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German Pages [340] Year 1999
V&R
J O C H E N WALLDORF
Realistische Philosophie Der philosophische Entwurf Adolf Schlatters
Mit einem Vorwort von Wilfried Härle
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Wolfhart Pannenberg, Reinhard Slenczka und Gunther Wenz Band 90
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Walldorf, Jochen: Realistische Philosophie: der philosophische Entwurf Adolf Schlatters / Jochen Walldorf. Mit einem Vorw. von Wilfried Härle. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1999 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie; Bd. 90) Zugl.: Marburg, Univ., Diss., 1996/97 ISBN 3-525-56297-7
© 1999 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort Während Adolf Schlatter in dem durch Pietismus und Erweckungsbewegung geprägten Bereich des Protestantismus, den man heute als „evangelikal" bezeichnet, immer starkes Interesse gefunden hat, ist die wissenschaftliche Theologie an ihm lange Zeit relativ achtlos vorbeigegangen. Schlatter hatte (und hat weithin) das Odium, ein konservativer, unkritischer bibüzistischer Theologe zu sein, bei dem man für heutige Fragestellungen und Auseinandersetzungen wenig gewinnen kann. In der Neutestamentüchen Wissenschaft ist jedoch bereits seit zwei Jahrzehnten eine Wiederentdeckung und Rehabilitierung Schlatters im Gange, die vor allem von P. Stuhlmacher angestoßen wurde. Inzwischen hat aber auch in der Systematischen Theologie eine verstärkte Zuwendung zu diesem eigenwilligen Schweizer Theologen stattgefunden, und zwar nicht nur in Deutschland, wo vor allem die Arbeiten von W. Neuer zu nennen sind, sondern auch in den USA. Daß Jochen Walldorf sich in seiner vorliegenden Dissertation nun der philosophischen Konzeption Schlatters (d.h. seiner Erkenntnistheorie sowie seiner allgemeinen und speziellen Metaphysik) zuwendet, erschließt einen neuen Aspekt seines Werks für die wissenschaftliche Öffentlichkeit. Dabei trifft Schlatter auch in diesem Bereich auf das Vorurteil, seine „Realistische Philosophie" sei erkenntnistheoretisch naiv und schon durch Kant überholt gewesen, bevor sie überhaupt niedergeschrieben wurde. Aber auch dieses Vorurteil muß man nach der Lektüre der Arbeit von Walldorf einer Revision unterziehen. Die philosophische Konzeption Schlatters ist mir durch Walldorfs Arbeit wesentlich interessanter und sympathischer geworden, als sie es vorher (mangels umfassender eigener Kenntnis) war. Es gibt bei Schlatter eine ganze Reihe von Denkansätzen, die ich für anregend und zukunftsweisend halte, so sein Denken in Polantäten, seine Betonung des dynamischen Charakters der Wirklichkeit und sein (implizites) Arbeiten mit einem dreistelligen Zeichenbegriff. Das alles wird in der vorliegenden Arbeit auf differenzierte, einfühlsame und gut nachvollziehbare Weise gezeigt. Besondere Erwähnung verdient der Schlußparagraph dieser Arbeit. Hier beweist Walldorf, daß er die neuere Diskussion über die philosophischen Grundlagen und Grundfragen naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse und Theoriebildungen in beeindruckender Extensität und Intensität zur Kenntnis genommen und so verarbeitet hat, daß er den Ertrag seiner Schlatter-Forschung in fruchtbarer Weise zu diesen Diskussionen in Beziehung zu setzen vermag.
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Vorwort
Auch im Blick auf diesen weiten Horizont, in den das Buch einmündet, freue ich mich darüber, daß diese gründlich erarbeitete, interessante und lehrreiche - und überdies gut lesbare - Dissertation nun für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Heidelberg, 10. November 1998
Prof. Dr. Wilfried Härle, Heidelberg
Danksagung Die vorliegende Untersuchung wurde unter dem gleichen Titel (statt „Entwurf" hieß es nur „Konzeption") im Wintersemester 1996/97 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie geringfügig überarbeitet. Der Abschluß einer größeren wissenschaftlichen Arbeit ist immer Anlaß zu vielfältigem Dank. Ich danke an erster Stelle meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Wilfried Härle, der das Werden dieser Arbeit stets mit Interesse begleitet und manche wertvollen Hinweise gegeben hat. Zugleich danke ich ihm sowie Herrn Prof. Dr. Theodor Mahlmann für die Erstellung der Gutachten, die zur Annahme als Dissertation geführt haben. Die Studienstiftung des deutschen Volkes und die Hessische Lutherstiftung haben das Entstehen der Arbeit jeweils durch ein einjähriges Stipendium gefördert; die Herausgeber der „Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie" haben die Untersuchungen in ihre Reihe aufgenommen; die Schlatter-Stiftung, der Arbeitskreis für biblisch erneuerte Theologie (AfbeT), die Vereinigte Evang.-lutherische Kirche Deutschlands (VELKD), die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) und der Arbeitskreis für evangelikale Theologie (AfeT) haben z.T großzügige Druckkostenzuschüsse zur Finanzierung des Buches gewährt ihnen allen möchte ich herzlich danken. Des weiteren danke ich Herrn Dr. Werner Neuer, der mich in meiner Arbeit insbesondere durch seine umfassende Kenntnis der unveröffentlichten Manuskripte und Briefe Adolf Schlatters unterstützt und immer wieder auf interessante Zusammenhänge aufmerksam gemacht hat. Schließlich möchte ich Eva, meiner Frau, danken, die mir in vielem den Rücken frei gehalten und die Arbeit engagiert begleitet hat, sowie unseren Kindern, die des öfteren auf mich verzichten mußten. Ich widme dieses Buch einem alten Kreis von guten Freunden, die mich schon seit langem begleiten, mir viele wertvolle Anstöße für mein Denken und Glauben gegeben und mein Leben in mancherlei Hinsicht bereichert haben. Pohlheim, im Januar 1999
Jochen Walldorf
Inhalt § 1 Der Forschungsstand
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§ 2 Aufriß der Philosophie Schlatters
22
I. Begriff und Aufgabe von Philosophie, Theologie und Wissenschaft Π. Aspekte des philosophischen Denkens Schlatters A. Allgemeine Metaphysik 1. Die Aufgabe der Metaphysik 2. Das Verhältnis von Metaphysik und Theologie 3. Struktur und Methode der Metaphysik B. Philosophische Anthropologie, Kosmologie und Theologie (spezielle Metaphysik) C. Erkenntnistheorie D. Philosophische Ethik § 3 Die Erkenntnis der Wirklichkeit: Erkenntnistheorie I. Analyse der Erkenntnis A. Der „Denkakt'* 1. Die Wahrnehmung a) Der Wahrnehmungs- oder „Sehakt" b) Der Wirklichkeitsbezug der Wahrnehmung c) Die Weite des Wahrnehmungsbegriffs d) Subjektivität und Objektivität von Wahrnehmung und Erkenntnis 2. Das Urteil a) Die Urteilsbildung b) Der Begriff c) Subjektivität und Objektivität der Urteils- und Begriffsbildung B. Die Möglichkeitsbedingungen des „Denkakts": Die Frage nach apriorischer Erkenntnis 1. Erkenntniskategorien und Seinskategorien 2. Ablehnung einer erfahrungsunabhängigen und geschichtslosen,,reinen' Vernunft 3. Resümee
22 30 30 30 34 36 38 45 47 51 52 52 53 53 57 60 65 73 73 82 85 87 87 95 101
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Inhalt C. Finaütät der Erkenntnis 1. Das immanente Ziel der Erkenntnis: Die Wahrheit a) Die Wahrheitstheorie Schlatters b) Die Einheit der Wirklichkeit als Bedingung ihrer Signifikanz für eine einheitliche Wahrheit 2. Das transeunte Ziel der Erkenntnis: Der „Lebensakt" II. ,Kritik'der Erkenntnis A. Schlatter - ein Befürworter der Erkenntniskritik? B. Subjektivität oder Subjektivismus? Die Frage nach Bewußtsein und Wirklichkeit C. Kritischer Realismus - Ergebnisse und Begründungen 1. Schlatter als kritischer Realist 2. Empirische Affirmationen des kritischen Realismus a) Bewährung der Erkenntnis an der im Selbstbewußtsein gegebenen Einheit von Bewußtsein und Wirklichkeit (Bewährung an der inneren Erfahrung) b) Bewährung der Erkenntnis an der Unterscheidbarkeit von Vorstellung (Phantasie) und Wahrnehmung c) Bewährung der Erkenntnis an der äußeren Erfahrung . . . . d) Bewährung der Erkenntnis an der„Positivität" des Seienden und der zur Struktur des Seienden gehörenden Korrekturmöglichkeit e) Bewährung der Erkenntnis am Phänomen zwischenmenschlicher Kommunikation f) Bewährung der Erkenntnis im beständigen Existenzvollzug 3. Metaphysisch-theologische Letztbegründung des kritischen Realismus D. Die Grenzen der Erkenntnis
102 102 102 108 112 114 114 118 123 123 125 125 126 127
128 131 132 133 141
§ 4 Die Grundstrukturen der Wirklichkeit: Allgemeine Metaphysik I. Überblick über die Kategorientafel Schlatters II. Entfaltung der Kategorientafel A. Einheit und Vielheit 1. These 2. Entfaltung der These 3. Abgrenzung gegenüber alternativen metaphysischen Theorien . . 4. Verbindungslinien zur Theologie
146 147 150 151 151 152 155 159
Inhalt
9
Β. Gleichheit und Verschiedenheit (Ähnlichkeit)
162
1. Die These und ihre Entfaltung
162
2. Abgrenzung gegenüber alternativen metaphysischen Theorien . .
163
3. Verbindungslinien zur Theologie
167
C. Wirkung
169
1. These
169
D.
E.
F.
G.
2. Entfaltung der These und Abgrenzung gegenüber alternativen metaphysischen Theorien 3. Verbindungslinien zur Theologie Sein und Werden 1. These 2. Entfaltung der These und Abgrenzung gegenüber alternativen metaphysischen Theorien 3. Verbindungslinien zur Theologie Räumlichkeit 1. These 2. Entfaltung der These und Abgrenzung gegenüber alternativen metaphysischen Theorien 3. Verbindungslinien zur Theologie Zeitlichkeit 1. Die These und ihre Entfaltung 2. Verbindungslinien zur Theologie Wissen und Gewußtsein 1. These 2. Entfaltung der These und Abgrenzung
170 177 181 181 183 188 193 193 194 195 196 196 197 199 199
gegenüber alternativen metaphysischen Theorien
199
3. Verbindungslinien zur Theologie
203
H. Wille
203
1. These
203
2. gegenüber Entfaltung alternativen der These und Abgrenzung Theorien metaphysischen
204
3. Verbindungslinien zur Theologie
211
Exkurs: Schlatters Auseinandersetzung mit dem „Griechentum"
. . . .
214
§ 5 Der Aufbau der Wirklichkeit: Spezielle Metaphysik
225
I. Grundzüge philosophischer Anthropologie A. Personalität B. N a t u r a t e (Leiblichkeit)
225 227 230
Inhalt
10 C. Sozialität
233
D. Gottesbezogenheit als Fundierung des anthropologischen Strukturschemas
236
II. Grundzüge philosophischer Kosmologie (Naturlehre)
244
A. Die ,geistigen' oder intelligiblen Strukturen der Natur
245
1. Die Zahl als intelligible Struktur
245
2. Das Gesetz als intelligible Struktur
246
3. Der Typus als intelligible Struktur
246
4. Der Zweck als intelligible Struktur B. Das Verhältnis von Naturphilosophie und Naturwissenschaft
248 . . .
III. Grundzüge philosophischer Theologie (Gotteslehre)
249 251
A. Die formale Struktur der Gotteserkenntnis
252
B. Die materiale Ausprägung der Gotteserkenntnis
263
§ 6 Einordnung, kritische Würdigung und Ausblick: Schlatters Entwurf einer „realistischen Philosophie" im Gespräch . . I. Schlatters philosophischer Entwurf als „realistische Philosophie" Π. Schlatters Stellung innerhalb der philosophischen Tradition und im philosophischen Denken seiner Zeit
273 273 277
ΙΠ. Anspruch und Intention von Schlatters philosophischem Entwurf
282
IV. Sachgemäßheit und Relevanz von Schlatters philosophischem Entwurf
284
A. Schlatters Entwurf in seinem theologiegeschichtlichen Kontext . . .
284
B. Schlatters Entwurf im Lichte heutigen Denkens
285
1. Erkenntnistheorie
286
2. Allgemeine Metaphysik
293
3. Spezielle Metaphysik
299
a) Philosophische Anthropologie
300
b) Philosophische Naturlehre
307
c) Philosophische Theologie
310
4. Resümee und Ausblick Literaturverzeichnis Namenregister
319 324 335
§ 1 Der Forschungsstand Versucht man sich einen Überblick über den Stand der Forschung hinsichtlich des umfassenden theologischen und philosophischen Wirkens Adolf Schlatters zu verschaffen, so fällt zunächst auf, daß dem Neutestamentier Schlatter die größte Aufmerksamkeit zuteil geworden ist und auch weiterhin zuteil wird. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als Schlatter auf diesem Gebiet in quantitativer Hinsicht seine bedeutendste Wirksamkeit entfaltet hat. Ein kurzer Blick auf seine zahlreichen Publikationen genügt, um in der Erforschung und Auslegung des Neuen Testaments und seines jüdisch-palästinensischen Hintergrundes den Schwerpunkt von Schlatters Forschungstätigkeit zu erkennen.1 Hier hat er auch allgemeine Anerkennung von Seiten der theologischen Wissenschaft gefunden.2 Ist man sich aber des großen Gewichtes bewußt, das Schlatter neben seiner exegetisch-historischen Arbeit - auf seine systematische Arbeit gelegt hat, und vergegenwärtigt man sich, daß hier für ihn Grundentscheidungen auch über den Weg der Exegese fallen,3 so nimmt es Wunder, daß das systematisch-theologische und philosophische Denken Schlatters in der Fachwelt nur verhältnismäßig wenig berücksichtigt wurde. Seine Bedeutung wird vielfach auf das Gebiet der neutestamentlichen Wissenschaft beschränkt. 4 Auf die Gründe für dieses Faktum kann an dieser Stelle nur beiläufig hingewiesen werden. W. Neuer, der sich am ausführlichsten damit beschäftigt hat, kommt zu dem Schluß, daß „Schlatters systematisch-theologischer Entwurf... durch das 1 Vgl. Neuer, Zusammenhang 20f. Hier sind vor allem seine wissenschaftlichen Kommentare zum NT, seine Gesamtdarstellung neutestamentlicher Theologie und seine allgemeinverständlich geschriebenen „Erläuterungen zum Neuen Testament" zu nennen. 2 Dies wird beispielsweise durch die in einem Gedenkheft des Calwer Verlages 1977 zusammengestellten Urteile ganz verschiedener Neutestamentier deutlich (vgl. Adolf Schlatter, 1852-1938. 125 Jahre. Seine Werke im Calwer Verlag, Stuttgart 1977). Darüber hinaus sieht der englische Bischof S. Neill in Schlatter - den er neben die großen Ausleger Augustin, Calvin, Bengel und Westcott steËt - einen Autor, „to whom we shall always turn with gratitude for the timeless insights that are to be found in their writings" (zit. nach Gasque 22). In jüngster Zeit setzt sich vor allem P. Stuhlmacher für eine Neubesinnung auf den Exegeten Schlatter ein (vgl. Stuhlmachers Aufsatz „Adolf Schlatter als Bibelausleger" u.a.m.). 3 Vgl. hierzu vor allem die hermeneutisch-erkenntnistheoretische Position Schlatters, die er im Rahmen seiner Dogmatik näher entfaltet (Dogma 89ff. u.ö.), und die gerade auch für die exegetischen Untersuchungen von größter Wichtigkeit ist. Auf dieser Linie liegt wohl auch die Aussage Kindts, daß „Schlatters eigentlicher theologischer Beitrag auf dem Gebiet der Dogmatik anzusetzen" sei (Kindt, Gedanke der Einheit 160). 4 So ζ. B. Luck, R G G V 1420. Vgl. Neuer, Zusammenhang 21,24, sowie Bailer, nach dem die Tatsache, daß Schlatter „auch - und nicht am wenigsten - Systematiker war, weitgehend in Vergessenheit geraten ist" (Bailer 19).
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Der Forschungsstand
A u f k o m m e n der Dialektischen Theologie in den 2 0 e r Jahren verdrängt [wurde], so daß er keine tiefere Wirkung entfalten k o n n t e " . 5 Dies bestätigt ein Blick auf die Wirkungsgeschichte des Systematikers Schlatter: W ä h r e n d sein W e r k vor den 2 0 e r Jahren eine durchaus beachtliche R e s o n a n z gefunden hatte, was auch durch seine Schüler W . Lütgert u n d P. Althaus z u m Ausdruck k a m , so verlor es nach d e m Entstehen der Dialektischen Theologie z u n e h m e n d an Einfluß auf die theologische Diskussion seiner Zeit. 6 W i e unmittelbar davon nun auch das philosophische D e n k e n Schlatters betroffen war, zeigt sich schon an der Tatsache, daß seine systematisch-philosophischen Uberzeugungen nicht allein im R a h m e n seiner Analyse der mit Descartes einsetzenden philosophiegeschichtlichen E n t wicklung {Die philosophische
Arbeit seit Cartesius, 1906) z u finden sind, sondern
ebenso innerhalb der primär theologischen Ausarbeitungen zu dogmatischen u n d ethischen T h e m e n . 7 So geriet - unterstützt n o c h durch die Tatsache, daß Schlatter mit z u n e h m e n d e m Lebensalter der Arbeit a m N e u e n Testament den Vorrang einräumte 8 - sein systematisches W e r k größtenteils in Vergessenheit, o h n e aber in inhaltlicher Hinsicht wirklich aufgearbeitet bzw. verarbeitet zu sein. 9
5 Neuer, Zusammenhang 22. In diesem Sinn urteilen auch Gasque (vgl. Gasque 20), Stuhlmacher (vgl. Stuhlmacher, Schlatter 219) und R. Morgan. Letztgenannter äußert im Blick auf den begrenzt gebliebenen Einfluß Schlatters: „The main reason for this is perhaps that certain of his emphases, above all his emphasis upon nature and upon history, ran counter to the prevailing currents in Germany during the 1920s" (Morgan 29). Vgl. daneben Härle, der darauf hinweist, daß Schlatter sowohl der Liberalen als auch der Dialektischen Theologie gegenüber ein Einzelgänger war (vgl. Härle, Schlatter 209f.). Eventuelle „Verstehenshindernisse", die in bezug auf Schlatters Sprache und Gedankenführung geltend gemacht wurden, hatten demgegenüber allenfalls eine untergeordnete Bedeutung (vgl. Neuer, Zusammenhang 21 f.). - Käsemann führt darüber hinaus als weiteren Grund für die geringe Nachwirkung des gesamten theologischen Werkes Schlatters in der deutschen Theologie an, daß der Pietismus aus ihm, der „einer der streitbarsten undfreiestenGeister seiner Generation" war, zu leicht einen reinen Erbauungsschriftsteller macht(e) (zit. nach Stuhlmacher, Schlatter 219) und ihn so - nach Härle weitgehend für sich vereinnahmt(e) (vgl. Härle, Schlatter 210). 6 Vgl. Neuer, Zusammenhang 23f. Auf die anfängliche Anerkennung, die dem systematischen Werk Schlatters zuteil wurde, verweist auch Egg, indem er auf entsprechende Rezensionen seiner dogmatischen und ethischen Arbeiten aufmerksam macht (Egg 11 ; vgl. Neuer, Zusammenhang 316 [Anm.16]). 7 Hier sind vor allem Schlatters grundlegenden Werke „Das christliche Dogma" (1911) und „Die christliche Ethik" (1914), sowie die „Briefe über das christliche Dogma" (1912) und die Schrift „Die Gründe der christlichen Gewißheit" (1917) zu erwähnen. 8 Vgl. Neuer, Schlatter 600-602, 781-801. 9 Vgl. ebd. 22f. - Daran konnten auch die Untersuchungen von H. Engelland (1933) und P. Bauer (1933), die sich u.a. mit Schlatters systematischem Denken befassen, allein schon ihrer Kürze wegen nichts ändern. Dabei analysiert Engelland die Möglichkeiten einer natürlichen Gotteserkenntnis bei Schlatter (31-50) und fugt dieser Darstellung eine (auch andere Theologen betreffende) Kritik an, bei der er sich in philosophischer Hinsicht auf Feuerbach und Kant, in theologischer Hinsicht auf die Sündenlehre bes. des jungen Melanchthon stützt (58-96). - Bauer legt die erkenntnistheoretischen und anthropologischen Voraussetzungen Schlatters für seinen „Kampf gegen das abstrahierende Denken" dar (28-33) und entfaltet dann dessen „Polemik gegen den Idealismus" (33-38). Abschließend äußert er einige Bedenken gegenüber Schlatters Gottesgedanken und seinem Sündenbegriff (38-46), um im Zuge dessen Schlatter als Empiristen, Pelagianer und Nominalisten zu bezeichnen! Schon diese - nachweislich unangemessenen - Termini zeigen den völlig unzureichenden Charakter der Untersuchung!
Der Forschungsstand
13
Erst seit Ende der 50er Jahre deutet sich hier im Blick auf die systematischtheologische Arbeit Schlatters eine gewisse Wende an, wie die unten aufgeführten Monographien von Beintker (1957), Fraas (I960), Dymale (1966), Bailer (1968), Meyer-Wieck (1970), Kindt (1978), Neuer (1986) und Dintaman (1993) zu erkennen geben. Doch auch deren Einfluß auf die systematische Diskussion der Gegenwart blieb begrenzt, was z.T. wegen der zurückhaltenden und nur unzureichend begründeten Beurteilung von Schlatters Position in einigen der genannten Untersuchungen auch nicht anders zu erwarten war (vgl. S. 20f.). Allerdings liegt jetzt mit den Arbeiten von Neuer, der seiner Dissertation noch eine Reihe von Aufsätzen zu verschiedenen Aspekten auch von Schlatters systematischem Denken zur Seite gestellt und ein langjähriges Schlatter-Studium mit der kürzlich erschienenen wissenschaftlichen Schlatter-Biographie (1996) zum (vorläufigen) Abschluß gebracht hat, ein literarisches Werk vor, durch das zusammen mit den zuvor genannten Monographien - das Ziel einer angemessenen Aufarbeitung und Erschließung (auch) der systematisch-theologischen Konzeption Schlatters näher gerückt zu sein scheint. Die Bedeutsamkeit der genannten Untersuchungen für das philosophische Denken Schlatters ergibt sich - wie schon angedeutet - unmittelbar aus der engen Verflechtung, die zwischen seinen philosophischen und den systematischtheologischen Überzeugungen besteht. Wiewohl Philosophie und Theologie zu unterscheiden sind, so sind sie doch in den Augen Schlatters nicht zu scheiden! Denn in beiden Disziplinen wird „die Frage nach dem letzten Erkennbaren und nach der Einheit im Bereich des Geschehens und Denkens" thematisiert.10 Demgemäß finden sich die philosophischen Anschauungen Schlatters nicht nur in explizit philosophischen Darlegungen, vielmehr zeigt auch „seine eigene Dogmatik ..., wie Schlatter positiv die Philosophie verwertet".11 Es entspricht ganz diesem Spezifikum seines Denkens, wenn im Zuge der Darstellung des Forschungsstandes hinsichtlich von Schlatters philosophischem Entwurf auch Arbeiten zu seinem systematisch-theologischen Werk zur Sprache kommen (müssen). Wer sich mit der Frage nach Schlatters philosophischem Denken der Schlatter-Forschung nähert, stellt zunächst fest, daß nur zwei Teilstücke größerer Abhandlungen sich direkt mit diesem Thema befassen. Zum einen ist dies ein Abschnitt über die erkenntnistheoretische Position Schlatters in einer größeren Arbeit des Bonner Philosophen F. Schneider zu dem Thema „Erkenntnistheorie und Theologie" (1950). Schneider geht in seiner Schrift von
Philosophische Arbeit 9. Wendland 24. Vgl. hierzu auch die Einschätzung Neuers, gemäß der „im Grunde genommen ... die Anthropologie in Schlatters Dogmatik wenigstens insoweit eine ,Metaphysik' dar[stellt], soweit sie ohne Rekurs auf das biblische Zeugnis durch rationale Überlegungen ein sich aus der Natur, dem Menschsein und der Geschichte erkennbares Gottesbild zu entfalten versucht" (Neuer, Zusammenhang 316). 10 11
14
Der Forschungsstand
einem in der Erkenntnistheorie bestehenden Grundgegensatz zwischen Realismus und Phänomenalismus aus.12 Nachdem er die Bedeutsamkeit dieses Gegensatzes für das Verständnis von Religion und Theologie dargelegt hat (20-37), kommt Schneider auf die Möglichkeit einer „erkenntnistheoretischrealistischen Begründung von Religion und Theologie" zu sprechen (37 ff.) und entfaltet in diesem Zusammenhang auch Schlatters Position (64-90). Dabei analysiert er zuerst dessen Beurteilung und Kommentierung der philosophischen Arbeit seit Descartes, die nach Schlatters Auffassung durch Subjektivismus und die Beschränkung des Wissens allein auf den Raum des menschlichen Bewußtseins gekennzeichnet sei. In einem zweiten Schritt stellt Schneider Schlatters Versuch der Rehabilitation des „in der Religion wie im natürlichen Weltverständnis überhaupt implizierten Realismus" dar13, indem er die dafür vorgebrachten philosophischen Argumente anführt und im Anschluß daran die Erkenntnislehre Schlatters - die Wahrnehmung und Urteil gleichermaßen umfaßt - kurz skizziert. Ausgehend von dieser realistischen Erkenntnistheorie eröffne sich nun auch die Möglichkeit einer durchgehenden Neubegründung von Religion und Theologie: Statt der „Auflösung der Religion in subjektive Befindlichkeiten"14 (im Anschluß an den Phänomenalismus) ist mit der Erkennbarkeit der (transsubjektiven) Realität auch die Erkennbarkeit Gottes - als dem Grund der Erschlossenheit des Wirklichen prinzipiell gegeben.15 Der zweite Text, der sich unmittelbar mit dem philosophischen Denken Schlatters befaßt, ist die von W. Neuer besorgte „Einführung" zu Schlatters im Jahre 1987 posthum veröffentlichten „Metaphysik". Dabei erläutert Neuer nicht nur den biographischen Hintergrund, der maßgeblich dafür war, daß Schlatter 1915 von einer Edition der „Metaphysik" absah, sondern führt auch in Zielsetzung und Inhalt der „Metaphysik" ein. Es wird deutlich, wie Schlatter die Metaphysik verstanden hat, nämlich als „eine Ontologie der geschöpflichen Wirklichkeit, welche die unaufhebbaren, unveränderlichen Grundstrukturen von Natur, Menschsein und Geschichte aufzuzeigen sucht",16 und wie er demgemäß auch seine Metaphysik-Schrift konzipiert: als eine Kategorientafel, in der die jeweiligen Grundstrukturen (Kategorien) der Realität zur Darstellung kommen und gegen anderslautende Entwürfe abgegrenzt werden. Darüber hinaus deutet Neuer in aller Kürze einige inhaltliche Besonderheiten der „Metaphysik" (gerade auch im Vergleich zu denjenigen Werken Schlatters, die zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurden) an, die vor allem seine erkenntnis-
12 Vgl. Schneider, Erkenntnistheorie 13. « Ebd. 74. « Ebd. 's Vgl. ebd. 79f. 16 Neuer, Einführung 5.
Der Forschungsstand
15
theoretischen, ontologischen und geistesgeschichtlichen Anschauungen betreffen.17 Hinsichtlich von Schlatters Verständnis der zurückliegenden und doch auch in die Gegenwart hineinreichenden Geistesgeschichte hat Neuer zudem in einem wichtigen Aufsatz eine Analyse des unveröffentlichten Manuskripts „Der Idealismus und die Erweckung in meiner Jugend" vorgelegt, durch das neues Licht auf Schlatters Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie fällt. Neuer bringt hier den Nachweis, daß diese Auseinandersetzung vor allem eine Auseinandersetzung mit dem Idealismus ist, insofern als Schlatter darin die zu seiner Zeit wirksame Ausprägung des „Griechentums" sah.18 Weitet man die Perspektive etwas und nimmt auch die Untersuchungen primär zum systematisch-theologischen Denken Schlatters mit in den Blick, insofern als darin seine philosophischen Grundgedanken - explizit oder implizit - zum Tragen kommen, so zeigen besonders die Arbeiten von Meyer-Wieck und I. Kindt eine direkte Affinität zu unserem Thema. Meyer-Wieck versucht in seiner Dissertation das Wirklichkeitsverständnis Schlatters biographisch zu interpretieren und es als Konsequenz seines Erlebens vor allem im Elternhaus verständlich zu machen (7-71). Als entscheidende Voraussetzung für Schlatters Wirklichkeitsverständnis erkennt er die „absolute Bindung an das Vorfindliche, Reale" (das in Natur, Menschsein und Geschichte gegeben ist) und dementsprechend eine Konzentration auf das „Moment der Anschauung", das „jeden erkenntniskritischen Ansatz ... ausschließt."19 Diesen lebensgeschichtlich bedingten Voraussetzungen entspricht das später explizierte Wirklichkeitsverständnis, das Meyer-Wieck als „kausal geschlossene Einheit von Gott und seinem Werk" bestimmt, wodurch Wirklichkeit als Wahrheit qualifiziert ist. 20 Ganz abgesehen von der Einschätzung und Bewertung dieser von Meyer-Wieck vorgelegten Interpretation, liegt die Bedeutsamkeit einer solchen Untersuchung zum Wirklichkeitsverständnis Schlatters für die Erfassung seiner philosophischen Überzeugungen auf der Hand. Auch „der Gedanke der Einheit", der nach I. Kindt Aas Zentrum von Schlatters Theologie bildet, reicht unmittelbar in dessen philosophisches Denken hin-
17 Als weitere Ausführungen, die sich direkt mit Schlatters philosophischen Überzeugungen befassen, sind allenfalls noch die Geleitworte zur vierten bzw. fünften Auflage von Schlatters Werk „Die philosophische Arbeit seit Descartes" bzw. „Cartesius" von H. Thielicke (1959) und H. Stroh (1981) zu nennen. Dabei versucht Thielicke den eigentümlichen Charakter von Schlatters Schrift durch den Hinweis auf ein verborgenes „hermeneutisches Prinzip" zu verdeutlichen, gemäß dem die Frage nach der letzten Daseinsorientierung eines Denkers derjenigen nach seinen Denkinhalten vorausgeht, da letztere aus ersterer erwachsen (Thielicke 16). Demgegenüber bindet Stroh das philosophische Denken Schlatters in seine Biographie ein und zeichnet kurz den unmittelbaren Zusammenhang von Philosophie und Theologie, wie Schlatter ihn sah, nach.
Vgl. Neuer, Idealismus 64-67 » Meyer-Wieck 35, 36; vgl. ebd. 25 ff. m Ebd. 91 f.; vgl. ebd. 89f. 18
16
Der Forschungsstand
ein. Kindt versucht in ihrer Arbeit die Zentraütät des Einheitsgedankens zu belegen, indem sie verschiedene Aspekte der Dogmatik 21 und der Paulusexegese Schlatters daraufhin untersucht (13-56). Im Hauptteil ihrer Arbeit kommt die Autorin dann auf die historischen Voraussetzungen von Schlatters Theologie zu sprechen, wobei sie ihn vor allem hinsichtlich des Gedankens der Einheit und seiner Verbindung mit dem Willensbegriff in einer Traditionslinie stehen sieht, „die ihn mit Franz von Baader und Jacob Böhme, sowie mit der gesamten abendländischen Mystik bis hin zu Augustin" verbindet. 22 Für unser Thema sind in diesem Zusammenhang die synoptisch herausgearbeiteten Gemeinsamkeiten (und Differenzen) zwischen Baader und Schlatter von besonderem Interesse, da sie neben und mit dem theologischen gerade auch das philosophische Gedankengut beider Denker betreffen (62-108). In einem abschließenden Teil reißt Kindt u. a. noch kurz Fragen nach der Metaphysik und dem Problem der natürlichen Theologie bei Schlatter an, soweit diese für die Beurteilung des Einheitsgedankens von Bedeutung sind (124-133). Von den weiteren, oben erwähnten Abhandlungen zu Schlatters systematisch-theologischem Werk sind es jeweils nur einzelne Passagen und Abschnitte, die für die Frage nach dessen philosophischem Denken etwas austragen. Vorwiegend behandeln diese Passagen Aspekte von Schlatters Anthropologie, den Gottesbeweisen bzw. der Gotteslehre, der Erkenntnistheorie oder dem Problem der natürlichen Theologie. Die sowohl in theologischer als auch philosophischer Perspektive bedeutungsvolle Gotteslehre Schlatters untersucht H.-J. Fraas in seiner Schrift, und zwar unter dem doppelten Aspekt des darin implizierten Offenbarungsverständnisses sowie der inhaltlichen Bestimmung der Gottesvorstellung aus dem Aufweis der konstitutiven Abhängigkeitsmomente der einzelnen Schöpfungsbereiche (34-62). Zuvor widmet er sich im Rahmen einiger Vorüberlegungen der Frage nach Schlatters Stellung zur Philosophie im allgemeinen und zur Erkenntnistheorie im besonderen (3-18), und spricht dabei auch dessen Auseinandersetzung mit Kant und der griechischen Philosophie an. In diesem Zusammenhang betont Fraas die ,realistische' Auffassung Schlatters von der (geschöpflichen) Wirklichkeit als einem einheitlichen Ganzen, das nicht in die getrennten Sphären von ,Sein' und ,Bewußtsein' auseinanderfällt.23 A. Bailer versucht in seiner Untersuchung den Begriff des Lebens als das systematische Prinzip der Theologie Schlatters herauszustellen. In diesem biblisch-christlichen Lebensbegriff erkennt er das einigende Band der drei das systematische Denken Schlatters gestaltenden Prinzipien, der christlichen Er-
21 Im einzelnen sind dies die Erkenntnislehre, das Wissenschaftsverständnis und die theologische Anthropologie Schlatters (Kindt, Gedanke der Einheit 13-31). 22 Kindt, Gedanke der Einheit 115 f. ; vgl. ebd. 151. 23 Vgl. Fraas 9. Er spricht dort von der „ungebrochenen Flächenhaftigkeit des Seins", um Schlatters Anschauung zu kennzeichnen.
Der Forschungsstand
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fahrung, der Schrift und der Geschöpflichkeit.24 In bezug auf Schlatters Philosophie verdienen die anthropologischen Ausführungen Bailers, seine Diskussion der Rolle der Gottesbeweise und die Bemerkungen zu Naturalismus und Idealismus Beachtung, in denen Schlatter Formen der Abwendung von Gott und von „der inneren Lebensordnung" erkennt (94-131). Die Monographie von H. Beintkerist insofern von Interesse, als er sich in den einleitenden Gedanken kurz mit der Frage nach einer natürlichen Theologie Schlatters beschäftigt. Er zeigt auf, warum eine solche Interpretation dem Anliegen Schlatters nicht angemessen ist und spricht demgegenüber von dessen Festhalten an einer allgemeinen Offenbarung Gottes, die sich auf die Wirklichkeit als ganze bezieht (16-20, 25-30). 25 Mit der gleichen Fragestellung setzen sich auch die Aufsätze von U. 5W