterlegung hätten die Liquidität gemindert, die das Unternehmen für den weiteren Geschäftsbetrieb womöglich dringend benötigte. Ein rasch anschließender zweiter Konkurs wegen eingetretener Zahlungsunfähigkeit (vgl. §  94 KO 1879) 59 hätte die Folge sein können. Dann hätte der Verwalter rechtfertigen müssen, warum er Zahlungen und Sicherstellungen vorgenommen hatte, obwohl das geltende Recht dafür keine zweifelsfreie Grundlage bot. Er befand sich bei seiner Entscheidung in einem Dilemma, das charakteristisch ist für die komplexe Aufgabenstellung der Konkurs- und Insolvenzverwalter: Sie müssen stets versuchen, den gegenläufigen, oft miteinander kollidierenden Interessen aller Verfahrensbeteiligter gleichzeitig gerecht zu werden. In der Praxis läuft das nicht selten auf die Quadratur des Kreises hinaus. Auf diese Problematik machte der VI. Zivilsenat des Reichsgerichts im zweiten Waldbrauerei-Urteil am Ende der Entscheidungsgründe mit deutlichen Worten aufmerksam.60 Von der gleichen Einsicht ist seit einigen Jahrzehnten auch die Rechtsprechung des IX. Zivilsenats des BGH, der für das Insolvenzrecht zuständig ist, getragen. In den ersten Jahrzehnten seiner Spruchpraxis war das noch anders. 61

5.  Zweites Konkursverfahren Die Waldbrauerei-AG nahm ihren normalen Betrieb wieder auf, die Geschäfte entwickelten sich jedoch schlecht. Vielleicht hatte ihr das Konkursverfahren – seiner Aufhebung zum Trotz – einen tödlichen Schlag versetzt, etwa weil sich Geschäftspartner zurückgezogen oder Kreditlinien geschlossen hatten. Treffend hat der Bundesgerichtshof in einem Urteil vom Jahr 2006 vor dem Effekt einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung gewarnt, die allzu leicht dafür sorgt, dass „eine zu Unrecht bejahte Zahlungsunfähigkeit nunmehr alsbald eintritt“.62 Denkbar ist selbstverständlich auch, dass der gesellschaftsinterne Konflikt tödlich wirkte und/oder die reichsweiten Überkapazitäten auf dem Brauereimarkt auch dieses Unternehmen zu Fall gebracht hatten.63 Der Verwalter hatte also bei seiner Entscheidung über die Befriedigung und Sicherstellung der Massegläubi59  §  94 KO 1879: (1) „Die Eröffnung des Konkursverfahrens setzt die Zahlungsunfähigkeit des Gemeinschuldners voraus. (2) Zahlungsunfähigkeit ist insbesondere anzunehmen, wenn Zahlungseinstellung erfolgt ist.“ 60  RGZ 39, 94, 102. 61 Dazu Alles, Haftung (wie Fn.  35), S.  157–196. 62  BGH, NZI 2006, 693–696, 694 Rn.  12; s. auch Rolf H. Schmidt, Ökonomische Analyse des Insolvenzrechts, Wiesbaden 1980, S.  74. 63 Vgl. den vorstehenden Text und Herzfelder, Kreditversicherung (wie Fn.   36), S.  226, Tabelle XVIII.

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ger guten Grund gehabt, so liquiditätsschonend wie möglich zu verfahren, auch wenn das im Ergebnis nicht fruchtete. In jedem Fall wurde der 8. August 1893 zu einem traurigen Tag für Bergedorf. Erneut eröffnete das Amtsgericht den Konkurs, ohne dass sich in der Brauerei weiterer Widerstand geregt hätte. Nicht nur für die einfachen Konkursgläubiger, sondern auch für die Massegläubiger war im neuen Verfahren kaum noch etwas zu erhoffen64 (vgl. §  53 KO 1879). 65 Die Vermögenssubstanz der Aktiengesellschaft war aufgezehrt. Dadurch hatten auch die beiden Hopfenhändler mit ihren Forderungen gegen die Konkursmasse das Nachsehen. Klageweise versuchten sie, sich beim Konkursverwalter persönlich schadlos zu halten. Aus heutiger Sicht ist man an die Haftung des Insolvenzverwalters nach §  61 InsO erinnert; darauf ist zurückzukommen.

6.  Klagen gegen den Verwalter (Übersicht) Die beiden Klagen nahmen unterschiedliche Wege: einerseits vom LG Altona, das auf Klageabweisung entschied, 66 zum OLG Kiel, das der Klage stattgab, andererseits vom LG Berlin zum dortigen Kammergericht, die beide zur Abweisung gelangten. Die unterlegenen Parteien erhoben jeweils das Rechtsmittel der Revision, über die einerseits der III. Zivilsenat im November 1895, andererseits der VI. Zivilsenat im Juli 1897 entschieden. Beide Urteile wurden in der amtlichen Sammlung (RGZ) veröffentlicht67 und erweisen sich als außergewöhnlich ergiebige Quelle, als rechtshistorischer Glücksfall. Dazu trägt bei, dass im Archiv des Bundesgerichtshofs auch Abschriften der handschriftlichen Originalurteile verfügbar sind. Der Vergleich mit dem Text, der in RGZ veröffentlicht wurde, birgt weitere Überraschungen. Die Abschrift des ersten Urteils zeigt unter anderem, dass an jenem Prozess, der über Altona und Kiel zum III. Zivilsenat führte, auf Klägerseite keineswegs nur ein einzelner Hopfenlieferant stand. Geurteilt wurde über die Schadensersatzansprüche von fünf Massegläubigern. Sie alle hatten bei der Fortführung des Brauereibetriebs unbezahlt gebliebene Leistungen erbracht 64  Im ersten Waldbrauerei-Prozess gehörte diese Feststellung noch zum streitigen Klagevortrag der geschädigten Lieferanten; im zweiten Prozess war dies unstreitig; vgl. RGZ 36, 93, 94; RGZ 39, 94, 95. 65  §  53 KO 1879: „Sobald sich herausstellt, daß die Konkursmasse zur vollständigen Befriedigung aller Massegläubiger nicht ausreicht, tritt eine verhältnißmäßige Befriedigung derselben in der Weise ein, daß zunächst die Masseschulden, dann die Massekosten, von diesen zuerst die baaren Auslagen und zuletzt die dem Gemeinschuldner und dessen Familie bewilligte Unterstützung zu berichtigen sind.“ 66  Diese Information ist nur dem Originalurteil eindeutig zu entnehmen, Blatt 2 unten; in der amtlichen Sammlung wird nur die Stattgabe durch das OLG Kiel erwähnt, was freilich zum Umkehrschluss einlädt; RGZ 36, 93, 94. 67  RGZ 36, 93–96; RGZ 39, 94–102.

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und dann versucht, sich für die erlittenen Ausfälle bei der Bezahlung ihrer Masseforderungen beim Konkursverwalter persönlich schadlos zu halten. Die Redakteure, die seinerzeit am Reichsgericht für die Aufbereitung von Urteilen für die amtliche Sammlung verantwortlich waren, hatten den Tatbestand und die Urteilsgründe drastisch vereinfacht, indem sie einen der fünf Kläger herausgriffen. Um dieses leserfreundliche Vorhaben durchführen zu können, fassten sie den Sachverhalt teilweise neu und strichen den Schlussteil des Urteils zum Schadensumfang ersatzlos. Wer die redaktionelle Schere ansetzte und die Feder führte, ist nicht bekannt. Womöglich war es der Senatspräsident oder der Referent, der die Sache im Senat votiert und den Urteilsentwurf gefertigt hatte. Die vorgenommenen Veränderungen sind insolvenzrechtshistorisch nicht belanglos: Die Urteilsfassung, die der Fachöffentlichkeit zur Kenntnis gelangte, verkürzte die wirtschaftliche Dimension des Rechtsstreits und verharmlost das Ausmaß des Haftungsrisikos, das der Konkursverwalter durch die Fortführung eingegangen war. Nur der Originalsachverhalt führt einen der Gründe vor Augen, warum die Fortführung von Betrieben in der Literatur zur Insolvenzpraxis als besonders risiko- und haftungsträchtig eingeschätzt wird: Ein einzelnes Missgeschick, das dem Verwalter unterläuft, kann unversehens auf eine Vielzahl geschädigter Massegläubiger durchschlagen, deren Ersatzforderungen sich dann existenzvernichtend aufsummen können, wenn keine Haftpflichtversicherung eingreift. Die Textdifferenzen beim ersten Waldbrauerei-Urteil verdeutlichen zugleich, warum es bei Untersuchungen zur Rechtsprechung des Reichsgerichts ratsam ist, die Urteilsabschriften, wann immer verfügbar, einzubeziehen. Diese Erweiterung der Quellenbasis ist zumindest in allen Fällen geboten, in denen gedruckt nur stark gekürzte Urteilsauszüge zur Verfügung stehen. Dies betrifft zum Beispiel die heute fast vergessene Sammlung des Reichsgerichtsrats Friedrich Wilhelm Adalbert Bolze zur Praxis des Reichsgerichts in Zivilsachen; diesem Herausgeber hatte ein Gedanke vor Augen gestanden, der aus heutiger Sicht kurios anmutet: Die Dokumentation der Entscheidungspraxis in Anlehnung an die Digestenfragmente des Corpus Iuris Civilis. 68 In inhaltlicher Hinsicht von besonderem Interesse ist das zweite Waldbrauerei-Urteil, eine ungewöhnlich umfangreiche, dicht begründete Entscheidung. Allen Anlass zu sorgsamer Argumentation hatte der VI. Zivilsenat schon deshalb, weil seine Entscheidung trotz fast identischen Sachverhalts69 und identi68  Friedrich Wilhelm Albert Bolze, Die Praxis des Reichsgerichts in Civilsachen, Bd. 1, Leipzig 1886, Vorwort. Zu dieser Quelle in einer Rechtsprechungsanalyse s. Falk, Windscheid (wie Fn.  5), S.  210–214. 69  Der VI. ZS wies im Kontext der etwaigen Pflicht zur Vorlage beim Großen Zivilsenat darauf hin, dass in den beiden Fällen nicht in sämtlichen Punkten der gleiche Sachstand vorgelegen habe: Das Urteil des III. ZS habe keine Angabe zum Zeitpunkt der Fälligkeit der klägerischen Forderung enthalten. Außerdem habe der Beklagte des ersten Prozesses keinen Einwand erhoben, dass sein etwaiger Rechtsirrtum entschuldbar sei, RGZ 39, 94, 102.

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scher Normenlage in Begründung wie Ergebnis ganz anders ausfiel. Dieser Begründungsaufwand trug Früchte: In einem Urteil vom Juni 1899 schloss sich der III. Zivilsenat der Rechtsauffassung des VI. Senats ausdrücklich an und hielt daran in einer weiteren Entscheidung vom Dezember 1899 fest. Diese beiden Urteile, die nicht in die amtliche Sammlung gelangten, wurden in einer Fachzeitschrift fast im Volltext veröffentlicht.70

IV.   Konkursrechtshistorischer Kontext 1.  Vorbemerkung zur Charakteristik der RG-Rechtsprechung Aber auch das erste Waldbrauerei-Urteil lohnt nicht nur wegen der Textdifferenzen, sondern auch in methodischer Hinsicht genaue Lektüre. Eine Gemeinsamkeit beider Urteile sei hier vorgreifend betont: Von einer positivistischen und begriffsjuristischen Methodik kann überhaupt keine Rede sein. Dieser Befund bietet einen weiteren Einzelbeleg für eine generelle Einsicht, die inzwischen als gesichert gelten darf: Diese Kennzeichnungen, die im älteren Schrifttum vorherrschten, führen auch für die Judikatur des Reichsgerichts in die Irre. Das gilt auch für jene Phase, in der eine gesetzespositivistische Ausrichtung noch bei Weitem am nächsten liegt, für die ersten vierzehn Jahre nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs (1900–1914).71 Bei dieser Feststellung ist auf ein Missverständnis hinzuweisen. Im gewaltigen Fundus der reichsgerichtlichen Judikatur begegnen selbstverständlich auch 70  RG, Urteil vom 16.6.1899, Rep. III 56/1899, mitgeteilt in: Beiträge zur Erläuterung des Deutschen Rechts, hrsg. von Rassow/Küntzel/Eccius, begründet von Gruchot, 6. Folge, 5. Jahrgang, 1901, Nr.  154, 1182, 1183. Weggelassenen wurde außer dem Urteilskopf und den Anträgen der Parteien nur der letzte Absatz der Entscheidungsgründe, der sich mit nachgeschobenem Vortrag der unterlegenen Klägerin befasste (Blatt 3 der Urteilsabschrift). RG, Urteil vom 15.12.1899, Rep. III 240/1899, mitgeteilt in: Beiträge zur Erläuterung des Deutschen Rechts, 6. Folge, 4. Jahrgang, 1900, Nr.  155, 1224, 1225 = JW 1900, 73. Hier wurden nur der Urteilskopf und die Parteianträge entfernt; die Entscheidungsgründe sind im Volltext publiziert (Blatt 2–4 der Urteilsabschrift). 71  Reichliches Belegmaterial ist versammelt bei Ulrich Falk / Heinz Mohnhaupt, Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter. Zur Reaktion der Rechtsprechung auf die Kodifikation des deutschen Privatrechts (1896–1914), Frankfurt a. M. 2000; eindeutig sind auch die Befunde, die Bohrer, Morscher Baum (wie Fn.  12) dokumentiert. In methodischer Hinsicht ist für die strafrechtliche Judikatur des RG lesenswert Milos Vec, Der Stromklau vor dem Reichsgericht, in: Fälle aus der Rechtsgeschichte, hrsg. von Falk/Luminati/Schmoeckel, Fälle aus der Rechtsgeschichte, München 2008, S.  284–306; vgl. auch Anja Amend, Bankert, Bastard, Wechselbalg – ein Urteil des Reichsgerichts zum Erbrecht nichtehelicher Kinder, ebenda, S.  266–283. Dieses Urteil kann man mit guten Gründen als sehr fragwürdig erachten, nicht aber wegen seiner Methodik, sondern wegen seiner entscheidungsleitenden rechtspolitischen Grundlinie; zu diesem Problemkomplex s. auch Ulrich Falk, Consilia. Studien zur Praxis der Rechtsgutachten in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2006, S.  63–68, 279 ff., 361 ff.

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immer wieder einzelne Urteile, deren Begründungen in methodischer Hinsicht viel zu wünschen übrig lassen. Diese Begründungsdefizite kann man durchaus mit Begriffen wie „gesetzespositivistisch“, „wortlautfixiert“, „folgenblind“, „formaljuristisch“ oder „begriffsjuristisch“ belegen. Die Benutzung solcher Argumente gehört zum rechtspraktischen Standardrepertoire revisionsrichterlicher Entscheidungsdarstellung, vereinfacht den Begründungsgang, zumal bei hoher Geschäftslast und chronischem Zeitmangel. Mitunter kaschieren sie auch Unsicherheit oder gar Ratlosigkeit in der Sache. Ein Kennzeichen der Rechts­ praxis „des Reichsgerichts“ im Ganzen sind sie nicht.

2. Betriebsfortführung Die beiden Waldbrauerei-Urteile des Reichsgerichts sind sehr unterschiedlich ausgefallen. Ihr normativer Ausgangspunkt war aber – insoweit ist der näheren Betrachtung der Urteile vorauszugreifen – identisch: Die Fortführung des Betriebs war als solche kein denkbarer Anknüpfungspunkt für eine etwaige Schadenersatzpflicht des Konkursverwalters persönlich, und ebenso wenig war es die Eingehung der neuen Masseverbindlichkeiten durch den Kauf von Hopfen.72 Diese Prämisse mutete seinerzeit so selbstverständlich an, dass sich nicht nur im klageabweisenden Urteil des III. Zivilsenats kein Hinweis findet. Auch für den VI. Zivilsenat, der die Klage als grundsätzlich begründet erachtete, lag hier kein denkbarer Haftungsgrund. Und sogar die anwaltlichen Vertreter der klagenden Händler hatten dem Verwalter im prozessualen Vortrag keineswegs die Betriebsfortführung oder die Eingehung der Kaufverträge – also neuer Masseverbindlichkeiten – zum Vorwurf gemacht. Man stritt allein über die Rechtsfrage, ob dem Konkursverwalter ein Versäumnis bei der späteren Aufhebung des Konkursverfahrens anzulasten war.73 Das Schweigen der Urteilsgründe ist – rechtshistorisch gedeutet – ein ausgesprochen beredtes. Nicht ausschließen kann man freilich, dass die verfahrensrechtliche Besonderheit des Waldbrauerei-Falls – die anhängige und obendrein erfolgreiche Beschwerde gegen den Eröffnungsbeschluss – prozesspsychologisch eine Rolle spielte: Durfte man dem Verwalter fairerweise zum Vorwurf machen, ein Unternehmen fortgeführt zu haben, über das der Konkurs zu Unrecht eröffnet worden war? 72  Guter Überblick über die in diesem Zusammenhang rechtsdogmatisch gebotenen Unterscheidungen (Massehaftung/persönliche Haftung; rechtsgeschäftliche/deliktische Haftung usw.) bei Fritz Baur, Die Eigenhaftung des Konkursverwalters bei Fortführung des gemeinschuldnerischen Betriebs, in: FS Rudolf Bruns, München 1980, S.  241–251, 243. 73  Signifikant in diesem Sinne ist der Auftakt der Entscheidungsgründe in RGZ 36, 93, 94: „Es handelt sich um die Frage, ob der Konkursverwalter im Falle der Wiederaufhebung des Eröffnungsbeschlusses verpflichtet ist, für die Befriedigung bzw. Sicherstellung der Gläubiger zu sorgen, obwohl das Gesetz (…)“.

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Aus diesem Grund sind vergleichbare Fälle zur Betriebsfortführung, die jene Besonderheit nicht aufweisen, von besonderem rechtshistorischem Interesse. In der Rechtsprechung des Reichsgerichts unter Geltung der KO 1879 ist insoweit nur ein veröffentlichtes Urteil des III. Zivilsenats verfügbar. Es datiert vom 15. Dezember 1899 und bietet insoweit einen ganz klaren Befund. Im Konkurs eines Zigarrenfabrikanten hatte das Amtsgericht Hanau einen Kaufmann zum Verwalter ernannt. Auf dessen Bestellung lieferte die Klägerin, wie es im Tatbestand des RG-Urteils heißt, „Materialien (…) zwecks Fortsetzung des Betriebs der Fabrik für Rechnung der Konkursmasse“. Der kaufmännische Verwalter hatte „darauf Theilzahlungen geleistet und Zahlung des Restbetrags in Aussicht gestellt“. Wegen des offen gebliebenen „Rests ihrer Forderung“ nahm ihn die Klägerin später persönlich auf Schadensersatz in Anspruch. Das Oberlandesgericht Kassel wies ihre Klage ab; der III. Zivilsenat verwarf die Revision. In den Urteilsgründen herrscht das gleiche beredte Schweigen zur Zulässigkeit der Betriebsfortführung und verwalterseitigen Eingehung neuer Masseschulden.74

3.  Haftung des Konkursverwalters im 20. Jahrhundert (Überblick) Beobachtungen dieser Art könnten den Tübinger Rechtswissenschaftler Fritz Baur (1911–1992) im Jahr 1963 zu einer bemerkenswerten Feststellung bewogen haben: Noch niemand sei bislang auf den Gedanken verfallen, den Konkursoder Vergleichsverwalter aus der Fortführung des Handelsgeschäfts des Gemeinschuldners persönlich in Anspruch zu nehmen. Zwei Jahrzehnte später sah sich Baur zu einer selbstkritischen Einschränkung genötigt: Mit solchen Feststellungen müsse man „vorsichtiger sein, jedenfalls dann, wenn man von ihrer Tragfähigkeit auch für die Zukunft“ ausgehen wolle: Mehrere Entscheidungen des Bundesgerichtshofs seien sehr wohl von diesem fragwürdigen Gedanken geleitet.75 In der historischen Rückschau springt ins Auge, dass der Konkursverwalter im Zigarrenfabrik-Fall jenen Weg einschlug, der in der heutigen Praxis der Unternehmensinsolvenz als wünschenswert gilt: Keine voreilige Stilllegung und Zerschlagung des Betriebs, statt dessen der Versuch, die wirtschaftliche Substanz produktiv einzusetzen, um mindestens die Insolvenzmasse zu erhalten und zu mehren, idealerweise aber eine Sanierung in die Wege zu leiten. In der Tat 74  RG, Urteil vom 15.12.1899, Rep. III 240/99, in Auszügen mitgeteilt in: Beiträge zur Erläuterung des Deutschen Rechts, 6. Folge, 4. Jahrgang, 1900, Nr.  155, 1224, 1225 = JW 1900, 73. 75  Baur, Eigenhaftung des Konkursverwalters (wie Fn.   72), S.  241, mit Bezugnahme auf ders., Der Testamentsvollstrecker als Unternehmer, in: FS Hans Dölle, Tübingen 1963, S.  249– 271, und kritischem Hinweis auf BGH NJW 1980, S.  55 f., und Friedrich Weber, Zur persönlichen Verantwortlichkeit des Konkursverwalters, in: FS Friedrich Lent, München/Berlin 1957, S.  301–324 (316–321).

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kam es nicht zur Liquidation des Unternehmens. Das eröffnete Konkursverfahren wurde nach Zustandekommen eines Zwangsvergleichs wieder aufgehoben. Dass der anwaltliche Konkursverwalter der Waldbrauerei-AG die Fortführung dem bisherigen Geschäftsleiter anvertraut hatte, mag dem heutigen Betrachter in der Sache wie eine Eigenverwaltung durch den Schuldner „unter der Aufsicht eines Sachwalters“ (§  270 Abs.  1 InsO) anmuten. Allerdings bleibt im Waldbrauerei-Fall auch insoweit die Besonderheit zu bedenken, dass die Konkurseröffnung mit einem Rechtsmittel angegriffen worden war. An eine schuldnerische Eigenverwaltung lässt aber auch der Sachverhalt denken, der einem Urteil des Oberlandesgerichts Köln vom Januar 1909 zugrunde lag: Im Konkurs eines Kaufmanns beschloss die erste Gläubigerversammlung, das Geschäft unter Beibehaltung des Gemeinschuldners als Betriebsleiter fortzusetzen. Als die Masse durch sein Versehen einen Verlust erlitt, berief der Konkursverwalter eine weitere Gläubigerversammlung ein. Diese „aber beschloss, es sei das Geschäft auf unbestimmte Zeit und auch weiterhin unter der Leitung des Gemeinschuldners als Betriebsleiter fortzusetzen.“76 Die Fortführung erwies sich freilich als Fehlschlag. Das Verfahren musste schließlich wegen „Mangels an Masse“ eingestellt werden. Auch hier nahm eine Klägerin, welche die Konkursmasse mit Waren beliefert hatte, den Verwalter für ihren Ausfall persönlich in Anspruch. Die Urteilsgründe, mit denen das Oberlandesgericht die Verwalterhaftung verneinte, verdienen wegen ihrer Grundsätzlichkeit besondere Aufmerksamkeit. Streckenweise lesen sich die Gründe wie eine Vorwegnahme der Kritik von Fritz Baur und der ihm folgenden, späteren Judikatur des Bundesgerichtshofs. Bekanntlich hat der IX. Zivilsenat des BGH in zwei grundlegenden Urteilen vom Dezember 1986 und April 1987 eine Selbstkorrektur der BGH-Rechtsprechung vorgenommen, erklärtermaßen „in Anlehnung an die Ausführungen von Fritz Baur“.77 Dabei fasste der IX., für das Insolvenzrecht zuständige Senat die bisherige, von ihm nunmehr verworfene Leitlinie so zusammen: Unzutreffend sei der BGH davon ausgegangen, dass der Konkursverwalter die Masse schnellstmöglich verwerten müsse und deshalb einen Betrieb nur ausnahmsweise zu eng begrenzten Zwecken kurzfristig fortführen dürfe. Zudem habe der BGH bislang gefordert, dass der Verwalter selbst in einem solchen Ausnahmefall neue Masseansprüche – etwa durch den Abschluss von Kaufverträgen – nur begründen dürfe, wenn gegen ihre Befriedigung aus der Masse nach sorgfältiger Prüfung aller Umstände keine Bedenken bestünden. Diese Grundsätze 76  OLG Köln, Urteil des 10. ZS vom 26.11.1909, in Auszügen mitgeteilt in: Leipziger Zeitschrift für Handels-, Konkurs- und Versicherungsrecht [LZ], 1909, S.  406 f., 406. 77  BGHZ 100, 346, 350; BGHZ 99, 151, 153; vgl. Karsten Schmidt, Zur Haftung des Konkursverwalters gegenüber Vertragspartnern – Bemerkung zum BGH-Urteil vom 14.4.1987 – IX ZR 260/86, in: ZIP 1988, S.  7–11; Wolfgang Lüke, Die Haftung des Konkursverwalters gegenüber vertraglichen Neumassegläubigern – BGHZ 100, 346; in: JuS 1990, S.  451–454.

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hätten, wie der Senat rückschauend einräumte, die Verwalter einseitig mit dem Risiko des Scheiterns betriebswirtschaftlich sinnvoller Unternehmensfortführungen belastet.78 Umgekehrt sei die Gegenseite, die sich auf Geschäfte mit dem fortführenden Konkursverwalter eingelassen hatte, ohne ersichtlichen Grund privilegiert worden: Sie seien durch die allseits bekannte Tatsache der Konkurs­ eröffnung gewarnt gewesen und hätten sich der eingegangenen Risiken, insbesondere einer Masseunzulänglichkeit, bewusst sein müssen. Die korrekturbedürftigen Grundsätze hätten den Konkursverwalter damit ohne Grund einer schärferen Haftung ausgesetzt als andere „Vertreter fremder Interessen“, etwa den Nachlassverwalter.79 Die neue BGH-Rechtsprechung hatte ihrerseits nur vorübergehend Bestand. Der Reformgesetzgeber führte zum 1. Januar 1999 einen zusätzlichen Haftungstatbestand ein, der die allgemeine Haftungsnorm des §  60 InsO in seinem Anwendungsbereich als lex specialis verdrängt.80 Der Verwalter ist grundsätzlich allen Beteiligten am Verfahren zum Schadensersatz verpflichtet, wenn er insolvenzspezifische Pflichten schuldhaft verletzt (§  60 Abs.  1 InsO). Gesetzlicher Maßstab des Verschuldens ist die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters. Die Haftung nach §  61 InsO droht dem Verwalter, wenn er durch seine Rechtshandlungen neue Masseverbindlichkeiten begründet, die aus der Insolvenzmasse nicht voll erfüllt werden können (§  61 Satz  1 InsO). Von dieser Haftungslage verspricht man sich einen intensiven Anreiz zu korrekter Amtsführung.81 Von erheblichem Vorteil für geschädigte Massegläubiger ist die neue Anspruchsgrundlage vor allem wegen der günstigeren Verteilung der Darlegungsund Beweislast gegenüber der allgemeinen Vorschrift des §  60 InsO.82 Damit hängt es zusammen, dass sich §  61 InsO – so die Feststellung des BGH-Richters Gerhard Pape – „innerhalb kurzer Zeit zu einer der am meisten gefürchteten Vorschriften der InsO entwickelt hat“, was sich in der Vielzahl veröffentlichter Entscheidungen spiegelt.83 Nach §  61 Satz  2 InsO ist der Schadensersatzan78 

BGHZ 99, 151, 154 f. BGHZ 100, 346 (351). 80  Ernst Jaeger (Begr.)/ Walter Gerhardt, Insolvenzordnung, Bd. 2, Aufl. 2007, §  61 Rn.  5. 81  So z. B. Gerhard Pape, Qualität durch Haftung? – Die Haftung des rechtsanwaltlichen Insolvenzverwalters, in: ZInsO 2005, S.  953–964; Dominik Kallweit, Die Eigenhaftung des Insolvenzverwalters für prozessuale Masseverbindlichkeiten, Baden-Baden 2005, S.  25–28. 82  BGHZ 159, 104, 120; Jaeger/W. Gerhardt, InsO (wie Fn.  8 0), §  61 Rn.  23. Zur Auslegung von §  61 InsO z. Bsp. Ullrich Ehrenberg, Haftungsrisiko des Insolvenzverwalters, Hamburg 2009; Benjamin Webel, Die Haftung des Insolvenzverwalters für Masseverbindlichkeiten im Rahmen des §  61 InsO, Berlin 2008. Als Bsp. für eine scharfe Handhabung in der instanzgerichtlichen Judikatur s. LG Hamburg, UV-Recht Aktuell 2007, S.  1078–1083, und AG Wedding, ZMR 2008, S.  751–754; dazu in auffallendem Kontrast LG Stuttgart, NZI 2008, S.  4 42– 444. 83  Gerhard Pape, Keine Verschärfung der Haftung aus §  61 InsO bei fehlerhafter Verteilung der Masse durch den Insolvenzverwalter, in: ZInsO 2004, S.  605–607, 605. 79 

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spruch gegen den Insolvenzverwalter (nur dann) ausgeschlossen, wenn er substantiiert vortragen und nötigenfalls beweisen kann, dass er bei Begründung der Masseverbindlichkeit nicht erkennen konnte, dass die Masse voraussichtlich zur Erfüllung nicht ausreichen würde. Dem Urteil des OLG Köln hatte die Redaktion der Zeitschrift, die das Urteil veröffentlichte, einen Orientierungssatz vorangestellt, der vor diesem Hintergrund bemerkenswert anmutet: „Unter welchen Umständen haftet der Konkursverwalter, der das Geschäft des Gemeinschuldners durch diesen selbst fortführen lässt, dafür, dass diejenigen Massegläubiger, die für das fortgeführte Geschäft Waren geliefert haben, Befriedigung aus der Konkursmasse erhalten. (OLG Cöln, X. ZS vom 26. Jan. 1909)“? 84

Die Klägerin hatte in jenem Fall ihre Schadensersatzforderung damit begründet, der Verwalter habe sich „bei der Bestellung der Waren nicht genügend darüber vergewissert, ob die Masse imstande sein werde, den Kaufpreis aufzubringen“. Diesen Vorwurf wies das OLG schon im Ansatz zurück: „Und wie es im allgemeinen Sache des Verkäufer ist, sich über die Zahlungsfähigkeit des Käufers zu vergewissern, so musste auch im vorliegenden Falle Klägerin selbst diese Vorsicht obwalten lassen. Der Beklagte selbst war ihr gegenüber als Käufer weder zu einer Aufklärung über den Stand der Masse, noch zu einer fürsorglichen Tätigkeit nach der Richtung hin verpflichtet, dass er selbst sich über die Möglichkeit der Mittelbeschaffung zur Begleichung der Kaufpreisforderung Rechenschaft ablegte.“85

Dieses konsequent fortführungsfreundliche Urteil steht in auffallendem Kon­ trast zur rechtspolitischen Wertung des heutigen §  61 InsO. Vor allem springt aber ins Auge, dass es in der konkursrechtlichen Rechtsprechung augenscheinlich schon vor Einführung von §  61 InsO zu tiefgreifenden Veränderungen gekommen ist. Am Anfang der rechtshistorischen Zeitreihe stehen als erste Entscheidungen des Reichsgerichts die beiden Waldbrauerei-Urteile. Hier wurden die Weichen gestellt. Im Schrifttum wurde die Verwalterhaftung seit den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts zunehmend kritisch betrachtet. Man warnte seitdem eindringlich vor einer schädlichen Anreizwirkung: Die Sorge vor ihrer persönlichen Haftung lasse die Verwalter von betriebs- und volkswirtschaftlich wünschenswerten, aber haftungsträchtigen Betriebsfortführungen zurückschrecken. Diese Überlegung hat der Ökonom Klaus Stüdemann im Jahr 1978 mit Blick auf die damalige Rechtsprechung des BGH in aller Schärfe formuliert: Ein Verwalter, der sich kompromisslos „auf Demontage statt auf Wiederherstellung“ von Krisenunternehmen konzentriere, verhalte sich „nicht anders als rational“; wenn er die Zerschlagung „womöglich noch in optimal kurzer Zeit“ vollbringe, handele er 84  OLG Köln, Leipziger Zeitschrift für Handels-, Konkurs- und Versicherungsrecht [LZ] 1909, S.  406; Sperrung im Original, in dem auch das zu erwartende Fragezeichen fehlt. 85  OLG Köln, LZ 1909, S.  406.

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vollkommen „anforderungs- und erwartungsgemäß“.86 Diese Sorge hatte durch eine Veränderung der BGH-Judikatur seit 1986/87 vorübergehend an Gewicht verloren. Die Insolvenzrechtsreform verlieh ihr durch die Einführung von §  61 InsO neue Impulse. 87 Die ursprüngliche Konkursordnung enthielt nur eine wortkarge, altertümlich anmutende Vorschrift (§  74 KO 1879): „Der Verwalter hat die Sorgfalt eines ordentlichen Hausvaters anzuwenden.“88

Praxis und Lehre hielten es seinerzeit für ausgemacht, dass diese Norm nicht nur den Maßstab des Verschuldens festlegte, sondern stillschweigend auch eine Anspruchsgrundlage beinhaltete. Von dieser Prämisse ging die Kommentierung von Petersen/Kleinfeller so selbstverständlich aus, dass sie sogar jede entsprechende Feststellung unterließen. Ebenso verfuhren beide RG-Senate in den Waldbrauerei-Urteilen. Niemand, auch nicht dem beklagten Konkursverwalter, war es in den Sinn gekommen, dass §  74 KO 1879 womöglich nur das Maß der geschuldeten Sorgfalt, nicht aber einen Anspruch auf Schadensersatz bei Verletzung dieser Sorgfalt gewähren könnte. Man ging stillschweigend darüber hinweg, dass der Gesetzgeber im Streben nach maximaler Prägnanz auf einen klarstellenden Zusatz verzichtet hatte. Dagegen hatte §  81 des Entwurfs zur Gemeinschuldordnung, der dem Entwurf zur Konkursordnung im Gesetzgebungsverfahren vorausging,89 noch eine entsprechende Formulierung vorsehen wollen. §  81 jenes Entwurfs, der im November 1873 veröffentlicht wurde, lautete: „Der Gemeinverwalter und dessen Stellvertreter haben die Sorgfalt anzuwenden, welche ein ordentlicher Hausvater auf seine Angelegenheiten verwendet, und haften für allen Schaden, der aus der Versäumung dieser Sorgfalt entsteht.“90

86  Klaus Stüdemann, Die Haftung des Konkursverwalters bei Fortführung des Unternehmens – Ein Beitrag zur Reform der Konkursabwicklung, in: Die Wirtschaftsprüfung [WP] 1978, 413 f. 418 f.; unter exemplarischem Hinweis auf das BGH-Urteil vom 27.2.1973, KTS 1973, 251 = WM 1973, 556. 87  Dazu z. B. Gero Fischer, Die Haftung des Insolvenzverwalters nach neuem Recht, in: WM 2004, 2185–2189; Sabine Feuerborn, Rechtliche Prüfung der Unternehmensfortführung durch den Sequester und den vorläufigen Insolvenzverwalter, in: KTS 1997, S.  171–210, 206 f.; Wolfgang Lüke, Über die Haftung von (vermeintlichen) Propheten, in: FS Gerhardt, 2004, S.  599–619; Heinrich Schoppmeyer, Die Haftung des Insolvenzverwalters nach §  61 InsO – Kontinuität oder Bruch mit der bisherigen Rechtsprechung?, in: FS Gerhart Kreft, Recklinghausen 2004, S.  525–542. 88  Zum Maßstab des ordentlichen Hausvaters, der die Polemik vieler BGB-Kritiker befeuerte, HKK-Schermaier, Bd. II, Teilband 1, München 2007, §§  276–278 Rn.  79. 89  Dazu im Überblick Meier, Geschichte (wie Fn.  15), S.  134–158. 90 Dazu Wolfgang Lüke, Die persönliche Haftung des Konkursverwalters, 2.  Aufl. 1986, S.  71 f.; Hahn, Materialien IV (wie Fn.  22), S.  14, 281, 306. Den letzten Stand der pVV-Praxis vor Inkrafttreten der Schuldrechtsreform dokumentiert Palandt-Heinrichs, Bürgerliches Gesetzbuch, 61.  Aufl., München 2002, §  276 Rn.  104–129.

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In gleicher Weise wie §  74 KO 1879 – also als Haftungsmaßstab und Anspruchsnorm in Einem – hatte das Reichsgericht §  276 BGB 1900 ausgelegt,91 bevor es sich der Lehre von Hermann Staub über „Die positiven Vertragsverletzungen und ihre Rechtsfolgen“92 anschloss. Hier war der Normtext, der zum 1. Januar 1900 in Geltung trat, folgender: „Der Schuldner hat, sofern nicht ein anderes bestimmt ist, Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten“.

Staub (1856–1904), ein erfolgreicher Berliner Anwalt und Gesetzeskommentator,93 hatte seit 1902 effektvoll die These vertreten, im Allgemeinen Schuld­ recht des BGB klaffe eine gewaltige Haftungslücke. Betroffen sah er ausgerechnet Fälle „von der allergrößten Wichtigkeit“, die „im Rechtsleben täglich tausendfach“ vorkämen.94 In der rechtshistorischen Forschung herrscht nahezu Einigkeit darüber, dass seine Lückenbehauptung unzutreffend war. §  276 BGB 1900 sollte nach dem Willen des historischen Gesetzgebers die allgemeine Haftung des Schuldners für jede von ihm zu vertretende Nicht- und Schlechterfüllung begründen, soweit keine verdrängenden Sonderregeln, etwa zur Unmöglichkeit der Leistung oder zum Schuldnerverzug, eingriffen. Diese Regelungsabsicht war um die Jahrhundertwende noch – so jedenfalls nach Einschätzung von Martin Schermaier im Historisch-kritischen Kommentar – „wohl jedem geläufig, der die gemeinrechtliche Lehre und Praxis kannte“, und damit selbstredend auch dem Reichsgericht.95 Für Schermaiers Einschätzung spricht nicht zuletzt die Parallelität von §  276 BGB 1900 und §  74 KO 1879. Wer die Haftungslücke im Bürgerlichen Gesetzbuch bejahen wollte, musste konsequenterweise auch behaupten, dass die Konkursordnung schon seit 1879 eine ebensolche Regelungslücke aufgewiesen habe. Diesen naheliegenden Einwand überging Staub wortlos. Der Grund für sein Schweigen ist wohl darin zu finden, dass §  74 KO 1879 zeitgleich mit dem Inkrafttreten des BGB zum 1. Januar 1900 durch §  82 KO 1900 ersetzt worden

91  RG, Urt. vom 13.6.1902, Rep. II. 169/02, RGZ 52, 18–20, 19 f.; RG, Urt. vom 19.2.1902, Rep. II. 246/02, RGZ 53, 200–204, 201 f.; RG, Urt. vom 1.12.1905, Rep. VII. 41/05, RGZ 62, 119–122, 120; RG, Urt. vom 9.7.1907, Rep. II. 115/07, RGZ 66, 289–292, 291. 92  Staub, Hermann, Die positiven Vertragsverletzungen und ihre Rechtsfolgen, in: Festschrift für den XXVI. Deutschen Juristentag, hrsg. von Heinrich Dernburg, 1902, 31–56; dazu Hans-Georg Hermann, Mehr Lotse als Entdecker, in: FS Hermann Staub, Berlin 2006, S.  25–41; Hans-Peter Glöckner, in: Das BGB und seine Richter (wie Fn.  71), S.  155–191. 93  Dazu eingehend Jan Thiessen, „Ein ungeahnter Erfolg“ – zur (Rezeptions-) Geschichte von Hermann Staubs Kommentaren, in: FS Hermann Staub, Berlin 2006, S.  55–108. 94  Hermann Staub, Die positiven Vertragsverletzungen, Berlin 1904, S.  5 ; Nachdruck Berlin 2015 (hrsg. von Eberhard Müller). 95 HKK-Schermaier, Bd. II, Teilband 1, 2007, §§   276–278 Rn.  98. Der rechtshistorische Meinungsstand ist aber keineswegs homogen. Die Differenzen zeigt Hermann, Lotse (wie Fn.  92), S.  39 f., auf.

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war. Diese Gesetzesnorm verfügte in Anlehnung an §  154 des Gesetzes über die Zwangsversteigerung mit gleichfalls maximaler Prägnanz: „Der Verwalter ist für die Erfüllung der ihm obliegenden Pflichten allen Beteiligten verantwortlich“.96

Zur rechtspolitischen97 Berechtigung von 74 KO 1879 hieß es bei Petersen/ Kleinfeller: Die Konkursordnung habe mit gutem Grund einen strengen Maßstab gesetzt, denn der Konkursverwalter übernehme sein Amt freiwillig und gegen angemessene Vergütung.98 Deshalb müsse er mehr als nur jene Sorgfalt aufbringen, die er in seinen eigenen Geschäften üblicherweise anwende. Wie im gemeinen römischen Recht müsse er nach dem Haftungsmaßstab des diligens pater familias99 auch für leichtes Verschulden einstehen.100 In ähnlichem Sinne äußerten sich im Jahr 1976 in einer Befragung viele Richter und Rechtspfleger, die an Konkursgerichten tätig waren. Gerade in dieser Haftungsregelung sahen sie einen „großen Vorzug der bestehenden Konkursordnung“. Die unbeschränkte persönliche Verschuldenshaftung sei „rechtlicher Ausdruck der Initiative und Verantwortungsbereitschaft“; allein sie garantiere „einen zügigen und flexiblen Ablauf des Konkursverfahrens“.101 Diese Einschätzung ist umso auffallender, als die befragten Personen zugleich die wirtschaftliche Effizienz der Konkurspraxis sehr pessimistisch bewerteten. Des inneren Widerspruchs, an dem ihre Einschätzungen aus rechtsökonomischer Sicht litten, werden sich die wenigsten dieser Richter und Rechtspfleger bewusst gewesen sein.102 Der Zielkonflikt liegt, rechtsökonomisch betrachtet, offen zu Tage: Verwalter, die eine gesetzliche Haftung fürchten, werden sich im Zweifel nur ungern den gesteigerten Risiken einer Betriebsfortführung aussetzen.103 Ihre defensive 96  Die gleiche Fassung hatte vormals schon §  144 Abs.  3 des Preußischen ZVG vom 13. Juli 1883. Zur Reichweite der Haftung des Zwangsverwalters und der Parallelität zur Haftung des Insolvenzverwalters nach §  60 InsO s. BGH, ZIP 2009, 536–540; BGH, ZinsO 2009, 789–791; s. auch OLG Frankfurt a. M., ZfIR 2008, 804–806; zur KO-Novelle von 1898 im Überblick Meier, Geschichte (wie Fn.), S.  202–204. 97 Zur rechtsdogmatischen Legitimation Lüke, Persönliche Haftung (wie Fn.  9 0), S.  37–74. 98  §  7 7 KO 1877: „Der Verwalter hat Anspruch auf Erstattung angemessener barer Auslagen und auf Vergütung seiner Geschäftsführung (…).“ 99  Zu diesem Haftungsmaßstab im Kontext des BGB von 1900 HKK-Schermaier, Bd. II, Teilband 1, 2007, §§  276–278 Rn.  79. 100  Petersen/Kleinfeller, KO (wie Fn.  26), §  74 Bem. III: In der Sache komme es darauf an, „was ein ordentlicher Verwalter nicht thun oder nicht versäumen“ werde. 101  Gessner u. a., Konkursabwicklung (wie Fn.  29), S.  121. 102  Gessner u. a., Konkursabwicklung (wie Fn.   29), S.  110, vermuten, dass „viele Richter und Rechtspfleger nur aus Loyalität gegenüber Gesetz und Gesetzgeber vermieden haben, dem Konkursverfahren die schlechtest mögliche Note zu geben“. 103  Dazu z. B. Sven-Holger Undritz, Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren – Die Quadratur des Kreises?, in: NZI 2007, S.  68–71; Martin Prager / Stephan Kohlmann, Anmerkung zu BGH, Urt. vom 17.12.2004, in: KTS 2005, S.  493–508; Pape, Qualität, 954–956. Zu

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Haltung wird wachsen, wenn die Gerichtspraxis – aus welchen Gründen auch immer – erkennbar zur Strenge neigt. Zu denken ist z. B. an eine fortführungs­ skeptische, rechtspolitisch motivierte Grundhaltung. In Rechnung zu stellen ist, wie bei jeder Fahrlässigkeitshaftung, aber auch der wahrnehmungs- und gedächtnispsychologische Effekt der Rückschauverzerrung (hindsight bias).104 Es scheint also auf der Hand zu liegen, dass eine so ausgestaltete Berufshaftung die Verwalter allzu leicht zu einem konsequent risikoscheuen Verhalten motivieren wird. Der Zusammenhang von Verwalterhandeln und Haftungsrisiko ist allerdings empirisch keineswegs gesichert. Für die realistische Einschätzung des Haftungsrisikos der Verwalter wären verlässliche Informationen auch zur Regulierungspraxis der Versicherer sehr von Interesse; dazu finden sich in der insolvenzrechtlichen Literatur fast keine konkreten Angaben. Zu überraschenden Ergebnissen gelangte eine Studie der sozialwissenschaftlichen Forschungsgruppe am Max Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht. Veröffentlicht wurde diese rechtssoziologische Untersuchung, die im Auftrag des Bundesjustizministeriums entstand, im Jahr 1978. In einem Teilprojekt beinhaltete sie eine anonymisierte Befragung von 345 Konkursverwaltern, die im Laufe ihrer Berufspraxis insgesamt 13782 Verfahren betreut hatten. Als eines der größten Hindernisse, das einer vernünftigen Konkursabwicklung entgegenstände, bezeichneten sie das Haftungsrisiko. Erstaunlicherweise hatten aber nur 19 dieser Personen tatsächlich jemals einen Haftungsfall erlitten; die Gesamtsumme der Haftungsfälle belief sich auf 24 und damit auf 0,17% aller Verfahren. Auch die Schadenssummen hielten sich in Grenzen; ihr Durchschnitt lag bei 7188 DM. Vor allem aber war in sämtlichen Fällen eine Haftpflichtversicherung105 eingetreten.106 Im Ergebnis sprach die Studie von einer „objektiv äußerst geringen Inanspruchnahme der Konkursverwalter bzw. ihrer Versicherungen“. Es verbleibe nur ein latentes Risiko, das aus der Existenz der gesetzlichen Haftungsnorm und ihrer „eher extensiv zu nennenden“ Anwendung durch den BGH erwachse.107 Daran schloss sich die Evidenzbehauptung an, dass diese Rechtslage eine zweckdienliche Verwalterarbeit „ohne Zweifel sehr stark“ behindere. Wenn §  82 KO z. B. Karsten Schmidt, «Amtshaftung» und «interne Verantwortlichkeit» des Konkursverwalters – Eine Analyse des §  82 KO, in: KTS 1976, S.  191–211; Uhlenbruck, FS Hanisch, 1994, 282 f.; anders Adam, DZWIR 2006, 324. 104  Ulrich Falk, Urteilsverzerrungen: hindsight bias und anchoring. Einleitende Fragen zu einem interdisziplinären Problem, in: Vincere Scis, Victoria Uti Nescis. Aspekte der Rückschauverzerrung in der Alten Geschichte, hrsg. von Kai Brodersen, Berlin 2008, S.  9 –17. Zur Rückschauverzerrung im Kontext der haftungsrechtlichen RG-Judikatur s. Bohrer, Morscher Baum (wie Fn.  12), S.  243–266 Vor solchen Verzerrung sind auch Historiker nicht gefeit; dafür bieten die Beiträge im Sammelband des Althistorikers Brodersen schöne Beispiele. 105 Dazu Kallweit, Eigenhaftung (wie Fn.  81), S.  208–215. 106  Gessner u. a., Konkursabwicklung (wie Fn.  29), S.  216 f.; dazu Lüke, Persönliche Haftung (wie Fn.  9 0), S.  2. 107  Gessner u. a., Konkursabwicklung (wie Fn.  29), S.  216 f.

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dem tatsächlich so ist, bedarf es zur Erklärung der erstaunlichen Wirkung eines nur »gefühlten« Haftungsrisikos der Einbeziehung der Ergebnisse der experimentellen Wahrnehmungspsychologie, insbesondere der Verlustaversion (loss aversion).108 Sehr rational kann die Sorge sein, durch bekannt werdende Haftungsfälle mittelbar einen Schaden zu erleiden: Gerichte können dies zum Anlass nehmen, den betroffenen Verwalter von der Vergabe attraktiver Insolvenzen auszunehmen oder gar von Auswahllisten zu streichen. Zu bedenken bleibt auch die hohe Publizität der veröffentlichten Entscheidungen des obersten Zivilgerichts. Selbst die korrigierenden Urteile des IX. Zivilsenats von 1986/87 konnten vorsichtigen Insolvenzpraktikern durchaus noch zu denken geben: Die Klageforderungen beliefen sich auf hohe Summen (229534 DM / 87992 DM). Unberührt blieb die persönliche Einstandspflicht zumindest für den Fall, dass dem Verwalter die Verletzung der „Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters“ zur Last fiel.109 Die Wahrung dieses Standards ist unter den ungünstigen Rahmenbedingungen, die in insolventen Unternehmen in aller Regel anzutreffen sind, kein leichtes Unterfangen: 110 Dem akuten Krisenmanagement „im allgemeinen Durcheinander der ersten Tage“ nach Eröffnung des (vorläufigen) Insolvenzverfahrens muss die „gründliche und oft langwierige Durchleuchtung der gesamten geschäftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des insolvent gewordenen Unternehmens folgen“.111 Gleichzeitig bleibt bei den strategischen Entscheidungen aber fast immer Eile geboten; dies wiederum wird erschwert durch den meist unzuverlässigen, mitunter fast chaotischen Zustand der schuldnerischen Geschäftsvorgänge und Unterlagen.

4.  Fortführungs- und Sanierungsfreundlichkeit (auch) der KO 1879 In der Bundesrepublik Deutschland hat sich im insolvenzrechtlichen Schrifttum und auch in der Gesetzgebung seit Mitte der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts immer mehr eine betont fortführungs- und sanierungsfreundliche Grundhaltung durchgesetzt. Einen vorläufigen Höhepunkt hat diese rechtspolitische Ausrichtung mit dem „Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen“ (ESUG) erreicht, das im März 2012 in Geltung getreten ist. Die 108 Dazu

Falk, Konkursübel (wie Fn.  6), S.  282–284. 99, 151 (Leitsatz 1). Nach Einschätzung von Heinz Vallender, Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Konkursverwalterhaftung, in: ZIP 1997, S.  345–354, 354, blieb das Haftungsrisiko gleichwohl beträchtlich, wurde aber immerhin kalkulierbarer. Im Einzelfall kann die Haftungssumme leicht noch weit höher ausfallen; z. B. LG Berlin, ZInsO 2008, 1027–1032: Verurteilung wegen Verletzung eines Absonderungsrechts an einem sicherungsübereigneten Warenbestand in Höhe von 1338344 Euro. 110  Diesen Gesichtspunkt betont mit gutem Grund Fischer, Haftung (wie Fn.  87), S.  2187. 111  So die Formulierung des Berliner Insolvenzrichters Rudolf Baade, Zur Auswahl der Konkurs- und Vergleichsverwalter, KTS 1959, S.  40 ff., 42. 109  BGHZ

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durchaus zweischneidigen Instrumente, deren sich der wagemutige Reformgesetzgeber bedient – zum Beispiel das Schutzschirmverfahren (vgl. §  270b InsO) – harren jetzt ihrer ersten wissenschaftlichen Evaluierung. Darauf darf man gespannt sein. Den ersten harten Anstoß in die sanierungsfreundliche Richtung hatte der Schock der ersten Ölkrise gegeben; die Zahl der Unternehmensinsolvenzen und der Langzeitarbeitslosen war in den Jahren 1974/75 enorm gewachsen; eingeläutet wurde seinerzeit „Das Ende des Wirtschaftswunders“.112 Seitdem haben die gefürchteten Insolvenzwellen hunderttausende Unternehmen zu Fall gebracht. Die gut gemeinten Anstrengungen des Gesetzgebers sind aus dieser Perspektive nur zu verständlich. Als negative Kontrastfolie benutzt das Schrifttum ein abschreckendes Bild des traditionellen Konkursrechts. Der Konkursordnung habe die sanierungsfeindliche Prämisse zugrunde gelegen, dass „die wertezerschlagende Liquidation von Unternehmen immer die richtige Lösung“ sei, um das Problem der Unternehmensinsolvenz zu bewältigen.113 Diese konzeptionelle Fehlentscheidung habe das dynamische Potential verkannt, das in der Fortführung von Krisenunternehmen liege.114 Das Gesetz sei „so eng an der Vorstellung einer unvermeidlichen Unternehmenszerschlagung orientiert gewesen, dass es keine nennenswerten Chancen zur Rettung sanierungsfähiger Krisenunternehmen geboten habe.“115 Damit habe das Konkursverfahren, obwohl „von jeher als unwirtschaftliches Mittel“ durchschaut, als „Wertevernichter schlimmster Art“ gewirkt.116 Diese Kontrastierung zielt auf eine diachrone Selbstidentifikation der Insolvenzrechtslehre und Gesetzgebung in der jüngeren Bundesrepublik Deutschland. Die insolvenzrechtliche Praxis skizziert hier ihre eigene, positiv wahrgenommene Identität auf dem Rücken des wehrlosen Vorgängers, des historischen Prügelknabens. Diesen schminkt man sich so zurecht, wie es dem Bedürfnis der Selbstdarstellung am meisten entspricht. Zum Gelingen trägt bei, dass man, was die Selbstwahrnehmung angeht, durchaus in gutem Glauben handelt. Es ist die wissenschaftliche Aufgabe der Rechtsgeschichte, als Teildisziplin sowohl der 112  Aus wirtschaftspolitischer Perspektive dazu das gleichnamige Buch von Gérard Bökenkamp, Das Ende des Wirtschaftswunders. Geschichte der Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Bundesrepublik 1969–1998, Stuttgart 2010; kritische Rezension durch Rainer Karlsch, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-4-108.pdf. Aus dem damaligen Schrifttum zum Insolvenzrecht s. zum Bsp. Wilhelm Uhlenbruck, Zur Krise des Insolvenzrechts, in: NJW 1975, S.  897–903, 899. 113  Gerhard Pape / Wilhelm Uhlenbruck, Insolvenzrecht, München 2002, S.  11, Rn.  9 ; unverändert auch in Gerhard Pape / Wilhelm Uhlenbruck / Joachim Salus-Voigt, Insolvenzrecht, 2.  Aufl. München 2010, S.  9, Rn.  1. 114  Stüdemann, Haftung (wie Fn.  86), S.  413–425. 115  R. Schmidt, Ökonomische Analyse (wie Fn.  62), S.  79. 116  Uhlenbruck, Krise (wie Fn.  112), S.  897; Ernst Jaeger, Lehrbuch des Deutschen Konkursrechts, 8.  Aufl. 1932, S.  216.

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Rechtswissenschaft wie der Geschichtswissenschaft, dem zu widersprechen, auch wenn sie dadurch zum Spielverderber wird. Diese Zusammenhänge habe ich in der Savigny-Zeitschrift vor zwei Jahren bereits eingehend dargelegt. Wiederholungen würden den Rahmen meines ohnehin allzu langen Festschrift-Beitrags vollends sprengen. Jene Leser, die dem Glaubenssatz von der angeblichen Sanierungsfeindlichkeit der KO 1879 anhängen, bitte ich sehr darum, sich mit den Quellen und Argumenten, die ich dort dargelegt habe, inhaltlich auseinanderzusetzen. Ein pauschales Bestreiten meiner Thesen unter Berufung auf eigene Erfahrungen in der Konkurspraxis in der Bundesrepublik Deutschland seit den 70er-Jahren, als es zum vielbeklagten Konkurs des Konkurses gekommen ist,117 genügt nicht. Meine Kernthesen lauten: (1) Die Konkursordnung hielt mit dem Zwangsvergleich ein Instrument vor, das die Erhaltung sanierungsfähiger schuldnerischer Unternehmen selbst gegen den Widerstand einer Minderheit der betroffenen Konkursgläubiger ermöglichen sollte (§§  160–187 KO 1879; §§  173–201 KO 1900). Der rechtliche Zwang, der gegen die Minderheit ausgeübt wird, die sich einem mehrheitlichen Fortführungs- und Sanierungsversuch widersetzt, erklärt die Begriffsbildung. Heutige Experten des Marketings würden dem Reichsgesetzgeber von dieser unerfreulich klingenden Bezeichnung abgeraten haben. Eine Etikettierung als „Entschuldungs- und Fortführungsvergleich“ wäre ebenso treffend, aber frei von negativen Emotionen. Des Euphemismus „Sanierung“, der sich heute größter Beliebtheit erfreut, hätte es nicht einmal bedurft. (2) Auf diesen Zwangsvergleich setzte die amtliche Gesetzesbegründung zur Konkursordnung aus dem Jahr 1874 große Hoffnungen. Ihr eindringliches Plädoyer war von einer Fortführungsfreundlichkeit getragen, die den Vergleich mit späteren Gesetzgebern, dem ESUG eingeschlossen, nicht zu scheuen braucht. (3) Dieses Instrument hat sich in der Konkurspraxis bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs nach allem Anschein durchaus bewährt. Diese These bedarf aber noch eingehender empirischer Untersuchung auf der Grundlage des statistischen Datenmaterials, das in Auswertung der Veröffentlichungen des Reichsamts für Statistik und der Konkursmitteilungen im Reichsanzeiger zu gewinnen ist. (4) Auf einem wirtschafts- und rechtshistorisch ganz anderen Blatt steht die Praxis des Zwangsvergleichs seit den Großkatastrophen des 20. Jahrhun117 Dazu Falk, Konkursübel (wie Fn.  6). Berechtigte Bedenken gegenüber der rechtspolitischen Wirkung aktueller Reforminitiativen bei Godehard Kayser/Petra Heidenfelder, Vom Konkurs des Konkurses zur Insolvenz der Insolvenz, in: ZIP 2016, 447–451, unter Hinweis auf Falk, Konkursübel (wie Fn.  6), S.  276 (447 Fn.  6); skeptisch und mahnend auch Gerhard Pape, 2016 – das Jahr der Entscheidungen, in: ZInsO 2016, 125–127.

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derts, beginnend mit dem Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, fortgesetzt mit dem Desaster der Weimarer Republik in der Weltwirtschaftskrise und dem völkermordenden Wahnwitz der Naziherrschaft. (5) Durch die Einführung der Vergleichsordnung von 1927/1935, die jener gesetzgeberischen Sorgfalt entbehrte, welche die Konkurskursordnung ausgezeichnet hatte, wurde das Entschuldungs- und Fortführungsmodell des Zwangsvergleichs auch auf der normativen Ebene obsolet.118 (6) Zu den wichtigsten Fehlerquellen des Wahrnehmens und Denkens zählt die Rückschauverzerrung (hindsight bias). Menschen neigen intuitiv zur Überschätzung der Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Ereignisses, sobald sie über das Rückschauwissen verfügen, dass dieses Ereignis tatsächlich eingetreten ist. Dieser „knew-it-all-along effect“119 schlägt auch auf die Bewertung der Konkursordnung durch. Das insolvenzrechtliche Schrifttum in der Bundesrepublik Deutschland glaubt zu wissen, dass das Scheitern der Entschuldungs- und Erhaltungskonzeption der Konkursordnung von Anfang an vorprogrammiert und unvermeidlich gewesen sei. Der Konkurs des Konkurses, bei dem eine Fülle unterschiedlichster Faktoren zusammenkamen – darunter der Strukturwandel des Kreditsicherungsrechts im 20. Jahrhundert mit dem Siegeszug der revolvierenden Globalsicherheiten, die das System des Konkursrechts sprengten – wird dem historischen Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts als Mangel an Voraussicht und legislatives Versagen angelastet. Diese Schuldzuweisung ist eine ahistorische.

5.  Auswahl und Schlüsselrolle des Konkursverwalters Der historische Gesetzgeber stand vor einem Sachzwang: Wollte er dem Gemeinschuldner aus guten Gründen ermöglichen, seine freie Geschäftstätigkeit 118  Skepsis schon bei Ernst Jaeger, Wohin treiben wir? Betrachtungen zum Entwurf eines Gesetzes über den Vergleich zur Konkursabwendung, in: DJZ 1926, 28–32. 119  Vgl. zunächst die Nachweise in Fn.  104; grundlegend Baruch Fischhoff, Hindsight ≠ Foresight: The Effect of Outcome Knowledge on Judgment Under Uncertainty, Journal of Experimental Psychology: Human Perception and Performance, Vol. 1, No. 3, S.  288 ff., 1975. Darauf aufbauend z. B. Hal R. Arkes/ Thomas J. Guilmette/David Faust/Kathleen Hart, Eliminating the Hindsight Bias, Journal of Applied Psychology, Vol. 73, No. 2, S.  305 ff., 1988; Baruch Fischhoff, For those condemned to study the past: Heuristics and biases in hindsight, in: Judgment under uncertainty: Heuristics and biases, Kahneman/Slovic/Tversky, S.  335 ff., 1982; Erin M. Harley, Hindsight Bias in Legal Decision Making, Social Cognition, Vol. 25, No. 1, S.  48 ff., 2007; Kim A. Kamin/Jeffrey J. Rachlinski, Ex Post ≠ Ex Ante: Determining Liability in Hindsight, Law and Human Behavior, Vol. 19, No. 1, S.  89 ff., 1995; Philip G. Peters Jr., Hindsight Bias and Tort Liability: Avoiding Premature Conclusions, 31 Arizona State Law Journal, S.  1277 ff., 1999; Jeffrey J. Rachlinski, A Positive Theory of Judging in Hindsight, 65 The University of Chicago Law Review, S.  571 ff., 1998; Merrie Jo Stallard/Debra L. Worthington, Reducing the Hindsight Bias Utilizing Attorney Closing Arguments, Law and Human Behavior, Vol. 22. No. 6, S.  671 ff., 1998.

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so schnell wie möglich wieder aufzunehmen,120 so durfte er der Fortführung schuldnerischer Betriebe keine Hindernisse bereiten. Zwar mag in Ausnahmefällen ein Erhaltungsvergleich auch dann machbar sein, wenn der Betrieb in den Monaten zwischen der Eröffnung des Konkursverfahrens und seiner Aufhebung nach rechtskräftiger gerichtlicher Bestätigung des Zwangsvergleichs geschlossen bleibt; man denke etwa an ein inhabergeführtes Antiquariat oder ein Antiquitätengeschäft, das weder den Verderb seiner Waren, noch den Verlust von Lieferanten und geschulten Arbeitnehmern zu fürchten braucht. Im Normalfall aber wird die Schließung unumkehrbare Tatsachen schaffen. Die deutsche Konkursordnung setzte auf das wohlverstandene Eigeninteresse der Gläubiger und die Fähigkeiten der Konkursverwalter. Bis zu einer Entscheidung der Gläubigerversammlung stand es im Ermessen des Verwalters, das Geschäft des Gemeinschuldners zu schließen oder fortzuführen (§  118 KO 1879). Der Gesetzgeber machte dem Verwalter dabei keine Vorgaben; von einem richterlichen Genehmigungsvorbehalt sah sie ab,121 „um ein Uebermaß gesetzlicher und richterlicher Fürsorge zu vermeiden“.122 Damit hing viel davon ab, wie es um die Qualifikation und Auswahl der Konkursverwalter in der Praxis bestellt war. Auf die Verwalterarbeit konnte das Gericht, wie es bei Petersen/Kleinfeller heißt, „mittelbaren Einfluss ausüben“123 : Der zuständige Richter konnte einen vorläufigen Gläubigerausschuss ernennen (§  79 Abs.  1 KO 1879),124 dem dann das folgenreiche Wahlrecht zwischen Fortführung und Schließung zufiel (§  118 Abs.  2 Satz  2 KO 1879). Außerdem konnte der Richter auf Antrag die Ausführung eines Schließungs- oder Fortführungsbeschlusses der Gläubigerversammlung untersagen, wenn der Beschluss „dem gemeinsamen Interesse der Konkursgläubiger“ widersprach (§  91 KO 1879). Antragsberechtigt waren der Konkursverwalter und jeder einzelne der in der Abstimmung unterlegenen Gläubiger. Die Fortführung insolventer Unternehmen ist verantwortungsvoll, stellt hohe Anforderungen an die kaufmännischen und organisatorischen Fähigkeiten der Verwalter und ist mit unvermeidlichen Risiken behaftet, die sogar bei optimaler Planung und Durchführung nur begrenzt beherrschbar sind.125 Der 120 Vgl.

Hahn, Materialien IV (wie Fn.  22), S.  348; Falk, Konkursübel (wie Fn.  6), S.  312. legislative Entscheidung nahmen Petersen/Kleinfeller, KO (wie Fn.  26), §§  118– 120, Ziffer II, kühl auf: Das Gesetz habe „absichtlich“ von der unmittelbaren Einbindung des Gerichts abgesehen. 122  Hahn, Materialien IV (wie Fn.   22), S.  358 (dort zur gerichtlichen Bestätigung des Zwangsvergleichs). 123  Petersen/Kleinfeller, KO (wie Fn.  26). 124  §  79 Abs.  1 KO 1879: „Vor der ersten Gläubigerversammlung kann das Gericht aus der Zahl der Gläubiger oder Vertreter von Gläubigern einen Gläubigerausschuß bestellen“. Der Entwurf der KO hatte die Auswahlbefugnis noch auf die „am Ort wohnhaften“ Gläubiger begrenzen wollen. 125  Dazu unter Geltung der KO z. B. Lüke, Persönliche Haftung (wie Fn.  9 0), S.  4 –8. 121  Diese

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Bundesgerichtshof rechnet sie mit vollem Recht zu „den anspruchsvollsten Aufgaben“, die sich Insolvenzverwaltern stellen können.126 Die Insolvenzordnung macht es dem Gericht zur Aufgabe, „eine für den jeweiligen Einzelfall geeignete, insbesondere geschäftskundige und von den Gläubigern und dem Schuldner unabhängige natürliche Person“ zum Verwalter zu bestellen (§  56 InsO). Um die Problematik der Auswahl rankt sich seit Jahren eine vielschichtige, kontroverse, von Interessenvertretern zusätzlich befeuerte Diskussion mit verfassungsrechtlichen Bezugspunkten.127 Selbstverständlich spielen dabei „auch wirtschaftliche Gesichtspunkte“ eine Rolle, zumal mit Blick auf die Vergabe von „Großverfahren mit hohen Vergütungen“.128 Eine spezifische, ausdifferenzierte Berufsqualifikation ist – anders als etwa in England – nicht erforderlich. In Betracht kommen Berufsgruppen wie Juristen, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, diplomierte/graduierte Kaufleute und Betriebswirte, Buchprüfer „und ähnlich vorgebildete Personen“129. In der Praxis fällt die Wahl der zuständigen Amtsgerichte (§  2 InsO) offenbar ganz überwiegend auf Rechtsanwälte; Malte Köster spricht in seiner rechtsvergleichenden Dissertationsschrift zur Auswahl des Insolvenzverwalters davon, dass die deutsche Insolvenzverwaltung „eine von Rechtsanwälten dominierte Tätigkeit“ sei; das stehe in auffallendem Kontrast zur englischen Praxis. Dort handele es sich „bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts um eine Domäne der accountants“.130 Diese Vermutung gründet sich auf eine Befragung von Richtern an 15 größeren Insolvenzgerichten im Zeitraum 2005–2006: Berlin-Charlottenburg, Dresden, Frankfurt a. M., Hamburg, Heidelberg, Hildesheim, Karlsruhe, Köln, Ludwigshafen, Mannheim, München, Nürnberg, Potsdam, Saarbrücken und Stuttgart. An 13 dieser Gerichte lag der Anteil der bestellten Rechtsanwälte bei 94% bis 100%. Nur zwei Gerichte wiesen eine signifikant niedrigere Anwaltsquote auf (40%/75%), weil sie in größerem Umfang auch Wirtschaftsprüfer (40%/17%), Steuerberater (15%/8%) und „Sonstige Berufe“ (15%/0%) bestellen.131 Zur Motivation dieser Gerichte ist dieser Quelle – der ebenfalls rechts126 BGHZ 151, 353–376 (363). Insoweit sind die programmatischen Forderungen von Klaus Stüdemann, Der Konkursverwalter als Unternehmer, in: FS 100 Jahre Konkursordnung, 1977, S.  401–458, 401, zum „Konkursverwalter als Unternehmer“ im Kern berechtigt. 127  Dazu z. B. BVerfG, ZIP 2009, 1722; OLG Brandenburg, ZIP 2009, 1917 f.; Florian Jacoby, Auswahlermessen auch im Insolvenzverwalter-Vorauswahlverfahren, ZIP 2009, 2081– 2090; Laukemann, Unabhängigkeit (wie Fn.  50), Köster, Bestellung (wie Fn.  31), S.  93–112, 113–139, 163–169; Reinhard Bork, Die Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters – ein hohes Gut, in: ZIP 2006, S.  58 f.; Marie-Luise Graf-Schlicker, Gefährdet die Eigenverwaltung die Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters?, in: FS Hans-Peter Kirchhof, 2003, S.  135–148 (136–143); aus der Kommentarliteratur zur Verwalterauswahl z. B. Wilhelm Uhlenbruck, Insolvenzordnung, 13.  Aufl. München 2010, §  56 Rn.  5 –75. 128  Köster, Bestellung (wie Fn.  31), S.  132. 129  Köster, Bestellung (wie Fn.  31), S.  92. 130  Köster, Bestellung (wie Fn.  31), S.  51. 131  Laukemann, Unabhängigkeit (wie Fn.  50), S.  5 f., 432–435.

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vergleichenden Dissertation von Björn Laukemann zur Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters – leider nichts zu entnehmen. Mindestens aus rechtshistorischer Perspektive ist auch zu bedauern, dass die anonymisierte Auswertung nicht erkennen lässt, wo sie ihren Sitz haben. Die heute herrschende Bestellungspraxis leuchtet auf Anhieb ein. Die fachjuristische Komplexität des Rechts der Unternehmensinsolvenz ist im Schnittpunkt vieler Rechtsgebiete von hoher Schwierigkeit angesiedelt. Dies kann bei selbstkritischer Selbstwahrnehmung sogar kundigen Rechtsexperten beklemmend anmuten, denkt man nur an die unmittelbar einschlägigen Felder des Gesellschafts-, Kreditsicherungs-, Arbeits- und Unternehmenssteuerrechts. Eine Vielzahl gesellschafts-, haftungs- und anfechtungsrechtlicher Instrumente dient dem rechtspolitischen Ziel, die Insolvenzmasse zu erhalten, anzureichern und unberechtigte Abflüsse auszugleichen. Die Durchsetzung derartiger Ansprüche, die sich insbesondere gegen Gesellschafter, Geschäftsleiter und angreifbar bevorteilte Gläubiger richten können, gehört zu den Kernaufgaben des Insolvenzverwalters. Die Schattenseiten dieser Auswahlpolitik, die besonders der Ordnungsfunktion des Insolvenzrechts132 gerecht werden will, liegt auf der Hand: Rechtsanwälte verfügen im Normalfall weder über eine profunde wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung noch über Erfahrungen im Management prosperierender Unternehmen. Die Lehrgänge, denen sich alle angehenden Fachanwälte zu unterziehen haben, sind sinnvoll, können diese Defizite aber allenfalls näherungsweise kompensieren, wenn es auf die kompetente kaufmännische Fortführung und Sanierung von Krisenunternehmen ankommt. Wenn man mit den Anforderungen kompromisslos ernst macht, die bei Unternehmensinsolvenzen von der Sache her geboten sind, wird ein sehr selektives Auswahlmodell, das man in der aktuellen Literatur als „Bestenauslese“ bezeichnet, unvermeidlich. Gefragt sind dann nur noch professionelle Verwalter, die über eine ökonomisch wie juristisch vollwertige Fachkompetenz, einen reichen Erfahrungsschatz und erstklassige Mitarbeiter verfügen.133 Im Jahr 1978 sah der Wirtschaftswissenschaftler Klaus Stüdemann eine der „wahren Ursachen“ der Krise des Konkursrechts in der „Dominanz juristischen Einflusses“. Die Praxis der Konkursabwicklung sei „seit Jahrhunderten 132  Dazu z. B. Andreas Schmidt, Ordnungsfunktion des Insolvenzverfahrens und Auswahl des Insolvenzverwalters – eine überfällige Verknüpfung, in: ZInsO 2008, S.  291–295; Hans Haarmeyer, Die Ordnungsaufgabe des Insolvenzrechts und ihre praktische Umsetzung im Insolvenzeröffnungsverfahren, in: FS Gero Fischer, München 2008, S.  192–208. 133 Befürwortend Laukemann, Unabhängigkeit (wie Fn.  50), S.  343 mit Hinweis auf eine unweigerliche Konsequenz: „Das Prinzip der Bestenauslese begünstigt – dies soll nicht verschwiegen werden – eine Segmentierung und Spezialisierung des Verwaltermarkts und führt damit zu einer faktischen Verengung von Zutrittschancen zum Verwalteramt. Angesichts der Komplexität größerer Verfahren erscheint diese – berufsübergreifende – Entwicklung jedoch unvermeidlich.“

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unverändert fast ausschließlich eine Domäne der Juristen“.134 Für die Konkursordnung erweist sich diese These freilich als unzutreffend. Der historische Gesetzgeber hatte von sämtlichen denkbaren „Beschränkungen auf bestimmte Personenklassen, wie z. B. Notare oder Rechtsanwälte“, ausdrücklich abgesehen.135 In den Gesetzesmotiven heißt es wörtlich: „Der Entwurf hat sich deshalb für das von der Preußischen Konkursordnung, der französischen und den meisten neueren Gesetzgebungen angenommene System vollständiger Freiheit der Auswahl um so mehr entschieden, als unter der Herrschaft derselben die günstigsten Erfahrungen gemacht worden sind.“136

Das Gesetz stellte die Auswahl ganz ins Ermessen des zuständigen Konkursgerichts (§  70 KO 1879) im jeweiligen Einzelfall. Das Gericht durfte auch mehrere Verwalter ernennen, wenn das gemeinschuldnerische Unternehmen „verschiedene Geschäftszweige“ umfasste. Jeder dieser Verwalter sollte dann „in seiner Geschäftsführung selbständig“ sein (§  71 KO 1879), was sich besonders bei der Fortführung größerer Unternehmen als sinnvoll erweisen konnte. Die Motive räumten ein, dass es einer Überlegung wert sei, kraft Gesetzes ausschließlich Notare zum Verwalteramt zuzulassen, verfüge diese Berufsgruppe doch über standesethische Integrität und praktische Erfahrung bei Vermögensverwaltungen. Aber gerade für besonders tüchtige und deshalb stark nachgefragte Notare sei es „vielfach unmöglich (…), sich mit derjenigen Energie und Ausschließlichkeit den Aufgaben der Konkursverwaltung zu widmen, welche in größeren und verwickelten Sachen geboten ist.“ Außerdem seien „in vielen Fällen für den Verwalter spezifisch kaufmännische oder technische Kenntnisse erwünscht“, die Notaren abgingen. Das Gesetz müsse den Gerichten die Möglichkeit eröffnen, „sich jeder tüchtigen Kraft zu bedienen“ und „die Besonderheiten des Einzelfalles in umfassendster Weise zu berücksichtigen“. Wenn in der bisherigen Praxis „Klagen laut geworden“ seien, so weniger gegen konkrete gerichtliche Auswahlentscheidungen, „als gegen den Mangel an geeigneten Verwaltern überhaupt“. Einem solchen Mangel aber „vermag kein Gesetz abzuhelfen“.137 Im Übrigen gaben sich die Motive zuversichtlich: Die internationale Erfahrung lehre, dass mindestens in den großen Städten „unter den Handel- und Gewerbetreibenden tüchtige Persönlichkeiten ermittelt“ werden könnten; „deren Zuverlässigkeit und geschäftliche Gewandtheit“ habe die Gerichte vielerorts dazu veranlasst, „regelmäßig auf sie zurückzugreifen. Dadurch habe sich hier tatsächlich „eine Klasse von ständigen Konkursverwaltern entwickelt“, ohne 134  Stüdemann, Haftung (wie Fn.  86), S.  415, mit Blick auf die Besetzung einer Kommis­ sion zur Reform des Konkursrechts. 135  Petersen/Kleinfeller, KO (wie Anm.  26), §§  70–73 Ziffer I 3. 136  Hahn, Materialien IV (wie Fn.  2 2), S.  279. 137  Hahn, Materialien IV (wie Fn.  2 2), S.  279 f.

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dabei „die Nachtheile einer gesetzlich monopolisierten Kaste“ in sich zu vereinigen.138 Wenn man diese Ausführungen in den Motiven kennt, machen die einschlägigen Ausführungen in der Kommentierung der Konkursordnung durch Kuhn/ Uhlenbruck stutzig. In der 11. Auflage von 1994 liest man, dass sich im Ausland „teilweise aufgrund der gesetzlich eingeräumten Rechtsstellung ein regelrechter Berufsstand von Insolvenzverwaltern“ herausgebildet habe. In Deutschland habe jedoch eine solche Entwicklung erfreulicherweise nicht stattgefunden: „Das Hinsteuern zu einem eigenen Berufsbild des Insolvenzverwalters würde unweigerlich verfassungsrechtliche Probleme im Hinblick auf §  12 GG (sic!) aufwerfen. Gegen eine solche Entwicklung hat sich der Gesetzgeber mit guten Gründen seit über hundert Jahren gesperrt.“139

Die Gesetzesmaterialien zur Konkursordnung hatten sich keineswegs gesperrt. Auch der offen gefasste Gesetzestext legte einer entstehenden Berufsgruppe ständiger Konkursverwalter, die sich auf die fortführende und abwickelnde Durchführung von Unternehmenskonkursen konzentrieren wollte, kein Hindernis in den Weg. Wie sich sogleich zeigen wird, ist dieser Weg nicht nur in England und Frankreich, sondern auch im deutschen Kaiserreich tatsächlich beschritten worden, namentlich in wirtschaftlichen Metropolen wie Berlin und Hamburg. Zu vermuten sind in diesen Großstadtgerichten – vorbehaltlich der Prüfung durch Archivmaterial – langjährig mit Insolvenzsachen betraute Richter, die einen erheblichen Teil ihrer Arbeit auf diesen Gegenstand konzentrieren konnten.140 Die grundrechtsdogmatischen Probleme, die von Artikel 12 GG (Berufsfreiheit) ausgehen mögen, können die Verfasser der Konkursordnung ohnehin nicht besorgt haben. Die Uhlenbrucksche Behauptung ist nicht nur quellenfern, sondern krankt auch an einem Anachronismus. Die Motive fuhren mit dem Hinweis fort, dass es auch in weniger gewerbereichen Regionen schon vielfach gelungen sei, „durch Kommunikation mit den Ortsbehörden und Handelskorporationen außerhalb der geschlossenen Beamtenkreise geeignete Konkursverwalter zu finden.“ In rein ländlichen Bezirken schließlich habe man „in der Regel die grundsätzlich nirgendwo ausgeschlossenen Rechtsanwälte und Notare oder erfahrene Büreaubeamte zu Verwaltern 138 

Hahn, Materialien IV (wie Fn.  22), S.  279. Konkursordnung, 11.  Aufl. München 1994, §  78 Rn.  2b, S.  1168. Dieses Werk wurde von einem Senatspräsidenten am RG (Franz Mentzel) begründet und von einem Senatspräsidenten am BGH (Georg Kuhn) fortgeführt. 140  Die Vorteile, die „Großstadtgerichte mit langjährig in Vollzeit tätigen Insolvenzrichtern“ aufweisen, stehen in der heutigen Diskussion weitgehend außer Frage; Zitat bei Michael Jaffé, Restrukturierung nach der InsO: Gesetzesplan, Fehlstellen und Reformansätze innerhalb einer umfassenden InsO-Novellierung aus der Sicht eines Insolvenzpraktikers, in: ZGR 2010, 248–263, 261. Gegen eine entsprechende Konzentration der Insolvenzgerichte wird fast nur der Gesichtspunkt der Orts- und Bürgernähe vorgebracht. 139 Kuhn/Uhlenbruck,

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ernannt“.141 Dem deutschen Gesetzgeber lag also ein Monopol juristischer Konkursverwalter, das die Vorkämpfer anwaltlicher Standesinteressen seinerzeit durchzusetzen suchten,142 denkbar fern. Zugleich vertraute er darauf, dass die zuständigen Richter die „im Einzelfall ebenso schwierige wie verantwortliche Auswahl des Verwalters“143 mit der gebotenen Sorgfalt und Sachkunde vornehmen würden. Eine unleugbare juristische Dominanz lag in der gerichtlichen Zuständigkeit für die Verwalterauswahl. Der Brisanz dieser rechtspolitischen Entscheidung war sich der Gesetzgeber bewusst. Am Anfang der Motive zum Abschnitt der Konkursordnung über den Konkursverwalter liest man: „Die Ernennung des Verwalters gewinnt an Wichtigkeit, je größer die Befugnisse sind und je unabhängiger die Stellung, welche das Gesetz demselben gewährt. Ueber den Umfang des auf seine Ernennung den Gläubigern einzuräumenden Einflusses ist viel gestritten worden.“144

Den rechtsvergleichenden Befund zum Einfluss der Gläubiger auf die Auswahl fassten die Gesetzesverfasser so zusammen: „Die vielfach laut gewordene Forderung, daß die Bestellung des Verwalters vollständig in die Hände der Gläubiger gelegt werde, hat hiernach nur in wenigen Rechtsgebieten unumwundene Anerkennung gefunden, die Rechtsentwicklung in den meisten großen Handelsstaaten hat sich ihr vielmehr abgeneigt erwiesen.“145

Der Standpunkt des Entwurfs sei ein vermittelnder: Die Unabhängigkeit des Verwalters „nach Innen und Außen“ gebiete eine „obrigkeitliche Verleihung“ des Amts durch das Gericht als „alleinige Quelle seiner Befugnisse“. Aus praktischen Gründen sei es auch untunlich, vor der Ernennung eine Anhörung der Gläubiger vorzuschreiben: Im Normalfall seien die Konkursgläubiger „größtentheils noch unbekannt“; ihre Ermittlung und Ladung zu einem Anhörungstermin verzögere die Verfahrenseröffnung und die Sicherung der Konkursmasse. „Nichtsdestoweniger“ sei jedoch „die Forderung als vollkommen berechtigt anzuerkennen“, den Beteiligten am Konkursverfahren einen „überwiegenden Einfluss auf die Auswahl des Verwalters“ zu eröffnen.146 Der Entwurf der Konkursordnung habe den Gläubigern deshalb „baldmöglichst Gelegenheit zu ge141 

Hahn, Materialien IV (wie Fn.  22), S.  279 f. Signifikant zum Bsp. Rudolf Pollak, Über die Bestellung des Masseverwalters, in: Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, Jahrgang XXIV (1897), S.  335– 356; ders., Laien als Konkursverwalter, in: Leipziger Zeitschrift für Handels-, Konkurs- und Versicherungsrecht [LZ] 1908, Sp.  660–672 m. w. N. zu Pollaks Lobbyarbeit, z. B. auf dem Österreichischen Advokatentag 1896 (Sp.  662) 143  Hahn, Materialien IV (Fn.   22), S.   279; Ernst Jaeger, Konkursordnung, 1902, §   78 Anm.  8 , bezeichnete die Auswahl in der ersten Auflage seines Kommentars im gleichen Sinne als „wichtig und oftmals schwer“. 144  Hahn, Materialien IV (Fn.  2 2), S.  277. 145  Hahn, Materialien IV (Fn.  2 2), S.  278. 146  Hahn, Materialien IV (Fn.  2 2), S.  278. 142 

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ben, ein Widerspruchs- und Wahlrecht geltend zu machen“. In diesem Sinne verfügte §  72 KO 1879, dass die Konkursgläubiger in der ersten Sitzung der Gläubigerversammlung, die nach der gerichtlichen Verwalterbestellung folge, „statt des Ernannten eine andere Person wählen“ durften.147 Die Motive schlossen mit einer Erwägung, die noch einmal auf den Erfahrungsspeicher der historischen Rechtsvergleichung zugriff: „Uebrigens verdient Erwähnung, daß in denjenigen Rechtsgebieten, in welchen die Wahl des Verwalters den Gläubigern freigegeben ist, dieselbe erfahrungsmäßig fast ohne Ausnahme lediglich eine Bestätigung der einstweiligen Ernennung des Gerichts ergiebt. Diese Thatsache dürfte beweisen, daß der Streit um die Erweiterung der Gläubigerrechte, so lebhaft derselbe zuweilen geführt wird, auf diesem Gebiete mehr theoretischer, als praktischer Bedeutung ist.“148

Im Jahr 1909 veröffentlichte Ernst Jaeger in der Leipziger Zeitschrift für Handels-, Konkurs- und Versicherungsrecht einen Beitrag zur Auswahlproblematik. An den Anfang stellte er einen Hinweis auf die grundlegende Entscheidung des Gesetzgebers: „Im Einklange mit der überwiegenden Mehrheit der Auslandsgesetze hat unser Reichsrecht das Konkursverwalteramt nicht zum Monopol einer bestimmten Berufsart gestempelt, sondern die Auswahl geeigneter Personen vollkommen freigegeben.149

Dagegen habe das preußische Justizministerium zwei Jahrzehnte nach Inkrafttreten der Konkursordnung auf eine inhaltliche Vorgabe hingewirkt. Mit Verfügung vom 12. November 1897 habe der Minister den Gerichten nahe gelegt, die Handelskammern und kaufmännischen Verbände um „Namhaftmachung von Personen, die zur Bestellung als Konkursverwalter geeignet sind, im Voraus zu ersuchen“ und die Benennungen bei künftigen Bestellungen zu berücksichtigen, soweit nicht im Einzelfall besondere Bedenken entgegenstünden. Begründet wurde die Verfügung mit der Bemerkung, ein solches Vorgehen habe sich in der Gerichtspraxis bei der Bestellung kaufmännischer Sachverständiger bereits bewährt und sei nunmehr generell zu empfehlen.150 Für Jaeger hatte das Ministerium damit einer problematischen „Strömung“ nachgegeben: Bald nach dem Inkrafttreten der Konkursordnung habe „in Handelskreisen eine Bewegung eingesetzt, (…), die eine häufigere Bestellung kaufmännischer Konkursverwalter forderte“. Die „entgegengesetzte Bewegung“ habe in Österreich die Oberhand gewonnen: Dort dringe die österreichische Justizverwaltung seit 1899 darauf, „grundsätzlich nur Advokaten“ zu bestellen, 147 

Hahn, Materialien IV (Fn.  22), S.  278; Sperrung im Original. Hahn, Materialien IV (Fn.  22), S.  278; Sperrung im Original. 149  Ernst Jaeger, Laien als Konkursverwalter, in: Leipziger Zeitschrift für Handels-, Konkurs- und Versicherungsrecht [LZ] 1909, Nr.  1, Sp.  1–15, 1; Sperrung im Original. 150  Justiz-Minsterial-Blatt für die Preußische Gesetzgebung und Rechtspflege, 59. Jahrgang 1897, S.  288. 148 

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was in krassem Gegensatz zu einem älteren Erlass des Justizministers Julius Glaser (1831–1885) aus dem Jahr 1874 stehe.151 Jaeger stand beiden Tendenzen ablehnend gegenüber. Der reichsrechtliche Grundsatz der vollkommenen Auswahlfreiheit werde freilich im Schrifttum seit langem angefochten. Vor Einführung der Konkursordnung hätten Standesvertreter besonders zu Gunsten des Notariats auf Einschränkungen gedrängt. Umso mehr falle in der Rückschau auf, dass „gegenwärtig der Notar als solcher (…) als Konkursverwalter eine ganz unbedeutenden Rolle spielt“.152 Wie eine aktuelle Umfrage bei den deutschen Konkursgerichten beweise, habe der gesetzliche Grundsatz seine praktische Probe bereits bestanden. Jene Umfrage und die darauf aufbauende Stellungnahme Jaegers waren eine unmittelbare Reaktion auf einen Aufsatz von Rudolf Pollak in der Leipziger Zeitschrift im Jahr 1908. Pollak, Rechtsprofessor an der Universität Wien, hatte ein unverhülltes Plädoyer für die Bevorzugung von Juristen bei der Vergabe von Konkursverwaltungen auch in Deutschland vorgetragen: Alle anderen Berufsgruppen, von ihm suggestiv als „Laien“ abgekanzelt, sollten allenfalls nachrangig zum Zuge kommen dürfen. Dass auch die Juristen im interdisziplinären Aufgabenfeld des Unternehmenskonkurses mit gleicher – das heißt: halber – Berechtigung als Laien zu bezeichnen sind, ließ Pollak nicht durchblicken. Seine Beweisführung schloss mit der nur rhetorisch offen gelassenen Frage, ob denn die Konkursverwaltung „um der grossen Bedeutung des Anwaltsstandes willen“ nicht sogar „dem Anwaltszwange“ unterliegen müsse.153 Diesen Vorstoß brachte die Leipziger Zeitschrift im Jahr 1908 zum Druck, versehen mit einer Anmerkung der Herausgeber, die sich „die Darlegung unserer von der Pollakschen abweichenden Ansicht“ vorbehielten. Ihre Zeitschrift werde demnächst über die Ergebnisse einer Umfrage bei allen größeren deutschen Konkursgerichten berichten. Die meisten Richter hätten mit „überaus dankenswerter Bereitwilligkeit“ über ihre Bestellungspraxis berichtet.154 Die positive Resonanz bei der Beantwortung der Anfrage hing sicherlich auch mit der fachlichen Autorität der drei Herausgeber (Jaeger, Düringer, Könige) zusammen, signalisiert aber auch Bewusstsein der Konkursrichter für die Relevanz der Thematik. Im folgenden Jahr brachte Jaeger die Ergebnisse zur Kenntnis. Sie bestätigten eine Vorhersage der amtlichen Begründung zur Konkursordnung: Die volle richterliche Auswahlfreiheit bei der Verwalterauswahl hatte in den unterschiedlichen Regionen des Deutschen Reichs in der Tat „zu einer sehr verschiedenen Praxis“155 geführt: 18 Konkursgerichte hatten von 1905 bis 1907 „ausschliesslich 151 

Jaeger, Laien als Konkursverwalter (wie Fn.  149), Sp.  2 f.; Sperrung im Original. Jaeger, Laien als Konkursverwalter (wie Fn.  149), Sp.  13. 153  Pollak, Laien als Konkursverwalter (wie Fn.  149), Sp.  671. 154  Pollak, Laien als Konkursverwalter (wie Fn.  149), Sp.  660 Fn. *. 155  Hahn, Materialien IV (wie Fn.  2 2), S.  279. 152 

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Nichtjuristen“ zu Konkursverwaltern bestellt, 22 „vorwiegend Nichtjuristen“, 6 hatten beide Gruppen „annähernd gleich stark“ bedacht, 16 dagegen „vorwiegend Juristen“ und 8 „ausschliesslich“. Von den 4757 Konkursverfahren, die bei den „zwanzig meistbeschäftigten Konkursgerichten“ in jenem Zeitraum insgesamt eröffnet worden waren, belief sich der Anteil der juristischen Konkursverwalter auf 39,9 Prozent. Auf dieser Grundlage konstatierte Jaeger, dass „die so häufig in Handelskreisen erhobene Klage“, meistens werde ein Anwalt bestellt, in dieser Allgemeinheit unberechtigt sei.156 Die Bestellung eines Rechtsanwalts im Konkurs der Waldbrauerei war also weniger selbstverständlich, als dies dem heutigen Betrachter anmutet. Die Konkursgerichte zu Kiel, Mannheim und Nürnberg bekundeten übereinstimmend die folgende Einschätzung: Für kleinere Konkurse, etwa wenn es sich um „kleine oder mittlere Ladengeschäfte handelt“,157 seien kaufmännische Verwalter „geradezu eine Notwendigkeit.158 Schon aus diesem Grund sei ein „Privileg der Anwälte“ bei der Ernennung zum Konkursverwalter nicht zweckmäßig.159 In die gleiche Richtung wies man in Düsseldorf: „Der Jurist pflegt eine sehr hohe Vergütung zu beanspruchen. Auch fällt in den von Anwälten verwalteten Konkursen häufig die große Zahl der Prozesse auf. Das Konkursverfahren zieht sich oft außerordentlich lange hin. Mitunter gewinnt man den Eindruck, dass eigentlicher Verwalter der Bureauvorsteher ist.“160

Sehr interessant ist eine seinerzeit markante, heute fast vollständig vergessene Traditionslinie: Die Selbstauskunft des Amtsgericht Berlin-Mitte ging dahin, dass die von 1905 bis 1907 eröffneten Verfahren (insgesamt 654) „sämtlich von Kaufleuten verwaltet“ worden seien. Dieses Gericht beauftragte grundsätzlich nur Personen, die „neben ihrer Beschäftigung als Konkursverwalter“ keine weitere Tätigkeit ausübten. Auch in Magdeburg war bei dort 172 Verfahren „nur Kaufleute“ betraut worden, „die gewerbsmäßig Konkurse verwalten“; „ausschließlich Nichtjuristen“161 wurden unter anderem auch in Bielefeld, Braunschweig, Flensburg, Kassel und Straßburg bestellt. Ähnlich verfuhr man zum Beispiel in Hamburg, Karlsruhe („103 mal Nichtjuristen“, „20 mal Anwälte“) und Posen („154 mal Nichtjuristen, und zwar Versicherungsagenten, Bücherrevisoren, Kaufleute, nur 2 mal Anwälte“).162 Der Berliner Konkursrichter Leopold Levy kommentierte im Jahr 1929 die veröffentlichten „neuen Richtlinien des Amtsgerichts Berlin-Mitte für die dort 156 

Jaeger, Laien als Konkursverwalter (wie Fn.  149), Sp.  3 –6. AG Mannheim, zitiert bei Jaeger, Laien als Konkursverwalter (wie Fn.  149), Sp.  12. 158  AG Nürnberg, zitiert bei Jaeger, Laien als Konkursverwalter (wie Fn.  149), Sp.  12. 159  AG Mannheim, zitiert bei Jaeger, Laien als Konkursverwalter (wie Fn.  149), Sp.  12. 160 AG Düsseldort, zitiert bei Jaeger, Laien als Konkursverwalter (wie Fn.   149), Sp.  10; ebenso z. B. AG Landhut, ebenda, Sp.  11. 161  Jaeger, Laien als Konkursverwalter (wie Fn.  149), Sp.  3. 162  Jaeger, Laien als Konkursverwalter (wie Fn.  149), Sp.  3 –5. 157 

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tätigen Konkursverwalter“.163 In einer Vorbemerkung beanspruchte er für dieses Gericht „eine besondere Stellung“. Es sei das weitaus größte aller deutschen Konkursgerichte, bestehe derzeit aus fünf Richtern, beschäftige „eine stattliche Zahl von Berufsverwaltern“ und bearbeite „die umfangreichsten und verwickeltsten Konkurse“. Hier wechsele die Richterschaft seltener als bei anderen Gerichten und habe „daher reiche Erfahrungen sammeln“ können. Dadurch habe sich „eine jahrzehnte alte Tradition gebildet“, die man sorgsam bewahre und pflege.164 Ganz in die „alte Tradition“ dieses Gerichts stellte sich Rudolf Baade, Richter am Amtsgericht Berlin-Charlottenburg, als er im Jahr 1959 die Ergebnisse der Umfrage der Leipziger Zeitschrift vom Anfang des Jahrhunderts in Erinnerung rief. Wenn er denn richtig mutmaßte,165 hatte die „Beschäftigung von berufsmäßigen Masseverwaltern“ in Berlin in der Mitte der 70er-Jahre des 19. Jahrhunderts unter Geltung der preußischen Konkursordnung von 1855 ihren Anfang genommen. Der „Massenzusammenbruch zweifelhafter und unsolider Unternehmen“ seit 1873 habe eine „Massenwelle an Insolvenzen“ ausgelöst, die „besonders in Berlin die Konzentration auf kaufmännisch erfahrene Masseabwickler“ erfordert habe. Diese Praxis habe man seitdem konsequent beibehalten, was sich auch bei der Erfüllung schwieriger Aufgaben „bestens bewährt“ habe. Dazu zählte der Berliner Konkursrichter im Jahr 1959 neben „Geschäftsfortführungen“ nicht zuletzt „planvolle Verwertungsmaßnahmen wie Global- und Firmenveräußerungen“ und „die Einschaltung etwaiger Auffanggesellschaften“.166 Solche Fallgestaltungen werden heute unter der schillernden Bezeichnung „Übertragende Sanierung“ zusammengefasst.167 Nach Baades Erfahrung waren der Erfolg der Verwalter „und damit das Schicksal des Insolvenzverfahrens häufig im steten und jederzeit einsatzbereiten Vorhandenseins eines leistungsfähigen Büros mitbegründet.“ Für Kaufleute wie Juristen, die sich die Konkurs­ praxis nicht zur Hauptaufgabe machten, könne bereits die Abwicklung nur eines einzigen „größeren oder auch schon eines mittleren Insolvenzverfahrens einen kaum zu bewältigenden Fremdkörper darstellen“.168 163 Veröffentlicht in KTS 1929, 69–72; dazu Leopold Levy, Die neuen Richtlinien des Amtsgerichts Berlin-Mitte für die Konkursverwalter, in: KTS 1929, S.  85 f., 85 f.; diese Richtlinien zur Führung der Verwaltergeschäfte und der Berechnung der Vergütung sind bis heute nicht in Vergessenheit geraten; s. z. Bsp. Bork, Unabhängigkeit (wie Fn.  127), S.  59. 164  Levy, Richtlinien (wie Fn.  163), S.  69. 165  Baade, Auswahl (Fn.  111), S.  41, fügte seiner Thesenbildung insoweit keine Nachweise bei; sein plakativer Duktus lässt daher vermuten, dass er, was das 19. Jahrhundert anging, reine Plausibilitätserwägungen anstellte. 166  Baade, Auswahl (Fn.  111), S.  41. 167  Dazu z. B. Ulrich Falk /Carsten Schäfer, Insolvenz- und gesellschaftsrechtliche Risiken der übertragenden Sanierung, in: ZIP 2004, S.  1337–1346 (1337 f.); Georg Bitter/Anne Laspeyres, Rechtsträgerspezifische Berechtigungen als Hindernis übertragender Sanierung, in: ZIP 2010, S.  1157–1165. 168  Baade, Auswahl (Fn.  111), S.  42.

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Die traditionsbewusste Praxis des Amtsgerichts Berlin-Mitte war kein singuläres Phänomen. Am Amtsgericht Hamburg hatte man in den Jahren von 1905 bis 1907 insgesamt „430 mal Nichtjuristen, nur 14 mal Juristen“ bestellt.169 Darunter befanden sich viele Kaufleute, überwiegend aber von der dortigen Handelskammer vereidigte „Bücherrevisoren“. Die Hamburger Konkursrichter hatten ihrer Selbstauskunft folgende Erläuterung beigefügt: „Dieses Institut der beständig beschäftigten, kaufmännisch vorgebildeten Verwalter hat sich hier auf das beste bewährt. Das Konkursgericht beabsichtigt nicht, seine nun bald 30jährige Praxis zu ändern. Infolge der regelmässigen Bestellung der erwähnten Personen ruht die Verwaltung in Händen berufsmässiger und geschulter Fachleute, die auf Grund jahrelanger Praxis auch gute Kenntnisse in der Anwendung der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen sich angeeignet haben (…).“170

Das Konkursgericht Magdeburg machte eine ähnliche Mitteilung: „Seit langen Jahren werden zu Verwaltern nur Personen bestellt, die das Amt gewerbsmässig führen. Es sind Kaufleute, die (im Bedürfnisfall unter Mitwirkung der Handelskammer) zu diesem Amt herangezogen werden, ohne dass ihnen ein Recht auf fernere Bestellung zukommt. Einen dieser Berufsverwalter für die Zukunft auszuschließen, war bisher niemals Anlass gegeben. Sie haben sich durchaus bewährt, obgleich ganz bedeutende Massen und oftmals schwierige Rechtslagen vorkamen.“171

Anderer Auffassung war das Konkursgericht zu Köln. Seine gegenteilige Bestellungspraxis – „234 mal Anwälte, 15 mal Gerichtsvollzieher a.D.“ – rechtfertigte es gegenüber den Herausgebern der Leipziger Zeitschrift mit umfangreichen Ausführungen, die Ernst Jaeger nur zum Teil einleuchteten. Nicht nachvollziehen konnte er insbesondere die Kölner Warnung vor einer „Gefahr der Heranbildung eines gewerbemässigen Konkursverwalterstandes“.172 Er vermerkte dazu in der Zusammenfassung seines Berichts: „Nicht recht verständlich ist die gegenüber der Verwendung von Laien geltend gemachte Erwägung, es sei zu besorgen, dass ein berufsmässiger Konkursverwalterstand sich ausbilde. Man sollte im Gegenteil meinen, dass den Vorzug verdient, wer seine ganze Zeit und Kraft der Verwalteraufgabe widmet und in andauernder Tätigkeit die Uebung findet, die auch hier den Meister macht. Das bestätigt die günstige Erfahrung, die (insbesondere in Berlin, Leipzig, Magdeburg) mit dem Berufskonkursverwalter gemacht worden ist.“173

Rechtsvergleichend erinnerte Jaeger zugleich an die Erfolge, die man namentlich in England erzielt habe, vor allem mit dem „Bücherrevisor als Verwalter kaufmännischer Konkurse“.174 Einen hohen Grad der Professionalisierung habe der 169 

Jaeger, Laien als Konkursverwalter (wie Fn.  149), Sp.  3 –5. Zitiert bei Jaeger, Laien als Konkursverwalter (wie Fn.  149), Sp.  9 f. 171  Zitiert bei Jaeger, Laien als Konkursverwalter (wie Fn.  149), Sp.  10. 172  AG Köln, Jaeger, Laien als Konkursverwalter (wie Fn.  149), Sp.  5, 7 f. 173  Jaeger, Laien als Konkursverwalter (wie Fn.  149), Sp.  14. 174  Jaeger, Laien als Konkursverwalter (wie Fn.  149), Sp.  14 Fn.  6 . 170 

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„Konkursverwalterberuf“ bekanntlich auch in den großen Handelsstädten Frankreichs erreicht. Dort sei ein Versuch des Gesetzgebers in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, diese sinnvolle Entwicklung abzublocken, sogar „kläglich missglückt“.175 An die Minderheit der Konkursgerichte, die damals bevorzugt oder ausschließlich Rechtsanwälte bestellten, richtete Jaeger seinerseits eine Warnung: Hüten sollten sich die Konkursrichter wenigstens vor einem „festen Turnus“, der mancherorts praktiziert werde, um alle interessierten Rechtsanwälte zum Zuge kommen zu lassen, unabhängig von ihrer fachlichen Qualifikation. „Nicht darum handelt es sich, allen einzelnen Anwälten diese Einnahmequelle zu erschließen, sondern darum, jeweils die beste verfügbare Kraft zu gewinnen. Nur unter Gleichtüchtigen habe der Wechsel eine Berechtigung und entspreche dann auch den Geboten der Billigkeit.“176

Der große Konkursrechtslehrer Ernst Jaeger stand also schon am Anfang des 20. Jahrhunderts einem Prinzip der Bestenauslese177 bemerkenswert nahe. Die rechtshistorische Forschung zur Praxis des Insolvenzrechts, die noch in ihren Kinderschuhen steckt, steht hier vor einer weiteren reizvollen Aufgabe: Sie muss die Genese des Berufsbilds des Konkursverwalters im 19. Jahrhundert ergründen und seinen Wandlungen im wildbewegten Verlauf des 20. Jahrhunderts nachgehen. Es gibt viel zu erforschen und wiederzuentdecken. Ein besonderes Desiderat der interdisziplinären Forschung ist das Schicksal der jüdischen Konkursverwalter. Wie der Naziterror unter den jüdischen Rechtsanwälten und Kaufleuten gewütet hatte, ist inzwischen hinreichend bekannt. Wie aber ist es mit den Konkursverwaltern bestellt? Kann es sein, dass der Mangel an erfahrenen und sachkundigen Verwaltern in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland auch damit zusammenhängt? Kann es sein, dass die Pioniere der sanierenden Konkursrechtspraxis, die in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts den Markt betraten, etwa ein Jobst Wellensiek (Heidelberg), das Rad neu erfinden mussten, weil in Nazideutschland auch das Expertenwissen auf diesem schwierigen, auf Erfahrung angewiesenen Feld ausgelöscht worden war?

IV.  Erstes Waldbrauerei-Urteil 1.  Unterschiede zwischen Originalurteil und Wiedergabe in RGZ Zu den Leidtragenden des zweiten Konkurses der Waldbrauerei-AG Bergedorf gehörten die Massegläubiger, die mit ihren Leistungen zur viermonatigen Fort175 

Jaeger, Laien als Konkursverwalter (wie Fn.  149), Sp.  14 Fn.  7. Jaeger, Laien als Konkursverwalter (wie Fn.  149), Sp.  15. 177 Vgl. Laukemann, Unabhängigkeit (wie Fn.  50), S.  343. 176 

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führung des Betriebs beigetragen hatten, darunter die Hopfenlieferanten. Aus der unzulänglichen Konkursmasse, die im zweiten Verfahren noch zur Verfügung stand, war für sie nichts mehr zu erhoffen. Ihre Schadensersatzklagen, die sie gegen den Verwalter des ersten Verfahrens persönlich richteten, gelangten zeitversetzt zum Reichsgericht, einerseits über das LG Altona und das OLG Kiel, andererseits das LG Berlin und das Kammergericht. Das erste Revisionsurteil erging durch den III. Zivilsenat auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 15. November 2010 unter Vorsitz des Senatspräsidenten Dr. George Rudolf Peterßen (1826–1903) 178 unter Mitwirkung der Reichsgerichtsräte von Streich, Maßmann, von Buchwald, von Liebe, Brückner und Weller. Verkündet wurde das Urteil in der Sitzung am 22. November,179 was sich aus dem Schlussvermerk des handschriftlichen Originalurteils ergibt. Wie in den allermeisten Fällen, so erweist sich das Originalurteil auch hier als umfangreicher als der in der amtlichen Sammlung (RGZ) veröffentlichte Urteilstext. Mitunter fielen die Kürzungen geringfügig aus, beschränkt auf das Rubrum, Einzelheiten der Prozessgeschichte, des Parteivortrags und bei aufhebenden Zurückverweisungen auch auf abschließende Hinweise an das Berufungsgericht – die heute sogenannte Segelanweisung. Nahezu im Volltext wurde das zweite Waldbrauerei-Urteil des VI. Zivilsenats veröffentlicht, und ebenso – um ein weiteres Beispiel aus der Praxis dieses Senats zu nennen – das Morscher-Baum-Urteil vom Oktober 1902, eine grundlegende Entscheidung zur deliktischen Verkehrssicherungspflicht.180 Bei dem ersten Waldbrauerei-Urteil sind die Unterschiede zwischen dem Originalurteil und der RGZ-Version dagegen beträchtlich, nicht nur in quantitativer Hinsicht. In der amtlichen Sammlung ist von einem einzelnen Kläger – einem der beiden Hopfenlieferanten – die Rede; im Originalurteil war dieser nur einer von fünf klagenden Massegläubigern, die während der Fortführung der Waldbrauerei unterschiedliche Leistungen erbracht hatten (dazu bereits III.2). Wegen dieser Vereinfachung musste für die RGZ-Version der Sachverhalt angepasst werden. Der abschließende Teil der Entscheidungsgründe zur haftungsausfüllenden Kausalität verlor seine tatsächliche Grundlage und musste von der Veröffentlichung ausgenommen werden.181 Die Überarbeitung des Tatbestands beschränkte sich nicht auf Kürzungen und sprachliche Glättungen: Im Originalurteil heißt es, der Verwalter des ers178  Peterßen wurde mit Gründung des RG zum 1.10.1879 aus dem preußischen Gerichtsdienst berufen; den Senatsvorsitz erhielt er zum 1.1.1891, s. Fünfzig Jahre Reichsgericht, hrsg. von Alfred Lobe, Berlin Leipzig, S.  341. 179  Blätter 1 und 6 der Urteilsabschrift. Im Rubrum wird Peterßens Doktorgrad aufgeführt, ebenso wie der derjenige eines Klägervertreters, „Justizrath Dr. Klöppel zu Leipzig“. 180  RG, Urteil vom 30. Oktober 1902, RGZ 52, 373–379; dazu Bohrer, Morscher Baum (wie Fn.  12), S.  175–198; Christian Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildung im Zivilrecht, Tübingen 2008, S.  152; MünchKomm-Wagner, 5.  Aufl., München 2009, §  823 Rn.  50. 181  Blatt 2 oben bis 3 oben, 4 unten bis 6 der Urteilsabschrift.

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ten Konkurses habe „den Betrieb der Brauerei fortgesetzt“ und dazu gegenüber einer „Reihe von Massegläubigern“ vertragliche Ansprüche begründet. In RGZ findet sich der Zusatz, dass die Fortführung „durch den bisherigen Leiter des Geschäfts“ erfolgt sei.182 Vermutlich empfand der redaktionelle Bearbeiter ein Klarstellungsbedürfnis, weil ihm die Vorstellung, ein Rechtsanwalt habe als Konkursverwalter eigenhändig eine Brauerei fortgeführt, seltsam anmutete. Wenn man diesen Hintergrund kennt, springt ins Auge, dass die RGZ-Version eine Zweiteilung aufweist: Auf den Urteilskopf folgen zunächst knapp zwei Seiten redaktionell überarbeiteter Text und dann – unterbrochen durch eine eingerückte Zwischenüberschrift („aus folgenden Gründen“) – die wörtliche Wiedergabe eines Teils des Originalurteils in Anführungszeichen.183 Das Zitat des Originalurteils, das sich über knapp zwei RGZ-Seiten erstreckt, bricht mit dem Satz ab, der Konkursverwalter habe bei seiner Haftung nach §  74 KO 1879 „auch selbst culpa levis zu vertreten.“ Darauf folgt in der amtlichen Sammlung nur noch die Kennzeichnung: „…“184 Noch mehr fällt eine weitere Veränderung ins Gewicht: Das Oberlandesgericht Kiel hatte den Schadenersatzklagen der fünf Massegläubiger mit Urteil vom 2. Mai 1895 stattgegeben. Die amtliche Sammlung des Reichsgerichts vermittelt den Eindruck, das Rechtsmittel des Beklagten sei erfolglos geblieben, denn die entsprechende Passage lautet: „Auf die Revision des Beklagten ist das Revisionsgericht den Erwägungen des Berufungsgerichts über die Haftung des Beklagten beigetreten aus folgenden Gründen:“185 In Wahrheit hat der III. Zivilsenat das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das OLG Kiel zurückverwiesen.186

2. Entscheidungsgründe Die damalige Praxis ging in aller Selbstverständlichkeit von der normativen Zulässigkeit der Fortführung von Betrieben im eröffneten Konkursverfahren aus (dazu schon III.2). Das gilt auch für den III. Zivilsenat des Reichsgerichts. Sein Urteil machte hierzu keinerlei Ausführungen; auch die Klägervertreter hatten augenscheinlich keinen Versuch unternommen, in ihrem Revisionsvortrag an dieser Rechtslage zu rütteln, was den Senat zu einer Stellungnahme hätte veranlassen können. Aus zeitgenössischer Sicht hatte der beklagte Konkursverwalter von dem Ermessen, das ihm §  118 KO bei der Wahl zwischen Fortführung und Schließung einräumte, unangreifbaren Gebrauch gemacht. Die Parteien stritten 182 

Urteilsabschrift, Blatt 2 Mitte; RGZ 36, 93, 94 Mitte. RGZ 36, 93, 94 unten; Sperrung im Original, dort zudem mit Einrückung. 184  RGZ 36, 93, 96; Sperrung im Original. 185  RGZ 36, 93, 94 unten; Sperrung im Original. 186  Urteilsabschrift, Blatt 1 unten. 183 

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im Haftungsprozess nur um die Beantwortung einer Rechtsfrage, die aus der Besonderheit des ersten Waldbrauerei-Konkurses erwuchs, der Aufhebung der Konkurseröffnung: War der Konkursverwalter verpflichtet gewesen, vor der Rückgabe der Konkursmasse „für die Befriedigung bzw. Sicherstellung der Gläubiger zu sorgen (…)“?187 Begründungsbedürftig, aber nicht eigentlich problematisch, weil rechtspraktisch ohne diskutable Alternative, war eine zweite normative Prämisse, die der Argumentation des III. Zivilsenats zugrunde lag: Der ergangene Aufhebungsbeschluss hatte das vorausgegangene Verfahren nicht mit rückwirkender Kraft „vernichtet“, sondern nur beendet. Eine gegenteilige Entscheidung hätte unlösbare Rückabwicklungsprobleme erzeugt. Daher waren auch alle Verfügungen wirksam geblieben, die der fortführende Konkursverwalter „auf Grund der ihm mit seiner Bestellung vom Gesetze zugewiesenen Aufgabe über die Konkursmasse und für dieselbe getroffen“ hatte. Das Recht der Massegläubiger, wegen ihrer vertraglich erworbenen Ansprüche „vorweg aus der Masse befriedigt zu werden“, war vom Aufhebungsbeschluss nicht berührt worden.188 Zur Aufhebung eines Eröffnungsbeschlusses – einer bis heute praktisch seltenen Fallgestaltung – beschränkte sich die Konkursordnung auf sparsame Vorschriften zu den Förmlichkeiten der öffentlichen Bekanntmachung (§  105 KO 1879).189 In anderem Zusammenhang, bei den Regelungen zum Zwangsvergleich (§§  160–187 KO 1879), machte das Gesetz dagegen dem Konkursverwalter zwei Verhaltenserwartungen zur Rechtspflicht, die für die Entscheidung des Waldbrauerei-Falls von Interesse waren. §  176 Abs.  1 KO 1879 lautete: „Der Verwalter hat aus der Konkursmasse die Masseansprüche zu berichtigen. Die bestrittenen Masseansprüche sind sicherzustellen.“ §  116 Satz  2 KO 1900 als Nachfolgevorschrift von §  105 KO 1879 gebot die „entsprechende Anwendung“ von §  191 KO 1900, der wortgleich an die Stelle von §  176 KO 1879 getreten war. Ein Zwangsvergleich, der zwischen dem Gemeinschuldner und den Konkursgläubigern wirksam abgeschlossen und vom Gericht rechtskräftig bestätigt wurde, führte zur Aufhebung des Konkursverfahrens durch gerichtlichen Beschluss (§  175 KO 1879).190 Der Schuldner erhielt das Recht zurück, über die Konkursmasse frei zu verfügen, soweit dazu im 187 

RGZ 36, 93, 94 unten. RGZ 36, 93, 95 oben. 189  §  103 Abs.  2 KO 1879: „Die Bekanntmachung ist, unbeschadet der Vorschriften des §  68 Abs.  1, auszugsweise in den Deutschen Reichsanzeiger einzurücken.“ §  104 KO 1879: „Der Gerichtsschreiber hat unter Bezeichnung des Konkursverwalters beglaubigte Abschriften der Formel des Eröffnungsbeschlusses den Behörden (…) mitzuteilen.“ §  68 Abs.  1 KO 1879: „Die öffentlichen Bekanntmachungen erfolgen durch mindestens einmalige Einrückung in das zur Veröffentlichung amtlicher Bekanntmachungen bestimmte Blatt (…).“ 190  §  175 Abs.  1 KO 1879: „Sobald der Vergleich rechtskräftig bestätigt ist, beschließt das Gericht die Aufhebung des Konkursverfahrens. Eine Anfechtung des Beschlusses findet nicht statt.“ 188 

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Zwangsvergleich nicht anderes bestimmt war (§  177 KO 1879). Durch diese Normlage war ein Einwand gegen die Entscheidung des III. Zivilsenats vorgezeichnet: Die rechtskräftige Aufhebung des Eröffnungsbeschlusses führt ebenso wie der rechtskräftig bestätigte Zwangsvergleich zur Beendigung des Verfahrens und zur Rückgabe der (ehemaligen) Konkursmasse an den (ehemaligen) Gemeinschuldner.191 Der Gesetzgeber hat beide Möglichkeiten mit Regelungen bedacht, aber nur bei einer der beiden bestimmt, dass der Konkursverwalter die bestehenden Ansprüche der Massegläubiger zu befriedigen hat. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass diese Bestimmung bei der anderen der beiden nicht anzuwenden ist. Der III. Zivilsenat hatte diesen offensichtlichen Einwand im Auftakt der Entscheidungsgründe vorweggenommen. Dort heißt es wörtlich: „Es handelt sich um die Frage, ob der Konkursverwalter im Falle der Wiederaufhebung des Eröffnungsbeschlusses verpflichtet ist, für die Befriedigung bzw. Sicherstellung der Gläubiger zu sorgen, obwohl das Gesetz im Anschlusse an §  105 K.O. nicht die Vorschrift gegeben hat, welche im Anschlusse an den Zwangsvergleich in §  176 K.O. getroffen ist. Diese Frage mußte bejaht werden.“192

Der Senat wollte „im Falle des §  105 KO von denselben Rechtsgrundsätzen ausgehen, wenngleich das Gesetz es unterlassen hat“, insoweit „ausdrücklich eine entsprechende Vorschrift zu geben.“193 Hier lag ein wunder Punkt der Urteilsgründe. Im gesetzlich geregelten Fall ging es um einen Zwangsvergleich, den die Konkursgläubiger mit dem Schuldner abschließen konnten. Die Interessenlage ist aber offensichtlich eine andere. Ebenso nahe wie eine Gesetzesanalogie hätte ein Umkehrschluss gelegen: Analogie und Umkehrschluss stehen in einem methodischen Spannungsverhältnis. Ohne Kenntnis der Absichten, von denen sich der historische Gesetzgeber bei der Regelung oder Nichtregelung leiten ließ, ist eine überzeugende Entscheidung für eines der beiden Instrumente kaum vorstellbar.194 Dazu schweigen die Urteilsgründe des 3. Senats. In einer dogmenhistorischen Dissertation aus dem Jahr 1989 zum Problemkreis des Rechtsirrtums im Zivilrecht wird das Urteil als Beispiel für die Vornahme einer Analogie gewertet.195 Diese Deutung liegt nahe; die Entscheidungsgründe benutzen diesen Begriff freilich nicht. Das Postulat der Rechtssicherheit mündete in eine Erwägung, die zumindest im Ansatz ebenso zwingend anmutet: Dem Anspruch der Massegläubiger auf 191  Zu den umstrittenen Einzelheiten beim Zwangsvergleich aus damaliger Sicht RGZ 27, 113–116; Urt. des 2. ZS vom 6.3.1891. 192  RGZ 36, 93, 94 unten. 193  RGZ 36, 93, 96. 194 Beispiele aus der heutigen Rechtsprechung: OLG Hamburg, NZG 2009, 1036–1039 (1037); BGH, NJW 2007, 2997–3001, 2999; BGH, NJW 2006, 992–995, 993. 195  Jörg Mayer, Der Rechtsirrtum und seine Folgen im bürgerlichen Recht, Bielefeld 1989, S.  104, ohne nähere Ausführungen.

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Befriedigung aus der Konkursmasse entspreche „die Pflicht des Konkursverwalters, für solche Befriedigung zu sorgen“. Die Bereitschaft der Geschäftspartner, die Konkursmasse zu beliefern, ohne auf sofortiger Bezahlung zu bestehen, gründe sich allein auf ihr Vertrauen in den Konkursverwalter „in dieser seiner Eigenschaft und mit den ihm vom Gesetze beigelegten Befugnissen“; „nur ihm und der zu seiner Verfügung stehenden Masse wollen sie trauen, nicht dem durch die Konkurseröffnung kreditlos gewordenen Gemeinschuldner“.196 Mit dieser These war der Boden für die Kernaussage des Urteils bereitet: Das Vertrauen der Massegläubiger könne sich zwar „(…) als ungerechtfertigt erweisen, wenn die Masse entweder von Anfang an unzulänglich ist oder in der Folge durch Absonderung unzulänglich wird; soweit aber Masse vorhanden ist, muß der Konkursverwalter für ihre Befriedigung bzw. Sicherstellung mit dieser Masse sorgen.“197

Eben dies hatte der beklagte Konkursverwalter unterlassen, als er die Konkursmasse nach Aufhebung des Verfahrens ungeschmälert an die Aktiengesellschaft zurückgab und lediglich auf die Zahlungspflichten hinwies, die er zwecks Fortführung eingegangen war. Damit war im Urteil des III. Zivilsenats die entscheidende Weiche gestellt. Eine ausdrückliche Begründung für die Schutzwürdigkeit des Vertrauens der Massegläubiger gab der Senat nicht, sondern setzte auf die Evidenz einer These, die spontan einzuleuchten vermag. Die Gegenargumente, über die das Urteil kein Wort verlor, werden erst bei näherer Betrachtung ersichtlich.

3.  Rechtspolitische Bewertung Es liegt auf der Hand, dass der Geschäftsverkehr grundsätzlich nicht bereit ist, Konkursunternehmen zu beliefern, die ihre Gegenleistung nicht sofort erbringen können. Lieferanten, die gleichwohl Zahlungsaufschub bewilligen, setzen in der Tat ganz auf diesen Verwalter, der zwar nicht selbst Partei des Liefervertrags wird, kraft Gesetzes aber das alleinige Verwaltungs- und Verfügungsrecht über die Konkursmasse besitzt (§  5 KO 1879). Um die Bereitschaft zur Vorleistung wäre es schlecht bestellt, wenn Verwalter sogar die maßvolle Erwartung enttäuschen würden, die der III. Zivilsenat ihnen abverlangte: die Erfüllung der eingegangenen Verpflichtungen aus jenen Mitteln, die in der Masse tatsächlich vorhanden sind. Die volkswirtschaftlich wünschenswerte Fortführung insolventer Unternehmen mit dem Ziel der Sanierung und/oder Anreicherung der Konkursmasse würde mangels Belieferung mit Rohmaterial und Betriebsmitteln faktisch unmöglich. 196  197 

RGZ 36, 93, 96. RGZ 36, 93, 96.

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Der III. Zivilsenat das Reichsgerichts blieb mit seiner Erwartung weit hinter dem strengen Anforderungsprofil zurück, das der Bundesgerichtshof vor seiner Selbstkorrektur den Verwaltern angesonnen hatte (dazu bereits IV.3): Die Verwalter sollten Betriebe laut älterer BGH-Rechtsprechung nur ausnahmsweise zu eng begrenzten Zwecken kurzfristig fortführen dürfen; neue Masseansprüche – etwa durch Eingehung von Lieferverbindlichkeiten – sollten sie nur begründen dürfen, wenn sie nach sorgfältiger Prüfung aller Umstände keine Bedenken zu hegen brauchten, dass die künftige Masse zur Erfüllung ausreichen wird.198 Von solchen Kriterien war im RG-Urteil keine Rede. Ebenso weit war der III. Senat von dem Regelungsmodell entfernt, das der Reformgesetzgeber im heutigen §  61 InsO als sachgerecht erachtet: Verwalter sind persönlich zum Schadensersatz verpflichtet, wenn sie durch ihre Rechtshandlungen neue Masseverbindlichkeiten begründen, die aus der Insolvenzmasse nicht voll erfüllt werden können. Um sich von dieser Haftung zu entlasten, müssen die Verwalter substantiiert vortragen und nötigenfalls beweisen, dass sie bei Begründung der Masseverbindlichkeit nicht erkennen konnten, dass die Masse voraussichtlich zur Erfüllung nicht ausreichen würde. Diese Beweislastverteilung wird in der Insolvenzpraxis als schwere Bürde empfunden. Schließlich verfuhr der III. Senat auch weniger streng als die Vorinstanz, das Oberlandesgericht Kiel. Der in RGZ veröffentlichte Urteilstext lässt dies allerdings nicht erkennen. Im Originalurteil, das insoweit nicht zum Abdruck kam, wurde ausgeführt, dass „die Verurtheilung des Beklagten nach Lage der Dinge“ noch nicht gerechtfertigt gewesen sei. In der Berufungsinstanz sei eine Feststellung unterblieben, die für die Stattgabe der Klage unverzichtbar sei: „Die Massegläubiger können den Konkursverwalter grundsätzlich nur insoweit in Anspruch nehmen, als ihnen in Folge der Nichterfüllung der dem Konkursverwalter obliegenden Pflichten ein Schaden erwachsen ist. Zur Begründung der Klage ist daher darzulegen, dass die damals vorhandene Konkursmasse zur Befriedigung oder doch zur Sicherstellung der vom Konkursverwalter kontrahierten Schulden ausreichte.“199

Das Oberlandesgericht hatte den Beklagten unabhängig davon verurteilt, ob die Masse, die bei Aufhebung des Verfahrens verfügbar war, die Befriedigung der fälligen und Sicherstellung der noch nicht fälligen Masseschulden zugelassen hätte. Vielleicht war den Berufungsrichtern insoweit ein schlichtes Versehen unterlaufen; vielleicht hatten sie damit eine wohlerwogene Entscheidung getroffen, deren Begründung im Urteil des Reichsgerichts unerwähnt blieb, aus welchem Grund auch immer. Wenn man die Rechtsauffassung des III. Zivilsenats teilt, war die Aufhebung des Berufungsurteils unvermeidlich. Es fehlte an der Feststellung der haftungsausfüllenden Kausalität zwischen der verletzten Verwalterpflicht, aus der vor198 

199 

So die Zusammenfassung durch BGHZ 100, 346, 351. Urteilsabschrift, Blatt 5 oben.

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handenen Masse zu leisten, und den geltend gemachten Ausfallschäden. Würde man dagegen – rein hypothetisch gedacht – von den Grundsätzen der älteren BGH-Rechtsprechung oder von §  61 InsO ausgehen, so wäre das OLG-Urteil nicht zu beanstanden. Der Verwalter hätte sich der Ersatzpflicht allenfalls noch durch den Beweis entlasten können, dass er die (etwaige) Unzulänglichkeit der Masse nicht hatte vorhersehen können, als er die neuen Masseschulden einging. Dieser Beweis wäre ihm schwer gefallen. Bei der Fortführung von Konkursunternehmen ist mit einem Fehlschlag immer zu rechnen. An diesem Punkt kommt in der heutigen Insolvenzpraxis auch die Rückschauverzerrung ins Spiel. Bei einer schlussendlich gescheiterten Fortführung neigen die Betrachter, die das Verhalten des Insolvenzverwalters aus der ex-ante-Perspektive beurteilen, intuitiv zur Einschätzung, dass dieses Scheitern von Anfang an überwiegend wahrscheinlich und leicht vorhersehbar gewesen wäre. Wenn also Richter über eine Klage aus §  61 InsO zu entscheiden haben, droht eine wahrnehmungspsychologisch bedingte Verschärfung der Berufshaftung. Diese Problematik ist aus anderen Bereichen des Haftungsrechts – etwa der Geschäftsleiterhaftung im Gesellschaftsrecht oder der deliktischen Haftung für die Verletzung von Verkehrssicherungspflichten – bereits gut bekannt.200 Im Insolvenzrecht stellt sich das Problem mit besonderer Schärfe. Der InsOGesetz­geber hat die Rückschauverzerrung ausweislich der Gesetzesmaterialien nicht bedacht, als er die neue, auch in anderer Hinsicht durchaus fragwürdige Vorschrift schuf. Die brisante Haftungslage motiviert Verwalter zu risikoscheuem, fortführungsfeindlichem Verhalten, setzt also verhaltensökonomische Fehlanreize. Obendrein fällt die neue Gesetzesnorm hinter die korrigierte, sachgerechte Haftungsrechtsprechung des IX. Zivilsenats zurück.201 Der Reformgesetzgeber, der mit großem Fleiß auf der von ihm selbst geschaffenen Dauerbaustelle tätig ist, 202 sollte diese Haftungsnorm bei der anstehenden Evaluierung seiner Reformvorhaben mit auf den Prüfstand der Rechtswissenschaft stellen. Ein Urteil des Oberlandesgerichts Köln vom Januar 1909 belegt, dass eine Verschärfung der Verwalterhaftung im Sinne von §  61 InsO schon in der damaligen Gerichtspraxis zur Debatte stand. Das OLG hatte ihr zwar eine definitive Absage erteilt, nicht aber die Vorinstanz. Das Landgericht hatte die Schadensersatzklage zwar ebenfalls abgewiesen, aber nur wegen der Feststellung, der fortführende Verwalter habe „nicht vorhersehen können, dass die Masse zur Befriedigung der Massegläubiger nicht ausreichen werde“. Dieser entlastende Beweis sei dem Beklagten gelungen, weil er bei der Verwertung von Liegen200 

8.

Vgl. die Nachweise zur Rückschauverzerrung in Fn.  104, 119. Alles, Haftung des Konkursverwalters (wie Fn.  35), S.  197–214, 215–231, 234 Ziffer

201 Vgl.

202 Vgl.

Falk, Konkursübel (wie Fn.  6), S.  273–276.

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schaften, die zur Konkursmasse gehörten, einen sicher geglaubten Erlös „wider alles Erwarten“ nicht erzielen konnte.203 Das Oberlandesgericht wies die Berufung gegen die Klageabweisung zurück, verwarf aber die landgerichtliche Begründung: Aus der Konkursordnung folge keineswegs, „dass der Verwalter unter allen Umständen die Verantwortung für das Vorhandensein eines zur Deckung der Masseschulden hinreichenden Massebestandes tragen müsse.“ Zu Unrecht berufe sich die Klägerin, die mit ihrer Masseforderung aus Warenlieferung in Höhe von 1800 Reichsmark ausgefallen war, auf die Waldbrauerei-Urteile des Reichsgerichts. Auch der III. Senat habe im ersten Urteil „den Konkursverwalter lediglich deshalb verurteilt, weil er es unterlassen habe, die Massegläubiger aus der vorhandenen Masse zu befriedigen. Keineswegs aber ist ausgesprochen, dass das Nichtvorhandensein eines die Massgläubiger deckenden Massebestandes allemal auf Gefahr des Konkursverwalters gehe. Das würde nur dann der Fall sein, wenn der Konkursverwalter durch Verabsäumung irgend welcher Verwaltungspflichten den Massebestand schuldhafterweise verringert und so die Masse unfähig gemacht hätte, die Massegläubiger ganz oder teilweise zu befriedigen.“204

Wie man sieht, war das Oberlandesgericht Köln der Suggestion erlegen, die von der Differenz zwischen dem reichsgerichtlichen Originalurteil und der RGZFassung ausgeht: Der 3. Senat hatte den Beklagten keineswegs „verurteilt“, sondern zurückverwiesen. Im Übrigen war die Bezugnahme auf das erste Waldbrauerei-Urteil aber korrekt: Das Reichsgericht hatte sich auch in jener Entscheidung – einer in anderer Hinsicht durchaus fragwürdigen Entscheidung – davor gehütet, die Fortführung einseitig „auf Gefahr des Konkursverwalters“ gehen zu lassen. Die Selbstkritik des BGH am Wendepunkt der eigenen Rechtsprechung, die Verwalter einseitig mit dem Risiko des Scheiterns betriebswirtschaftlich erwünschter Unternehmensfortführungen belastet zu haben,205 ist auf dieses Urteil nicht übertragbar. Das veröffentlichte Urteil in der amtlichen Sammlung endet mit der Schlussfolgerung, dass ein Konkursverwalter, der die Befriedigung der Massegläubiger bewirken müsse, „auch für die schuldvolle Nichterfüllung dieser Pflicht persönlich aus §  74 KO verantwortlich“ sei.206 Hier fiel ein zweiter Schatten des Zweifels auf die Entscheidung: Durfte man dem Verwalter tatsächlich ohne weiteres als Verschulden anlasten, dass er die Rechtslage anders beurteilt hatte? Vor dem Urteil waren zur Aufhebungsproblematik weder Rechtsprechung noch Literatur verfügbar gewesen.207

203 

OLG Köln, LZ 1909, Sp.  406. OLG Köln, LZ 1909, Sp.  406, 407. 205  BGHZ 99, 151, 154 f. 206  RGZ 36, 93, 96. 207  Diesen Gesichtspunkt betont das zweite Waldbrauerei-Urteil, RGZ 39, 93, 99–102. 204 

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Über diesen Einwand ging der Senat mit einer lakonischen Feststellung hinweg: Der Beklagte habe im Rahmen der Verwalterhaftung „auch selbst culpa levis zu vertreten“.208 Der Vorwurf leichter Fahrlässigkeit lag in der Tat auf der Hand: Wegen der offenen Rechtslage hatte der Verwalter selbstverständlich immer damit rechnen müssen, in einem denkbaren Haftungsprozess womöglich zu unterliegen.209 In der Sache wurde ihm dadurch vom III. Zivilsenat das Risiko der falschen Prognose einer ungeklärten Rechtslage zugewiesen. Der Effekt der Rückschauverzerrung bewirkte ein Übriges.

V.  Zweites Waldbrauerei-Urteil 1.  Rechtspolitische Weichenstellung Zur Fortführung der Waldbrauerei bedurfte es einer größeren Menge an Rohmaterial. Deshalb hatte der Konkursverwalter weiteren Hopfen bei einem zweiten Händler bestellt, gleichfalls im Namen und auf Rechnung der Brauerei. Dieser Händler hatte ebenfalls anstandslos geliefert, Zahlungsaufschub bewilligt und vergeblich auf Zahlung gewartet. Später als der erste Händler, aber noch rechtzeitig vor Ablauf der Verjährungsfrist, verklagte auch er den Verwalter persönlich. Die Klage gelangte in erster Instanz allerdings nicht zum Landgericht Altona, sondern – warum auch immer – zum Landgericht Berlin. Zu den prozessualen Hintergründen ist den Urteilen des Reichsgerichts nichts zu entnehmen. Das angerufene Landgericht wies die Klage als unbegründet ab, weil der beklagte Konkursverwalter nicht verpflichtet gewesen sei, den Kläger vor Rückgabe des Schuldnervermögens zu befriedigen. Die zweite Niederlage erlitt er in der Berufungsinstanz. Das Berliner Kammergericht ließ dabei offen, ob der Entscheidung des III. Zivilsenats des Reichsgerichts wenigstens im Ansatz zu folgen sei. Selbst dann sei die Klage nur begründet, wenn der Verwalter seine etwaige Pflicht „schuldhafterweise“ verletzt habe. Das aber sei allemal zu verneinen.210 Für die Revision gegen diese Klageabweisung war der VI. Zivilsenat des Reichsgerichts zuständig. Dieser Senat ließ seine eigene Einschätzung zum konkursrechtlichen Aufhebungsproblem ausdrücklich offen. Zwischen den Zeilen ließ er freilich Zweifel an der Lösung des III. Senats anklingen.211 In einem Zwischenschritt erörterte er die Frage, ob die Revision des Klägers aus prozessualen Gründen von vornherein erfolglos bleiben müsse. Rechtspolitisch sei es jedoch 208 

RGZ 36, 93, 95. diesem Standardkriterium der Rspr. des 20. Jahrhunderts, insb. im Kontext des Schuldnerverzugs, Ulrich Huber, Leistungsstörungen, Bd. 1, Tübingen 1999, §  29 III 3. 210  RGZ 39, 94, 95. 211  RGZ 39, 94, 99 f. 209 Zu

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zwingend geboten, die materiellrechtliche Problematik zu reichsgerichtlicher Klärung zu bringen. Die vom Gesetzgeber „beabsichtigte Einheitlichkeit des Rechts“ gebiete es, auch „den Grad der Verantwortlichkeit des Verwalters für das ganze Reichsgebiet gleichmäßig festzusetzen“. Deshalb müsse auch das konkrete Verschuldensproblem „nach einheitlichen, aus der Natur der Sache und allgemeinen Rechtsprinzipien abzuleitenden Erwägungen beurtheilt werden.“212

2. Entscheidungsgründe Im Zentrum des Urteils stand eine grundsätzliche Frage von erheblicher praktischer Bedeutung: Darf sich der Konkursverwalter im Haftungsprozess auf einen Rechtsirrtum über – wie es im Leitsatz der amtlichen Sammlung wörtlich heißt – „zweifelhafte Rechtsfragen“ berufen? 213 Kann er sich mit dem Argument verteidigen, dass ein ordentlicher Verwalter ebenso gehandelt hätte? Die Antwort hing von einer Vorfrage ab: Inwieweit kann ein so genannter Rechtsirrtum im Zivilrecht überhaupt als entschuldbar gelten? Das Urteil des 6. Senats befasste sich eingehend mit diesem Grundlagenproblem. Es ging zurück bis zum Römischen Recht und zum Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten. Es referierte den Meinungsstand in der Literatur und die Gesetzesmaterialien, sowohl zur Konkursordnung als auch zum Bürgerlichen Gesetzbuch, das der Reichstag im Jahr 1896 verabschiedet hatte. Dieser Begründungsaufwand war der Größenordnung des Problems durchaus angemessen, zählt doch der Rechtsirrtum zu den umstrittenen Dauerproblemen der Privatrechtsgeschichte.214 Das Fundament der Diskussion bildete ein Titel in den Digesten, dem Hauptteil des Corpus Iuris Civilis. Dort heißt es unter der Überschrift „Über Rechtsunkenntnis und die Unkenntnis von Tatsachen“ (De iuris et facti ignorantia) zum Beispiel sinngemäß: „In keinem Bereich darf man den Rechtsirrtum auf die gleiche Stufe stellen wie die Tatsachenunkenntnis, da das Recht bestimmt sein kann und auch sein muß, während sich 212  RGZ 39, 94, 97; Ausgangspunkt der prozessualen Problematik war §  511 CPO, der dem Revisionsgericht die Nachprüfung bestimmter partikularrechtlicher Fragen entzog. Zur Natur das Sache als methodischem Instrument s. Falk, Windscheid (wie Fn.  5), S.  140 f., 183–193; zur Bedeutung von Rechtsprinzipien s. Joachim Rückert, HKK Bd. 1, vor §  1, München 2003, Rn.  1 ff., zusammenfassend Rn.  117. 213  RGZ 39, 94, 94. 214  Den Diskussionsstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts erschließen Karl Adler, Die Wirkungen des Rechtsirrthums, in: Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts [JherJb], Bd. 33, 1894, S.  155–224, und Bernhard Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 7.  Aufl., Düsseldorf 1892, §§  79, 79a; aus der gemeinrechtlichen Literatur s. insb. Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. III, S.  326 ff. und Christian Friedrich Mühlenbruch, Ueber juris und facti ignorantia und deren Einfluß auf Rechtsverhältnisse, in: AcP 2, 1819, S.  361–451.

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bei der Erfassung von Tatsachen bisweilen auch höchst erfahrene Menschen irren können.“ (D. 22.6.2 – Neratius). 215

In die gleiche Richtung wies die Einleitung zum Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten vom Jahr 1794: „§  12. Es ist aber auch jeder Einwohner des Staats, sich um Gesetze, welche ihn oder sein Gewerbe und seine Handlungen betreffen, genau zu erkundigen gehalten; und es kann sich niemand mit der Unwissenheit eines gehörig publizirten Gesetzes entschuldigen.“216

Kritisch zu dieser Vorschrift äußerte sich im Jahr 1840 ein Preußischer Staatsrat und Professor zu Berlin. Er sprach von der „Strenge des Landrechts“ bei der Behandlung des Rechtsirrtums, die eine übertriebene sei. Die Verfasser des Gesetzes hätten die Wirkung ihrer Kodifikation im Hinblick auf die Rechtssicherheit zu optimistisch eingeschätzt. Unrealistisch sei ihre Erwartung, „das Recht werde von nun an nicht nur unzweifelhaft, sondern auch der ganzen Nation bekannt seyn“. Das zeige schon die Tatsache, dass der Gesetzgeber in späteren Jahren immer wieder Klarstellungen seines Landrechts nachschieben musste. Der Anlass sei fast immer der gleiche gewesen: „irrige, oder sich widersprechende, Entscheidungen der mit wohlgeprüften Personen besetzten Gerichtshöfe“.217 Auch die strenge Grundhaltung des römischen Rechts wollte der Minister für seine eigene Epoche nicht mehr befürworten. Die Anzahl der hoch umstrittenen Rechtsfragen sei „in unsrem gelehrten und verwickelten Rechtszustand ungleich größer, als er den Römern erscheinen konnte“.218 Es sei ein Gebot der Gerechtigkeit, nach Lage des jeweiligen Einzelfalls auch den Rechtsirrtum als entschuldbar anzusehen. Unverzichtbar sei nur, dass sich der Irrtum nicht in der schlichten Unkenntnis einzelner Rechtsnormen erschöpfe, 219 sondern Rechtsfragen von höherer Komplexität betreffe. „Sobald ein Rechtsfall in verwickelter Gestalt erscheint, wird oft die Subsumtion so schwierig sein“, dass der 215  Digesten 22.6.2 (Neratius libro quinto membranarum – Neraz im 5. Buch der ‚Blätter‘): In omni parte error in iure non eodem loco quo facti ignorantia haberi debebit, cum ius finitum et possit esse et debeat, facti interpretatio plerumque etiam prudentissimos fallat. Text und Übersetzung nach Behrends, in: Corpus Iuris Civilis IV, hrsg. von Knütel et al., Digesten 21–27; zu L. Neratius Priscius († um 133 n. Chr.) s. Tomasz Giaro, in: Der Neue Pauly, Bd. 8 (2000), Sp.  845. 216  Zit. nach der Textausgabe Frankfurt a. M./Berlin 1970 mit Einführung von Hans Hattenhauer; zur Auslegung dieser Vorschrift s. RGZ 18, 261–264 (Urt. des 5. ZS vom 9.3.1887). 217  Savigny, System III (wie Fn.  214), S.  426. 218  Savigny, System III (wie Fn.  214), S.  337. 219  Solche Fallgestaltungen begegnen selbstverständlich auch in der Rspr. zur Haftung der Insolvenzverwalter; z. B. BGHZ 23, 69, 73: Der beklagte Verwalter habe fahrlässig gehandelt, weil ihm die rechtliche Tragweite seiner Handlungen unklar gewesen sei, obwohl ihn schon eine „kurze Einsichtnahme in den Gesetzestext“ eines Besseren belehrt hätte; ähnlich OLG Nürnberg, KTS 1974, 115, 117.

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„Fall auf ganz entgegengesetzte Weise beurtheilt werden“ könne. „Dann aber wäre es doch die höchste Willkühr (sic!) und Ungerechtigkeit“, wenn man demjenigen, dessen Beurteilung der Rechtslage man verwerfe, nicht nur objektiv Unrecht gebe, sondern obendrein Fahrlässigkeit anlaste.220 Sein Urteil erging nach der Verabschiedung des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Nach jahrzehntelanger Arbeit stand man am Vorabend einer Kodifikation des Zivilrechts, die sich gesetzestechnisch auf höchstem Niveau bewegte. Das BGB war der Schlussstein der Rechtseinheit im Deutschen Kaiserreich. Vorausgegangen waren das Strafgesetzbuch, das Handelsgesetzbuch und die vier Reichsjustizgesetze. Der Gesetzgeber hatte einen maximalen Beitrag zur Rechtssicherheit geliefert, die als höchstes Ziel des Rechtspositivismus gilt. Man befand sich – so jedenfalls nach weit verbreiteter Einschätzung – geradezu im Zenit des goldenen Zeitalters der Rechtssicherheit.221 Daher war zu erwarten, dass der VI. Senat im Juli 1897 eine strenge Grundhaltung einnehmen würde. In der Tat formulierte das Urteil zunächst den Grundsatz, „daß sich regelmäßig niemand den Folgen seiner Handlungsweise durch die Berufung darauf, daß er das geltende Recht nicht gekannt oder falsch verstanden habe, entziehen könne.“222

Dann nahm die Sache jedoch eine unvermutete Wendung. Die praktische Erfahrung lehrte nach Ansicht des VI. Senats die unleugbare „Thatsache, daß die Gesetze in ihrer Bedeutung und Tragweite nicht selten zweifelhaft sind, und demnach auch bei gewissenhaftester Prüfung Rechtskundige bezüglich derselben Rechtsfrage zu abweichenden Ergebnissen gelangen können“.223

Auch der deutsche Gesetzgeber selbst sei sich dieser Tatsache des Rechtslebens „sehr wohl bewußt“, wie man zum Beispiel aus den Materialien zum BGB ersehen könne. Aus diesem Grund habe das BGB auf eine Vorschrift nach dem Vorbild des römischen oder preußischen Rechts wohlweislich verzichtet.224 Auch „Gründe der Zweckmäßigkeit, insbesondere die hier in Betracht kom220  Savigny, System III (wie Fn.  214), S.  338 f. Eine streng auf die Wahrung der Rechtssicherheit bedachte Behandlung der Problematik des Rechtsirrtums forderte dagegen Kühne, Präsident des Appellationsgerichts Greifswald, unter Protest gegen Savignys Position: Dr. Kühne [sic], Ungewißheit des Gläubigers als Grund zur Deposition behufs Befreiung des Schuldners JherJb 17, 1879, S.  1–66, 11–14. Der 6. Senat bemerkte dazu kühl, Kühne sei von der Einsicht des Gesetzgebers, die sich z. B. in §  137 GVG 1879 niedergeschlagen habe, „weit entfernt“; RGZ 39, 94, 98. 221  Dazu distanzierend Ogorek, Richterkönig (wie Fn.  4), S.  1–9. 222  RGZ 39, 94, 98. 223  RGZ 39, 94, 98. 224  RGZ 39, 94, 98. Die 1. BGB-Kommission wollte einen wichtigen Teilbereich der Problematik – den Rechtsfolgenirrtum – sogar im umgekehrten Sinne entscheiden; in §  146 E I hieß es: „im Sinne des Gesetzes ist unter Irrtum sowohl Irrtum über Tatsachen als auch der Rechtsirrtum zu verstehen“. Die 2. Kommission strich diese Klarstellung als vermeintlich überflüssig. Zu diesem Problemkomplex aus damaliger Sicht z. B. Alfred Manigk, Irrtum und Ausle-

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mende Rechtssicherheit“, könnten nicht rechtfertigen, die Unentschuldbarkeit des Rechtsirrtums „zur ausnahmslosen Regel zu machen“.225 Wenn man den Zitaten des VI. Senats nachgeht, gelangt man zu Friedrich Carl von Savigny, einem der wichtigsten Wegbereiter der Pandektenwissenschaft, der Rechtsgeschichte und zugleich des modernen deutschen Zivilrechts. Er war jener Staatsrat und Professor, der §  12 der Einleitung zum ALR kritisierte. Durchaus in der Logik solcher Kritik lag es, dass er in den Folgejahren – von 1842 bis 1848 – auch das preußische Ministerium für „Gesetzrevision“ übernommen hatte. Seine unspektakuläre, aber umsichtige Amtsführung hat erst vor wenigen Jahren eine angemessene rechtshistorische Bewertung erhalten, die eine alteingesessene Fehleinschätzung korrigiert.226 In seinem grundlegenden „System des heutigen römischen Rechts“ behandelte Savigny eingehend die vielschichtigen Probleme des Rechtsirrtums im Zivilrecht und entwickelte eine bis heute einflussreiche Deutung der römischen Quellen.227 Dieser Rekonstruktion und rechtspolitischen Bewertung folgte der VI. Zivilsenat im zweiten Waldbrauerei-Urteil, stand gleichsam auf den Schultern von Savigny.228 Gleichwohl ist der eigene Beitrag der Reichsgerichtsräte hoch einzuschätzen. Savignys Ausführungen stammen aus dem Jahr 1840. Dagung: Zwei Grundpfeiler der Lehre von der Willenserklärung, mit einem Beitrag zur Funktion und Methodik der Rechtsbegriffe, S.  97–189. 225  RGZ 39, 94, 99. Übersicht über die Ausnahmefälle, die von der Rspr. im Laufe des 20. Jhs. anerkannt wurden, bei Huber, Leistungsstörungen Bd. 1 (wie Fn.  209), §  29 III 3, S.  715– 720. Den aktuellen Stand der Praxis erschließt Palandt-Grüneberg, 75.  Aufl. 2016, §  276 Rn.  22 f.; dort §  280 Rn.  68 zur schärferen Haftung von Rechtsanwälten und Steuerberatern. Überschau über neuere Judikatur bei Gerhard Ganter, Aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in: AnwBl 2008, 94. Als signifikantes Beispiel aus der älteren BGH-Judkatur s. VersR 1959, 638, 641: grundsätzliches Vertretenmüssen jeden Rechtsirrtums wegen der „hohen Anforderungen an den Anwalt“. Eine strenge Handhabung der Entschuldbarkeit befürworten auch meine Mannheimer Kollegen Patrick Schmidt, Die Unmöglichkeit in Ansehung der Zeit, Berlin 2007, S.  106, und Andreas Engert, Der Rechtsirrtum in der Verschuldenshaftung, in: Gedächtnisschrift Hannes Unberath, München 2015, S.  91–110; für Schmidt sind rechtsdogmatische Erwägungen maßgebend; Engert erarbeitet seine Lösung „dieses klassischen dogmatischen Problems“ (S.  92) auf rechtsökonomischer Grundlage. Ich danke beiden sehr für das Interesse an meiner Arbeit. 226 Dazu Wolf Christian von Arnswaldt, Savigny als Strafrechtspraktiker. Ministerium für die Gesetzrevision (1842–1848), Baden-Baden 2003, positiv besprochen von Joachim Rückert, in: forum historiae iuris, http://www.forhistiur.de/zitat/0604rueckert.htm. 227 Zusammenfassend Joachim Rückert, Savigny, in: Juristen (wie Fn.  12), hrsg. von Stoll­ eis, S.  555–560. 228  Neben Savigny erwähnt das Urteil, RGZ 39, 93, 100, Julius Baron, Pandekten, 5.  Aufl. Leipzig 1885, §  10, und Karl Georg von Wächter, Die bona fides, insbesondere bei der Ersitzung des Eigenthums, Leipzig 1871, §  27, S.  118–139; vgl. auch ders., Pandekten, Leipzig 1880, §  72, S.  349–360. Eine vergleichende Untersuchung dieser und weitere Stellungnahmen aus dem Umkreis der Pandektenwissenschaft, z. B. von Mühlenbruch und Windscheid (Nachweise in Fn.  214) könnte sich als lohnend erweisen, zumal aus methodengeschichtlicher Perspektive. Dieses Thema möchte ich in einigen Jahren selbst angehen oder zum Gegenstand eines Promotionsvorhabens machen.

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mals lagen die Vorarbeiten zum BGB noch in weiter Ferne. Savigny selbst riet von einer Kodifikation des Zivilrechts bekanntlich ab. Der VI. Senat folgte seiner Lehre zum Rechtsirrtum ausgerechnet in einer Zeit, als die Kodifizierung der deutschen Rechtsordnung ihren glanzvollen Höhepunkt erreicht hatte. Diese Stellungnahme verhält sich zu allen Zuschreibungen eines – wie auch immer gearteten – Positivismus oder einer Begriffsjurisprudenz wie Feuer zu Wasser. Bemerkenswert ist auch die Resonanz dieses Urteils in der heutigen Praxis. Zustimmung erfährt es zum Beispiel in Gerhardts Kommentierung im Großkommentar von Jaeger.229 Eine Dissertation zum Rechtsirrtum im Zivilrecht, erschienen im Jahr 1989, spendet ihm herausgehobenes Lob: Es enthalte „eine sehr sorgfältige und differenzierte Behandlung des Rechtsirrtums, wie sie auch später nur bei wenigen Entscheidungen wieder zu finden ist“.230 Der Rechtshistoriker Theo Mayer-Maly könnte ähnlich geurteilt haben, als er in einem AcP-Aufsatz im Jahr 1970 eindringlich für eine mildere Behandlung des Rechts­ irrtums eintrat, dabei nicht zuletzt auf Savignys Prämissen aufbauend. Das Urteil ist in seiner Analyse der vielschichtigen Rechtsprechung des 20. Jahrhunderts freilich nicht erwähnt, weil er sich auf einige der Fallgruppen der Irrtums­ problematik im Bürgerlichen Gesetzbuch konzentrierte.231 Gut vereinbar ist das Urteil mit der aktuellen Judikatur des IX. Zivilsenats des BGH zur Haftung des Insolvenzverwalters. Dies zeigt zum Beispiel ein Beschluss vom Januar 2008.232 Eine generelle Leitlinie der Judikatur dieses ­Senats bildet das Bemühen, eine Ausuferung der Verwalterhaftung zu vermeiden und der spezifischen Interessenlage Rechnung zu tragen: 233 Der Verwalter verrichtet sein Amt nicht im Eigeninteresse, sondern muss im Grundsatz den 229 Jaeger/W. Gerhardt, §  60 InsO (wie Fn.  82), Rn.  119; präsent war das Urteil selbstverständlich in KO-Kommentaren; z. B. Kilger/K. Schmidt, Konkursordnung, 16.  Aufl., München 1993, §  82 3a). 230  Mayer, Rechtsirrtum (wie Fn. 195), S.  101 Anm.  1; Unbemerkt bleiben die Besonderheiten des Urteils bei Marus Kirchhof, Die Haftung des Insolvenzverwalters nach §  60 InsO gegenüber den Absonderungsberechtigten, Rn.  4 42. 231  Theo Mayer-Maly, Rechtsirrtum und Rechtsunkenntnis als Probleme des Privatrechts, AcP 170, 1970, S.  133–180, behandelt Schuldnerverzug (S.  148–153), deliktisches Verschulden (S.  153–165), Irrtumsanfechtung (S.  165–173) und Vergleichsirrtum (S.  173–176). 232  BGH, NJW 2008, 1442 f. = ZIP 2008, 608 f. (Beschl. IX ZR 201/06 – Rn.  18 der Version in juris); dem 2. Waldbrauerei-Urteil ausdrücklich folgend OLG Bremen, Urt. vom 20.1.1988, NJW-RR 1988, 1144; ohne Erwähnung, aber mit gleicher Tendenz LG Stuttgart, NZI 2008, 442, 444. 233  Vgl. BGH, NZI 2008, 735 (Beschl. vom 25.9.2008); BGH, ZIP 2007, 539–541 (Urt. vom 25.1.2007); BGH, ZIP 2005, 311–313 (Urt. vom 17.12.2004), BGHZ 161, 236–241 (Urt. vom 2.12.2004); BGHZ 161, 49–60 (Urt. vom 4.11.2004); BGHZ 159, 104–122 (Urt. vom 6.5.2004); BGHZ 154, 269–275 (Urt. vom 25.3.2003). Dagegen neigten viele Instanzgerichte nach dem Inkrafttreten der InsO zu strengeren Maßstäben; z. B. OLG Brandenburg, NZI 2003, 552– 555 (Urt. vom 3.7.2003); OLG Hamm, ZIP 2004, 814–817 (Urt. vom 11.12.2003 – auch einen entschuldbaren Rechtsirrtum des Verwalters verneinend); OLG Hamm, NZI 2003, 150–152 (Urt. vom 28.11.2002).

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Interessen aller Beteiligten des Insolvenzverfahrens gerecht werden.234 Diese Interessen sind in aller Regel nicht deckungsgleich, häufig stehen sie sogar „völlig gegensätzlich zueinander“.235 Verwalter stehen deshalb immer wieder vor dem Dilemma, sich drohenden Regressansprüchen entweder der einen oder einer anderen Gruppe von Beteiligten auszusetzen. Diese Problematik war dem VI. Zivilsenat im Jahr 1897 genau bewusst: Der beklagte Verwalter habe nicht die Wahl gehabt, „ob er überhaupt etwas thun, oder lassen wollte; er mußte in der einen oder der anderen Weise verfahren.“ Bei solcher Sachlage könne von einem Handeln auf eigene Gefahr, das es rechtfertige, den Verwalter mit dem vollen Haftungsrisiko zu belasten, nicht die Rede sein.236 Nicht zu seinem Nachteil gereiche auch eine Erwägung, die in den römischen Quellen und der gemeinrechtlichen Literatur angestellt werde: In zweifelhaften Fällen müsse der Rat von Rechtsverständigen einholt werden. Dieses Argument könne „im gegebenen Falle schon deshalb nicht gegen den Beklagten verwertet werden, weil er selbst Rechtsanwalt war.“237 Im Übrigen sei es wegen der Unklarheit der Rechtslage auch keineswegs erwiesen, dass einer Anfrage bei einem Experten des Konkursrechts gerade „jene Bescheidung zu teil geworden wäre“, die mit der Rechtsauffassung des III. Senats übereingestimmt hätte.238 Für den ehemaligen Konkursverwalter der Waldbrauerei Bergedorf war der 5. Juli 1897 ein guter Tag. Der VI. Senat entlastete ihn vom Vorwurf der Fahrlässigkeit und wies die Revision gegen das klageabweisende Urteil des Kammergerichts zurück. Die Rechtsfrage, vor welcher der beklagte Verwalter seinerzeit gestanden habe, sei eine zweifelhafte gewesen. Für jene Entscheidung, die er getroffen habe, hätten „sich gute Gründe anführen lassen“. Daher könne „ihm ein Verschulden nicht zur Last gelegt werden“.239 Der klagende Händler erlitt eine bittere Niederlage. Das Urteil des VI. Senats wird er wohl als „höchste Willkühr und Ungerechtigkeit“240 wahrgenommen haben. Verweigert wurde ihm nicht nur Schadensersatz; obendrein musste er 234 Signifikant OLG Köln, NJW 1991, 2570, 2571: „Mit Rücksicht auf die dem Konkursverwalter obliegende Pflicht, die Interessen der Gläubiger zu wahren, kann die Beurteilung eines Rechtsirrtums nicht den strengen Maßstäben unterliegen, wie sie z. B. im Rahmen von §  285 BGB an das Verhalten des nicht leistenden Schuldners angelegt werden.“ 235  Lüke, Persönliche Haftung (wie Fn.   90), 1; zustimmend z. B. Vallender, Rechtsprechung (wie Fn.  109), S. 354. 236  RGZ 39, 94, 101; ebenso später z. B. LG Mainz, KTS 1974, 245, 246: „Denn in seiner Stellung als Konkursverwalter mußte es ihm bei einer zweifelhaften Rechtslage gestattet sein (…), da er – wie er auch immer handelte – jeweils von anderen Beteiligten hätte persönlich verantwortlich gemacht werden können“. 237 RGZ 39, 94, 101 unter Hinweis auf D. 22.6.9.3 (Paulus zu Labeo) und Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 6.  Aufl., Düsseldorf 1887, §  79a Anm.  5. 238  RGZ 39, 94, 101. In die gleiche Richtung wies schon ein Urteil des 5. ZS vom 28.11.1894, auszugsweise mitgeteilt bei Bolze, Praxis des Reichsgerichts (wie Fn.  68), Jahrg. 1894, Nr.  809. 239  RGZ 39, 94, 101. 240  Savigny, System III (wie Fn.  214), S.  339.

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alle Prozesskosten tragen, auch die seines Gegners.241 Ein Blick in das Gerichtsverfassungsgesetz könnte seinen Zorn noch gesteigert haben. Wollte ein Zivilsenat des Reichsgerichts von einer Entscheidung eines anderen Zivilsenats abweichen, so musste er die Sache dem Großen Zivilsenat vorlegen (§  137 GVG 1879).242 Diese Verpflichtung hatte der VI. Senat nicht nur beiseite geschoben,243 sondern sogar in ein Argument umgemünzt. Der Gesetzgeber sei sich, wie durch diese Vorschrift „geradezu anerkannt“ werde, einer wichtigen Rechtstatsache sehr wohl bewusst: Selbst höchste Richter können „auch bei gewissenhaftester Prüfung (…) bezüglich derselben Rechtsfrage zu abweichenden Ergebnissen gelangen“.244

VI.  Anschließende Urteile des Reichsgerichts im 19. Jahrhundert 1.  Bauunternehmen-Urteil (Juni 1899) Spätere Entscheidungen des Reichsgerichts könnten den abgewiesenen Kläger vielleicht etwas versöhnlicher gestimmt haben. Mit Urteil vom 16. Juni 1899 erachtete auch der III. Zivilsenat den Rechtsirrtum eines Konkursverwalters als entschuldigt „durch besondere Umstände, insbesondere die Bestrittenheit und Zweifelhaftigkeit der in Betracht kommenden Rechtssätze und Rechtsfragen“. Die Reichsgerichtsräte sahen dem beklagten Verwalter – einem hauptberuflichen Architekten – im Konkurs eines Bauunternehmens sogar eine doppelte Fehleinschätzung nach: „für entschuldigt gelten“ ließen sie nicht nur seinen Irrtum über den „Fortbestand der Absonderungsrechte“ des Klägers, der durch die Nichtbeachtung dieser Rechte einen Schaden erlitten hatte, sondern auch 241  In derartigen Härtefällen erwies sich die Flexibilität der kostenrechtlichen Grundsätze der älteren gemeinrechtlichen Praxis als vorteilhaft; zu dieser Praxis s. Falk, Consilia (wie Fn.  71), S.  101–106. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wäre es im zweiten Waldbrauerei-Fall zur Kostenaufhebung gekommen. 242  Zu §  137 GVG in der Fassung vom Jahr 1898 (RGBl. 1898, 371, 397 f.) s. Werner Schubert, Die Unterschrift mit dem Namen des Vertretenen durch den bevollmächtigten Vertreter. Die Durchsetzung der weiten Auslegung des §  126 BGB durch die Vereinigten Zivilsenate des Reichsgerichts vor hundert Jahren, in: FS Dieter Reuter, Berlin 2010, S.  365–381, 365; vgl. §  132 Abs.  2 GVG in der Fassung der Bekanntmachung vom 9.5.1975. 243  Die Argumente, mit denen der VI. Senat die Vorlagepflicht verneinte, wirken bemüht: Erstens sei denkbar, dass in den beiden Fällen nicht in sämtlichen Punkten „der gleiche Sachstand“ vorgelegen habe, weil das erste Urteil keine Angabe zum Zeitpunkt der Fälligkeit der klägerischen Forderung enthalte. Zweitens habe der Beklagte des ersten Prozesses „damals, so viel ersichtlich (…) einen Einwand dahin, daß sein etwaiger Rechtsirrtum entschuldbar sei, gar nicht erhoben“, RGZ 39, 94, 102. Zum Phänomen des horror pleni s. die Nachweise bei Falk, Gelehrter wie Windscheid (wie Fn.  5), S.  213. Als Bsp. für einen Fall, in dem der VI. ZS eine Rechtsfrage den Vereinigten Zivilsenaten zur Entscheidung vorlegte, s. Schubert, Unterschrift (wie Fn.  242), zur Auslegung von §  126 BGB 1900. 244  RGZ 39, 94, 98.

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einen „hierbei weiter unterlaufenden Rechtsirrtum über seine Stellung und Aufgabe als Konkursverwalter“.245 Wenn man bedenkt, dass Konkursverwalter „auch selbst culpa levis zu vertreten“ hatten, also schon bei leichter Fahrlässigkeit hafteten,246 ist diese Entscheidung als auffallend verwalterfreundlich zu bewerten.

2.  Zigarrenfabrik-Urteil (Dezember 1899) Diese Tendenz setzte sich in einem Urteil vom 15. Dezember 1899 fort. Der 3. Senat begründete die Abweisung einer Haftungsklage gegen einen Konkursverwalter wiederum mit der Entschuldbarkeit eines Rechtsirrtums. Im konkreten Fall lag Nachsicht vielleicht besonders nahe, weil der Verwalter, „der kein Rechtsgelehrter, sondern Kaufmann“ war, einer rechtlichen Fehleinschätzung des Konkursgerichts gefolgt war.247 Aus rechtshistorischer Perspektive sind in jenem Fall auch Einzelheiten, die das Urteil nur beiläufig erwähnt, bemerkenswert: Der Kaufmann, den das Konkursgericht zum Verwalter berufen hatte, wagte die „Fortsetzung des Betriebs“ einer Zigarrenfabrik. Dieser Versuch erwies sich als erfolgreich. Das Konkursverfahren führte nicht zur zerschlagenden Liquidation des Betriebs, sondern endete mit seiner Aufhebung durch rechtskräftig „abgeschlossenen Zwangsvergleich“.248 So also war der Stand der Reichsgerichts-Judikatur am Vorabend des 20. Jahrhunderts. Den Lesern dieses Beitrags, die sich genauer über die weitere Entwicklung informieren möchten, darf ich die Doktorarbeit meines Schülers Matthias Alles empfehlen. In der Titelgebung ist er meinem Vorschlag gefolgt: „Haftung des Konkursverwalters bei der Fortführung insolventer Unternehmen: Wege und Irrwege der Rechtsprechung des 20. Jahrhunderts.“ Seit Januar 2016 liegt sein Werk im Druck vor.

245 

RG Gruchot 1901, Nr.  154, 1182, 1183 f. 36, 93, 95 – von dieser Auslegung des §  74 KO, der Vorläufervorschrift von §  82 KO, war der 3. Senat auf abstrakter Ebene keineswegs abgerückt. 247  Mitgeteilt in: Beiträge (wie Fn.  70) = JW 1900, 73, 1224–1226, 1225 f. 248  Wie Fn.  247. 246  RGZ

Naturrechtsfäden im Gewebe pandektistischer Theoriebildung: drei Beispiele aus dem Recht der Schuldverhältnisse Nils Jansen* I.  „Man frug zuerst: was ergibt sich aus der Natur der Sache?“ „Man frug zuerst: was ergibt sich aus der Natur der Sache? und war dann überzeugt, daß das auch im römischen Recht anzutreffen sei.“1 Dieser Satz, der wie eine spätere Karikatur zur Verbindung historischer und philosophischer Argumente in der historischen Methode Savignys anmutet,2 stammt aus dem Zentrum der Pandektistik: aus dem Jahre 1856 und aus der Feder Windscheids, der ihn an den Beginn seiner Abhandlung zur Actio des römischen Civilrechts stellte. In der konkreten Frage des Begriffs der actio griff Windscheid selbstbewusst die Zentralfiguren Savigny und Hasse an, doch wollte er seine These durchaus allgemein verstanden wissen: Es gebe „kaum einen (…) jetzt lebenden Romanisten, welcher diesem Zuge nicht mehr oder minder sich hingegeben hätte“.3 Ähnliche Vorwürfe erhob 30 Jahre später Ernst Immanuel Bekker. Man komme „in Versuchung, Savigny als recht eigentlich denjenigen zu nennen, welcher die Uebertragung des Naturrechts in die neueste Jurisprudenz vermittelt hat.“4 Windscheid hat sich stets als einen geschichtlichen Juristen verstanden; 5 gerade deshalb wusste er freilich auch, dass ein geschichtlicher Jurist zu sein zu sei*  Erweiterte Fassung meines Vortrags. Die dogmenhistorischen Ausführungen knüpfen an frühere Arbeiten an; siehe insbesondere „Gesetzliche Schuldverhältnisse. Eine historische Strukturanalyse“, AcP 216 (2016), S.  112–233. 1  Bernhard Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts, Vom Standpunkt des heutigen Rechts, Düsseldorf 1856, S.  1. 2 Vgl. Feras Gisawi, Der Grundsatz der Totalreparation. Naturrechtliche Wertungen als Grundlage für einen deutschen Sonderweg, Tübingen 2015, S.  195–197. 3  Windscheid, Actio (Fn.  1), S.  1. 4  Ernst Immanuel Bekker, Über den Streit der historischen und der filosofischen Rechtsschule, Heidelberg 1886, S.  19 f.; siehe auch id., System des heutigen Pandektenrechts, Bd. I, Weimar 1886, S.  39 f. Zum wissenschaftstheoretischen Hintergrund Hans-Peter Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, Frankfurt a. M. 2004, S.  68–70; siehe auch Gisawi (Fn.  2), S.  196 f. m. w. N. 5  Bernhard Windscheid, Die geschichtliche Schule in der Rechtswissenschaft, in: id., Ge-

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ner Zeit nicht dasselbe bedeuten konnte wie zu Zeiten Savignys. 6 Gewiss zielte sein Vorwurf nicht fundamental gegen das Methodenprogramm der Historischen Schule insgesamt; und Windscheid wollte sich damit auch nicht gegen Argumente aus der Natur der Sache verwahren. In der Natur der Sache, also in der „Schärfe und Klarheit des Begriffs“,7 sah er zeitlebens entscheidende Kriterien dafür, dass ein Satz als „allgemeingültiger Ausdruck des rechtlichen Gedankens“ gelten dürfe.8 Windscheid ging es also nicht um die Begriffsbildung, sondern um den Umgang mit den römischen Quellen. Er wandte sich dagegen, das römische Recht „apriorisch zu konstruiren“ und damit zum „absoluten Recht“ zu machen.9 Das war nicht nur ein Postulat wissenschaftlicher Redlichkeit, sondern, zumindest theoretisch, ein rechtspolitisch brisanter Punkt. Denn den Quellen historisch gerecht zu werden, bedeutete, sie zu historisieren.10 Windscheids Programm einer „Läuterung“ der „Theorie des heutigen römischen Rechts“ zielte nicht zuletzt auf eine Relativierung der Autorität der Quellentexte: „Jetzt“ sei „eine Richtung wach geworden“, die bereit sei, „rechtliche Bildungen als berechtigt und lebensfähig anzuerkennen, welche nicht römisch sind“.11 Die Frage, wie weit die Historische Schule begrifflich-dogmatisch das Erbe des Naturrechts fortgeführt hat, stammt also nicht erst aus der juristischen Selbstvergewisserungsdiskussion des 20. Jahrhunderts.12 Auch aus pandektistischer Sicht lag hier offenkundig ein Problem: Hatten die Gründerväter der Historischen Schule, deren Programm doch in der Ablehnung abstrakter Vernunftrechtsgebäude und in der Zuwendung zum positiv ererbten römischen Recht sammelte Reden und Abhandlungen, hrsg. von Paul Oertmann, Leibzig 1904, S.  66–80, 72: „wir wollen historische Juristen bleiben. Wir wollen die Fahne, die unser verewigter Meister [Savigny, N. J.] entfaltet hat, hochhalten, und wenn wir dereinst abscheiden, so soll es unser Ruhm und unser Stolz sein, daß durch uns ihre Ehren nicht gemindert worden sind.“. 6  Für eine Analyse des gewiss nicht ungebrochenen und nicht zuletzt die eigene Arbeitsweise legitimierenden Savignybilds von Windscheid siehe Ulrich Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid, Frankfurt a. M. 1989, S.  173–180. 7  Windscheid, Actio (Fn.  1), S.  1. 8  Überblick bei Falk (Fn.  6), S.  183–192 m. w. N. 9  Windscheid, Actio (Fn.  1), S.  1. 10  Nils Jansen, Methoden, Institutionen, Texte. Zur diskursiven Funktion und medialen Präsenz dogmatisierender Ordnungsvorstellungen und Deutungsmuster im normativen Diskurs, in: ZRG (germ.) 128 (2011), S.  1–71, 49 f.; Reinhard Zimmermann, Roman Law, Contemporary Law, European Law. The Civilian Tradition Today, Oxford 2001, S.  22 ff., 46 ff.; Hans-Peter Haferkamp, Dogmatisierungsprozesse im „heutigen Römischen Recht“ des 19. Jahrhunderts, in: Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion, hrsg. von Georg Essen/ Nils Jansen, Tübingen 2011, S.  259–276, 264 f. 11  Windscheid, Actio (Fn.  1), S.  2. In diesem Sinne kontrastierte Windscheid unmittelbar danach den modernen Rechtsbegriff einer Ordnung subjektiver Rechte mit der römischen Vorstellung eines aktionenbasierten Rechtssystems (loc. cit., S.  3). 12  So indes Hans-Peter Haferkamp, Naturrecht und Historische Rechtsschule, in: Naturrecht in Antike und früher Neuzeit. Symposium aus Anlass des 75. Geburtstages von Klaus Luig, hrsg. von Matthias Armgardt/Tilman Repgen, Tübingen 2014, S.  61–95, 65 f., 93 f.

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bestand,13 römische Texte in naturrechtliche Begriffe und Kategorien gepresst? Noch einmal: Windscheid sah hier kein Strukturproblem der historischen Methode, sondern lediglich eine missglückte Umsetzung des an sich tragfähigen Programms Savignys. Gerade deshalb liegt die Frage nahe, ob Windscheid mit dieser Kritik, vielleicht unbewusst, auf den Punkt brachte, was an der Pandektistik so pandektistisch war: die spezifischen Spannungen, die sich aus der Verbindung vernunftrechtlich abstrakter Begriffs- und Systembildung und historisch romanistischer Quellenexegese ergeben mussten. „Das Höchste“, so Windscheid an anderer Stelle, wurde „erreicht, wo beide Richtungen“ – historisch gegebenes Recht und individuelle Vernunft – „in harmonischer Eintracht sich zur konkreten Einheit verbinden.“14 Dass eine solche Verbindung nicht überall gelingen würde, ahnte man von Anfang an – dafür bieten die methodischen Kontroversen bereits in den 1820er Jahren reiches Anschauungsmaterial.15 Die Debatte um den Begriff der actio machte das noch einmal anschaulich. Ebensowenig wie heutige Historiker war Windscheid 1856 bereit, wissenschaftliche Aussagen über das römische Recht zu akzeptieren, wenn man ahistorisch vorgeprägte Begriffe an die Quellen herantrug. Anders als für uns war das für Windscheid allerdings auch juristisch wichtig. Eine wissenschaftlich defizitäre Quellenexegese durfte nicht als tragfähige Begründung dogmatischer Thesen gelten. Für uns geht es demgegenüber nurmehr um empirische historische Zusammenhänge ohne normative dogmatische Bedeutung. Ich vermag jedenfalls nicht zu erkennen, wie etwaige dogmatische Zusammenhänge zwischen dem Vernunftrechtsdiskurs und der Pandektistik eine heutige dogmatische Lehre legitimieren oder delegitimieren könnten; und ich glaube auch nicht, dass solche Zusammenhänge „die deutsche Pandektenwissenschaft in den Strom des Europäischen Jus Commune zu integrieren“ vermögen.16 Im 18. Jahrhundert hatte der Naturrechtsdiskurs längst sein Zentrum im protestantischen Deutschland gefunden, strahlte freilich weit nach Europa aus.17 In diesem Sinne verband er Deutschland mit Europa. Aber im 19. Jahrhundert war daraus eine spezifisch deutsche Diskussion geworden, die die pandektistische Dogmatik dementsprechend auf Sonderwege führen konnte. Auch ein solcher Befund im13  Friedrich Carl von Savigny, Ueber den Zweck dieser Zeitschrift, in: Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft 1 (1815), S.  1–17, 2; näher Haferkamp, Naturrecht und Historische Rechtsschule (Fn.  12), S.  70–72; Gisawi (Fn.  2), S.  189–192 m. w. N. 14  Windscheid, Geschichtliche Schule (Fn.  5), S.  72. 15 Siehe beispielhaft Haferkamp, Puchta (Fn.   4), S.  281–304, zu Kontroversen zwischen Stahl und Puchta bzw. Puchta und Thibaut. 16  Ein solches Forschungsmotiv vermutet, zu Unrecht, Haferkamp, Naturrecht und Historische Rechtsschule (Fn.  12), S.  66. 17  Das zeigen die vielen Übersetzungen von Werken wie De iure belli ac pacis von Grotius und De iure naturae et gentium von Pufendorf; dazu Klaus Luig, Zur Verbreitung des Naturrechts in Europa, in: Tijdschrift voor rechtsgeschiedenis 40 (1972), S.  539–557; für England Peter Stein, in: Biographical Dictionary of the Common Law, ed. by A.W. Brian Simpson, London 1984, S.  218 ff. (Grotius), S.  425 ff. (Pothier), S.  436 f. (Pufendorf).

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pliziert freilich keine Wertung. Auch ein Sonderweg kann durchaus klug gewählt sein. Meine Frage dient allein dem besseren Verständnis unseres dogmatischen Erbes. Nun ist die Frage nach den begrifflich-dogmatischen „naturrechtlichen Vermächtnissen“18 der Pandektistik zu vielschichtig und zu schwierig,19 als dass sie sich in einem Vortrag umfassend beantworten ließe.20 Es lässt sich aber doch zeigen, dass Windscheids These jedenfalls nicht aus der Luft gegriffen war. Auch in der Historischen Schule galt es begrifflich scharf zu argumentieren, und scharf gefasste Begriffe fand man eher in der Privatrechtstheorie des Naturbzw. Vernunftrechts als in den Kompendien des Usus modernus. Dabei bildete das Naturrecht auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch ein zentrales Element des Ausbildungskanons der deutschen Rechtsfakultäten.21 Völlig unabhängig von der Frage der Geltung oder Verbindlichkeit naturrechtlicher Grundsätze war das säkulare Vernunftrecht zu dem wissenschaftlichen Ort geworden, an dem Juristen die Maßstäbe eines vernünftigen und in diesem Sinne richtigen Rechts diskutierten. Hier war man von der Bindung an autoritative Texte frei, konnte also spezifisch begrifflich argumentieren. Generationen von Juristen und Philosophen hatten auf diese Weise Grundbegriffe geschärft und begriffliche Begründungszusammenhänge analysiert. Bei aller Polemik gegenüber dem Naturrecht: Dahinter konnte man im 19. Jahrhundert nicht zurückfallen, wenn begriffliche Folgerichtigkeit als Kriterium wissenschaftlicher Qualität gelten sollte. Hinzu kam, dass im jüngeren Naturrecht die späteren Vorstellungen vom Vermögensrecht als einer moralentkoppelten Zwangsordnung und eines Systems subjektiver Rechte22 vorformuliert worden waren. Diese Vorstellungen sollten zu normativen Grundpfeilern auch der staatsfern konzipierten Systementwürfe der Pandektistik werden.23 Über zentrale Wertungsgrundlagen war die Pandektistik sich mit der Vernunftrechtstheorie also einig. Vor diesem Hintergrund möchte ich heute drei zentrale schuldrechtliche Lehren der pandektistischen Dogmatik untersuchen. Ich möchte fragen, wie weit 18  Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit: unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2. Aufl., Göttingen 1967, S.  373 ff. 19  Haferkamp, Naturrecht und Historische Rechtsschule (Fn.  12), S.  93. 20  Den Diskussionsstand referiert und historisiert Haferkamp, Naturrecht und Historische Rechtsschule (Fn.  12). 21  Jan Schröder/Ines Pielemeier, Naturrecht als Lehrfach an den deutschen Universitäten des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution. Das europäische Naturrecht im ausgehenden 18. Jahrhundert, hrsg. von Otto Dann/Diethelm Klippel, Hamburg 1995, S.  255–269. 22  Windscheid, Actio (Fn.  1), S.  3 : „Die Rechtsordnung ist die Ordnung der Rechte“. 23 Prägnant Marietta Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, Tübingen 2014, S.  20, 26–29; siehe auch Haferkamp, Naturrecht und Historische Rechtsschule (Fn.  12), S.  81 f.; allgemein id., The Science of Private Law and the State in Nineteenth Century Germany, in: Beyond the State. Rethinking Private Law, ed. by Nils Jansen/Ralf Michaels, Tübingen 2008, S.  245–267, 248–258; Gisawi (Fn.  2), passim.

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diese Lehren an begrifflich-dogmatische Bestände der Naturrechtsdiskussion angeknüpft haben und wie sie damit umgegangen sind. Dabei waren sämtliche drei Lehren im 19. Jahrhundert innerhalb des gemeinrechtlichen, an den römischen Quellen orientierten Diskurszusammenhangs neu. Sie ließen sich nicht auf anerkannte Rechtsquellen stützen, fanden also weder einen Anhalt in den römischen Quellen noch in anderen gemeinrechtlichen Autoritäten (usus fori; opinio doctorum). Vielmehr beruhten die Lehren jeweils auf spezifisch begrifflichen Überlegungen, die sich dogmenhistorisch nur im Kontext der naturrechtlichen Tradition erklären lassen. In diesem Sinne scheinen sie an die jüngere Vernunftrechtsdiskussion anzuknüpfen, doch bieten die Quellen, soweit ich sehe, keine Belege dafür, dass das bewusst geschah. Die Frage, warum man solche Zusammenhänge nicht offenlegte, scheint mir allerdings unfruchtbar spekulativ. Welcher Autor des 19. Jahrhunderts wann welches Vernunftrechtslehrbuch gelesen hat, lässt sich kaum verlässlich rekonstruieren. Vielleicht war Autoren wie Savigny, Hasse oder Puchta auch gar nicht immer bewusst, dass sie im römischen Recht fanden, was sie als Studenten in der Naturrechtsvorlesung gehört hatten. Für ihre konkreten Argumente war all das ohnehin irrelevant. Denn wo es um begriffliche Zusammenhänge ging, brauchte man keine Autoritäten – weder in einem Vernunftrechtslehrbuch noch in einem pandektistischen Systementwurf. Solche Argumente sollten für sich sprechen. Als Verschleierung sollte man den Verzicht auf Zitate, selbst wenn er bewusst erfolgte, jedenfalls nicht werten. Naturrechtliche Belege wären im gemeinrechtlichen Diskussionszusammenhang des 19. Jahrhunderts schlicht nicht sinnvoll gewesen: Sie hätten eine These nicht gestützt, und beim Leser allenfalls ein Stirnrunzeln hervorgerufen.

II.  „Bereicherung aus unserm Vermögen“ Die Generalklauseln einer Bereicherungshaftung in Deutschland und in der Schweiz bilden bekanntlich junges Recht. Sie gehen im Wesentlichen auf die Theorie der römischen Kondiktionen bei Savigny und die daran anschließenden Diskussionen der Pandektistik zurück. Im Kern der im einzelnen komplexen Theorie Savignys stand dabei die Überlegung, sämtliche gemeinrechtlichen Kondiktionen auf den verbindenden Gedanken einer „grundlosen Bereicherung des Andern aus unserm Vermögen“ zurückzuführen.24 Mit dieser Formu24  Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. V, Berlin 1841, S.  526; ohne den besonderen Schutz der Kondiktionen würde „mein Vermögen zum Vortheil eines Andern ohne Rechtsgrund vermindert seyn“: loc. cit., S.  110. Zur Lehre Savignys, auch den Vorlesungen, Frank Schäfer, Das Bereicherungsrecht in Europa. Einheits- und Trennungslehren im gemeinen, deutschen und englischen Recht, Berlin 2001, S.  145 ff.; aus der älteren Literatur Jan Wilhelm, Rechtsverletzung und Vermögensentscheidung als Grundlagen

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lierung markierte Savigny den gedanklichen Ausgangspunkt für die Diskussionen bis hin zum BGB.25 Im Zentrum seiner – hier nur ganz kurz zusammenzufassenden – Argumentation stand dabei die Beobachtung, dass die condictio typischerweise auf Rückübertragung vormaligen Eigentums gerichtet 26 und in diesem Sinne als „Ersatz“ für die Vindikation zu verstehen sei.27 Zwar habe der Kondiktionsgläubiger sein Eigentum typischerweise freiwillig weggegeben. Er verdiene aber Rechtsschutz wie ein Eigentümer, weil er dem Schuldner – dem Darlehensnehmer oder dem Verwahrer – sein Eigentum anvertraut bzw. nur irrtümlich übertragen habe.28 Heutige Juristen mögen ein solches Argument für paradox halten. Für Savigny war das ein Satz der Quellen. und Grenzen des Anspruchs aus ungerechtfertigter Bereicherung, Bonn 1973, S.  21 ff.; Horst Hammen, Die Bedeutung Friedrich Carl v. Savignys für die allgemeinen dogmatischen Grundlagen des Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches, Berlin 1983, S.  187–198; Reinhard Ellger, Bereicherung durch Eingriff: Das Konzept des Zuweisungsgehalts im Spannungsfeld von Ausschließlichkeitsrecht und Wettbewerbsfreiheit, Tübingen 2002, S.  43 ff., S.  50 ff.; Bruno Huwiler, Zur Anspruchsgrundlage der Obligation aus ungerechtfertigter Bereicherung im Schweizerischen Obligationenrecht, in: Der Allgemeine Teil und das Ganze. Liber Amicorum für Hermann Schulin, hrsg. von Nedim Peter Vogt/Dieter Zobl, Basel 2002, S.  41–82, 51 ff. 25 Vgl. Christian Friedrich Mühlenbruch, Lehrbuch des Pandecten-Rechts, Theil II, hrsg. von Carl Otto von Madai, 4.  Aufl., Halle 1844, §  378, Anm. *: die „trefflichen Ausführungen in v. Savigny’s System“ hätten „neues Licht über diese ganze Lehre“ verbreitet. Aus der pandektistischen Diskussion statt aller Georg Friedrich Puchta, Pandekten, hrsg. von A. F. Rudorff, 9.  Aufl., Leipzig 1863, §  307; Carl Friedrich Ferdinand Sintenis, Das practische gemeine Civilrecht, Bd. II, Leipzig 1847, §  109; Bernhard Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 7.  Aufl., Frankfurt a. M. 1891, Bd. II, §  421: „Die Tatsache, daß Jemand aus fremdem Vermögen in ungerechtfertigter Weise bereichert worden ist, erzeugt für ihn die Verpflichtung, dem Benachtheiligten herauszugeben, worum er reicher geworden ist“; Heinrich Dernburg, Pandekten, Bd. II, 6.  Aufl., Berlin 1900, §  138; anschaulich insbesondere Carl Ludwig Arndts von Arnesberg, Lehrbuch der Pandekten, 5.  Aufl., München 1865, §  340: „Rückerstattung eines Vermögensgewinnes“, den der Gegner „auf Kosten des Vermögens des Klägers“ erzielt habe, der aber als „nicht gerechtfertigter Gewinn“ zu behandeln sei. „Gemeinschaftliche Voraussetzung“ dieser Kondiktionen sei erstens die Bereicherung des Beklagten im Sinne einer wirksamen Vermögensverschiebung, zweitens eine „Bereicherung aus dem Vermögen des Klägers oder auf dessen Kosten“ und drittens ein „Mangel in Ansehung des rechtlichen Grundes dieser Vermögensänderung“. Als Autorität fungiert in all diesen Darstellungen praktisch ausschließlich Savignys Darstellung der Materie. 26  Diese Beobachtung war freilich alt; vgl. Christian Friedrich Glück, Ausführliche Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld, ein Commentar, Bd. 13.1, Erlangen 1811, S.  5 ; siehe auch Justus Henning Boehmer, Doctrina de actionibus (Frankfurt am Main 1738), sect. II, cap. V, §§  31 f. zur condictio sine causa specialis. 27  von Savigny V (Fn.  24), S.  109 ff., 515, 518. Ähnlich Eduard Gans, Ueber Römisches Obligationenrecht, insbesondere über die Lehre von den Innominatcontracten und dem jus poe­ nitendi, Heidelberg 1819, S.  36 und ff.: „Surrogat der rei vindicatio“. Frank Schäfer vermutet darin ein Plagiat von Vorlesungen Savignys: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB (HKK), hrsg. von Mathias Schmoeckel u. a., Bd. III, Tübingen 2013, §§  812–822, Rn.  11 mit Fn.  31 und m. w. N. 28  von Savigny V (Fn.  24), S.  108 ff., 513 ff., 521 ff.; näher zu dieser Funktion des Irrtums bei der condictio indebiti: id., System des heutigen römischen Rechts, Bd. III, Berlin 1840, S.  114 f., 359 ff.

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Die spätere pandektistische Lehre verknüpfte nun zum einen Savignys Vermögensverschiebungsformel mit dem Gedanken der beschränkten Haftung nur auf die Bereicherung; 29 zum anderen ließ sie das bei Savigny zentrale Brückenargument der besonderen Schutzwürdigkeit des kreditierenden bzw. irrenden Kondiktionsgläubigers fallen.30 Damit wurden die Kondiktionen – auch die Leistungskondiktionen – zu genuinen Bereicherungsansprüchen aus dem Eigentum. Sie bildeten also nicht nur einen „Ersatz“ der Vindikation,31 sondern deren Verlängerung – ganz genauso wie wir heute den Anspruch nach §  816 Abs.  1 BGB als Verlängerung der Vindikation konzipieren. Genau das hatte Savigny noch anders gesehen. Savigny hatte die Kondiktionen gerade nicht als Ansprüche aus dem Eigentum,32 sondern in Analogie zu solchen Ansprüchen als Ansprüche wie aus dem Eigentum konzipiert.33 Den Haftungsgrund für die condictio sah er nicht im Eingriff in das Eigentum, sondern im „höhere[n] Vertrauen“, das der Darlehensgeber dem Schuldner mit seinem Verzicht „auf den Schutz durch Vindication“ entgegenbringe34 bzw. bei der condictio indebiti im unverschuldeten Irrtum des Leistenden. Die Quellen des gemeinen Rechts bieten, liest man sie unbefangen, keinen Anhalt dafür, die Kondiktionen als Bereicherungsansprüche aus dem Eigentum zu deuten – weder in der quellenorientiert paradoxen Formulierung Savignys noch in der Version der späteren Pandektistik. Zwar findet sich im Corpus iuris eine Verknüpfung der Kondiktionen mit dem Bereicherungsverbot,35 nicht aber der Gedanke eines Anspruchs aus dem Eigentum. In der gemeinrechtlichen Ju29 Jeweils für die condictio indebiti Puchta, Pandekten (Fn.   25), §  309; Arndts (Fn.  25), §  341. Ähnlich für die condictio causa data non secuta (keine Haftung, wenn die Gegenleistung ohne Schuld des anderen unmöglich geworden sei) Puchta, loc. cit., §  308; Arndts, loc. cit., §  342. Allgemeiner Sintenis II (Fn.  25), §  109 (S.  531–534); Windscheid II (Fn.  25), §  421. Anders noch Mühlenbruch II (Fn.  25), §  379; gegen die mittlerweile herrschende neue Lehre dann insbesondere Albrecht Erxleben, Die Condictiones sine causa I. Die Condictio indebiti, Leipzig 1850, S.  182–190, 194–198, 201–203; Hermann Witte, Die Bereicherungsklagen des gemeinen Rechts, Halle 1859, S.  139–159 m. w. N. zum Streitstand S.  140. 30  Anklänge an das Brückenargument finden sich nur ausnahmsweise; siehe etwa Mühlenbruch II (Fn.  25), §§  378 f.; Sintenis II (Fn.  25), §  109. Ausdrücklich ablehnend Windscheid II (Fn.  25), §  426, Fn.  14. 31  Oben Fn.  27; danach etwa Sintenis II (Fn.  25), §  109, Fn.  1; Arndts (Fn.  25), §  340: der Kondiktionsgegenstand müsse in das Vermögen des Schuldners übergegangen sein; sonst sei eine Vindikation einschlägig. Siehe auch Erxleben I (Fn.  29), S.  29–31, 37 f., 89 f., 183 und öfter; Witte (Fn.  29), S.  53 ff., 289 ff.; Windscheid II (Fn.  25), §§  421, Nr.  1, 423, Nr.  1. 32  So aber Wilhelm (Fn.  24), S.  21 ff., 27 ff.; Schäfer (Fn.  24), S.  410. 33  Näher zum Ganzen Nils Jansen, Die Korrektur grundloser Vermögensverschiebungen als Restitution? Zur Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung bei Savigny, in: ZRG (rom.) 120 (2003), S.  106–162, 149–150 m. w. N.; siehe auch Joachim Rückert, Dogmengeschichtliches und Dogmengeschichte im Umkreis Savignys, bes. in seiner Kondiktionslehre, in: ZRG (rom.) 104 (1987), S.  666–678, 672 f. 34  von Savigny V (Fn.  24), S.  109. 35  Pomponius, Dig. 12,6,14. Allerdings soll das Argument hier nicht etwa eine Kondiktion begründen, sondern eine solche ausschließen.

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risprudenz vor Savigny sucht man solche Thesen vergeblich; entsprechend ist das Dogma von der Vermögensverschiebung ein deutscher Sonderweg geblieben, der sich im 20. Jahrhundert übrigens als Sackgasse erwiesen hat. Im 19. Jahrhundert schuf dies Dogma nur deshalb keine besonderen Schwierigkeiten, weil man es lediglich als ein „näher auszuführendes“ Prinzip verstand.36 Man stellte für die konkrete Rechtsanwendung also weiterhin auf die spezifischen Klagen des römisch-gemeinen Rechts ab,37 für die im Einzelnen unterschiedliche Regeln galten. Anknüpfungspunkte für den Gedanken eines allgemeinen Bereicherungsanspruchs aus dem Eigentum finden sich demgegenüber in der naturrechtlichen Restitutionslehre. Dabei braucht die ältere moraltheologische Geschichte dieses Instituts an dieser Stelle nicht zu interessieren.38 Wichtig ist allein, dass die großen Naturrechtstraktate seit Grotius einen Bereicherungsanspruch aus dem Eigentum (obligatio ex dominio) konzipiert hatten und unter dem Begriff der re­ stitutio tradierten: 39 Wer infolge eines Eingriffs in fremdes Eigentum bereichert war, so später etwa auch Pufendorf und Wolff, hatte diese Bereicherung dem Eigentümer herauszugeben.40 Dahinter stand die Vorstellung vom Eigentum als 36  Bernhard Windscheid, Zwei Fragen aus der Lehre von der Verpflichtung wegen ungerechtfertigter Bereicherung (ursprünglich Leipzig 1875), in: id., Gesammelte Reden und Abhandlungen, hrsg. von Paul Oertmann, Leipzig 1904, S.  301–336, 326. Freilich sollte das Prinzip „sehr scharf umrissen“ und für einen guten Richter handhabbar sein (loc. cit.). Der Versuch von Wilhelm Sell, das allgemeine Bereicherungsverbot (niemand dürfe sich zum Schaden eines anderen bereichern) als unmittelbar anwendbaren Grundsatz nachzuweisen (Ueber den Grundsatz des römischen Rechts, daß Niemand mit oder aus dem Schaden eines Andern sich bereichern dürfe, in: id., Versuche im Gebiete des Zivilrechts, Bd. I, Giessen 1833, S.  1–140, 14 ff., 49 ff., 76 ff., 116 f.), fand deshalb scharfen Widerspruch: Erxleben I (Fn.  29), S.  3 ff.; Windscheid II (Fn.  25), §  421, Fn.  1. 37  So etwa Puchta, Pandekten (Fn.  25), §§  308–312; Arndts (Fn.  25), §§  341–345; ähnlich Dernburg II (Fn.  25), §§  139–143. Ein solcher Ansatz war auch in der Gesetzgebung state of the art: Art.  902–940 Entw. Bayr. BGB, §§  1519–1550 Sächs. BGB, Art.  976–1006 Dresd. Entw. 38 Näher Nils Jansen, Theologie, Philosophie und Jurisprudenz in der spätscholastischen Lehre von der Restitution. Außervertragliche Ausgleichsansprüche im frühneuzeitlichen Naturrechtsdiskurs, Tübingen 2013. 39  Hugo Grotius, De iure belli ac pacis libri tres (Leipzig 1758), lib. II, cap. III, §§  2–12; anschaulich auch id., Inleiding tot de Hollandsche Rechtsgeleertheyd (hrsg. und ins Englische übersetzt von Robert Lee, Middelberg 1926), boeck III, deel XXX. Siehe Robert Feenstra, Grotius’ Doctrine of Unjust Enrichment as a Source of Obligation: its Origin and its Influence in Roman-Dutch Law, in: Unjust Enrichment. The Comparative Legal History of the Law of Restitution, hrsg. von Eltjo J.H. Schrage, 2.  Aufl., Berlin 1999, S.  197–236, 201–219; Danie Visser, Das Recht der ungerechtfertigten Bereicherung, in: Das römisch-holländische Recht. Fortschritte des Zivilrechts im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. von Robert Feenstra/Reinhard Zimmermann, Berlin 1992, S.  369–428, 371–380; Nils Jansen, Korrektur (Fn.  33), S.  106–162, S.  137–143. 40  Samuel Pufendorf, De iure naturae et gentium libri octo (cum integris commentariis Io. Nic. Hertii atque Io. Barbeyraci, Frankfurt/Leipzig 1759), lib. IV, cap. VIII, §  6 ; id., De officio hominis et civis iuxta legem naturalem libri duo (Cambridge 1682), lib. I, cap. XIII, §  3 ; Christian Wolff, Ius naturae methodo scientifica pertractatum, pars II, Halle 1742, cap. III: „De

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Modell eines umfassend geschützten Vermögensrechts, das dem Eigentümer nicht nur Abwehransprüche und Nutzungsbefugnisse einräumte, sondern auch die Grundlage für weitreichende Bereicherungs- und Haftungsansprüche bildete. Dachte man so, so war es in der Tat nicht fernliegend, die Kondiktionen als ergänzende bzw. sekundäre Ansprüche aus dem Eigentum zu verstehen. Auch Grotius hatte ursprünglich so gedacht. Auch Grotius hatte die römischen Leistungskondiktionen deshalb als konkrete Anwendungsfälle der restitutorischen Bereicherungshaftung präsentiert.41 Allerdings mochte bereits Grotius die condictio ob rem nicht unter diese Restitutionsformel fassen; 42 und Pufendorf und Wolff haben dann sämtliche Leistungskondiktionen aus dem Rahmen der Restitution ausgegliedert und als eigenständige Institute konzipiert. Man erklärte die Kondiktionen also nicht als Mittel des Eigentumsschutzes, sondern griff stattdessen auf die gemeinrechtlichen Kategorien43 eines stillschweigenden Vertrags44 bzw. eines Quasivertrags45 zurück. Die Kondiktionen als Ansprüche aus dem Eigentum zu rekonstruieren, war offenbar unplausibel. Wolff erklärte das so: „Da derjenige, welcher das Nichtschuldige bezahlt, es giebt, als wenn er es schuldig wäre; so bringt er auf den andern das Eigenthum der Sache (…); folglich kann derselbe sie veräussern (…), und der sie ihm gegeben hat, kann sie sich nicht wieder zueignen“.46

Offenbar gingen Wolff und Pufendorf also mit der herrschenden gemeinrechtlichen Doktrin47 davon aus, dass Eigentum auch bei einer irrtümlichen bzw. Obligationibus & juribus ex dominio oriundis“, Bereicherungsansprüche dort insbesondere §§  582–602; id., Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, Halle 1754 (deutsche Ausgabe der Institutiones iuris naturae et gentium), §  271. 41  Grotius, Inleiding (Fn.  39), III, XXX, nn. 4–17; id., De iure belli (Fn.  39), II, I, 2, n.  1. Siehe dazu Feenstra (Fn.  39), S.  204–206. 42  Grotius, Inleiding (Fn.  39), III, XXXI, nn. 9–11. Wenig eindeutig ist auch die Darstellung in De iure belli ac pacis (Fn.  39): Bei den Entstehungsgründen von Obligationen qualifizierte Grotius die römischen Kondiktionen nämlich alternativ als obligationes ex dominio und als Quasikontrakte bzw. -delikte (II, I, 2, n.  1), ging im Kapitel über Bereicherungsansprüche (II, X) aber über die Kondiktionen hinweg und erläuterte auch nicht, welche Kondiktionen in welche Kategorie fallen sollten und wie diese Kategorien zu verstehen seien. 43  Arnold Vinnius, In quatuor libros institutionum imperialium commentarius, 3.  Aufl., Amsterdam 1659, lib. III, tit. XXVIII, §  6 , n.  4 ; Johann Gottlieb Heineccius, Anfangsgründe des bürgerlichen Rechts nach der Ordnung der Institutionen (Wien/Leipzig 1786), §§  966, 987 ff. (Scheinkontrakt); Johannes Voet, Commentarius ad Pandectas (Paris 1829), lib. XII, tit. IV, §  1, sowie XII, VI, §  1. 44  Pufendorf, De iure naturae (Fn.  40), V, VII, §  4 ; ferner loc. cit., IV, IX, §  4 mit Fn.  5 f. Nur indirekt (aliquo modo) beruhten die römischen Leistungskondiktionen auf dem Grundsatz, dass der Besitzer dem Eigentümer restitutionspflichtig sei: loc. cit., IV, XIII, §  5. 45  Wolff, Ius naturae methodo scientifica pertractatum, pars V, Halle 1745, §§  570 ff., 600 ff., 618 ff.; id., Grundsätze (Fn.  40), §§  693–695. 46  Wolff, Grundsätze (Fn.  40), §  693. 47  Statt aller Berthold Kupisch, Ungerechtfertigte Bereicherung: geschichtliche Entwicklungen, Heidelberg 1987, S.  32 f.; Reinhard Zimmermann, The Law of Obligations: Roman Foundations of the Civilian Tradition, Nachdruck, Oxford 1990, S.  867 m. w. N. Zwar war die

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rechtsgrundlosen Leistung übergehe; 48 bei einer Leistung ob rem hat das auch Grotius so gesehen. Hatte der Gläubiger aber aufgrund seiner Verfügung sein Eigentum verloren, so wäre es unlogisch gewesen, seine Leistungskondiktion als obligatio ex dominio zu begründen. Denn ein Anspruch, der seine Begründung im verletzten Recht findet, muss entfallen, wo der Berechtigte privatautonom sein Recht preisgegeben hat. Auch Savigny sah dies Problem sehr klar. Dies war der Grund, weshalb er die Kondiktionen gerade nicht als Ansprüche aus dem Eigentum konzipierte.49 Und genau deshalb musste das Irrtumserfordernis bei der condictio indebiti im 19. Jahrhundert so wichtig bleiben: Es bot eine Begründung dafür, warum das römische Recht dem Gläubiger trotz seiner Verfügung über sein Recht einen Anspruch aus dem Eigentum einräumte. Denn aus den Quellen durfte man schließen, dass „die erklärte Selbstbeschränkung des Willens (…) als nicht wirklich gewollt“ von Rechts wegen unerheblich bleiben sollte.50 Dass es aus vernunftrechtlicher Perspektive unlogisch gewesen war, die Leistungskondik­ tionen als Restitutionsansprüche aus dem Eigentum zu konzipieren, bedeutete also nicht, dass ein solcher Ansatz sich später nicht zur Erklärung des römisch-gemeinen Rechts geeignet hätte. Frug man hier also zuerst: was ergibt sich aus der Natur der Sache?, um es dann im römischen Recht zu finden? So einfach lag es gewiss nicht. Savigny und die spätere Pandektistik haben mit ihrem Dogma von der Vermögensverschiebung nicht einfach eine Vernunftrechtslehre auf die Quellen projiziert, im Gegenteil: Im Vernunftrechtsdiskurs war Savignys Modell verworfen worden; erst die römischen Quellen schienen das Paradox zu lösen, dass die Verfügung über Übereignung nach gemeinrechtlicher Lehre insoweit „kausal“ als für die Übereignung ein Rechtsgrund (titulus) erforderlich war, doch sollte dafür die irrtümliche Annahme eines Rechtsgrunds (causa putativa bzw. erronea) genügen. 48  Siehe weiter Pufendorf, De iure naturae (Fn.  40), V, VII, §  4 ; Wolff, Ius naturae V (Fn.  45), §  580. Zweifel an diesem Standpunkt blieben vereinzelt; vgl. Berthold Kupisch, Ungerechtfertigte Bereicherung. Usus modernus pandectarum in Deutschland unter Berücksichtigung des preußischen Allgemeinen Landrechts (ALR) und des österreichischen Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs (ABGB), in: Unjust Enrichment (Fn.  39), S.  237–273, 245–247, zu einer aporetischen Erörterung bei Heinrich von Cocceji. Verfehlt jedenfalls HKK III/Schäfer (Fn.  27), §§  812–822, Rn.  29. Schäfers Behauptung, Pufendorf habe eine kausale Übereignungskonzeption vertreten, missversteht den Diskussionskontext, in dem es gar nicht um die (später zen­ trale) Frage ging, ob die Übereignung ein wirksames Kausalgeschäft voraussetzt, sondern allein um die Alternative von naturrechtlichem Konsens- und (gemeinrechtlichem) Tradi­ tionsprinzip; dazu Eltjo J.H. Schrage, Traditionibus et usucapionibus, non nudis pactis dominia rerum transferuntur. Die Wahl zwischen dem Konsens- und dem Traditionsprinzip in der Geschichte, in: „Ins Wasser geworfen und Ozeane durchquert“. Festschrift für Knut Wolfgang Nörr, hrsg. von Mario Ascheri u. a., Köln 2003, S.  913–958, S.  916–944. Aus der älteren Naturrechtsdiskussion dazu etwa Lessius, De iustitia et iure (Paris 1618), lib. II, cap. III, dub. III, n.  12; Grotius, De iure belli (Fn.  39), II, VI, §  1 und VIII, §§  25 f.; Pufendorf, loc. cit., §§  2 ff.; Wolff, Grundsätze (Fn.  40), §  320. 49  Eben bei Fn.  32 f. 50  Windscheid II (Fn.  25), §  426, Fn.  14.

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das Eigentum einen Anspruch aus dem Eigentum begründen sollte. Aber es scheint auch kaum vorstellbar, dass das pandektistische Dogma von der Vermögensverschiebung ohne die maßgeblich im Naturrecht geprägte Vorstellung vom Eigentum als Modell eines umfassend geschützten Vermögensrechts plausibel gewesen wäre. Die Parallelen zwischen den Bereicherungslehren von Grotius und Savigny bilden keinen Zufall.

III.  „Unerlaubte Handlungen“ Zum festen Bestand der Dogmatik der Pandektenlehrbücher gehört eine allgemeine Theorie des Deliktsrechts, die ihren Platz üblicherweise im Allgemeinen Teil bzw. gegebenenfalls im Allgemeinen Teil des Obligationenrechts fand. Die Lehre erläuterte diese Theorie unter dem Oberbegriff der „unerlaubten Handlungen“51 bzw. des „unerlaubten Verhaltens“52 und knüpfte damit bereits terminologisch unmittelbar an die Vernunftrechtslehre des 18. Jahrhunderts an.53 Das ist umso bemerkenswerter, als ein solcher Oberbegriff für Delikte und Vertragsverletzungen 54 kein Pendant in den römischen Quellen findet und auch nicht ganz klar ist, welchem systematischen Zweck dieses Theoriestück dienen sollte. Die gemeinrechtliche Literatur war jedenfalls bis ins 18. Jahrhundert ohne eine solche Begrifflichkeit und ohne eine abstrakte Theorie des Delikts ausgekommen. Die ältere pandektistische Lehre hatte den Deliktsbegriff der unerlaubten Handlung sodann als Verletzung eines subjektiven Rechts bestimmt. In den Worten Puchtas: „Die objektive Voraussetzung eines Delicts ist eine Rechtsverletzung, die dadurch geschehen ist, (…), die subjective die Verschuldung dieses rechtswidrigen Erfolgs (culpa im weiteren Sinne).“55

51  Arnold Heise, Grundriss eines Systems des Gemeinen Civilrechts zum Behuf von Pandecten-Vorlesungen, 3.  Aufl., Heidelberg 1819, S.  35 (§  160), bemerkenswerterweise ohne Literaturhinweis; Puchta, Pandekten (Fn.  25), §§  261, 264. Vgl. auch Anton Friedrich Justus Thibaut, System des Pandekten-Rechts, 4.  Aufl., Jena 1814, Bd. I, §§  131, 249–255 – allerdings hat Thibaut die allgemeinen Lehren zu den römischen Delikten unter dem Oberbegriff „Verbrechen“ erläutert und sämtliche Sanktionen als (öffentliche oder private) Strafen begriffen: loc. cit., §§  63–67. Bei den unerlaubten Handlungen und der Lehre vom Verschulden ist das Deliktsrecht nur beiläufig Thema: §  254. 52  Windscheid I (Fn.  25), §  101. 53  Der Begriff geht auf Wolff zurück: Grundsätze (Fn.  40), §§  87, 88; er fand dann Eingang ins ALR (Theil I, Titel VI: „Von den Pflichten und Rechten, die aus unerlaubten Handlungen entstehn“). 54  Thibaut I (Fn.  51), §§  131, 249–255; Puchta, Pandekten (Fn.  25), §  264. 55  Puchta, Pandekten (Fn.  25), §  261.

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Auch damit befand man sich im Fahrwasser des jüngeren Vernunftrechts: Das System subjektiver Rechte konstituierte gegenständlich beschreibbare Sphären autonomer Entfaltung, jenseits deren Grenzen ein Feld freier Konkurrenz zu beginnen schien.56 Bereits Thomasius und Wolff57 sowie später insbesondere auch Kant58 hatten die Schadensersatzpflicht vom verletzten Recht her als obligatio ex dominio begründet. Auch Savigny dachte so.59 Nun war dieses Modell – wie auch immer man es im Einzelnen formulierte – für die Beschreibung der römischen Deliktsklagen nicht besonders hilfreich; hätte man es konsequent umgesetzt, so hätte es erhebliche Lücken gerissen. Auch im 19. Jahrhundert war nicht zu bezweifeln, dass die actio legis Aquiliae Sachbeschädigungen, nicht Eigentumsverletzungen, sanktionierte; 60 und schon der Betrug (actio doli) ließ sich nicht plausibel als eine Rechtsverletzung in diesem Sinne beschreiben. 61 Die spätere Lehre ergänzte den Deliktsbegriff der „Rechtsverletzung“ deshalb noch um die alternative Kategorie des „verbotenen 56 Instruktiv

Auer (Fn.  23), S.  29–45, 93 f., 104–106. Christian Thomasius, Larva legis Aquiliae detracta actioni de damno dato (Halle 1750), §§  2, 9–12 – dazu Jansen, Die Struktur des Haftungsrechts. Geschichte, Theorie und Dogmatik außervertraglicher Ansprüche auf Schadensersatz, Tübingen 2003, S.  342–348; Wolff, Ius naturae II (Fn.  40), §§  578–580; id., Grundsätze (Fn.  40), §§  269 f. Die Theorie Wolffs ist an diesem Punkt wenig eindeutig. Die geschützten Eigentumsrechte begründen unmittelbar offenbar nur ein Verletzungsverbot (neminem laedere); erst dessen Verletzung wird zweitstufig durch die Schadensersatzpflicht sanktioniert; zugleich öffnet er das Recht durchgängig gegenüber moralischen Wertungen. Entsprechend ist mal von einem Verschuldenserfordernis die Rede (damnum dolo vel culpa datum: Ius naturae II [Fn.  40], §  580; Institutiones iuris naturae et gentium, Halle 1750, §  270), mal von „vorsetzlicher und unvorsetzlicher Schaden“ (Grundsätze, §  270). Näher zur Pflichtenlehre Wolffs und zum Problem Gisawi (Fn.  2), S.  71 ff., insbesondere S.  81–84 m. w. N. 58  Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, 2.  Aufl., Königsberg 1798, S.  97. Gleiches gilt für Kantianer wie Hepp oder von Zeiller; näher Jansen, Haftungsrecht (Fn.  57), S.  350; Alfons Bürge, Die Entstehung und Begründung der Gefährdungshaftung im 19. Jahrhundert und ihr Verhältnis zur Verschuldenshaftung, in: Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris, Bd. I, hrsg. von Andreas Heldrich u. a., München 2007, S.  59–81, 61 ff., jeweils m. w. N. 59 Näher Bürge (Fn.  58), S.  65 f. und passim. 60  Windscheid II (Fn.  25), §  455. 61  Das sah Puchta möglicherweise anders. Puchta ging davon aus, dass jedes Delikt das „Recht der Persönlichkeit“ des Gläubigers verletze. In der ersten Auflage seines Lehrbuchs (Lehrbuch der Pandekten, Leipzig 1838) hatte er das Deliktsrecht deshalb insgesamt unter der Überschrift „Obligationen zum Schutz des Rechts der Persönlichkeit“ dargestellt und näher ausgeführt, dass jedes Delikt „eine Nichtanerkennung des Rechts überhaupt“ und damit eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts „enthalte“: loc. cit., §  378. Das furtum erschien deshalb als erste „Obligation zum Schutz der Persönlichkeit“ (§  379). Das war sehr abstrakt gedacht, auch für Zeitgenossen kaum plausibel und für die Darstellung im Übrigen irrelevant. Puchta hat diesen Paragraphen deshalb in späteren Auflagen gestrichen und lediglich im Abschnitt über unerlaubte Handlungen erläutert, dass die Rechtsverletzung die „objektive Voraussetzung eines Delikts“ bilde. In seiner Institutionenvorlesung erläuterte er zudem näher, dass ein Delict eine doppelte Rechtsverletzung bedeute: „Das Delict verletzt (…) nicht bloß das Recht an einem äußeren Gegenstand, z. B. Eigenthum, sondern zugleich das Recht der Persönlichkeit, ja die Rechtsvorschrift selbst, das ius publicum“: Puchta, Cursus der Institutionen, Bd. III, 4.  Aufl., hrsg. von A. F. Rudorff, Leipzig 1857, §  277. 57 

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Verhaltens“ und zum Teil auch um die Sittenwidrigkeit.62 Bei Windscheid lernte man: „Es gibt zwei Arten des unerlaubten Verhaltens. 1. Rechtsverletzung, d. h. Verletzung eines subjectiven Rechts. Das Verhalten ist deßhalb unerlaubt, weil es sich in Widerspruch setzt mit dem Recht einer anderen Person. […] 2. Verbotenes Verhalten (Vergehen, Delict). Das Verhalten widerspricht einem besonderen Verbot des Rechts. Das verbotene Verhalten kann zugleich die Verletzung eines subjectiven Rechts sein – die Rechtsordnung hat das Verhalten noch einmal besonders verboten; oder es kann die Verletzung eines subjectiven Rechts nicht sein – die Rechtsordnung hat es dennoch verboten.“63

Wozu man diesen begrifflich-theoretischen Aufwand betrieb, ist nicht leicht zu sehen. Denn für den Umgang mit den römischen Quellen war diese Theorie offenbar irrelevant: Es blieb üblich, die einzelnen Delikte im besonderen Schuldrecht ohne einen Bezug auf die allgemeine Theorie der unerlaubten Handlungen darzustellen. Hier war nicht einmal von „unerlaubtem Verhalten“ die Rede, sondern bei Puchta von „Delictsobligationen“ und bei Windscheid von „Forderungen aus Vergehen“. Zu offensichtlich war, dass sich hier die Natur der Sache und die Quellen nicht auf einen Begriff bringen ließen. Bei den deliktischen Ansprüchen erläutern die Pandektenlehrbücher jeweils spezifisch die Voraussetzungen der vielen einzelnen Ansprüche – etwa wegen Arglist (actio doli), Entwendung, Sachbeschädigung, Injurien, Schädigung durch Tiere, Störung des Begräbnisrechts etc.64 Gegliedert waren diese Abschnitte nicht etwa nach dem verletzten Recht, sondern – wenn überhaupt – nach den subjektiven Voraussetzungen (bei Puchta: dolus; culpa; Delikte anderer; Beschädigung durch Tiere). 65 Und bei der aquilischen Haftung findet sich selbst für das Erfordernis der „Widerrechtlichkeit“ kein expliziter Bezug zur allgemeinen Deliktsrechtstheorie. 66 Damit stand die Theorie unerlaubter Handlungen scheinbar unverbunden neben dem römischen Deliktsrecht; unabhängig von der Vernunftrechtsdiskussion lässt auch diese Theorie sich kaum verstehen. Man könnte daraus schließen, es habe sich dabei einfach um ein Relikt des Vernunftrechts gehandelt. Aber das wäre verkürzt. Dass die Erläuterungen der römischen Delikte ohne Bezug zur allgemeinen Theorie des Deliktsrechts blieben, bedeutet nämlich nicht, dass die römischen Quellen für diese Theorie irrelevant gewesen wären, ganz im Gegenteil. Schon die „zweite Art“ unerlaubten Verhaltens bei Windscheid war offenkundig mit Blick auf die römischen Quellen formuliert; als Beispiel nannte 62  Johann Nepomuk von Wening-Ingenheim (sen.), Lehrbuch des Gemeinen Civilrechtes, 4.  Aufl., München 1831 f., Bd. I, §  100; Windscheid I (Fn.  25), §  101, Bd. II, §  257. 63  Windscheid I (Fn.  25), §  101. 64  Puchta, Pandekten (Fn.  25), §§  375–393; Windscheid II (Fn.  25), §§  451–472. 65  Puchta, Pandekten (Fn.  25), §§  375 ff., 388 ff., 392, 393. 66  Windscheid II (Fn.   25), §  455, Nr.  3 ; keine nähere Erläuterung bei Puchta, Pandekten (Fn.  25), §  388.

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Windscheid den Betrug. Noch deutlicher wird diese Ausrichtung der Theorie am römischen Recht bei den Privatstrafen: Obgleich für pönale Ansprüche im Vernunftrecht von jeher kein Raum war,67 und obgleich die Privatstrafen auch in der Praxis längst abgeschafft waren,68 hat die pandektistische Theorie daran wie selbstverständlich festgehalten. 69 Umgekehrt war in der pandektistischen Literatur nichts davon zu lesen, dass maßgebliche Stimmen der jüngeren Vernunftrechtsdiskussion – nicht nur Thomasius, sondern auch Kant, von Zeiller und weitere Kantianer – den deliktischen Schadensersatz unmittelbar mit der Verletzung eines subjektiven Privatrechts begründet und deshalb für eine strikte, verschuldensunabhängige Haftung plädiert hatten.70 In der pandektistischen Literatur blieb der Verschuldensgrundsatz der Quellen demgegenüber immer selbstverständlich. Nur der Gesetzgeber konnte ein reines Vernunftrechtsprogramm verwirklichen.71 Die Wissenschaft wollte demgegenüber Systeme formulieren, die das positiv tradierte Recht in seiner „organischen“ Gestalt abbildeten.72

IV.  „das ganze Interesse“ In seiner Lehre von dem Interesse lehrte Friedrich Mommsen 1855, „daß kein Grund vorliegt, in den Fällen einer Verschuldung des Debitor, sei es auch nur eine levis culpa, dem Gläubiger ein geringeres Aequivalent, als das ganze Interesse zuzubilligen, da auch durch die Leistung des vollen Interesse dem Gläubiger kein Vortheil zugewendet, sondern nur ein Nachtheil von ihm abgewendet wird, den er sonst zu Gunsten des Debitor, dem allein eine Verschuldung zur Last fällt, tragen müßte.“73 67  Die Differenzierung von Strafe und Ausgleich war in der Naturrechtsdiskussion spätestens seit Albertus Magnus und Thomas von Aquin selbstverständlich; vgl. Jansen, Theologie (Fn.  38), S.  32, 95, 112 f., 170 (zu Grotius), jeweils m. w. N. Sie wurde später auch von Autoren wie Pufendorf nicht in Frage gestellt, die die deliktische Ersatzverpflichtung als präventive Sanktion konzipiert hatten: De iure naturae (Fn.  40), II, I, §§  2 f., 7 f.; w. N. bei HKK II/Jansen (Fn.  27), §§  249–253, 255, Rn.  22; zur präventiven Begründung deliktischer Haftung: Pufendorf, loc. cit., III, I, §  2 ; id., De officio (Fn.  40), I, VI, §  4. 68  Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. II: 19. Jahrhundert, München 1989, S.  512. 69  von Savigny V (Fn.  24), S.  37–60; Puchta, Pandekten (Fn.  25), §§  261 sowie 230 f.; Windscheid II (Fn.  25), §  326. 70  Nachweise eben Fn.  58. 71  Etwas anders Bürge (Fn.  58), S.  71 ff., 75 ff., 80 f. Nach Bürge hatte die Pandektistik die Verschuldens- und die Gefährdungshaftung von jeher als Äquivalente verstanden und einander angenähert. Erst bei Jhering seien das Verschulden zum Axiom des Deliktsrechts und eine strikte Haftung ein Unding geworden. Aber das berücksichtigt wohl nicht hinreichend, dass man in Deutschland, gegen die Lehre des 18. Jahrhunderts, schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts die culpa levissima abgeschafft und die deliktische Haftung eingeschränkt hatte. Näher Jansen, Gesetzliche Schuldverhältnisse (Fn. *), S.  123–127. 72 Vgl. Haferkamp, Puchta (Fn.  4), S.  275 f. 73  Friedrich Mommsen, Beiträge zum Obligationenrecht. Zweite Abtheilung: Zur Lehre

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Mommsen gab mit dieser Lehre der Berechnung des Schadensersatzes nach der Differenzhypothese und damit dem Grundsatz der Totalreparation ihre bald autoritative Begründung; 74 bis heute bildet dieser Grundsatz einen Grundpfeiler des deutschen Schadensrechts.75 Aus gemeinrechtlicher Perspektive war dieser Grundsatz indes alles andere als selbstverständlich.76 Denn in den Quellen fand sich nicht einmal ein einheitlicher Begriff des interesse. Vielmehr unterschied man ein interesse circa rem vom interesse extra rem und das damnum vom lucrum; und man operierte mit verschiedenen Maßstäben zur Bestimmung des Schadens (interesse commune und singulare). Schon deshalb war der Ersatzanspruch nach hochkomplexen und im einzelnen strittigen Regeln begrenzt; zudem hatte Justinian den vertraglichen Schadensersatz in einer schwer verständlichen Bestimmung (C. 7,47,1) auf das duplum beschränkt.77 Die gemeinrechtliche Lehre hatte von jeher Schwierigkeiten gehabt, die wenig kohärenten Aussagen der römischen Quellen zu den Haftungsfolgen einzelner Klagen in Form eines kohärenten Schadensrechts zusammenzuführen. Überall war es aber selbstverständlich gewesen, den Schadensersatz irgendwie zu limitieren.78 Im französischen Sprachraum (vermittelt über Pothier später auch im Common law) 79 hatte man den vertraglichen Schadensersatz beispielsweise auf den vorhersehbaren Schaden beschränkt.80 Und in Deutschland hatte Thibaut gelehrt, dass der Umfang des Ersatzes von der Zurechenbarkeit zum von dem Interesse, Braunschweig 1855, S.  277; ähnlich auch S.  71. Voller Ersatz sei insbesondere auch bei Schadensersatz wegen Nichterfüllung geschuldet: loc. cit., S.  62 ff. 74  Windscheid II (Fn.  25), §  257, Fn *: „Das Hauptwerk über die Lehre vom Interesse ist das von Fr. Mommsen“; zum Grundsatz der Totalreparation loc. cit., §  258; Richard Cohnfeld, Die Lehre vom Interesse nach Römischem Recht mit Rücksicht auf neuere Gesetzgebung, Leipzig 1865, S.  19 ff. Auch die Rechtsprechung hat Mommsens Lehre sofort übernommen: Hans Hermann Seiler, Römisches deliktisches Schadensersatzrecht in der obergerichtlichen Rechtsprechung des 19. Jahrhunderts, in: Festschrift für Hermann Lange, hrsg. von Dieter Medicus, Stuttgart 1992, S.  245, 254 m. w. N. Ebenso sind die Gesetzgebungen des 19. Jahrhunderts dem Ansatz Mommsens ohne weiteres gefolgt: Franz Philipp v. Kübel, Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich. Recht der Schuldverhältnisse, Berlin 1882, in: Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuches. Recht der Schuldverhältnisse, Teil I: Allgemeiner Teil, hrsg. von Werner Schubert, Berlin 1980, S.  715 (Unerlaubte Handlungen, S.  59). 75  Hermann Lange/Gottfried Schiemann, Schadensersatz, 3.  Aufl., Tübingen 2003, S.  10. 76  Siehe nur Coing II (Fn.  68), S.  465 f. m. w. N. 77  Überblick und Literatur bei HKK II/Jansen (Fn.  27), §§  249–253, 255, Rn.  9. 78  Überblick und w.N. bei HKK II/Jansen (Fn.  27), §§  249–253, 255, Rn.  12 f., 25, 28. 79  Theodore Sedgwick, A Treatise on the Measure of Damages, New York 1852, S.  57 ff., 65 ff.; Hadley v Baxendale (1854) 9 Exch 341, S.  354; w. N. bei Jansen, Konturen eines europäischen Schadensrechts, in: JZ 2005, S.  160–173, 171. 80  Carolus Molinaeus, Extricatio labyrinthi de eo quod interest (Lyon 1555), n.  60, S.  187 f.; Jean Domat, Les Loix civiles dans leur ordre naturel, le droit public et legum delectus, Paris 1777, liv. III, tit. V, vor sect. I, sowie sect. II, §§  11 ff. (im Rahmen eines allgemeinen richterlichen Moderationsrechts); Robert-Joseph Pothier, Traité des obligations (in: id., Oeuvres, Bd. I, hrsg. von André-Marie-Jean-Jacques Dupin, 1824), Rn.  164 f.

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Verhalten des Schuldners abhängig sei.81 Fest stand nur, dass der Schuldner normalerweise nicht zum Ersatz sämtlicher Folgeschäden verpflichtet war. Ein ganz anderes Bild bietet demgegenüber die pandektistische Literatur. Zwar wurde die Duplum-Regel des C. 7,47,1 als geltendes Recht tradiert,82 aber sie bildete nurmehr eine in ihrem Anwendungsbereich eng begrenzte Ausnahmevorschrift zum allgemeinen Grundsatz, dass das interesse vollständig zu ersetzen sei.83 So erläuterte Windscheid: „Für den Fall, wo das Interesse wegen Nichterfüllung oder nicht gehöriger Erfüllung einer Obligation gefordert wird, tritt zu den hier aufgestellten Regeln die beschränkende hinzu, daß als Interesse nie Mehr in Anspruch genommen werden kann, als das Doppelte des Werthes des Obligationsgegenstandes, vorausgesetzt daß dieser Werth ein sicherer ist.“84

Es folgt eine lange Fußnote zum komplexen Streitstand, wie diese Regel genau zu begrenzen und wann der Wert der Forderung genau bestimmt sei. Nun war Mommsens Konzept des interesse nicht wirklich neu. Die Differenzhypothese fand sich, klar auf den Begriff gebracht, bereits bei Puchta85 sowie zuvor bei humanistischen Autoren wie Donellus; 86 Mommsen selbst verwies auf Formulierungen bei Hotmann.87 Auch hatte es in Deutschland eine gewisse Tradition, die Duplum-Regel zu „chicaniren“; 88 in diesem Sinne hatte Höpfner den Grundsatz vollen Ausgleichs als Regel präsentiert und sämtliche haftungsbeschränkenden Quellenstellen mit dem Mitverschulden des Gläubigers erklärt. 89 Der deutsche Sonderweg findet hier seinen Ausgangspunkt. Mommsens Lehre wurde nicht wichtig, weil sie den Alles-oder-Nichts-Grund81 

Thibaut I (Fn.  51), §  275. 4, 181, 182 ff. (1881): ein allgemeines Gewohnheitsrecht, wonach die Regel abgeschafft sei, lasse sich nicht feststellen. 83  Puchta, Pandekten (Fn.  25), §  2 25; Mommsen (Fn.  73), S.  235 ff.; Cohnfeld (Fn.  74), S.  39 ff. 84  Windscheid II (Fn.  25), §  258. 85  Puchta, Pandekten (Fn.  25), §  2 25: „Interesse als Gegenstand einer Forderung (…) ist die Differenz zwischen dem gegenwärtigen, nach einem beschädigenden Ereigniß bestehenden Vermögen und dem Betrag desselben, wie er ohne jenes Ereigniß seyn würde (…)“. 86  Hugo Donellus, Commentaria in Codicem, ad tit. XLVII (in: id., Opera Omnia, Macerata 1832), lib. VII, cap. III, n.  2 ; näher Hans Josef Wieling, Interesse und Privatstrafe vom Mittelalter bis zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Köln 1970, S.  81 ff. m. w. N. 87  Mommsen (Fn.  73), S.  4, Fn.  1, S.  6 , Fn.  4 ; siehe Franciscus Hotmann, Disputatio de eo quod interest, in: id., Variarum disputationum vol. primum (Lyon 1569), S.  144 ff., 144: „Id quod interest, definiri hoc modo possit: Discrimen quod inter eam conditionem quae in re familiari alicuius vel antea fuit, vel omnino futura erat, & eam quae nunc est (…)“. 88  Thibaut I (Fn.  51), §  275. 89  Ludwig Julius Friedrich Höpfner, Theoretisch-practischer Commentar über die Heineccischen Institutionen, 4.  Aufl., Frankfurt a. M. 1793, §  968. Zum naturrechtlichen Hintergrund dieser Lehre Gottfried Schiemann, „Neues“ allgemeines Schadensrecht durch Rückfall hinter Friedrich Mommsen?, in: Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, hrsg. von Reinhard Zimmermann u. a., Heidelberg 1999, S.  259–267, 262. 82  RGZ

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satz der Totalreparation begründete, sondern, weil sie diesem Grundsatz einen besonders prägnanten Ausdruck gab. Aber warum ging das deutsche Recht hier einen ganz anderen Weg als das französische und die übrigen Rechtsordnungen Europas? Auch hier findet sich eine Erklärung in der deutschen Vernunftrechtsdiskussion. Zwar war der Grundsatz vollständigen Ausgleichs im Naturrecht von jeher selbstverständlich gewesen: Im katholischen Naturrecht bildete der Schadensersatz ein Element der Restitutionslehre und wurde deshalb als Ausdruck der ausgleichenden Gerechtigkeit verstanden.90 Daran hatten auch spätere Naturrechtslehrer wie Grotius und Pufendorf festgehalten, die den Schadensersatz aus dem theologischen Kontext der Restitutionslehre lösten.91 Aber damit waren gegenläufige ersatzbeschränkende Wertungen nicht von vornherein ausgeschlossen. Eine neue normative Absicherung fand das Alles-oder-Nichts-Prinzip dann aber vor allem bei Christian Thomasius und im Mainstream der jüngeren Vernunftrechtslehre; das hat Feras Gisawi in seiner Dissertation jüngst im Detail nachgewiesen: 92 Zum einen wurde der Schadensersatz hier nämlich als Verteidigung des verletzten Rechts post laesionem verstanden, also vom verletzten Recht her gedacht; schon deshalb sollte die Ersatzpflicht grundsätzlich unbeschränkt sein.93 Zum anderen galten moralische Rücksichtnahmepflichten jetzt von Naturrechts wegen als unbeachtlich; 94 das unterschied das deutsche vom französischen Naturrecht95 und war im Recht der Haftungsfolgen unmittelbar relevant. Denn die französische Lehre hatte die Beschränkung des Ausgleichs stets mit mäßigenden Billigkeitserwägungen gegenüber dem Schuldner begründet; 96 auch Wolff sah den Gläubiger verpflichtet, die Not des Schädigers zu berücksichtigen und gegebenenfalls „die Ersetzung des Schadens [zu] erlassen“.97 War im Recht kein Platz mehr für solche Rücksichtnahmepflichten, so musste 90 Statt aller Luis de Molina, De iustitia et iure (Mainz 1659), tract. II, disp.  726, n.  1: „Quando aliquis damnum iniustè dat, rem externam alterius destruendo, aut deteriorem reddendo, vel aliqua alia ratione, restituere illi tenetur valorem totius damni ita iniustè dati. (…) In his nulla est difficultas, facileque ex eo liquet, quod, qui damnum ita dat, est causa iniusta horum damnorum“, näher zum Ganzen Jansen, Theologie (Fn.  38), S.  95–120. 91  Grotius, Inleiding (Fn.  39), III, XV, n.  4 a. E., III, XXXII, §§  7, 15 ff.; id., De iure belli (Fn.  39), II, XVII, §§  5 f., 12, 16; Pufendorf, De iure naturae (Fn.  40), III, I, §§  2 f., 7 f.; besonders deutlich Johann Gottlieb Heineccius, Praelectiones academicae in Hugonis Grotii de iure belli ac pacis libros III, Venedig 1765, zu lib. II, cap. XVII, §  12; näher HKK II/Jansen (Fn.  27), §§  249–253, 255, Rn.  21–24. 92  Gisawi (Fn.  2). 93  Thomasius (Fn.  57), § XII; Wolff, Ius naturae II (Fn.  40), §  580. 94  Näher wiederum Gisawi (Fn.  2), S.  109–116, 158–163 m. w. N. 95  Gisawi (Fn.  2), S.  164–166 m. w. N. 96  Molinaeus (Fn.  8 0), n.  60: „eadem moderatio servanda est ex aequitate & mente huius legis“ (C. 7,47,1, N.J.); Pothier (Fn.  80), Rn.  164: „les dommages et intérêts (…) doivent pas être taxés et liquidés en rigueur, mais avec une certaine modération“. 97  Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseligkeit, 7.  Aufl., Halle 1743, §  828.

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dem in seinem Recht verletzten Geschädigten jedoch geradezu zwingend ein Anspruch auf vollen Ausgleich zustehen.98 Hatten Autoren wie Mommsen also eine Naturrechtsdoktrin auf die Quellen projiziert? Auch hier liegen die Zusammenhänge nicht ganz so einfach. Begrifflich konnte man ohnehin an die humanistische Literatur anknüpfen; und auch in der Sache setzte die Pandektistik nur fort, was der späte deutsche Usus modernus begonnen hatte. Entscheidend war hier, dass man von gleichen Voraussetzungen ausging wie die Naturrechtsdoktrin. In diesem Sinne erläuterte Mommsen zunächst die „gewichtigen inneren Gründe“ seiner Regel, bevor er sich an die Exegese einschlägiger Quellen machte.99 Wichtig war ihm vor allem, dass der Gläubiger „ein Recht auf die Leistung selbst“ habe, „dem eben durch die Hingabe des Aequivalents ein Genüge geschehen“ solle; deshalb müsse „nothwendig der Werth, den die Leistung für den Gläubiger hat, (…) zu Grunde gelegt werden.“ Denn sonst würde der Ausgleich „seiner Bestimmung, ein Aequivalent für den Gläubiger zu sein, nicht wahrhaft entsprechen.“ Kurz: Der Ersatz – einschließlich entgangenen Gewinns – vindizierte das verletzte Recht. Und die Behauptung, „daß kein Grund vorliegt (…), dem Gläubiger ein geringeres Aequivalent, als das ganze Interesse zuzubilligen“, war ohnehin nur sinnvoll, wenn Billigkeitserwägungen keine Rolle spielen durften, wo der Gläubiger sein subjektives Recht durchsetzte. Auch das stellte Mommsen ausdrücklich klar: Den ersatzbeschränkenden Quellenstellen des römischen Rechts habe „ohne Zweifel nicht eine schonende Rücksichtnahme auf den Schuldner zu Grunde“ gelegen.100 Über die Grundlagen war man also einig: Man verstand – bei allen Differenzen im Einzelnen – das Recht als autonome Zwangsordnung; und man dachte den Schadensersatz vom verletzten Recht her; das prägte den Blick auf die Quellen. Man kam also zu gleichen Ergebnissen wie das Naturrecht, weil man von gleichen Voraussetzungen ausging. Seit diese Voraussetzungen ihre Selbstverständlichkeit verloren haben, steht auch der Grundsatz der Totalreparation in der Diskussion. Ohne den naturrechtlichen Diskussionshintergrund lässt sich jedenfalls auch diese Lehre nicht verstehen.

V. Ergebnisse Die plakative Metapher von den „naturrechtlichen Vermächtnissen“ der Pandektistik101 erweist sich nach allem als missverständlich: Die Historische Schule übernahm nicht einfach einzelne Gegenstände aus der Hinterlassenschaft des 98 

Gisawi (Fn.  2), S.  119–129, 164–166, 173–180 m. w. N. Mommsen (Fn.  73), S.  70 f. 100  Mommsen (Fn.  73), S.  72. 101  Oben Fn.  18. 99 

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Naturrechts – sie wollte von ihrem Erbe gar nichts wissen. Auch hat die Historische Schule gewiss nicht einfach naturrechtliche Diskussionen weitergeführt oder an naturrechtliche Fragestellungen angeknüpft; dazu war es mit der Hinwendung zum organischen System des „heutigen römischen Rechts“ viel zu ernst. Ebenso war schließlich aber auch Windscheids Vorwurf überzogen, man habe Naturrecht auf die römischen Quellen projiziert: Im Bereicherungs- und Deliktsrecht kam man offenkundig zu ganz anderen Ergebnissen, als sie im Vernunftrecht gelehrt wurden. Mit dem Verschuldensgrundsatz und der Lehre von den Privatstrafen bestanden massive Differenzen zum Naturrecht; und das bereicherungsrechtliche Dogma von der Vermögensverschiebung war eine Lehre, die das Naturrecht für die Leistungskondiktionen verworfen hatte. Gleichwohl war Windscheids Vorwurf alles andere als aus der Luft gegriffen. Es gibt Parallelen zwischen dem Vernunftrecht und der pandektistischen Dogmatik gerade dort, wo die Pandektistik das gemeine Recht innovativ fortbildete; und diese Parallelen sind kein Zufall. Sie resultieren nicht zuletzt daraus, dass man die Dogmatik an zentraler Stelle auf Begriffe wie das Eigentum und das subjektive Recht gründete, obgleich die Quellen dafür keinen Anhalt boten. Die hier analysierten Lehren machen das anschaulich: Sie waren genau darin gegenüber dem älteren gemeinen Recht innovativ, dass sie das Obligationenrecht vom Eigentum bzw. subjektiven Recht her konzipierten. In diesem Sinne knüpfte die pandektistische Theoriebildung also tatsächlich an das Naturrecht an: Die Historische Schule machte naturrechtlich geprägte Begriffe zu Grundsteinen des Pandektenrechts, weil ihre Autoren von gleichen Vorstellungen vom Recht als einer autonomen Zwangsordnung und eines Systems subjektiver (Eigentums-)Rechte ausgingen. Aber das bedeutete nicht zwingend, dass man in den Quellen Naturrechtslehren „finden“ musste; gerade auch das zeigen die Beispiele zum Bereicherungs- und Deliktsrecht deutlich. In den drei Beispielen konkreter Dogmatik werden nicht zuletzt auch enorme Spannungen zwischen abstrakter Begriffs- und Systembildung einerseits und historischer Quellenexegese andererseits sichtbar. Diese Spannungen haben das pandektistische Projekt der Historischen Rechtsschule von Anfang an geprägt und den wesentlichen Fortschritt der Privatrechtsdogmatik im 19. Jahrhundert möglich gemacht. Was damals genau geschah, als man naturrechtlich geprägte Begriffe mit den römischen Quellen zusammendachte, lässt sich nicht in ein einfaches Bild wie das des „Vermächtnisses des Naturrechts“ fassen. Die pandektistischen Systementwürfe waren hochkomplexe dogmatische Gewebe, in denen ausgesprochen individuell denkende Juristen Fäden unterschiedlichster Herkunft zusammengefügt hatten. Will man hier einzelne Naturrechtsfäden entflechten, muss man genau hinschauen. Wahrscheinlich liegt jeder Fall anders; bestenfalls lassen sich typische Webmuster erkennen.

War Mühlenbruch ein Pandektist? Boudewijn Sirks I. Einführung War Mühlenbruch ein Pandektist? Und dann natürlich ein Pandektist avant la lettre? Diese Frage hat etwas Provokantes, denn Mühlenbruch wird durchaus als Pandektist betrachtet. Klaus Luig hat für die Neue Deutsche Biographie eine Kurzbiographie von ihm verfasst und ist somit bestens mit ihm vertraut. Er schreibt über ihn u. a.: „In den Rostocker Jahren verfaßte [Mühlenbruch] lediglich eine kleine Schrift über die Zession. Darin trug er bereits die Grundthese seiner späteren großen Monographie vor, daß nämlich die dem Zessionar gewährte ‚actio utilis‘ nicht das volle Recht auf die Forderung übertrage, sondern dem Erwerber nur das Recht gebe, die Forderung als ‚procurator in rem suam‘ im eigenen Interesse geltend zu machen. Anders glaubte [Mühlenbruch] nicht erklären zu können, daß der von der Abtretung nicht formell benachrichtigte Schuldner nach den Regeln des römischen Rechts noch mit befreiender Wirkung Zahlungen an den abtretenden Gläubiger leisten konnte. [Mühlenbruch] hatte bei dieser Arbeit also ein durchaus praktisches Ziel vor Augen, das er aber mit dem vollständigen theoretischen Aufwand einer historisch-philologischen Methode aus den Quellen des römischen Rechts erarbeitete. Er sah darin die ideale Verbindung von Theorie und Praxis, die seit dem 18. Jh. eines der großen Themen der Juristen war.“1 Klaus Luig nennt ihn hier nicht einen Pandektisten, macht das aber an anderer Stelle in seinem Beitrag zur NDB. Deswegen die Frage: War Mühlenbruch ein Pandektist? Die Frage ist auch deswegen interessant, weil Mühlenbruch schon so früh, 1813 und 1817, mit seiner großen Arbeit über die Zession die pandektische Bühne betrat. Worauf stützte er seine hier vertretene Zessionslehre? Können wir das pandektistisch nennen? Darauf möchte ich nachfolgend eingehen. Ich beschränke mich dabei auf Mühlenbruchs Arbeit über die Zessi1  Klaus Luig, Art. Mühlenbruch, Christian Friedrich, in: Neue Deutsche Biographie 18 (1997), S.  283 f. [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/ppn117162442. html. Daneben Klaus Luig, Zur Geschichte der Zessionslehre. Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte, Köln/Graz 1966, S.  47 ff.

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on, denn seine späteren Hauptwerke sind bereits während der Blüte der Pandektistik geschrieben.

II.  Pandektenwissenschaft und Pandektistik Zuerst ist zu klären, was unter einem Pandektisten zu verstehen ist. Wie Rückert bemerkt hat, wurde der Terminus Pandektist erst viel später geläufiger, um 1907, und zwar pejorativ.2 Anfang des 19. Jahrhunderts sprach man von Pandektenwissenschaft und Mühlenbruch hätte sich zweifellos als Pandektenwissenschaftler bezeichnet. Dennoch glaube ich, dass der Terminus geeignet ist, um eine methodische Verschiebung innerhalb der Pandektenwissenschaft zu thematisieren. Daher zuerst die Frage: Was konstituierte die Pandektistik? Ich möchte dabei einige Aspekte unterscheiden: die Verwissenschaftlichung, die Quellengrundlage und die Methode. Nach Coing in einem Aufsatz von 19893 unterschied sie sich auf zwei Weisen vom vorhergehenden usus modernus: Sie hatte eine neue Methodik und sie wollte zurück zu den Quellen. Das letzte bedeutete: nur römisches Recht der Antike, wie es an erster Stelle aus Justinians Kodifikation bekannt war, d. h. ohne Novellen (diese erwähnt Coing nicht, aber sie zählten nicht mit). Die Entdeckung von Gaius’ Institutionen 1816 erweiterte die Kenntnisse über diese Epoche erheblich und war Folge dieser neuen Quellenorientierung. Man kann sich übrigens fragen, ob das Interesse für Palimpseste nicht gerade gefördert worden war durch diese Entwicklung. Coing stellt dar, wie diese Beschränkung zur Rückbildung von verschiedenen Rechtsinstituten führte, wie z. B. bei der generellen Aquilischen Klage, die jetzt in der deutschen Pandektistik ihre klassischrömi­sche Beschränkung wiedererlangte. Die neue Methode enthielt zwei Aspekte: Erstens wollten die Pandektisten nicht neue Argumente entwickeln, sondern Regeln. Insoweit standen sie in der Tradition des ius commune des 18. Jahrhunderts. Zweitens, so Coing, sollten diese Regeln innerhalb eines Systems erklärt werden. Das ist an sich ebenfalls nicht neu – Systembildung war schon zwei Jahrhunderte früher ein philosophisches Thema. Auch im ius commune finden wir Systematisierungen, ebenso natürlich im Naturrecht.

2  Anmerkung von Joachim Rückert auf der Tagung. Er teilte mir dies aber schon vorher mit, wofür ich ihm sehr danke. 3  Helmut Coing, German „Pandektistik“ in its Relationship to the Former „Ius Commune“, in: American Journal of Comparative Law 37 (1989), pp.  9 –15.

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III.  Der Wunsch nach Verwissenschaftlichung der Rechtsgelehrtheit Coings Andeutung der Verwissenschaftlichung ist wichtig. Ende des 18. Jahrhunderts gab es bei den Juristen einen Wunsch nach Verwissenschaftlichung ihres Fachs. Es sollte systematisch werden, mit klaren Elementen.4 Stühler erwähnt dabei die Göttinger Schule mit Pütter, Reitemeier, Hufeland und Hugo. Diese Juristen wandten sich gegen das Wolffsche Naturrechtsdenken. Sie wollten den Blick auf das positive Recht richten und induktiv daraus allgemeine Begriffe und weiter ein System formulieren. Dabei benutzen sie zunächst sowohl Rechtsgeschichte als auch Rechtsvergleichung. Hugo reduzierte das positive Recht dann auf die Geschichte. Savigny folgte ihm darin, allerdings auf Basis einer organischen Rechtslehre. Doch das war nicht alles. Haferkamp hat darauf hingewiesen, dass die Pandektistik ein didaktisches Programm einhielt.5 In den Vorlesungen sollte durch die Methode den Studenten klar werden, wie man wissenschaftlich arbeitet. Dieses Desideratum von Hugo, das auf Pütter zurückzuführen ist, der für – wie wir heute sagen würden – engagierte Vorlesungen plädierte und sie auch praktizierte, wurde von Haubold und Savigny weitergetragen. Es scheint mir, dass wir das jedenfalls zum Teil in Verbindung mit dem allgemeinen Trend nach Verwissenschaftlichung bringen dürfen und somit mit Humboldts späterer Erneuerung der Universität 1810. Obgleich es auch andere gab, die dieses Programm befürworteten, hat Savigny es geschickt für die juristische Ausbildung in seinem „Beruf“ auf den Punkt gebracht, wenn er schreibt, dass die Studenten selbst die Quellen lesen müssten, um die Methode der Römer zu lernen, aus dem Einzelfall die generellen Grundsätze des Rechts abzuleiten und diese umgekehrt wieder auf Fälle anzuwenden. Die Pandektisten haben tatsächlich zu diesem Zweck Lehrbücher geschrieben. Auch Mühlenbruch, aber erst später, und das ist für uns hier nicht interessant.

IV.  Die Hinwendung zum klassisch-römischen Recht I Aber es gibt noch einen weiteren Aspekt. Die Pandektisten haben sich auf das klassisch-römische Recht beschränkt. Warum? So selbstverständlich war das nicht. Thibaut meinte 1803, Wissenschaft sei identisch mit System, auch bei der Rechtswissenschaft, aber er schloss den usus modernus als Stoff nicht aus. 6 Hufeland befürwortete in seinem Lehrbuch von 1808 die wissenschaftliche Bear4  Hans-Ulrich Stühler, Die Diskussion um die Erneuerung der Rechtswissenschaft von 1780–1815, Berlin 1978. Siehe aber die Rezension von Jan Schröder, in: JuS 1980, S.  617–620. 5  Hans-Peter Haferkamp, Pandektisten am Katheder, in: Rechtswissenschaft als juristische Doktrin, hrsg. von Claes Peterson, Stockholm 2011, S.  85–103. 6  Anton F. J. Thibaut, System des Pandekten-Rechts, Jena 1803, S.  23.

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beitung, aber für ihn waren die Pandekten das Zivilrecht im weiten Sinne, d. h. das heutige gemeine Recht, ergo der usus modernus (und dazu: kanonisches Recht usw.).7 Für ihn stellten Rechtsinstitute wie Heirat usw. (Rechtshandlungen, würden wir sagen) die Elemente der Rechtswissenschaft dar; für Savigny waren das dagegen die Begriffe. Insofern wäre die Bezeichnung Pandektenwissenschaftler für alle passend, während die sogenannten Pandektisten sich auf das klassisch-römische Recht beschränkten. Wann ist diese Einschränkung geläufig geworden? 1725 hatte Heineccius schon in seinen Elementa iuris civilis secundum ordinem Institutionum das römische Recht fast ohne Beimischungen des usus modernus dargestellt, wie Luig schreibt. 8 Dennoch war es immerhin noch das justinianische, nach den Institutionen angeordnete System. In Göttingen regte 1757 Pütter in seinem Entwurf einer juristischen Encyclopädie und Methodologie an, das römische Recht getrennt von dem usus modernus zu behandeln und zwar unterschieden in älteres und justinianisches Recht, jeweils mit Erklärung des historischen Kontextes.9 In seiner Encyclopädie von 1757 argumentierte er, dass das ältere römische Recht systematisch und ‚unvermischt‘ mit späterem justinianischem Recht unterrichtet werden sollte.10 Diese Herausforderung wurde von Habernickel und Hofacker angenommen. Habernickels Versuche aus den Jahren 1757 und 1764 scheiterten aber. Somit wurde das erste Beispiel einer nicht-institutionell-systematischen Darstellung des klassischen römischen Rechts – seit Vulpius – jenes Werk von Karl Christoph Hofacker. Er studierte in Göttingen und publizierte dort 1771 seinen Entwurf einer systematischen Methode (eher ein Vorlesungshilfsmittel) 11 und 1773 seine Institutiones juris romani methodo systematica adornatae.12 In der Vorrede des letzteren Werkes sagt er: Id quod plerumque usus forensis nomine venit atque iuris romani principiis hinc inde intermiscetur, farrago est particularum multivariarum ex iure Canonico Germanorumque moribus decerptarum … – 7  Gottlieb Hufeland, Lehrbuch des in den deutschen Ländern geltenden gemeinen oder subsidiarischen Civilrechts, Bd. 1, Giesen 1808, §  3 –10. 8  Klaus Luig, Römisches Recht – Naturrecht – Nationales Recht, Goldbach 1998, S.  377. 9  J.  A. Roderich Stintzing/Ernst Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abt., 1. Hb., München/Leipzig 1898, S.  337. 10  Johann Stephan Pütter, Neuer Versuch einer juristischen Encyclopädie und Methodologie, 2.  Aufl. Göttingen 1767, 76 §  132: „Die erste Regel einer richtigen Lehrart wuerde also erfordern, das Roemische Recht ganz alleine in seiner ungemischter Lauterkeit bloß Roemisch vorzutragen“ und 77 §  133: „Die Zweyte Regel einer verbesserten Lehrart des Roemischen Rechts wuerde also diese seyn: Man eroertere erst das alte Roemische Recht in seinem eigenen Systeme, ehe man zum Justinianeischen schreite.“ Hierzu muss man anmerken, dass schon Robert J. Pothier 1748–1752 mit seinen Pandectae Justinianae ähnliches gemacht hatte. 11  Karl Christoph Hofacker, Entwurf einer systematischen Methode im Vortrage des ungemischten römischen Rechts: nebst einer Anzeige seiner nach demselben einzurichtenden Vorlesungen, Göttingen 1771 (11 S.). 12  Karl Christoph Hofacker, Institutiones juris romani methodo systematica adornatae, Gottingae 1773.

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„Das, was meistens im Namen des Gerichtsgebrauchs daherkommt, aber von beiden Seiten mit den Grundsätzen des römischen Rechts vermischt ist, ist ein Durcheinander von vielvariierten Einzelheiten aus dem kanonischen Recht und den Gewohnheiten der Deutschen“

(S.  4r) und quid, quaeso, impedit, quo minus principia iuris romani a peregrinis intermixtionibus vacua inoffenso haustu imbibamus, deinde vero animum bene praeparatum ad usum forensem in latioribus Pandectarum voluminibus appellamus? – „Was, frage ich, steht im Wege, dass wir die Grundsätze des römischen Rechts frei von fremden Einmischungen in einem ungehinderten Trunk einnehmen, sodann den Geist wirklich wohl auf die äußere Verwendung in den recht breiten Volumina der Pandekten vorbereitet meinen?“

(S.  4r/v). Mit den Institutiones von Hofacker haben wir wohl das erste Lehrbuch, das neue Wege ging: Es beschränkte sich auf klassisch-römisches Recht, in einer systematischen – aber nicht institutionenorientierten – Darstellung13 (obwohl ein zurückhaltender Rezensent Mängel spürte),14 und es hob die Kenntnis des klassisch-römischen Rechts als besten Zugang zu den Pandekten und der Praxis hervor. Eine zweite, überarbeitete Edition erschien 1784 in Göttingen als Elementa juris civilis Romanorum, die sich aber wieder mehr an Überliefertes anschloss.15 Stühler erwähnt Hofacker nicht bei der Göttinger Schule – und zu Recht: Hofacker war wissenschaftlich kein Erneuerer; er lehrte 13  Hofacker teilte ein in A) Staatsrecht und historia externa und B) Privatrecht. Das letzte unterteilte er wieder in A) Theorie des Rechts, Rechtsquellen, Rechte und Pflichten im Allgemeinen und B) Allgemeines Recht, nämlich Rechte und Pflichten mit Bezug auf Sachen und Personen, Prozessrecht und Besonderes Recht (wie Gemeinderecht). Mit einigen Änderungen und mehreren Erweiterungen so auch in den Elementa. Es gibt keine Ähnlichkeit mit Robert J. Pothier, Pandectae Justinianae in novum ordinem digestae, Paris/Chartes 1748–1752. Dieser fängt mit den ältesten Quellen (Zwölftafelgesetz usw.) an und rekonstituiert dann Digesten und Codex in eine neue Ordnung, wobei er dennoch der alten Ordnung einigermaßen folgt. Neu ist hier die interne Behandlung der Themen. Hofacker stellt die Lehrmasse der Antiquitates romanae voran, wonach er wie die Naturrechtler Sachenrecht (Eigentum) vor dem Recht der Verbindlichkeiten behandelt. In den Elementa schiebt er das Personenrecht zwischen den ersten Teil und das Sachenrecht. Dabei ist er nicht der Einzige. In Frankreich behandelt z. B. M. Olivier in seinen „Principes du droit civil romain“, Paris 1776, Personen-, Sachen- und Erbrecht (Erwerb ex causa lucrativa) in Teil I, in Teil II dann Recht der Verbindlichkeiten (Erwerb ex causa onerosa) und Prozessrecht (wie später der Code civil). 14 Rezension in: Allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 22, 1. St., 1774, S.   338–348. Unter anderem heißt es dort: „Dass Hr. Verf. blos reines römisches Recht, ohne Beymischung von usu hodierno, vorgetragen hat, wollen wir nicht tadeln.“ Es gebe genügend andere Mängel, wie die Methode: „Die Grundregeln des V. bey Anordnung des Generalplans, sagt er, war, die Sachen nicht nach der Nominal- sondern nach der Realverbindung zu ordnen, vom Einfachen zum Zusammengesetzen, von Principien auf Principiata zu schreiten.“ Das sei aber nicht gelungen, so der Rezensent. 15  Karl Christoph Hofacker, Elementa Iuris civilis Romanorum, Gottingae 1784. Rezension in: Allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 75, 1. St., 1787, S.  401–404. Der Rezensent – derselbe, der die Institutiones rezensierte – ist kritisch: Wo Hofacker ehemals neue Wege gegangen

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schon seit 1773 in Tübingen und starb 1794, aber er war gut bekannt in Göttingen: Seine Institutiones und Elementa wurden dort gedruckt und er publizierte in den Göttinger Gelehrten Anzeigen. Insoweit spielte er in Göttingen durchaus eine Rolle. Pütters Ideen wurden auch von Hugo und später Haubold und Savigny übernommen.16

V.  Die Hinwendung zum klassisch-römischen Recht II Aber wo es Hofacker, Hugo und Haubold um den Geist des römischen Rechts ging, d. h. um dessen Grundsätze – wobei das justinianische Recht noch eingeschlossen, das spätere römische Recht dagegen ausgeschlossen blieb –, hob Savigny es auf eine höhere methodologische Ebene. Er, der 1802/03 und 1809 Hof­ acker lobend erwähnte, als es um inneren Zusammenhang bei der Darstellung des römischen Rechts ging,17 verfeinerte dessen und anderer Vorgehensweise, indem er das an sich ungeregelte Lesen zu einer besonderen Methodik erhob. Wie bereits erwähnt, betonte er in seinem „Beruf“ als Ausbildungsziel, die Studenten zu lehren, die Quellen eigenständig zu lesen und aus dem Einzelfall die generellen Grundsätze des Rechts abzuleiten und diese umgekehrt wieder auf andere Fälle anzuwenden. Quellen sollten dabei jene der Hoch- und Spätklassik sein, weil gerade in diesem Zeitalter die römischen Juristen ohne Zwang des Gesetzgebers aus Fällen generelle Regeln abgeleitet, auf neue Fälle angewendet und dabei, fast unbewusst, gemeinsam ein System gebildet hätten. Das justinianische Recht dagegen war Gesetzgeberrecht und hatte sich somit nicht frei entfaltet, sollte deswegen außer Betrachtung bleiben.18 Dies alles passt natürlich in Savignys organische Rechtslehre. Also hat Savigny das ältere Ziel der Verwissenschaftlichung des Rechts in besonderer Weise geprägt. Seine Methode war die Digestenexegese, sein Objekt die Begriffe des Rechts. Savigny forderte von den Juristen, diese neue Methode auf das Recht seiner Zeit anzuwenden, d. h. auf usus modernus, kanonisches Recht, Landrechte usw.19 Das passierte aber nicht. Wie bekannt, hat die sogesei, nähere er sich jetzt den römischen Juristen zu sehr an. Siehe weiter Stintzing/Landsberg (wie Fn.  9), S.  359–362. 16  Siehe hierzu Haferkamp (wie Fn.  5), S.  85–103. 17  Friedrich Carl von Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, hrsg. und eingeleitet von Aldo Mazzacane, Frankfurt am Main 1993, S.  100 und S.  124 lobt Savigny ihn für seinen Aufbau, kritisiert ihn zugleich, weil er es nicht richtig ausgearbeitet hat (Methodologie-Vorlesung von 1802/3), ebenso S.  163 (Methodologie-Vorlesung 1809). 18  Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, S.  29–30. 19  Savigny (wie Fn.  17), S.  30, wo Savigny auf das große Gewicht des römischen Rechts hinweist, das sich darin zeige, dass es zum einen viel übernommen worden sei und zum anderen auch Partikularrechte sehr beeinflusst habe.

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nannte Historische Schule sich in jedenfalls zwei Richtungen geteilt oder entwickelt.20 Die Germanisten haben das von der Rezeption unberührte deutsche Recht zu finden versucht. Die Romanisten haben zwar die Savignysche Methode angewendet, aber sie auf die justinianische Kodifikation und besonders das klassische Recht beschränkt (also grundsätzlich auf das Material, mit dem man eigentlich nur die Methode lernen sollte) 21 und daraus eine Systematik abgeleitet und entworfen, die weit über jene der klassisch-römischen Juristen hinausging. Doch dies passierte nicht unmittelbar nach 1814. Diese Systematik folgte nicht dem institutionellen System Justinians, sondern baute auf den Darstellungen von Hofacker, Hugo und anderen auf, vermehrt um den sogenannten Allgemeinen Teil von Heise. Zugleich nahmen die Romanisten das ganze Panorama des römischen Rechts jenes Zeitalters in den Blick. Diese Kombination von (Savignyscher) Methode, (vor-Savignyscher) Systematik und Corpus juris als Objekt der Wissenschaft ist m. E. dasjenige, was das Neue in der Pandektenwissenschaft nach Savigny ausmacht. Puchta hat dann 1838 mit seinem Lehrbuch der Pandekten den endgültigen Standard gesetzt und die Pandektenwissenschaft auf die Ebene der sogenannten Begriffsjurisprudenz gebracht.22 Das ist es dann, was viel später als Pandektistik bezeichnet wurde. In ihrer Zeit brachte sie eine ungeheuere Vertiefung der Rechtswissenschaft. Die Pandektistik ist somit nicht ‚vom Himmel gefallen‘, sondern eine Verbindung von verschiedenen Entwicklungen. Die allmähliche Konzentration auf das ältere und letztendlich klassisch-römische Recht fing schon ab 1773, sicherlich ab 1784 mit Hofackers Elementa an. Die Entwicklung einer Systematik finden wir schon am Ende des 18. Jahrhunderts bei Hufeland und anderen wie Hugo und Thibaut. Heise war 1804 mit seinem Allgemeinen Teil nur ein Beitrag zu dieser Entwicklung. Dabei war die Methode zunächst noch uneinheitlich. 20  Ich lasse die dritte und vierte Richtung, d. h. die anthropologische Richtung Bachofens und die byzantinische Richtung Zachariaes, hier außer Betracht. 21  Ohne die Libri Feudorum. In der Theorie hätte man nur das justinianische Recht kommentieren sollen, aber die Betonung der klassischen Periode führt hier bestenfalls zu einem Spagat: Soll man die Digesten justinianisch oder klassisch interpretieren? Wegen Savignys Postulat überwiegt das letztere, bis Puchta abstrahiert. 22  Georg Friedrich Puchta, Lehrbuch der Pandekten, Leipzig 1838. Savigny war bedeutend, aber natürlich nicht der einzige mit einer Theorie; seine organische Lehre hatte Konkurrenz von z. B. Hegels Philosophie und es gab noch die Frage nach dem Gewohnheitsrecht. Siehe hierzu ausführlich Hans-Peter Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“ (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, 171), Frankfurt am Main 2004, S.  113–308, auch für den Werdegang Puchtas in dieser Hinsicht und die zeitgenössischen Ansichten. Daneben z. B. Hans-Peter Haferkamp, Art. Begriffsjurisprudenz, in: Enzyklopädie zur Rechtsphilosophie, Erstpublikation 6. April 2011 http://www.enzyklopaedie-rechtsphi losophie.net/Joomla/index.php?option=com_joomlawiki&Itemid=98. Weiter zu Puchta: ders., Art. Georg Friedrich Puchta, in: Enzyklopädie zur Rechtsphilosophie, Erstpublikation 8. April 2011 http://www.enzyklopaedie-rechtsphilosophie.net/Joomla/index.php?option= com_joomlawiki&Itemid=98.

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Das änderte Savigny, indem er einerseits als wissenschaftliche Methode für das Recht die Fähigkeit definierte, aus dem Einzelnen allgemeine Begriffe zu abstrahieren und diese wieder auf das Einzelne anzuwenden, und andererseits das klassisch-römische Recht mit Institutionen und Novellen als Material für die Methode zuließ. So schuf Savigny mit seinem „Beruf“ die Grundlage einer einheitlichen Rechtswissenschaft. Danach dauerte es noch bis Puchta, bis das gewünschte wissenschaftliche System auch tatsächlich entfaltet wurde. Pandektisten leiteten durch Induktion aus dem positiven klassischen römischen Recht ihre Rechtswissenschaft ab, verwendeten zugleich eine neue Systematik und bauten ein neues römisches Recht auf. Wie passte 1813/1817 Mühlenbruch mit seiner Disputatio und dem Buch über die Abtretung in diese Entwicklung? Reagierte er auf diese neuen Charakteristika?

VI.  Mühlenbruchs ursprüngliche Ansichten Als Mühlenbruch 1790 den ersten Teil seines Versuchs einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld. Ein Commentar für meine Zuhörer publizierte, war dies ein rein traditioneller Text. Mühlenbruch folgte dem Pandektensystem und behandelte auch kanonisches und deutsches Recht. Eine historische Behandlung lehnte er dagegen ab.23 Die zwei folgenden kleineren Arbeiten Mühlenbruchs von 1805 und 1807 geben keinen Anlass, hier früh-pandektische Anschauungen anzunehmen.24 Anders sieht es aus mit seinem Lehrbuch der Encyklopädie und Methodologie von 1807.25 Das Lehrbuch entstand aus seinem Bedürfnis, seinen Studenten die „für den Zuhörer äußerst langweiligen und ermüdenden Geschäfte des Dictirens“ zu ersparen; auch, um „die beym Nachschreiben schwer zu vermeidenden, häufigen Unrichtigkeiten“ zu vermeiden (S. IV). Weiter nannte er Geschichte, Philosophie und Hermeneutik Hilfswissen-

23  Ausführliche Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld: ein Commentar von D. Christian Friedrich von Glück, Hofrath und öffentlichem ordentlichem Lehrer der Rechte auf der Friedrich-Alexanders Universit in Erlangen, 1790—; Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld: ein Commentar für meine Zuhörer, von … Christian Friedrich Glück, … [fortges. von Christian Friedrich Mühlenbruch und Eduard Fein und nach deren Tode neben Carl Ludwig Arndts von Burkard Wilhelm Leist], Erlangen 1790—. Die Bemerkung auf S.  3. 24  De vera origine, genuina vi ac indole stipulationis dissertatio, Mannhemiae 1805 (48 S.), ist eine antiquarische Untersuchung über den Ursprung der stipulatio. Das andere Werk, De veterum Romanorum gentibus et familiis prolusio, quam lectionibus hibernis praemittit, Rostochii 1807 (63 S.), ebenso siehe die Rezension von Stiller, in: Jenaische Allgemeine Literaturzeitung 6 (1807), Bd. 3, Nr.  165, S.  111 f. 25  Christian Friedrich Mühlenbruch, Lehrbuch der Encyklopädie und Methodologie des positiven in Deutschland geltenden Rechts, z. Gebrauch academischer Vorlesungen, Rostock/ Leipzig 1807.

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schaften der Rechtswissenschaft.26 Insoweit war er positivistisch. Die Übersicht des römischen Rechts folgte den Institutionen Justinians, die nachjustinianische Rechtsgeschichte wurde als wichtig dargestellt. Doch wie sich später im Buch zeigt, ist dieser Traditionalismus kein methodisches Bekenntnis, sondern eine rein didaktisch-pragmatische Wahl. Im zweiten Teil des Lehrbuchs, der von Methodologie handelt, erwähnt Mühlenbruch u. a. Pütter, der eine neue Methode des Unterrichts vorgeschlagen habe.27 Dabei nennt Mühlenbruch J. F. Reitemeyer, G. Hufeland und G. Hugo als Beispiele solcher ‚Methodisten‘. Weiter erwähnt er „Systeme nach eigen gewählter Ordnung“, mit Vulteius, Habernickel, Hofacker, Wehrn und Reitemeyer (S.  420 bei Literatur). Mühlenbruch war also vertraut mit der Göttinger Schule und deren neueren Ansichten. Mehr noch: „Ob aber die Methode des Institutionvortrages nicht einer Verbesserung bedarf? ist eine andere Frage, die ich kurz dahin beantworte: die ersten Grundsätze des R[ömischen] R[echts] in eine andere Ordnung zu bringen, ist wohl die geringste Verbesserung des Institutionenvortrags“ und darauf folgt: „In ein Institutionencollegium gehört nämlich 1) nur rein Römisches Recht, ohne Einmischung des heutigen Gebrauchs“.28 Man darf also annehmen, dass Mühlenbruch schon 1807 (und früher) 29 den Anfängerunterricht auf das römische Recht beschränken wollte. Damit könnte das justinianische Recht gemeint gewesen sein, aber Mühlenbruch wollte den Institutionenunterricht zugleich erweitern um die Grundbegriffe des Rechts sowie um das römische Staatsrecht (S.  420). Er wird deswegen eher das vorjustinianische römische Recht gemeint haben. Eine Neuordnung der Pandekten lehnte er ab, obwohl er von dem Nachteil der chaotischen Pandektenordnung für die Vorlesungen überzeugt war. Denn solange man sich nicht über eine gemeine neue Systematik einig sei, sei es besser, sich an die alte Ordnung zu halten, als mit einer Vielfalt von Methoden konfrontiert zu sein (S.  422–423). Im Institutionenunterricht solle man dagegen Exegese betreiben und zwar so, „daß man die zu einer Materie gehörigen Stellen systematisch an einander reiht, und sie sodann erläutert.“ Dabei erwähnt er die Chrestomathien von Seidensticker aus dem Jahr 1798 und Hugo von 1802.30 Hugos Chrestomatie umfasst auch das justinianische und kanonische Recht.31 26 Siehe

Stühler (wie Fn.  4), S.  162. Mühlenbruch (wie Fn.  25), S.  410: „Er erklärte sich für einen systematischen Vortrag über das R[ömische] R[echt] und war besonders sehr dafür, daß eine jede Gesetzgebung rein und unvermischt aus ihren Quellen vorgetragen werde.“ 28  Mühlenbruch (wie Fn.  25), S.  419–420, 420. 29  In seinem Vorwort erwähnt er, dass der Großteil des Textes schon ein Jahr vorher fertig und z. T. schon in Vorlesungen ausprobiert worden war. 30  Mühlenbruch (wie Fn.  25), S.  433. Die hier verwendete Ausgabe von Hugos Werk ist die 3. verbesserte Auflage, aufgenommen in: Lehrbuch eines civilistischen Cursus, fünfter (sonst siebter) Band, Berlin 1820. 31  Bemerkt sei, dass Mühlenbruch die Heranziehung des kanonischen Rechts nicht an sich 27 

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Offensichtlich war Mühlenbruch 1807 mit den neueren wissenschaftlichen und pädagogischen Ansichten bezüglich des römischen Rechts vertraut. Er teilte diese wissenschaftlichen Ansichten auch grundsätzlich, erachtete sie für den Pandektenunterricht jedoch als unpassend. Ebenso befürwortete er Exegeseschulung für die Studenten. Dabei schloss er das justinianische und sogar auch das kanonische Recht noch mit ein. Wissenschaftlich unterschied er sich nicht von Juristen wie Hugo und Haubold. Auch 1813, als Mühlenbruch, wie schon von Luig dargestellt,32 in seiner Schrift De jure eius cui actionibus cessit creditor seine bald bekannte These über die Wirkung der Zession entwickelte,33 stützte er sich auf das klassische römische Recht und das justinianischen Recht, lehnte jedoch jetzt in seiner Untersuchung des Unterschieds zwischen den actiones utiles und actiones mandatae die späteren Rechtsansichten des Mittelalters und besonders des usus modernus ab. Das Band zwischen Gläubiger und Schuldner war starr (S.  9, wobei er auf Hugos Geschichte des Römischen Rechts verwies) und die Forderung blieb immer beim Gläubiger (S.  13). In der kurzen Schrift wurden nur klassische Texte aus dem Corpus juris zitiert. Dies kann nicht Folge der von Mühlenbruch erwähnten Chrestomatie von Hugo sein, da die dort ausgewählten Texte weder auf das antike Recht beschänkt sind, noch überhaupt die Zession betreffen. Das Thema der Disputatio von 1813 war, wie Mühlenbruch selbst sagte, von einem Gesetz über concursus cessionariorum angeregt worden: Suppeditavit mihi scribendi argumentum lex quaedam patria, quae hoc ipso anno de concursu cessionariorum, uti ajunt, inter se, lata est … – „Ein gewisses Landesgesetz, das gerade dieses Jahr über das Zusammentreffen von Zessionaren, wie man unter einander sagt, erlassen worden ist, gab mir das Thema zum Schreiben“. Mühlenbruch erwähnte an dieser Stelle nicht, um welches Gesetz es sich handelte. Die Zession bereitete der Praxis ohnehin Probleme. In Sibeths Ueber die Verbesserung des Schuldsystems im Großherzogthum Mecklenburg-Schwerin wurde erwähnt, dass im Falle eines Konkurses die schon „wegcedirten Schuldforderungen“, womit „chyrographische Forderungen“ gemeint seien, mit der hypothekarischen Klage von dem hypothekarischen Gläubiger verfolgt werden könnten, wenn darauf „sub hypotheca bonorum“ geschrieben war. Verschiedene Rechtsgelehrte und zuletzt auch die Gießener Fakultät hatten gemeint, der hypothekarische Gläubiger habe das Recht dazu. Weil dadurch große Unruhe entstand – man vertraute solchen Schuldscheinen nicht mehr, sondern schritt unmittelbar zur Eintreibung –, schlug das Hofgericht anlässlich eines entsprechenden Falles ausschließt. Doch die Sprache sei viel schwieriger und das römische Recht viel wichtiger (Mühlenbruch [wie Fn.  25], S.  433 Fußnote). 32  Luig (wie Fn.  1) Zessionslehre, S.  47 f. 33  Christian Friedrich Mühlenbruch, De jure eius cui actionibus cessit creditor, Rostock 1813, Programm zur Verleihung der Ehrendoktorwürde in den Rechten der Universität Rostock an Christian Friedrich Kruger und Friedrich August Rudloff.

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am 20. November 1809 vor, die Worte „und durch Zustellung der Papiere in das Eigenthum des Cessionarii übergangen“ in einem Verordnungsvorschlag zu diesem Problem hinzuzufügen, damit auch die Rechtsfolge der Zession klar sei.34 Am 30. Januar 1810 folgte die Verordnung, „daß die von einem Debitore bona fide, und zu einer Zeit, da er noch gültig über das Seinige zu disponiren, und zu zahlen befugt war, an andere zur Zahlung abgetretene, und durch Zustellung der Papiere in das Eigenthum des Cessionarii übergangene, Schuldforderungen von andern hypothekarischen Gläubigern des Cedenten in keine Wege in Anspruch genommen werden können noch sollen“.35 In jener Zeit, wohl im Zusammenhang mit den napoleonischen Kriegen, sehen wir eine Zahl von Verordnungen den Konkurs betreffend, wobei es selbstverständlich eine Gläubigermehrheit und somit gegebenfalls einen Zusammenstoß von Zessionaren gab. Eine dieser Verordnungen handelte von diesem Fall und wurde von Mühlenbruch selbst in seiner Lehre erwähnt. Es handelte sich um die Herzogl. Mecklenb.-Schwer. Constitution vom 15. Mai 1813, welche besagte, „daß, gleichwie der Verkäufer, welcher sich das Eigentum, und vor seinen Cessionarien das Vorzugsrecht bedungen hat, diesen unbedingt vorgeht, also auch die Cessionarien unter einander nach dem durch die Cession erworbenen Rechte ihres Cedenten zu lociren sind … dergestalt, daß die jüngern der ältern vorgehen“.36 Diese Verordnung, die Mühlenbruch in der Disputatio referierte, war die Reaktion auf das in der Praxis aufgetauchte Problem des Ranges der Zessionare bezüglich der durch den Zedenten vorbehaltenen Eigentums- und Vorzugsrechte. Dabei bestand die Frage, wann Rechte des Zedenten auf den Zessionar übergingen und wann nicht. Gewissermaßen glich dies dem Fall, den Sibeth behandelte, weil in 34  Friedrich Wilhelm Sibeth, Ueber die Verbesserung des Schuldsystems im Großherzogthum Mecklenburg-Schwerin, besonders in Hinsicht auf die Collisionen der Gläubiger untereinander, Güstrow 1816, S.  12 Fußnote. 35  Sammlung aller für das Großherzogthum Mecklenburg-Schwerin gültigen Landes-Gesetze von den ältesten Zeiten bis zu Ende des Jahres 1834, Bd. 3, Wismar 1835, Nr.  342, S.  356. Erwähnung der Problematik bei Sibeth auf den S.  9 –12 in der Fußnote. Dennoch erwähnt Sibeth (wie Fn.  34), S.  10 Fußnote einen Fall von 1816, in dem Arrest auf eine zedierte Forderung gelegt wurde, und er spricht die Hoffnung aus, dass dies bald korrigiert werde: „Um eine gleiche Absicht geltend zu machen, ist in diesem Augenblick, eine in Besitz eines Concursificis gewesene, und von ihm vor ausgebrochenem Concurs wegcedirte Forderung von 29000 Rthlr. bei der hiesigen Ritterschaft mit Arrest belegt worden. Wenn diesem Unwesen nicht bald durch eine Declarator Verordnung gesteuert wird, so muß nicht nur aller Verkehr mit Papieren ganz wegfallen, sondern wir sind auch nicht mehr sicher, daß uns der Rock vom Leibe vindicirt wird.“ Die „Constitution wegen der Gültigkeit cedirter Schuld-Forderungen gegen die Ansprache hypothekarischer Gläubiger“ findet man auf S.  13, Fußnote. Sie ist jene vom 30. Januar 1810. Sibeth hatte schon vorher über die Schuldproblematik geschrieben: Friedrich Wilhelm Sibeth, Juristische Abhandlungen. Erste Sammlung: Ueber die Errichtung von Special-Hypothekenbüchern in den Mecklenb. Städten, Rostock 1812. 36 Sammlung Nr.   414, S.   400. Ursprünglich publiziert im Herzoglichen Mecklenburg-Schwerinschen officiellen Wochenblatt von 1813, St. 29, siehe Christian Friedrich Mühlenbruch, Die Lehre von der Cession der Forderungsrechte. Nach den Grundsätzen des Römischen Rechts, Greifswald 1817, S.  524 Fn.  80 (hiernach zitiert als: Lehre).

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beiden Fällen fraglich war, worin das Verhältnis zwischen Zedent und Zessionar bestand. Konnte der Zedent noch Rechte an einer zedierten Forderung ausüben, war das Recht des Zessionars vom Zedenten bestimmt oder war die Zession absolut und etablierte sie so ein unabhängiges Recht für den Zessionar? Das erklärt, warum Mühlenbruch in der Disputatio unmittelbar auf den Unterschied zwischen actiones utiles und actiones mandatae einging, denn an diesen wurden die unterschiedlichen Ansichten geknüpft. Das Problem war Juristen in Mecklenburg-Schwerin wohl bekannt und brauchte keine nähere Erläuterung. In der Disputatio stellte Mühlenbruch die Frage, ob eine Forderung übertragen werden könne. Bei den Römern ging das sicherlich nicht. Nur die Kon­ struktion der procuratio in rem suam erlaubte die Einziehung durch eine andere Person. Und obwohl im Laufe der Zeit sogar der Verkauf und das Vermächtnis von Forderungen möglich und den Erwerbern eigenständige Klagen zugestanden wurden, blieb immer die Mandatsnatur erhalten. D. h., solange nicht die litis contestatio erfolgt war, konnte der Zedent das Mandat kündigen (S.  9 –11). Was war dann der Unterschied zwischen actiones mandatae und actiones utiles? Denn der Zessionar erlangte weder weniger noch mehr Rechte als der Zedent und der Schuldner konnte ihm gegenüber nicht besser oder schlechter gestellt werden (S.  12). Der Gläubiger behielt die zedierte Klage und konnte sie bis zur litis contestatio ausüben (CJ 8,14,3; S.  13). Die utilis konnte verwendet werden, wenn die directa nicht ausreichte oder ganz fehlte (S.  14). Die in iure cessio reichte nicht, vgl. UE 19,11 (S.  17), wo Ulpian Forderungen nicht unter den rebus corporalibus erwähnte (diese Stelle nannte Mühlenbruch auch in seiner Lehre, siehe bei Fn.  60). Auch CJ 4,39,5 wurde als Argument für die Möglichkeit einer echten Zession abgelehnt (S.  18–19). Mühlenbruch fasste dies zusammen mit den Sätzen qui in jus alterius succedit, eius jure uti debet und non debeo melioris conditionis esse, quam auctor, a quo jus in me transit (S.  19). Er lehnte die konträre Auffassungen von Anckelmann und Wehrn ab (S.  20) und bemühte sich im Folgenden, seinen Standpunkt, dass der Zessionar immer procurator in rem suam sei (S.  12, 22: quod alienas actiones in suum commodum exerceat cessionarius), zu untermauern.37 Es ist klar, dass Mühlenbruchs Standpunkt dazu führte, die Constitution von 1810 abzuweisen, weil diese den Zessionar besser als den Zedenten stellte, indem sie die hypothekarische Klage nicht mehr zuließ. Explizit aber nannte er diesen Fall nicht.38 37  Anckelmann, De cessione nominum, Göttingen 1791, gemeint ist: Georg Anckelmann, Dissertatio inavgvralis de cessione nominis et in specie de concvrsv plvrivm creditorvm in exigendo cesso debito, Göttingen 1791; C.G. Wehrn, De cessionario privilegiato ad usum privilegiorum suorum admittendo etc., Erfurt 1786, gemeint ist: Christian Wilhelm Wehrn, Disquisitio iuridica de cessionario privilegiato ad usum privilegiorum suorum admittendo, nec non de iure pignoris feudalis in causa quadam illustri constituti primum, deinde cessi, tum disceptationem vocati atque sententiarum responsorumque varietate ac dissentioni subiecti, Erfurt 1786. 38  Luig (wie Fn.  1) Zessionslehre, S.  45–46.

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Diese Auffassung hatte schnell Erfolg, insofern, als Glück und Bucher ihr 1815 beipflichteten.39 Das veranlasste Mühlenbruch, seine Ideen in einem Buch auszuarbeiten.40

VII.  Mühlenbruchs „Die Lehre der Zession“ Vier Jahre später, 1817, publizierte Mühlenbruch seine Lehre der Zession, drei Jahre nach Savignys Beruf.41 Der Form nach erfüllte Mühlenbruchs Buch die Anforderungen der zeitgenössischen Pandektenwissenschaft: Ein Thema wurde auf einer Grundlage von klassisch-römischen und justinianischen Texten analysiert, ausgearbeitet und dogmatisch fortgebildet. Mühlenbruch setzte sich mit späteren Autoren und auch partikularrechtlichen Vorschriften auseinander, aber seine Theorie ging im Kern nicht über Justinianus’ Kodifikation hinaus. Insoweit blieb Mühlenbruch sich selbst, wie in seinem Lehrbuch dargestellt, treu. Wir brauchen nicht ausführlich auf seine Zessionstheorie einzugehen: Luig hat diese klar dargestellt und analysiert.42 Hier möchte ich mich beschränken auf zwei Fragen: Auf welchem Ausgangspunkt basierte Mühlenbruchs Theorie? Und konnten die von ihm 1817 angeführten römischen Quellen diese Annahme stützen? In der Lehre begann er in §  1 (Begriff der Cession) in einigermaßen philosophischem Sinne: „Rechte und Rechtsverhältnisse sind nur insoferne der Uebertragung von dem berechtigten Subjekt auf ein anderes fähig, als ihr individueller Gegenstand auch als Object der rechtlichen Einwirkung Anderer gedacht werden kann“ (§  1.1).43

In diesem einen Satz steckt die Grundlage seiner Zessionslehre, wie schon Luig festgestellt hat.44 Der Satz erinnert an Savigny: „Alle denken sich unter dem Besitz einer Sache den Zustand, in welchem nicht nur die eigne Einwürkung auf die Sache physisch möglich, sondern auch jede fremde Einwürkung unmöglich ist.“ Dies ist aber keine rechtlich geschützte Position, sondern bloße Detention. Nur Eigentum kann fremde Einwirkung ausschließen: „Da nämlich das Eigenthum die rechtliche Möglichkeit ist, auf eine Sache nach Willkühre einzuwürken, und jeden andern von ihrem Gebrauch auszuschließen“.45 Dazu kommt 39 

Luig (wie Fn.  1) Zessionslehre, S.  58. Luig (wie Fn.  1) Zessionslehre, S.  48. 41  Lehre (wie Fn.  36), S.  1. 42  Luig (wie Fn.  1) Zessionslehre, S.  47–48: Vorwiegend anhand der 3. Auflage von 1836, die erheblich erweitert ist (z. B. mit Stellen aus dem Veroneser Gaius), aber die Grundlage ist dieselbe wie in der 1. Auflage, auf die Luig auch gelegentlich verweist. 43  Lehre (wie Fn.  36), S.  1. 44  Luig (wie Fn.  1) Zessionslehre, S.  49–50. 45  Friedrich Carl von Savigny, Das Recht des Besitzes, Gießen 1803, S.  2–3. 40 

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noch Savignys Behandlung des Erwerbs des Besitzes, bei dem körperliches Handeln erforderlich ist,46 aber breiter interpretiert werden muss: „nämlich die physische Möglichkeit, auf die Sache unmittelbar zu würken, und jede fremde Würkung auf sie auszuschließen“.47 Obgleich Gaius’ corporales hae sunt quae tangi possunt … incorporales sunt quae tangi non possunt (2,13–14) auch physische Einwirkung als Kriterium nennt, sind wir doch weit entfernt vom römischen Gedankengut.48 Hier schimmert Kant durch: „Denn ein Gegenstand meiner Willkür ist etwas, was zu gebrauchen ich physisch in meiner Macht habe.“49 Mühlenbruch sprach von rechtlicher Einwirkung. Dafür gab Savigny auch Beispiele: Besitzerwerb durch fremde Handlungen,50 z. B. constitutum possessorium51 oder Auftrag52 . Mühlenbruch lehnte seinen Begriff der Übertragung also möglicherweise an Savigny an,53 lief dadurch aber Gefahr, sich auf physische Gegenstände zu beschränken. Wäre es möglich gewesen, auch nicht-physische Objekte einzubeziehen? Können sie Objekt rechtlicher Einwirkung sein? Mühlenbruch hat diese Frage ziemlich reduziert. Ein Recht und ein Rechtsverhältnis haben ein Objekt. Das kann eine Sache oder eine Obligation sein, wie Mühlenbruch in §  2 angibt. Wenn das Objekt sich nur auf den Berechtigten bezieht, wie z. B. die Eigenschaft als Staatsbeamter, kann es nicht übertragen werden. Im anderen Falle handelt es sich um Vermögensrechte, die wieder in absolute (Eigentum, dingliche Rechte) und relative (Forderungen) Rechte auseinanderfallen (§  2). Eigentum (dominium) steht in unmittelbarer Beziehung zu einem Objekt und verschafft dem Berechtigten ein ausschließendes Recht an demselben. Aber Ausschließung impliziert, dass andere dieses Recht stören können, d. h. Anspruch erheben können, sonst schließt man nicht aus. Weiter ist es nicht auf Sachen beschränkt, weil eine Erbschaft an sich auch Objekt des Eigentums (dominium) ist: Denn es kann einen Rechtsstreit über eine Erbschaft geben. (Hier erweitert Mühlenbruch den Begriff dominium über seine römische

46 

Savigny (wie Fn.  45), S.  145. Savigny (wie Fn.  45), S.  151, 179. 48  Dazu kommt, dass Gaius diesen Unterschied erwähnt im Rahmen der Einteilung von Sachen. Es gibt viele Texte im römischen Recht, die vom Erwerb und Verlust des Eigentums handeln, und es wird aus dem Kontext ziemlich klar, was dominium beinhaltet, aber eine juristische oder philosophische Definition fehlt. 49  Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Königsberg 1797, §  1–2, Zitat in §  2. 50  Savigny (wie Fn.  45), S.  240. 51  Savigny (wie Fn.  45), S.  258–259 und ff. 52  Savigny (wie Fn.  45), S.  249. 53  Siehe auch Kant (wie Fn.  49), §  8 : „Wenn ich (…) erkläre, ich will, daß etwas Äußeres das Meine sein solle, so erkläre ich jeden anderen für verbindlich, sich des Gegenstandes meiner Willkür zu enthalten (…). In dieser Anmaßung aber liegt zugleich das Bekenntnis: jedem anderen in Ansehung des äußeren Seinen wechselseitig zu einer gleichmäßigen Enthaltung verbunden zu sein; denn die Verbindlichkeit geht hier aus einer allgemeinen Regel des äußeren rechtlichen Verhältnisses hervor.“ 47 

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Bedeutung hinaus, denn es gab kein dominium von Erbschaften. Er selbst gibt das auch später zu.) Bezüglich Forderungen schreibt Mühlenbruch, es „ist das Recht auf – positive oder negative – Handlungen bestimmter Personen. Sie setzt immer ein besonderes Rechtsverhältnis zwischen mehrern Personen voraus“.54 Dieses Rechtsverhältnis kann der Grund einer Forderung sein oder die Folge einer Forderung, wobei dann die Rücksicht auf die Forderung wesentlich für es ist.55 Bei reinen Forderungen fließen Grund und Forderung ineinander, womit Mühlenbruch meint, dass der Grund, d. h. das Recht, nur existiere, wenn es auch wirklich geltend gemacht werden kann. In diesem Fall (den Mühlenbruch den gewöhnlichen Fall nennt) werden bei den Römern die Begriffe Klage und Verpflichtung durcheinander verwendet.56 Was Mühlenbruch hier gefunden hat, scheint nur zu sein, dass der Grund einer obligatio und damit einer actio ein Rechtsverhältnis ist, dass obligatio und actio zwei Seiten derselben Forderung sind und die Existenz des Rechtsverhältnisses und der obligatio/actio eng miteinander verbunden sind. Aber für das geltende Recht verweist Mühlenbruch auf Hugo, übrigens mit der Bemerkung, dass Hugo hierin zu weit gehe.57 Das führt dazu, dass sobald das wechselseitige Rechtsverhältnis aufhört zu existieren, die Forderung auch erlischt. Aber wegen dieses Verhältnisses, das nur zwischen diesen beiden existiert, kann eine Forderung auch nicht Objekt eines Rechtsstreits sein, weil sie frei ist vom unmittelbaren Einfluss Dritter. Und ebenso kann man eine Forderung nicht veräußern, weil sie sich, wenn der Krediteur sie aufgibt, direkt auflöst.58 An sich unterscheidet Mühlenbruch sich nicht von anderen Pandektenwissenschaftlern, wenn er als Grundlage die Rechtsverhältnisse verwendet, ein Begriff, der den Römern unbekannt war. Hufeland z. B. meinte, Handlungen seien die geeignete Basis für eine Rechtswissenschaft.59 Weil Mühlenbruchs Lehre auf die Zession beschränkt ist, ist es unmöglich zu sagen, inwieweit er hierin eine neue Systematik verwendet. Doch haben wir gesehen, dass er offen dafür war. Ebenso unterscheidet Mühlenbruch sich nicht von anderen Rechtsgelehrten, indem er im römischen Recht den Boden für diese Thesen zu finden glaubt. Er meint, bei den Römern flössen reine Forderung und ihr Grund so ineinander, dass von diesem Grund „nur unter der Voraussetzung einer wirklichen Geltendmachung des Rechts die Rede seyn kann.“ Das führe dazu, dass sie eine 54 

Lehre, S.  7. Hier könnte er auch an Kant gedacht haben: siehe Kant (wie Fn.  49), §  18. Lehre (wie Fn.  36), S.  7–8. 56  Lehre (wie Fn.  36), S.  9, 22–28 (§  14), S.  23: Die Gebrauchsüberlassung eines Klagerechts hat immer etwas Anomalisches. 57  Lehre (wie Fn.  36), S.  7 Fn.  10. Hugo nahm an, dass Obligationen und Forderungen ihrer Natur nach immer vorübergehend waren. Mühlenbruch verweist auf Gustav Hugo, in: Civilistisches Magazin 1 (1803), S.  200 f. und 4 (1815), S.  24. 58  Lehre (wie Fn.  36), S.  11. 59  Gottlieb Hufeland, Institutionen des gesammten positiven Rechts, Jena 1798, §  36. 55 

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actio verwendeten, wo sie obligatio meinten, obwohl die actio nur Mittel sei. 60 Als Beispiel nennt er D. 19,1,10. Der Text beginnt mit der Aussage, dass zwei obligationes in einer Person zusammenkommen können. Aber danach folgt erst ein Beispiel von zwei actiones, die in einer Person zusammenkommen, dann von zwei obligationes, die in einer Person zusammentreffen. Ulpian unterscheidet, wie in D. 21,2,32 und 46,2,8,3 (wie D. 19,1,10 nach Lenels Palingenesia alle aus Ulpians Kommentar zu de verborum obligatione), genau zwischen Klage und Verpflichtung. Dabei könnte der Anfang von D. 19,1,10 auf eine vorangegangene Stelle hinweisen, ähnlich wie in D. 21,2,32. Mühlenbruchs Position benötigte also andere (und mehr) Beweise als diesen Text. Mühlenbruch behauptet, ein persönliches Rechtsverhältnis existiere nur durch das wechselseitige Verhältnis und höre auf zu existieren, sobald diese Beziehung von der einen oder anderen Seite wegfalle und damit von dem unmittelbaren Einfluss des anderen befreit sei. Dadurch könne eine Forderung nicht Objekt eines Rechtsstreits mit anderen sein und somit sei auch die Veräußerung einer Forderung unmöglich. 61 Das Aufgeben der Forderung durch eine Seite bedeute notwendigerweise ihren Untergang, somit den Untergang des Objekts der beabsichtigten Übertragung. Als Unterstützung dieser Behauptung nennt er UE 19,10. 62 Hieraus liest Mühlenbruch, dass durch in iure cessio die nomina hereditaria verloren gingen. Mühlenbruch erklärt den Text aber kaum.63 Das ist ihm nicht anzulasten, denn die Ulpianstelle wird viel verständlicher durch die Gaiusstellen 2,34–37 und 3,85–87, die Mühlenbruch noch unbekannt waren, als er die Lehre schrieb. Diese stellen klar, dass nach Antritt der Erbschaft der Erbe zwar die Erbschaft als Ganzes zedieren kann mittels in iure cessio, er aber Erbe bleibt; nur die körperlichen Sachen gehen in Eigentum über, doch als ein Ganzes. Das ist die einzige Wirkung. Er bleibt als Erbe (gegen seinen Willen) den Erbschaftsgläubigern verpflichtet, während er durch die Zession auf die Erbschaftsforderungen verzichtet. Mühlenbruchs These, dass die Erbschaftsforderungen nicht übergehen, obwohl der Erbe sie übertragen will, ist daher kaum überzeugend. Sie haften dem Erben an, und weil er diese Stellung nach Antritt nicht mehr loswerden kann, kann er sie wie auch die Gläubiger des Erblassers ebenso nicht mehr loswerden, es sei denn, er verzichtet auf die Forderungen. Und so wird die Zession auch ausgelegt (ein Verzicht auf die Rechte der Gläubiger ist natürlich nicht möglich).64 Mühlenbruch hätte daher vorsichtiger sein sollen. Die Tatsache, 60 

Lehre (wie Fn.  36), S.  9. auch Luig (wie Fn.  1) Zessionslehre, S.  50. Weil Mühlenbruch schon zu Beginn diese Bedingung setzt, ist dies ein Zirkelschluss. Kant (wie Fn.  49), §  18 erwähnt die Möglichkeit einer Übertragung eines persönlichen Rechts, aber nur durch einen gemeinschaftlichen Willen. Damit meint er wohl im positiven Recht die Novation. 62  Lehre (wie Fn.  36), S.  11. 63  Lehre (wie Fn.  36), S.  17–18. 64  Dass es bei dem heres legitimus anders ist vor dem Antritt liegt daran, dass noch nicht angetreten ist und somit auch seine Position noch unklar. Erst nachdem feststeht, ob das Tes61  Siehe

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dass im Gegensatz zum heres legitimus schon vor Antritt die Erbenstellung übergeht, während sie nach Antritt beim Erben insoweit bleibt, als der Erbe den Gläubigern weiterhin haftet, sodass nur die körperlichen Sachen übergehen, die Analogie mit der heres fideicommissarius – dies alles hätte ihm eine Warnung sein können, dass hier die Lage besonders kompliziert ist und sich hier nicht ohne Weiteres eine Unmöglichkeit der Übertragung von Forderungen ergibt. Dessen ungeachtet muss man Mühlenbruch zugestehen, dass die klassisch-römischrechtlichen Texte (wie auch später die 1816 entdeckte Gaius-Handschrift) eine Zession, bei der der Zessionar völlig vom Zedenten unabhängig ist, durchaus nicht erwähnen. Er handelte, so muss man annehmen, durchaus mit einer procuratio in rem suam und der Schuldner konnte bis zur litis contestatio an den Zedenten befreiend zahlen. Wie Luig zutreffend bemerkt, war Mühlenbruchs Zession eigentlich eine Novation mittels der Litiskontestation. 65 Weil es im Verkehr dennoch ein Bedürfnis nach Übertragung von Forderungen gab, entwickelten sowohl die Römer als auch später der usus modernus Formen, mit denen dennoch eine Art Übertragung stattfinden konnte (in diesem Sinne auch Mühlenbruch). Sie sind ausführlich von Luig dargestellt worden. 66 Für Mühlenbruch war das eine falsche Annahme. Die actio utilis beruhte immer auf einem Mandatsverhältnis (mit procuratio in rem suam) und war keine selbständige Klage geworden. 67 Wie er schon in der Disputatio formulierte, es gebe dadurch dann keinen Unterschied zwischen actiones mandatae und actiones utiles.

VIII.  Hatte Mühlenbruch Recht? Einiges fällt auf. Mühlenbruch erwähnte das Recht an Sachen, behandelte aber nicht die Übertragung von Eigentumsrechten. Er erörterte, wie Dritte an einer Sache neben dem Eigentümer Rechte haben können. Bei den Forderungen engte er die Behandlung unmittelbar auf reine Forderungen ein und unterstellte, mit Hilfe von D. 19,1,10, dass Recht und Ausübung ineinanderflössen. Dadurch sei eine Übertragung unmöglich. Mühlenbruch hat hier offenbar die reinen Forderungen gleichgesetzt mit den Rechten, deren Objekt sich auf den Berechtigten bezieht (z. B. Staatsämter), obwohl er das nicht so explizit schrieb. tament gültig ist oder nicht, ist er an seine Erbenstellung gebunden. Er zediert eine Anwartsstellung. Der angetretene Erbe ist bezüglich der in iure cessio vergleichbar mit dem heres fideicommissarius, der auch Erbe bleibt nach Auslieferung der Erbschaft. Siehe weiter Max Kaser, Das römische Privatrecht, Bd. 1, München 1971, S.  722. 65  Luig (wie Fn.  1) Zessionslehre, S.  48–50 stellt die Zessionslehre Mühlenbruchs dar, kürzer, aber identisch. Luig verwendet meistens die 3. Auflage der „Lehre“, wo Mühlenbruch, wie in der 2. Auflage, Gaius’ wiederentdeckte Institutionen verwendet. Im Ergebnis ändert dies nichts. 66  Luig (wie Fn.  1) Zessionslehre, S.  50–58. 67  Lehre (wie Fn.  36), S.  145.

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Doch Forderungen sind nicht notwendigerweise auf Leistung an den Gläubiger bezogen. Bei einer Geldzahlung kann die Person des Empfängers ein anderer sein, wie beispielsweise bei der Delegation. Es kann dem Schuldner egal sein, an wen er leistet, wenn er nur seine Verpflichtung los wird, genau so wie es einem Anbietenden egal sein kann, wer sein Angebot annimmt, wie das bei der pollicitatio üblich ist (wo es sogar mehrere Akzeptanten geben kann). Diese Parallele wurde von Mühlenbruch nicht gesehen, aber das römische Recht hätte ihm Material geboten (D. 50,12). Es kann dem Gläubiger ebenso egal sein, an wen der Schuldner leistet, wenn er nur vermögensrechtlich den Effekt der Zahlung spürt. Zwar würde Mühlenbruch wohl dagegen anführen, dass die Delegation auf Veranlassung des Gläubigers geschieht, aber das gründet auf der Annahme, der Schuldner könne nur an den Gläubiger leisten. Es ist diese Annahme, die bewiesen werden muss. Indem Mühlenbruch sich nicht mit dem Entstehen der Forderung auseinandersetzte, brauchte er auch nicht zu untersuchen, ob deren Übertragung möglich ist. Mit seiner Darstellung hat er dem römischen Recht eine moderne Grundlage gegeben. Mühlenbruch bietet eine Neubegründung des römischen Zessionsrechts im System der Rechtsverhältnisse an. Eigentum ist Herrschaft über eine Sache innerhalb eines Rechtsverhältnisses. Wäre Mühlenbruch Kant gefolgt, hätte er sagen können: Eine Forderung ist das Recht, über die Leistung eines anderen zu verfügen, d. h. über einen Teil der Freiheit eines anderen, solange dadurch nicht die Freiheit des anderen beeinträchtigt wird. Dieses Recht wird mittels Vertrag übertragen. Aber dann wäre es auch möglich, dieses erworbene Recht mittels Vertrag einem Dritten zu übertragen, solange die Freiheit des anderen respektiert wird und die Leistung auch gegenüber Dritten erbracht werden kann. Mit Geldforderungen war das in der Regel kein Problem. Dennoch ist es auf Grund der römisch-rechtlichen Quellen durchaus richtig zu folgern, dass der Zessionar seine Rechte vom Zedenten ableitet und nicht mehr Rechte haben kann, als dieser hatte (mit Ausnahmen, wie beim Erbschaftskäufer). Was aber ist mit den „chyrographischen Forderungen“, die Sibeth so am Herzen lagen? Mühlenbruch macht mit diesen kurzen Prozess. Er lehnt den Gedanken vehement ab: „Ob die bloße Innehabung des Schuldscheins schon auf eine Cession schließen darf? Diese Frage ist natürlich zu verneinen, wie dies denn auch meistens geschieht“. Es gibt den Fall, dass der Schuldschein auf jeden Inhaber oder jeden getreuen Inhaber lautet. Im ersten Fall „geht die gemeine Meinung dahin, daß (…) der Besitz der Urkunde den Beweis der geschehenen Cession enthalte, dagegen im zweiten der Inhaber so zu behandeln sey, als ob der Schuldschein blos auf die Person des ersten Gläubigers gestellt wäre“. Auch hier kurzer Prozess: „Nach Römischem Recht ist es ganz unmöglich, diese Frage auch nur aufzuwerfen“. 68 Das ist leicht zu sagen, weil Mühlenbruch die hierfür 68  Lehre

(wie Fn.  36), S.  415–416. „Durch solche Schuldscheine ‚payables au porteur‘ —

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zentralen Stellen D. 30,44,5 und 6 Ulp.  2 ad Sab. und D. 32,59 Jul. 34 dig. nicht behandelt. Sonst hätte er sich mit der Frage beschäftigen müssen, warum bei chirographischen Geldschuldanerkennungen, die mit Schuldscheinen ‚payable au porteur‘ vergleichbar waren, offensichtlich die Übertragung möglich war. 69 Die Unterschrift wäre nicht als Zustimmung des Schuldners zu einer eventuellen Novation zu sehen, sondern als Ausdruck der Zustimmung des Schuldners zu jedem anderen Gläubiger, dem der Schein übertragen würde. Damit wäre Kants Postulat der Freiheit Genüge getan.

IX. Zusammenfassung Mit diesen Folgerungen sind wir zurück beim Ausgangspunkt. Es ist jetzt klar geworden, dass Mühlenbruch kein Vorläufer der Pandektistik im Sinne von Puchta und anderen war. Wir finden bei ihm keine allgemeinen oder philosophischen Überlegungen über das Recht an sich und dessen Geltung wie bei Savigny und Puchta.70 Obwohl ihm Savignys Beruf und dessen weitere Ansichten bekannt gewesen sein könnten, äußert er sich nicht über Volksgeist oder organische Rechtslehre. Er war ein fortschrittlicher Pandektenwissenschaftler des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, offen für die Bedeutung der Exegese für die Methodik, offen für die neue Systematik und ihr zugeneigt, aber gleichzeitig vorsichtig, solange dafür im Unterricht die Zeit noch nicht reif war, und er hielt sich weiter noch auch am Corpus juris fest. Er entwarf eine Theorie der Zession auf der Grundlage des klassischen römischen Rechts und sein Ausgangspunkt war das Rechtsverhältnis. Weil es dabei blieb, können wir nicht sagen, dass er auf einem System aufgebaut hätte wie später Puchta oder dass es auch nur Ansätze in solche Richtung gegeben hätte, obgleich Puchta ihn zustimmend erwähnt.71 Sein Ausgangspunkt war an sich nicht ungewöhnlich. Sein bekanntestes Werk, Die Lehre der Zession, ist eine Ausarbeitung seines Programms von 1813, wofür wieder die rezente Mecklenburg-Schwerinsche Jurisprudenz bezüglich der Zession Anlass war. Sein Ansatz war gegen die gemeinrechtliche Meinung gerichtet, die Zession schaffe ein eigenständiges Recht für den Zessionar, wenn nicht der Zedent Einschränkungen bei der Abtretung wie man sie nennt — verpflichtet man sich eigentlich einer unbestimmten Person und dies war im rechtlichen Verstande etwas ganz ungedenkbares“. Wenn ein Partikularrecht es zulässt, bedeutet das, dass der eigentliche Zessionsgrund wegfällt und somit die Zessionseinschränkungen. Der Schuldner kann dem Kläger nur Einreden aus dessen Person entgegenhalten. Siehe aber für die Existenz solcher chirographischen Schuldanerkennungen im klassisch-römischen Recht: Boudewijn Sirks, Chirographs – negotiable instruments?, in: ZSS rom. Abt 133 (2016), S.  265–285. 69  Wie der Quellenindex der dritten Auflage der „Lehre“ zeigt. 70 Siehe Haferkamp (wie Fn.  2 2) Puchta, Kapitel 4. 71  Puchta (wie Fn.  2 2), §  230–231.

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vorgenommen habe. Er befürwortete die Meinung, dass unter allen Umständen und immer das Recht des Zessionars vom Recht des Zedenten abhängig war und dass der Zedent immer, bis auf die litis contestatio, sein eigenes Recht ausüben konnte. Mühlenbruch hatte damit großen Erfolg. Wer die Mecklenburg-Schwe­ rinschen Verordnungen liest, wird überall konfrontiert mit inzidentellen Änderungen, wodurch die Sicht auf das Ganze verloren geht, und bei der Zession war das nicht besser. Insoweit brachte Mühlenbruchs Arbeit einen besseren Überblick und mehr Klarheit. Dabei ging er vom klassisch-römischen Recht aus und baute ein System der Zession daraus, das er als maßgeblich darstellte. Wie Luig es bündig formuliert: „Mühlenbruchs Werk ist bezeichnend für die axiomatische Tendenz der beginnenden Pandektenwissenschaft“.72 Seine Ausarbeitung passt gut zur späteren Pandektistik mit ihrer Begriffsjurisprudenz, insoweit und in dieser Hinsicht könnte man die Arbeit als Vorläufer der Pandektistik sehen.73 Mühlenbruch selbst hat Die Lehre der Zession später noch vervollständigt; die dritte Edition von 1836 passte dann genau in diese Zeit und ließ auch ihn als zeittypischen Pandektisten erscheinen.

72 

Luig (wie Fn.  1) Zessionslehre, S.  58. das Übrige (und Wichtigste) gilt immer noch die Biographie Mühlenbruchs von Klaus Luig in der Neuen Deutschen Biographie (wie Fn.  1). 73  Für

Pandektistische Leistungsstörungen? Joachim Rückert1 I.  Klaus Luig Auf diesem Symposium zum 80. Geburtstag von Klaus Luig müssen Sie mir und ich mir erlauben, mit einigen sehr persönlichen Worten zu beginnen. Mein erstes Wort gilt also Dir, lieber Klaus Luig, nicht der Pandektistik. Da rundet sich so viel … schon seit den ersten, Tübinger, Begegnungen, 1974, beim legendären Wieacker-Wesel Rechtshistorikertag. Dann vor allem in Erinnerung an die Passauer Einladung im Juli 1981, in das so frisch-schöne Nikolakloster, mit aller Verwöhnung dazu. Inzwischen kann ich so recht ermessen, wie großzügig und freundschaftlich diese Einladung war. Damals war ich gewissermaßen naiv geprägt von Sten Gagnérs Münchener Wissenschaftsrepublik im „Mansardenseminar“ (mit Michael Kunze 2) und nahm das als ganz normal. Heute bin ich um einiges erfahrener in den ziemlich anderen Normalitäten der nicht seltenen Wissenschaftsmonarchien. Der kleine Dr. jur., der noch nicht einmal Habilitierte, durfte ganz einfach kollegial vortragend auftreten. Auch damals war es ein Vortrag über Savigny, zu seiner Risikolehre im Dienstvertragsrecht, aus ungedruckten Quellen. Das Manuskript blieb sehr unerwartet lange liegen, fast bis heute, bis die Ergebnisse in den Historisch-kritischen Kommentar zum Dienstvertrag einfließen konnten; und blieb es weiter mit einigen Überlegungen zum allgemeinen Leistungsstörungsrecht.3 Lieber Klaus, Du hast mich also begleitet von den ersten Schritten in der Zunft, als aufmerksame Person und als souveräner Sachkenner, immer wohlwollend, immer kundig, immer klar und kritisch mitdenkend, in vielfachem, freundschaftlichen Austausch – eine unschätzbare Wohltat, und das vom ‚Olymp‘ des MPI. Heute ist der Anlass gekommen, Dir dafür einmal in aller Form ganz besonders herzlich zu danken!

1  Mein Beitrag zum Symposium wurde natürlich sehr viel kürzer vorgetragen, hier musste nun aber auch das durchaus etwas sperrige Detail der Beweisführung versammelt werden. 2 Siehe seinen Beitrag: Das Mansardenseminar, in: Festschrift für Sten Gagnér zum 3. März 1996, Ebelsbach 1996, S.  379–385. 3  Z. B. war eine unten noch hilfreiche synoptische Systemvergleichstabelle vom Dresdener Entwurf 1866 über die ersten Vorlagen der Redaktoren bis zum BGB 1896 bereits entstanden.

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II.  Die Fragestellung heute „Pandektistische Leistungsstörungen?“ sind nun heute mein Thema, auch als eine Antwort auf die Symposiums-Frage „Wie pandektistisch war die Pandektistik?“ „Pandektistische Leistungsstörungen“ heißt jetzt zweierlei: Zum einen stellt das die Frage, wie die Pandektenwissenschaftler juristisch-dogmatisch mit den Problemen der Leistungsstörungen umgingen; zum anderen, was „Pandektistik“ eigentlich meint.

1. Leistungsstörungen Wie viel größer ist also nun die Fragestellung: nicht nur Savigny, sondern gleich die ganze Pandektistik; nicht nur die Risikotragung im Dienstvertrag, sondern gleich die Leistungsstörungen überhaupt. Gewissermaßen sagte ich mir „Jetzt oder Nie“, denn zwar hat mich diese Frage schon lange bewegt – aber Ausführungen zu Savigny hatte ich bisher stets ausgespart.4 Das liegt an drei Schwierigkeiten: zum einen an der Schwierigkeit, auf diese sehr allgemeine Fragestellung hinreichend konkrete Antworten zu finden, zum anderen an der nicht so leichten Quellenlage – bekanntlich bricht Savignys Obligationenrecht gerade vor den Leistungsstörungen ab ‑ und nicht zuletzt an der Fülle recht entschiedener Literatur, die die entscheidenden Beiträge jedenfalls nicht bei Savigny sieht, sondern erst viel später bei Friedrich Mommsen. Die schwierige Allgemeinheit der Fragestellung liegt schon in dem Wort „Leistungsstörungen“. Ich nehme es heute nicht scharf modern-technisch-dogmatisch und lasse auch seine später wichtige Verwendungsgeschichte seit Heinrich Stoll 19365 beiseite. Es dient mir nur als Umschreibung für die verschiedenen Regelungsprobleme, die Leistungsstörungen, weit genommen, aufwerfen. Traditionell geht es hauptsächlich um folgende drei Fallgruppen, die ich der leichteren Verständlichkeit halber mit heutigen dogmatischen Stichworten benenne: nicht schon die sog. anfängliche Unmöglichkeit, die das Leistungsversprechen schon voraussetzt, aber 1. um die nachträgliche Unmöglichkeit, sei sie verschuldet oder zufällig, personal oder sachlich bedingt; 2. um Schäden und Ersatz infolge von Nichterfüllung oder Schlechterfüllung, und 3. um Schäden und Ersatz wegen Verzögerungen der Leistung. Unmöglichkeit, Nichterfül4 Siehe meine beiden ersten Beiträge: Unmöglichkeit und Annahmeverzug im Dienst- und Arbeitsvertrag, in: Zs. für Arbeitsrecht 14 (1983) S.  1–29 (mit Rückgriff ins 19. Jh.), und: Vom casus zur Unmöglichkeit und von der Sphäre zum Synallagma. Weichenstellungen bei der Risikoverteilung im gegenseitigen Vertrag, entwickelt am Beispiel des Dienstvertrages, in: Zs. für Neuere Rechtsgeschichte 6 (1984) S.  40–73 (seit der Glosse); sowie 2004, s. unten in Fn.  10. 5 Dazu jetzt vor allem Martin Schermaier, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, hg. von Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert und Reinhard Zimmermann, Bd. 2, Tübingen 2007, vor §  275 Rn.  3.

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lung, Schlechterfüllung und Verzug sind ungemein abstrakte Fallgruppen-Umschreibungen von zugleich zentraler ökonomischer Bedeutung. Im erwähnten Historisch-kritischen Kommentar wurde zuletzt „jedes planwidrige Ereignis zwischen Entstehung und Beendigung“ zu den Leistungsstörungen gezogen. 6 Ohne weiteres steht eine Rechtswissenschaft also vor einer ungeheuren Aufgabe, wenn sie dazu eine klärende Dogmatik entwickeln will. Das bestätigt jeder Blick in die Lehrbücher und Kommentare, die diesem Problembereich jeweils stattlich viele Seiten widmen. Zuletzt schrieb Schermaier dazu fast 200 Seiten.7 Selbst wenn man Dogmatik nur als die Aufgabe bestimmt, für ein bestimmtes positives Recht zu einer bestimmten Zeit systematisch stimmige Regeln und Lehrsätze zu bilden,8 liegt die Schwierigkeit auf der Hand. Die zweite Schwierigkeit, die nicht so leichte Quellenlage, wird noch genauer zur Sprache kommen. Und ebenso die dritte Schwierigkeit, das Friedrich Mommsen-Vorverständnis, das schon Rabel wie selbstverständlich teilte.9 Das Stichwort „Pandektistische Leistungsstörungen?“ hat außerdem einen durchaus bewussten kritischen zweiten Sinn. Hatte die Pandektistik vielleicht selbst eine ‚Leistungsstörung‘ bei ihren Leistungsstörungen? ‑ so sieht es jedenfalls heute die ganz herrschende Literaturmeinung, von Ernst Rabel schon gleich nach 190010 bis in die Gegenwart zu Reinhard Zimmermann und in die deutsche Schuldrechtsreform von 2002. Das Recht der Leistungsstörungen gilt als besonders verunglückt11. Und schuld daran konnte nur die „Pandektistik“ sein, die es im 19. Jahrhundert in dieser bis dahin unerreichten Allgemeinheit und Abstraktheit entwickelt hatte und dafür weltweit bewundert worden war. 6 

Schermaier, Ebd. §  275 Rn.  9. Ebda S.  851–1027 zu vor §  275 und §  275, gar nicht eingerechnet einige Passagen zu §  280 und §  326. 8  Eindringend soeben, nach dem Kölner Symposium, Bernd Rüthers, Rechtsdogmatik als Schranke des Richterrechts?, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, n. F. 64 (2016) S.  309–343, mit Nachweisen. 9  Siehe nur Rabel 1907 (Fn.  10) S.  18; ebenso zuletzt Schermaier (Fn.  5) Rn.  46; s. auch §  275 Rn.  25 mit 32, wo er als Neuerung für Savigny (nur) die Modifikationslehre betont. 10  So als wohl erster in wiederholt massiver Kritik Ernst Rabel, siehe ders., Gesammelte Aufsätze, hg. von Hans G. Leser, Tübingen 1965, bes. 1907 in Nr.  1: Die Unmöglichkeit der Leistung. Eine kritische Studie zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 1911 in Nr.  2 : Die Unmöglichkeit der Leistung und heutige Praxis, und 1921 in Nr.  19: Zum 25. Geburtstag des Bürgerlichen Gesetzbuches (sc. von 1896) – alles übrigens fast ohne Verwendung der Entstehungsgeschichte und der Dogmatik vor Windscheid und Mommsen; eine kritische Diskussion seiner Argumente in J. Rückert, Leistungsstörungen und Juristenideologien heute und gestern – ein problemgeschichtlicher Beitrag zum Privatrecht in Europa, in: Festschrift für W. Kilian zum 65. Geburtstag, hg. von J. Taeger und A. Wiebe, Baden-Baden 2004, S.  705–744, hier S.  724 ff. 11  Reinhard Zimmermann, The Law of Obligations, Kapstadt 1990, S.   783 zum BGB: „fragmented and unneccessarily intricate (…) pandectist“; zu weiteren Stimmen Rückert, Leistungsstörungen (Fn.  10); zur Schuldrechtsreform demnächst meine Studie: Zehn Jahre neues Schuldrecht – Bericht, Bestandsaufnahme und Würdigung, in: Berliner Republik, hg. von Thomas Duve und Stefan Ruppert, Berlin 2017. 7 

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2.  „Pandektistik“ und Pandektenwissenschaft Was meint man mit „Pandektistik“? Das wäre nach Zeit und Personen, Orten und Produkten, Stil und Methode, Philosophie und Politik zu bestimmen, sozusagen von Thibauts Anfang in seinem „System des Pandekten-Rechts“ seit 1803 bis zum Ausklang in der Generation nach Brinz (geb. 1820) und Windscheid (geb. 1817) mit Brinz/Lotmar (geb. 1850) „Lehrbuch der Pandekten“, 2.  Aufl. 1873–1892 sowie Windscheid/Kipp (geb. 1862) „Lehrbuch des Pandektenrechts“ 9.  Aufl. 1906. Ich lasse das jedoch im Ungefähren der Vorverständnisse. Nur ein Aspekt der Verwendungsgeschichte des Wortes erscheint mir wichtig, zumal dieser bisher offenbar nicht bedacht wurde. Das Wort erscheint spät und es wird bis heute meist polemisch gebraucht. Während die Bezeichnung „Pandectist“ als bloße Fachberufsbezeichnung wesentlich älter und ganz neutral schon bei Gustav Hugo 180812 und Theodor K. Hartleben 180013 verwendet wird, ist das Wort „Pandektistik“ viel jünger. Es erscheint zuerst 1912, so jedenfalls nach Ausweis der recht guten Wortsuche in Büchern und Zeitschriften dank google.books.14 1912 spricht in der Deutschen Juristen-Zeitung Ernst Rabel eher neutral von einem „fruchtbar(en) … eigentümlich österreichischen Gemisch von Pandektistik und Gesetzeshandhabung“, zugleich polemisiert aber der wortgewaltige Freirechtler Ernst Fuchs schon seit 1907 gegen „Pandektologie“ und 1909 gar gegen „Pandektitis“, ein Krankheitsbild.15 1913 wird in einem 12  Siehe seine Rez. zu C. F. Mühlenbruch, Lehrbuch der Encyklopädie (…), 1807, in Gött. gelehrte Anzeigen 1808, Stück 17, S.  165 ff., erneut in Hugo, Beiträge zur civilistischen Bücherkenntnis der letzten 40 Jahre (…), Bd. 2, 1808–1827, Berlin 1829 S.  3 –11, hier S.  11 „unser Pandectist Becmann“ (in Göttingen). 13  Methodologie des deutschen Staatsrechtes, Salzburg 1800, Vorrede. 14  Insbesondere ist der umfängliche, auch ältere Bestand der Münchener Staatsbibliothek im Wesentlichen digitalisiert verfügbar. Zugriff 9.9.2015. Für „Pandektistik“ gibt es 7 Nachweise für 1907 bis 1920, 3 davon sind neutral. Der für 1907 und 1912 ist allerdings falsch; wie inzwischen längere Recherche an den Originalen ergab, stammt der von 1907 von 1983. Da hieß es zum Staatsrecht durch W. Henke: „Erst jetzt bildete es Rechte und Ansprüche, normative Grundsätze und Institute aus wie die Pandektistik, und wurde darüber wie diese und wie die anderen ehemaligen Staatswissenschaften, die sich ebenfalls verselbstständigten, ‚positivistisch‘, nämlich autonom in Begriffsbildung und Methode, vor allem gegenüber der Politik, aber auch gegenüber der Philosophie und dem ‚Vernunftrecht‘“. „Positivistisch“ bedeutete hier kein Lob. Die Stelle bleibt typisch für die kritische Langzeitverwendung. Für 1912 die folgende Fn. 15  Das erste Zitat nach Google in „Deutsche Juristen-Zeitung Bd. 17, 1912, S.  2444“, aber richtig ist dort Sp.  1138, Rez. von E. Rabel zur Festschrift zur Jahrhundertfeier des ABGB. Für E. Fuchs mehrere Titel in (Holdheims) Monatschrift für Handelsrecht und Bankwesen, zuerst Jg. 1907, S.  305 ff: Protokolljustiz, Pandektologie und Rechtswissenschaft:; dann ebda 1908, S.  189 ff.: Das Reichsgericht und die Pandektologie; S.  265 ff.: Vom pandektologischen Kriegsschauplatz; erneut 1910, S.  229 ff.: Soziologie und Pandektologie in der neuesten Judikatur des Reichsgerichts; „Pandektitis“ 1909 in: Die Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz, Karlsruhe 1909, S.  59, 91, und auch später öfter.

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Sammelband über „Die Geisteswissenschaften“16 kritisch vermerkt, eine „harmonisierende Pandektistik“ habe „die dauernden mit den zeitlich bedingten Werten“ verwechselt und „den wirklichen Aufbau der antiken Rechtsordnungen verkannt“, auch „zum Schaden der Gesetzgebung“. 1915 wird über die „charakteristische Unklarheit“ geklagt, „in der die Pandektistik über ihre historischen Grundlagen befangen war“.17 Dass das Wort in diesem Zeitraum und besonders kritisch bei Fuchs erscheint, ist kein Zufall. Mit der Prägung „Pandektistik“ fehlte nun die „Wissenschaft“ bei der Pandektenwissenschaft, das neue Wort bestritt ihr die „Wissenschaft“ und die Wertungsgrundlagen. Gerade damals, um 1912, war die sehr polemische Abrechnung mit den 19. Jahrhundert unter den Kampfbegriffen Begriffsjurisprudenz, Positivismus, Formalismus, Freies Recht/Freirecht, Interessenjurisprudenz und Sozialjurisprudenz in voller Fahrt.18 Mit den Worten der weit verbreiteten Programmschrift von 1906 stand man in einem „Befreiungskampf der Rechtswissenschaft“19 für eine bessere Zukunft: „Denn nachdem das 19. Jahrhundert vorüber ist, dieses Zeitalter der Halbheit und des Kompromisses, gehen wir einem 20. entgegen, das, wenn nicht alle Zeichen trügen, in Kunst und Wissenschaft und Religion ein Jahrhundert des Gefühls und des Willens sein wird. Aus den Trümmern der Folter erhob sich, zum Entsetzen aller Mutlosen, triumphierend die Freie Beweiswürdigung, der Stolz der Gegenwart; aus den Trümmern der Dogmatik wird, zum Entsetzen aller Unklaren, der Stolz der Zukunft steigen, die Freie Rechtsschöpfung.“20

Aber was war und ist bei dem überwiegend kritischen Gebrauch des Wortes „Pandektistik“21, der wenigstens bis in die 1990er Jahre verbreitet ist, konkret gemeint? Das lässt sich auf etwa folgende Kritikpunkte bringen: Diese Rechtswissenschaft und -praxis sei (1) zu abstrakt und prinzipiell und daher für die Rechtsbetroffenen unverständlich; (2) zu formal, ja formalistisch, und d. h. auch, zu inhaltslos undifferenziert und gleichmacherisch; (3) zu systematisch und begrifflich streng, begriffsjuristisch, und d. h. auch, mit zu wenig Spielraum am 16 

Nach Google in Bd. 1, S.  17 des Sammelbandes. Nach Google in Rheinische Zeitschrift für Zivil- und Prozessrecht des In- und Auslandes, Bd. 8, 1915, S.  4. 18  Siehe dazu jetzt meinen Beitrag: Die Schlachtrufe im Methodenkampf – ein historischer Überblick, in: Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner, hg. von Joachim Rückert und Ralf Seinecke, 2.  Aufl. Baden-Baden 2012, S.  501–550. 19  So im Vorwort S.  6 , in Gnaeus Flavius, Der Kampf um die Rechtswissenschaft, Heidelberg 1906. Verfasser war bekanntlich der junge Freirechtler Hermann Ulrich Kantorowicz, näher jetzt Rückert (Fn.  18), S.  515 ff. 20  Ebd. letzter Absatz, S.  49, Hervorhebungen im Original. 21  Ein Niederschlag findet sich etwa in Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 18, 1976, unter Pandektistik: „Bezeichnung für die (…) Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, stark beeinflusst von naturwissenschaftl. Anschauungen, ließ in abstrahierendem, formal begriffl. Denken (…) ohne rechtsphilosophische Begründung das Recht als etwas rein Normatives, nur Begriffliches gelten“. 17 

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Fall; (4) zu positivistisch nur das geltende Recht beachtend, und d. h. auch, zu wenig offen für die Wertungen in Politik und Moral; (5) zu lebensfern, ja lebensfremd, und d. h. vor allem, zu wenig offen für aktuelle gesellschaftliche Wertungen; (6) zu unsozial und sozialethisch blind, und d. h. auch, bloß bürgerliches, klassenjuristisches Werkzeug; (7) zu unphilosophisch und (8) zu unpolitisch überhaupt, was natürlich nur eine bestimmte Philosophie und Politik meinte. Ich belasse es bei diesen Stichworten und rekapituliere dieses seit langem viel besprochene Thema nicht im Einzelnen. Das Interessante daran ist nämlich, dass in jedem dieser Kritikpunkte zugleich ein Lob steckt. Denn Abstraktion und Prinzipienorientierung sichern im Recht eine gewisse unparteiische Allgemeinheit und Konsequenz bei weitreichender Falldeckung, aber ohne ausufernde Kasuistik. Dem dient auch eine eher formale, systematische und begrifflich strenge Ausbildung der Rechtsnormen. Zugleich fördert Letzteres die Klarheit der zuletzt ja gesellschaftlich zwingenden juristischen Wertung im Verhältnis zu so vielen Moralen, Politiken und Lebensinteressen. Mit dieser Art von Rechtsnormen wird wiederum die rechtspositivistische und rechtsstaatliche Gesetzesbindung klarer und leichter. „Sozialethisch“22 blind waren diese Normen gerade nicht, sie förderten vielmehr möglichst gleiche Freiheit. Schon gleiche rechtliche Freiheit als solche war der erste positiv „soziale Schritt“ – die moderne Kritik beachtet das oft nicht mehr. Die gleiche Freiheit brachte überhaupt erst die allgemeine und gleiche Rechts- und Geschäftsfähigkeit als neuen Status, Chance und Risiko. Da die Voraussetzungen für solche Freiheitsentfaltung sehr ungleich waren, sich vielfach als fehlend oder schwierig erwiesen, wurde gleichzeitig und längst vor 1914 in liberal-sozialer Arbeitsteilung keineswegs wenig soziales Spezialrecht geschaffen 23 – je nach Maßstab ‚zu wenig‘. Geschaffen wurde es, um zugleich gleich freies Privatrecht und emanzipatorisches Spezialrecht einsetzen zu können. Maßstab war und ist zunächst eine möglichst allgemeine, d. h. gleiche Frei22  Eine stehende kritische Kategorie bei Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (…), 2.  Aufl. Göttingen 1967, siehe bes. S.  4 42, 539 f.: „Da die sozialstaatliche (1. A. 260: sozialethische) Empfindung der Gegenwart den sozialen und wirtschaftlichen Liberalismus des 19. Jahrhunderts verwirft, so liegt der (…) Vorwurf nahe, die Pandektenwissenschaft habe sich mit Vertrags-und Eigentumsfreiheit zum Werkzeug der bürgerlichen Klassengesellschaft gemacht (…) zutreffend, daß sie den Missbrauch des abstrakten Privatrechts nicht verhindert hat“ (S.  4 42). Diese nicht ganz milde Wertung von heute her ist zutiefst unhistorisch, siehe meine Studie zum BGB, sogleich in Fn.  23. 23  Banal, aber erwähnenswert: Dessen Bewertung darf nicht einfach von heutigen Maßstäben und Möglichkeiten ausgehen. Genauere Würdigungen am kritischen Beispiel Dienstvertrag und Arbeitsrecht jetzt in Joachim Rückert, Dienstvertrag mit Arbeitsvertrag, in: Historisch-kritischer kritischer Kommentar zum BGB, hg. von Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert und Reinhard Zimmermann, Bd. III, Tübingen 2013, bes. zu vor §  611 Rn.  57 ff.: Der soziale Gehalt im Vergleich, und Rn.  85 ff.: Rechtliche und soziale Verbesserungen, sowie zu §  611 Rn.  18, 70, 87, 259 f., 359 ff.; näher zu den massiven Verzerrungen bei der BGB-Würdigung generell ders., Das Bürgerliche Gesetzbuch – ein Gesetzbuch ohne Chance?, in: Juristen-Zeitung 58 (2003) S.  749–760; auch HKK I, 2003, Vor §  1.

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heit, und ergänzend spezielle, soziale Entfaltungshilfen, dogmatisch im Rahmen von Rechtsgewissheit, Rechtsstaat und Gesetzesbindung, sachlich als Sozialstaat. Die Kritik an dieser Pandektenwissenschaft führte und führt keinen empirischen Streit, sondern normative Wertungskämpfe. Derartiges kann nicht in souveräner Nach- und Besserwertung, sondern nur wissenschaftsgeschichtlich anhand expliziter Maßstäbe aufgeklärt werden. Mit „Pandektistik“ wird eine ganze Kette von stark wertenden Zuschreibungen aufgerufen. Es handelt sich nicht um einen schlicht wissenschaftsgeschichtlichen Ordnungsbegriff, wie es seine Verwendung oft erscheinen lässt. Ein solcher Ordnungsbegriff ist vielmehr „Pandektenwissenschaft“. Man sollte also am besten nicht mehr von Pandektistik sprechen, sondern von Pandektenwissenschaft, und zugleich die Wertungsfragen eigens bearbeiten. Nur so lässt sich die nicht selten fatale Vermischung von Geschichten und Wertungen, die hier herrscht, aufklären und beides klarer durchführen.

3.  Pandektistik und Leistungsstörungen Ich werde daher einen anderen, einen ganz konkreten Weg einschlagen. Am Problem Leistungsstörungen möchte ich nachvollziehen, was da und wie an Abstraktion und Systembildung geschah und in welche Richtung die Problemlösungen inhaltlich gingen. Der Weg dazu muss durch die „Systeme“ führen, ein freilich zunächst etwas trockenes Geschäft. Es führt wieder einmal auch zu Savigny und bietet eine echte Chance auf Erkenntnisgewinn in einem bisher allzu dunklen Bereich. Denn wir erfreuen uns inzwischen einer sehr verbesserten Quellenlage. Vieles was seinerzeit ungedruckt war, ist nun dank Hammen, Wollschläger und Avenarius 24 viel leichter und klarer zugänglich. Und Savigny steht nun einmal im berechtigten Verdacht, auch zu diesen Problemen Wesentliches beigetragen zu haben. Er hat auch gerade dem Schuldrecht immer zwischen 30 % und gut 40 % seiner Pandektenvorlesung gewidmet und gerade dem allgemeinen Schuldrecht davon wieder meist die gute Hälfte.25 Es wird sich bemerkenswert deutlich zeigen, wie in steter Energie an der Sache aus sehr verstreuten Elementen eine immer konzentriertere, prinzipielle Dogmatik entwi24 Siehe Horst Hammen (Hg.), Friedrich Carl von Savigny: Pandekten Vorlesung 1824/25, Frankfurt am Main 1993; Christian Wollschläger (Hg.), Friedrich Carl von Savigny: Landrechts Vorlesung 1824. Drei Nachschriften. Hg. und eingeleitet von dems. in Zusammenarbeit mit Masasuke Ishibe, Ryuichi Noda und Dieter Strauch, Frankfurt am Main 1994 und 1998, und Martin Avenarius (Hg.), Friedrich Carl von Savigny: Pandekten. Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, nach Savignys Vorlesungsmanuskript hrsg., Frankfurt am Main 2008, das sind die Bände 8, 1 und 3 in der Reihe „Savignyana“, hg. von J. Rückert. 25  Errechnet aus seinen Stundenangaben für 1811–1841/42 in seiner Statistik beim Ms. der Vorlesung, im Marburger Nachlass zu Beginn der Mappe M 8, alte Signatur, jetzt Ms 925/37.

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ckelt wurde, die ins BGB mündete und heute weitgehend selbstverständlich ist, selbst noch als Rahmen unserer neuesten Reformdiskussionen bis 2001.

III.  Leistungsstörungen und Pandektenwissenschaft Um die Arbeit der Pandektenwissenschaft am Regelungsproblem Leistungsstörungen zu beobachten, ist es nützlich, eine mehr formelle und eine mehr materiale Seite zu unterscheiden. ‚Formell‘ ist zu klären, welche Orte im System den Leistungsstörungsproblemen zugewiesen wurden, ‚material‘ geht es um den normativen Inhalt, die Richtung, in der durch die entstehende Dogmatik geregelt wurde.

1.  Die mehr formelle Seite der dogmatischen Arbeit am Problem Was wurde für die mehr formelle Seite dieser Dogmatik, die Begriffe, die Kategorien und das System, geleistet? In dieser so sehr allgemeinen Frage hilft ein konkreter Blick zurück. Große Leistungen dazu gab es nämlich schon lange, zum Beispiel diese ziemlich bekannte, die hier den Blick für alles Spätere schärfen kann und soll: „Man vermietet entweder seine Sache [I.] oder seine Dienste [II.]. [I.] Wenn einer seine Sache vermietet und – mag das nun am Vermieter liegen oder an einem Zufall, der sich in seiner Sphäre [ex ipsius parte, von seiner Seite] ereignet – der Mieter die Sache nicht benutzen kann, dann haftet der Vermieter auf Grund der actio locati. [1.] Aber im ersten Fall haftet er auf das Interesse, das auch den Gewinn umfasst, oder auf eine Strafe, die für den Fall des Vertragsbruchs vereinbart wurde, vorausgesetzt, dass der Mieter den Mietzinszahlungen nachgekommen ist oder ordnungsgemäß Sicherheit geleistet hat und mit der gemieteten Sache nicht schlecht umgegangen ist. [2.] Im zweiten Fall, d. h. bei Zufall in der Sphäre [d. h. von der Seite] des Vermieters, geht dessen Verpflichtung dahin, daß der Mietzins für die entsprechende Zeit erlassen oder zurückgegeben wird, man denke etwa daran, daß das gemietete Haus ausgebrannt ist oder der am Berghang liegende Acker infolge eines Erdbebens abgerutscht ist. Dasselbe gilt, wenn der Vermieter die Sache zerstören muß, z. B. wenn er ein vermietetes Haus neu bauen will, oder wenn er beweist, dass er sie für eigene Zwecke benötigt, oder wenn der Mieter infolge unüberwindlicher berechtigter Furcht auszieht oder von jemandem an der Nutzung der Sache gehindert wird, den wegen seiner überlegenen Gewalt oder Stellung der Vermieter daran nicht hindern kann. [II.] Wenn aber jemand seine Dienste vermietet und [1a] es nicht an ihm liegt, dass er sie nicht leisten kann, sondern er durch den Mieter, wenn auch nur zufällig, daran gehindert wird, dann erhält er trotzdem den Lohn für die ganze Arbeit. Dies gilt beispielsweise, wenn Arbeitskräfte für einen Transport gemietet worden sind, und auch z. B. für den Erben eines verstorbenen Anwalts, von dem das Honorar nicht zurückverlangt werden kann, denn es liegt nicht an ihm, daß er den Fall nicht vertritt. [1b] Wenn es aber an dem,

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der seine Dienste vermietet hat, liegt, daß er sie nicht leistet, oder an einem Zufall, dann haftet er im ersten Fall auf das Interesse. [2.] Im Zweiten [bei Zufall] ist er verpflichtet, den Lohn zu erlassen oder für die Zeit, für die vergeblich gezahlt wurde, zu erstatten, da er ja beispielsweise den Transport nicht durchgeführt hat.“26

Es handelt sich um die zu Recht berühmte Distinctio „Locat quis quandoque“ (mit den Anfangsworten) des Bologneser Juristen-Urvaters Irnerius.27 Die Distinctio leistet die dogmatische Reduktion eines gewaltigen Fallmaterials auf wenige entscheidende Begriffe und Regeln. Auf der Basis genauer Fallanalyse und Fallgruppenvergleiche werden relevante Unterscheidungen gebildet, Tatbestandsformeln gefunden, Begriffe und Begründungsformeln formuliert, kurz: Terminologie und System gebildet. Die Analyse- und Abstraktionsleistung ist enorm. Die Störungsprobleme sind damit klar geordnet. Sie sind zugleich ebenso klar auf eine einzige Entscheidungsformel gebracht: per eum stetit oder non stetit, ob es an ihm liegt oder nicht liegt ‑ grob gesagt auf Verschulden oder Zufall. Auf der Verschuldensebene wird nur noch nach den Personen und beim Zufall nur nach den personalen Herkunftssphären unterschieden. Es kommt jetzt nicht darauf an, ob das nur Verschulden im heutigen Sinne umfasste oder etwas mehr, wie etwa eine Sphärenverantwortung, und was bei sog. neutralen Störungen gälte, wenn man solche als eigenständig annimmt. Die fachjuristische Qualität dieser dogmatischen Leistung steht jedenfalls ebenso außer Frage wie ihr gesellschaftlicher Wert – was hätte Irnerius eigentlich besser machen können? Für den von ihm analysierten Fallbereich wird man kaum Defizite finden. Das Meiste gilt bis heute. Irnerius bietet allerdings kein allgemeines Leistungsstörungsrecht für alle Verträge oder gar alle Leistungsversprechen. Dazu müssten die Falldeckung und die Problembereiche und damit die Regeln viel weiter reichen, also allgemeiner und abstrakter sein. Auch die Begriffe und Begründungen müssten entsprechend erweitert sein. D. h. es müsste noch ‚viel mehr‘ dogmatisch erfasst sein. Und dies müsste genauso begrifflich klar und präzise und sachlich begründet geschehen. Noch viel universaler, eben in der Form eines allgemeinen Leistungsstörungsrechts, wie wir es durch das BGB kennen, wäre vorzugehen. Es geht auf dieser Bahn um etwas wie systematische Tiefe oder Breite, um sehr 26  Die Stelle findet sich ediert bei Savigny, Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter, Bd. 4, 2.  Aufl. 1850, S.  469 ff., und wohl zuletzt bei Gerhard Otte, Die Rechtswissenschaft, in: Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert, hrsg. von Peter Weimar, Zürich und München, 1981, S.  123–142, hier S.  126–128 zu Irnerius. Ich gebe den Text übersetzt und um die Quellenbelege gekürzt wieder. Die maßgebende Sachproblemgliederung ist hier zur besseren Orientierung kursiv und in hinzugefügten Nummern hervorgehoben. 27  Siehe dazu vor allem Otte, wie Fn.  26; jetzt auch mein Versuch in: Denktraditionen, Schulbildungen und Arbeitsweisen in der „Rechtswissenschaft“ – gestern und heute, in: Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, hrsg. von Eric Hilgendorf und Helmuth Schulze-Fielitz, Tübingen 2015, S.  13–51, hier S.  31–33.

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allgemeine, aber doch trennscharfe Tatbestandsbildungen und -begriffe, sowie Rechtsfolgenbegriffe mit klarem Rechtsfolgenbezug im Wenn-dann-Schema, auch um die volle Einheit dieser Regeln als widerspruchsfreies und wertungsstimmiges System, kurz: um System im bewusst anspruchsvollen „wissenschaftlichen“ Sinn seit Kant, als ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes, hier des Rechts.28 Für die Leistungsstörungen könnte man nun kurz und bündig sagen: Genau das hat die Pandektenwissenschaft geleistet und zwar mit der Formung von zwei Lösungsebenen, zunächst objektiv mit Nichterfüllung (Unmöglichkeit, Schlechterfüllung und Verzug) und dann subjektiv mit Verschulden und Zufall, besser Vertreten-müssen und Nicht-Vertreten-müssen. Das alles ist uns heutigen Juristen wohlvertraut. Doch für den heutigen Zweck bleibt es zu pauschal. Man versteht die geschichtliche Leistung der Pandektenwissenschaft auf diese Weise nicht recht, vor allem nicht die so intensive Systembildung dabei. Ich will diese Systembildung daher genauer nachvollziehen und zu einer gewissen Anschaulichkeit bringen. Das erfordert eine etwas detailliertere Untersuchung. Dogmatische Aufgabe war also die Zusammenführung der verschiedenen Leistungsstörungsprobleme und Lösungen zu wenigen oder gar nur einer dogmatischen Kategorie, und zwar in doppelter Weise: als Begriff und Ortsbestimmung im System (formell) und als normatives Prinzip für die inhaltlichen Entscheidungen in den Regeln (material). Es ging nicht nur um etwas wie den Begriff „Nichterfüllung“ oder „Unmöglichkeit“, sondern um Leistungsstörungen generell und deren Zurechnung. Es ging nie nur um die „Unmöglichkeiten“. Eine so allgemeine Theorie gab es bis dahin nicht.29 Wie geschah diese Zusammenführung der Problemlösungen zu einer allgemeinen dogmatischen Theorie? Sie geschah nicht erst in der reifen Pandektenwissenschaft nach 1850. Man muss vielmehr zu den ersten Schritten auf diesem Weg zurückgehen. Sie wurden deutlich früher von Heise und Savigny getan.

2.  Die Anfänge bei Heise und Savigny Gleich in ihren Anfängen steuerten Heise und Savigny die Aufgabe zielstrebig an. Heise entwarf 1807 seinen folgenreichen „Grundriss eines Systems des Gemeinen Civilrechts zum Behuf von Pandecten-Vorlesungen“, Savigny unternahm 1808/09 und 1810 den nicht minder folgenreichen ersten Durchgang sei-

28 

Dazu näher zuletzt Rückert, Denktraditionen (Fn.  27), S.  41–43. Siehe nur Schermaier (Fn.  5), vor §  275 Rn.  43–46, mit Fn.  290, der dies auch in der von ihm sog. Frühpandektistik von Mackeldey 1822, Wening 1831, Vangerow 1847 und Mühlenbruch 1836 nicht findet; s. für die frühere Lage näher H. Dilcher, unten bei und in Fn.  49. 29 

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ner Pandektenvorlesung. „In diesem Winter“, schrieb er im April 1810, habe er gearbeitet wie in vielen Jahren nicht, meist tief in die Nacht“.30 Den Grundriss Heises hatte Savigny im Januar 1808 sehr positiv begrüßt: „Es (sc. das „Büchlein“31) scheint mir sehr zweckmäßig und gefällt mir überaus wohl (…). In der That muss es ungleich angenehmer seyn, über solche Tabellen zu lesen als über ein Handbuch wie das Thibauts, ja ich begreife kaum, wie sich ein Dozent zu einem solchen verhalten kann.“32 Und im April 1810 schrieb er, gerade noch aus Landshut: „Ich habe für die Pandekten ein ganzes Jahr hindurch (doch nur in 300 Stunden) nach ihrem Entwurf gelesen, dessen Vortrefflichkeit ich bei dieser Gelegenheit erst erprobt habe. Wie gern möchte ich mich auch darüber einmal mit Ihnen besprechen können!“33 Und 1812 lobt er noch einmal, er habe das Grundriss-Büchlein gewählt, „weil man ihm gleich anfühlt, dass es aus ächter Sachkenntnis hervorgegangen ist“.34 Savigny legte also Heises Gliederung zugrunde. Von Heises Grundriss erschienen zwei weitere Auflagen, 1816 und 1819. Savigny hielt ausweislich des Manuskripts seiner Vorlesung und der vielen überlieferten Nachschriften zwischen 1808 und 184235 die Heisesche Gliederung in der Pandektenvorlesung weitgehend fest. Beide haben dabei eng zusammengearbeitet, wie Heise in seiner „Vorrede“ von 1816 berichtet: „Ein großer Theil dieser Änderungen und auch der vorhin bemerkten Zusätze ist durch die Erinnerungen meines Freundes, des Herrn von Savigny veranlaßt, den ich aber darum keineswegs dafür verantwortlich machen will, weil es doch noch immer darauf ankömmt, ob ich seine Erinnerungen auch im rechten Geiste benutzt habe. Auf seinen Rath hin sind auch diesmal bey jeder einzelnen Lehre die Titel des Corpus Juris und selbst der älteren Römischen Rechtsquellen, worin dieselbe vorkömmt, mit möglichster Vollständigkeit angegeben worden, während in der vorigen Ausgabe nur einzelne Haupt-Titel bemerkt waren“ (S. VI f.).36

Ein Blick in Savignys annotiertes Handexemplar der Ausgabe von 181637 bestätigt die Parallelität ebenso wie die Änderungen. Savigny hat dort neben der Pa30  An Fr. Creuzer bei Adolf Stoll, Der junge Savigny (…), Berlin 1927, S.  409 Nr.  211; s. zum Kontext Joachim Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, Ebelsbach 1984, S.  87 ff. 31  Der Grundriss hatte 1807 in der 1.Aufl. nur VI u. 105 Seiten, 1816 in der 2.  Aufl. X u. 194 Seiten, 1819 in der 3.  Aufl. XVI u. 216 S. 32  Brief an Heise vom 29.1.1808, bei Otto Lenel, Briefe Savignys an Georg Arnold Heise, in: ZRG Romanistische Abt.  36 (1915) S.  96–156, hier S.  114. 33  Ebd. S.  116. 34  Ebd. S.  130. Das größte Lob steht im Brief vom 22. Juni 1817 aus Berlin: „Das sehe ich nun wohl, daß Sie auf meine Ansichten (sc. zum Besitz) gründlicher und unbefangener eingegangen sind als irgend jemand den ich kenne, und daß Sie vielleicht mein bester Leser gewesen sind, so wie sie ohne Vergleich mein bester Kritikus und Berichtiger sind“ (ebd. S.  152). 35  Dazu nun Joachim Rückert und Frank Schäfer (Hg.), Repertorium der Vorlesungsquellen zu Savigny, Frankfurt a. M. 2016 (= Savignyana 14), mit rund 150 Nachschriften. 36  Ebenso und fortgeführt 1819, S. VII und XII. 37  Im Marburger Savigny-Nachlass erhalten unter Ms 925/2002, alte Signatur Mat. 30.

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ragraphennummerierung bei Heise jeweils seine eigene Nummerierung für seine Vorlesung vermerkt. Sie geht weitgehend parallel, aber nicht durchweg. Die von ihm veranlassten Änderungen betreffen nun gerade auch den Bereich der Leistungsstörungen, wie Heise selbst ebenfalls unmittelbar vor dem Zitat soeben berichtet: „Auch die Ordnung der Materien ist in dieser Ausgabe hin und wieder sehr verändert worden, und manche Hauptlehren, wie Interesse, Culpa, Mora und Notherbenrecht haben einen anderen Platz, so wie einzelne Kapitel, vorzüglich B. III. Kap.  1. 3.4.10 B. V Kap.  3. 4.9. eine andere Anordnung erhalten.“ (ebd.)

Das Noterbenrecht spielt hier keine Rolle. Aber „Interesse, Culpa, Mora“, das waren wesentliche Problembereiche der Leistungsstörungen. Die Veränderungen dabei betrafen das „Dritte(s) Buch. Obligationen-Recht“ (S.  55 ff.), Kap.  1. „Vom Inhalt einer Obligation“ (S.  55–61), Kap.  3. „Entstehungs-Gründe der Obligationen“ (S.  65–71) und Kap.  4. „Von Aufhebung der Obligationen“ (S.  71– 75), also fast das ganze allgemeine Störungsrecht im allgemeinen Schuldrecht. Diese Änderungen erscheinen zunächst als bloß formelle Gliederungsarbeit wie der ganze Heisesche Grundriss selbst. In seiner sehr bescheiden-defensiven Vorrede sagt Heise selbst gleich im ersten Satz, der „nachfolgende Grundriss“ mache „auf wissenschaftliches Verdienst überall keinen Anspruch, sondern ist einzig zum Gebrauch für meine Vorlesungen bestimmt“.38 Dennoch war das energische Gliedern natürlich von wissenschaftlicher Bedeutung. Es ging mit Savigny um die Ausbildung einer „allgemeinen Theorie“, wie dieser einmal etwas unzufrieden zum Thema „Einseitige Handlungen. … B. Dritter“ und „Von zufälligen Gründen einer Obligatio“ in seinem Heise-Exemplar anmerkt: „für Beides keine allgemeine Theorie“ (ebd. S.  71). Die gemeinrechtliche Vielfalt sollte auf möglichst wenige Regeln und Prinzipien reduziert werden.39 In einem kritischen Exzerpt zu Thibauts „Versuche über einzelne Teile der Theorie des Rechts“ von 1798 und 1801 hat Savigny dies schon früh besonders deutlich ausgesprochen: „Der Verfasser würde mehr geleistet haben, wenn er die S.  125 aufgestellte Behauptung, daß hier nur von Anwendung bekannter Rechtssätze die Rede sei, dazu benutzt hätte, den Erklärungen selbst eine systematische Entscheidung aller denkbaren Fälle aus allgemeinen Grundsätzen vorauszuschicken; dadurch wären nicht nur alle Erklärungen deutlich geworden, sondern der Streit zwischen den beiden, die der Verfasser als gleich gut aufstellt, wäre zugleich zum Vorteil der Ersteren (bei ihm) entschieden gewesen.“40

38 

Heise, Grundriss (Fn.  31), S. III; so auch 1.A. und 3.  Aufl. 1. Satz der Vorrede. Rückert, Idealismus (Fn.  30), S.  57–62, bes. am Beispiel der Glück-Rezension Savignys von 1804. 40  Siehe Ebd. S.  204 den Abdruck der ungedruckten Notiz, undatiert, aber jedenfalls bald nach Erscheinen von Thibauts Schrift. 39 Dazu

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„Systematische Entscheidung aller denkbaren Fälle aus allgemeinen Grundsätzen“ – dass war das aktuelle und gewaltige dogmatische Ziel. In dieser Schärfe hat es sich vor allem Savigny gestellt. Lässt sich das für die Leistungsstörungen nachvollziehen?

3.  Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie: Savigny 1824, Thibaut 1823, Heise 1816 Dieser Weg lässt sich in zwei Etappen beschreiben. Dabei hat die erste Etappe mit Heise und Savigny vier Stationen, die zweite Etappe führt dann bis zum BGB. Ich beginne mit der allgemein verfügbaren, in den „Savignyana“ gedruckten Vorlesungsnachschrift zu Savignys Pandektenvorlesung von 1824/25.41 Auch dort betonte Savigny gleich eingangs sein prinzipielles Anliegen: „Im römischen Recht müssen wir die Entstehung der vorhandenen Regeln aufsuchen, und uns so ihres Princips bemächtigen.“ (S.  1). An der sehr willkommenen Gliederung durch den Herausgeber lässt sich der Ort der verschiedenen Leistungsstörungsprobleme übersichtlich erkennen. Es geht jeweils um „Schadensersatz und Interesse“, „Gefahr“, dolus/culpa/mora und „Unmöglichkeit der Erfüllung“. Die vier Probleme sind auf vier Orte verteilt, immerhin alle im 3. Buch: „Von den Obligationen“, dort in Kapitel 1–4, in der Sache ein Allgemeiner Teil des Schuldrechts42 : (1) Die Störung „Schadensersatz und Interesse“ steht in Buch 3 Kap.  1: „Vom Inhalt einer Obligation“, als eigener Abschnitt (S.  212). (2) Die Störung Gefahrtragung/casus steht auch in Kap.  1 beim „Inhalt“ und dort im Abschnitt „Verbindlichkeiten des Schuldners“ … „In Ansehung der Gefahr und Vortheile“ (S.  219). (3) Die Störung dolus/culpa/mora steht nicht beim Schadensersatz, sondern in Kap.  3 : „Entstehungsgründe der Obligationen“ im Unterabschnitt „Einseitige Handlungen des Verpflichteten“ (S.  255). (4) Die Störung „Unmöglichkeit der Erfüllung“ hat ihren eigentlichen Platz schon beim casus in Kap.  1 als zufällig verursachte „Unmöglichkeit“ (S.  219), sie steht aber noch traditionell, jedoch als bloßer Verweis in Kap.  4 : „Von Aufhebung der Obligationen“, dort im Unterabschnitt „Ohne Befriedigung des Gläubigers“ und dort wiederum unter „Durch zufällige Umstände“ (S.  276 f.43).

41 

Siehe die Edition von Hammen (Fn.  24), S. XV–XXXI. in Kapitel 5 folgt besonderes Schuldrecht mit „Wesentlich zweiseitige Obligationen“ usw. 43  „Auch diese Lehre ist schon beim Casus vorgekommen. Die unmögliche Erfüllung gilt als geschehene und die Gegenleistung kann in der Regel gefordert werden.“ Überhaupt löst Savigny das Kapitel Aufhebung der Obligation mehrfach auf. 42  Erst

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Die Hauptprobleme der Leistungsstörungen waren also über drei Systemstellen, den bloßen Verweis in Kap.  4 „Aufhebung“ abgerechnet, und zwei Kapitel verteilt (Inhalt und Entstehungsgründe einer Obligation; nicht mehr bei „Aufhebung“). Ein tatbestandlicher Oberbegriff für alle Störungen fehlt. Was bedeutet das im Vergleich? Maßgebend war vor allem Thibauts „System des Pandekten-Rechts“44. Dort sind die Fragen deutlich verstreuter und sehr stark gliedernd behandelt. Schon das Obligationenrecht selbst ist bei ihm verteilt auf den „Allgemeinen Teil“ überhaupt und den „Besonderen Teil“ (als 1. Ebene seines Systems, dort in Abschn. „II. Privat-Recht, Unterabschnitt „2) Persönliche Rechte“). Die Leistungsstörungsprobleme stehen alle im „Allgemeinen Teil“ (I), also unabhängig vom Schuldrecht, hier wieder alle in I.1.3., also im ersten Teil (1) „Über die Gesetze und Rechtswissenschaft an sich“, und dort in „Dritter Theil. Über das Product der Gesetze“ (sonst „Gegenstand“ genannt), und hier an sechs Orten in drei verschiedenen tief durchgegliederten Abschnitten: (1) Die Störung culpa mit mora steht in I.1.3. – 4.1.2., also in „Vierter Abschnitt: Ueber das Object der Rechte und Verbindlichkeiten“, hier „Erste Abtheilung. Wichtigste Arten der Handlungen“, „II. Erlaubte, unerlaubte“ (§  275). (2) Die Störung Schadenersatz/Interesse steht in 4.2.6., also auch im 4. Abschn.: Object, aber in der 2. Abt. „Über das Object der Handlungen“, unter „II. Arten … 6) Selbständige, und Nebensachen … D) Schadensersatz und Interesse“ (§3 271 ff.) (3) Die Störung „Zur Übernahme des Zufalls …“ steht in 2.1.2.4.5., also im 2. Abschn. „Ueber den Grund der Rechte und Verbindlichkeiten“, 1. Abt. „Ueber Entstehung derselben“, 2. Kap. „Ueber Vertraege insbesondere“, unter „IV) Welches sind die Wirkungen der Vertraege“ als Unterabschn. 5) (§§  172–176). (4–6) Die Störung Unmöglichkeit erscheint dreimal, teils in 1.2.1.2., also in Abschn. 1 „Ueber Rechte und Verbindlichkeiten an sich“, 2. Abt. „Ueber Verbindlichkeiten“, Unterabschn. I „Natur der Verbindlichkeit überhaupt“, „2) Erfordert Möglichkeit der Handlung“ (§  87), aber auch bei Uebernahme des Zufalls in Abschn. 2, s. soeben, und im „Besonderen Teil“ in II. B. Privatrecht in 2.2.1.9., d. h. unter 2. Teil „Persönliche Rechte“, 2. Abschn. „Ueber die Erlöschung persönlicher Rechte“, „I. Recapitulation …“, „9) Der Untergang des Objekts“, aber nur als Verweis auf §§  172 ff. beim Zufall soeben.

Jedenfalls sind die Probleme hier noch wesentlich verstreuter als bei Savigny, nämlich im Allgemeinen Teil und Besonderen Teil an sechs Orten (in Abschnitt 4.1.2.; 4.2.6; 2x in 2.1.2.4.5., 1.1.2. und im Besonderen Teil) und in drei „Abschnitten“ (in 4. Objekt, 2. Grund, und 1. Verbindlichkeiten an sich) sowie im Besonderen Teil, dort aber nur als Verweis. Die Unmöglichkeit erscheint besonders chamäleonhaft an drei Plätzen. Ein tatbestandlicher Oberbegriff für alle Störungen fehlt. Freilich standen auch in Heises Grundriss von 1816 die Probleme noch an vier Orten in drei Kapiteln, aber alle im 3. Buch „Obligationen-Recht“: 44 

Hier nach der 6. Auflage Jena 1823.

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(1) Schadensersatz und Interesse in Kap.  1. „Vom Inhalt einer Obligation“, unter „II. Vom Gegenstand“ (S.  55). (2) Gefahrtragung auch in Kap.  1 Inhalt, unter „III. Verbindlichkeiten des Schuldners … B. In Ansehung der Gefahr …“ (S.  60). (3) Dolus, culpa und mora in Kap.  3 „Entstehungs-Gründe der Obligationen“, unter „II. Einseitige Handlungen … A. … 2. Unerlaubte Handlungen“ (S.  69 f.). (4) Unmöglichkeit der Erfüllung in Kap.  4 „Von Aufhebung der Obligationen“, unter „B. Ohne dessen Befriedigung … 2. Durch zufällige Umstände … c. Unmöglichkeit der Erfüllung“ (S.  74).

Die Anordnung bei Heise war also systematisch reduziert und das bedeutete auch eine erhebliche sachliche Veränderung. Überhaupt herrscht einige Bewegung in Heises System zwischen 1807 und 1816: Schadensersatz und Interesse wanderten aus Buch I. (Allgemeine Lehren, Kap.  5. Von den Handlungen, S.  11) nach Buch 3 (Obligationen, Kap.  1 Inhalt, s. soeben), sie wurden also konkreter; Dolus und culpa (§§  137–146) wanderten mit, aber nach Kap.  3 Entstehungsgründe. Die mora kam aus Kap.  1 Inhalt … III. Verbindlichkeiten des Schuldners … 4. Zeit der Erfüllung …b. mora (S.59) zur culpa in Kap.  3 dazu. Die Gefahrtragung blieb dagegen stehen in Buch 3 Kap.1 Inhalt wie in der 1.  Aufl. (S.  32), und ebenso blieb die Unmöglichkeit in Buch 3 Kap 4. Aufhebung der Obligationen (S.  39). Den ohnehin kaum expliziten Begründungen dafür kann hier nicht im Einzelnen nachgegangen werden. Im Ergebnis liegt Heise damit gewissermaßen zwischen Thibaut 1823 und Savigny 1824. Die Probleme sind 1816 bei Heise weniger verstreut als bei Thibaut (sechs Orte), aber mehr als bei Savigny (drei Orte in nur zwei Kapiteln), nämlich auf vier Orte in drei Kapiteln. In der 1. Auflage Heises waren sie noch stärker verteilt auf fünf Orte in 2 Büchern sowie in Buch 3 in drei verschiedenen Kapiteln; der Schadensersatz und Interesse mit Dolus, Culpa stand noch ganz anders in Buch 1. Allgemeine Lehren unter §§  137–146. In der 2.  Aufl. 1816 erscheinen Schadensersatz und Culpa zwar zusammen in Buch 3, aber getrennt in Kap.  1 und 3. In der 3. Auflage 1819 hat sich daran nichts geändert. Ein tatbestandlicher Oberbegriff fehlt überall. Das musste einen Prinzipiensucher wie Savigny herausfordern. Verfolgen wir also die weitere Reduktion, wie sie Savigny angestoßen hat.

4.  Savigny 1816 und Pandektenvorlesung Grundlage sind nun sein Handexemplar von Heises Grundriss, 2.  Aufl. 181645 mit seinen handschriftlichen Notizen sowie das Manuskript seiner PandektenVor­lesung seit 1809–1809/10 in Landshut.46 Savigny verortet die Probleme in der Vorlesung wie folgt: 45 

46 

Siehe Fn.  31. Siehe jetzt die Edition von Avenarius zum Obligationenrecht, Allgemeiner Teil (Fn.  24).

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(1) Schadensersatz und Interesse stehen im „Kap.  1. Vom Inhalt einer Obligation … Abschnitt III. (neu47) Allgemeine Grundsätze von unerlaubten Handlungen … C. Von der Wirkung unerlaubter Handlungen“ (als §§  143–145) (fol.  282r ff./ S.  130 f.) 48 , aber erweitert zu „Allgemeine Grundsätze … Imputation … dolus, culpa, casus“, letzteres als Abgrenzung und Gegenfall (fol.  268v ff./ S.  86 ff., casus dann fol.  277r ff./ S.  120 ff.). (2) Die mora steht auch in Kap.  1 Inhalt aber davor unter III. (alt) „Verbindlichkeit des Schuldners A. In der Hauptsache“. (3) Die Gefahrtragung steht ebenfalls in Kap.  1, Inhalt, unter III. (alt) „Verbindlichkeit des Schuldners … B. Nebenverbindlichkeiten: 1. In Ansehung der Gefahr …“, die casus-Fälle stehen erweitert bei „Allgemeine Grundsätze“ und sind dort einbezogen, siehe soeben bei Schadensersatz. (4) Die Unmöglichkeit der Erfüllung wird noch erwähnt in Kap.  4. Aufhebung, aber nur als Verweis auf Kap.  1 Inhalt, genauer als doppelter Verweis: für die Unmöglichkeit auf §§  20–22 zum casus, sie ist also vereint unter „Allgemeine Grundsätze“ mit der culpa-Lehre an deren Ende (wie soeben erwähnt auf fol.  277r ff./ S.  120); für die Imputation aus dolus und culpa wird verwiesen auf den soeben erwähnten Ort auch in Kap.  1 Inhalt.

Savigny hat also auch gegenüber Heise durch seine Verschiebung von Dolus/ Culpa/Mora und Unmöglichkeit der Erfüllung die Regeln noch einmal erheblich konzentriert. Alle vier damals vertrauten Leistungsstörungsprobleme, also Schadensersatz, Gefahrtragung/Casus bzw. Periculum, Dolus/Culpa/Mora und Unmöglichkeit der Erfüllung sind nun unter „Inhalt der Obligation“ in einem einzigen Kapitel des allgemeinen Schuldrechts zusammengeführt. Dieses wichtige Ergebnis hätte ich gerne deutlich schlanker vorgeführt. Aber der Vergleich der Systeme für die vier Hauptprobleme bei Leistungsstörungen, zumal aus teilweise nicht so leicht greifbaren Quellen, fordert seinen Preis. Die scharfe Konzentration bei Savigny und die erhebliche Potenzierung der Abstraktionsleistungen etwa gegenüber Irnerius zum Miet-, Werk- und Dienstvertrag liegen jedenfalls auf der Hand. Das gilt auch gegenüber dem römischen Recht, den Glossatoren, Kommentatoren und Kanonisten überhaupt. In der ebenso eindringlichen wie kunstvollen Untersuchung von Hermann Dilcher über „Die Theorie der Leistungsstörungen bei Glossatoren, Kommentatoren und Kanonisten“49 hält Dilcher eingangs gleich fest: „Zwar sind die nachfolgend untersuchten Tatbestände wie dolus und culpa, Sach- und Rechtsmängel, im einzelnen ebenso bekannt wie ihre Rechtsfolgen, sie werden jedoch nicht als die Einheit gesehen, zu der sie hier zusammengefasst sind“.50 Das gelte erst recht für Aspekte wie Unmöglichkeit und positive Forderungsverletzung.51 Wie kam es zu Savignys Reduktionsleistung? Diese Frage zielt auf kaum beantwortbare gedankliche Vorgänge. Immerhin lässt sich anhand seiner über47 

III. erscheint doppelt wegen Savignys Einschaltung des Abschnitts entgegen Heise hier. Seitenzahl des Manuskripts der Pandektenvorlesung in Original und Edition, siehe bei Avenarius (Fn.  46). 49  Frankfurt am Main 1960. 50  Ebd. S.  7. 51  Ebd. S.  8 . 48 

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wiegend erhaltenen Briefe an Heise52 dazu einiges konkretisieren. In einem langen Brief aus Berlin vom 26. Oktober 1812 benennt Savigny auf fast drei Druckseiten eine Reihe von „freymüthigen Erinnerungen“ zu Heises Grundriss. Sie betreffen auch und gerade das Obligationenrecht. Noch 1819 klagte er beiläufig über das „3. Buch, worin ich mich ohnehin nie ganz zurecht zu finden lerne.“53 Konkret und plastisch heißt es 1812: „Buch 3 Kapitel 1 sehnt sich nach der culpa“54,

sie soll also ins Obligationenrecht zum Kapitel Inhalt, wo sie dann auch bei ihm gelandet ist, während sie Heise 1816 zwar auch ins Obligationenrecht, aber in Kapitel 3 Entstehungsgründe verschoben hatte. Savigny hat seine Verschiebung einige Absätze zuvor zu Buch 1 Kapitel 5 der 1. Auflage, wo die Culpa bei Heise damals stand, näher begründet: „[S]ehr am Herzen liegt mir, dass §  137–146 hier weggenommen und in B. 3 K. 1. gesetzt werden. Sie werden aus den abgedruckten Stellen 55 sehen, daß ich dieses bisher schon gethan habe. Man kann einwenden, daß bei der rei vindicatio und dem usus fructus schon von culpa gesprochen werden kann, aber ich gestehe Ihnen, ich halte nichts auf die Strenge des Grundsatzes, daß alles folgende aus dem vorigen völlig verständlich seyn muss: die Institutionen haben ja doch die Begriffe im allgemeinen dargestellt und wenn auch hie und da auf das folgende verwiesen wird, was liegt daran? Die innere Verwandtschaft der Gegenstände ist mir weit wichtiger, und diese zieht gewiss die culpa in das 3. Buch.“56

„Die innere Verwandschaft“?! ‑ damit stößt man auf eine für uns ziemlich hermetische Begründungsformel. Es kommt Savigny nicht auf eine didaktische oder logische Abfolge an, sondern auf eine juristische „Verwandtschaft“. Man wird dazu immerhin festhalten können, dass er den sachlichen und praktischen Schwerpunkt der Culpa-Regeln im Schuldrecht sah, gewiss nicht ohne Recht. Heise hat das ebenfalls durch seine Umstellung 1816 vom Allgemeinen Teil ins Schuldrecht überhaupt mitgetragen. Die juristische „Verwandtschaft“ bei Savigny lässt sich konkretisieren aus dem neuen Systemort. Die Probleme versammelt Savigny nun unter dem Gesichtspunkt „Allgemeine Grundsätze von unerlaubten Handlungen“, ob als Culpa- oder als Casus-Folge. In deren Rechtsfolgen liegt in der Tat ihre praktische Bedeutung, in der Rückführung auf gemeinsame Grundsätze liegt ihre ju52 

Siehe den Abdruck bei Lenel (Fn.  32), S.  126 ff. Ebd. S.  155. 54  Ebd. S.  130. 55  Damit meinte er sein Quellenheft zur Vorlesung, das er Heise überlassen hatte für den Plan einer gemeinsamen Ausgabe. Diese seine Sammlung von „Beweisstellen“ ist ebenfalls abgedruckt bei Hammen (Fn.  24), S.  499–552, so wie sie der Vorlesungsnachschrift von 1824/25 beigeheftet ist. Sie hat freilich keine explizite Gliederung nach Büchern und Kapiteln, sondern nur eine nach Nummern. 56 Bei Lenel (Fn.  32), S.  129, Hervorhebung hinzugefügt. 53 

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ristische Verwandtschaft. „Unerlaubt“ war freilich noch kein voll treffender tatbestandlicher Oberbegriff auch für die Casus-Fälle.

4.  Ein Endpunkt 1851 und 1853? Grundlage ist nun vor allem Savignys gedrucktes Werk „Das Obligationenrecht als Teil des heutigen Römischen Rechts“ Bd. 1 1851, Bd. 2 1853. Daneben existiert eine nicht datierte separate „Allgemeine Übersicht des Obligationenrechts“ von drei Doppelbögen.57 Sie liegt am Ende des Vorlesungsmanuskripts zum Obligationenrecht. Nach Lage und Schrift wurde sie nach dem Vorlesungsmanuskript angefertigt,58 aber nicht als unmittelbare Vorlage der Druckversion, von der sie wiederum abweicht, etwa in der Kapitelgliederung, die hier noch der Vorlesung entspricht. Das zeigt ein Vergleich des separaten Entwurfs mit der Vorlesungsübersicht.59 Bekanntlich hat Savigny sein „System des heutigen Römischen Rechts“ nach seiner großen Beanspruchung als Minister für Gesetzrevision, dann auch Präsident des Staatsrats und Vorsitzender des Staatsministeriums60 nicht wie geplant61 mit dem Sachenrecht fortgeführt, sondern mit dem Obligationenrecht als erstem Teil des Besonderen Teils seines Systems. Zwar wird berichtet, „Den Tag nach seiner Abdankung fing er wieder an zu schreiben – und hierin liegt freilich seine Größe“62 , das war am Tag nach dem 18. oder 20.3. 1848. Aber die Kräfte waren nicht ganz die alten. Nach dem allerdings besonders originären und durchschlagenden achten Band zum dritten Buch des Allgemeinen Teils des Systems über die „Herrschaft der Rechtsregeln über die Rechtsverhältnisse“ nach Ort und Zeit, also dem Internationalen Privatrecht mit 540 Seiten, wurde ein erster Band des Obligationenrechts noch 1851 vollendet, mit stattlichen 520 Seiten. Er enthielt ebenfalls sehr originäre Ausführungen, nun zur „Lehre vom Gelde“ – dabei war nämlich, so Savigny selbst, „auf Thatsachen und Verhältnisse einzugehen, die an sich außer den Gränzen der Rechtswissenschaft liegen, ohne welche aber die hier einschlagenden Rechtsregeln weder verständlich gemacht, noch zur Überzeugung gebracht werden können.“63 Aber den 2.  Band hat Savigny mit 331 Seiten unvollendet gelassen und im Kapitel Entstehung der 57 

Zum allgemeinen Teil des Schuldrechts, abgedruckt bei Avenarius (Fn.  24), S.  331–333. So auch Avenarius (Fn.  24), S.  14. 59  Avenarius (Fn.  24), S. VI ff. mit S.  331. 60  Siehe jetzt meine Lebenstabelle in: Friedrich Carl von Savigny – ein Frankfurter in Berlin, in: Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Geschichte, Gegenwart und Zukunft, hrgs. von Stefan Grundmann, Berlin 2010, S.  133–177, 151. 61  Siehe den Gesamtplan in Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, Berlin 1840, S. III, und zur Abweichung wegen „zufälliger Umstände“ Bd. 8, 1849, S. VII f. 62  Ebd., wie Fn.  60, durch Crabb Robinson, s. Brief v. 8. Juni 1851 bei A. Stoll (Fn.  30), III, S.  290. 63  Obligationenrecht, Bd. 1, Berlin 1853, Vorrede S. IV. 58 

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Obligationen vor der Culpa-Lehre abgebrochen – ohne Vorrede und ohne Begründung. Wir wissen aus den Briefen, dass er mit seiner Leistungsfähigkeit nicht mehr zufrieden war. Dank Savignys besonderer Sorgfalt in Sachen Systematik lässt sich jedoch das Wesentliche zu den Leistungsstörungen herausfinden. Zu Beginn des Obligationenrechts betonte er, dass ein allgemeiner Teil auch des Obligationenrechts „wichtiger“ sei als etwa im Sachenrecht. Im Obligationenrecht bleibe nämlich „stets freier Raum für die Bildung neuer Obligationen, wie sie durch das wechselnde Bedürfnis der Zeiten, oder auch durch freie Willkür, herbeigeführt werden mögen. Für solche neu zu bildende Obligationen nun sind zunächst nur die Grundsätze des allgemeinen Theils maßgebend, welche daher, um dieser Aufgabe zu genügen, hinreichend ausgebildet sein müssen.“(OR I S.  3)

Und er benennt gleich anschließend die nun vier Kapitel zu seinem „Allgemeinen Theil des Obligationenrechts“. 64 „Kap 1. Natur der Obligationen. / Kap 2. Entstehung der Obligationen. / Kap 3. Aufhebung der Obligationen. / Kap.  4. Rechtsschutz der Obligationen gegen Verletzung.“ (S.  3)

Das bisher traditionelle Kapitel 2, Subjekte der Obligationen, ist also entfallen – es wurde unter „III. Personen in der Obligation“ in das 1. Kapitel, Natur der Obligationen, gestellt. Das alte Kapitel 2, Subjekte, war bei Heise wie noch in Savignys Pandekten-Vorlesung enthalten. Hinzugekommen ist das neue Kapitel 4 Rechtsschutz. Da Savignys gedruckter Text schon Kapitel 2 teilweise nicht mehr und Kapitel 3 und 4 gar nicht mehr enthält, ist deren neu geplanter Inhalt undeutlich. Jedenfalls handelt es sich wieder um eine Reduktion der bisher vier ersten Kapitel um ein ganzes Kapitel, sowie um eine Reduktion von bisher späteren Abschnitten in den bisher speziellen Kapiteln neun und eventuell zehn. Letzteres muss hier nicht genauer verfolgt werden. Die Leistungsstörungsprobleme sind dabei erneut gewandert. Die wesentliche Rolle spielte nun der Gesichtspunkt einer bloßen „Metamorphose“ oder Modifikation der ursprünglichen Erfüllungspflicht. Die Störungsfolgen erscheinen so gesehen als Element der ursprünglichen Erfüllungspflicht. Sie rücken damit folgerichtig vom Inhalt der Obligation zu deren Entstehungsgründen, den teils ursprünglichen wie Erfüllung, teils bloß modifizierten wie Ersatz, als eine modifizierende Erweiterung oder Verminderung der ursprünglichen Verbindlichkeit (S.  5). Das bedeutete: Schadensersatz und Interesse hatten 1824/25 beim Inhalt der Obligation gestanden. Zu ihrer neuen Position im unausgeführten Teil des Buches von 1853 findet sich eine kurze Bemerkung in der Einleitung zum Kapitel 64  So genannt im separaten Entwurf eingangs, ebenso im Buch, etwa I S.  6 ; aber auch schon bei Heise, Grundriss (Fn.  31) in der kleinen Übersicht zu Buch 3, Obligationenrecht, 2. A., S.  55, 3.  Aufl., S.  65.

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2 Entstehung der Obligationen über „die Lehren von Dolus, Culpa, Casus, Interesse, Mora.“ (S.  5) Sie bewirkten, heißt es, d. h. jede zugerechnete Störung für sich, aber strukturell verwandt, eine „Veränderung in dem Gegenstand oder Inhalt der Obligation“, nämlich eine „Verminderung des Gegenstandes“. Tragend wirkt darin also die erwähnte Unterscheidung von „ursprünglicher Entstehung“ und „Umwandlung (Metamorphose)“ in bloß „veränderter Gestalt“, mit der Savigny das Kapitel 2. Entstehung der Obligation in Bd. 2 des Obligationenrechts gleich sehr prinzipiell eröffnet hatte (S.  1). Man wird also davon ausgehen dürfen, dass Savigny die Lehre vom Interesse nun unter „Umwandlung“, und d. h. hier „Verminderung der Obligation“, hatte darstellen wollen, und zwar als einen Teil des Kapitels 2, Entstehung der Obligationen (erwähnt S.  5). Durchgeführt ist freilich nur der Abschnitt „ursprüngliche Entstehung“ und dieser auch nur für Vertrag und Delikt. Der anschließend geplante Abschnitt zur Umwandlung wurde nicht ausgeführt. Wo steht die Mora? Die Stellung der Mora bestätigt diesen neuen Zusammenhang. Sie wurde nach der soeben beim Schadensersatz zitierten kurzen Bemerkung mit der Lehre vom Interesse zusammengezogen (Dolus, Culpa, Casus, Interesse, Mora, S.  5) unter Modifikation der ursprünglichen Verbindlichkeit im Kapitel 2, Entstehung der Verbindlichkeiten. Das hatte Savigny schon im Vorblick ganz am Ende von Bd. 1 erläutert: „… die Lehre von der Mora, welche aber nicht an der gegenwärtigen Stelle (sc. Kapitel 1, Natur der Obligationen), sondern erst bei den Entstehungsgründen der Obligation, und zwar insbesondere bei der Umwandlung derselben, dargestellt werden kann“ (OR I S.  520). Soweit zur Mora. Es fehlen noch Gefahrtragung und Unmöglichkeit: – Auch die Gefahrtragung wandert unter dem Stichwort Casus zum Kapitel 2, Entstehung. Dies ergibt die soeben zitierte kurze Aufzählungsbemerkung auf I S.  5. – Ebenso wandert die Unmöglichkeit der Erfüllung zu Kapitel 2, Entstehung. Das ergibt sich wieder aus der Miterwähnung des Casus in der soeben zitierten Kurzbemerkung. Es ist auch erkennbar am neuen systematischen Ort der anfänglichen, von Savigny schon so genannten objektiven Unmöglichkeit (OR II 285). Sie steht als einziger spezieller Fall einer Umwandlung zur geschwächten Wirkung bzw. sogar Vernichtung der ursprünglichen Pflicht nur unter dem Entstehungsgrund Vertrag, da sie nicht für Obligationen überhaupt gelte (II 284 f.), ist aber systematisch eben auch Umwandlungsfall.

Wir haben also zwar kein voll ausgeführtes Obligationenrecht von Savigny, doch lassen sich die wesentlichen Gliederungspunkte und systematischen Orte für die Leistungsstörungsprobleme dennoch erfassen. Sie wanderten nun alle unter dem Gesichtspunkt der bloßen Metamorphose der ursprünglichen Erfüllungsverbindlichkeit in das allgemeine Kapitel 2, Entstehung der Obligationen – Teil Umwandlung (II S.  266 ff.). Savigny hat damit erneut eine Reduktion vorgenommen und den Regeln einen allgemeineren Systemort als bisher zugewiesen. Sind nun versammelt in einem einzigen Kapitel unter dem gemeinsamen

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sehr allgemeinen Aspekt der Umwandlung, und stehen anders als noch 1824/25 nicht mehr in zwei Kapiteln und an nur zwei bis drei Systemstellen. Zwar lassen sich die ganz genauen Systemstellen im Bereich „Umwandlung“ nicht angeben, aber die erhebliche Reduktion ist dennoch klar. Ein tatbestandlicher Oberbegriff für alle Störungen scheint weiter zu fehlen. Der neue Systemort entspringt für Savigny aus einer sehr grundsätzlichen Perspektive, die nicht übergangen werden soll. Wie wichtig ihm der Aspekt der bloßen Metamorphose war, hatte er schon 1840 in Bd. 1 des Systems ganz allgemein erläutert in „§  59. Abweichende Meinungen über die Klassification“ (der Rechtsverhältnisse) (S.  393 ff.). Es sei zwar nicht seine Absicht, „die vielfachen Arten, wie Andere den inneren Zusammenhang der Rechtsinstitute gedacht, und danach auch ihre Darstellung derselben angeordnet haben, einzeln durchzugehen (…). Ein Missverständnis von allgemeinerer Natur“ müsse jedoch hier noch erwähnt werden: „Soll uns eine vollständige Einsicht in das Wesen der Rechtsverhältnisse entstehen, wie sie in das wirkliche Leben eingreifen, so ist es nicht genug, ihren Inhalt zu kennen, also die Wirksamkeit, die ihnen in der gegenwärtigen Zeit zuzuschreiben ist, sondern es muss uns zugleich ihr eigener Lebensprozeß klar werden, also neben der stabilen Seite ihrer Natur auch die bewegliche Seite derselben. Dazu gehört ihre Entstehung und Auflösung, ihre Entwicklung und ihr möglicher Übergang in neue Gestalten (Metamorphose) vorzüglich auch ihre Verfolgung wenn sie verletzt werden.“ Man habe nun „diese einzelnen Momente in dem organischen Leben der Rechtsverhältnisse als eigene, neue Rechte aufgefasst, sie mit den ursprünglichen Rechtsverhältnissen auf eine Linie gestellt, und nun die Stelle aufgesucht, die ihnen im System aller Rechte anzuweisen wäre (Fn a). Ein solches Verfahren konnte nur zur Verwirrung der Begriffe führen.“ Und in der Fußnote a nennt er wohl nicht ohne Ironie als Beispiele „die Rede von dem Recht des Menschen, seinen Willen zu erklären, eine Ehe oder einen obligatorischen Vertrag zu schließen, Eigentum zu erwerben, eine Klage anzustellen, Restitution zu begehen usw.“ (S.  393 f.).

Dieser sehr grundsätzliche Aspekt hat offenbar Savignys System verändert, vor allem im allgemeinen Schuldrecht, als er es nun 1851 und 1853 frei nach eigener Auffassung gestaltete. Savigny schrieb eben kein System der Rechte, oder gar der subjektiven Rechte als Willensmächte, sondern ein System der Rechtsverhältnisse. Der Weg durch die beiden so wesentlichen Systeme von Heise und Savigny bis 1853 ergibt also eine fortschreitende Reduktion der Probleme unter immer allgemeinere Systemorte bis Savigny sie am Ende unter dem einzigen Gesichtspunkt der Umwandlung der ursprünglichen Erfüllungspflicht vereinigt. Ein dogmatischer, tatbestandlicher Oberbegriff für alle diese Leistungsstörungen fehlt jedoch. Die „Umwandlung“s-Ebene als solche ist zu inhaltslos dafür.

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5.  Der Aufstieg der Unmöglichkeit im System Vom BGB her sind wir gewohnt, die Unmöglichkeit als obersten Tatbestandsbegriff für die Leistungsstörungsprobleme zu verstehen. Dieser Schritt wurde bisher nicht deutlich. Auch dazu lässt sich jedoch einiges aufklären. In der bereits erwähnten separaten allgemeinen Übersicht des Obligationenrechts, die jedenfalls nach der Pandektenvorlesung entstanden ist und irgendeine Vorbereitungsstufe des Druckwerks von 1851/53 zeigt, spielt die Unmöglichkeit eine zentrale Rolle. Zum ersten Kapitel des Schuldrechts über „Begriff und allgemeine Natur der Obligationen“ hatte Savigny in der Übersicht unter „IV. Inhalt des Rechtsverhältnisses“ die Leistungsstörungsprobleme bereits zusammengefasst, nur nicht unter dem später im Druckwerk gewählten Gesichtspunkt der Entstehung: – Die Mora steht unter „1. Wesentlicher Inhalt (sc. des Rechtsverhältnisses) / A. Erfüllung (Art und Umfang) / B. Nebenbestimmungen: / a. Zeit (mora) / b. Ort.“ – Dolus, Culpa, Casus, Schadensersatz und Interesse stehen dort gleich unter „2. Zufälliger Inhalt (sc. des Rechtsverhältnisses): A. Verwandlung des Gegenstandes im Fall der Unmöglichkeit wahrer und vollständiger Erfüllung: / a. Bedingungen dieser Verwandlung (Imputation, Dolus, Culpa, Casus) / b. Art der Verwandlung (Schadensersatz und Interesse – jus jurandum in litem)“.65

Man wird diesen Passus in der Übersicht faszinierend nennen dürfen. Denn die „Unmöglichkeit wahrer und vollständiger Erfüllung“ wird hier eingesetzt als tatbestandlicher Oberbegriff der Hauptstörungsfälle. Damit war die „Verwandlung“ (oder Umwandlung, Metamorphose, Modifikation) insoweit dogmatisch gefüllt. Nur die Mora stand noch extra, aber doch schon nahe dabei. Dieser volle Begriff der „Unmöglichkeit wahrer und vollständiger Erfüllung“ taucht freilich im gedruckten Obligationenrecht, soweit ich sehe, nicht auf. Das verwundert aber deswegen nicht sehr, weil der ganze Umwandlungsabschnitt eben fehlt und die Unmöglichkeit erst eine Ebene spezieller relevant wird als die vorweg erläuterte Unterscheidung nach ursprünglich und umgewandelt. Der fehlende tatbestandliche Oberbegriff ist jedenfalls in der separaten Übersicht im Wesentlichen aufgestellt. Er lautet Unmöglichkeit der Erfüllung. Und das geschah unabhängig vor Friedrich Mommsen, dessen Trilogie zu Unmöglichkeit, Interesse und Mora erst 1853 und 1855 erschien. Mit diesem in Sachen Unmöglichkeit geschärften Blick, stellt man nicht ohne ein gewisses Erstaunen fest, dass das Wesentliche doch bereits in Savignys Vorlesung von 1824/25 ausgesprochen worden war. Dort heißt es nämlich im Abschnitt „Verbindlichkeiten des Schuldners (…) [i]n Ansehung der Gefahr und Vorteile: vom periculum“66 : 65 

Hervorhebungen hinzugefügt. Hammen (Fn.  24), S.  219.

66 Bei

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„Eine Obligation bleibt unerfüllt und dadurch tritt eine materielle Verletzung ein. – Ist die Erfüllung unmöglich geworden, unter welchen Bedingungen kann hier etwas gefordert werden. Die Nichterfüllung und Verletzung kann liegen in dem Willen des Schuldners, dies ist die Lehre von dolus und culpa. Die Ursache dieser Nichterfüllung kann auch liegen außer dem Willen des Schuldners, in einer Naturursache. Dies ist die Lehre vom Casus (neuerer Ausdruck; die Römer brauchten hier periculum als casueller Schaden)“.

Und hier formuliert Savigny auch die entscheidende Abstraktion mit den Worten, „Ueberall wo von einer Verletzung die Rede ist, lässt sich diese auf eine Unmöglichkeit zurückführen und diese (sc. hier, durch casus,) wird angenommen als eine casuelle, willenlose. Die Unmöglichkeit zu erfüllen ist entw. eine objective, in welcher jeder in seiner Lage sich befinden würde, oder eine bloß subjective, welche bloß in den individuellen Verhältnissen des Schuldners gegründet ist. Der Casus wird bloß auf die objective Unmöglichkeit angewandt.“ (S.  219) 67

„Überall“ – bei jeder Vertragsverletzung, der Status als dogmatischer, tatbestandlicher Oberbegriff ist ausgesprochen. Es ist nicht leicht zu sehen, ob und woher gegebenenfalls Savigny dazu angeregt wurde. Sein Interesse und Talent für solche Abstraktionen und Systembildungen lassen jedoch auch eine selbstständige Neubildung als möglich erscheinen. Wie auch immer – jedenfalls ist hier nicht der Ort und der Raum, dieser Frage nachzugehen, sei es anhand der Literatur, sei es anhand der inzwischen in großer Fülle verzeichneten Vorlesungsnachschriften zu Savigny. 68

IV.  Pandektenwissenschaft und BGB Versprochen war auch eine Untersuchung der zweiten Etappe bis zum BGB. Ich lasse nun die vielfach besprochenen literarischen Verwicklungen seit Friedrich Mommsen und der großen Rezension Windscheids dazu usw. beiseite, und damit auch die intensiven Untersuchungen dazu von Jakobs 1969 und Wollschläger 1970 und anderen bis zu Schermaier 2007. 69 Vielmehr konzentriere ich mich einfach auf die wichtigsten Gesetzgebungsetappen vom sog. Dresdener Entwurf bis zum BGB, wie sie in einer synoptischen Gesamttabelle sichtbar werden70 . Sie zeigen die weitere dogmatische Verdichtung unter den Stichworten Nichterfüllung und Unmöglichkeit. 67 

Hervorhebungen hinzugefügt. Rückert und Schäfer (Fn.  35). 69  Horst Heinrich Jakobs, Unmöglichkeit und Nichterfüllung, Bonn 1969; Christian Wollschläger, Die Entstehung der Unmöglichkeitslehre. Zur Dogmengeschichte des Rechts der Leistungsstörungen, Köln usw. 1970; Schermaier 2007 (Fn.  5). 70  Von mir erstellt. 68 Siehe

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1.  Dresdener Entwurf 1866 Der Dresdner Entwurf für ein Allgemeines Deutsches Obligationenrecht von 1866 war bekanntlich durchaus folgenreich. Er wurde bei der Beratung des BGB seit 1874 intensiv benutzt, schon deswegen weil der Redaktor des Schuld­ rechts Philipp von Kübel auch Mitglied der Dresdener Kommission gewesen war. Da er wegen Krankheit zunehmend ausfiel, wurden die Dresdener Bestimmungen ab dem Thema Tausch sogar unmittelbar zugrundegelegt. Zum allgemeinen Schuldrecht konnte von Kübel jedoch einen sog. Vorläufigen Entwurf 188171 und weitere sog. Vorlagen oder Teilentwürfe72 vorlegen, insbesondere den Teilentwurf Nr.  22 über „Folgen der Nichterfüllung der Verbindlichkeit“73. Die Entwürfe wurden in der 1. Kommission 1882/83 und 1884 noch einmal kurz beraten.74 Der weitere äußere Verlauf über 1. Entwurf 1888, Bundesrat, Reichsjustizamt, 2. Kommission 1890, Bundesrat 1893, Reichstag und Bundesrat 1896 ist bekannt. Für den Systemvergleich ist insbesondere nützlich eine Vorlage der Mitarbeiter zu „Parallelstellen aus einigen Entwürfen zu dem (…) Buch Recht der Schuldverhältnisse“. Sie verzeichnet auf 23 Seiten in einer frühen Systematisierung, die stark dem Dresdener Entwurf folgt, dessen Artikel samt Protokollen, den bayerischen, hessischen und preußischen Entwurf, das sächsische BGB, Dernburgs Preußisches Privatrecht und Windscheids Pandektenlehrbuch, teilweise auch das Schweizer Obligationenrecht von 1881.75 Die Leistungsstörungsprobleme finden sich im Dresdner Entwurf unter den Rubriken „Schuldverhältnisse im Allgemeinen (…) 3. Titel. Wirkungen der Schuldverhältnisse (…) III. Folgen der Nichterfüllung der Verbindlichkeit“ und dort im „5. Titel Erlöschung der Schuldverhältnisse.“ – Die Mora steht in Titel 3. Wirkungen der Schuldverhältnisse, 3. Folgen der Nichterfüllung der Verbindlichkeit, unter 2. Folgen des Verzugs. – Die Culpa-Fälle stehen ebenda unter 1. Im Allgemeinen. – Die Unmöglichkeit bildet teils ein Merkmal der culpa-Fälle bei dem Kapitel Wirkungen, teils ein Merkmal in Titel 5. Erlöschung der Schuldverhältnisse, Nr.  7. Wegfall des Inhalts der Verbindlichkeit. 71  Inzwischen allgemein verfügbar in Werner Schubert (Hrsg.), Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuches: Recht der Schuldverhältnisse, Teil 1, Allgemeiner Teil, Verfasser: Franz Philipp von Kübel, Berlin 1980, S.  1123–1196, und zum System auch übersichtlich ders., in: Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, hrsg. von Horst Heinrich Jakobs und Werner Schubert, Recht der Schuldverhältnisse I. §§  241 bis 432, Berlin 1978, S.  23 f. 72  Alles verfügbar in Vorlagen ebd. 73  Ebd. S.  849–926. 74  Eine handliche genaue Übersicht zum Verlauf findet sich im HKK (Fn.  5), jeweils zu Beginn der Bände. 75  Inzwischen allgemein verfügbar bei Schubert, Vorlagen (Fn.  71), S.  1197–1219.

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– Casus bzw. Gefahrtragung sind in der Unmöglichkeit enthalten.

Etabliert ist damit zunächst ein allgemeines Schuldrecht. Die Leistungsstörungsprobleme sind verteilt auf drei Systemorte und zwei Titel (bzw. Kapitel wie sie früher hießen) – also verstreuter als bei Savigny, vor allem wegen der noch getrennten Position beim Erlöschen. Sie sind aber außer der Mora alle dem tatbestandlichen Grundbegriff Unmöglichkeit untergeordnet. Darin liegt eine enorme dogmatische Verdichtung. Und sie entspricht genau der soeben zitierten Zusammenführung bei Savigny unter „Unmöglichkeit“ schon 1824: „Überall (…) Verletzung auf Unmöglichkeit zurück(zu)führen“ und später, vor 1851/53, als „Unmöglichkeit wahrer und vollständiger Erfüllung“76 . Die Unmöglichkeit bildet nun unter „Nichterfüllung“ neben dem Verzug ein durchgehendes Merkmal, in Art.  273 DresdE für die verschuldete, in Art.  277 für die zufällige, aber nicht befreiende, in Art.  278 noch einmal bei der verschuldeten, dann erneut unter Erlöschen wegen Wegfall des Gegenstandes in Art.  388 bei voller zufälliger Unmöglichkeit, in Art.  389 bei teilweiser: – Art.  273. Wird die Erfüllung einer Verbindlichkeit durch Verschuldung des Schuldners ganz oder teilweise unmöglich gemacht, so besteht dessen Verbindlichkeit demungeachtet fort und der Gläubiger kann wegen des ihm durch die Nichterfüllung der Verbindlichkeit unmittelbar oder mittelbar verursachten Vermögensverlustes und entzogenen Gewinnes nach Maßgabe der Vorschriften der Art.  223 und 224 Schadensersatz verlangen. (Vom Schuldner verschuldete Unmöglichkeit) – Art.  277. Ist die Erfüllung der Verbindlichkeit durch Zufall unmöglich geworden und der Schuldner hierdurch von seiner Verbindlichkeit nicht befreit, so ist, sofern nicht ein Gesetz etwas Anderes bestimmt, statt des ursprünglich geschuldeten Gegenstandes der ordentliche und außerordentliche Werth, welchen derselbe am Orte unserer Zeiterfüllung hat, nach Maßgabe der Vorschrift des Art.  223 zu leisten. (Vom Schuldner zu tragende zufällige Unmöglichkeit) – Art.  278. Ist die Erfüllung der Verbindlichkeit durch Verschuldung des Gläubigers unmöglich geworden, so gilt, soweit dies der Fall ist, die Verbindlichkeit als erfüllt. Der Schuldner behält bei einem einseitigen Vertrage das Recht auf die Gegenansprüche, welche für ihn infolge des Vertrages entstanden sind, und bei einem zweiseitigen Vertrage den Anspruch auf die Gegenleistung. (Vom Gläubiger verschuldete Unmöglichkeit) – Art.  388. Ist dem Schuldner durch Zufall die Erfüllung der Verbindlichkeit unmöglich geworden, so wird er von seiner Verbindlichkeit befreit und hat dem Gläubiger für den daraus entstandenen Schaden nicht zu haften. Dagegen hat der Schuldner, wenn die Verbindlichkeit eine zweiseitige ist, keinen Anspruch auf die Gegenleistung und muss, falls er die letztere bereits empfangen hat, das Empfangene zurückgeben. (Den Schuldner befreiende volle Unmöglichkeit) – Art.  389. Ist dem Schuldner durch einen Zufall die Erfüllung der Verbindlichkeit teilweise unmöglich geworden, so beschränkt sich dessen Verbindlichkeit auf die noch mögliche Leistung. Bei zweiseitigen Verträgen ist der Gläubiger berechtigt, an der Gegenleistung einen verhältnismäßigen Abzug zu machen. (Den Schuldner befreiende teilweise Unmöglichkeit) 76 

Siehe oben im Text nach Fn.  65 und 66.

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Die Störungen durch Dolus, Culpa oder Casus sind hier vereinigt. Die Unmöglichkeit wurde dabei das entscheidende Merkmal der Zurechnung auf einer ersten Ebene. Auf der zweiten Ebene entscheiden dann Zufall und Verschulden. Die Struktur des späteren BGB ist schon gut sichtbar.

2.  Vorläufiger BGB-Entwurf Anfang 1881, Teilentwurf Nr.  22 1882, Systemberatung Anfang 1884, BGB Der vorläufige BGB-Entwurf von 1881 entsprach in diesen Partien sowohl systematisch wie durchweg fast wörtlich dem Dresdener Entwurf.77 Der Teilentwurf Nr.  22 von Kübels von 1882 über die „Folgen der Nichterfüllung der Verbindlichkeit“78 versammelte dann die Leistungsstörungsprobleme alle unter dieser einen Rubrik. Die Bestimmungen zum „Wegfall des Gegenstandes“ wie im Dresdener Entwurf bei „Erlöschung“ und im vorläufigen Entwurf entfielen, ohne direkte Begründung.79 Die Begründung steckt jedoch im Begriff „Unmöglichkeit“ selbst. Er wurde nun erweitert gefasst. Kübel führte allgemein aus, „Auf die Art der Unmöglichkeit, ob dieselbe als objektive, also an sich für Jedermann bestehende, eingetreten ist (z. B. Untergang der zu leistenden Sache) oder nur als eine subjektive, welche nur dem Schuldner die Leistung unmöglich macht, kommt es hierbei also nicht an.“80 Sein Beispiel betrifft genau den Wegfall des Gegenstandes, der also hier schon einbezogen wird und folglich keiner eigenen Regelung beim Erlöschen mehr bedarf. Er beruft sich dabei auf Windscheid und Mommsen, der ungedruckte Savigny war ihm offenbar nicht bekannt, auch nicht aus einer Nachschrift. Von Kübel wiederholt diese Stellungnahme in seiner Begründung zu §§  10–13 des Teilentwurfs, d. h. zu der Zufallsvorschrift (nun TE §  10, später §  275 BGB) 81 : „Wiederholt wurde hervorgehoben, daß es auf die Art der Unmöglichkeit, auf die Beschaffenheit des Umstandes, welcher sie herbeiführte, nicht ankommt, und daß diese Umstände keineswegs erschöpfend aufgeführt werden können.“ Es könnten eben „alle Umstände und Vorkommnisse, insofern und insoweit sie dem Schuldner die Erfüllung unmöglich machen, von ihm als Schuldaufhebungsgründe geltend gemacht werden dürfen, wofern in concreto der Schuldner nicht für sie einzu-

77  Siehe den hilfreichen Abdruck der Gliederung des vorläufigen Entwurfs in Vorlagen (Fn.  71), S.  23 f. 78  Siehe den Abdruck bei Schubert, Vorlagen (Fn.  71), S.  849–926. 79 Der Teilentwurf Nr.   31 zum Schuldrecht enthält nur noch den Fall des „Wegfall des Gläubigers oder Schuldners“, dem noch im Dresdner Entwurf und im Vorläufigen Entwurf 1881 der „Wegfall des Gegenstandes“ angeschlossen war, siehe Vorlagen (Fn.  71), S.  1113 ff. 80  Ebd. S.  860 = S.  4 des Originals. 81  Siehe Beratung (Fn.  71) zu §  275 BGB, S.  211 f.; zuvor §  237 E I S.  2 26, zu §  232 E II, 269 E II rev. S.  232 ff. und dann §  275 I BGB schon gemäß Bundesratsfassung, S.  235.

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stehen hat.“82 Die Unmöglichkeit war damit zum tatbestandlichen Oberbegriff geworden, aber auch nur dies. Sie besagte noch nichts über die Zurechnung. Schon im Teilentwurf 1882 ermöglichte also die erweiterte Fassung des Begriffs der Unmöglichkeit nun auch die traditionelle Fallgruppe „Wegfall des Gegenstandes“ unter die „Folgen der Nichterfüllung“ einzubeziehen. Damit waren die Leistungsstörungsprobleme neben dem Verzug wieder an einem Ort versammelt und zudem unter dem einzigen tatbestandlichen Grundbegriff Unmöglichkeit. Dessen tatbestandliche Funktion lag weder in einer Haftungssperre, noch in einer Pflichtbefreiung oder einer Haftungszurechnung, sondern einfach nur darin, eine zusammenfassende Bezeichnung für die Störungen zu bieten, die dann zugerechnet werden sollten. Das wurde später oft nicht klar gesehen und löste ganz unnötige Begriffe und Irrlehren aus. Neu hinzu kam zudem die präzisere allgemeine Terminologie „vertreten müssen“ (in §  10 TE 22 „nicht zu vertretender Umstand“) oder „verantworten“ statt „verschuldet“. Dabei spielte übrigens offenbar der Art.  145 des schweizerischen Obligationenrechts von 1881 eine katalysatorische Rolle, worauf Kübel schon in seiner Teilentwurfsbegründung hingewiesen hatte.83 Am 30. Januar 1884 kam es dann zu einer „Beratung der 1. Kommission über das System des Obligationenrechts“84. Beschlossen wurde nun ein Abschnitt „III. Unmöglichkeit der Leistung und Folgen der Nichtleistung“ unter Titel 2. Inhalt der Schuldverhältnisse, und dies unter „Schuldverhältnisse im allgemeinen“ als erstem Abschnitt des 2. Buches des BGB. Die Überschriften des Abschnitts und des Titels waren damit verändert. Das hatte jedoch wenig sachliche Bedeutung. Es hieß es nun nicht mehr „Nichterfüllung“, sondern nur „Leistung“ und „Nichtleistung“, eine Akzentverschiebung. Der 1. Entwurf des BGB hat 1888 dieses System übernommen. Das System wurde in der 2. Kommission nicht mehr behandelt. Die heutige Fassung sieht bekanntlich ziemlich anders aus. Sie geht erstaunlicherweise bloß auf die Redaktionskommission zur 2. Kommission zurück und findet sich erstmals wohl 1891 im 2. Entwurf des BGB von 1895.85 Die Probleme sind wieder auf mehrere Systemorte, immerhin alle in dem der Sache nach allgemeinen Schuldrecht, verteilt. Der Grundbegriff Unmöglichkeit ist durchweg festgehalten. Dieser dogmatische Grundbegriff hat immer wieder überzeugt und ging nicht verloren.

82 

Ebd. S.  874 f./18 f. d. Originals. Siehe Vorlagen (Fn.  71), S.  874/18 des Originals; unter der Überschrift „IV. Unmöglichkeit der Erfüllung“ im „Dritten Titel. Erlöschen der Obligationen“, lautet Art.  145: „Soweit durch Umstände, welche der Schuldner nicht zu verantworten hat, seine Leistung unmöglich geworden ist, gilt die Forderung als erloschen“. 84  Vorlagen (Fn.  71), S.  28 f. 85  Siehe dazu Schubert in Vorlagen (Fn.  71), S.  39. 83 

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Das seit Heise und Savigny so viel diskutierte und schließlich so sorgfältig ausgebildete System wurde allerdings ziemlich verunklart. Denn auf einen besonderen Abschnitt „Schuldverhältnisse im allgemeinen“ wurde am Ende aus den bekannten, populären Kürzungs-, Sparsamkeits- und Verständnisgründen verzichtet. Man war sich wohl auch nach so langen Diskussionen einiger Selbstverständlichkeiten zu sicher. Alles steht nun im „Erster Abschnitt. Inhalt der Schuldverhältnisse“ und dort ohne Differenzierung im „Erster Titel. Verpflichtung zur Leistung“ §§  241–292 – fünfzig Paragraphen an einem Stück. Das war kein klärender Fortschritt, sondern eine nicht ungefährliche Vermischung und Verflachung. Die Geschichte des Leistungsstörungsrechts seit 1900 hat diese Gefahr mehr als bestätigt. Wichtiges wurde nicht richtig aufgenommen oder verstanden. Die Schlechtleistung wurde seit Staub 1902 wortgewaltig vermisst, obwohl sie schon im „soweit“ der Unmöglichkeit steckte und stecken sollte, und nicht etwa erst in §  276 beim Haftungsmaßstab. Die „Unmöglichkeit“ wurde eng natural aufgefasst, statt flexibel versprechensbezogen. Das machte sie unzutreffend starr und angreifbar. Auch vermischte man den Tatbestandsbegriff und die Rechtsfolgen, wie soeben erwähnt. Das Fehlen einer Entlastung bei bloßer Leistungserschwerung wurde als ungerechte Wertung beklagt und nach 1919 überspielt, um nur einige Hauptpunkte zu nennen. Am Ende erschien das Leistungsstörungsrecht sehr vielen als besonders verunglückt, wie eingangs erwähnt. Dass es im Gegenteil eine große und großartige dogmatische Leistung war und wer es in Wirklichkeit in sein „Unglück“ geführt hat, wurde aber nicht wirklich zur Kenntnis genommen bzw. geklärt. Am Ende wurde 2002 in der Schuldrechtsreform die versprechensbezogene „Unmöglichkeit“ als tatbestandlicher Grundbegriff ausmanövriert und durch „Pflichtverletzung“ ersetzt. Das hatte kaum erhebliche Konsequenzen für die Rechtsfolgen, aber sehr wohl für die Dogmatik und die freilich nicht sehr vitale Privatrechtstheorie. Das Schuldverhältnis erscheint nun weniger als ein „Rechtsverhältnis“ denn als ein „Pflichtenverhältnis“. Das klingt zunächst recht unerheblich, stehen sich doch im Schuldverhältnis Rechte und Pflichten regelmäßig einfach gegenüber. Aber es macht doch einen Unterschied, ob man im Privatrecht so grundsätzlich an Rechte anknüpft oder an Pflichten. Für die vermutlichen Folgen und Kontexte einer solchen Umstellung gibt es weniger erfreuliche historische Beispiele.86 Die Pflichtethiken vor 1800 waren stark christlich gebunden, bedeuteten aber auch eine Bindung im Recht, die die erwünschten Emanzipationen, wie sie die frühen Verfassungen pathetisch verkündet hatten, behinderte. Die Trennung des Rechts von der Moral und ihren Pflichten, wie sie im späten 18. Jahrhundert nicht nur von Kant entwickelt wurde, sondern auch im positiven Recht betrieben, bedeutete eine wesentliche Freisetzung für den Bereich der sog. „äußeren“ Verhältnisse der Menschen, d. h. der 86 Dazu

Schermaier (Fn.  5) vor §  276 Rn.  20 ff.

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Rechtsverhältnisse. Diese Emanzipation des Rechts wurde immer wieder in Frage gestellt, nicht zuletzt und vor allem in den modernen Diktaturen, etwa den sozialistischen und den nationalsozialistischen Rechtsideologien und -wirklichkeiten. Sie bildeten sämtlich umfassende Pflichtlehren aus, auch im Privatrecht. Das bedeutet natürlich keine inhaltliche Parallele, aber doch eine bedenkliche strukturelle Verwandtschaft. Sie überzeugt auch in der Sache wenig. Ausgerechnet im Zeitalter der Konstitutionalisierung des Privatrechts im Zeichen des zuerst freiheitlich-egalitären Grundgesetzes (s. Artt.  1–3) wurde das Privatrecht in einem nicht ganz kleinen Punkt auf Pflichten statt Rechte umgestellt. Das ist hier nur zu konstatieren, aber nicht weiter zu schildern und zu diskutieren. 87

3.  Eine rasante Dogmatisierung von Rechtsproblemen Die lange Befassung des 19. Jahrhunderts mit den Leistungsstörungen seit Heise und Savigny ist ein Paradebeispiel für eine sehr durchdringende und erfolgreiche, rasante Dogmatisierung von Rechtsproblemen.88 Sie hat die Fachsprache und die systematischen Zusammenhänge ungemein geschärft und damit die Rechtsgewissheit und Rechtssicherheit in diesem Bereich deutlich erhöht. Dass andere Rechtskulturen dies nicht so intensiv betrieben haben, etwa mit großzügigeren Formeln wie „breach of contract“ und „wesentliche Vertragsverletzung“ mindert diese Leistung nicht. Die Anknüpfung an die vertragsflexible „Unmöglichkeit“ spitzt diese Kriterien geschickt zu – „Unmöglichkeit“ ist immer wesentlich – und setzt mehr auf Anwendung denn Abwägung. 89 Dass Richterrechtskulturen letzteres bevorzugen ist folgerichtig, aber nicht die einzig gute und ökonomisch ohne weiteres optimale Lösung. Die Leistungen der Pandektenwissenschaft waren keine Kleinigkeit für den sowohl in der Rechtswirklichkeit wie in der Rechtspraxis höchst vielfältigen, häufig auftretenden und sozio­ ökonomisch aufgeladenen Problembereich der Leistungsstörungen – auch wenn das Unternehmen in den Umwälzungen seit 1900 am Ende doch ziemlich schief ging. Diese Fehlentwicklung mag mit gewissen Übertreibungen im Bemühen um rationale Rechtswissenschaft zusammenhängen und gleich nach 1900 auch mit einer heftig-ängstlichen Ablehnung eines Gesetzes- und Motivenkultus durch 87 Mehr Geschichte und mehr Diskussion dazu enthält mein demnächst erscheinender Beitrag zur Schuldrechtsreform (Fn.  11). 88  Immer noch lehrreich dazu Wolfgang Naucke, Die Dogmatisierung von Rechtsproblemen bei Kant. Zur Geschichte der Strafrechtsdogmatik im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 1 (1979) S.  3 –20 und ders., Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts (2000). 89  Siehe dazu den Überblick bei Axel Flessner, Befreiung vom Vertrag wegen Nichterfüllung, in: ZEuP 2 (1997) S.  255–320, bes. 266–270.

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den Juristenstand. Inzwischen spielt ein anderer Aspekt eine größere Rolle, nämlich die zunehmende Verschiebung der Gewichte unter den Rechtsbildungsfaktoren Rechtswissenschaft, Rechtspraxis/-justiz und Parlament. Offensichtlich gehört nun das Richterrecht zur Signatur unseres Zeitalters. Das mag die Fall-Gerechtigkeit befördern. Es führt aber auch nolens volens zu einer Verflachung der von der Rechtswissenschaft entwickelten und gestützten Dogmatik und der von ihr damit geschaffenen Rechtsgewissheit in klaren und relativ scharfen Begriffen und Tatbeständen. Liegt die Rechtsgewissheit vor allem in der Hand der Richter, so setzt sich eine andere, weniger gewisse Rechtsgewissheit von Fall zu Fall durch. Auch damit lässt sich natürlich leben, nur eben mehr richterlich als gesetzlich und parlamentarisch, und langfristig gewiss zulasten der Rechtsgewissheit. Ökonomisch bedeutet es höhere Transaktionskosten in der Rechtsgestaltung und Konfliktbearbeitung bis hin zur Bevorzugung der Schiedsgerichte und neuestens der Mediation – wiederum ein Gewinn für den Juristenstand. Das Unternehmen eines rechtswissenschaftlichen Positivismus, wie es das 19. Jahrhundert bevorzugt hatte, erscheint damit gescheitert.

V.  Die materiale Ebene Die soeben angestellten Überlegungen führen in die materiale Frage hinein, welche inhaltliche Richtung man bei dieser neuen Dogmatik der Leistungsstörung genommen hat. Es handelt sich ja keineswegs um einen formalistischen Vorgang der Logik, der bloßen Abstraktionen oder der logischen Rationalisierung der römischen Rechtserfahrung. Vielmehr ist diese Dogmatik selbstverständlich auch material gedacht im Sinne normativ leitender Prinzipien des Schuldrechts und des Privatrechts überhaupt. Dies wurde bald recht wenig verstanden oder gar gewürdigt. Die Klärung dieses Aspekts ist immerhin weniger mühsam und kompliziert als bei der formellen Seite der Dogmatisierung des Leistungsstörungsrechts. Zu Klärung wähle ich einen Einstieg von heute her an einem prominenten Beispiel, nämlich dem Großwerk zum Thema von Ulrich Huber.90 Dort findet man einen §  2 über „Grundprinzipien des Rechts der Leistungsstörungen“ von stattlichen 37 Seiten – also genau das Gesuchte. Das konnte dann in §  4 III 1 unter „Nichterfüllung und Unmöglichkeit“ konsequent beiseite bleiben. Als „Grundprinzipien“ genannt werden zwei: die Vertragsfreiheit und die Formel pacta sunt servanda. Aber das irritiert. Denn das normative Problem bei Störungen ist die Zurechnung der Störung, nicht die freie Vertragsgestaltung durch Vertragsfreiheit und nicht die Bindung daran durch pacta sunt servanda. Diese beiden Prinzipien 90 

Leistungsstörungen, 2 Bde, Tübingen 1999 (= Handbuch des Schuldrechts, 9).

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sind Prinzipien für die erste Gestaltung, nicht für die unfreiwillige Veränderung der Rechte und Pflichten infolge von Störungen. Das materiale Freiheitsproblem im Schuldrecht ist also zwar benannt, aber sozusagen nur zur Hälfte – auch die Zurechnung gehört dazu. Wesentlich für sie ist die traditionell so genannte Imputation, also die Verantwortung oder das Vertreten-müssen. Vor allem aber gilt nur die „freie“ Imputation, also der Willensbezug der Störung. Nur dies, der veranlassende Wille, wird zugerechnet, als Dolus, als Culpa oder als Mora oder mit dem BGB als Verschulden, nicht Zufall, oder allgemeiner als Vertreten-müssen. Material geht es also um ein Freiheitsproblem bei der Zurechnung. Das entspricht einer gefestigten Tradition. Sie war auch im Zusammenhang der Leistungsstörungsprobleme völlig bewusst und wichtig. Für die Pandektenwissenschaft lässt sich das nun erneut besonders prägnant und früh bei Savigny feststellen. Er entwickelte dazu in seiner Pandektenvorlesung eigens „Allgemeine Grundsätze von unerlaubten Handlungen“ (S.  86) 91, ähnlich wie Heise in der 1. Auflage 1807 im „1. Buch. Allgemeine Lehren.“92 , aber gewissermaßen in konkreterer Allgemeinheit. Ich verfolge jetzt nur die Struktur der relativ langen Passage in Savignys Vorlesung (S.  86–130), ohne die reichlichen Beispiele und Differenzierungen besonders zur Frage der culpa-Grade. Oberbegriff sind die unerlaubten Handlungen. Das meint nicht nur Delikte, sondern dieser Begriff ist hier bei Savigny sehr systematisch weit gefasst als eine „Handlung welche ein Recht verletzt (Recht des Bürgers oder bloß Recht des Staats in der Beobachtung eines verbietenden Gesetzes)“ (S.  86). Solch eine Verletzung könne im „Criminalrecht“ wie im „Civilrecht“ vorkommen, hier „als Quelle von Obligationen“ (S.  86), und zwar selbständigen Obligationen besonders aus Delikt93 und unselbständigen als bloßen „Nebenverbindlichkeiten“.94 Für die Unselbständigen wirkt hier schon der erwähnte Gesichtspunkt der bloßen Umwandlung der Erfüllungspflicht – die so genannte Modifikationslehre.95 91 Pandektenvorlesung, bei Avenarius (Fn.   24), S.  86 f. – Seitenzahlen im Folgenden in Klammern im Text. 92  Heise, Grundriss (Fn.  31) 1.A. 1807, S.  11, auch unter „Unerlaubte Handlungen“, mit „I. Im Allgemeinen“; anders 2. A. 1816 im 3. Buch, Obligationenrecht, dto 3. A. 1819, wo er in Kap.  3 Entstehung unter II . Einseitige Handlungen nur die Überschrift „Unerlaubte Handlungen“ bietet und die Casus-Fälle dort nicht klar erkennbar in seiner bloßen Gliederung mitnimmt. 93  Ebd. S.  86, und siehe ebd. S.  280 die erneute Ausführung zu Unerlaubte Handlungen (unter Entstehung), worauf Savigny auch S.  86 verweist als §§  88–91, die er hier, Heise aber in Kap.  10 des Obl.rechts behandelt, s. Heise, Grundriss (Fn.  31), S.  99 ff. 94  So genannt in Vorlesung S.  86, ähnlich S.  280 („Anhang“, „Ausbildung“ des verletzten Rechts), ebenso in der Gliederung, S. VII und bei Heise, 1. A., S.  32, bei diesem aber enger gefasst. 95  Das wird irreführend vermischt bei Schermaier (Fn.  5) vor §  276 Rn.  26 mit Fn.  166. Savigny behandelt an der angesprochenen Stelle nur Delikte, er bildet dort keine gemeinsame

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Im Zusammenhang hier ist nur wichtig, dass Savigny für alle diese Verletzungen oder unerlaubten Handlungen den gemeinsamen Begriff der Imputation aufstellt, den er anschließend im Rahmen der Freiheitsfrage erläutert und tatbestandlich gliedert: „Die allgemeinen Bedingungen des Daseyns unerlaubter Handlungen gelten für alle jene Ansichten zugleich (sc. d. h. für die Verortung im Kriminalrecht und Zivilrecht) – man kann sie zusammenfassen unter den Begriff der Imputation (…) / Bestandtheile der Imputation: 1.) Das Factum muss zu der physischen Kraft desjenigen, von dessen Obligation die Rede ist, in einem wahren Causalverhältnis stehen (…) 2.) Das Factum muss als seine Handlung betrachtet werden können, d. h. es muss bezogen werden können auf seine Freyheit (…) Dazu gehört zweyerley: a.) Freyheit überhaupt (…) b.) Freyheit in diesem Fall (…) Dieses jetzt näher zu bestimmen.“ (S.  87)

Damit ist die materiale Perspektive benannt, die Wahrung der Freiheit im Rahmen der Zurechnung. Gleich anschließend konkretisiert Savigny das für die verschiedenen „Stufen der Imputation: Dolus, culpa, casus“; der Casus wird in diesem Zusammenhang als „Gegensatz“ und Grenze mitbehandelt.96 Die Grundlage bei den Stufen sei der „Gegensatz von dolus und casus.“ (S.  88) Der Unterschied liegt wieder im Punkte Freiheit: „Nämlich direkte Beziehung der Tat auf die Freyheit, wenn die Verletzung gewollt worden – dolus“ (S.  88), dagegen „[g]ar keine Beziehung auf Freyheit = casus, wobei also der Mensch gar nicht oder doch nicht als freyes Wesen, als Ursache erscheint.“ (S.  90). Deswegen wird Casus auch nur im Fall der „objektiven Unmöglichkeit“ angenommen, nicht für die „subjektive Notwendigkeit oder Unmöglichkeit, d. h. wenn die Erfüllung einer Obligation nur subjektiv unmöglich ist (…), so gilt sie als möglich, folglich die Nichterfüllung nicht als casuell, sondern als imputabel – die Anwendung oft schwierig“ (S.  121 f.), nämlich je nach Art der Obligationen, dandi oder faciendi (S.  122), was er dann näher erläutert. Damit hat Savigny die Folgen von Leistungsstörungen auch material systematisch und prinzipiell abgesichert. Eine Haftung für solche Störungen entsteht nur bei kausalen und „freien“ Störungen, d. h. solchen mit diesem Bezug auf den Willen des Schuldners oder Gläubigers. Das mag vielleicht banal klingen und wurde nicht erst von Savigny dogmatisiert. Aber er hat es wieder in besonders allgemeiner und prägnanter Form getan. Das Prinzip heißt Freiheitswahrung, und nicht nur beim Abschluss von Rechtsgeschäften, sondern auch bei deren Störung: Ich nenne das Freiheitszurechnung. Kategorie der „rechtswidrigen Gesinnung“ für jede Rechtsverletzung. Das ist vielmehr die Imputation, s. sofort. 96 Siehe die Bezeichnung „Gegensatz“ S.   88, auch im kurzen Rückblick Savignys dort S.  120.

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Diese Zurechnung hat mehrere Seiten: Zum einen hat Savigny die Nichtzurechnung bei Zufallsstörungen besonders deutlich herausgearbeitet. Zum anderen haben zusätzliche Verantwortungen, wie sie einer allgemeinen Pflichtendogmatik entspringen können, hier keine materiale Berechtigung. Bekanntlich sind, um es nur ganz allgemein zu sagen, die Verantwortungen für alle möglichen Pflichten über die konkret fassbar gewollten Erfüllungspflichten hinaus inzwischen sehr ausgeweitet worden. Unter dem Prinzip gleiche Freiheit muss dies umso mehr Bedenken erregen, je größer der Abstand zu den fassbaren Leistungsversprechen ist. Je mehr die Freiwilligkeit der Obligationen auf der Ebene der Störung in der Zurechnung schwindet, desto weniger kann die Rede sein von einem gleich-freiheitlichen Privatrecht. Z. B. lassen Normen wie die neuen §§  275 II und III BGB von dem Prinzip einer bloßen Freiheitszurechnung nichts mehr erkennen. Die Leistungsverweigerungsmöglichkeit des Schuldners wird in Absatz II gemessen an besonderem „Aufwand“ und „grobem Missverhältnis zu dem Leistungsinteresse des Gläubigers“. Das Vertreten-müssen ist nur „auch zu berücksichtigen“. Die Verweigerung nach Abs.  3 bemisst sich nach einer „Abwägung“ des Hindernisses (wie soll man eigentlich ein „Hindernis“ abwägen?) mit dem Leistungsinteresse des Gläubigers. Das sind Interessenausgleichsnormen in der Hand des Richters, hier der Schuldneraufwand bzw. das Hindernis, dort das Leistungsinteresse des Gläubigers. Konsequent stellt sich die methodische Figur der „Abwägung“ ein.97 Eine Freiheitszurechnung müsste ziemlich radikal anders ansetzen. Wenn der Schuldner sich seiner zunächst frei eingegangenen Leistungspflicht entziehen will, obwohl die Leistung noch denkbar wäre, müsste es darauf ankommen, ob er ähnlich wie beim Irrtum in Wahrheit gewissermaßen gar nicht frei und zurechenbar gehandelt hat, weil er etwa die Erfüllungspflicht ohne Verschulden völlig falsch eingeschätzt hat. Bei der Störung der Geschäftsgrundlage nach §  313 ist dieser Gesichtspunkt noch beachtet im Hinblick darauf, ob „die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen [sc. hätten,] wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten.“ Dem allen kann hier natürlich nicht näher nachgegangen werden. Es kam nur darauf an, auch die materiale Bedeutung der Leistungstörungsdogmatik bei Savigny, der ihre Systematik so stark und prinzipiell geformt hat, zu zeigen. Sie scheint besonders stark vergessen. Franz Wieacker hat in seiner Privatrechtsgeschichte mit viel Geschick eine große Erzähllinie gezogen, die sehr viel Beachtung gefunden hat. Für ihn oszilliert die neuere Privatrechtsgeschichte, und eigentlich die gesamte neuere Rechtsgeschichte, zwischen Formalismus und Naturalismus.98 Er sieht den 97  Siehe zu deren Charakteristik und Problematik nicht nur im Zivilrecht meine Abhandlung: Abwägung – die juristische Karriere eines unjuristischen Begriffs oder: Normstrenge und Abwägung im Funktionswandel, in: Juristen-Zeitung 66 (2011) S.  913–923. 98  Wieacker (Fn.  2 2), durchgehend, etwa S.  452 f. und S.  563 ff.; s. aber die knappe Zusammenführung an versteckter Stelle S.  437 Fn.  21 a. E.

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„rechtswissenschaftlichen Positivismus“ des 19. Jahrhunderts als „rechtswissenschaftlichen Formalismus“99 „im Gegensatz zum juristischen Naturalismus, welcher Recht als planmäßiges Mittel zur Befriedigung wirtschaftlicher, sozialer oder politischer Zwecke der einzelnen, der Gruppen oder der Gesamtgesellschaft versteht und den Inhalt der Entscheidung von diesen Zwecken abhängig macht.“100 In dieser Erzähllinie stehen wir also trotz einiger Unannehmlichkeiten mit diesem Naturalismus doch nach wie vor in einem „juristischen Utilitarismus“, wie ihn Wieacker 1967 als Zeittendenz bezeichnet hatte. Es sei „das Gegenbild des rigorosen und pharisäischen Individualismus des mittleren 19. Jahrhunderts“, der „im letzten Grunde seine Grundlage in der naturalistischen Auffassung“ habe, „daß auch das Privatrecht außerhalb seiner selbst gelegenen gesellschaftlichen Zwecken zu dienen habe.“ Fazit: „Diese Auffassung ist natürlich zutreffend, aber sie ist nicht die ganze Wahrheit.“101 Wo auch die „ganze Wahrheit“ liegen mag, in der Logik dieser Sozialethik102 konnte auch die Frage der Zurechnung von Leistungsstörungen zu einem Problem des Interessenausgleichs statt einer Frage von Freiheitszurechnung werden.

VI.  Eine pandektistische Leistungstörung? Hatten die Pandektenwissenschaftler also eine ‚Leistungsstörung‘ im eingangs erwähnten zweiten Sinne als sie die moderne Dogmatik der Leistungsstörungen erarbeiteten? Nach meinen Ergebnissen gewiss nicht. Was war also eigentlich an der Pandektenwissenschaft so pandektistisch im Sinne der eingangs zusammengestellten Polemik? Man muss wohl sagen: nichts. Die Pandektistik war nicht Pandektistik, sondern Pandektenwissenschaft im besten wissenschaftlichen und rechtswissenschaftlichen Sinne. Sie hat dem Leistungsstörungsrecht eine wohldurchdachte, wertungsstimmige, präzise und systematisch intensiv durchgeformte Dogmatik gegeben. Das entsprach ihrem Bestreben, möglichst viel Rechtsgewissheit, Rechtssicherheit, Freiheit und Gleichheit durch möglichst allgemeine Normen, sowie emanzipatorische Hilfe 99  Prägnant S.  432: „Da er aus dem erkenntniskritischen Formalismus Kants hervorgegangen ist (…) wäre er viel treffender als rechtswissenschaftlicher Formalismus zu kennzeichnen.“ Dass dabei ein bestimmtes Kant-Verständnis vorausgesetzt ist, das zwar in den 1920er und 1930er Jahren verbreitet war, aber weder für Kant noch vor allem für das 19. Jahrhundert zutrifft, kann hier nur gestreift werden. Eingehend dazu meine Untersuchung: Kant-Rezeption in juristischer und politischer Theorie (Naturrecht, Rechtsphilosophie, Staatslehre, Politik) des 19. Jahrhunderts, in: John Locke und/and Immanuel Kant. Historische Rezeption und gegenwärtige Relevanz, hg. von M. P. Thompson, Berlin 1991, S.  144–215, jetzt auch in meinen Ausgewählte Aufsätze in 2 Bänden, Keip-Stockstadt 2012. Dennoch hat natürlich die Gegenüberstellung von Formalismus und Naturalismus eine gewisse Faszination. 100  Ebd. S.  437 Fn.  21 a. E. 101  Alles S.  5 40. 102 Ebd.

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durch spezielle Normen, und damit zuletzt Gerechtigkeit, zu institutionalisieren. Dass vieles davon nicht loyal oder gar missgünstig verstanden und zum „Formalismus“ herabgeredet wurde, war keine Methoden- oder gar Qualitätsfrage, sondern Ausdruck eines anderen politischen Geistes. Diesem anderen Geist kam es auf das Prinzip gleiche Freiheit im Privatrecht nicht mehr an. Das zeigt sich besonders eindrücklich, wenn man auch die materiale Seite des Leistungsstörungsrechts beachtet, so abstrakt und geradezu lebensfern auch diese Dogmatik zunächst erscheinen mag.

Pandektistik und Prozessrecht Thomas Rüfner I. Einleitung Das Prozessrecht ist zu allen Zeiten in besonderer Weise auf gesetzliche Festlegungen angewiesen. Überdies ist seine Auslegung und Fortbildung zwangsläufig von der Praxis der Gerichte geprägt. Schon deshalb scheint für den Einfluss der Rechtswissenschaft nur vergleichsweise wenig Raum zu bleiben. Erst recht ist schwer vorstellbar, dass die nach landläufiger Vorstellung begrifflich und formalistisch orientierte, „vom Lebensgrund abgelöst“1 räsonierende, pandektistische Jurisprudenz maßgeblichen Einfluss auf dieses Rechtsgebiet erlangt haben könnte. Für das gemeine deutsche Zivilprozessrecht des 19. Jahrhunderts steht überdies fest, dass es nicht allein von den Normen des rezipierten römischen Rechts, sondern in hohem Maß von Vorschriften des kanonischen Rechts und der Gesetzgebung des alten Reichs geprägt war. Die für die so genannte Pandektistik typische und namensgebende Konzentration auf das römische Recht und die Quellen des justinianischen Corpus Iuris kam daher von vornherein nicht in Betracht 2 . Aus diesen Gründen ist das Zivilprozessrecht auf den ersten Blick ein wenig naheliegender Kandidat für die Suche nach Einflüssen der als pandektistisch bezeichneten Rechtswissenschaft auf die Entwicklung des ‚law in action‘ des 19. Jahrhunderts. Dem entspricht es, dass die juristische Oktingentistik 3 sich 1 

Franz Wieacker, Privatrechtgeschichte der Neuzeit, 2. Auflage, Göttingen 1967, S.  401. Knut Wolfgang Nörr, Wissenschaft und Schrifttum zum deutschen Zivilprozeß im 19. Jahrhundert, in: Ius Commune 10 (1983) S.  141–199 mit Hinweis auf die „häufige römischrecht­liche Kopflastigkeit mancher prozessualer Arbeiten“ (S.  149) und das sich aus der Bedeutung des Gerichtsgebrauchs ergebende „Dilemma“ (S.  147), ebenso bereits ders., Zur Historischen Schule im Zivilprozeß- und Aktionenrecht, in: Tradition und Fortschritt im Recht, hrsg. von Joachim Gernhuber, Tübingen 1977, S.  73–89, dort S.  78 und 79; beide Beiträge jetzt in Knut Wolfgang Nörr, Iudicium est actus trium personarum, Goldbach 1993, S.  189–247 und 155–180. 3  Der Ausdruck sei in Anlehnung an die italienische ottocentistica vorgeschlagen als Bezeichnung für die Erforschung der Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts, sei es aus germanistischer oder aus romanistischer Perspektive. 2 Vgl.

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hauptsächlich mit der Gesetzgebung zum Zivilprozessrecht4 und den rechtspolitischen Debatten in deren Vorfeld5 , aber nur selten mit den Beiträgen der Rechtslehre zur Fortentwicklung des Verfahrensrechts auseinandergesetzt hat6 . Jedoch hat kürzlich Steffen Schlinker die Vermutung formuliert, das Prozess­ recht des 19. Jahrhunderts sei „vermutlich ebenso wie das Privatrecht viel stärker von der historischen und pandektistischen Jurisprudenz beeinflusst, als bisher vermutet“7. Im Folgenden soll es darum gehen, der Vermutung, dass es auch im Prozessrecht einen „pandectistic turn“8 gab, anhand von drei Beispielen nachzugehen.

II.  Drei Beispiele 1.  Die Ausschließlichkeit des dinglichen Gerichtsstandes Zunächst sei die im 19. Jahrhundert diskutierte Frage behandelt, ob der dingliche Gerichtsstand als ausschließlicher Gerichtsstand zu verstehen war oder aber nach Wahl des Klägers als Alternative zum allgemeinen Gerichtsstand am Wohnort des Beklagten zur Verfügung stand. Das Problem ergab sich aus der Fassung der existierenden römischen Quellenaussprüche zum Thema. An erster Stelle ist ein Text des spätklassischen Juristen Licinnius Rufinus zu nennen: 4  Gerhard Dahlmanns, Der Strukturwandel des deutschen Zivilprozesses im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte der ZPO an Hand ausgewählter Gesetzgebungsarbeiten, Aalen 1971; Knut Wolfgang Nörr, Hauptthemen legislatorischer Zivilprozeßreform im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Zivilprozeß 87 (1974), S.  257–263 (= Iudicium est actus trium personarum [wie Fn.  2] S.  173–180); Werner Schubert, Die Entstehung der Civilprozeßordnung von 1877, in: Entstehung und Quellen der Civilprozeßordnung von 1877, Band 1, hrsg. von Werner Schubert, Frankfurt 1987, S.  1–33; Martin Ahrens, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess. Einhundert Jahre legislative Reform des deutschen Zivilverfahrensrechts vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zur Verabschiedung der Reichszivilprozessordnung, Tübingen 2007. 5 Dazu Stephan Meder, Wie „geschichtlich“ ist die Historische Rechtschule? Der römische Formularprozeß und die Forderungen zur Reform des Prozeßrechts um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Römische Jurisprudenz – Dogmatik, Überlieferung, Rezeption. Festschrift für Detlef Liebs zum 75. Geburtstag, hrsg. von Karlheinz Muscheler, Berlin 2011, S.  243–275, 243 f. 6 Vgl. zur gemeinrechtlichen Wissenschaft außer den in Fn.   2 genannten Arbeiten von Knut Wolfgang Nörr noch ders., Aus dem Aktionenrecht der Historischen Schule, insbesondere bei Savigny, in: Festschrift für Werner Flume zum 70. Geburtstag, Band 1, Köln 1978, S.  191–198 (= Iudicium est actus trium personarum [wie Fn.  2] S.  173–180); Ernest Metzger, Roman Judges, Case Law, and Principles of Procedure, in: Law and History Review 22 (2004), S.  243–275. 7  Steffen Schlinker, Litis Contestatio. Eine Untersuchung über die Grundlagen des gelehrten Zivilprozesses in der Zeit vom 12. bis zum 19. Jahrhundert, Frankfurt 2008, S.  526. 8  Der Ausdruck findet sich bei Florencia Benitez-Schaefer, Plurality in Legal Development, Wien (diss. iur.) 2012, S.  15.

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Licinnius Rufinius 4 reg D. 5, 1, 38 Quod legatur, si quidem per Ein vermachter Gegenstand muss, wenn er personalem actionem exigetur, mit der persönlichen Klage gefordert wird, ibi dari debet ubi est, nisi si dolo dort geleistet werden, wo er sich befindet, somalo heredis subductum fuerit: fern er nicht durch Arglist des Erben fortgetunc enim ibi dari debet ubi pe- schafft wurde. Dann nämlich muss er geleistitur. praeterea quod pondere tet werden, wo er eingeklagt wird. Außeraut numero aut mensura conti- dem muss ein Vermächtnis, das nach netur, ibi dari debet ubi petitur, Gewicht, Zahl oder Maß bestimmt ist, dort nisi si adiectum fuerit „centum geleistet werden, wo es eingeklagt wird, somodios ex illo horreo“ aut „vini fern nicht hinzugefügt wurde „hundert amphoras ex illo dolio“. si au- Scheffel aus dem und dem Speicher“ oder tem per in rem actionem lega- „Amphoren Wein aus dem und dem Fass“. tum petetur, etiam ibi peti debet Wird aber das Vermächtnis mit der dingliubi res est. et si mobilis sit res, chen Klage eingeklagt, dann muss es auch ad exhibendum agi cum herede dort eingeklagt werden, wo sich die Sache poterit, ut exhibeat rem: sic befindet. Und wenn die Sache beweglich ist, enim vindicari a legatario pote- kann man gegen den Erben auf Vorlegung rit. klagen, damit er die Sache vorlegt. Dann erst kann sie nämlich durch den Vermächtnisnehmer vindiziert werden. Das Fragment beschäftigt sich in verschiedenen Varianten mit Fragen des Erfüllungsortes und der gerichtlichen Zuständigkeit beim Vermächtnis, das nach justinianischem Recht wahlweise mit einer persönlichen Klage oder mit der Vindikation durchgesetzt werden konnte9. Für die Diskussion um den dinglichen Gerichtsstand ist der vorletzte Satz relevant10 . Dort findet sich die Formulierung, ein Vermächtnis müsse, wenn es mit der dinglichen Klage durchgesetzt werden soll, an dem Ort eingeklagt werden, an dem sich die Sache befindet. Die Verwendung des Verbums debere (müssen) spricht dafür, den Gerichtsstand am Belegenheitsort als ausschließlich anzusehen. Zwar enthält der Text das Wort etiam (auch), doch muss dieses Wort nicht so verstanden werden, dass der dingliche Gerichtsstand zusätzlich zum allgemeinen Gerichtsstand gewährt wird. Das „auch“ kann, wie in der oben vorgelegten Übersetzung auf den Gleichlauf von Belegenheitsort und Gerichtsort bezogen werden. Wo sich der Vermächtnisgegenstand befindet, dort muss das Vermächtnis auch eingeklagt werden. In eine andere Richtung deutet indessen eine Kaiserkonstitution aus dem vierten Jahrhundert, die Eingang in den justinianischem Codex fand. 9 

C. 6, 43, 1, 1 (529). Bedeutung des Fragments im Übrigen aus romanistischer Sicht Thomas Rüfner, Vertretbare Sachen?, Berlin 2000, S.  65–69; Mario Varvaro, Per la storia del certum. Alle radici della categoria delle cose fungibili, Torino 2008, S.  111, 125. 10  Zur

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C. 3, 19, 3 (Gratian, Valentinian II. und Theodosius I., 385) Actor rei forum, sive in rem sive Der Kläger folgt dem Beklagten an dessen in personam sit actio, sequitur. Gerichtsstand – gleich ob die Klage dinglich sed et in locis, in quibus res oder persönlich ist. Aber auch an den Orten, propter quas contenditur consti- an denen sich die Sachen, wegen derer getutae sunt, iubemus in rem acti- stritten wird, befinden, soll, so befehlen wir, onem adversus possidentem die dingliche Klage gegen den Besitzer erhoben werden. moveri. Nach diesem Text wird der dingliche Gerichtsstand durch kaiserlichen Befehl zusätzlich zum Gerichtsstand des Beklagten gewährt. Der allgemeine Gerichtsstand am Wohnort des Beklagten11 soll ausdrücklich auch für actiones in rem gelten. Demnach wäre der dingliche Gerichtsstand nicht ausschließlich. Außerhalb des justinianischen Corpus ist eine Konstitution der Kaiser Diocletian und Constantius aus dem Jahr 293 überliefert. Sie gehört zu den 1820 wiederentdeckten Fragmenta Vaticana. Der für den dinglichen Gerichtsstand relevante Abschnitt lautet wie folgt: Frag. Vat. 326 (Diocletian und Constantius, 293) Actor rei forum, sive in rem sive Der Kläger folgt dem Beklagten an dessen in personam sit actio, sequitur. Gerichtsstand – gleich ob die Klage dinglich unde perspicis non eiusdem pro- oder persönlich ist. Daraus kannst du ersevinciae praesidem adeundum, hen, dass nicht der Statthalter der Provinz de quibus agitur res ubi sitae angerufen werden muss, in der sich die Sasunt, sed in qua is qui possidet chen befinden, um die gestritten wird, sondern der Provinz, in der der Besitzer seinen sedes ac domicilium habet. … Sitz und seine Wohnung hat. … Die Konstitution ist in der Formulierung zu Anfang identisch mit C. 3, 19, 3, gewährt aber im Gegensatz zu der in den justinianischen Codex aufgenommenen Kaiserkonstitution keinen besonderen Gerichtsstand am Belegenheitsort, sondern schärft nur ein, dass auch eine dingliche Klage am Wohnsitz des Beklagten zu erheben ist. Für das gemeine Recht sind nur die in die justinianische Sammlung aufgenommenen Texte unmittelbare Rechtsquellen. Überdies konnte die in den Fragmenta Vaticana enthaltene Konstitution die gemeinrechtliche Entwicklung nicht beeinflussen, weil sie erst 1820 wieder aufgefunden wurde. In der älteren Literatur des Ius Commune war die Frage aufgrund der widersprüchlichen und unklaren Aussprüche der justinianischen Quellen streitig. Die herrschende Lehre sprach sich seit dem Mittelalter gegen die Ausschließlichkeit des forum rei 11 

Vgl. C. 3, 13, 2 (293).

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sitae aus12 , doch gab es prominente Anhänger der Gegenmeinung, die namentlich von Hugo Donellus13 vertreten wurde und der sich im 19. Jahrhundert Thibaut anschloss14. Bereits im Jahr 1825 – fünf Jahre nach Auffindung der Fragmenta Vaticana und drei Jahre nach Erscheinen der Editio princeps – nahm der Bonner Prozessualist August Wilhelm Heffter (1796–1880) auf die Konstitution Bezug. Nach seiner Darstellung wird das forum rei sitae in der zeitgenössischen Praxis als ausschließlicher Gerichtsstand angesehen. Dies entspreche jedoch nicht dem antiken römischen Recht: Der neu aufgefundenen Konstitution Frag. Vat. 326 entnimmt Heffter, dass das forum rei sitae noch unter Diokletian unbekannt war und erst nach dessen Regierungszeit durch die in C. 3, 9, 13 enthaltene Konstitution anerkannt wurde. Zu einem ausschließlichen Gerichtsstand sei der dingliche Gerichtsstand erst durch das kanonische Recht geworden15. Die aus viel früherer Zeit stammende Digestenstelle D. 5, 1, 38 deutet Heffter als Sonderregel für erbrechtliche Ansprüche16 . Insgesamt erscheint die Bemerkung zur Ausschließlichkeit des dinglichen Gerichtsstandes als rechtshistorischer Exkurs. Frag. Vat. 326 und die übrigen Quellen werden zur Erklärung der geschichtlichen Entwicklung herangezogen. Für die Gegenwart verbleibt es aber bei dem durch das kanonische Recht und die neuere Praxis entstandenen Rechtszustand: Das forum rei sitae ist exklusiv. Von einer pandektistischen Nachrezeption römischer Rechtsnormen kann nicht die Rede sein. Zwei Jahre später korrigierte und präzisierte Heffter seine Überlegungen in einem Aufsatz im Archiv für die civilistische Praxis: Heffter stellte Frag. Vat. 326 nun als „den bestimmtesten Beweis des frühern Rechts“ heraus, das ein forum rei sitae nicht gekannt habe17. Entgegen seiner früheren Darstellung wollte Heffter nun auch C. 3, 19, 3 keine generelle Anerkennung des forum rei sitae mehr entnehmen18 und erkannte D. 5, 1, 38 nicht mehr als Ausnahmebestim12  Vgl. nur die accursische gl. Etiam ibi ad D. 5, 1, 38 (in der Ausgabe des Digestum vetus, Venetiis 1488, f. 104vb) und Christian Friedrich Glück, Ausführliche Erläuterung der Pandecten, Bd. 6,1, Erlangen 1800, §  515, S.  288–290 mit Nachweisen zum Meinungsstand der gemeinrechtlichen Literatur seit dem 16. Jahrhundert. 13  Hugo Donellus, Commentarii de iure civili, Lib. 17, Cap.  17, §§  5 –14, in der 6. Ausgabe von Johann Christoph König und Karl Bucher, Norimbergae 1828, S.  196–209. 14  Anton Friedrich Justus Thibaut, System des Pandekten-Rechts, Bd. 3, 4. Auflage, Jena 1814, §  1082, S.  29. 15  Der von Heffter als Beleg angeführten Dekretale X 2, 2, 3 lässt sich diese Aussage nicht unmittelbar entnehmen. 16  August Wilhelm Heffter, Institutionen des römischen und teutschen Civil-Processes, Bonn 1825, S.  143 f. 17  August Wilhelm Heffter, Ueber den Gerichtsstand der gelegenen Sache und Frage: Kann bey dem persönlichen Richter des Beklagten dieser eine Realklage als Reconventio anstellen? Und umgekehrt, eine persönliche Klage gegen eine Realklage?, in: Archiv für die civilistische Praxis 10 (1827), S.  201–217, S.  202. 18  Heffter (wie Fn.  17), S.  202 f.

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mung für erbrechtliche Ansprüche an19. Nach der von Heffter vertretenen Auffassung wurde das forum rei sitae auch im justinianischen Recht20 nur unter einschränkenden Voraussetzungen und nur als konkurrierender, nicht als exklusiver Gerichtsstand anerkannt. Im Hinblick auf die neuere Rechtsentwicklung bemerkte Heffter, die „Erklärer des römischen Rechts in neuerer Zeit“ seien „mit diesem Resultate durchaus nicht einverstanden“ – zunächst ohne klarzustellen, dass die vorherrschende gemeinrechtliche Lehre vom nicht-exklusiven Charakter des forum rei sitae ausging21. Zudem stellte Heffter heraus, dass die deutsche Rechtstradition den dinglichen Gerichtsstand als ausschließlich betrachtete und dass in verschiedenen deutschen Territorien entsprechende gesetzliche Regelungen bestanden 22 , und erwähnte eine in diese Richtung weisende Vorschrift des Liber Extra 23. Im Hinblick auf diesen Befund kommt Heffter zu der Forderung „dort wo eine bestimmte Beybehaltung des Germanischen Princips nicht nachgewiesen werden kann“, müsse das römische Recht und damit das Wahlrecht des Klägers zwischen dem forum domicilii und dem forum rei sitae anerkannt werden 24. Letztlich bleibt die Bedeutung der neu gefundenen Konstitution für den Gedankengang Heffters geringer als seine Wortwahl suggeriert: Der Text scheint in der Tat zu belegen, dass der dingliche Gerichtsstand dem älteren Kaiserrecht noch unbekannt war. Daraus kann geschlossen werden, dass dieser dingliche Gerichtsstand durch die in den Codex aufgenommenen Konstitution C. 3, 19, 3 erst eingeführt wurde und dass der Hinweis auf ihn in D. 5, 1, 38 nicht aus klassischer Zeit stammen kann, sondern später interpoliert worden sein muss. Für die Frage, ob der dingliche Gerichtsstand, als er später eingeführt wurde, als ausschließlicher oder konkurrierender Gerichtsstand eingeführt wurde, lässt sich allein aus dieser Erkenntnis aber nichts gewinnen. Ungeachtet dessen fand Heffters Argumentation mit Frag. Vat. 326 bald einen prominenten Anhänger: 1829 stellte Carl Joseph Anton Mittermaier (1787–1867) die Frage: „Was hat der deutsche Prozeß im Ganzen und im Detail durch die neuere doctrinelle und legislative Behandlung gewonnen?“25 Dabei führte er zur Frage des forum rei sitae aus: „Je weiter man zurückgeht, um den vollen Zusammenhang der alten Quellen zu gewinnen, desto sicherer ist die Grundlage; wenn man z. B. in der bekannten Streitfrage: ob das forum rei sitae exclusivum bei den Römern war, sich mit Erläuterungen von Pandekten19 

Heffter (wie Fn.  17), S.  203 f. Heffter (wie Fn.  17), S.  202 Fn.  2 und 3 verweist auf C. 3, 19, 2 (331) und Justinians Nov. 69, 1 (538). 21  Heffter (wie Fn.   17), S.  207; erst auf S.  8 wird nachgeschoben, dass „gewiß auch die Mehrzahl“ der „angesehenern Praktiker“ für die Konkurrenz sei. 22  Heffter (wie Fn.  17), S.  208. 23  Heffter (wie Fn.  17), S.  208 zu X 2, 2, 3. 24  Heffter (wie Fn.  17), S.  209. 25  Archiv für die civilistische Praxis 12 (1829), S.  133–160, S.  144. 20 

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Frag­menten quälte, um die exclusive Natur zu beweisen, so liefert eine Stelle in den neuentdeckten vatikanischen Fragmenten jetzt den Beweis, daß dem älteren römischen Rechte dies ganze forum rei sitae fremd war, und dadurch ein Argument gegen den Willen der Römer, dies forum als exklusiv zu erklären.“

Obgleich Mittermaier diese Bemerkung nicht mit einer Fußnote versieht, scheint klar, dass er sich auf Heffter bezieht. Seine zugespitzte Formulierung lässt Frag. Vat. 326 für die Entscheidung der alten Streitfrage noch bedeutender erscheinen als die Darstellung Heffters. In der weiteren Entwicklung setzte sich die von Heffter und Mittermeier verfochtene Sicht nicht durch. Nach §  24 ZPO gilt der dingliche Gerichtsstand abweichend von der gemeinrechtlichen Tradition nur für unbewegliche Sachen und ist ein ausschließlicher Gerichtsstand. §  24 ZPO geht auf §  25 der Reichscivilprozeßordnung (CPO) von 1877 zurück, dieser auf eine entsprechende Vorschrift im so genannten hannoverschen Entwurf einer allgemeinen Civilprozeßordnung für die deutschen Bundesstaaten von 1866. Bei den Beratungen in Hannover beantragte ein Kommissionsmitglied, den dinglichen Gerichtsstand als Wahlgerichtsstand auszugestalten, weil „es sich nicht empfehle, abweichend vom gemeinen Recht, den Gerichtsstand der belegenen Sache zu einem ausschließlichen 26 zu machen“27. Die Kommissionsmehrheit stimmte gegen den Antrag und hielt dem Antragsteller vor allem „völkerrechtliche Rücksichten“28 entgegen. Man befürchtete, dass die Gestaltung des dinglichen Gerichtsstandes als Wahlgerichtsstand zur Anerkennung ausländischer Urteile über im Inland belegene Grundstücke zwingen könnte. „[W]enn man daher auf gemeinsame Gerichtsstände und die gegenseitige Vollstreckbarkeit der auf Grund dieser Gerichtsstände gefällten Urtheile in sämmtlichen deutschen Staaten nicht verzichten wolle, so müsse man in der Proceßordnung den Gerichtsstand der belegenen Sache bei unbeweglichen Gütern als einen ausschließlichen hinstellen“29. Zusätzlich berief sich die Kommissionsmehrheit auf gesetzliche Regelungen in mehreren deutschen Ländern und auf die Anerkennung des forum rei sitae als eines ausschließlichen Gerichtsstandes „im canonischen und ältern deutschen Rechte“30 . Obgleich die bei den Beratungen in Hannover angeführten „völkerrechtlichen Rücksichten“ vor allem im Hinblick auf das Ziel einer gemeinsamen Prozessordnung für die souveränen Mitgliedsstaaten des deutschen Bundes Bedeu-

26 

Im Original gesperrt. der Commission zur Berathung einer allgemeinen Civilprozeßordnung für die deutschen Bundesstaaten, hgg. von Werner Schubert, Bd. 2, Frankfurt 1985, S.  437 (34. Sitzung am 21.11.1862). 28  Protocolle (wie Fn.  27), S.  437. 29  Protocolle (wie Fn.  27), S.  438. 30  Protocolle (wie Fn.  27), S.  438. 27  Protocolle

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tung hatten, blieb man bei der Schaffung der CPO bei der Regelung des hannoverschen Entwurfs. Heffters Argumentation auf der Grundlage einer neu aufgefundenen Quelle, kann man als konkrete Umsetzung von Savignys Postulat verstehen, „jeden gegebenen Stoff bis zu seiner Wurzel zu verfolgen“31 und „in den Quellen des Römischen Rechts wahrhaft einheimisch“32 zu werden. Dass Heffter einer nicht rezipierten antiken Kaiserkonstitution ausschlaggebende Bedeutung für einem Meinungsstreit zum zeitgenössischen Prozessrecht beimaß und zugleich die kanonischen Quellen und die deutsche Rechtstradition zurücktreten ließ, kann man als kennzeichnend für eine in pandektistischer Einseitigkeit auf das antike römische Recht ausgerichtete Rechtslehre ansehen. Angesichts der späteren gesetzgeberischen Entscheidung für die Exklusivität des forum rei sitae kann aber von einem nachhaltigen Einfluss einer romanistischen oder pandektistischen Rechtslehre auf die Praxis des Zivilprozesses in diesem Punkt keine Rede sein. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass auch der Germanist und Strafrechtsreformer Mittermaier durch die neu entdeckte Konstitution den Meinungsstreit für entschieden hielt. Auch dieser des Pandektismus eigentlich unverdächtige Prozessrechtler hielt es für möglich, dass ein Quellenfund ganze Bibliotheken zu Makulatur werden lassen konnte. Damit wird Mittermaier nicht zum Pandektisten. Die Anziehungskraft der historischen Rechtsschule und ihrer Methodik wird indes durch das Beispiel eindrucksvoll illustriert. Dies gilt gerade deshalb umso mehr, weil die neu entdeckte Konstitution objektiv betrachtet zum Streit um die Exklusivität des forum rei sitae nur wenig beizutragen hatte.

2.  Der Zeitpunkt der litis contestatio Als zweites Beispiel sei der juristische Streit um den Zeitpunkt der Rechtshängigkeit der Klage betrachtet. Gerade im Hinblick auf diese Problematik hat Schlinker seinen Verdacht geäußert, dass der Einfluss der Pandektistik auf das Prozessrecht bislang unterschätzt worden sei33. Historischer Vorläufer des Instituts der Rechtshängigkeit ist die litis contestatio des römischen Rechts. Der Ausdruck bezeichnet im römischen Formularprozess den Abschluss der ersten Verfahrensphase vor dem Gerichtsmagistrat (in iure): Im Moment der litis contestatio ist die Klageformel erteilt und der Richter ernannt. 31  Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, S.  117 (zitiert nach Jacques Stern [Hg.], Thibaut und Savigny, Darmstadt 1959). 32  Savigny (wie Fn.  31), S.  120. 33  Vgl. oben Fn.  7.

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Die römischen Juristen knüpften verschiedene prozessuale und materielle Wirkungen an die litis contestatio. Mit ihr lag der Klagegrund, die actio, auf die der Anspruch gestützt wurde, fest34. Von der litis contestatio an haftete der Beklagte bei der Vindikation verschärft 35. Außerdem galt die eingeklagte Sache als streitbefangen und konnte vom Beklagten nicht mehr ohne weiteres veräußert werden 36 . Soweit Klagen zeitlich befristet waren, fiel diese Befristung mit der litis contestatio weg37. Eine allgemeine Klagenverjährung wurde erst in der Spätantike eingeführt38 , doch entnahm die gemeinrechtliche Lehre den Äußerungen der klassischen römischen Juristen zu den zeitlich befristeten Klagen, dass die Unterbrechung der Verjährung allgemein eine Wirkung der litis contestatio gewesen sei39. Für das spät- und nachklassische römische Recht ergab sich das Problem, dass infolge der Veränderung des Verfahrensablaufs nicht mehr ohne weiteres klar war, an welchem Punkt des Verfahrens die litis contestatio anzunehmen war. Die alte Zweiteilung des Verfahrens war zugunsten eines einphasigen Prozesses, der von seinem Beginn bis zum Ende vor einem kaiserlichen Beamten durchgeführt wurde, aufgegeben worden (Kognitionsverfahren) 40 . Um die Regeln, die bestimmte Rechtsfolgen an die litis contestatio knüpften, weiter anwenden zu können, musste ein Verfahrenszeitpunkt gefunden werden, von dem an die litis contestatio als vollzogen angenommen wurde. Im justinianischen Codex findet sich dazu eine für sich betrachtet eindeutige Aussage: C. 3, 9, 1 (Septimius Severus und Caracalla, 211) Res in iudicium deducta non Eine Sache ist ersichtlich nicht rechtshängig, videtur, si tantum postulatio wenn nur ein einfacher Antrag [auf Zustelsimplex celebrata sit vel actio- lung der Klageschrift] gestellt wurde oder die nis species ante iudicium reo Art der beabsichtigten Klage vor dem Procognita. inter litem enim cont- zess dem Beklagten mitgeteilt wurde. Denn estatam et editam actionem zwischen der Streitbefestigung und der Bepermultum interest. lis enim kanntgabe der Klage besteht ein großer Untunc videtur contestata, cum terschied. Der Streit ist nämlich ersichtlich iudex per narrationem negotii erst dann befestigt, wenn der Richter die Ancausam audire coeperit. hörung zur Sache mit Schilderung des Sachverhalts [durch die Parteien] eröffnet hat. 34 Max Kaser, Karl Hackl, Das römische Zivilprozeßrecht, 2. Auflage, München 1996, S. 296. 35 

Vgl. D. 6, 1, 20. C. 8, 36, 2 (331); Kaser/Hackl (wie Fn.  34), S.  298. 37  Z. B. D. 12, 2, 9, 3; vgl. Kaser/Hackl (wie Fn.  34), S.  296. 38  Dazu und zur Unterbrechung der Verjährung durch Klageerhebung Kaser/Hackl (wie Fn.  34), S.  594 f. 39  Vgl. nur Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 5, Berlin 1841, S.  316. 40  Kaser/Hackl (wie Fn.  34), S.  519 f. 36 

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Das Reskript der Kaiser Septimius Severus und Caracalla, das von Kaiser Justinian in seinem Codex aufgenommen wurde, legt fest, dass im Kognitionsverfahren die litis contestatio anzunehmen ist, wenn beide Parteien die Sache dem Richter vorgetragen haben, wenn sich also der Beklagte zur (mündlichen) Verhandlung eingelassen hat. Die mögliche Alternative, dass bereits der Einleitung des Ladungsverfahrens durch die sogenannte postulatio simplex oder die Bekanntmachung der beabsichtigten Klage an den Beklagten (editio actionis) als litis contestatio im neuen Verfahrensmodell anzusehen sei, wird ausdrücklich verworfen. Für die Juristen des gemeinen Rechts war die Lage dennoch unklar, denn eine Reihe von römischen und kanonischen Quellen knüpften einzelne Wirkungen der litis contestatio an andere Zeitpunkte, insbesondere schon an die Zustellung der Klageschrift an41 – oder ließen sich zumindest in diesem Sinn verstehen. Die Mehrzahl der deutschen Juristen zu Beginn des 19. Jahrhunderts betrachtete die erwähnten Vorschriften als Ausnahmen von dem in C. 3, 9, 1 niedergelegten Grundsatz, dass erst die Einlassung des Beklagten den Zeitpunkt der litis contestatio markierte42 . Savigny erörterte die einzelnen Wirkungen der litis contestatio in seinem System ausführlich, stellte die Meinungen der zeitgenössischen Juristen dar und ging insbesondere auf die Auffassung ein, die litis contestatio sei im modernen Recht generell schon mit der Zustellung (Insinuation) der Klage an den Beklagten anzunehmen. Dieser Auffassung schloss er sich an: „Ich erkläre mich aus den schon entwickelten Gründen, in offener Anerkennung des neu eingetretenen unabweislichen Bedürfnisses für die zweite Meinung und nehme daher die Insinuation der Klage als das heutige Surrogat der Römischen L.[itis] C.[ontestatio] an, so daß von der Insinuation an alle materiellen Wirkungen eintreten müssen, welche das R.[ömische] R.[echt] an die L. C. knüpft. Hierin liegt das einzige durchgreifende Mittel, den Anspruch des Klägers auf die schützenden Vorschriften, welche das R. R. an die L. C. knüpft, gegen die verzögernde Willkür des Beklagten zu sichern, für welchen Zweck außerdem der heutige gemeine Prozeß keine ausreichende Hülfe gewährt.“43

Savigny identifiziert zwar die Klagezustellung nicht mit der litis contestatio des römischen Rechts, sieht sie aber allgemein als deren Surrogat an, so dass alle Folgen der litis contestatio grundsätzlich schon mit Klagezustellung eintreten. Das soll ausdrücklich auch für solche Rechtsfolgen der litis contestatio gelten, 41  So C. 7, 39, 3 (424) und C. 7, 39, 7 pr. und 5 (525) für die Verjährungsunterbrechung; Nov. 112, 1 (541) und Clem. 2, 5, 2 für das Veräußerungsverbot. Vgl. auch Kaser/Hackl (wie Fn.  34), S.  594. 42  In diesem Sinne Christoph Martin, Lehrbuch des teutschen gemeinen bürgerlichen Processes, 11. Auflage, Heidelberg 1834, S.  260 und 268; Christian Friedrich Mühlenbruch, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd.  1, 2.  Auflage, Halle 1837, S.  264 f.; vgl. die Darstellung des Meinungsstandes bei Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd.  6 , Berlin 1847, S.  242 f. 43  Savigny (wie Fn.  42), S.  243.

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für die sich eine solche Vorverlegung des maßgeblichen Zeitpunktes nicht aus spätantiken oder mittelalterlichen Quellen herleiten lässt. Insbesondere soll die verschärfte Haftung des Vindikationsbeklagten nach Savigny mit der Insinuation eintreten, obwohl er betont, dass diese Auffassung in den Quellen keine Stütze habe44. Bemerkenswert ist nicht allein, dass Savigny sich für die generelle Vorverlagerung der litis contestatio auf den Zeitpunkt der Klagezustellung ausspricht und damit C. 3, 9, 1 für nicht mehr anwendbar erklärt, sondern vor allem die Begründung dafür. Ausschlaggebend ist für Savigny das praktische Bedürfnis, unter den veränderten prozessrechtlichen Bedingungen den Zeitpunkt der litis contestatio möglichst früh anzunehmen. Der Beklagte soll nicht die Möglichkeit erhalten, durch Verzögerung der Einlassung auf die Klage den Zeitpunkt hinauszuzögern, von dem an der Kläger durch die verschärfte Haftung des Beklagten und andere früher an die litis contestatio geknüpfte Rechtsvorteile begünstigt wurde. Savigny legt offen, dass für ihn weder die Quellenanalyse, noch eine begriffliche Ableitung entscheidend sind. Kurze Zeit nach Savigny äußerte sich der Prozessrechtler Georg Wilhelm Wetzell (1815–1890) ganz ähnlich: Nach Wetzell ist die Insinuation der Klage im Hinblick auf alle rechtlichen Vorteile des Klägers der litis contestatio „substituiert“45. Für die Ansicht beruft sich Wetzell auf Savigny und die „Praxis“, fügte jedoch hinzu: „Insofern dagegen die Einleitung des Verfahrens den Verklagten berechtigt, die Fortsetzung desselben zu fordern, wird immer noch der Augenblick, in welchem er sich einläßt, also der der vollzogenen L.[itis] C.[ontestatio] als entscheidend zu betrachten sein. Denn obschon Justinian in nov. 112 c. 3 auch diese Wirkung ausdrücklich an die Insinuation der Klage knüpft, soll doch nach der in der Praxis überwiegenden Ansicht sowohl die Abänderung als das Fallenlassen der angestellten Klage bis zur L. C. gestattet und erst nachher, wenn anders es nicht unter Zustimmung des Verklagten geschieht, mit dem Verlust des Klagerechts bedroht sein“.46

Die „Praxis“ rechtfertigt für Wetzell demnach auch die Rückausnahme, entgegen der justinianischen Anordnung in Nov. 112, 3 für die Möglichkeit der Klagerücknahme nicht auf den Zeitpunkt der Zustellung, sondern auf die litis contestatio im Sinne von C. 3, 9, 1 abzustellen. Die Lehre, dass die Klagezustellung als Surrogat der römischen litis contestatio anzusehen sei, blieb nicht unwidersprochen. Bernhard Windscheid hielt Savignys Ansicht für gesetzwidrig. In den von Savigny angeführten praktischen Erfordernissen sah er nur einen „Grund, der den Gesetzgeber zur Änderung

44 

Savigny (wie Fn.  42), S.  251 f. Georg Wilhelm Wetzell, System des ordentlichen Civilprozesses, Leipzig 1854, S.  88. 46  Wetzell (wie Fn.  45). 45 

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des bestehenden Rechts bestimmen, nicht aber die Behauptung rechtfertigen kann, daß es nicht mehr gelte“47. Da Windscheids Kritik überhaupt nur de lege lata relevant sein konnte, überrascht es nicht, dass die von Savigny und Wetzell vertretene Auffassung bei Schaffung der Reichszivilprozessordnung kodifiziert wurde. Ungeachtet des Umstandes, dass in der CPO auf den Begriff der litis contestatio gänzlich verzichtet wurde48 , entspricht die Regelung von Rechtshängigkeit und Klagerücknahme (nicht allerdings zur Klageänderung49) in §§  230, 239 und 243 CPO 1877 der Lehre von Wetzell. Heute finden sich die entsprechenden Regelungen in §§  265 und 269 ZPO wieder50 . Die primär auf praktische Erfordernisse und die „Praxis“ als solche gestützte Argumentation Savignys und Wetzells, die auf eine Stütze in den antiken Quellen ebenso verzichtete wie auf begriffliche Deduktionen, wird man kaum als pandektistisch bezeichnen können. Pandektistisch ist allenfalls der Umstand, dass bei beiden Autoren jeder Hinweis darauf fehlt, dass es entsprechende Ansätze bereits in der zeitgenössischen Gesetzgebung gab. So knüpfte schon das preußische Allgemeine Landrecht die verschärfte Haftung des Vindikationsbeklagten an den Zeitpunkt der Klagezustellung51. Insgesamt lässt sich, was die Lehre von der Rechtshängigkeit angeht, zwar ein Einfluss der Rechtswissenschaft auf die spätere Kodifikation erkennen; von einer pandektistischen Jurisprudenz kann indes für den hier untersuchten Aspekt nicht gesprochen werden.

3.  Die Mündlichkeit des Zivilprozesses Als drittes und letztes Beispiel soll das zivilprozessuale Mündlichkeitsprinzip dienen. Das Mündlichkeitsprinzip wurde durch die CPO von 1877 in bewusstem Bruch mit der gemeinrechtlichen Tradition 52 eingeführt. Nörr hat dazu bemerkt, „die Entwicklung zur Mündlichkeit der RCPO“ falle „in die Zeit pandektistischer Begriffs- und Konstruktionsjurisprudenz“. Man habe sich seinerzeit „extremen Ableitungen, ob folgerichtig oder untergeschoben, aus dem einmal gewonnenen Obersatz nicht entziehen“ können53. Das Mündlichkeitsprinzip, 47  Bernhard Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts vom Standpunkte des heutigen Rechts, Düsseldorf 1856, S.  71. 48  Zu dieser Entwicklung eingehend Schlinker (wie Fn.  7), S.  580–632. 49 Dazu Schlinker (wie Fn.  7), S.  633. 50  Zur Kritik Windscheids und zur gesetzgeberischen Anerkennung der Lehre Savignys vgl. auch Nörr (wie Fn.  6), S.  198. 51  Vgl. ALR I 7 §§  188, 189 und 222. 52 Dazu Hans-Gerhard Kip, Das sogenannte Mündlichkeitsprinzip, Köln, Berlin 1952, S.  7–27. 53  Nörr (wie Fn.  4) S.  281.

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zumindest in der Ausprägung, die es in der CPO von 1877 gefunden hatte, steht demnach ausdrücklich unter Pandektismusverdacht. Leider nennt Nörr keine Beispiele für seine Einschätzung. Ein Blick auf die Diskussion um die Mündlichkeit am Ende des 19. Jahrhunderts fördert keine augenfälligen Belege für pandektistische Einflüsse zu Tage: Allerdings führt die CPO von 1877 das Mündlichkeitsprinzip radikal durch. So schreibt §  128 CPO vor, dass die Verhandlung mündlich sein muss und die Bezugnahme auf Schriftstücke generell unzulässig ist. Es darf vor Gericht nur berücksichtigt werden, was tatsächlich mündlich vorgetragen wird. Vorbereitende Schriftsätze sind nach §  120 CPO zwar zugelassen, ersetzen aber mündliches Vorbringen nicht. Mündliches Vorbringen ist auch dann zulässig, wenn es nicht in einem vorbereiteten Schriftsatz enthalten war. Da jeder mündliche Verhandlungstermin für sich zu bewerten ist, muss in der letzten mündlichen Verhandlung, auf die das Urteil ergeht, der gesamte Prozessstoff noch einmal mündlich vorgetragen werden54. Die prominenten Kritiker dieser Regelung erhoben den Vorwurf, dass die CPO trotz ihrer Bemühung um eine präzise Regelung der Mündlichkeit, viele Fragen offen ließ. Otto Bähr (1817–1895), „der entschiedenste Gegner des Mündlichkeitsprizips“55 , bemängelt insbesondere, dass offen bleibt, in welchem Umfang ein schriftliches Verfahren zulässig ist. So sei nicht geregelt, wie das Gericht mit den nach §  120 CPO zulässigen Schriftsätzen umzugehen habe, ob Akten geführt würden und in welcher Weise das Gericht selbst durch schriftlichen Voten seine Entscheidung vorbereiten könne56 . Der Vorwurf, dass Regelungen fehlten, lässt sich kaum mit der nörrschen These von einer übermäßigen Abhängigkeit von begrifflichen Ableitungen übereinbringen. Sehr ausführlich kritisiert Bähr das ursprüngliche Vorhaben, zur Stärkung der mündlichen Verhandlung in erster Instanz keine zweite Tatsacheninstanz vorzusehen, sondern stattdessen in einem zweifachen Verfahren in zwei weiteren Instanzen eine rein rechtliche Nachprüfung, der Sache nach also nur eine Revision durch zwei Instanzen zu erlauben57. Im Hinblick auf die ausführliche Behandlung dieses Punktes durch Bähr in seinem kritischen Aufsatz von 1885 ist zunächst festzuhalten, dass die entsprechende Regelung bereits im Gesetzgebungsverfahren wieder fallen gelassen wurde. Zudem hat sich die moderne Gesetzgebung, ohne sich dem Vorwurf des Pandektismus oder der übermäßigen Abhängigkeit von begrifflichen Ableitungen auszusetzen, dem von Bähr abgelehnten Rechtszustand angenähert: Mit der ZPO-Reform des Jahres 2001 ist die Möglichkeit zur Überprüfung der Tatsachengrundlage des Urteils im Beru54 

Kip (wie Fn.  52), S.  54. Kip (wie Fn.  52), S.  66. 56  Otto Bähr, Der deutsche Civilprozeß in praktischer Bethätigung, JheringsJb 23 (1885), S.  339–434, 361. 57  Bähr (wie Fn.  56), S.  352–356. 55 

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fungsverfahren stark eingeschränkt worden. Das Berufungsverfahren nähert sich damit der Revision an. Ein Punkt, in dem der Vorwurf des Pandektismus seine Rechtfertigung finden könnte, ist die Ausgestaltung des Versäumnisurteils. Nach §  296 der CPO von 1877, der inhaltlich dem heutigen §  331 ZPO entspricht, wird im Fall des Nichterscheinens des Beklagten das mündliche Vorbringen des Klägers als zugestanden angesehen. Dies gilt aufgrund der Konzeption der CPO (und auch der heutigen ZPO) auch dann, wenn es bereits einen früheren Verhandlungstermin gegeben hat, in dem sich der Beklagte zur Sache eingelassen hat und unabhängig davon, ob der Beklagte sich schriftsätzlich geäußert hat58 . Dies ist eine Konsequenz des Mündlichkeitskonzepts der CPO. Da der gesamte Tatsachenstoff in jeder mündlichen Verhandlung erneut vorgetragen werden muss, bleibt das Vorbringen des Klägers in dem vom Beklagten versäumten Termin unwidersprochen. Sein Widerspruch bzw. der Vortrag aus früheren Verhandlungsterminen ist irrelevant, weil er in der fraglichen Verhandlung, auf welche das Urteil ergeht, nicht mündlich vorgetragen wird59. Diese Schlussfolgerung ist in der Tat eher begrifflich. Sie wäre zum Schutz des in der CPO verfolgten Mündlichkeitsprinzips nicht zwingend erforderlich. Freilich ist zu beachten, dass die Regelungen zum Versäumnisurteil bei allen späteren Reformen, die das Mündlichkeitsprinzip in seiner extremen Ausgestaltung aus der ZPO wieder entfernt haben60 , unverändert geblieben sind. Einen besonders gravierenden Mangel des Gesetzes können sie demnach kaum darstellen. Im Ergebnis bleibt damit für die Untermauerung des von Nörr erhobenen Vorwurfs in der Sache wenig übrig. Auffällig ist demgegenüber, dass sich ähnliche Wendungen wie bei Nörr gleichwohl bereits in der zeitgenössischen Kritik finden. So sprach Adolf Wach (1843–1926), eigentlich ein Verteidiger der Mündlichkeit61, bereits im Jahr 1895 von „formalistische[n] Konsequenzen des sogenannten Mündlichkeitsprinzips“, von „Mündlichkeitsscholastik“ und einer „doktrinäre[n] Praxis“62 . Ähnliches klingt bereits vor Schaffung der CPO im Jahr 1877 bei Wetzell an, wenn er davon spricht, die „in neuester Zeit gemachten legislatorischen Versuche, mit dem schriftliche Verfahren wieder mündliche Verhandlungen in Verbindung zu setzen“ seien „vielleicht weniger aus der Erkenntnis wirklicher Mängel als aus doktrinärem Vorurteil hervorgegangen“63. 58  Kip (wie Fn.  52), S.  5 4; zum geltenden Recht Hanns Prütting, in: Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Bd.  1, 4.  Auflage, München 2013 §  331 Rz. 14. 59 Vgl. Thomas Rauscher, in: Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, Bd.   1, 4.  Auflage, München 2013, Einleitung, Rz. 358. 60  Vgl. zum Abbau des Mündlichkeitsprinzips eingehend Kip (wie Fn.  52), S.  74–116. 61  Zu seiner Position eingehend Kip (wie Fn.  52), S.  67–69. 62  Adolf Wach, Die Mündlichkeit im österreichischen Civilprocess-Entwurf, 1895, Wien, S.  4 63  Wetzell (wie Fn.  45), S.  740.

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Letztlich greift Nörr, wenn er die Einführung des Mündlichkeitsprinzips mit „pandektistischer Begriffs- und Konstruktionsjurisprudenz“ in Zusammenhang bringt, eine Kritik auf, die schon im 19. Jahrhundert formuliert wurde. Was bei Wetzell doktrinäres Vorteil heißt, wird bei Wach zur Mündlichkeitsscholastik und bei Nörr zur pandektistischen Begriffs- und Konstruktionsjurisprudenz. Im Kern geht es lediglich um die zu radikale Durchführung des Mündlichkeitsprinzips. Mit Pandektismus im engeren Sinn, gar mit dem Programm der historischen Rechtsschule hat das wenig zu tun.

III. Schlussfolgerungen Insgesamt hat die Betrachtung die drei Beispiele wenig pandektistische Einflüsse auf das Zivilprozessrecht des 19. Jahrhunderts zutage gefördert. Im ersten Beispiel ließ sich immerhin eine stark historisch geprägte Argumentation und eine Neigung für unmittelbare Schlussfolgerungen aus den antiken römischen Rechtsquellen selbst bei einem der Gegenwart zugewandten Juristen wie Mittermaier ausmachen. Das zweite Beispiel zeigte hingegen Savigny und Wetzell als pragmatisch argumentierende, die antiken Rechtsquellen ohne erkennbare Skrupel beiseite schiebende Juristen. Das dritte Beispiel lässt erkennen, wie beliebig der Kampfbegriff der „pandektistische[n] Begriffs- und Konstruktionsjurisprudenz“ verwendbar war und ist. Wenn die Übertreibungen des Gesetzgebers bei der Durchführung des Mündlichkeitsprinzips in der CPO von 1877 als pandektistisch bezeichnet werden können, hat der Begriff jede Kontur verloren. Ob und in welchem Ausmaß es eine pandektistische Begriffs- und Konstruktionsjurisprudenz gegeben hat, mag dahinstehen. Hinweise darauf, dass sie das Prozessrecht „viel stärker … als bislang vermutet“64 beeinflusst hat, haben sich jedenfalls nicht gefunden.

64 

Schlinker (wie Fn.  7).

„… nicht mit Willkühr ersonnen, sondern seit Jahrhunderten bereitet“: Die Auslegung römischer Quellen bei Savigny. Martin Schermaier Zu Savignys Methode und ihrer Rolle als Leitbild der historischen Schule ist viel geschrieben worden.1 Dazu kann ich kaum etwas Neues beitragen. Die Einordnung dieser Methode in die zeitgenössische Hermeneutik, die Bestimmung ihres philosophiegeschichtlichen Orts, die Aufdeckung ihrer Gewährsmänner oder Stichwortgeber, das alles muss ich dazu Berufenen überlassen. Wenig bekannt ist aber, wie sehr sich Savignys Methodenprogramm in seiner eigenen dogmatischen Arbeit niederschlug, und wie stark er sich insoweit von Vorgängern oder Zeitgenossen unterschied.2 Dieser Frage möchte ich anhand von vier Beispielen (Besitzbegriff, Verjährung, Irrtum, nachträgliche Unmöglichkeit der Leistung) nachgehen.

I.  Savignys Programm 1.  „Willkühr“ und „Nothwendigkeit“ Der Titel meines Vortrags ist Savignys Berufs-Schrift entnommen, der Schrift also, die manche als Gründungsdokument der historischen Rechtsschule ansehen. Welche, wenn nicht diese Schrift, sollte also Auskunft darüber geben können, was die Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts zur „Pandektistik“ wer1  Aus dem beinahe unüberschaubaren Schrifttum erwähne ich drei, in ihrem Anliegen und ihrem Zuschnitt ganz unterschiedliche Arbeiten: Joachim Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, Edelsbach am Main 1984, bes. S.  232 ff. und 303 ff.; Horst Heinrich Jakobs, Die Begründung der geschichtlichen Rechtswissenschaft, Paderborn (u. a.) 1992; Jan Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule, München 2001, S.  210 ff. Zu älteren Werken vgl. die Sammlung von Klaus Luig, Alphabetisches Verzeichnis der neueren Literatur über Friedrich Carl von Savigny (1779–1861), in: Quaderni Fiorentini 8 (1979) 501–559 und ders., Bemerkungen zum Stand der Savigny-Forschung, in: Quaderni Fiorentini 9 (1980) 417–426. 2  Kurz dazu und m.w.H. Rückert, Idealismus (wie Fn.  1), S.  57 ff.

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Martin Schermaier

den ließ? Das vollständige Zitat lautet freilich etwas anders. Im vorletzten Kapitel weist Savigny auf „Das Gemeinsame“ hin, das die deutschen Länder trotz verschiedener Landesrechte einen kann: auf das „wissenschaftliche Studium des Rechts“.3 Nun folgt das angerissene Zitat: Sehen wir nun um uns, und suchen ein Mittel, wodurch dieses gemeinsame Studium äußerlich begründet und befördert werden könne, so finden wir ein solches, nicht mit Willkühr ersonnen, sondern durch das Bedürfniß der Nation seit Jahrhunderten bereitet, in den Universitäten. Die tiefere Begründung unsres Rechts, und vorzüglich des vaterländischen, für welches noch am meisten zu thun ist, ist von ihnen zu erwarten, aber auch mit Ernst zu fordern.

Savignys Programmatik in der Berufs-Schrift ist vielschichtig. Man muss die Schichten sondern, wenn man aus ihr das methodische Programm der historischen Rechtsschule lesen will. Das „Bedürfniß der Nation“, das die Universitäten das römische Recht seit Jahrhunderten pflegen ließ, ist dem von Savigny ersehnten Ziel „vaterländischer“ Einheit geschuldet. Man kann darin auch die „Volksgeistlehre“4 anklingen hören. Die gemeinsame Rechtswissenschaft wird jedenfalls zum Mittel nationaler Einigung stilisiert. Niemand hat das eleganter und zugleich giftiger als Heinrich Heine karikiert, als er 1848 die Juristen des römischen Rechts dafür schalt, einen monarchischen Einheitsstaat anzustreben: 5 Ich sah das sündenergraute Geschlecht der Diplomaten und Pfaffen, die alten Knappen vom römischen Recht, am Einheitstempel schaffen …

Noch eine weitere Schicht müssen wir abziehen, um das methodische Anliegen Savignys freizulegen: den Kodifikationsstreit, der der Streitschrift ihren Anlass gab. Auch insoweit ist der Entwurf einer neuen Wissenschaft vom römischen Recht lediglich Mittel zum Zweck. 6 Wenn man diese dem Anlass geschuldeten Aspekte („national“ und „Kodifikation“) beiseitelässt, bleibt in Savignys Streitschrift ein zentraler Satz übrig: Die neue Rechtswissenschaft muss hervorgehen aus dem seit Jahrhunderten gepflogenen Studium des römischen Rechts.

3  Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, S.  153. 4 Zu ihrer Entstehung Horst Heinrich Jakobs, Die Begründung der geschichtlichen Rechtswissenschaft, Paderborn (u. a.) 1992, S.  101 ff.; zu den Vorläufern und Bedeutung dieses Topos etwa Christoph Mährlein, Volksgeist und Recht: Hegels Philosophie der Einheit und Ihre Bedeutung in der Rechtswissenschaft, Würzburg 2000, bes. S.  116 ff. 5  Heinrich Heine, Michel nach dem Merz, in: Historisch-Kritische Gesamtausgabe der Werke, hrsg. von M. Windfuhr, 3.  Bd. (Romanzero, Gedichte 1853 und 1854, lyrischer Nachlaß), Hamburg 1992, S.  239 f. (Z.  29 ff., S.  240). 6 Differenzierend Jakobs (wie Fn.  4), S.  65 f.

„… nicht mit Willkühr ersonnen, sondern seit Jahrhunderten bereitet“

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„Willkühr“ und „Nothwendigkeit“ sind die Schlagworte, um die herum Savigny sein Programm entwirft: 7 das Auffinden (man könnte auch sagen: Erfinden) von Rechtssätzen durch Philosophen, aber auch durch den zeitgenössischen Gesetzgeber, stellt er der planmäßigen Ableitung von Sätzen aus der geschichtlichen Erfahrung gegenüber. Dass nur diese zweite Art der Rechtsfindung sinnvoll sei, dass jede Rechtspraxis, sei sie Gesetzgebung oder Rechtsanwendung, nur auf geschichtlicher Grundlage bestehen könne, begründet Savigny mit dem Gewordensein allen Rechts. Deswegen, so Savigny, bringe „nicht jedes Zeitalter für sich und willkührlich seine Welt hervor, sondern es thut dieses in unauflöslicher Gemeinschaft mit der ganzen Vergangenheit“.8 Weil die Vergangenheit des deutschen Rechts das in Deutschland rezipierte römische Recht sei, könne Rechtswissenschaft nur auf dieser Grundlage entstehen. Im Rahmen dieser geschichtsphilosophischen Deutung redet er aber nicht einfach einer Renaissance des klassischen Rechts das Wort zu. Vielmehr müsse die „strenge historische Methode der Rechtswissenschaft“ jeden „gegebenen Stoff“, das römische wie das germanische Recht und die daraus neu entstandenen „Modificationen“, bis zu „seiner Wurzel … verfolgen“, um „so sein organisches Princip zu entdecken, wodurch sich von selbst das, was noch Leben hat, von demjenigen absondern muß, was schon abgestorben ist, und nur noch der Geschichte angehört“.9

2.  Zwei offene Fragen Doch wie verhält sich die Idee, alles gewordene Recht historisch zu analysieren, zu der Forderung, das Studium des Privatrechts müsse sich am römischen Recht orientieren, weil dieses den Vorzug habe „durch seine hohe Bildung als Vorbild und Muster unserer wissenschaftlichen Arbeiten dienen zu können“?10 Die geschichtliche Behandlung dieses Stoffes soll einerseits erweisen, wie aus dem römischen das zeitgenössische Recht gewachsen ist, andererseits soll er Maßstab für die Kritik eben dieses zeitgenössischen Rechts sein. Das römische Recht ist 7  Besonders deutlich ausgesprochen wird dieser Gegensatz – ein knappes Jahr nach Erscheinen der Berufs-Schrift – in: Friedrich Carl von Savigny, Ueber den Zweck dieser Zeitschrift, in: Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft 1 (1815) 1 ff., bes. 3: „Dann also muß jedes Zeitalter etwas Gegebenes anerkennen, welches jedoch nothwendig und frey zugleich ist; nothwendig, in so fern es nicht von der besondern Willkühr der Gegenwart abhängig ist; frey, weil es eben so wenig von irgend einer fremden besondern Willkühr … ausgegangen ist, sondern viel mehr hervorgebracht von den höheren Natur des Volkes als eines stets werdenden, sich entwickelnden Ganzen“; vgl. aber auch ders., Beruf (wie Fn.  3), S.  8 : „Was sie (i.e. „Erscheinungen“ wie Recht, Sprache, Sitte, Verfassung) zu einem Ganzen verknüpft, ist die gemeinsame Ueberzeugung des Volkes, das gleiche Gefühl innerer Nothwendigkeit, welches allen Gedanken an zufällige und willkührliche Entstehung ausschließt“. 8  Savigny, Zweck (wie Fn.  7), S.  3. 9  Alle Zitate Savigny, Beruf (wie Fn.  3), S.  117 f. 10  Savigny, Beruf (wie Fn.  3), S.  118.

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deshalb zu schildern einerseits als Grundlage, andererseits als korrektiver Maßstab des modernen Rechts. Diesen Zwiespalt11 zwischen geschichtlicher Rechtswissenschaft und der Orientierung am klassischen Recht, das alleine im „Besitz der leitenden Grundsätze“12 sei, löst Savigny nicht auf. Zu einfach wäre es, das römische Recht als Begriffs- und Methodenarsenal zu deuten, im „gewordenen“ Recht dagegen die Inhalte zu sehen, die nach jener Methode zu ordnen wären. Eine solche Trennung zwischen Inhalt und Methode gibt Savignys Programm nicht her, weil das römische Recht „für Deutschland“ „auch historisch, durch sein Verhältnis zum gemeinen Recht, von großer Wichtigkeit“ sei.13 Auch führt die von Savigny angemahnte historische Analyse nicht zwangsläufig zu den römischen Ursprüngen des Rechts, wo Savigny doch auch die Bedeutung des kanonischen Rechts und des Gewohnheitsrechts für das zeitgenössische Recht hervorhebt. Hinter diesem Widerspruch mag man die zwei Seiten der Geschichtlichkeit des (römischen) Rechts sehen, zwischen denen ein Gleichgewicht zu finden der Romanistik bis heute nicht gelungen ist: Jene Richtung, die die Zeitlosigkeit des klassischen Rechts preist, und jene andere, dogmenhistorische Richtung, die die Spur des kanonisierten Textes des Corpus Iuris im wissenschaftlichen Diskurs vom Mittelalter bis zu den modernen Kodifikationen verfolgt. Diese Zweipoligkeit ist aber nicht die einzige Schwachstelle in Savignys Programm. Savigny möchte, wie er ankündigt, mit der historischen Betrachtung ein „organisches Princip“ aufdecken, woraus sich von selbst ergebe, was aus der geschichtlichen Erfahrung „noch Leben hat“.14 Nach welchen Kriterien „lebendes“ vom „abgestorbenen“ Recht zu sondern sei, bleibt in Savignys Entwurf aber eine Leerstelle, die sich auch mit Hilfe seiner Auslegungslehre nicht schließen lässt. In der zu schlagenden Brücke von dem, was Recht war, zu dem, was Recht sein soll, klafft eine Lücke. Es geht hier nicht in erster Linie um das Verhältnis zweier methodischer Schritte, dem Verhältnis von Exegese und systematischer Interpretation.15 Vielmehr geht es um die Frage, woran die systematische Interpretation sich orientieren soll. Diese Frage stellt Savignys Hermeneutik16 nicht. In seiner geschichtlichen Analyse geht Savigny nicht so weit, die eigene, 11 Vgl. Dieter Nörr, Savignys Philosophische Lehrjahre. Ein Versuch, Frankfurt 1994, S.  313 und 341 ff. 12 Vgl. Savigny, Beruf (wie Fn.  3), S.  28 f. 13  Savigny, Beruf (wie Fn.  3), S.  39: „Im vorigen Abschnitt ist gezeigt worden, wie wichtig das Römische Recht als Muster juristischer Methode sey: für Deutschland ist es nun auch historisch, durch sein Verhältnis zum gemeinen Recht, von großer Wichtigkeit“. 14  Vgl. noch einmal Savigny, Beruf (wie Fn.  3), S.  117 f. 15  Dazu etwa Schröder, Wissenschaft (wie Fn.  1), bes. S.  2 21 f. 16  Zu Savignys Hermeneutik insb. Joachim Rückert, Savigny Hermeneutik – Kernstück einer Jurisprudenz ohne Pathologie, in: Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie, hrsg. von Jan Schröder, München 2001, S.  287 ff.; Stephan Meder, Mißverstehen und Verstehen. Savignys Grundlegung der juristischen Hermeneutik, Tübingen 2004.

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als richtig empfundene Auffassung historisch zu analysieren. Als Beobachter und rechtspolitischer Akteur wähnt er sich außerhalb dessen, was er als „geschichtlich Gewordenes“ begreift. Er hat eine recht konkrete Vorstellung vom „richtigen Recht“,17 nicht nur von der Lösung einzelner Konflikte, sondern vor allem davon, wie sich solche Lösungen in einem System von Regeln und Figuren auffinden lassen. Diese Regeln und Figuren sieht er im römischen Recht vorgebildet, obwohl sie – wie wir in den Beispielen sehen können – regelmäßig vernunftrechtlich geprägt sind.18 So sehen wir ihn häufig die als richtig empfundene, nicht selbst wieder historische reflektierte Lösung aus den römischen Quellen belegen. Das gilt für das Frühwerk, das „Recht des Besitzes“, ebenso wie für sein „System des heutigen Römischen Rechts“, wobei das exegetisch-antiquarische Interesse im „Besitz“ noch überwiegt, im „System“ aber schon deutlich zurücktritt. Das scheint das Klischee der „pandektistischen Methode“ zu bestätigen. Mit dem, was wir heute „Pandektistik“19 nennen, und was die Freirechtsschule pejorativ „Pandektologie“ nannte,20 verbinden wir nämlich dieses, die zeitgenössischen Begriffe, die Savigny für „wirkliche Wesen“ hielt,21 in den Quellen wiederzufinden.22 Für Savigny selbst sind diese Begriffe römisch, doch regelmäßig stammen sie, wie erwähnt, aus der naturrechtlichen Systematik oder jedenfalls aus zeitgenössischen Konzepten und entstehen in der Konfrontation mit klassischen Texten quasi von selbst, jedenfalls auf ganz selbstverständliche, unbezweifelbare Art. Diese Begriffe sind mitunter so überzeugend, dass noch moderne Romanisten bereit sind, die Quellendeutung Savignys als die einzig und 17  Dass die Überzeugung vom „richtigen Recht“ mit der religiösen Überzeugung Savignys zusammenhängt, deutet an Nörr, Philosophische Lehrjahre (wie Fn.  11), S.  306 ff.; jetzt auch Hans-Peter Haferkamp, Dogmatisierungsprozesse im „heutigen Römischen Recht des 19. Jahrhunderts, in: Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion, hrsg. von Georg Essen/ Nils Jansen, Tübingen 2011, S.  259, 268; vgl. auch ders., Einflüsse der Erweckungsbewegung auf die „historisch-christliche“ Rechtsschule zwischen 1815 und 1848, in: Konfession im Recht. Auf der Suche nach konfessionell geprägten Denkmustern und Argumentationsstrategien in Recht und Rechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, hrsg. von Pascale Cancik u. a., Frankfurt 2009, S.  71 ff. 18  Dazu statt vieler Walter Wilhelm, Savignys überpositive Systematik, in: Philosophie und Rechtswissenschaft. Zum Problem ihrer Beziehung im 19. Jahrhundert, hrsg. von Jürgen Blühdorn/Joachim Ritter, Frankfurt a. M. 1969, S.  123 ff. 19  Der Begriff taucht (wie mein Mitarbeiter, Herr Christian Klinger, recherchiert hat) zuerst wohl bei Eugen Dühring, Cursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und Lebensgestaltung, Leipzig 1875, 222 auf, dort S.  219 ff. in deutlicher Polemik gegen die zeitgenössische Wissenschaft vom „bürgerlichen“ Recht. 20  Ernst Fuchs, Recht und Wahrheit in unserer heutigen Justiz, Berlin 1908, S.  198 ff.; ebenso später Josef Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 2.  Aufl., Berlin (u. a.) 1917, S.  70 (Anm.  1), S.  117 (Anm.  1), S.  181 (Anm.  1). 21  Savigny, Beruf (wie Fn.  3), S.  29. 22  Zu dieser Charakterisierung Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2.  Aufl. Göttingen 1967, S.  430.

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allzeit richtige zu akzeptieren.23 Wenn man etwas genauer hinsieht, wenn man vor allem die Quellendeutungen vor Savigny einbezieht, differenziert sich dieses Bild allerdings. Die Exegesen und Textanalysen sind aus moderner Sicht beispielhaft, solange Savigny sich nicht auf inhaltliche Fragen einlässt. Aber selbst wenn er dies tut, gelingt es ihm manchmal, überkommene Begriffe oder Systemvorstellungen mit Hilfe der römischen Texte aufzubrechen. Anhand von vier Beispielen wollen wir Savigny bei dieser Arbeit zusehen, um seine „geschichtliche Rechtswissenschaft“ auszuloten. Es geht um Besitz, Verjährung, den von ihm so genannten „unächten“ Irrtum und um die Folgen nachträglicher Unmöglichkeit der Leistung. Das, was Savigny selbst über seine Methode reflektierte, bleibt dabei weitgehend unberücksichtigt. Denn wir wollen nicht aus Savignys Sicht beurteilen, wie er Rechtswissenschaft trieb, sondern aus unserer heutigen.

II.  Savignys Praxis der Auslegung römischer Quellen 1. Besitz a) Das erste Beispiel bringt uns zu Savignys erster Monographie, dem „Recht des Besitzes“ (1803). Die Monographie ist ganz im Stil einer historischen Untersuchung angelegt, obwohl ihr Untertitel – ganz Savignys späterem Programm entsprechend – eine „civilistische Abhandlung“ ankündigt. Es geht also um geltendes Recht, beschrieben auf der Grundlage der römischen Quellen. Zwar setzt sich Savigny ausführlich mit der Sekundärliteratur, von der Glosse bis herauf zu zeitgenössischen Autoren, auseinander, doch überall steht die Exegese der Quellen im Mittelpunkt der Darstellung. In jüngeren Auflagen 24 wird etwa die Regel nemo sibi causam possessionis mutare potest ausführlich anhand von Gai. inst. 2,52–58 erläutert, 25 für verschiedene Rechtsfragen wird auch auf antike literarische Quellen rekurriert, 26 mitunter führen die Exegesen gar in den 23  Ein Beispiel dafür ist die Deutung von D. 18,1,9 (Ulp.  28 ad Sab.) durch Jan Dirk Harke, Si error aliquis intervenit – Irrtum im klassischen römischen Vertragsrecht, Berlin 2005, S.  22 f., wonach ein beachtlicher error für die römischen Juristen dann vorliege, wenn eine der Parteien über den „objektiven Geschäftsinhalt“ geirrt habe. Damit wird das Modell des „unächten Irrthums“ durch Savignys (dazu u. II 3) für das klassische Recht übernommen. Ähnlich, wenn auch mit anderer Begründung („Irrtum über den Geschäftstatbestand“) Wolfgang Ernst, Irrtum, Ein Streifzug durch die Dogmengeschichte, in: Störungen der Willensbildung bei Vertragsschluss, hrsg. von Reinhard Zimmermann, Tübingen 2007, S.  1, bes. 23 f. (S.  23: „Die Leistung Savignys besteht in der Erneuerung der römischen Lösung …“). 24  Hier wird zitiert aus der 5.  Aufl., Gießen 1827. 25  Savigny, Besitz (Fn.  24), S.  56 ff. 26  Etwa auf Cicero pro Caec. 12 (S.  4 4 f.). Plinius epist. 7,18 (S.  99) oder – nebeneinander – Livius 7,16; Columella 1,3, Plinius hist. nat. 18,3 und Valerius Maximus 8,5,3 (S.  175).

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Vergleich einzelner Handschriften.27 Auch der Inhalt bestätigt diesen Eindruck. Eines der zentralen Argumente von Savigny ist, dass der Besitz als „Rechtsverhältnis“ Relevanz nur als Voraussetzung für die usucapio und als Kriterium für den Interdiktenschutz hat.28 Wenn in den Quellen von possessio die Rede ist, sei der interdiktengeschützte Besitz gemeint, wenn von possessio civilis, der besonders qualifizierte Ersitzungsbesitz. Diese Auffassung teilt im Grundsatz noch die moderne Romanistik,29 und als zeitlosen Beweis dafür kann Savigny den Aufbau der Ediktskommentare von Paulus und Ulpian beibringen: 30 In jenem werden Besitzerwerb und -verlust im Zusammenhang der usucapio erörtert, in diesem im Zusammenhang mit dem Interdiktenschutz. Insofern hebt sich Savignys systematischer Ansatz deutlich ab von Untersuchungen älteren Stils, bis herauf etwa zu Höpfner31 und Thibaut,32 die den Besitz als materielles Institut bestimmen, als Besitz corpore et animo, und daraus Folgerungen für die aus dem Besitz entspringenden Rechte ableiten. Daran, an der Qualifikation des Besitzes nach dem Besitzwillen, geht auch Savigny nicht vorbei,33 doch deutet er den Besitz nicht von dieser institutionellen Beschreibung, sondern von den Konflikten her, in denen der Besitz als Rechtsfigur relevant wird.34 b) Dieser historisch-antiquarische Ansatz wird aber sogleich (man könnte sagen: im selben Atemzug) zugunsten der begrifflichen Einordnung des Besitzschutzes aufgegeben. Das beginnt damit, dass Savigny Interdiktenbesitz und Ersitzungsbesitz hierarchisiert, diesen also als Sonderfall des anderen einordnet.35 Diese Stufung des Besitzes gilt nach heutiger Auffassung als unhistorisch.36 Dann ist da die systematische Verortung der Interdikte. Sie gehörten, so Savigny, in das Obligationenrecht,37 genauer zu den obligationes ex delicto: 38 Jenes ergebe sich daraus, dass das Interdikt nur gegenüber dem Störer geltend ge27 

Etwa zu D. 41,2,6,1 und 7 (S.  372 f.); zu D. 43,19,3,2 (S.  543 f.). Savigny, Besitz (Fn.  24), S.  5 ff. 29  Max Kaser, Das römische Privatrecht, 1. Abschnitt: Das altrömische, das vorklassische und das klassische Recht, 2.  Aufl., München 1971, S.  385 ff. (zwei Wurzeln des römischen Besitzrechts); vgl. schon ders., Eigentum und Besitz im älteren römischen Recht, 1943, S.  329 ff. und 332 ff.; Max Kaser/Rolf Knütel, Römisches Privatrecht, 20.  Aufl. München 2014, §  19 Rn.  8 f. und Rn.  10 ff. 30  Savigny, Besitz (Fn.  24), S.  2 2. 31  Ludwig Julius Friedrich Höpfner, Theoretisch-practischer Commentar über die Heineccischen Institutionen nach deren neuesten Ausgabe, 7.  Aufl. Frankfurt 1803, §§  281 ff., S.  283 ff. 32  Anton Friedrich Justus Thibaut, Ueber Besitz und Verjährung, Jena 1802, §§  3 ff., S.  5 ff. 33  Savigny, Besitz (Fn.  24), bes. S.  238 ff. 34 Zum Gegenüber von „Rechtsverhältnissen“ und „Rechtsinstituten“ bei Savigny jetzt Walter Boente, Nebeneinander und Einheit im Bürgerlichen Recht, Tübingen 2013, S.  56 ff. 35  Im Überblick Savigny, Besitz (Fn.  24), S.  109. 36  Dazu zuletzt Helge Dedek, Der Besitzschutz im römischen, deutschen und französischen Recht – gesellschaftliche Gründe dogmatischen Wandels, ZEuP 1997, S.  342, 352. 37  Savigny, Besitz (wie Fn.  24), S.  31 ff. 38  Savigny, Besitz (wie Fn.  24), S.  34. 28 

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macht werden könne, dieses daraus, dass jedes Interdikt eine persönliche Rechtsverletzung voraussetze.39 Savigny40 verweist dafür etwa auf D. 43,1,1,3, wo Ulpian die interdicta als personalia beschreibt.41 Dass Interdikte nur inter partes wirken, also nicht im eigentlichen Sinne sachverfolgend sind, macht sie aber nicht zu schuldrechtlichen Ansprüchen.42 Die römischen Interdikte sind, nach heutiger Auffassung, ein Rechtsbehelf sui generis, der ursprünglich das private Recht von Erbpächtern am ager publicus sichern sollte.43 Sie sollten also, um im Bilde zu bleiben, das Fehlen einer zivilen actio in rem kompensieren.44 Savigny sieht dieses Problem, schiebt es aber mit einem Hinweis auf das moderne Prozessrecht zur Seite: 45 Da nun unser Prozeß die Actionen und Interdicte der Römer nicht kennt, also die Bedeutung einer Trennung für uns verschwunden ist, so hat es keinen Zweifel, daß wir die possessorischen Interdicte nach der Ansicht des Römischen Rechts selbst unter die obligationes ex delicitis zu setzen haben.

Der Satz irritiert: Weil das moderne Recht nicht zwischen Klagen und Interdikten unterscheidet, sei nach der „Ansicht des Römischen Rechts selbst“ nicht zu differenzieren. Offenbar meint Savigny, dass das römische Recht, würde es actiones und interdicta nicht unterschieden haben, die Interdikte wohl zu den obligationes ex delicto gerechnet hätte. Solcherart „virtuelles“ römisches Recht zu konstruieren halten wir heute für ein Merkmal der Pandektistik. Jedenfalls ist ein Schluss, wie Savigny ihn hier zieht, bezeichnend für die Übertragung zeitgenössischen Systemdenkens auf die römischen Quellen. Die historische Methode dient nicht dazu, einen vergangenen Rechtszustand freizulegen, sondern 39 

S. auch Savigny, Besitz (wie Fn.  24), S.  7 ff. Savigny, Besitz (wie Fn.  24), S.  32 Anm.  1. 41  D. 43,1,1,3 (Ulp.  76 ad ed.): Interdicta omnia licet in rem videantur concepta, vi tamen ipsa personalia sunt. 42  Zur „obbligatorietà dell’interdetto“ Arnaldo Biscardi“, La tutela interdittale ed il relativo processo. Corso di lezioni 1955–1956, a cura e con una nota di lettura di Remo Martini, in: Rivista di Diritto Romano II (2002) 9, 22 ff. 43  Vgl. nur Kaser, RPR I (Fn.   29), S.  387; Luigi Capogrossi Colognesi, s.v. Interdetti, in: Enciclopedia del Diritto 21 (1971) S.  9 01, 918 ff. Die Ansicht geht zurück auf Barthold Georg Niebuhr, Römische Geschichte, Theil 2, Berlin 1812, S.  370 ff. und Savigny selbst, der ihr ab der 3.  Aufl. seines „Recht des Besitzes“ (1818) in einem eingeschobenen §  12a („Geschichte des Besitzes“) folgte, vgl. Besitz (wie Fn.  24), S.  172 ff. Zur Wissenschaftsgeschichte kurz Arnaldo Momigliano, New Paths of Classicism in the Nineteenth Century, Middletown 1982 (= in: Arnaldo Momigliano, Studies on Modern Scholarship, hrsg. von Glen Warren Bowersock/ Tim J. Cornell, Berkeley 1994, S.  223, 236 f.). 44  Giuseppe Falcone, Ricerche sull’origine dell’interdetto uti possidetis, in: Annali del Seminario giuridico dell’Università di Palermo 44 (1996), S.  5 ff., hält rei vindicatio und interdictum uti possidetis gar für analoge Formen der Besitzverteidigung; kritisch dazu Luigi Capogrossi Colognesi, Actor and Defendant in Negatoria Servitutis, in: Critical Studies in Ancient Law, Comparative Law and Legal History. Essays in Honour of Alan Watson, hrsg. von John W. Cairns/Olivia F. Robinson, Oxford 2001, S.  31 ff. 45  Savigny, Besitz (wie Fn.  24), S.  34. 40 

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ein Recht zu rekonstruieren, das den zeitgenössischen Ansprüchen an Rationalität und Systematik genügt. Savigny ähnelt darin Donellus, den er dafür lobt, als einziger den Zusammenhang des Besitzrechts „mit dem ganzen System des Civilrechts erkannt und entwickelt“ zu haben.46 Ein dritter Punkt schließlich betrifft die Einordnung des Rechtsbesitzes. Ihn reduziert Savigny – gegenüber älteren Deutungen, die jede Rechtsausübung als Quasibesitz beschrieben – auf die Ausübung eines dinglichen Rechts, und zwar unabhängig davon, ob der Berechtigte natürlicher Besitzer der Sache ist oder nicht. Die Uneinheitlichkeit der klassischen Terminologie entschuldigt er damit, dass die römischen Juristen „das alles sehr deutlich gedacht“, aber eben nicht gleichförmig gefasst hätten.47 Die Gleichförmigkeit, um die es Savigny geht, rekonstruiert er nun aus der Funktion des animus possidendi: so wie der animus des Sachbesitzers darauf gerichtet sei, die Sache als Eigentümer zu haben, so zeichne sich der Rechtsbesitz dadurch aus, dass der Ausübende sich berechtigt sehe. Diese durchaus einleuchtende Erklärung der possessio iuris wird der Quellenlage aber nicht gerecht. Das sieht man etwa daran, dass die römischen Juristen den Gebrauch (usus) selbst von im Gemeineigentum stehenden Sachen durch Interdikte, also wie Besitz schützen, obwohl der Geschützte nicht meint, ein Recht auszuüben.48 Was die Klassiker (vgl. Gai. inst. 4,139) quasi possessio nennen, setzte also nicht notwendig die Absicht (animus) voraus, ein Recht auszuüben, sondern es reichte aus, dass die Ausübung tatsächlich in niemandes Recht eingriff. Zu bedenken ist auch, dass sich die klassischen Begriffe von Sachgebrauch (usus) und Sachbesitz (possessio) 49 wohl aus einer älteren und einheitlichen Vorstellung des Sachgebrauchs entwickelt haben. Ob die quasi possessio des Servitutsberechtigten sich aber nun auf den Gebrauch der Sache oder auf die Ausübung eines Rechts bezog,50 ist bis heute umstritten.51 Savigny selbst gesteht ein, dass „der Sprachgebrauch hier so schwankend zu seyn scheint“.52 Doch mit seinem Konzept eines auf Rechtsausübung gerichteten animus meint er die Differenzen zu überdecken. 46 

Savigny, Besitz (wie Fn.  24), S. XXVII. Savigny, Besitz (wie Fn.  24), S.  167 f. 48  So in D. 47,10,14 (Paul. 13 ad Plaut.): „Sane si maris proprium ius ad aliquem pertineat, uti possidetis interdictum ei competit, si prohibeatur ius suum exercere, quoniam ad privatam iam causam pertinet, non ad publicam haec res, utpote cum de iure fruendo agatur, quod ex privata causa contingat, non ex publica. ad privatas enim causas accommodata interdicta sunt, non ad publicas“. 49  Vgl. D. 41,2,3 pr. (Paul. 54 ad ed.): „possidere autem possunt quae sunt corporalia“. 50  Savigny, Besitz (wie Fn.  24), S.  168 stellt in den Fußnoten (1−3) einige der widersprüchlich klingenden Texte zusammen. 51  Aus der reichen Literatur etwa Cosima Möller, Die Servituten. Entwicklungsgeschichte, Funktion und Struktur der grundstückvermittelnden Privatrechtsverhältnisse im römischen Recht. Mit einem Ausblick auf die Rezeptionsgeschichte und das BGB, 2010, S.  185 ff. und 251 ff.; Raffaele Basile, Usus servitutis e tutela interdittale, 2012, bes. S.  223 ff. 52  Savigny, Besitz (wie Fn.  24), S.  167 a. E. 47 

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c) In eigentümlichem Kontrast zu diesem Um- oder Weiterdenken der antiken Quellen stehen die von Savigny eingestandenen „Modificationen des Römischen Rechts“, die auf kanonisches und deutsches Recht zurückgehen und das zeitgenössische Recht prägen.53 Hierzu rechnet Savigny etwa die Auffassung, dass Besitz auch an vom Sacheigentum verschiedenen Herrschaftsrechten,54 aber auch an Familienrechten55 und sogar an Forderungen56 möglich sei. Dies, so Savigny, sei im Fall der Herrschaftsrechte immerhin eine konsequente Anwendung des römischen Rechts.57 Anders stehe es mit dem Besitz an Familienrechten und an Forderungen: Dabei handle es sich nicht um Veränderungen oder Anwendungen römischen Rechts, sondern um neuere Zusätze. Warum Savigny diese „Modificationen“ eingesteht, während er die begriffliche Neubildung der Interdikte als obligationes ex delicto aus den Quellen erschließen zu müssen meint, bleibt dunkel. Im einen Fall deckt die historische Analyse eine Neuerung auf, im anderen ist die Neuerung Folge einer historischen Analyse. Was sich mit der von Savigny verwendeten Methode als „Neuerung“ verstehen lässt, ist „Modification“ des römischen Rechts, ändert aber nichts an der aus den römischen Quellen gewonnenen und daher richtigen „Theorie des Besitzes“. Diese Methode beschreibt Savigny folgendermaßen: 58 Die Theorie des Besitzes ist in den fünf ersten Abschnitten dieses Werks mit völliger Abstraction von allem demjenigen dargestellt worden, was dem Römischen Rechte in neuerer Zeit etwa beygemischt seyn könnte: und diese Methode der Untersuchung ist schlechthin nothwendig, wenn nicht über der Vermischung des Alten und Neuen, Beides zugleich mißverstanden werden soll.

„Neu“ und „Alt“ stehen für Savigny in den ihrer jeweiligen Zeit zuzuordnenden Quellen deutlich nebeneinander, und sind deshalb klar unterscheidbar. Dass das Verständnis älterer Juristen, etwa des Buddaeus, von den römischen Quellen nicht ebenso richtig sein könnte, wie sein eigenes, kommt Savigny nicht in den Sinn.59 Ebenso wenig denkt er daran, dass sein eigener Standpunkt sich einer „Vermischung des Alten und Neuen“ verdanken könnte.

53 

Savigny, Besitz (wie Fn.  24), S.  560 ff. Savigny, Besitz (wie Fn.  24), S.  563 f. 55  Savigny, Besitz (wie Fn.  24), S.  565 ff. 56  Savigny, Besitz (wie Fn.  24), S.  567 f. 57  James Q. Whitman, The Legacy of Roman Law in the German Romantic Era: Historical Vision and Legal Change, 1990, S.  183 ff. sieht darin ein Zeichen für die konservative Haltung Savignys in der Agrarfrage; aus der von Savigny (nach römischem Recht) gebilligten Anwendung des Besitzrechts auf Herrschaftsrechte ergebe sich auch die Ersitzungsfähigkeit solcher (Feudal-) Rechte. Grundsätzlich kritisch dazu Dieter Nörr, Romanistische Phantasien, RJ 11 (1992), S.  163–175. 58  Savigny, Besitz (wie Fn.  24), S.  560. 59 Vgl. Savigny, Besitz (wie Fn.  24), S.  580 Fn.  1. 54 

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2.  Ersitzung und Verjährung a) Ähnlich wie das Besitzrecht veränderte die historische Methode auch das Verjährungsrecht. Das spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Gemeine Recht hatte aus den römischen Quellen die Regel gelesen, dass Ersitzung und Verjährung komplementäre Erscheinungen seien: Durch Zeitablauf würde Recht einerseits verjähren, andererseits entstehen. 60 Dieses nannte man seit dem scholastischen Naturrecht61 praescriptio acquisitiva, jenes praescriptio extinctiva. Die Auffassung, dass der Rechtsverlust des einen immer ein Rechtsgewinn des anderen sei, wurde vor allem durch die im kanonischen Recht angelegte Gleichbehandlung von Rechten und Ansprüchen gefördert.62 Doch ist die Komplementarität von Rechtserwerb und Rechtsverlust schon in der Zusammenschau verschiedener nachklassischer Konstitutionen angelegt. Auf der einen Seite normierte Konstantin eine außerordentliche Ersitzung nach 40 Jahren, die später so genannte longissimi temporis praescriptio,63 auf der anderen anerkannten die Kaiser Theodosius II und Honorius im Jahr 424 eine allgemeine Verjährung auch persönlicher Klagen nach 30 Jahren.64 Spätere Konstitutionen65 führen beide Regelungen zusammen. Justinian hat diese Entwicklung nicht umgekehrt, ja gar noch gefördert, indem er demjenigen (gutgläubigen) Besitzer, gegen den die Herausgabeklage verjährt war, ein dingliches Recht zusprach; 66 vermutlich geschah dies, um das Auseinanderfallen von Recht und Herausgabeanspruch zu vermeiden. Daher verband auch die Glosse die nachklassischen Konstitutionen zum Verjährungsrecht mit dem Ersitzungsrecht un60  Dazu die Beiträge von Emanuele Conte, David Deroussin und Martin Schermaier, in: Limitation and Prescription, hrsg. von Harry Dondorp/David Ibbetson/Eltjo J.H. Schrage, 2017; einen recht brauchbaren Überblick über die geschichtliche Entwicklung des Verjährungsrechts (und seine römischen Wurzeln) gibt auch Andreas Piekenbrock, Befristung, Verjährung, Verschweigung und Verwirkung. Eine rechtsvergleichende Grundlagenstudie zu Rechtsänderung durch Zeitablauf, Tübingen 2006, S.  30 ff. 61 Dazu Jan Hallebeek, Early Modern Scholasticism on Acquisitive and Extinctive Prescription, in: Dondorp/Ibbetson/Schrage, Prescription (wie Fn.  60). 62  Vgl. insb. die in X. 2,26 angeführten Fälle; dazu etwa Richard H. Helmholz, Legal formalism, substantive policy, and the creation of a canon law of prescription, in: Prescriptive formality and normative rationality in modern legal systems. Festschrift Robert S. Summers, hrsg. von Werner Krawietz et al., Berlin 1994, S.  265–283 (= ders., The spirit of classical canon law, Athens 1996, S.  175 ff.). 63 Dazu Max Kaser, Das römische Privatrecht, 2. Abschnitt: Die nachklassischen Entwicklungen, 2.  Aufl. 1975, S.  287; Piekenbrock, Befristung (wie Fn.  60), S.  59 f.; zur textlichen Rekonstruktion vor allem Paola Bianchi, Sulla praescriptio costantiniana. P. Col. VII 175: ricostruzione di una vicenda processuale, in: Atti dell’Accademia Romanistica Costantiniana XVII (2010) S.  707 ff. 64  CTh. 4,14 = C. 7,39,3; dazu Kaser, RPR II (wie Fn.  63), S.  71 f. und 285 ff.; Piekenbrock (wie Fn.  60), S.  62 ff. 65  Etwa C. 7,39,4 (Anastasius, a. 491); C. 7,39,7,4 (Justinus, a. 525). 66  Vgl. C. 7,39,8,1.

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ter dem Begriff der praescriptio.67 Das kanonische Recht und dann vor allem das Naturrecht konstruierten Verjährung und Ersitzung als Ausprägung desselben Rechtsgedankens, dass derjenige, der sich um seine Rechte nicht kümmere, diese (gleichsam zur Strafe) verliere. Nur die humanistische Jurisprudenz widersprach dieser Gleichordnung, worauf nun Savigny hinweist; 68 er nennt Muretus69, Cujacius70 und – wieder – Donellus.71 Die gemeinrechtliche Wissenschaft, vor allem der Usus modernus, ließen sich davon nicht beeindrucken. Die Erfahrung, dass sich mit der äußeren Welt auch die Rechtsposition des Menschen ändere, bestimmt die systematischen Entwürfe bis zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Auch bleibt man dabei, dass der Lauf der Zeit symmetrische Folgen für Rechtserwerb und ‑verlust habe. Das sieht man nicht nur an der Verjährungskonzeption des ALR (I 9 §  501 ALR) oder des ABGB (§§  1451 f.), sondern auch an den gegenüber dem Usus modernus als fortschrittlich geltenden Schriften von Thibaut72 und Dabelow.73 Beide folgen zwar der historischen Methode und versuchen, die zeitgenössische Verjährungslehre aus den römischen Quellen zu deduzieren. Im systematischen Ansatz bleiben sie aber der herkömmlichen Auffassung treu, die erwerbende und verlierende Verjährung spiegelt. Etwas anders verhält es sich mit den Arbeiten Unterholzners.74 1815 legte er eine Schrift vor, die sich ausschließlich um das römische Recht der „Ersitzung“, wie er sie nennt, dreht.75 Dabei äußert Unterholzner, um sein Thema zu rechtfertigen, dass sich die Ersitzung wesentlich von der Verjährung unterscheide: 76 67  Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. IV, Berlin 1841, S.  315 Anm. k, weist dafür hin auf die Codexkommentare von Placentinus und Azo (jeweils ad C. 7,33. Aber schon eine adnotatio zu C. 16 q. 3 c. 15 §  1 (ed. Friedberg I, c. 794), die auf Jacobus (?) zurückgehen soll, zieht diese Parallele: „Prescriptionum aliae sunt odio introductae petentis et favore possidentis“: aliae tantum odio petentis; dazu Harry Dondorp, Prescription and limitation in Medieval Canon Law, in: Prescription, hrsg. von Dondorp/Ibbetson/ Schrage (wie Fn.  60). 68  Savigny, System IV (wie Fn.  67), S.  315 Anm. l. 69  Marc Antoine Muretus, Commentarius in institutiones, ad I. 2,6; zit. nach Savigny, System IV (wie Fn.  68). 70  Jacobus Cuiacius, Paratitla in quinquaginta libros Digestorum, ad D. 44,1, in: Iacobi Cuiacii ppera omnia, tom. I, Paris 1658, 874 f. 71  Hugo Donellus Commentarius iuris civilis, lib. V, cap.  4 §  14, in: Hugonis Donelli opera omnia, tom. I, Lucca 1762, S.  951 f. 72  Thibaut, Besitz und Verjährung (wie Fn.  32), §  3 ff., S.  65 ff. 73  Christoph Christian Dabelow, Über die Verjährung, 1. Theil, Halle 1805, § XI, S.  20 f. 74  Zu Unterholzner Ernst Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abt., 2. Hb. (Stintzing/Landsberg III/2), 1910, S.  292 f. (Text), 122 f. (Anm.); w. H. bei Rückert, Savigny (wie Fn.  1), S.  73 Fn.  324. 75  Karl August Dominik Unterholzner, Die Lehre von der Verjährung durch fortgesetzten Besitz. Dargestellt nach den Grundsätzen des römischen Rechts, Breslau 1815. 76  Unterholzner, Fortgesetzter Besitz (wie Fn.  75), S.  4 ; dazu heißt es in Fn. b: „Diese ganze Lehre beschränkt sich nämlich auf diejenigen Rechtsmaterien, wo von einem Besitze im eigentlichen, oder wenigstens im uneigentlichen Sinne (quasi possessio) die Rede sein kann: also

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Uebrigens wird man die Beschränkung, welche ich meinem Plane gegeben habe, billigen müssen, wenn man bedenkt, daß die Lehre von den Wirkungen des eine gesetzlich bestimmte Zeit hindurch fortgesetzten Besitzes sich theils durch ihr Anschließen an das Besitzrecht, theils auch durch die Art der Wirksamkeit, wornach sie eine ganz andere Stellung im System erhält, von dem bloßen Rechtsversäumniß wesentlich unterscheidet.

Aber 1827 kommt er zu einer gemeinsamen Darstellung des Verjährungsrechts zurück,77 wohl deswegen, weil er vom justinianischen und nicht vom klassischen Recht ausgehen und (ganz im Sinne Savignys) im Dienst am heutigen römischen Recht das „kirchliche und einheimische Recht“ miteinbeziehen will.78 Wenig wahrscheinlich, aber auch nicht ausgeschlossen ist, dass sich Unterholzners früher Versuch zum Ersitzungsrecht ebenfalls Savignys Anregung verdankt.79 b) Savigny vollzieht die in Thibauts und Dabelows Ausführungen angedeutete, bei Unterholzner zunächst befolgte Trennung von Ersitzung und Klageverjährung konsequent. Er sieht es als seine Aufgabe an, „den reinen Sprachgebrauch der Quellen des Römischen Rechts wieder herzustellen“ und „den allgemeinen Verjährungsbegriff völlig aufzugeben, wodurch eine Einheit unter sehr ungleichartigen Rechtsinstituten erkünstelt werden“ sollte.80 Dabei fällt ein wichtiger methodischer Hinweis: Besser sei es, die analoge Anwendung von Regeln im Einzelfall zu begründen, wenn zwei Fälle ähnliche Probleme aufwerfen, als von vornherein ein System zu entwickeln, in dem nicht zusammengehörende Institute gleich behandelt würden.81 Aus dem Nebeneinander von Ersitzung und Klageverjährung begründet Savigny dann eingehend, dass zwar jeder Rechtsverlust auch zum Verlust der aus dem Recht begründeten Klage, nicht aber jeder Klageverlust auch zu einem Rechtsverlust führe.82 Damit gewinnt die Scheidung von Ersitzung und Verjährung dogmatische Konturen. Ermöglicht nach den römischen Ansichten auf das unmittelbare Sachenrecht und einen Theil des Personenrechts: dagegen gehört sie dem Obligationenrecht durchaus nicht an; indem hier nach dem römischen Rechte ein Besitz schlechterdings nicht Statt findet. (…)“. 77  Karl August Dominik Unterholzner, Ausführliche Entwicklung der gesammten Verjährungslehre aus den gemeinen in Deutschland geltenden Rechten, Bd. 1, Leipzig 1828, vor allem §§  25 ff., S.  96 ff. 78  Unterholzner, Verjährungslehre I (wie Fn.  75), S. V. 79  Zum Verhältnis von Unterholzner zu Savigny s. vor allem Alfred Vahlen (Hrsg.), Savigny und Unterholzner: Vierundzwanzig Briefe F. K. v. Savignys aus dem Nachlaß von K.A.D. Unterholzner, mit einem Lebensabriß Unterholzners, Berlin 1941. 80  Savigny, System IV (wie Fn.  67), S.  316; deutlicher noch ders., System des heutigen römischen Rechts, Bd. V, Berlin 1841, S.  266 f. 81  Savigny, System IV (wie Fn.  67), S.  316. 82  Vgl. vor allem Savigny, System V (wie Fn.  8 0), S.  280 ff., Für das römische Recht hatte dies schon Carl August Moellenthiel, Ueber die Natur des guten Glaubens bey der Verjährung, Erlangen 1820, S.  89 ff., dargelegt. Er begründet die Scheidung damit „… weil ja nicht das Recht, sondern blos die Befugniß es mittelst Klage geltend zu machen, Gegenstand des Verlustes ist, während das Recht selbst in seiner übrigen Wirkungen als fortdauernd angenommen werden muß“.

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wurde diese Scheidung durch den gegenüber dem Naturrecht engeren Sachbegriff und vor allem einen engeren Besitzbegriff, sowie die klare Trennung von Recht und Klage (später: Anspruch). Ersitzung als Folge langen Besitzes ist bei Savigny nicht mehr bei allen Rechten möglich, sondern nur bei iura in re aliena. Der für die Ersitzung vorausgesetzte Besitz betrifft entweder einen „Körper“83 oder die Ausübung eines Rechts in der Überzeugung, ein ius in re zu haben. 84 Forderungen können daher nicht ersessen werden, umgekehrt kann an ihnen aber das Klagerecht verloren gehen. c) Wie sehr Savigny sich bei dieser Scheidung von den römischen Quellen leiten ließ, ist schwer zu beurteilen. Wichtigen historischen Fragen, wie derjenigen, wie die praescriptio longi temporis von einer Verjährungseinrede gegen eine actio in rem zu einem Ersitzungstatbestand werden konnte,85 geht er etwa nicht nach. 86 Für die Rekonstruktion des römischen als Grundlage des modernen Verjährungsrechts spielten solche Fragen eben keine Rolle. Als unhistorisch wird man auch ansehen, dass Savigny den Begriff der usucapio – entgegen dem Wortlaut der Quellen – auf alle Formen des Rechtserwerbs durch Zeitablauf ausdehnt. 87 Auch das ist zweifellos ein Zugeständnis an die Bedürfnisse moderner Systematik. Legt man diese Bedürfnisse als Maßstab an Savignys Verjährungsrecht an, bleibt ein Zugeständnis an eine „wichtige“ Neuerung rätselhaft, die das römische Recht ändern soll – wenn man denn als „römisch“ auch noch die nachklassische Kaisergesetzgebung zählt: 88 Verjähren solle ein Klagerecht, das auf Rückgabe oder Herausgabe einer Sache geht, nur dann, wenn der Schuldner gutgläubig im Hinblick auf seinen Besitz sei.89 Diese seltsame Vermengung von Ersitzungs- und Verjährungsvoraussetzungen folgert Savigny90 aus zwei Dekretalen, einer Alexanders III.91 und einer Innozenz’ III.92 . Beide Dekretalen, so Savigny, würden „aus sittlich-religiösen Gründen“ eine Änderung des römischen Rechts bezwecken.93 Weil Savigny diese Änderung für sinnvoll hält, sei 83 

Savigny, Besitz (wie Fn.  24), §  12 (S.  165). dazu Savigny, Besitz (wie Fn.  24), §  12, S.  165 ff. und §§  4 4 ff., S.  525 ff., bes. §  46, S.  534 ff. 85  Noch immer maßgeblich Dieter Nörr, Die Entstehung der longi temporis praescriptio. Studien zum Einfluß der Zeit im Recht und zur Rechtspolitik in der Kaiserzeit, Köln 1969. 86  Anders aber (wenn auch nur knapp) Moellenthiel (wie Fn.  82), S.  120 ff. 87  Savigny, Besitz (wie Fn.  24), S.  7. 88  Savigny, System V (wie Fn.  8 0), S.  327 spricht insofern vom „neuesten Römischen Recht“. 89  Savigny, System V (wie Fn.  8 0), S.  330 ff. 90  Savigny, System V (wie Fn.  8 0), S.  327 ff.; Savigny folgt insoweit eng (sowohl im Aufbau als auch inhaltlich) der Darstellung bei Moellenthiel (wie Fn.  82), S.  111 ff., insb. was Referat und Bewertung der zu den Dekretalen kursierenden Meinungen angeht, vgl. Moellenthiel, S.  136 ff. und Savigny, System V, S.  336 ff. 91  X. 2,26,5. 92  X. 2,26,20. 93 So Savigny, System V (wie Fn.  8 0), S.  328: „In beiden Decretalen ist die Absicht einer Änderung des Römischen Rechts … deutlich ausgesprochen“. 84  Vgl.

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sie beizubehalten. Sie ist – um bei seiner Terminologie zu bleiben – also nichts „Abgestorbenes“. So wird ein Gleichlauf der Ersitzungsvoraussetzungen mit der Verjährung solcher Klagen konstruiert, die auf Rückgabe des Besitzes einer Sache gerichtet sind – auch wenn es sich dabei um vertragliche Ansprüche (wie etwa aus Miete, Leihe oder Verwahrung) handelt. Das ist gerade vor dem Hintergrund der systematischen Scheidung von Recht und Klage verwunderlich, noch mehr aber deswegen, weil Savigny an anderer Stelle die Tendenz des kanonischen Rechts, Ersitzung und Verjährung anzugleichen, als missverstandenes römisches Recht verwirft, das die Kanonisten von den Legisten übernommen hätten.94 Zur bona fides dagegen meint er knapp: „…was … in diesen (i.e. Decretalen) an praktischen Vorschriften neu aufgestellt worden ist, das soll auch von uns als wirksam anerkannt werden“.95 Savignys Motiv, das bona fides-Kriterium für die Verjährung zu übernehmen, bleibt unklar: Einerseits betont er die „relative Wahrheit“ dieses Kriteriums für solche Fälle, in denen der Schuldner den Gläubiger über den Bestand der Verbindlichkeit täuscht.96 Und dann fällt versteckt der Hinweis, dass die richterliche Praxis seiner, der von Savigny vertretenen Auffassung, folge.97 Wirklich überzeugen will beides nicht. Das erste Argument trifft nur den besonderen Fall des dolosen Schuldners, dem zweiten widerspricht wenig später schon Windscheid, der berichtet, dass es in der Praxis eine starke Tendenz gebe, für die Verjährung von Klagen auf die Gutgläubigkeit des Schuldners zu verzichten.98 Zwar ist die Mehrzahl der Autoren, vor und nach Savigny, auf seiner Seite,99 doch mag man bezweifeln, ob Savigny die Ergänzung der römischen Quellen aus „praktischen“100 Gründen akzeptierte. Fast scheint es, als habe ihn der „in den Decretalen ausgedrückte sittliche Beweggrund“101 dazu gebracht.102 Als allgemeinen Grund dafür, Ersitzung und Verjährung gleich zu behandeln, lässt Savigny diesen Beweggrund nicht gelten. Aber für den Vergleich des Mieters, gegen den die vertragliche Rückgabeklage zu verjähren droht, mit dem un94 

Savigny, System IV (wie Fn.  67), S.  316 f. Savigny, System IV (wie Fn.  67), S.  317. 96  Savigny, System V (wie Fn.  8 0), S.  342. 97  Savigny, System V (wie Fn.  8 0), S.  331 Anm. i. 98  Bernhard Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 3.  Aufl. Düsseldorf 1870, S.  292 Anm.  2 (von 291). 99 Neben Windscheid (wie Fn.  98) selbst sind das etwa Unterholzner, Möllenthiel, Hildenbrand und Arndts. 100 Vgl. Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, Berlin 1840, S.  9 0: „Als praktische Arbeit dagegen bezeichne ich hier jede Forschung, welche nicht auf den Inhalt der Quellen für sich beschränkt ist, sondern zugleich das Verhältnis dieses Inhalts zu dem lebendigen Rechtszustand, in welchen sie eingreifen sollen, also den Zustand und? das Bedürfnis der neueren Zeit, ins Auge faßt“; vgl. dazu Stephan Meder, Mißverstehen und Verstehen. Savignys Grundlegung der juristischen Hermeneutik, Tübingen 2004, S.  69 ff. 101 Vgl. Savigny, System V (wie Fn.  8 0), S.  338. 102  Zur religiösen Einbettung der Berufung auf die „Sittlichkeit im Recht“ (auch bei Savigny) Haferkamp, Einflüsse der Erweckungsbewegung (wie Fn.  17), S.  86 ff., bes. 89 f. 95 

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redlichen Besitzer, der ohnehin nicht ersitzen kann, folgt er ihm gern. Das Verhalten des Mieters, der die Verjährung abwartet, sei „ebenso sündlich, als wenn ein unredlicher Besitzer usucapiere“.103 Unausgesprochen bleibt das Argument, dass Recht und Anspruch nicht auf Dauer auseinanderfallen sollen, doch klingt es in der Begründung an, die Savigny vom Standpunkt des kanonischen Rechts formuliert: 104 Es wäre aber eine unbegreifliche Beschränktheit des Pabstes gewesen, die Seele des Besitzers in einem dieser Fälle durch sein Gesetz retten zu wollen, in dem andern ganz ruhig verloren gehen zu lassen; ja es würde Niemand den kleinlichen Gedanken ertragen können, als dürfte in einem solchen sittlich religiösen Verhältniß, der juristischen Klassifikation der Klagen irgend ein Einfluß eingeräumt werden.

3.  Unächter Irrthum a) Überhaupt einen neuen Begriff schöpfte Savigny mit der Lehre vom sogenannten „unächten Irrthum“. Die älteren Auffassungen105 haben im rechtsgeschäftlichen Irrtum eine falsche Vorstellung des Handelnden über die Grundlagen seines Handelns gesehen, also – in heutiger Diktion – einen Sachverhaltsirrtum.106 Dem entsprach die römisch-gemeinrechtliche Begriffsbildung, die den error in corpore107 sowie den error in substantia/materia108 für beachtliche, den error in qualitate109 oder den error in nomine110 für unbeachtliche Irrtümer hielt. Auch der error in negotio111, aus heutiger Sicht ein Irrtum über die Ver103 

Savigny, System V (wie Fn.  80), S.  339. Savigny, System V (wie Fn.  80), S.  339. 105  Ausführlich dazu Martin Josef Schermaier, Die Bestimmung des wesentlichen Irrtums von den Glossatoren bis zum BGB, Wien 2000; Jan Dirk Harke, Irrtum über wesentliche Eigenschaften. Dogmatische und dogmengeschichtliche Untersuchung, Berlin 2003, S.  52 ff. Besonders zu Savignys Irrtumslehre Klaus Luig, Savignys Irrtumslehre, in: Ius commune 8 (1979) S.  36 ff.; Ryuichi Noda, Zur Entstehung der Irrtumslehre Savignys, in: Ius Commune 18 (1989) S. 81 ff. 106  Grundsätzlich anders Ernst, Irrtum (wie Fn.  23), S.  11 ff., bes. 15 f., der für die ältere Lehre zwischen „geschäftsbezogenem“ und „Sachverhaltsirrtum“ unterscheiden will. Diese Unterscheidung mag Savignys Irrtumslehre kennzeichnen, nicht aber die römische und die gemeinrechtliche. Auch ein error in corpore ist ein Sachverhaltsirrtum, auch der Vertragsgegenstand ist Teil des Sachverhalts, auf dessen Grundlage ein Konsens gefunden wird. Umgekehrt stellt sich für jeden Sachverhaltsirrtum (nicht nur für den error in corpore) die Frage nach seiner „Geschäftsbezogenheit“; das ist schlechthin die Frage nach der Beachtlichkeit eines Irrtums. Selbständiger Prüfstein für einen solchen Irrtum wird das „Geschäft“ (und damit die „Geschäftsbezogenheit“) aber erst, seitdem man die Vorstellungen der Parteien an ihren Erklärungen, und damit am „äußeren Konsens“ zu messen begann; dazu kommen das späte Naturrecht und schließlich Savigny. 107  Vgl. D. 18,1,9 pr. (Ulp.  28 ad Sab.); D. 19,1,21,2 (Paul. 33 ad ed.). 108  D. 18,1,9,2 (Ulp.  28 ad Sab.). 109  Etwa D. 18,1,14 (Ulp.  28 ad Sab.); D. 19,1,21,2 (Paul. 33 ad ed.). 110  D. 18,1,9,1 (Ulp.  28 ad Sab.); D. 30,4 pr. (Ulp.  5 ad Sab.); D. 41,2,34 pr. (Ulp.  7 disp.). 111  Etwa D. 18,1,9,pr. (Ulp.  28 ad Sab.); D. 12,1,18 (Ulp.  7 disp.). 104 

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tragsabsicht der anderen Partei, galt als beachtlich.112 Savigny räumt dagegen Sachverhaltsirrtümern, die er „Irrthümer im Beweggrund“113 nennt, keinen Einfluss auf die Gültigkeit einer Willenserklärung ein. Nur ein Irrtum, der zu „einem Mangel an Übereinstimmung des Willens selbst, mit der Erklärung des Willens“ führt,114 sei beachtlich. Wenig überraschend sollen dies schon die in den Quellen für beachtlich erkannten Sachverhaltsirrtümer sein. In einem solchen Fall sei die Erklärung aber nicht wegen des Irrtums ungültig, sondern wegen der „Abwesenheit des Willens“.115 Mit dieser Konstruktion des von Savigny so genannten „unächten Irrthums“ gelingt ihm ein Doppeltes: Einerseits kann er damit erklären, warum in so wenigen römischen Juristentexten ein Sachverhaltsirrtum einen Konsensfehler und damit die Nichtigkeit eines Vertrags bewirkt; andererseits kann er auf die zeitgenössische Auffassung reagieren, wonach es weniger auf den Willen, mehr auf die Erklärung des Gewollten, auf die „Zuverlässigkeit äußerer Zeichen“116 ankommt. Um Savignys Figur des „unächten Irrthums“ einordnen zu können, muss man bedenken, dass die gemeinrechtliche Vertragslehre sich von der römischen in einem wichtigen Punkt unterschied. Die spätklassische Vertragslehre dachte sich den consensus nicht als korrespondierende Einzelwillen, sondern als einheitlichen Rechtsakt im Flume’schen117 Sinn.118 Savignys Zugang zum rechtsgeschäftlichen Irrtum dagegen ist handlungstheoretisch determiniert, setzt also bei den Willenserklärungen der Vertragsparteien an. Für ihn ist der Vertrag „die Vereinigung Mehrerer zu einer übereinstimmenden Willenserklärung“, und zwar derart, dass „die Vereinigung mehrerer Willen zu einem einzigen, ganzen ungetheilten Willen“ führt.119 Damit steht Savigny in der auf das Hochmittelalter zurückgehenden gemeinrechtlichen Tradition: Kann eine Partei ihren Willen nicht frei bilden, etwa weil sie sich über die Umstände ihres Handelns geirrt hat, ist – nach scholastischer Handlungslehre – der fehlerhafte Wille nicht vor112  Der Begriff des error in negotio ist allerdings nicht klassisch; vielmehr heißt es in D. 18,1,9 pr. (Ulp.  28 ad Sab.): ceterum sive in ipsa emptione dissentient sive in pretio sive in quo alio, emptio imperfecta est. 113  Carl Friedrich von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 3, Berlin 1840, S.  112. 114  Savigny, System III (wie Fn.  113), S.  4 44. 115  Savigny, System III (wie Fn.  113), S.  263. 116  Dieser naturrechtliche Grundsatz findet sich schon bei Hugo Grotius, De iure belli ac pacis, Paris 1625 (Nachdr. 2013), lib. II, cap. IV §  3 : „quod usfficienter indicatum est, pro vero habetur adversus eum qui indicavit.“ 117 Vgl. Werner Flume, Rechtsakt und Rechtsverhältnis. Römische Jurisprudenz und modernrechtliches Denken, Paderborn 1990. 118  Ausführlich dazu Martin Josef Schermaier, Anachronistische Begriffe, oder: „Nichtrömisches“ im römischen Irrtumsrecht, in: Autour du droit des contrats. Contributions de droit romain en l’honneur de Felix Wubbe, hrsg. von Pascal Pichonnaz, Zürich/Basel 2009, S.  49 ff. 119  Savigny, System III (wie Fn.  113), S.  309; dazu etwa Hans Kiefner, Der Einfluss Kants auf Theorie und Praxis des Zivilrechts im 19. Jahrhundert, in: Blühdorn/Ritter, Philosophie und Rechtswissenschaft (wie Fn.  18), S.  3, 14 f.

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werfbar, eine darauf vorgenommene Handlung nicht zurechenbar.120 Fehlt es aber an zwei gleichermaßen fehlerfreien Willen, fehlt es am Konsens und ist der vermeintlich geschlossene Vertrag nichtig. Während das Gemeine Recht die beschriebene Wirkung nur den in den Quellen genannten Irrtumsfällen zubilligte, war nach den Juristen der Spanischen Scholastik und des frühen Naturrechts jeder Irrtum beachtlich, ohne den ein Vertrag nicht geschlossen worden wäre.121 In konsequenter Anwendung der scholastischen Handlungslehre fragte Grotius erstmals nach der Wirksamkeit nicht mehr eines Vertrags, sondern der Handlung desjenigen, der einen Vertrag schließen will: 122 der promissio.123 Dass jeder für die promissio kausale Irrtum über die Umstände beachtlich sei, wurde in der Vertragslehre des preußischen Naturrechts mit unterschiedlichen Argumenten bestritten. Am bekanntesten ist der Gegenentwurf des Christian Thomasius, der, auf den Grundsatz der Zuverlässigkeit äußerer Zeichen bauend,124 jeden Irrtum für unbeachtlich hielt: error imputetur erranti.125 Während sich die naturrechtliche Lehre um 1800 vor allem darauf berief, dass die einmal abgegebene Erklärung nicht durch die Berufung auf einen Irrtum aufgeweicht werden dürfe,126 wollte die pandektistische Literatur, den Quellen treu, wesentliche Irrtümer über die Umstände des Vertragsschlusses beachten.127 Beide Ansichten suchte Savigny zu verbinden. 120 Dazu Schermaier, Bestimmung des wesentlichen Irrtums (wie Fn.  105), S.  65 ff.; ders., Europäische Geistesgeschichte am Beispiel des Irrtumsrechts, ZEuP 1998, S.  60–83. 121  Vgl. dazu Robert Feenstra, De oorsprong van Hugo De Groot’s leer over de dwaling, in: Met eerbiedigende werking. Opstellen aangeboden aan Prof. Mr. L.J. Hijmans van der Bergh, Deventer 1971, S.  87 ff.; ders. L’influence de la Scolastique espagnole sur Grotius en droit privé: Quelques expériences dans des questions de fond et de forme, concernant notamment les doctrines de l’erreur et de l’enrichessement sans cause, in: La Seconda Scolastica nella formazione del diritto privato moderno, Mailand 1973, hrsg. von Paolo Grossi, S.  377 ff.; ders., The Dutch Kantharos-Case and the History of Error in Substantia, in: TLR 48 (1974) 846 ff.; Schermaier, Bestimmung des wesentlichen Irrtums (wie Fn.  105), S.  124 ff. 122 Zum rechtshistorischen Hintergrund Bruno Schmidlin, Die beiden Vertragsmodelle des europäischen Zivilrechts: das naturrechtliche Modell der Versprechensübertragung und das pandektistische Modell der vereinigten Willenserklärungen, in: Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, hrsg. von Reinhard Zimmermann/Rolf Knütel/Jens Peter Meincke, Heidelberg 1999, S.  187 ff. 123  Dazu noch immer maßgeblich Malte Diesselhorst, Die Lehre des Hugo Grotius vom Versprechen, Köln 1959, bes. S.  34 ff. 124 Dazu Schermaier, Bestimmung des wesentlichen Irrtums (wie Fn.  105), S.  234 ff. 125  Diese verkürzte Sentenz liest sich im Original (Christian Thomasius, Institutiones iurisprudentiae divinae, Halle 1720, Nachdr. 1963, lib. I, cap I, §  72) folgendermaßen: „error tertii sive vincibilis sit, sive invincibilis, non poterti alteri, qui non est in culpa, cur tertius aberraverit, imputari, sed in ejusmodi concurso aequius est, ut imputetur erranti.“ Die häufiger zitierte Stelle aus lib. II, cap. VII, §  39 („errorem in dubio semper nocere debere erranti“) bezieht sich ausdrücklich auf den vertraglichen Irrtum und wird in der jüngeren Literatur meistens ohne die wichtige Ergänzung in §  41 wiedergegeben. Vgl. außerdem lib. III, cap. II, §  87 (zum error beim Eheschluss). 126 Vgl. Schermaier, Bestimmung des wesentlichen Irrtums (wie Fn.  105), S.  432 ff. 127  Vgl. die Zusammenfassung bei Noda, Savignys Irrtumslehre (wie Fn.  105), S.  108 ff.

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b) In seiner zugespitzten, man könnte auch sagen: übersteigerten Form der Handlungslehre reduziert Savigny zunächst das, was die scholastische Lehre als Handlungswillen ansieht, auf den Willen, eine Erklärung abzugeben. Nur auf diesen Willen, den Willen überhaupt zu erklären, käme es an.128 Der im Vorfeld des Entschlusses zur Erklärung gelegene Irrtum, Savigny spricht vom Irrtum „als Beweggrund zu einer Willenserklärung“,129 sei rechtlich irrelevant, soweit er nicht in besonderen Instituten berücksichtigt ist, etwa im Bereicherungsrecht und im Gewährleistungsrecht.130 Für beides, sowohl für die Unbeachtlichkeit des Motivirrtums als auch für die Konzentration auf den Erklärungswillen,131 gibt es Vorläufer. Seit Pufendorf soll, wer per errorem fuerit motus, sich nicht auf seinen Irrtum berufen können.132 Manche argumentieren, man könne, würde man auf die Beweggründe des Irrenden Rücksicht nehmen, auch gleich die Berufung auf eine Mentalreservation133 beachten.134 Andere bringen die Verlässlichkeit der äußeren Zeichen in Anschlag.135 Savigny scheint sich auf beide Argumente zu stützen, wenn er die Beachtlichkeit eines solchen (Motiv-)Irrtums deswegen ablehnt, weil darin „die einzige Rettung des Verkehrs gegen gränzenlose Unsicherheit und Willkühr“ liege.136 Die Nichtbeachtung des „Irrtums im Beweggrund“ ist indes nur ein Nebenschauplatz. Sie entspricht zur Zeit Savignys ohnehin herrschender Lehre.137 128  Savigny, System III (wie Fn.  113), S.  113: „das Wollen ist eine selbständige Thatsache (…)“. 129  Savigny, System III (wie Fn.  113), S.  112; ähnlich S.  308. 130  Savigny, System III (wie Fn.  113), S.  112 ff., S.  358 ff. 131  Vgl. etwa Carl Ferdinand Hommel, Rhapsodia quaestionum in foro quotidie obvenientium, vol. VI, 4.  Aufl., Bayreuth 1785, obs. DCCLXXXIV, n.  7: consentiant omnes, qui errant, tempore contractus. 132 Vgl. Samuel Pufendorf, De jure naturae et gentium, Ausg. Frankfurt/Leipzig 1758 (Nachdr. 1967), lib. III, cap.  6 §  7; dazu etwa Malte Diesselhorst, Zum Vermögensrechtssystem Samuel Pufendorfs, Göttingen 1976, S.  91 ff.; Schermaier, Bestimmung des wesentlichen Irrtums (wie Fn.  105), S.  188 ff. 133  Die Mentalreservation zu beachten galt als Kennzeichen der „Jesuitenmoral“; vgl. Leif Böttcher, Von der Lüge zur Mentalreservation, Göttingen 2007, bes. S.  179 ff. und S.  204 (S. Cocceji). 134  Thomasius, Institutiones (wie Fn.  125), lib. II, cap. VII, §  40. 135 Etwa Gottfried Achenwall, Ius naturae in usum auditorium, 7.  Aufl., Göttingen 1774, vol. I §  180. 136  Savigny, System III (wie Fn.  113), S.  355. 137  Vgl. die zahlreichen Nachweise bei Noda, Irrtumslehre Savignys (wie Fn.  105), S.  109 Fn.  145, etwa Christian Friedrich Glück, Ausführliche Erläuterungen der Pandekten nach Hellfeld. Ein Commentar, Theil 16/1, Erlangen 1814, S.  18; Christoph Christian Dabelow, Handbuch des Pandecten-Rechts, Halle 1817, Theil 2, S.  23 und S.  55; Ferdinand Mackeldey, Lehrbuch des heutigen Römischen Rechts, 7.  Aufl., Gießen 1827, Bd. 2, S.  177; Heinrich Richelmann, Der Einfluß des Irrthums auf Verträge. Ein civilistischer Versuch, Hannover 1837, S.  23 ff. und S.  36–46; Christian Friedrich Mühlenbruch, Lehrbuch des Pandekten-Rechts, Theil 2, Halle 1836, S.  263; außerdem Anton Friedrich Justus Thibaut, Versuche über einzelne Theile der Theorie des Rechts, Bd. 2 (4. Abhandlung: Bruchstücke zur Berichtigung und Ergänzung der gewöhnlichen Begriffe über die Wirkung des Irrthums bey Verträgen), 2.  Aufl.

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Entscheidend ist der Ansatz, ein Irrtum würde nur dann berücksichtigt, wenn er dazu führt, dass einer Erklärung der Wille des Erklärenden nicht entspricht. Dann liegt ein von Savigny so genannter „unächter Irrthum“ vor: Die Nichtigkeit der Willenserklärung beruhe nicht darauf, dass der Irrtum des Einzelnen die Zurechnung der Willenserklärung verhindert, sondern darauf, dass der Erklärung kein Wille entspricht. Dazu rechnet Savigny das Missverständnis der je anderen Willenserklärung,138 den Kommunikationsfehler,139 aber auch Fälle des Sachverhaltsirrtums, insbesondere des „Irrthums über die Sache, oder den Gegenstand des Rechtsverhältnisses“140 . Aber wie kann ein Sachverhaltsirrtum dazu führen, dass jemand etwas erklärt, was er nicht erklären will? Abstrakt löst Savigny diese Frage nicht auf. Er zieht sich vielmehr darauf zurück, die in den römischen Quellen behandelten Fälle eines Konsensfehlers anzugeben: den error in corpore141 und den error in substantia.142 Die Einbettung gewisser Sachverhaltsirrtümer als Fälle des „unächten Irrthums“ ist – man kann es nicht anders nennen – ein dogmatischer Taschenspielertrick Savignys. Von manchen wird diese Einbettung noch heute als dogmatischer Meilenstein gefeiert,143 doch ergibt sich aus der Qualifikation als „unächter Irrthum“ keineswegs die Beachtlichkeit irgendeines Sachverhaltsirrtums.144 Man kann damit insbesondere nicht erklären, warum nur error in corpore oder in substantia dazu führen „den Willen als nicht vorhanden anzusehen“.145 Denn bei jedem Irrtum, ohne den die Willenserklärung nicht abgegeben worden wäre, muss der Wille eigentlich „als nicht vorhanden“ angesehen werden.146 Hier hilft es auch nicht weiter, sich auf den Willen, die Erklärung überJena 1817 (Neudr. Aalen 1970), S.  111; Johann Friedrich Ludwig Göschen, Vorlesungen über das gemeine Civilrecht, hrsg. von Albrecht Erxleben, Bd. 1, Göttingen 1838, S.  256. Während Thibaut und Richelmann den Motivirrtum nur im Zusammenhang mit dem error in persona diskutieren, setzte Göschen ihn – ähnlich wie später Savigny – als Gegenbegriff zum beachtlichen Irrtum ein. Dazu Schermaier, Bestimmung des wesentlichen Irrtums (wie Fn.  105), S.  467 ff. 138  Savigny, System III (wie Fn.  113), S.  265 f.: „Hier irrt also jeder Einzelne blos über den Willen und die Erklärung des Andern (…)“. 139  Savigny, System III (wie Fn.  113), S.  267: „Der Irrthum kann sich beziehen auf den Inhalt des Willens im Ganzen (…)“. 140  Savigny, System III (wie Fn.  113), S.  267 und S.  272 (Zitat). 141  Savigny, System III (wie Fn.  113), S.  272 ff. 142  Savigny, System III (wie Fn.  113), S.  276 ff. und S.  291 ff. 143 Etwa Werner Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 2.  Bd.: Das Rechtsgeschäft, 4.  Aufl., Berlin 1991, S.  4 40 ff.; Ernst, Irrtum (wie Fn.  23), S.  23 ff. 144  Völlig richtig der Befund von Flume, AT II (wie Fn.  137), S.  4 45: „Die aus der Lehre von der Willenserklärung entwickelte These von dem „unächten“ Irrtum (…) ist bei Savigny scharf zu sondern von der praktischen Entscheidung, inwieweit diese Willensunwirklichkeit zu beachten ist“. 145  Savigny, System III (wie Fn.  113), S.  292. 146  Ernst, Irrtum (wie Fn.  19), S.  23, hat zweifellos Recht, wenn er schreibt, dass Savigny Wille und Erklärung gleichermaßen zum Geschäftstatbestand erhob. Aber daraus ergibt sich kein Argument für den Satz, nur ein error in corpore sei beachtlich; das wusste auch Flume,

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haupt abzugeben, zu beschränken; 147 denn dieser Wille wird auch durch einen error in corpore nicht ausgeschlossen.148 Wenn man Sachverhaltsirrtümern überhaupt Einfluss auf die Gültigkeit einer Willenserklärung einräumt, dann muss man fragen und entscheiden, wovon dieser Einfluss abhängt. Diese Frage aber stellte Savigny nicht, er folgte einfach den Quellen. Darüber, dass ein error in corpore so „wesentlich“ ist, dass man den Irrenden schützen sollte, war sich die Pandektistik zu Savignys Zeiten ohnehin einig.149 Aber warum nur dieser Irrtum (und der ihm gleichgestellte error in substantia150) dazu führt, dass man erklärt, was man nicht will, das beantwortete Savigny nicht. Die Konstruktion des „unächten Irrthums“ ist, angesichts der quellentreuen Wiederholung beachtlicher Irrtümer, lediglich eine neue Verpackung für die gemeinrechtliche Irrtumslehre. Damit fängt Savigny die mit dem späten Naturrecht ins Spiel gekommene Forderung nach der Verlässlichkeit der Erklärung auf und kann sie zugleich willenstheoretisch auflösen.151 Manche diesbezüglichen Ausführungen klingen gar wie eine Reprise der Lehre des Thomasius,152 etwa wenn Savigny meint: 153 Immer war es der Handelnde selbst, der dem Irrthum diese bestimmende Kraft einräumte. Die Freyheit seiner Wahl zwischen entgegengesetzten Entschlüssen war unbeschränkt; welche Vortheile ihm der Irrthum auch vorspiegeln mochte, er konnte sie verwerfen …“.

Mit der Annahme, bestimmte Sachverhaltsirrtümer würden ausnahmsweise zu einer Divergenz von Wille und Erklärung führen, scheint Savigny auf den ersten Blick die römischen Quellen und das zeitgenössische Konzept der Willenserklärung vereinigt zu haben. Die wenig später vorgetragene Kritik Jhe-

AT II (wie Fn.  143), S.  460 ff. („Erklärungsirrtum hinsichtlich der Angabe von Eigenschaften“). 147  Savigny kommt bei der Erörterung des „unächten Irrthums“ auch nicht mehr auf diese an den Beginn gestellte Überlegung (Savigny, System III [wie Fn.  113], S.  113) zurück. 148  Das hat ganz richtig gesehen Ernst Zitelmann, Irrtum und Rechtsgeschäft. Eine psychologisch-juristische Untersuchung, Leipzig 1879, S.  117 ff., 373 ff. (bes. 383 ff.), 549 ff., indem er den Handlungswillen vom Rechtsfolgewillen („Wille in der Absicht“) unterschied; dazu ausführlich Schermaier, Bestimmung des wesentlichen Irrtums (wie Fn.  99), S.  519, 523 ff. 149  Das gilt allerdings nur für die pandektistische Literatur, die die römischen Irrtumskategorien befolgen musste; vgl. etwa Anton Friedrich Justus Thibaut, System des Pandektenrechts, Bd. 1, Jena 1803, §  146, S.  116 f.; Carl Friedrich Mühlenbruch, Lehrbuch des Pandekten-Rechts II (wie Fn.  137), §  338, insb. S.  251. 150  Vgl. noch einmal Savigny, System III (wie Fn.  113), S.  276 ff., bes. S.  283. 151 Vgl. Savigny, System III (wie Fn.  113), S.  258: „Denn eigentlich muß der Wille an sich als das einzig Wichtige und Wirksame gedacht werden, und nur weil er ein inneres, unsichtbares Ereigniß ist, bedürfen wir eines Zeichens (…)“. 152 Ähnlich Klaus Luig, Savignys Irrtumslehre, Ius commune 8 (1979) S.  37. 153  Savigny, System III (wie Fn.  113), S.  113.

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rings154 deckte aber auf, dass diese Vereinigung nur eine oberflächliche, keine inhaltliche war. c) Dies entspricht dem Bild, das Spätere von der „Pandektistik“ hatten: Das geltende Recht oder die moderne Rechtsvorstellung wird aus den römischen Quellen begründet – ohne Rücksicht auf dogmenhistorische Brüche. Auf dieses Klischee lässt sich Savignys Irrtumslehre allerdings nicht reduzieren, auch wenn sie nach dem Urteil Windscheids155 „die allein richtige Grundlage einer befriedigenden Theorie vom Irrthum“ ist, ein Urteil, das diese Theorie geradezu als „pandektistisch“ stempelt. Zunächst ist zu beachten, dass das Konzept des „unächten“ Irrtums lediglich einen neuen Maßstab für die Ordnung von nach den Quellen nichtigen Geschäften liefert. Die Auslegung der Quellen beeinflusste das, vergleicht man sie mit den Deutungen vorangehender Generationen, nicht entscheidend. In einem wichtigen Punkt ist Savignys Lehre auch aus heutiger Sicht richtig: Die römischen Juristen hatten keine einheitliche Auffassung von den Folgen eines Irrtums bei rechtlich relevantem Verhalten. Zwar ist diese begriffsskeptische, auf die Kasuistik der Quellen achtende Haltung nicht neu: wir finden sie ähnlich156 schon bei Mühlenbruch, Wening-Ingenheim, Mackeldey, Göschen oder Richelmann. Aber die Fallgruppen, die Savigny aus dem Quellenmaterial bildet,157 könnten (anders als die Ordnungsbemühungen der zuvor Genannten) auch einer modernen Untersuchung des error im römischen Recht noch als Wegweiser dienen. Savigny sucht die Distanzierung von der Methode des Usus modernus aber nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch. Ganz historisch158 verfährt Savigny etwa mit D. 18,1,45, einem frühklassischen Text, dessen Ergebnis im geraden Gegensatz zu Ulpians Lösung des error in substantia und damit zu Savignys eigener Deutung des „unächten Irrthums“ steht. Savigny erklärt diesen Gegensatz, ganz heutiger Auffassung entsprechend,159 mit konkurrierenden Lehrmeinungen der römischen Juristen und mit der allmählichen Ausbildung einer herrschenden Meinung.160 Neben dieser auch aus heutiger Sicht texttreuen Interpretation steht der unhistorische Entwurf des „unächten Irrthums“, der die quellenmäßigen Fälle des Irrtums bei Vertragsabschluss in die im 18. Jahrhundert entdeckte Divergenz von Wille und Erklärung einbettet. Kommunikationsfehler als Rechtsproblem

154  Rudolf von Jhering, Culpa in contrahendo oder Schadensersatz bei nichtigen oder nicht zur Perfektion gelangten Verträgen, JherJb 4 (1861) S.  1 ff. 155  Windscheid, Pandektenrecht I (wie Fn.  98), §  76 Fn.  1 (S.  180 der Ausg.). 156  Dazu im einzelnen Schermaier, Irrtum (wie Fn.  105), S.  476 ff. 157  Insb. die „Beylage VIII“ in Savigny, System III (wie Fn.  113), S.  325 ff. 158 Vgl. Peter Apathy, Sachgerechtigkeit und Systemdenken am Beispiel der Entwicklung von Sachmängelhaftung und Irrtum beim Kauf im klassischen römischen Recht, ZRG RA 111 (1994) S.  95 ff. 159  Vgl. nur Apathy, Sachgerechtigkeit (wie Fn.  158), S.  148 ff. 160  Savigny, System III (wie Fn.  113), S.  295 ff.

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zu beschreiben, ist, auch aus heutiger Sicht, zwar eine wichtige Entdeckung, doch wissen die römischen Quellen davon nichts.161

4.  Nachträgliche Unmöglichkeit der Leistung a) Ein ganz ähnliches Phänomen der Quellendeutung entlang zeitgenössischer Erwartungen oder Bedürfnisse sehen wir bei dem bis heute umstrittenen Problem der nachträglichen Leistungsunmöglichkeit. Die römischen Quellen162 kennen zwar Unterschiede in der Behandlung nachträglicher Unmöglichkeit bei iudicia bonae fidei und iudicia stricti iuris, folgen aber doch einem einheitlichen Gedanken: Die einmal entstandene Verbindlichkeit erlischt nur, wenn Erfüllung unmöglich wird, ohne dass der Schuldner dies zu vertreten hat. Lag es an ihm, dass die Leistung nicht erbracht werden kann (si per eum stat quominus solvit), oder hatte er eine Erfüllungsgarantie übernommen, blieb er weiter verbunden und haftete auf den objektiven Wert der Leistung oder – bei der Mehrzahl der Klagen – auf das Erfüllungsinteresse des Gläubigers. Weil die römischen actiones dem Richter nur die Verurteilung in Geld, nämlich Wert oder Leistungsinteresse gestatteten (condemnatio pecuniaria), war in dem Fall, dass der Gläubiger auf Leistung klagte, nur beweiserheblich, ob es am Schuldner lag, dass die Leistung ausblieb. Konnte der Schuldner sich insoweit nicht frei beweisen, kam es zur Verurteilung in das Gläubigerinteresse. Der Schuldner haftete also streng, ganz ähnlich, wie es die „strict liability“ der Vertragsparteien nach UN-Kaufrecht vorsieht.163 b) Bis zu Savigny hatten sich die Voraussetzungen dieser Konstruktion wesentlich geändert. Das liegt vor allem an der handlungstheoretischen Deutung des Schuldverhältnisses: 164 So war nicht mehr entscheidend, dass der Schuldner nicht geleistet hat, sondern dass er schuldhaft nicht leistete.165 Außerdem wurde die Unmöglichkeit der Erfüllung nicht mehr aus der Sicht des Gläubigers beur-

161 Anders nur die Rekonstruktion bei Harke, Si error aliquis intervenit (wie Fn.   23), S.  22 ff., bes. S.  78 f. 162  Zum klassischen Leistungsstörungsrecht vgl. Kaser, RPR I (wie Fn.  29), S.  513 ff.; Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht (wie Fn.  29), §  37, S.  218 ff.; Dieter Medicus, Zur Funktion der Leistungsunmöglichkeit im römischen Recht, ZRG (RA) 86 (1969), S.  67–104; Reinhard Zimmermann, The Law of Obligations. Roman Foundations of the Civilian Tradition, Oxford 1996, S.  783 ff.; Martin Josef Schermaier, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Band II, hrsg. von Matthias Schmoeckel/Joachim Rückert/Reinhard Zimmermann, Tübingen 2007, Vor §  275 Rn.  14 ff. 163  Art.  79 Abs.  1 CISG. 164 Im Überblick dazu HKK/Schermaier (wie Fn.   156), Vor §  276 Rn.  16 ff.; §§  280−285 Rn.  10 ff. 165  Das wirkte sich auch auf die Beweislast im Falle eines Prozesses aus, vgl. Glück, Pandecten (wie Fn.  137), Bd. 4, Erlangen 1796, §  324c, S.  359 ff., insb. S.  361 f.

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teilt, sondern danach, ob der Schuldner die Leistungshandlung noch vornehmen konnte. Für die Änderung des Leistungsstörungsrechts womöglich noch wichtiger war aber die Durchsetzung der Verurteilung des Schuldners in die Sachleistung. Die Auseinandersetzung um Geld- und Sachverurteilung bestimmte die gemeinrechtliche Diskussion166 bis ins Zeitalter des Naturrechts. Dann setzte sich in der Lehre – zunächst für obligationes dandi – die Verurteilung in forma specifica durch.167 Manche partikulare Prozessordnungen des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts168 sehen gar Sachverurteilung und -vollstreckung bei obligationes faciendi vor.169 Die Diskussion in der Historischen Schule schwankte zwischen quellentreuer170 condemnatio pecuniaria und Sachverurteilung. Dabei wurde allerdings nicht immer zwischen materiellem Recht, Prozessrecht und Vollstreckungsrecht unterschieden. So wurde, etwa von Brinz, aus dem Prinzip der Geldverurteilung gefolgert, der Schuldner sei materiell nur zur Interesseleistung verpflichtet, könne sich davon aber durch Sachleistung befreien.171 Am anderen Strang zog Savigny: Für ihn ist die Obligation ein Recht an der Handlung eines anderen,172 und zwar dergestalt, dass aus den vielen mögli166  Zur mittelalterlichen Lehre etwa Hermann Dilcher, Geldkondemnation und Sachkondemnation in der mittelalterlichen Rechtstheorie, ZRG (RA) 78 (1961) S.  277 ff.; Tilman Repgen, Vertragstreue und Erfüllungszwang in der mittelalterlichen Rechtswissenschaft, Paderborn 1994. 167 Dazu Wilhelm Rütten, Zur Entstehung des Erfüllungszwangs im Schuldverhältnis, in: Festschrift für Joachim Gernhuber zum 70. Geburtstag, hrsg. von Hermann Lange/Knut Wolfgang Nörr/Harm Peter Westermann, Tübingen 1993, S.  939 ff.; außerdem Klaus Luig, Vertragsfreiheit und Äquivalenzprinzip im gemeinen Recht und im BGB, in: Aspekte europäischer Rechtsgeschichte, in: Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart: Festschrift für Helmut Coing zum 70. Geburtstag, hrsg. von Norbert Horn u. a., München 1982, S.  177 ff. 168  Etwa die preußPO (1795) tit. 24 §  48 ff. aber auch das ALR selbst, vgl. ALR I 5 §§  393 ff.; dazu Rütten, Erfüllungszwang (wie Fn.  161), S.  945; Janwillem Oosterhuis, Specific Performance in German, French and Dutch Law in the Nineteenth Century, Leiden 2011, S.  114 ff. 169 Dazu Rütten, Erfüllungszwang (wie Fn.   167), S.  946 ff.; Karin Nehlsen-von Stryk, Grenzen des Rechtszwangs: Zur Geschichte der Naturalvollstreckung, AcP 193 (1993) S.  529 ff., bes. S.  552 f.; Joachim Rückert, Leistungsstörungen und Juristenideologien heute und gestern – ein problemgeschichtlicher Beitrag zum Privatrecht in Europa, in: Festschrift für Wolfgang Kilian, hrsg. von Jürgen Taeger/Andreas Wiebe, Baden-Baden 2004, S.  705, 732 ff.; zusammenfassend Marc-Phillipe Weller, Vertragstreue: Vertragsbindung, Naturalerfüllungsgrundsatz, Leistungstreue, Tübingen 2009, S.  101 f. 170  Das 1816 wiederentdeckte Lehrbuch des Gaius (vgl. Gai. inst. 4,48) dürfte die Diskussion vor allem befeuert haben, vgl. Gai. inst. 4,48: Omnium autem formularum, quae condemnationem habent, ad pecuniariam aestimationem condemnatio concepta est. vgl. Rütten, Erfüllungszwang (wie Fn.  167), S.  947 f. 171  Alois von Brinz, Lehrbuch der Pandekten, Bd. 2/1, 2.   Aufl. Erlangen u. a. 1879, bes. §  214, S.  20 ff.; ders., AcP 70 (1886) S.  174 ff.; dazu ausführlich Weller, Vertragstreue (wie Fn.  169), S.  102 f. 172 Vgl. Savigny, System I (wie Fn.  100), S.  338 ff.; ders., Das Obligationenrecht als Theil des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, Berlin 1851, S.  4 ff.

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chen Handlungen des anderen „nothwendige und gewisse Ereignisse“ werden.173 Die Obligation ist also nicht von irgendeiner Form des Haftens geprägt, sondern vom Anspruch auf die Handlung eines anderen, ein Anspruch, der „nothwendige und gewisse Ereignisse“ herstellen soll, also auch gerichtlich durchgesetzt wird. Über die Verurteilung und Vollstreckung in specie, führt Savigny zwar nichts aus,174 die Formulierung verrät aber, dass er im Lager derer stand, die – mit dem geltenden Recht – alle Verbindlichkeiten für erzwingbar hielten. Wenn man mit der Möglichkeit einer Sachverurteilung die klassische Vorstellung aufgibt, dass zwar eine Sachleistung geschuldet, aber auf Geld gehaftet wird, und also mit Erhebung der Klage nur mehr das Erfüllungsinteresse gefordert werden kann, muss man sich überlegen, wie der Wechsel von der Sach- zur Interesseforderung während des Verfahrens möglich ist. Die preußische Pro­ zess­ordnung etwa enthält Regelungen, die dem Gläubiger ermöglichen, bei misslungener Exekution noch Geldersatz zu verlangen.175 Dieser von den Umständen (Unmöglichkeit der Vollstreckung) oder vom Willen des Gläubigers (Ungewissheit der Vollstreckung) abhängige Wechsel von der Sach- zur Interesseleistung lässt sich auch als materiellrechtliches Phänomen beschreiben. Genau das tut Savigny, der die in den römischen Quellen bereits mit Klageerhebung entschiedene Änderung, dass nun nicht mehr Sach-, sondern Geldleistung geschuldet war,176 ins materielle Recht spiegelt: Werde die Sachleistung unmöglich, wandle sich die Verbindlichkeit des Schuldners, falls er die Unmöglichkeit vertreten muss, zu einer solchen auf Geldleistung um.177 Savigny sprach insoweit von einer „Modification“178 oder „Metamorphose“179 der Obligation.180 Die römischen Texte sind biegsam genug, um diese Interpretation zu tragen. Auch sie thematisieren ja, wenn auch unabhängig von der prozessualen Situa­ tion, unter welchen Voraussetzungen der Gläubiger Wert- oder Interessenersatz verlangen kann. Die Möglichkeit der Sachverurteilung hat wohl dazu beigetragen, diesen Wechsel auch im materiellen Recht präziser zu fassen. 173 Vgl.

Savigny, Obligationenrecht I (wie Fn.  172), S.  8 f. aber seine Ausführungen zu den actiones arbitrariae, System V (wie Fn.  80), S.  121 ff. und S.  145 f. 175  PreußPO tit. 24 §§  50 und 56 sowie tit. 22 §§  19 ff. 176  Nach Gaius ändert sich durch Klageerhebung (im iudicium legitimum) nicht nur der Obligationsinhalt, sondern auch der Schuldgrund, vgl. Gai. inst. 3,180. 177 Vgl. Friedrich Carl von Savigny, Das Obligationenrecht als Theil des heutigen Römischen Rechts, 2.  Bd., Berlin 1853, S.  1 und 5. 178  Friedrich Carl von Savigny, Pandektenvorlesung 1824/25, hrsg. von Horst Hammen, Frankfurt a. M. 1993, S.  255; von daher dürfte den Begriff Puchta übernommen und ihn zu einem zentralen Begriff seiner Erfüllungslehre gemacht haben, vgl. Georg Friedrich Puchta, Lehrbuch der Pandekten, 1.  Aufl. Leipzig 1838, §§  217 ff. S.  237 ff. 179  Savigny, System I (wie Fn.  100), S.  393; ders., Obligationenrecht II (wie Fn.  177), S.  1. 180  Das korrespondiert mit dem, was Savigny, System V (wie Fn.  8 0), S.  3 f. die „Veränderung der Rechte“ durch Klage oder Urteil nennt; auch dort spricht er von „Metamorphose“. 174 Vgl.

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Die Sachverurteilung alleine kann aber nicht erklären, warum man diesen Wechsel von der Sach- zur Geldleistung auf den Forderungsinhalt bezieht und nicht nur auf die Art der Geltendmachung einer Forderung. Hier kommt vermutlich abermals181 die naturrechtliche Lehre ins Spiel. Nach ihr gilt die Nichterfüllung als Rechtsverletzung und begründet deswegen einen deliktischen Anspruch182 des Gläubigers auf Schadensersatz.183 Primäre Forderung und Ersatzhaftung erscheinen hier von vornherein getrennt; die Verbindlichkeit zur Sachleistung entsteht aus Vertrag oder Gesetz, jene zur Ersatzleistung aus dem allgemeinen Gebot des neminem laedere. Deshalb „gebiert“184 die Nichterfüllung durch den Schuldner einen neuen Anspruch des Gläubigers auf Interesseersatz. Auch das ABGB185 und das ALR186 folgen diesem Muster, doch verliert es sich spätestens in der unter pandektistischem Einfluss stehenden Kommentarliteratur.187 In Savignys Pandektenvorlesung zum Obligationenrecht188 bleibt dieses Konzept aber deutlich sichtbar. So behandelt er die „Verletzung in Beziehung auf eine Obligation“189 im Titel über die „unerlaubte Handlung“, und sieht in ihr den Grund für die Entstehung einer Verbindlichkeit, die eine bereits bestehende Obligation „modificiert“.190 Dass es sich dabei um eine 181 

Zum naturrechtlichen Einfluss auf das Konzept des „unächten Irrthums“ o. 3 b. etwa Johann Stephan Pütter/Gottfried Achenwall, Elementa iuris naturae additis iuris gentium europaearum practici primis lineis, Göttingen 1753, §  544: Qui non tribuit seu negat alteri suum, laedit et efficit, ut alter nanciscatur ius belli; weniger deutlich, aber in der Sache gleich, etwa Johann August Heinrich Ulrich, Initia philosophiae iusti seu iuris naturae socialis et gentium, Jena 1790, §§  330 ff.; Karl Anton von Martini, De lege naturali positiones: In usum auditorii Vindobonensis, Wien 1782, §§  374 ff. 183  Dazu etwa HKK/Nils Jansen (wie Fn.  156), §  249–253, 255 Rn.  21–24; HKK/Schermaier (wie Fn.  156), Vor §  275 Rn.  35 f., jeweils m. w. H. 184  So besonders anschaulich (für den Fall zu vertretender nachträglicher Unmöglichkeit der Erfüllung) Ulrich, Initia philosophiae (wie Fn.  182), §  321: Impossibilitas pacti superveniens (…) culpa vel dolo promittentis ipsius, huius obligationem gignit ad praestandum, quod interest (…). 185  Vgl. §  1295 ABGB 1811: „Jedermann ist berechtiget, von dem Beschädiger den Ersatz des Schadens, welchen dieser ihm aus Verschulden zugefügt hat, zu fordern; der Schade mag durch Uebertretung einer Vertragspflicht, oder ohne Beziehung auf einen Vertrag verursacht worden seyn“. 186  §  10 I 6 ALR: „Wer einen Andern aus Vorsatz oder grobem Versehen beleidigt, muß demselben vollständige Genugthuung leisten“; §  11: „Eben dazu ist auch der verhaftet, welcher eine dem Andern schuldige Pflicht aus Vorsatz oder grobem Versehen unterläßt, und dadurch demselben Schaden verursacht“; §  12: „Wer nur aus mäßigem Versehen den Andern durch eine Handlung oder Unterlassung beleidigt, der haftet nur für den daraus entstandenen wirklichen Schaden“. 187  Vgl. etwa Friedrich Wilhelm Ludwig Bornemann, Systematische Darstellung des Preußischen Civilrechts mit Benutzung der Materialien, 2.  Bd., 2.  Aufl., Berlin 1842, S.  314 ff. 188  Friedrich Carl von Savigny, Pandekten. Obligationenrecht, Allgemeiner Teil. Nach Savignys Vorlesungsmanuskript, hrsg. von Martin Avenarius, 2008, zitiert nach Seiten im Manuskript (Ausgabe). 189  Savigny, Pandekten (wie Fn.  188), 268v (86). 190  Ebd. (wie Fn.  189): „als Quelle von Obligationen (…) – hier aber von ihrem Einfluß auf eine andere, unabhängig von ihr bestehende Obligation, die durch sie modificiert wird (…).“. 182  Vgl.

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„neue“ Obligation handelt, die aus der bestehenden „hinzutritt“, betont er noch einmal, als es um die nachträgliche Unmöglichkeit der Erfüllung geht.191 Diese Unterscheidung von Sachleistungs- und Ersatzanspruch konnte in ihrer Verbindung mit der Möglichkeit der Sachverurteilung die „Modificationslehre“ (wie ich sie etwas unglücklich genannt habe192) begründen. Solange das materielle Recht auf die Möglichkeit der Sachverurteilung nicht reagierte, musste über den Inhalt einer Forderung nichts entschieden werden. „Unmöglichkeit“ der Leistung ist dann nur als ein Beendigungsgrund einer Verbindlichkeit zu beachten,193 am Inhalt der Obligation ändert sich nichts: der Schuldner schuldet Sachleistung, haftet aber auf Interessensersatz. Natürlich ändert sich mit Savignys Ansatz auch die Konstruktion der nachträglichen Unmöglichkeit, die sich nun an der Fähigkeit des Schuldners zur Sachleistung orientiert und nicht mehr am Erfüllungsinteresse des Gläubigers.194 Friedrich Mommsen versuchte, unter weitgehender Ausblendung des zeitgenössischen Prozess- und Vollstreckungsrechts und in klarer Opposition zu Savigny, die klassische Vorstellung von einer einheitlichen Obligation zu verteidigen.195 Zwar konnte er damit den Gang der Gesetzgebung beeinflussen,196 spätestens mit der Schuld­ rechtsmodernisierung (2002) setzte sich aber Savignys Konzept durch: die „Unmöglichkeit“ der Leistung beendet die Sachleistungspflicht des Schuldners, kann aber, wenn er eine „Pflicht“ verletzt hat, eine Ersatzpflicht begründen.197 c) Zwar unterlegt Savigny seinen Obligationsbegriff mit römischen Texten. Anders als im Besitz- und Verjährungsrecht orientiert sich Savignys „Modifications“-Lehre aber nicht mehr an deren Inhalt, sondern an den prozessualen Verhältnissen der Zeit und trägt die naturrechtliche Aufteilung in vertragliche (Sach-) Leistungspflicht und deliktische Ersatzpflicht weiter. Die Quellentexte sind immerhin biegsam genug, um auch auf diese Verhältnisse zu passen. Sie thematisieren die Geldverurteilung ja nicht auf einer vom zu entscheidenden Konflikt abgesonderten Ebene, vielmehr ist sie regelmäßige Folge einer Nichterfüllung. Wenn man nun, wie die gemeinrechtliche Lehre, über diese Texte die Folie eines handlungstheoretischen Unmöglichkeitsbegriffs legt,198 die Unmög191 

Savigny, Pandekten (wie Fn.  188), 370r (310). HKK/Schermaier (wie Fn.  156), §  275 Rn.  32 f. 193  Typisch dafür etwas die Darstellung bei Thibaut, Pandektenrecht I (wie Fn.  149), §  187, S.  140. 194  Ausführlich HKK/Schermaier (wie Fn.  156), §  275 Rn.  32 ff. 195  Friedrich Mommsen, Die Unmöglichkeit der Leistung in ihrem Einfluß auf obligatorische Verhältnisse (Beiträge zum Obligationenrecht I), 1853; dazu etwa HKK/Schermaier (wie Fn.  156), §  275 Rn.  25 ff. und 33 f. 196  Ausführlich HKK/Schermaier (wie Fn.  156), §  275 Rn.  28 und 35. 197  Dazu noch einmal HKK/Schermaier (wie Fn.  156), §  275 Rn.  71 ff. 198 Dazu (am Rande auch zur nachträglichen Unmöglichkeit der Leistung) Christian Wollschläger, Die willenstheoretische Unmöglichkeitslehre im aristotelisch-thomistischen Naturrecht, in: Sympotica Franz Wieacker, hrsg. von Detlef Liebs u. a., Göttingen 1970, S.  154, 172 ff. 192  Vgl.

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lichkeit also nicht auf die Erwartung des Gläubigers sondern auf die Leistungsfähigkeit des Schuldners bezieht, ist ihnen auch zu entnehmen, dass der Schuldner nur deshalb auf das Gläubigerinteresse haftet, weil er sich die Sachleistung schuldhaft unmöglich gemacht hat. Die Quellen sind geduldig. Die verschiedenen dogmatischen Voraussetzungen, die Savignys „Modificationslehre“ ermöglichten, sind zwar aus heutiger Sicht schwer zu definieren. Wahrscheinlich ist aber auch in diesem Fall – ähnlich wie beim „unächten“ Irrtum –, dass Savigny sich von den Vorstellungen der Praxis einerseits und von naturrechtlichen Begriffen andererseits leiten ließ. Ebenso wie im Irrtumsrecht versucht Savignys gar nicht erst die zeitgenössische Diskussion historisch zu analysieren; es geht ihm ausschließlich um eine systematische Darstellung des geltenden Rechts.

III.  Versuch einer Bewertung 1.  Vier Beobachtungen Aus diesem Überblick über einige dogmatische Konstruktionen lassen sich zur Kennzeichnung von Savignys Methode folgende Thesen formulieren: a) Gegenstand des „heutigen römischen Rechts“ ist für Savigny nicht das rekonstruierte klassische Recht, sondern das seit der Rezeption angepasste und veränderte römische Recht. Savigny ist sich solcher Anpassungen und Veränderungen durchaus bewusst und will sie weder leugnen199 noch marginalisieren. Das heißt aber nicht auch, dass seine dogmatischen Entwürfe stets nach solchen Anpassungen oder Veränderungen fragen. b) Im historischen Zugriff auf die Quellen und in der dogmengeschichtlichen Analyse gelingen Savigny wiederholt wichtige, noch heute unbestrittene Deutungen. Ein schönes Beispiel dafür sind die „sittlichen Gründe“, die Savigny für das bona-fides-Kriterium in der kanonischen Klageverjährung anführt, oder die bemerkenswert moderne Exegese von D. 18,1,45. In solchen Passagen entspricht Savignys Methode dem, was wir heute auch als „historisch“ bezeichnen würden. c) Auf Grundlage der Quellenexegese kommt Savigny (und kommen andere Pandektisten) zu gegenüber der zeitgenössischen Anschauung neuen Differenzierungen und teilweise abweichenden Lösungen. Das zeigt sich etwa im Verjährungsrecht, aber auch im Besitzrecht. Die Konfrontation mit den Quellen führt gar mitunter zur Aufgabe von aus dem Naturrecht oder dem späten Usus modernus übernommenen Konzepten. 199  Vgl. auch Savigny, System I (wie Fn.  100), S.  1 f. und 4 f. („Es ist nun das hier genannte gemeine Recht kein anderes, als jenes heutige Römische Recht, nur in der besondern Anwendung auf das Deutsche Reich, also mit den dadurch bestimmten besonderen Modificationen.“).

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d) Die den Quellen abgelesenen Begriffe sind aber auch bei Savigny häufig aus zeitgenössischen (insb. naturrechtlichen) Konzepten geschaffen. Die Gegenüberstellung von Wille und Erklärung und die „Rettung des Verkehrs gegen gränzenlose Unsicherheit und Willkühr“200 sind Topoi, die das späte Naturrecht ausgeprägt hat. Gleiches gilt für die Vorstellung, der Ersatzanspruch des Gläubigers sanktioniere ein Fehlverhalten des Schuldners. Bei dem Recht auf die „Handlung“ einer Person, die damit „aus der Freyheit des Handelnden“ ausscheidet,201 denkt man an Kant.202 Das „Rechtsverhältnis“, ein zentraler Begriff in Savignys Rechtslehre, vereinigt in neuer Form die schon im Naturrecht zusammengedachten Begriffe „Recht“ und „Klagerecht“.203 Eine solche Umdeutung alter oder „Umgründung“ zeitgenössischer Begriffe erfolgte wohl nicht reflektiert oder planmäßig. Gleichwohl drückt sie den Willen Savignys204 und seiner Zeitgenossen aus, die Deutungshoheit über das Recht insgesamt und das Privatrecht im Besonderen aus der Hand der Philosophie zurückzugewinnen.205 Gerade deswegen ergibt sich das Bild einer aus heutiger Sicht widersprüchlichen und inkonsistenten historischen Methode: Neben noch heute maßgeblichen Exegesen steht die unreflektierte Vereinnahmung römischer Quellen für die zeitgenössische Dogmatik. Im Übrigen aber war das Bekenntnis Savignys zur Geschichte kein Lippenbekenntnis. Am Verjährungsrecht kann man sehen, dass quellentreue Auslegung auch dazu führen konnte, die herkömmliche („philosophische“) Systematik aufzugeben. Auch in Fällen wie dem „unächten Irrthum“, wo man die klassischen Texte mit den neuen Begriffen wog, richtet Savigny diese Begriffe und das von ihm rekonstruierte „System“ immer wieder daran aus, was auch die heutige Romanistik in den Quellen liest. Die Differen200 

Savigny, System III (wie Fn.  113), S.  355. Savigny, System I (wie Fn.  100), S.  339. 202  Dazu etwa Kiefner, Einfluss Kants (wie Fn.  113), in: Blühdorn/Ritter, Philosophie und Rechtswissenschaft. (wie Fn.  18), S.  3, 10 f. und 17; kurz auch HKK/Schermaier, (wie Fn.  156), §§  280–285 Rn.  11. 203  Zu dem Begriff des „Rechtsverhältnisses“ bei Savigny insb. Hans Kiefner, Das Rechtsverhältnis. Zu Savignys System des heutigen Römischen Rechts: Die Entstehungsgeschichte des §  52 über das „Wesen der Rechtsverhältnisse“, in: FS Coing (wie Fn.  167), S.  149 ff. (= in: Hans Kiefner, Ideal wird, was Natur war. Abhandlungen zur Privatrechtsgeschichte des späten 18. und 19. Jahrhunderts, Goldbach 1997, S.  145 ff.). 204  Das lässt sich schon ablesen in der Methodologie-Vorlesung, die Savigny in Marburg 1802/1803 gehalten hatte; dazu Jakobs, Begründung (wie Fn.  4), S.  255 ff. Jakobs gibt auch in Auszügen die Vorlesungsnotizen Savignys (Anhang 1, S.  382 ff.) wieder; die Vorlesungsnotizen insgesamt sind außerdem publiziert in Friedrich Carl von Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, hrsg. von Aldo Mazzacane, Frankfurt 1993, S.   86 ff. (2.  Aufl. Frankfurt 2004). Die Mitschrift von Jakob Grimm ist herausgegeben worden von Gerhard Wesenberg (Friedrich Carl von Savigny, Juristische Methodenlehre, Stuttgart 1951). 205  Einen Eindruck von diesem bis heute nicht entschiedenen Streit um die Deutungshoheit in Fragen des Rechts gibt Jakobs, Begründung (wie Fn.  4), S.  239–242; vgl. auch ders., Der Ursprung der geschichtlichen Rechtswissenschaft in der Abwendung Savignys von der idealistischen Philosophie, in: TR 77 (1989) S.  241 ff. 201 Vgl.

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zierungen im System privatrechtlicher Normen, die die Pandektistik gegenüber dem Usus modernus und dem späten Naturrecht erreicht, verdanken sich häufig dieser Verpflichtung zur antiquarischen Behandlung der Quellen. So „pandektistisch“, wie wir heute oft anzunehmen bereit sind, waren die Pandektisten also nicht – jedenfalls nicht, soweit es Savigny angeht.

2.  Zwei Antworten zu Savigny a) Die Betrachtung, wie Savigny mit den Quellen umgeht, sollte uns helfen die beiden zu Beginn gestellten Fragen zu beantworten. Eine solche Antwort zu geben ist nun einfacher geworden, aber sie fällt gleichwohl nicht eindeutig aus. Die erste Frage lautete, wie sich die Forderung nach einer geschichtlichen Begründung des geltenden Rechts zum modellhaften Charakter des römischen Rechts verhält. Wir haben gesehen, dass Savigny die den römischen Quellen abgelesenen Begriffe und Regeln, anders als in seinen programmatischen Schriften, nicht entwicklungsgeschichtlich begründet. Ihre Autorität ergibt sich für Savigny nicht daraus, dass das zeitgenössische Recht Abkömmling des römischen ist. Die Überzeugung, dass die Quellen die „richtigen“ Regeln enthielten, sich diese offenbarten, wenn die Quellen in ihrer Eigenart verstanden sind, bedarf für Savigny keiner historischen Begründung. Nörr hat vermutet, dass diese Überzeugung von einer juristischen „Wahrheit“ mit Savignys religiöser Einstellung zu tun hat.206 Nörr geht so weit zu vermuten, „daß die Demut gegenüber den Quellen Savigny nicht daran hindert, durch die Scheidung von Lebendigem und Totem und durch deutliche literarwissenschaftliche Kritik seine durch Gottvertrauen legitimiere Individualität ins Spiel zu bringen“.207 Auch wenn man Nörrs Vermutung nicht teilt, so zeigen unsere praktischen Beispiele doch, dass Savigny in seiner dogmatischen Arbeit nicht die römische Methode auf den „Stoff“ des zeitgenössischen Rechts anwenden will. Denn nicht die Methode der römischen Juristen interessiert ihn, sondern die in den Quellen aufzufindende Ordnung. Die Forderung nach einer historischen Analyse des geltenden Rechts löst Savigny ohnehin nur sporadisch ein. Während er sich im „Recht des Besitzes“ und bei der Darstellung des Verjährungsrechts um eine solche Analyse bemüht, stellt er im Irrtums- und Leistungsstörungsrecht nicht einmal die Frage, welche Überlegungen die zeitgenössische Auffassung geformt haben. Immerhin kristallisiert sich in Savignys Arbeiten eine klare Hierarchie: Römisches Recht ist

206  Nörr, Philosophische Lehrjahre (wie Fn.  11), S.  133 ff.; vorsichtiger Rückert, Idealismus (wie Fn.  1), S.  237 ff.; vgl. aber auch ders., Religiöses und Unreligiöses bei Savigny, in: Konfession im Recht, hrsg. von Cancik, (wie Fn.  17), S.  49, 62 ff. 207  Nörr, Philosophische Lehrjahre (wie Fn.  11), S.  263.

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der Ausgangs- und Endpunkt seiner Überlegungen, alles andere sind „Modificationen“ des römischen Rechts: 208 Das Resultat dieser Untersuchung über den Inhalt der neueren Rechte ist folgendes. Es sind darin allerdings Rechtssätze aufgestellt, die das Römische Recht nicht kannte: allein durch diese Sätze ist das Ganze der Römischen Theorie so wenig aufgehoben, daß sie selbst im Gegentheil nicht anders Sinn haben können, als indem man sie als Zusätze zu jener Theorie betrachtet, deren Gültigkeit dadurch eben sehr deutlich anerkannt ist.

b) Die zu Beginn diagnostizierte „Leerstelle“ in Savignys Methodenprogramm, die Frage also, was Savigny dazu brachte, von den römischen Quellen abzugehen und neuerer Auffassung zu folgen, während er an anderer Stelle genau umgekehrt verfuhr, hat sich nicht wesentlich aufgehellt. In dieser Frage kann alleine der Ansatz Nörrs weiterhelfen: Die Überzeugung von der Richtigkeit einer Regel oder Entscheidung ist wie „die wissenschaftliche Arbeit als solche in der Form, wie sie sich bei Savigny findet, ohne das grundsätzliche Vertrauen in eine von Gott gelenkte Schöpfung nicht denkbar“.209 Allerdings bezieht sich Savigny in seinen Argumenten kaum auf Religion oder Metaphysik. Geht er in seiner Lösung von den Quellen ab, begründet er das zumeist historisch oder verweist auf praktische Bedürfnisse, auf die „Anwendung“210 der Theorie.211 Das gilt auch für das Erfordernis der bona fides im Verjährungsrecht, doch hat man dort das Gefühl, Savigny hätten tatsächlich die „sittlich-religiösen Gründe“ der Dekretalen überzeugt. Ein allgemeiner, nachprüfbarer Maßstab dafür, ob das zeitgenössische Recht noch „Leben hat“ oder schon „abgestorben“ ist, lässt sich jedenfalls nicht benennen. Immerhin hat sich wiederholt gezeigt, dass Savigny die zeitgenössische Praxis nicht korrigieren, sondern mit neuen Argumenten begründen will. Selten, wie im Besitzrecht, gibt er dafür als römisch verstandene Regeln auf; meistens aber ist ihm das zeitgenössische Recht Leitfaden bei der Auslegung der römischen Quellen. Das zeigt sich besonders deutlich an seiner „Modificationslehre“, aber auch am Entwurf des „unächten Irrthums“, der eine römische Antwort geben soll auf ein Phänomen, das die zeitgenössische Wissenschaft mühsam entdecken musste: dass der Wille zum Vertragsschluss ohne eine Erklärung dieses Willens belanglos ist.

208  Savigny, Besitz (wie Fn.  24), S.  592; beinahe wortgleich Moellenthiel (wie Fn.  82), S.  152 zu den „Modificationen“, die das kanonische Recht der praescriptio am römischen vorgenommen hat. 209  Nörr, Philosophische Lehrjahre (wie Fn.  11), S.  314. Als Beispiel nennt Nörr ausdrücklich die Besitz-Schrift, die unmittelbar nach der religiösen Festigung (als Abschluss seiner „Lehrjahre“) entstand: „Die ‚weltanschauliche‘ Stabilisierung trifft nicht zufällig zeitgleich mit der Entstehung des ‚Rechts des Besitzes‘ zusammen“ (S.  319). 210 Vgl. Savigny, Besitz (wie Fn.  24), S.  561: „Soll also eine civilistische Theorie des Besitzes auf Anwendung Anspruch zu machen berechtigt seyn, so muß das Verhältniß, in welchem sie zu den Bestimmungen der neuern Rechts steht, untersucht und dargestellt werden: (…)“. 211  Vgl. noch einmal Meder, Mißverstehen und Verstehen (wie Fn.  100), S.  69.

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Savignys Vertrauen darauf, dass die römischen Quellen ein widerspruchsfreies System richtigen Rechts freigeben, wenn sie nur in ihrer Eigenheit verstanden werden, gründet jedenfalls auf einer von der „Krankheit des Relativismus“ (E. Spranger) freien Hermeneutik. Sich selbst und die eigenen, an die Quellen herangetragenen Erwartungen als historische (und also ephemere) Erscheinung zu begreifen, kam Savigny nicht in den Sinn.

3.  Eine Frage an uns Dieser Befund gibt zu einem überheblichen Urteil über die Pandektistik keinen Anlass. Denn auf ihren Schultern steht auch die moderne Romanistik, sowohl was die Erschließung der Quellen als auch was die begriffliche Fassung und die Systematisierung des klassischen Rechtsstoffs angeht. Die wenigen Romanisten, die es heute noch wagen, sich mit der Dogmatik der Klassiker zu befassen, gehen vielleicht auch deswegen mit großer Selbstverständlichkeit davon aus, dass unsere modernen Begriffe geeignet sind, historische Rechtszustände zu erfassen und zu beschreiben. „Eigentum“, „Konsens“, „Verschulden“ – das sind nur drei Schlüsselbegriffe, deren zeitgenössische Bedeutung nicht überprüft wird, ehe man damit die klassischen Quellen deutet. Zahlreiche weitere Begriffe lassen sich mit diesen in eine Reihe stellen. Sind wir aber, wenn wir uns einer Historisierung unserer Begriffe und Konzepte verweigern, nicht alle „Pandektologen“?

Zur Aequitas / Billigkeit in der Rechtstheorie des 19. Jahrhunderts Jan Schröder Klaus Luig schreibt in seinem HRG-Artikel „Pandektenwissenschaft“, die Zeit der Pandektistik sei mit einer Kritik an ihrem „wissenschaftlichen Positivismus und Formalismus“ zu Ende gegangen1. Der Formalismus-Vorwurf ist in der Tat eine konstante Größe bei der Auseinandersetzung mit der Pandektenwissenschaft und der historischen Schule2 . Was ist Formalismus? Es fallen einem dazu Stichwörter ein wie: Beharren auf einem strengen und unflexiblen Recht, Haften am Buchstaben des Gesetzes, lebensferne Begrifflichkeit. Aber vielleicht einfacher zu beschreiben ist das Gegenteil einer formalistischen, nämlich eine materialisierende Rechtswissenschaft. Nach dem viel zitierten §  8 von Max Webers Rechtssoziologie zeichnet sie sich aus durch den Rückgriff auf „ethische Kategorien“, „sittliche Postulate“, „materiale Gerechtigkeitsforderungen“3, sie respektiert die soziale Wirklichkeit und tritt der formalistischen Lebensferne entgegen. Ein Schlüsselbegriff in diesem Zusammenhang ist die Aequitas oder Billigkeit, die offenbar in einem engem Zusammenhang mit der materialen Gerechtigkeit steht. Je mehr Spielraum eine Rechtswissenschaft der Aequitas gibt, umso weniger ist sie dem Formalismus-Vorwurf ausgesetzt. Wenn man also fragt, wie formalistisch oder nichtformalistisch die Pandektenwissenschaft nun wirklich gewesen ist, dann liegt es nahe, ihre Einstellung zur Aequitas zu überprüfen. Ganz neu ist dieses Thema nicht. So haben in jüngerer Zeit Ulrich Falk, Peter Landau, Hans-Peter Haferkamp, Thomas Henkel und Christoph-Eric Mecke4 aus verschiedenen Blickwinkeln die Einstellung 1 

Klaus Luig, Pandektenwissenschaft, in: HRG1 III (1984), Sp.  1422–1431, 1423. Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2.  Aufl., Göttingen 1967, S.  432 , auch z. B. 449, 452. Weitere Belege bei Hans-Peter Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, Frankfurt am Main 2004, S.  9 –12, 104, auch z. B. 96– 101. 3  Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (= Grundriss der Sozialökonomik, III. Abteilung), Tübingen 1922, Kap. VII, §  8 , S.  505 f., 510 f. 4  Ulrich Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid. Erkundungen auf den Feldern der sogenannten Begriffsjurisprudenz, Frankfurt am Main 1989, z. B. S.  72–75; Peter Landau, Puchta und Aristoteles, in: ZRG Rom. Abt.  109 (1992), S.  1–30 (13 ff.); Hans-Peter Haferkamp, Die excep2 Repräsentativ

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der Pandektistik zur Aequitas untersucht. Überwiegend kommen sie zu dem Ergebnis, dass die Aequitas eine größere Rolle spielt als bisher angenommen und insofern der Formalismus-Vorwurf unberechtigt ist. Die Arbeiten beziehen sich aber durchweg auf den Umgang der Pandektisten mit einzelnen Normen oder Normkomplexen, die der Aequitas Raum geben, nicht aber auf den Begriff der Aequitas selbst und ihre Bedeutung für die Jurisprudenz. Hier scheint mir eine Lücke in unserem Wissen zu bestehen. Was war also für die Pandektisten „Aequitas“ oder „Billigkeit“5 und welchen unmittelbaren Einfluss sollte sie auf die Anwendung des Rechts haben? Konkret geht es mir dabei um zwei mögliche Funktionen der Aequitas, nämlich um die Ergänzung lückenhaften und um die Korrektur unbilligen – oder als unbillig empfundenen – positiven Rechts. Und da eine Untersuchung, die sich auf die Pandektisten beschränken würde, in der Luft hinge, sozusagen „blind“ wäre, möchte ich, soweit es in diesem Rahmen möglich ist, jeweils auch die Vor- und Nachgeschichte einbeziehen, also die Doktrinen der Spätaufklärung und der Kaiserzeit.

I.  Die rechtsergänzende Funktion der Aequitas 1.  Die Entwicklung bis zur Spätaufklärung Die frühneuzeitliche Entwicklung lässt sich ungefähr wie folgt skizzieren6 : Im 16. Jahrhundert rezipiert die gelehrte Rechtsliteratur den aristotelischen Begriff der Billigkeit, epieikeia. Billigkeit war danach einmal dasjenige, „was über das geschriebene Gesetz hinaus gerecht ist“, dann aber auch die Berichtigung tio doli generalis in der Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1914, in: Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter, hrsg. von U. Falk (u. a.), Frankfurt am Main 2000, S.  1–37; ders., Puchta (wie Fn.  2) S.  418 f., 458 f., im Ergebnis differenzierend 454 f.; Thomas Henkel, Begriffsjurisprudenz und Billigkeit. Zum Rechtsformalismus der Pandektistik nach G. F. Puchta, Köln etc. 2004, bes. S.  142 ff.; Christoph-Eric Mecke, Begriff und System des Rechts bei Georg Friedrich Puchta, Göttingen 2009, z. B. S.  782 ff. 5  Die meisten Autoren setzen „Aequitas“ und „Billigkeit“ gleich, so in der Pandektistik Friedrich Carl v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. VII, Berlin 1848, S.  93 Anm (d); Georg Friedrich Puchta, Pandekten, 5.  Aufl., besorgt von A. Rudorff, Leipzig 1850, §  21, S.  32; Josef Unger, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts (1856), Bd. I, 5. (unv.) Auflage, Leipzig 1892, S.  72; Karl Adolph von Vangerow, Lehrbuch der Pandekten, I, 7.  Aufl., Marburg und Leipzig 1863, §  175, S.  297; Rudolph von Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. 1, Leipzig 1877, S.  354; Carl Georg von Wächter, Pandekten, Bd. I, Allgemeiner Theil, hrsg. von O. v. Wächter, Leipzig 1880, S.  91; Ferdinand Regelsberger, Pandekten, Bd. 1, Leipzig 1893, S.  65. Anders Friedrich Ludwig Keller, Pandekten. Vorlesungen, hrsg. von William Lewis, Bd. I, 2.  Aufl., Leipzig 1867, S. XX f.; auch Carl Friedrich Ferdinand Sintenis, Das practische gemeine Civilrecht, Bd. I, Leipzig 1844, S.  57; außerhalb der historischen Schule vor allem Johann Friedrich Kierulff, Theorie des Gemeinen Civilrechts, Altona 1839, S.  24 ff. 6  Zum Folgenden Jan Schröder, Aequitas und Rechtsquellenlehre in der frühen Neuzeit (1997), in: ders., Rechtswissenschaft in der Neuzeit, Tübingen 2010, S.  35–64.

Zur Aequitas / Billigkeit in der Rechtstheorie des 19. Jahrhunderts

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des zu allgemein gefassten Gesetzes. Im ersten Fall hatte also die Billigkeit eine gesetzesergänzende, im zweiten Fall eine gesetzeskorrigierende Funktion. Zur Gesetzesergänzung wird die Billigkeit, in den lateinischen Texten „aequitas“, nun seit der Mitte des 16. Jahrhunderts als ungeschriebene Rechtsquelle betrachtet. Das ist eigentlich seltsam, denn als Rechtsquelle galt ja auch das Naturrecht und man fragt sich, wozu man daneben noch die Aequitas benötigte. Die Antwort liegt aber darin, dass das alte göttliche Naturrecht unvollständig war. Man leitete es im Wesentlichen aus dem Dekalog ab, und hier konnten sich Lücken ergeben, die dann aus der Aequitas zu füllen waren. Standardbeispiel ist der wohl von Platon stammende Schwertfall. Jemand gibt sein Schwert in Verwahrung, als er es abholen will, ist er wahnsinnig geworden. Muss der Verwahrer das Schwert zurückgeben, obwohl der Deponent sich und anderen Schaden zufügen könnte? Aus dem göttlichen Naturrecht ergibt sich nur das Gebot der Vertragstreue (das Wahrhaftigkeits-, also das achte oder neunte Gebot). Hier bedarf es aber einer Einschränkung oder Ergänzung, Lückenhaftigkeit und Korrekturbedürftigkeit gehen ineinander über. Und diese Korrektur oder Ergänzung erfolgt durch Aequitas. Mit ihrer Hilfe wird das Naturrecht so „interpretiert“ oder korrigiert7, dass das Schwert trotz des achten Gebots nicht zurückzugeben ist. Die Dinge ändern sich dann mit dem Übergang zum rationalen Naturrecht seit dem mittleren 17. Jahrhundert. Hobbes, Pufendorf und ihre Nachfolger leiten das Naturrecht jetzt aus der Vernunft her, und die Vernunft gibt für jeden denkbaren Fall eine Regel. So schreibt 1671 der niederländische Naturrechtler Ulrich Huber: Das „Naturecht hat sozusagen unendlich viele Vorschriften wegen der Unendlichkeit der Umstände und Gegenstände“8 . Damit wird nun auch der Schwertfall naturrechtlich lösbar. Der Aequitas bedarf es nicht mehr: „die Aequitas“, sagt Johann Nikolaus Hert 1716, „ist das Naturrecht selbst, und wird nur unter dem Gesichtspunkt des positiven Rechts so genannt“9. Das Naturrecht saugt also gewissermaßen die Aequitas in sich auf. In diesem Rahmen bewegt sich auch noch die Rechtsliteratur um 1800. Aequitas ist etwa für Christian Friedrich Glück (1797) „alles dasjenige, was mit dem natürlichen Recht übereinstimmt“10 (daneben hat sie noch andere Bedeutungen, auf die es hier 7 Interpretation: Francisco Suarez, Tractatus de legibus ac Deo legislatore (1612), lib. 2, cap.  16, Nr.  7 (= zweisprachige Ausgabe von L. Pereña, IV, Madrid 1973, S.  84). Milderung durch Aequitas: Hugo Grotius, De aequitate, indulgentia et facilitate, im Anhang von ders.: De jure belli ac pacis libri tres, Amsterdam 1720, cap.  1, Nr.  6 , S.  38. 8  Ulrich Huber, Digressiones Iustinianeae, 3. Ausg., hrsg. v. Zacharias Huber, Franeker 1696, lib. 1, cap.  6 , Nr.  3, S.  14. 9  Johann Nicolaus Hert, zu Samuel Pufendorf, De jure naturae et gentium libri octo (1672), neue Ausg., Frankfurt am Main 1716, lib. 5, cap.  12, §  21, Anm. a) (S.  776). 10  Christian Friedrich Glück, Ausführliche Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld, ein Commentar, 1. Teil, 2. Ausgabe, Erlangen 1797, S.  194. Ebenso z. B. Ludwig Heinrich Jordan, Über die Billigkeit bey Entscheidung der Rechtsfälle, Göttingen 1804, S.  49. Siehe zur Über-

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nicht ankommt). Das Naturrecht sieht man aber weiterhin als Rechtsquelle an: „Enthält das positive Recht keine Änderung des natürlichen, so hat ein natürliches Recht im Staat die volle Wirkung eines bürgerlichen“ (so Thibaut11, noch 1823). Über das Naturrecht behält also die Aequitas ihre rechtsergänzende Funktion. Einige Autoren sprechen das auch direkt aus, etwa Carl Christoph Hofacker 1788, „quae iure civili non sunt definita, relicta sunt iuri, s. aequitati naturali“12 , also: Was im positiven Recht nicht bestimmt ist, wird der natürlichen Billigkeit überlassen, und so noch verschiedene Autoren (Sylvester Jordan, Carl August Albrecht) im frühen 19. Jahrhundert13. Zwar darf man sich von dieser rechtsergänzenden Funktion des Naturrechts und damit auch der Aequitas keine allzu großartigen Vorstellungen machen. Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass die Spruchpraxis der Rechtsfakultäten des 18. Jahrhunderts in kaum 5% der Fälle auf das Naturrecht zurückgreift14, und dies auch so gut wie gar nicht im privaten Vermögensrecht, sondern hauptsächlich im Staatsund Staatskirchenrecht und im Familienrecht. Aber immerhin ist doch in der Theorie, bis in das erste Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hinein, die rechtsergänzende Funktion der Aequitas, als Naturrecht, unbestritten.

einstimmung von Aequitas und Naturrecht im späten 17. und im 18. Jh. auch Schröder, Aequitas (wie Fn.  6) S.  60–63. 11  Anton Friedrich Justus Thibaut, System des Pandekten-Rechts (1.  Aufl. 1803), 6. Ausgabe, Bd. 1, Jena 1823, S.  8. Die Rechtsquellen-Qualität des Naturrechts ist im späten 18. Jh. und etwa bis 1810 noch fast unumstritten, s. etwa noch Carl Christoph Hofacker, Principia iuris civilis Romano-Germanici, Bd. I, Tübingen 1788, S.  3 ; Glück, Pandekten (wie Fn.  10), S.  118 f.; Ludwig Julius Friedrich Höpfner, Theoretisch-practischer Commentar über die Heineccischen Institutionen nach deren neuesten Ausgabe, 7.  Aufl., hrsg. von Adolph Dieterich Weber, Frankfurt am Main 1803, S.  58; Gottlieb Hufeland, Lehrbuch des in den deutschen Ländern geltenden gemeinen oder subsidiarischen Civilrechts, Bd. 1, Gießen 1808, S.  2 ; und noch Albrecht Schweppe, Das Römische Privatrecht in seiner heutigen Anwendung, 4. Ausgabe, Bd. 1, Göttingen 1828, S.  9. Zum Naturrecht nach 1650 und zu seiner allmählichen Eliminierung aus den Rechtsquellen im frühen 19. Jh. Jan Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933), 2.  Aufl., München 2012, S.  102 ff., 206. 12  Hofacker (wie Fn.  11), S.  8 . 13 (Sylvester) Jordan, Bemerkungen über den Gerichtsgebrauch, dabey auch über den Gang der Rechtsbildung und die Befugnisse der Gerichte, in: AcP 8 (1828), S.  191–260, 228; C(arl) A(ugust) Albrecht, Die Stellung der römischen Aequitas in der Theorie des Civilrechts mit Rücksicht auf die zeitgemäße Frage der Codification, Dresden und Leipzig 1834 (Ndr. Leipzig 1969), S.  62. 14  Thomas Cornelius Kischkel, Das Naturrecht in der Rechtspraxis. Dargestellt am Beispiel der Spruchtätigkeit der Gießener Juristenfakultät, in: ZNR 22 (2000), S.  124–147, 141, 146; Jan Schröder, Naturrecht in den Tübinger Konsilien von Wolfgang Adam Schöpf, in: Naturrecht und Staat. Diethelm Klippel zum 70. Geburtstag, hrsg. von J. Eisfeld (u. a.), Tübingen 2013, S.  101–112, 104 ff.

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2.  Die Pandektistik „Pandektistik“ setze ich, was an sich willkürlich, aber zweckmäßig ist, mit „historischer Schule“ der Romanistik gleich, so dass sich etwa dieselbe Liste von Savigny bis Windscheid ergibt wie bei Klaus Luig15. Mit der historischen Schule beginnt eine ganz neue Periode der Aequitas-Diskussion16 . Ich hebe zunächst die mir wesentlich erscheinenden Punkte hervor (a) und frage dann nach den Gründen (b).

a)  Die Aequitas in der Pandektistik: Nicht mehr Rechtsquelle, sondern Strukturelement des schon vorhandenen positiven Rechts Als Erstes fällt in der historischen Schule eine Reduzierung des Interesses an der Aequitas auf. Eine einschlägige monographische Abhandlung oder auch nur einen Aufsatz scheint es von pandektistischer Seite17 (anders als von verschiedenen Praktikern18) nicht zu geben. Die Lehrbücher widmen ihr allenfalls kurze Abschnitte, einige, wie die von Savigny und Arndts, behandeln sie nicht einmal selbständig. Die zweite Neuerung ist eine Verlagerung des wissenschaftlichen Standorts der Aequitas. Sie erscheint nicht mehr oder allenfalls anhangsweise (wie bei Vangerow19) neben den jetzt allein anerkannten Formen der Rechtsentstehung: Gesetz, Gewohnheitsrecht und wissenschaftliches Recht. Ihr systematischer Ort ist nicht mehr die Rechtsquellentheorie, sondern eine im Einzelnen sehr unterschiedlich benannte Lehre von den Eigenschaften, der Struktur der Rechtsnormen. So hat etwa Windscheid ein von den Rechtsquellen abgesondertes Kapitel über „Gegensätze im Recht“, worin er etwa zwingendes und nichtzwingendes, regelmäßiges und regelwidriges und eben auch „strenges und billiges Recht“ erörtert, Wächter bringt die Aequitas gleichfalls nicht bei den Rechtsquellen unter, sondern in einem Kapitel über die „Natur und Verschiedenheit der Rechtsnormen und ihres Inhalts“ (gemeines und besonderes Recht, singuläres Recht usw.). Regelsberger behandelt sie, wiederum getrennt von den

15  Luig, Pandektenwissenschaft (wie Fn.   1), Sp.  1423. Dort fehlt allerdings Jhering, ich rechne außer ihm auch noch Thöl und Unger dazu. 16  Eine, allerdings nur referierende, Übersicht über einige pandektistische Äußerungen zur Aequitas gibt Henkel, Begriffsjurisprudenz (wie Fn.  4), S.  114–135. 17  Soweit ersichtlich ist die einzige selbständige Schrift ein Vortrag von (August) Ubbelohde: Über Recht und Billigkeit, Hamburg 1887 (28 S.), der dem Windscheidschen Aequitas-Begriff folgt und lediglich die verschiedenen Wege, auf denen die Billigkeit in das Recht eindringt (s. den folgenden Text), mit Beispielen beschreibt. 18  Albrecht, Röm. Aequitas (wie Fn.  13); Hartter, Über bonum und aequum und ihre Gegensätze im römischen Recht, in: AcP 29 (1846), S.  253–290 und AcP 30 (1847), S.  377–421. 19  Vangerow, Lehrbuch (wie Fn.  5), §  30, „Anhang“, S.  63.

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Rechtsquellen, bei den „Grundbegriffen“ (Recht, Sittlichkeit, Sitte, Billigkeit u. a.) 20 usw.21 Eine relativ ausführliche Darstellung gibt Puchta in seinen „Pandekten“. Puchta lag das Thema offenbar am Herzen, denn er weitet seine ursprünglich, in der ersten Auflage 1838, ganz knappen Bemerkungen 22 in den späteren Auflagen weiter aus23. Auch bei ihm ist der Fundort nicht das Rechtsquellenkapitel, sondern ein Kapitel über das „Verhältniß der Rechtsvorschriften zu nichtjuristischen Principien“. Als solche betrachtet er Sittlichkeit und Religion, sowie „Wohlfahrt“, und diese ist für ihn die gleichmäßige Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse und Unterschiede. Sie erfolgt durch die „Billigkeit“ bei der Gestaltung des Rechts und zwar in zweierlei Weise. Entweder so, dass das reine Recht schon selbst den begründeten Anforderungen des individuellen Wohls entspricht, wie etwa bei der rechtlichen Behandlung von Betrug und Zwang und bei der Auslegung von Gesetzes- oder Vertragsnormen. Oder so, dass neben das strenge Recht Ausnahmevorschriften „zu Gunsten gewisser Personen oder Verhältnisse“ treten, ein ius singulare, wie der Schutz der Minderjährigen gegen nachteilige Rechtsgeschäfte oder der Frauenspersonen gegen übernommene Bürgschaften. Jhering erweitert dann im „Geist des römischen Rechts“ diesen Katalog noch um den dritten Fall, dass „eine höhere Gewalt über dem Richter ohne im voraus fixirte Normen die Correctur des Rechts vornimmt“, also in Rom der Prätor, später der Kaiser und heute im Strafrecht der Souverän 24 ; Puchtas Lehrstuhlnachfolger Friedrich Ludwig Keller zieht in diesen Zusammenhang auch noch die equity-Rechtsprechung des englischen 20  Bernhard Windscheid: Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd.  I, 6.  Aufl., Frankfurt am Main 1887, §  28, S.  73 f.; Wächter, Pandekten (wie Fn.  5), §  19 , S.  9 0–92; Regelsberger: Pandekten (wie Fn.  5), §  11, S.  63–67. 21  Weitere Autoren, welche die Aequitas getrennt von den Rechtsquellen behandeln (in Klammern die jeweilige Rubrik): Puchta, Pandekten (wie Fn.  5), §  21, S.  31–33 („Verhältniß der Rechtsvorschriften zu nichtjuristischen Principien“); Heinrich Thöl, Einleitung in das deutsche Privatrecht, Göttingen 1851, §  38, S.  105 ff., §  40, S.  113 ff. („Recht, Privatrecht, deutsches Privatrecht“); Unger, System (wie Fn.  5), §  11, S.  67 ff. („Von den Lücken im gegebenen Recht …“, wegen §  7 AGBG!); Keller, Pandekten (wie Fn.  5), §  8 , S.  17 f. („Eintheilungen des Rechts“); Alois Brinz, Lehrbuch der Pandekten, Bd. I, 2.  Aufl., Erlangen 1873, §  25, S.  112 („Arten“ des Rechts); Heinrich Dernburg, Pandekten, Bd. I, 5.  Aufl. Berlin 1896, §  34, S.  75 ff. („Interpretation und Fortbildung der Rechtsnormen“). – Dagegen stellt C(hristian) F(riedrich) Mühlenbruch: Lehrbuch des Pandekten-Rechts, nach der Doctrina Pandectarum deutsch bearbeitet, 3. Auflage, 1. Teil, Halle 1839, die Aequitas in §  43, S.  109 ff. noch bei den Rechtsquellen als „nicht geschriebenes Recht“ dar. Aber Mühlenbruch gehört angesichts seines Rechtsbegriffs und seiner Einstellung zum Naturrecht und zum Gewohnheitsrecht weder zur historischen Rechtsschule, noch zur Pandektistik im hier gemeinten Sinne. 22  Georg Friedrich Puchta, Pandekten, Leipzig 1838, §  18, S.  23. 23  Puchta, Pandekten (wie Fn.  5), §  21, S.  31–33; ders., Vorlesungen über das heutige römische Recht, Bd. I, 4.  Aufl., Leipzig 1854, §  21, S.  52–55. 24  Rudolph von Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 2. Theil, 1. Abtheilung, 3.  Aufl., Leipzig 1874, S.  93 f. Eine ähnliche Dreiteilung bei Ubbelohde, Recht und Billigkeit (wie Fn.  17), S.  7 ff.

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„chancellors“ hinein 25. In diesem Rahmen halten sich fast alle pandektistischen Ausführungen zu Aequitas oder Billigkeit 26 . Die „Aequitas“, das ist die Quintessenz des Ganzen, erscheint hier also nur noch als ein vom Gesetzgeber stammendes Strukturelement oder eine Eigenschaft des schon vorhandenen Rechts und nicht als Instrument, mit dem der Rechtsanwender, Wissenschaftler oder Praktiker das vorhandene Recht ergänzen oder verändern könnte. Sie wandert von der Ebene der Rechtsanwendung auf die Ebene der Rechtsetzung, sie ist keine Rechtsquelle mehr, aus der auch der Rechtsanwender schöpfen kann, sondern eine Sache des Gesetzgebers. So formuliert es auch Jhering 1877 im „Zweck im Recht“: Praktisches Ziel der Gerechtigkeit ist die Gleichheit und zwar der „materiellen“ Gerechtigkeit „die innere Gleichheit, d. h. das Gleichgewicht zwischen Verdienst und Lohn, zwischen Strafe und Schuld (das aequum der Römer und unsere Billigkeit)“. Dagegen ist das Ziel der „formalen“ Gerechtigkeit nur „die äußere Gleichheit, d. h. die Gleichmäßigkeit in der Anwendung des Gesetzes auf den einzelnen Fall.“ Jhering fährt fort: „Die Lösung der ersteren Aufgabe [innere Gleichheit, aequum der Römer] ist im Staat Sache des Gesetzgebers (…) Die Lösung der zweiten Aufgabe [äußere Gleichheit, formale Gerechtigkeit] ist die Sache des Richters“27. Das heißt, für innere Gleichheit, Billigkeit zu sorgen, ist nicht Sache des Rechtsanwenders, er hat das billige oder unbillige Recht nur anzuwenden. So liest man es schon 1844 sehr klar bei dem gelehrten sächsischen Praktiker Carl Friedrich Ferdinand Sintenis: „Wir einzelnen Rechtsgelehrten, als Schriftsteller wie als Richter, haben es vielmehr einzig mit dem Begriffe des Rechts und seiner Anwendung (…) zu thun; ein daneben zu seiner Ergänzung und Fortbildung bestehender Begriff der aeq. existirt nicht“28 . Und noch ein Windscheid-Zitat (1887): „bevor eine Rechtsquelle die Aussprüche der Billigkeit anerkannt hat, ist die Billigkeit eben nicht Recht, und der Richter würde sich schwer verfehlen, wenn er das positive Recht seines Volks zu Gunsten der Billigkeit, oder dessen, was er für Billigkeit hält, hintansetzen wollte“29. Die Aequitas hat also ihre rechtsergänzende Funktion verloren. Lücken im Gesetz werden nur noch aus dem Inneren des Rechts selbst, durch Analogie bzw. „wissenschaftliches Recht“ gefüllt, nicht von außen her durch Billigkeit. 25 

Keller, Pandekten (wie Fn.  5), S.  17 f. Anm.  2. Eigentümlich ist, daß Savigny, System (wie Fn.  5), Bd. I, Berlin 1840, S.  6 4, das ius singulare gerade nicht der Aequitas zuordnet, sondern der „utilitas“, dem aus Zweckmäßigkeitsgründen angeordneten Vorteil oder Nachteil irgendeiner Klasse, so dass ihm z. B., anders als Puchta, das SC Velleianum nicht als billige, sondern nur als nützliche Anordnung des Gesetzgebers erscheint. 27  Jhering, Zweck, Bd. 1 (wie Fn.  5), S.  354 f. Ausdrückliche Ablehnung einer rechtsergänzenden Funktion der Aequitas auch bei Unger, System (wie Fn.  5), S.  72: „es darf der Richter weder Lücken des Gesetzes mit der Billigkeit ausfüllen noch (…)“. 28  Sintenis, Pract. Civilrecht (wie Fn.  5), S.  61 Anm.  16 (Hervorhebung im Original). 29  Windscheid, Lehrbuch (wie Fn.  20), §  28, S.  74. 26 

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b)  Der Hintergrund: Vom Naturrecht zur objektiven Gerechtigkeit Der Grund für diese Veränderungen liegt offensichtlich in der Haltung der historischen Schule zum Naturrecht. Savigny hatte bekanntlich 1840 die „Aufstellung eines über allen positiven Rechten schwebenden Normalrechts“ als „Einseitigkeit“ getadelt, die „dem Recht alles Leben überhaupt“ entziehe30 , und mit der Zeit wird der Ton immer schärfer. So erklärt etwa Brinz 1873, ein „‚jus gentium‘ und ‚jus naturale‘ hat in Wirklichkeit niemals existirt, und gibt es auch heute nicht“31, und Windscheid 1879, den Inhalt des „s. g. Naturrechts“ bilde „doch nur Dasjenige (…), was der Construirende für wahr hält“32 . „Naturrecht“ und „naturrechtlich“ wird schließlich zu einer Art Schimpfwort, so dass ein Autor um 1880 sogar betont, dass, wenn er einen Standpunkt als naturrechtlichen charakterisiere, ihm die Absicht ganz ferne liege, damit persönlich zu verletzen 33. Die Pandektisten eliminieren das Naturrecht nicht nur aus dem Katalog der Rechtsquellen, sondern streichen es aus der Rechtstheorie überhaupt. Damit musste auch die Aequitas als Element des Naturrechts ihre gesetzesergänzende Funktion verlieren. Allerdings ist diese Begründung wohl noch nicht ganz ausreichend. Immerhin hat ja die Aequitas/ Billigkeit das Naturrecht überlebt. Der Kontext, in den sie nun tritt, könnte das Bild wiederum verändern. Was sich feststellen lässt, ist, dass jetzt als Parallelbegriff die „Gerechtigkeit“ auftaucht. So verwirklicht nach Keller die (römische) Aequitas „die Idee der Gerechtigkeit, wie sie tief im Gemüthe liegt“34. Sie ist nach Wächter die ausgleichende, „das seiner Natur nach Gleiche auch wirklich gleich“ behandelnde, Gerechtigkeit selbst 35. Windscheid bezeichnet sie als „das Ideal, nach dessen Verwirklichung das Recht eines jeden Volkes zu streben hat“36 und setzt sie mit der Gerechtigkeit gleich 37. Aber auch Puchta 38 und Savigny 39 sprechen im Zusammenhang mit der Aequitas der „res-

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Savigny, System (wie Fn.  26), S.  52. Brinz, Lehrbuch (wie Fn.  21), §  22, S.  99. 32  Bernhard Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. I, 5.   Aufl., Frankfurt am Main 1879, §  23, S.  62. 33 Nach Eugen Ehrlich, Über Lücken im Rechte (1888), in: ders., Recht und Leben. Gesammelte Schriften zur Rechtstatsachenforschung und zur Freirechtslehre, hrsg. von Manfred Rehbinder, Berlin 1967, S.  80–169, 80. 34  Keller, Pandekten (wie Fn.  5), S. XX. 35  Wächter, Pandekten (wie Fn.  5), S.  9 0 f. Ebenso Ludwig Arndts, Lehrbuch der Pandekten, 6.  Aufl., München 1868, §  117, S.  173 („ausgleichende Gerechtigkeit“). 36  Windscheid, Lehrbuch (wie Fn.  20), §  28, S.  73. 37  Windscheid, Lehrbuch (wie Fn.  20), §  46, S.  121: das „von der Gerechtigkeit (Billigkeit) Geforderte“. 38  Puchta, Vorlesungen (wie Fn.   23), §  100, S.  228; ähnlich ders., Pandekten (wie Fn.  5), §  100, S.  147. 39  Savigny, System Bd. VII (wie Fn.  5), S.  93 Anm. (d). 31 

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titutio in integrum“ von einer „Geltendmachung der höhern Gerechtigkeit“ (Puchta) gegen die Nachtheile des gewöhnlichen Rechts40 . Die Karriere des Gerechtigkeitsbegriffs41 ist überraschend, erklärt sich aber wiederum aus dem Wegfall des Naturrechts. In der Aufklärung war das Naturrecht das Rechtsideal und Gerechtigkeit nur die subjektive Tugend, diesem Ideal zu folgen, z. B. um 1800 bei Glück und Höpfner/Weber „die Übereinstimmung der Handlungen mit den Zwangsgesetzen“ (das sind auch die naturrechtlichen) 42 . Als nun aber das Naturrecht wegfiel und nur das positive Recht übrig blieb, rückte die Gerechtigkeit im objektiven Sinne selbst zum Rechtsideal und zum Maßstab des Rechts auf. So, für mich unerwartet, auch in der historischen Schule, obwohl diese ja schon das positive Recht als ein vernünftiges, organisches, aus dem Volksgeist fließendes Ganzes ansieht. Aber auch diese neue Verbindung von Aequitas und Gerechtigkeit gibt der Aequitas nicht ihre rechtsergänzende Funktion als Rechtsquelle zurück. Auch die Gerechtigkeit ist für die historische Schule ja keine Rechtsquelle, sondern entweder schon im positiven Recht enthalten, etwa als restitutio in integrum, oder überpositive Richtlinie für den Gesetzgeber. Und selbst diese letzte Funktion scheint keine große Rolle zu spielen. Positives Recht und Gerechtigkeit können zwar theoretisch auseinanderfallen, aber das ist für die Pandektistik offenbar weniger ein aktuelles Problem als ein überwundenes Phänomen vergangener Zeiten. Das römische Recht war hin und wieder ungerecht oder unbillig. Aber dann hat der Gesetzgeber oder der Prätor eingegriffen und heute ist 40  Das heißt nicht, dass über den Begriff der Aequitas im 19. Jahrhundert völlige Einigkeit bestanden hätte. Die Verbindung von Aequitas und Gerechtigkeit verträgt sich aber, anders als Windscheid (Lehrbuch [wie Fn.  20] §  28 Anm.  1, S.  73) meint, durchaus mit einem Verständnis der Aequitas als einer angemessenen Berücksichtigung individueller Unterschiede im Recht, wie es sich etwa findet bei Puchta, Pandekten (wie Fn.  5), §  21, S.  32; ders., Vorlesungen (wie Fn.  23), §  21, S.  53; Thöl, Einleitung (wie Fn.  21), S.  113; Unger, System (wie Fn.  5), S.  71; Regelsberger, Pandekten (wie Fn.  5), S.  6 4. Deutlich z. B. Wächter, Pandekten (wie Fn.  5), S.  91: „Billigkeit (…) ist eben die das berechtigte Besondere gehörig beachtende und das wahrhaft Gleiche nach gleichem Maßstab bemessende Gerechtigkeit“. M. E. nur scheinbar abweichend auch Burkard Wilhelm Leist, Die realen Grundlagen und die Stoffe des Rechts (= Civilistische Studien auf dem Gebiete dogmatischer Analyse, 4. Heft), Jena 1877, S.  192: „Humanität im Gebiete der socialen Ordnung“, diese soll dann aber „nothwendig ‚Gleichheitsgefühl‘ (Aequität)“ sein (S.  194). Eine Reihe verschiedener Aequitas-Begriffe zählt Hartter, Über bonum und aequum und ihre Gegensätze im römischen Recht, in: AcP 29 (1846), S.  253–290 und AcP 30 (1847), S.  377–421 auf (S.  270, 284, 386 ff., 401 ff.). 41  Zur Entwicklung des Gerechtigkeitsbegriffs in der Neuzeit: H. K. Kohlenberger (II 1.) und F. Loos/H.-L. Schreiber/H. Welzel (II. 2), in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. J. Ritter, Bd. 3, Basel etc. 1974, Sp.  3324 ff., sowie Fritz Loos/Hans Ludwig Schreiber, Recht, Gerechtigkeit, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. von O. Brunner, W. Conze und R. Koselleck, Bd. 5, Stuttgart 1984, S.  231 ff., allerdings immer nur mit Berücksichtigung einiger herausragender Autoren. Weiterhin Jan Schröder, Verzichtet unser Rechtssystem auf Gerechtigkeit?, Mainz/Stuttgart 2005, S.  5 ff.; Diethelm Klippel/Rebekka Übler, Gerechtigkeit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, hrsg. v. Friedrich Jäger, Bd. 4, Stuttgart 2006, Sp.  511–513. 42  Glück, Pandekten (wie Fn.  10), S.  297; Höpfner, Commentar (wie Fn.  11), §  27, S.  55.

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(fast) alles wieder in Ordnung. Jedenfalls sind Rechtsquellen nur positiv-empirische Erscheinungsformen des Rechts, nämlich Gesetz, Gewohnheitsrecht und wissenschaftliches Recht. Das Rechtsideal, sei es nun Naturrecht, Aequitas oder objektive Gerechtigkeit, hat im Rechtsquellenkatalog keinen Platz. Es bleibt also dabei, dass die pandektistische Wissenschaft nicht „materialisierend“ verfährt durch direkten rechtsergänzenden Rückgriff auf Billigkeits- oder Gerechtigkeitsvorstellungen. Insofern ist sie formalistischer als die Rechtswissenschaft der Spätaufklärung.

3.  Das Kaiserreich Das gilt, wie ich meine, auch in ihrem Verhältnis zur nachpandektistischen Jurisprudenz der deutschen Kaiserzeit. Die Entwicklung ist Ihnen allen vertraut, ich hebe nur die wichtigsten Punkte hervor. Einerseits verbreitet sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein neuer, wie ich ihn nenne, voluntaristisch-positivistischer Rechtsbegriff43. Das Recht ist nicht mehr, wie in der historischen Schule, Vernunft und Volksüberzeugung, sondern Wille des Gesetzgebers, „erklärter Gemeinwille“, wie Karl Binding, „erklärter Wille der Gemeinschaft“, wie Philipp Heck sagt44. Andererseits intensiviert sich, wohl gerade deswegen, die Diskussion über „Gerechtigkeit“, die für die neue, neukantianische Rechtsphilosophie zum Zentralbegriff wird45. Die Billigkeit bleibt eng mit ihr verbunden. Rudolf Stammler z. B. bezeichnet (1911) Gerechtigkeit als die „grundsätzliche Richtigkeit eines Rechts“ und Billigkeit „als bestimmte Rechtssätze, die in der fraglichen Lage das grundsätzlich richtige Recht darstellen“, und bei Gustav Radbruch (1914, 1932) erscheint neben der Gerechtigkeit als oberstem dem Recht zugeordneten Wert, die Billigkeit als „die Gerechtigkeit des Einzelfalls“46 . Für die praktische Rechtsanwendung wird sie jetzt von Bedeutung, weil Gesetzeslücken nicht mehr, wie nach der idealistischen Lehre der historischen Schule, einfach aus dem organischen Ganzen des vernünftigen Rechts selbst geschlossen werden können. Das Recht ist nicht vernünftig, sondern willkürlich und seine innere Einheit nicht gewährleistet. Unter Umständen muss also der Richter das gesetzesergänzende Recht selbst finden, ohne Hilfe des, wie Rudolf 43 

Schröder, Recht als Wissenschaft (wie Fn.  11), S.  281 ff. Karl Binding, Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, Leipzig 1885, S.  197; Philipp Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, Tübingen 1914, S.  13 (zum Gesetz). 45  S. außer den folgenden Belegen noch Emil Lask, Rechtsphilosophie (1905), in ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Eugen Herrigel, 1.  Band, Tübingen 1923, S.  275–331, 303: im Terminus „Gerechtigkeit“, sind „all die Anforderungen zusammengedrängt, die nach den verschiedenen Weltanschauungen an das Recht gestellt werden“. 46  Rudolf Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, Halle a. d. Saale, 1911, S.  475 (Gerechtigkeit), 304 (Billigkeit); Gustav Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, Leipzig 1914, S.  39 (Gerechtigkeit); ders., Rechtsphilosophie, 3. Auflage, Leipzig 1932, S.  31 (Billigkeit). 44 

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Stammler es nennt, „geformten Rechts“. Damit steigt das Richterrecht nach wohl fast allgemeiner Meinung zur Rechtsquelle auf47. Allerdings gehen die Ansichten darüber, wann das der Fall ist und woran sich der Richter dann orientieren soll, bekanntlich weit auseinander. Am stärksten neigen zum Rückgriff auf Gerechtigkeit und Billigkeit die sog. „Freirechtler“ und die Anhänger einer „objektiven“ Gesetzesauslegung, für die es noch keine zusammenfassende Bezeichnung gibt, zu ihr gehören Autoren wie Binding, Wach, Kohler, Oertmann, Endemann, auch Stammler und viele andere48 . So entscheidet nach Ehrlich bei fehlendem Gesetz der Richter entsprechend den Regeln der Billigkeit, der Vernunft, der Verkehrsinteressen und der Rechtsüberzeugung, womit „eben dasselbe Ding“ gemeint sei49, nach Ernst Fuchs sind Lücken auszufüllen „lediglich nach den freien Erwägungen der Billigkeit und Gerechtigkeit auf Grund eingehender Erforschung und Abwägung (…) der realen Interessen“50 , und auf Gerechtigkeit verweisen auch z. B. Adolf Merkel, Siegmund Schloßmann und Hermann Kantorowicz51. Das ist zwar nicht die ganze Rechtswissenschaft dieser Zeit, da einerseits die streng positivistische Lehre Kelsens52 , andererseits die Interessenjurisprudenz53 dem Richter entweder gar keine oder gesetzesnähere Maßstäbe an die Hand geben. Aber für eine breite Strömung der deutschen Jurisprudenz um 1900 sind es doch gerade Gerechtigkeit und Billigkeit, an die sich der Richter halten soll, wenn das Gesetz keine Lösung gibt. Dass jeder Fall mit Hilfe des positiven Rechts entschieden werden kann, glaubt jetzt kaum noch ein 47 Dazu Schröder, Recht als Wissenschaft (wie Fn.  11), S.  305 ff.; ders., Lücke im Gesetz, Lücke im Recht, in: HRG2, 21. Lieferung (2015), Sp.  1079 ff., 1081 f. 48 Zur Freirechtsbewegung Joachim Rückert, Freirechtsbewegung, in: HRG2 I (2008), Sp.  1772 ff.; dazu und zur „objektiven Theorie“ Schröder, Recht als Wissenschaft (wie Fn.  11), S.  331 ff., 348–350. 49  Ehrlich, Über Lücken (wie Fn.  33), S.  84; ders., Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft (1903), in: ders., Recht und Leben. Gesammelte Schriften zur Rechtstatsachenforschung und zur Freirechtslehre, hrsg. von Manfred Rehbinder, Berlin 1967, S.  170–202, 193, auch 173: Gerechtigkeit. 50  Ernst Fuchs, Recht und Wahrheit in unserer heutigen Justiz (1908), in: ders., Gerechtigkeitswissenschaft. Ausgewählte Schriften zur Freirechtslehre, hrsg. von A. S. Foulkes und Arthur Kaufmann, Karlsruhe 1965, S.  65–165, 86. 51  Adolf Merkel, Juristische Encyclopädie, Berlin und Leipzig 1885, §  117, S.  69: bei Lücken schöpft der Richter aus denselben Quellen wie der Gesetzgeber, für den wiederum Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit maßgebend sind (§§  24, 25, S.  13); Siegmund Schloßmann, Der Vertrag, Leipzig 1876, S.  181; Hermann Kantorowicz (Gnaeus Flavius), Der Kampf um die Rechtswissenschaft (1906), in: ders., Rechtswissenschaft und Soziologie. Ausgewählte Schriften zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Thomas Würtenberger, Karlsruhe 1962, S.  13–39, 37 f. (im Original S.  47). 52  Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, Leipzig und Wien 1934, S.  92–99; ähnlich schon Adolf (Julius) Merkl, Zum Interpretationsproblem, in: Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart, hrsg. v. C. S. Grünhut, 42 (1916), S.  535–556, 551–553. 53  Heck, Gesetzesauslegung (wie Fn.  4 4), S.  238 f. (beim Fehlen gesetzlicher Wertungen: „Eigenwertung“ des Richters).

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Jurist. Erneut „materialisiert“ sich also die Rechtswissenschaft und dabei spielt die Billigkeit eine bedeutende Rolle. Ich fasse das Bisherige zusammen: Während in der Jurisprudenz der Spätaufklärung die Aequitas (als Naturrecht) unmittelbar eine rechtsergänzende Funktion hatte und in der – freilich zersplitterten – nachpandektistischen Rechtstheorie des Kaiserreichs durch das Richterrecht zur Anwendung kam, schließt die Pandektistik eine direkte Rechtsergänzung durch Aequitas aus. Damit ist sie sicherlich formalistischer als die Rechtswissenschaft vor und nach ihr. Ob sie überhaupt formalistisch ist, ließe sich nur entscheiden, wenn wir eine sichere Abgrenzung zwischen Formalismus und Nichtformalismus hätten, was m. E. nicht der Fall ist. 

II.  Die rechtskorrigierende Funktion der Aequitas Wie sieht es nun mit der Rechtskorrektur durch die Aequitas aus? An sich galt sie seit Aristoteles geradezu als die Hauptaufgabe der Aequitas oder epieikeia54. Sie sollte helfen, wo das Gesetz wegen seiner Allgemeinheit Ungerechtigkeiten im Einzelfall produzierte. Die einschränkende Auslegung eines Gesetzes gegen seinen Wortlaut gilt denn auch seit jeher als ein Anwendungsfall der Aequitas und wird noch im 19. Jahrhundert von verschiedenen Pandektisten besonders hervorgehoben 55. Genau genommen sind aber zwei Fälle zu unterscheiden.

1.  Die „freie“ Billigkeitskorrektur Der erste ist die an keine weiteren Voraussetzungen gebundene Gesetzeskorrektur aus konkreten Billigkeitsgründen. Berühmt ist ein von Augustin Leyser 1717 referierter Fall56 , der eigentlich von Anton Faber stammt; Klaus Luig hat darüber geschrieben 57. Ein zu Unrecht inhaftierter und kranker Gefangener wollte 54 

Aristoteles, Nikomachische Ethik, V, 14; 1137 b. Unger, System (wie Fn.  5), S.  72 Anm.  21; Dernburg, Pandekten (wie Fn.  21), Bd. I, §  34, S.  75 ff. Etwas undeutlicher Windscheid, Lehrbuch (wie Fn.  20), §  28 Anm.  4, S.  74: Billigkeit durch „genauere Erforschung des wahren Gehalts des positiven Rechts“; Regelsberger, Pandekten (wie Fn.  5), S.  67 („vom rechten Geist erfüllte, vom Bann der Buchstabenherrschaft und einer formalen juristischen Logik freie Rechtsanwendung“). Aus der vorpandektistischen Literatur: Hofacker, Principia (wie Fn.  11), §  12, S.  8 ; Glück, Pandekten (wie Fn.  10), S.  195; Albrecht, Röm. Aequitas (wie Fn.  13), S.  62; Kierulff, Theorie (wie Fn.  5), S.  22; Mühlenbruch, Lehrbuch (wie Fn.  21), §  43, S.  110; Hartter, Über bonum und aequum (wie Fn.  18), AcP 30 (1847), S.  402. 56  Augustin Leyser, Meditationes ad Pandectas, vol.  1, Leipzig und Wolfenbüttel 1717, specimen 3, Nr.  6 , S.  28–30. 57  Klaus Luig: Richterkönigtum und Kadijurisprudenz im Zeitalter von Naturrecht und Usus modernus, in: ders./D. Liebs (Hrsg.), Das Profil des Juristen in der europäischen Tradition, Ebelsbach 1980, S.  295 ff., 300. 55 

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seine Frau als Alleinerbin einsetzen, was er in Gegenwart der Frau, seines Bruders und des Gefängnisaufsehers (commentariensis) mündlich erklärte. Der commentariensis verweigerte die Zuziehung eines Notars und von Zeugen, setzte aber selbst ein entsprechendes Schriftstück auf, welches der Gefangene unterzeichnete. Nach gemeinem Recht war das Testament mangels der erforderlichen sieben Zeugen unwirksam. Leyser möchte es aber aus Aequitasgründen aufrechterhalten. Wie Sie sehen, handelt es sich um eine reine Billigkeitsentscheidung. Als einschränkende Auslegung aus dem Willen und Zweck des Gesetzgebers lässt sie sich nicht rechtfertigen, denn man kann wohl kaum behaupten, dass der Gesetzgeber auf die Anwendung seiner Vorschrift dann verzichten wollte, wenn dem Testator gerade keine Zeugen zur Hand waren. Leysers Ansicht wird denn auch schon im späten 18. Jahrhundert fast allgemein abgelehnt. Selbst der eher Aequitas-freundliche Ernst Ferdinand Klein schreibt 1788, er könne „Leysern nicht beipflichten“58 , und der Verfasser der wohl umfangreichsten Aequitas-Abhandlung um 1800, der Göttinger Privatdozent Ludwig Heinrich Jordan, folgt insofern Klein und erklärt mit Nachdruck: „Findet der Richter, dass das bestimmte Gesetz auf den concreten Fall anwendbar ist, so darf er sich an die scheinbare Härte desselben nicht stoßen“59. Das ist bei den zeitgenössischen Autoren die ganz herrschende Meinung60 . Eine andere Entscheidung war auch kaum möglich: Wenn das positive Recht, nach inzwischen überwiegender Ansicht, dem Naturrecht vorging61, dann musste es auch der Aequitas vorgehen. An dieser Auffassung hat natürlich auch die Pandektistik mit ihrer noch entschiedeneren Ablehnung des Naturrechts nichts mehr geändert62 . Der Fall wird 58  Abhandlung Ueber die Billigkeit bey Entscheidung der Rechtsfälle, in: Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den Preussischen Staaten, hrsg. von Ernst Ferdinand Klein, Bd. 1, Berlin und Stettin 1788, S.  357–390, 368. 59  Jordan, Über die Billigkeit (wie Fn.  10), S.  99; zu Leyser S.  59 ff. 60  Glück, Pandekten (wie Fn.   10), S.  197: der Richter muss ein deutliches hartes Gesetz befolgen; Hufeland, Lehrbuch (wie Fn.  11), S.  34: dem Richter ist es nicht erlaubt, „vom Recht zur Billigkeit abzuweichen, wenn die Gesetze dies nicht ausdrücklich gestatten“. Dazu aber Anm. b: anders bei Mangel einer Form, „insoweit die Gesetze sie nicht notwendig erfordern“; Thibaut, System (wie Fn.  11), §  4 4, S.  36 f.: wenn eine (sc. eindeutige) doktrinale Auslegung möglich ist, muss der Ausleger „streng bei dem Resultat derselben stehen bleiben, und darf von diesem nicht abgehen, auch wenn naturrechtliche und moralische Ideen, welche man schwankend unter dem Ausdruck aequitas oder Billigkeit zu befassen pflegt, ein anderes Resultat erheischen sollten“. Nicht ganz klar demgegenüber §  135, S.  109, wonach bei Formvorschriften Milderung durch Billigkeit möglich ist, allerdings nicht, wenn die Vorschrift, „wie z. B. bey Testamenten die große Zahl der Zeugen“, der Rechtssicherheit dienen soll. Siehe zum Ganzen auch Schröder, Recht als Wissenschaft (wie Fn.  11), S.  156 f. 61  Nachweise bei Schröder, Recht als Wissenschaft (wie Fn.  11). S.  113–115. 62  Unger, System (wie Fn.  5), S.  72 (keine richterliche „Modification“ des Gesetzes wegen Billigkeit); Keller, Pandekten (wie Fn.  5), S.  18: der Gegensatz von ius und aequitas „gehört aber in das Innere des Rechtssystems und fordert in demselben seine Ausgleichung. Das Billige ist auch ein Bewußtes und Bemessenes und darf gar nicht dem vagen Gefühle, der subjektiven Willkür anheim gegeben werden“; Windscheid, Lehrbuch (wie Fn.  20), §  28, S.  74: „bevor eine Rechtsquelle die Aussprüche der Billigkeit anerkannt hat, ist die Billigkeit eben nicht

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kaum noch behandelt63, irgendeinen Befürworter einer generellen Billigkeitskorrektur zu harter Gesetze habe ich nicht gefunden. In diesem Punkt stimmen also Spätaufklärung und Pandektistik durchaus überein.

2.  Die Billigkeitskorrektur im Rahmen der einschränkenden Auslegung Der zweite Fall ist die echte einschränkende Auslegung eines Gesetzes gegen den Wortlaut. Ein Beispiel, das oft in der Literatur des 19. Jahrhunderts vorkommt, ist das sogenannte Trauerjahr der Witwe. Nach römisch-gemeinem Recht durfte sich eine Frau in den ersten zehn Monaten nach dem Tod ihres Mannes nicht wieder verheiraten. Zweck des Gesetzes war es, die Abstammungsverhältnisse nicht zu verwirren. Würde die Witwe erneut heiraten und innerhalb der zehn Monate ein Kind zur Welt bringen, dann wäre unklar, ob es dem alten oder dem neuen Ehemann zuzuordnen ist. Das Problem entfällt aber, wenn die unverheiratete Witwe innerhalb der zehn Monate ein Kind gebiert, denn dann kann dieses und ein späteres eindeutig zugeordnet werden, und es besteht kein Grund mehr, der Frau eine sofortige weitere Ehe zu verbieten. Pomponius hatte deshalb eine entsprechende Restriktion der Vorschrift befürwortet und Ulpian folgte ihm darin (D. 3,2,11,2). Das ist ein klassischer Fall der Einschränkung einer Norm aus dem Zweck des Gesetzgebers. In der frühen Neuzeit war eine solche wortlautunterschreitende Auslegung unbestritten möglich64. Man unterschied, wie Sie wissen, die grammatische Auslegung nach dem Wortlaut und die logische nach dem Willen oder Zweck des Gesetzgebers65. Die logische war die stärkere und erlaubte es, den Wortlaut beiseite zu schieben. Mit dem Aufkommen planmäßiger, auch kodifikatorischer Gesetzgebung im 18. Jahrhundert und dem zunehmenden bürgerlichen Mißtrauen gegen richterliche Allmacht entsteht jedoch um 1800 eine Tendenz, den Richter auf die grammatische Auslegung zu beschränken und eine „logische“, extensive oder restriktive Interpretation nicht mehr zuzulassen. In diesem Sinne hatte sich, Recht, und der Richter würde sich schwer verfehlen, wenn er das positive Recht seines Volks zu Gunsten der Billigkeit, oder dessen, was er für Billigkeit hält, hintansetzen wollte“; Ubbelohde, Recht und Billigkeit (wie Fn.  17), S.  4 f.; Sintenis, Pract. Civilrecht (wie Fn.  5), S.  61 Anm.  16 (keine richterliche oder wissenschaftliche Fortbildung des Rechts durch Aequitas). 63  Leyser erscheint als Anhänger einer willkürlichen und zu verwerfenden „aequitas cerebrina“ noch bei Puchta, Vorlesungen (wie Fn.  23), §  21, S.  53. Kritik an Thibaut (s. o. Fn.  60), wegen seiner Befürwortung von Billigkeitskorrekturen bei Formvorschriften, übt Georg Beseler, System des gemeinen deutschen Privatrechts, 2.  Aufl., Berlin 1866, §  49, S.  159 Anm.  11. 64  Zur Entwicklung der einschränkenden Auslegung: Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I, Tübingen 2001, S.  527 ff.; Schröder, Recht als Wissenschaft (wie Fn.  11), S.  153 ff., 219 ff. 65 Dazu Clausdieter Schott, Gesetzesinterpretation im Usus modernus, in: ZNR 21 (1999), S.  45–84, 80 ff.; Schröder, Recht als Wissenschaft (wie Fn.  11), S.  142 ff.

Zur Aequitas / Billigkeit in der Rechtstheorie des 19. Jahrhunderts

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neben Autoren wie Schoeman, Zachariä, Hufeland und Zeiller66 , auch der junge Savigny in seiner Marburger Methodenvorlesung 1802/0367 geäußert. Für eine „billige“, den Einzelfall berücksichtigende und vom Wortlaut abweichende Auslegung war deshalb kein Raum mehr. Es ist nun bemerkenswert, dass sich gerade die Pandektistik nach 1840 von dieser strengen Auffassung wieder entfernt und erneut eine „billige“ Interpretation gegen den Wortlaut zulässt. An erster Stelle ist hier wieder Savigny zu nennen. Es scheint mir eine seiner großen Leistungen zu sein, dass er das starre Schema grammatisch-logisch überwindet und den Wortlaut zu nur noch einem der vielen „Elemente“ herabstuft, aus denen sich der „Gedanke“ des Gesetzgebers rekonstruieren lässt68 . Das grammatische Element steht bestenfalls noch gleichberechtigt neben dem historischen, logischen und systematischen, und bei „mangelhaften“ Gesetzen kommen noch der Zweck und anderes hinzu. Alle sind nur noch sozusagen Beweismittel für den „Gedanken“ des Gesetzgebers, die frei gewürdigt werden können, ein bewegliches System, in dem das Wort keinen festen Rang mehr hat. Da Savigny 1840 auch den Zweck als Hilfsmittel zulässt, ist nun auch der Trauerjahr-Fall im Sinne der billigen, einschränkenden Auslegung abweichend vom Wortlaut zu lösen69. Savignys theoretischer Ausgangspunkt hat sich in der Pandektistik nicht durchgesetzt70 , zu ungewohnt war offenbar seine neue hermeneutische Grundlage. Erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts beginnt der Siegeszug von Savignys Lehre. In der Sache stimmen aber die meisten anderen Pandektisten mit Savigny durchaus überein, geben der „logischen“ Auslegung den Vorzug vor dem Gesetzeswortlaut und lassen eine wortlautunterschreitende Auslegung zu71. Thöl, Vangerow, Windscheid, Regelsberger und Baron beziehen sich ausdrücklich auch auf das Trauerjahrbei66  Karl Salomo Zachariä, Versuch einer allgemeinen Hermeneutik des Rechts, Meissen 1805, 50 f., 162 ff. (logische Auslegung ist zwar möglich, steht aber nur der Gesetzgebungsbehörde zu); Franz Schoeman, Handbuch des Civilrechts, Bd. 1, Giesen und Wetzlar 1806, S.  80 (es gibt keine extensive und restriktive Interpretation); Gottlieb Hufeland, Ueber den eigenthümlichen Geist des Römischen Rechts im Allgemeinen und im Einzelnen mit Vergleichungen neuer Gesetzgebungen, 1. Theil, Gießen 1815, S.  62 (Auslegung kann „nie über den möglichen Wortverstand der Gesetze gehen“), S.  108 akzeptiert er jedoch die Lösung des Trauerjahrfalles in D. 3,2,11,2; Franz v. Zeiller, nach Unger, System (wie Fn.  5), S.  85 Anm.  3. 67  Friedrich Carl v. Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, hrsg. und eingel. v. Aldo Mazzacane, Frankfurt am Main 1993, S.  103 (Vorlesung 1802/03), 146 (Vorlesung 1809). 68  Savigny, Vorlesungen (wie Fn.  67), S.  141 (Vorlesung 1809, hier noch ohne den „Grund“ als Hilfsmittel); ders., System I (wie Fn.  26), S.  212 ff. 69  Savigny, System I (wie Fn.  26), S.  235 f. 70  Belege bei Schröder, Recht als Wissenschaft (wie Fn.  11), S.  351. 71  Thöl, Einleitung (wie Fn.   21), S.  147; Unger, System (wie Fn.  5 ), S.  84, 86; Vangerow, Lehrbuch (wie Fn.  5), §  24, S.  50; Arndts, Lehrbuch (wie Fn.  35), §  7, S.  7 f.; Windscheid, Lehrbuch (wie Fn.  32), §  21, S.  58; Wächter, Pandekten (wie Fn.  5), S.  130 f.; Regelsberger, Pandekten (wie Fn.  5), S.  153 f.; Julius Baron, Pandekten, 8.  Aufl., Leipzig 1893, §  6 , S.  20 f.; Dernburg, Pandekten (wie Fn.  21), §  35, S.  79.

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spiel72 . Wenn ich es richtig sehe, wollen nur zwei Pandektisten am Wortlaut als Grenze der Auslegung festhalten, aber sie finden Ersatzlösungen für die einschränkende Auslegung in Gestalt einer „Modification“ (Puchta) oder „Correctur“ des Gesetzes (Brinz) 73, einem Gegenstück zur Analogie und Vorläufer der heutigen „teleologischen Reduktion“. Wie wenig selbstverständlich diese großzügige Auslegungstheorie außerhalb der Pandektistik war, zeigt eine Gegenbewegung in den 1840er Jahren; man kann sie als „konstitutionelle“ Theorie bezeichnen, ohne das besonders lobend zu meinen. Der Leipziger Privatdozent Wilhelm Michael Schaffrath publiziert 1842 eine „Theorie der Auslegung constitutioneller Gesetze“, die als sehr rigider Vorläufer der sogenannten „objektiven“ Auslegungstheorie gilt. Nach Schaffrath darf die Auslegung nur aus dem Gesetz erfolgen, nur aus der Erklärung, nicht aus dem Willen oder gar dem Zweck des Gesetzgebers74. Ähnlich 1848 der sächsische Praktiker August Otto Krug 75. Krug kritisiert ausdrücklich auch Savignys (und Ulpian /Pomponius’) Lösung des Trauerjahrfalles. Es handele sich hier um eine „interpretatio“ im römischen Sinn, die heute nicht mehr zulässig sei. Savignys Beispiele, sagt Krug, „enthalten daher in der That Fortbildungen, und zwar aus unserem Standpunkte unzulässige Fortbildungen des Rechts“76 . Die Pandektistik hat sich aber dadurch nicht beirren lassen und ist bei der Zulassung der einschränkenden und ausdehnenden Auslegung geblieben. Ob sie darin auch noch den nachfolgenden „Voluntarismus“ übertrifft, lässt sich wegen der Zersplitterung der späteren Auslegungstheorie und der Verlagerung mancher methodischer Operationen in die (nun für zulässig gehaltene) „Rechtsfortbildung“77 schwer entscheiden. Jedenfalls ist die pandektistische Auslegungstheorie als solche so liberal und unformalistisch, wie man es sich als Aequitas-Freund nur wünschen kann. 72  Thöl, Einleitung (wie Fn.  21), S.  142, 154 Anm.  6 ; Vangerow, Lehrbuch (wie Fn.  5), §  24, S.  54; Windscheid, Lehrbuch (wie Fn.  32), §  22 Anm.  3, S.  60 f.; Regelsberger, Pandekten (wie Fn.  5), S.  149 (zweifelnd?); Julius Baron, Pandekten, 9.  Aufl. 1896, §  6 Anm.  8 , S.  20. 73  Puchta, Vorlesungen (wie Fn.  23), §  15, S.  38 (zur sog. „Restriction“), §  18, S.  47 („Modification“); Brinz, Lehrbuch (wie Fn.  21), §  28, S.  119 (gegen „restrictive“Auslegung), §  30, S.  122 („Correctur“). Gegen „logische“ Auslegung wendet sich auch Friedrich Julius Stahl, Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht, Bd. 2, 1. Abteilung, Heidelberg 1833, S.  177, schließt aber wohl eine weitergehende systematische Rechtsfindung nicht aus (S.  175–179). 74  Wilhelm Michael Schaffrath, Theorie der Auslegung constitutioneller Gesetze, Leipzig 1842, S.  25, 34 f., 38 f. (was „nach den Gesetzen der Logik sowohl als der Grammatik und Sprache (…) unmöglich“ enthalten sein kann, ist nicht Gesetz), 42 f. 75  August Otto Krug, Die Grundsätze der Gesetzesauslegung in ihrer Anwendung auf die neueren deutschen Strafgesetzbücher dargestellt, Leipzig 1848, S.  63 ff. (keine logische Auslegung bei klaren Gesetzen). 76  Krug, Grundsätze (wie Fn.  75), S.  102 f. Daraus ergibt sich zugleich, dass D. 3,2,11,2 hier nicht als Gesetz, sondern als Auslegungsvorschlag aufgefasst wird. 77  Zur Interpretation praeter legem und contra legem im frühen 20. Jahrhundert Schröder, Recht als Wissenschaft (wie Fn.  11), S.  373 ff., 388 ff.

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Damit bin ich am Ende meiner Überlegungen angelangt. Wie Sie sehen, komme ich nicht zu einem ganz einheitlichen Ergebnis. Als Gesetzesergänzung wird die Aequitas in der Pandektistik nicht anerkannt. Insoweit bleibt sie hinter der vorangehenden, aber auch der nachfolgenden Jurisprudenz zurück und ist formalistischer als diese. Als Gesetzeskorrektur hat die Aequitas aber ihren Platz (vor allem) in der einschränkenden Auslegung. Hier ist die Pandektistik weniger formalistisch als viele Autoren um 1800 und als eine „konstitutionelle“ Gegenströmung der 1840er Jahre. Mir scheint das die historische Schule ganz gut zu charakterisieren. Wissenschaftler und Praktiker waren an das (positive) Recht gebunden, aber sie konnten sich in ihm frei und sachgerecht bewegen. Es könnte nicht schaden, einmal darüber nachzudenken, welches Maß von Antiformalismus wir eigentlich haben wollen. Wenn man sich mit der Rechtstheorie im NS und in der DDR beschäftigt, dann sieht man, dass der militanteste Antiformalismus in Diktaturen auftritt, die ihre Ideologien möglichst ungehindert durchsetzen wollen. Als Rechtshistoriker sollten wir sorgfältig darauf achten, aus welcher juristischen Weltanschauung der Formalismus-Vorwurf jeweils hervorgeht.

Autorenverzeichnis Avenarius, Martin, Dr. iur., Professor für Bürgerliches Recht, Römisches Recht und Neuere Privatrechtsgeschichte an der Universität zu Köln Cardilli, Riccardo, Dr. iur., Professor für Römisches Recht an der Universität „Tor Vergata“, Rom Falk, Ulrich, Dr. iur., Professor für Bürgerliches Recht, Rhetorik und Europäische Rechtsgeschichte an der Universität Mannheim Haferkamp, Hans-Peter, Dr. iur., Professor für Bürgerliches Recht, Neuere Privatrechtsgeschichte und Deutsche Rechtsgeschichte an der Universität zu Köln Jansen, Nils, Dr. iur., Professor für Römisches Recht und Privatrechtsgeschichte sowie Deutsches und Europäisches Privatrecht an der Universität Münster Luts-Sootak, Marju, Dr. iur, Professorin für Rechtsgeschichte an der Universität Tartu Meissel, Franz-Stefan, Dr. iur., Professor für Römisches Recht (unter Berücksichtigung der Privatrechtsentwicklung im Rechtsvergleich) an der Universität Wien Repgen, Tilman, Dr. iur., Professor für Deutsche Rechtsgeschichte, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit und Bürgerliches Recht an der Universität Hamburg Rückert, Joachim, Dr. iur. Dr. h.c., em. Professor für Neuere Rechtsgeschichte, Juristische Zeitgeschichte, Zivilrecht und Rechtsphilosophie an der GoetheUniversität in Frankfurt am Main Rüfner, Thomas, Dr. iur., Professor für Bürgerliches Recht, Römisches Recht, Neuere Privatrechtsgeschichte sowie Deutsches und Internationales Zivilverfahrensrecht an der Universität Trier

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Autorenverzeichnis

Schermaier, Martin, Dr. iur., Professor für Römisches Recht und Vergleichende Rechtsgeschichte an der Universität Bonn Schröder, Jan, Dr. iur. Dr. h.c., Professor für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht an der Universität Tübingen Sirks, Boudewijn, Dr. iur., em. Regius Professor für Civil Law an der Universität Oxford