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German Pages 238 [242] Year 2023
Markus Hirte, Arnd Koch, Ralf Kölbel (Hg.) Recht und Geschichte – Psyche und Gewalt
In der Reihe »Rothenburger Gespräche zur Strafrechtsgeschichte« sind bisher folgende Bände erschienen: Band 1 Band 2
Band 3 Band 4 Band 5
Band 6 Band 7 Band 8
Günter Jerouschek, Hinrich Rüping (Hg.): »Auss liebe der gerechtigkeit vnd umb gemeines nutz willenn«. Historische Beiträge zur Strafverfolgung. 2000. Günter Jerouschek, Wolfgang Schild, Walter Gropp (Hg.): Benedict Carpzov. Neue Perspektiven zu einem umstrittenen sächsischen Juristen. 2000 (Neuauflage 2020). Günter Jerouschek: Lebensschutz und Lebensbeginn. Die Geschichte des Abtreibungsverbots. 2002. Dirk von Behren: Die Geschichte des § 218 StGB. 2004 (Neuauflage 2020). Markus Hirte: Papst Innozenz III., das IV. Lateranum und die Strafverfahren gegen Kleriker. Eine registergestützte Untersuchung zur Entwicklung der Verfahrensarten zwischen 1198 und 1216. 2005. Günter Jerouschek, Hinrich Rüping, Barna Mezey (Hg.): Strafverfolgung und Staatsraison. Deutsch-ungarische Beiträge zur Strafrechtsgeschichte. 2009. Andreas Blauert: Frühe Hexenverfolgungen. Ketzer-, Zauberei- und Hexenprozesse des 15. Jahrhunderts. 2020. Markus Hirte, Arnd Koch, Barna Mezey (Hg.): Wendepunkte der Strafrechtsgeschichte. Deutsche und ungarische Perspektiven. Eine Festschrift anlässlich des 20-jährigen Bestehens des deutsch-ungarischen strafrechtshistorischen Seminars. 2020.
Band 9 Rothenburger Gespräche zur Strafrechtsgeschichte Herausgegeben von Prof. Dr. Dr. Dr. h. c. Günter Jerouschek, M. A., Prof. Dr. Hinrich Rüping und Dr. Markus Hirte, LL. M.
Markus Hirte, Arnd Koch, Ralf Kölbel (Hg.)
Recht und Geschichte – Psyche und Gewalt Symposium anlässlich des 70. Geburtstags von Günter Jerouschek Mit Beiträgen von Wolfgang Behringer, Andreas Blauert, Udo Ebert, Jan Eichelberger, Markus Hirte, Arnd Koch, Elisabeth Koch, Ralf Kölbel, Heiner Lück, Barna Mezey, Daniela Müller, Karl-Heinz Schneider und Michael Schröter
Psychosozial-Verlag
Die Herausgabe der Reihe »Rothenburger Gespräche zur Strafrechtsgeschichte« erfolgt mit freundlicher Unterstützung des Mittelalterlichen Kriminalmuseums, Rothenburg o. d. T.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Originalausgabe © 2023 Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG, Gießen E-Mail: [email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung & Innenlayout nach Entwürfen von Hanspeter Ludwig, Wetzlar Satz: metiTec-Software, www.me-ti.de ISBN 978-3-8379-3228-7 (Print) ISBN 978-3-8379-7984-8 (E-Book-PDF)
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Inhalt
Günter Jerouschek und: Sprach-Gewalt Ralf Kölbel
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Recht und Literatur – Rechtsikonographie Goethes Staatsrechtsdenken vor dem Hintergrund des Rechts der Aufklärung Udo Ebert DITMARVS COMES OCCISVS Strafrechts- und strafverfahrensgeschichtliche Beobachtungen im Umfeld der Hauptstifter des Naumburger Doms Heiner Lück
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Hexenforschung Neues zum Hexenhammer Wolfgang Behringer
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Neue Perspektiven der Hexenforschung? Andreas Blauert
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Einige Charakteristika der ungarischen Hexenprozesse Barna Mezey
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Psychoanalyse – Psychotherapie Psychotherapeut: Von der selbstgewählten Tätigkeitsbezeichnung zum akademischen Heilberuf 107 Zu Entstehung, Reform und Stand des Psychotherapeutengesetzes Jan Eichelberger 5
6 Inhalt
Jena als frühes Zentrum der Freud-Rezeption Michael Schröter
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Geschichte des Kirchenrechts »Ne crimina remaneant impunita« Innozenz III. und das Inquisitionsverfahren Markus Hirte
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Neues vom Blaubart Die Prozesse gegen Gilles de Rais – Marschall, Mörder, Mythos Daniela Müller
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Rechtsgeschichte – Strafrechtsgeschichte »Palladien bürgerlicher Freiheit« Modelle strafprozessualer Entscheidungsfindung vor dem Hintergrund des Sensationsprozesses gegen Paul Anton Fonk (1822) Arnd Koch Die Ehre ist – die Ehre (Minna von Barnhelm, 4. Aufzug, 6. Auftritt) Rechtshistorische Betrachtungen Elisabeth Koch »er sei alles angeber, redner, schreyber, heber und leger gewest« Das Verfahren gegen Stefan von Menzingen im Jahre 1525 in Rothenburg ob der Tauber Karl-Heinz Schneider Autorinnen und Autoren
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Günter Jerouschek und: Sprach-Gewalt Ralf Kölbel
Günter Jerouschek ist ein Gelehrter mit markanten und teilweise selten gewordenen Zügen. Vereinnahmungen, unter denen viele andere ächzen, hat er ganz überwiegend abzuwehren gewusst. In der Strafrechtswissenschaft, dem Fach seines Broterwerbs, galt sein hoch selektives Interesse stets gezielt ausgewählten Fragen, deren inhaltlicher Zuschnitt einer nur-dogmatischen Antwort meist unzugänglich war. Fremdbestimmten Verpflichtungen, etwa der Mitwirkung an Prestige-Kommentaren und ähnlich ambivalenten Formaten, ist er mit wenigen Ausnahmen aus dem Wege gegangen. Kontakte zu den Bünden und Mitgliedern der »Community« wurden von ihm eher gemieden als gesucht. Und auch der Drittmitteljagd hat er nur geringe Beachtung geschenkt. Günter Jerouschek war auf das konzentriert, was sich für ihn lohnte, weil es ihn ansprach und er gut darin war. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
I Günter Jerouschek war (und ist) zunächst einmal ein großer Leser. Er hat sich der wissenschaftlichen Literatur in einem Umfang gewidmet, der angesichts der üblichen Hatz vieler Arbeitsstile keine Selbstverständlichkeit ist. Dabei wurden die Bücher von ihm nicht nur selektiv zur Kenntnis genommen, sondern zum Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht. Wie gern die Früchte dieser Arbeit von ihm geteilt worden sind, ist an seinen sechs großen Literaturberichten und seinen zahlreichen Rezensionen (ich habe 34 gezählt) zu ersehen. Insbesondere die neuere strafrechtshistorische Literatur hat er mit dieser kritischen Aufmerksamkeit konzise verfolgt. Will man sein Schaffen in Zahlen ermessen, so muss auf fünf Bücher verwiesen werden, die er als Allein- oder Mitautor publiziert hat, sowie auf acht weitere, von 7
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ihm als Allein- oder Mitherausgeber verantwortete Bände. Die jeweils meisten dieser Werke sind in mehrfacher Auflage erschienen. Hinzukommen, wenn ich richtig recherchiert habe,1 79 Aufsätze sowie 14 große Lexikonartikel und Handbuchbeiträge. Der inhaltliche Schwerpunkt dieses publizistischen Fleißes wird sicher in der frühneuzeitlichen Strafrechtsgeschichte gesetzt. Daneben ergibt sich die Breite des thematischen Spektrums aber nicht nur aus der eingangs erwähnten Strafrechtsdogmatik, sondern auch durch die Psychoanalyse als ein drittes wissenschaftliches Standbein. Diese Zusammensetzung weist Günter Jerouschek als einen Wissenschaftler aus, der nicht nur in seinem eingangs erwähnten Selbstverständnis, sondern auch in seiner Kompetenzstruktur nur als besonders und eigenwillig charakterisiert werden muss. Ein so interessantes Profil geht aus keiner stromlinienförmigen Entwicklung hervor. So hat denn Günter Jerouschek auch nicht nur von 1971 bis 1979 die juristische Ausbildung mit beiden Staatsexamina, sondern fast zeitgleich auch ein Magisterstudium zur Geschichte, Germanistik und Psychologie absolviert. Der 1986 abgeschlossenen Freiburger juristischen Promotion folgte reichlich zwei Jahre später eine weitere, diesmal psychologische Promotion. Und kaum hatte sich Günter Jerouschek 1991 am Hannoveraner Rechtswissenschaftlichen Fachbereich mit einer rechtshistorischen Studie habilitiert, trat er eine Ausbildung zum Psychoanalytiker an. Nach seiner Berufung auf strafrechtliche Lehrstühle 1992 in Halle und 1997 in Jena hatte er deshalb neben seinem akademischen Amt dank seiner Psychoanalytischen Praxis noch einen zweiten Beruf. Um dem literarischen Werk, das sich mit einem solchen Lebensweg verbindet, in seiner ganz eigenen Farbenpalette gerecht zu werden, treten in den Beiträgen dieses Bandes ganz verschiedene Fächer aus dem Jerouschek’schen Interessenspektrum hervor. Die Themenvielfalt ist also gewollt. Dass es durchweg Spezialistinnen und Spezialisten sind, die sich zu den jeweiligen Gebieten äußern, erlaubt mir obendrein, mich in meiner einführenden Würdigung auf eine Auswahl aus den Arbeiten von Günter Jerouschek zu beschränken und daran exemplarisch deutlich zu machen, dass und warum der wissenschaftlichen Lebensleistung von Günter Jerouschek die höchste Wertschätzung gebührt. Dafür beziehe ich mich auf drei Elemente seines Schaffens, für die jeweils ein Bezug zu Sprache und Gewalt kennzeichnend ist. 1
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Günter Jerouschek verzichtet auf eine »internetgetragene« Selbstdarstellung und eine breitenwirksame Präsentation seines Schriftenverzeichnisses. Ich habe sein Gesamtwerk deshalb in den Datenbanken der Deutschen Nationalbibliothek, des Südwestdeutschen Bibliotheksverbundes und von Juris zu rekonstruieren versucht.
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II Das erste Beispiel, auf das ich hinweisen will, bildet die 1992 veröffentlichte Habilitationsschrift, die der Hexenverfolgung in der Reichsstadt Esslingen gewidmet ist.2 Diese beruht – neben den konzentrierten Einleitungs- und Schlussteilen, die die Untersuchung kontextuieren und in den Forschungsstand einordnen, – auf einer über 200-seitigen Auswertung eines außerordentlich umfangreichen Archivmaterials zu den Hexenprozessen, die zwischen 1543 und 1772 unter der Esslinger Ägide geführt worden waren. Die Art der Analyse hat Günter Jerouschek als Versuch, »den Bestand so quellennah wie möglich aufzubereiten« und als »hermeneutisch-exegetische Nacherzählung« charakterisiert. Da er also den »Mikrokosmos der Verfolgungswirklichkeit«3 sichtbar zu machen versucht, wird von ihm eine große Anzahl ausgewählter Hexenverfahren rekonstruiert – mit Blick auf die Vor- und die Nachgeschichten, die Denunziation und das prozessuale Geschehen, die Anwendung der Folter und das Aussageverhalten, die lokale Stimmung und das Agieren des Amtspersonals. Es wird mit anderen Worten das historische Geschehen, soweit institutionell produziertes Aktenmaterial dergleichen erlaubt, in der Prozesssituation und deren Umfeld miterlebbar gemacht. Im geschichtswissenschaftlichen Kontext scheint mir diese Vorgehensweise keinesfalls unüblich zu sein. Doch aus soziologischer Warte mutet die Arbeit wie ein Vorbote einer methodologischen Umkehr an, über die die allgemeine Gewaltforschung kurze Zeit nach (!) Erscheinen der Habilitationsschrift zu streiten begann. Denn Günter Jerouschek nimmt in seiner Untersuchung im Grunde vorweg, was ab Mitte der 1990er Jahre als Projekt der »Neuen Gewaltsoziologie« oder »Gewaltphänomenologie« die Debatte zumindest in Deutschland4 zu bestimmen begann. Die Vorgehensweisen und Grundverständnisse der bis dahin dominierenden sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung gerieten dabei aus mehreren Gründen in die Kritik. Die traditionelle Lesart unterliege einem Missverständnis, wenn sie Gewalt als eine gesellschaftliche Anomalie begreife, die erklärungsbedürftig und 2 3 4
Jerouschek, Die Hexen und ihr Prozess. Die Hexenverfolgung in der Reichsstadt Esslingen, 1992. Zu den Zitaten siehe Jerouschek (Fn. 2), 51, 54. International viel einflussreicher sind allerdings die Überlegungen von Collins, Violence. A Micro-Sociological Theory, 2008. Zwischen dieser Arbeit und dem Anliegen der deutschen Gewaltphänomenologie bestehen erhebliche Gemeinsamkeiten, aber auch einige Unterschiede (dazu näher Hobel/Malthaner, Über dem Zenit. Grenzen und Perspektiven der situationistischen Gewaltforschung, Mittelweg 36 1–2 (2019), 3 [6]).
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etwa auf Deprivations- und individuelle Defektlagen zurückführbar sei. Gewalt zähle vielmehr zur menschlichen Grundausstattung; es handele sich bei ihr um eine stets vorhandene Handlungsressource, der sich jedermann jederzeit bedienen könne und die unter geeigneten situativen Bedingungen deshalb früher oder später auch hervortreten werde.5 Dass Gewalt ungeachtet ihrer Normalität im etablierten wissenschaftlichen und Alltagsdenken gleichwohl zum erklärungsbedürftigen Sonderfall deklariert wird, komme freilich nicht von Ungefähr: Wir »verrätseln« die Gewalt, wie Jan Philipp Reemtsma schreibt, um uns ihre »Normalität nicht als permanente Irritation zumuten zu müssen«.6 Auf diese Weise fehlgeleitet habe sich die traditionelle Gewaltforschung in die kausalexplanatorische Ermittlung der Ursachen von Gewalt verrannt und die Gewalt selbst, d. h. ihre Dynamik und situativen Vollzüge, aus dem Blick verloren. Die Suche nach soziostrukturellen oder prädispositionellen »Faktoren« blende den eigentlichen Gegenstand – Gewalt – nämlich systematisch aus. Gerade das aber werde ihrer Üblichkeit mitnichten gerecht. Die zentrale Aufgabe der Forschung sei »daher nicht die Ermittlung vermeintlicher Ursachen, sondern die anthropologische Deskription des Gewaltprozesses selbst«7, also die Deskription und Analyse der Gewaltsituation.8 Ein ganz ähnliches Programm ist aber nun im Wesentlichen schon in Günter Jerouscheks Hexenbuch formuliert. Sein »historiographisches Anliegen«, keine makrohistorischen oder »übergreifenden Darstellungen«, sondern den »Durchschnittsprozessen und konkreten Einzelschicksalen« nachgehen zu wollen, »um vom Detail her nähere Aufschlüsse über Phänomenologie und Ursachen der Hexenverfolgung zu gewinnen«,9 entspricht der gewaltphänomenologischen Maxime, wonach »keine Analyse gesellschaftlicher Ursachen ersetzen (kann), was 5
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Dazu – in Übertragung des gewaltsoziologischen Diskurses auf den historischen Forschungszusammenhang – etwa Baberowski, Gewalt verstehen, Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 5 (2008), 5–17; ders., Räume der Gewalt, 2015, 13 ff. Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, 2008, 22. Sofsky, Der Prozess der Gewalt, in: Klein (Hrsg.), Gewalt – interdisziplinär, 2002, 172 (177). Als zentraler programmatischer Text hierfür gilt der Beitrag von v. Trotha, Zur Soziologie der Gewalt, in: ders. (Hrsg.), Soziologie der Gewalt, 1997, 9 (16 ff.). Für einen prägnanten zusammenfassenden Rückblick vgl. Koloma Beck, Aktuelle Debatten und deren Beiträge zur raumsensiblen Erweiterung der Gewaltsoziologie, Soziale Welt 67 (2016), 431 (432 ff.). Jerouschek (Fn. 2), 51.
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die dichte Beschreibung von Gewaltverhältnissen vermag«.10 Wenn die Gewaltphänomenologie sich angehalten sieht, die Dynamik von Antun und Erleiden zu rekonstruieren, d. h. den Vollzug, die Situiertheit und die somatische Qualität von Gewalt,11 wird eben dies auch von Günter Jerouschek als eine seiner Aufgaben verstanden. Zumindest von Teilen der Gewaltphänomenologie wird dieser Situationsbezug insofern erweitert, als ihr Interesse auch der kulturellen Ordnung gilt, die die Gewalt strukturiert sowie ihr Maß, ihre Ausdrucksformen und ihre etwaige Symbolik bestimmt.12 Das ist etwa in den gewaltphänomenologischen Studien zur Tortur deutlich geworden. Diese haben zum einen den Schmerz, die Pein und die Versehrungen des gefolterten Leibes (soweit das mit Worten möglich ist) ausbuchstabiert.13 Zum anderen wird von ihnen aber auch eine darüber hinausgehende Vulnerabilität analysiert, insofern sich die Folter (vermittelt über den physischen Zugriff ) auch auf die Ausnutzung weiterer, nichtkörperlicher, sich ggf. wechselseitig verstärkender Verletzbarkeiten versteht. Moderne Folterverfahren heben vielfach den personalen Status, die soziale Einbindung und Identität sowie die Erwartungshorizonte der Betroffenen auf14 – und entsprechen damit der spezifischen »Verletzungsoffenheit«15 des in den Kulturen der Moderne lebenden Individuums. Die Verletzungsstrategien, die demgegenüber an die Sensibilität frühneuzeitlicher Menschen angepasst waren, die leibgerichtete und auch die spirituelle Gewalt, wird wiederum (schon) durch Günter Jerouschek in einem Maße gezeigt, dass das gewaltphänomenologische Programm bei ihm als eingelöst gelten kann.16 Kurz und gut: Man mag die gewaltphänomenologische Zurückweisung der 10 11 12
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Baberowski (Fn. 5) (2015), 141. »Zu studieren ist die Dynamik der Aktionsmodi, die Struktur der sozialen Situation und das Schicksal der Opfer« (Sofsky, Gewaltzeit, in: v. Trotha [Fn. 8], 105). v. Trotha (Fn. 8), 33; Baberowski, Gewalt verstehen, Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 5 (2008), 5 (13 f.); anders aber Sofsky (Fn. 7), 177, der für strukturalistische und nicht für kulturalistische Analysen plädiert. Sofsky, Traktat über die Gewalt, 1996, 65 ff., 83 ff. Näher Nungesser, Folterbarkeit. Eine soziologische Analyse menschlicher Verletzungsoffenheit, Zeitschrift für Soziologie 48 (2019), 378 (383 ff.); vgl. auch Inhetveen, Towards a body sociology of torture, in: v. Trotha/Rösel (Hrsg.), On Cruelty. Sur la cruauté. Über die Grausamkeit, 2011, 377 (380 ff.). Popitz, Phänomene der Macht, 1992, 68 f. In zahllosen Passagen beruht dies auf den Protokollen, in denen die Torturübergriffe und die Klagen der Opfer sorgfältig festgehalten sind.
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traditionellen Gewaltforschung mit guten Gründen für überzogen oder unberechtigt halten,17 sie hat aber zweifellos ein Desiderat adressiert – dessen sich Günter Jerouschek allerdings davor schon hellsichtig angenommen hatte. Die Leistungen der Habilitationsschrift wurden denn auch weithin honoriert. Die Arbeit ist preisgekrönt und hat Günter Jerouschek zu einer Institution in der Hexenforschung gemacht. Kritische Positionen blieben singulär. Der vereinzelt erhobene Vorwurf, die »hermeneutisch-exegetische Nacherzählung« des Esslinger Geschehens sei nicht anhand vorformulierter Fragestellungen oder einer begrifflichen und theoretischen Struktur orientiert,18 geht nicht nur an der Logik induktiven Forschens ersichtlich vorbei. Er wird auch der Konsistenz, mit der Günter Jerouschek die Reguliertheit und Prozessprägung der frühneuzeitlichen Folter belegt, mitnichten gerecht. Denn in der Arbeit wird kontinuierlich – Fall für Fall und Prozess für Prozess – rekonstruiert, wie das »Spezifikum der Prozesshaftigkeit«, das »den Verfolgungen das ihnen eigentümliche Gepräge« gab, als ein »Wahnkorsett« fungierte, das dem richterlichen Vorurteil zu seiner Selbsterfüllung verhalf.19
III Ein weiteres Beispiel für eine Vorreiterrolle von Günter Jerouschek bietet dessen Beitrag zur Straftheorie. Die Debatte um die Legitimation von Strafe wurde über Jahrzehnte durch die Auseinandersetzung zwischen Präventionskonzeptionen und der sog. absoluten Straftheorie bestimmt. Damit ging nach allgemeiner Auffassung eine Neutralisierung des Opfers einher, weil dessen Position und Interessen für die Rechtfertigung des Strafeinsatzes als bedeutungslos galt. Dies wird inzwischen von ganz erheblichen Teilen des strafrechtswissenschaftlichen Schrifttums anders gesehen, wobei Günter Jerouschek zu den ersten hierauf hindrängenden Stimmen zählt.20 17 18
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So etwa Hüttermann, »Dichte Beschreibung« oder Ursachenforschung der Gewalt, in: Heitmeyer/Soeffner (Hrsg.), Gewalt, 2004, 107 ff. So – in einem merkwürdig schulmeisternden Ton und einer offensichtlich personalisierten Agenda – Treiber, Kriminalrechtsgeschichte als quellennahe »Erzählkunst« oder: Über die Risiken »dichter Beschreibung«, in: v. Trotha (Hrsg.), Politischer Wandel, Gesellschaft und Kriminalitätsdiskurse, 1996, 261 ff. Jerouschek (Fn. 2), 14, 278 f. Dazu, dass das Genugtuungsbedürfnis des Opfers in den Zeiten davor (auch bei Binding und v. Liszt) durchaus diskutiert worden ist, vgl. Hörnle, Die Rolle des Opfers in der Straftheorie und im materiellen Strafrecht, JZ 2006, 950 (952).
13 Günter Jerouschek und: Sprach-Gewalt
Ihm zufolge »kommt der Bestrafung des Täters der Rang eines supportiven heilsamen Faktors« für den Tatverarbeitungsverlauf von tatbedingt traumatisierten Opfern zu. Ihnen gegenüber werde mit der Strafe nämlich die Solidarität der Gesellschaft zum Ausdruck gebracht. Bliebe die Bestrafung ohne Notwendigkeit aus, verschlimmerte die Gemeinschaft folglich »das Leid des Opfers, indem sie seine Heilungschancen mindert.« Das aber sei dem Staat nicht erlaubt. Konnte er schon die Tat nicht verhindern, müsse er »das in seinen Möglichkeiten Liegende tun«, um »dem Opfer bei der Bewältigung des strafbar-fremdverschuldeten Traumas beizustehen«. Dieses Konzept wird von Günter Jerouschek »viktimologische Straftheorie« genannt.21 Einige der hierauf folgenden Arbeiten haben zur Strafrechtslegitimierung zwar weniger auf die heilungsunterstützende Wirkung der Strafe,22 sondern auf die Restabilisierung des opferseitigen Sicherheitsgefühls23 und Normgeltungsvertrauens24 abgestellt. Auch stellten sie dies in einen vagen Zusammenhang mit der Rechtsweggarantie oder objektiven Grundrechtsdimensionen, doch liegt der Anschluss an Günter Jerouscheks Überlegungen jeweils klar auf der Hand. Stets geht es um ein spezifisches Genugtuungsrecht, nämlich einen Anspruch auf die strafrechtsgestützte Wiederherstellung des seelischen Gleichgewichts. Diese gedankliche Linie bleibt auch in jenen Konzeptionen intakt, von denen der Bestrafungsanspruch des Opfers als Ausgleich für den Ausschluss einer selbsttätigen Verschaffung von Genugtuung konstruiert worden ist.25 Selbst in abwehrrechtlichen Theorie-Spielarten sind sie untergründig präsent.26 Aus deren Warte liege dort, wo eine unrechtsangemessene Sanktionierung unterbliebe, in der staatlichen Minder- oder Inaktivität letztlich die unzutreffende Erklärung, 21 22
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Straftat und Traumatisierung: Überlegungen zu Unrecht, Schuld und Rehabilitierung der Strafe aus viktimologischer Perspektive, JZ 2000, 185 (193 ff.). Vgl. hierzu aber auch Hassemer/Reemtsma Verbrechensopfer, Gesetz und Gerechtigkeit, 2002, 112 ff.; Hörnle, Die Rolle des Opfers in der Straftheorie und im materiellen Strafrecht, JZ 2006, 950 (955 f.). Holz, Justizgewähranspruch des Verbrechensopfers, 2007, 190 ff. Sautner, Opferinteressen und Strafrechtstheorien, 2010, 287 ff.; ähnlich Hamel, Strafen als Sprechakt, 2009, 167 ff. Als Kompensation für die Verzichtsleistung, die das Gewaltmonopol von den unmittelbar Betroffenen fordert, sei ihnen »ein Anspruch auf ein Unrechtsurteil zuzugestehen« (Hörnle, § 12. Straftheorien, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius [Hrsg.], Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, 2019, Rn. 44). Zum Folgenden Weigend, »Die Strafe für das Opfer?« – Zur Renaissance des Genugtuungsgedankens im Straf- und Strafverfahrensrecht, Rechtswissenschaft 1 (2010), 39 (50 ff.).
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dass gar kein Anlass für eine Unrechtsfeststellung und adäquate Bestrafung bestünde (weil das Unrecht fehle oder geringfügig oder vom Opfer zu verantworten sei). Da eine solche negative Charakterisierung in das Persönlichkeitsrecht des Opfers eingreife, habe dieses einen dagegen gerichteten Unterlassungsanspruch. Dieser werde durch den Staat allein durch ein unrechtszurückweisendes Verhalten in Gestalt einer Sanktion erfüllt. Deshalb könne das Opfer vom ihm verlangen, den Täter nicht nur überhaupt zu bestrafen, sondern dies auch so spürbar, dass es nicht als Verharmlosung des Geschehens erscheint.27 Auch hier wird also die Jerouschek’sche Überlegung aufrechterhalten (und allein durch eine abweichende rechtspositive Konstruktion überformt). Zwar mag ich mich persönlich für all diese Ansätze wenig erwärmen – weil sich die Straflegitimation bei ihnen vielfach auf empirische Zweckkonstruktionen stützt und weil sie zudem die präventiven Strafzwecke nachdrücklich schwächt28 –, doch ist das hier ohne Belang. Denn diese Gruppe der opferorientierten Straftheorien gewinnt zusehends an Akzeptanz, sodass Günter Jerouschek als einer ihrer Gründungsväter auch in diesem Bereich zweifellos bleibende Spuren hinterlässt.
IV Doch nun zum dritten Punkt meiner Würdigung. Stand bei den ersten beiden Beispielen für die Jerouschek’schen Verdienste die Gewalt im Mittelpunkt – einmal die strafrechtlich gerahmte Foltergewalt und zum anderen die strafrechtsgetragene Gewaltkompensation –, geht es nun um den Sprachbezug von Gewalt. Günter Jerouschek zeichnet sich durch eine außergewöhnliche Sprachkunst oder eben: Sprachgewalt aus. Das kommt nicht nur in zahllosen gekonnten Wortschöpfungen und seinem Bilderreichtum zum Tragen. Vielmehr hat er sich mit vollem Recht als Konservator verschwindender Wörter beschrieben.29 All die damit 27
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Weigend, »Die Strafe für das Opfer?« – Zur Renaissance des Genugtuungsgedankens im Straf- und Strafverfahrensrecht, Rechtswissenschaft 1 (2010), 39 (52 f.); Holz (Fn. 23), 135. Die Straftheorie macht beispielsweise die Berücksichtigung resozialisierungsfeindlicher, opferseitiger Strafwünsche zu einer virulenten Gefahr. Näher Kölbel, Opfergenugtuung oder rehabilitative Idee?, Strafverteidiger 11 (2014), 698 ff. Vgl. hierzu etwa sein Bekenntnis, angesichts des »Absterbens von Wörtern« im schwäbischen Dialekt »dann und wann der Versuchung« verfallen zu sein, »sich als Sprachkonservator zu betätigen« (Jerouschek [Fn. 2], 53).
15 Günter Jerouschek und: Sprach-Gewalt
verbundenen bildungs- wie manchmal auch volkssprachlichen Anleihen geben seinen Texten einen ganz eigenen Ton; sie lassen seine Schriften sprachlich unverwechselbar werden und machen ihre nicht immer ganz einfache Lektüre zu einem Genuss. Er schreibt alles andere als technisch, sondern schlichtweg schön, ohne dass damit Einbußen an wissenschaftlicher Präzision eintreten würden. Auf diese Weise hat er auch die von ihm behandelten Gewaltsamkeiten in die angemessene Sprachform gebracht. Ich betone das, weil es in mehrfacher Hinsicht als eine Leistung anerkannt werden muss. Brutalität und schweres Leid werden nämlich oft »zu einem sprachlichen Problem«. Denn zu »harmlos wirken die üblichen Begriffe angesichts des Schreckens, zu flach.« So gehört es zur Wirkungsmacht schwerer Gewaltformen, dass »sie die eigene Vorstellungskraft übersteigen, das Vertrauen in die Welt irritieren, die Fähigkeit, ›dies zu beschreiben‹«. Wer dann die hier gleichwohl bestehende Pflicht des Beschreibens auf sich nimmt, erfährt deshalb die »ethische Last der Zeugenschaft« und begegnet der »Angst des erzählerischen (und damit auch moralischen) Versagens, nämlich eben ›dies‹ nicht angemessen beschreiben zu können«.30 Günter Jerouschek war in seinen rechtshistorischen Studien damit ebenfalls konfrontiert, trotz der ganz erheblichen zeitlichen Distanz zwischen dem realweltlichen Geschehen und dessen von ihm vorgenommener Rekonstruktion. Er beschreibt dies als »die vielleicht hintergründigste Irritation«, derer man bei der Erforschung der Hexenverfolgung »gewärtig sein muss: die tiefgreifende und höchst zwieschlächtige Gefühlsverwirrung, der sich der Bearbeiter bei der Lektüre von Quellen, aus denen das Unrecht zum Himmel schreit, ausgesetzt sieht. Die Texte reden eine zu grausame Sprache, als dass man sie ungerührt zur Kenntnis nehmen könnte. Sie handeln fast durchweg von Folter, nicht selten mit so minutiöser Anschaulichkeit, dass die Lektüre selbst zur Tortur gerät«.31 Im Angesicht dieser so plastisch beschriebenen Herausforderung hat Günter Jerouschek nicht nur eine analytische Haltung einnehmen können, sondern die Gewalt dank seiner Sprachgewalt sprachlich beherrscht. Er hat das Unsagbare in Worte gefasst, die das Geschehene mit der notwendigen Anschaulichkeit wiedergeben – die Würde der Opfer achtend und zugleich ohne jede Trivialisierung oder irgendeine voyeuristische Spur. 30 31
Alle Zitate aus Emcke, Weil es sagbar ist, 2. Aufl. 2016, 15, 20. Jerouschek (Fn. 2), 12, wo es weiter heißt: »Die ‚personae dramatis‘, Peiniger wie Gepeinigte, gewinnen Konturen, verwandeln sich einem selbst an, werden gleichsam leibhaftig in Anbetracht der Apfelkerne und Butterflecken, der makabren Hinterlassenschaft des Vespers im Folterprotokoll des Schriftführers.«
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V Günter Jerouschek war und ist ein großartiger Wissenschaftler. Mit diesem Resümee ist freilich zu ihm »als Mensch« noch wenig gesagt. Doch hier auch jene Seite aufzuschlagen, hätte er ganz gewiss nicht gemocht. Nicht umsonst wird das Format der in diesem Band abgedruckten Ehrung – ein kleines, aber feines Symposium im engeren Kreis – seiner Person am besten gerecht.
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Recht und Literatur – Rechtsikonographie
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Goethes Staatsrechtsdenken vor dem Hintergrund des Rechts der Aufklärung1 Udo Ebert
I
»Goethes Staatsrechtsdenken«: Methodische Vorüberlegung
Um Goethes Rechts- und insbesondere Staatsrechtsdenken zu ermitteln, ist sein dichterisches Werk nur bedingt geeignet. Zwar weisen seine Dramen, Epen, Romane, Erzählungen und Gedichte in reichem Maße Rechtsgedanken auf. Doch werden diese vom Autor im Allgemeinen den handelnden oder dargestellten Personen zugeschrieben und lassen sich deshalb nicht ohne Weiteres dem Autor selbst als seine eigenen zuordnen. Wir benötigen eine Plattform authentischen Rechtsdenkens, von der aus wir beurteilen können, ob eine dichterische Äußerung die Ansicht des Dichters selbst wiedergibt. Eine solche Plattform liefern die nicht eigentlich dichterischen Werke Goethes. Etwa die Autobiographie »Dichtung und Wahrheit«, sonstiges Autobiographische wie die »Campagne in Frankreich 1792« und die »Belagerung von Mainz«, ferner die »Maximen und Reflexionen«, die Tagebücher, die Gespräche mit Eckermann, die Briefe, die Amtlichen Schriften, die Straßburger Promotionsthesen. In diesem Sinne werde ich im Folgenden versuchen, aus den nichtdichterischen und den dichterischen Werken Goethes2 dessen staatsrechtliches Denken herauszupräparieren.
1 2
Für den Juristen und Germanisten Günter Jerouschek. Goethes Werke werden im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, nach der Hamburger Ausgabe (HA) zitiert.
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20 Udo Ebert
II »Vor dem Hintergrund des Rechts der Aufklärung«: Das Recht der Aufklärung 1
Naturrecht und seine Einflussgebiete
Mein Thema ist Goethes Staatsrechtsdenken »vor dem Hintergrund des Rechts der Aufklärung«. Das mit der Aufklärung spezifisch verbundene Recht ist das Naturrecht. Darunter wurde ein Inbegriff rechtlicher Normen verstanden, die unabhängig vom positiven, insbesondere staatlich gesetzten Recht galten. Das Naturrecht war Maßstab für die Qualität des positiven Rechts und Richtschnur für eine sinnvolle Gestaltung des Staates und seiner Gesetzgebung.3 Sein Einflussgebiet war somit vor allem das Staatsrecht; daneben beeinflusste es auch das Strafrecht. Innerhalb des Naturrechts der Aufklärung unterscheidet man zwischen einem älteren Naturrecht, dessen Leitautoren Hugo Grotius (1583–1645) und Thomas Hobbes (1588–1679) sind, und einem jüngeren Naturrecht, das sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts durchsetzt. Es erhöht den Reiz meines Themas, dass der Wechsel vom älteren zum jüngeren Naturrecht in die Lebenszeit Goethes fällt. 2
Älteres und jüngeres Naturrecht
Ausgangspunkt des Gesellschafts-, Rechts- und Staatsmodells des älteren Naturrechts4 ist die Vorstellung eines Naturzustandes der Menschen, der durch einen Gesellschafts- oder Staatsvertrag beendet wird. Mit diesem Vertrag unterwerfen sich die Menschen einem absolutistischen Herrscher. Zweck des so konstituierten Staates ist das Gemeinwohl, die »salus rei publicae«, oder die Glückseligkeit der Gesamtheit und der Einzelnen. Hieraus folgt eine schier unbegrenzte Fülle staatlicher Aufgaben. Sie beziehen sich auf alle Lebensbereiche bis in die privaten Angelegenheiten des Individuums und werden von der sogenannten »guten Policey« wahrgenommen. Das ältere Naturrecht dient mithin der Begründung und Legitimierung des Absolutismus. Und zwar insbesondere des aufgeklärten Absolutismus, in dem das Gemeinwesen nicht Gegenstand herrscherlicher Willkür, 3 4
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Klippel, Naturrecht/Rechtsphilosophie, in: Thoma (Hrsg.), Handbuch Europäische Aufklärung, 2015, 375. Zum Folgenden Klippel (Fn. 3), 373–376; Ogris, Goethe – amtlich und politisch, in: Lüderssen (Hrsg.), »Die wahre Liberalität ist Anerkennung«. Goethe und die Jurisprudenz, 1999, 273.
21 Goethes Staatsrechtsdenken vor dem Hintergrund des Rechts der Aufklärung
sondern der Herrscher »Diener des Staates« und den genannten Staatszwecken unterworfen ist. Das jüngere Naturrecht der Aufklärung,5 das sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts etabliert, sieht den Zweck des Staates in der Sicherung der Freiheitsrechte des Einzelnen. Rechte und Pflichten im Staat werden definiert, Menschenrechte entwickelt. Das jüngere Naturrecht versteht sich geradezu als »Wissenschaft der Menschenrechte«.6 Manche fordern darüber hinaus Gewaltenteilung, eine geschriebene Verfassung, zuweilen auch eine »demokratische Republik«. In all dem erkennt man die politischen Strukturen des später so genannten Liberalismus. Gerichtet sind die Forderungen des jüngeren Naturrechts vornehmlich gegen das Konzept des Absolutismus, ferner aber auch gegen überkommene ständische Strukturen.
III Goethes Staatsrechtsdenken vor dem Hintergrund des Rechts der Aufklärung Es liegt nahe, Goethe, den Freund des Herzogs Carl August, den Amtsträger im aufgeklärt absolutistischen Herzogtum Sachsen-Weimar, den »Fürstendiener«,7 dem älteren, absolutistischen Naturrecht zuzurechnen; im Unterschied etwa zu dem zehn Jahre jüngeren Schiller, der dem repressiven Regime seines Landesfürsten entflohen ist, der in seinen Schriften und Dramen Republik und Menschenrechte propagiert und dem die Worte des Marquis Posa in »Don Carlos« »Ich kann nicht Fürstendiener sein«8 offensichtlich aus dem eigenen Herzen gesprochen sind, und der demzufolge offenbar dem jüngeren, liberalen Naturrecht zuzurechnen ist. Ob und inwiefern die Vermutung zutrifft, wird sich im Folgenden erweisen. 1
Organisches Werden in der Geschichte
Goethe hegte, wie sein Leben und Werk durchgängig zeigen, Interesse und Sympathie für organisches Werden und Sichentwickeln und hatte eine Abneigung 5 6 7 8
Zum Folgenden Klippel (Fn. 3), 375–378. Klippel (Fn. 3), 376. Zu diesem Vorwurf und weiteren Vorwürfen von liberaler bzw. nationalliberaler Seite Ogris (Fn. 4), 305 f. Don Carlos III/10, Vs. 3020 und 3063.
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gegen jede umstürzende Veränderung. Das war tief in seinem Wesen verwurzelt und bezog sich nicht nur auf die politischen und rechtlichen Verhältnisse, sondern auf sämtliche Bereiche des Lebens, der Kultur und der Natur. Bezeichnend für Letzteres ist Goethes Parteinahme für den Neptunismus in dem zu seiner Zeit heftig ausgetragenen Vulkanismus-/Neptunismus-Streit.9 Neptunismus war die Vorstellung, dass in der Erdgeschichte die dominierende Kraft der geologischen Vorgänge das Wasser sei und die Gesteine Sedimente des Wassers darstellten. Der Vulkanismus hielt dagegen die Vulkantätigkeit für die Haupttriebkraft und die Gesteine daher im Wesentlichen für vulkanische Produkte. Allmählicher Entstehung und nicht abrupten, katastrophischen Vorgängen verdankte also die Oberfläche der Erde ihre Gestalt nach der Überzeugung Goethes; und wir dürfen sagen: auch nach seiner Neigung, an der er festhielt, als der Vulkanismus längst herrschend geworden war.10 Der Gedanke der stetigen bruchlosen Wandlung der Natur bestimmte Goethes Haltung auch in der Biologie, in Bezug namentlich auf die Entwicklung der Pflanzen.11 Dem allmählichen Entstehen und Werden galt Goethes Interesse und Sympathie auch in Bezug auf die Menschheitsgeschichte. Alles Menschliche kann, so war er überzeugt, nur bei Berücksichtigung der geschichtlichen Entwicklung richtig beurteilt werden. An Zelter schrieb er am 3.6.1830:12 »(Ich) liebe mir das Geschichtliche, denn wer versteht irgendeine Erscheinung, wenn er sich von dem Gang des Herankommens (nicht) penetriert?«13 9
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11 12 13
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Dazu und zum Folgenden Wagenbreth, Neptunismus/Vulkanismus, in: Dahnke/Otto (Hrsg.), Goethe Handbuch, Band 4/2, 1998, 801–803; Radbruch, Wilhelm Meisters sozialistische Sendung, in: Lüderssen (Hrsg.), »Die wahre Liberalität ist Anerkennung«. Goethe und die Jurisprudenz, 1999, 117. Dichterische Darstellung des Streits in Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, HA, Band VIII, 31–34, 260–264, und Faust. Der Tragödie Zweiter Teil, Zweiter Akt, Klassische Walpurgisnacht, Gespräch zwischen Thales und Anaxagoras, HA, Band III, 238 f. Den Sieg der vulkanistischen Theorie nach dem Tod des Hauptvertreters des Neptunismus Abraham Gottlob Werner im Jahr 1817 kommentierte Goethe mit folgenden Zeilen (zitiert nach Wagenbreth [Fn. 9], 802): »Kaum wendet der edle Werner den Rücken, / Zerstört man das Poseidaonische Reich; / Wenn alle sich vor Hephästos bücken, / Ich kann es nicht sogleich.« Radbruch (Fn. 9), 117 f. Goethes Briefe, HA, Band IV, 382. Die Äußerung bezieht sich auf die Musik, anlässlich eines Besuchs von Felix Mendelssohn bei Goethe. Vgl. auch Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, HA, Band IX, 361: »(…) ich hatte für nichts Positives einen Sinn, sondern wollte alles, wo nicht verständig,
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Was Goethe hier zur Musik schrieb, galt ihm auch für Religion, Politik, Kultur und Wissenschaft. Früh interessierte er sich für die Geschichte der Religionen und für die historisch-kritische Bibelauslegung.14 In der Kirchengeschichte besaß er profunde Kenntnisse.15 An Niebuhrs »Römischer Geschichte« nahm er lebhaften Anteil und tauschte mit dem Verfasser Gedanken zu Textkritik und Geschichtsphilosophie aus.16 In seiner »Farbenlehre« widmet er deren Geschichte einen gewichtigen Teil.17 2
Kenner und Liebhaber der Rechtsgeschichte
Und es galt ihm das Gesagte für das Recht. Nicht als gewillkürte Satzung, sondern als geschichtlich Gewordenes wollte Goethe es sehen; eine Sichtweise, der die zu seinen Lebzeiten aufkommende Historische Rechtsschule in der Rechtswissenschaft entgegenkam.18 Daher Goethes intensive Beschäftigung mit der Rechtsgeschichte. Als »Kenner und Liebhaber der Rechtsgeschichte« hat man ihn geradezu bezeichnet.19 In seinem Schreiben an die Juristische Fakultät der Universität Jena vom 24.11.1825, in dem er sich für deren Glückwünsche zu seinem fünfzigjährigen Dienstjubiläum bedankt, äußert Goethe:20 »Denn die Geschichte des Rechts und dessen Herankommen aus den frühsten Zuständen, aus jenen der rohen und einfachen Natur, wie zu solchen die schon eine National- und Lokalbildung wahrnehmen lassen, blieb von jeher der Gegenstand meiner angelegentlichsten Betrachtungen.«
14 15 16 17 18 19 20
doch historisch erklärt haben.« Zum Grund für Goethes häufigen Rückgriff auf die geschichtliche Entwicklung auch Schubart-Fikentscher, Goethes Amtliche Schriften. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung, 1977, 39: »um damit für sich und andere aus der Sache selbst die gegenwärtige Lage und die Forderungen für die Zukunft einleuchtender begründen zu können.« Goethe (Fn. 13), 274–276, 350–353. Landau, Goethes verlorene juristische Dissertation und ihre Quellen. Versuch einer Rekonstruktion, 2007, 8, 37. Besonders lesenswert die Briefe an Niebuhr vom 27.11 / 17.12.1811 und vom 23.11.1812; Goethes Briefe (Fn. 12), Band III, 171–173 und 206–208. Goethe, Geschichte der Farbenlehre, HA, Band XIV, 7–269. Radbruch (Fn. 9), 119 f. Hübner, Goethe als Kenner und Liebhaber der Rechtsgeschichte, 1932. Goethes Briefe (Fn. 12), Band IV, 162.
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Für seine Kenner- und Liebhaberschaft hier einige Beispiele. Schon vor seinem Jurastudium in Leipzig und Straßburg lernte Goethe im Frankfurter Elternhaus unter dem Einfluss seines Vaters das geltende RömischGemeine Recht anhand von Lehrbüchern und war im Auffinden und Lesen der einschlägigen römischen Rechtstexte des Corpus Iuris Civilis Justinians, wie er in »Dichtung und Wahrheit« schreibt, »bald auf das vollkommenste bewandert«.21 Die erforderlichen Sprachkenntnisse besaß er; lateinische Texte las er »mit großer Leichtigkeit«.22 Sein Jurastudium in Leipzig23 bot ihm denn auch im Römisch-Gemeinen Recht kaum Neues.24 In Straßburg promovierte er im Jahr 1771 zum Lizentiaten25 der Rechte26 mit 56 Thesen, deren Hauptteil zivilrechtliche Thesen gemäß dem Römisch-Gemeinen Recht bildeten.27 Entgegen einer gelegentlich vertretenen Ansicht28 waren Goethes römischrechtliche Thesen keineswegs teilweise simpel und selbstverständlich, sondern sämtlich Antworten auf 21 22 23 24
25 26 27
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Goethe (Fn. 13), 145 f., 238; dazu Anmerkungen des Herausgebers aaO., 666 f., 682. Goethe (Fn. 13), 239; s. auch 473. Dazu Goethe (Fn. 13), 241, 245–248, 287 f., 315. In den Leipziger »juristischen Kollegien« wusste er »gerade schon so viel, als uns der Lehrer zu überliefern für gut fand«; Goethe (Fn. 13), 248. Insgesamt hat Goethe jedoch, wie er rückblickend sagt, »mehr, als ich in meiner bisherigen Darstellung aufzuführen Gelegenheit nahm, (…) bei meinem Aufenthalte in Leipzig an Einsicht in die Rechtserfordernisse gewonnen«, Goethe (Fn. 13), 360. Nicht zum Doktor. Siehe Radbruch, Goethe. Straßburger Promotions-Thesen, in: ders., Gestalten und Gedanken. Zehn Studien, 1954, 70. Ausführlich berichtet Goethe über seine Straßburger juristische Promotion in Goethe (Fn. 13), 471–475 (dazu Anmerkungen des Herausgebers, HA, Band X, 550 f.). Schubart-Fikentscher, Goethes sechsundfünfzig Straßburger Thesen vom 6. August 1771, 1949, 26 f. – Im Einzelnen beziehen die Thesen sich auf allgemeine Bestimmungen des Schuldrechts bzw. Vertragsrechts (Thesen 4, 12, 17, 27, 35, 36, 38), einzelne Schuldverhältnisse (Thesen 7, 16, 18, 19, 22, 37), Sachenrecht (Thesen 3, 8, 14, 15, 27, 28, 29, 31), Personen- und Familienrecht, vor allem Rechts- und Handlungsfähigkeit (Thesen 5, 26, 30, 34, 56), Erbrecht (Thesen 9, 13, 23, 24, 25, 33), Prozessrecht (Thesen 10, 11, 20, 21, 32, 34, 39, 42). Weitere Thesen betreffen das Strafrecht und Strafverfahrensrecht (Thesen 22, 53, 54, 55), allgemeine rechtsphilosophische Fragen (Thesen 1, 47, 56), Rechtsbildung (Thesen 2, 45), staatsrechtliche Fragen der Gesetzgebung und Gesetzesauslegung (Thesen 43, 44, 46, 49, 50, 51, 52), den Richter (Thesen 6, 48), das Rechtsstudium (These 41). Radbruch (Fn. 25), 70–73. Siehe auch Friedenthal bei Landau (Fn. 15), 11 f. Radbruch beruft sich auf eine Goethes Promotion betreffende briefliche Äußerung eines Straßburgers (Goethes Kommilitonen Metzger): »alors pour faire un peu sentir son mépris il a donné les thèses les plus simples.« Dazu Landau (Fn. 15), 15–17.
25 Goethes Staatsrechtsdenken vor dem Hintergrund des Rechts der Aufklärung
ernstliche, teils sogar recht schwierige zivilrechtliche Fragen, die in der zeitgenössischen gemeinrechtlichen Literatur lebhaft erörtert wurden. Sie zeigen die Vertrautheit Goethes mit dieser Literatur samt den zugrundeliegenden römischen Quellen und mussten wissenschaftlich eigenständig durchdacht sein. In der Disputation ließ sich anspruchsvoll über sie debattieren.29 Goethe selbst schreibt darüber in »Dichtung und Wahrheit«:30 »(…) und die Disputation ging (…) mit großer Lustigkeit, ja Leichtfertigkeit vorüber; da mir denn meine alte Übung, im ›Corpus juris‹ aufzuschlagen, gar sehr zustatten kam, und ich für einen wohlunterrichteten Menschen gelten konnte.«
Bemerkungen zur Rechts- und Verfassungsgeschichte des Orients mit besonderer Betonung der Verfassungsentwicklung enthalten die »Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-Östlichen Divans«.31 Ein enges Verhältnis hatte Goethe zur deutschen Rechtsgeschichte.32 In »Dichtung und Wahrheit« geht er auf die Geschichte des Reichskammergerichts ein,33 stellt in »Götz von Berlichingen« die rechtlichen Verhältnisse des 16. Jahrhunderts sorgfältig und kundig dar,34 äußert sich in »Faust – Der Tragödie Zweiter Teil« zum alten Reichsstaatsrecht.35 Viel spätmittelalterliches Recht, namentlich Öffentliches Recht des Alten Reiches, Strafrecht und Strafprozessrecht, zeigt Goethes »Reineke Fuchs«,36 wobei freilich zu berücksichtigen ist, dass vieles davon schon in der spätmittelalterlichen Vorlage enthalten war.37 In seine Schreiben an verschiedene Adressaten flicht Goethe mit Vorliebe rechtsgeschichtliche Betrachtungen ein; so etwa zur Entwicklung des Schulwe29 30 31 32 33 34
35 36 37
Zutreffend Schubart-Fikentscher (Fn. 27), 27 f. Die Verf. weist (aaO.) auch auf die Praxisrelevanz der Thesen hin. Goethe (Fn. 13), 474. Goethe, Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-Östlichen Divans, HA, Band II, 126–267. Näher dazu Hübner (Fn. 19), 18 f. Eingehend dazu Hübner (Fn. 19), 19–40. Goethe (Fn. 13), 524–531. Goethe, Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel, HA, Band IV, 73 ff. Zu Goethes dafür betriebenen rechtsgeschichtlichen Studien siehe Anmerkungen des Herausgebers, HA, Band IV, 483. Würdigung bei Hübner (Fn. 19), 26–29. Goethe, Faust. Der Tragödie Zweiter Teil, Erster und Vierter Akt, HA, Band III, 146 ff., 304 ff. Goethe, Reineke Fuchs. In zwölf Gesängen, HA, Band II, 285 ff. Anmerkungen des Herausgebers, HA, Band II, 597.
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sens und zur Geschichte des Urheberrechts.38 Bemerkenswertes kirchenrechtsgeschichtliches Wissen zeigen seine in einem amtlichen Votum angestellten Betrachtungen über die abzuschaffende Kirchenbuße.39 Auch seine übrige amtliche Tätigkeit erforderte fundierte rechtshistorische Kenntnisse, über die er verfügte.40 3
Freund des Bestehenden
Seinem Interesse an geschichtlichem Herkommen und seiner Sympathie für organisches Werden in der Geschichte entsprach Goethes Haltung zur Gegenwart: die Neigung, das Bestehende als historisch Gewordenes zu achten und seine weitere Entwicklung vor umstürzenden Veränderungen zu bewahren. Diese Haltung bestimmte Goethes Einstellung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen und zur rechtlichen wie staatlichen Ordnung. Doch nicht ohne Einschränkung, wie er gegenüber Eckermann am 4.1.1824 äußert:41 »(Man nannte) mich einen Freund des Bestehenden. Das ist aber ein sehr zweideutiger Titel, den ich mir verbitten möchte. Wenn das Bestehende alles vortrefflich, gut und gerecht wäre, so hätte ich gar nichts dawider. Da aber neben vielem Guten zugleich viel Schlechtes, Ungerechtes und Unvollkommenes besteht, so heißt ein Freund des Bestehenden oft nicht viel weniger als ein Freund des Veralteten und Schlechten.«42
Der Autor des Trauerspiels »Egmont«43 sympathisiert offenkundig mit altständischen Verfassungsstrukturen, in denen geschichtlich gewachsene politische Rechte und Privilegien der Stände dem Volk relative Freiheit sowie Sicherheit und Frieden gewähren. Im großen Dialog Egmonts mit Herzog Alba lässt Goethe seinen Helden dieser Position eindrucksvoll gegen den despotischen Standpunkt Albas Ausdruck geben.44 Hier wie auch bereits beim Schauspiel »Götz von Berlichin38 39 40 41 42 43 44
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Hübner (Fn. 19), 37 f. In: Goethe, Sämtliche Werke (Frankfurter Ausgabe), Band 26 Amtliche Schriften, Teil I, 101–104. Ogris (Fn. 4), 278. Goethes Gespräche mit Eckermann, hrsg. von Franz Deibel, o. J., 92. Das entspricht Goethes differenzierter Haltung zu Revolutionen. Siehe unten zu 7. Goethe, Egmont. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, HA, Band IV, 370 ff. Goethe (Fn. 43), 427–434.
27 Goethes Staatsrechtsdenken vor dem Hintergrund des Rechts der Aufklärung
gen«,45 in dessen den Autor begeisternder titelgebender Gestalt eine »Haltung unbegrenzter individueller Freiheit und auf das Redliche gerichteter Betätigung mit dem ständischen Begriff des Ritters« verschmilzt,46 steht Goethe unter dem Einfluss von Gedanken des Staatsrechtlers Justus Möser (1720–1794), der noch zu Goethes Zeit das altständische Konzept vertrat.47 Für seine Person hing Goethe indessen, wie nicht zuletzt seine amtliche Tätigkeit bezeugt, bis zum Ende seines Lebens dem aufgeklärten Absolutismus an, unter dem er angetreten war. Den Forderungen des neueren Naturrechts war er dementsprechend abhold. Das lag freilich nicht nur an seinem Konservatismus, sondern war für ihn auch in der Sache selbst begründet.48 Dass das Gemeinwohl und nicht das Recht des Einzelnen Ziel des Gemeinwesens sei, entsprach Goethes Überzeugung. Er drückt sie in Gegenüberstellung von Recht bzw. Justiz und Polizei (»Das Recht bezieht sich auf den Einzelnen, die Polizei auf die Gesamtheit«)49 wie folgt aus:50 »Das größte Bedürfnis eines Staats ist das einer mutigen Obrigkeit, und daran soll es dem unsrigen nicht fehlen; (…). So denken wir nicht an Justiz, aber wohl an Polizei. Ihr Grundsatz wird kräftig ausgesprochen: niemand soll dem andern unbequem sein; wer sich unbequem erweist, wird beseitigt, bis er begreift, wie man sich anstellt, um geduldet zu werden.«
Seiner Ansicht, dass es der Rechte des Einzelnen nicht bedurfte, kam die Realität im kleinen Herzogtum Sachsen-Weimar entgegen. So wie der aufgeklärte Absolutismus hier verwirklicht war, erschien er Goethe »als der ideale Lebensraum, in dem das Individuum in äußerer Ruhe und Sicherheit sich zur autonomen Persönlichkeit bilden und entfalten könne«.51 Eine wesentliche Rolle spielten dabei die Person des Herzogs Carl August und Goethes Verhältnis zu ihm. Carl August, auch aufgrund der Erziehungsarbeit An45 46 47
48 49 50 51
Goethe (Fn. 34). HA, Band IV, Anmerkungen des Herausgebers, 484–486 (485). Näher Pauly, Gedanken politischer Ordnungsbildung in der Deutschen Klassik, in: Pauly/Ries (Hrsg.), Politisch-soziale Ordnungsvorstellungen in der Deutschen Klassik, 2018, 48–53. Vgl. auch Badelt, Das Rechts- und Staatsdenken Goethes, 1966, 236–245. Zum Folgenden Radbruch (Fn. 9), 116. Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre (Fn. 9), 299; Goethe, Maximen und Reflexionen, HA, Band XII, 379, Nr. 108. Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre (Fn. 9), 406. Dazu Radbruch (Fn. 9), 116. Ogris (Fn. 4), 305 f.
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na Amalias, Wielands und Goethes persönlich wohlwollend, menschenfreundlich, rechtlich denkend und reformbereit, verkörperte52 die guten, ansprechenden Seiten des aufgeklärten Absolutismus.53 Goethes Zusammenarbeit mit dem Herzog bzw. Großherzog war, wenn auch nicht frei von Krisen, im Allgemeinen harmonisch. Im Gespräch mit Eckermann am 27.4.1825 stellt Goethe seine Haltung so dar:54 »Nun heißt es wieder, ich sei ein Fürstendiener, ich sei ein Fürstenknecht. Als ob damit etwas gesagt wäre! – Diene ich denn etwa einem Tyrannen? einem Despoten? Diene ich denn etwa einem solchen, der auf Kosten des Volkes nur seinen eigenen Lüsten lebt? Solche Fürsten und solche Zeiten liegen gottlob längst hinter uns. Ich bin dem Großherzog seit einem halben Jahrhundert auf das innigste verbunden und habe ein halbes Jahrhundert mit ihm gestrebt und gearbeitet; aber lügen müsste ich, wenn ich sagen wollte, ich wüsste einen einzigen Tag, wo der Großherzog nicht daran gedacht hätte, etwas zu tun und auszuführen, das dem Lande zum Wohl gereichte und das geeignet wäre, den Zustand des einzelnen zu verbessern.«
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Freiheit
Für den Kampf der Liberalen um politische Freiheitsrechte hatte Goethe kein Verständnis.55 Das lag nicht nur an den ruhigen, der Entfaltung des Einzelnen günstigen Verhältnissen im Weimarer Staat. Es lag auch an Goethes Begriff von Freiheit, den er im Gespräch mit Eckermann am 18.1.1827 folgendermaßen erläutert:56 »Es ist mit der Freiheit ein wunderlich Ding, und jeder hat leicht genug, wenn er sich nur zu begnügen und zu finden weiß. Und was hilft uns ein Überfluss von Freiheit, die wir nicht gebrauchen können! (…) Hat einer nur so viel Freiheit, um
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53 54 55 56
28
Im Unterschied zum Württembergischen Herzog Karl Eugen, Schillers Landesfürsten. Siehe Safranski, Friedrich Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus, 2004, 26–28, 137–141. Ogris (Fn. 4), 274. Goethes Gespräche mit Eckermann (Fn. 41), 187. Ogris (Fn. 4), 311 f. Goethes Gespräche mit Eckermann (Fn. 41), 258 f.
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gesund zu leben und sein Gewerbe zu treiben, so hat er genug, und so viel hat leicht ein jeder.57 (…) Nicht das macht frei, dass wir nichts über uns anerkennen wollen, sondern eben, dass wir etwas verehren, das über uns ist. Denn indem wir es verehren, heben wir uns zu ihm hinauf und legen durch unsere Anerkennung an den Tag, dass wir selber das Höhere in uns tragen und wert sind, seinesgleichen zu sein.«
Wohin ein »Überfluss von Freiheit« führt, schildert Goethe gegenüber Eckermann am 18.2.1831:58 »Wir reden über verschiedene Regierungsformen, und es kommt zur Sprache, welche Schwierigkeiten ein zu großer Liberalismus habe, indem er die Anforderungen der einzelnen hervorrufe, und man vor lauter Wünschen zuletzt nicht mehr wisse, welche man befriedigen solle. Man werde finden, dass man von oben herab mit zu großer Güte, Milde und moralischer Delikatesse auf die Länge nicht durchkomme, indem man eine gemischte und mitunter verruchte Welt zu behandeln und in Respekt zu erhalten habe.«
Allgemein zur Freiheit heißt es in den Venetianischen Epigrammen:59 »Alle Freiheitsapostel, sie waren mir immer zuwider, Willkür suchte doch nur jeder am Ende für sich. Willst du viele befrein, so wag’ es, vielen zu dienen. Wie gefährlich das sei, willst du es wissen? Versuch’s!«
Nach diesen seinen Freiheitsvorstellungen urteilte und handelte Goethe auch in Bezug auf einzelne Freiheitsrechte. Im Jahr 1815 wurde in Sachsen-Weimar die Pressefreiheit eingeführt. Von ihr machten manche hemmungslosen Gebrauch. Das empörte Goethe. Er befürwortete daher Zensur und Verbote von Zeitschriften.60 In den »Maximen und Reflexionen« schreibt er:61 »Nach Pressfreiheit schreit niemand, als wer sie missbrauchen will.«
57 58 59 60 61
Ebenso Egmont in Goethe (Fn. 43), 394: »Ein ordentlicher Bürger, der sich ehrlich und fleißig nährt, hat überall soviel Freiheit, als er braucht.« Goethes Gespräche mit Eckermann (Fn. 41), 587 f. Goethe, Venetianische Epigramme, HA, Bd. I, 179, Nr. 20. Näher zu all dem Ogris (Fn. 4), 312 f. Goethe (Fn. 49), 384, Nr. 145.
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Konstitutionalismus
Ebenso reserviert stand Goethe dem Gedanken des Konstitutionalismus gegenüber. Sachsen-Weimar erhielt schon 1816 eine eigene Verfassung. Geradezu demonstrativ verweigerte Goethe den konstitutionellen Institutionen, insbesondere dem Landtag, seinen Respekt. Als er vom Landtag zur Rechnungslegung über einen Etat der Kommission für Wissenschaft und Kunst aufgefordert wurde, reichte er einen Zettel mit mehr als dürftigen Angaben ein, was »im Landtage zunächst Gelächter, dann aber helle Empörung und herbe Kritik auslöste«.62 Zu dem im Wahlrecht herrschenden Mehrheitsprinzip äußerte er gegenüber Kanzler von Müller: »Die Menge, die Majorität ist notwendig immer absurd und verkehrt.« Konkreter wird er in den »Maximen und Reflexionen«:63 »Nichts ist widerwärtiger als die Majorität; denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen, die sich akkommodieren, aus Schwachen, die sich assimilieren, und der Masse, die nachtrollt, ohne nur im mindesten zu wissen, was sie will.«
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Demokratie
Damit sind wir bei Goethes Verhältnis zur Demokratie. Goethe hielt nichts von der Herrschaft des Volkes, der Masse. Die Angehörigen der niedrigen Schichten waren nach seiner Ansicht zur Politik nicht fähig. Politik, Regieren, sei ein Beruf, der wie jeder andere Beruf gelernt sein müsse und deshalb den dafür Qualifizierten vorzubehalten sei. Jeder solle in seinem eigenen Bereich sein Bestes tun, dann werde auch das Gemeinwesen gedeihen. In diesem Sinne meint Goethe am 25.2.1824 zu Eckermann:64 »Das Vernünftige ist immer, dass jeder sein Metier treibe, wozu er geboren ist und was er gelernt hat, und dass er den andern nicht hindere, das seinige zu tun. Der Schuster bleibe bei seinem Leisten, der Bauer hinter dem Pflug, und der Fürst wisse zu regieren. Denn dies ist auch ein Metier, das gelernt sein will, und das sich niemand anmaßen soll, der es nicht versteht.« 62 63 64
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Ogris (Fn. 4), 311. Goethe (Fn. 49), 382, Nr. 136. Goethes Gespräche mit Eckermann (Fn. 41), 101 f.
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Herrschaftsausübung durch das breite Volk hielt Goethe demnach für Anmaßung und Pfuscherei. Goethe zu Eckermann im März 1832:65 »Ich hasse alle Pfuscherei wie die Sünde, besonders aber die Pfuscherei in Staatsangelegenheiten, woraus für Tausende und Millionen nichts als Unheil hervorgeht.«
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Revolution
Die Französische Revolution war für Goethe aufgrund seiner Überzeugung von der politischen Inkompetenz des Volkes und seiner Abneigung gegen abrupte Veränderungen ein Schock. Sie erfüllte ihn mit Schrecken und verstörte ihn nachhaltig. Seine Herkunft, seine bisherigen Lebenserfahrungen, seine Tätigkeit im Dienste eines Herzogtums ließen ihm auch persönlich eine umstürzende Veränderung der gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse alles andere als wünschenswert erscheinen. Goethes Reaktion war Abwehr und Feindseligkeit.66 Diese Haltung dauerte sein ganzes weiteres Leben an.67 In den Gesprächen mit Eckermann gab er ihr wiederholt Ausdruck.68 So am 27.4.1825:69 »Ich hasse jeden gewaltsamen Umsturz, weil dabei ebenso viel Gutes vernichtet als gewonnen wird.70 Ich hasse die, welche ihn ausführen, wie die, welche dazu Ursache geben. Aber bin ich darum kein Freund des Volkes? Denkt denn jeder rechtlich gesinnte Mann etwa anders? Sie wissen, wie sehr ich mich über jede Ver65 66 67 68
69 70
Goethes Gespräche mit Eckermann (Fn. 41), 647. Krauss, Goethe und die Französische Revolution, in: Goethe Jahrbuch, Band 94, 1977, 130. Krauss (Fn. 66), 129 f., 136. Am 4.1.1824 und am 27.4.1825; Goethes Gespräche mit Eckermann (Fn.41), 91 f., 186. – Zu früheren Äußerungen, insbesondere in der Campagne in Frankreich und in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten Krauss (Fn. 66), 131–133. Siehe vorige Fn. Hierzu im Hinblick auf die Französische Revolution und ihre Rezeption in Deutschland Goethe, Campagne in Frankreich, HA, Band X, 317: »Was mir aber noch mehr auffiel, war, dass ein gewisser Freiheitssinn, ein Streben nach Demokratie sich in die hohen Stände verbreitet hatte; man schien nicht zu fühlen, was alles erst zu verlieren sei, um zu irgend einer Art zweideutigen Gewinnes zu gelangen.«
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besserung freue, welche die Zukunft uns etwa in Aussicht stellt. Aber, wie gesagt, jedes Gewaltsame, Sprunghafte ist mir in der Seele zuwider, denn es ist nicht naturgemäß.«
Dabei stellte Goethe die Notwendigkeit von Revolutionen nicht absolut in Abrede. Am 4.1.1824 meint er zu Eckermann:71 »(Ich war) vollkommen überzeugt, dass irgendeine große Revolution nie Schuld des Volkes ist, sondern der Regierung. Revolutionen sind ganz unmöglich, sobald die Regierungen fortwährend gerecht und fortwährend wach sind, so dass sie ihnen durch zeitgemäße Verbesserungen entgegenkommen und sich nicht so lange sträuben, bis das Notwendige von unten her erzwungen wird.«
Bedingung für solche Revolutionen ist freilich, dass sie aus dem »eigenen allgemeinen Bedürfnis« der betreffenden Nation, »ohne Nachäffung einer anderen« hervorgegangen sind.72 Hier lag denn auch der Grund für Goethes Ablehnung der Rezeption der Französischen Revolution in Deutschland.73 Einige Deutsche, so heißt es in der »Campagne in Frankreich«, »waren selbst in Paris gewesen, hatten die bedeutenden Männer reden hören, handeln sehen und waren, leider nach deutscher Art und Weise, zur Nachahmung aufgeregt worden, und das gerade zu einer Zeit, wo die Sorge für das linke Rheinufer sich in Furcht verwandelte.«74
Den Völkern ein eigenes Bedürfnis waren demgegenüber Umwälzungen wie die Durchsetzung der »neuen Lehre der Liebe« des frühen Christentums und die »Reinigung jener durch Pfaffenwesen verunstalteten Lehre« durch Luther gewesen.75 »Nicht Revolution von unten, sondern Reform von oben, nicht Umsturz, sondern Evolution, organische Entwicklung – das ist (Goethes) politisches Glaubensbekenntnis.«76 71 72 73 74 75 76
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Goethes Gespräche mit Eckermann (Fn. 41), 92. Wie vorige Fn. Seibt, Mit einer Art von Wut. Goethe in der Revolution, 2014, 110–114, 145 f. Goethe (Fn. 70), 317. Goethes Gespräche mit Eckermann (Fn. 41), 92 f. Ogris (Fn. 4), 307 f.
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Gerechtigkeit und Ordnung
Im Bericht über die Belagerung von Mainz, der er 1793 als Beobachter beiwohnte, schildert Goethe, wie er einen Fall von Selbstjustiz verhinderte.77 Als aufgebrachte Mainzer Bürger sich anschickten, einen aus der belagerten Stadt abziehenden Clubbisten zu lynchen, gelang es ihm durch energisches Einschreiten, die Bürger von ihrem Vorhaben abzubringen. Von einem Freund zur Rede gestellt, wie er sich auf einen so gefährlichen Handel einlassen konnte, antwortete Goethe: »Es liegt nun einmal in meiner Natur, ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als Unordnung ertragen!«78
Was ist in diesem Ausspruch mit »Ungerechtigkeit« bzw. Gerechtigkeit, was mit »Unordnung« bzw. Ordnung gemeint? Der Bericht gibt darüber Auskunft. So weist Goethe einen der Angreifer mit den Worten zurecht: »Wie! (…) habt Ihr schon vergessen, was wir gestern zusammen gesprochen? Habt Ihr nicht darüber nachgedacht, dass man durch Selbstrache sich schuldig macht, dass man Gott und seinen Oberen die Strafe der Verbrecher überlassen soll, (…).«79
Und der Bericht erwähnt eine »Proklamation des neuen Gouverneurs«: »(…) alle Selbsthülfe war verboten; dem zurückkehrenden Landesherrn allein sollte das Recht zustehen, zwischen guten und schlechten Bürgern den Unterschied zu bezeichnen. (…) Jene Verordnung war mit den mildesten Ausdrücken gefasst, um, wie billig, den gerechten Zorn der grenzenlos beleidigten Menschen zu schonen.«80 77 78
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Goethe, Belagerung von Mainz, HA, Band X, 389–391. Dass Goethes Darstellung tatsächlich zutrifft, ist unwahrscheinlich. Siehe Seibt (Fn. 73), 24, 127–139, 151. In den Maximen und Reflexionen (Goethe [Fn. 49], 379, Nr. 113 f.) finden sich ähnliche Sätze: »Es ist besser, es geschehe dir Unrecht, als die Welt sei ohne Gesetze. Deshalb füge sich jeder dem Gesetze.« Und: »Es ist besser, dass Ungerechtigkeiten geschehen, als dass sie auf eine ungerechte Weise gehoben werden.« In Dichtung und Wahrheit (HA, Band X, 18) kommentiert Goethe im gleichen Sinne eine Episode mit Lavater: »In einem wohleingerichteten Staate soll das Rechte selbst nicht auf unrechte Weise geschehn.« Goethe (Fn. 77), 390. Goethe (Fn. 77), 393.
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Der »gerechte Zorn der grenzenlos beleidigten Menschen« und – wie es im Bericht außerdem heißt81 – die »höchst verzeihliche Wut, ihre verhassten Feinde, die Klubisten und Komitisten zu strafen, zu vernichten«, war durch Taten der mit den Franzosen kollaborierenden Clubbisten veranlasst, die als Verbrechen im Rechtssinne gelten konnten: Neben bestimmten Drangsalierungen und Schädigungen ihrer Mitbürger82 sowie beim Abzug aus der Stadt begangenen Eigentumsdelikten83 war ihnen nicht zuletzt Hochverrat anzulasten.84 Die Gerechtigkeit erforderte, die Täter wegen dieser Verbrechen zu bestrafen. Doch so »gerecht« ihr Zorn und so »verzeihlich« ihre Wut, gab dies den Mainzer Bürgern nicht das Recht, die Bestrafung ihrerseits in Form ungeregelter »Selbsthilfe« vorzunehmen. Nur dem Landesherrn stand dieses Recht zu, das er in den dafür rechtlich vorgesehen Verfahren und Formen auszuüben hatte. Freilich bestand in der gegebenen Situation die Gefahr, dass es zur Bestrafung auf diesem regulären Wege nicht kommen werde: Die Clubbisten waren dabei, sich durch Flucht aus der Stadt der Strafe zu entziehen.85 Die »Ungerechtigkeit«, durch sein Einschreiten somit die gerechte Bestrafung bzw. die verdiente Selbstrache zu verhindern, wollte Goethe lieber begehen, als die »Unordnung« ertragen, die in der Selbsthilfe gelegen hätte86 und die umso schwerer wog, als mit derartigem »bürgerlichen Krieg, Hass und Rache (…) sich das Unglück ja sonst verewige«.87 Einem solchen »fiat iustitia et pereat mundus« stellte Goethe die gerade umgekehrte Maxime entgegen.88 Im Widerstreit zwischen Gerechtigkeit und Ordnung, zwischen positivem Gesetz und materialer Gerechtigkeit entscheidet Goethe sich für die Ordnung, für das positive Gesetz, und nimmt das Geschehen von Unrecht in Kauf. Ja, in der Garantie äußerer Ordnung durch die Gesetze liegen für Goethe letztlich der Zweck 81 82 83 84 85 86
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Goethe (Fn. 77), 391. Dem Opfer ihrer Wut, einem Architekten, warf die Menge vor, er habe »erst die Domdechanei geplündert und nachher selbst angezündet«, Goethe (Fn. 77), 389. Goethe (Fn. 77), 389. Seibt (Fn. 73), 142. Goethe (Fn. 77), 386. Als Motiv seines Einschreitens gibt Goethe auch an, »dass der Burgfriede vor des Herzogs Quartier« (wo sich der Vorgang abspielte) durch solche Selbsthilfe »nicht verletzt werden dürfe«; der Platz sei »heilig«; er, Goethe, behaupte durch sein Verhalten »die Sicherheit und Heiligkeit dieses Platzes«, Goethe (Fn. 77), 389 f. Dazu Seibt (Fn. 73), 152 f. Goethe (Fn. 77), 386. Vgl. Schings, Zustimmung zur Welt. Goethe-Studien, 2011, 369 f.
35 Goethes Staatsrechtsdenken vor dem Hintergrund des Rechts der Aufklärung
und die Legitimation des Staates.89 Dies kommt bereits in seiner verschollenen, aber im Wesentlichen rekonstruierbaren Straßburger Dissertation von 1771 mit dem mutmaßlichen Titel »De legislatoribus« und in der 43. seiner Straßburger Promotionsthesen »Omnis legislatio ad Principem pertinet« zum Ausdruck und zieht sich von dort durch sein ganzes Leben.90 9
Menschenwürde
Ein hervorstechendes Merkmal der amtlichen Tätigkeit Goethes als Mitglied des Geheimen Consilium in Sachsen-Weimar war seine Menschlichkeit, sein schonendes, die Würde der Betroffenen wahrendes Verhalten. Ob in Militär-, Handwerks- oder Landwirtschaftssachen, ob bei der Entscheidung über die Heiratserlaubnis für einen Soldaten samt Fürsorge für seine schwangere Braut oder über die Studienerlaubnis für einen Handwerksgesellen, ob in einer heiklen Personalangelegenheit der Verwaltung, ob in der Beurteilung eines Streits zwischen einem durchreisenden jüdischen Kaufmann und einem Obergeleitsreiter, ob in einem Votum zur Änderung der Konkursordnung, immer handelte Goethe nach dem Grundsatz – in seinen eigenen Worten – »der Mensch ist vorzüglich dabey zu betrachten«.91 Die Würde des Menschen kommt eindrucksvoll zur Sprache in einer kurzen Ballade Goethes mit dem Titel »Vor Gericht« (1776):92 »Von wem ich’s habe, das sag’ ich euch nicht, Das Kind in meinem Leib. Pfui, speit ihr aus, die Hure da! Bin doch ein ehrlich Weib. Mit wem ich mich traute, das sag’ ich euch nicht, Mein Schatz ist lieb und gut,
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Radbruch (Fn. 9), 117; Landau (Fn. 15), 38 f. – Die Herrschaft der Gesetze bildet zugleich ein Bollwerk gegen staatliche Willkür und sichert insofern die Freiheit der Bürger. Ob dieser Gedanke des Liberalismus in Goethes Diktum mitschwingt, sei dahingestellt. Bejahend Seibt (Fn. 73), 23. Landau (Fn. 15), passim, insbes. 38 f. Schubart-Fikentscher (Fn. 13), 11 f., 17–20, 31–43, 51, 61; das Goethe-Zitat: 40. Goethe, HA, Band I, 85.
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Trägt er eine goldne Kett’ am Hals, Trägt er einen strohernen Hut. Soll Spott und Hohn getragen sein, Trag’ ich allein den Hohn. Ich kenn’ ihn wohl, er kennt mich wohl, Und Gott weiß auch davon. Herr Pfarrer und Herr Amtmann ihr, Ich bitt’, lasst mich in Ruh! Es ist mein Kind und bleibt mein Kind, Ihr gebt mir ja nichts dazu.«
Hier steht eine nichtehelich Schwangere vor Pfarrer und Amtmann, den Repräsentanten einer Gesellschaft, welche unehelich Schwangere moralisch verurteilt und sozial diskriminiert und die der Schwangerschaft zugrunde liegende sogenannte Unzucht in vielen Fällen auch strafrechtlich ahndet.93 Mit ungeheurem Selbstbewusstsein bekennt die Frau sich gegen allen Hohn und Spott zu ihrer »Trauung« mit dem ungenannten Geliebten, übernimmt dafür die Verantwortung, besteht gegen die Abstempelung als Hure auf ihrer Ehre, behauptet ihre Selbständigkeit, ihre Unabhängigkeit von sanktionierenden Ordnungen, menschlichen Satzungen und Institutionen.94 Sie bringt, so können wir sagen, ihre Würde zur Geltung, die Würde der Frau, die Würde auch der unehelich schwangeren Frau. Mit den Menschenrechten des jüngeren Naturrechts ist das freilich nicht in Verbindung zu bringen. Der Würdediskurs ist unabhängig vom Menschenrechtsdiskurs, er läuft parallel zu ihm und ist älter als er, geht zumindest bis auf den Renaissancephilosophen Pico della Mirandola zurück.95 Es ist der Mensch Goethe, der hier auf der Würde des Menschen, jedes Menschen besteht. 93
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Strafbarist»Unzucht«bzw.sexuellesFehlverhaltenvonderCarolina(1532)bisweitins20.Jahrhundert unter wesentlich anderen Aspekten als heute. Siehe etwa Carolina Art. 116–123; Preußisches Allgemeines Landrecht (1794), Zweiter Teil, 20. Titel, Zwölfter Abschnitt; Reichsstrafgesetzbuch (1871), Zweiter Teil, Dreizehnter Abschnitt. Und vergleiche damit das heute geltende Strafgesetzbuch, Besonderer Teil, Zwölfter und Dreizehnter Abschnitt. Müller-Seidel, Vor Gericht. Balladendichtung und Justizkritik. Zu einem wenig bekannten Gedicht Goethes, in: ders., Rechtsdenken im literarischen Text. Deutsche Literatur von der Weimarer Klassik zur Weimarer Republik, 2017, 7 f. Ebert, Schiller und die Menschenwürde, in: Manger (Hrsg.), Der ganze Schiller – Programm ästhetischer Erziehung, 2006, 133 f., 144 f.
37 Goethes Staatsrechtsdenken vor dem Hintergrund des Rechts der Aufklärung
IV Schluss Damit bin ich am Ende meines Versuchs angekommen, Goethes Staatsrechtsdenken vor dem Hintergrund des Rechts der Aufklärung zu ermitteln. Die Ausgangshypothese, das Staatsrechtsdenken Goethes sei dem älteren Naturrecht zuzuordnen, hat sich im Ergebnis bestätigt. Goethes Lebenszeit reichte vom aufgeklärten Absolutismus über die Französische Revolution bis in die Zeit des Kampfes um Demokratie und liberalen Rechtsstaat. Über all diese Wechselfälle hinweg blieb sein Rechts- und namentlich Staatsrechtsdenken konstant. Dies war in seiner persönlichen Haltung begründet: seiner Vorliebe für ruhige, bruchlose Entwicklung und für Verhältnisse, in denen unter einer dem Gemeinwohl verpflichteten Herrschaft der Einzelne ungestört in Würde leben, seine Fähigkeiten entfalten und seiner Bestimmung nachgehen kann. Essentiell war dabei der Begriff der Ordnung. Es war der aufgeklärt-absolutistische Staat Sachsen-Weimar, in dem Goethe alles dies verwirklicht fand.
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DITMARVS COMES OCCISVS Strafrechts- und strafverfahrensgeschichtliche Beobachtungen im Umfeld der Hauptstifter des Naumburger Doms Heiner Lück
Vorbemerkung Der Stifterfigurenzyklus im Westchor des Naumburger Doms beschäftigt seit Jahrhunderten die Gemüter. Unzählige wissenschaftliche Versuche, in das, was ihn zusammenhält, vorzudringen, waren und sind stets große Abenteuer.1 Ein 1
Die Literaturfülle zu den Naumburger Stifterfiguren in ihrem kunst-, bau-, kirchenund landesgeschichtlichen Kontext ist fast unübersehbar. An dieser Stelle kann nur auf eine ganz kleine Auswahl wichtiger Werke aus den letzten fünfzehn Jahren hingewiesen werden: Die deutsche kunstgeschichtliche Literatur, die zwischen 1886 und 1989 erschienen ist, analysiert Gerhard Straehle ein seiner opulenten Münchener Dissertation: Gerhard Straehle, Der Naumburger Meister in der deutschen Kunstgeschichte. Einhundert Jahre deutsche Kunstgeschichtsschreibung 1886–1989 (Kritische Kunstgeschichte), phil. Diss. München 2008, 2009 [http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/ artdok/volltexte/2009/747/ – Zugriff: 2.7.23]. Ein hochkarätiges Resümee der Forschung sowie viele neue Erkenntnisse und Forschungsansätze auf internationalem Niveau präsentiert der Ausstellungskatalog Hartmut Krohm/Holger Kunde (Hrsg.)/Guido Siebert (Gesamtred.), Der Naumburger Meister. Bildhauer und Architekt im Europa der Kathedralen, 3 Bde. (= Schriftenreihe der Vereinigten Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz 4–5 [sic!]), 2011–2012. Ein hervorragendes Inventar des Naumburger Doms wurde vor einigen Jahren vorgelegt von Heiko Brandl/Matthias Ludwig/Oliver Ritter unter Mitarbeit von Walter Bettauer et al., Der Dom zu Naumburg, Bd. 1: Architektur; Bd. 2: Ausstattung (= Beiträge zur Denkmalkunde 13 = Die Bau- und Kunstdenkmäler von Sachsen-Anhalt [3–4]), 2018. Aus den Bemühungen um den Welterbetitel entstand das repräsentative Werk Förderverein Welterbe an Saale und Unstrut e. V. (Hrsg.), Der Naumburger Dom und die hochmittelalterliche Herrschaftslandschaft an Saale und Unstrut, 2 Bde., 2020. Als eine der jüngsten umfassenderen Publikationen sei genannt: Matthias Ludwig, Das Bistum Naumburg 2: Das Domstift Naumburg (= Germania Sacra, Dritte Folge 19), 2 Teilbde., 2022. Einen soliden und auf breiter wissenschaftlicher Grundlage erarbeiteten Zugang für Interessenten
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solches stellen auch die Vorstufen zu diesem kurzen Beitrag dar.2 Er zielt darauf, das Kunstwerk mit strafrechts- und strafverfahrensrechtlichen Ereignissen im Umfeld der Personen, welche die Stifterfiguren nach allgemein verbreiteter und tradierter Ansicht verkörpern sollen, in Verbindung zu bringen. Dabei soll in fünf Schritten vorgegangen werden. Nach einer knappen Vorbemerkung zu Prämissen und Forschungsstand werden in einem ersten Abschnitt zunächst die zwölf Stifterfiguren nach ihrer traditionellen (leider nicht hinreichend historisch belegbaren) Zuordnung kurz vorgestellt. Ein zweiter Abschnitt wird sich mit einigen Mutmaßungen zu Gericht und Verfahren am Beispiel von vier dafür in Betracht kommenden Figuren (Syzzo, Dietmar, Thimo, Ekkehard) befassen. Mit den Grenzen der irdischen Gerichtsverfassung beschäftigt sich der dritte Teil. In einem vierten Schritt geht es um die Omnipräsenz des göttlichen Gerichts in Erwartung des Jüngsten Tages. Am Ende (fünfter und letzter Abschnitt) werden ganz knapp gehaltene Schlussbemerkungen stehen. Der aktuelle Forschungsstand zu den Figuren, die sich ca. 35 km saaleabwärts von der Wirkungsstätte unseres verehrten Jubilars befinden, kann mit folgenden Thesen knapp und notgedrungen unvollständig beschrieben werden:
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aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen und Besucher des Weltkulturerbes Naumburger Dom bieten: Matthias Ludwig/Holger Kunde, Der Dom zu Naumburg (Großer DKV-Kunstführer), 2. Aufl. 2017; Guido Siebert/Matthias Ludwig, Der Westchor und die Sifterfiguren des Naumburger Doms (= Kleine Schriften der Vereinigten Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz [im Folgenden: KSVD] 13), 2. Aufl. 2022; dies., Der Westlettner des Naumburger Doms (= KSVD 12), 2012; dies. (Red.), Glasmalerei im Naumburger Dom vom Hohen Mittelalter bis in die Gegenwart (= KSVD 6), 2009; Individualität und Meisterschaft. Die Naumburger Stifterfiguren in Aufnahmen von Juraj Lipták mit Texten von Wolfgang Schenkluhn und Heiko Brandl, 2011; Förderverein Welterbe an Saale und Unstrut e. V. (Hrsg.)/Fotografien von Janos Stekovics, Macht, Glanz, Glaube. Auf dem Weg zum Welterbe. Eine Zeitreise in die hochmittelalterliche Herrschaftslandschaft um Naumburg, 2013; Ernst Schubert, Der Naumburger Dom. Mit Fotografien von Janos Stekovics, 1997. Heiner Lück, Rechtsgeschichtliche Aspekte der Stifterfiguren im Weltkulturerbe Naumburger Dom, in: Ulrike Babusiaux (Hrsg.), Zur kritischen Funktion von Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie. Symposium zu Ehren von Prof. Dr. Marcel Senn, Zürich 2020, 63–113; ders., Die Naumburger Stifterfiguren im Kontext von Recht und Gericht ihrer Zeit, in: Saale-Unstrut-Jahrbuch. Jahrbuch für Kulturgeschichte und Naturkunde der Saale-Unstrut-Region, hg. vom Saale-Unstrut-Verein für Kulturgeschichte und Naturkunde e. V. [im Folgenden: SUJb] 27 (2022), 16–33; ders., Mittelalterliche Gerichtsverfassung im Naumburger Westchor? Eine Gratwanderung zwischen Anhaltspunkten und Spekulation, in: Sachsen und Anhalt. Jahrbuch der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt 35 (2023), 53–92.
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Die Figuren wurden vom sog. Naumburger Meister zwischen 1243 und 1249 geschaffen.3 Die ursprüngliche Zweckbestimmung, den Stifterinnen und Stiftern einen herausgehobenen sakralen Ort für exklusive Memoria, Liturgien und Gebeten zu geben, scheint unstreitig zu sein.4 Ob und was der/die Künstler oder/und dessen Auftraggeber damit darüber hinaus aussagen wollten, entzieht sich bis heute unserer Kenntnis. Die Identität der historischen Persönlichkeiten, welche die Stifterfiguren laut späteren Schriftzeugnissen verkörpern, ist nicht gesichert.5 Die Figuren kommunizieren weder durch Gebärden noch durch Blicke miteinander.6 Bis auf eine Ausnahme sind die den Figuren zugeschriebenen Namen mit der Aufzählung der elf ersten Stifter in einer Urkunde aus dem Jahr 12497 identisch. Die Dargestellten gehören sämtlich, ungeachtet ihrer unsicheren historischen Identität, dem mitteldeutschen Hochadel des 11. und 12. Jahrhunderts an.8 Guido Siebert/Claudia Kunde, Untersuchungen zur Architektur- und Kunstgeschichte des Hochmittelalters in der Saale-Unstrut-Region, in: Förderverein Welterbe I (Fn. 1), 215–735, hier 252–258. Ebd., 295–304. Ebd., 291–293; Lück, Mittelalterliche Gerichtsverfassung (Fn. 2), 79 f. Ludwig/H. Kunde, Dom zu Naumburg (Fn. 1), 40 f.; Guido Siebert, Ekkehard und Uta, in: Siebert/Ludwig, Westchor (Fn. 1), 18; ders., Der Naumburger Meister und die Renaissance, in: SUJb 19 (2014), 118–129, hier 129; Siebert/C. Kunde, Untersuchungen (Fn. 2), 261; überraschend dann aber: »Die Skulpturen interagieren miteinander durch inhaltliche Bezüge, Haltung und Gestik und binden gleichfalls den Betrachter auf eine völlig neue Weise in das Geschehen ein.« (ebd., 289). Die Zweifelsfragen, welche die Blickrichtungen der Figuren betreffen, hat die Untersuchung von Daniela Karl, Die Polychromie der Naumburger Stifterfiguren. Kunsttechnologische Untersuchung der Farbfassungen des 13. und 16. Jahrhunderts, 2015, ausgeräumt. Blickkontakte bestehen danach nicht (siehe vor allem dort 488). Herrn Guido Siebert, Naumburg, danke ich sehr für diese freundliche Mitteilung. Domstiftsarchiv Naumburg, Urkunde Nr. 88; gedruckt in: Hans Patze/Josef Dolle (Bearb.), Urkundenbuch des Hochstifts Naumburg, Teil 2 (1207–1304). Auf der Grundlage der Vorarbeiten von Felix Rosenfeld und Walter Möllenberg (= Quellen und Forschungen zur Geschichte Sachsen-Anhalts 2), 2000, Nr. 236 (257 f.). Vgl. dazu auch Gerhard Lutz, Heinrich der Erlauchte und die primi fundatores. Überlegungen zu den Entstehungszusammenhängen von Westchor und Lettner, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister III (Fn. 1), 318–331, hier 320–324. Walter Schlesinger, Meissner Dom und Naumburger Westchor. Ihre Bildwerke in geschichtlicher Betrachtung (= Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 2), 1952, 60.
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Diese vorgelagerten Ungewissheiten machen es nicht gerade einfach, Überlegungen zu Sinn und Funktion des Figurenzyklus jenseits der Spekulation anzustellen. Der aktuelle Anlass, aber auch die zeitlose Faszination, welche die knapp 800 Jahre alten Standbilder kraftvoll ausüben, sind einen Versuch wert. So hat sich der Jubilar ausgiebig mit kirchlich-theologischen Einflüssen auf Strafrecht und Strafverfahren im Mittelalter befasst und unser Wissen darüber ganz wesentlich vermehrt.9 Unabhängig von der hier in Rede stehenden akademischen Ehrung lohnt es sich immer wieder, über das Verhältnis von Diesseitigem und Jenseitigem mit Blick auf Recht und Rechtsbruch nachzudenken, zumal sich mit dem hier gewählten Gegenstand ein ideengeschichtlicher Kosmos des Mittelalters, vermittelt über die weltberühmten Naumburger Stifterfiguren, auftut.
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Kurzvorstellung der Figuren nach traditioneller Zuschreibung
Die Lebenszeit jener Persönlichkeiten, welche den Naumburger Stifterfiguren aufgrund späterer Überlieferung zugeordnet wurden, weist in die Frühzeit des Bistums Naumburg. Letzteres ist 968 als Suffragan des Erzbistums Magdeburg gegründet worden und zwar mit dem Sitz in Zeitz, ca. 40 Kilometer südöstlich von Naumburg. Das mächtigste weltliche Herrschergeschlecht dieses Raumes, die Ekkehardinger, haben im frühen 11. Jahrhundert dafür gesorgt, dass das Bistum und seine Hauptkirche von Zeitz in ihren Burgort Naumburg (erstmals 1012 Nuenburch –10 die neue Burg) verlegt wurden. Die ekkehardingische neue Naum9
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Günter Jerouschek, Geburt und Wiedergeburt des peinlichen Strafrechts im Mittelalter, in: Gerhard Köbler/Hermann Nehlsen (Hrsg.), Wirkungen europäischer Rechtsgeschichte. Festschrift für Karl Kroeschell zum 70. Geburtstag, München 1997, 497–509 (Neudruck in: Klaus Lüderssen [Hg.], Die Durchsetzung des öffentlichen Strafanspruchs [= Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen 6], 2002, 41–52); ders., »Ne crimina remaneant impunita«. Auf daß Verbrechen nicht ungestraft bleiben. Überlegungen zur Begründung öffentlicher Strafverfolgung im Mittelalter, in: ZRG KA 89 (2003), 323–364; ders., Ne crimina remaneant impunita, in: Albrecht Cordes et al. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl. (im Folgenden: 2HRG), Bd. 3, 2016, 1875–1876. Zu ihnen vgl. den Überblick von Hans Patze, Ekkehardinger, in: Robert-Henri Bautier et al. (Hrsg.), Lexikon des Mittelalters (im Folgenden: LexMA), Bd. III, 1986, 1768–1769, sowie Facts & Files, Der Saale-Unstrut-Raum als Modelllandschaft des hochmittelal-
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burger Domkirche sollte die verlassene in Zeitz an Größe und Glanz überstrahlen. Mit dem Westchor,11 der chronologisch den Abschluss des Naumburger Kirchenbaus bildet, sollte der neue Zustand rechtlich sowie theologisch gesichert und bekräftigt werden.12 Gleichzeitig wurde eine Abkehr von der Verehrung der ottonischen königlich-kaiserlichen Stifter der Zeitzer Bischofskirche zugunsten der Ekkehardinger, den vehementen Förderern der neuen Kathedrale in Naumburg, vollzogen. Folgerichtig fehlt jeder Bezug auf das König-/Kaisertum im Bildprogramm des Westchors.13 Die wichtigsten Grundlagen für die Zuschreibung von Namen historischer Persönlichkeiten zu den Stifterfiguren bilden die schon erwähnte Urkunde von 1249 und die auf die erst im 16. Jahrhundert aufgebrachten, eventuell auf eine frühere Bemalung aus den Jahren um 1300, zurückgehenden Schildumschriften an den Figuren14: Uta und Ekkehard, Reglindis und Hermann, Dietrich und Berchta, Konrad und Gerburg, Gepa, Dietmar, Syzzo, Wilhelm und Thimo. Die sie verkörpernden Standbilder sind »wie Heilige um den Altar postiert«.15 Die Urkunde des Bischofs Dietrich II. aus dem Hause Wettin (1243–1272) von 124916, die zutreffend als »Spendenaufruf«17 zur Finanzierung des noch nicht
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terlichen Landesausbaus in Europa, in: Förderverein Welterbe I (Fn. 1), 39–212, hier 99–101. Zur Architektur vgl. Ludwig/Kunde, Dom zu Naumburg (Fn. 1); Bruno Klein, Fragen zum Naumburger Westchor, in: Krohm/H. Kunde, Der Naumburger Meister III (Fn. 1), 44–61; Julia Weiler, Die Architektur des Naumburger Westchors, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister II (Fn. 1), 869–875. Holger Kunde, Der Westchor des Naumburger Doms und die Marienstiftskirche. Kritische Überlegungen zur Forschung, in: Enno Bünz et al. (Hrsg.), Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Festschrift für Matthias Werner zum 65. Geburtstag (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 24), 2007, 213–238, hier 237 f. H. Kunde, Marienstiftskirche (Fn. 12), 230–232; Schlesinger, Meissner Dom (Fn. 8), 58–60. Ludwig/H. Kunde, Dom zu Naumburg (Fn. 1), 41. Guido Siebert, Der Westchor des Naumburger Doms, in: Siebert/Ludwig, Westchor (Fn. 1), 3–4, hier 4. Seit 1281 ist ein Marienaltar im Westchor nachweisbar (Ernst Schubert, Der Westchor des Naumburger Doms. Ein Beitrag zur Datierung und zum Verständnis der Standbilder, in: Hans-Joachim Krause [Hg.], Ernst Schubert. Dies diem docet. Ausgewählte Aufsätze zur mittelalterlichen Kunst und Geschichte in Mitteldeutschland. Festgabe zum 75. Geburtstag [= Quellen und Forschungen zur Geschichte SachsenAnhalts 3], 2003, 8–76, hier 32). Urkundenbuch Naumburg II (Fn. 7). H. Kunde, Marienstiftskirche (Fn. 12), 227.
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vollendeten Kirchenbaus gedeutet wird, weist folgende Personen als »erste Stifter« (primi […] ecclesie fundatores) der Naumburger Domkirche aus: Hermannus marchio, Regelyndis marchionissa, Eckehardus marchio, Uta marchionissa, Syzzo comes, Cunradus comes, Willehelmus comes, Gepa comitissa, Berchtha comitissa, Theodericus comes, Gerburch comitissa.18
Die Aufzählung stimmt nicht ganz mit dem Figurenbestand des Westchors überein. Die im Chor dargestellten Männer mit den Namen Thimo und Dietmar fehlen in der Urkunde. Thimo erscheint jedoch in einem Naumburger Nekrolog als Thimo de Kisteriz contulit Ecclesie Kistriz et alias villas multas.19 Eine in der Urkunde genannte weibliche Person (Berchta oder Gepa) befindet sich nicht als Skulptur im Westchor.20 Es handelt sich, sollten die Zuschreibungen der Identitäten halbwegs zutreffen, um Personen, die mindestens drei verschiedenen Generationen angehören.21 Der Zugang zum Westchor war der hohen Geistlichkeit vorbehalten. Die Laien konnten durch ein Gitter in den besonderen Raum schauen. Betritt man den Westchor, so fällt der Blick22 geradeaus auf zwei Figuren im Chorhaupt, halb links: Syzzo; halb rechts: Wilhelm. Sodann nimmt man vor ihnen sowie links und rechts von ihnen die Persönlichkeiten Dietmar (links) und Thimo (rechts) wahr. In Richtung Betrachter folgen dann die Markgrafenpaare Hermann und Reglindis (links) sowie Ekkehard und Uta (rechts). Die Paare 18 19
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Urkundenbuch Naumburg II (Fn. 7), Nr. 236 (258). Zitiert nach Matthias Ludwig, Nekrologauszüge aus Johann Zaders Naumburg-Zeitzischer Stiftschronik, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister I (Fn. 1), 780–784, hier 780 [Exponatbeschreibung]. Vgl. auch Willibald Sauerländer/Joachim Wollasch, Stiftergedenken und Stifterfiguren in Naumburg, in: Karl Schmid/Joachim Wollasch (Hrsg.), MEMORIA. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter (= Münstersche Mittelalter-Schriften 48), 1984, 354–383, hier 360, sowie Siebert/C. Kunde, Untersuchungen (Fn. 2), 293 mit Fn. 169. Ludwig/H. Kunde, Dom zu Naumburg (Fn. 1), 26. Schlesinger, Meissner Dom (Fn. 8), 60. Wegen des 2022 wieder aufgestellten, restaurierten und ergänzten Cranach-Retabels auf dem Altar des Westchors ist hier der Hinweis erforderlich, dass es bei Bemerkungen zu Blickrichtungen in diesem Beitrag um die Situation vom 13. Jahrhundert bis 1519 (Aufstellung des Cranach-Retabels) und von 1541 (teilw. Zerstörung und Abnahme) bis 2022 (Wiederaufstellung) geht. Vgl. dazu auch Holger Kunde, Ergänzung und Wiederaufstellung des Marienretabels auf dem Altar des Westchores im Naumburger Dom, in: SUJb 28 (2023), 120–125.
45 DITMARVS COMES OCCISVS
Abb. 1: Stifterfigur Syzzo, Dom zu Naumburg (Vereinigte Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz, Foto: Matthias Rutowski)
markieren die symmetrische Mitte des Chorraums und leiten vom Polygon zum Chorquadrum über. Weiter in Richtung Betrachter sind zu sehen: Konrad (links) und Gepa (rechts), sich gegenüber stehend; schließlich noch einmal in Richtung Betrachter Gerburg (links) und Dietrich (rechts), ebenfalls sich gegenüber stehend. Die bekanntesten und künstlerisch wertvollsten Figuren sind Uta und Ekkehard. Jedoch soll die kurze Vorstellung der Personen nicht mit ihnen beginnen, sondern vom Betrachter, der in den Westchor eintritt, aus gesehen,23 erfolgen. Syzzo wird durch die Schildumschrift als »SYZZO COMES DO«24 benannt (Abb. 1). Neben dem Namen zeigt der Schild einen steigenden Löwen, das Wappen der Grafen von Käfernburg-Schwarzburg.25 Die Identität der Figur ist 23 24 25
Diese Perspektive favorisiert mit überzeugenden Argumenten auch Siebert, Renaissance (Fn. 6), 121–123. Wohl »DOringiae«; auch »Donator« ist möglich (Guido Siebert, Syzzo, in: ders./Ludwig, Westchor, wie Fn. 1, 22). Zu Syzzos Einordnung in die Landes- und Dynastiegeschichte der Schwarzburg-Käfernburger vgl. Helge Wittmann, Die Stifterfigur des SYZZO COMES DO in ihren Bezügen
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nicht sicher zu ermitteln. Das Geschlecht der Grafen von Käfernburg-Schwarzburg kennt mehrere Mitglieder mit dem Namen Syzzo. Manches spricht dafür, dass es sich um Syzzo III. († 1160) handelt.26 Links von ihm steht ein weiterer Graf.27 Dessen Schild teilt mit, dass es sich um WILHELMVS COMES VNVS FVNDATORVUM, Graf Wilhelm – einen der Stifter – handelt. Gemeint ist wahrscheinlich Graf Wilhelm von Camburg (ca. 1043–1115), ein Sohn Geros, aus dem Geschlecht der Wettiner.28 Sein Bruder Günter war Bischof von Naumburg (reg. 1079–1090). Wilhelms Großmutter Mathilde war eine Schwester der ebenfalls im Chor dargestellten Markgrafen Hermann und Ekkehard. Auch seine Ehefrau Gepa befindet sich im Chorraum, sofern es sich nicht um die Gräfin Berchta handelt.29 Sie steht in Eingangsnähe an zweiter Stelle rechts vom Betrachter aus gesehen. Vom Betrachter aus gesehen stehen der Graf Dietmar links und der Graf Thimo rechts. Von diesen aus verlaufen die Wände längs bis zur Innenseite des Westlettners, sodass sie in Richtung Osten das Ende des Polygons kennzeichnen. Die als Graf Dietmar anzusprechende Figur ist durch die Schildumschrift benannt als DITMARVS COMES OCCISVS: Graf Dietmar, der Erschlagene (Abb. 2). Die Identifikation der Figur macht Schwierigkeiten. Nahe liegt ein Graf Dietmar30, welcher 1039 das Dorf Kizerin bei Wethau der Naumburger Kirche stiftete.31 Dafür spricht der stiftungsgeschichtliche Kontext. Es könnte sich aber auch um einen Sohn des Herzogs Bernhard I. von Sachsen (um 950–1011) aus
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zum adeligen Geschlechtsbewusstsein der Grafen von Schwarzburg-Käfernburg, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister II (Fn. 1), 963–972. Siebert, Syzzo (Fn. 24) sowie Ludwig/H. Kunde, Dom zu Naumburg (Fn. 1), 42; ausführlich dazu Kathrin Meukow, Stifterfigur des Grafen Syzzo, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister II (Fn. 1), 928–930 [Exponatbeschreibung]. Guido Siebert, Wilhelm, in: ders./Ludwig, Westchor (Fn. 1), 24; Ludwig/H. Kunde, Dom zu Naumburg (Fn. 1), 42; ausführlich dazu Monika Hegenberg, Stifterfigur des Grafen Wilhelm, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister II (Fn. 1), 931–933 [Exponatbeschreibung]. Zu den Verwandtschaftsverhältnissen der frühen Wettiner vgl. Stefan Pätzold, Die frühen Wettiner. Adelsfamilie und Hausüberlieferung bis 1221 (= Geschichte und Politik in Sachsen 6), 1997, 7–31, mit Anhang: Genealogische Tafel 1. Matthias Ludwig, Berchta, in: Siebert/Ludwig, Westchor (Fn. 1), 12. Guido Siebert, Dietmar, in: ders./Ludwig, Westchor (Fn. 1), 20; Ludwig/H. Kunde, Dom zu Naumburg (Fn. 1), 42; ausführlich dazu Philipp Steinkamp, Stifterfigur des Grafen Dietmar, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister II (Fn. 1), 925–928 [Exponatbeschreibung]. Siebert, Dietmar (Fn. 30).
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Abb. 2: Stifterfigur Dietmar, Dom zu Naumburg (Vereinigte Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz, Foto: Matthias Rutowski)
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dem Geschlecht der Billunger oder um Thietmar II. (†1030), den Markgrafen der Ostmark,32 handeln.33 Manches spricht für einen Grafen aus dem Geschlecht der Billunger,34 welche die frühen Herzöge von Sachsen stellten. Sein Vater war Herzog Bernhard I. von Sachsen, Onkel der markgräflichen Brüder Hermann und Ekkehard. Die Sonderrolle Dietmars im Stifterfigurenzyklus lässt sich auch an der urkundlichen Überlieferung festmachen. Er war kein »erster Stifter« im Sinne der Urkunde von 1249, denn sein Name fehlt in der dortigen Aufzählung. Der laut Schildumschrift Thimo von Kistritz35 genannte Graf gehört nach einer verbreiteten Auffassung wahrscheinlich dem Geschlecht der Wettiner an (*vor 1034, †1091 oder 1118) (Abb. 3). Er war der Bruder des Markgrafen Thietmar II. von der Ostmark (Niederlausitz), Onkel des Grafen Wilhelm von Camburg und der erste Vogt der Naumburger Domkirche aus wettinischem Haus. Er gilt in der aktuellen Forschung jedoch als »ein weiterer unbekannter Stifter«.36 Der Schild des Thimo nennt dessen Stiftungswohltat: TIMO DE KISTERICZ QVI DEDIT ECCLESIE SEPTEM VILLAS. Die Figur des Ekkehard37 wird aufgrund der Urkunde von 1249 und der Schildumschrift Ekkehard II. († 1046), Markgraf von Meißen seit 1032, zugeordnet. Er war der ranghöchste weltliche Fürst im mitteldeutschen Raum während des 11. Jahrhunderts. Sein Standbild strahlt Machtbewusstsein, Ruhe und Souveränität aus.38 Seine Ehefrau Uta39 (um 1000–vor 1046), nach tradierter Zuschrei32 33
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Zu ihm vgl. Jörg Rogge, Die Wettiner. Aufstieg einer Dynastie im Mittelalter, 2009, 19. Quellennachweise bei Gerhard Straehle, Der Naumburger Stifter-Zyklus. Elf Stifter und der Erschlagene im Westchor (Synodal-Chor) des Naumburger Doms (Die blauen Bücher), 2. Aufl. 2013, 18–21. Zu ihnen vgl. den Überblick von Karl Jordan, Billunger, in: LexMA II (1983), 192–193. Guido Siebert, Thimo, in: ders./Ludwig, Westchor (Fn. 1), 26; Ludwig/H. Kunde, Naumburger Dom (Fn. 1), 42; ausführlich dazu Jeannine Dahlem, Stifterfigur des Grafen Thimo, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister II (Fn. 1), 933–934 [Exponatbeschreibung]. Facts & Files, Saale-Unstrut-Raum (Fn. 10), 156. Siebert, Ekkehard und Uta (Fn. 6), 18; Ludwig/H. Kunde, Dom zu Naumburg (Fn. 1), 41; ausführlich dazu Jeannine Dahlem, Stifterfigur des Markgrafen Ekkehard II., in: Krohm/H. Kunde II (Fn. 1), 935–936 [Exponatbeschreibung]. Anders Claudia Kunde/Václav Vok Filip, Das Instrumentarium der »Ersten Stifter«: Physiognomie, Gebärden, Bekleidung, Schmuck, Waffen, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister II (Fn. 1), 973–997, hier 976, unter Berufung auf Jean Wirth, L'image à l'époque gothique (1140–1280), Paris 2008, »sanguinisches und cholerisches Temperament«. Siebert, Ekkehard und Uta (Fn. 6); Ludwig/H. Kunde, Dom zu Naumburg (Fn. 1), 41; ausführlich dazu Kathrin Meukow, Stifterfigur der Markgräfin Uta, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister II (Fn. 1), 936–941 [Exponatbeschreibung].
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Abb. 3: Stifterfigur Thimo, Dom zu Naumburg (Vereinigte Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz, Foto: Matthias Rutowski)
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bung eine geborene Gräfin von Ballenstedt, verkörpert in Gesichtsausdruck und Körperhaltung eine rationale, erhabene weibliche Herrscherpersönlichkeit. Ihre kalt und wie über den Dingen stehend wirkende Erscheinung ist Ausdruck ihrer Stellung im Hochadel, die durch die Lilienkrone verstärkt wird. Ekkehard und Uta gelten als die wichtigsten Hauptstifter des Doms. Es war Ekkehard, welcher die Verlegung des Bistumssitzes von Zeitz nach Naumburg durchsetzte. Dem Markgrafenpaar Ekkehard und Uta stehen gegenüber Markgraf Hermann (1009–1031; †1038)40 und seine Ehefrau, die Markgräfin Reglindis (vor 1016?).41 Belege für diese Identifikation gibt es nicht. Hermann war der ältere Bruder und Amtsvorgänger Ekkehards. Er hat auf sein Markgrafenamt verzichtet. Resignation und Enttäuschung könnte sein Gesichtsausdruck verkörpern. Diese Annahme ist freilich spekulativ. Reglindis war die Tochter des polnischen Königs Bolesław Chrobry (†1025). Sie ist mit ihrer lebensfrohen, fröhlich lächelnden Mimik42 und ihren Pausbäckchen das jeden Betrachter gewinnende Kontrastprogramm zu ihrer Schwägerin Uta gegenüber. Die markgräflichen Eheleute starben, wie auch ihre Verwandten bzw. Verschwägerten Ekkehard und Uta, kinderlos. Die erste Figur rechter Hand nach Eintritt in den Westchor wird einem Grafen Dietrich zugeschrieben. Vielleicht handelt es sich um Graf Dietrich III. von Brehna43 (um 1050–um 1115), einen Bruder Wilhelms von Camburg und Neffen Thimos. Seine Frau Gerburg44 ist möglicherweise in der ihm gegenüber stehenden weiblichen Figur mit einem mit Einbandschließen versehenen Buch in der linken Hand zu sehen. Ihre Identität ist nicht gesichert. 40 41
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Ausführlich dazu Beatrix Leisner, Stifterfigur des Markgrafen Hermann, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister II (Fn. 1), 919–923 [Exponatbeschreibung]. Guido Siebert, Hermann und Reglindis, in: ders./Ludwig, Westchor (Fn. 1), 14; Ludwig/H. Kunde, Dom zu Naumburg (Fn. 1), 41 f.; ausführlich dazu Beatrix Leisner, Stifterfigur der Markgräfin Reglindis, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister II (Fn. 1), 923–925 [Exponatbeschreibung]. Vgl. auch Winfried Wilhelmy (Hrsg.), Seliges Lächeln und höllisches Gelächter. Das Lachen in Kunst und Kultur des Mittelalters, 2012 (Ausst.-kat.). Guido Siebert, Dietrich, in: ders./Ludwig, Westchor (Fn. 1), 8; Ludwig/H. Kunde, Dom zu Naumburg (Fn. 1), 46; ausführlich dazu Sabrina Strohwald, Stifterfigur des Grafen Dietrich, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister II (Fn. 1), 943–945 [Exponatbeschreibung]. Guido Siebert, Gerburg, in: ders./Ludwig, Westchor (Fn. 1), 6; Ludwig/H. Kunde/Ludwig, Dom zu Naumburg (Fn. 1), 42/46; ausführlich dazu Sabrina Strohwald, Stifterfigur der Gräfin Gerburg, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister II (Fn. 1), 913–915 [Exponatbeschreibung].
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Eine weitere Figur, der aufgrund der Urkunde von 1249 der Name Konrad45 zugeschrieben wurde, kann nicht identifiziert werden. Die Annahme, dass es sich um den Bruder des Thimo und Onkel des Wilhelm und Dietrich handeln könnte, ist spekulativ. Die Figur ist mehrmals beschädigt und im 19. und 20. Jahrhundert restauriert worden. Sie ist entstellt und daher für den Zeithorizont des 13. Jahrhundert wenig aussagekräftig. Die Frauengestalt, die Konrad gegenüber steht, könnte Gepa oder Berchta46 sein. Ihre Identität ist umstritten. Manche sehen in ihr die Gräfin Gepa, Gattin des Wilhelm von Camburg; andere eine Adelheid.47. Auch die Annahme, dass es sich um die Mutter der Stifter Wilhelm und Dietrich handele, ist anzutreffen. Die ebenfalls in Betracht zu ziehende Gräfin Berchta war in erster Ehe mit Poppo von Wippra, in zweiter Ehe mit Gero von Wettin verheiratet. Zu ihren fünf Kindern gehörten Wilhelm und Dietrich, die sich unter den Stifterfiguren befinden.
II Mutmaßungen zu Gericht und Verfahren am Beispiel der Figuren Dietmar, Syzzo, Thimo und Ekkehard Die bekanntesten Naumburger Stifterfiguren von Weltrang sind Uta48 und Ekkehard, das Meißner Markgrafenpaar. Sie strahlen eine relativ eigenständige Monumentalität aus und sind die künstlerisch wertvollsten Kunstwerke im Naumburger Westchor. Auf sie fällt jedoch nicht der erste Blick desjenigen, der den Westchor betritt. Dessen Perspektive ist eine andere. Dem Eintretenden gerät zuerst die Figur des Syzzo in das Gesichtsfeld. Der als Ritter gekleidete Syzzo trägt ein in der 45
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Guido Siebert, Konrad, in: ders./Ludwig, Westchor (Fn. 1), 10; Ludwig/H. Kunde, Dom zu Naumburg (Fn. 1), 46; ausführlich dazu Monika Hegenberg, Stifterfigur des Grafen Konrad, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister II (Fn. 1), 915–918 [Exponatbeschreibung]. Ludwig, Berchta (Fn. 29), 12; Ludwig/H. Kunde, Dom zu Naumburg (Fn. 1), 46. Schlesinger, Meissner Dom (Fn. 8), 61. Zu Uta, die traditionell dem Geschlecht der Grafen von Ballenstedt zugeordnet wird, liegt eine Fülle von Literatur vor: Siebert, Ekkehard und Uta (Fn. 6); Ludwig/H. Kunde, Dom zu Naumburg (Fn. 1), 41; Meukow, Uta (Fn. 39), 936–941 [Exponatbeschreibung]; Michael Imhof/Holger Kunde, Uta von Naumburg, 2011 (krit. Rez. von Volker Schimpff, Herold-Jb. 17, 2012, 293–298); Dieter Riemer, Uta von Naumburg – eine Prinzessin aus Kiew?, in: SUJb. 28 (2023), 45–58; Kerstin Merkel, Neue Beobachtungen zur Kleidung der Naumburger Stifterfiguren, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister III (Fn. 1), 188–203, hier 188–191. Zur Rezeptionsgeschichte: Wolfgang Ulrich, Uta von Naumburg. Eine deutsche Ikone (= Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek 59), 1998.
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Scheide steckendes Schwert über der rechten Schulter bzw. dem oberen Oberarm. Auf dem Rand seines Schildes ist der Namen »SYZZO« zu lesen.49 Das so positionierte Schwert könnte Syzzo als einen Richter kennzeichnen.50 Seine Mimik verheißt Zorn und Grimm, was durch den Bart noch verstärkt wird.51 Ein bemerkenswertes Detail besteht in dem leicht geöffneten Mund. Das geschulterte Schwert in der Scheide ist als Kennzeichen des Richters mehrfach in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels anzutreffen.52 Der geöffnete Mund deutet darauf hin, dass Syzzo als jemand dargestellt ist, der spricht. Das Sprechen gehört zur Profession des Richters.53 Geht man wiederum vom eintretenden Betrachter des Westchors aus, so stehen ausweislich der späteren Schildumschriften neben dem Grafen Syzzo der Graf Dietmar (links) und der Graf Thimo (rechts). Die Figur des Dietmar zeichnet sich durch eine auffällige Abweichung von den anderen Figuren aus. Das Gesicht 49
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Näheres bei Siebert, Syzzo (Fn. 24), 22, sowie Ludwig/H. Kunde, Dom zu Naumburg (Fn. 1), 42; Michael Viktor Schwarz, Medialität und Intensität der Naumburger Stifterfiguren, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister III (Fn. 1), 142–153, hier 148 f.; ausführlich dazu Meukow, Syzzo (Fn. 26); Facts & Files, Saale-Unstrut-Raum (Fn. 10), 156; Wittmann, Stifterfigur des SYZZO COMES DO (Fn. 25). Aufbauend auf der bisherigen Literatur – so jedenfalls die Hoffnung des Verfassers – mit einigen neuen Argumenten Lück, Mittelalterliche Gerichtsverfassung (Fn. 2), 66–68. Dazu könnte die Vorstellung vom Richter als »grimmiger Löwe« passen. Vgl. z. B. im Kleinen Kaiserrecht, das um 1340/1350 im Raum um Frankfurt am Main niedergeschrieben wurde: »der richter sal sin eyn grisgramig als eyn lewe« (Deutsches Rechtswörterbuch: https://drw-www.adw.uni-heidelberg.de/drwcgi/zeige?index=lemmata&term= loewe [Zugriff: 2.7.23] DRW). Zum Kleinen Kaiserrecht vgl. Dietlinde Munzel-Everling, Kleines Kaiserrecht, in: 2HRG 2 (2012), 1881–1883. Vgl. die Überlegungen, die Bilderhandschriften des Sachsenspiegels als Interpretamente bei der Erschließung des rechtsikonographischen Gehalts der Stifterfiguren zu nutzen, ausführlich Lück, Mittelalterliche Gerichtsverfassung (Fn. 2), insbes. 53–79. Die Ablehnung dieser möglichen Deutung durch Schlesinger, Meissner Dom (Fn. 8), 71, ist nicht schlüssig. Als verstärkendes Element kann der geöffnete (sprechende) Mund Syzzos angeführt werden. Die Sichtbarkeit der oberen Zahnreihe ist eine nicht ungewöhnliche Erscheinung beim Sprechen. Richter werden vom Mittelalter bis heute mit »Sprechen« in Verbindung gebracht. Vgl. auch die modernen Wörter »Rechtsprechung«, »Richterspruch« usw. Dem widerspricht nicht die Ansicht von Trinks, wonach »Der halb geöffnete Mund mit gebleckten Zähnen (…) dem Ärger Luft zu machen« scheint, auch wenn hier die Richtereigenschaft nicht in Betracht gezogen wird (Stefan Trinks, Von Santiago nach Naumburg und zurück. Die Naumburger Stifterfiguren in ihren europäischen Außenbezügen, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister III, Fn. 1, 218–241, hier 234).
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ist von unten bis etwa zur Oberlippe vom Schild bedeckt. Die etwas nach vorn gebeugte Haltung scheint an die mehrdeutige Redewendung »etwas im Schilde führen«54 zu erinnern. Die rechte Hand ist um den Schwertgriff, offenbar einen (Gegen-)Angriff unmittelbar erwartend, gelegt. Die Situation suggeriert ziemlich deutlich das unmittelbar bevorstehende Blankziehen. Auf dem Schildrand steht: DITMARVS COMES OCCISVS: Graf Dietmar, der Erschlagene.55 Der Bezug zu einer Missetat scheint offensichtlich.56 Auch bei dieser Figur ist die Identifikation schwierig. Das schließt freilich Überlegungen zu realen Vorbildern nicht aus. So erscheint es gewiss nicht ganz abwegig, in der Figur jenen Grafen Dietmar zu sehen, welcher 1039 das Dorf Kizerin bei Wethau der Naumburger Kirche als Stifter zuwendete. Annahmen, es könnte sich um einen Sohn Herzog Bernhards I. von Sachsen aus dem Geschlecht der Billunger, den der Annalist Saxo (um 1150) als Thietmar interfectus kennt,57 oder um Thietmar II. (†1030), den Markgrafen der Ostmark, handeln, lassen sich nicht zweifelsfrei belegen. Sollte die Figur für den Billunger stehen, so kommt man auf einen Rechtsstreit, der in die Reichsgeschichte eingegangen ist. Die Textstelle bei Lambert von Hersfeld (1024–1088) lautet: Festum sancti Michaelis [1048 – H. L.] imperator iterum Polethe celebravit. Ibi postero die Dietmarus comes, frater ducis Bernhardi, cum a milite suo Arnoldo accusatus fuisset de inito contra imperatorem consilio, congressus cum eo, ut obiectum crimen manu propria purgaret, victus et occisus est.58 Der Chronist teilt hiernach mit, dass Dietmar im Jahr 1048 verdächtigt wurde, sich gegen Kaiser Heinrich III. (reg. 1039/1046–1056) des Hochverrats schuldig gemacht zu haben. Dietmars Vasall Arnold soll diesen Verdacht in Form einer lebensbedrohlichen Anschuldigung öffentlich gemacht haben.59 Zur Befreiung 54 55 56
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Vgl. auch Lutz Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Bd. 3, 3. Aufl. 1994 (2006), 1333–1336 [Schild], hier 1333 f. Zu ihm vgl. ausführlich Lück, Mittelalterliche Gerichtsverfassung (Fn. 2), 69 f. Der Figur des erschlagenen Dietmar räumt Gerhard Straehle mit interessanten, auch rechtsgeschichtlichen, Argumenten und Überlegungen eine Schlüsselstellung im Stifterfigurenzyklus ein. Vgl. Straehle, Stifter-Zyklus (Fn. 33). Diese Studie hat eine m. E. zu harsche Kritik erfahren (vgl. Guido Siebert, Naumburger Meister und Westchor des Naumburger Doms. Literaturbericht Teil 2, in: SUJb 23, 2018, 148–156, hier 150–153). 1020 – H. L.] Huius [Bernhardi – H. L.] frater Thietmarus interfectus est In duello coram Henrico inperatore (MGH SS XXXVII, Annalista Saxo. Klaus Naß (Hrsg.), Die Reichschronik des Annalista Saxo, 2006, 356). MGH SS rer. Germ. XXXVIII, Lamperti monachi Hersfeldensis Opera, ed. Oswaldus Holder-Egger, 1894, 61. Hiermit dürfte er das Prozessrechtsinstitut der Denunziation bedient haben. Zum Begriff und zur Denunziation im Mittelalter vgl. grundlegend Arnd Koch, Denunciatio.
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vom Verdacht wurde ein gerichtlicher Zweikampf angeordnet, in dessen Ausgang Dietmar den Tod fand (… Ditmarus comes … occisus).60 Der Beweis seiner Verantwortlichkeit für den Hochverrat galt kraft Gottesurteils61 als erbracht. Der Ort des Geschehens war die Kaiserpfalz Pöhlde am Harz.62 Der Zweikampf63 als Institut des mittelalterlichen Gerichtsprozesses ist im Sachsenspiegel geregelt (Ssp. Ldr. I 63–65 und an weiteren Stellen). In Ssp. Ldr. I 39 wird der Zweikampf als eins von drei möglichen Gottesurteilen (D fol. 13v3, W fol. 19v3, O 23v2) genannt und illustriert: Tragen des glühenden Eisens; Greifen in einen Kessel mit siedendem Wasser; Kampf mit einem Lohnkämpfer64 vor Gericht (Zweikampf ). Diese Beweismittel sollten ausschließlich bei Personen, die ihre Ehre verloren hatten, Anwendung finden. Insofern entspricht die Überlieferung Lamberts von Hersfeld der rechtlichen Situation vor dem Vierten Laterankonzil von 1215, auf dem die Zulässigkeit der Gottesurteile stark eingeschränkt wurde. Die traditionelle Konfliktlösung in Form der Fehde65 war seit dem Mainzer Reichslandfrieden von 1235 reichsrechtlich verboten, solange nicht ein gerichtlicher Versuch der Streitbeilegung unternommen worden war.66 Vielleicht hält dieses Gebot, den DITMARVS COMES OCCISVS bzw. seine Familie zurück, das Schwert aus der Scheide zu ziehen und in die Fehde einzutreten. In diesem Kontext ist von Belang, dass der Bischof von Naumburg und der Naumburger Meister auf jenem Reichstag in Mainz anwesend waren, auf dem der Mainzer Reichslandfrieden 1235 verkündet worden war.67 Eine größere Nähe von
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Zur Geschichte eines strafprozessualen Rechtsinstituts (= Juristische Abhandlungen 48), 2006, 1–65, sowie den Überblick von dems., Denunziation, in: 2HRG 1 (2008), 951–953. MGH SS rer. Germ. XXXVIII (Fn. 58). Zu diesem irrationalen Beweismittel vgl. Wolfgang Schild, Gottesurteil, in: 2HRG 2 (2012), 481–491; Hinrich Rüping/Günter Jerouschek, Grundriss der Strafrechtsgeschichte (= Schriftenreihe der Juristischen Schulung 73), 6. Aufl., 2011, 10 f. Heute zu Herzberg bei Göttingen gehörig. Vgl. dazu Markus C. Blaich, Pöhlde – Palithi, in: Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 84 (2015), 125–152. Vgl. dazu ausführlich Wolfgang Schild, Zweikampf, in: Adalbert Erler et al. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (im Folgenden: HRG), Bd. 5, 1998, 1835–1847. Vgl. dazu Wolfgang Schild, Kemphe, in: 2HRG 2 (2012), 1705–1707. Vgl. dazu den Überblick von Christine Reinle, Fehde, in: 2HRG 1 (2008), 1515–1525. Vgl. dazu den Überblick von Horst Carl, Landfrieden, in: 2HRG 3 (2016), 483–505; Arno Buschmann, Mainzer Reichslandfriede, in: 2HRG 3 (2016), 1186–1191; Rüping/Jerouschek (Fn. 61), 21–23. Ludwig/H. Kunde, Dom zu Naumburg (Fn. 1), 22 f.
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Auftraggeber/n68 und Schöpfer/n der Naumburger Stifterfiguren einerseits und dem Landfriedensrecht ihrer Zeit andererseits ist kaum vorstellbar. Als zweite Figur rechts von Syzzo ist nach dem Grafen Wilhelm (vom Betrachter aus gesehen) Graf Thimo plaziert. Die Mimik des Grafen Thimo lässt großen Kummer, Wehleidigkeit und vielleicht auch Wut erkennen. Zum Gesichtsausdruck würde – wie von der älteren Forschung erwogen – passen, dass dessen Vater Dietrich, Graf von Wettin und Markgraf der Lausitz, im Auftrag Markgraf Ekkehards II. 1034 ermordet wurde.69 Die Tat soll in der eigenen Schlafkammer (in proprio cubiculo) des Opfers in der Kaiserpfalz Pöhlde begangen worden sein. Der einschlägige Bericht Lamberts von Hersfeld teilt mit: Eodem anno [1034 – H. L.] Thiedricus comes Orientalium a militibus Aeggihardi marchionis in proprio cubiculo ficta salutatione circumventus, in dolo 13. Kal. Decembris occiditur.70 Der Markgraf erlangte infolge seiner verwerflichen Tat Besitz an der Mark Lausitz. Von einer gewissen Brisanz ist der Umstand, dass der Ermordete mit Ekkehard II. verschwägert war.71 Das Verbrechen könnte, sofern man der fiktiven Zuschreibung folgt, der Grund für den klagenden und leidenden Gesichtsausdruck des Thimo, Sohn des getöteten Dietrich, gewesen sein. Während des 11. Jahrhunderts war Ekkehard der ranghöchste weltliche Fürst im mitteldeutschen Raum. Falls Thimos klagender Blick ihm gelten soll, nimmt Ekkehard davon keinerlei Notiz – so, wie auch jede andere Figur mit niemandem kommuniziert. Würde man annehmen dürfen, dass die Figuren der beiden Eheleute miteinander korrespondieren, so könnte Utas leichte Erhebung des oberen Mantelendes bis zur Höhe der Wange 68
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Als solche sind neben dem Domkapitel vor allem Bischof Dietrich II. (reg. 1243–1272) sowie der Domscholaster Magister Petrus von Hagen (Peter von Hain), der Domkustos Friedrich und der spätere Dekan Heinrich von Flößberg in Betracht zu ziehen (vgl. Kunde, Marienstiftskirche, Fn. 12, 237 f.; ders., Mainz-Naumburg-Meißen. Der Naumburger Meister und seine Auftraggeber, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister I, Fn. 1), 566–581, hier 573, 575 f.). Auch Bischof Engelhard (reg. 1207–1242), unter dessen Episkopat der Dombau begonnen wurde, muss hier genannt werden (vgl. Siebert, Renaissance, Fn. 6, 119; Facts & Files, Saale-Unstrut-Raum, Fn. 10, 153 f.; Siebert/C. Kunde, Untersuchungen, Fn. 2, 254). Kritisch zu dieser, u. a. von Wirth (Fn. 38), 148 f., gewählten Zuschreibung vgl. Siebert/C. Kunde, Untersuchungen (Fn. 2), 308. Zur Sache vgl. auch Pätzold (Fn. 28), 15. Lamberti annalium continuatio a. 994–1039 – MGH SS rer. Germ. III, Lamperti monachi Hersfeldensis Opera ed. Georgius Heinricus Pertz, 1839, 99). Kritisch dazu Pätzold (Fn. 28), 96, und Christian Lübke (Bearb.), Regesten zur Geschichte der Slaven an Elbe und Oder (vom Jahre 900 an), Teil IV: Regesten 1013–1057 (= Gießener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens 152), 1987, 620. Vgl. dazu auch Rogge (Fn. 32), 17–19.
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auf der rechten Seite als Ablehnungsgestus gegenüber ihrem Ehemann gedeutet werden.72 Doch kann sie auch eine höfische, bewusste Distanzierung von der Allgemeinheit anzeigende Gebärde oder auch etwas ganz anderes sein.
III Grenzen der irdischen Gerichtsverfassung Die Standbilder repräsentieren Angehörige des mitteldeutschen Hochadels, ausgestattet mit den Attributen ihrer rechtmäßigen Gewalt (Schwert, Schild, Gewand, Schmuck, Kopfbedeckung).73 Der dem Westchor in Richtung Langhaus vorgelagerte Westlettner74 liefert weitere Anhaltspunkte für die auch rechtliche Relevanz des Figurenensembles. Durch ihn wird ein eindeutiger, zudem sinnlich wahrnehmbarer Bezug zwischen den Stifterfiguren einerseits sowie Recht und Gericht andererseits konstituiert. Sein Schöpfer ist ebenfalls der Naumburger Meister. Er schuf dieses großartige Kunstwerk etwa gleichzeitig mit den Stifterfiguren.75 Im Unterschied zum Westchor präsentiert das ikonographische Programm des Westlettners ausschließlich biblische Personen und Ereignisse. Im Vierpass ist die Majestas Domini plaziert. Sie ist von zentraler Bedeutung für die Beurteilung der Situation bzw. das Geschehen im Westchor. 72 73 74
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Merkel, Neue Beobachtungen (Fn. 48), 190, sieht darin ohne weitere Argumente ein »Sich-Verstecken«, was kaum zu überzeugen vermag. Vgl. dazu auch Heiner Lück, Herrschaftszeichen, in: 2HRG 2 (2012), 982–987. Vgl. dazu Peter Bömer, Der Westlettner des Naumburger Doms und die Erschließung seiner Bildwerke, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister II (Fn. 1), 1126–1136; Hartmut Krohm, Der Westlettner des Naumburger Doms. Erzählkunst vor dem Hintergrund französischer Kathedralskulptur, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister III (Fn. 1), 254–281; Jacqueline E. Jung, Das Programm des Westlettners, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister II (Fn. 1), 1137–1146; Siebert/C. Kunde, Untersuchungen (Fn. 2), 264–284; zu den Lettnern umfassend vgl. Monika Schmelzer, Der mittelalterliche Lettner im deutschsprachigen Raum. Typologie und Funktion (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte 33), 2004; Jacqueline E. Jung, The Gothic Screen. Space, Sculpture, and Community in the Cathedrals of France and Germany, ca. 1200–1400, Cambridge 2012. Zur rechtlichen Funktion vgl. Heiner Lück, Lettner, in: 2HRG 3 (2016), 855–856. Zu den Einzelheiten vgl. Lutz Stöppler et al., Westlettner, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister II (Fn. 1), 878–912 [Exponatbeschreibung]. Die beiden letzten Reliefs von links (Geißelung, Kreuztragung) stammen aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Der Naumburger Drechslermeister Johann Jacob Lütticke hat sie gefertigt. Sie ersetzten die 1532 durch einen Brand schwer beschädigten Originale. Vgl. dazu Matthias Ludwig, Geißelung, in: Siebert/ Ludwig, Westlettner (Fn. 1), 20.
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Abb. 4: Stifterfiguren Ekkehard und Uta, Dom zu Naumburg (Vereinigte Domstifter zu Merseburg und des Kollegiatstifts Zeitz, Foto: Matthias Rutowski)
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Durch besondere materielle und mentale Monumentalität zeichnet sich im Stifterfigurenzyklus das Standbild Ekkehards II. aus (Abb. 4). Nach den von der Forschung erschlossenen Zusammenhängen wird ihm die Auftragserteilung zu einem Mord am eigenen Schwager, den Vater des Thimo, vorgeworfen. Die Mehrung seines Besitzes mag zu den Motiven gehört haben. Sollte der Graf Syzzo tatsächlich als Richter anzusprechen sein, so stünde dieser in der Nähe Thimos und Ekkehards, also des potentiellen Klägers und Beklagten. Dennoch scheint es so, als ob dieser Richter nichts zur Lösung des Konflikts beitragen kann. Die anwesende richterliche Gerichtsgewalt ist durch das aufgerichtete Gerichtsschwert unmissverständlich angezeigt. Es fragt sich jedoch, in wessen Namen das Gericht agieren sollte. Der Sachsenspiegel kennt das Erklärungsmodell von der Verleihung des Königsbanns. Danach ist jegliche Gerichtskompetenz vom König abgeleitet (Ssp. Ldr. I 59).76 Doch kommt der König im Naumburger Figurenzyklus nicht vor. Kein ikonographisches oder epigraphisches Element deutet auf die Präsenz der Königsgewalt hin.77 Der höchste Richter in der Naumburg umgebenden »hochmittelalterlichen Herrschaftslandschaft«78 an der mittleren Saale und der Unstrut ist der Markgraf.79 76 77
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Vgl. Heiner Lück, Der Sachsenspiegel. Das berühmteste deutsche Rechtsbuch des Mittelalters, Sonderausgabe 2022 (2. durchgesehene Aufl. d. 1. Ausg. 2017), 59–65. Vgl. auch H. Kunde, Marienstiftskirche (Fn. 12), 230–232; Schlesinger, Meissner Dom (Fn. 8), 58–60; Facts & Files, Saale-Unstrut-Raum (Fn. 10), 156; Siebert/C. Kunde, Untersuchungen (Fn. 2), 301. Im bewussten Verzicht auf eine Bezugnahme auf das Königtum sieht Schmid ein Ausschlusskriterium für die Auswahl der Figuren (Wolfgang Schmid, Über die Zahl, die Reihenfolge und die Auswahl der Naumburger Stifter, in: SUJb 28 (2021), 42–58, hier 57 f.). Inwiefern hier die Opposition hochrangiger Adliger der Saale-Unstrut-Region, darunter wahrscheinlich einiger Stifter, gegen Kaiser Heinrich IV. (reg. 1053/1084–1105) (vgl. dazu Facts & Files: Saale-Unstrut-Raum, Fn. 10, 155 f.) nachwirkte, lässt sich nicht ausmachen, zumal das Kaiser- bzw. Königtum unter Konrad II. die Verlegung des Bistums von Zeitz nach Naumburg gefördert hatte. Vgl. auch Robert Suckale, Einige Gesichtspunkte zum Verständnis der Naumburger Dom-Skulpturen, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister III (Fn. 1), 128–140, hier 140. Die gerichtsverfassungsrechtliche Unabhängigkeit des Markgrafen vom König relativiert etwas Suckales Aussage, dass »die Naumburger Stifterfiguren auch als kritischer Spiegel einer königslosen, anarchisch krisenhaften Zeit zu deuten« seien (ebd.). Betrachtet man das Gesamtensemble im Kontext der hochmittelalterlichen Gerichtsverfassung und ihrer Rechtsgrundlagen, ergibt sich ein Bild, das ganz den rechtlichen Grundlagen der Herrschaftsstrukturen im großen Gebiet des sächsischen Rechts entsprach. So ein Teil des Titels der Dokumentationen für die Bewerbung um den Welterbetitel (siehe Fn. 1). Vgl. dazu Werner Hechberger, Graf, Grafschaft, in: 2HRG 2 (2012), 509–522; Stefan Tebruck, Markgraf, in: 2HRG 3 (2016), 1302–1304. Zu den Markgrafen in fränkischer Zeit
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Wie seine Mitstifter hat Ekkehard Herrschaftssicherung und -ausweitung mit Gewalt betrieben. Diese könnte nach den mittelalterlichen Kategorien »rechte« oder/und »unrechte« Gewalt gewesen sein.80 Die chronikalische Überlieferung zu dem blutigen Ereignis in Pöhlde spricht für »unrechte« Gewalt. Niemand kann jedoch gegen Ekkehard, den Inhaber markgräflicher (und damit königlicher) Gerichtsherrschaft, gerichtlich vorgehen. Im Unterschied zur Gerichtsgewalt der Grafen bedarf seine Gerichtsgewalt nicht der Herleitung vom König im Wege der Bannleihe.81 Der Markgraf richtet vielmehr aus eigener Machtvollkommenheit: De markgreve dinget bi sines selves hulden (Ssp. Ldr. III 65 § 1).82 Innerhalb der Struktur dieser Gerichtsverfassung hat der Markgraf nichts zu befürchten. Diese Gewissheit passt zur äußeren und wohl auch unverkennbar inneren Gelassenheit Ekkehards. Der gräfliche Richter Syzzo kann trotz seiner richterlichen Kompetenz nicht über den Markgrafen zu Gericht sitzen. Unabhängig von der markgräflichen Würde Ekkehards steht das dem Syzzo nach dem Grundsatz der Ebenbürtigkeit83 nicht zu. Der König, der im weltlichen Herrschaftsgefüge über dem Markgrafen steht, ist weder anwesend noch im Figurenprogramm oder sonst irgendwie im Westchor vorgesehen. Die Funktion der Syzzofigur scheint darin zu bestehen, ähnlich den späteren Rolandfiguren auf die Existenz von Recht und Gerichtsbarkeit abstrakt zu verweisen. Rechtsmahnung, nicht Rechtsanwendung – lautet offenbar seine notgedrungene Botschaft. Alles spricht dafür, dass die Lösung eines etwaigen schweren Rechtskonflikts, sofern man diesen annehmen darf, innerhalb des Figurenzyklus wie in einem forum internum84 nicht möglich ist. Die geltende Gerichtsverfassung und die nach ihr strukturierte Gerichtsgewalt stehen dem entgegen.
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vgl. Andrea Stieldorf, Marken und Markgrafen. Studien zur Grenzsicherung durch die fränkisch-deutschen Herrscher (= MGH Schriften 64), 2012. Vgl. dazu Heiner Lück, »Unrechte« und »rechte« Gewalt. Beobachtungen zur gegenseitigen Bedingtheit zweier zentraler Kategorien im Text und in den Glossen des Sachsenspiegels, in: Claudia Garnier (Hrsg.), Konzeptionen und Funktionen der Gewalt im Mittelalter (Geschichte. Forschung und Wissenschaft 72), 2021, 37–64. Vgl. dazu Heiner Lück, Bannleihe, in: 2HRG 1 (2008), 439–441. Zitiert wird die Ausgabe: Karl August Eckhardt (Hrsg.), Sachsenspiegel Landrecht (MGH Fontes iuris germanici antiqui, nova series 1, 1.), 1973 (ND 1995), hier 251. Vgl. Dorothee Gottwald, Ebenbürtigkeit, in: 2HRG 1 (2008), 1172–1173. Dabei handelt es sich um einen Typ von Gerichtsversammlung innerhalb der Klerikergemeinschaft. Dort beurteilte man die Rechtsverletzung. Erst in einem zweiten Schritt (forum externum) ergriff man ggf. Sanktionsmaßnahmen, die auch außerhalb der Kirche bekannt wurden. Vgl. Lotte Kéry. Gottesfurcht und irdische Strafe. Der Beitrag des mittelalterlichen Kirchenrechts zur Entstehung des öffentlichen Strafrechts (= Konflikt, Verfahren und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Synthesen 10), 2006, 264–268, 400 f.
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IV Omnipräsenz des göttlichen Gerichts – Erwartungen am Jüngsten Tag Über der hier aufscheinenden Hierarchie, bestehend aus Betroffenem (Angehöriger der Opferfamilie), Richter und markgräflichem Gerichtsherrn, steht nur noch Gott. Er, Gott als höchster und letzter Richter, ist bildlich, epigraphisch und symbolisch in der Majestas Domini im Vierpass des Westlettners über dem Eingangsportal85 zum Westchor präsent (Abb. 5). Die Majestas Domini wird von einer sie flankierenden, künstlerisch exzellent gearbeiteten Relieffolge zur Passionsgeschichte Christi aufgewertet.86
Abb. 5: Majestas Domini, Vierpass am Westlettner, Dom zu Naumburg (Vereinigte Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz, Foto: Matthias Rutowski)
Für den hier relevanten Zusammenhang ist die Majestas Domini im Vierpass von erhellender Bedeutung. Bildlich dargestellt ist Christus als thronender Wel85 86
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Zur rechtlichen Relevanz von Kirchenportalen und Kirchengebäuden vgl. Heiner Lück, Kirchenportal, in: 2HRG 2 (2012), 1812–1814; ders., Kirchengebäude, ebd., 1787–1796. Vgl. dazu ausführlich Siebert/C. Kunde, Untersuchungen (Fn. 2), 272–278.
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tenrichter.87 Der Engel (Brustbild) zu seiner Rechten erscheint mit den Marterwerkzeugen Kreuz mit daran hängender Dornenkrone und den Buchstaben I. N. R. I. an der Kreuzspitze sowie einem Kelch mit drei Kreuzesnägeln, während der Engel (Brustbild) zu seiner Linken mit Lanze und Stab mit Schwamm abgebildet ist. Die erhaben gearbeitete lateinische Inschrift88 beschreibt die ordnende und judizierende Tätigkeit des Weltenrichters in Anlehnung an Matthäus 25, 33: »Der Richter hier auf dem Throne scheidet die Lämmer von den Böcken. Mag es hart sein oder gnädig, endgültig ist das hier gefällte Urteil«89 Die Furcht vor dem Fegefeuer (purgatorium) als Bestandteil des Jüngsten Gerichts war seit dem 12. Jahrhundert in der christlichen Dogmatik fest verankert und spätestens seit dem 13. Jahrhundert jedem Christen allgegenwärtig.90 Darauf weist auch Günter Jerouschek in seiner Studie über Geburt und Wiedergeburt des peinlichen Strafrechts Mittelalter hin.91 Die Aussage über das Endgültige und/oder das Weltrichterbild waren von den Zugangsberechtigten im Geist und vor Augen beim Eintritt in den Westchor mitzunehmen bzw. nachträglich bei der Betrachtung der Stifterfiguren und beim Verlassen hinzuzudenken.92 Die Laien, denen der Zutritt verwehrt war, schauten vom Langhaus, vor oder unter dem Vierpass stehend, durch ein Gitter in das Innere des Westchors.93 Das sich mit dem Tageslauf verändernde Licht wird, durch die großen Chorfenster 87
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Näheres bei Susanne Ruf, Der erhöhte Christus als Richter und Erlöser – das Gemälde im Giebelfeld des Naumburger Westlettners, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister III (Fn. 1), 300–317 (mit Kritik an der Charakterisierung als Weltgericht 311 f.); Eva Maurer, Die Darstellung des Weltenrichters, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister II (Fn. 1), 910–912. + ARBITER. HIC. SEDIS. ANGNOS. DISTINGVIT. AB. EDIS + DURA. SIT. AN GRATA. TENET. HIC. SENTENTIA. LATA. (Ernst Schubert, Der Westlettner des Naumburger Doms [Vortragsmskr. von 1979], in: Dies diem docet, Fn. 15, 124–145, hier 126). Zur Inschrift vgl. auch Ruf, Der erhöhte Christus (Fn. 87), 312. Schubert, Naumburger Dom (Fn. 1), 76. Vgl. auch Heiner Lück, Rechts und links, in: 2HRG, 29. Lieferung (2022), 1106–1112, sowie Martin Zlatohlávek, Das Urbild des Jüngsten Gerichts, in: ders./Christian Rätsch/Claudia Müller-Ebeling, Das Jüngste Gericht. Fresken, Bilder, Gemälde, Zürich 2001, 35–63, hier 46–51. Vgl. Bernward Deneke, Fegfeuer, [2.] Volksglaube, in: LexMA IV (1989), 330 f.; Martin Zlatohlávek, Grundschema des Bildes vom Jüngsten Gericht, in: ders./Rätsch/MüllerEbeling (Fn. 89), 87–127, hier 123; ähnlich auch Jerouschek, Geburt und Wiedergeburt 2002 (Fn. 9), 50 f. Jerouschek, Geburt und Wiedergeburt 2002 (Fn. 9), 51. Ähnlich Lutz, Heinrich der Erlauchte (Fn. 7), 327. Siebert/C. Kunde, Untersuchungen (Fn. 2), 264.
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mit prachtvollen Glasmalereien einfallend und den Chorraum durchflutend, das ehrfürchtige Betrachtererlebnis noch einmal gesteigert haben.94 Die Bildmotive der Fenster präsentieren Heilige, die als Beisitzer des Jüngsten Gerichts anzusehen sind.95 Dazu passt die Darstellung von Christus als Weltenrichter, auf einem Regenbogen sitzend, am Anfang der Bilderhandschriften des Sachsenspiegels (O fol. 6r2, 6v3; H fol. 11v1; D fol. 35v1; W fol. 41v1).96 Sie ist kodikologisch und wohl auch systematisch dem eigentlichen Rechtsnormenbestand vorgelagert. Auch der Beginn der rechtlichen Regelungen mit Vorschriften zu den kirchlichen Gerichten (Bischofs-, Dompropst-, Erzpriestersend)97 und den weltlichen Gerichten (Grafen-, Schultheißen-, Gaugrafengericht) (Ssp. Ldr. I 2) ist kein Zufall. Die Christusdarstellung steht gewissermaßen »vor der Klammer«. Ganz ähnlich könnte auch die Beziehung zwischen der Botschaft im Vierpass am Westlettner und den einzelnen Skulpturen mit menschlichem Antlitz, Stärken und Schwächen, Rechtsbrüche und Wohltaten in sich tragend, im Westchor begriffen werden.98 94 95
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Ähnlich ebd., 258–260. Ernst Schubert, Zum ikonographischen Programm der Farbverglasung im Westchor des Naumburger Doms, in: Rüdiger Becksmann (Hrsg.), Deutsche Glasmalerei des Mittelalters, Bd. 2, 1992, 43–52, hier 50; Harald Wolter-von dem Knesebeck, Zum Bildprogramm des Naumburger Westchores. Ein eschatologischer Rahmen für Lettner, Stifterfiguren und die Glasmalerei, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister II (Fn. 1), 1160–1162; Siebert/Ludwig (Red.), Glasmalerei (Fn. 1); Guido Siebert, Die Glasmalereien des Naumburger Westchors. Fragen der Entstehung und des künstlerischen Zusammenhangs, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister II (Fn. 1), 1050–1065; ders., Glasmalerei als Bildhauerzeichnung? Überlegungen zum Konnex von Gestaltfindung und Stilaneignung zwischen Glasmalerei und Skulptur, in: Krohm/H. Kunde, Naumburger Meister III (Fn. 1), 342–367. Die Großbuchstaben stehen für die jeweilige Bilderhandschrift des Sachsenspiegels: D = Dresdner Bilderhandschrift des Sachsenspiegels; H = Heidelberger; O = Oldenburger; W = Wolfenbütteler. Es folgt die Angabe des Blattes (fol.) mit Vorderund Rückseite. Die letzte Ziffer bezeichnet die Bildzeile auf der jeweiligen Seite, von oben gezählt. Alle Bilderhandschriften sind bei den sie aufbewahrenden Bibliotheken (SLUB Dresden, UB Heidelberg, LB Oldenburg, HAB Wolfenbüttel) online zugänglich: http://diglib.hab.de/mss/3-1-aug-2f/start.htm; http://digital.slub-dresden. de/id272362328/10; https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg 164; https://digital.lb -oldenburg.de/ssp/nav/classification/137692. Zu den Sendgerichten vgl. Hans-Jürgen Becker, Send, Sendgericht, in: HRG 4 (1990), 1630–1631. Vgl. Lück, Mittelalterliche Gerichtsverfassung (Fn. 2), 79–83.
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V Schluss Nimmt man die im Westchor verewigten Personen und deren verfassungsrechtliche Stellung noch einmal abschließend in den Blick, so kann man den Zyklus durchaus (auch) als weltliche Gerichtsversammlung ansehen.99 Grafen und Markgrafen, verfassungsbedingt ausgestattet mit Gerichtsgewalt, gruppieren sich halbkreisförmig im Chorraum um den Altar. Es kann dahin gestellt bleiben, wie die vornehme Versammlung im Westchor bezeichnet wird und welche historischen Individuen sie verkörpert. Jedenfalls kann sie den offenbar gebrochenen Rechtsfrieden aus eigener Kompetenz nicht wiederherstellen. Allem Anschein nach verharrt sie in einem ruhenden Zustand. Denkt man in diese Richtung weiter, entsteht der Eindruck, dass sich hier eine (Gerichts-)Versammlung konstituiert hat, die das Jüngste Gericht100 erwartet.101 Ein Status der Ohnmacht scheint den betroffenen Personen eigen zu sein. Rechtserfahrungen, die im realen Leben gemacht wurden, werden in der Vorstellungswelt der Akteure wahrscheinlich eine Rolle gespielt haben. Wen ein »Peinliches Jenseitsstrafrecht«102 im Sinne Günter Jerouscheks erwartet, ist ungewiss. Die hier nur kurz vorgetragene Deutung, die eine von vielen möglichen ist, enthält die unmissverständliche Aussage, dass die geistliche/kirchliche Gerichtsbarkeit gegenüber der weltlichen Gerichtsbarkeit letztlich die höchste und damit ausschlaggebende ist. Die Konkurrenz geistlicher und weltlicher Gerichtsbarkeit, verbunden mit intensiven Kompetenzstreitigkeiten, durchzieht die Gerichtsverfassung des Mittelalters.103 Das war im Herrschaftsbereich der Bischöfe von 99
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Einen ähnlichen, auf »Gericht« bezogenen Gedanken hatte bereits Peter Metz, Zur Deutung der Meißner und Naumburger Skulpturenzyklen des 13. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 9 (1940), 145–174, hier 161, 168–172, entwickelt. Vgl. dazu kritisch Schlesinger, Meissner Dom (Fn. 8), 81 f., 95. Aus der Fülle der Literatur seien hier beispielhaft genannt: Ottmar Fuchs, Das Jüngste Gericht. Hoffnung über den Tod hinaus, 2018; Zlatohlávek/Rätsch/Müller-Ebeling (Fn. 89); Bernhard Lang, Himmel, Hölle, Paradies. Jenseitswelten von der Antike bis heute (= C. H. Beck Wissen 2900), 2019. Vgl. dazu Wolter-von dem Knesebeck, Bildprogramm (Fn. 95). Jerouschek, Geburt und Wiedergeburt 2002 (Fn. 9), 51 Vgl. dazu Peter Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren, 2015; für die kirchliche Gerichtsbarkeit Kéry, Gottesfurcht (Fn. 84); Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 7. Aufl. 2013, 1–79; Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1: Bis 1250, 13. Aufl. 2008, sowie Heiner Lück, Gericht, in: 2HRG 2 (2012), 131–143; ders., Gerichtsherr, ebd., 159–162; ders., Gerichtsverfassung, ebd., 192–219; ders., Hochge-
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Naumburg in Nachbarschaft und Gegnerschaft zu den weltlichen Herrschaftsträgern nicht anders. Auch hierfür ist der Stifterzyklus in Verbindung mit der Ikonographie des Westlettners ein Sinnbild – selbstverständlich ein episkopalparteiliches zugunsten der kirchlichen Gerichtsbarkeit und der Allmacht des göttlichen Jüngsten Gerichts. Folgt man der mittelalterlichen Vorstellung vom Fegefeuer als reinigende Prozedur,104 können auch jene, die sich irdischer Verfehlungen schuldig gemacht haben, nach ihrer »Läuterung« im Glanz strahlenden Himmelslichts – so wie es durch die kunstvoll und farbig gearbeiteten Fenster des Naumburger Westchors auf die Hauptstifter des Naumburger Doms fällt – erscheinen. In dieser Konstellation kommt es dann auch nicht mehr darauf an, für welche konkreten historischen Personen die berühmten Stifterfiguren stehen.105
richtsbarkeit, ebd., 1055–1059, und die dort mitgeteilte Literaturauswahl. Für die mitteldeutschen Gerichtsverfassungsverhältnisse im hohen Mittelalter ist immer noch unverzichtbar: Walter Schlesinger, Zur Gerichtsverfassung des Markengebiets östlich der Saale im Zeitalter der deutschen Ostsiedlung, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 2 (1953), 1–94 (ND in: ders., Mitteldeutsche Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, 1961, 48–132). 104 Deneke (Fn. 90), 330; Zlatohlavék (Fn. 89), 123. 105 Siehe auch Lück, Mittelalterliche Gerichtsverfassung (Fn. 2), 80.
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Vier Kraftzentren zur Erforschung des Hexenhammers
Vor einer Generation entstanden vier Kraftzentren zur Erforschung des Hexenhammers: Eines in der Schweiz um den Sprachwissenschaftler André Schnyder (Universität Bern); ein zweites in Deutschland um den Mediävisten Peter Segl (Universität Bayreuth); ein drittes in Deutschland um Günter Jerouschek (Universität Jena); ein viertes in Kanada um den Altphilologen Christopher S. Mackay (University of Alberta). André Schnyder (geb. 1948, emeritiert 2013) hat seit seinem Eintrag über Heinrich Kramer/Institoris (ca. 1430–1505) im Verfasserlexikon des Mittelalters1 über ca. 25 Jahre in schönen Abständen Aufsätze über den Hexenhammer verfasst. Viele davon befassen sich mit sprachlichen Aspekten, Erzählstrategien, Narrativen,2 aber auch mit der Druck- und Rezeptionsgeschichte.3 Schnyders 1 2
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Schnyder/Worstbrock, Institoris, Heinrich, OP, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 4 (1983), 408 (415). Schnyder, Protokollieren und Erzählen. Episoden des Innsbrucker Hexereiprozesses von 1485 in den dämonologischen Fallbeispielen des ›Malleus maleficarum‹ (1487) von Institoris und Sprenger und in den Prozeßakten, Der Schlern 68 (1994), 695; ders., Der Inquisitor als Geschichtenerzähler. Beobachtungen zur Ausgestaltung des Exemplums im ›Malleus Maleficarum‹ (1487) von Institoris und Sprenger, Fabula 36 (1995), 1; ders., Opus nouum vero partium compilatione … Die Ordnung der Rede über die Hexerei, ihre Autoren und ihre Adressaten im ›Malleus maleficarum‹ von Institoris und Sprenger, MLJ(b) 30 (1995), 99; ders., Formen und Funktionen des Erzählens in einigen dämonologischen Exempla des ›Malleus maleficarum‹ (1487) von Institoris und Sprenger, APraed 66 (1996), 257. Schnyder, Der ›Malleus maleficarum‹. Fragen und Beobachtungen zu seiner Druckgeschichte sowie zur Rezeption bei Bodin, Binsfeld und Delrio, AKG 74 (1992), 323.
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wichtigster Beitrag war eine Kommentierung des Erstdrucks des Hexenhammers, der seiner Meinung nach unter Mitarbeit von Jacob Sprenger verfasst und 1487 veröffentlicht worden ist.4 Der Schwerpunkt seiner Publikationen liegt in den 1990er Jahren. Peter Segl (geb. 1940, 1971 Promotion, 1979 Habilitation in Regensburg, 1982–1984 Professur in Erlangen, 1985–2005 in Bayreuth) hat sich Ende der 1980er Jahre eher kurz, aber substantiell mit dem Hexenhammer beschäftigt. Auf einer Tagung deckte er die hilfswissenschaftlichen Aspekte des Hexenhammers ab, wobei er selbst mit interessanten Beobachtungen zur Persönlichkeit des Autors hervortrat.5 Seit Mitte der 1980er Jahre widmete sich Günter Jerouschek (geb. 1950 in Göppingen, emeritiert 2015) dem Hexenhammer. Seine Doktorarbeit über den sogenannten Nürnberger Hexenhammer, einer Schrift des Heinrich Institoris für den Nürnberger Stadtrat, erschien 1991 als Faksimile mit Transkription, Einleitung und Kommentierung in Druck.6 Ein Jahr später publizierte er seine ebenfalls in Hannover eingereichte Habilitationsschrift über die Hexenprozesse in der Reichsstadt Esslingen.7 Und noch im selben Jahr veröffentlichte er einen Faksimiledruck der Erstausgabe des Malleus Maleficarum,8 wieder mit umfangreicher Einleitung.9 Auf diesen Paukenschlag folgte eine ganze Reihe von flankierenden Aufsätzen, in denen er zum Beispiel die Hexenverfolgungen als Problem 4
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Schnyder, Malleus Maleficarum von Heinrich Institoris (alias Kramer), unter Mithilfe Jakob Sprengers aufgrund der dämonologischen Tradition zusammengestellt. Kommentar zur Wiedergabe des Erstdrucks von 1487 (Hain 9238), 1993. Segl (Hrsg.), Der Hexenhammer. Entstehung und Umfeld des Malleus maleficarum von 1487, 1988; ders., Heinrich Institoris. Persönlichkeit und literarisches Werk, ebd., 103; ders., Malefice … non sunt … heretice nuncupande. Zu Heinrich Kramers Wiederlegung der Ansichten aliorum inquisitorum in diversis regnis hispanie, in: Mordek (Hrsg.), Papsttum, Kirche und Recht im Mittelalter. Festschrift für Horst Fuhrmann zum 65. Geburtstag, 1991, 369. Jerouschek (Hrsg.), »Nürnberger Hexenhammer« von Heinrich Kramer. Faksimile der Handschrift von 1491 mit Transkription des deutschen Textes, Einleitung und Glossar, Diss. 1988, 1991. Jerouschek, Die Hexen und ihr Prozeß. Die Hexenverfolgung in der Reichsstadt Esslingen, 1992. Jerouschek (Hrsg.), Malleus Maleficarum 1487. Von Heinrich Kramer (Institoris). Nachdruck des Erstdrucks von 1487 mit Bulle und Approbatio, 1992. Jerouschek, Einführung: 500 Jahre Hexenhammer. Das Buch, die Frau, der Prozeß. Der Malleus Maleficarum und seine Bedeutung als literarische Grundlage der Hexenverfolgungen zu Beginn der Neuzeit, in: ders. (Hrsg.) Fn. (8), V–XXIX.
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der Rechtsgeschichte charakterisiert.10 Außer der Geschichte des Strafrechts beschäftigten Jerouschek auch immer psychologische, respektive psychoanalytische Aspekte des Heinrich Institoris sowie der Hexenverfolgungen.11 Der Schwerpunkt seiner Publikationen zum Hexenthema hätte vermutlich ebenfalls in den 1990er Jahren gelegen, wäre nicht ein gewisser Wolfgang Behringer (geb. 1956, promoviert 1985 in München, habilitiert 1997 in Bonn, Professur 1999 in York, 2003 in Saarbrücken, pensioniert 2022) an ihn herangetreten mit dem Vorschlag, den Malleus Maleficarum ins Deutsche zu übersetzen. Und das kam so: Wegen der fehlerhaften Übersetzung, die der spätere Indologe Johann Wilhelm Richard Schmidt (1866–1939) während seiner Studentenzeit angefertigt hatte, und die seit 1906 immer wieder nachgedruckt wurde, gebunden bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft und zuletzt sogar als Taschenbuch bei dtv,12 habe ich meinen dortigen Lektor Walter Kumpmann (1930–2018)13 angerufen und mich darüber beschwert. Das dtv-Lektorat unter seiner Nachfolgerin Marie Schedl-Jokl versprach, die alte Übersetzung aus dem Programm zu nehmen, sobald sie eine bessere bekämen. Ob ich nicht diese neue Übersetzung anfertigen könnte? Da ich damals an meiner Habilitationsschrift arbeitete, konnte ich mir das kaum vorstellen. Die Gelegenheit war aber zu verlockend, um sie verstreichen zu lassen. Deswegen wandte ich mich an Günter Jerouschek, den ich von Tagungen des AKIH, des Arbeitskreises Interdisziplinärer Hexenforschung und von Historikertagen kannte. Mit seinen wechselnden Halstüchern als Krawattenersatz war er damals schon – auch ohne seine gewichtigen Wortbeiträge – nicht zu übersehen. Wir wurden uns rasch einig und Günter, der mit seinem gerade 1997 ange10
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Jerouschek, Die Hexenverfolgungen als Problem der Rechtsgeschichte. Anmerkungen zu neueren Veröffentlichungen aus dem Bereich der Hexenforschung, ZNR 15 (1993), 202; ders., Friedrich Spee als Justizkritiker, ZStW 108 (1996), 243; ders., Forschungsbericht Hexenverfolgungen, ZStW 111 (1999), 504. Jerouschek, Hexenangst und Hexenverfolgungen. Zu Traumatisierung und Kriminalisierung in der Frühen Neuzeit, Jb. Psychoanal. 19 (2000), 79; ders., Heinrich Kramer – Zur Psychologie des Hexenjägers. Überlegungen zur Herkunft des Messers, mit dem der Mord begangen wurde, in: Mensching (Hrsg.), Gewalt und ihre Legitimation im Mittelalter, 2003, 113; ders., Kramer (Institoris), Heinrich (ca. 1430–1505), in: Golden (Hrsg.), Encyclopedia of Witchcraft. The Western Tradition, 4 vols., 2006, Bd. 3 (2006), 612. Der Hexenhammer. Aus dem Lat. v. J. W. R. Schmidt, Berlin/Leipzig 1906; Berlin/Leipzig 1923; Wien/Leipzig 1937/38; Darmstadt 1969; München 1982. Benz, Nachruf auf Walter Kumpmann, BuchMarkt. Das Ideenmagazin für den Buchhandel, 8.3.2018 (online).
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tretenen neuen Lehrstuhl in Jena gut ausgelastet war, hatte die rettende Idee, für die Rohübersetzung einen versierten Mittellateiner zu engagieren. Diesen fanden wir in Werner Tschacher, der gerade in Aachen seine Doktorarbeit über den Formicarius des Johannes Nider fertiggestellt hatte.14 Über ein – wenn ich mich recht erinnere – DFG-Projekt in den Jahren 1997–1998 finanziert, übersetzte Tschacher munter drauflos und schrieb nebenher ein paar eigene Aufsätze.15 Die Übersetzungen wurden jeweils von Günter und mir korrigiert und die korrigierten Versionen auf Redaktionskonferenzen in Jena und München, wo ich damals den Frühneuzeitlehrstuhl vertreten konnte, in einem erstaunlich reibungslosen Verfahren durchdiskutiert. Gleichzeitig schrieben wir an der immerhin 90 Seiten langen Einleitung und dem 70 Seiten langen Anhang16 sowie natürlich der Kommentierung mit dem Nachweis der Exempel in anderen Quellen, in immerhin 499 Anmerkungen, bei denen die Vorarbeiten von Schnyder, Segl und natürlich Jerouschek gute Dienste leisteten. Als im Herbst 1999 die Druckfahnen vom Verlag kamen, waren immerhin 864 Seiten Korrektur zu lesen. Ich hatte inzwischen meinen ersten Lehrstuhl an der University of York angetreten und musste die Korrekturen oft in die Nacht verlegen. Ich habe sie manchmal sogar mit ins Bett genommen, nicht zur Freude meiner Frau, die sich an dem Papiergeraschel störte. Aber immerhin hat die Ehe bis heute gehalten. Als das Buch im Jahr 2000 endlich herauskam, war unsere Erleichterung groß. Der dtv-Verlag nahm die alte Übersetzung aus dem Programm und setzte unsere neue an die Stelle. Von Rezensenten wie Gerhard Köbler in der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte wurde die Publikation sehr positiv aufgenommen.17 Sie wurde ein voller Erfolg, hat im Jahr 2020 die 13. Auflage erlebt 14
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Tschacher, Der Formicarius des Johannes Nider von 1437/38. Studien zu den Anfängen der europäischen Hexenverfolgungen im Mittelalter, Diss. phil. 1998; ders., Der Formicarius des Johannes Nider von 1437/38. Studien zu den Anfängen der europäischen Hexenverfolgungen im Mittelalter, 2000. Tschacher, Der Flug durch die Luft zwischen Illusionstheorie und Realitätsbeweis. Studien zum Canon Episcopi und zum Hexenflug, ZRG, Kanonistische Abteilung, 116 (1999), 225; ders., Vom Feindbild zur Verschwörungstheorie: Das Hexenstereotyp, in: Caumanns/Niendorf (Hrsg.), Verschwörungstheorien. Anthropologische Konstanten – historische Varianten, 2001, 49. Behringer/Jerouschek, »Das unheilvollste Buch der Weltliteratur«? Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Malleus Maleficarum und den Anfängen der Hexenverfolgung, in: Jerouschek/Behringer (Hrsg.), Heinrich Kramer (Institoris), Der Hexenhammer. Malleus maleficarum. Neu aus dem Lateinischen übertragen von Wolfgang Behringer, Günter Jerouschek und Werner Tschacher, 2000, 9–98; Anhang 796–864. Köbler, ZRG, Germanistische Abteilung 119 (2002), 594.
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und verkauft sich weiterhin gut, obwohl bereits die revidierte dritte Auflage in die Digitale Bibliothek aufgenommen worden war und auch die Digitaledition drei Auflagen in zwei Jahren erlebt hat.18 Im Jahr 2014 wurde unsere Edition mit Vorwort und Anhang komplett ins Finnische übersetzt und in Estland gedruckt.19 Unsere Hexenhammer-Übersetzung ist nicht nur mit 17 Ausgaben unser jeweils erfolgreichstes Buch, sondern kann auch als Prüfstein dafür benutzt werden, ob jemand zwischen Übersetzern, Herausgebern und Kommentatoren unterscheiden kann: Zwei Herausgeber, drei Übersetzer und zwei Verfasser des Vorworts, diese Komplexität hat viele Bibliographen überfordert. Für Proseminarübungen oder -prüfungen sehr zu empfehlen! Unter denen, die an höherer Mathematik und Mengenlehre gescheitert sind, möchte ich nur den Altphilologen Christopher S. Mackay erwähnen,20 dem wir uns jetzt zuwenden wollen. Christopher S. Mackay (PhD 1994 in Classical Philology, seit 1996 an der University of Alberta in Edmonton, seit 2008 Full Professor), ein Spezialist für Altgriechisch und Latein, der nach eigenen Angaben in seiner Freizeit nichtindoeuropäische Sprachen lernt und zu viele Katzen hat,21 kam 2006 mit einer zweibändigen Neuübersetzung des Hexenhammers ins Englische auf den Markt,22 verbunden mit einer 170 Seiten langen Einleitung.23 Damit ersetzte er die Übersetzung des vermeintlichen Reverend Montague Summers (1880–1948) aus den 1920er Jahren, der fest von der realen Existenz der Hexen ausgegangen war.24 Drei Jahre nach der zweisprachigen und zweibändigen Ausgabe Mackays wurde die Übersetzung unter dem populäreren Titel Hammer of Witches extra gedruckt.25 Seitdem hat Mackay noch 16 Dokumente betreffend die Hexenverfolgungen des Heinrich Institoris in Ravensburg und Innsbruck publiziert, wieder in 18 19
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Digitale Bibliothek Nr. 93, CD-ROM: Hexen. Analysen, Quellen, Dokumente. Directmedia Publishing Gmbh, 2003; 2. Aufl. 2003; 3. Aufl., Neuausgabe 2004. Kramer (Hrsg.), Malleus Maleficarum Noitavasara. Saksankielonen painos: Wolfgang Behringer & Günter Jerouschek & Werner Tschacher, 2014; Behringer/Jerouschek, »Maailmankirjallisuuden Turmiollisin Kirja«? Malleus Maleficarumin synty – ja Vaikutushistoriasta ja Noitavainon Alkutekijöistä, in: Kramer (Hrsg.) (Fn. 19), 368. Institoris/Sprenger, Malleus maleficarum, Hrsg.: Mackay, 2 Bde., Volume I: The Latin Text and Introduction; Volume II: The English Translation, 2006, 2. Aufl. 2011, Bd. 1, 184. Mackay, Homepage an der University of Alberta, Edmonton, Canada. Institoris/Sprenger (Fn. 20). Mackay, General Introduction, in: Mackay (Hrsg.), Malleus maleficarum, Vol. 1, 2006, 1. Malleus maleficarum, English by Montague Summers, 1928; 1948. Mackay, Hammer of Witches, 2009.
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einem Band die Originale, im zweiten Band aus dem Deutschen und Lateinischen ins Englische übersetzt.26 Diese Dokumente waren der Forschung durch Editionen Schnyders und Jerouscheks, des Brixener Bistumsarchivars Hartmann Ammann (1856–1930) und des württembergischen Oberarchivars Karl-Otto Müller (1884–1960), des Ravensburger Archivars Andreas Schmauder und des Historikers Andreas Blauert bekannt und sind großenteils ediert,27 konnten aber einem englischsprachigen Publikum ohne Fremdsprachenkenntnisse als neu verkauft werden. Wie André Schnyder in einer Buchbesprechung festhielt, ist Mackeys Edition in doppelter Weise hilfreich: Sie bietet mit der Auflösung von Kürzeln den lateinischen Text in einer modernen Druckfassung und darüber hinaus eine verlässliche Übersetzung ins Englische, ähnlich wie – laut Schnyder – unsere ins Deutsche. Darüber hinaus gelingt Mackay eine weit ausholende Einordnung des Hexenhammers für englische Leser, unter anderem auch in die scholastische Theologie, also den intellectual background.28 Dagegen fehlt die Untersuchung der zeitgenössischen Exempel, mit deren Nachweis wir uns viel Mühe gegeben haben, und – wie Schnyder etwas krätzig anmerkt – es fehlt auch die gründliche Aufarbeitung der nichtenglischen Sekundärliteratur.29 26
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Mackay, »An unusual Inquisition«. Translated Documents from Henricus Institoris’s Witch Hunts in Ravensburg and Innsbruck (= Studies in Central European Histories vol. 67), 2020; ders., Est Insolitum Inquirere Taliter. Latin and German Documents from Heinrich Institoris’s Witch Hunts in Ravensburg and Innsbruck (= Studies in Central European Histories vol. 68), 2020. Hartmann Ammann, Der Innsbrucker Hexenprozeß von 1485, Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg 34 (1890), 1; Müller, Heinrich Institoris, der Verfasser des Hexenhammers und seine Tätigkeit als Hexeninquisitors in Ravensburg im Herbst 1484, ZWLG NF 19 (1910), 397; Hartmann Ammann, Eine Vorarbeit des Heinrich Institoris für den Malleus Maleficarum, MIÖG 8 (1911), 461; ders., Die Hexenprozesse im Fürstentum Brixen, in: Forschungen und Mitteilungen zur Geschichte Tirols und Vorarlbergs 11 (1914), 9–18, 75–86, 114–116, 227–248; Blauert, Das Urfehdewesen im deutschen Südwesten im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, 2000; Schmauder, Frühe Hexenverfolgungen in Ravensburg. Rahmenbedingungen, Chronologie und Netzwerk der Personen, in: ders. (Hrsg.), Frühe Hexenverfolgung in Ravensburg und am Bodensee, 2001, 29; Blauert, Die Ravensberger Urfehden als Zeugnisse der Ravensburger Hexenverfolgungen, in: Schmauder (Hrsg.), Frühe Hexenverfolgung in Ravensburg und am Bodensee, 2001, 65. Mackay, in: Mackay (Hrsg.) (Fn. 23), 14–62. Schnyder, Rezension zu Mackay (Hrsg., Übersetzer), Malleus maleficarum, 2006, Fabula 49 (2008), 166.
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Mackay hält Jacob Sprenger (1435–1498) für den Autor des Malleus Maleficarum. Wie und wo Sprenger an dem Buch mitgearbeitet haben könnte, kann er aber nicht sagen,30 wie Johannes Dillinger in seiner Rezension in den Sehepunkten festhält.31 Die einschlägigen Quellen, etwa das Rechnungsbuch des Speyrer Druckers Peter Drach (1455–1504)32 oder die Notiz des Servatius Fanckel (ca. 1450–1508), Nachfolger Sprengers als Prior des Kölner Dominikanerklosters,33 kennt Mackay nur in den Zusammenfassungen Schnyders, dessen Ansichten er regelmäßig folgt.34 Bezeichnenderweise nennt Mackay Fanckel durchgängig »Fackel«, den Buchdrucker Drach kennt er unter dem Namen »Druck«.35 Unabhängig von solchen Freud’schen Fehlleistungen, die für die meisten englischen Leser unerheblich sind, ist der internationale Impact von Mackays Werken groß und zeichnet sich durch die übliche Selbstreferentialität der englischsprachigen Literatur aus.36 In seiner Rezension hob H. C. Erik Midelfort hervor, es sei ein wenig schräg, dass Mackay immer noch an der Autorschaft von Jacob Sprenger festhalte, obwohl Behringer und Jerouschek genügend Argumente dagegen vorgebracht hätten.37 In meiner Rezension der beiden Nachfolgebände Mackays für die Zeitschrift für historische Forschung (ZHF) werde ich darauf hinweisen, dass er sich die Forschungsergebnisse Anderer kommentarlos und ohne Herkunftsnachweis an30 31 32
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Mackay, in: Mackay (Hrsg.) (Fn. 23), 103–121. Dillinger, Rezension zu Mackay (Hrsg., Übersetzer), Malleus Maleficarum, Sehepunkte 9 (2009), 15.9.2009 (online). Geldner, Das Rechnungsbuch des Speyrer Druckherrn, Verlegers und Großbuchhändlers Peter Drach. Mit Einleitung, Erläuterungen und Identifitzierungslisten, bbb 18 (1962), 885; Nachdruck: AGB 5 (1964), 1. Klose, Die angebliche Mitarbeit des Dominikaners Jacob Sprenger am Hexenhammer nach einem alten Abdinghofer Brief, in: Scheele (Hrsg.), Paderbornensis Ecclesia. Beiträge zur Geschichte des Erzbistums Paderborn. Festschrift für Lorenz Kardinal Jäger zum 80. Geburtstag, 1972, 197; Friederich (Hrsg.), Servatius Fanckel, in: Persönlichkeiten des Kreises Cochem-Zell, 2004, 78. Mackay, in: Mackay (Hrsg.) (Fn. 23), 111–114. Mackay, in: Mackay (Hrsg.) (Fn. 23), 3, 111. Wilson, The Text and Context of the Malleus Maleficarum (1487), Diss. phil. 1990; ders., Institoris at Innsbruck: Heinrich Institoris, the Summis Desiderantes and the Brixen Witch-Trial of 1485, in: Scribner/Johnson (Hrsg.), Popular Religion in Germany and Central Europe, 1400–1800, 1996, 87; Broedel, The Malleus Maleficarum and the Construction of Witchcraft. Theology and Popular Belief, 2003. Midelfort, The Hammer of Witches: A Complete Translation of the »Malleus Maleficarum« by Christopher Mackay, in: The Catholic Historical Review 97 (2011), 99.
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eignet und nur deren vermeintliche Fehler ausgiebig kommentiert. Im Vorwort gibt er diese Praxis offen zu: »First, let me make it clear that while A. Schnyder and the annotators W. Behringer and G. Jerouschek … are cited mostly to indicate my disagreement on specific points, I have greatly benefited from their work (…), a fact that may be obscured in my comments, since there is no particular reason to mention agreement.«38
Mit anderen Worten: Mackay glänzt im Lichte der Ergebnisse Anderer, die er geklaut hat, und wirft ihnen dafür vermeintliche Fehler vor, um noch besser dazustehen!
II Neues zum Hexenhammer Die bisher aufgezählten Fortschritte in der Erforschung des Hexenhammers wurzeln in den 1990er Jahren. Das Forschungsfeld hat sich jedoch innerhalb einer Generation erheblich verändert. Philologische Einzelkämpfer wie Schnyder und Segl spielen keine Rolle mehr. An die Stelle der älteren Kraftzentren sind sieben Forschergruppen getreten, von denen heute die Impulse ausgehen. 1. Zum einen sehe ich eine Gruppe um den AKIH, zu der mit Günter Jerouschek, Wolfgang Behringer und Werner Tschacher Forscher wie Andreas Blauert, Hans de Waardt, Johannes Dillinger und Rita Voltmer gehören. Der leider früh verstorbene Sönke Lorenz, Gründer des AKIH, hat durch einen Zufallsfund Verbindungen des Heinrich Institoris zu dem Johanniterkomtur Rudolf von Baden in Überlingen gefunden, die auf bisher unbekannte Hexenprozesse in den Gebieten der Grafen von Waldburg schließen lassen.39 Andreas Blauerts und Andreas Schmauders Lektüre der Urfehden und ihr Abgleich mit städtischen Quellen haben die Bedeutung der Ravensburger Hexenprozesse für diese Reichsstadt unerwartet plastisch vor Augen ge38 39
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Mackay, in: Mackay (Hrsg.) (Fn. 23), viii (Acknowledgments). Lorenz, Der Inquisitor Heinrich Institoris und der Johanniter-Komtur Rudolf von Baden: zwei Hexenjäger am Oberrhein, in: Lorenz/Zotz (Hrsg.), Spätmittelalter am Oberrhein. Alltag, Handwerk und Handel 1350–1525 (Ausstellung Βadisches Landesmuseum Karlsruhe, 29.9.2001–3.2.2002). Aufsatzband, 2001, 593.
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führt.40 Jerouschek und Tschacher haben sich Gedanken über die juristische Relevanz des Malleus gemacht.41 In Verbindung mit dem AKIH hat sich eine Gruppe von Forschern in Österreich gebildet, die sich mit dem Kontext der Innsbrucker Hexenverfolgung beschäftigt hat. Manfred Tschaikner konnte 2014 mit neuen Quellenfunden – Briefe, Geleitbriefe, Ablassschreiben, autobiografische Aufzeichnungen – zeigen, welch zentrale Rolle die Landespolitik in den Vorgängen um den Inquisitor spielte, auch wie sehr der kränkliche Bischof von Brixen anfangs von der Person des Inquisitors eingenommen war. Tschaikner mischt die ganze Szenerie gründlich durch, bringt sie regelrecht zum Tanzen, und man spürt: da ist noch Musik drin! Ganz nebenbei zeigt er, welche falschen Annahmen zu welchen haltlosen Spekulationen geführt haben, unter anderem bei dem mit dem historischen Kontext unvertrauten André Schnyder.42 Wir müssen die Geschichte der Innsbrucker Hexenverfolgung demnach heute ganz anders erzählen. Ähnlich sieht es mit den Forschungen einer tschechischen Gruppe aus, die die bisher wenig bekannte letzte Lebensphase des Heinrich Institoris untersucht. Der Prager Rechtshistoriker Petr Kreuz hat kürzlich die Ergebnisse zum Wirken des Inquisitors in Böhmen und Mähren in vorbildlicher Weise zusammengefasst und hervorgehoben, dass er sich dort hauptsächlich mit der Häresie der Hussiten beschäftigte, die er als Waldenser bezeichnete. Der Inquisitor hatte in Tschechien – wie in Italien – Anhänger, doch mehrere Stimmen zeichnen ihn auch dort als geistesgestörten Fanatiker.43 Daneben ist eine Westschweizer Gruppe um Martine Ostorero und Georg Modestin entstanden, die sich von ihrer Edition der frühesten Texte der Schmauder, in: Schmauder (Hrsg.) (Fn. 27), 29; Blauert, in: Schmauder (Hrsg.) (Fn. 27), 65. Jerouschek, Für und wider die Hexenverfolgung: Zu Heinrich Kramers Malleus Maleficarum und Friedrich Spees Cautio Criminalis, in: Kippenberg/Rüpke/v. Stuckrad (Hrsg.), Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, Bd. 1, 2009, 253; Tschacher, Der »Malleus Maleficarum« (1486) des Heinrich Kramer als Vorlage für die Hexereibestimmungen im »Laienspiegel«, in: Deutsch (Hrsg.), Ulrich Tenglers Laienspiegel. Ein Rechtsbuch zwischen Humanismus und Hexenwahn, 2011, 327. Tschaikner, Hexen in Innsbruck? Erzherzog Sigmund, Bischof Georg Golser und der Inquisitor Heinrich Kramer (1484–1486), Der Schlern 88 (2014), 84; Exenberger (Hrsg.), Ein Fels in der Brandung? Bischof Golser und der Innsbrucker Hexenprozess von 1485, 2015. Kreuz, Heinrich Kramer/Institoris and the Czech Lands. With a Special Focus on the Activities of Institoris in Olomouc in 1499–1505, e-Rhizome 1 (2019), 23.
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Hexendämonologie allmählich an den Hexenhammer herantastet und inzwischen in den 1460er Jahren angekommen ist.44 Fünftens sehe ich eine italienische Gruppe, die den Verfasser des Hexenhammers in die Inquisitionsforschung einbettet und dessen Kontakte und Rezeption bzw. Nichtrezeption auf der italienischen Halbinsel untersucht. Auf deren Ergebnisse möchte ich gesondert eingehen. Sechstens hat sich eine kanadische Gruppe von Forschern um Andrew Colin Gow gebildet, die unabhängig von Mackay, ausgehend von Quellenfunden in kanadischen Bibliotheken, ähnlich wie die Schweizer, das Vorfeld des Hexenhammers ausleuchtet.45 Und siebtens könnte man eine informelle Gruppe von US-Forschern sehen, die in Anschluss an den immer noch aktiven Richard Kieckhefer46 mit frühen Quellen arbeitet, wie Walter Stephens47 und Bernard Bailey, der mit einer gelungenen Monographie über den Formicarius hervortrat, zahlreiche Aufsätze publizierte und zuletzt die frühen Hexentraktate ins Englische übersetzte.48 Speziell zum Hexenhammer kommen von ihnen aber noch kaum Publikationen.49 Ostorero/Modestin/Utz Tremp (Hrsg.), Chasses aux sorcières et demonologie. Entre discours et pratiques (XIVe-XVIIe siècles), 2010; Ostorero, Le Diable au Sabbat. Littérature démonologique et sorcellerie (1440–1460), 2011; Mercier/Ostorero, L’énigme de la Vauderie de Lyon. Enquète sur l’essor de la chasse aux sorcières entre France et Empire (1430–1480), 2015; Ostorero, The Rise of the Witchcraft Doctrine, in: Dillinger (Hrsg.), The Routledge History of Witchcraft, 2020, 61. Gow/Desjardins/Pageau (Hrsg.), The Arras Witch Treatises. Johannes Tinctor’s invectives contre la secte de vauderie and the Recollectio casus, status et condicionis Valdensium ydolatrarum by the Anonymous of Arras (1460) (Magic in History Sourcebook Series), 2016. Kieckhefer, European Witch-Trials. Their Foundation in Popular and Learned Culture, 1300–1500, 1976; ders., The Office of Inquisition and Medieval Heresy: The Transition from Personal to Institutional Jurisdiction, Journal of Ecclesastical History 46 (1995), 36; ders., The First Wave of Trials for Diabolical Witchcraft, in: Levack (Hrsg.), The Oxford Handbook of Witchcraft in Early Modern Europe and Colonial America, 2013, 159. Stephens, Demon Lovers. Witchcraft, Sex and the Crisis of Belief, 2002. Bailey, Battling Demons. Witchcraft, Heresy, and Reform in the Late Middle Ages, 2003; Bailey (Hrsg.), Origins of the Witches’ Sabbath (Magic in History Sourcebook Series), 2021. Ausnahme: Kieckhefer, Magic at Innsbruck: The Case of 1485 Reexamined, in: Wünsch (Hrsg.), Religion und Magie in Ostmitteleuropa. Spielräume theologischer Normierungsprozesse in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, 2006, 11.
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Andere Forschergruppen zum Hexenthema, etwa die in Ungarn, Skandinavien, Schottland und Spanien, beschäftigen sich – soweit mir bekannt – bislang kaum mit dem Hexenhammer und können hier unberücksichtigt bleiben. Über die großen Verlagsunternehmen und die in den letzten 20 Jahren veröffentlichten Enzyklopädien und Handbücher zum Hexenthema möchte ich nur kurz anmerken, dass sie sich aus dem angegebenen Autorenpool speisten. In der großen vierbändigen kalifornischen Encyclopedia of Witchcraft Richard Goldens (2006) hat Günter Jerouschek den Artikel über Kramer/Institoris geschrieben,50 ich den über den Malleus Maleficarum.51 Der Eintrag in Levacks Oxford Handbook of Witchcraft (2013) wurde Hans-Peter Broedel übertragen, der die Hexenhammer-Übersetzungen ins Deutsche und ins Englische heranzieht und einen guten Überblick über den Forschungsstand gibt, aber sich in strittigen Fragen nicht gerne entscheiden möchte oder auf Mackay vertraut.52 In Johannes Dillingers Routledge History of Witchcraft (2020) spielt der Hexenhammer originellerweise gar keine Rolle, weil der Artikel The Rise of the Witchcraft Doctrine Martine Ostorero übertragen wurde, die – wie schon erwähnt – noch in den 1460er Jahren feststeckt.53
III Die Erforschung der Inquisition in Italien Am interessantesten erscheint mir von allen neuen Gruppen die Inquisitionsforschung. Der italienische Historiker Michael Tavuzzi (päpstl. Uni Rom), dem wir eine bahnbrechende Studie über die Inquisition in Italien vor Einführung der Römischen Inquisition verdanken,54 hat sich auch mit Inquisitoren beschäftigt, die wie Silvester Mazzolini de Priero (1456–1527), der Gegner Luthers, vom Hexenhammer beeinflusst waren55 oder wie Lorenzo Soleri da Sant’ Agata (gest. ca. 1510) im Hexenhammer als Autoritäten zitiert werden: Er ist der berühmte 50 51 52 53 54 55
Jerouschek, Kramer (Institoris), Heinrich (ca. 1430–1505), in: Golden (Hrsg.) (Fn 11), 612. Behringer, Golser, George (ca. 1420–1489), The Encyclopedia of Witchcraft, 2006, Bd. 2, 451; Behringer, Malleus Maleficarum, The Encyclopedia of Witchcraft, 2006, Bd. 3, 717. Broedel, Fifteenth Century Witch Beliefs, in: Levack (Hrsg.), The Oxford Handbook of Witchcraft in Early Modern Europe and Colonial America, 2013, 32. Ostorero, in: Dillinger (Hrsg.) (Fn. 44), 61. Tavuzzi, Renaissance Inquisitors. Dominican Inquisitors and Inquisitorial Districts in Northern Italy, 1474–1527, 2007. Tavuzzi, Prierias. The Life and Work of Silvestro Mazzolini de Prierio (1456–1527), 1997.
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Inquisitor Cumanus, dessen Verfolgungen im Veltlin von Heinrich Institoris als Vorbild angesehen wurden.56 Im Ergebnis bestätigt sich das Bild von schweren Hexenverfolgungen in den italienischen Alpentälern, doch andererseits zeigt sich, dass der mainstream der dominikanischen und franziskanischen Inquisition nicht diesen Beispielen folgte. Der Hexenhammer blieb, von Einzelfällen wie Prierias und Gianfrancesco Pico della Mirandola abgesehen, ohne Wirkung. Selbst in den Bibliotheken von Zentren der Inquisition, wie dem Dominikanerkloster von Mailand, sind laut zeitgenössischen Katalogen keine Exemplare des Buchs vorhanden gewesen. In einem interessanten Tagungsband zur dominikanischen Inquisition gibt der Dominikaner Walter Senner OP neue Aufschlüsse über einzelne Karriereschritte des Heinrich Institoris. Er ist der Ansicht, dass eine Zusammenarbeit von Sprenger und Institoris unglaubhaft sei, weil der eine dem observanten, der andere dem konventualen Flügel des Ordens angehörte, die sich gegenseitig hassten oder aus dem Weg gingen.57 Besonders hervorzuheben sind die Forschungen der israelischen Historikerin Tamar Herzig, die ein Schlaglicht auf das Verhältnis des Kramer/Institoris zu den Frauen werfen. Günter Jerouschek hat ja zu Recht dessen antifeministischen Ausfälle hervorgehoben und auf die Unzahl von Abschlussarbeiten, die das immer wieder neu nachweisen, möchte ich gar nicht eingehen. Jetzt zeigt sich aber, dass er nicht nur Maria und die biblischen Königinnen, sondern auch lebende Angehörige des weiblichen Zweiges des Dominikanerordens aktiv unterstützte.58 Auch pflegte er näheren Kontakt zu einigen italienischen Inquisitoren in seinem Orden, weniger in den Alpentälern, als in Mittelitalien.59 56
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Tavuzzi, Lorenzo Soleri da Sant’ Agata OP (ob. ca. 1510). The »Inquisitor Cumanus” of the Malleus Maleficarum, in: Hoyer (Hrsg.), Praedicatores, Inquisitores, I: The Dominicans and the Medieval Inquisition (= Acts of the 1st International Seminar on the Dominicans and the Inquisition, 23.–25.2.2002, 2004, I, 407. Senner, How Henricus Institoris became Inquisitor for Germany: The Origin of Summis Desiderantes affectibus, in: Hoyer (Hrsg.) (Fn. 56), 395. Herzig, Witches, Saints, and Heretics: Heinrich Kramer’s Ties with Italian Women Mystics, Magic, Ritual and Witchcraft 1 (2006), 55; dies., Christ Transformed into a Virgin Woman. Lucia Brocadelli, Heinrich Institoris and the Defense of the Faith, 2013. Herzig, Cagnazzo, Giovanni of Taggia (or Tabia) (ca. 1450–ca. 1520), in: Golden (Hrsg.), Encyclopedia of Witchcraft Bd. 1 (2006), 158; Herzig, Heinrich Kramer e la caccia alle streghe in Italia, in: Corsi/Duni (Hrsg.), »Non lasciar vivere le malefica«. Le streghe nei trattati e nei processi (secoli XIV–XVII), 2008, 167; Herzig, Witchcraft prosecutions in Italy, in: Levack (Hrsg.), The Oxford Handbook of Witchcraft in Early Modern Europe and Colonial America, 2013, 249.
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IV Vom Sammelsurium zum Narrensaum Jenseits der genannten Forschergruppen ist das übliche Sammelsurium an Aufsätzen und Abschlussarbeiten entstanden, die das anhaltende Interesse am Hexenhammer bezeugen, wie vier große Aktenordner an Publikationen zeigen, die ich von meinen Mitarbeitern für den Zeitraum der vergangenen 20 Jahre für die Vorbereitung auf dieses Symposium habe zusammenstellen lassen. Rief der Hexenhammer zu einem Krieg gegen Frauen auf ? Nicht selten werden Fragen gestellt, die schon mehrmals beantwortet worden sind oder die auf der Basis der gedruckten Literatur nicht zu beantworten sind, weil man dazu tiefer in die Materie eindringen muss.60 Daneben ist ein neuer Narrensaum an Autoren entstanden, der mit anachronistischen Kategorien an eine Interpretation des Hexenhammers herangeht. Dass mehrere hundert Jahre vor Verkündung der Menschrechte dieselben verletzt worden seien, kann nicht überraschen. Ob uns Kategorien wie Femizid bei der Interpretation weiterhelfen, wie der Soziologe Luis Alfonso Fajardo Sánchez vorschlägt,61 erscheint mir zweifelhaft. Der nächste Schritt könnte sein, den ökologischen Fußabdruck und die Klimawirksamkeit von Hexenverbrennungen zu bestimmen und dem neuen Erdzeitalter des Anthropozäns zuzurechnen. Das Phänomen der Filterblase gibt es nicht nur in illegalen Internet-Chatrooms, sondern auch bei sozial- und literaturwissenschaftlichen Doktorarbeiten, die sich gegenseitig in ihren Spekulationen hochschaukeln. Mein Tipp: Wenn eine Arbeit damit anfängt, dass Jacob Sprenger 1487 den Hexenhammer geschrieben habe, dann ist Vorsicht geboten, denn sie steht mit der historischen Forschung auf Kriegsfuß.
V Fazit Mit den Erkenntnissen der Westschweizer, der österreichischen, der italienischen, der tschechischen und der nordamerikanischen Forschungen gewinnt unser Bild des Hexenhammers an Tiefenschärfe und Facettenreichtum. Insbesondere die italienische und die tschechische Seite des Heinrich Institoris waren unterbelichtet 60 61
Stringer, A War on Women? The Malleus maleficarum and the Witch-Hunts in Early Modern Europe, 2015. Sánchez, Del Malleus maleficarum a los Feminicidos Actuales, Onati Socio-legal Series 5 (2015), 472.
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und gewinnen nun an Konturen. Dies zeigt, dass man mit simplem Quellenstudium in den Archiven noch einiges bewegen kann. Stuart Clarks Eindruck, der Hexenhammer sei overstudied, kann ich daher nicht teilen. Ein Desiderat der Forschung scheint mir immer noch in der Ausleuchtung der psychologischen, philosophischen und theologischen Dimensionen des Hexenhammers zu bestehen. Dabei denke ich weniger an die Psychoanalyse. Wie Günter Jerouschek ganz richtig angemerkt hat, wissen wir nichts über Kindheit und Jugend des Inquisitors, und deswegen kann ich auch nicht nachvollziehen, dass man dann umso mehr über die Folgen dieser Entwicklung, die wir nicht kennen, schreiben kann.62 Ich denke eher an die Implikationen der vollentwickelten Dämonologie für die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Der Autor des Hexenhammers konnte, wenn er seine eigenen Prämissen weiterdachte, nie sicher sein, ob die Menschen, unter denen er sich bewegte, nicht in Wirklichkeit Dämonen waren. Und dasselbe galt für alle Lebewesen, auch Tiere, und sogar für alle Gegenstände. Der Dämon konnte sich auch in Tisch und Stuhl verwandeln, konnte Sichtbares unsichtbar machen und die Sinne durch Illusionen täuschen. Von diesen Prämissen aus ergibt sich eine völlig neue Psychopathologie des Alltagslebens, vielleicht eine, die dem Wahnsinn durchaus nahekommt. Oder einige Spekulationen der Postmoderne vorweggenommen hat.
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Jerouschek, in: Mensching (Hrsg.) (Fn. 11), 113.
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Neue Perspektiven der Hexenforschung? Andreas Blauert
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Einführung
Es ist das Fragezeichen am Ende des Titels meines kleinen Vortrags, das mich vor allem beschäftigt: Gibt es Perspektiven der Hexenforschung, die uns in unserem Bemühen unterstützen, die ganze Tragik der Geschichte der europäischen Hexenverfolgungen, die sie für ihre Opfer bedeutet hat, und die Sogwirkung des gelehrten Hexenwahns für die, die in seinem Namen als Verfolgende handelten, mit einem gewissen Perspektivwechsel zu betrachten? Lassen Sie es mich so formulieren: Wir können uns nicht damit zufriedengeben, uns in das gleichsam geschlossene System des Hexenglaubens zu begeben und, was nicht wenig ist, zu fragen, wie es »funktioniert«. Wir müssen uns immer wieder in eine kritische Distanz dazu begeben und uns von außerhalb, und das heißt auch von heute aus, um ein Verständnis, eine Bewertung und ein Urteil des historischen Geschehens aus der Perspektive der Opfer und mit Blick auf die Täter bemühen. Ich werde im Folgenden in diesem Zusammenhang weniger versuchen, gleichsam in einer Binnenperspektive, die großen Fortschritte der Hexenforschung der letzten, sagen wir, fünf Jahrzehnte hier Revue passieren zu lassen, und vorrangig dort nach Antworten auf meine Fragen suchen. Die gewonnenen Erkenntnisse sind zahlreich und wahrlich beeindruckend. Dafür genügt schon ein Blick auf die Themen der Tagungen des Arbeitskreises »interdisziplinäre Hexenforschung« in Stuttgart-Hohenheim und in Weingarten sowie seine Veröffentlichungen.1 1
Einen Überblick bietet die Homepage von Wolfgang Behringer, einem der bekanntesten und führenden Köpfe der Hexenforschung in Deutschland mit breiter internationaler Vernetzung: https://www.uni-saarland.de/lehrstuhl/behringer.html (letzter Zugriff: 1.11.2022).
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Zumal ich keine neue Methode und keine neue Theorie der Hexenforschung fordere. Geschweige denn, eine solche neue Theorie anbieten könnte. Ich möchte meinen Blick stattdessen auf einige Phänomene richten, die uns im 20. und 21. Jahrhundert auf das Schmerzhafteste damit vertraut gemacht haben, dass Ideologien so wirkungsmächtig werden können, dass sie von großen Teilen der Gesellschaft geteilt und von vielen, aber eben nicht von allen zum Maßstab des eigenen Handelns gemacht werden. Ich denke an die Erfahrung des Nationalsozialismus in Deutschland. An den gewalttägigen Islamismus des sogenannten Islamischen Staats. An Verschwörungstheorien, Fake News, Corona-Leugner, Querdenker und Andere. Und ich werde einen Blick auf Putins Krieg in der Ukraine werfen. Ich möchte die Geschichte der Hexenverfolgungen nicht umstandslos oder vorschnell damit vergleichen. Bei all diesen Themen interessiert mich, was die Forschung bzw. eine kritische Öffentlichkeit an Einsichten zutage gefördert hat, warum so erschreckend viele Menschen sich dem zu Grunde liegenden Denken ausgeliefert und es zur Richtschnur ihres eigenen, oftmals erschreckend zerstörerischen Handelns gemacht haben. Mein Zugang ist also vor allem ein ideologiekritischer. Meine diesbezüglichen Ausführungen kreisen um drei zentrale Begriffe: Verführung, Verantwortung und Schuld. Doch blicken wir zunächst zurück auf die Zeit der Hexenverfolgungen.
II Hexenglaube und Hexenverfolgungen: erste Beispiele Da ist zum einen die irritierend modern wirkende, entwaffnende Offenheit und Unverstelltheit, mit der ein Wilhelm von Bernkastel an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert seine persönliche Beeinflussung und Überzeugung durch den gerade Gestalt und Wirkungsmächtigkeit gewinnenden Hexenwahn zum Ausdruck gebracht hat: »Ich gestehe, dass ich unwissend gewesen bin. Wer einen reichhaltigen Stoff lesen und wissen will, wieviel die Hexen auszurichten vermögen, wem sie auf welche Weise (…) schaden, der lese das genannte Buch des Johann Nider (…) Ich hatte es nicht gelesen, als ich anfing, über diese Dinge zu schreiben. Nachdem ich es gelesen hatte, habe ich erkannt, daß ein Dämon so sehr den inneren Sinn eines Menschen ausfüllen kann (…), daß er nicht spürt, wenn in ihn (…) hineingeschnitten wird.«2 2
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Rummel, Gutenberg, der Teufel und die Muttergottes von Eberhardsklausen. Erste Hexenverfolgungen im Trierer Land, in: Andreas Blauert (Hrsg.), Ketzer, Zauberer, Hexen. Die Anfänge der europäischen Hexenverfolgungen, Frankfurt am Main 1990, 91–117, hier 102.
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Willhelm von Bernkastel verweist an anderer Stelle zudem ausdrücklich auf die Einsichten, die er der Lektüre des Malleus Maleficarum von Heinrich Institoris und Jakob Sprenger verdankte.3 Da sind zum andern die bewegenden Worte einer Rebecca Lempin, die in einem 1590 aus dem Nördlinger Gefängnis geschmuggelten Brief an ihren Mann nicht anders kann, als sich als unschuldiges Opfer der Hexenverfolgung zu begreifen: »O Du mein auserwehlter schaz, sol ich mich so vnschuldig von dir scheiden muessen, – das sey Got ymer vnd ewig klagt, – man net[et] eins, es mueß eins reden, man hat mich gemartert, – ich bin so vnschuldig als Got im Himel, – wan ich nur ein pünktlin vmb solche sach wist, so wolt ich, das mir Got den Himel versaget, – o du herzlieber schaz, wie geschicht meinem Herz, – o we, o we meiner armen waisen, – vater, schickh mir etwas, das ich sterb, ich mueß sonst an der marter verzagen, (…).«4
Und wie steht es in weiterer Perspektive um die in der Forschung immer wieder konstatierte Unausweichlichkeit im Sinne einer die Menschen der Verfolgungszeit gleichsam vollständig umhüllenden oder durchtränkenden Ideologie, die der Hexenwahn und die in seinem Namen geführten Hexenprozesse für die Zeitgenossen besessen haben oder soll ich sagen: besessen haben sollen? Die neuere Forschung setzt die Akzente hier durchaus anders. Möller weist am Beispiel norddeutscher Hexenprozesse nach, dass die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen nicht immer und ohne weiteres bereit waren, den sozialen Ausnahmezustand und das Leid, das die Hexenprozesse mit sich brachten, widerspruchslos hinzunehmen. Das gilt besonders für sogenannte Kettenprozesse, die in kleinen Städten und Flecken für die Obrigkeit oft nicht mehr beherrschbar waren. In jedem vierten dieser Verfahren legten die Angehörigen Supplikationen bei der Landesherrschaft ein oder engagierten professionelle Anwälte. Familien zogen vor die Appellationsinstanzen oder vor das Reichskammergericht, um ihr Recht einzufordern. In einigen Kleinstädten kam es zu tumultartigen Zuständen: Bürger verbarrikadierten sich in der Stadt und bewaffneten sich mit Büchsen.5 3 4 5
Rummel (Fn. 2), 102 f. Hexen und Hexenprozesse in Deutschland (…), hier Nr. 185, 26, http://www.hehl -rhoen.de/pdf/hexen_und_hexenprozesse.pdf (letzter Zugriff: 1.11.2022). Moeller, »Es ist ein überaus gerechtes Gesetz, dass die Zauberinnen getötet werden«. Hexenverfolgung im protestantischen Norddeutschland, 9 S., hier 5, https://www.dhm. de/archiv/ausstel-lungen/hexenwahn/aufsaetze/06.html (letzter Zugriff: 1.11.2022).
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Betrachten wir die zuletzt angeschnittenen Aspekte etwas genauer am Beispiel einer 2021 veröffentlichten Studie von Schaad zu einer Hexenverfolgung, die 1699 auf der kleinen Ostseeinsel Poel stattfand.
III Hexenverfolgung auf der Insel Poel 1699 Die Insel Poel liegt etwas nördlich, nicht weit von Wismar. Einigen ist sie heute von Urlaubsreisen an die Ostsee bekannt. Der Prozess von 1699 endete mit der Hinrichtung einer gewissen Lucie Bernitt. Sie war 30 Jahre alt, unverheiratet, Schweinehirtin, gehörte der lokalen Unterschicht an – und verkörpert so das in gewisser Weise klassische oder typische Opfer von Hexenprozessen. Grundlage ihrer Hinrichtung war ein ausführliches Geständnis. Es beinhaltet in der Zusammenfassung von Schaad die folgenden Punkte: »Wie sie sich gleich drei Mal von Gott losgesagt und dem Teufel verschrieben hatte; wie sie von zwei Frauen und einem Mann das Zaubern erlernt habe; wie die Lehrmeisterinnen und der Lehrmeister ihr je einen Geist als Bräutigam zugeführt hatten; wie Lucie Bernitt mit diesen Geistern geschlafen habe, schwanger geworden sei und einen Windwurm und mehrere Kinder geboren habe; wie sie den Wurm zu Pulver verbrannt habe, welches ihr später dann bei der Tötung mehrerer Schafe, Schweine und eines Ochsens nützlich gewesen sei. Auch, dass sie damit öffentlich Rache nehmen wollte, an all jenen, die sie brutal misshandelt hatten. Und nicht zu vergessen: Wie sie sich mit ihren Lehrmeisterinnen, ihrem Lehrmeister und anderen ihr unbekannten Hexen und Zauberern auf dem Blocksberg zusammengefunden, gegessen, gesungen und wild getanzt habe. Schließlich noch das Bekenntnis, selbst zwei junge Menschen in die Zauberkunst eingewiesen zu haben.«6
Es ist die Leistung Schaads, aus den umfangreich erhaltenen Prozessquellen gleichsam einen Prozess hinter dem Prozess gegen Lucie Bernitt herauszupräparieren, der vor diesem begann und nach diesem endete. Es ging in ihm um den Streit von zwei Frauen und den mit ihnen verbündeten Männern und Frauen: Da war auf der einen Seite eine gewisse Lembke und auf der anderen eine gewisse Schabbel, die von der Lembke der Hexerei bezichtigt wurde. Lucie Bernitt war in diesem weiteren Prozesszusammenhang, so tragisch das klingen muss, für die Lembke 6
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Schaad, Brennen sollstu! Die Hexen von Poel, 2021, 29.
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nur ein Mittel zum Zweck. Die Aussage der Bernitt, dass die Schabbel eine ihrer Lehrmeisterinnen gewesen sei, ließ sich trefflich gegen diese verwenden.7 Die Gemeinden der kleinen Insel Poel unterstanden nicht weniger als drei Herren: Lübeck, Schweden und Mecklenburg-Schwerin. Dementsprechend viele Gerichtspersonen waren in den Gemeinden der Insel und in den vorgesetzten Amtsorten mit dem Rechtsstreit befasst. Dazu kamen noch über das Institut der Aktenversendung die Juristen der Universität Rostock. Sie alle waren, erstaunlich genug, weit eher Getriebene denn Antreiber der Auseinandersetzungen auf Poel.8 »Verfolgungsbegehren von unten« sowie intensive »Gerichtsnutzung« sind denn auch die Schlagworte der modernen Forschung zur Charakterisierung dieses Prozesses hinter dem Prozess.9 Die lang andauernden Auseinandersetzungen nahmen für die Schabbel ein gutes Ende: Sie wurde freigesprochen. Ein Prozessende, das so für die damalige Zeit nicht ohne weiteres zu erwarten ist. Waren der Prozess und die Hinrichtung von Lucie Bernitt für den Historiker Sönke Lorenz und für die Historikerin Katrin Möller – auf geringerer Quellengrundlage – ein Beleg dafür, dass die befassten Richter sich noch nicht umfassend von ihrem Hexenglauben befreit hatten,10 so ist der hinter dem Prozess gegen Lucie Bernitt liegende und ihren Prozess antreibende Streit zwischen der Lembke und der Schabbel für mich dagegen ein Beleg dafür, dass der Hexenglaube, auch wenn nicht grundsätzlich bestritten, in der konkreten Rechtssuche und Rechtsfindung – modern gesprochen – Handlungsspielräume gewährte.
IV Verführung – Verantwortung – Schuld: Ideologiekritische Bemerkungen Ich habe es in meinen einführenden Bemerkungen angekündigt: Ich möchte im Folgenden die Aufmerksamkeit auf eine Reihe von Phänomenen richten, die uns im 20. und 21. Jahrhundert auf das Schmerzlichste damit vertraut gemacht haben, dass Ideologien so wirkungsmächtig werden können, dass sie von großen Teilen der Gesellschaft geteilt und von nicht wenigen, aber eben auch nicht von allen, zum Maßstab des eigenen Handelns gemacht wurden. 7 8 9 10
Schaad (Fn. 6), 184. Schaad (Fn. 6), 71. Schaad (Fn. 6), 85, 193. Schaad (Fn. 6), 191.
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Hexenglaube ist in dieser Perspektive für mich zunächst einmal Ideologie. Ideologien hier ganz einfach und populär verstanden als: »Weltanschauungen, die vorgeben, für alle gesellschaftlichen Probleme die richtige Lösung zu haben.«11 Doch wie ist es um die Verführungskraft von so verstandenen Ideologien, von unterschiedlich konsistenten weltanschaulichen und religiösen Vorstellungen bestellt? Wie verbindlich oder verpflichtend sind Ideologien für die Einzelnen? Eine ältere Meinung tendierte dazu, das Unausweichliche, das Zwanghafte einer Ideologie zu vertreten. Hier am Beispiel des Nationalsozialismus: »Auch der Nationalsozialismus war eine Ideologie, die von den Bürgern die totale Unterwerfung forderte und jeden verfolgte und bestrafte, der sich gegen diese Weltanschauung stellte.«12 Heute wird dagegen betont, dass eine Bereitschaft auf Seiten des Einzelnen bzw. in weiten Teilen der Bevölkerung bestehen muss, diese Ideologien zu teilen. So die sog. »Bestätigungsthese«: Menschen würden auf diejenigen Botschaften und Verschwörungstheorien vertrauen, die ihre Weltsicht bestätigen. Abgelehnt wird dagegen eine einfache »Manipulationsthese«: Menschen würden Propaganda und Verschwörungstheorien (unkritisch) aufnehmen und dadurch ihre politische Meinung ändern.13 Nicht »angstvolle Unterwerfung« also, sondern »aktive Kooperation«, so ein anderes Gegensatzpaar.14 Auch die verbreitete Vorstellung, Ideologien würden die Menschen auf raffinierte Weise manipulieren und so gegen ihren Willen verführen, ist in dieser Perspektive nicht länger haltbar. Was folgt daraus für eine kritische Sicht auf die Frage der Verantwortung eines Einzelnen bzw. von großen Teilen einer Gesellschaft für die im Namen einer Ideologie begangenen Taten? Und in weiterer Perspektive: Wie steht es um die Frage der Schuld? Etwa achtzig Prozent der russischen Bevölkerung unterstützten anfänglich, 11
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Schneider/Toyka-Seid, Ideologie, Das junge Politik-Lexikon, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2022, https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-junge-politik -lexikon/320506/ideologie/ (letzter Zugriff: 1.11.2022). Schneider/Toyka-Seid (Fn. 11). Hübl, Hatespeech und Gewalttaten. Die Verführbarkeit durch Sprache ist begrenzt, Deutschlandfunk Kultur, 23.1.2022, 6 S., hier 3, https://www.deutschlandfunkkultur.de/ die-verfuehrbarkeit-durch-sprache-ist-begrenzt-100.html (letzter Zugriff: 1.11.2022). Brockhaus, Emotionale Muster der Ideologie-Gläubigkeit. Zur Aktualität der Authoritarian Personality, in: Interventionen – Zeitschrift für Verantwortungspädagogik, Ausgabe 6/2015, 13 S., hier 4, https://interventionen.blog/2020/09/21/emotionale-muster -der-ideologie-glaeubigkeit/ (letzter Zugriff: 1.11.2022).
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so hörte man immer wieder, Putins Krieg in der Ukraine. So auch das Ergebnis einer Studie, die das Moskauer Lewada-Zentrum etwa einen Monat nach dem Beginn von Russlands »Spezialoperation« durchführte. Das Lewada-Zentrum gilt als das einzige vom Staat bzw. von staatlichen Investitionen unabhängige Meinungsforschungsunternehmen in Russland. Diese Studie kommt aber auch zu dem Ergebnis, dass die Unterstützung der russischen Öffentlichkeit für das Vorgehen der Armee und ihres Kommandos zur Hälfte mit großer Besorgnis einhergeht. Und weiter: Das Verständnis dafür, dass das, was passiert, grundsätzlich Empörung hervorrufen sollte, sei weit verbreitet. Aber die Bereitschaft, sich zu empören und das auch zu zeigen, sei – noch – gering.15 Ich denke, die für die russische Gesellschaft von heute beschriebene Situation lässt sich so durchaus auf die Zeit der Hexenverfolgungen übertragen: Der Glaube an die Existenz von Hexen mag von der Mehrheit der Menschen geteilt worden sein, ebenso die Meinung, dass Hexen verfolgt werden müssen – aber natürlich wussten viele Menschen um die zutiefst irrealen und destruktiven Aspekte des Hexenwahns und hielten sich soweit möglich abseits. Man muss das nicht gleich als Mitläufertum abwerten: Natürlich gab und gibt es die berechtigte Angst, selbst belangt oder verfolgt zu werden, wenn man sich offen gegen eine herrschende Meinung stellt. Das gilt es, nicht außer Acht zu lassen. Aber es gibt eben auch die andere Seite des (englisch:) bystanding, die im deutschen Wort »Mitläufer« immer schon mitschwingt. Mitläufer ist einer, der sich zwar nicht an vorderster Front zeigen will, der aber auch keine grundlegenden Zweifel an seiner Zuverlässigkeit, seiner Loyalität aufkommen lassen will. Die Verhältnisse haben sich in der Ukraine und in Russland bis zum Zeitpunkt der Ausarbeitung der Druckfassung dieses Beitrags dramatisch entwickelt: Die russischen Kriegsziele: eine schnelle miltärische Niederwerfung der Ukraine und – mindestens – die Installation einer russisch kontrollierten Regierung in der Ukraine konnten nicht erreicht werden und es fehlen der russischen Armee in zunehmendem Maße die Soldaten sowie militärische Ausrüstung und Material. Seit Anfang 2022 und vor allem dann seit der Ende September 2022 verkündeten Teilmobilmachung von etwa 300.000 Reservisten reagierten Hunderttausende von Russen mit der Flucht aus Russland.16 Ein Schritt, der für die Einzelnen ein beträchtliches Risiko darstellt und eine Rückkehr nach Russland auf absehbare 15 16
Lewinson, Bomben-Stimmung für Putin, in: TAZ-Pantherstiftung, Montag, 9. Mai 2022, Novaya Gazeta Europe, VII. Friedrich/Rheinheimer, Sie wollen nicht töten, Pro Asyl, 28.9.2022, 7 S., https://www. proasyl.de/news/sie-wollen-nicht-toeten/ (letzter Zugriff: 1.11.2022).
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Zeit ausschließt. Ein Schritt auch, der weit in die russische Gesellschaft hinein seine Spuren hinterlässt – sind doch auch die Familien, Freunde, Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen von der Entscheidung dieser Menschen, Russland zu verlassen, betroffen. Und egal, ob sie dieser Entscheidung zustimmen können oder ob sie sie ablehnen – der erzwungene öffentliche Konsens zum Überfall auf die Ukraine bekommt sichtbare, nicht zu überdeckende Risse. Darauf kommt es im Rahmen dieses Beitrags an: Die Verbindlichkeit staatlicher Ideologie und Propaganda ist nicht unbedingt. Sie findet ihre Grenzen dort, wo die jeweilige Gesellschaft dieser Ideologie und Propaganda nicht mehr folgen kann und will. Ich dachte, als ich diesen Vortrag konzipierte, es könnte in diesem Zusammenhang hilfreich sein, einen Blick auf den Islamischen Staat, Verschwörungstheorien, Fake News, Corona-Leugner, Querdenker und Andere zu werfen – alles Vorstellungen, Bewegungen, Gruppen, die uns seit Jahren vor Augen führen, dass es in Teilen der Gesellschaft die Bereitschaft gibt, sich einem Denken auszuliefern, das den gesellschaftlichen Konsens aufkündigt, ja ihn bekämpft und das nicht nur mit Worten. Dabei ging es mir weniger darum, den fehlenden Realitätsbezug der betreffenden Gruppen bzw. ihrer Überzeugungen herauszustellen – was ja für diese Menschen selbst so ohnehin nicht gilt: Sie wähnen sich im Besitz einer Wahrheit hinter der von einer breiten, durchaus kritischen Öffentlichkeit geteilten Wahrheit. Einer Wahrheit, die wahrer als die Wahrheit ist, die ihrer Meinung nach von Staaten, Medien, mächtigen Personen und Einflussgruppen inszeniert wird. In den Worten von Jochen Rack mit Blick auf die Coronavirus-Pandemie: »An der Pandemie sind dann wahlweise Bill Gates, Klaus Schwab, die Pharmaindustrie oder das Weltjudentum schuld.«17 Es ging mir viel mehr darum, mich mit der geradezu fanatischen Aneignung der betreffenden Glaubenssätze, Theorien und Weltanschauungen durch Einzelne oder ganze Gruppen, ihrer Verblendung und Grausamkeit zu beschäftigen, die zu Handlungen führen können, die auf die Vernichtung des von ihnen als solchen erkannten Gegners zielen. Ich denke, wir alle erinnern uns, um nur ein Beispiel zu nennen, an die Bilder von Propaganda-Aufnahmen, auf denen Kämpfer des Islamischen Staats Gefangene mit einem Messer köpfen. Schreckliche Bilder, die einen ob des darin zum Ausdruck kommenden Fanatismus erschrecken und die abstoßen. 17
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Rack, Erneuerte Aufklärung. Wissenschaft und ihre Erkenntnisse brauchen Vertrauen, Deutschlandfunk, 27.2.2022, 14 S., hier 6, https://www.deutschlandfunk.de/erneuerte -aufklaerung-100.html (letzter Zugriff: 1.11.2022).
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V Das Böse Wir sind an dieser Stelle an einem Punkt angelangt, an dem ein Perspektivwechsel notwendig ist: Eine »soziologisierende« Sicht auf die angesprochenen Überzeugungen, Glaubenssätze und Ideologien muss um eine Betrachtung der Täter und Täterinnen und ihrer Taten ergänzt werden, die sich der destruktiven »inneren« Antriebe ihrer Taten annimmt. Der von dem Psychiater und Psychotherapeuten Reinhard Haller vorgeschlagene Perspektivwechsel ist radikal: Haller entwirft in seiner Veröffentlichung »Das Böse. Die Psychologie der menschlichen Destruktivität« von 2019 einen von ihm so genannten »Code des Bösen« aus kriminalpsychiatrischer Sicht. Es geht ihm wohlgemerkt um die innere Verfassung eines individuellen Täters bzw. einer individuellen Täterin. Dieser Code des Bösen umfasse sieben Punkte: Fehlende Empathie. Einseitige Machtverteilung. Psychopathische Charakterstruktur (Sadismus, maligner Narzissmus). Entwürdigung der Opfer. Planungsgrad. Schwere der Folgen für die Opfer. Missachtung des Moralinstinktes.18 Ich denke, es steht außer Frage, dass Täterinnen und Täter bei ihren Verbrechen in der beschriebenen Weise in ihren Handlungen geleitet sein können. Aber auch die Akteure und Protoganisten der Hexenverfolgungen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit? Wer Zweifel daran hat, der werfe einen Blick auf die von Karen Lambrecht untersuchten Totengräberprozesse des 16. und 17. Jahrhunderts und die schrecklichen Qualen, die die zum Tode Verurteilten erleiden mussten.19 Ich bin mir der Gefahr bewusst, dass das so verstandene Böse zu einer Charaktereigenschaft von Einzelnen gerinnt, die einer gesellschaftlichen oder historischen Betrachtung gerade nicht mehr zugänglich ist. Und uns zu nachgerade metaphysischen – im wörtlichen Sinne: jede mögliche Erfahrung überschreitenden – Spekulationen über den Charakter des so verstandenen Bösen verleiten, die uns von unserem Gegenstand eher wegführen, als dass sie ihn erhellen. Die zuletzt eingenommene Sicht gilt es gleichwohl zu berücksichtigen. Der Hexenglaube und seine theologischen und juristischen Voraussetzungen allein können genauso wenig wie das von der Hexenforschung herausgearbeite18 19
Haller, Das Böse. Die Psychologie der menschlichen Destruktivität, 3. Aufl. 2020, 205 f. Lambrecht, »Jagdhunde des Teufels«. Die Verfolgung von Totengräbern im Gefolge frühneuzeitlicher Pestwellen, in: Blauert/Schwerhoff (Hrsg.), Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, 1993, 137–157.
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te Geflecht weiterer Hexenprozesse auslösender und begünstigender Faktoren diese Prozesse allein erklären. Dazu gehören nach Walter Rummel und Rita Voltmer: 1.) das Vorhandensein ökonomisch-sozialer, konfessioneller und/oder politischer Krisen, 2.) das Verfolgungsdrängen der Bevölkerung, 3.) die aktive Verfolgungsbereitschaft der mediaten Herrschaftsträger, 4.) der Verfolgungswille auf Seiten der Territorialherren, 5.) Karriere- und Bereicherungsinteressen lokaler Gerichtsbeamter oder anderer an der Durchführung der Prozesse Beteiligter sowie 6.) Kommunikationsstrukturen, die die Wirkung der anderen Faktoren verstärkten.20 Wahrscheinlich verbinden sich die drei genannten Schichten; es fließen ineinander: 1.) Ideologeme (Gedankengebilde, Ideen, Vorstellungen); 2.) »konkrete« oder »objektive« und der historischen Forschung zugängliche Faktoren oder Faktorenbündel, die Hexenjagden ausgelöst bzw. befördert haben können; und eben 3.) die psychische und pathologische Disposition einzelner Täter und Täterinnen.
VI Zusammenfassung und Ausblick Ich habe am Anfang meines Vortrags gefragt, ob es neue Perspektiven auf das spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Phänomen der Hexenverfolgungen gibt, die es erlauben, es mit einer etwas anderen Akzentsetzung zu betrachten. Und ich habe die Begriffe von Verführung, Verantwortung und Schuld in den Mittelpunkt meiner Ausführungen gestellt. Ich habe auch gesagt: Ich fordere keine neue Methode und keine neue Theorie. Am Ende dieses Vortrags steht bestenfalls ein Plädoyer – ein Plädoyer dafür, gegenüber dem Hexenglauben und den Hexenjagden der Verfolgungszeit dieselbe kritische Distanz einzunehmen, die wir gegenüber den angeführten Ideologien unserer jüngeren Vergangenheit und Gegenwart einnehmen. Andernfalls begeben wir uns in die Gefahr, Ideologien wie dem »Hexenwahn« einen, soziologisch gesprochen, »Subjekt-, sozusagen Täterinnen-Status« zuzuschreiben, mit anderen Worten: die Ideologie selbst als kausale Begründung der in ihrem Namen verübten Taten zu begreifen.21 Das ist aber nicht der 20
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Groß: Rezension von Rummel/Voltmer: Hexen und Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 7/8 (15.7.2008), http://www.sehepunkte.de/2008/07/14368.html (letzter Zugriff: 1.11.2022). Brockhaus (Fn. 14), 6.
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Fall: Täter bzw. Täterin ist immer der Mensch, der für seine Taten verantwortlich ist. Ich bin mir bewusst, dass wir bei unserer Betrachtung der Geschichte der Hexenverfolgungen eine gewisse Leerstelle in unserem Bemühen, Verführung, Verantwortung und Schuld bis hinunter auf die Ebene einzelner Täterinnen und Täter zu betrachten, nicht werden füllen können. In einer Veröffentlichung über den KZ-Arzt Josef Mengele heißt es dazu, dass die Frage nach dem »Warum« der von ihm begangenen Taten nicht zweifelsfrei zu beantworten sei. Ihr Resümee: »Nehmen wir uns in Acht, der Mensch ist ein formbares Geschöpf, nehmen wir uns vor den Menschen in Acht.«22 Es sind die Erfahrungen des 20. und 21. Jahrhunderts, die uns auffordern, eine vergleichbare Sicht auch bei unserer Beschäftigung mit den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen einzunehmen. Das sind wir den Opfern der Hexenverfolgungen schuldig! Auch wenn wir wissen, dass wir das in einzelnen Forschungen nicht immer werden einlösen können. Verstehen Sie diesen – manche mögen schon jetzt sagen: zutiefst unhistorischen – Versuch, als Einladung zu einem gemeinsamen Gespräch, das im besten Fall tatsächlich einige neue Perspektiven auf die Epoche und die Erforschung der europäischen Hexenverfolgungen eröffnen kann.
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Die Welt, Samstag, 18. August 2018, Die literarische Welt, 29.
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Einige Charakteristika der ungarischen Hexenprozesse Barna Mezey
Hauptberuflich beschäftige ich mich zwar nicht mit der Erforschung von Hexenprozessen. Die Idee, dass ich mich trotzdem mit diesem Thema zu Wort melde, bekam ich durch ein Buch. Die kommentierte Ausgabe des »Hexenhammers« aus dem Jahre 2006, darin eine Widmung: »Für Barna, zum Andenken an Eger. Günter«. Im Jahre 2006 hatten wir in Eger das deutsch-ungarische strafrechtsgeschichtliche Seminar veranstaltet. Jenes Seminar, das wir auf Vorschlag von Günter Jerouschek bei einer Budapester Konferenz im Jahre 2000 ins Leben gerufen haben und das seither jährlich stattfindet, davon jedes zweite Jahr im Kriminalmuseum in Rothenburg o. d. T. (dieses Jahr wird das Seminar zum 22. Mal organisiert, nun schon zusammen mit einem Schüler von Günter Jerouschek, dem heutigen Augsburger Professor Arnd Koch, und dem Direktor des Mittelalterlichen Kriminalmuseums, Markus Hirte). An den Seminaren haben wir im Laufe der Jahre mit Studierenden, Doktoranden und Kollegen die Entwicklungsprozesse des Strafrechts und des Strafvollzugs mit besonderem Blick auf die deutsch-ungarischen Beziehungen untersucht. In diesen Seminaren konnte man die Beschäftigung mit den Hexenprozessen und deren Ähnlichkeiten und Unterschieden nicht umgehen. An der Eötvös Loránd Universität zu Budapest ist die Entstehung der Hexenprozesse an den Pflichtkursen der Rechtsgeschichte ein wichtiger Fokus geworden. Worauf ich jetzt eingehen kann, sind die Feststellungen von meinen Kollegen, von Historikern und Rechtshistorikern zur Erforschung und Publikation der ungarischen Hexenprozesse. Es sind in erster Linie Ergebnisse von Forschungen, die aufgrund der verwerteten Prozessmaterialien mehr oder weniger mit Sicherheit als gültig erachtet werden können.
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12. Jahrhundert: Hexen in Gesetzen
Die Hexe des ungarischen Urglaubens war gleichzeitig Wissende und auch Betreiberin von Hexereien.1 Als sich der ungarische Staat dem christlichen Europa angeschlossen hat und mit Hilfe der christlichen Kirche seine Positionen im Karpatenbecken gestärkt hatte, erschien auch das Hexenbild des christlichen Glaubens.2 Die Belege dafür sind die Verordnungen unseres ersten Königs, Stefan I. (1000–1038) über die Hexen, konkret über die Strigen, Maleficen und Veneficen. In den Dekreten der ungarischen Könige erscheinen schon von Anfang an Verordnungen über die Hexen und Zauberer. Eine der Ursachen dafür könnte sein, dass sich mit der Aufnahme des Christentums auch eine ideologische Umwandlung vollzog. U. a. durch die Eingliederung in die Gemeinschaft der christlichen Staaten erfolgte eine die politischen Ansprüche des ungarischen Staates befriedigende Säuberung. Zwei Kapitel des Gesetzbuches vom Heiligen Stefan beschäftigen sich mit den Hexen. Falls sie eine Striga finden würden, bringen sie sie laut Gesetz den Richtern vor die Kirche und überlassen es dem Priester, dass er sie fasten lasse und in Religion unterrichte. Nach dem Fasten soll sie nach Hause geschickt werden. Falls sie ein zweites Mal in dieser Sünde gefunden würde, soll sie nochmal durch Fasten erniedrigt werden. Danach soll ihr mit dem Schlüssel der Kirche ein Mal in die Brust, an ihre Stirn und zwischen ihre Schultern gebrannt werden. Danach soll sie nach Hause geschickt werden. Falls sie zum dritten Mal das gleiche begehen würde, solle sie unverzüglich den Richtern übergeben werden.3 Laut des anderen Gesetzes,4 das hier nicht wortwörtlich, sondern nur inhaltlich wiedergegeben werden kann, sollen alle Geschöpfe Gottes vom Bösen bewahrt und verschont bleiben, damit niemand durch teuflische Wissenschaft seines Verstandes beraubt werde. Wenn aber dennoch jemand – Mann oder 1
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Solymossy, A magyar ősi hitvilág. In A magyarság néprajza [Die altungarische Glaubenswelt, in: Ethnographie der Ungarn] IV, 1937, 443 f. und Diószegi, A sámánhit emlékei a magyar népi műveltségben [Erinnerungen an den Schamanismus in der ungarischen Volkskultur], 1958. Ortutay, Régi magyar varázsló asszonyok [Alte ungarische Zauberinnen], in: Magyarságtudomány, 1942, 569; László, A honfoglaló magyar nép élete [Das Leben der ungarischen landnehmenden Magyaren], 1944, 329. Dekret von König Stephan I, II 31. A boszorkányokról [Über die Hexen]. Dekret von König Stephan I, II 32. A bűbájosokról, ördöngösökről és jövendőmondókról [Über Magier, Verteufeln und Wahrsager], § 2.
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Weib – sich mit so etwas beschäftige, so soll er oder sie in die Hände derjenigen Verwandten gegeben werden, der/die geschädigt wurde, damit diese an ihr/ihm Rache nehmen können. Falls Wahrsager gefunden werden sollten, die mit Asche und sonstigem hantieren, sollen sie vom Bischof gezüchtigt werden. Andor Komáromy, der als erster eine Urkundensammlung zusammengestellt hatte, gab eine Interpretation der Gesetze von Stefan I. Demnach ist es eindeutig, dass über zwei Arten der Hexen gesprochen wurde: über Strigen und Maleficen. Die Verordnungen von Stefan über die Zauberer waren eindeutig, denn es geht um Lebewesen mit »Charme oder teuflischer Wissenschaft«, die fähig sind »die Menschen ihres Verstandes zu berauben«. Es geht also um Maleficen, die eine bösartige Kraft besitzen. Dieses Muster war laut den Forschern unserer Frühgeschichte im ungarischen Volksglauben schon längst präsent. Die andere Gestalt ist viel komplizierter. Die Strigen verkörpern im Volksglauben vorhandene, märchenhafte Ängste. Es waren Gestalten, die nachts die Fähigkeit zu fliegen haben und wegen ihrer blutsaugenden Gewohnheiten Menschen verzehrt sowie Kleinkinder umgebracht haben. Laut der abergläubischen Annahmen sind einige Menschen fähig, sich nachts zu einem/einer Striga zu verwandeln. Im Falle von verdächtigen Frauen wurden diese Eigenschaften mit der Zauberei verbunden und angenommen, dass das Ziel ihrer nächtlichen Flüge eine Hexerei war. (Zuletzt wurde der Begriff der Striga aufgelöst mit einem Bild einer Hexe, die sich mit dem Teufel verbündet und mit ihm Geschlechtsverkehr ausübt). Laut der Interpretation von Komáromy kann die in den kirchlichen Dekreten auftauchende Striga nicht das nächtlich herumfliegende, blutsaugende Wesen gewesen sein, da dies von den Königen aus der Lombardei oder auch von Karl dem Großen bestritten wurde. Es konnte nicht sein, denn wenn es tatsächlich ein vampirartiges, nicht menschliches Wesen wäre, hätte König Stefan nicht versucht, dieses mit religiösen Belehrungen und mit Fasten bekehren zu lassen. Wahrscheinlich ist eher, dass mit der Benennung Striga die religiösen heidnischen Priester und Priesterinnen gemeint waren. Der christliche Glaube trat im Kampf um die Verbreitung des Glaubens mit Mitteln des Strafrechts gegen die Vertreter der traditionellen Ideologie auf. König László (1077–1095), der im Schutz des christlichen Glaubens mit unerbittlicher Härte und unerbittlich in der Herstellung und Festigung des europäischen Modells aufgetreten ist, hat selbst die Verordnungen von Stefan bekräftigt. »Die unzüchtigen, grausamen Frauen und Hexen (Strigen) sollen so bestraft werden, wie es der Bischof für gut erachtet.«5 Aus dieser 5
Dekret von König László I., I 34. A lator asszonyok és boszorkányok meglakoltatásáról [Über die Bestrafung von Latorinnen und Hexen].
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Sicht wird klar, dass König Koloman (1095–1116) in lakonischer Kürze ausgesagt hat: »(…) die Strigen, da es sie nicht gibt, soll gar nicht die Rede sein.«6 Die Verordnung von Koloman steht im Zusammenhang mit den in der Präambel seiner Gesetze festgelegten Behauptungen, in denen er den Fakt der Festigung des christlichen Glaubens festhielt und bzgl. des Weiteren die Strenge der früheren Herrscher – wonach die Feinde der neuen Ordnung verfolgt wurden – als unnötig erachtete. Er hielt ihre Verfolgung für überflüssig, da es »sie gar nicht gab«.7 Diese Interpretation erlaubt die Schlussfolgerung, dass der Begriff der Hexerei, als eine der flexibelsten strafrechtlichen Kategorien, schon von Anfang an zu politischen Zwecken missbraucht wurde. Doch Koloman hatte auch nicht die Sanktionierung des anderen Typs aufgegeben. Er hat formuliert: »Die Maleficen (maleficák) sollen von den Gefolgsleuten des Domprobstes und dem Gespan aufgesucht und vor Gericht gebracht werden.«8 Die Hexe lebt in den Gesetzverordnungen weiter.
II 13. Jahrhundert: Die Anmerkungen des Regestrum von Várad über die Hexen Das in der Zeit zwischen 1205 und 1235 entstandene Regestrum Várad liefert einige besondere Informationen über die Hexenprozesse des 13. Jahrhunderts. Das Regestrum ist eine Sammlung der Protokolle der durch das Bistum in Nagyvárad durchgeführten Feuer-Eisen-Proben. Es wurden 389 Fälle aufgezeichnet, von denen laut Protokoll elf wegen Fluches und Zauberei verurteilt worden sind.9 Laut diesen Fällen wurden vor allem Frauen wegen Veneficum angeklagt. Über die Art und Weise des Vergehens wurde in den Protokollen nicht berichtet. Hugolin klagte die Frau seines Landsmannes Cséka wegen Hexerei an, die von dem Richter Gregor pataki Gespan nach Nagyvárad zur Gottesurteils-Probe gesandt wurde. Nachdem der Richter die Frau wegen ihres Alters als ungeeignet erachtete, verpflichtete er ihren Sohn Mada zur Beweisführung. Mada trug das heiße Eisen; 6 7 8 9
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Dekret von König Kálmán I.57. A boszorkányokról [Über die Hexen]. Komáromy, Magyarországi boszorkányperek oklevéltára [Urkundenbuch der ungarischen Hexenprozesse], 1910, XV. Kálmán Király Dekrétumainak Első Könyve. 60. Fejezet a bűbájosokról. Kandra, A váradi regestrum [Regestrum von Várad], 1898.
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die »Beweisführung« sprach für ihn. Seine Mutter wurde der Anklage enthoben.10 Peter, der Richter aus Berekjó, klagte die Frau von Csöbörd an. Die Frau trug das feurige Eisen und wurde schuldig gesprochen.11 Genauso erging es der angeklagten Frau aus dem Dorfe Izsép.12 Auch der Dorfbewohner Urhod Paul klagte zwar die Frau von Farkas an. Doch zum angegebenen Tag, an dem das feurige Eisen getragen werden sollte, erschien er nicht. Nur die Frau war zugegen.13 Aus dem Dorfe Szopor hatte Kösöny die Mutter von Sedény angeklagt, doch sie konnten sich in Várad noch aussöhnen und man einigte sich auf die Teilung der Verfahrenskosten.14 Einen ähnlichen Fall kennen wir über Szunyafalusi Paul und die von ihm angeklagte Szema. Die Frau übernahm das pristaldus, der Mann die Spesen des Richters. Die Frau von Köcsed trug das feurige Eisen gegenüber Ananias und hatte bewiesen, dass die Anklage falsch ist: Sie ist keine Hexe.15 Mathel klagte die betuchte Frau Gernerosa an, doch von Várad ist er von seinem Vorhaben abgekommen.16 Im Dorf Dursi Bagos wurde Micicut wegen Teufelschaft (maleficum) angeklagt, doch die Angeklagte trug das feurige Eisen und hat bestätigt, dass sie keine Zauberin ist. 17 Vielleicht lohnt es sich zu erwähnen, dass im Regestrum die Fälle der Vergiftung bzw. der Giftmischerei eindeutig von dem zur Hexerei gehörenden Veneficum und der Zauberei, des Maleficum, abgesondert wurden. Letztere wurde eindeutig in die Kategorie der Tötung eingeordnet.18 Was ist nun die Lehre aus obigen Fällen: das Veneficum ist als eine systematische Anklage zu betrachten. Unter den Angeklagten gibt es auch anerkannte Personen mit Rang. Es sind hauptsächlich Frauen, doch auch einige Männer sind unter ihnen. Die Beweisführung erfolgte in einem geregelten richterlichen Verfahren in gewohnter Weise. Das feurige Eisen wurde auch von Frauen getragen, gelegentlich wurden auch andere in ihrem Namen dazu verpflichtet. Das Endergebnis ist unterschiedlich; doch meistens wurde die Anklage nicht bewiesen und sie wurde der Anklage entbunden. Über die Bestrafung der Beschuldigten wurde im Regestrum nicht berichtet. 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Reg. Nr. 2, Kandra (Fn. 9), 103–105. Reg. Nr. 68, Kandra (Fn. 9), 179. Reg. Nr. 371, Kandra (Fn. 9), 503. Reg. Nr. 151, Kandra (Fn. 9), 277. Reg. Nr. 193, Kandra (Fn. 9), 313. Reg. Nr. 236, Kandra (Fn. 9), 357. Reg. Nr. 255, Kandra (Fn. 9), 383. Reg. Nr. 301, Kandra (Fn. 9), 425. Reg. Nr. 314, Kandra (Fn. 9), 435.
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III Berichte aus dem 14. bis 15. Jahrhundert Auch im 14. bis 15. Jahrhundert haben wir Informationen über Urteile. Allerdings sind diese Aufzeichnungen sehr mangelhaft sowie wortkarg und berichten in erster Linie über die Urteilsvollstreckung; dies manchmal sogar ohne das Benennen der Straftat. Was von Ferenc Schram mit Gewissheit behauptet wird: Die Verfahren gegen Hexen wurden fortgesetzt.
IV 16. Jahrhundert: Die Explosion Vom 16. Jahrhundert an stehen uns – dank der Forschungen über die Hexenjagd – zahlreiche Quellen zur Verfügung. Historiker, Archivare, Museologen und Rechtshistoriker bestätigen, dass die Zahl der bislang erschlossenen Hexenprozesse auf weit über tausend gestiegen ist. Diese gestiegene Anzahl der dokumentierten Berichte deutet auf den ersten Blick auf einen Zusammenhang mit der Verwendung der Malleus Maleficarum hin. Doch dieser Zusammenhang wird von den Forschern aus Ungarn entschieden zurückgewiesen. Es ist allgemein anerkannt, dass der Hexenhammer in Ungarn nicht gebraucht wurde. Doch einige inhaltliche Elemente kamen zweifellos zum Vorschein, wobei die Verbreitung des deutschen städtischen Rechtsusus und die Ferdinandea eine Rolle gespielt haben dürften. Eine der wichtigsten Erklärungen des Wendepunktes war die Verbreitung der offiziellen Schriftlichkeit. In Ungarn war um die Zeit des Mittelalters weder die Literalität, die Schriftkundigkeit, verbreitet, noch das Protokollieren von Strafprozessen. Es ist nachweisbar, dass jene Fälle aufgezeichnet wurden, die im Späteren zur Beweisführung des Rechts als wichtig erachtet wurden (Prozesse über Privateigentum von Adeligen, Spenden und Erbschaftsfälle, manchmal sogar mit dem Verlust des Viehbestandes einhergehende Strafprozesse waren von großer Wichtigkeit). Die Urbanisierung war damals verspätet, die Protokolle und die Dokumente der Städte fielen häufig Brandstiftungen, Stadtbränden oder religiösen Auseinandersetzungen zum Opfer.19 In Ungarn entstand im 15. Jahrhundert eine fast endgültige Struktur des Verwaltungsbezirkssystems (die separaten Strafgerichte, die Patrimonialgerichte). Einem Großteil der Landgüter wurde das jus gladius zugesprochen. So konnte ein Großteil der Fälle dieser Art an den Gerichtsstühlen der Gutsherren, die wenig auf die Schriftlichkeit achteten, abgewickelt werden. 19
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Degré, Boszorkányperek Zala vármegyében [Hexenprozesse im Komitat Zala.], in: A Göcseji Múzeum Közleményei 15, 1960, 11.
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Ein wichtiges Charakteristikum der Veränderungen des 16. Jahrhunderts war die Verbreitung der Schriftlichkeit, wodurch die Informationen auch enorm vermehrt wurden. Mit der Zeit entstand ein immer detaillierteres Bild über den Hexenglauben und über die Hexenjagd. Die Mehrheit der Angeklagten waren entweder Hebammen oder Heilerinnen/Wahrsagerinnen, die die Krankheiten behandelt haben, in den Details des Aberglaubens kundig waren und sich in den Heilkräutern und Heilmethoden sehr gut auskannten. In der Statistik von Schram fällt ein Drittel der Prozess-Fälle in den Bereich von Heilungen. Eine erfolgreiche Heilung hat häufig bei anderen Neid ausgelöst: Wir finden auch belastende, schuldzuweisende Zeugenberichte von Barbieren und Ärzten. Die in einer Region weitbekannten Heilfrauen und Wahrsagerinnen waren zum einen bei der Bevölkerung sehr gefragt – man brauchte sie. Doch bei einem Misslingen ihres Heilungsaktes erfolgte sehr oft und zu schnell eine Retorsion – und zwar viel eher als die Vorbeugung eines Unheils. Aus diesen Prozessen erfahren wir, dass man sich im Volksglauben als Hexen vor allem alte Frauen vorstellte, wobei ein Drittel dieser Hexen junge Frauen waren20 und ihnen gegenüber die Anklage im Allgemeinen auf Ehebruch oder Wollust lautete. 21
V Das 17. Jahrhundert: Der zweite Wendepunkt, die Constitutio Criminalis Ferdinandea Dank der Bestrebungen des Erzbischofs Lipot Kollonics zur Förderung der Organisation des Landes und zum Vorantreiben der Modernisierung erschien die im Jahre 1656 herausgegebene für Niederösterreich gültige, ins Lateinische übersetzte,22 von Ferdinand III. verordnete Landesgerichtsordnung.23 Die 20 21 22 23
Schram, Magyarországi boszorkányperek 1528–1768 [Ungarische Hexenprozesse 1528–1768], 1982, III, 30. Schram (Fn. 20), 32. Vuchetich, A magyar büntetőjog rendszere. I. könyv. Elméleti büntetőjog [Das System des ungarischen Strafrechts. Buch I. Theoretisches Strafrecht], 2010, 67. Land-Gerichts-Ordnung deß Ertz-Hertzogthumbs Oesterreich unter der Ennß. 1656. Codicis Austriaci ordine alphabetico compilati pars Das ist: Eigentlicher Begriff und Innhalt Aller Unter deß Durchleuchtigisten Ertz-Hauses zu Oesterreich; Fürnemblich aber Der Allerglorwürdigisten Regierung Ihro Röm. Kayserl. auch zu Hungarn und Böheimb Königl. Majestät Leopoldi I, Ertz-Hertzogens zu Oesterreich etc. Außgangenen und p (Band 1), 1704.
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Jesuiten aus Nagyszombat (heute: Trnava), die eine Druckerei besaßen und durch die Uni Herausgeber der ungarischen Gesetzesdokumente des Corpus Iuris Hungarici waren, haben diese im Jahre 1697 unter dem Titel »Ferdinandea Praxis Criminalis« übersetzt und der Neuausgabe des Corpus beigefügt.24 Das Ziel dieser nicht zu verheimlichenden Aktion war, nachdem die Stände die Entwicklung des ungarischen Strafrechts konsequent abgelehnt hatten, die Einführung des geltenden österreichischen Strafrechts in Ungarn. Damit wuchs verständlicherweise der Einfluss des österreichischen Rechts in Ungarn. Doch nicht nur die bestimmende Wirkung des fremden Rechts stieg damit, sondern auch die Möglichkeiten der Rechtsmodernisierung erweiterten sich beachtlich. Das österreichische Recht gehörte den westlichen Kodifikationsströmungen an. Trotzdem können wir diese »Praxis Criminalis« nicht als Quelle des ungarischen Strafrechts betrachten, denn »es stehe im Gegensatz zum Rechtssystem des Landes, und im Gegensatz auch zum Gewohnheitsrecht der Rechtsprechung.« Trotzdem muss zur Kenntnis genommen werden, dass die Richter es »zur Hilfe rufen, hinsichtlich der die Straftat erschwerenden mildernden Umstände, als auch hinsichtlich der Form der Untersuchungsfragen.«25 Die Kodifizierung der mildernden und erschwerenden Umstände bedeutete einen großen Fortschritt in der Grundlegung des richterlichen Ermessens.26 Die Ferdinandea enthielt zahlreiche Tatbestände der Straftat der Hexerei mit den entsprechenden detaillierten Regelungen. Das sich danach richtende Sanktionssystem kann keinesfalls als mild beschrieben werden: Legitime Strafmodi und Techniken waren die Verbrennung, die Zerstückelung des Körpers, das Rädern und die Enthauptung. Das Arsenal der in der poena ordinaria angebotenen Todesstrafen bzw. das Unterlassen der Einschränkung der Strafen hat den Richtern einen breiten Spielraum gesichert. Gelegentlich ist jedoch das Sanktionieren mit Freiheitsentziehung der mit Todesstrafe bedrohten Straftaten vorgekommen.27 »Unser mittelalterliches Recht hat sich auf autonome Weise entwickelt: Es wurde nur das und nur so viel und auf eine Weise aus dem Ausland übernommen, was 24 25 26 27
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Honesh, Geschichte Böhmens von der slawischen Landnahme bis zur Gegenwart, 1997, 249. Vuchetich (Fn. 22), 67. Hoegel, Geschichte des Österreichischen Strafrechtes in Verbindung mit einer Erläuterung seiner grundsätzlichen Bestimmungen, 1904, 45. Griesebner, Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor den Landgericht Perchtaldsdorf im 18. Jahrhundert, 2000, 69.
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und wieviel das Leben als erwartet oder als notwendig erachtet hat.«28 Die im Anhang an die aktuelle Ausgabe des Corpus Juris Hungarici beigefügten Rechtsregelungen haben jedoch die Praxis sehr stark beeinflusst.29 Selbst in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts gab es in Strafurteilen immer wieder einen Verweis auf die Praxis Criminalis. Die starke Wirkung der Landesgerichtsordnung auf die ungarischen Hexenprozesse ist kaum zu leugnen. Nach Ferenc Schram kann seit 1681 die Tortur in den ungarischen Hexenprozessen konstatiert werden, doch ihre Rolle ist begrenzt. Ihre Wirkung ist vor allem darin zu sehen, inwiefern sich die Fragen der Untersuchenden, betreffend die inhaltlichen Elemente der Hexerei, an dem westlichen Muster orientiert haben. Wie die im Laufe der während der Folterungen gestellten Fragen und die unter Qual gestandenen Handlungen belegen, wurde der ausgeweitete Handlungskreis um bis dahin nie gesehene Vorstellungen erweitert. Die im Laufe der Selbstbekenntnisse anerkannten Praktiken, die menschennahen und alltäglichen Taten, wurden um ganz unmögliche Geständnisse erweitert. Der größere Teil der in den Verwaltungsbezirken Heves und Außen-Szolnok zwischen 1645 und 1814 abgewickelten 107 Fälle von der Hexerei verdächtigten Personen (84 Personen, d. h. 68,2% der Angeklagten) ist in der Zeit zwischen 1691 und 1730 vor Gericht gekommen.
VI Foren, die gegen die Hexen vorgehen Das wesentliche Charakteristikum der ungarischen Hexenverfolgung ist, dass dabei die Inquisition überhaupt keine Rolle gespielt hat; ferner haben wir keine Kenntnis über besondere Gerichte. Die Hexenprozesse verliefen vor gewöhnlichen Gerichten. Die Verfahren wurden in erster Linie von Städtegerichten bzw. von Gerichten größerer Landgüter initiiert. Die Todesurteile wurden gegebenenfalls in eigener Befugnis gefällt.30 Diese Prozesse gelangten nur in seltenen Fällen vor die Komitatsgerichte. Die Hexerei zählte nicht zu den crimina excepta; 28
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Balogh, A Praxis Criminalis hatása a szegedi boszorkányperre [Die Wirkung der Praxis Criminalis auf den Hexenprozess von Szeged], in: Béli/Korsósné Delacasse/Herger (Hrsg.), Ut juris ordo exigit. Ünnepi tanulmányok Kajtár István 65. születésnapja tiszteletére, 2016, 32. Béli/Kajtár, Österreichisches Strafrecht in Ungarn: Die »Praxis Criminalis« von 1687, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte, 1994 Nr. 4, 325. Weber, A boszorkányokról, különös tekintettel a Szepességre [Über Hexen, unter besonderer Berücksichtigung der Hexerei], in: Századok, 1893, 881.
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sie wurde mit schwerwiegenden Straftaten wie Mord, Diebstahl oder Ehebruch gleichbehandelt. Selbst das Urteil ist in vielen Fällen mit diesen Handlungen vermischt; die verhängten Todesurteile kamen vor allem wegen Diebstahls, Brandstiftung, Wollust, Mord, Abtreibung und Sodomie in die Protokolle.31 Daraus folgt, dass auch die weiteren Ermittlungen und die Beweisführungen auf ähnliche Weise geschahen wie in anderen Strafprozessen. Auch in Ungarn genügte es zur Eröffnung eines Prozesses, wenn jemand wegen Hexerei oder Zauberei verdächtig wurde. Aufgrund eines Verdachts wurde der oder die Betreffende eingekerkert.32 Die wichtigsten Elemente der Beweisführung waren belastende Zeugenaussagen, die freiwillige Selbstbekenntnis, die Tortur und die »Stigmauntersuchung«.33 Komáromy Andor merkt an, dass im Zusammenhang mit der Hexerei bei der Wasserprobe eine Abkehr vom gewöhnlichen Verfahren erkennbar ist. Anders war es bei der Tortur, die erst im 18. Jahrhundert bemerkbar wurde. Da aber das Selbstbekenntnis der Hexerei hinsichtlich des Todesurteils nicht entscheidend war, war auch die Anwendung der Tortur keine zentrale Frage. Einige Fallbeispiele: Nachdem Regina Spellenderernt freiwillig die Ausräucherei der Kühe und die Zauberei zum Verhindern wollüstiger Handlungen gestanden hatte, hat sie unter Tortur gestanden, dass sie mehrfach sexuell missbraucht wurde. Als sie dann zum Tode verurteilt wurde, »ging (sie) mit reumütigem Herzen in den Tod, und hat auch dem Henker, Helisow Balwirow, verziehen.«34 In Leutschau wurde 1603 Benedik Meltzer wegen Hexerei zum Tode verurteilt. Weil sie ausdauernd gelogen und nicht gestanden hatte, ging sie »mit einem verfluchten Herzen in den Tod«. Sie war nicht einmal gewillt, die letzte Ölung zu empfangen und sich einer Beichte zu unterziehen. »Ich habe mein ganzes Leben lang niemandem was Böses getan!«35 Benedik Meltzer wurde enthauptet. Frau Spellenderern hat in Alt-Lublin freiwillig gestanden und sich für die Verordnung der Folter von Richter Abraham Kichel entschieden. Was sie als Ergänzung zu ihrem Bekenntnis sagte, war, dass sie von mehreren Bürgern in AltLublin vergewaltigt worden war. Nach der Tortur wurde sie zum Tode verurteilt.36 Huszty István formuliert in seinem Lehrbuch wie folgt: »Zur Verdeckung 31 32 33 34 35 36
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Weber (Fn. 30), 880, 882. Weber (Fn. 30), 881. Komáromy 1910, XII. Weber (Fn. 30), 880. Weber (Fn. 30), 881. Weber (Fn. 30), 880.
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der Sünden und als Ergänzung zum Bekenntnis, wenn es vor dem Urteil als notwendig erscheint, will sie zum Hervorrufen der Sünden anderer sich selbst unterwerfen.«37 Als Beweis gegen Hexen galt europaweit und auch in Ungarn, wenn an der Verdächtigen irgendein körperlicher Fehler entdeckt werden konnte, wie z. B. an den Händen oder Füßen ein sechster Finger oder eine sechste Zehe, sonstige Mängel oder Auswüchse.38 In den Prozessen wurden auch die körperlichen Schwächen wie das Humpeln (Gehbehinderung), die Halbblindheit und sogar das körperliche Übergewicht angesprochen.39 Laut Huszty war es die Aufgabe des Henkers, die Stigmata zu untersuchen.40 Ähnlich war es, wenn jemand an einem Tag eine Froschkeule verletzt und am nächsten Tag eine Frau mit verletztem Bein getroffen hat, woraufhin behauptet wurde, dass es sich bestimmt um eine Hexe handelte.41
VII Die Bestrafung der Hexen Obwohl die gewöhnliche Strafe der Hexen der Feuertod war (worauf man sich in Urteilen oft beruft), flammte das Feuer in der Mehrzahl der Fälle nicht auf. Laut der Forschungen von István Sugár42 kamen z. B. in den Jahren zwischen 1645 und 1814 in den Komitaten Heves und Außen-Szolnok insgesamt 107 Personen unter die Anklage der Hexerei, davon wurde gegen 14 Frauen und einen Mann der Feuertod verhängt; gegen einen die Enthauptung. Das waren insgesamt 14,9% der Angeklagten. Die Strafe der anderen war das Vertreiben aus der Gegend, das Verbot des Zutritts zu dem Ort und die Einkerkerung. Acht Personen wurden freigesprochen (8,56%).43 Laut Samu Weber war bei der Vollstreckung von Urteilen der Patrimonialgerichte in der Zips eine gewöhnliche Lösung das Ertränken im Wasser,44 vielerorts kam die Enthauptung als Todesstrafe vor. 37 38 39 40 41 42 43 44
Huszty, Jurisprudentia practica seu commentarius novus in Jus Hungaricum, 1758. III, 38 f. Melzer, Der ungarische Zipser Sachse in seiner wahren Gestalt, 1806, 95; Weber (Fn. 30), 884. Schram, 1982 III, 29. Huszty, 1758 III, 36. Melzer (Fn. 38), 95; Weber (Fn. 30), 884. Sugár, Bűbájosok, ördöngősök, boszorkányok Heves-és Külső-Szolnok vármegyékben [Über Magier, Vertaufeln, Hexen in den Komitaten Heves und Külső-Szolnok], 1987. Sugár (Fn. 42), 8. Weber (Fn. 30), 881.
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Beim Lesen der Urteile hat man oft den Gedanken, als würde auch das Gericht hinsichtlich des Vergehens unsicher sein. Deshalb ist es nicht selten, auf den Reinigungseid zu verweisen, welcher im Allgemeinen im Kreise einer unmittelbar aus der Wohngegend stammenden Person in einem offiziellen Umfeld mit dem Niederlegen des Eides erfolgte. Meistens erbrachte der Reinigungseid eine Befreiung für den Angeklagten.45
VIII Zusammenfassung Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Angeklagten der ungarischen Hexenprozesse vor allem Hebammen und Wunderheilerinnen waren, die mit der vermeintlichen Fähigkeit ausgestattet waren, Flüche zu erteilen. Ihr Wissen bezog sich vor allem und in erster Linie auf das Heilen. Die westeuropäische Fachliteratur und die Ferdinandea verstärkte lediglich die Vorstellung einer engen Verbindung und ein Bündnis mit dem Teufel und die damit zusammenhängenden Elemente in den Anklagen und den Fragen (Orgien, Hexensabbat, Teufelszeremonien). Die Prozesse verliefen nach den gewöhnlichen weltlichen Regeln, ein kleinerer Teil der Urteile endete mit tödlichem Ausgang. Die Forschungen zum Thema der Hexenprozesse können im 21. Jahrhundert noch bei Weitem nicht als abgeschlossen betrachtet werden, obwohl die Urkundenvergabe in Ungarn außerordentliche Ergebnisse aufzeigen kann.
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Varga, XVI-XVII. századi perszövegek [Herrentag. Gerichtsakten aus dem XVI-XVII Jahrhundert], 1958, 33.
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Psychoanalyse – Psychotherapie
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Psychotherapeut: Von der selbstgewählten Tätigkeitsbezeichnung zum akademischen Heilberuf Zu Entstehung, Reform und Stand des Psychotherapeutengesetzes Jan Eichelberger I
Einleitung
Zu Günter Jerouscheks breit gefächerten Interessen gehört die Psychoanalyse. Neben seiner Tätigkeit als Juraprofessor war er jahrelang als psychoanalytischer Psychotherapeut in eigener Praxis tätig. Das Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes im Jahr 1999 betraf ihn deshalb unmittelbar selbst. Sein Rat um den neuen Rechtsrahmen für Psychotherapie war daher unter Therapeutenkollegen gefragt. Fundierten Rechtsrat zu erteilen war aber oft schwer, da es fast keine wissenschaftlichen Publikationen zum Thema gab, geschweige denn eine umfassende Kommentierung des neuen Gesetzes. Ausweislich des Vorworts gab dies den Anlass, selbst einen juristischen Kommentar zum neuen Psychotherapeutengesetz zu initiieren.1 2004 erschien dieser im renommierten Beck-Verlag. Ich war damals – gemeinsam mit Markus Hirte – als studentische Hilfskraft am Jenaer Lehrstuhl von Günter Jerouschek beschäftigt. Uns kam die ausgesprochen spannende Aufgabe zu, das Entstehen eines neuen Buchs redaktionell zu begleiten. Dem PsychThG bin ich bis heute verbunden.2 Mein Beitrag zum Geburtstagssymposium entstammt deshalb diesem Tätigkeitsbereich Günter Jerouscheks. Er zeichnet die Entwicklung von der selbstgewählten Tätigkeitsbezeichnung »Psychotherapeut« zum akademischen Heilberuf nach und gibt einen Überblick über die Reform der Ausbildung und Berufsausübung durch das neue PsychThG. 1 2
Jerouschek in: Jerouschek (Hrsg.), PsychThG, 2004, Vorwort. S. meine Kommentierung des PsychThG in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, seit der 1. Aufl. 2011, aktuell: 4. Aufl. 2022.
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II Psychotherapie vor dem PsychThG 1
Ausbildung und Berufsausübung
Vor Inkrafttreten des Gesetzes »über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten«3 (im Folgenden PsychThG a. F.) zum 1.1.1999 war die Ausübung von Psychotherapie weitestgehend ungeregelt. Notwendig, aber auch hinreichend war eine Erlaubnis nach dem Heilpraktikergesetz (HeilprG):4 »Wer die Heilkunde, ohne als Arzt bestellt zu sein, ausüben will, bedarf dazu der Erlaubnis« (§ 1 Abs. 1 HeilprG). »Ausübung der Heilkunde im Sinne dieses Gesetzes ist jede berufs- oder gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen, auch wenn sie im Dienste von anderen ausgeübt wird« (§ 1 Abs. 2 HeilprG). Das zentrale Problem dabei war (und ist), dass eine Heilpraktikererlaubnis keine staatliche Anerkennung im Sinne eines (fachlichen) Ausbildungs- und Befähigungsnachweises, sondern lediglich eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ist.5 Die Erlaubnis ist zu versagen, »wenn sich aus einer Überprüfung der Kenntnisse und Fähigkeiten des Antragstellers durch das Gesundheitsamt, die auf der Grundlage von Leitlinien zur Überprüfung von Heilpraktikeranwärtern durchgeführt wurde, ergibt, dass die Ausübung der Heilkunde durch den Betreffenden eine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung oder für die ihn aufsuchenden Patientinnen und Patienten bedeuten würde« (§ 2 Abs. 1 lit. i. DVO-HeilprG). Dabei gibt es keinerlei auch nur annähernd vergleichbare Kriterien.6 Vielmehr differieren die Anforderungen an die heilkundlichen Kenntnisse und Fähigkeiten regional sehr stark.7 Eine einheitliche und spezifische Fachprüfung findet nicht statt.8 3 4 5
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Vom 16.6.1998, BGBl. 1998 I, 1311. BVerwG NJW 1984, 1414; BayObLG NStZ 1982, 474 f.; Spellbrink, NZS 1999, 1 (2); ausf. Arndt/Ebsen, NJW 1985, 1372 ff.; a. A. LG Augsburg NStZ 1982, 425. BVerfGE 78, 155 (163) = NJW 1988, 2292 (2293): »Fehlen hinreichender Anforderungen an ihre Qualifikation«; BVerwG NVwZ 1997, 179 (180 f.); BSG BeckRS 2020, 46615 Rn. 17; OVG Münster BeckRS 2014, 46985; OVG Koblenz NVwZ-RR 2009, 890 (891): »Negativattest«; Schelling in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 4. Aufl. 2022, HeilprG, Vorbemerkung Rn. 1. Vgl. BVerwG NVwZ 1997, 179 (180); BSG BeckRS 2020, 46615 Rn. 17. Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn, Handbuch des Arztrechts, 5. Aufl. 2019, § 11 Rn. 10. BVerwG NJW 1984, 1414 (1415); BGH GRUR 1984, 291 (292) – Heilpraktikerwerbung III; BGH GRUR 1982, 311 (312) – Berufsordnung für Heilpraktiker; Kern/Rehborn (Fn. 7), § 11 Rn. 10.
109 Psychotherapeut: Von der selbstgewählten Tätigkeitsbezeichnung zum akademischen Heilberuf
Hintergrund dessen ist, dass das Heilpraktikergesetz ursprünglich die »Kurierfreiheit« begrenzen und der zunehmenden Scharlatanerie entgegenwirken sollte.9 Zwar war die Verwendung der Berufsbezeichnung »Arzt« schon nach der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bunds von 1869 medizinisch vorgebildeten und approbierten Personen vorbehalten (§ 29 Abs. 1 GewO vom 21.6.1869). Die Ausübung der Heilkunde ohne Verwendung der Berufsbezeichnung »Arzt« war aber jedermann gestattet,10 und zwar »ohne Rücksicht auf Kenntnisse, Vorbildung, Erfahrung, Geschick, Verleihung.«11 Mit dem Heilpraktikergesetz vom 17.2.1939 sollte deshalb im Interesse der Volksgesundheit ein Ärztemonopol geschaffen und zumindest auf längere Sicht die Ausübung der Heilkunde durch Nichtärzte gänzlich abgeschafft werden.12 Dies hat indes das Bundesverfassungsgericht mit seiner sehr liberalen Rechtsprechung zur Berufsfreiheit (Art. 12 I GG) verhindert und letztlich den Normzweck des Heilpraktikergesetzes in sein Gegenteil verkehrt.13 Die Versagungsgründe nennt § 2 DVO-HeilprG. Eine positive Feststellung der fachlichen Qualifikation ist dort nicht vorgesehen.14 Solange nicht konkrete Gefahren für die Volksgesundheit vorliegen, ist eine Heilpraktikererlaubnis zu erteilen.15 Damit konnte (und kann) im Prinzip jede halbwegs unbescholtene Person eine Heilpraktikererlaubnis beantragen und auf dieser Grundlage psychotherapeutisch tätig werden. Dies war in zweierlei Hinsicht problematisch: Zum einen hatten Behandlungssuchende keine einfach erkennbaren Anhaltspunkte für die Qualifikation des Therapeuten zur Hand. Die Berufsbezeichnung »Heilpraktiker« taugte dafür nicht, weil diese inhaltlich ja gerade nichts über die Qualifikation ihres Trägers aussagt. Somit war es letztlich Glückssache, an einen hinreichend qualifizierten Therapeuten zu geraten. Zum anderen fehlte den gut ausgebildeten Therapeuten eine einfache Möglichkeit, schon mit einer geschützten Berufsbezeichnung auf ihre Qualifikation hinzuweisen. Stattdessen mussten sie wohl oder übel zunächst unter der zunehmend suspekt gewordenen Bezeichnung »Heilpraktiker« praktizieren 9 10 11 12 13 14 15
Schelling (Fn. 5), HeilprG, Vorbemerkung Rn. 2. OVG Münster BeckRS 1999, 20890 Rn. 19; Schelling (Fn. 5), Vorbemerkung Rn. 2. So ausdrücklich RGSt 25, 375 (379). OVG Münster BeckRS 1999, 20890 Rn. 19. Schelling (Fn. 5), HeilprG, Vorbemerkung Rn. 3; s. auch OVG Münster BeckRS 1999, 20890 Rn. 19. Schelling (Fn. 5), Heilpraktikergesetz-DVO, § 2 Rn. 1. OVG Münster BeckRS 1999, 20890 Rn. 19; Schelling (Fn. 5), Heilpraktikergesetz-DVO, § 2 Rn. 1.
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(s. § 1 Abs. 3 Hs. 2 HeilprG). Sie hatten nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, die Berufsbezeichnung »Heilpraktiker« auf dem Praxisschild, im Geschäftsverkehr, in Anzeigen oder sonst nach außen hin zu tragen, um Verwechslungen mit dem approbierten Arzt zu vermeiden.16 Akademisch ausgebildete Psychotherapeuten führten also dieselbe Bezeichnung wie Personen, die in der Abendschule einen Kurs besucht hatten und nach Einschätzung der zuständigen Behörde keine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung darstellen. Dies bedeutete Diskriminierung akademisch ausgebildeter Psychotherapeuten gegenüber Ärzten und führte das behandlungssuchende Publikum in die Irre, indem es akademisch ausgebildeter Psychotherapeuten mit nicht-akademischen Heilern gleichsetzte. Dass akademisch ausgebildete Psychotherapeuten zwingend als »Heilpraktiker« firmieren mussten, war dann auch der Rechtsprechung zu viel. Das Bundesverfassungsgericht stellte 1988 fest, dass der in § 1 Abs. 3 HeilprG statuierte Zwang, die Berufsbezeichnung »Heilpraktiker« zu führen, verfassungsrechtlich bedenklich sei, da mit diesem Begriff fest umrissene Vorstellungen verbunden seien, die mit der Tätigkeit des akademisch ausgebildeten Psychotherapeuten so gut wie nichts zu tun hätten. Es bestehe auch kein sachlicher Grund, die Berufsbezeichnung »Heilpraktiker« auf das gesamte Berufsfeld der nichtapprobierten Heilbehandler anzuwenden. Obwohl für die DiplomPsychologen die Wirkung der Berufsbezeichnung »Heilpraktiker« dadurch abgeschwächt werde, dass sie ihren akademischen Grad führen dürfen, bleibe sie irreführend.17 Fünf Jahre später stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, dass für akademisch ausgebildete Psychotherapeuten die Bezeichnung »Heilpraktiker« nicht angemessen sei, sondern sachwidrig und damit irreführend, da sich mit dem Begriff des Heilpraktikers Vorstellungen verbänden, die den erst sehr viel später nach dem Inkrafttreten des Heilpraktikergesetzes aufgekommenen Vorstellungen vom Berufsbild eines wissenschaftlich ausgebildeten Psychotherapeuten nicht entsprächen. Für diese sei der Zwang, die Berufsbezeichnung »Heilpraktiker« zu führen, deshalb unverhältnismäßig belastend.18 Akademisch ausgebildeten Psychotherapeuten wurde deshalb gestattet, bei ihrer Tätigkeit auf die Bezeichnung »Heilpraktiker« zu verzichten.19 16 17 18 19
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Vgl. BayVGH NVwZ-RR 1998, 113 (115); Schelling (Fn. 5), HeilprG, § 1 Rn. 33. BVerfG NJW 1988, 2290 (2291). BVerwG NJW 1993, 2395 (2396). BVerfG NJW 1988, 2290 (2291); BVerwG NJW 1993, 2395 (2396).
111 Psychotherapeut: Von der selbstgewählten Tätigkeitsbezeichnung zum akademischen Heilberuf
2
Leistungserbringung in der GKV
Ein weiteres – zentrales – Problem war die Abrechnung psychotherapeutischer Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung. Am System der GKV nehmen grundsätzlich nur »Vertragsärzte« (früher »Kassenärzte«) teil (§ 95 SGB V). Psychotherapeuten zählten vor Inkrafttreten des PsychThG (a. F.) nicht dazu. Unbestritten leisteten sie aber schon damals einen erheblichen und wichtigen Beitrag zur Gesundheitsfürsorge der Bevölkerung.20 Psychische Erkrankungen sind keine »Erfindung« der Neuzeit; allenfalls ist der Umgang mit ihnen offener. Es bestand also schon vor 1999 erheblicher Bedarf an psychotherapeutischer Behandlung. Ärzte konnten das nicht umfassend abbilden. Selbst Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie hatten keine grundständige psychologische und psychotherapeutische Ausbildung, sondern lediglich entsprechende Kenntnisse im Rahmen der ärztlichen Weiterbildung zu Fachärzten erworben. Für die Abrechnung zulasten der GKV standen letztlich nur zwei Wege offen: Ein diskriminierender und ein rechtswidriger. Diskriminierend war das Delegationsverfahren. Ein Vertragsarzt stellte dabei die Indikation »Psychotherapie«, führte diese aber nicht selbst durch – das konnte er oft auch gar nicht, weil er dafür nicht ausgebildet war –, sondern beauftragte damit einen Psychotherapeuten. Dies war aber nicht etwa eine Überweisung an den Psychotherapeuten nach dem Vorbild einer Überweisung an einen Facharzt zur eigenständigen und selbstständigen Behandlung, sondern eine Delegation der Behandlung an den Psychotherapeuten unter Aufsicht und Leitung des delegierenden Arztes. Psychotherapeuten waren also damit bloße »Hilfspersonen« des Arztes im Sinne von § 15 Abs. 1 S. 2 SGB V.21 Es liegt auf der Hand, dass dies von den akademisch ausgebildeten Psychotherapeuten als in hohem Maße diskriminierend empfunden wurde.22 Weithin rechtswidrig war die Abrechnung im Wege des Kostenerstattungsverfahrens.23 Der GKV liegt das Sachleistungsprinzip zugrunde: »Die Versicherten erhalten die Leistungen als Sach- und Dienstleistungen, soweit dieses oder das Neunte Buch nichts Abweichendes vorsehen.« (§ 2 Abs. 2 S. 1 SGB V) Als Aus20 21 22 23
Begründung PsychThG a. F., BT-Drs. 13/8035, 13 (Nr. 2); s. bereits Begründung des Entwurfs der Bundesregierung eines PsychThG, BT-Drs. 12/5890, 12 (Nr. 2). Begründung PsychThG a. F., BT-Drs. 13/8035, 15. Jerouschek (Fn. 1), Einleitung Rn. 4. LSG Nordrhein-Westfalen NZS 1997, 434; a. A. Hamburgisches OVG NJW 1999, 2754 (2756 f.).
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112 Jan Eichelberger
nahme von diesem Grundprinzip eröffnet § 13 Abs. 3 S. 1 SGB V die Möglichkeit der Kostenerstattung selbst beschaffter Leistungen, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen kann oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat (»Systemversagen«). Viele Krankenkassen billigten eine Überdehnung des Kostenerstattungsverfahren über dessen eigentlich sehr enge Grenzen hinaus. Das Ausgabevolumen für die Vergütung der Therapeuten im Wege der Kostenerstattung hatte in den 1990er Jahren dieselbe Höhe erreicht wie die Ausgaben für das Delegationsverfahren.24 Es war ein »›grauer Markt‹ psychotherapeutischer Leistungserbringung durch nicht am Delegationsverfahren beteiligte Psychologische Psychotherapeuten entstanden.«25 Dadurch kam es aber auch zu einer Ungleichbehandlung der gesetzlich Versicherten, da nicht alle Kassen gleich »großzügig« und oft erhebliche Selbstbeteiligungen der Patienten zu leisten waren.26 Insgesamt handelte es sich für alle Beteiligten um eine ausgesprochen unbefriedigende Situation. 3
Auf dem Weg zum PsychThG
Schon der 1975 veröffentlichte »Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland« hielt es für angezeigt, eine Zusatzausbildung von Diplom-Psychologen zu nichtärztlichen Psychotherapeuten bundeseinheitlich gesetzlich zu regeln und dadurch einen neuen, selbstständigen Heilberuf zu etablieren.27 Ein entsprechender Referentenentwurf für ein Psychotherapiegesetz des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit aus dem Jahre 1978 scheiterte an der Zerstrittenheit der betroffenen Berufsgruppen und gelangte noch nicht einmal ins Parlament.28 Ein Regierungsentwurf aus dem Jahr 1993 scheiterte nach mehrfachen Umarbeitungen insbesondere aufgrund unüberbrückbarer Differenzen hinsichtlich der Selbstbeteiligung der Patienten (geplant waren ursprünglich 25%) ebenfalls.29 Erst der dritte Anlauf im Jahr 1997 war schließlich von Erfolg gekrönt und führte zum Erlass des PsychThG (a. F.). Zentrales Ziel des PsychThG war es, die Stellung der nichtärztlichen Psychothe24 25 26 27 28 29
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BVerfG BeckRS 1999, 22118 Rn. 15. Begründung des Entwurfs des Bundesrats eines PsychThG, BT-Drs. 13/1206, 1, 12. Begründung des Entwurfs des Bundesrats eines PsychThG, BT-Drs. 13/1206, 1, 12. BT-Drs. 7/4200, 331 ff. (Kap. C 3). Zum Entwurf Schulte/Trenk-Hinterberger, ZfS 1979, 321 ff. und ZfS 1979, 353 ff. Begründung des Entwurfs der Bundesregierung eines PsychThG, BT-Drs. 12/5890.
113 Psychotherapeut: Von der selbstgewählten Tätigkeitsbezeichnung zum akademischen Heilberuf
rapeuten zu verbessern, ihnen eine eigenverantwortliche heilberufliche Tätigkeit zu ermöglichen und sie in das rechtliche Gefüge der Heilberufe einzuordnen.30 Zu diesem Zwecke wurden zwei neue akademische Heilberufe – der des Psychologischen Psychotherapeuten und der des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten – geschaffen.31 Zugleich wurden die beiden neuen Berufe in das System der vertragsärztlichen Versorgung in der GKV integriert.32 Das am 1.1.1999 in Kraft getretene PsychThG (a. F.) erlebte in der Folge zahlreiche, teils erhebliche Änderungen, die jedoch primär der Umsetzung unionsrechtlicher Vorgaben geschuldet waren.33 Die Regelungen zur Ausbildung, zum Zugang zur Ausbildung sowie zur Berufsausübung blieben im Kern dagegen gleich. Gerade die Struktur der Ausbildung wurde freilich mehrfach als deutlich reformbedürftig angesehen;34 zuletzt hatte sich der 25. Deutsche Psychotherapeutentag 2014 für eine Reformierung stark gemacht.35 Dennoch galt das erste PsychThG fast 21 Jahre. Erst zum 1.9.2020 wurde es durch ein grundlegend novelliertes PsychThG abgelöst.36 Im Mittelpunkt standen dabei die mehrfach angemahnte Ausbildungsreform sowie damit in Verbindung stehende Änderungen bei der Berufsausübung.37
III Psychotherapie unter dem PsychThG a. F. 1
Berufsausübung
Nach § 1 Abs. 1 S. 1 PsychThG a. F. bedurfte der Approbation als »Psychologischer Psychotherapeut« bzw. »Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut«, wer unter diesen Berufsbezeichnungen die heilkundliche Psychotherapie bzw. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ausüben wollte. Damit waren zwei neue akademische Heilberufe mit bundesgesetzlich (einheitlich) geregelter Ausbil30 31 32 33 34 35 36 37
Begründung PsychThG a. F., BT-Drs. 13/8035, 13 f. Begründung PsychThG a. F., BT-Drs. 13/8035, 13. Begründung PsychThG a. F., BT-Drs. 13/8035, 15. Näher Eichelberger in: Spickhoff (Fn. 2), PsychThG, Vorbemerkung Rn. 3. BReg BT-Drs. 17/6260, 117; Kleine Anfrage von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BTDrs. 17/3153 mit Antwort in BT-Drs. 17/3352. Bühring/Gerst, DÄBl 2014, A-2093; Stellpflug, FS Dahm, 2017, 475, 476. Gesetz über den Beruf der Psychotherapeutin und des Psychotherapeuten (Psychotherapeutengesetz – PsychThG) vom 15.11.2019, BGBl. I, 1604. Überblick bei Eichelberger, GuP 2020, 169 ff.
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114 Jan Eichelberger
dung und Prüfung geschaffen und der Beruf des Psychotherapeuten bzw. Kinderund Jugendlichenpsychotherapeuten deutlich dem ärztlichen Beruf angenähert worden.38 Wie dort (s. § 2 Abs. 5 BÄO) monopolisierte das PsychThG a. F. nur die Verwendung der fortan gegen unberechtigten Gebrauch geschützten (§ 132a StGB)39 Berufsbezeichnungen in den Händen approbierter Therapeuten, nicht aber die Ausübung der Psychotherapie als solches. HeilprG-Psychotherapeuten gab und gibt es weiter, nur nicht unter den Berufsbezeichnungen »Psychotherapeut«, »Psychologischer Psychotherapeut« und »Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut«.40 2
Ausbildung
Das PsychThG (a. F.) brachte zum ersten Mal eine bundeseinheitlich geregelte Ausbildung für Psychotherapeuten. Die psychotherapeutische Ausbildung dauerte drei (Vollzeit) oder fünf (Teilzeit) Jahre (§ 5 Abs. 1 S. 1 PsychThG a. F.) und fand an Hochschulen oder anderen Einrichtungen, die als psychotherapeutische Ausbildungsstätten anerkannt waren, statt (§ 6 Abs. 1 PsychThG a. F.). Die Ausbildung bestand aus einer praktischen Tätigkeit, die von theoretischer und praktischer Ausbildung begleitet wird, und schloss mit Bestehen der staatlichen Prüfung ab (§ 5 Abs. 1 S. 2 PsychThG a. F.). Den Zugang zur psychotherapeutischen Ausbildung eröffnete ein erfolgreich abgeschlossenes Studium der Psychologie (§ 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 PsychThG a. F.), für die Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten alternativ auch ein solches der Pädagogik oder Sozialpädagogik (§ 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 PsychThG a. F.). Insgesamt sicherte dies eine breite wissenschaftliche Fundierung und damit eine hohe Qualität der Psychotherapie. Zugleich war die Möglichkeit der Spezialisierung auf eine Fachrichtung (»Schule«) der Psychotherapie (Verhaltenstherapie, psychoanalytische Verfahren etc.) eröffnet. Das zentrale Problem bestand indes in der langen Gesamtausbildungsdauer. Zum mehrjährigen Hochschulstudium kam die mindestens dreijährige psychotherapeutische Ausbildung hinzu. Die Approbation und damit die Berechtigung 38 39 40
114
Begründung PsychThG a. F., BT-Drs. 13/8035, 13 f. Eingehend dazu Jerouschek/Eichelberger, MedR 2004, 600 ff.; ferner Eichelberger, DÄBl. PP 2003, 455. Näher Eichelberger in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, PsychThG, § 1 Rn. 7 ff.
115 Psychotherapeut: Von der selbstgewählten Tätigkeitsbezeichnung zum akademischen Heilberuf
zur eigenverantwortlichen Behandlung erfolgte erst danach. Während der Ausbildung waren deshalb oft keine oder nur geringe Einkünfte zu erzielen,41 da die Ausbildungskandidaten in der Krankenbehandlung mangels Approbation nicht selbstständig einsetzbar waren. Hinzu kam die Belastung mit den Ausbildungskosten.42 3
Teilnahme an der GKV
Approbierte Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten wurden mit dem PsychThG a. F. in das System der GKV einbezogen und konnten damit erstmals unmittelbar und in eigener Verantwortung Leistungen in der GKV erbringen.43 So wurde ins Arztregister aufgenommen (§ 95 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 SGB V) und konnte sich damit um einen Vertragsarztsitz bewerben (§ 95 Abs. 2 S. 1 SGB V), wer über die Approbation zum Psychologischen Psychotherapeuten oder zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sowie einen Fachkundenachweis in einem durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) anerkannten Behandlungsverfahren (Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie oder analytische Psychotherapie) verfügte (§ 95c SGB V a. F.). Gesetzlich Krankenversicherte hatten damit originären Zugang zu psychotherapeutischer Behandlung. 4
Zwischenfazit
Die Einführung der beiden akademischen Heilberufe – Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut – und deren Einbindung in die Behandlung von Patienten hatte sich bewährt. Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten nahmen 41
42
43
Zur Vergütungssituation unter altem Recht s. Bühring, DÄBl 2011, A-1944: Nach Angaben der BPtK hätten 36% der PiA keine Vergütung erhalten, rund 40% hingegen eine solche im Bereich zwischen 500 und 1500 Euro. Begründung PsychThG n. F., BT-Drs. 19/9770, 33, unter Verweis auf Strauß u. a., Forschungsgutachten zur Ausbildung von Psychologischen PsychotherapeutInnen und Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutInnen, 2009; zu verschiedenen Modellen s. Stellpflug, in: Rieger u.a. (Hrsg.), HK-AKM, 05/23, Ausbildungsstätten (Psychotherapie), Nr. 660, Rn. 68 ff. Begründung PsychThG a. F., BT-Drs. 13/8035, 14 (Nr. 8).
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116 Jan Eichelberger
eine wichtige Funktion im System der Heilberufe und im Gesundheitssystem wahr und genossen hohes Ansehen bei den Patienten.44 Als immer drängender reformbedürftig erschien aber insbesondere die Ausbildungsstruktur. So habe »der Zugang zum Beruf einheitlicher, für alle gleich und noch attraktiver gestaltet werden« müssen, seien »die veränderten Strukturen in der Hochschulausbildung und ihre Auswirkungen auf die Zugangsvoraussetzungen sowie die steigenden Anforderungen an die psychotherapeutische Tätigkeit« zu berücksichtigen und »Verbesserungspotenziale, die sich im Zuge der langjährigen Diskussionen über eine Änderung der derzeitigen Rahmenbedingungen gezeigt haben« zu nutzen gewesen.45
IV Psychotherapie unter dem PsychThG n. F. Zum 1.9.2020 ist ein grundlegend neugestaltetes PsychThG in Kraft getreten. Im Mittelpunkt standen dabei die Reform der Berufsausbildung sowie – damit verbunden – teilweise der Berufsausübung. 1
Berufsausübung
Die zuvor separaten Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten einerseits und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten andererseits wurden zusammenfasst zu einem einheitlichen Beruf der »Psychotherapeutin« bzw. des »Psychotherapeuten«.46 Das alte Recht hatte (im nichtärztlichen Bereich) zwischen beiden Berufen strikt differenziert. Es gab separate Ausbildungen, der Zugang zur jeweiligen Ausbildung war teilweise unterschiedlich (§ 5 Abs. 2 S. 1 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 PsychThG a. F.) und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten waren grundsätzlich auf die Behandlung von Personen beschränkt, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten (§ 1 Abs. 2 PsychThG a. F.).47 Nunmehr gibt es neu – bisherige Psychologische Psychotherapeuten und 44 45 46 47
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Begründung PsychThG n. F., BT-Drs. 19/9770, 32. Begründung PsychThG n. F., BT-Drs. 19/9770, 1 u. 32. Begründung PsychThG n. F., BT-Drucks. 19/9770, 45; näher Eichelberger, GuP 2020, 169 (171 f.). Umgekehrt galt das nicht, BVerwG, NJW 2009, 3593 Rn. 21; BSG, SGB 2003, 525; Eichelberger in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, PsychThG, § 1 Rn. 17 ff.
117 Psychotherapeut: Von der selbstgewählten Tätigkeitsbezeichnung zum akademischen Heilberuf
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten dürfen auf Grundlage ihrer »AltApprobation« wie bisher weiter tätig werden, § 26 PsychThG –48 nur noch den einheitlichen Beruf der Psychotherapeutin bzw. des Psychotherapeuten mit altersgruppenübergreifender und verfahrensbreiter Behandlungsbefugnis. Etwaige Spezialisierungen können in einer auf die Approbation (an sich fakultativen, für die Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung aber notwendigen, § 95c Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB V)49 psychotherapeutischen Weiterbildung erfolgen. 2
Ausbildung
Die frühere postgraduale Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten bzw. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten – Studium der Psychologie, im Falle der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten alternativ ein solches der Pädagogik oder Sozialpädagogik und anschließend mindestens drei- bzw. fünfjährige Ausbildung mit staatlicher Prüfung – wurde ersetzt durch ein (basales) Direktstudium der Psychotherapie (§§ 7, 9 PsychThG). Dieses vermittelt altersgruppenübergreifend und verfahrensbreit die für die eigenverantwortliche und selbstständige Behandlung von Patienten notwendigen Kompetenzen (§ 7 PsychThG). Das Psychotherapiestudium dauert in Vollzeit fünf Jahre (§ 9 Abs. 1 S. 3 PsychThG). Es wird in Bachelor-/Master-Form durchgeführt (§ 9 Abs. 3 S. 1 PsychThG) und darf nur an Universitäten und Universitäten gleichstehenden Hochschulen angeboten werden (§ 9 Abs. 1 S. 1, 2 PsychThG). Nach Ablauf der zum Abschluss begonnener Ausbildung notwendigen Übergangsfristen (§§ 27, 28 PsychThG) werden die bisherigen psychotherapeutischen Ausbildungsstätten obsolet. Das Studium wird in Form von hochschulischer Lehre und berufspraktischen Einsätzen durchgeführt (§ 9 Abs. 6 PsychThG). Die hochschulische Lehre dient der Vermittlung von Kompetenzen, die zur Ausübung des Berufs der Psychotherapeutin und des Psychotherapeuten erforderlich sind (§ 9 Abs. 7 PsychThG), die berufspraktischen Einsätze dienen dem Erwerb erster praktischer Erfahrungen in der Grundlagen- und Anwendungsforschung der Psychologie, in allgemeinen Bereichen des Gesundheitswesens sowie in kurativen, 48 49
Näher dazu Eichelberger, GuP 2020, 169 (174) und Eichelberger in: Spickhoff (Fn. 2) PsychThG, § 26. Näher dazu Eichelberger, GuP 2020, 169 (173) und Eichelberger in: Spickhoff (Fn. 2), PsychThG Vorbemerkung Rn. 16–18.
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präventiven oder rehabilitativen Bereichen der psychotherapeutischen Versorgung (§ 9 Abs. 8 S. 2 PsychThG). Vor der Approbation zur Psychotherapeutin bzw. zum Psychotherapeuten steht die psychotherapeutische Prüfung (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 PsychThG). Deren Zweck liegt darin, es dem in die hochschulische Ausbildung nicht unmittelbar involvierten Staat im Interesse des Patientenschutzes zu ermöglichen, nach bundeseinheitlichen Kriterien zu prüfen, ob das Ziel der Ausbildung erreicht ist und die Befähigung zur Berufsausübung erlangt wurde.50 Es handelt sich um eine staatliche Prüfung (§ 10 Abs. 2 S. 1 PsychThG), die zusätzlich zu den hochschulischen Bachelor- und Masterprüfungen, die Voraussetzungen für den erfolgreichen Abschluss des Psychotherapiestudiums sind, zu absolvieren ist.51 Die psychotherapeutische Prüfung gliedert sich in eine mündlich-praktische Fallprüfung (§ 10 Abs. 4 Nr. 1 PsychThG) sowie eine anwendungsorientierte Parcoursprüfung in fünf Kompetenzbereichen (§ 10 Abs. 4 Nr. 2 PsychThG), wie sie aus dem Medizinstudium als »objective structured clinical examination« bekannt ist, bei der die Prüflinge verschiedene Stationen durchlaufen und dabei auf von Schauspielpatienten dargebotene Szenen aus dem psychotherapeutischen Arbeitsalltag in der Rolle als Therapeuten unter Beobachtung der Prüfer reagieren.52 Mit erfolgreichem Abschluss des Psychotherapiestudiums und dem Bestehen der psychotherapeutischen Prüfungen sind alle fachlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Approbation (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 PsychThG) erfüllt. Mit Erteilung der Approbation ist die Berechtigung zur eigenverantwortlichen Berufsausübung verbunden (§ 1 PsychThG). Der Vorteil des heutigen Psychotherapiestudiums liegt darin, dass die Studieninhalte nunmehr von vornherein spezifisch auf die Bedürfnisse der Psychotherapie ausgerichtet sind und dabei zugleich verfahrensbreite Grundkenntnisse vermittelt werden. Es ist nicht mehr notwendig, sich relativ frühzeitig auf ein psychotherapeutisches Verfahren sowie auf einen der beiden (früheren) Berufe festzulegen.53 Unmittelbar nach dem Studium und der psychotherapeutischen Prüfung kann die Approbation und damit die Berechtigung zur eigenverantwortlichen Behandlung von Patienten erlangt werden. Dies verkürzt die Zeit bis zu einer »echten« Verdienstmöglichkeit.54 Für die Teilnahme an der vertrags50 51 52 53 54
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Begründung PsychThG n. F., BT-Drs. 19/9770, 34 f., 56. Begründung PsychThG n. F., BT-Drs. 19/9770, 56. Begründung PsychThG n. F., BT-Drs. 19/9770, 35. Begründung PsychThG n. F., BT-Drs. 19/9770, 35. Begründung PsychThG n. F., BT-Drs. 19/9770, 35.
119 Psychotherapeut: Von der selbstgewählten Tätigkeitsbezeichnung zum akademischen Heilberuf
ärztlichen Versorgung bedarf es freilich noch einer erfolgreich abgeschlossenen Weiterbildung in einem vom G-BA anerkannten psychotherapeutischen Verfahren (§ 95c Abs. 1 SGB V).55 Das sind insbesondere die Verhaltenstherapie, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und die analytische Psychotherapie.56 Der Gesetzgeber hegt dabei die Erwartung, dass die – nun der Approbation nachfolgende – Weiterbildung fortan im Rahmen entsprechend vergüteter Angestelltenverhältnisse erfolgt und nicht, wie die »praktische Ausbildung« und die »praktische Tätigkeit« des alten Rechts, im Rahmen von Praktikantenverhältnissen.57
V Fazit Inwieweit die Reform des Psychotherapeutengesetzes all ihre Ziele erreichen wird, bleibt abzuwarten. Die Umgestaltung der bisherigen langwierigen postgradualen Ausbildung mit frühzeitiger Festlegung für eine bestimmte Therapierichtung und einen bestimmten Patientenkreis zu einem umfassend angelegten Direktstudium der Psychotherapie mit späterer Weiterbildungsmöglichkeit ist jedenfalls zu begrüßen. Eine solche Ausbildungsstruktur ist im ärztlichen Bereich seit Langem etabliert.58 Jenseits dessen sind freilich viele Fragen (weiterhin) offen. Hier wäre dringender Bedarf für eine Neuauflage »des Jerouschek«. So ist beispielsweise auch mehr als 20 Jahre nach Inkrafttreten des PsychThG a. F. nicht abschließend geklärt, ob nach dem PsychThG approbierte Psychotherapeuten bei ihrer Tätigkeit auf die Anwendung »wissenschaftlich geprüfter und anerkannter psychotherapeutischer Verfahren oder Methoden« beschränkt sind,59 die Anwendung anderer Verfahren somit nicht von der psychotherapeutischen Approbation gedeckt wäre und damit – soweit Ausübung der Heilkunde – nur auf Grundlage einer 55 56 57 58 59
Näher dazu Eichelberger, GuP 2020, 169 (172 f.). Näher Eichelberger, GuP 2020, 169 (173) und Eichelberger in: Spickhoff (Fn. 2), PsychThG, Vorbemerkungen Rn. 16–18. Begründung PsychThG n. F., BT-Drs. 19/9770, 33 u. 67. Zur Geschichte der ärztlichen Weiterbildung s. Hoppe, DÄBl. 1997, A-2483. Dafür BVerwG NJW 2009, 3593 (Rn. 18, 21 a. E.); Gokel in: Quaas/Zuck/Clemens (Hrsg.), Medizinrecht, 4. Aufl. 2018, § 31 Rn. 9; Begründung des Entwurfs der Bundesregierung eines PsychThG, BT-Drs. 12/5890, 16; a. A. Schnitzler in: Reimer/Schnitzler (Hrsg.), Gesundheitsrecht und Krankenversicherung, FG Francke, 2012, 103 (116–118); Stock, MedR 2010, 309 (310 f.).
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120 Jan Eichelberger
Heilpraktikererlaubnis und ohne Verwendung der geschützten Berufsbezeichnung »Psychotherapeutin« bzw. »Psychotherapeut« erlaubt wäre. Im ärztlichen Bereich (§ 2 Abs. 5 BÄO) gibt es keine Methodenbegrenzung.60 Wortlaut und Systematik des PsychThG legen indes nahe, dass der Gesetzgeber die Reichweite der Approbation (bzw. Erlaubnis) auf wissenschaftlich geprüfte und anerkannte psychotherapeutische Verfahren oder Methoden beschränken wollte.61 Gerade die den Kern der psychotherapeutischen Tätigkeit betreffenden Fragen sollten im engen Austausch mit den Therapeutinnen und Therapeuten und der psychotherapeutischen Wissenschaft geklärt werden. Günter Jerouschek wäre als Jurist und Psychotherapeut dazu prädestiniert. Die immense Last einer Neuauflage seines Kommentars wird er aber weder sich noch seiner Familie zumuten wollen. Mir bleibt an dieser Stelle nur noch zu sagen: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, lieber Günter Jerouschek, und vielen Dank für die lehrreiche, prägende und schöne gemeinsame Zeit am Jenaer Lehrstuhl!
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BVerwGE 26, 254 (256) = NJW 1967, 1525 (1526); BayVGH NVwZ-RR 1998, 113; anders aber im zahnärztlichen Bereich, s. OVG Lüneburg BeckRS 2005, 21183. Näher Eichelberger in: Spickhoff (Fn. 2), PsychThG, § 1 Rn. 33.
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Jena als frühes Zentrum der Freud-Rezeption1 Michael Schröter
Das Thema der Freud-Rezeption spielt in der psychoanalytischen Historiographie seit Jahrzehnten eine Rolle. Ausgangspunkt der Diskussion sind einige Selbstaussagen Freuds, zum Beispiel: »Durch mehr als ein Jahrzehnt« nach 1895/96 »hatte ich keine Anhänger. Ich stand völlig isoliert. In Wien wurde ich gemieden, das Ausland nahm von mir keine Kenntnis.«2 Das Bild von Freud als innovativem Genie, das an den »Schlaf der Welt gerührt« hatte3 und dafür lange mit Nicht-Beachtung (und dann mit erbitterter Gegnerschaft) bestraft worden war, ist gängig geworden – und wurde von der Forschung immer wieder angegriffen. Inzwischen steht außer Frage, dass es unhaltbar ist. Der vorliegende Text handelt von einer Nische der »ausländischen«, nämlich der deutschen Fachwelt, in der man Freud schon vor 1906, als sich seine Situation durch das Bündnis mit dem Züricher psychiatrischen Lehrstuhl grundlegend veränderte, durchaus zur Kenntnis nahm. Diese Nische lag in Jena und wurde geprägt durch Otto Binswanger, der dort seit 1881 als außerordentlicher, seit 1891 als ordentlicher Professor für Psychiatrie wirkte.4
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Der Text greift auf mein Buch »Auf eigenem Weg. Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland bis 1945«, 2023, zurück. Die neu gestaltete Vortragsfassung wurde für den Abdruck durch Belege ergänzt. Freud, Gesammelte Werke, 14, 74. Freud (Fn. 2), 10, 60. Die Bedeutung Jenas für die frühe Freud-Rezeption wurde erstmals von May, LuziferAmor 57 (2016) beleuchtet. Zu Binswanger: Braunsdorf, Leben und Werk Otto Binswangers, 1988; Wieczorek/Braunsdorf, in: Wagner/Wessel (Hrsg.): Medizinprofessoren und ärztliche Ausbildung, 1992.
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I Binswanger gehörte zu den eher klinisch-psychologisch ausgerichteten Psychiatern. Als Arzt mit einer ausgedehnten Privatpraxis und Besitzer einer Poliklinik, die er neben seinem Lehrstuhl betrieb, hatte er, anders als die meisten seiner Kollegen, viel Erfahrung mit den später so genannten »Neurotikern«, die auch die hauptsächliche Klientel eines niedergelassenen Nervenarztes wie Freud bildeten. Den beiden Hauptgruppen, in die damals die Neurosen eingeteilt wurden, der Neurasthenie und der Hysterie, widmete er 1896 und 1904 je ein voluminöses Handbuch. Im ersten vermisste Freud seinen Namen und schwor, er werde an dem Autor »kalte Rache« nehmen, was zwei Jahre später ein Schüler von ihm exekutierte.5 In Binswangers Hysterie-Buch jedoch werden die »Studien über Hysterie« von 1895, das erste, in Ko-Autorschaft mit Josef Breuer entstandene Hauptwerk Freuds, ausgiebig erörtert. Darüber hinaus trug Binswanger sicher wesentlich dazu bei, dass sich das Interesse an der werdenden Psychoanalyse unter seinen Schülern verbreitete, mehr als an irgendeinem anderen Lehrstuhl außer Zürich. Drei von ihnen, Wolfgang Warda, Wilhelm Strohmayer und Arnold Stegmann, gehörten zu den ersten, die sich mit Freuds Neurosenlehre befassten, die sein psychotherapeutisches Verfahren erprobten und darüber publizierten.6 Ein anderer, Adolf Friedländer, der sich ab 1907 als Kritiker der Psychoanalyse profilierte, erinnerte sich dankbar, wie er neun Jahre früher in Jena »in eine medizinisch-psychologisch erfüllte, psychotherapeutisch ausgerichtete Umgebung« kam, in der er sowohl das hypnotische als auch das Breuer/Freud’sche Verfahren erlernte und praktizierte.7 Zu erwähnen sind in dieser Reihe ferner Oskar Vogt und Korbinian Brodmann, die sich zwar kritisch, aber besonders intensiv mit Freud auseinandersetzten. Binswangers Neffe Ludwig, der in Zürich studiert hatte und ein Anhänger Freuds geworden war, arbeitete 1907/08 ein Jahr lang an der Klinik seines Onkels und führte dort eine psychoanalytische Behandlung durch, über die er 1909 im »Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen«, der ersten Zeitschrift der Freud-Schule, eine lange Abhandlung veröffentlichte. Als Strohmayer im selben Jahr einen Aufsatz publizierte, der sich auf den Boden 5 6 7
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Freud, Briefe an Wilhelm Fließ, 1986, 230; Hermanns/Schröter, Luzifer-Amor 6 (1990), 49. Siehe neben den unten genannten Beiträgen von Strohmayer und Warda noch Stegmann, Cbl. Nervenhk. Psychiatr. 27 (1904), 770 f. Friedländer, Zschr. ges. Neurol. Psychiatr. Or. 42 (1918), 99 f.
123 Jena als frühes Zentrum der Freud-Rezeption
der Psychoanalyse stellte, äußerte Freuds englischer Gefolgsmann Ernest Jones die Hoffnung: »Jena will be the first centre [sc. of psychoanalysis] to be established in Germany.«8
So kam es nicht. Aber noch 1918 konnte ein Rezensent über einen Habilitanden von Binswanger schreiben: »Der Jenenser Standpunkt ist den Freudschen Lehren im Allgemeinen ein wenig näher gelegen als der der meisten deutschen Neurologen und Psychiater.«9 In seinem Hysterie-Buch, in dem Breuer und Freud zu den meistzitierten Autoren gehören, hebt Binswanger positiv hervor, dass die Wiener Kollegen die Bedeutung der »psychisch-emotiven Ursachen« der Krankheit erkannt hätten. Er akzeptiert zwar nicht ihre Annahme, »dass jeder spätere hysterische Anfall auf Erinnerungen beruht«, lobt aber das für sie spezifische Konzept der »hysterischen Conversion«, der Umsetzung psychischer Erregung ins Körperliche, als eine »wesentliche Bereicherung unserer Anschauungen über die pathologischen Affectwirkungen.« Dass »Vorgänge und Vorstellungen des sexualen Lebens und die dadurch bedingten Conflicte zwischen den festen anerzogenen Complexen der moralischen Vorstellungen und den Erinnerungen an eigene Handlungen oder auch nur an (sexuale) Organgefühle«10
in der Genese der Hysterie eine Rolle spielen, wird von ihm immerhin erwähnt. Kein Zweifel, dass Binswanger die Befunde von Breuer und Freud einer gründlichen klinisch-theoretischen Überprüfung unterzogen hatte. Trotz mancher Einwände blieb er vom heuristischen Wert der Psychoanalyse als Forschungsinstrument überzeugt.11 Man kann an Binswangers Freud-Rezeption zwei Aspekte hervorheben: Erstens bezog sie sich nur auf die »Studien über Hysterie«, dasjenige unter den Hauptwerken Freuds, das sich am stärksten in den fachlichen Diskurs seiner Zeit einfügte und deshalb der Rezeption auf längere Sicht am wenigsten Widerstand 8 9 10 11
Freud/Jones, The complete correspondence, 1993, 18. Becker, Psychiatr.-neurol. Wschr., 1917–18/19. Binswanger, Die Hysterie, 1904 (66, 770–772 [ohne die Hervorhebungen im Original]). May, Luzifer-Amor 57 (2016), 106 f.
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bot. Und zweitens war sie ganz akademisch. Freud wird nicht als singulärer Neuerer, sondern als einer von mehreren Kollegen gewürdigt, die sich gewichtig zum Thema geäußert hatten; und er wird auch nur partiell anerkannt. Eine solche relativierende Wahrnehmung widersprach dem Selbstverständnis Freuds, der von der Umwelt verlangte, dass sie seine Lehren in toto und rückhaltlos akzeptierte, wie es dann in seiner Schule geschah.
II Unter den (gewesenen) Binswanger-Assistenten, die sich mit Freud beschäftigten, ragt ein heute vergessener Mann hervor: Wolfgang Warda.12 Er leitete seit 1898 eine »Heilanstalt für Nervenkranke« in Bad Blankenburg (Thüringen) und repräsentiert damit denjenigen Strang ihrer Wirkungsgeschichte, in dem die Psychoanalyse nicht von niedergelassenen Nervenärzten, sondern von Sanatoriumsärzten aufgegriffen wurde. Als solcher wandte Warda sowohl das damals moderne Heilmittel der Hypnose an als auch das daraus hervorgegangene »kathartische« Verfahren von Breuer/Freud, das darauf abzielte, die verdrängten krankmachenden Erinnerungen wachzurufen, die daran haftenden Affekte zur »Abreaktion« zu bringen und so die Heilung herbeizuführen. Sein Aufsatz von 1900 über einen Fall von Hysterie war, abgesehen von Freud, die erste ausführliche Darstellung einer kathartischen Behandlung in der gesamten Fachliteratur, was in der Freud-Tradition auch registriert wurde.13 Es war der einzige Beitrag von Warda, der sich mit der Hysterie befasste. Das Hauptthema seiner Publikationen war ein anderes Krankheitsbild: die Zwangsneurose, die er sogar im Titel eines seiner Aufsätze,14 wahrscheinlich wiederum als erster überhaupt, mit diesem notabene von Freud geprägten Namen bezeichnete. In zwei sich ergänzenden Aufsätzen (denen später noch ein Nachzügler folgte) legte Warda die Resultate seiner Forschungen nieder. Zunächst erarbeitete er eine Darstellung zur »Geschichte und Kritik der sogenannten psychischen Zwangszustände«. Sie war 1901 fertig, ist aus unbekannten Gründen erst 1905 erschienen und kann als Wardas wissenschaftliche Hauptleistung gelten. Nach 12 13 14
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Zu ihm: May, Luzifer-Amor 57 (2016), 107–124. Warda, Mschr. Psychiatr. Neurol. 7 (1900); siehe Abraham, Jb. psychoanal. psychopathol. Forsch. 1 (1909). Warda, Zur Pathologie der Zwangsneurose. J. Psychol. Neurol. 1 (1903).
125 Jena als frühes Zentrum der Freud-Rezeption
einem gründlich-umfassenden Durchgang durch die Literatur kommt er zum Höhepunkt seiner Darlegungen; er schreibt: »Einen Markstein in der Geschichte der grossen Neurosen bilden die Veröffentlichungen von Sigmund Freud. Es ist Freud gelungen, (…) eigenartige und bestimmt charakterisirte Mechanismen für die Genese der grossen Neurosen festzulegen.«15
Dies ist einer der ganz seltenen Fälle, wo ein Fachkollege auf die Systematik der klinischen Neurosentheorie Bezug nahm, die Freud in den 1890er Jahren ausarbeitete und in deren Rahmen er der Zwangsneurose einen selbstständigen Platz zuwies.16 Warda referiert dann im Einzelnen, wie Freud zunächst die Zwangszustände durch den Mechanismus der Trennung einer unverträglichen Vorstellung von ihrem Affekt und der »falschen Verknüpfung« des Affekts mit einer an sich harmlosen Vorstellung gekennzeichnet und dann spezifiziert hatte, dass Zwangsvorstellungen »verwandelte, aus der Verdrängung wiederkehrende Vorwürfe [sind], die sich immer auf eine sexuelle, mit Lust ausgeführte Aktion der Kinderzeit beziehen.« Sein Resümee lautet: Erst Freud sei die »glückliche Klärung eines bis dahin unverstandenen Krankheitsbildes gelungen«.17 1903 folgte das klinische Pendant zur früher verfassten, aber später erschienenen theoretischen Arbeit. Warda sieht es als die Aufgabe der Freud nachfolgenden Forschung an, »unzweifelhafte Fälle von Zwangsneurose nach ihrem sexuellen Untergrund zu durchforschen«, und berichtet, dass er in sechs von sieben eigenen Fällen den Nachweis einer lustvollen sexuellen Aktivität in der Kindheit habe führen können. Vier der (durchweg männlichen) Patienten produzierten auf bloßes Fragen einschlägige Erinnerungen – allerdings aus einem späteren Lebensalter, als bei Freud angegeben. Bei zwei weiteren hatte »erst die Analyse im hypnotischen Zustande sexuelle Handlungen, und zwar dem früheren Kindesalter zugehörige, aufgedeckt.«18 Mit diesen Ergebnissen glaubte Warda die empirische Basis von Freuds Thesen verstärkt zu haben. – Dasselbe gilt für eine gleichzeitige Arbeit von Strohmayer über einen Fall von Zwangsvorstellungen, die ausdrücklich an Warda anknüpft.19 15 16 17 18 19
Warda, Arch. Psychiatr. 39 (1905), 282. May-Tolzmann, Freuds frühe klinische Theorie, 1996. Warda, Arch. Psychiatr. 39 (1905), 536; mit Verweis auf Freud (Fn. 2), 1, 65 f., 386. Warda, J. Psychol. Neurol. 1 (1903), 5, 12. Strohmayer, Cbl. Nervenhk. Psychiatr. 26 (1903) = NF 14; zum Autor: Demmler, Wilhelm Strohmayer, 2003.
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126 Michael Schröter
III Besonders interessant an der Jenaer Freud-Rezeption ist, dass ihre Vertreter mehrfach und ausführlich von Erfahrungen mit der kathartischen, also der Breuer/Freud’schen Therapie berichten – so Binswanger selbst in einem Kapitel seines Hysterie-Buchs.20 Ungeachtet der Frage, »ob eine grössere Zahl von Kranken sich dieser geistigen Tortur unterziehen will oder kann«, habe er deren praktischen Nutzen geprüft und in der Tat sehr günstige und anhaltende Erfolge gesehen in Fällen, wo es gelungen war, die Wurzel der »pathologischen Affecterregungen und Affectentladungen« in früheren Erlebnissen aufzufinden und durch eine Aussprache »die Befreiung von der emotionellen Belastung und Schwinden der Krankheitssymptome« herbeizuführen. Allerdings gab es auch andere Verläufe, wo das Unternehmen abgebrochen werden musste, weil für die Kranken daraus Nachteile erwuchsen, z. B. bei einer 24-jährigen Patientin, die durch die Wiedererweckung peinlicher Erlebnisse (einer unerwiderten Liebe) in der Hypnose nicht zu einer heilsamen Abreaktion veranlasst wurde, sondern zu einem Schwelgen in erotischen Träumereien. Alles in allem kann man sagen, dass Binswanger eine wohlabgewogene, wissenschaftlich seriöse und unvoreingenommene Diskussion des kathartisch/analytischen Verfahrens vorgelegt hat. Freilich bezog er sich dabei – und das gilt für die Jenaer FreudRezeption insgesamt – auf einen Entwicklungsstand der Psychoanalyse, der de facto, was aber der Öffentlichkeit bis 1904/06 unbekannt blieb, längst überholt war. Eine weitere Untersuchung des Heileffekts der kathartischen Methode stammt von Oskar Vogt und Korbinian Brodmann,21 zwei Ex-Assistenten Binswangers, die um 1900 in Berlin, bevor sie sich der Gehirnforschung zuwandten, ein großes gemeinschaftliches Forschungsprojekt betrieben, in dem sie sowohl die therapeutische Verwendung der Hypnose untersuchten als auch deren neurosentheoretischen Ertrag. Ihr Projekt erinnert sehr an die damaligen Bemühungen Freuds. Hier sei, unter Vernachlässigung theoretischer Aspekte, nur vermerkt, was die beiden Autoren über den Heilwert von Psychoanalysen in der Hypnose schreiben. Man sieht an ihren Darlegungen, wie gründlich sie sich mit dem 20 21
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Binswanger (Fn. 10), 907–910. Zu Vogt: Satzinger, Die Geschichte der genetisch orientierten Hirnforschung von Cécile und Oskar Vogt, 1998; zu Brodmann: Fix, Leben und Werk des Gehirnanatomen Korbinian Brodmann, 1994 und Mueller/Kanis-Seyfried, J. Hist. Neurosciences 28 (2019). Zu ihrem Forschungsprojekt: Mayer, Mikroskopie der Psyche, 2002, 205–220.
127 Jena als frühes Zentrum der Freud-Rezeption
Verfahren ihrer Wiener Kollegen befasst hatten. Sie führten kathartische Kuren durch (aus denen sie Auszüge publizierten) und prüften unter anderem, inwieweit das bloße »Abreagieren« eine Heilung bewirkte. Ihr Resultat war negativ: Zwar sei das Verfahren, so Brodmann, nützlich, soweit es »die psychische Genese des einzelnen Symptoms erkennen ließ«; aber »erst die Suggestion des Schwindens der mit dem Affecterlebnisse zusammenhängenden Erscheinungen sowie die Belehrung über die Genese der einzelnen Symptome und gemüthliche Beruhigung brachte einen vollen und dauernden Heilerfolg.«22
Auch Vogt bestätigte, dass er einen länger anhaltenden Erfolg nur erzielt habe, wenn er auf den erkannten Mechanismus »suggestiv oder anderweitig psychotherapeutisch einwirkte«. In manchen Fällen aber – »gerade in denjenigen, die das typische ›Abreagiren‹ zeigten« – habe er keinerlei Erfolg oder sogar eine Verschlimmerung beobachtet. Damit stellte sich für ihn die ethische Frage nach der Zulässigkeit einer so riskanten Methode, denn: »Wir müssen uns doch stets vergegenwärtigen, dass Hysterische, die sich uns anvertraut haben, nicht Versuchsobjecte, sondern Patienten sind, die Heilung suchen.« Er fand deshalb, dass die Anwendung des Breuer/Freud’schen Verfahrens erst erlaubt sei, »wenn die ganze andere Therapie fehlgeschlagen hat«. Ähnliche Argumente brachte Brodmann vor.23 Wie ein Echo der Bedenken von Vogt/Brodmann klingen einige Ausführungen, in denen Warda seine zögerliche Verwendung der kathartischen Methode begründete. Schon in seinem ersten Aufsatz erklärte er, dass manche Kranke zu Beginn der Aussprache mit so starken Symptomen oder Affekten reagierten, dass es ratsam sei, auf die Fortsetzung zu verzichten. Andere Male diene die Erkrankung der Verdrängung »von wirklich unerträglichen gemütlichen Erregungen«, und auch da sei »in der Grösse des erlittenen Unglücks eine Indication gegen die kathartische Methode gegeben.«24 Wardas hauptsächliches therapeutisches Prozedere bestand in dem Versuch, in leichter Hypnose »durch immer wiederholten Zuspruch das Selbstmisstrauen zu beseitigen, das Gewissen zu beruhigen, Behagen und Zuversicht zu wecken.« Dass das nicht in Freuds Sinn war, wusste er wohl; aber er hielt dagegen: 22 23 24
Brodmann, Zschr. Hypnot. 10 (1900–02), 369, 374 f. Vogt, Zschr. Hypnot., 8 (1898–99), 73 f.; Brodmann, Zschr. Hypnot. 8 (1898–99), 234. Warda, Mschr. Psychiatr. Neurol. 7 (1900), 302; ein entsprechender zwangsneurotischer Fall bei Warda, J. Psychol. Neurol. 1 (1903), 5 f.
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»Ich habe gelegentlich auch versucht, (…) den Kranken aufzuklären, ihm zu sagen, dass der Ursprung der Zwangsneurose in der sexuellen Aktion der Kinderzeit liege, dass ein Kind für eine solche Handlung nicht verantwortlich gemacht werden könne, dass aber trotzdem ein – demnach unberechtigtes – Schuldgefühl sich bei ihm eingestellt habe, dieses Schuldgefühl knüpfe sich infolge eines merkwürdigen assoziativen Verdrängungsvorganges nicht an jenes Kindererlebnis, sondern an irgendwelche andere, an sich gleichgültige Vorstellungen u. s. w. Meine ursprüngliche Annahme, dass ein derartiges in die Tiefe gehendes Verständnis für die Genese der Krankheit die Beruhigung des Kranken befördern werde, ist nicht eingetroffen.«25
Die Stelle bezieht sich auf jenen Mechanismus der »falschen Verknüpfung« von Affekt und Vorstellung, den Freud als spezifisch für die Ätiologie der Zwangsneurose definiert hatte. Offenbar hat Warda redlich versucht, diese Angabe für die Therapie nutzbar zu machen, und es ist eindrucksvoll zu sehen, wie hier ein Arzt mit der praktischen Umsetzung von Freuds klinischer Theorie ringt. Was ihm dabei im Weg steht, ist nicht Prüderie oder Ängstlichkeit, sondern sein berufliches Ethos. Rücksicht auf die Patienten ist überhaupt ein gemeinsamer Nenner der Einwände, die Autoren wie Binswanger, Brodmann, Vogt oder Warda gegen Freuds Heilverfahren vortrugen. Sie brachten damit ein Motiv zur Geltung, das Freud seinem forscherischen Impetus unterordnete, indem er die Prozesse des Forschens und Heilens in eins setzte.26 Warda beendete seine zitierten Ausführungen mit dem Fazit: »Wir werden in der Psychotherapie der Zwangsneurose den grösstmöglichen Erfolg erreichen, wenn psychologischer Eifer und warmes Interesse für unsere Kranken sich vereinigen.«27
Das Heilungs- und das Erkenntnisstreben werden hier als gleichrangig hingestellt, was Freuds Wertehierarchie widersprach. Dies ist ein wenig beachteter Faktor, der zu den Schwierigkeiten der Rezeption seines Werks auch bei Kollegen, die ihm an sich wohlgesonnen waren, beigetragen hat. 25 26 27
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Warda, Mschr. Psychiatr. Neurol. 22 (1907) (Ergänzungsheft: Festschrift für O. Binswanger), 149–160. Zur Problematik dieses »Junktims«: Schröter, Merkur 50 (1996), 631 ff. Warda Mschr. Psychiatr. Neurol. 22 (1907) (Ergänzungsheft: Festschrift für O. Binswanger), 160.
129 Jena als frühes Zentrum der Freud-Rezeption
IV So beachtlich die frühe Jenaer Freud-Rezeption war, sie hatte systematische Grenzen. Man erkennt sie, wenn man zum Vergleich die sehr viel wirkmächtigere Züricher Rezeption unter Eugen Bleuler und C. G. Jung betrachtet.28 Drei Punkte des Unterschieds stechen zunächst ins Auge: ➢ Erstens bauten die Züricher die Psychoanalyse in ein großangelegtes psychiatrisches Forschungsprojekt ein, das sich auch experimentalpsychologischer Methoden bediente. Das heißt, sie verhielten sich zu ihr im Gegensatz zu allen Zeitgenossen, Binswanger eingeschlossen, kreativ und nicht nur rezeptivkritisch. ➢ Zweitens verwendeten sie Freuds Werk in viel geringerem Maß für therapeutische Zwecke, die in Jena im Mittelpunkt standen. Man kann auch sagen: Sie rezipierten nicht primär die »Studien über Hysterie«, sondern »Die Traumdeutung«, Freuds opus magnum, das für Binswanger und seine Schüler kaum eine Rolle spielte. Dieser Unterschied hängt damit zusammen, dass die Arbeit in Thüringen großenteils an Privatkliniken stattfand (bei Vogt und Brodmann auch in der Privatpraxis), während man in Zürich im Rahmen einer psychiatrischen Anstalt vor allem forschte. ➢ Drittens erkannten die Züricher Psychiater an, dass Freud bestimmte »psychologische Prinzipien« oder »Mechanismen« des Seelenlebens entdeckt hatte – eine fundamental »neue Psychologie«, die schwerer wog und fruchtbarer war als einzelne klinisch-theoretische oder behandlungstechnische Vorschläge, an der aber den Jenaern nichts gelegen war. Von großer zukunftsweisender Bedeutung waren die sozialen Konsequenzen, die Bleuler und seine Leute, wieder im Gegensatz zu den Jenaer Psychiatern, aus ihrer Hinwendung zu Freuds Lehre zogen. Sie beschränkten sich nicht darauf, die Psychoanalyse als Leser kennenzulernen, sondern machten den Schritt, den Freud generell von interessierten Kollegen verlangte: dass sie auf ihn zukamen, um sich von ihm über seine Methode und seine Befunde, und zwar ihren aktuellen Stand, belehren zu lassen. Eine Folge war, dass sie in ein Schüler-Verhältnis zu Freud traten und zur treibenden Kraft der entstehenden Freud-Schule wurden, die sich ab 1908 in eigenen Kongressen, Zeitschriften und einer eigenen Fachvereinigung manifestierte. Einige der Jenaer Psychoanalyse-Interessenten – Stegmann, Strohmayer und 28
Mehr dazu bei Schröter, in Freud/Bleuler, Briefwechsel, 2012, 15–43.
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Warda – beteiligten sich an den Anfängen der psychoanalytischen Schulenbildung, indem sie die freudianischen Kongresse besuchten und 1910 in die Berliner Ortsgruppe der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) eintraten, wo sie fast so viele Gründungsmitglieder stellten wie Berlin. Aber zwei Jahre später waren sie wieder weg.29 Vielleicht nahmen sie Anstoß daran, dass in der IPV ein anderer wissenschaftlicher Diskurs herrschte als gemeinhin üblich, der z. B. dazu führte, dass Freud Strohmayer einem »scharfen Analysenversuch« unterzog, weil er sich in einem Aufsatz skeptisch über Traumdeutungen und den therapeutischen Effekt der Psychoanalyse geäußert hatte.30 Aber die Tatsache, dass Warda und Strohmayer 1911 ihren Austritt mit der Verpflichtung aller IPVMitglieder zum Abonnement der neuen Vereinszeitschrift, des »Zentralblatts für Psychoanalyse«, motivierten,31 weist darauf hin, dass sie bei einer zunehmend festgefügten, auf sich selbst bezogenen Schule, zu der die Freudianer damals wurden, nicht mitmachen wollten. Zwar hatten sie gern ein Stück weit mit Freuds Annahmen und Methoden gearbeitet und taten das, wie der Fall Strohmayers zeigt,32 auch in Zukunft, aber eine weitergehende Identifizierung mit seiner Sache lehnten sie offenbar ab. Sie blieben dem Mainstream ihres Fachs verhaftet, von dem sich die Freud-Schule entfernte.
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Giefer, Das Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 1910–1941, 2007 (CB/I/1910/2; C/II/1912/238). Strohmayer, Zschr. Psychother. med. Psychol. 2 (1910); mehr dazu: May, Luzifer-Amor 57 (2016), 135–145. Freud/Abraham, Briefwechsel, 2009, 251. Er veröffentlichte 1919 einen Aufsatz, in dem er im ausdrücklichen Anschluss an Freud der sadistisch-masochistischen Komponente des Sexualtriebs eine Hauptrolle bei der Symptombildung der Zwangsneurose zuschrieb (Zschr. ges. Neurol. Psychiatr. Or. 45 [1919]). Und in der 2. Auflage seiner »Psychopathologie des Kindesalters« von 1923 finden sich gegenüber der 1. von 1910 zwei neue längere Bezüge auf Freud (26 f., 50−54).
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Geschichte des Kirchenrechts
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»Ne crimina remaneant impunita« Innozenz III. und das Inquisitionsverfahren Markus Hirte
I
Einführung
»Die Rechtsgeschichte wird vor allem dann gerne herbeizitiert, wenn es gilt, aus ihr aktuell verwertbares rechtspolitisches Kapital zu schlagen.«1 Dass ihr die damit angetane Ehre nicht immer bekommt, wird neben den Hexenverfolgungen vor allem bei dem schlecht beleumundeten Inquisitionsprozess greifbar, wie Günter Jerouschek in den ersten Zeilen seines wegweisenden Aufsatzes in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft aus dem Jahre 1992 feststellt und ebenso im Schlusskapitel eines weiteren publizistischen Marksteins, dem Beitrag zu Ne crimina remaneant impunita in der Kanonistischen Abteilung der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte aus dem Jahr 2003.2 Beide eingangs zitierten Aufsätze des Jubilars sind bewusst gewählt, lenken sie doch einem Brennglas gleich den Fokus auf einen Forschungsschwerpunkt des Jubilars: die ältere Strafrechtsgeschichte. Wie dem Schriftenverzeichnis Günter Jerouscheks unschwer zu entnehmen ist, gehört er zu den wenigen Strafrechtslehrern, die sich konsequent und über Jahrzehnte auch diesem Bereich der Rechtsgeschichte widmeten, einem Bereich, der zunehmend an die Peripherie exiliert zu werden scheint. Die zunehmende Selbstbeschränkung der Strafrechtsgeschichte heutiger Provenienz auf die Zeitgeschichte mutet fast schon disparat an, wurden doch »die 1 2
Jerouschek, Die Herausbildung des peinlichen Inquisitionsprozesses im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, ZStW 104, 1992, 328 (328). Vgl. ders., Die Herausbildung des peinlichen Inquisitionsprozesses im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, ZStW 104, 1992, 328 (360) sowie ders., »Ne crimina remaneant impunita«. Auf daß Verbrechen nicht ungestraft bleiben: Überlegungen zur Begründung öffentlicher Strafverfolgung im Mittelalter, ZRG KA 89, 2003, 323 (323 f.).
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134 Markus Hirte
Prinzipien des modernen Strafrechts nicht erst in der Aufklärung, sondern schon in den christlich-theologischen Diskussionen des Hochmittelalters und der frühen Neuzeit herausgebildet« und ist überdies das Strafrecht das von allen Rechtsgebieten »wohl am stärksten und nachhaltigsten von religiösen Einflüssen« geprägte.3 Zwei von Günter Jerouschek etablierte Termini, »Kanonistenquadriga«4 und »Triangulierung des Rechts«5, begleiten mich seit der Studienzeit. Sie kulminieren in den Forschungen des Jubilars zu Papst Innozenz III. (1198–1216), weshalb sich dieser Beitrag denn auch Papst Innozenz III. und dem Lateranum IV (unten, II., III.), dem Inquisitionsverfahren und vor allem dem Programmsatz Ne crimina remaneant impunita widmet. Dabei soll ein Augenmerk auf die Entwicklung der Forschung in den letzten gut 20 Jahren gelegt werden (unten, IV.) und bei Ne crimina ein Schwerpunkt auf dessen Provenienz in den Registern Innozenz’ III. (unten, V.).
II Das Pontifikat Innozenz’ III. Wie wenige Päpste kann Innozenz III. auf eine jahrhundertelange strafrechtshistorische Forschungsgeschichte zu seiner Person und Amtszeit blicken. Sein Pontifikat ist in dreifacher Hinsicht als außergewöhnlich zu bezeichnen. Zunächst mit Blick auf den historischen Kontext selbst – fällt es doch in eine für die katholische Kirche außen- und innenpolitisch äußerst krisenintensive Zeit. Als besonders problematisch stellten sich die moralischen und sittlichen Zustände innerhalb des Kirchenapparates heraus, die abweichenden Glaubenslehren massiven Zulauf bescherten, insbesondere in Südfrankreich.6 Außergewöhnlich ist das Pontifikat fürderhin auch mit Blick auf den Pontifex selbst. Lothar von Segni bestieg nämlich im Jahr 1198, mit gerade einmal 37 Jahren, als einer der jüngsten Päpste der Geschichte den Thron Petri.7 Fortan lenkte 3 4 5 6 7
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Beide Zitate Maihold, Die Grundlegung des modernen Strafrechts in der christlichen Theologie, Kansai University review of law and politics, Vol. 39, 2018, 21 (22). Rüping/Jerouschek, Grundriss der Strafrechtsgeschichte, 6. Aufl. 2011, 15 Rn. 32. Rüping/Jerouschek (Fn. 4), 32 Rn. 76. Vgl. dazu auch Utz Tremp, Von der Häresie zur Hexerei. »Wirkliche« und imaginäre Sekten im Spätmittelalter, 2008, 48–58. Zu der mittlerweile fast unübersehbaren Literatur zu Innozenz III. in chronologischer Folge und exemplarisch Tillmann, Papst Innocenz III. (Bonner historische Forschungen 3), 1954; Imkamp, Das Kirchenbild Innocenz’ III. (1198–1216) (Päpste und Papsttum 22),
135 »Ne crimina remaneant impunita«
er die Papstkirche derart geschickt, dass er bereits zu Lebzeiten als Lichtgestalt und nostri temporis Salomonis8 galt. Die Nachwelt ehrte ihn gar mit Attributen wie »Leader of Europe«, »Weichensteller der Geschichte Europas« oder »Vollender des Papstkönigtums«.9 Drittens ist dieses Pontifikat außergewöhnlich hinsichtlich seines Quellenbestandes. So gehörte Innozenz III. zu den ersten Päpsten, die sogenannte Register führten, also Sicherheitskopien von Dokumenten, welche die Kurie verließen.10 Hinzu kommt, dass dieses Register das erste einigermaßen vollständig erhaltene ist und über dieses mehr als 4.000 Briefe11 und Entscheidungen zwischen 1198 und 1216 auf uns gekommen sind – eine für das Hochmittelalter stattliche Quellenlage. Dass mittlerweile für die ersten 15 Registerjahre hervorragende Edierungen mit Texten und Indices vorliegen, erleichtert die rechtshistorische Forschung ungemein.12 Ein Wermutstropfen bleibt die fehlende Überlieferung der Registerjahre drei, vier und 17 bis 19, die nur teilweise rekonstruiert werden können über die Regesten von Potthast13 und anderwei-
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1983; Pennington (Hrsg.), Popes, Canonists and Texts 1150–1550 (Collected studies series 412), 1993; Sayers, Innocent III. Leader of Europe 1198–1216 (The Medieval World), 1994; Frenz (Hrsg.), Papst Innozenz III. Weichensteller der Geschichte Europas. Interdisziplinäre Ringvorlesung an der Universität Passau, 5.11.1997–26.5.1998, 2000; Moore, Pope Innocent III (1160/61–1216). To Root Up and to Plant (The Medieval Mediterranean 47), 2003; Hanne, De Lothaire à Innocent III. L’ascension d’un clerc au XIIe siècle (Le temps de l’histoire 27), 2014. Zum ganzen Absatz vgl. auch Hirte, Papst Innozenz III., das IV. Lateranum und die Strafverfahren gegen Kleriker. Eine registergestützte Untersuchung zur Entwicklung der Verfahrensarten zwischen 1198 und 1216 (Rothenburger Gespräche zur Strafrechtsgeschichte 5), 2005, 21–32. So etwa Rainerius von Pomposa bereits 1202 in seiner prefatio zu Prima collectio decretalium innocentii III vgl. Migne (Hrsg.), patrologiae cursus completus …, series latina, tomus 216, 1890, Sp. 1173. Vgl. Sayers (Fn. 7); Frenz, Papst Innozenz III. Weichensteller der Geschichte Europas? (Einführung), in: ders. (Fn. 7), 7–19; Bihlmeyer/Tüchle, Kirchengeschichte Band II – Das Mittelalter, 19. Aufl. 1996, 270. Vgl. dazu und zum ganzen Absatz Hirte (Fn. 7), 36 f. m. w. N. Zu den kurialen Briefen vgl. aus der neueren Literatur Broser/Fischer/Thumser (Hrsg.), Kuriale Briefkultur im späteren Mittelalter. Gestaltung – Überlieferung – Rezeption, 2015. Hageneder u. a. (Bearb.), Die Register Innocenz’ III., Bände 1 bis 15, 1964–2022. Für die bislang nicht edierten Pontifikatsjahre 1213/14 bis 1216 muss noch auf Migne (Hrsg.), patrologiae cursus completus …, series latina, tomus 216–217, 1855 rekurriert werden. Potthast, Regesta Pontificum Romanorum – inde ab anno post christum natum 1198–1304, Vol. 1, 1874 (ND 1957).
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tige Register14 und Briefesammlungen, etwa bei Theiner.15 Bei Rekursen auf die Register muss freilich immer vergegenwärtigt werden, dass nur ein kleiner Teil des tatsächlichen Urkundenausstoßes der Kurie überhaupt registriert wurde. Dass – trotz dieses Caveats – die strafrechtsgeschichtliche Forschung zum Pontifikat Innozenz’ III. sich nach wie vor primär auf die wenigen Liber ExtraQuellen fokussiert, nimmt sich freilich etwas befremdlich aus. Konsultiert man den gesamten Quellenbestand der kurialen Register von 1198 bis 1216, lassen sich neben der Entwicklung der Verfahrensarten auch zu Ne crimina interessante Facetten aufzeigen; doch dazu später mehr.
III Neues zu Innozenz III. und dem Lateranum IV? Seit Mitte der 2000er Jahre widmeten sich verstärkte Netzwerkforschungen dem universalen Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innozenz III.16 Diese konnten aufzeigen, »dass der Einsatz päpstlicher Instrumente der kirchlichen Herrschaftsausübung wie Legaten, delegierte Richter oder die Dekretalengesetzgebung bisweilen mehr eine Reaktion auf die Nachfrage der Ortskirchen waren als das Produkt gezielter Zentralisierungsbemühungen Roms(, wenngleich) sie zu Eingriffsmitteln umgeformt (wurden), in denen nicht zuletzt das transpersonale Kirchenregiment des Papsttums zum Ausdruck kam«.17 Von 2007 bis 2009 förderte die Deutsche Forschungsgemeinschaft dann ein internationales Forschungsnetzwerk mit dem Titel »Das universale Papsttum und die europäischen Regionen im Hochmittelalter«.18 Dieses bestätigte das 14 15
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Vgl. dazu Hirte (Fn. 7), 36 f m. w. N. Theiner, Vetera monumenta slavorum meridionalium historiam illustrantia maximam partem nondum edita ex tabulariis vaticaniis deprompta collecta ac serie chronologica disposita – tomus primus – ab Innocentio PP. III usque ad Paulum PP. III. 1198–1549, 1863 (ND 1968). Vgl. Johrendt/Müller (Hrsg.), Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innozenz III., 2008. Johrendt/Müller, Rom und die Regionen. Zum vorläufigen Abschluss eines Forschungsprojekts, in: dies. (Hrsg.), Rom und die Regionen. Studien zur Homogenisierung der lateinischen Kirche im Hochmittelalter, 2012, 1 (3 f.). Vgl. Johrendt/Müller (Fn. 17), 1 (3).
137 »Ne crimina remaneant impunita«
vorbenannte interaktive Grundkonzept, wenn es konzediert, dass »die Päpste für ihr Kirchenregiment durchgehend auf personale Netze angewiesen [blieben], die von Papst zu Papst differieren und daher auch deren Durchsetzungsfähigkeit steigern oder schwächen konnten (; wenngleich) unabhängig von der persönlichen Eignung des amtierenden Papstes (… das Papsttum) aber umfassende, zeitübergreifende Geltungsansprüche (artikulierte … und …) deren Akzeptanz bei den Ortskirchen (einforderte)«.19 Nach dem heutigen Forschungsstand gingen die Zentralisierungsbemühungen also nicht nur von Rom aus. Dank prominenter Jubiläen, etwa 800 Jahre Lateranum IV im Jahr 2015 und dem 800. Todestags Papst Innozenz’ III. im Jahr 2016, rückte das bedeutende Pontifikat Innozenz’ III. im letzten Jahrzehnt wieder stärker in den Fokus der Wissenschaft mit einer stattlichen Anzahl an Tagungen und Publikationen, »die sich wegen der begrenzten Zahl der Fachleute zum Thema manchmal überschnitten«.20 Im November 2015 etwa widmete sich ein internationales Symposium führender internationaler Universitäten mit über zweihundert Teilnehmern eine Woche lang in Rom dem Lateranum IV.21 Transalpin ist besonders die Erlanger Tagung im Juli 2015 hervorzuheben mit der von Michele C. Ferrari, Klaus Herbers und Christiane Witthöft herausgegebenen Publikation »Europa 1215. Politik, Kultur und Literatur zur Zeit des IV. Laterankonzils«.22 Beim Blick in Veranstaltungsprogramm und Inhaltsverzeichnis fällt auf, dass die Themen immer breiter angelegt werden, etwa durch die Einbeziehung von Kunst- und Architektur- sowie Literaturgeschichte. Juristen sucht man unter den geladenen Referenten und Autoren jedoch oft vergebens. So verwundert es nicht, wenn die jüngeren Entwicklungen in der Innozenzund Laterankonzilsforschung für die Strafrechtsgeschichte wenig Neues bringen. Erfreulich ist gleichwohl, dass in dem atavistisch geziehenen und seit 1974 vermittels Stephan Kuttner und Kenneth Pennington wiederbelebten Streit, in19 20
21
22
Johrendt/Müller (Fn. 17), 1 (4). Maleczek, Rezension zu Ferrari/Herbers/Witthöft (Hrsg.), Europa 1215. Politik, Kultur und Literatur zur Zeit des IV. Laterankonzils, 2018, in: Francia-Recensio, 2019-3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: 10.11588/frrec.2019.3.66325 https://www.recensio. net/rezensionen/zeitschriften/francia-recensio/2019-3/mittelalter-moyen-age-500 -1500/ReviewMonograph238268596 (letzter Zugriff: 13.12.2022). Vgl. https://bioeg.hypotheses.org/1390 sowie https://www.academia.edu/18517837/ Concilium_Lateranense_IV_23_29_November_2015_Rome_final_conference_ program (beide letzter Zugriff: 13.12.2022). Ferrari/Herbers/Witthöft (Hrsg.), Europa 1215. Politik, Kultur und Literatur zur Zeit des IV. Laterankonzils, 2018.
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wieweit Innozenz III. denn nun ein Juristenpapst sei,23 wieder etwas Bewegung kommt. So wurde in den letzten Jahrzehnten aufbauend auf Christoph Egger24 und Wilhelm Imkamp25 Innozenz III. zunehmend als (rechtlich versierter) Theologe und weniger als theologisch bewanderter Jurist eingeordnet, wie Christoph H. F. Meyer jüngst noch einmal unterstrich26 und den Segni-Papst insoweit eher als »mutigen Erneuerer« kategorisiert, »der dank seines vielschichtigen Bildungshintergrunds in der Lage war, das Instrument des geschriebenen Rechts mit Blick auf die zeitgenössischen Regelungsanliegen und -bedürfnisse der Kirche kunstvoll und innovativ zu handhaben«.27 Constance M. Rousseau hingegen wies vor Kurzem in einem Beitrag zum Konsensprinzip bei der Begründung der christlichen Ehe eine beachtliche juristische Kompetenz des Papstes nach und schloss sich Frahers Sicht auf Innozenz als »lawyer pope« an.28 Sofern diese Einordnung in den Debatten mit einem quellenmäßig nicht belegbaren Kanonistik-Studium von Lothar von Segni in Bologna angegriffen wird, verkennt dies, wie stark der junge Segni bereits als Kardinaldiakon spätestens unter Coelestin III. auch mit Rechtsprechungsfragen betraut war und dass er bis zur Papstwahl in den wöchentlichen Konsistoriumssitzungen regelmäßig die teils höchst komplizierten Fälle an der Kurie (mit)verhandelte.29 Allein die mindestens siebenjährige Tätigkeit in der kirchlichen Gerichtsbarkeit würde ein weitaus kürzeres (mögliches) Rechtsstudium in Bologna mehr als kompensieren. Insoweit kann Innozenz III. mit Fug und Recht als Juristenpapst gesehen30 23
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Vgl. hier Pennington, The Legal Education of Innocent III, in: Bulletin of Medieval Canon Law, Volume 80, 1974, 70 (v. a. 70, der Asteriskus, der leider im Nachdruck ders., [Fn. 7], 1 entfernt wurde, vgl. auch ders. The Fourth Lateran Council, Its Legislation, and the Development of Legal Procedure, in: Witte Jr./Mc Dougall/di Robilant (Hrsg.), Text and Contexts in Legal History: Essays in Honor of Charles Donahue, 2016, 179 (v. a. 189 f. m. w. N. zum früheren Streitstand). Egger, Papst Innocenz III. als Theologe, AHP 30, 1992, 55. Imkamp (Fn. 7). Meyer, Das Vierte Laterankonzil als Einschnitt der kirchlichen Rechtsgeschichte, in: Ferrari/Herbers/Witthöft (Fn. 22), 29 (58). Meyer (Fn. 26), 29 (62). Vgl. Rousseau, Innocent III: A Lawer-Pope and His Consensual »Policy« of Marriage? A Reconsideration, ZRG KA 107, 2021, 172 (217 f.). Vgl. dazu und folgend bereits Hirte (Fn. 7), 32 f. m. w. N. So auch Becker, Päpstliche Gesetzgebung und päpstlicher Gesetzgebungsanspruch von Innozenz III. bis zu Innozenz IV., in: Dilcher/Quaglioni (Hrsg.), Die Anfänge des öffentlichen Rechts, Band 2: Von Friedrich Barbarossa zu Friedrich II., 2008, 157 (160) und Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren, 2. Aufl. 2021, 81.
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und sein Wirken als »Retheologisierung des Kirchenrechts« eingeordnet werden.31 Der rechtshistorischen Laterankonzilsforschung folgend ressortiert zwischenzeitlich das Lateranum IV im Bereich der »Wiederentdeckung der Gesetzgebung«.32 Dabei seien die 71 Konzilskonstitutionen nicht »ex post, sondern a priori« und »en bloc erlassen« worden.33 Auch die von den canones der Lateranum I bis III abweichende Terminologie der Bestimmungen des Lateranum IV als constitutiones indiziert ein Gesetzesverständnis römisch-rechtlicher Provenienz und spricht für einen außerordentlichen Gesetzgebungsenthusiasmus.34 Nach Sicht Kenneth Penningtons brachte Innozenz III. die Konzilskonstitutionen gar als eigene Gesetzessammlung in Umlauf.35 So erscheint das IV. Laterankonzil »als Teil einer breiter angelegten rechtlich-institutionellen Erneuerung und insofern als ein Neuanfang«.36 Wenden wir den Blick von Innozenz III. und dem Lateranum IV nun auf den Forschungsstand zu den verfahrensrechtlichen Entwicklungen in diesem Pontifikat.
IV Neues zum kirchlichen Inquisitionsverfahren? Der Rückzug der Strafrechtler aus der älteren Strafrechtsgeschichte macht sich hier besonders bemerkbar. Trotz der klaren Ausführungen im Grundriss der Strafrechtsgeschichte von Rüping und Jerouschek vor fast 20 Jahren37 geistert nach wie vor noch eine unkritische Herleitung des kirchlichen Inquisitionsverfahrens aus einem »Infamationsverfahren« durch die Sekundärliteratur, etwa bei Kai Am31
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Landau, Innocenz III. und die Dekretalen seiner Vorgänger, in: Sommerlechner (Hrsg.), Innocenzo III – Urbs et Orbis: Atti del Congresso Internazionale Roma, 9–15 settembre 1998 – Vol. I, 2003, 175 (198 f. m. w. N. auf den maßgeblichen Beitrag Landau, Sakramentalität und Jurisdiktion, in: Rau/Reuter/Schlaich [Hrsg.], Das Recht der Kirche, Band 2: Zur Geschichte des Kirchenrechts, 1995, 58). Landau, Über die Wiederentdeckung der Gesetzgebung im 12. Jahrhundert, in: Drossbach (Hrsg.), Von der Ordnung zur Norm. Statuten in Mittelalter und Früher Neuzeit, 2010, 13 (14). Meyer, in: Ferrari/Herbers/Witthöft (Fn. 22), 29 (52). Vgl. Meyer, in: Ferrari/Herbers/Witthöft (Fn. 22), 29 (53 f. m. w. N. auf Landau). Vgl. Pennington, The Fourth (Fn. 23), 179 (182–188). Meyer, in: Ferrari/Herbers/Witthöft (Fn. 22), 29 (52). Vgl. bereits die 5. Aufl. 2007 und zuletzt Rüping/Jerouschek (Fn. 4), 15 f. Rn. 33.
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bos38 oder Christine Buschbell,39 bei letzterer noch angereichert um eine Referenz auf Ludwig Förg, der 1932 die bischöfliche Send als Nachfolgerin des Akkusationsprozesses sah.40 Erfreulich ist, dass die strafrechtshistorische Literatur, unter anderem bereits Peter Landau im Jahr 2006,41 neuere kritische, registergestützte Forschungen mittlerweile stärker zur Kenntnis nimmt,42 welche eine Genese aus einem »Infamationsverfahren« als eher unwahrscheinlich erscheinen lassen.43 Gleichwohl zeigt sich, dass gerade bei theologischen oder historischen Arbeiten zum kirchlichen Inquisitionsprozess die juristische Schwesterdisziplin notorisch ausgeblendet wird, worauf der Jubilar bei der Rezension zu Lotte Kérys Habilitationsschrift zu Recht und deutlich hinwies.44 Auch feiern viele mittlerweile längst überwunden geglaubte Thesen munter einen zweiten Frühling. So konstatiert das Lehrbuch zur Strafrechtsgeschichte von Mark Pieth auch in der zweiten Auflage 2020 lapidar, dass das Inquisitionsprinzip als Alternative zum klassischen akkusatorischen Prinzip seit Innozenz III. im Jahr 1215 aufkam,45 Innozenz »als ›Erfinder‹ des Inquisitionsprozesses gilt«46 38 39 40
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Ambos, Zum heutigen Verständnis von Akkusationsprinzip und -verfahren aus historischer Sicht, Jura 2008, 586 (588). Buschbell, Die Inquisition im Hochmittelalter. Wurzeln, Bedeutung, Missbräuche, 2010, 33–37. Buschbell (Fn. 39), 31 mit Verweis auf Förg, Die Ketzerverfolgung in Deutschland unter Gregor IX., ihre Herkunft, ihre Bedeutung und ihre rechtlichen Grundlagen, 1932, 22–24. Vgl. dazu und folgend Landau, Lehrbuch contra Fälschung. Die Bamberger Anfänge der europäischen Strafrechtswissenschaft und die Würzburger Güldene Freiheit, DA 62, 2006, 505 (522). Exemplarisch etwa Zabel, Die ordnungspolitische Funktion des Strafrechts. Zur Geschichte, Bedeutung und Legitimation staatlicher Rechtssicherheitsgewährleistung, ZStW 120, 2008, 68 (74 f.); Burret, Der Inquisitionsprozess im Laienspiegel des Ulrich Tengler. Rezeption des gelehrten Rechts in der städtischen Rechtspraxis, 2010, 22; Rüping/Jerouschek, (Fn. 4), 15 f. Rn. 33; Becker, Art. Infamatio, HRG Band 2, 2. Aufl. 2012, Sp. 1211 (Sp. 1211); Krey, Art. Inquisitionsprozess, HRG Band 2, 2. Aufl. 2012, Sp. 1243 (Sp. 1248); siehe auch Müller, Verletzende Worte. Beleidigung und Verleumdung in Rechtstexten aus dem Mittelalter und aus dem 16. Jahrhundert, 2. überarb. Aufl., 2022, 36, 151–153, 160 f. Hirte (Fn. 7), 115–138, 167–197. Vgl. dazu Jerouschek, Rezension zu Lotte Kéry, Gottesfurcht und irdische Strafe, ZRG KA 94, 2008, 336 (337, 340). Vgl. Pieth, Strafrechtsgeschichte, 2. Aufl. 2020, 22. Pieth (Fn. 45), 6.
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und »das Gottesurteil (…) erst von Papst Innozenz III. auf dem IV. Laterankonzil um 1215 in Frage gestellt (wurde)«47. Zwar ist es vollkommen richtig, dass die 18. Konzilskonstitution dieses Lateranums Ordale untersagte, allerdings mit dem Hinweis saluis nichilominus prohibitionibus de monomachiis siue duellis antea promulgatis.48 Eine kurze Konsultation der umfangreichen Sekundärliteratur zum Ordal hätte indes klargestellt, dass sich bereits lange vor Innozenz’ Kritik am Gottesurteil regte und die Konzilskonstitution insoweit nur den Schlussstein markierte.49 Nachdem das ausweislich des Vorworts an schweizerische Studierende gerichtete Lehrbuch auch 2020 noch eine längst widerlegte, gemeinsame Urheberschaft des Hexenhammers von Kramer und Sprenger kolportiert,50 auf lange überholte Kommentierungen verweist,51 weidlich die kaum noch vertretbare Heinsohn/Steigersche These des obrigkeitlichen Ausrottungsfeldzuges gegen die Hexen bedient,52 und beides garniert mit Referenz auf den genau Gegen47 48
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Pieth (Fn. 45), 6. García/García (Hrsg.), Constitutiones Concilii quarti Lateranensis una cum Commentariis glossatorum, Monumenta Iuris Canonici Series A: Corpus Glossatorum Vol. 2, Città del Vaticano, 1981, 66 Z. 11–13. Vgl. exemplarisch bereits Fraher, IV Lateran’s Revolution in Criminal Procedure: The Birth of Inquisitio, the End of Ordeals, and Innocent III’s Vision of Ecclesiastical Politics, in: Castillo Lara (cur.), Studia in honorem eminentissimi cardinalis Alphonsi M. Stickler (Pontificia Studiorum Universitas Salesiana, Facultas iuris canonici. Studia et textus historiae iuris canonici 7), 1992, 97 (106); Schmoeckel, Glaube und Glaubwürdigkeit vor Gericht. Ordale im Spannungsfeld von Recht und Gesellschaft, in: Landau/Nehlsen/Schmoeckel (Hrsg.), Karl von Amira zum Gedächtnis, 1999, 291 (v. a. 294–298) und Hirte (Fn. 7), 113, 134. Pieth (Fn. 45), 34 f. Die Autorenschaft von Sprenger ist bereits seit 1992 widerlegt, vgl. Jerouschek (Hrsg.), Malleus Maleficarum 1487 – Von Heinrich Kramer (Institoris). Nachdruck des Erstdruckes von 1487 mit Bulle und Approbatio, 1992, XIV–XVI. Pieth (Fn. 45), 36 Anm. 235 mit Hinweis auf Sprenger/Institoris, Der Hexenhammer (Malleus maleficarum), aus dem Lateinischen übertragen und eingeleitet von J. W. R. Schmidt, 1982. Die bereits vor über 20 Jahren erschienene und mittlerweile eine 14. Auflage erreichende, kommentierte Neuübersetzung von Behringer/Jerouschek (Hrsg.), Heinrich Kramer (Institoris), Der Hexenhammer. Malleus Maleficarum, Kommentierte Neuübersetzung. Neu aus dem Lateinischen übertragen von Wolfang Behringer, Günter Jerouschek und Werner Tschacher, 2000 scheint gänzlich übersehen worden zu sein; erklärt aber auch die Perpetuierung der fälschlichen Urheberschaft Sprengers. Pieth (Fn. 45), 35 f. mit Verweis auf Heinsohn/Steiger, Die Vernichtung der weisen Frauen. Beiträge zur Theorie und Geschichte von Bevölkerung und Kindheit, 6. Aufl. 1994; dagegen bereits dezidiert die Rezension von Jerouschek: Des Rätsels Lösung? – Zur
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sätzliches vertretenden Jubilar im Grundriss der Strafrechtsgeschichte,53 ist dem juristischen Nachwuchs zu wünschen, die Universitätsbibliotheken verzichteten auf die Anschaffung des Werkes. So ist bei der Frage der Entstehung des (kirchlichen) Inquisitionsverfahrens leider zu konstatieren: wenig Neues und nach wie vor zu viel unreflektiert Altes. Damit soll der Blick gelenkt werden auf den Forschungsstand zum öffentlichen Strafanspruch – eine der erfolgreichsten Rechtsmaximen des ius commune54; der öffentliche Strafanspruch, der in den Quellen treffend beschrieben wird als Rei publicae interest, ne crimina remaneant impunita – übersetzt: dem Gemeinwesen liegt daran, dass Verbrechen nicht ungestraft bleiben – oder um Ne crimina mit den Worten des Jubilars zusammenzufassen: »(ein) Programmsatz, (der) offenbar die Schlagkraft (entfaltete), mit der ein strafrechtlicher Paradigmenwechsel auf den Begriff gebracht werden konnte«.55
V Neues zu Ne crimina remaneant impunita im Pontifikat Innozenz’ III. Ne crimina ist seit vielen Jahrzehnten Gegenstand der Forschung, auch in den letzten Dekaden. Selbst in der strafrechtsgeschichtlichen Einführungsliteratur hat Ne crimina mittlerweile prominent Einzug gehalten. So widmete Ettore Dezza in seiner »Geschichte des Strafprozessrechts in der Frühen Neuzeit« Ne crimina gleich die erste Kapitelüberschrift.56
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Deutung der Hexenprozesse als staatsterroristische Bevölkerungspolitik, Kritische Justiz 19, 1986, 443. Vgl. etwa Pieth (Fn. 45), 34 Anm. 230, 35 Anm. 232; a. A. Rüping/Jerouschek (Fn. 4), 60 Rn. 144 sowie Jerouschek: Des Rätsels Lösung? – Zur Deutung der Hexenprozesse als staatsterroristische Bevölkerungspolitik, Kritische Justiz 19, 1986, 443. Vgl. Landau, »Ne crimina maneant impunita«. Zur Entstehung des öffentlichen Strafanspruchs in der Rechtswissenschaft des 12. Jahrhunderts, in: Schmoeckel/Condorelli /Roumy (Hrsg.), Der Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur. Band 3: Straf- und Strafprozessrecht, 2012, 23 (24). Jerouschek, »Ne crimina remaneant impunita«. Auf daß Verbrechen nicht ungestraft bleiben: Überlegungen zur Begründung öffentlicher Strafverfolgung im Mittelalter, ZRG KA 89, 2003, 323 (323 f.). Dezza, Geschichte des Strafprozessrechts in der Frühen Neuzeit. Eine Einführung. Aus dem Italienischen übersetzt und herausgegeben von Vormbaum, 2017, 1.
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Ursprung dieses Satzes
Die Diskussionen in der neueren Forschung zu Ne crimina setzen in den 1980er Jahren mit dem Artikel des amerikanischen Rechtshistorikers Richard M. Fraher57 ein und ziehen sich bis in die Gegenwart. Für die Skizzierung des Herkunftsstreites möchte ich der Einfachheit halber vom kleinsten gemeinsamen Nenner der einzelnen Ansichten ausgehen. Weitgehend unstrittig ist Ne crimina als Rechtssatz zumindest/spätestens ab der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert auszumachen und zwar in Gerichtsentscheidungen Papst Innozenz’ III. Gemeinhin wird insoweit angenommen, dass es wohl Innozenz III. war, der Ne crimina anfangs des 13. Jahrhunderts in eine grundlegende Maxime des Kirchenrechts transformierte.58 Mit Blick auf die in dieser Zeit beginnende Rezeption des römischen Rechts liegt es nahe, die Wurzeln des Programmsatzes in eben diesem römischen Recht zu suchen. Und in der Tat finden sich einige Ne crimina nahekommende Formulierungen sowohl in den Digesten59 als auch im Codex Iustinianus60 – allerdings ohne die so wichtige Verknüpfung des Verfolgungserfordernisses mit dem öffentlichen Interesse. Vielmehr stehen die Quellen fast ausnahmslos in einem zivilistischen Kontext. Überdies gilt es kritisch zu reflektieren, ob das Kirchenrecht des beginnenden 13. Jahrhunderts mit Blick auf die Abgrenzungsbemühungen beider 57
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Fraher, The Theoretical Justification for the New Criminal Law of the High Middle Ages: »Rei Publicae Interest, Ne Crimina Remaneant Impunita«, in: University of Illinois Law Review, 1984, 577. Vgl. etwa Pifferi, Punishment and Social Control in Historical Perspective, in: Oxford Research Encyclopedia of Politics, 2022, 3 https://doi.org/10.1093/acrefore/ 9780190228637.013.1784 (»first formulated by Pope Innocent III«). Direkt oder im Anklang angesprochen in: Dig. 5.1.18.1. »ne dum pater exspectatur impunita sint maleficia«; Dig. 9.2.51. »cum neque impunita maleficia esse oporteat nec facile constitui possit, uter potius lege teneatur.«; Dig. 16.3.31. »nam male meritus publice, ut exemplo aliis ad deterrenda maleficia sit, etiam egestate laborare debet.«; i. w. S. auch Dig. 46.1.70.5. »Nam poenas ob maleficia solvi magna ratio suadet.«; Dig. 46.3.95.1. »sane quoniam impunita non debent esse admissa«; Dig. 47.10.18pr. »Eum qui nocentem infamavit, non esse bonum aequum ob eam rem condemnari: peccata enim nocentium nota esse et oportere et expedire.« und Dig. 50.12.13.1 »condiciones donationibus adpositas quae in rem publicam fiunt (…) si utilitatis publicae interest«, vgl. Mommsen (Hrsg.), Digesta, Corpus Iuris Civilis Band 1, 9. Aufl. 1902. Cod. 9.47.14. »cum non remitti poenam facile publice intersit, ne ad maleficia temere quisquam prosiliat«; Cod. 1.55.6. »qui non sinant crimina impunita coalescere«, vgl. Krueger (Hrsg.), Codex Iustinianus, Corpus Iuris Civilis Band 2, 7. Aufl. 1900.
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Rechte zueinander derart explizit auf das römische Recht zurückgegriffen hätte.61 Vor dem Hintergrund dieser Unstimmigkeiten weist der Jubilar vollkommen zu Recht auf das näher liegende Kirchenrecht selbst hin und positioniert sich damit gegen zwei namhafte US-amerikanische Rechtshistoriker, nämlich vorbenannte Richard M. Fraher und Kenneth Pennington. Beide sehen zwar ebenfalls Innozenz III. als spiritus rector dieses Programmsatzes. Sie vermuten die Wurzeln von Ne crimina jedoch im römischen Recht. Fraher mutmaßt, dass Innozenz III. den Satz von einem anonymen französischen Kanonisten der 1190er Jahre rezipiert hat.62 Dessen Quelle wähnt Fraher bei Romanisten des 12. Jahrhunderts. Auch Pennington verortet die Geburt des Programmsatzes im Pontifikat Innozenz’ III.,63 bezweifelt jedoch Lothar von Segnis profunde juristische Schulung64 und schreibt Ne crimina dem juristischen Beraterkreis des Papstes zu.65 Diese brillanten Juristen hätten Ne crimina aus einer Digestenstelle entnommen und dann terminologisch geschickt abgewandelt. Dem Jubilar hingegen gelang es, eine Traditionslinie dieses Satzes über Sicardus von Cremona66 bis zu Rufinus von Bologna, also bis circa 1160, zurückzuver61
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Eingedenk der Tatsache, dass frühestens unter Alexander III. die strikte Ablehnung des Corpus Iuris Civilis etappenweise aufgegeben wurde (vgl. Müller, Huguccio. The Life, Works, and Thought of a Twelfth-Century Jurist, 1994, 110–135) und erst zur Zeit von Innozenz III. beide Disziplinen sich gegenseitig zuzuarbeiten begannen (vgl. zu dieser Entwicklung auch Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 3. Aufl. 1999, 279), gleichwohl mit »Super speculam« (vgl. dazu Kuttner, Papst Honorius III. und das Studium des Zivilrechts, in: v. Caemmerer/Hallstein/Mann u. a. (Hrsg.), Festschrift für Martin Wolff. Beiträge zum Zivilrecht und internationalen Privatrecht, 1952, 79 ff. m. w. N.) bereits 1219 wieder u. a. das Zivilrechtsstudium für bestimmte Klerikergruppen untersagt wurde, ist zu konstatieren, dass die Vertreter des römisch-rechtlichen Ansatzes dieses ambivalente Verhältnis besonders vor dem Pontifikat Innozenz’ III. zu wenig beachten. Vgl. dazu und folgend, Fraher (Fn. 57), 577 (589–592). Vgl. zuletzt Pennington, The Jurisprudence of Procedure, in: Hartmann/Pennington (Hrsg.), The History of Courts and Procedure in Medieval Canon Law, 2016, 125 (141). Pennington, Innocent III and the Ius commune, in: Helmholz/Mikat/Müller/Stolleis (Hrsg.), Grundlagen des Rechts: Festschrift für Peter Landau zum 65. Geburtstag, (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, NF 91; 2000), 349 (349 m. w. N.). Vgl. dazu und folgend: Pennington, in: Helmholz/Mikat/Müller/Stolleis (Fn. 64), 349 (352–354, v. a. 354). Jerouschek/Müller, Die Ursprünge der Denunziation im Kanonischen Recht, in: Lück/Schildt (Hrsg.), Recht – Idee – Geschichte. Beiträge zur Rechts- und Ideen-
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folgen.67 Innozenz III. musste sich also keinesfalls in die Untiefen des römischen Rechts begeben, um auf Ne crimina zu stoßen – vielmehr genügte bereits ein Blick in die zeitgenössische Literatur. In den beginnenden 2000er Jahren brachte sich auch die Historikerin Lotte Kéry in diesen Streit ein. In ihrer Habilitationsschrift wies sie Ne crimina bereits zu Beginn des 11. Jahrhunderts bei Bischof Fulbert von Chartres nach, der auf diesen Satz in einem Klerikermordverfahren rekurrierte, um eine Bestrafung zu begründen.68 Aus diesem fraglos bemerkenswerten Einzelfund einer dringenden Anmahnung einer Bestrafung eines Mörders hingegen ein Postulat für einen »umfassenden öffentlichen Strafanspruch«69 im Sinne einer programmatischen Bedeutungsentfaltung herzuleiten, scheint indes etwas forsch.70 Um einen weiteren ebenfalls bemerkenswerten Fund konnte Peter Landau im Jahr 2006 die Ne crimina-Diskussion bereichern, gelang es ihm doch, den Satz in einem Bamberger Strafrechtstraktat des zwölften Jahrhunderts mit dem Titel »De criminalibus causis« nachzuweisen.71 Der Traktat nutzt Ne crimina als Argument in einer Erörterung über Vergleiche in Strafverfahren. Laut diesem seien Vergleiche grundsätzlich bei Kapitalverbrechen erlaubt, da es für das römische Recht nützlicher sei, dass Straftäter wegen ihrer Sünden nicht sterben müssten. Bei nichttodesstrafenwürdigen Verbrechen seien Vergleiche indes verboten, da es gerade
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geschichte für Rolf Lieberwirth anläßlich seines 80. Geburtstages, 2000, 3 (19 mit Fn. 60). Vgl. dazu und folgend Jerouschek, »Ne crimina remaneant impunita«. Auf daß Verbrechen nicht ungestraft bleiben: Überlegungen zur Begründung öffentlicher Strafverfolgung im Mittelalter, ZRG KA 89, 2003, 323 (330 f.). Kéry, Gottesfurcht und irdische Strafe. Der Beitrag des mittelalterlichen Kirchenrechts zur Entstehung des öffentlichen Strafrechts (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas), 2006, 50, 52 sowie dies., Kirchenrechtliche Grundlagen des öffentlichen Strafrechts, ZRG KA 91, 2005, 128 (144). Kéry, Gottesfurcht (Fn. 68), 52 und ähnlich auch Kéry, Gottesfurcht (Fn. 68), 50 »engagierte Verfechtung eines öffentlichen Strafanspruchs« oder »(…) läßt erahnen, daß eher der Mangel an aussagekräftigen Quellen als die tatsächlichen Gegebenheiten für den Eindruck verantwortlich ist, daß man zu dieser Zeit von offizieller Seite kaum noch über die Einsicht in die Notwendigkeit der Bestrafung und über die geeigneten Verfahren verfügt habe, um Verbrechern auf die Spur zu kommen«. Vgl. dazu Jerouschek, Rezension zu Lotte Kéry, Gottesfurcht und irdische Strafe, ZRG KA 94, 2008, 336 (337). Vgl. dazu und folgend Landau, Lehrbuch contra Fälschung. Die Bamberger Anfänge der europäischen Strafrechtswissenschaft und die Würzburger Güldene Freiheit, DA 62, 2006, 505 (521 f.).
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intentio est omnium legum divinarum et humanarum, ne ulla peccata maneant impunita.72 Interessant ist auch der folgende Anschluss ex quorum poena romanum imperium hominibus non immoratur. Wohl interessantester Einzelbefund der Quelle ist jedoch legum divinarum et humanarum, also das Rekurrieren auf geistliches und weltliches Recht; dies vor allem wenn man mit Landau Entstehungsort und -zeit auf die Bamberger Domschule der Barbarossa-Zeit um 1165 legt, also gleichzeitig mit oder gar vor Rufinus von Bologna.73 Gleichwohl verwendet der Bamberger Traktat peccata und nicht crimina, was Landau vermuten lässt, dass dem Autor des Traktats die rechtstechnische Distinktion beider Begriffe im Sinne des kanonischen Rechts noch unbekannt sei.74 Dies erscheint jedoch eher unwahrscheinlich, insbesondere, wenn man die Provenienz von Ne crimina in der spätantiken theologischen Literatur seit Augustinus bedenkt, worauf bereits der Jubilar hingewiesen hatte75 und auf dem jüngst auch Cesare Edoardo Varalda aufsetzte.76 Für die Wurzeln von Ne crimina imponiert nach derzeitigem Forschungsstand weiterhin der vom Jubilar ausgemachte Rufinus als sicherer Leuchtturm, wenngleich neuere Forschungen die breite Streuung von Varianzen um die Entstehungszeit sowie in früheren Jahrhunderten beisteuern. 2
Ne crimina in den Registern Innozenz’ III.
Widmen wir uns zu guter Letzt dem terminus a quo, in den die herrschende Meinung diesen Programmsatz unstrittig spätestens verortet, das Pontifikat Innozenz’ III. Recht früh fokussierte sich die Ne crimina-Forschung auf dieses Pontifikat. Allerdings stützte man sich bisher vorwiegend auf die zwei Briefe, die später in den 72
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Vgl. Landau, Lehrbuch contra Fälschung. Die Bamberger Anfänge der europäischen Strafrechtswissenschaft und die Würzburger Güldene Freiheit, DA 62, 2006, 505 (521 f.) sowie dazu und folgend ders., in: Schmoeckel/Condorelli/Roumy (Hrsg.) (Fn. 54), 23 (27–29, v. a. 28). Vgl. Landau, Lehrbuch contra Fälschung. Die Bamberger Anfänge der europäischen Strafrechtswissenschaft und die Würzburger Güldene Freiheit, DA 62, 2006, 505 (525–535). Vgl. Landau, in: Schmoeckel/Condorelli/Roumy (Hrsg.) (Fn. 54), 23 (29). Vgl. Jerouschek, »Ne crimina remaneant impunita«. Auf daß Verbrechen nicht ungestraft bleiben: Überlegungen zur Begründung öffentlicher Strafverfolgung im Mittelalter, ZRG KA 89, 2003, 323 (331). Varalda, Il contributo di Innocenzo III alla formazione della cultura giuridica occidentale: in particolare in relazione al noto principio »Rei Publicae Interest ne Crimina Remaneant Impunita«, Vergentis 3, 2016, 145, vgl. dazu auch unten V. 3.
147 »Ne crimina remaneant impunita«
Liber Extra übernommenen wurden. Das gesamte Register Papst Innozenz’ III. wurde lange Zeit kaum konsultiert. Insoweit konnte 2005 eine umfassende Sichtung der Registerbriefe ein weiteres Puzzleteil für die Ne crimina-Forschung liefern, nämlich die Verwendung des Satzes in der kurialen Rechtsprechung.77 A) Anzahl der Ne crimina inserierenden Briefe Durchforstet man die überlieferten Registerbriefe nach Ne crimina, stoßen wir auf fünf Briefe, die das Verfolgungserfordernis mit dem öffentlichen Interesse verbinden.78 Es handelt sich um die Briefe Br. I/546 (549) vom 4.2.1199 (et publice interest, quod maleficia non remaneat impunita)79, Br. V/32 (33)80 und Br. V/33 (34)81 ca. 10.5.1202 (ne huiusmodi pretextu maleficia, que publice interest puniri, remaneant impunita), Br. VI/181 (183) vom 10.12.1203 (quod cum prelati excessus corrigere debeant subditorum et publice utilitatis intersit, ne crimina remaneant impunita)82 und Br. XVI/142 (139) vom 6.11.1213 (presertim cum publice utilitatis intersit, ne crimina remaneant impunita).83 Etwas häufiger, insgesamt 14 Mal, findet sich in den Registern der Ne crimina-Satz in abgewandelter Form, nämlich ohne Verweis auf das öffentliche 77 78
79 80 81 82
83
Vgl. dazu Hirte (Fn. 7), 193–198. Im Folgenden werden alle bereits in der in Fn. 12 benannter Editionsreihe edierten Registerbriefe dieses Pontifikats mit »Br.«, Pontifikatsjahr (römische Zahl) und Briefnummer (arabische Zahl) angegeben, gefolgt von der Potthast-Nummerierung (»Po.«), Potthast (Fn. 13). Noch nicht edierte Briefe aus der Patrologiae von Migne (vgl. Fn. 12) werden mit »Reg.«, anstelle »Br.« ausgewiesen und Briefe der verschollenen Registerjahrgänge, aber bei Theiner inserierten (siehe Fn. 15), mit »Th.« statt »Br.«. Br. I/546 (549) Po. 591, in: Hageneder/Haidacher (Bearb.), Die Register Innocenz’ III., Band 1: 1. Pontifikatsjahr, 1998/99. Texte, 1964, 790, Z. 26 f. Br. V/32 (33) Po. 1674, in: Hageneder/Egger/Rudolf/Sommerlechner (Bearb.), Die Register Innocenz’ III., Band 5: 5. Pontifikatsjahr, 1202/1203. Texte, 1993, 58 f., 59 Z. 12–13. Br. V/33 (34) Po. 1675, in: Hageneder/Egger/Rudolf/Sommerlechner (Bearb.) (Fn. 80), 59 f., 60 Z. 6. Br. VI/181 (183) Po. 2038 X 5.39.35., in: Hageneder/Moore/Sommerlechner/Egger/Weigl (Bearb.), Die Register Innocenz’ III., Band 6.: 6. Pontifikatsjahr, 1203/1204. Texte und Indices, 1995, 301 (302 Z. 10–12). Br. XVI/142 (139) Po. 4844 X 2.20.45, in: Sommerlechner/Egger/Hageneder/Murauer/Schaller/Weigl (Bearb.), Die Register Innocenz’ III., 16. Pontifikatsjahr, 1213/1214 (im Erscheinen). Ich danke Andrea Sommerlechner für die freundliche Zurverfügungstellung des edierten Briefes noch vor Drucklegung des Bandes. In der Patrologiae findet sich der Brief unter Nr. 139, siehe Migne (Fn. 12), tomus 216, Sp. 928.
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Interesse oder unter Bezugnahme auf kirchliche oder sonstige Verfolgungsinteressen, etwa in Br. I/330 Ne igitur excessus delinquentium hac occasione remaneant impuniti84, Br. I/385 nec volentes, quod maleficia remaneant impunita85, Br. I/428 si vera sunt, que premisimus, relinqui non debeant impunita86, Br. II/29 Nos ergo nolentes, ut maleficia remaneant impunita87, Br. II/147 (156) Quia vero dilapidationis vicium propter enorme dampnum ecclesie remanere nolumus indiscussum88, Th. III/21 Cum igitur contemptus huiusmodi relinqui non debeat impunitus,89 Br. V/13 ne maleficia remaneant impunita et crimina subiectorum clausis videamur oculis pertransire90, Br. V/91 (92) ne tam graves et grandes excessus remaneant incorrecti91, Br. VI/59 (58) ut tante irregularitatis obiectio non remaneat indiscussa92, Br. IX/27 Manifestissima vero crimina, que nulla possunt tergiversatione celari, sub appellationis pretextu remanere nolumus incorrecta93, Br. IX/120 Nolentes igitur tante temeritatis audaciam relinquere impunitam94, Br. XI/96 (102) Ne vero temeraria eius presumptio et presumptuosa temeritas remaneat impunita95, Br. XIII/177 (179) quatinus hac adhibita providentia, nec libertas ecclesiastica per secularem insolentiam ancilletur nec enormes excessus remaneant incorrecti96 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93
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Br. I/330 Po. 344, in: Hageneder/Haidacher (Bearb.) (Fn. 79), 480 (481 Z. 3 f.). Br. I/385 Po. 389, in: Hageneder/Haidacher (Bearb.) (Fn. 79), 581 (582 Z. 17 f.). Br. I/428 Po. 528, in: Hageneder/Haidacher (Bearb.) (Fn. 79), 642 (642 Z. 22 f.). Br. II/29 Po. 623, in: Hageneder/Maleczek/Strnad (Bearb.), Die Register Innocenz’ III., Band 2: 2. Pontifikatsjahr, 1199/1200. Texte, 1979, 44 (44 Z. 33). Br. II/147 (156) Po. 806, in: Hageneder/Maleczek/Strnad (Bearb.) (Fn. 87) 296 (298 Z. 8–10). Th. III/21 Po. 1143, in: Theiner (Fn. 15), 13 Z. 4 f. Br. V/13 Po. 1652, in: Hageneder/Egger/Rudolf/Sommerlechner (Bearb.) (Fn. 80), 28 (29 Z. 1–3). Br. V/91 (92) Po. 1732, in: Hageneder/Egger/Rudolf/Sommerlechner (Bearb.) (Fn. 80), 184 (187 Z. 11 f.). Br. VI/59 (58) Po. 1901, in: Hageneder/Moore/Sommerlechner/Egger/Weigl (Bearb.) (Fn. 82), 82 (83 Z. 11 f.). Br. IX/27 Po. 2719, in: Sommerlechner/Hageneder/Egger/Murauer/Weigl (Bearb.), Die Register Innocenz’ III., Band 9: 9. Pontifikatsjahr, 1206/1207. Texte und Indices, 2004, 45 (46 Z. 8–10). Br. IX/120 Po. 2843, in: Sommerlechner/Hageneder/Egger/Murauer/Weigl (Bearb.) (Fn. 93), 223 (225 Z. 29 f.). Br. XI/96 (102) Po. 3429, in: Hageneder/Sommerlechner/Egger/Murauer/Seliger/Weigl (Bearb.), Die Register Innocenz’ III., Band 11: 11. Pontifikatsjahr, 1208/1209. Texte und Indices, 2010, 148 (151 Z. 30 f.). Br. XIII/177 (179) Po. 4132, in: Sommerlechner/Weigl/Hageneder/Murauer/Selinger (Bearb.), Die Register Innocenz’ III., Band 13: 13. Pontifikatsjahr, 1210/1211. Texte und Indices, 2015, 266 (267 Z. 15 f.).
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und Br. XV/144 ne igitur tante presumptionis excessus remaneant incorrecti97. Mit Blick auf die Ausrichtung des Beitrags soll der Fokus indes nur auf jenen Briefen belassen werden, die Ne crimina mit dem öffentlichen Verfolgungsinteresse verbinden. Ob die geringe Anzahl der Ne crimina-verwendenden Briefe nun für oder gegen die Neuartigkeit von Ne crimina streitet, bleibt spekulativ, ist doch weitgehend ungeklärt, welche Briefe aus welchen Gründen in das Register übernommen wurden. B) Lokalisierung von Ne crimina innerhalb des spezifischen Urkundenaufbaus Etwas erhellender dürfte eine genauere Untersuchung der einzelnen Briefe selbst sein, etwa wo genau innerhalb eines Briefes der Ne crimina-Satz verwendet wird. Hier finden wir den Satz fast durchgehend in der Mitte der Briefe in der sog. igitur-Formel. Diese verbindet stilistisch die Narratio, was dem heutigen Urteilssachverhalt entspricht, und das Mandat, was im weiteren Sinne mit dem heutigen Tenor korrespondiert. Ne crimina taucht somit als Verbindungsglied zwischen Sachverhalt und Tenor auf und nimmt damit eine überleitende Funktion wahr. Das ist insoweit interessant, als dass Innozenz üblicherweise besondere Neuerungen gleich in den ersten Zeilen eines Briefes adressierte. Paradigmatisch hierfür dürften etwa die erläuternden Ausführungen zu den verschiedenen kirchenrechtlichen Verfahrensarten und deren Voraussetzungen stehen, etwa in den bekannten Dekretalen Licet Heli98, Super his99 und Qualiter et quando100. Dass mit Ne crimina nicht gleichermaßen verfahren wurde, mag insoweit ein erstes Indiz dafür sein, dass Ne crimina bereits bekannt war und gelebt wurde, also die ihm nachgesagte Programmatik bereits in sich trug. 97
Br. XV/144 Po. 4551, in: Sommerlechner/Egger/Hageneder/Murauer/Schaller/Weigl (Bearb.), Die Register Innocenz’ III., Band 15: 15. Pontifikatsjahr, 1212/1213. Texte und Indices, 2022, 219 (224 Z. 32). 98 Br. II/250 (260) Po. 888 X. 5.3.31., in: Hageneder/Maleczek/Strnad (Bearb.) (Fn. 87), 477 (478 Z. 3 f.). 99 Br. V/152 Po. 1824 X 5.1.16.; 5.37.8.; 2.21.8., in: Hageneder/Egger/Rudolf/Sommerlechner (Bearb.) (Fn. 80), 296 (296 Z. 14 f.). 100 Br. VIII/201 (200) Po. 2672 X 2.1.17.; 5.1.17., in: Hageneder/Sommerlechner/Egger/Murauer/Weigl (Bearb.), Die Register Innocenz’ III., Band 8: 8. Pontifikatsjahr, 1205/06. Texte und Indices, 2001, 342 (343 Z. 14–344 Z. 9).
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150 Markus Hirte
C) Inhaltliche Kontexte der Verwendung von Ne crimina Wenden wir nun unseren Blick vom formalen Aufbau der päpstlichen Entscheidungen hin zum inhaltlichen Kontext der einzelnen Entscheidungen. aa Br. I/546 (549) Po. 591 vom 4.2.1199 Die erste Ne crimina inserierende Entscheidung, datiert auf den frühen Februar 1199, ist über die Register in Br. I/546 überliefert.101 Der Brief kann zu den Schlüsselbriefen dieses Pontifikats hinsichtlich der Entwicklung des crimen falsi gesehen werden.102 In diesem wendet sich Innozenz III. an den ungarischen König Heinrich, auch Emmerich genannt,103 und ersucht dessen Unterstützung in einem heiklen Fall von Urkundendiebstahl. Ein Magister L. aus Treviso hatte an der Kurie zwei Blätter eines Registers Papst Alexanders III. (1159–1181) entwendet, manipuliert und danach päpstlichen Richtern vorgelegt de medio quaterno duo folia est furatus, sicut indiciis deprehendimus manifestis.104 Dem Papst war an der Aufklärung dieses Falles umso mehr gelegen, als die Register auch Dokumentationszwecken dienten, vergleichbar mit unseren heutigen Sicherungskopien. Mit Verweis auf et publice interest, quod maleficia non remaneat impunita105 bat der Papst König Heinrich, die Zeugen in diesem Verfahren vor jeder Behinderung ihrer Aussage zu schützen.106 Die Quelle inseriert also Ne crimina zur Bekräftigung einer kurialen Bitte an den weltlichen Arm nach Zeugenschutz. bb Br. V/32 (33) Po. 1674, ca. 10.5.1202 Mit Br. V/32107 ermächtigt der Papst Bischof Adelard von Verona, Kardinal der römischen Kirche, seine Strafgerichtsbarkeit gegenüber unzüchtigen oder häresieverdächtigen Klerikern ungeachtet etwaiger Appellationen an den Hei101 Br. I/546 (549) Po. 591, in: Hageneder/Haidacher (Bearb.) (Fn. 79), 790. 102 Zu den Urkundsdelikten unter Innozenz III. vgl. auch Hirte (Fn. 7), 52–155, v. a. 153. 103 Zu Emmerich/Heinrich vgl. auch Hirte, »non iuris neccessitate sed importunitate petentis«. Innozenz III. als Richter und Schlichter im Umfeld der Besetzung des Erzbistums Esztergom, 2011, 6 m. w. N. sowie ders. (wie Fn. 7), 123 Fn 90. 104 Br. I/546 (549) Po. 591, in: Hageneder/Haidacher (Bearb.) (Fn. 79), 790 Z. 23 f. 105 Br. I/546 (549) Po. 591, in: Hageneder/Haidacher (Bearb.) (Fn. 79), 790 Z. 26 f. 106 Zum Verhältnis Innozenz’ III. zum König vgl. auch Bónis, Die Entwicklung der geistlichen Gerichtsbarkeit in Ungarn vor 1526, ZRG KA 49, 1963, 174 (188). 107 Br. V/32 (33) Po. 1674, in: Hageneder/Egger/Rudolf/Sommerlechner (Bearb.) (Fn. 80), 58 f.
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ligen Stuhl auszuüben. Grund für diese päpstlichen Ermächtigungen war eine Beschwerde des Bischofs, dass seine korrekturbedürftigen Geistlichen sich durch missbräuchliche Appellationen an die Kurie disziplinarischen Maßnahmen zu entziehen versuchten. In der igitur-Formel dieses Briefes heißt es dann: ne huiusmodi pretextu maleficia, que publice interest puniri, remaneant impunita.108 Im zweiten Ne crimina-Brief des innozenzischen Pontifikats dient der Satz somit als Begründung für die Einschränkung des Appellationsrechts von verdächtigen Klerikern in Verona. cc Br. V/33 (34) Po. 1675, ca. 10.5.1202 Der Folgebrief Br. V/33109 steht nicht nur zeitlich im engen Zusammenhang zu Br. V/32 (33). Auch inhaltlich korreliert er mit Br. V/32. Innozenz III. ermächtigt hierin den Bischof Adelard von Verona, seine Strafgerichtsbarkeit über Laien seiner Diözese, die einen anstößigen Lebenswandel führten, Häresien anhingen, Wucher trieben oder Ehebruch begingen, ungeachtet etwaiger Appellationen auszuüben. Der Verweis am Ende des Dokuments si quando iuxta debitum et cetera in eundem modum ut supra usque in finem110 verweist auf weite Teile des vorbenannten Briefes und damit auch dessen igitur-Formel mit dem dort inserierten ne huiusmodi pretextu maleficia, que publice interest puniri, remaneant impunita.111 Der dritte Ne crimina-Brief im Pontifikat Innozenz’ III. rekurriert auf den Satz zur Begründung der Einschränkung des Appellationsrechts von verdächtigen Laien in Verona. dd Br. VI/181 (183) Po 2038 (X 5.39.35.) vom 10.12.1203 Der vierte Ne crimina-Brief wurde am 10. Dezember 1203 in Anagni erlassen112 und ist an den Erzbischof Andreas Sunesen von Lund gerichtet. Er erhielt unter 108 Br. V/32 (33) Po. 1674, in: Hageneder/Egger/Rudolf/Sommerlechner (Bearb.) (Fn. 80), 59 Z. 12 f. 109 Br. V/33 (34) Po. 1675, in: Hageneder/Egger/Rudolf/Sommerlechner (Bearb.) (Fn. 80), 59 f. 110 Br. V/33 (34) Po. 1675, in: Hageneder/Egger/Rudolf/Sommerlechner (Bearb.) (Fn. 80), 60 Z. 5 f. 111 Br. V/32 (33) Po. 1674, in: Hageneder/Egger/Rudolf/Sommerlechner (Bearb.) (Fn. 80), 58 (59 Z. 12 f.). 112 Br. VI/181 (183) Po. 2038 X 5.39.35., in: Hageneder/Moore/Sommerlechner/Egger/Weigl (Bearb.) (Fn. 82), 301 f.
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dem Incipit Ut famae Einzug in den Liber Extra als X 5.39.35., weshalb er in der Ne-crimina-Literatur besondere Beachtung erfahren hat.113 In Br. VI/181 nimmt Innozenz III. Stellung zu zwei Rechtsfragen des Erzbischofs. Im ersten Teil bestätigt Innozenz dem Prälaten, dass Kleriker wegen schwerer Verbrechen auch in strenger kirchlicher Haft gehalten werden dürfen; dies zumindest dann, wenn zu befürchten ist, dass sie einer Klosterhaft entfliehen würden. Unterstrichen wird dies in der igitur-Formel quod cum prelati excessus corrigere debeant subditorum et publice utilitatis intersit, ne crimina remaneant impunita.114 Im zweiten Teil der Rechtsauskunft stellt der Papst klar, dass Laien nur im Auftrage des zuständigen Prälaten Kleriker wegen ihrer Verbrechen gefangen nehmen und vor Gericht stellen dürfen. Ohne eine Ermächtigung der geistlichen Obrigkeit verfielen diese Laien hingegen der Exkommunikation. Nicht selten wird in der Literatur Ne crimina mit dem zweiten Teil der Rechtsauskunft – der Exkommunikationsproblematik – in Verbindung gebracht.115 Dem widerspricht jedoch bereits der Briefaufbau: Ad primum igitur respondemus (…) ne crimina remaneant impunita.116 Wohingegen die Referenz auf die zweite Rechtsauskunft im Folgesatz eingeleitet wird mit: »Laici vero …«117. Auch inhaltlich wäre eine Begründung der Anfrage zum Festnahmerecht der Laien gegenüber Klerikern mit dem Ne crimina-Satz problematisch mit Blick auf das 113 Vgl. statt vieler nur Fraher, in: University of Illinois Law Review (Fn. 57), 577 (578); Jerouschek, »Ne crimina remaneant impunita«. Auf daß Verbrechen nicht ungestraft bleiben: Überlegungen zur Begründung öffentlicher Strafverfolgung im Mittelalter, ZRG KA 89, 2003, 323 (327); Kéry, Kirchenrechtliche Grundlagen des öffentlichen Strafrechts, ZRG KA 91, 2005, 128 (144); Pennington, in: Hartmann/Pennington (Hrsg.) (Fn. 63), 125 (141); Varalda, Il contributo di Innocenzo III alla formazione della cultura giuridica occidentale: in particolare in relazione al noto principio »Rei Publicae Interest ne Crimina Remaneant Impunita«, Vergentis 3, 2016, 145 (147 und öfter). 114 Br. VI/181 (183) Po. 2038 X 5.39.35., in: Hageneder/Moore/Sommerlechner/Egger/Weigl (Bearb.) (Fn. 82), 301 (302 Z. 10–12). 115 Zuletzt Pennington, in: Hartmann/Pennington (Hrsg.) (Fn. 63), 125 (141 f.); ferner auch Fraher, in: University of Illinois Law Review (Fn. 57), 577 (577 f.) und Jerouschek, »Ne crimina remaneant impunita«. Auf daß Verbrechen nicht ungestraft bleiben: Überlegungen zur Begründung öffentlicher Strafverfolgung im Mittelalter, ZRG KA 89, 2003, 323 (327). 116 Br. VI/181 (183) Po. 2038 X 5.39.35., in: Hageneder/Moore/Sommerlechner/Egger/Weigl (Bearb.) (Fn. 82), 301 (302 Z. 10–12). 117 Br. VI/181 (183) Po. 2038 X 5.39.35., in: Hageneder/Moore/Sommerlechner/Egger/Weigl (Bearb.) (Fn. 82), 301 (302 Z. 16).
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privilegium fori; läse sich doch eine pauschale Begründung des Festnahmerechts mit Ne crimina leicht als Bankrotterklärung einer kirchlichen Strafverfolgung, was keinesfalls im päpstlichen Interesse sein konnte.118 Ne crimina bezieht sich folglich nicht auf das Festnahmerecht durch Laien, sondern explizit nur auf die Frage der Kirchenhaft. Vergegenwärtigt man sich schließlich, dass Ut famae in das fünfte Buch des Liber Extra unter dem Titulus XXXIX de sententia excommunicationis übernommen wurde,119 also vor allem mit Blick auf den zweiten Teil der Rechtsauskunft zur Exkommunikationsgefahr für Laien bei der Festnahme von Klerikern, auf den sich Ne crimina inhaltlich jedoch gar nicht bezog, könnte der Einzug von Ne crimina in den Strafteil des Liber Extra gar lediglich Resultat der Übernahme des gesamten Briefes und nicht nur des betreffenden Teils der Rechtsauskunft gewesen sein, also weniger intendiert, als bislang angenommen. Inhaltlich bleibt hier festzuhalten, dass im vierten Ne crimina-Brief der Satz zur Begründung der strengen Klosterhaft für Kleriker herangezogen wurde, nicht für das Festnahmerecht durch Laien. ee Br. XVI/142 (139) Po. 4844 (X 2.20.45.) »Constitutis in nostra praesentia« Der letzte, ne crimina beinhaltende Brief Br. XVI/142 (139)120 datiert auf den 6. November 1213 und zeichnet ein klassisches Anklageverfahren nach. Auch er wurde in den Liber Extra übernommen mit dem Incipit Constitutis in nostra praesentia als X 2.20.45. Ausgangspunkt dieses Verfahrens war die Erhebung einer förmlichen Simonieanklage des Domkanonikers Matthäus aus Sorrent gegen seinen Erzbischof Alferius von Sorrent. Gegen diese Anklage wandte sich der Erzbischof mit der Exception, der Ankläger sei ihm feindlich gesonnen und konspiriere gegen ihn. Dagegen wandte sich der Domkanoniker mit dem Hinweis auf Tanta est labes121 sowie Licet Heli122, wonach eine solche Exception beim Kapitalverbrechen der Simonie unzulässig sei. Weiterhin berief sich Matthäus zur Begründung, warum er als Ankläger zugelassen werden müsse, presertim cum publicae utilitatis inter118 Vgl. zu diesem Absatz bereits Hirte (Fn. 7), 195. 119 X 5.39.35., in: Friedberg (Hrsg.), Corpus Iuris Canonici. Pars Secunda. Decretalium Collectiones, ND 1959, Sp. 904. 120 Br. XVI/142 (139) Po. 4844 X 2.20.45, in: Sommerlechner/Egger/Hageneder/Murauer/Schaller/Weigl (Bearb.) (Fn. 83), Sp. 928. 121 X 5.3.7., in: Friedberg (Hrsg.) (Fn. 119), Sp. 750. 122 Vgl. Fn. 98.
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sit ne crimina remaneant impunita123. Dagegen wandte sich der Erzbischof mit zwei Dekreten der Päpste Anaklet124 und Calixtus125, die sich gegen die Auffassung von Lucius II. und Innozenz III. stellten. Als das nichts half, rügte Alferius, dass aus dem Anklagelibell nicht genau hervorging, wann genau er die Simonie begangen habe und bemängelte weiter Formalia. Mit Br. XVI/142 (139) schließlich trug Innozenz III. dem Erzbischof von Neapel auf, Zeugenaussagen sowohl über die Anklagepunkte gegen Alferius als auch über die von diesem vorgetragene Böswilligkeit des Kanonikers zu sammeln und nämliche an die Kurie zu senden, wo dann auch das Urteil gesprochen werden soll. Die Quelle belegt, dass Ne crimina bereits im Jahr 1213 als Argumentationshilfe in einem Parteivortrag Verwendung fand. Dies legt eine gewisse Breitenwirkung des Programmsatzes nahe. Dieser Brief ist insoweit auch der einzige, der Ne crimina nicht in der igitur-Formel führt, sondern in der Narratio als Parteivortrag. Die Übernahme des Briefes in das zweite Buch der Dekretalen Gregors IX. unter Titulus XX De testibus et attestationibus als Kapitel XLV126 zu Fragen der Zeugenstellung mag dessen eher stiefmütterliche Behandlung in der Literatur erklären,127 würde man doch im zweiten Buch und 20. Titel einen strafprozessualen Programmsatz – noch dazu »versteckt« in der Narratio – weniger erwarten. Explizit und besonders hingewiesen werden soll hier an dieser Stelle noch einmal darauf, dass im Verfahren in Br. XVI/142 (139) akkusatorisch prozessiert wurde, nicht inquisitorisch. Die argumentative Usurpation des Programmsatzes 123 Br. XVI/142 (139) Po. 4844 X 2.20.45, in: Sommerlechner/Egger/Hageneder/Murauer/Schaller/Weigl (Bearb.) (Fn. 83), Sp. 928 (929 Z. 10–12). 124 Decretum Gratiani C. 3 q. 5 c. 2, in: Friedberg (Hrsg.), Corpus Iuris Canonici. Pars Prior. Decretum Magistri Gratiani, ND 1959, Sp. 514. 125 Decretum Gratiani C. 3 q. 4 c. 5, in: Friedberg (Hrsg.) (Fn. 124), Sp. 512. 126 X 2.20.45., in: Friedberg (Hrsg.) (Fn. 119), Sp. 334. 127 Vgl. etwa Dezza (Fn. 56), 7 sowie Kéry, Gottesfurcht (Fn. 68), 52 (leider den seinerzeitigen Forschungsstand [vgl. Fn. 162–164] nur unzureichend wiedergebend) sowie dies., Aspekte des kirchlichen Strafrechts im Liber Extra (1234), in: Schlosser/Willoweit (Hrsg.), Neue Wege strafrechtsgeschichtlicher Forschung, 1999, 241 (249), die lediglich auf Ut famae verweisen (letztere zudem dem Adressaten fälschlicherweise das Bistum London [richtigerweise Erzbistum Lund] zuweisend) oder Varalda, Il contributo di Innocenzo III alla formazione della cultura giuridica occidentale: in particolare in relazione al noto principio »Rei Publicae Interest ne Crimina Remaneant Impunita«, Vergentis 3, 2016, 145 (147) sowie Pennington, in: Hartmann/Pennington (Hrsg.) (Fn. 63), 125 (141), die neben Ut famae lediglich auf Inauditum verweisen.
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durch Parteiprozessbeteiligte mag ein weiteres Indiz für die Verbreitung von Ne crimina im späten Pontifikat Innozenz’ III. beisteuern. ff Zwischenfazit zu Ne crimina in den Registern Innozenz’ III. In den über die Register überlieferten Briefen verwendet Innozenz III. Ne crimina nur vier Mal in drei verschiedenen Sachverhalten: einmal zur Bekräftigung einer Bitte an den weltlichen Arm nach Zeugenschutz (Br. I/546), sodann als Begründung für die Einschränkung des Appellationsrechts von verdächtigen Laien und Klerikern in Verona (Br. V/32 und V/33) und drittens in einer Rechtsauskunft an den Erzbischof von Lund zur Frage der Klosterhaft (Br. VI/181). Schließlich greifen mit Br. XVI/142 (139) aus dem Jahr 1213 die Parteien eines Akkusationsverfahrens selbst auf Ne crimina zurück. Angesichts der später so engen Verbindung des Verfolgungsdesiderats mit der Inquisitionsmaxime erstaunt es, dass alle vorbenannten Inserierungen nicht innerhalb eines Inquisitionsverfahrens kontextualisiert sind. Ebenso muss überraschen, dass Ne crimina nicht wenigstens in eine der Konstitutionen des Vierten Lateranums übernommen wurde, etwa in jene zu den Verfahrensarten, und dass der Weg in den Liber Extra über Ut famae fast schon zufällig und über Constitutis in nostra praesentia seltsam verschlungen anmutet. 3
Resümee
Betrachtet man die rechtlichen Sachverhalte der Ne crimina inserierenden Briefe, deren geringe Zahl und breite Streuung über das Pontifikat, erscheint eine Transformierung von Ne crimina zu einer Maxime (erst) unter Innozenz III. als eher zweifelhaft. Hierfür hätte zudem eine prominentere Verortung innerhalb des konkreten Briefaufbaus oder eine Aufnahme der Passage in bedeutendere Verfahrensrechtsdekretalen nähergelegen; dies auch vor dem Hintergrund, dass Innozenz in den meisten Ne crimina zitierenden Briefen nicht von überkommenen Prozessprinzipien abwich, insbesondere nicht in Br. VI/181.128 Gegen eine Programmatisierung streitet weiter, dass sich Ne crimina nicht in den Konstitutionen des Vierten Laterankonzils findet, wofür einiges gesprochen hätte, handelte es sich dabei doch um die größte und bedeutendste Kirchen128 A. A. Jerouschek, »Ne crimina remaneant impunita«. Auf daß Verbrechen nicht ungestraft bleiben: Überlegungen zur Begründung öffentlicher Strafverfolgung im Mittelalter, ZRG KA 89, 2003, 323 (328).
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156 Markus Hirte
versammlung des Mittelalters. Hätte Innozenz III. Ne crimina eine besondere Gewichtung beilegen wollen, wäre dafür das Lateranum IV prädestiniert gewesen, vor allem auch mit Blick auf die (zu erwartende und tatsächlich erfolgte) rasante Verbreitung der Konstitutionen im Nachgang des Konzils. So liegt es näher, dass bereits zu Beginn des innozenzischen Pontifikats Ne crimina als juristischer Programmsatz weit geläufig war, wie auch die vom Jubilar aufgezeigte Entwicklungsgeschichte indiziert. Nicht zu unterschätzen ist die – ebenfalls von Günter Jerouschek bereits 2003 deutlich benannte – kirchenrechtliche und theologische Bedeutung der Inserierung von Ne crimina in Augustinus’ Gottesstaat129, worauf zuletzt auch Varalda rekurrierte bei seiner Untersuchung des historischen Wegs und der Konsolidierung von Ne crimina, ohne jedoch auf die entsprechenden Vorarbeiten einzugehen und – soweit es das innozenzische Pontifikat betrifft – lediglich gestützt auf die Briefe Br. I/546 und Br. VI/181.130 Gleichwohl konnte Varalda sehr prägnant die theologische Streuung von Ne crimina bei theologisch-philosophischen Vordenkern bereits vor Innozenz aufzeigen.131 Vergegenwärtigt man sich sodann die tiefe Verwurzelung des Segni-Papstes im Augustinischen Gedankengut, etwa vermittelt über seine Pariser Studienzeit, über seine Studien zu den lombardischen Sentenzen mit mehreren tausend Augustinus-Zitaten und indiziert auch durch Augustinische Inspirationen in Lothars Jugendwerk »De contemptus mundi« sowie Innozenz’ zahlreiche Genehmigungen von – nach augustinischem Vorbild entwickelten – Ordensregeln132, dürfte die theologische Verbindung von rei publice respektive humanae societati und ne crimina impunita für Innozenz III. kein Novum gewesen sein. Insoweit liegt Varalda auch mit Landaus Fundstück und dessen Sünden129 »quod aliquando et ipsi, qui arguunt, humanae societati fortasse, ne crimina impunita sint, prodesse cupientes et mentientibus testibus reoque ipso contra tormenta durante immaniter nec fatente probare quod obiciunt non valentes, quamvis vera obiecerint, a iudice nesciente damnatur«, in Hoffmann (Hrsg.), Sancti Aurelii Augustini, De civitate dei. Pars II (CSEL 40/2), 1900, Buch 19 Kapitel 6, 382 Z. 25–30. 130 Varalda, Il contributo di Innocenzo III alla formazione della cultura giuridica occidentale: in particolare in relazione al noto principio »Rei Publicae Interest ne Crimina Remaneant Impunita«, Vergentis 3, 2016, 145 (145 f., 157 f., 163 f.). 131 Varalda, Il contributo di Innocenzo III alla formazione della cultura giuridica occidentale: in particolare in relazione al noto principio »Rei Publicae Interest ne Crimina Remaneant Impunita«, Vergentis 3, 2016, 145 (v. a. 162–166). 132 Varalda, Il contributo di Innocenzo III alla formazione della cultura giuridica occidentale: in particolare in relazione al noto principio »Rei Publicae Interest ne Crimina Remaneant Impunita«, Vergentis 3, 2016, 145 (v. a. 163–166).
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157 »Ne crimina remaneant impunita«
Mandy Risch, Ne crimina remaneant impunita, Öl auf Leinwand, 2003
Fokussierung auf einer Entwicklungslinie. Gleichwohl ist auch hier zu fragen, inwiefern die Augustinsche Verbindung von Ne crimina mit humanae societati tatsächlich mit rei publicae gleichgesetzt und ihm damit auch ein primär rechtlicher Kontext gegeben werden kann. Mit Blick auf die Untersuchung der innozentischen Register kann schließlich Varalda nicht beigepflichtet werden, dass Ne crimina im Pontifikat Innozenz’ III. fuor di dubbio einen carattere di novità habe,133 vor allem und insbesondere nicht im juristischen Gebrauch dieser Maxime.134 Die Bedeutung des Juristenpapstes Innozenz III. für die Rechts- und Strafrechtsgeschichte dürfte dies in keiner Weise schmälern und auch nicht die Bedeutung des Programmsatzes durch die Jahrhunderte bis in die Kunst des 21. Jahrhunderts (s. o.). 133 Varalda, Il contributo di Innocenzo III alla formazione della cultura giuridica occidentale: in particolare in relazione al noto principio »Rei Publicae Interest ne Crimina Remaneant Impunita«, Vergentis 3, 2016, 145 (159). 134 Varalda, Il contributo di Innocenzo III alla formazione della cultura giuridica occidentale: in particolare in relazione al noto principio »Rei Publicae Interest ne Crimina Remaneant Impunita«, Vergentis 3, 2016, 145 (155, 166).
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Neues vom Blaubart Die Prozesse gegen Gilles de Rais – Marschall, Mörder, Mythos* Daniela Müller
Man stelle sich vor: Ein unermesslich reicher Mann ermordet nacheinander all seine unermesslich schönen Ehefrauen, bevor er endlich von seiner siebten Ehefrau enttarnt wird und sein verdientes Ende durch die Hand der Brüder dieser Frau findet. Dies ist im Kern die Geschichte von Blaubart, wie sie im Jahr 1697 Charles Perrault als Teil seines Werks »Märchen von Mutter Gans« verfasst hat.1 Seltsam genug, dass eine solch blutige Parabel als Märchen internationale Erfolge feierte und in den verschiedensten Fassungen von den bekannten Märchensammlern wie etwa den Brüdern Grimm,2 aber auch Ludwig Bechstein,3 fleißig tradiert wurde. Aber es ist noch viel merkwürdiger, dass für die Figur des Mannes mit dem schrecklichen blauen Bart ausgerechnet eine historische Person Pate stand, die zwar als Massenmörder, aber gerade nicht als Frauenmörder berüchtigt war: Gilles de Rais.4 * 1
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The research leading to these results had received funding from the Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), project ID 422010107 reference number UP 14/1. Am schnellsten zugänglich ist das Märchen in der online Version auf wikisource: https:// fr.wikisource.org/wiki/Histoires_ou_Contes_du_temps_pass%C3%A9_(1697)/La_ Barbe_ble%C3%BCe: (letzter Zugriff: 18.11.2022) Claude Barbin (Hrsg.), Histoires ou Contes du temps passé, 1697: La Barbe Bleüe. Deutsche Übersetzung von Friedrich Justin Bertuch, in: Jack Zipes (Hrsg.). Französische Märchen. 1991; online: https://www.sagen.at/ texte/maerchen/maerchen_frankreich/blaubart.html (letzter Zugriff: 18.11.2022). Jakob und Wilhelm Grimm, Kinder- und Hausmärchen, 1812, KHM62a: »Blaubart«. Ab der zweiten Auflage erscheint dann allerdings stattdessen das Märchen »Die Bienenkönigin«. Deutsches Märchenbuch, 2 Bände (Erstausgabe 1845), 2003, Nr. 70: Das Märchen vom Ritter Blaubart. Über die komplexen Tradierungsstränge, die zu einer solchen Legendenbildung beitrugen, informiert immer noch gültig Eugène Bossard, Gilles de Rais –Maréchal de France dit Barbe Bleue 1404–1440, 1885; NA 1992, 371–413 online: https://gallica.bnf. fr/ark:/12148/bpt6k9601145h (letzter Zugriff: 22.11.2022).
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Es bedarf einiger Erklärungen – denen hier aber nicht nachgegangen werden kann – wie das Horrormärchen vom Ehefrauenmörder ausgerechnet auf die historische Figur des Gilles de Rais übertragen wurde: Gilles de Rais, Marschall von Frankreich, Kampfgefährte der Jeanne d’Arc und reichster Baron der Bretagne. Aber auch Gilles de Rais, der Zauberer, der Dämonen beschwor und Kinder ermordete und schließlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.5 Es scheint, dass in seiner Person die Dichotomie von Licht und Dunkelheit, von Gut und Böse wie in einem Brennglas zusammengefasst werden und sein Name zutiefst archetypische Urbilder und Stereotype zum Klingen bringt. »Gilles de Rais fait partie de notre imaginaire«, sagt die Mediävistin Claude Gauvard dann auch zu recht.6 Doch nicht um dieses »Imaginäre« soll es in dem folgenden Beitrag gehen, sondern um Prozess und Verurteilung des historisch greifbaren Gilles de Rais. Lange dominierte der Mythos, das Narrativ vom blutrünstigen Kinderschänder, bevor Ende des 19. Jahrhunderts die erste ernstzunehmende Monographie zu ihm erschien: Abbé Eugène Bossard7 verfasste 1884–1885 eine fundierte Studie zu den Prozessen gegen Gilles, ein noch immer grundlegendes Werk zum realen Gilles, das vor allem im hier interessierenden Kontext, den juristischen Vernetzungen, noch stets unabdingbar ist. Bossard hat die rechtlich relevanten Dokumente eingehend studiert, und aufgrund seiner Quellenstudien erschien ihm der Wandel im Charakter des Marschalls vom Kriegshelden zum Kindermörder ein unfassbares Phänomen, das er sich nur erklären konnte, indem er ihm einen angeborenen Wissensdurst attestierte, der sich aber zum Morbiden hingezogen fühlte. Insgesamt erschien Gilles de Rais bei Bossard als Typus des großen Mannes, dessen Exzeptionalität ihn zum großen Verbrecher machte. 1959 wurde das Bild des tragischen Ausnahmemenschen durch den Philosophen und Schriftsteller Georges Bataille8 erschüttert. Für Bataille war Gilles ein einfältiger, gewalttätiger und beschränkter Charakter, der nur auf dem Hintergrund des damaligen Feudalsystems zum militärischen Führer hatte aufsteigen 5
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Aus der Fülle neuerer biographischer Zugänge seien erwähnt: Philippe Reliquet, Le Moyen Âge: Gilles de Rais. Maréchal, monstre et martyr, 1982; Jacques Heers, Gilles de Rais. Vérités et légendes, 1994, NA 2005; Matei Cazacu, Gilles de Rais, 2005. Claude Gauvard, Gilles de Rais en procès, in: Jean-Marc Berlière (Hrsg.), Les Grandes Affaires Criminelles. Du Moyen Âge à nos jours, 2020, 17. Bossard (Fn. 4). Le Procès de Gilles de Rais, plumitif latin traduit par Pierre Klossowski avec une introduction de Georges Bataille, 1959; réédition 1965. Im philosophischen Oeuvre von Bataille stehen die Themen Sexualität und Verbrechen zentral – lange vor Michel Foucault. Das dürfte auch Batailles Interesse an Gilles de Rais erklären.
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können, aber über keine größeren inneren Qualitäten verfügte. Auch Bataille vertiefte sich in die Prozessunterlagen, die er kritischer als Bossard analysierte. Bataille stellt eine chronologische Übersicht zusammen, und vor allem macht er sich durch die Übersetzung der Prozessunterlagen ins Französische verdient. Seit 1986 ist sein Buch auch in deutscher Sprache9 auf dem Markt und somit nun auch einem breiteren deutsch-sprachigen Publikum zugänglich. Die Originaldokumente der kirchlichen Gerichtsbarkeit sind in Latein verfasst (später wurde eine französische Version sozusagen als »Abschrift« verfertigt), die Unterlagen der weltlichen Gerichtsbank waren dagegen von Beginn an in Französisch protokolliert.10 Bataille war meinungsbildend; viele der folgenden französischen Beiträge sahen in Gilles einen eher unbedeutenden, aber brutalen, simplen Mann, der sich nicht grundlegend von seinen feudalen Zeitgenossen unterschied. In den 1990er Jahren begann sich das Interesse dann weg von Charakterstudien hin zu der Untersuchung der Prozesse zu entwickeln. Dabei spielte wohl das »Rehabilitationsverfahren« vor einem Schiedsgerichtshof eine nicht unbedeutende Rolle: Am 9.11.1992 hatte sich im Saal Clemenceau des Château du Luxembourg eine illustre Riege von Kunstschaffenden und Literaten um den Schriftsteller Gilbert Prouteau11 versammelt, um die schon 1902 von dem Archäologen und Religionswissenschaftler Salomon Reinach12 vertretene Unschuldshypothese juristisch zu belegen und Gilles letztlich von den Mordvorwürfen frei zu sprechen.13 Die der Unschuldserklärung zugrunde liegende Komplott-Theorie war dabei Ausgangs9 10
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Neuere Ausgabe etwa: Georges Bataille, Gilles de Rais. Leben und Prozess eines Kindermörders, 2018. Zu den Dokumenten der Prozesse siehe Bossard (Fn. 4), 201–203 und Heers (Fn. 5), 191. Die Originalakten sind im Archiv des Départements Loire-Atlantique in der Abteilung der Ducs de Bretagne zu finden, unter der Sigle E 189-1 à 189-3: Procès de Gilles de Rais, online zugänglich: https://archives-numerisees.loire-atlantique.fr/console/ir_ ead_visu_lien.php?m=gilles%20de%20retz&ir=10230&id=560668776 (letzter Zugriff 18.11.2022). Zahlreiche Kopien sind zu finden, sowohl in der Bibliothèque von Nantes wie in der Bibliothèque Nationale. Einen detaillierten Überblick über die Quellenlage gibt Ludovico Hernandez (sein nom de plume, eigentlich: Fernand Fleuret), Gilles de Rais. Le Procès Inquisitorial de Gilles de Rais, Maréchal de France. Avec un Essai de Réhabilitation. Traduction littérale du procès canonique et réproduction du procès civile, 1921. Seine Position verdeutlicht er in seinem Buch Gilles de Rais ou La Gueule du Loup, 1992. Salomon Reinach, Gilles de Rais, in: Cultes, Mythes et Religions, 1912, 267–299, online: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k1122433/f308.item (letzter Zugriff 18.11.2022). Jacques Cordy, Le procès en réhabilitation de Barbe bleue à Paris. Gilles de Rais: pas si démoniaque que ça, in: Le Soir, mardi 10 novembre 1992.
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punkt für die emphatisch verkündete Revision des Schuldspruchs. Hieran schloss sich in Frankreich eine rege Diskussion an, da sich nun die Historiker zu Wort meldeten – die in auffälliger Weise beim Verfahren gefehlt hatten. Der Vorsitzende des französischen Mediävistenverbandes, Jean Kerhervé, hat die schweren methodologischen Fehler dieses »Geschichtsspektakels« aufgezeigt,14 und in der Folge haben sich Historiker wie Olivier Bouzy15 und Jacques Chiffoleau16 an der causa Rais abgearbeitet. Die jüngsten Veröffentlichungen stammen von zwei Historikerinnen, die auf die Zeit des 100jährigen Krieges spezialisiert sind: Valérie Toureille,17 die jüngst auch eine viel beachtete Biographie zu Jeanne D’Arc geschrieben hat, und Claude Gauvaurd,18 die bekannte Mediävistin, die sich der Kriminalitätsgeschichte des Spätmittelalters verschrieben hat. Es hat damit fast den Eindruck, dass Gilles de Rais ein französisches Thema ist. Doch das wird sich hoffentlich ändern, angesichts des rechtshistorischen Potentials. Im englischsprachigen Raum wird sein Name gerne benutzt, um das jüngst medial attraktive Profil des Serienmörders zu vertiefen. Erst vor Kurzem hat etwa die in Europäischer Geschichte promovierte Lia B. Ross19 Gilles de Rais als Vergleichspunkt genommen, um ihn in direkte Verbindung zu bekannten Serienmördern der USA zu setzen. Das ging allerdings nur, da die Autorin dem »modernen« Trend folgt, die Delikte der Teufelsbeschwörung, der Magie und der Alchimie säuberlich von den Vorwürfen des Kindermordes zu trennen:20 Was 14 15 16
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Jean Kerhervé, L’histoire ou le roman? in: Le Peuple Breton, n. 347, 1992, 6–8. Olivier Bouzy, La réhabilitation de Gilles de Rais, canular ou trucage? in: Connaissance de Jeanne d’Arc, Chinon, no 22, janvier 1993, 17–25. Jacques Chiffoleau, Gilles, la vérité, l’histoire: un médiéviste et le procès du sire de Rais in: Cahiers Gilles de Rais, Bd. 3, 9–21. Seine bislang jüngste Veröffentlichung zu Gilles mit vielsagendem Titel: Jacques Chiffoleau, Plasticité du monstre, Revue 303 (arts recherches, créations), Nr. 164: De Gilles de Rais à Barbe Bleue, Januar 2021, S. 26–31. In ihrer Kriminalitätsgeschichte des Mittelalters Crime et Châtiment au Moyen Âge (L’Univers Historique), 2013 widmet Valérie Toureille Gilles – neben immer wieder auftauchenden verstreuten Bemerkungen – ein Kapitel unter dem Absatz: Accusation, Inquisition, preuve ou aveu, 3667–3964. Vgl. Gauvard (Fn. 6). Lia B. Ross, Deviancy in the Late Middle Ages: The Crimes and Punishment of Gilles de Rais, in: Albrecht Classen/Connie Scarborough (Hrsg.), Crime and Punishment in the Middle Ages and The Early Modern Age. Mental-Historical Investigations of Basic Human Problems and Social Responses (Fundamentals of Medieval and Early Modern Culture 11), 2012, 359–403. So ist im selben Jahr wie die Studie von Ross ein weiterer Beitrag in der angloamerikanischen Forschung erschienen mit einer vergleichbaren Perspektive: Ben Par-
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dem modernen Betrachter fiktiv erschien, wird also eliminiert; übrig bleibt das, was annehmbar scheint – die Morde – die dann als Grundlage für den Vergleich mit modernen Serientätern herhalten. Doch die Prozess-Quellen sprechen eine andere Sprache, die gerade eine solche artifizielle Separierung methodisch verbieten. Die Frage nach Schuld oder Unschuld des berüchtigten Modells für Blaubart wird hier nicht beantwortet werden. Das erscheint aufgrund der Quellenlage unmöglich. Denn, wie Bouzy detailreich dargelegt hat,21 herrscht noch nicht einmal Einigkeit darüber, was nun als Originalquelle zu bezeichnen wäre. Bislang gehen die meisten Historiker und Historikerinnen davon aus, dass die in den Archiven von Nantes befindlichen Dokumente zumindest die Originale des kirchlichen Verfahrens sind. So war Abbé Bossard22 im 19. Jahrhundert überzeugt, mit den Originalen gearbeitet zu haben; er stützt sich jedenfalls auf die chronologisch gesehen ältesten Abschriften der Archive. Die Dokumente von Nantes sind jedoch keineswegs zusammengestellt, um den Prozess gegen Gilles de Rais zu bezeugen, sondern sie wurden, wie Bouzy scharfsinnig erkannt hat, aus Gründen von Landeigentumskonflikten gebündelt, die die Herzöge der Bretagne befürchteten.23 Eine Vollständigkeit der Quellensammlung ist also aufgrund der deutlichen außerprozessualen Intention nicht unbedingt zu unterstellen. Davon aber war Abbé Bossard noch ausgegangen. Jedenfalls begnügen sich die meisten Forscher, wie etwa Jacques Heers, in ihren Publikationen mit dem Verweis auf Bossard. Wenn dies auch beim kirchlichen Verfahren zulässig sein dürfte, stellen sich größere Nachfragen bei dem weltlichen Prozess. Das von Bossard benutzte Dokument E 189-3 aus Nantes ist höchstwahrscheinlich lediglich ein Resümee dieses Verfahrens. Denn im Vergleich mit den 143 Folio-Seiten des kanonischen Prozesses umfasst das weltliche Verfahren lediglich 22 Folio-Seiten. Das ist ein nun doch zu auffallender Unterschied, als dass er allein mit weniger ausführlicher Prozessführung erklärt werden könnte. Bossard verzichtet dann auch noch auf die Herausgabe
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sons, Sympathy for the Devil: Gilles de Rais and His Modern Apologists, in: Barbara I. Gusick /Matthew Z. Heintzelman (Hrsg.), Fifteenth-Century Studies 37, 2012, 113–137. Vgl. Olivier Bouzy, Le Procès de Gilles de Rais. Preuve juridique et exemplum, in: Connaissance de Jeanne d’Arc 26, Januar 1997, 40–45; online: https://gallica.bnf.fr/ark:/ 12148/bpt6k5831681k/f40.image.r (letzter Zugriff: 18.11.2022). Bossard (Fn. 4). Bouzy bringt es so auf den Punkt: »Le procès de Gilles de Rais au trésor des chartes est un résumé composé de morceaux choisis, tout simplement parce que le but de cette copie n’était pas de servir d’archives d’un procès criminel, mais de pièce de conviction pour une contestation portant sur les fiefs du duché.« Bouzy (Fn. 21), 42.
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der Zusammenfassung der Hinrichtung, wie sie sehr wohl im Archiv zu finden ist. Ludovico Hernandez24 hat 1921 dagegen zwar ein vollständiges Dossier herausgegeben, stützt sich aber auf eine Abschrift des 17. Jahrhunderts, die er mit einem Manuskript in der Bibliothèque Nationale verglichen hat. Doch das als Referenzpunkt gebrauchte Manuskript stammt aus der Zeit des zweiten Kaiserreichs, ist also jünger als die Abschrift. Allerdings muss, im Gegensatz zur Bewertung durch Bouzy, die Tatsache, dass nur noch (beglaubigte) Abschriften aus jüngerer Zeit erhalten sind, nicht von vornherein gegen die Glaubwürdigkeit dieser Quellenmaterialien sprechen. Das hat etwa das Studium der Kollektion Doat,25 einer Sammlung von Abschriften der Inquisitionsregister aus dem 17. Jahrhunderts, gut gezeigt in Bezug auf die Verfolgung der Katharer. Zu den Verdiensten von Hernandez gehört einerseits die Erstellung eines, wenn auch nicht kompletten, so doch aussagekräftigen Verzeichnisses aller Manuskripte und Abschriften in den Archiven und Bibliotheken sowie die Herausgabe des Berichtes der Exekution. Insgesamt also müssten, um eine Gesamtsichtung der Verfahren zu gewährleisten, vier Dokumente herangezogen werden: 1.) Der kirchliche Prozess, wiedergegeben in den Dokumenten des Archivs von Nantes und in Latein verfasst; 2.) Der Kriminalprozess vor der weltlichen Gerichtsbarkeit, ebenfalls im Archiv von Nantes zu finden und in Französisch erstellt; 3.) Der Urteilsspruch des Kirchengerichts vom 25. Oktober 1440; 4.) Der französische Bericht über die Hinrichtung, wie er sich als Anhang an einige ältere Abschriften findet und von Hernandez wiedergegeben wird. 24 25
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Hernandez (Fn. 10). Ohne die von Jean-Baptiste Colbert, dem Minister Ludwigs XIV. in Auftrag gegebene Arbeit der königlichen Kommission unter Federführung des namensgebenden Juristen Jean de Doat wäre eine genauere Kenntnis zur Verfolgung der Katharer in Südfrankreich nicht möglich. Vgl. zur Arbeitsweise der Kommission den immer noch informativen Beitrag von Lothar Kolmer, Colbert und die Entstehung der Collection Doat, in: Francia 7, 1979, 463–489. In jüngerer Zeit ist durch Peter Biller und Lucy Sackville das ambitiöse Doat Projekt (The Genesis of Inquisition Procedures and the TruthClaims of Inquisition Records: The Inquisition Registers of Languedoc 1235–1244) in York gestartet worden. Zur Bewertung der Glaubwürdigkeit der Abschriften des 17. Jahrhunderts vgl. den Einführungstext »The Doat Commission” https://www.york. ac.uk/res/doat/project/doat.html (letzter Zurgiff: 18.11.2022). Dort kommt man zur Bewertung: »(…) what we are confronted with in the Doat volumes is a collection of essentially solid materials.«
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Somit wäre, angesichts des vermehrten Interesses an der Person und der Schuldfrage des Marschalls von Frankreich, eine historisch kritische Ausgabe der Quellen dringend notwendig. Bis dahin aber bleiben die Ausgaben von Bossard und Hernandez unter Rückgriff auf das Archivmaterial der einzig gangbare Weg. Dieser wird der folgenden Darstellung denn auch zugrunde liegen. Die Perspektive dieses Beitrages soll nicht auf eine Gesamtwürdigung von Gilles de Rais zielen, sondern es geht um eine Schwerpunktsetzung im juristischen Bereich, also die Prozesse, die gegen ihn geführt wurden, wobei das Verfahren der Kirche im Mittelpunkt stehen wird. Die Verwendung des Plurals (Prozesse) ist dabei angebracht, da wir es genau genommen mit drei Gerichtbarkeiten zu tun haben: 1.) Der geistlichen Gerichtsbarkeit des Bischofs; 2.) Der Gerichtsinstanz der päpstlichen Inquisition und 3.) Der weltlichen Gerichtsbarkeit des Herzogs der Bretagne. Schon am Anfang seien zwei Elemente genannt, die diese Prozesse wegweisend werden ließen: Da wäre zunächst das geradezu perfekt zu nennende Zusammenspiel der verschiedenen Gerichtsbarkeiten. Wie in einem Prisma können wir die Ingredienzien erkennen, die letztlich eine Trennung der Sphären von Geistlichkeit und Weltlichkeit obsolet machten – ebenso wie die gleitende Aneignung der inquisitorischen Tätigkeit durch die bischöfliche Gerichtsbarkeit im innerkirchlichen Bereich. Zum andern aber liegt hier einer der ersten Prozesse der Neuzeit mit bewusst inszenierter Massenbeteiligung vor. Drei Aspekte werden der Gliederung des Stoffes dienen: 1.) Eine, wenn auch nur sehr grobe Einbettung von Gilles de Rais in Zeit und Kontext; 2.) Eine ausgewählte Schwerpunktsetzung des Verfahrens; 3.) Eine notwendigerweise kursorische Beurteilung des Prozesses unter Miteinbeziehung des Prozesses gegen Jeanne d’Arc.
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Gilles de Rais: Zeit und Kontext26
Gilles de Montmorency-Laval, besser bekannt als Gilles de Rais, wurde 1404 als Nachkomme der großen Adelshäuser Rais und Laval geboren und war durch Vererbung und Heirat wahrscheinlich der mächtigste Adlige der Bretagne neben den Montforts, aus deren Reihen die Herzöge der Bretagne stammten. 26
Zu den biographischen Details siehe die Studien von Heers (Fn. 5) sowie die entsprechenden Einleitungen bei Bossard (Fn. 4) und Hernandez (Fn. 10).
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Frankreich war ein durch den Hundertjährigen Krieg und gleichzeitigen Bürgerkrieg zerrissenes Land.27 Das Herzogtum der Bretagne nahm im Krieg gegen England eine ambivalente Rolle ein, indem es einmal auf Seiten der Engländer, einmal auf Seiten des jungen Königs Karls VII. (1403–1461) stand, wobei ausschlaggebend immer der Aspekt der Unabhängigkeit der Bretagne war.28 Früh Vollwaise geworden, wurde Gilles von seinem als grausam bekannten Großvater Jean de Crâon erzogen.29 Wie bei vielen jungen Männern begann seine Kriegskarriere, als er 14 Jahre alt war. Die Familie von Gilles nahm dabei nicht immer die politische Position der Herzöge Jean V. (1339–1399) und Jean VI. (1389–1442)30 ein, da sie große Besitzungen auch an den Grenzen zum Poitou und nach Maine hatte, also andere strategische Überlegungen als bei den Herzögen mitspielten: Die Adligen entlang der Ostgrenze, darunter die Familie von Gilles de Rais, die Lavals, waren sehr empfänglich für französischen Einfluss, und bildeten eine mächtige Koalition, die Herzog Jean und seiner England-freundlichen Politik feindlich gegenüberstand.31 Gilles wäre in der Lage gewesen, dem französischen König ein wichtiges Standbein an den Grenzen der Bretagne zu verschaffen und die Tore der Bretagne für die Franzosen zu öffnen. Zu der Zeit, als Jeanne d’Arc auf der Bildfläche erschien, war Gilles im Dienst des Königs von Frankreich und stand in der Gunst des Hofes durch den Einfluss eines seiner Verwandten, Georges de La Tremoille (1384–1446),32 einem Günstling von Karl VII., ganz oben. Bei der Befreiung von Orleans 1429 war er Mitkommandant der Eskorte von Jeanne d’Arc, und für seine Dienste bei dieser und nachfolgenden Operationen wurde er von Karl VII. bei der Krönung in Reims zum Marschall von Frankreich erhoben. Er blieb als Waffengefährte 27 28 29
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Neuere Untersuchung zum 100jährigen Krieg etwa Boris Bove, Le temps de la guerre de Cent ans: 1328–1453 (Histoire de France), 2009. Vgl. Jean Kerhervé, L’État breton aux xive et xve siècles: les ducs, l’argent et les hommes, 2 Bde., 1987. Nach dessen Tod um 1431 trat Gilles seine Erbfolge als einer der reichsten Erben des Landes an, vgl. Le Testament de Jean de Craôn, Seigneur de la Suze et du Chantocé, in: Revue historique et archéologique de Maine, 1889, 340–346. Zu ihm siehe etwa George Akenhead Knowlson, Jean V, duc de Bretagne et l’Angleterre (1399–1442), (Archives historiques de Bretagne 2), 1964. Zur politischen Lage in der Bretagne vgl. etwa René Cintré, Les marches de Bretagne au Moyen Âge: économie, guerre et société en pays de frontière, xive et xve siècles, 1992. Speziell zu seiner Person vgl. den Beitrag von Philippe Contamine, Un acteur du sacre de Charles VII: Georges de La Trémoille, in: Travaux de l’Académie nationale de Reims 17: L’histoire de Reims en questions, 1996, 190–211.
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an der Seite der Jungfrau von Orleans bis zum Zeitpunkt des gescheiterten Angriffs auf Paris. Seine Tätigkeit im Dienste des Königs dauerte zwar noch nach dem Fall und dem Tod Jeannes fort – nämlich bis zum Sturz seines Verwandten La Tremoille im Jahr 1433 – aber seine vielversprechende Karriere am Hof war nach dem Debakel vor Paris vorbei, auch wenn von seiner Teilnahme an den Kriegen gegen England bis 1439, dem Jahr vor seinem Prozess, noch die Rede ist. Gilles war, in der damaligen Zeit für seinen Stand eher unüblich, ein großer Liebhaber und Mäzen des Theaters, der Musik, der Kunst und der Literatur. Jung, reich, energisch und nach dem Sturz des königlichen Favoriten La Tremoille einer vielversprechenden politischen Karriere beraubt, stürzte er sich nach 1433 mit dem größten Eifer in all jene Extravaganzen, die den Adel der Renaissance auszeichneten: Er nahm Gelehrte der verschiedensten Wissenschaften in seinen Dienst; er sammelte illuminierte Manuskripte; er unterhielt eine große Zahl von Soldaten auf eigene Kosten, sowohl im Feld als auch in seinen verschiedenen Schlössern und Burgen. Auf seinem Gut Machecoul gründete er eine Stiftskapelle von etwa dreißig Kanonikern, mit einem großer Knaben-Chor. Weit und breit suchte er nach schönen Stimmen für diesen Chor. Dabei hatte er die Gewohnheit, auf die Streifzüge durch seine weit verstreuten Territorien nicht nur seine Truppen mitzunehmen, sondern auch die gesamte Stiftskappelle und seinen Chor, und er ließ sogar eine tragbare Orgel für prunkvolle Gottesdienste unterwegs bauen. Verschwenderisch war er mit Almosen und verteilte bei allen passenden Gelegenheiten immense Summen an die Armen. Und so war er bald in Geldnot. Dies war die Gelegenheit für den Herzog der Bretagne, seine eigenen Gebiete zu vergrößern, indem er Gilles anbot, einige seiner Ländereien abzukaufen.33 Ein Schloss nach dem anderen fiel nun in die Hände seines Lehnsherrn, obwohl Gilles sich bemühte, in jede Veräußerungsurkunde eine Klausel aufzunehmen, die ihm ein Rückkaufsrecht innerhalb von sechs Jahren bei Rückgabe des Kaufpreises einräumte. Offenbar war er, wie die vielen Männer seiner Zeit, die sich mit Wissenschaft beschäftigten, von der Möglichkeit, Metalle umzuwandeln, überzeugt. Damit sollte idealerweise denn auch die Verwandlung unedler Metalle, wie Blei, in edle Metalle, wie Gold, möglich sein. Einen großen Einfluss in dieser Richtung hatte sicher einer der von ihm speziell aus Italien herbei expedierten Alchemisten, 33
Zum Verhältnis von Gilles zum Herzog vgl. Arthur Bourdeaut, Chantocé, Gilles de Rays et les ducs de Bretagne, in: Mémoires de la Société d’histoire et d’archéologie de Bretagne V, t. 1, 1924, 41–150.
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Francesco Prelati, der ihm durch die Entdeckung des Steins der Weisen unermessliche Reichtümer verhieß. Die fortgesetzte Abtretung seiner Schlösser an den Herzog der Bretagne beunruhigte aber sowohl seine Familie als auch den König von Frankreich. So konnten schon 1435 die Verwandten von Gilles ein Dekret erwirkten,34 das weitere Verkäufe verbot. Doch das bremste Gilles nicht, der weiterhin seine Transaktionen mit dem Herzog über dessen Mittelsmann, Jean de Malestroit (1375–1442), Bischof von Nantes und Kanzler des Herzogs,35 vollzog. Diese Verkäufe waren nun nach dem königlichen Dekret rechtswidrig und illegal, was für den Herzog ein gewisses Problem darstellte, von Gilles aber weitgehend ignoriert wurde. Im Frühjahr 1440 scheint Gilles in seiner Verzweiflung zu rigoroseren Geldbeschaffungsmaßnahmen gegriffen zu haben: Überfälle auf von ihm verkaufte Gebiete, um sie zurückzutransferieren, sollten ihm wieder auf die Beine helfen. Das Fass zum Überlaufen brachte sein Überfall auf Schloss und Dorf von St.-Etienne-de-Mer-Morte, die vom Kämmerer des Herzogs erworben worden waren. Deren Besitzer war nun Jean le Ferron, der Bruder des Kämmers. Ferron hatte die Tonsur erhalten, also einen kirchlichen Weihegrad, und stand damit unter kirchlicher Immunität. Der Überfall auf St.-Etienne-de-Mer-Morte fand statt, während Ferron die Messe zelebrierte. Der tätliche Angriff, mit all seinen gewalttätigen Folgen, brachte Gilles nun den Vorwurf des Sakrilegs ein, während sein bekanntes Interesse an der Alchemie und seine Suche nach dem Stein der Weisen ihn der Zauberei verdächtig machten, da diese Studien selten oder nie ohne Ausübung der Magie betrieben wurden.36 Das war zwar weit verbreitete Praxis 34
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Mémoires des héritiers de Gilles de Raiz pour prouver sa prodigalité, nachzulesen bei Pierre-Hyacinthe Morice, in: Mémoires à Servir de preuves à l’histoire ecclésiastique et civile de la Bretagne 2, 1744, Spalten 1336–1342; online: https://gallica.bnf.fr/ark:/ 12148/bpt6k1041643d/f730.item.r=.langFR (letzter Zugriff am 18.11.2022). Zu Malestroit vgl. die ältere Studie von Jules de la Martinière, Un grand chancelier de Bretagne, Jean de Malestroit, évêque de Saint-Brieuc (1405–1419) et de Nantes (1419–1443), in: Mémoires de la Société d’histoire et d’archéologie de Bretagne 1, 1920, 9–52. Zum Thema Magie vgl. etwa Thomas A. Fudgé, Medieval Religion and its Anxieties: History and Mystery in the Other Middle Ages, (The New Middle Ages), 2016. Zum Thema Alchemie etwa Hans-Werner Schütt, Auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Die Geschichte der Alchemie, 2000. Speziell zum Thema Alchemie im Mittelalter ist immer noch von Gewicht Wilhelm Ganzenmüller, Die Alchemie im Mittelalter, 1938. Aufgrund einer eingehenden Sichtung der Textsammlung von Robert Halleux, Les textes alchi-
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im 15. Jahrhundert, wurde aber von der Kirche als Ketzerei eingestuft. Im Frankreich des fünfzehnten Jahrhunderts hätten somit Anklagen wegen Verletzung der kirchlichen Immunität und Zauberei allein nicht ausgereicht, um das allgemeine Entsetzen und die Abscheu zu erregen, die notwendig waren, um die Barone, Gilles Peers, zu veranlassen ihre korporativen Interessen zu vergessen und ihre Unterstützung einem vom Herzog bedrohten Mitadligen zu entziehen.
II Der Prozess Treibende Person in den Prozessen wurde Bischof Jean de Malestroit. So ist das erste Dokument, das wir zum Verfahren haben, ein Ermahnungsbrief des Bischofs vom 30. Juli 1440. Hierin legt Malestroit dar, dass er während einer bischöflichen Visitation mit Gerüchten konfrontiert wurde, die den Herrn Gilles de Rais schwer diffamierten. Die wichtigsten Passagen sollen hier wörtlich wiedergegeben sein: »Jean (…) Bischof von Nantes, an alle, die diesen Brief sehen werden (…) Wir geben mit diesem Brief bekannt, dass wir die Pfarrei St. Maria von Nantes besucht haben, in der der nachstehend erwähnte Gilles de Rais, Mitglied dieser Gemeinde, oft in einem Haus wohnte, das gemeinhin le Suze genannt wird, und als wir diese Gemeinde und andere nachstehend genannten Kirchengemeinden besuchten, erreichten uns ein öffentliches Gerücht und viele Berichte sowie die Denunziation durch den clamor von Agathe und (…). [Hier folgen die Namen von sechs weiteren miques, 1979 könnte eine Identifizierung der von Prelati und Gilles gebrauchten, im Prozess häufig angesprochenen Bücher vorgenommen werden, die unter Umständen brauchbare Hypothesen zum Wahrheitsgehalt der Anklagen liefern könnten. Die vor allem in der Populärliteratur immer wieder hervorgehobenen »magischen« Aspekte in der Geschichte des Marschalls erklären auch das Interesse von Männern wie dem für die spätere esoterische Tradition einflussreichen Okkultisten Aleister Crowley und dem vom Satanismus begeisterten Schriftsteller Joris-Karl Huysmans. Man beachte nur ihre Ausführungen zu Gilles de Rais: Aleister Crowley, Gilles de Rais. The Banned Lecture 1930, in zweisprachiger Ausgabe 1984. Bei Joris-Karl Huysmans spielte Gilles de Rais eine tragende Rolle in seinem legendär gewordenen Roman Là-bas von 1891 (dt. 1903). Die Gilles betreffenden Passagen wurden 1896 durch den Schriftsteller Gustave Boucher erstmals zusammengestellt und erschienen 1897 unter dem Titel: La Sorcellerie en Poitou. Gilles de Rais. Huysmans selbst ließ die Fragmente 1899 erneut publizieren, dieses Mal unter dem Titel: La Magie en Poitou. Gilles de Rais. Als deutsche Ausgabe zu empfehlen: Joris-Karl Huysmans, Magie im Poitou. Gilles de Rais, 1996.
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Frauen und dem Ehemann der einen, alle aus den ärmeren Schichten]. Dies wurde auch durch das Zeugnis der Synodalzeugen dieser Kirchen und durch das Zeugnis von Männern, die über jeden Verdacht erhaben sind, verstärkt (…). Im Laufe unserer Visitationen haben wir in diesen Kirchen mit größter Sorgfalt entweder in eigener Person oder durch andere über diese und noch andere Dinge, Untersuchungen durchgeführt oder durchführen lassen. Durch diese Mittel, die durch die Aussagen dieser Zeugen bewiesen wurden, haben wir unter anderem erfahren, dass Gilles de Rais, der unserer Gerichtsbarkeit untersteht, eigenhändig und mittels gewisser Komplizen viele Kinder erwürgt, erschlagen und unmenschlich ermordet und an diesen Kindern Verbrechen gegen die Natur verübt hat; dass er selbst oder durch andere oft Dämonen mit schrecklichen Anrufungen beschworen hat; dass er ihnen geopfert und Opfergaben dargebracht und mit ihnen einen Pakt geschlossen und andere ungeheure Untaten innerhalb unserer Gerichtsbarkeit begangen hat (…). Aus all dem zeigt sich, dass er öffentlich und bekannterweise bei allen guten und aufrichtigen Menschen diffamiert war und es noch immer ist. Und damit niemand wegen dieser Dinge noch im Zweifel wäre, haben wir diese unsere vorliegenden Briefe verfasst und durch unser Siegel bestätigt.«37 37
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»A tous ceux qui les présentes lettres verront Jean (…) évêque de Nantes (…) Nous portons à votre connaissance, par lettres, que, visitant en personne la paroisse de la Bienheureuse Marie de Nantes, sur laquelle est bâtie la maison vulgairement appelée La Suze, demeure fréquente de Gilles de Rais, ci-dessous nommé et paroissien de cette même Église, et d’autres églises paroissiales plus bas désignées ; sur le bruit publique, sur les nombreux rapports venus jusqu’à nous, et sur la clameur dénonciatrice d’Agathe (…) fortifié encore par les dépositions des témoins synodaux de ces églises, et par celles d’hommes d’abri du soupçon (…) Nous avons fait interroger ou que nous avons interrogés nous-même avec le plus grand soin sur les faits ci-dessous indiqués ou autres encore (…) nous avons découvert et les dépositions des témoins nous ont prouvés, entre autres choses, que Gilles de Rais, notre sujet et notre justiciable, par lui-même ou par certains hommes, ses complices, a étranglé, tués, et inhumainement massacré un très grand nombre d’enfants ; qu’il a commis sur eux les crimes contre nature ; qu’il a fait ou fait faire souvent nombre d’horribles évocations des démons ; qu’il leur a fait des sacrifices et des offrandes, qu’il a passé un pacte avec eux, sans compter d’autres crimes énormes (…) De quoi il était et est encore publiquement, au su de tous, diffamé auprès des gens honnêtes et graves. Et, pour que personne n’ait de doute sur ce point, nous avons ordonné d’apposer et fait apposer notre sceau à ces présentes lettres.« Bossard (Fn. 4), 235–236. Obwohl er den lateinischen Text in geschliffenes Französisch brachte, bewahrte er den Duktus und die rechtlich relevante Terminologie der Quelle, vgl. E 189-1, fol. 1–3.
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Was fällt auf ? 1. Es geht hier um ein außergerichtliches Dokument, das nicht notwendigerweise Teil des Gerichtsprotokolls ist, sondern sich an alle und jeden richtet. Zweck des Schreibens ist es, wie im letzten Satz angegeben, jeden eventuellen Zweifel über die Schuld von Gilles aus dem Weg zu räumen. Subtil, aber effektiv wird also indirekt ein Freibrief für weitere Denunziationen gegeben. Weitere Mahnbriefe werden im September folgen. Auf diesem Weg konnte Malestroit nun einerseits Öffentlichkeit herstellen und die Bevölkerung mit einbeziehen, andererseits aber dafür sorgen, dass der Beschuldigte vorerst noch nichts von den gegen ihn aufgekommenen Diffamierungen erfuhr. 2. Von nur sieben Zeugen werden die Namen angeführt, und auch die Verbrechen selbst werden summarisch ohne Einzelheiten aufgelistet. Es handelt sich hierbei um sechs Frauen und einen Mann, den Ehemann einer von ihnen. 3. Die Delikte werden so beschrieben, dass die genannten Zeugen unmöglich eine direkte Kenntnis davon haben konnten. Die Diskrepanz zwischen den Aussagen und den gezogenen Behauptungen des Bischofs ist ins Auge springend: Die Zeugen – besser die Zeuginnen – können nur aussagen, dass ihre Kinder verschwunden sind. Doch der Bericht gibt bereits an, dass es sich um Sodomie, Mord, Opfer an die Dämonen handelt. Das sind Anklagen, wie sie im Überfluss seit der Spätantike bis ins 19. Jahrhundert hinein bekannt sind. Diese Aussagen wurden dann noch einmal durch Synodalzeugen und durch viri probati bestätigt. Es dürfte allgemein bekannt gewesen sein, dass der Baron Alchemie betrieb, dass er auf seinem Schloss Tiffauge große Öfen für Experimente hatte, dass er gelehrte Männer aus Italien beschäftigte, und dass er für den Dienst in seinem Chor und als Pagen für die Mitglieder seines umfangreichen Gefolges eine sehr große Anzahl von Jungen in seinem Haushalt beschäftigte. 4. Mit allen damaligen Beweismitteln sollte jeder Zweifel unmöglich gemacht werden: Es gibt einen clamor publicus, die Taten sind also »allgemein« bekannt. Dieser clamor publicus galt im kirchlichen Verfahren als Anstoß, eine inquisitio zu eröffnen,38 ohne dass es einer vorherigen Anklage bedurft hätte. Die ohnehin schmale Grenze zu manifesten Delikten, die explizit keine Anklage erforderten,39 wird hier bewusst verwässert, nun werden diffamatio 38 39
So schon 1216 Innozenz III., Dekretale Qualiter et Quando, X.5.1.23. »Manifesta accusatione non indigent«, wird im Decretum Gratiani dargelegt. C. 2 q. 1 c. 15.
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und Notorietät angeglichen. Einzelne Zeugen bzw. Zeuginnen, ermöglichen ein Einleitungsverfahren per denunciationem.40 Diese Denunziationen werden durch die Aussagen der vereidigten Synodalzeugen und einiger als ehrbar geltender Männer untermauert. Und es werden Hintertürchen zu weiteren Fakten offengelassen: die Wendung »und andere Dinge« verweist schon auf den summarischen Charakter des späteren Verfahrens, gibt aber auch Raum für weitere Details: So ist im Mahnschreiben an den Klerus im September die Liste der Anklagepunkte bereits explizit auf Majestätsbeleidigung, also Häresie, ausgeweitet.41 Wie die weitere Entwicklung zeigen wird, sollte sich der spätere Verlauf des Prozesses explizit, teilweise wörtlich, auf diese Anklagepunkte stützen. Der Grundsatz ›Ne crimina remaneant impunita‹, von Günter Jerouschek schon 2003 scharfsinnig analysiert,42 konnte somit in Anwendung gebracht werden. Denn tatsächlich wurde hierdurch die Verfolgung eines mächtigen Warlords möglich, und zwar aufgrund der Denunziationen durch pauperes, die in einem Akkusationsprozess kein Gehör gefunden hätten. Zwischen Juli und September werden nun eifrig weitere Zeugen gesucht. Das ist auffällig, denn die im bischöflichen Schreiben erläuterten Diffamierungen hätten nicht nur für die Überstellung von Gilles an die Inquisition ausgereicht, sondern hätten auch die Einleitung eines Gerichtsverfahrens ausreichend begründet. Der Bischof aber wollte auch hier auf Nummer sicher gehen und noch mehr Belastungszeugen finden. Zu diesem Zweck verschickte Malestroit, entsprechend der üblichen kirchlichen Praxis, am 13.9. Vorladungsbriefe an alle Priester und Notare seiner Diözese, um sie aufzufordern, Gilles de Rais für den 19.9. vor sein bischöfliches Gericht in Nantes zu laden. Als Anklagen werden genannt: unmenschliche Morde, Ermordung und Tötung vieler Kinder, Sodomie ebenso wie Verbrechen gegen die Natur, Dämonenbeschwörung, Opferung an die Dämo40
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Zum Verfahren vgl. den Beitrag von Günter Jerouschek/Daniela Müller, Die Ursprünge der Denunziation im Kanonischen Recht, in: Heiner Lück/Bernd Schildt (Hrsg.), FS für Rolf Lieberwirth: Recht – Ideen – Geschichte, 2000, 3–24. Zu den weitreichenden sozialen und mentalen Implikationen siehe Jerouschek, Mit Worten töten. Historische und psychologische Überlegungen zur Denunziation. Historical Social Research 26 (2/3), 2001, 44–54; online: https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/3145 (letzter Zugriff: 18.11.2022). Vgl. bei Hernandez (Fn. 10), 3–4. Jerouschek, Ne Crimina Remaneant, in: HRG, Bd. III; online: https://www.hrgdigital.de/ id/ne_crimina_remaneant_impunita/stichwort.html (letzter Zugriff: 18.11.2022).
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nen und Teufelspakt sowie Ketzerei und Umsturz des Glaubens. Während im Schreiben an die Bevölkerung die Verbrechen an den Kindern und die Magie im Vordergrund standen, bildet der Vorwurf der Magie nun also den Ausgang, um auch Häresie daran zu koppeln und damit also das Verfahren eindeutig an die Inquisition zu verweisen. Diese Ladung wurde in der ganzen Diözese verbreitet, aber sie wurde dem Angeklagten sicher nie zur Kenntnis gebracht: Am Tag nach der Veröffentlichung erschien ein Notar des Bischofs zusammen mit einem Offizier des Herzogs vor der Burg von Machecoul und lud Gilles vor das kirchliche Gericht, um sich wegen der Anklage der Ketzerei zu antworten.43 Die anderen Punkte der Anklageschrift wurden also unterdrückt. Gilles stellt sich – in Verkennung der Gesamtanklage – dem Gericht. Er vertraute darauf, sich vom Vorwurf der Häresie reinigen zu können. Geschickt, wenngleich auch naiv, verweist er hierzu auf die Tatsache seiner Taufe, wodurch er dem Teufel abgesagt habe. Auffällig ist am Protokoll, dass Gilles von Beginn an als accusé geführt wurde, tatsächlich also keine Chance auf »Reinigung« bestand. Zusammen mit Gilles waren seine Diener Henriet und Poictou verhaftet worden, ebenso sein Alchemist Prelati und der Priester Blanchet.44 Von seiner Inhaftierung am 14.9. bis zu seiner Hinrichtung am 26.9. spielt sich nun ein beispielhafter Prozess ab. Da wäre zunächst die Zusammensetzung des geistlichen Gerichts: Den Vorsitz hat Jean de Malestroit, Bischof von Nantes, der in seiner Funktion als Kanzler des Herzogs auch im weltlichen Verfahren dem federführenden Richter übergeordnet ist. Dem Bischof ist der Dominikaner Jean Blouin in seiner Funktion als Vize-Inquisitor beigeordnet. Blouin war in dieser Funktion 1426 für die Diözese Nantes vom Großinquisitor von Frankreich, Guillaume Merici ernannt worden. Für die aus Bischof und Inquisitor zusammengesetzte geistliche Gerichtsbank wird ein Promotor bestellt, Guillaume Chapeillon. Als Promotor hatte er die Anklage aufzustellen, die Beweise zusammenzutragen und die Bestrafung zu fordern. Das entlastete den Bischof und den Inquisitor formal davon, gleichzeitig als Ankläger und Richter aufzutreten. Dabei aber war der Promotor streng der Leitung des Gerichts unterstellt. 43
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»(…) alors lui reprochant son hérésie ainsi que ledit promoteur assura savoir et connaitre, lui demandant s’il voulait comparaître en personne devant ledit Evêque de Nantes et quelconques autres juges ecclésiastiques, et aussi devant quelconque inquisiteur de l’hérésie, et là se purger de ce qui lui était reproché …«, Hernandez (Fn. 10), 5. Vgl. zu den weiteren Fakten Bossard (Fn. 4), auch wenn seine Schilderung, in der die Originalzitate mit seiner emotionsgeladenen eigenen Beurteilung vermischt werden, bisweilen methodische Fragen aufwirft.
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Das weltliche Verfahren wurde von Pierre de l’Hôpital, dem Vorsitzenden des Parliaments geleitet. Die Anklagepunkte haben wir bereits vernommen. Auffallend ist aber, dass Gilles zunächst nur informiert wurde, wegen Häresie angeklagt zu werden. Dieser Anklage stellte er sich im Vertrauen darauf, sich reinigen zu können. In diesem ersten Verhör wurde zudem mündlich verhandelt, sodass ihm auch keine formale Anklage in Schriftform übermittelt wurde, und er also auch nicht in schriftlicher Form darauf reagieren konnte. Die wahren Anklagepunkte wurden für ihn erst ersichtlich, als am 8.10. eine gezielt ins Untergeschoß des Schlosses vorgelassene Menge lautstark nach Rache für die ermordeten Kinder rief. 1
Methoden des Gerichts
Wie versuchten Malestroit und die andern Beteiligten Gilles zu überführen? Wir sahen, dass insgesamt neun Zeugenaussagen vorlagen, die jedoch nur das Verschwinden der Kinder bezeugen konnten. Aber durch die gezielte Verbreitung der bischöflichen Visitationsberichte und der pastoralen Mahnbriefe war bereits der Boden bereitet, auf dem das allgemeine Misstrauen weiter gedeihen konnte. Zudem wurden bewusst die Geständnisse von zwei vorgeblichen Mittäterinnen in Umlauf gebracht. Diese Frauen hatten nach eigenen, höchstwahrscheinlich erfolterten, Geständnissen für Gilles die Kinder beschafft. Damit war die Linie gelegt vom Verschwinden der Kinder zu Gilles, der bekanntermaßen viele Jugendliche an seinem Hof hatte. Wie schon im zitierten Diffamierungsbrief deutlich geworden, stand die Behauptung eines rumors zunächst auf schwachen Füßen. Das Gerücht wurde offenbar erst gezielt nachgewiesen, als Geständnisse der Mitgefangenen diskret, aber konsequent in der Bevölkerung verbreitet worden waren. So ist auffällig, dass bei der Wiedergabe der Aussagen der vernommenen Zeuginnen in ihrer ersten gerichtlichen Vernehmung am 28.9. mit Vorliebe die Vokabel soupçonné (vermutet, verdächtigt) auftaucht, und dass sich immer der Rekurs auf den clamor, die »rumeur publique« findet. Außer dem Verschwinden und der vermuteten Entführung durch Gilles können (noch) keine Angaben gemacht werden.45 Ganz anders ist die Situation dann am 8.10., als die betroffenen Eltern nun nicht nur unter Tränen und Geschrei vor dem Bischof erscheinen und den Verlust der Kinder beteuern, sondern nun auch versichern, dass Gilles und seine Komplizen die Kinder weggenommen hätten, um mit ihnen sodomitisch zu verkehren 45
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Vgl. Hernandez (Fn. 10), 6–10.
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und Dämonen anzurufen. Nun folgen auch die schon im bischöflichen Schreiben erwähnten weiteren Vorwürfe, die wörtlich wiedergegeben werden, um schlussendlich den Bischof zu bitten, das hierfür geeignete »remède« (Heilmittel) zu finden.46 Die zweimalige Berufung von Gilles wurde als frivolus neben der formalen Rüge mit Hinweis auf die Schwere der Verbrechen abgewiesen – obwohl Jean de Malestroit alle Kriterien der Parteilichkeit erfüllt haben dürfte, war er doch bei den Landverkäufen der Mittelsmann gewesen und hatte sich sehr deutlich in Bezug auf die Verbrechen von Gilles seiner »Herde« gegenüber geäußert: »Ich werde euch rächen, ich, Jean de Malestroit.«47 Allerdings war die Appellation ohne Frage ein umstrittenes Gebiet. Gestritten wurde über die prinzipielle Rechtmäßigkeit einer Appellation wie auch den Platz einer solchen: Hatten Päpste wie Gregor IX. und Alexander IV. die Möglichkeit einer Appellation im Inquisitionsprozess verneint, so waren im 15. Jahrhundert Appellationen durchaus gängige Praxis, wie das Inquisitionshandbuch des Nicolaus Eymericus zeigt, auf das wir noch zu sprechen kommen werden. Sowohl vor der Folter wie auch vor dem Fällen des Urteils konnte an den Papst appelliert werden.48 Generell wurde einer Appellation abweisend gegenübergestanden, die als »frivolus atque nulla« beurteilt wurde49 – und mit denselben Worten weist denn auch Malestroit Gilles Appellationen ab.50 Ein Anwalt wurde ihm nicht zur Seite gestellt, da die summarische Prozessform der Ketzerinquisition auch das ›Getöse‹ (strepitus) von Anwälten unterbinden wollte.51 Zudem gründetet die Anklage auf Notorietät, ermöglichte also generell ein Abweichen solcher Verteidigungsrechte. Die Bezeichnung von Gilles Position als »accusé ou defendeur« lässt allerdings aufhorchen: Sollte damit die 46 47 48
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Hernandez (Fn. 10), 10. »Je vous vengerai, moi, Jean de Malestroit (…)«, Bossard (Fn. 4), 234. Vgl. unter Wiedergabe der entsprechenden päpstlichen Dokumente Nicolaus Eymericus, Directorium inquisitorum. Cum commentariis Francisci Pegne, Sacrae Theologiae ac Iuris utriusque doctoris, 1578, online https://archive.org/details/bub_gb_ flCg6iBRV6EC/page/n3/mode/2up, fol. 167r-v (letzter Zugriff: 18.11.2022). Die französische, leider nicht befriedigende, Teil Edition: Nicolaus Eymerich/Francisco Pena, Le Manuel des Inquisiteurs, Louis Sala Molins (Le Savoir Historique 8) (Hrsg.), 1973. Vgl. Eymericus (Fn. 48), fol. 130r. Hernandez (Fn. 10), 12. Vgl. zum Summarischen Verfahren Daniela Müller, Die Entstehung des summarischen Verfahrens im Strafrecht des Mittelalters, in: Daniela Müller, Ketzer und Kirche (Christentum und Dissidenz I), 2014, 221–237.
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Diskussion um das Recht auf Verteidigung auch im Ketzerprozess unterlaufen werden, indem nun der Angeklagte selbst als Verteidiger bezeichnet wurde? Die mitgefangenen Diener dürften, auch ohne dass dies explizit vermeldet wurde, gefoltert worden sein. Mit den Geständnissen der beiden wurde Gilles dann konfrontiert. Die aktenkundig gewordene Kinderbeschafferin wurde nur außergerichtlich vernommen, nicht während des Prozesses. Vielleicht ist sie im Gefängnis gestorben. Jedenfalls wurde sie gerichtlich nicht vernommen. Den Wahrheitseid, für alle im Verfahren Beteiligten obligatorisch, erzwangen die Richter von Gilles mit der scharfen Androhung der Exkommunikation. Folter wurde auf psychologisch subtile Weise angedroht, wobei Gilles im Unklaren gelassen wurde, ob das Gericht nun die Folter beschlossen habe oder nicht. Die Frist, bis ihm dies mitgeteilt werden würde, musste er in der Folterkammer verbringen. Erst diese ausgeklügelte Psychologie brachte den erhofften Erfolg und führte zum Geständnis von Gilles. Insgesamt erarbeitete der Promotor 49 Anklage-Artikel, die die breite Palette der bekannten Vorwürfe wegen Häresie, Zauberei, Dämonenbeschwörung, Sodomie, Nekrophilie koppeln mit den spezifischen Mordvorwürfen. 2
Haltung von Gilles im Prozess52
Anfangs viel zu selbstsicher nur eine Klage wegen Häresie vermutend, hat Gilles de Rais sich in die Hände seiner Richter begeben. Keine Flucht, kein Appell an seine Standesgenossen erfolgte. Als aber die Anklage sehr schnell für ihn sichtbar die Wendung hin zu Kindermord und den anderen Exzessen nahm, hat er sofort die Zuständigkeit des Gerichts negiert und verlangt, an ein anderes Gericht überstellt zu werden. Seine zwei Berufungen wurden jedoch, wie schon gehört, als ›leichtfertig‹ abgewiesen mit der Begründung, dass sie nicht schriftlich erfolgt seien – obwohl ihm keine Gelegenheit dazu gegeben wurde, sie zu Papier zu bringen, da ja auch die Anklage bislang nur mündlich formuliert worden war. Nachdem er wegen der Verweigerung des im Inquisitionsverfahren obligatori52
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Vgl. immer noch grundlegend zum Ketzer-Inquisitionsprozess Winfried Trusen, Vom Inquisitionsverfahren zum Ketzer- und Hexenprozess: Fragen der Abgrenzung und Beeinflussung, in: FS Mikat, 1989, S. 435–450; auch Lotte Kéry, Inquisitio-denunciatioexceptio: Möglichkeiten der Verfahrenseinleitung im Dekretalenrecht, in: ZRG, KA 87, 2001, 226–268.
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schen Wahrheitseides exkommuniziert ist, tritt eine bemerkenswerte Veränderung bei ihm ein, für die die Akten keine Erklärung bieten. Vielleicht war Gilles ein Mann von seltener Frömmigkeit und Liebe zur Kirche,53 sodass das Gefühl des Ungehorsams und des Ausschlusses von der Kirche schwer auf seinem Gemüt lasteten. Vielleicht aber, und das scheint angesichts des weiteren Verlaufs der Ereignisse am wahrscheinlichsten, hatte er die geheime Zusicherung erhalten, dass die schwerwiegenderen Anklagen nicht erhoben werden würden, wenn er sich in einigen Punkten für schuldig erklärte. Bei dem sicher schwerwiegenden Vorwurf der Häresie hätte sein Leben ja nicht unbedingt auf dem Spiel gestanden: Nur einen verstockten oder rückfälligen Ketzer würde die Todesstrafe ja treffen. Ein Geständnis hätte also unter dieser Prämisse sein Leben retten können. Jedenfalls ist er am 15.10. bereit, die Zuständigkeit der Richter anzuerkennen. Freimütig gesteht er nun die Ausübung der Alchemie und den Versuch, Metalle umzuwandeln, bestreitet aber die Beschwörung von Dämonen und anderen schwerwiegenden Anschuldigungen der Anklageschrift. Er erklärt, seinen Fall voll und ganz dem Gericht anzuvertrauen; die Wahrheit soll durch die Aussagen seiner Diener ans Licht kommen, die daraufhin vorgeladen und in seiner Gegenwart vereidigt werden. Nach dieser Erklärung wird er, auf Knien liegend, von seiner Exkommunikation losgesprochen und seine Diener werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit, also auch ohne, dass Gilles dabei wäre, vernommen – höchstwahrscheinlich unter Folter.54 Aber Gilles weigert sich noch immer, mehr als Alchemie zuzugeben. Offenbar wurde jedoch dieses Geständnis als »vacillans et varius« bewertet, sodass nun nach den Regeln des Kanonischen Rechts zur Folter geschritten werden konnte.55 Es erfolgt demnach die Androhung der Folter, unter besonderer psychologischer Raffinesse. Es ist ein Spiel zwischen Angst und Hoffnung, und Gilles hält diesem 53 54
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Darauf könnten seine überreichen Stiftungen und die großzügigen Almosen deuten. Dass in den Verfahren gegen Ketzer Folter oft nicht erwähnt wurde, bedeutet nicht, dass nicht gefoltert wurde. Das hat bereits 1985 Johannes Fried am Beispiel der Prozesse gegen die Templer einsichtig machen können: Johannes Fried, Wille, Freiwilligkeit und Geständnis um 1300. Zur Beurteilung des letzten Templergroßmeisters Jacques de Molay, in: Historisches Jahrbuch 105, 1985. Barbara Frale hat dies dann 2003 durch ihren in der Fachwelt damals Aufsehen erregenden Fund der sogenannten Chinon Charte erhärten können, vgl. Barbara Frale, Il Papato e il processo ai Templari, 2003. Vgl. hierzu die Bestimmungen der Glossa Ordinaria, Decretum Gratiani emendatum et notationibus illustratum una cum glossis. Gregorii XIII pontificis maximi iussu editum: ad exemplar Romanum diligenter recognitum, Rom 1582; (online: https://digital.library. ucla.edu/canonlaw/ (letzter Zurgiff: 18.11.2022) Bd. II, 1964; 1046; 1860.
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Druck nicht länger stand: Gilles bekennt sich aller Anklagen für schuldig, allerdings noch in allgemeiner Form. Am nächsten Tag wiederholt er in Anwesenheit einer großen Menschenmenge sein Geständnis mit einer vollständigen Beschreibung all seiner Verbrechen. Inhaltlich tritt dabei nichts Neues zu den vorherigen Aussagen seiner Diener hinzu. Der ehemals verstockte, arrogante Fürst ist zum exemplarischen reuigen Sünder geworden, der sogar darauf beharrt, dass das lateinische Geständnis auch in der Volkssprache verzeichnet werde, um dessen Inhalt allen zur Abschreckung bekannt zu geben. 3
Die Verurteilung
Drei Tage nach seinem publikumswirksamen (dritten) Geständnis wird Gilles dem Gericht zur Verurteilung vorgeführt. Der Bischof und der Vize-Inquisitor verurteilen ihn gemeinsam wegen Ketzerei und Beschwörung von Dämonen; der Bischof allein verurteilt ihn wegen der Anklagepunkte der Verbrechen wider die Natur, des Sakrilegs und der Verletzung der kirchlichen Immunitäten. Die Strafe war in beiden Fällen die Exkommunikation. Doch darin musste er nicht lange verweilen: An Ort und Stelle wird er wieder mit der Kirche versöhnt und in die volle Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen. Seltsam dabei aber war, dass er, obwohl er der Ketzerei als überführt galt, nicht öffentlich dieser Ketzerei abschwören musste, um von seiner Exkommunikation gelöst zu werden. Der Grundsatz ecclesia abhorret a sanguine, von Innozenz III (1161–1216) explizit nochmals verankert,56 wurde exemplarisch vorgeführt: Im Urteil des geistlichen Gerichts ist mit keinem Wort die Rede von den Morden. Diese sind allein im Urteil des weltlichen Gerichts aufgeführt. Denn während die kirchlichen Richter ihre Ermittlungen durchgeführt hatten, hat der Prozess gegen einen Teil der Anklage, nämlich den Mord an den Kindern, gleichzeitig im benachbarten herzoglichen Gericht des Herzogs stattgefunden. Außer der Vernehmung einer großen Anzahl von Zeugen in Bezug auf das mysteriöse Verschwinden von Kindern in den letzten zehn Jahren, hatte das weltliche Gericht wenig getan. Stattdessen wurden in vollem Umfang und ohne weitere Untersuchung die vom Kirchengericht vorgelegten Ermittlungen übernommen. Gilles letzter Gang wurde als religiöse Massenkundgebung in Form einer Prozession orchestriert. Auf sein Gesuch hin wurde er als erster, vor seinen beiden mitverurteilten Dienern,57 56 57
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Dekretale Sententiam sanguinis, X.3.50.9. Mit dem Leben davon kamen der Priester Blanchet und der Alchimist Prelati.
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hingerichtet, um ihnen ein Vorbild zu geben. Der reuige Sünder Gilles wurde erst gehängt, dann verbrannt, aber nicht vollständig, sodass ein Teil seiner Gebeine in der Grablege der Familie beigesetzt werden konnte. Damit wurde auch seiner letzten inständigen Bitte stattgegeben. Also ein erbauliches Ende für einen vorgeblichen Massenmörder, der sich zum exemplarischen Reuigen gewandelt hatte.58 Wie lässt sich nun dieses in mancher Hinsicht außergewöhnliche Prozessgeschehen beurteilen?
III Beurteilung des Prozesses Wie konnte es sein, dass bischöfliche und inquisitorische Aufgaben so perfekt aufeinander abgestimmt waren und sich so passgenau ergänzten? Auch nach der Einrichtung der päpstlichen Inquisition im 13. Jahrhundert behielten bekanntlich die Bischöfe ihre ursprüngliche Gerichtsbarkeit. Aber jetzt wandten auch sie in ihren Gerichten das von Innozenz III. maßgeblich entwickelte kanonische inquisitorische Verfahren an, wann immer es die Umstände zu erfordern schienen. In diesem »kanonischen« Verfahren59 war der entscheidende Unterschied zum Ketzerinquisitionsverfahren, dass der Angeklagte generell bestimmte Rechte bei der Verteidigung genoss, die einem wegen der Ketzerei Angeklagten verweigert waren. Die Zuständigkeit des bischöflichen Gerichts erstreckte sich auf eine große Vielfalt von Verbrechen. Es war nicht nur das Gericht, vor dem alle Fälle, die den Klerus betrafen (privilegium fori), verhandelt wurden, es war auch ratione rerum für spezifische Vergehen zuständig, wie für Sakrileg und die Verletzung der kirchlichen Immunität; ebenso für alle Verbrechen – außer den schwersten, 58 59
Hernandez (Fn. 10) hat das fast hagiographisch anmutende Dokument in seine Sammlung aufgenommen, 194–197. Immer noch grundlegend: Winfried Trusen, Der Inquisitionsprozeß. Seine historischen Grundlagen und frühen Formen, in: ZRG, KA 74, 1988, S. 168–230; Richard M. Fraher, IV Lateran’s Revolution in Criminal Procédure: the Birth of inquisitio, the End of Ordeals and Innocent III’s Vision of Ecclesiastical Politics, in: Rosalius Josephus Castillo Lara (Hrsg.), Studia in honorem eminentissimi cardinalis Alphonsi M. Stickler, (Studia et textus historie juris canonici, 7), 1992, 97–111. Spezifischer: Markus Hirte, Papst Innozenz III., das IV. Lateranum und die Strafverfahren gegen Kleriker. Eine registergestütze Untersuchung zur Entwicklung der Verfahrensarten zwischen 1198 und 1216, 2005.
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wie Mord – die an heiligen Orten begangen wurden; ferner für Kindermord, Sodomie, Verbrechen gegen die Natur und Gotteslästerung. Außerdem teilte sich der bischöfliche Gerichtshof mit der päpstlichen Inquisition die Gerichtsbarkeit über Ketzerei, Zauberei und Magie.60 Obwohl auch im vierzehnten Jahrhundert Prozesse noch nach dem System der Anklage (accusatio) durchgeführt werden konnten, war diese Prozessform in wichtigen Fällen durch das inquisitorische Verfahren fast vollständig verdrängt worden. Warum aber übernahmen die Bischöfe so bereitwillig die Normen des inquisitorialen Verfahrens und waren sogar bereit, ihre Kompetenz als Glaubensrichter mit den Inquisitoren zu teilen, nachdem gerade das im vorangegangenen Jahrhundert noch ein ständiger Zankapfel zwischen Bischöfen und Inquisitoren gewesen war?61 In aller gebotenen Kürze seien zunächst die Hauptlinien des Verfahrens skizziert, um den Vorteil des Inquisitionsverfahrens zu verdeutlichen. Schon in der Glossa Ordinaria war festgelegt, dass auch im Inquisitionsverfahren der ordo juris einzuhalten sei.62 Dieser sah unter anderem die folgenden Bestimmungen vor: Keine Person mit gutem Leumund konnte durch die Inquisition angeklagt werden. Es musste also zunächst ein öffentliches Gerücht über den Angeklagten nachgewiesen werden, sodass niemand, dessen Ruf intakt war, vor ein Inquisi60
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Grundlegend: Wilfried Hartmann/Kenneth Pennington (Hrsg.), The History of Courts and Procedure in Medieval Canon Law (History of Medieval Canon Law) 2016. Einen allgemeinen Einstieg ermöglicht Winfried Trusen, Anfänge des gelehrten Rechts in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte der Frührezeption (Recht und Geschichte 1), 1962; prägnant informiert Knut Wolfgang Nörr, Prozesszweck und Prozesstypus: Der kirchliche Prozess des Mittelalters im Spannungsfeld zwischen objektiver Ordnung und subjektiven Interessen, in: ZRG KA 78, 1992, 183–209 und ders. jetzt: Romanischkanonisches Prozessrecht, 2012; jüngst, allerdings mit Schwerpunkt auf der angelsächsischen Tradition, Bruce Brasington, Order in the Court: Medieval Procedural Treatises in Translation (= Medieval Law and its Practice 21), 2016; Charles Donahue (Hrsg.), The Records of the Medieval Ecclesiastical Courts. Part I: The Continent. Reports of the Working Group on Church Court Reports (Comparative Studies in Continental and Anglo-American Legal History 6), 1989 ermöglicht einen Blick in aussagekräftige Quellen. Diese Kompetenzkonflikte werden deutlich im unterschiedlichen Vorgehen von Bischof Jacques Fournier und Inquisitor Geofrroi d’Ablis, siehe Daniela Müller, Der Bischof und der Inquisitor. Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Prozessführung von Jacques Fournier und Geoffroi d’Ablis auf der Basis ihrer Inquisitionsregister, in: Müller (Fn. 51), 237–262. »ordo juris servanda est in inquisitione facienda«, Gl. Ord. Ad X.2.20 (ad v. presens).
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tionsgericht geladen werden konnte – so wollte es die Theorie. Es war jedoch zulässig, dass der Bischof von sich aus ein Verfahren einleiten konnte, um das Vorhandensein eines solchen Gerüchts festzustellen, entweder mit Hilfe der alten synodalen Zeugen, oder durch eine besondere, von ihm ad hoc eingeleitete Untersuchung. Da die Menge der erforderlichen Beweise um ein öffentliches Gerücht oder eine diffamatio gegen eine Person zu belegen, dem Ermessen des Richters überlassen war, zeigt sich, dass auch ein guter Ruf oft nur wenig Schutz bot. Der Angeklagte hatte jedoch das Recht, die diffamatio anzufechten und konnte theoretisch bei der nächsthöheren Instanz appellieren, um die Angelegenheit zu klären. Vom vierzehnten Jahrhundert an war es üblich geworden, dass der Bischof einen gesonderten Ankläger, den Promotor ernannte. Formal wurde damit, wie gesehen, der Bischof, und auch der Inquisitor, davon entlastet, offen als Ankläger und Richter aufzutreten. Der zuständige Richter, der Bischof also, war gehalten, dem Angeklagten, der durch ein öffentliches Gerücht belastet wurde, zu Beginn schriftlich die detaillierten Vorwürfe mitzuteilen und zu erläutern, um diesem eine Verteidigung zu ermöglichen. Danach wurde von ihm der Wahrheitseid gefordert. Erst dann durfte die Befragung, das Verhör, stattfinden. Der Angeklagte wurde zwar mit den Zeugen konfrontiert, und sie wurden in seiner Gegenwart auch vereidigt; aber ihre Vernehmung fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor dem Richter statt, wobei ihre Aussagen anschließend dem Angeklagten mitgeteilt wurden. Der Angeklagte hatte auch die Möglichkeit, in seinem Namen Zeugen zu benennen, um die Anschuldigungen zu widerlegen. Ebenso wurde dem Angeklagten in einem gewöhnlichen inquisitorischen Verfahren nicht das Recht verweigert, einen Verteidiger zu beauftragen, der seine Interessen wahrnimmt und die Verteidigung leitet. Schließlich war der Richter verpflichtet, eine mildere Strafe als im alten Anklageverfahren vorgesehen zu verhängen. Eine Ausnahme von dieser Regel wurde aber in Fällen von Mord, Simonie und Ketzerei gemacht, bei denen die volle Strenge des Gesetzes auch in der Inquisition durchgesetzt wurde. Im Verfahren der päpstlichen Inquisition gegen Ketzerei wurden ja bekanntlich die meisten Rechte der Angeklagten aufgehoben. Die Ablegung des Wahrheitseides wurde unumstößlich – auch wenn dieser bisweilen »flexibel« gehandhabt wurde, wie das Beispiel von Jeanne d’Arc zeigt, die nur bereit war, über die Dinge offen und wahr auszusagen, die ihr nicht von ihren Stimmen untersagt worden waren – obwohl es doch gerade dann für ihre Richter interessant geworden wäre. Das wurde dann letztlich, überraschend ge181
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nug, von ihren Richtern nach mehrmaligen Erzwingungsversuchen, akzeptiert.63 Gilles war zum Schluss bereit zu schwören. Damit aber war er in der Konfliktsituation jedes Angeklagten, der teilweise oder ganz schuldig war: Entweder legte er einen Meineid ab (für religiöse Menschen eine enorme Gewissenslast), oder er trug selbst zu seiner Verurteilung bei.64 Auch wurden die einzelnen Anklagen dem Angeklagten nicht unbedingt mitgeteilt, ebenso wenig die Namen der Zeugen der Anklage. Sein Recht, die gegen ihn benannten Zeugen »abzulehnen«, wurde weitgehend außer Kraft gesetzt durch die Beseitigung aller Hindernisse für Zeugen – außer tödlicher Feindschaft. Wenn Taten als »manifest« galten, also öffentlich bekannt waren, konnte sogar auf Zeugen und weitere Beweiserhebung ganz verzichtet werden. Hier spielen sich dann diffamatio und Notorietät in die Hände, was im Vorgehen gegen Gilles geschickt miteinander verflochten wurde, wie wir schon sahen. Das Recht, einen Anwalt hinzuzuziehen, wurde ihm entzogen. Und schließlich konnten sowohl der Angeklagte als auch die Zeugen gefoltert werden, die Zeugen schon beim geringsten Anzeichen von Verschweigen der vollen Wahrheit. Papst Bonifaz VIII. (1235–1303) hatte hierbei allgemein für eine Verschärfung der Prozessregeln gesorgt, und manche noch von den Kanonisten des 13. Jahrhunderts diskutierten Kompetenzstreitigkeiten und Verfahrensregeln allgemein gültig in eine schärfere Richtung gelenkt.65 So übergeht er in zweien seiner 63
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Vgl. die zweite Sitzung des Gerichts vom 22.2.1431, ediert von Jules Quicherard, Procès de condamnation et de réhabilitation de Jeanne d’Arc, dite la Pucelle: publiés pour la première fois d’après les manuscrits de la Bibliothèque royale, suivis de tous les documents historiques qu’on a pu réunir et accompagnés de notes et d’éclaircissements, t. 1: Procès de condamnation, 1841, 45–46 online: juravit quod diceret veritatem super his quae requirerentur ab ea, fidei materiam concernentibus quae sciret, tacendo de conditione antedicta, videlicet, quod nulli diceret aut revelaret revelationes eidem factas,online: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k851075d.r (letzter Zugriff: 18.11.2022). Vgl. zur Problematik: Richard Helmholz, Origins of the Privilege against Self-Incrimination: The Role of the European Ius Commune, in: 65 New York University Law Review 962 1990, 962–990. Ein Beispiel möge genügen: Der im Inquisitionsverfahren von allen geforderte Wahrheitseid war in der kanonistischen Diskussion zunächst umstritten. Denn durch die Aufteilung des Verfahrens in Voruntersuchung (inquisitio generalis) und gezielte Untersuchung (inquisition specialis) konnte jederzeit aus dem Zeugen der Voruntersuchung der Angeklagte der Hauptuntersuchung werden. Dann aber hätte dieser aufgrund seines Eides, die Wahrheit unter allen Umständen zu sagen, die Verpflich-
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Dekretalen die Verbindlichkeit der Regeln des Ordo auch für den Inquisitionsprozess mit Stillschweigen und sieht auch keine Sanktion vor, wenn ein Richter absichtlich vom geordneten Verfahren abweicht oder seine Rechte dem Beschuldigten vor seiner Vernehmung willentlich verschweigt.66 All dies trifft auf den Prozess zu, der Gilles de Rais gemacht wurde: Er wurde bewusst im Unklaren der tatsächlichen Anklagepunkte gelassen, die ihm erst nach seinem ersten Verhör mitgeteilt wurden, und ohne juristisch stichhaltige Begründung wurde ihm die Appellation verwehrt. Auf den päpstlichen Verschärfungen unter Bonifaz VIII. baut dann ein so versierter Inquisitor wie der aragonesische Dominikaner Nicolaus Eymericus auf, als er die Regeln des Inquisitions-Verfahrens in seinem Handbuch67 festlegte. Bei dem Prozess gegen Gilles müsste denn auch eingehend überprüft werden, inwieweit nicht das Directorium inquisitorum die Grundlage des Prozesses bildete und den Löwenanteil der Beschuldigungen vorgab. Eymericus hatte dieses Anleitungsbuch für Inquisitoren 1376 verfasst und in drei Teile unterteilt: Teil Eins (prima pars est de fide catholica) gibt kirchenrechtliche Referenztexte wieder, Teil Zwei (secunda pars directorii est de haeretica pravitate, in qua hæc per ordinem continentur) beschreibt und definiert die maßgeblichen Häresien und im dritten Teil (Tertia pars directorii est de practica officii inquisitor, in qua hæc per ordinem continentur) beschreibt er bis ins Detail die anzuwendende Prozessform. Eymericus befasst sich auch intensiv mit der Anrufung von Dämonen68 und spricht sich gegen die Aburteilung durch weltliche Gerichte bei diesen Delikten aus.69 Bis ins Detail wurde im Prozess gegen Gilles jedenfalls den Anleitungen des Eymericus gefolgt, ob es um die Rechtmäßigkeit unwahrer Versprechungen durch den Richter oder die Verbindung von Tortur und Exkommunikation ging. Die Bedeutung des Handbuchs von Eymericus wäre gerade für Frankreich noch zu
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tung, sich selbst zu belasten. Das generelle Prinzip, dass niemand gezwungen werden dürfe, sich selbst zu belasten, wurde auch im Kirchenrecht gebilligt. In der Glossa ordinaria, der autoritativen Kommentierung des Corpus Iuris Canonici, wird als überlegung eingebracht: »Sed contra videtur quod non teneatur respondere quia nemo tenetur prodere se«, Gl. Ord. ad X.2.2.20.37. Auch Innozenz IV. war dieser Linie gefolgt, aber unter Bonifaz VIII. änderte sich dies. Ohne Wenn und Aber verfügte er in der Dekretale Si de Calumnia: »in causis spiritualibus (…) debet de veritate dicenda iurari«, VI. 2.4.1. Vgl. die Dekretalen Postquam, VI.5.1.1 und Si is VI. 5.1.2. Eymericus (Fn. 48). Eymericus (Fn. 48), 79; 158–162, wobei auch die Alchemisten aufgeführt sind. Eymericus (Fn. 48), 133–156.
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erforschen. Jedenfalls sind für das 15. Jahrhundert mindestens 15 Handschriften überliefert;70 allerdings ist man auch bei dieser Quelle wiederum mit einer unklaren Quellenlage konfrontiert: »Zugänglich« ist das Directorium in gedruckter Form nur in einer von Francisco Pena kommentierten Ausgabe von 1578.71 Doch der juristische Kommentator Pena war vor allem daran interessiert, die Darstellung Eymerichs für seine eigene Zeit der Spanischen Inquisition fruchtbar zu machen. Er ist deshalb nicht immer als zuverlässiger Editor anzusehen. Doch zurück zu Eymerich. Wenn man sich das bekannte Netzwerk der Dominikaner bewusst macht und die Biographie Eymericus72 hinzunimmt, der seine Ausbildung in Paris erfahren hatte und während seines Exils am päpstlichen Hof in Avignon weilte und dort sogar als päpstlicher Pönitentiar Karriere machte, dürfte die Hypothese berechtigt sein, dass sein in Avignon verfasstes Lebenswerk auch in Frankreich Grundlage von Inquisitionsprozessen war. Das deckt sich auch mit der inhaltlichen und formalen Ausrichtung des Directoriums: Im Gegensatz zum Vorläufer-Handbuch des Bernard Gui, die Practica Inquisitionis, fällt nämlich auf, dass es nicht auf eine spezielle geographische Gegend beschränkt war und dass seine Instruktionen bewusst in allgemeinen Begrifflichkeiten gehalten waren, also prinzipiell überall anwendbar waren. Das große Plus des Buches liegt in der Systematisierung der existierenden inquisitorialen Prozessformen und der Ausdehnung seiner Grenzen auf neue Gebiete hin, wie Derek Hill zu recht einschätzt.73 Das alles macht plausibel, dass Eymerichs Handbuch das am einfachsten zu handhabende und aufgrund der vielfältigen Abschriften das am einfachsten zugängliche Handbuch zum Inquisitionsprozess der damaligen Zeit war.74 Inhaltlich weitet Eymericus das Delikt der Blasphemie aus, das er der bischöflichen 70 71
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Vgl. Heinrich Denifle, Die HSS. von Eymerichs Directorium inqusitionis, in: Archiv für Litteratur (sic) -und Kirchengeschichte des Mittelalters 1, 1885, 143–145. Vgl. dazu Edward Peters, Editing Inquisitors Manuals in the Sixteenth Century: Francesco Pena and the Directorium of Nicolaus Eyemerich, in: The Library Chronicle of Pennsylvania 40, 1975, 95–107. Vgl. zu ihm die Studie von Claudia Heimann, Nicolaus Eymerich (vor 1320–1399), praedicator veridicus, inquisitor intrepidus, doctor egregius. Leben und Werk eines Inquisitors (Spanische Forschungen der Görresgesellschaft 37), 2001. Derek Hill, Inquisition in the Fourteenth Century. The Manuals of Bernard Gui and Nicholas Eyemerich (Heresy and Inquisition in the Middle Ages 7) 2019, 56: »His great novelty lay in his systematising of the existing procedures of the inquisition and pushing out its boundaries to new areas”. So auch die Beurteilung von Hill (Fn. 73), 49.
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Jurisdiktion entziehen will75 und diabolisiert die Häresie, die für ihn nun immer durch den Teufel direkt geleitet ist: »die gewundene Schlange, (…) die den Keim verströmt, der Satan und der Teufel ist.«76 Der Häretiker ist bei Eymerich nun nicht mehr notwendigerweise, wie noch bei Gui, Teil einer Sekte,77 was dann in spezifischer Weise auf Gilles zutrifft. Doch am einflussreichsten ist Eymerich in den Bestimmungen zum Delikt Magie. 1260 hatte Papst Alexander IV. (1199–1261) auf Bitten der franziskanischen und dominikanischen Inquisitoren in der Bulle Accusatus die Rahmenbedingungen zur Verfolgung von Magie durch die Inquisition aufgestellt.78 Der Papst stellte dabei eine Demarkierungslinie auf zwischen Magie, die durch die Inquisition verfolgt werden sollte/konnte und Magie, die durch andere Instanzen, also Bischöfe, aber auch weltliche Gerichte, zu verfolgen wäre.79 Dazu passt, dass Eymericus die weltliche Gerichtsbarkeit in den Fällen von Magie zwar anerkannte, sie aber der geistlichen nachordnete. Bei Gilles wurde denn auch nur über die Erweiterung der Vorwürfe auf Kindermord eine besondere Rolle der weltlichen Gerichtsbarkeit begründet, Magie und Zauberei blieben der geistlichen und inquisitorialen Gerichtsbarkeit vorbehalten. Damit wird eine Schnittstelle offenbar, die einerseits ein eigenständiges Vorgehen der weltlichen Macht zeigt, diese aber noch ganz der geistlichen unterstellt. Mit Heinrich Institoris verändert sich dieses Panorama grundlegend, worauf bereits Peter Segl 1991 hingewiesen hat.80 In gewisser Hinsicht erscheint der Prozess gegen Gilles de Rais damit auch 75 76 77 78 79
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Vgl. Eymericus (Fn. 48), f. 98v–102v. »Serpensque tortuosus, (…) efflans virus, qui est satanas et diabolus”, Eymericus (Fn. 48), f. 107r–v. Vgl. Hill (Fn. 73), vor allem chapter 6: Changes in Thinking on Inquisition and Heresy, 165–207. VI.5.2.8. Als Standardwerk hierzu vgl. Alain Boureau, Satan the Heretic.The Birth of Demonology in the Medieval West, 2006, zuvor schon: Ders., Le Pape et les Sorciers: Une consultation de Jean XXII sur la magie en 1320: manuscrit B. A. V. Borghese 348, 2004 sowie spezifischer: Edward Peters, The Magician, the Witch and the Law, 1979. Wegweisend auch Richard Kiekhefer, The Specific Rationality of Medieval Magic, in: The American Historical Review 99, 1994, 813–836 und Michael Bailey, From Sorcery to Witchcraft: Clerical Conceptions of Magic in the Later Middle Ages, in: Speculum 76, 2001, 960–990. Peter Segl, Malefice …non sunt …heretice nuncupande. Zu Heinrich Kramers Widerlegung der Ansichten alienorum inquisitorum regnis hispaniae, in: Hubert Mordek (Hrsg.), FS für Horst Fuhrmann: Papsttum, Kirche und Recht im Mittelalter, 1991, 369–382.
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beinahe als Dublette des Verfahrens gegen Jeanne d’Arc.81 Möglich, dass auch bei ihrem Prozess nach den Anweisungen von Eymericus vorgegangen wurde. Auch bei ihr sind Bischof und Inquisitor die gemeinsamen Richter, auch sie verweigert den Wahrheitseid, auch sie appelliert zunächst an eine andere Instanz. Auch bei ihr erscheinen die Vorwürfe auf unmenschlichen Blutdurst und Mord, gepaart mit dem Vorwurf der magischen Wahrsagerei; auch bei ihr werden die ihr vorgeworfenen Delikte als notorisch beschrieben; auch sie wird mit subtilen, nicht mehr ganz aus den Quellen zu destillierenden Tricks zu Fall gebracht;82 auch bei ihr wurde schon die breite Bevölkerung bewusst miteinbezogen. Die zahlreichen seelsorglichen Ermahnungen, an die Rettung der eigenen Seele zu denken, führen bei beiden letztlich zum Ziel. Folter war somit bei beiden nicht nötig – und dass diese »bad guy-good guy«-Taktik aufging, zeigt sich in der Tatsache, dass beide gestehen. Anders aber als Gilles wird Jeanne am Ende nicht als reuige Sünderin, sondern als rückfällige Ketzerin verbrannt. Und anders als bei Jeanne sind die Rehabilitierungsversuche der Familie83 bei Gilles vergebens, obwohl auch diese Gesuche von Karl VII. unterstützt wurden. Die geschilderten zu Lasten der Angeklagten gehenden Anpassungen im Prozess zeigen jedenfalls, um wie viel größer die Chancen einer Verurteilung im inquisitorialen Prozess waren. Dafür nahmen dann die Bischöfe ganz gern eine auf den ersten Blick als Machteingrenzung erscheinende Kompetenzteilung in Kauf. Das erklärt auch, warum gerade bei Verfahren, bei denen politische Erwägungen eine Rolle spielten, der Vorwurf der Ketzerei und Zauberei gerne mit 81
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Das Verhältnis von Gilles und Jeanne hat immer wieder unter verschiedenen Gesichtspunkten zu Veröffentlichungen geführt, sowohl im romantischen Genre als im akademischen Lager. Aber bislang wurden die Prozesse der beiden noch nicht in den gemeinschaftlichen Fokus einer Studie gerückt. Zum Prozess gegen Jeanne ist inzwischen eine Flut von Veröffentlichungen erfolgt, außer Valérie Toureilles Biographie: Jeanne d’Arc, 2020 aber besonders empfehlenswert und detailliert: Wolfgang Müller, Der Prozess Jeanne d’Arc: Quellen – Sachverhalt einschließlich des zeit- und geistesgeschichtlichen Hintergrundes – Verurteilung und Rechtfertigung (Rechtsgeschichtliche Studien), 2004. Eine Analyse des Urteils aus heutiger juristischer Perspektive findet sich bei Michael Streck/Annette Rieck, Die Akte Jeanne d’Arc. Prozess- und Vollstreckungsbericht 1431. Urteilsanalyse und Thesen zur Verteidigung, 2017. Bei Eymerich sind die verschiedenen Fallen, die ein Inquisitor stellen kann, erfindungsreich als 10 cautelae zusammengestellt, so auch die Erlaubnis, falsche Versprechen auf Gnade machen zu dürfen, vgl. Eymericus (Fn. 48), fol 126r. Insgesamt bieten die 10 Kautelen ein umfangreiches Repertoire an physischen und psychischen Druckmitteln, bei den einige im Prozess gegen Gilles auch zur Anwendung gekommen sein dürften. Mémoire des Hérétiers, vgl. dazu Bossard (Fn. 4), 229; 255; 341–369.
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akkumuliert wurde. Dann nämlich konnte das Ketzerinquisitionsverfahren zum Zuge kommen. Zudem dürfte auch die kanonistische Diskussion eine Rolle gespielt haben, ob Bischof oder Inquisition bei Magie die zuständige Instanz war. Um auf Nummer Sicher zu gehen, wurden bei Gilles jedenfalls alle Instanzen einbezogen. Damit wurde auch der von Eymerich so scharf akzentuierte Charakter der Magie als in jedem Fall »häretisch« unterstrichen. Diese systematische Koppelung von Magie und Häresie ließ dann auch die von einem Wilhelm von Auvergne noch so minutiös betonte Auffächerung der Magie in verschiedene Formen obsolet werden. Was bleibt ist der bittere Nachgeschmack eines für damalige Zeiten zwar nicht unrechtmäßig geführten Prozesses, aber eines Prozesses, der aufgrund seiner Komposition ein Unschuldsurteil von vorneherein unmöglich gemacht hat. Ob die zahlreichen Manipulationen des Prozessgeschehens letztlich die damals einzige Möglichkeit bildeten, einen Kriegsherrn wie Gilles de Rais zur juristischen – und moralischen – Verantwortung zu ziehen oder ob hier politische und ökonomische Interessen von König, Herzog und Bischof die Regie übernommen hatten, um eigene Ziele zu verfolgen, bleibt dem Auge des Betrachters überlassen.84 So muss die Frage nach Schuld oder Unschuld im Falle des Marschalls von Frankreich offenbleiben. Doch gerade aufgrund der Prozessführung gebührt dem Prozess gegen Gilles de Rais eine besondere Bedeutung, zeigt sich an ihm doch exemplarisch die Veränderung in der Auffassung von Häresie und Magie und die aufkommende Kontrolle der Inquisitionstribunale durch bischöfliche und staatliche Interessen.
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Dies ist umso mehr ausschlaggebend, solange die Proessakten noch nicht zufriedenstellend historisch kritisch ediert sind.
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Rechtsgeschichte – Strafrechtsgeschichte
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»Palladien bürgerlicher Freiheit« Modelle strafprozessualer Entscheidungsfindung vor dem Hintergrund des Sensationsprozesses gegen Paul Anton Fonk (1822)* Arnd Koch
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Einführung: Heinrich Heine, der »Fall Fonk« und das rheinische Strafverfahren
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Der erste deutsche Sensationsprozess
In seinen im Juni 1822 gedruckten »Briefen aus Berlin« berichtete der damals 25-jährige Jurastudent Heinrich Heine den Lesern des »Rheinisch-Westfälischen Anzeigers« über den Strafprozess gegen den Kölner Kaufmann Paul Anton Fonk.1 Heine nahm hierin die Reaktionen des Berliner Publikums aufs Korn und bemerkte bissig, dass der Angeklagte Fonk zwar die öffentliche Meinung auf seiner Seite habe, am gründlichsten jedoch über die Sache von solchen Herren gesprochen werde, »die von der ganzen Sache gar nichts wissen.«2 Den eigentlichen Fall schilderte Heine nicht, die Tatumstände waren den damaligen Zeitungsle*
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Am Jenaer Lehrstuhl des Jubilars genossen die Mitarbeiter und Habilitanden alle Freiheiten. Jeder durfte und sollte wissenschaftlich wie methodisch »sein Ding« machen. Ungeachtet divergierender Forschungsschwerpunkte verbindet den Jubilar und seine Schüler ein Merkmal: Die Positionierung abseits des strafrechtswissenschaftlichen Mainstreams mit seinen rasch wechselnden »Modethemen«. Der Verfasser dieses Beitrags, der im Jahr 2005 an der Friedrich-Schiller-Universität habilitierte, wandte sich bereits in Jena der neueren Strafrechtsgeschichte und der Juristischen Zeitgeschichte zu. Für das Geburtstags-Symposium soll dem Jubilar, dessen Forschungen das heutige Verständnis des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Strafrechts maßgeblich prägen, mit einem Thema aus dem frühen 19. Jahrhundert gewissermaßen »auf halbem Wege« entgegenkommen werden. Heine, Briefe aus Berlin, in: Windfuhr (Hrsg.), Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 6, 1973, 47 f. (Dritter Brief vom 7. Juni 1822). Zu Heines Ausführungen über den »Prozess Fonk« näher Broicher, Heine-Jahrbuch 2002, 205 ff. Heine (Fn. 1), 47 f.
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sern nur zu bekannt, gilt doch der Sensationsprozess gegen Fonk – in den Worten Gustav Radbruchs – als die erste deutsche Cause célèbre.3 Worum ging es? Der im Branntweinhandel tätige Fonk war angeklagt, im Herbst 1815 gemeinsam mit einem Komplizen den Buchprüfer eines misstrauischen Geschäftspartners ermordet zu haben. Die zunächst in einem Fass verborgene Leiche des jungen Buchprüfers Wilhelm Cönen wurde einige Monate später stromaufwärts am Rheinufer geborgen. Nach langen Ermittlungen und erfolglosen Anklagen erkannte schließlich der »Königliche Assisenhof Trier« – ein noch unter den Franzosen etabliertes Geschworenengericht – auf Mord und verhängte die Todesstrafe. Vorangegangen war ein »Mammutprozess« von 40 Sitzungstagen, in dessen Verlauf nicht weniger als 247 Zeugen und sieben Ärzte als Sachverständige gehört wurden.4 Begierig und in einem bis dahin in Deutschland nicht gekannten Ausmaß griffen Presse und Publizistik das Verfahren auf und spekulierten über den Tathergang und den oder die »wahren Täter«. Selbst eine Prise Erotik wehte durch das Biedermeierzeitalter. So fiel der Verdacht unter anderem auf jene, so Mittermaier, »Wollust hauchende Florentinerin«,5 die das Opfer kurz vor seinem Verschwinden in einem Kölner Bordell aufgesucht hatte. Zu den Verfassern der verfahrensbegleitend erschienenen Broschüren und Bücher zählten – und auch das war in Deutschland neu – wichtige Zeugen, der seinerzeitige Ermittler und der Angeklagte Fonk selbst.6 Auch prominente Rechtsgelehrte wie Paul Johann Anselm Feuerbach (1775–1833), der bereits erwähnte Carl Joseph Anton Mittermaier (1787–1867) oder Karl Salomo Zachariae (1769–1843) bezogen Stellung und plädierten für die Unschuld des Angeklagten.7 Feuerbach etwa verdammte das Urteil gegen Fonk als eine »abscheuliche 3
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So Radbruch, in: Arth. Kaufmann (Hrsg.), Radbruch Gesamtausgabe, Bd. 6, 1997, 200; monographisch Reuber, Der Kölner Mordfall Fonk von 1816, 2002; hierzu Koch, ZRG GA Bd. 121 (2004), 839 f. Zum Prozessverlauf Reuber (Fn. 3), 57 ff. Mittermaier, Über den Fonk’schen Proceß, 1823, 14. Fonk, Der Kampf für Recht und Wahrheit in dem fünfjährigen Criminal-Processe gegen Peter Anton Fonk, zwei Bände, 1822; Generaladvokat v. Sandt, Einiges zur Würdigung des Lästerungs-Systems in dem Fonkschen Kriminal-Processe, 1822; von der Leyern (der Zeuge, der die Leiche des Opfers identifizierte), Über die Ermordung von Wilhelm Cönen, 1822. Umfassende Nachweise zur zeitgenössischen Rezeption bei Reuber (Fn. 3), 70 ff. Feuerbach, Schreiben an v. Hitzig vom 17.1.1823, in: L. Feuerbach (Hrsg.), Biographischer Nachlaß, Bd. 2, 1853, 202; Mittermaier (Fn. 5); K. S. Zachariae, Ueber die wegen Cönens Ermordung gegen Peter Anton Fonk gerichtete Anklage, 1822.
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Ungerechtigkeit an einem rein unschuldigen Menschen.«8 Tatsächlich hatte das Urteil keinen Bestand. Der preußische König Wilhelm III. verweigerte auf Vorschlag seines Staats- und Justizministers v. Kircheisen die nach preußischem Recht notwendige Bestätigung des Urteils und ordnete Fonks Freilassung an.9 2
Politische Implikationen: Der »Fall Fonk« und das Rheinische Recht
Seine Brisanz bezog der Prozess nicht allein aus der Schuldfrage – und als reines »Whodunit« wäre er für unser Symposium auch nicht von Interesse. Wichtig ist vielmehr, dass der Sensationsprozess vor dem Hintergrund des erbitterten, vielzitierten »Kampfes um das rheinische Recht« stattfand.10 Sollten die französischen Gesetze nach Napoleons Niederlage und der Rückgewinnung der linksrheinischen Territorien fortgelten oder durch deutsches, genauer: durch altpreußisches Recht ersetzt werden? Mit Blick auf das Strafrecht: Hatte das von Frankreich implementierte Schwurgericht mit seinem öffentlich-mündlichen Verfahren mitsamt 8 9
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Feuerbach (Fn. 7), 202. § 530 Satz 1 der Preußischen Criminalordnung von 1805 lautet: »Todesurteile, ingleichen solche, die eine zehnjährige Gefängniß- oder noch härtere Strafe festsetzen, können ohne unmittelbare Bestätigung nicht vollzogen werden.« Das lange Festhalten an dem Erfordernis hoheitlicher Urteilsbestätigung, das auch bei bestimmten Staatsschutz- und Amtsdelikten bestand (§ 512 CO), war eine preußische Besonderheit. Auf dem Gebiet des Deutschen Bundes erwiesen sich hoheitliche Bestätigungsrechte als »Auslaufmodell«, hierzu Koch, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, 2019, § 7 Rn. 49. In Preußen verzichtete Friedrich Wilhelm IV. unmittelbar nach seiner Thronbesteigung im Jahre 1840 auf die weitere Ausübung des Bestätigungsrechts, näher Reuber (Fn. 3), 130, 140 f. Nach Napoleons Niederlage fand französisches Straf- und Zivilrecht in den wiedergewonnenen linksrheinischen Territorien, die nunmehr zu Preußen, Bayern und HessenDarmstadt gehörten, weiterhin Anwendung. Auch auf den rechtsrheinischen Gebieten des ehemaligen Großherzogtums Berg, das nach dem Wiener Kongress an Preußen gefallen war, blieb der Code pénal in Geltung, während der Code civil dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten weichen musste. In allen anderen Teilen Deutschlands wurde das Strafrecht der »Franzosenzeit« nach 1815 umgehend außer Kraft gesetzt; hierzu Schubert, ZRG GA 94 (1976), 129 ff. Die 1816 eingesetzte »ImmediatJustiz-Commission für die Rheinlande zu Cöln« hatte für die Ersetzung des französischen Strafrechts durch das Preußische Allgemeine Landrecht votiert, doch ließ sich dieses Vorhaben gegen den beharrlichen Widerstand der Rheinischen Provinzialstände nicht durchsetzen; H.-J. Becker, JuS 1985, 338 ff.; Landsberg, in: Hansen (Hrsg.), Die Rheinprovinz
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dem Code pénal (1810) und dem Code d’instruction criminelle (1808) dem Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten (1794) und der nicht minder rückständigen preußischen Criminalordnung (1805) zu weichen?11 Die Verteidiger Fonks akzentuierten die Stärken des traditionellen, schriftlich-geheimen Verfahrens und gaben ihrer Überzeugung Ausdruck, dass – so erneut Mittermaier – »ein deutsches Richtercollegium«, d. h. ein aus rechtsgelehrten Richtern zusammengesetztes Gericht, unweigerlich zu einem Freispruch gelangt wäre.12 Auch Heine betonte die politische Dimension des Prozesses, indem er aus Berlin schrieb: »Er (der Auskultator, A. K.) repräsentiert eine Menge Menschen hier, die für Fonk sind, weil sie gegen das rheinische Gerichtsverfahren sind.«13 Eine Karikatur dieses Standpunktes lieferte Heine gleich mit, indem er einen fiktiven Anhänger des altdeutschen Verfahrens, eben jenen »bucklichte(n) Auskultator« über den angemessenen Weg richterlicher Entscheidungsfindung räsonieren ließ: »Man übergebe mir die Sache, ich zünde mir die Pfeife an, lese die Akten durch, referire darüber, bey verschlossenen Thüren urtheilt darüber das Collegium und es schreitet zum Spruch (…). Wozu diese Jury (…)? Ich, ein studirter Mann, der die Friesische Logik in Jena gehört, der alle seine juristische Collegien wohl testirt hat (…) besitzt doch mehr Judicium als solche unwissenschaftlichen Menschen.«14
II Modelle strafprozessualer Entscheidungsfindung zu Beginn des 19. Jahrhunderts 1
Übersicht
Weitgehend in Vergessenheit geraten ist, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl divergierender Modelle strafrechtlicher Entscheidungsfindung
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1815–1915, 1917, 151 ff. Für die rheinische bürgerliche Elite kam eine Rückkehr zum vormodernen, friderizianisch-altpreußischen Strafrecht nicht in Betracht. Der »Kampf um das rheinische Recht« endete mit der Zusage des Königs, die Einführung des preußischen Rechts bis zur Vollendung der gesamtpreußischen Gesetzesrevision aufzuschieben; näher Kleinbreuer, Das Rheinisches Strafgesetzbuch, 1999, 20; Landsberg, aaO, 162. Allgemein zur Bedeutung des Code pénal für die deutsche Strafrechtsentwicklung Koch (Fn. 9), 337 ff. Mittermaier (Fn. 5), 3; anders aber Zachariae (Fn. 7), 6 f. Heine (Fn. 1), 48. Heine (Fn. 1), 48.
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existierte. Die Bandbreite beschränkte sich keineswegs auf den altbekannten Antagonismus zwischen Berufsrichtertum und Geschworenengerichten. Das heutige rechtshistorische Schrifttum verengt den Blick, wenn es sich in Nachfolge der wirkungsmächtigen Monographie Erich Schwinges (1903–1994) ganz auf »den Kampf um die Schwurgerichte« und den Sieg des sog. »reformierten Strafprozesses« konzentriert.15 Der folgende Überblick will sich von dieser Erzählung lösen und konkurrierende Entscheidungsmodelle zu ihrem Recht kommen lassen. Um das Ergebnis meiner notgedrungen skizzenhaften Überlegungen vorwegzunehmen: Unter zeitgenössischen Autoren galten nicht nur das Schwurgericht, sondern auch andere, alternative Modelle strafprozessualer Entscheidungsfindung als »Palladien bürgerlicher Freiheit«. Zum Zeitpunkt des Strafprozesses gegen Fonk kamen grundsätzlich vier Institutionen als mögliche Entscheidungsträger in Betracht: Berufsrichter (unten, 2.), Ministerien bzw. eingesetzte Kommissionen (unten, 3.), Schwurgerichte (unten, 4.) und Rechtsfakultäten im Wege der Aktenversendung (unten, 5.). 2
Berufsrichter – Beweisregeln – freie Beweiswürdigung
Die von Heine karikierte berufsrichterliche Entscheidungsfindung in einem schriftlich-geheimen Verfahren blieb im Vormärz innerhalb des Deutschen Bundes das vorherrschende Procedere. Während über das materielle Strafrecht in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine »mächtige Kodifikationswelle« hinweggegangen war,16 blieb der überkommene schriftlich-geheime Inquisitionsprozess bis 1846/1848 in den rechtsrheinischen Territorien unangetastet. Schon die deutschen Aufklärungsautoren hatten an der Grundstruktur des überkommenen Prozesses nicht gerüttelt.17 Nur mit dem inquisitorischen Prozess, für den Schriftsteller und Publizisten Julius v. Soden (1754–1831) eines der wohltätigsten Geschenke, welches die Menschheit seit Jahrhunderten aus der Hand der Geistlichkeit empfangen habe, könne der Staat seiner aus dem Gesellschaftsvertrag folgenden Verpflichtung einer effektiven Verbrechensverfolgung 15 16 17
Schwinge, Der Kampf um die Schwurgerichte bis zur Frankfurter Nationalversammlung, 1926. So R. Schröder, Festschrift für Gagnér, 1992, 403. Näher Koch (Fn. 9), § 7 Rn. 9 ff., 41 ff. Hierzu Koch, in: Steinberg (Hrsg.), Festschrift für Rüping, 2008, 393, 401 f.; ders., Denunciatio. Zur Geschichte eines strafprozessualen Rechtsinstituts, 2006, 228 ff.
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nachkommen.18 Selbst Feuerbach, der das vor 1813 geltende materielle Strafrecht als »Denkmal eines finstern Jahrhunderts«19 verdammt hatte, blieb in verfahrensrechtlicher Hinsicht Traditionalist.20 Das von ihm konzipierte Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 hielt in seinem prozessrechtlichen Teil an der Grundstruktur des bereits in der Constitutio Criminalis Carolina von 1532 angelegten gemeinrechtlichen Verfahrens fest. Es blieb bei einem schriftlich-geheimen und mittelbaren Strafprozess. Die erkennenden Richter bekamen den Angeklagten nicht zu Gesicht, sie entschieden allein aufgrund von Protokollen und Aufzeichnungen, die ihnen die untersuchenden Richter zugesandt hatten (Art. 345 ff. BayStGB). In der Schriftlichkeit und Mittelbarkeit lagen aus Feuerbachs Sicht gerade die Vorzüge des traditionellen Verfahrens. Denn in einer mündlichen Verhandlung drohe die Gefahr, dass dem Richter die entscheidenden Eindrücke »im Fluge vor dem Geist vorbeiflattern«,21 ja schon der Anblick des Angeschuldigten gefährde die Unparteilichkeit des Urteils.22 Ganz anders beim Richter, der allein nach schriftlichen Protokollen entscheide; ein solcher Richter – so Feuerbach weiter – sieht »nicht die Person, sondern nur die Sache.«23 Das fortbestehende Misstrauen gegenüber verbeamteten und damit abhängigen Richtern fand in der strikten Ablehnung der freien berufsrichterlichen Beweiswürdigung seinen Ausdruck. In der Furcht vor ungebundenen richterlichen Entscheidungen war man sich bis in die 1840er Jahre weitgehend einig. Wie fernliegend die Gewährung freier richterlicher Beweiswürdigung noch im Vormärz war, illustriert die Aussage des badischen Liberalen und Paulskirchenabgeordneten Karl Theodor Welcker (1790–1869), wonach man den abhängigen Richtern mit der Erlaubnis, nach ihrem subjektiven Meinen auf Indizien zu 18
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v. Soden, Geist der Criminalgesetze, 1783, Tl. 1, 1783, 80, 82; zur Rechtfertigung des Inquisitionsprozesses aus dem Gesellschaftsvertrag auch Globig/Huster, Abhandlung von der Criminal-Gesetzgebung, 1783, 64 ff., 390. Weitere Stimmen bei Luther, Aufgeklärt strafen. Menschengerechtigkeit im 18. Jahrhundert, 2016, 297 ff., 405 ff. Feuerbach, Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs zu einem Gesetzbuche für die ChurPfalz-Bayrischen Staaten, 1804, Tl. 1, VII. Hierzu Koch, ZStW 112 (2010), 748 ff.; eingehend zum strafprozessualen Teil des Bayerischen Strafgesetzbuchs von 1813 Haas, in: Koch/Kubiciel/Löhnig/Pawlik (Hrsg.), Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch, 2014, 413 ff. Feuerbach, Betrachtungen über das Geschwornen-Gericht, 1813, 145. Feuerbach (Fn. 21), 147. Feuerbach (Fn. 21), 148; vgl. auch ebd., 144: »sein durch keine sinnlichen Eindrücke gestörter kalter Verstand (vermag, A. K.) um so parteiloser, ruhiger, die sicheren Materialien einer wahren gründlichen Ueberzeugung zu beurteilen und abzuwägen.«
197 »Palladien bürgerlicher Freiheit«
verurteilen, zugleich die »Ermächtigung zu Justizmorden« gebe.24 Selbst der rhetorisch stets zurückhaltende Mittermaier warnte davor, Richtern eine »furchtbare Gewalt über Leben und Tod, wie sie kein Regent haben darf«, in die Hand zu legen.25 So hielt die Rechtswissenschaft des Vormärz an den tradierten gesetzlichen Beweisregeln fest und erhob diese gar – so der Göttinger Kriminalist Anton Bauer (1772–1843) gegen das Schwurgericht gewandt – zu einem »unschätzbare(n) Palladium der Sicherheit der Bürger gegen den Einfluß von Willkür, Leichtsinn und Einseitigkeit auf die Rechtsprechung.«26 Die erste gesetzliche Verankerung der freien berufsrichterlichen Beweiswürdigung erfolgte rechtsrheinisch im Jahre 1846 durch ein preußisches Ad-hocGesetz. Ziel war es, in einem Berliner Großverfahren gegen polnische Aufständische zügig zu einer Aburteilung zu gelangen.27 In den nach der Revolution von 1848 erlassenen Verfahrensordnungen bzw. Ergänzungsgesetzen wurde das im Vormärz Undenkbare Wirklichkeit: Berufsrichter erhielten das Recht zur freien Beweiswürdigung.28 Dennoch blieb ihnen die Entscheidung über Schwerkriminalität zu Gunsten der weiterhin bestehenden Schwurgerichte vorenthalten. Erst nach der Beseitigung der Schwurgerichte durch die sog. »Emminger-Verordnung« im Jahre 1924 entscheiden Berufsrichter, zunächst durchaus wörtlich, über Leben und Tod des Angeklagten.29 3
Ministerien, Kommissionen, Herrscher: Authentische Interpretation und Bestätigungsrechte
Auch Ministerien und Kommissionen waren im Vormärz in die Entscheidungsfindung eingebunden. Regierungen griffen über Vorlagepflichten unmittelbar 24
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Welcker, Jury, Schwur- oder Geschworenengericht als Rechtsanstalt und politisches Institut, 1840, 115 f. (Separatdruck aus dem von Rotteck/Welcker herausgegebenen Staatslexikon). Mittermaier, Die Lehre vom Beweise, 1834, 121. Bauer, Zeitschrift für deutsches Strafverfahren 2 N. F. (1844), 105, 109. Zum sog. »Polenprozess« und dem Preußischen Gesetz vom 17. Juli 1846: Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532–1846, 2002, 271 ff. Überblick bei Koch, in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius (Hrsg.), Handbuch des Strafrechts, Bd. 7, 2020, § 4 Rn. 5 ff. Zur »Emminger-Verordnung« grundlegend Th. Vormbaum, Die Lex Emminger vom 4. Januar 1924, 1988, bes. 109 ff.; auch Koch, in: Cordes/Lück/Werkmüller/Schmidt-Wiegand (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, 2. Aufl. 2008, 1322 f.
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in den Rechtsfindungsprozess ein. Vorlagepflichten hatten während der frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen segensreiche Wirkungen entfaltet, indem Landesherren auf der Confirmation einschlägiger Verurteilungen bestanden und damit de facto Verfolgungen beendeten.30 Im Vormärz diente das Institut der authentischen Interpretation als Hebel für Vorlagepflichten. So kannte das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 das faktische Verbot richterlicher Rechtsauslegung. Sein maßgeblicher Verfasser, Paul Johann Anselm Feuerbach, hatte bereits in seiner Kritik des Kleinschrodschen Entwurfs für enge richterliche Interpretationsspielräume und die (strafbewehrte!) Pflicht zur Anrufung einer staatlichen Gesetzeskommission zwecks Einholung authentischer Interpretationen plädiert.31 Ganz in diesem Sinne verpflichtete ein königliches Reskript vom Oktober 1813 alle bayerischen Richter zur Übernahme der in den offiziellen »Anmerkungen zum Strafgesetzbuche« niedergelegten Grundsätze – und in Zweifelsfällen zur Vorlage.32 Auch das preußische Allgemeine Landrecht von 1794 hatte in Zweifelsfällen entsprechende Pflichten statuiert. Als Adressat war zunächst eine Gesetzgebungskommission vorgesehen, später das Justizministerium. Ab 1833 waren die Vorlagen an das Obertribunal und damit an eine gerichtliche Instanz zu richten.33 Im Verbot richterlicher Auslegung trafen sich Vorstellungen von Aufklärungsautoren und aufgeklärten Herrschern. So bewahrte die authentische Interpretation einerseits vor »richterlicher Willkür« (dem zeitgenössischen »Kampfbegriff« für richterliches Ermessen), andererseits diente sie der »reinen« Durchsetzung des gesetzgeberischen Willens.34 30
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Am bekanntesten ist das unter Friedrich Wilhelm I. von Preußen (dem »Soldatenkönig« und Vater Friedrichs II.) im Jahre 1714 erlassene Edikt: »Nachdem uns glaubwürdig berichtet wurde, daß unter den Mißbräuchen, so bei den Criminalsachen sich zuweilen finden, einer der gefährlichsten seie, welcher sich vielfältig bei den Hexenprozessen zeigt, da (…) mancher in unschuldiger Weise auf die Tortur oder gar um Leib und Leben, und dadurch Blutschulden auf das Land gebracht werden, haben wir uns entschlossen, den bisherigen Prozess in Hexensachen genau untersuchen zu lassen, befehlen aber einstweilen, daß alle Urteile uns zur Confirmation eingesandt werden sollen (…)«, zit. nach Dillinger, Hexen und Magie, 2. Aufl. 2018, 147. Feuerbach, Kritik, Tl. 2, 27 f. Anmerkungen zum Strafgesetzbuche für das Königreich Baiern, 1813, Bd. 1, II f. Preußisches Allgemeines Landrecht, Einl. § 47; zur Einschränkung richterlichen Ermessens als Forderung der strafrechtlichen Aufklärung Koch, in: Koch/Kubiciel/Löhnig/Pawlik (Fn. 20), 39, 55 f. Koch, in: Koch/Kubiciel/Löhnig/Pawlik (Fn. 20), 39, 55.
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Schwurgericht
Das Für und Wider des Schwurgerichts, bei dem allein zwölf Laien über die Schuld des Angeklagten entscheiden, war eine, wenn nicht die am meisten diskutierte strafrechtspolitische Problematik des 19. Jahrhunderts. Diese in Dutzenden von rechtshistorischen Abhandlungen aufbereitete Frage soll nicht nochmals aufgewärmt werden.35 Vor den französischen Eroberungen erschien die Einführung dieser Gerichtsform in Deutschland noch als geradezu utopisch.36 Wie geschildert wurde das Schwurgericht in den linksrheinischen, in den französischen Staat integrierten Gebieten implementiert und dort nach zähen Kämpfen des rheinischen Bürgertums auch nach 1815 beibehalten.37 Im Vormärz avancierte das Schwurgericht zu einem Glaubensartikel des Liberalismus. Als vielzitiertes »Palladium bürgerlicher Freiheit« wirkte es gewissermaßen als Katalysator für die Etablierung moderner Prozessprinzipien. Bis in die 1840er Jahre hinein waren die Forderungen nach einem mündlichen, unmittelbaren Verfahren bei freier Beweiswürdigung untrennbar mit dem Schwurgericht verknüpft. Das Gerichtsverfassungsgesetz von 1879 übertrug dem Schwurgericht schließlich reichsweit – bis zur Emminger-Verordnung – die Entscheidungsfindung bei Schwerkriminalität.38
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In neuerer Zeit zur Geschichte des Schwurgerichts: Koch, ZNR 2000, 167 ff.; ders., in: Rosenau/Kim (Hrsg.), Straftheorie und Strafgerechtigkeit. Deutsch-Japanischer Strafrechtsdialog, 2010, 15 ff.; Landau, in: Schioppa (Hrsg.), The Trial Jury in England, France, Germany 1700–1900, 1987, 241 ff.; Lemke-Küch, Der Laienrichter – überlebtes Symbol oder Garant der Wahrheitsfindung? Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung über das »moderne« Volksgericht in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts, 2014, 21 ff.; Linkenheil, Laienbeteiligung an der Strafjustiz. Relikt des bürgerlichen Emanzipationsprozesses oder Legitimation einer Rechtsprechung »Im Namen des Volkes«, 2003, 33 ff.; Löhnig, in: Kohl/Reiter-Zatloukal (Hrsg.), Laien in der Gerichtsbarkeit. Geschichte und aktuelle Perspektiven, 2019, 285 ff. Als einer der frühesten deutschen Schwurgerichtsanhänger trat der Aufklärer v. Soden in Erscheinung. Solange Deutschland aber keine Schwurgerichte erhalte, sei es »besser, das Richteramt auswärtigen Richterstühlen anzuvertrauen, die wenigstens von allen Privatleidenschaften abgezogen und der Prüfung am fähigsten sind«, v. Soden, Geist der peinlichen Gesetzgebung Teutschlands, 2. Aufl. 1792. Tl. 2, 316. Koch, ZNR 2000, 169. Koch (Fn. 28), § 4 Rn. 22, 33; eingehend Wilhelm, Das Deutsche Kaiserreich und seine Justiz, 2010, 39 ff.
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Aktenversendung
Weniger bekannt ist, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein altes Institut des gemeinrechtlichen Verfahrens für Aufklärer und Liberale kurzzeitig an Attraktivität gewann. Die Aktenversendung an Juristenfakultäten schien ein Weg zu sein, um berufsrichterliche Machtfülle ebenso zu vermeiden wie Eingriffe hoheitlicher Kommissionen in den Rechtsfindungsprozess. Repräsentativ für die Renaissance der Idee der Aktenversendung erscheint die Stellungnahme des einflussreichen, berühmt-berüchtigten Landshuter Rechtsgelehrten Nikolaus Thaddäus v. Gönner (1764–1827), der vor allem – und zu Unrecht – als missgünstiger, intriganter Dauerrivale Feuerbachs in die Rechtsgeschichte eingegangen ist.39 In seinem »Handbuch des deutschen gemeinen Processes« (1801) konstatierte er zunächst, dass die Aktenversendung ihre ursprüngliche Funktion als Hilfsmittel ungelehrter Laienrichter längst verloren habe. Dennoch brach Gönner eine Lanze für das Institut und damit für die Mittelbarkeit der Entscheidungsfindung: »Kein Druck verbündeter Glieder eines Collegiums, kein Neid, keine Privatabsicht, keine Leidenschaft, keine Hoflust kann in den Vorhof des Tribunals dringen, welches von den Partheyen und dem versendenden Richter meistens in gleicher Entfernung steht.«40
Die Aktenversendung stellte für Gönner gar ein »Palladium der deutschen Freyheit« dar.41 Ganz in diesem Sinne verteidigte der liberale Vorkämpfer Welcker das Institut noch 1845, obwohl er einräumen musste, dass dieses »wohltätige Rechtsinstitut« zur Ausnahme geworden sei und jetzt fast nur in »dürftigen Trümmern« bestehe.42 Noch einmal fasste Welcker die Vorzüge zusammen, die sich mit den Schlagwörtern »Vertrauen«, »Unabhängigkeit« und »Sachkunde« beschreiben lassen. Zudem erhalte »die Aktenversendung die Theorie praktisch und die Praxis wissenschaftlich.«43 Tatsächlich begründete das Rechts39 40 41 42 43
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Lesenswert Mertens, Gönner, Feuerbach, Savigny. Über Deutungshoheit und Legendenbildung in der Rechtsgeschichte, 2018, hierzu Koch, ZStW 133 (2021), 1132 f. Gönner, Handbuch des deutschen gemeinen Processes, Bd. 1, 1801, 78. Gönner (Fn. 40), 78; so auch Welcker, in: Rotteck/Welcker (Hrsg.), Das Staats-Lexikon, Bd. 1, 2. Aufl. 1845, 226 ff. Welcker (Fn. 41), 229. Welcker (Fn. 41), 233.
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institut der Aktenversendung die in Deutschland traditionell enge Verzahnung von Rechtswissenschaft und Rechtslehre,44 ein Phänomen, das anderen europäischen Rechtsordnungen fremd ist. Ganz unberechtigt waren die in das Institut und die Entscheidungen der Universitätsprofessoren gesetzten Hoffnungen nicht. Immerhin hatte sich die Aktenversendung bereits bei der Eindämmung der frühneuzeitlichen Hexereiprozesse (überwiegend) als »segensreich« erwiesen.45 Und dort, wo noch im 19. Jahrhundert in politischen Verfahren im Wege der Aktenversendung entschieden wurde, scheinen die Universitäten vergleichsweise milde geurteilt zu haben.46 Indes, das ehrwürdige Institut ließ sich nicht nachhaltig wiederbeleben. Schon im 18. Jahrhundert hatten die größeren Zentralstaaten die Aktenversendung aus dem strafrechtlichen Verfahren eliminiert.47 Beschlüsse der deutschen Bundesversammlung schränkten sie für das Strafrecht stark ein bzw. verboten sie ganz.48 Mit Erlass des Gerichtsverfassungsgesetzes von 1879 war dieses Rechtsinstitut endgültig Geschichte. 44
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Einführend Klugkist, JZ 1967, 155 ff., Lück, in: Czok (Hrsg.), Wissenschafts- und Universitätsgeschichte in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert, 1985, 119, 124; Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte, 2. Aufl. 2021, 196 ff.; auch Koch, Wider ein Feindstrafrecht. Juristische Kritik am Hexereiverfahren, 2012, 50 ff. So schon das Fazit von Seeger, Die strafrechtlichen consilia Tubingensia von der Gründung der Universität bis zum Jahre 1600, 32; vgl. auch Jerouschek, Die Hexen und ihr Prozeß. Hexenverfolgung in der Reichsstadt Esslingen, 1992, 271 f.; ders., in: Cordes/Lück/Werkmüller/Schmidt-Wiegand (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, 2. Aufl. 2012, 1019, 1023; Koch (Fn. 44), 55 f.; Rummel/Voltmer, Hexen und Hexenverfolgung in der frühen Neuzeit, 2. Aufl. 2012, 56 f. Auch Kischkel, Die Spruchtätigkeit der Gießener Juristenfakultät, 2016, 326 ff. Schildt, Staat und Recht 1983, 470 ff.; ders., Die Spruchtätigkeit der Halleschen Juristenfakultät nach dem Wiener Kongreß, Diss. iur. Halle-Wittenberg 1980 (ungedruckt), 95: »Politisch motivierte Strafverfahren spielten eine relativ große Rolle. Es finden sich Fälle, die einen direkten oder indirekten Bezug zur bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49 haben. Auffallend ist die durchweg verhältnismäßig vorsichtige Verurteilung und Strafzumessung.« Die erstinstanzliche Aktenversendung in Strafsachen wurde in Preußen 1723 generell verboten; in Bayern folgte die Abschaffung der Aktenversendung im Wesentlichen 1753 durch die Justizreformen Kreittmayrs, vgl. Laagland, Lehren, Forschen, Recht sprechen. Die Spruchpraxis als Teil des Berufsalltags an der juristischen Fakultät zu Bonn im 19. Jahrhundert, 2016, 37 ff. Dagegen vermochte sich das Institut im kursächsischen Strafprozess bis weit in das 19. Jahrhundert hinein zu halten, hierzu Lück, Die Spruchtätigkeit der Wittenberger Juristenfakultät, 1998, 101 ff. Klugkist, JZ 1967, 155, 156; Laagland (Fn. 47), 41, 48.
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202 Arnd Koch
III Fazit Fassen wir zusammen: Zu Beginn des Vormärz – und damit zur Zeit des Prozesses gegen Fonk – konkurrierten auf dem Gebiet des Deutschen Bundes unterschiedliche Institutionen und Prinzipien der strafprozessualen Entscheidungsfindung. Hinlänglich bekannt ist, dass Vormärzliberale die Einführung des Schwurgerichts als »Palladium bürgerlicher Freiheit« forderten. Über die Fixierung auf das Schwurgericht und den letztlich siegreichen »reformierten Strafprozess« ist jedoch in Vergessenheit geraten, dass im frühen 19. Jahrhundert auch andere Institute auf Grundlage des herkömmlichen Strafprozesses als »Palladien« der Freiheit bzw. Sicherheit und damit als ernstzunehmende Alternativen zum öffentlich-mündlichen Strafprozess galten. Erinnert sei an die Beweistheorien und an die Aktenversendung an Juristenfakultäten. Es zeigen sich erneut »rechtsstaatliche Potentiale« des traditionellen Verfahrens, auf die der Jubilar in seinen Arbeiten zum frühneuzeitlichen Strafprozess nicht müde wurde hinzuweisen – ohne sich freilich meiner anachronistischen Terminologie zu bedienen.49 Heinrich Heine indes, und damit soll sich der Kreis schließen, verwarf den traditionellen deutschen Prozess und bekannte sich aus Anlass des Sensationsprozesses gegen Fonk zum modernen, französischen Recht: »Man (…) möchte sie (die Rheinländer, A. K.) gern erlösen von diesen ›Fesseln der französischen Tyranney‹, wie einst der unvergeßliche Justus Gruner (der erste Polizeipräsident von Berlin, A. K.) – Gott habe ihn selig – das französische Gesetz nannte. Möge das geliebte Rheinland noch lange diese Fesseln tragen, und noch mit ähnlichen Fesseln belastet werden.«50
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Zu »rechtsstaatlichen Übermaßgeboten« im gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess Paulus, in: Brieskorn/Mikat/Müller (Hrsg.), Festschrift für W. Trusen, 1994, 285 ff.; krit. zum anachronistischen Sprachgebrauch Jerouschek, in: Rüping (Hrsg.), Die Hallesche Schule des Naturrechts, 2002, 77, 78 Fn. 2. Heine, Briefe aus Berlin (Fn. 1), 48.
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Die Ehre ist – die Ehre (Minna von Barnhelm, 4. Aufzug, 6. Auftritt) Rechtshistorische Betrachtungen Elisabeth Koch
I Ausgangspunkt der Betrachtungen zur Ehre und zu dem rechtlichen Schutz, der ihr im Laufe der Zeit zukam, ist das römische Recht – das auch in dieser Frage die Rechtsentwicklung in Europa maßgeblich beeinflusst hat. In der römischen Gesellschaft bedeutete Ehre die Wertschätzung durch andere. Ehre war die Würde, die gesellschaftliche Reputation. Der Eingriff in diese Würde wurde als iniuria geahndet. Der allgemeine Begriff iniuria bezeichnete in diesem Zusammenhang das spezielle Unrecht, das in der Missachtung der Person eines anderen lag (contumelia).1 Eine solche Missachtung lag in der Selbstüberhebung. Diese nämlich, die hybris, implizierte insofern die Herabsetzung des anderen, als man die eigene Person über die des anderen stellte. Das tat man, wenn man jemanden tätlich verletzte – man schlug oder verprügelte jemanden (iniuria realis) –, aber auch, wenn man die nicht-körperliche Integrität des anderen angriff – etwa durch üble Nachrede oder durch öffentliche Schmähung und Verspottung (iniuria verbalis). Auch eine unberechtigte Vermögensbeschlagnahme setzte die Person des anderen herab, denn sie ließ ihn zu Unrecht als säumigen Schuldner erscheinen. Und speziell eine verheiratete Frau wurde missachtet, wenn jemand sie auf der Straße in unpassender Weise ansprach oder auch hinter ihr herlief und ihr folgte. In den Institutionen des Gaius und in den Digesten finden sich eine Vielzahl von Beispielen dieser Art.2 Gegen die in solchen Handlungen liegende bewusste3 Missachtung seiner 1 2 3
»Iniuria ex eo dicta est, quod non iure fiat. omne enim quod non iure fit iniuria fieri dicitur. hoc generaliter. specialiter autem iniuria dicitur contumelia” (D. 47, 10, 1 pr.). Inst. 4, 4, 1; D. 47, 10, 15, 27. Iniuria forderte auf der subjektiven Ebene vorsätzliches Handeln (D. 47, 11 pr.); dazu Schulz, Classical Roman Law, 1951, V, 2, 597.
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204 Elisabeth Koch
Person konnte ein römischer Bürger mit der actio iniuriarum vorgehen. Und zwar konnte er von dem, der seine Würde und Reputation herabgesetzt hatte, eine Geldzahlung verlangen. Deren Höhe bestimmte er selbst, indem er die Schwere der ihm zugefügten Kränkung schätzte – darauf bezieht sich die Bezeichnung der Klage als actio aestimatoria. Hielt der Prätor den verlangten Betrag für angemessen, sprach er ihn zu. Hielt er ihn für unangemessen hoch, setzte er ihn herab. Im Ergebnis bekam der Kläger das, was der Prätor für richtig und billig hielt: »quantum ob eam rem aequum iudici videbitur« (D. 47, 10, 17, 2). Erhöht wurde die verlangte Summe allerdings nicht – der Prätor konnte die finanziellen Angaben zum erlittenen Leid nur nach unten korrigieren. Zugrunde lag der Selbstschätzung die Idee, dass nur der Betroffene wissen konnte, wie sehr ihn die Kränkung getroffen hatte – nur er selbst konnte mithin sein Leid in Zahlen ausdrücken.4 Von der Funktion her handelte es sich bei der Geldzahlung um eine Strafe. Der Beleidiger hatte diese direkt an den Verletzten zu leisten. Sie vermehrte mithin dessen Vermögen und verschaffte ihm Genugtuung für das erlittene, jetzt gesühnte Unrecht. War dem Verletzten infolge der iniuria ein materieller Schaden entstanden – die Schmähung hatte zu einem Gesundheitsschaden geführt, die üble Nachrede zu geschäftlichen Einbußen –, erhöhte sich die als (Privat-)Strafe zu zahlende Summe um den zu leistenden Schadensersatz. Der Prätor sprach dann einen entsprechenden Gesamtbetrag zu – ohne zu differenzieren zwischen dem als Schadensersatz dienenden Teil und dem der Sühne und Strafe dienenden Teil. Strafzahlung und Schadensersatz waren also vermischt. Festhalten lässt sich, dass die römischen Juristen mit der actio iniuriarum auf zivilrechtlicher Ebene einen effizienten Schutz gegen Persönlichkeitsverletzungen jeglicher Art – körperlicher wie auch unkörperlicher – entwickelt hatten.5 Der Verletzte konnte sich rächen und dabei noch einen persönlichen wirtschaftlichen Gewinn machen. Ein gegebenenfalls entstandener materieller Schaden wurde ihm zusätzlich ersetzt. Von der Möglichkeit, criminaliter vorzugehen und den Täter nach der lex Cornelia de iniuriis6 öffentlich bestrafen zu lassen, wurde kaum Gebrauch gemacht. 4 5 6
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Vgl. Berner, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 1857, 1. Buch, 1. Tit., 238. »(…) a strong and efficient protection against injuries to immaterial interests«, Schulz (Fn. 3), 599. Inst. 4, 4, 8; D. 47, 10, 5 pr. Ursprünglich richtete sich die von Sulla 81 v. Chr. geschaffene lex Cornelia wohl gegen politisch motivierte Gewaltanwendung, deren typische Erscheinungsformen das Gesetz als Tatbestandsalternativen nannte, Ermann, Strafprozeß, öffentliches Interesse und private Strafverfolgung. Untersuchungen zum Strafrecht der römischen Republik, 1999, 77.
205 Die Ehre ist – die Ehre (Minna von Barnhelm, 4. Aufzug, 6. Auftritt)
Abgesehen davon, dass die lex Cornelia das Kriminalverfahren nur für bestimmte Realinjurien vorsah, nämlich für Stoßen (pulsare) und Schlagen (verberare) eines anderen sowie für den Hausfriedensbruch (vi introire), brachte dieses Verfahren dem Betroffenen keinen wirtschaftlichen Gewinn. Die regelmäßige Verfolgung der Injurien blieb die privatrechtliche.7
II Das römische Schutzmodell der Ehre überzeugte auch die nachfolgenden Juristengenerationen in Europa. Das Prinzip des Ehrenschutzes qua Zahlung von Geld an den Verletzten wurde bereits früh rezipiert. Schon seit dem 14. Jahrhundert konnte man in Deutschland gegen Ansehens- und Persönlichkeitsverletzungen zivilrechtlich mit der Injurienklage vorgehen und Zahlung einer Geldstrafe an sich verlangen.8 Dabei hielten die Juristen an der römischrechtlichen Definition der iniuria fest. Das Unrecht lag in der – durch Wort, Tat oder Gesten – zum Ausdruck gebrachten Missachtung, in der contumelia, die den anderen in seiner Ehre verletzte. So heißt es Anfang des 15. Jahrhunderts im Klagspiegel, einem Handbuch für die Prozesspraxis: »Inn sonderhait und engerm verstand haisst Iniuri (…) ain verhöhnung, schmach oder verachtung«.9 Auch der Codex Maximilianeus Bavaricus übersetzte im Jahr 1756 Injuira mit Schmach und definierte: »wodurch man Jemand an Ehr und guten Leumuth (…) angreift« (CMBC IV cap. 17 § 1). Der Codex konkretisierte die Definition dann in Übereinstimmung mit dem gemeinen Recht. Verbalinjurien wurden begangen durch »Vorwürf und Inzichten von Lastern und Missethaten, Leibs- oder Gemüths-Mänglen, ingleichen durch höhnische Lob-Sprüch und Satyren, ferner durch grobe Zotten in Gegenwart ehrbarer Leuten, sonderbar Weiblichen Geschlechts, und dergleichen«. Realinjurien erfolgten »nicht nur durch ungebührliche Schläge, Stösse, Würf, Hieb, und dergleichen That-Handlungen, sondern auch durch allerhand spöttische Zeichen oder Gebärden, unkeusche Antastung ehrbarer Weibs-Personen« (ebd. § 2). 7 8
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Ermann (Fn. 6), 79 f.; Berner (Fn. 4), 248 unter Hinweis auf C. 9, 35, 7: »Iniuriarum causa non publici iudicii, sed privati continet querellam.« Kannowski, »Realinjurie« in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, 2. Aufl. 2022, unter Hinweis auf eine diesbezügliche Feststellung in der – um 1325 entstandenen – Buch’schen Glosse. Der Richterlich Clagspiegel, entstanden Anfang des 15. Jahrhundert, zitiert nach Mainzer, Die ästimatorische Injurienklage in ihrer geschichtlichen Entwicklung, 1908, 69.
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206 Elisabeth Koch
Im Schrifttum hatten die Juristen des ius commune – neben den Sachverhalten der Digesten – immer wieder auch iniuria-Tatbestände erörtert, die auf die Einhaltung der Ständeordnung zielten. Ausgangspunkt war hier die Respektierung des Vorrangs, der standeshöheren Personen zukam. Die Nichtbeachtung der praecedentia und praeeminentia eines anderen – etwa bei der Sitzordnung oder der Reihenfolge im Gehen – stellte eine iniuria dar.10 Auch das Tragen von Kleidung eines ihm nicht zukommenden Standes oder Status war iniuria. Der Bauer etwa, der sich aus Spott den Talar umhängte, beleidigte die doctores: »Rusticus, si utitur veste longa subducta vario, in derisionem Doctorum, iniuriarum tenetur«.11 Mit solchen Erweiterungen des Injurientatbestandes trugen die Juristen den – seit dem Mittelalter ständisch geprägten – Gesellschaftsstrukturen Rechnung. Der Tatbestand der iniuria hatte sich insofern diversifiziert. Im römischen Recht war es um die Ehre eines römischen Bürgers gegangen – und die kam grundsätzlich jedem civis Romanus in gleicher Weise zu. Im Ständestaat waren nun an die Stelle der allgemeinen Ehre eines jeden Bürgers die standesspezifischen Anerkennungen und Achtungen getreten. Anders als der objektive Tatbestand der iniuria blieb der subjektive unverändert. Nach wie vor wurde dem – auch im römischen Recht als unabdingbar geforderten – Vorsatz, dem animus injuriandi wesentliche Bedeutung zugemessen. »Das Hauptstück, ohne welchem keine Injurie begangen werden mag, bestehet in der Absicht und Intention Jemand zu beschimpfen (Animo injurandi)«, heißt es im bayerischen Codex. Wenn jemand zum Beispiel »nur Scherzweis« oder bei einer Rangelei geschlagen oder gescholten wurde, lag keine iniuria vor (CMBC IV cap. 17 § 4).12
III Die zentrale, theoretisch wie praktisch wichtigste Rechtsfolge einer Injurie war die aus dem römischen Recht übernommene zivilrechtliche actio iniuriarum, mit 10 11 12
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Nachweise bei Zimmermann, The Law of Obligations, 1990, 1066; Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. I, 1985, 513. Schneidewin, In IV Institutionum Justiniani libros commentarii, 1575, Nachdruck 2004, lib. 4, tit. 4, §§ 25–27. Ausführlich zu den Lehren vom animus iniurandi, Bartels, Die Dogmatik der Ehrverletzung in der Wissenschaft des Gemeinen Rechts bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, 1960, § 6, 75.
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der der Verletzte Zahlung einer Geldstrafe direkt an sich selbst verlangen konnte. Wie in Rom gab er deren Höhe selbst vor nach dem Schweregrad der ihm zugefügten Beleidigung. Insofern hatte er nun – das sollte der Maßstab sein – unter Eid zu beteuern, »daß er lieber solche Summam verlohren, als die ihm zugegangene Schmach erlitten haben wollte« (CMBC IV cap. 17 § 6). Der Verletzte schätzte den finanziellen Wert der Ehrverletzung also nach dem Geld, das er ausgegeben hätte, um von ihr verschont geblieben zu sein. Das Gericht konnte »das beschworene Quantum, sofern ein Uebermas hierin verspührt wird, (…) moderiren«, also wie im römischen Recht mäßigen und herabsetzen. Maßstab für die richterliche Überprüfung sollten das Vermögen des Injuranten und die sich aus der Person und den Tatumständen ergebende Schwere der Schmach sein (CMBC ebd.). Neben der Möglichkeit zivilrechtlichen Vorgehens stand zur Ahndung einer Ehrverletzung weiterhin auch die staatliche Strafjustiz zur Verfügung. Anders als in der römischen Antike konnten nun aber sämtliche Injurien – und nicht nur die speziellen Realinjurien Stoßen, Schlagen und Hausfriedensbruch – im öffentlichen Strafverfahren verfolgt werden. Der in seiner Ehre und Persönlichkeit Angegriffene hatte insofern die Wahl. Er konnte zivilrechtlich vorgehen und mit der actio iniuriarum Zahlung der Strafe an sich verlangen. Er konnte aber auch ein Strafverfahren einleiten mit dem Ziel, den Täter vom Richter öffentlich bestrafen zu lassen. Vorgesehen waren Geldstrafe, Freiheitsstrafe, Landesverweisung u. a.13 Wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, so floss das Geld nicht dem Verletzten zu, sondern dem Gerichtsherrn. War es die Stadt, die das Gericht betrieb – organisierte und finanzierte –, ging das Geld an den Stadtfiskus, war der Landesherr Gerichtsherr, floss die Geldstrafe in den Fiskus des Landes.14 Wie schon nach römischem Recht konnten Privatstrafe und öffentliche Strafe nicht nebeneinander verhängt werden.15 Es gab keine Kumulation dieser Strafen. Wenn also der Ehrverletzer im Zivilprozess aufgrund der actio iniuriarum zur Zahlung an das Opfer verurteilt worden war, konnte er nicht mehr zusätzlich im 13
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Die Kursächsischen Konstitutionen von 1572 bestimmten etwa: »mit einer hohen geldbus / mit eingefengnus / oder mit zeitlicher vorweisunge … / Oder auch nach gelegenheit der person / der zeit oder örtter / vnd anderer vmbstende / mit staupen(-)schlägen des Landes ewig vorwiesen«, pars 4, tit. 42. Coing (Fn. 10), 504. Coing (Fn. 10), 515; Moosheimer, Die actio injuriarum aestimatoria im 18. und 19. Jahrhundert, 1. Teil, 1997, 8.
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öffentlichen Strafverfahren verurteilt werden – und umgekehrt. Der in der Ehre Verletzte musste sich also entscheiden, ob er strafrechtlich oder zivilrechtlich vorging. Die weite Verbreitung der Injurienprozesse zeugt davon, dass er sich im Zweifel für das zivilrechtliche Vorgehen entschied – was plausibel ist, brachte ihm dies doch einen wirtschaftlichen Gewinn. Neben die zivilrechtliche beziehungsweise strafrechtliche Sanktion trat in der Zeit des ius commune der Anspruch des Beleidigten auf Naturalrestitution in Form der Wiederherstellung seiner Ehre (restitutio famae). Unter kirchenrechtlichem und deutschrechtlichem Einfluss waren die Rechtsfolgen der Ehrenkränkung hier erweitert worden.16 Dass zur Konfliktbefriedigung die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes gehörte, war ein Gedanke, den die Kanonistik von Augustinus (354–430) übernommen und als Prinzip festgeschrieben hatte.17 Die Rezeptionsjuristen folgten dem und entwickelten seit dem 15. Jahrhundert für den Fall der Ehrverletzung entsprechende Ansprüche. Dabei übernahmen sie die aus mittelalterlichen deutschen Rechtsquellen bekannten Wiedergutmachungsansprüche Widerruf, Abbitte, Ehrenerklärung.18 Widerruf hieß, dass der Beleidigte erklärte, die herabsetzende Behauptung sei nicht wahr (recantatio iniuria). Bei der Abgabe der Ehrenerklärung versicherte der Beleidiger, dass der Kläger ehrenhaft sei (declaratio honoris). Abbitte leistete er, indem er seine Reue erklärte und den Beleidigten um Vergebung bat (deprecatio iniuriae).19 Widerruf, Ehrenerklärung und Abbitte konnten einzeln, aber auch kumuliert verlangt werden. In jedem Fall ergänzten sie, wie man später schreibt, die »poenae pecuniariae des Römischen Rechtes«.20 Erweitert um die Ansprüche auf Restitution hatte sich die römischrechtliche actio iniuriarum in der Zeit des ius commune voll durchgesetzt. Die Injurienklage erfreute sich größter Beliebtheit. »Kein Delikt kommt heute häufiger vor als die 16 17
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Zu den kanonistischen und mittelalterlichen deutschen Wurzeln der Restitutionslehre Ebert, Pönale Elemente im deutschen Privatrecht, B II, 2004, 52, 77. Entwickelt hatte Augustinus den Restitutionsgedanken am Fall unrechtmäßiger Wegnahme einer fremden Sache, C. 14 q. 6 c. 1: »Quod vero penitencia agi non posset, nisi res aliena reddatur«. Bartels, Dogmatik der Ehrverletzung (Fn. 12), § 3, 30. Dazu Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden Rechts, 2. Buch, 2. Titel, 1801, §§ 308–326. Berner (Fn. 4), § 149, 239; dazu auch Lingelbach, Injurien und Injuriensachen im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: Matuschek (Hrsg.), Organisation der Kritik. Die Allgemeine Literaturzeitung in Jena 1785–1803, 2004, 143 (144).
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iniuria« – mit diesen Worten beginnt Lauterbach seine berühmte Abhandlung über dieses Delikt.21
IV Ab dem 17. und vor allem dann im 18. Jahrhundert, also in der Zeit der Aufklärung, kamen starke Bedenken gegen die actio iniuriarum auf. Der aus dem römischen Recht überkommene privatrechtliche Ehrenschutz qua Geldzahlung, die zur Bereicherung des Geschädigten führte, begegnete zunehmend Kritik. Diese speiste sich aus verschiedenen Überlegungen und Desideraten. Eine wesentliche Rolle bei der Ablehnung des römischrechtlichen Ehrenschutzes spielte die sich in dieser Zeit endgültig vollziehende systematische Trennung von Zivilrecht und Strafrecht. Strafe und Bestrafung waren, das setzte sich als communis opinio durch, Sache des Staates – und das hatte auch für die Ahndung von Ehrverletzungen zu gelten.22 Private Geldstrafen, die das Opfer auf zivilrechtlicher Ebene einkassierte, hatten neben der staatlichen Strafjustiz keinen Platz. Die actio iniuriarum war von daher ein nicht mehr in die Zeit passendes Relikt geworden – für Strafe waren nicht die Zivilgerichte, sondern die Strafgerichte zuständig. Die inhaltliche Kritik an der actio iniuriarum spießte zunächst die mit ihr gegebene Bereicherungsmöglichkeit auf, die Geldgier und Habgier Vorschub leistete. J. H. Stryk23 etwa konstatierte im Jahr 1701 in seiner Schrift »Eines christlichen Jurisconsulti Bedencken von Injurienprocessen«‚ dass ein jeder durch Injurien-Prozesse reich zu werden suche. Es war offensichtlich üblich geworden, jede negative Äußerung oder missliebige Maßnahme eines anderen als Ehrverletzung aufzufassen, um dann klagen und die Geldstrafe kassieren zu können. Weitere Kritik bezog sich darauf, dass die Injurienklage zur Befriedung des Konflikts um die Ehrenkränkung nicht geeignet war. Statt Rechtsfrieden herzustellen, so die Argumentation, führte sie zu neuem Hader zwischen den Parteien. Denn das Ergebnis – der in seiner Ehre Gekränkte bereicherte sich im Erfolgsfall durch die Strafe, die der andere zu zahlen hatte – musste Letzteren nur erbittern und neue Feindseligkeit hervorrufen. Und die Feindschaft weitete sich unwei21 22 23
Zitiert nach Zimmermann (Fn. 10), 1085. Zu den Diskussionen Bartels (Fn. 12), 46. Autor der Schrift war nicht, wie teils angenommen, der berühmte Samuel Stryk, sondern sein Sohn, dazu Ebert (Fn. 16), 70.
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gerlich aus. Denn die dann auf den Plan tretenden »bösen ungewissenhafften und eigennützigen« Advokaten stachelten die Parteien zu weiteren Prozessen an – mit dem Ergebnis, dass diese »in unversöhnlichen Haß und grosses Armuth gestürtzet« wurden.24 Abgesehen von den negativen gesellschaftlichen Folgen widersprachen Injurienprozesse, so die weitere Kritik, der christlichen Glaubenslehre.25 Bereits das allgemeine Gebot der Nächstenliebe, vor allem aber das konkrete Gebot, seinen Feinden zu vergeben, standen privater Rache und Verfolgung entgegen. »Und wenn ihr stehet und betet, so vergebet, wo ihr etwas wider jemand habt« (Mk. 11, 25) – das galt auch im Fall der Ehrverletzung. Wie im Vaterunser vorgegeben (»wie wir unsern Schuldigern vergeben«, Mt. 6, 12), sollte der Beleidigte dem Täter verzeihen, nicht aber ihn verfolgen und aus der Missetat Gewinn zu erzielen suchen. Zudem widersprachen Privatstrafen der Zuständigkeit Gottes für Rache und Strafe. »Die Rache ist mein (…), spricht der Herr«, so formuliert Paulus im Brief an die Römer (12, 19). Und dieses Recht zu strafen und zu rächen, hatte Gott in die Hände der weltlichen Obrigkeiten gelegt, nicht aber den Betroffenen überlassen. Injurien bildeten hier keine Ausnahme. Auch in ihrem Fall galt, dass Gott die Verfolgung und Bestrafung der Obrigkeit, nicht aber dem Beleidigten überlassen hatte.26
V Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bekam die Kritik an den Injurienklagen dann noch einen weiteren Akzent. Dieser folgte aus der Gegenüberstellung von äußerer und innerer Ehre und der Betonung des Wertes der inneren Ehre bis hin zu deren Priorität vor der äußeren Ehre. Moral- und Sittenlehre der Aufklärung hatten den inneren Ehrbegriff sogar absolut gesetzt und die äußere Ehre für belanglos erklärt. Die äußere Ehre nämlich wurzelte, das war das entscheidende Differenzierungskriterium, auf der Achtung und Wertschätzung, die einem Menschen von außen entgegengebracht wird. Sie hing mithin von der gesellschaftlichen Meinung und dem Urteil anderer ab. Die innere Ehre hingegen beruhte auf der 24
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Sächsisches Mandat wider die Selbst=Rache, Injurien, Friedens=Stöhrungen und Duelle vom 2. Juli 1712, zitiert nach Moosheimer (Fn. 15), 15; auch in anderen deutschen Territorien findet sich diese Argumentation, Moosheimer (Fn. 15), 87. Überblick über die hier zitierten Bibelstellen bei Moosheimer (Fn. 15), 106. Zu dieser Argumentation Ebert (Fn. 16), 71.
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persönlichen Anschauung und dem sittlichen Urteil eines jeden Menschen über sich selbst und seine Lebensführung. Die innere Ehre bestand also aus der Selbstachtung, die aus der Beurteilung der eigenen Handlungen resultierte und auf dem Bewusstsein gründete, das moralisch und sittlich Gebotene zu befolgen. Fichte definierte hier im Jahr 1795: »Diese Ehre setze ich keineswegs in das Urteil anderer über meine Handlungen, und wenn es das einstimmige Urteil meines Zeitalters und der Nachwelt sein könnte, sondern in dasjenige, das ich selbst über sie fällen kann.« 27
Juristisch relevant konnte nun allein die äußere Ehre sein, denn nur die auf dem Urteil anderer beruhende Wertschätzung konnten andere erschüttern. Gesellschaftliches Ansehen, soziale Reputation und öffentliche Anerkennung waren von außen angreifbar und verletzbar. Die äußere Ehre erforderte also rechtlichen Schutz gegen Eingriffe Dritter – und diesen gewährte die Injurienklage. In die innere Ehre hingegen konnte von außen nicht eingegriffen werden, denn sie hing nicht von der Meinung anderer ab. Wenn aber Außenstehende der Ehre eines Menschen nichts anhaben konnten, erübrigten sich auch rechtliche Reaktionen. In Bezug auf die innere Ehre war die Injurienklage gegenstandslos – sie ging ins Leere, denn es gab kein der Verletzung zugängliches Rechtsgut. Die in der Aufklärung intensiv geführte Debatte über das Verhältnis zwischen äußerer und innerer Ehre wurde literarisch vielfach verarbeitet. Lessing nimmt im Jahr 1767 in seinem Lustspiel »Minna von Barnhelm« darauf Bezug in dem Gespräch, das er Minna mit dem Major von Tellheim führen lässt. Tellheim beharrt darauf, dass es nur eine Ehre gibt, die zählt – und das ist die äußere Ehre, das gesellschaftliche Ansehen, das er für seine Person verloren glaubt. Der inneren Ehre misst er keine Bedeutung zu, sie spielt für ihn keine Rolle: »Die Ehre ist nicht die Stimme unseres Gewissens« sagt er apodiktisch. Worauf Minna lakonisch antwortet: »Nein, nein, ich weiß wol. – Die Ehre ist – die Ehre«. Anders als der Protagonist Lessings maßen die Juristen der inneren Ehre durchaus Bedeutung zu. Sie benötigte allerdings, das war konsentiert, keinen rechtlichen Schutz. »Die innere Ehre oder Würdigkeit (…) gehört aber, wegen ihrer reinen Innerlichkeit, dem Rechtsgebiete nicht an und vermag durch keine Verletzung erreicht zu werden.28 Im Unterschied zur Sittenlehre ging die Juris27 28
Zitiert nach Zunkel, »Ehre« in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, 1975, 1 (27). Weitere Belege bei Moosheimer (Fn. 15), 101. Berner (Fn. 4), 237; Moosheimer (Fn. 15), 101.
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prudenz aber davon aus, dass die innere Ehre die äußere nicht verdrängte und an deren Stelle trat, sondern zu dieser hinzukam und neben ihr bestand. Und diese, in der sozialen Achtung und gesellschaftlichen Anerkennung wurzelnde, äußere Ehre benötigte juristischen Schutz – allerdings, und das war jetzt neu, nicht mittels der Injurienklage. Diese war schon aus systematischen Gründen inakzeptabel. Strafsanktionen waren, das stand am Ende des 18. Jahrhunderts längst fest, allein Sache des Staates. Nur diesem konnten auch die ausgeurteilten Geldstrafen zustehen, nicht aber dem von der Tat betroffenen Opfer. In der Sache abgelehnt wurde die Injurienklage jetzt aber zudem aus einem neuen Verständnis von der Möglichkeit, Ehrverletzungen wiedergutzumachen. Über Geldzuwendungen, so die herrschend gewordene gesellschaftliche Anschauung, ging das nicht. Denn die Ehre war ein immaterielles – und kein materielles – Gut. Nur materielle Güter aber hatten einen wirtschaftlichen Wert und waren in Geld schätzbar und taxierbar, nicht aber immaterielle Güter. Von daher war es ausgeschlossen, die Verletzung der Ehre auf finanzieller Ebene kompensieren zu wollen.29 Sich eine Ehrenkränkung mit Geld abzahlen zu lassen, galt als unschicklich und unanständig. »Unter destinguirten und ansehnlichen Personen« sah man diese Klage, so Kreittmayr, »für keine reputierliche Sache« an. »Wir Teutsche«, so fuhr er fort, »denken also in diesem Stück ganz anders als die Römer gedacht haben. Sie hielten den Beklagten, welcher condemniert war, für unehrlich, wir aber rechnen vielmehr dem Kläger selbst (er victorisire gleich oder nicht) seine schmuzige Klag allemal zur großen Unehr an.«30 Die Ehre war, das war in den gehobenen Schichten seit Ende des 18. Jahrhunderts allgemein konsentiert, nicht im Wege gerichtlich ausgeurteilter Strafen und Sanktionen wiederherzustellen. Zu verteidigen und wiederherzustellen war die Ehre – darüber bestand in den höheren gesellschaftlichen Kreisen Konsens – im Duell. Duelle waren zwar verboten, doch hatten alle kirchlichen und staatlichen Verbote an der gesellschaftlichen Akzeptanz und weiten Verbreitung des Duells nichts geändert.31 Vor allem in Deutschland war diese Art der Selbstjustiz im 19. Jahrhundert noch gang und gäbe. Das Duell war der einzige Weg, einer Ehrverletzung ehrenhaft zu begegnen – sich der Injurienklage zu bedienen, schickte 29 30 31
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Dieser Gedanke wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch von den Landesgesetzgebern aufgegriffen, Moosheimer (Fn. 15), 87. Zitiert nach Kaufmann, Dogmatische und rechtspolitische Grundlagen des § 253 BGB, AcP 162 (1963), 421 (425). Ebert, »Ehre« in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, 2. Aufl. 2004.
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sich nicht. Von daher überzeugte in den Debatten um die Abschaffung der Injurienklage denn auch das Argument nicht, die Klage als Mittel zur Vermeidung von Duellen beizubehalten.32 Es war illusorisch zu meinen, so wurde entgegengehalten, dass die verfeindeten Parteien, statt sich zu duellieren, von der gerichtlichen Konfliktlösungsmöglichkeit Gebrauch machten. Abgesehen davon ging es unter staatsrechtlichem Aspekt nicht an, das Duellwesen durch Zulassung von Privatstrafen auf Kosten der Zuständigkeit des Staates für Strafe und Bestrafung zu unterbinden, statt für die effektive Durchsetzung der bestehenden staatlichen Verbote zu sorgen.
VI Die beschriebene, im 17. Jahrhundert einsetzende und immer stärker gewordene Kritik an der Injurienklage hatte Schritt für Schritt zu deren Zurückdrängung geführt. In Deutschland schafften die Landesgesetzgeber die Klage im Laufe des 19. Jahrhunderts nach und nach ab.33 Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Deutschland Ehrenschutz über zivilrechtliche Strafzahlungen nicht mehr. Mit Inkrafttreten der RStPO am 1. Oktober 1879 war die Diskussion beendet. Es galt: »Die Verfolgung von Beleidigungen (…) findet nur nach den Vorschriften der Strafprozessordnung statt« (§ 11 EGRStPO). Damit war der Gegenstand der actio iniuriarum endgültig dem Strafrecht zugeschlagen worden.34 Sache des Zivilrechts geblieben war die Leistung von Schadensersatz, wenn durch die Ehrverletzung ein Vermögensschaden entstanden war. Hatte etwa die schmähende Äußerung zur Qualität der Waren eines Händlers zu Umsatzeinbußen geführt oder war jemand durch die herabsetzende Behauptung fehlender fachlicher Qualifizierung in seinem beruflichen Fortkommen geschädigt worden, so waren diese wirtschaftlichen Nachteile auszugleichen. Zu ersetzen aber waren grundsätzlich nur materielle, also wirtschaftlich fassbare und messbare Schäden. Nur die durch die Ehrverletzung entstandenen Vermögensschäden, nicht aber die durch sie erlittenen immateriellen Beeinträchtigungen waren dem finanziellen Ausgleich zugänglich. Der Ersatz des immateriellen Schadens war in der Vergan32 33 34
Nachweise zu diesem Argument bei Moosheimer (Fn. 15), 94. Den Verlauf zeichnet Moosheimer (Fn. 15), 14, 84, für die einzelnen Länder auf. Zu dem »großen dogmatischen Eifer«, mit dem sich die Strafrechtswissenschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem ihr zugewiesenen Ehrenschutz befasste, Ebert (Fn. 16), 199, mit Nachweisen auf grundlegende Literatur.
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genheit allein im Zusammenhang mit der vorsätzlichen Körperverletzung thematisiert worden. Hier finden sich im 15. Jahrhundert in deutschen Städtechroniken erste Hinweise auf die Gewährung von Geld für erlittene Schmerzen.35 Das römische Recht hatte solche Entschädigungen kategorisch abgelehnt. Der Körper eines freien Menschen ist der Schätzung in Geld nicht zugänglich, konstatiert Gaius: »in homine libero nulla corporis aestimatio fieri potest« (D. 9, 3, 5, 7). Dieses Prinzip wurde in Deutschland für den Fall der Körperverletzung also nicht rezipiert. Für den Fall der Verletzung der Ehre aber war eine solche Geldentschädigung nie in Betracht gezogen worden.
VII Daran hielt auch das am 1. Januar 1900 in Kraft getretene Bürgerliche Gesetzbuch fest. Schadensersatz gab es nur, wenn der Eingriff in die Ehre zu einem Vermögensschaden geführt hatte. Dogmatisch lief das unter Einbeziehung des Strafrechts. Das am 1.1.1872 in Kraft getretene Reichsstrafgesetzbuch36 schützte die Ehre im Wege der Strafbarkeit der Beleidigung (§ 185), der üblen Nachrede (§ 186) sowie der Verleumdung (§ 187). Diese Vorschriften stellten – darüber bestand Konsens – Schutzgesetze dar, deren Verletzung im Zivilrecht den Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB auslöste.37 Dass die Beleidigungs-Straftatbestände, wie dort vorausgesetzt, den individuellen Schutz anderer bezweckende Gesetze waren, stand außer Frage. Der durch die Verwirklichung eines solchen strafrechtlichen Tatbestandes in seiner Ehre Angegriffene und Gekränkte hatte also auf zivilrechtlicher Ebene einen Anspruch auf Schadensersatz. In den Katalog der vom Zivilrecht in § 823 Abs. 1 BGB als solche explizit geschützten Rechte und Rechtsgüter – Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum – war die Ehre letztlich nicht aufgenommen worden. Zunächst dort aufgeführt, ist sie im weiteren Gesetzgebungsverfahren wieder herausgenommen worden – und zwar im Interesse der Wahrung der Einheit der Rechtsordnung. Der deliktsrechtliche Schutz des § 823 Abs. 1 BGB nämlich griff auch bei fahrlässiger Rechts(gut)verletzung. Auch die fahrlässig begangene Ehrverletzung hätte also 35 36 37
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Walter, Geschichte des Anspruchs auf Schmerzensgeld, 2004, 82. Verabschiedet am 15.5.1871, RGBl. 1871, 127. Nach § 823 Abs. 2 BGB trifft die Verpflichtung zum Schadensersatz auch »denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines Anderen bezweckendes Gesetz verstößt«.
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nach § 823 Abs. 1 BGB einen Anspruch auf Schadensersatz ausgelöst. Damit aber wäre, so die Verfasser des BGB, die Entscheidung des Strafgesetzbuches, das für ehrkränkende Taten Vorsatz forderte (§§ 185 ff. RStGB), revidiert worden. Der zivilrechtliche Schutz gegen (nur) fahrlässig begangene Ehrverletzungen hätte den Wertungen des Strafrechts widersprochen und war folglich auszuschließen.38 Der Ehrenschutz des Zivilrechts erfolgte also unter Einbeziehung der strafrechtlichen Schutzgesetze nach § 823 Abs. 2 BGB und nicht nach § 823 Abs. 1 BGB. Die Verpflichtung zum Schadensersatz wegen Ehrenkränkung setzte voraus, dass ein diesbezüglicher – Vorsatz voraussetzender – Straftatbestand erfüllt worden war. 39 In Fortsetzung der Rechtstradition gewährte auch das Bürgerliche Gesetzbuch im Falle der Ehrverletzung Ersatz nur für Vermögensschäden. Ersatz für Schäden, die materiell nicht messbar und schätzbar waren, sah das BGB nur bei Eingriffen in den Körper, die Gesundheit und die Freiheit vor (§ 847 Abs. 1 BGB), sowie bei Eingriffen in die Sittlichkeit oder die sexuelle Selbstbestimmung einer Frau (§ 847 Abs. 2 BGB). Nur in diesen Fällen konnte der Verletzte beziehungsweise die »Frauensperson« für die auf ideeller Ebene erlittene Beeinträchtigung eine, wie § 847 BGB formulierte, »billige Entschädigung in Geld verlangen«. Im Übrigen schloss das BGB den Ersatz für immaterielle Schäden ausdrücklich aus. § 253 BGB bestimmte insoweit für sämtliche (Schadens-)Ersatzansprüche des BGB: »Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann Entschädigung in Geld nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen gefordert werden« – und diese Fälle waren die in § 847 BGB genannten.40 Dieser Ausschluss des Ausgleichs für immaterielle Beeinträchtigungen war, was die Verletzung der Ehre anging, nach den gesellschaftlichen Anschauungen 38
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Protokolle in: Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Band II, 1899, 1077; Klippel/Lies-Benachib, Der Schutz von Persönlichkeitsrechten um 1900, in: Falk/Mohnhaupt (Hrsg.), Das BGB und seine Richter, 2000, 343 (350). Konsequent lehnte es das Reichsgericht dann auch ab, die Ehre als sonstiges Recht im Sinn des § 823 Abs. 1 BGB anzuerkennen, Zimmermann/Verse, Die Reaktion des Reichsgerichts auf die Kodifikation des deutschen Deliktsrechts (1900–1914), in: Falk/Mohnhaupt (Fn. 38), 319 (329). Zu diesen hinzu kam nur noch der sog. Kranzgeld-Anspruch. Hatte die Verlobte ihrem Verlobten die Beiwohnung gestattet, konnte sie von ihm im Falle des Verlöbnisbruchs »auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld verlangen« (§ 1300 BGB, aufgehoben erst 1998, BGBl. 1998, 833).
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der Zeit als richtig konsentiert. Bei Schaffung des BGB im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts galt nach wie vor, dass es sich nicht gehörte, »sich Beleidigungen durch Geld abkaufen zu lassen« und aus der Verletzung der Ehre pekuniäre Vorteile zu ziehen: »Derjenige hat wenig Ehre zu verlieren, der die Verletzung derselben durch eine Klage auf Geld zu repariren sucht.«41 Eine Bereicherungsmöglichkeit bot dem in seiner Ehre Gekränkten allerdings weiterhin das Strafrecht. Dieser konnte, falls die üble Nachrede (§ 186 RStGB) oder Verleumdung (§ 187 RStGB) materielle Nachteile für ihn gehabt hatten, eine an ihn zu zahlende Geldbuße verlangen.42 Deren – zur öffentlichen Bestrafung hinzukommenden – Verhängung stand allerdings in richterlichem Ermessen. Einen Anspruch auf diese Buße, maximal zweitausend Taler, hatte der Strafgesetzgeber abgelehnt im Hinblick auf die Gefahr, dass der Beleidigte diesen nur nutzte, um »eine Art Profit« zu machen und sich »durch die Buße ein Lucrum« zu verschaffen.43 Auch nach Abschaffung der Injurienklage gab es also die Chance, für die Beleidigung eine Bußzahlung zu kassieren. Klar war jetzt allerdings, dass dies eine öffentlich verhängte Strafe war, die nichts mit dem zivilrechtlichen Schadensausgleich zu tun hatte, sondern gegebenenfalls zu diesem hinzukam.
VIII In der Mitte des 20. Jahrhunderts setzte dann der Umschwung in Richtung Rückkehr zur zivilrechtlichen Zahlung ein. Es gibt heute bei Ehrverletzungen wieder Geld.44 Seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts hat die Rechtsprechung – im Einklang und unter Zustimmung der Wissenschaft – die Absage des BGB an den 41
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Kommissionsbericht, 1. Beratung, in: Mugdan (Fn. 38), 1297. Zur generell äußerst restriktiven Haltung des BGB-Gesetzgebers gegenüber einem Schadensausgleich bei Verletzung immaterieller Rechtsgüter Historisch-kritischer Kommentar zum BGB/Jansen, Bd. II/1, 2007, §§ 249–253, 255 Rn. 52. § 188 RStGB: »In den Fällen der §§ 186 und 187 kann auf Verlangen des Beleidigten, wenn die Beleidigung nachtheilige Folgen für die Vermögensverhältnisse, den Erwerb oder das Fortkommen des Beleidigten mit sich bringt, neben der Strafe auf eine an den Beleidigten zu erlegende Buße bis zum Betrage von zweitausend Thalern erkannt werden.« Bedenken in den Gesetzgebungsberatungen, zitiert nach Ebert (Fn. 16), 212. Ausführlich zur geltenden Rechtslage Hager, Der Schutz der Ehre im Zivilrecht, AcP 196 (1996), 168.
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finanziellen Ersatz von Nicht-Vermögensschäden im Falle von Ehrverletzungen unterlaufen und im Wege richterlicher Rechtsfortbildung ausgehebelt. Auslöser dieses Paradigmenwechsels war das Grundgesetz. Auf dieses, konkret auf die Wertentscheidungen des Art. 1 GG (Menschenwürde) und Art. 2 Abs. 1 GG (Persönlichkeitsrecht), wurde die Abkehr vom Ehrenschutz-Konzept des BGB gestützt. Begründet wurde die Abkehr mit der Notwendigkeit, die in Art. 1 GG garantierte Unantastbarkeit der Würde des Menschen und das in Art. 2 GG garantierte Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit auf zivilrechtlicher Ebene umzusetzen. Den ersten Schritt in diese Richtung hatte der BGH im Jahre 1954 mit der Anerkennung des grundgesetzlich geschützten Persönlichkeitsrechts als sonstiges Rechtsgut im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB gemacht. 45 Als (wesentlicher) Teil des Persönlichkeitsrechts war die Ehre damit in den Katalog dieser Vorschrift aufgenommen. Gerade das aber hatte der BGB-Gesetzgeber ausdrücklich abgelehnt unter Hinweis darauf, dass das Strafrecht für Ehrverletzungen Vorsatz forderte – und deshalb die fahrlässige Ehrenkränkung auch zivilrechtlich irrelevant bleiben müsste. Diese Entscheidung war nun von der Rechtsprechung revidiert worden. Eine Zeitschrift, so der Sachverhalt des sog. Leserbrief-Falles, hatte ein im Auftrag des Mandanten an sie gerichtetes anwaltliches Berichtigungsverlangen unter der Rubrik »Leserbriefe« abgedruckt – und zwar in einer Art, dass der Eindruck entstand, der Rechtsanwalt habe hier seine persönliche Meinung geäußert. Der Anwalt fühlte sich beruflich desavouiert und verlangte von dem Verlag, klarzustellen, dass es sich um ein rein anwaltliches, also im Namen des Mandanten verfasstes, Schreiben gehandelt hatte. Als Anspruchsgrundlage kam nun § 823 Abs. 2 BGB nicht in Betracht. Die irreführende Veröffentlichung des Schriftsatzes erfüllte weder den Tatbestand der üblen Nachrede (§ 186 StGB) noch den der Kreditgefährdung (§ 187 StGB)46 – und andere in Betracht kommende Schutzgesetze waren nicht ersichtlich. Der Weg über die Schutzgesetzverletzung nach § 823 Abs. 2 BGB war mithin versperrt. Von daher kam es darauf an, die in Rede stehende Ehrenkränkung als Verletzung eines der in § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechtsgüter zu qualifizieren. Und das tat der BGH – unter Berufung auf den hohen Stellenwert, den das Grundgesetz dem Recht des Menschen auf Achtung seiner Würde (Art. 1 Abs. 1 GG) und Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 2 GG) zuwies. Diese Wertentscheidung forderte, so die Argumentation, das Persönlichkeitsrecht und die Ehre eines Menschen (auch) zivilrechtlich 45 46
BGHZ 13, 334, Urt. v. 25.5.1954 (Leserbrief-Fall). Das in erster Instanz entscheidende Landgericht hatte dies allerdings bejaht.
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umfassend gegen Eingriffe von außen zu schützen – was durch Anerkennung des Persönlichkeitsrechts als sonstiges Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB machbar war. So in den Katalog der dort genannten Güter aufgenommen, war die Ehre fortan absolut geschützt – und zwar auch gegen fahrlässige Eingriffe. Dass damit eine bewusste Entscheidung des BGB-Gesetzgebers korrigiert wurde, sprach die Entscheidung nicht an. Die nächste Weichenstellung, nämlich die Gewährung von immateriellem Schadensersatz, nahm der BGH im Jahr 1958 vor.47 Kläger war Josef Neckermann, Inhaber der gleichnamigen Firma – bekannt nicht nur als Geschäftsmann, sondern auch als erfolgreicher Turnierreiter. In dieser Rolle hatte ihn das – sexuelle Potenzmittel herstellende – Pharmaunternehmen Okasa in eine »weithin demütigende und lächerliche Lage« gebracht, indem sie ein Bild von ihm hoch zu Pferde zu Werbezwecken eingesetzt und damit den Eindruck erweckt hatte, als werbe und reite er für Okasa. Der BGH konstatierte zunächst, dass Okasa hier die Ehre des Klägers verletzt und in dessen Persönlichkeitsrecht, das seit der Leserbrief-Entscheidung als sonstiges Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB anerkannt war, eingegriffen hatte. Anders als der Rechtsanwalt, der lediglich Naturalrestitution verlangt hatte – die geforderte Richtigstellung zielte auf Wiederherstellung des ohne die schädliche Veröffentlichung bestehenden Zustandes (§ 249 Abs. 1 BGB) –, ging es Herrn Neckermann um Geld. Er verlangte eine Geldzahlung zur Kompensation der Kränkung, die er infolge der Verwendung seines Bildes zur Werbung für ein sexuelles Kräftigungsmittel erlitten hatte. Der BGH gestand ihm die Zahlung zu – im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes der Ehre. Dem zentralen Stellenwert, den das Grundgesetz der Würde und Persönlichkeit eines Menschen zumaß, so die Argumentation, war bei Eingriffen nur im Wege der Anerkennung eines Anspruchs auf immateriellen Schadensersatz Rechnung zu tragen. Ohne Anspruch auf Entschädigung auch für die nur auf immaterieller Ebene erlittenen Beeinträchtigungen liefe der vom Zivilrecht zu gewährleistende Schutz dieser wichtigen Grundrechtspositionen ins Leere. Konkret leitete die Entscheidung den Anspruch dann aus einer analogen Anwendung des § 847 Abs. 1 BGB ab. Nach dieser Vorschrift war bei Eingriffen in die körperliche Freiheit eines Menschen auch der Nicht-Vermögensschaden auszugleichen durch »eine billige Entschädigung in Geld«. Der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht und die Ehre tangierte nun zwar nicht die körperliche Freiheit des anderen, er verletzte aber dessen gesellschaftliche (Selbst-)Inszenierung 47
218
BGHZ 26, 349, Urt. v. 14.2.1958 (Herrenreiter-Fall); dazu Historisch-kritischer Kommentar zum BGB/Schiemann, Bd. III/2, 2013, §§ 823–830 Rn. 77.
219 Die Ehre ist – die Ehre (Minna von Barnhelm, 4. Aufzug, 6. Auftritt)
und (Selbst-)Darstellung. Diesen Eingriff in die selbstbestimmte Außendarstellung des anderen definierte der BGH im Herrenreiter-Fall als Eingriff in die innere Freiheit des Herrn Neckermann – und kam damit zur analogen Anwendung des § 847 BGB. Weitergeführt wurde dieser Ansatz im Jahr 1961.48 Hier war ein Professor für Völker- und Kirchenrecht mit sexuellen Kräftigungsmitteln in Verbindung gebracht worden, weil er einem Kollegen aus der Pharmazie von einem Aufenthalt in Korea Ginsengwurzeln mitgebracht hatte. Der Pharmazeut erwähnte nun in dem wissenschaftlichen Aufsatz über seine Forschungen, dass er »durch die liebenswürdige Unterstützung« seines Kollegen in den Besitz echter koreanischer Ginsengwurzeln gekommen sei. Das führte dazu, dass der Name des Völkerund Kirchenrechtlers im Werbeprospekt eines sexuelle Kräftigungsmittel herstellenden Unternehmens auftauchte. In solchen Zusammenhang gestellt sah dieser seine Reputation als Völker- und Kirchenrechtler beeinträchtigt und sah sich zudem öffentlich, insbesondere vor den Studenten, lächerlich gemacht. Ein materieller Schaden war ihm nicht entstanden, blieb also nur, Entschädigung für die immaterielle Missempfindung und Beeinträchtigung zu verlangen. Der BGH gestand diese zu, stützte den Zahlungsanspruch allerdings nicht mehr auf die »innere Freiheitsberaubung« und die analoge Anwendung des § 847 Abs. 1 BGB, sondern leitete ihn direkt aus dem Grundgesetz her. Ohne zivilrechtliche Schadensersatzverpflichtung blieben, das war die tragende Erwägung, Würde und Ehre des Menschen gegen Eingriffe Dritter ungenügend geschützt. Allein das Risiko eines spürbaren materiellen Verlustes durch die Verpflichtung zur Entschädigung auch derjenigen Unbill, welche dem Verletzten auf immaterieller Ebene widerfahren war, konnte Dritte davon abhalten, die Ehre und die Persönlichkeit anderer zu missachten. Eine völlig neue Erfindung war die daraus hergeleitete Kombination von Bürgerlichem Gesetzbuch und Grundgesetz zur Begründung und Herleitung des Anspruchs aus § 823 Abs. 1 BGB iVm Art. 1, Art. 2 Abs. 2 GG. Diese Anspruchsgrundlage wurde – wenn auch zunächst mit Verwunderung – allgemein akzeptiert. Auch der Gesetzgeber hielt es für richtig, hier das Grundgesetz ins Spiel zu bringen und den Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens aus diesem herzuleiten. Er sah von daher bei der Reform des Schadensersatzrechts im Jahre 2002 davon ab, das Persönlichkeitsrecht einfach in den Katalog der Rechtsgüter aufzunehmen, bei deren Verletzung auch »wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld« gefordert wer48
BGHZ 35, 363, Urt. v. 19.9.1961 (Ginsengwurzel-Fall).
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den kann (§ 253 Abs. 2 BGB).49 Die Pflicht zum Ersatz des immateriellen Schadens ergab sich seiner Meinung nach schließlich bereits aus dem Auftrag der Verfassung, die Würde und das Persönlichkeitsrecht eines jeden Menschen zu schützen. Seit 1958 gibt es bei Eingriffen in die Ehre und in das Ansehen eines Menschen also auch für die auf immaterieller Ebene erlittenen Beeinträchtigungen Ersatz. Dieser Schadensersatz hat nach allgemeiner Meinung drei Funktionen: Zunächst geht es um Kompensation und Ausgleich: Das Geld soll den Verletzten in die Lage versetzen, sich Erleichterungen, Genüsse und Annehmlichkeiten zu verschaffen, die die erlittene Kränkung vergessen machen und sein Wohlbefinden wiederherstellen oder zumindest bessern. Dann geht es um Genugtuung: Das Wissen, dass der Schädiger auch einen Schaden hat, soll dem Verletzten Genugtuung verschaffen für das, was der andere ihm angetan hat. Dass dieser Aspekt des immateriellen Schadensersatzes Strafcharakter hat und die zivilrechtliche Haftung damit eine pönale Funktion bekommt, wird weitgehend für akzeptabel gehalten,50 teils wird dies allerdings auch – mit nicht nachvollziehbaren Überlegungen zu Sühne und Genugtuung – geleugnet.51 Zudem wird der Pflicht zum immateriellen Schadensersatz Präventivfunktion zugemessen. Vor allem bei Eingriffen in das – im Zeitalter der Massenmedien und digitalen Kommunikation – immens gefährdete allgemeine Persönlichkeitsrecht bedarf es abschreckender Maßnahmen, um es zu schützen. Hohe Schmerzensgeldzahlungen bei Eingriffen in dieses sind hierzu geeignet. Sie mindern das Risiko der Beeinträchtigung und wirken präventiv. Das alles ist nun seit 60 Jahren verfestigte Rechtsprechung und allgemeine Meinung geworden. Wir lassen uns die Ehrverletzung versilbern. Die Fälle, in denen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts angenommen wird, entsprechen nun weitgehend denen, in welchen zuvor eine Injurie angenommen wurde.52 Die Abkehr von zivilrechtlicher Geldstrafe und Bußzahlung an den in seiner Ehre und Persönlichkeit Verletzten war in der Geschichte nur eine vorübergehende Episode gewesen. 49
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§ 253 BGB fasste die früheren Bestimmungen in § 847 BGB – unter dessen gleichzeitiger Aufhebung – zusammen (2. SchÄndG v. 19.7.2002, BGBl. 2002, I 2674). Durch die Ansiedlung der Regelung zum Ersatz von Nichtvermögensschäden im allgemeinen Schuldrecht war klargestellt, dass diese nicht nur bei deliktischer Schädigung gilt, sondern auch bei vertraglich begründeter oder auf Gefährdungshaftung beruhender Haftung. Zur »Renaissance der Pönalisierung des Schadensersatzes« HKK/Jansen (Fn. 41), Rn. 145. Dazu mit Nachweisen HKK/Jansen (Fn. 41), Rn. 146. Vgl. Beispiele bei Kaufmann, Dogmatische und rechtspolitische Grundlagen des § 253 BGB, AcP 162 (1963), 421.
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»er sei alles angeber, redner, schreyber, heber und leger gewest« Das Verfahren gegen Stefan von Menzingen im Jahre 1525 in Rothenburg ob der Tauber Karl-Heinz Schneider
I
Einführung
In wenigen Jahren jährt sich zum 500sten Male das historische Großereignis des Deutschen Bauernkriegs.1 Dieser wichtige Abschnitt der Deutschen Geschichte war seit jeher eine Domäne der Historiker und der Lokalhistoriker. Eine juristische Auseinandersetzung mit der rechtlichen Behandlung der Beteiligten war dagegen selten.2 Für die rechtlichen Folgen des für Westmittelfranken wichtigen Bauernaufstandes auf dem Gebiet der Reichsstadt Rothenburg fehlt bislang eine Untersuchung. Ein kurzer erster, wenn auch im Wesentlichen auf das Verfahren gegen Stefan von Menzingen reduzierter, Versuch soll hier unternommen werden.
II Die Protagonisten Als wichtige Protagonisten sind hier zu nennen: Markgraf Casimir von Brandenburg-Bayreuth, Lehensherr des Stefan von Menzingen und Exekutor der Strafexpedition für den Bereich Frankens als Stellvertreter des Jörg Truchsess von Waldburg. Casimir war so Gerichtsherr bei der Verurteilung Menzingens. Johann von Schwarzenberg, Hofmeister des Markgrafen von Brandenburg, Verfasser oder Mitverfasser der Halsgerichtsordnungen von Bamberg (1507) und 1 2
Die Vortragsform wurde weitgehend beibehalten. Aus neuerer Zeit sind hier Mayer, Die rechtliche Behandlung der Empörer von 1525 im Herzogtum Württemberg, 1957; Leiser, Strafgerichtsbarkeit in Süddeutschland, 1971; Roth, Kollektive Gewalt und Strafrecht, 1989; Hohn, Die rechtlichen Folgen des Bauernkrieges von 1525, 2004 anzuführen.
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Brandenburg (1516). Ab 1521 Vordenker der Carolina als Vorsitzender des Carolina-Redaktionsausschusses, nach 1500 Hofmeister/Hofrichter in Bamberg, ab 1524 Hofmeister des Markgrafen Casimir, wohl einer der bedeutenden deutschen Juristen der frühen Neuzeit. Stefan von Menzingen, Lehensdiener des Markgrafen Casimir von Brandenburg und ehemaliger Amtmann des Rothenburg benachbarten Creglingens, gleichzeitig durch Heirat Rothenburger Bürger. Sein Wohnsitz lag außerhalb der Stadt in Reinsbürg, fast an der Grenze des damaligen Rothenburger Staatsgebiets, der sogenannten Landhege. Während der Aufstandsphase war Stefan von Menzingen frühzeitig vom Ausschuss gewählter Sprecher und neues Mitglied im äußeren Rat, auch war er zu einem von zwei äußeren Steurern gewählt. Sie waren insbesondere für den Einzug der städtischen Steuern zuständig. Menzingen ist eine in der Lokalhistorie bis heute umstrittene Person, deren Amtsführung jüngst als »Vendetta« gegen den »Alten Rat« bezeichnet wurde.3 Der Umstand, dass einerseits sein, von den Bauern bedrohter Besitz hart an der Grenze des Zentrums des Rothenburger Aufstands gelegen war, dass er andererseits Rothenburger Bürger mit den sich daraus ergebenden Verpflichtungen, aber auch Lehensmann des Ansbacher Markgrafen war, zeichnen das Spannungsfeld nach, in welchem sich Menzingen bewegte. Thomas Zweifel, Stadtschreiber in Rothenburg und erbitterter Feind Menzingens. Schreiber der nach ihm benannten und für die weitere Behandlung des Themas unverzichtbaren Bauernkriegschronik, die von Baumann 1878 transkribiert wurde.4 Seine in der Bauernkriegschronik durchgehend getroffene Charakterisierung Menzingens bestimmt die Sichtweise auf Menzingen und dessen historischen Stellenwert bis heute.5 Warum soll das Verfahren gegen von Menzingen in den Mittelpunkt dieser Untersuchung gestellt werden? Da ist zum einen die außerordentlich gute Quellenlage sowohl in den Rothenburger und Brandenburger Bauernkriegsakten des Nürnberger Staatsarchivs6 als auch in der reichhaltigen, eine Vielzahl von Urkundenabschriften beinhaltende Chronik Thomas Zweifels,7 zum andern ist hier die 3 4 5 6 7
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Huggenberger in: Rupp/Borchardt (Hrsg.), Rothenburg ob der Tauber, 2016, 166. Baumann, Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs aus Rotenburg ob der Tauber, 1878. Quester, Das Rat der Fortuna und das Kreuz, 1994, passim. StAN, Bauernkriegsakten, RR 331–338. Baumann (Fn. 4) – Baumanns Übertragung der Bauernkriegschronik des Stadtschreibers Thomas Zweifel ist eine wortgetreue Übertragung der unter Bd. 17 im RStA verwahrten, um 1529 entstandenen Chronik Zweifels. Im folgenden nach Baumann zitiert.
223 »er sei alles angeber, redner, schreyber, heber und leger gewest«
Verwicklung der bedeutenden Person Johann von Schwarzenbergs hervorzuheben und seine bisher übersehene Rolle im Verfahren gegen Menzingen im Zuge des »roll back« des fränkischen Bauernkriegs.
III Ursachen, Ziele und Verlauf des Bauernkriegs auf Rothenburger Territorium 1
Die Vorgeschichte
Rothenburg spielt eine wichtige Rolle zu Anfang und im Verlauf des fränkischen Aufstands der Bauern. Die Erhebung zeigt in beinahe idealer Weise die vielfältigen Ursachen auf, die zu der als Bauernkrieg bezeichneten Erhebung führten. Peter Blickle führte 1975 verschiedene historische Ansätze zu einer Gesamtsicht des Bauernkrieg wie folgt zusammen: »Er (der Bauernkrieg) stellt den Versuch dar, die Krise des Feudalismus durch eine revolutionäre Umgestaltung der gesellschaftlichen und herrschaftlichen Verhältnisse auf der Grundlage des Evangeliums zu überwinden. Träger der Revolution ist nicht der Bauer, sondern der gemeine Mann.«8
In Rothenburg gärte es zunächst auf dem kirchlichen Gebiet. Redegewandte, begeisterte Prädikanten durchzogen die Stadt und predigten von dem üppigen Leben der Geistlichkeit und ihren zu hohen Einkünften, von dem Schlaraffenleben in den Klöstern und von der Not der niederen Bevölkerungsschichten. Sicherlich gab es auch Neid und Hass auf die Privilegierten, auf Patrizier und auf Geistliche. Zum auslösenden Moment wurden das Evangelium und die, durch die Reformation ermöglichte Rechtfertigung durch das »göttliche Recht«. In Rothenburg traten die Prediger Teuschlein und Andreas Bodenstein von Karlstadt hinzu. Letzterer hielt sich nach seiner Flucht aus Kursachsen in Rothenburg trotz eines Stadtverbotes des Rats versteckt und warb kräftig für seine Sicht des Evangeliums. Auf dem Gebiet des Rothenburger Umlandes, der Landhege, wurde wenige Jahre vor 1525 eine Wein- und Biersteuer (Bodensteuer) und vor allem die verhasste Klauensteuer eingeführt. Beide Sondersteuern wurden mit den Kosten um 8
Zit. nach Blickle, Revolte und Revolution in Europa, Historische Zeitschrift, Beiheft 4, NF, 1975.
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die Befreiung der Insel Rhodos von den Türken begründet. Sie führten zu erheblichem Unmut unter der Landbevölkerung. Letztlich gab es auch in der Stadt eine große Unzufriedenheit der Handwerker und Kleinbürger, welche nach mehr Mitbestimmung in politischen Dingen drängten. 2
Die Erhebung
Aus dieser Konstellation entwickelte sich am 23.3.1525, zunächst in dem auf Rothenburger Gebiet gelegenen Dorf Brettheim, die Erhebung. Das Dorf Ohrenbach, ebenfalls in der Rothenburger Landhege gelegen, folgte kurze Zeit später. Die Zielrichtung richtete sich zunächst gegen die erwähnten Steuern, Weinzoll und Klauengeld. Was nun Stefan von Menzingen betrifft, der nicht weit entfernt von Brettheim in Reinsbürg wohnte, so sandte er noch am gleichen Tag, am 23.3.1525, ein dringendes Schreiben an seinen Lehensherrn Casimir von Brandenburg und bat ihn, da er den Zorn der benachbarten Brettheimer Bauern und Übergriffe auf sein Eigentum fürchtete, um sofortige Unterstützung.9 Dieses Schreiben veranlasste wiederum Casimir dem Rothenburger Rat zu schreiben, ihn vor den Bauern zu warnen und seine Unterstützung anzubieten. Sie wurde jedoch abgelehnt.10 Von Anfang an und im Gegensatz zu anderen süddeutschen Städten fand der zunächst als Bauernversammlung gegründete Zusammenschluss breite Zustimmung in der Rothenburger Bürgerschaft und der dortige Mittelstand übernahm schnell die Führungsrolle beim Aufstand und blieb seine Stütze. Hier bildete sich in der Nacht vom 24. auf den 25.3.1525 ein 42-köpfiger Gemeindeausschuss der Bürger, der nun, so Zweifel, angeleitet durch den beigetretenen Menzingen den Rat weitgehend entmachtete, als Parallelautorität die Belange der »gemaind« nach innen und außen vertrat und sich auch der Beschwerden der Bauernversammlung annehmen wollte. Menzingen hatte sich damit anscheinend sehr schnell auf die Seite der Erhebung gestellt, wohl auch, wie sein Brief an Casimir zeigte, um sein Eigentum in Reinsbürg vor den Bauern zu schützen. Die Bauernversammlung ließ sich jedoch vom Ausschuss nicht aufhalten und zog nach dem 30.3.1525 tauberabwärts und verbrüderte sich mit dem sogenannten »Tauberhaufen«, der später weiter vor Würzburg zog. In der Stadt Rothenburg zog Menzingen die Torschlüssel ein und begründete 9 10
224
Franz, Der Deutsche Bauernkrieg – Aktenband, 1968, 342. Baumann (Fn. 4), 57.
225 »er sei alles angeber, redner, schreyber, heber und leger gewest«
dies damit, dass ein Einmarsch des Markgrafen Casimir in die Stadt unmittelbar drohe. Damit unterlag der Postverkehr nun seiner Kontrolle. Dies ermöglichte es ihm, einen regen und vertraulichen Briefverkehr mit Casimir zu unterhalten. Mehrere Briefe Menzingens an Casimir und ein Brief Casimirs an Menzingen aus dem Zeitraum März bis Mai 1525 sind in den Bauernkriegsakten erhalten. Neben dem Brief vom 23.3. sind dies Briefe an Casimir vom 16.4., vom 9.5., vom 15.5. sowie die Antwort Casimirs an Menzingen vom 15.5. bzw. 29./30.5.1525.11 Ein weiterer Brief vom 24.3.1525 des Rothenburger Ausschusses an Casimir12 ist ebenfalls vorhanden. Inhaltlich strebte Menzingen, folgt man dem Inhalt der Briefe, einen Ausgleich zwischen der Rothenburger Bürger- und Bauernschaft und dem Markgrafen an. Es ist also zu vermuten, dass die von ihm initiierte Torund Postkontrolle wohl mehr der ungestörten Korrespondenz zwischen ihm und dem Markgrafen dienen sollte, was sich auch in dem angeschlagenen Ton in den Briefen niederschlägt. Gleichzeitig versuchte Menzingen auch Übergriffe aus der Mitte des Ausschusses gegenüber dem Alten Rat zu verhindern.13 Der angestrebte Ausgleich zwischen den Aufständischen und dem Markgrafen wie er von den Bauern mit Unterstützung Menzingens auf dem Schweinfurter Tag angestrebt wurde, kam allerdings nicht zustande, denn es überholten sich im Fortgang die Ereignisse. Nachdem die Bürger, zunächst unter dem Druck der vor Würzburg liegenden Bauernschaft und einer Rede Florian Geyers in der hiesigen Jakobskirche dem Reich und dem Schwäbischen Bund abgeschworen und zu den Bauern geschworen hatten, fielen sie damit vom Reich und vom Schwäbischen Bund ab, ein Umstand der zu der späteren Bestrafung der Stadt wegen des crimen laesae maiestatis führen sollte. Nach den Niederlagen der Bauern vor Würzburg, Königshofen, Ingolstadt und Sulzdorf wendete sich das Blatt aber nun gegen die Stadt und den Gemeindeausschuss. Der alte Rat suchte den Kontakt mit dem Bundesheer unter Truchsess von Waldburg um zu verhandeln und sich zu unterwerfen. Im Lager vor Heidingsfeld bei Würzburg wurde dann am 11.6.1525 ein Vertrag mit dem Schwäbischen Bund geschlossen, der für jedes Haus zur Abwendung der Brandschatzung einen Betrag von 7 fl. und im Ganzen einen Betrag von 4000 fl. vorsah. Hinzu kamen noch 50 Zentner abzugebendes Schießpulver (Hei11
12 13
Die Briefe vom 23.3., 9.5. und 15.5.1525 sind transkribiert von Franz (Fn. 9), 342 und 363 e-g, sowie StAN, Reichsstadt Rothenburg, Bauernkriegsakten 331–338 fol. 57 ff. Noch ein weiterer Brief der sich noch im Besitz Menzingens befand, wurde bei seiner Befragung unter Folter eingeräumt. StAN93r, 97r u. Quester (Fn. 5), 40 Fn. 130.
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dingsfelder Vertrag).14 Mit dem Einzug dieser Brandsteuer wurde Menzingen von dem nun wieder in Amt und Würden agierenden alten Inneren Rat weiterhin als Steurer beauftragt.15 3
Die Verhaftung Menzingens
Am folgenden Tag, Sonntag den 18.6.1525, schritt jedoch der nun wieder erstarkte Rat zur Tat. Nachdem etliche der Aufwiegler bereits aus der Stadt geflohen waren, wollte man insbesondere Stefan von Menzingens habhaft werden. Um aber ein Scheitern der Festnahme unter allen Umständen zu vermeiden, sandte man Heinz Christ, einen der Parteigänger Menzingens im Rat, in das Büttelhaus, um dort einen Gefangenen zu verhören. Das so entstandene Zeitfenster nutzte man. Stefan von Menzingen überquerte nach dem sonntäglichen Kirchgang den Marktplatz und wurde dort von den Stadtknechten gestellt und verhaftet. Sein Hilferuf an die Umstehenden »Helft mir ihr Brüder« wurde dahingehend kühl beantwortet: »Lieber, die Bruderschaft hat ein Ende.«16 Menzingen wurde bis zum Verfahrensfortgang in den Turm, das sogenannte städtische »Büttelhaus« geführt. Menzingens Frau wurde nach der Verhaftung sofort initiativ und wandte sich an den Lehensherrn ihres Mannes, Casimir von Brandenburg, der als Exekutor zusammen mit Joachim von Pappenheim, ab dem 22.6.1525 den von Franken abwesenden Jörg Truchsess von Waldburg bei der Strafexpedition in Franken vertrat. Die Nachricht von Menzingens Frau ging Casimir per Boten im Feld vor Bamberg zu und er schrieb an den Rat unter dem 22.6.1525, man möge den Menzingen bis »zur ausführung seiner unschuld betagen«, das heißt freilassen.17 Nicht ganz zu Unrecht fürchtete allerdings der Rat, dass Menzingen seine Freilassung zur Flucht ins benachbarte Brandenburg nutzen könnte und reagierte seinerseits sofort und schrieb noch am selben Tag (22.6.1525) an Jörg Truchsess von Waldburg und teilte mit, welch tragende Rolle Menzingen beim Aufruhr in Rothenburg gespielt habe. Unter dem 23.6.1525 kam postwendend die Antwort Waldburgs an den Rat wonach ihm mitgeteilt wurde, Casimir habe die Order erhalten, die Aufrührer seien streng zu bestrafen und vor allem solle Menzingen 14 15 16 17
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Baumann (Fn. 4), 486 f. Baumann (Fn. 4), 506. Baumann (Fn. 4), 510. Baumann (Fn. 4), 520, 522.
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nicht freigesetzt werden, sondern »seine gebührende Strafe empfangen, wie es billig, aller Ehrbarkeit tröstlich und den Ungehorsamen erschröcklich sei.«18 Nach dieser Anweisung kam eine vorzeitige Freilassung Menzingens zunächst nicht in Frage. 4
Die Untersuchung
Fünf Tage später, am 27.6.1525, begann nun die offizielle Untersuchung gegen Stefan von Menzingen durch den Rothenburger Rat. Das Protokoll seiner ersten Vernehmung hat sich in den Bauernkriegsakten im Staatsarchiv Nürnberg erhalten.19 Auffallend ist, dass gegen ihn eine Vielzahl von unterschiedlichsten Tatvorwürfen erhoben wurden, die mit dem eigentlichen zentralen Tatvorwurf des Aufruhrs nur schwer in Einklang zu bringen sind. Der Rat beschrieb Menzingens Rolle zwar als »anfenger, der forderst im ausschuss, heber und leger der sachen«20 und an anderer Stelle als »ain großer ursacher der unainigkait und zwitracht zwischen aim erbbern rat und der gemaind.«21 Neben diesen Vorwürfen waren aber unter anderem auch der Vorwurf des Frauenraubs22 und der Sodomie23 sowie der Beleidigung der Ratsherrn durch ein Pasquill erhoben worden. Die ersten beide Vorwürfe wurden von Menzingen bestritten und finden sich in der im Anschluss an die Vernehmungsergebnisse erstellten Urgicht nicht mehr. Den Vorwurf der Beleidigung räumte Menzingen ein. Ebenso einen Diebstahl (Unterschlagung) von Kirchengut. Die große Palette der erhobenen Schuldvorwürfe und der damit verbundenen Strafen zeigt aber doch, mit welcher Härte von Seiten der Stadt das Verfahren gegen Menzingen durchgeführt werden sollte. Das überlieferte Protokoll seiner Befragung beginnt mit der Feststellung: »Stefan von Menzingen, ›Leer uffzogen will des ersten Artikels nit bekennen, der 7 fl. halb‹«.24 »Leer uffzogen« bezieht sich auf den in Rothenburg in der Durchführung der Folter üblichen »trockenen Aufzug«, der hier ohne beschwerende Gewichte eingesetzt wurde. Auch die auf der Grundlage 18 19 20 21 22 23 24
Baumann (Fn. 4), 523. StAN, RSt. Rothenburg, Nr. 338, fol. 61–68. Baumann (Fn. 4), 522. Baumann (Fn. 4), 540. StAN, RSt Rothenburg, Nr 338, 66r. StAN, RSt Rothenburg, Nr. 338, 65r. Hier stand der Vorwurf gegen Menzingen im Raum, er habe die Bürger aufgefordert, das im Heidingsfelder Vertrag niedergelegte Strafgeld nicht zu bezahlen.
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der Vernehmung erstellten Urgicht führt den Grad der Folter mit den Worten: »angepunden doch nach uffzogen gutlich vernommen« aber auch »unuffzogen gutlich.«25 Ein ebenfalls erhobener Vorwurf beinhaltete eine vorgebliche Aufforderung Menzingens an die Rothenburger Bürger, die Zahlung des im Heidingsfelder Vertrag festgelegten Betrag der 7 fl. zu verweigern. Der festgelegte Betrag zielte allerdings auf die existentielle Abwendung der Plünderung der Stadt durch die Truppen des Markgrafen. Menzingen bestreitet auch diesen Vorwurf. Auch den zentralen Vorwurf, er habe die Bauern zum Aufruhr angestachelt, gesteht Menzingen nicht. Vielmehr trägt er vor, er habe, so Menzingen, den Schultheißen von Weikersholtz26 (Gemeinde auf damaligem Rothenburger Gebiet zwischen Reinsbürg und Brettheim gelegen) geraten, dass sie (die Bauern) sich zusammentun sollen und beim Rat um Gnade bitten sollten.27 5
Die peinliche Interrogation wird fortgesetzt
Auch am Montag, den 29.6.1525 wurde die Vernehmung Menzingens unter Folter fortgesetzt. Nun wird Menzingen eingehend über seine Beziehungen zu dem Prediger Karlstadt befragt. Nach anfänglichem Leugnen muss er einräumen, dass Karlstadt zwei oder dreimal in seinem Haus gewesen ist. Hier gesteht er weiter ein, er habe, so Menzingen, unerlaubt »Fürschriften Karlstadts« an Herrn Johann von Schwarzenberg und an Casimir von Brandenburg weitergegeben.28 Als entscheidender Vorwurf wird das »Crimus diellianus« bezeichnet, da es hier um sein Verhalten im Ausschuss ging. Menzingen räumt nun, unter dem Eindruck der erneuten Folter ein, er sei der »alles angeber, redner, schreyber, heber und leger« gewesen.29 Die aufgrund der unter der Folter gemachten Aussagen wurden in der, von Zweifel überlieferten Urgicht zusammengefasst, einige der vormals erhobenen Vorwürfe wie Frauenraub und Sodomie wurden fallengelassen. Diese zusammen25 26 27 28
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StAN, 63v. Ein Dorf in der Nähe von Reinsbürg/Rot am See. Leider ist zu diesem Gespräch mit dem Schultheißen kein Datum überliefert, es hat vermutlich aber um den 23.3.1525 stattgefunden. Diese Fürschriften können mit einer angestrebten Aufhebung des Tätigkeits- und Predigtverbots Karlstadts auch auf dem Gebiet des Markgrafentums in Verbindung gebracht werden. Baumann (Fn. 4), 543.
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fassende Urgicht wurde dem Markgrafen vorgelegt. Dies galt übrigens auch für die Urgichten der Mitangeklagten »Rädelsführer« Johannes Teuschlein und den Barfüssermönch Johannes Schmid. Zur Anklage kam nun, dass sich Menzingen mit Karlstadt sowohl in seinem Haus als auch in der Deutsch-Herren Komturei getroffen und dort von diesen Schriften für Hans (Johann) von Schwarzenberg und Markgraf Casimir entgegengenommen habe. Desweitern wird ihm vorgeworfen, er habe den Torwächtern die Torschlüssel abgenommen und veranlasst, dass sämtliche ein- und ausgehende Post über den Ausschuss und letztlich über ihn laufen solle. Dies ist insofern von Belang, als mindestens die vier erwähnten (erhaltenen) Briefe zwischen Casimir und Menzingen gewechselt wurden, die inhaltlich ein gutes Einvernehmen zwischen Casimir und Menzingen nahelegen und auch Interna aus dem Heidingsfelder Bauernlager enthalten. Aus dem Inhalt der gewechselten Briefe drängt sich deshalb die Vermutung auf, er, Menzingen, habe möglicherweise auch im Interesse des Markgrafen gehandelt. In der Urgicht wird weiter aufgeführt, er habe sich auch an Kirchengut vergangen, indem er drei Messgewänder aus einer Truhe auf dem Rathaus entnommen habe und hiervon ein Gewand an Florian Geyer, ein anderes an einen weiteren Bauernführer, nämlich den Schultheißen von Ochsenfurt, verschenkt habe. Desweitern habe er in seiner Stellung als Steurer eigene Steuerschulden aus dem städtischen Steuerbuch getilgt und in andere Steuerbücher geschrieben, um so die alten Steuerherrn falscher Buchführung zu verdächtigen. Auch der Vorwurf der Beleidigung des Alten Rats durch Schmähbriefe wurde aufrechterhalten. Menzingen habe weiter, so der wichtigste Vorwurf, als sich die Bauern empört hatten, nicht mäßigend auf diese eingewirkt, sondern habe ihnen Ratschläge erteilt, habe sie aufgefordert einen Ausschuss zu bilden und sich als ihr Wortführer angedient. Menzingen sei: »dess er alles angeber, redner, schreyber, heber und leger gewest. Durch das alles ist aim rat sein gewalt genommen und verhyndert worden, zu abstellung der pawrn empörung ichtzit (rechtzeitig).«30 Menzingen bestreitet jedoch ein Aufrührer zu sein. Er verweist vielmehr darauf, dass andere Bürger »einen verstand anfänglich mit den pawern uff dem land gehapt und gemacht haben.«31 Er bestreitet die Ursache gesetzt zu haben und hier wird nun erstmals der später im Verfahren so bedeutsame Tatbeitrag des »Ursachers« eines Aufruhrs problematisiert. 30 31
Baumann (Fn. 4), 543. Dies ergibt sich aus dem Vernehmungsbericht Schwarzenbergs an Casimir, Baumann (Fn. 4), 557.
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Strafmaßnahmen und erster endlicher Rechtstag
Mit Schreiben vom 28.6.1525 kündigte Casimir für den folgenden Tag seine Ankunft in Rothenburg an. An diesem Tag sandte er zunächst zwei Fähnlein Landsknechte und annähernd 300 Reiter nach Ohrenbach und Brettheim und ließ die Dörfer mit Einverständnis des Rothenburger Rats plündern und bis auf den Grund niederbrennen. Mit dieser Strafmaßnahme versuchte der für die Strafexpedition zuständige Bund die Ordnung auf städtischem Gebiet wiederherzustellen. »Diese Maßnahmen gegen die Bevölkerung als Ganzes beruhen nicht nur auf einem Sicherheitsbedürfnis, sondern, soweit sie Strafe bedeuten, auf der Annahme einer Kollektivschuld, d. h. auf der Überzeugung, dass jeder einzelne Untertan des Landes für die Ereignisse während der Empörung verantwortlich und daher zur Rechenschaft zu ziehen sei.«32
Das Niederbrennen und die Zerstörung eines Dorfes der Übeltäter ist dem mittelalterlichen Recht nicht nur als Nebenstrafe bekannt, sondern auch als Folge der Acht wie sie gegenüber einem Aufrührer bestand. Daneben diente die Plünderung auch zur Abdeckung von Kriegskosten und als Ersatz für entgangene Beute.33 Am selben Tag, am 29.6.1525, wurden aufgrund der vom Inneren Rat gegebenen Hinweise durch den Stadtschreiber Zweifel Proskriptionen erstellt, eine Auflistung der Haupttäter und der weiteren Aufrührer, auch sie wurden dem Markgrafen vorgelegt. Menzingen hatte jedoch, wie ausgeführt, bestritten ein »Aufrührer«, d. h. nach seiner Ansicht der alleinige Urheber, der Ursacher des Aufruhrs zu sein. Und viele dieser Anklagepunkte in Menzigens Urgicht betreffen auch nicht die Erfüllung dieses Tatbestands. Am 30.6. versammelten sich auf Befehl des Schwäbischen Bundes die Bürger auf dem Marktplatz und es wurden die Strafartikel verlesen. Sie, die Gemeinde hätte demnach gegen die kaiserliche Majestät das crimen laesae maiestatis begangen »gegen den Rat als ihrem natürlichen Herrn, war sie treulos, abfällig und meineidig geworden und hätte damit den Kurfürsten, Fürsten sowohl geistlichen und weltlichen und dem gemeinen Adel und anderen merklichen Schaden zugefügt. Sie hätte damit auch wider den kaiserlichen Landfrieden gehandelt.«34 32 33 34
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Mayer (Fn. 2), 27. Mayer (Fn. 2), 27. Baumann (Fn. 4), 549.
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Nach dem Schwur der Gemeinde auf den Pflichtbrief, auf Kaiser und Reich, begann die Abrechnung mit weiteren Aufrührern. Aus der Proskriptionsliste wurden zehn Personen ausgewählt und sofort durch das Schwert des Brandenburger Scharfrichters Augustin hingerichtet.35 Vier weitere Bürger baten um Gnade und wurden zunächst bei den Rädelsführern im Büttelhaus verwahrt.36 Die Hinrichtung der zehn erfolgte ohne rechtsförmliches Gerichtsverfahren, nach den Grundsätzen des »mit oder ohne Recht«. Ihre Allein- oder Mittäterschaft am Tatbestand des Landfriedensbruchs lag ausweislich der vom Rat verfertigten Liste vor. Allein auf ihren objektiven Tatbeitrag wurde bei der Strafverfolgung abgestellt. Auffallend ist nun, dass weder Menzingen, noch Teuschlein, noch der blinde Mönch Schmid in den Kreis der am 30.6. Gerichteten einbezogen wurden. Auch die vier Bürger die um Gnade baten und zunächst verschont wurden, warf man erneut in den Turm. 7
Die Prüfung der Urgicht Menzingens: Ursacher oder Urheber?
Die Urgicht Menzingens wurde nun Casimir von Brandenburg ausgehändigt, der sie, da sie sich ja gegen seinen Lehensmann Menzingen richtete, sicherlich eingehend prüfte. Offensichtlich stellte sie ihn nicht zufrieden und Casimir ließ daher die Vorwürfe weiter untersuchen. Dazu beauftragte er keinen geringeren als Johann von Schwarzenberg, seinen Hofmeister und Hofjuristen. Ihm oblag nun die weitere Vorgehensweise. Hierzu lud er Bürgermeister und Stadtschreiber ein der Überprüfung beizuwohnen, doch ohne weitere Kompetenz. Daher begaben sich der Bürgermeister Bonifats Wernitzer und Thomas Zweifel, der Stadtschreiber, auf Seiten der Stadt, auf Seiten des Markgrafen aber Johann von Schwarzenberg und Wolfgang von Wiesentau in das städtische Büttelhaus, wo man Stefan von Menzingen verwahrte.37 Es wurden nun die vier am Vortag gnadenhalber im Büttelhaus verwahrten Bürger zu den Vorwürfen gegen Menzingen gehört. Thomas Zweifel teilt hierzu mit: »Herr Hans von Schwarzenberg understund allain zu erkundigen, wie sich der Menzinger (…) gehalten hett.« Die Befragung führte also Johann von Schwarzenberg ausschließlich durch. Es handelt sich hier verfahrensrechtlich um eine Besagung mit dem Ziel Informationen durch Mitbeschuldigte zu erlangen. Allerdings handelte es sich dabei nicht um »genugsame« Zeugen, da 35 36 37
Baumann (Fn. 4), 552. Baumann (Fn. 4), 552. Baumann (Fn. 4), 555.
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sie bereits unter Anklage standen, mithin verleumdet waren (so die spätere CCC Art. 66). Menzingen hatte seine ursächliche Beteiligung am Aufruhr abgestritten und darauf verwiesen, dass bereits im Vorfeld durch andere Personen Absprachen mit dem Ziel des Aufruhrs getroffen wurden. Die vier Befragten konnten zu seiner Beteiligung entweder nichts zur Sache aussagen oder sie verneinten, dass Menzingen zum Aufruhr aufgerufen habe.38 In Zweifels Zusammenfassung dieser Befragung zeigt sich, dass bei Schwarzenberg ausschließlich die Frage der Ursächlichkeit hinsichtlich des Aufruhrs für die Frage der Tatbeteiligung im Mittelpunkt stand. Zweifel schreibt als Ergebnis von Schwarzenbergs Untersuchung weiter: »Dieweil Menzinger nit geraten hett, sich zu den pawern zu verbinden, unangesehen das er anfänglich derselben die gemaind aim rat abfällig gemacht, ain rat seiner regierung entsetzt und die pewerischen uffruhr zu stillen verhindert sei er ledig zu machen.«39
Schwarzenberg kam also zu dem Schluss, dass Menzingen kein »Ursacher« und damit frei zu lassen wäre. Dies war ein, angesichts der Einschätzung des Rothenburger Rats hinsichtlich des Tatbeitrags Menzingens, überraschendes Ergebnis. Diese Beschränkung des Tatbeitrags bei Schwarzenberg folgt dem Artikel 152 CCB, welche den Aufruhr wie folgt definiert: »Item so einer in unsern obrigkeiten oder gebieten auffrur des gemeynen volks machet, und der als ein ursacher erfunden wird (…).« Diese Regelung wurde, nachdem noch der erste Entwurf zur Carolina von 1521 am Tatbestandsmerkmal des »Ursachers« festhielt, später in der CCC Art. 127 abgeändert, dort heißt es nicht mehr, »der als ein ursacher erfunden wird« sondern neben »fürsetzliche und boshafftige auffruren des gemeinen volks wider die oberkeit macht, und dass also auff ihn erfunden würde.« Hier wird deutlich über Schwarzenbergs Tatbestandsmerkmal einer restriktiven »Ursache« hinausgegangen. Die Literatur hat die Formulierung der CCB unterschiedlich interpretiert.: »So wird zum Teil darin die Strafbarkeit der Aufwiegelung gesehen, zum Teil die der Anstiftung, bzw. der mittelbaren Täterschaft, aber auch das Aufstehen des Volkes selbst.«40 Als Ursacher bei Schwarzenberg galt nur derjenige, welcher ganz am Anfang der Ereignisskette, den ersten Schritt zum Aufruhr unternommen hatte, nicht jedoch, wer später einem bereits bestehenden Ereignis 38 39 40
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Baumann (Fn. 4), 557. Baumann (Fn. 4), 556 f.; Roth (Fn. 2). Roth (Fn. 2), 106 m. w. N.
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hinzutrat. Es liegt nahe, den Begriff des »Ursachers« mit dem Begriff des »Urhebers« gleichzusetzen. Da Menzingen auf andere, vorgängige Beteiligte hinwies, und dies durch Zeugen belegt wurde, konnte er nicht wegen des Aufruhrs in der Rechtssicht Schwarzenbergs verurteilt werden. Insoweit hat diese Mitteilung Klarheit über die in der CCB niedergeschriebene Auffassung Schwarzenbergs dahingehend gebracht, dass Ursacher, Urheber, auctor, nur derjenige sein kann der den Aufruhr herbeigeführt hat, sei es als Anstifter oder als Täter. Das Befragungsergebnis Schwarzenbergs wurde dem Markgrafen ausgehändigt und es schien nun so, als würde sich das Verfahren zugunsten Menzingens entscheiden. 8
Letzte Intervention und Hinrichtung
Für den Samstag den 1.7.1525 sollte jedoch mit den Hinrichtungen von Beschuldigten fortgefahren werden. Erneut wurde Menzingens Ehefrau aktiv und suchte mit einigen Bürgerinnen den Markgrafen auf. Sie bot nun, so Zweifel, dem Markgrafen 1.000, ja 2.000 Gulden für die Freilassung ihres Gatten. Eine mögliche Begnadigung gegen die Zahlung einer hohen Summe Geldes war auch bei Casimir nichts Ungewöhnliches und ist andernorts belegt (Fall eines reichen Bauern in Lehrberg mit einer Begnadigung gegen 1.000 fl. Strafzahlung). Casimir neigte nun dazu, Menzingen frei zu lassen. Zweifel schreibt: »(er, Casimir) ließ stattlich handeln, allerlay mittel und weg furnam, ine (Menzingen) ledig zu lassen.«41 Diese Vorgehensweise empörte den Rothenburger Rat und er ließ »dieses vorhaben und begern ablainen und von Menzingers handlung (beim Markgrafen) berichten und darbey lauter reden«, dass wenn Casimir Menzingen nicht verurteilte, hätte er, Casimir, den am Vortag hingerichteten zehn Bürgern Unrecht getan, denn Menzinger wäre der »rechte hauptsächer, anfenger und ursacher der uffrur, hette die andern all verführt.«42 Casimir ließ nun die Räte einzeln vernehmen und ihre Aussagen niederschreiben. Letztlich lenkte er ein, vielleicht weil der Rothenburger Rat nicht nachgab, und folgt man Bensen, sogar durchblicken ließ, man wolle sich bei Truchsess von Waldburg über Casimir beklagen. Möglicherweise wog auch der Vorwurf eines »ungerechten Richters« so schwer, dass er sich umstimmen ließ. Casimir ließ daher den Gefangenen Menzingen mit dem blinden Mönch und Teuschlein, nebst den vier verhörten Aufrührern vom Vortag noch am selben Vormittag auf dem Marktplatz mit dem Schwert hinrichten. Dem Be41 42
Baumann (Fn. 4), 557. Baumann (Fn. 4), 558.
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richt des Markgräflichen Obersten Hauptmanns über das Fußvolk, Michel Groß von Trockau, ist die folgende Schilderung entnommen: »Kam also aus Burckbernheimb gen Rottenburg der Marggrav den Donnerstag Petri und Pauli, 29.Junii, und ließ volgenden Tags, im Nahmen des Bunds ausruffen, das jeder Burger in der Statt Hora 7 auf dem Markh erscheinen solle, wie dass auch von Burgermeister und Rat geschehen, da hat man die Aufrührer verlesen, an einen sondern Ort gestellet und deren deßselben Tags 18 und folgenden Tags Dr. Johann Teuscheln, Predigern, Steffan Mentzingern, den blinden Barfußer-München sampt 2 Burger und zwei Baurn und also in 2 Tagen 25 enthaupt und hin und widerauf dem Markh ligen laßen andern zur Straff und Abscheu. Diese sind ganz willig zum Tod gewesen, haben sich selbst weil sie ledig und ungebunden) entblöst, und mit aufgehobenen Hemden gebetet; O Herr Jesus, laß uns dein Blutvergießung ein Abwaschung unserer Sünden sein, etc, etc, trösteten immer einer den andern und knieten mit Freudigkeit nider. Allein der Mentzinger was etwas verzagt, den musst Dr. Teuschel stets trösten, und wollte Meister Augustin am blinden München eine Künheit begehen und ihne stehend richten, aber es mißriet ihme der Streich, daß der Münch darnider sunke und sich wider aufbemmert und erst im andern Streich gericht ward.«43
IV Die Prozessführung und Schluss Wie ist nun die Prozessführung durch Casimir zu beurteilen? Die geltenden Rechtsgrundlagen für die Verfolgung waren, wie bei der Schwurzeremonie angesprochen, das Reichsrecht, hier die goldene Bulle, die Reformation Friedrichs II, der Ewige Landfrieden (Fehdeverbot) und das gemeine Recht. Der getroffene Hinweis auf das crimen laesae majestatis verweist seinerseits auf das römische Recht (397 n. Chr. Kaiser Arcadius lex quisquis).44 In späteren Zeiten wurde in den Schutzbereich der Norm auch jedweder Landesherr und auch die Städte einbezogen, sodass das c. l. m. auch gegen die Stadt Rothenburg begangen werden konnte. Allerdings wird in der CCB (Bambergensis) der Schutzbereich auf den Kaiser beschränkt, ein Umstand der sich auch in den vorgelesenen Strafartikeln gegen die Stadt niederschlägt. Durch die Teilnahme am Aufruhr hatten alle Teilnehmer Landfriedensbruch begangen, der nach dem Reichsrecht zur Acht führte. 43 44
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Franz, Quellen zur Geschichte des Bauernkriegs, 1963, 399 f. Roth (Fn. 2), 55.
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Damit waren sie außerhalb der Rechtsordnung gestellt und konnten von jedermann an Leib und Gut angegriffen werden. Hinsichtlich der Strafverfolgung des Landfriedensbruchs und der Strafe wurde später nicht zwischen Tätern, Mittätern und Gehilfen unterschieden. Alle Beteiligten wurden als Täter im Sinne der Landfriedensgesetzgebung angesehen.45 Untersucht man die etwaige Einbeziehung Rothenburger Territorialrechts hinsichtlich der verhängten Strafen, so zeigt sich eine unterschiedliche Entwicklung. Wurden zunächst noch im Statutenbuch I (1172–1803) Verstöße nach der Vorschrift: »Von fridhalten und gehorsam« mit der Geldstrafe sanktioniert, so wurde in der Zeit von etwa 1375–1452 der innerstädtische Aufruhr mit Stadtverweisung bestraft. Rädelsführer des Handwerkeraufstandes von 1452 wurden bereits mit der Schwertstrafe gerichtet. In der vorreformatorischen Zeit wurde das Strafmaß deutlich verschärft um unter den Einwohnern Ruhe und Ordnung zu halten. Auffallend bleibt in Menzingens Fall jedoch, dass Schwarzenberg sich ausschließlich auf die Frage der Anstiftung (Ursache) zum Aufwiegeln konzentrierte. Hier könnte eine rezipierte Spezialbestimmung, nämlich Digesten D 48,4 1.I. maßgeblich geworden sein.46 Sie lautet »quo tenetur is, cuius opera dolo malo consilium initum erit.« Daraus wurde abgeleitet, dass nur der Aufwiegler bestraft wird, nicht aber die sonstigen Täter. Läge diese Stelle zugrunde, so wäre dies ein Indiz für die tastende Annäherung der Gesetzgebung an den Tatbestand des Aufruhrs um 1525. Tatsächlich hat sich diese restriktive Auslegung der Regelung in der Folgezeit nicht durchgesetzt, sondern man ging von der Strafgleichheit aller Beteiligten aus. Casimirs Vorgehen in seiner Strafexpedition durch Franken zeichnet sich durch eine ungewöhnliche Brutalität aus. Michael Groß von Trockau führt aus, dass Casimir 80 Personen enthaupten ließ (allein in Rothenburg 25) und weiteren 69 wurden die Augen ausgestochen und die Finger abgeschlagen.47 Wie lässt sich das zögerliche Vorgehen gegen Menzingen erklären? Folgt man der seit Thomas Zweifel unter den Historikern feststehenden Meinung, so könnten die Gründe für Schwarzenbergs Vorgehensweise in dem Umstand liegen, dass Menzingen Lehensmann des Markgrafen war und dieser sich zu dessen Schutz durch den Lehenseid verpflichtet fühlte. Zu überlegen wäre auch, ob der auch während der Aufstandsperiode gepflegte rege Briefverkehr Menzingens mit dem Markgrafen, in welchem sich auch über die Entwicklung des Aufstands in ganz Franken 45 46 47
Mayer (Fn. 2), 33. Roth (Fn. 2), 30. Franz (Fn. 43), 401.
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ausgetauscht wurde, der Grund sein könnte. Hier hat Menzingen wohl gegenüber der Stadt und ihren Bürgern ein doppeltes Spiel betrieben. Möglicherweise war auch das frühzeitig in der Stadt bekanntgewordene Angebot von Menzingens Ehefrau vom 1.7.1525, in welchem dem Markgrafen 1.000 oder 2.000 Gulden für die Freigabe ihres Ehemannes geboten wurden, allzu verlockend. Auch der Austausch der eingeräumten Fürschriften Karlstadts durch Vermittlung Menzingens für Schwarzenberg und Casimir könnten möglicherweise zur Desavouierung des Brandenburgers und Schwarzenbergs geführt haben, was es zu verhindern galt. Letztlich könnte die nur bei Bensen mitgeteilte Drohung des Rats, sich gegebenenfalls an den Truchsess von Waldburg zu wenden, zum späteren aber doch erkennbar zögerlichen Umdenken bei Casimir geführt haben. Bleibt abschließend festzuhalten, dass der Fall Menzingen ein spannendes Kapitel in der Stadtgeschichte Rothenburgs ist, welcher auch zur Aufhellung des juristischen Begriffs des »Ursachers« bei Schwarzenberg wesentliches beizutragen vermag.
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Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Wolfgang Behringer: Ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für Frühe Neuzeit an der Universität des Saarlandes Prof. Dr. Andreas Blauert: Apl. Professor am Fachbereich Geschichte und Soziologie der Universität Konstanz Prof. Dr. Udo Ebert: Ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Strafrechtsgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Prof. Dr. Jan Eichelberger, LL. M. oec.: Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Immaterialgüterrecht und IT-Recht an der Leibniz-Universität Hannover Dr. Markus Hirte, LL. M.: Geschäftsführender Direktor des Mittelalterlichen Kriminalmuseums in Rothenburg ob der Tauber Prof. Dr. Arnd Koch: Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Risiko- und Präventionsstrafrecht sowie Juristische Zeitgeschichte an der Universität Augsburg Prof. Dr. Elisabeth Koch: Ehemalige Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Römisches Recht und Europäische Rechtsgeschichte an der FriedrichSchiller-Universität Jena Prof. Dr. Ralf Kölbel: Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht und Kriminologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München 237
238 Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Heiner Lück: Ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Europäische, Deutsche und Sächsische Rechtsgeschichte an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg Prof. Dr. Dr. h. c. Barna Mezey: Ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für Ungarische Staats- und Rechtsgeschichte an der Eötvös-Loránd-Universität Budapest Prof. Dr. Daniela Müller: Professorin für Kirchengeschichte und Kanonisches Recht sowie für Geschichte des Christentums an der Radboud-Universität Nijmegen Dr. Karl-Heinz Schneider: Ehemaliger Direktor des Mittelalterlichen Kriminalmuseums in Rothenburg ob der Tauber Dr. Michael Schröter: Diplom-Soziologe, Freier Autor und wissenschaftlicher Übersetzer, Gastwissenschaftler am Institut für Geschichte der Medizin an der Charité, Berlin
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239 Psychosozial-Verlag Andreas Blauert
Frühe Hexenverfolgungen
Ketzer-, Zauberei- und Hexenprozesse des 15. Jahrhunderts Rothenburger Gespräche zur Strafrechtsgeschichte, Band 7
2020 · 183 Seiten · Broschur ISBN 978-3-8379-2872-3
Diese Pionierstudie unterzieht die Anfänge der Hexenverfolgungen im 15. Jahrhundert in Form einer Regionalstudie einer kritischen, neue quellenerschließenden Neubetrachtung. Der Kern der Untersuchungsregion liegt im Dreieck der Schweizer Städte Luzern, Lausanne und Neuchâtel, die in einen weiten europäischen Kontext gestellt werden. Andreas Blauert beleuchtet dafür unter anderem die mit dem frühen Hexenglauben verwandten Konzepte, die ersten Hexenprozesse um 1430/40 oder die Mittlerfunktion des Basler Konzils 1431–1449 bei der Formulierung und Weitervermittlung des jungen Hexenglaubens. Die Abfassung des berühmt-berüchtigten Hexenhammers des Heinrich Institoris wird von ihm in den Zusammenhang einer ersten größeren Hexenprozesswelle der Jahre 1477–1486 gestellt. Mit der Zusammenführung traditioneller mediävistischer und neuerer sozialgeschichtlicher Forschungsansätze gelingen dem Autor so bahnbrechende, modellhafte Einsichten in die Entstehungsgeschichte des Hexenbegriffs und in die Geschichte der frühen Hexenprozesse in Europa.
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