Rückkehr zur Utopie: Philosophische Szenarien 9783495825099, 9783901190216, 9783770549375, 9783495491850


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Table of contents :
Cover
Inhaltsverzeichnis
Fröhliche Wissenschaft
Ein Bewusstsein von dem, was fehlt
Wahrheitskonkurrenz
Verstetigtes Krisenbewusstsein
Neue Achsenzeit?
Ethik als Wissenschaft des Welthandelns?
Anmerkungen
Die Performance der Utopie
Utopie als fröhliche Wissenschaft
Utopien sind Projektionen
Die Villa
Die utopischen Formate
Dieses Buch
Anmerkungen
Philosophie
Gibt es Zukunft ohne Utopie?
I. Zeitkritik
Wie ist das nun heute?
II. Denkwende
III. Die Utopie des Öffentlichen Glücks
Anmerkungen
Freiheit und Krise
I. Die erschöpfte Freiheit – vor Corona
»Wir haben keine Anfänge mehr«
Die Utopie ein Kampfbegriff
Eigentlich ist es ganz einfach, mitzukommen.
II. Herausforderung an die Ethik – nach Corona
Die Diskursfähigkeit der Utopie
Abstracts
I. Resonanz
II. Geist der Utopie
III. Der undiskutierbare Krieg
IV. Diskursfähigkeit
Anmerkungen
Kultur
Vom Homo sapiens zum Homo digitalis
I. Interneterklärungen
II. Digital Turn und Menschenbild
III. Ist der Homo digitalis auch gut?
Postskriptum (2021):
Anmerkungen
Ist Europa Heimat?
I. Europa von außen
II. Europa von innen
III. Europa porös
Anmerkungen
Flucht und Heimat
1. Prägungen
2. Roter Faden
3. Heimat und Verheißung
Anmerkungen
Der multiversale Literatur(en)-Kanon
(1) Ungleichzeitigkeit
(2) Multiversum
(3) Conditio humana
Conditio humana
Erfahrung durch Philosophie
Weltliteratur – klassisch
Transnationalliteratur – heute
Postskriptum:
Anmerkungen
Heimat als Utopie
I
II
III
IV
Literatur:
Anmerkungen
Natur
Natur und Interesse
I. Mensch gegen Natur
Erster Zugang: Natur ökologisch
Zweiter Zugang: Natur ästhetisch
Dritter Zugang: Natur philosophisch
II. Natur gegen Mensch
III. Mensch gegen Mensch
Würde der Natur …
… versus Interesse an der Natur
Von der Um-Welt zur Lebens-Welt
(1) Politik
(2) Philosophie
Postskriptum:
Anmerkungen
Die Apologeten des Wachstums
Vorlektüre: Wachstum
Wachstum als Fortschritt
Wachstum als Wunder
Wachstum als Kollaps
Wachstum als Glück
Film: Die Apologeten des Wachstums
Der Film:
Das Booklet::
Das Müllheizkraftwerk:
Vorlesung (129 Fragen an junge Menschen)
I. Schwanken
II. Staunen
III. Entscheiden
IV. Handeln
Postskriptum:
Literatur:
Reisen
Vom Verlassen der Paradiese
Einleitung
(1) Der Reisende Auf dem Boden
(2) Der Reisende im Transit
(3) Der Reisende beim Abflug
3.1 Motive
3.2 Der ideale Reisende
(4) Der Reisende bei der Landung
4.1 Gast der Welt
4.2 Parthenogenesis
Literatur:
Die Natur macht alle gleich
I.
II.
Kao Lak und die Wende
Phuket: Flucht nach vorn
Die Idylle als geologische Falle
Hat die Umkehr eine Zukunft?
Religion
»Die Hoffnung ist kühn«
Utopie
Hoffnung
Utopiefähigkeit: Christologie nach vorn
Anmerkungen
Diskurs
Mut zur Utopie
Heimat ohne Grenzen?
Anmerkungen
Anhang
Zukunftsthemen und Erinnerungsstücke
Detailgenau bewahrt
Direktorenambiente
Finale aus Objekten
Gäste der Villa
Quellenverzeichnis
Vorträge
Essays
Diskurse
Anhang
Dank
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Rückkehr zur Utopie: Philosophische Szenarien
 9783495825099, 9783901190216, 9783770549375, 9783495491850

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Klaus Kufeld

Rückkehr zur Utopie Philosophische Szenarien

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495825099

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B

Klaus Kufeld Rückkehr zur Utopie

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Klaus Kufeld

Rückkehr zur Utopie Philosophische Szenarien

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Klaus Kufeld Back to Utopia Philosophical Scenarios »When the utopian oases dry up, a desert of banality and helplessness spreads,« said Jürgen Habermas. Klaus Kufeld’s writings are all in the tone of the conceivable and achievable utopias. Developed within the sphere of activity of the renowned Ernst Bloch Centre, its broadbased utopian topics represent a diagnostic critique of the times, without giving up the claim to be a »happy science«. The selection of lectures and essays compiled in this book reflects the director’s »foreign policy« commitment. The invitations (to lectures or contributions in books) are the reaction of the public impact of the Ernst Bloch Center. Kufeld justifies utopia as a crisis-proof correspondence science. This leads to an understanding of philosophy in which the individual sciences can trust some utopic turn. The volume is supplemented with disputes on the subjects of utopia and home with experts from science and politics – from Alfred Grosser to Sahra Wagenknecht.

The Author: Klaus Kufeld, Dr. phil., who studied political and social sciences in Munich and Regensburg, was the founder and director of the Ernst Bloch Centre in Ludwigshafen am Rhein from 1997 to 2018. He did his doctorate with Professor Julian Nida-Rümelin at the LudwigMaximilians-Universität in Munich. Since 2018 he works as a freelance author and speaker. He founded Phil.Consult, which deals with »Utopia and Reality«. His topics include utopia, home, Europe, digital world, growth and travel. Recent publications: The Singing of the Swans, Edition Splitter, Vienna 2015, ISBN 978-3-901190-21-6; The Travel as Utopia, Wilhelm Fink Verlag, Munich 2010, ISBN 978-3-7705-4937-5. [www.klaus-kufeld.de]

https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Klaus Kufeld Rückkehr zur Utopie Philosophische Szenarien »Wenn die utopischen Oasen austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus«, sagte schon Jürgen Habermas. Klaus Kufelds Schriften sind allesamt im Ton der denkbaren und erfüllbaren Utopien gehalten. Entstanden im Wirkungskreis des renommierten Ernst-Bloch-Zentrums repräsentieren seine breit aufgestellten utopischen Themen eine diagnostische Zeitkritik, ohne den Anspruch aufzugeben, »fröhliche Wissenschaft« zu bleiben. Die in diesem Buch zusammengestellte Auswahl von Vorträgen und Essays widerspiegelt das »außenpolitische« Engagement des Direktors. Die Einladungen (zu Vorträgen oder Beiträgen in Büchern) sind als Reaktion der Öffentlichkeit auf die Wirkung des Ernst-BlochZentrums zu sehen. Einleitend begründet Kufeld die Utopie als krisenfähig aufgestellte Korrespondenzwissenschaft. Diese führt zu einem Verständnis von Philosophie, in dem sich auch die Einzelwissenschaften so manchen utopic turn zumuten können. Ergänzt wird der Band mit Streitgesprächen zu den Themen Utopie und Heimat mit Experten aus Wissenschaft und Politik – von Alfred Grosser bis Sahra Wagenknecht.

Autor: Dr. phil. Klaus Kufeld, Studium der Politik- und Sozialwissenschaften in München und Regensburg, war von 1997 bis 2018 Gründer und Direktor des Ernst-Bloch-Zentrums Ludwigshafen am Rhein. Er promovierte bei Professor Julian Nida-Rümelin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2018 ist er als freier Autor und Referent unterwegs. Er gründete Phil.Consult, das sich mit »Utopie und Wirklichkeit« beschäftigt. Seine Themen sind unter anderem Utopie, Heimat, Europa, Digitale Welt, Wachstum und Reisen. Letzte Veröffentlichungen: Das Singen der Schwäne, Edition Splitter, Wien 2015, ISBN 978-3-901190-21-6; Die Reise als Utopie, Wilhelm Fink Verlag, München 2010, ISBN 978-3-7705-4937-5. [www.klaus-kufeld.de]

https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Diese Publikation wurde gefördert von der Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur und der Stiftung Ernst-Bloch-Zentrum

Verlag und Autor danken dem blauen reiter – Journal für Philosophie, dem Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Bonn), dem Lit-Verlag (Wien), dem Mannheimer Morgen, der Neuen Zürcher Zeitung, der Süddeutschen Zeitung, der Università Roma Tre und der Universität Salzburg für die freundliche Genehmigung des jeweiligen Wiederabdrucks.

In diesem Buch wird nicht gegendert. Überall dort, wo der Plural maskulin erscheinen könnte (zum Beispiel Autoren, Philosophen), sind alle Geschlechter gemeint.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2021 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Titelbild: Max Bill: Endlose Treppe Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49185-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82509-9

https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Für Fang, Yahua und die Jugend

https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Inhaltsverzeichnis

Fröhliche Wissenschaft Ein Bewusstsein von dem, was fehlt . . . . . . . . . . . . . .

15

Die Performance der Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

Philosophie Gibt es Zukunft ohne Utopie? (500 Jahre »Utopia« von Thomas Morus) . . . . . . . . . . .

37

Freiheit und Krise Vor Corona – nach Corona . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Die Diskursfähigkeit der Utopie (100 Jahre »Geist der Utopie«) . . . . . . . . . . . . . . . .

60

Kultur Vom Homo sapiens zum Homo digitalis Steuern wir auf ein neues Menschenbild zu? . . . . . . . . . .

73

Ist Europa Heimat? Und für wen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

Flucht und Heimat Ernst Blochs Dreams of a Better Life als utopischer Systementwurf für eine Philosophie der Verheißung . . . . . . . . .

98 9

https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Inhaltsverzeichnis

Der multiversale Literatur(en)-Kanon Ein kulturphilosophisches Plädoyer . . . . . . . . . . . . . . 115 Heimat als Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

Natur Natur und Interesse Von der Umwelt zur Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . 139 Die Apologeten des Wachstums Philosophische Fragen zur Rettung des Planeten

. . . . . . . 160

Reisen Vom Verlassen der Paradiese Des unüberholbaren Romantikers philosophische Perspektive auf das Reisen, auch das touristische . . . . . . . . . . . . . 177 Die Natur macht alle gleich Reflexionen zur Ethik des Reisens . . . . . . . . . . . . . . . 196

Religion »Die Hoffnung ist kühn« Wie utopiefähig ist das Christentum? . . . . . . . . . . . . . 209

10 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Inhaltsverzeichnis

Diskurs Mut zur Utopie (Das utopische Gespräch) mit Heiner Geißler und Sahra Wagenknecht

. . . . . . . . . 223

Heimat ohne Grenzen? (Talk bei Bloch. Live.) mit Alfred Grosser, Konrad Paul Liessmann und Mark Terkessidis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Anhang Zukunftsthemen und Erinnerungsstücke von Joachim Güntner, Neue Zürcher Zeitung . . . . . . . . . 273 Gäste der Villa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

Quellenverzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

11 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Fröhliche Wissenschaft

https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Ein Bewusstsein von dem, was fehlt

Nur noch Utopien sind realistisch. Oskar Negt Utopien trösten. Michel Foucault

Die Philosophen sind vielleicht das bessere Gewissen der Welt. Sie schweben in den Köpfen der Menschen, die Rat suchen und mehr wissen wollen, um glücklich zu sein. Was auch sonst soll der Sinn allen Philosophierens sein? Im Land der Dichter und Denker studiert nur etwa ein Prozent Philosophie, das allgemeine Interesse am Fach ist ungleich größer. Heute ist es weniger die akademische Disziplin, die nachgefragt wird, als die populäre, handhabbare. Die Philosophie wird als Weisheitsdisziplin und Schule der Glückseligkeit wahrgenommen, in der nach einem Narrativ gesucht wird, welches den Umgang mit der Schnelllebigkeit und Unübersichtlichkeit lehrt. Der Alltag der Menschen verlangt nach Orientierung. Das mag der Grund sein, warum Besinnungsformate in den Feuilletons aufkommen und Ratgeberphilosophen von Epikur oder Lao zi auf den ewigen Backlists landen; oder warum es heute lebende Philosophen mit Kultstatus gibt – von Yuval Noah Harari über Richard David Precht bis zu Slavoj Žižek, die vor Massen dozieren. Vielleicht ist es die Sehnsucht nach für zumutbar gehaltener Beglückung? Und sei es nur, weil sich die Menschen mit Philosophie als Antäuschung von Weisheit zufriedengeben. Auf eine eigenartige Weise jedenfalls scheint die Philosophie sich aus den Fußnoten der Geschichte zu erheben. Die Philosophie ist und bleibt zwar akademische Disziplin, aber es gibt Abstufungen, die zunehmend auch Bedürfnissen einer breiteren Bevölkerung entgegenkommen. Eine Popularisierung muss nicht deren Banalisierung bedeuten. Die Bestseller-Philosophen sorgen für die Öffnung, will heißen: Demokratisierung des Fachs. Aber mit »Kant für alle« und »Konfuzius für alle« ist es nicht getan. Dass die Welt sich gleichzeitig ausdehnt (Globalisierung) und zusammenzieht (Kulturkonflikte), bedeutet eine doppelte Anforderung:

15 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Ein Bewusstsein von dem, was fehlt

(1) Die Gesellschaften profitieren vom ausgedehnten terrestrischen Welt-Raum, der Druck der Globalisierung erzeugt aber auch Beschleunigung, Datenmassen, Überwachung und eine zunehmende Oligarchisierung immer weniger werdender Players wie Google, Facebook oder Amazon. (2) Es wächst der Leistungsdruck auf die Menschen. Sozialwissenschaftler wie Alain Ehrenberg sprechen vom erschöpften Selbst 1 und Meinhard Miegel vom erschöpften System. 2 Der philosophisch-kulturelle Befund lautet: Die Welt ist komplexer geworden, und auch unübersichtlicher. Geschwindigkeit und ewiges Wachstumsdenken sind tonangebend, und die Probleme werden immer existentieller. »Die Menschen müssen erkennen, dass eine Ordnung, die auf ständiger Überforderung von Umwelt, Natur und Mitmenschen beruht, ebenso wenig Bestand haben kann wie eine Ordnung, die auf der Versklavung der großem Bevölkerungsmehrheit gründet, oder einer Ordnung, die den Ausgleich schreiender Ungerechtigkeiten in einem imaginären Jenseits in Aussicht stellt.« 3 Dafür ist die Philosophie politischer geworden. Um ihre Diversifizierung wieder zusammenzuführen, müsste sie mit Wolf Lepenies die vermittelnde Rolle der »dritten Kultur« einnehmen. 4 Dazu gehört allerdings auch, das Erkenntnisinteresse der Philosophie um ihren Bildungsauftrag zu erweitern. Robert Misrahi plädiert hier dafür, mit der Philosophie zu einer Basiswissenschaft zurückzufinden, die allen Fächern zugrundegelegt werden müsse. Sie würde »den Denkern des Glücks (von der griechischen Antike über Spinoza bis hin zu Ernst Bloch, Herbert Marcuse oder den heutigen Utopisten) den gleichen Platz einräumen wie den Tragikern (etwa Schopenhauer, Nietzsche oder Sartre).« 5 Die Chance dafür ist in Krisenzeiten immer am günstigsten, weil dann das unzureichende Allein-Wissen der Einzelwissenschaften am evidentesten wird. COVID-19 und Klimakrise sind relevante Beispiele: Erstere als eine Pandemie, für die das verfügbare (zum Beispiel medizinische) Wissen, sie in den Griff zu kriegen, nicht ausreicht; Zweitere als existentielles Problem schlechthin für den Planeten. – In diesen Krisen-Epochen wird verstärkt auf Ethikcodes gehört. »Es gibt kein Fach, das so stark am Puls der Zeit ist wie die Philosophie«, sagt der Philosoph Julian Nida-Rümelin. 6 Und es wächst ein Bewusstsein, dass es die Welt ohne Krisen nicht geben kann. Mit diesem aufkeimenden Bewusstsein wächst die Kraft der Philosophie, eine, die sich weder im Elfenbeinturm wähnt, noch ihre Erkenntnisse wie Re16 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Ein Bewusstsein von dem, was fehlt

zepte handhabt, noch eine, die sich verzettelt. Es ist nicht mehr damit getan, die Welt nur zu interpretieren, anstatt sie zu verändern, wie Marx anmahnte, geschweige denn zu verbessern. Doch dazu braucht es eine Philosophie, die sich anderen Denksphären außerhalb ihrer Reichweite stellt und ihr Verhältnis zu anderen Fachwissenschaften klärt. Was wir brauchen, ist eine offene, krisenfeste und konfliktfähige Philosophie. Um dies einmal einzuschätzen, sei ein Blick in die neueste Philosophiegeschichte geworfen, und zwar bei Jürgen Habermas, dem Grandseigneur der zeitgenössischen Philosophie. Vorweg gesagt, geht man nach über 1700 Seiten etwas verwundert aus der Lektüre heraus. Er betitelt sie mit »Auch eine Geschichte der Philosophie«. Dies wohl deshalb, weil er keine Chronologie aufbietet, sondern eine Auswahl trifft, die seinem eigentlichen Thema (und Untertitel) »Glauben und Wissen« folgt. 7 Damit erörtert er die Frage nach Gott und Glauben beziehungsweise nach dem Menschen und der Vernunft, was auf den Wahrheitsdisput zwischen Theologie und Philosophie hinausläuft, dem Urstreit innerhalb der Philosophie, den diese, weltweit betrachtet, offensichtlich verloren hat. Habermas stellt die Frage nach Rang und Rolle der Philosophie gleich zu Beginn seines opulenten Werks, nämlich aus der Sorge heraus, »dass die Philosophie – als ein ›Glaube‹ neben anderen – ihr Proprium verliert«. (Bd. 1/S. 104) 8 Diese Sorge treibt ihn seit 50 Jahren im Dekadenabstand um. Schon 1971 lässt sich Habermas von Adorno anmahnen, der schon 1963 gesagt hat, dass »die Philosophie sich vom emphatischen Begriff der Wahrheit nichts abmarkten lassen« solle. 9 Abmarkten? Als handele es sich bei der Wahrheit um eine Ware, deren Weltkonjunktur sich im steten Fallen befindet, so als sei das bereits als stilles Eingeständnis ihres Scheiterns aufzufassen angesichts der Verselbstständigung der Naturwissenschaften, der Verfestigung des technokratischen Bewusstseins und des Zerfalls des religiösen Denkens. Zweifellos komme der Philosophie die Gelassenheit abhanden, mehr noch, die philosophia perennis, der Traum einer krisenfesten, überdauernden, ja »ewigen« Philosophie könne nicht mehr konkurrieren mit dem Wissensfortschritt. Die über Jahrhunderte anhaltende Ablösung der Vernunft von dem metaphysischen Glauben, die Emanzipation des Wissens von Errettung und Erlösung, scheine zum Schaden des philosophischen Denkens geronnen. 17 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Ein Bewusstsein von dem, was fehlt

Fast 40 Jahre später, im Jahr 2009, geht Habermas etwas nahe, das mit dem Selbstverständnis der Epoche und insbesondere des Okzidents zu tun hat. In »Ein Bewußtsein von dem, was fehlt« 10 schreibt er in ungewohnt befremdeter Manier über die Totenfeier für Max Frisch in Zürich. Frisch, der bekennende Agnostiker, hatte sich in der Stiftskirche St. Peter vorsorglich fremdeinmieten lassen: kein Priester, kein Segen. Damals habe er, Habermas, die Veranstaltung nicht für merkwürdig gehalten. Nun aber seien ihm deren Form, Ort und Verlauf bedenklich. Frisch habe wohl »die Peinlichkeit nichtreligiöser Bestattungsformen empfunden und durch die Wahl des Ortes öffentlich die Tatsache dokumentiert, daß die aufgeklärte Moderne kein angemessenes Äquivalent für eine (…) rîte de passion gefunden hat.« Nochmals 20 Jahre später (2019) wendet sich der späte Habermas umfassend religiösen Fragen zu, was beim Autor des kommunikativen Handelns und der Diskurstheorie nicht unbedingt zu erwarten war. Wissen verliert gegen Glauben? Ist das heute nicht weltweit festzustellen?

Wahrheitskonkurrenz Die Auswahl der Philosophen verliere, so Habermas, den »Anschein der Willkür im Lichte der Grundentscheidung, die Genealogie am Leitfaden des Diskurses über Glauben und Wissen zu verfolgen.« Denn vor allem bei Feuerbach, Marx, Kierkegaard und Peirce zählten die Ergebnisse dieses Diskurses »auch noch nach der Trennung von Glauben und Wissen für das säkulare Denken«. (2/768) Dabei gelingt es Habermas, den Diskurs um Glauben und Wissen wie einen roten Faden als »Wahrheitskonkurrenz« (1/76) aufzubauen mit dem »Ziel der Selbstverständigung angesichts dessen, was wir über die Welt (…) wissen«. Über tausend Seiten hinweg erörtert Habermas den mäeutischen Prozess nachmetaphysischen Denkens. Dabei geht es um nichts weniger als die Stellung der Philosophie schlechthin beziehungsweise um theologische Denkarten, die jener den Rang abzulaufen drohen. Habermas präjudiziert dies gleich zu Anfang mit der Befürchtung, dass die Philosophie zur »begriffsanalytischen Dienstleistung für die Kognitionswissenschaften« degradiert, wenn ihr Kern »für einen wachsenden wirtschafts-, bio- oder umweltethischen Beratungsbedarf zerfasert.« (1/12) Höchste Alarmstufe also, die den Abgesang 18 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Ein Bewusstsein von dem, was fehlt

auf die Philosophie auslöst? Die Frage nämlich sei, »was sich die Philosophie noch zutrauen kann und soll.« (1/15) Während die Philosophie über Augustinus und Thomas von Aquin aus dem religiösen Denken über Jahrhunderte herausgeboren wurde, um schließlich bei Kant, Hegel und Marx in der Trostlosigkeit der irritierten Vernunft anzukommen, erfährt sie möglicherweise ihr Schicksal, als »Weltprovinz des Westens« (2/797) zu verkommen. Eine okzidentale Sichtweise mündet notwendig in der Selbstbestätigung des christlichen Abendlandes.

Verstetigtes Krisenbewusstsein Habermas’ Werk manifestiert eine eindrucksvolle Tiefenschärfe, das jedoch keine Entsprechung findet in dem in heutiger Zeit so nötigen horizontalen Blick. Wo seine Erkenntnisreichweite immerhin zu dem Befund kommt, dass sich das detranszendentale Weltverständnis als »verstetigtes Krisenbewusstsein« (2/801) erweist, spricht er in der »Engführung auf den okzidentalen Pfad der Weltbildentwicklung« apologetisch von »Trockenübung eines auf Gelegenheitslektüre angewiesenen Amateurs« – und meint sich selbst, den aufgeklärten Philosophen. (1/310) Besonders deutlich wird dies im Kapitel, wo er achsenzeitliche Weltbilder Jasperscher Definition 11 »provisorisch« vergleicht, etwa in der Trennung von Christentum und jüdischer Religion, mit Buddhas Lehre, Konfuzianismus und Taoismus. Zwar geht er auf die brahmanische Tradition der Veden ein, bekennt aber, auf die weitere Entwicklung des Hinduismus, der heute die drittgrößte unter den Weltreligionen darstellt, nicht eingehen zu können. (1/367) 12 Buddhismus und Wissen, wie soll das gehen? Wieweit es in den (fern)östlichen Religionen überhaupt um Kognition gehen kann, bleibt eine Unterstellung. Was schon Michael Hampe in seiner Rezension (Jenseits des Glaubens, in: Die Zeit, 7. November 2019) kritisch angemerkt hatte, ist, dass man nicht so tun kann, Gautama Buddha als Gott(heit) zu sehen. Denn es gibt viele einschlägige, diesen Horizont erweiternde Quellen, von Roberto Calassi über Daisetz Suzuki bis Tetsuro Watsuji. Der Buddhismus ist als Religion und vollständig nach innen gewandtes Anti-Denken nicht empfänglich für okzidentale Denkweisen. Was auch für den Hinduismus gilt. Deshalb bleibt mehr als die Frage, in welcher Weise wir uns mit dem Östlichen – vom Orient bis China und Japan – beschäftigen. Haber19 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Ein Bewusstsein von dem, was fehlt

mas ist sich dessen bewusst, »aber vom zentrierten Universalismus der in der Achsenzeit verwurzelten Traditionen« einen Weg zu den »diskursiven Verfahren einer interkulturellen Verständigung« zu weisen, aus der »eine kosmopolitische Ordnung der im Entstehen begriffenen Weltgesellschaft hervorgehen könnte« (1/478), erscheint illusorisch.

Neue Achsenzeit? Die »Geschichte« von Habermas hört Anfang des 20. Jahrhunderts auf und blendet damit drei die Menschheit erschütternde Faktizitäten aus: beide Weltkriege, die Globalisierung und die beginnende Brave New World des digitalen Zeitalters. Also noch Kant, Hegel, Marx und Kierkegaard, aber schon kein Wittgenstein, Cassirer, Husserl und Nietzsche mehr, geschweige denn ein Bloch und Foucault. Nietzsche vermisst Habermas sogar selber ausdrücklich, eine Behandlung hätte aber mit dessen »wiederverzaubernden Kraft einer ästhetischen Erfahrung« den Rahmen gesprengt. (2/593, Fußn. 1) Gewiss, das Zeitalter der Weltbilder ist vorbei und mit dem Erstarken der Präzisionswissenschaften Mathematik, Physik und Chemie das metaphysische Denken. Über Jahrhunderte spekulieren Philosophen zu Welterklärungen, um schließlich eigensinnig vor dem Tor der digitalen, globalisierten Welt zu stehen, hinter dem die Rolle der Philosophie ausgestochen, ja degradiert erscheint. Im globalen Orchester übernimmt die kapitalistische Wirtschaft längst das Dirigat und schließt das feine Flöten der Philosophie von den großen Tönen aus. Schluss mit Kosmologie, Transzendenz und Metaphysik, aber befindet sich die Menschheit mit der Globalisierung und Digitalisierung, also der technikunterstützten Totalvernetzung nicht doch weltumspannend inmitten einer neuen Achsenzeit, die die Chance auf ein Zusammenrücken birgt? Dies so zu sehen, geht jedenfalls nicht mit eurozentristischer Denkweise. Aber von welcher Geschichte in welcher Sphäre sprechen wir heute überhaupt? Nehmen wir nur China oder den nahen Orient: Wie weit weg von unserem Geschichtsbild sind das megalomanische, durch und durch säkulare Gebaren der chinesischen Machthaber auf der einen und die Glaubenskämpfe in Iran, Syrien, Saudi Arabien et cetera auf der anderen Seite. Diese ungleichzeitigen Kulturen absorbieren das Wissen in ihren Glauben – und gehen ihre eigenen Wege. 20 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Ein Bewusstsein von dem, was fehlt

Und dieser Glaube mag Machtwille heißen, geopolitischer Einfluss oder gar Unterwerfung der Menschheit. China oder Indien haben gar keinen Begriff für Individuum, geschweige denn für Vernunft. Aber weil es unser einer Planet ist, den die Menschheit sich teilen muss, führt kein Weg an einer völlig neuen, diplomatischen Rolle der Philosophie vorbei, die sich eine neue Sprache zurechtlegen muss, die alle verstehen. Und diese Sprache heißt – frei nach Umberto Eco: Übersetzung. Die Übersetzung als die noch weitgehend unbeschrittenen Brücken in disparaten Welten.

Ethik als Wissenschaft des Welthandelns? Wenn es jemals die Größe der Philosophie war, für das Ganze sich zuständig fühlen zu können, warum sollte sich die zurechtgestutzte »Assistenzwissenschaft« nicht wieder zumuten, ethische Verantwortung einzufordern, derer die Einzelwissenschaften (wegen ihrer Spezialisierung und der mit ihr bedingten »Unübersichtlichkeit«) nicht mehr fähig sind? Krisenregionen, Brandherde und Zukunftsängste gibt es zu Hauf. In einer Fußnote (sic!) warnt Habermas selbst vor den beunruhigenden Folgen der technologischen Innovationen, die die Forschungen über künstliche Intelligenz hervorgebracht haben (…) Der Streit geht darum, wie weit diese, hinausgehend über die absehbaren sozialen Veränderungen für eine digitalisierte Arbeitswelt, in die anthropologischen Grundlagen der Gesellschaft hineinreichen. (2/593)

Verdrossenheit auf der einen, Ressentiments auf der anderen Seite. Nicht unaufgeregt und nicht unbesorgt ist von »Posthumanisten« und »Mangel an Verblüffungsresistenz« die Rede, womit »sich ein abstrakt erinnerungsloses (…) Hintergrundverständnis« ausdrückt, »das den ›Anschluss‹ an das (…) Welt- und Selbstverständnis der zeitgenössischen Generationen verweigert.« Ist da nicht das angesprochen, was Habermas 2009 das »Bewußtsein von dem, was fehlt«, angemahnt hatte? An dieser Stelle drängt sich geradezu auf, über Habermas’ Werk hinauszudenken und neue Wege zu beschreiten, um das feine Flöten der Philosophie wieder vernehmbarer zu gestalten. Dies könnte, mit Michael Hampe (a. a. O.) 21 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Ein Bewusstsein von dem, was fehlt

gesprochen, bedeuten, »in einer global vernetzten Welt, statt die allgemeine diskursive Vernunft zu retten, mal zuhören, was in indischen, chinesischen, japanischen und afrikanischen Gegenden so alles als Philosophie verhandelt wird.« Wenn es heute schon »kein Äquivalent für das Versprechen ›rettender Gerechtigkeit‹« gibt, »das einst in den metaphysischen und religiösen Weltbildern artikuliert worden ist«, und den »prekären Status einer vernünftigen Freiheit« (2/778) manifestiert – warum dann nicht eine neue diplomatische Rolle für die Philosophie als Wissenschaft des holistischen Weltwissens und Welthandelns wie als Zukunftsdisziplin neu erfinden? Zumindest ihre Teildisziplin, die Ethik, funktionierte weltweit auch ohne okzidentale Denkkoordinaten, denn nicht nur Jesus und Buddha, auch Mohammed und Konfuzius – alles Menschen, keine Götter! – haben Ethiken hervorgebracht, die sich in global verständigte Regularien des guten Handelns übersetzen ließen. Und sei es nur, um der Menschheit angesichts all der gottlosen Gestalten (sei es in China, dem Iran et cetera) wieder ein Bewusstsein von dem einzuhauchen, was fehlt; und sei es nur, um die transnationale Kooperation voranzutreiben, wie das mit Kants (als Satire verfassten Schrift) Zum ewigen Frieden in Bezug auf den Völkerbund schon einmal gelungen ist. Dazu müssten wir nur nicht vor der urphilosophischen Frage »Was dürfen wir hoffen?« verzagen und, mit Bloch gesagt, den »Willen zur Utopie« aufbringen.

Anmerkungen Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Campus, Frankfurt am Main 2015. 2 Meinhard Miegel: Das System ist am Ende. Das Leben geht weiter. Verantwortung in Krisenzeiten, oekom, München 2020. 3 Ebd., 149 f. 4 Vgl. Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Hanser, München/Wien 1985. 5 Robert Misrahi: Leviathan und Garten, in: Lettre International 103, Winter 2013, 41. 6 Julian Nida-Rümelin, in: Marion Hartig, Philosophie: Gehen Deutschland die Denker aus?, in: Der Spiegel, 9. September 2008. 7 Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Suhrkamp, Berlin 2019. 8 Im Folgenden abgekürzt: Band/Seitenzahl. 1

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Ein Bewusstsein von dem, was fehlt Jürgen Habermas: Wozu noch Philosophie? in: Ders.: Philosophisch-politische Profile, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 1971, 15. 10 Jürgen Habermas: Philosophische Texte, Bd. 5, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, 408. 11 Die »Achsenzeit« ist von Karl Jaspers vom 6. bis 4. Jahrhundert v. u. Z. angesetzt, die als Parallelentwicklung von Weltbildern im Westen wie im Osten aufgefasst werden kann. 12 Dies mit der Begründung, dass es der Buddhismus sei, der »in Indien die entscheidende kognitive Wende herbeigeführt hat.« 9

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Die Performance der Utopie

Utopie als fröhliche Wissenschaft Die Philosophie verliert nicht nur – wie Habermas zugesteht – ihr Proprium, sondern bleibt mit wenigen Ausnahmen hinter der Globalisierung zurück. Während ihre Denker im Kreis tanzen, umspannen die Märkte die Welt. Was aber schwerer wirkt, ist, dass sie die Zukunft weitgehend ausblendet, und mit ihr die Utopie. Damit – und das ist hier entscheidend – vergibt sich die akademische Philosophie auch die Frage nach dem Glück und den Anspruch, »fröhliche Wissenschaft« sein zu können.

Utopien sind Projektionen Utopien werden gemeinhin so behandelt, dass wir den Boden der Tatsachen verlassen und im Bereich des Wunschdenkens und der Fiktion landen. Wir projizieren dann Wirklichkeit in ein Jenseits. Allein in den 500 Jahren seit Thomas Morus’ Utopia sind schon zu viele Utopien meist schmerzhaft gescheitert mit der Folge, dass die Furcht vor ihnen noch zugenommen hat, sich ja nicht wieder auf unliebsame Fährten zu begeben. Utopien sind zwar Projektionen, aber erst in ihrer Rückspiegelung auf die Gegenwart können sie sich schließlich bewähren. Es erfordert schon ein beträchtliches Maß an Phantasie, um das Unvorstellbare vorstellbar und das Unmögliche möglich zu machen. Schon die Phantasie hat eine Architektur, die der Gedanken und der Pläne, die nicht Bilder in den Himmel zeichnen sollen, sondern die Wolken vom Himmel herunterholen, als sei ihr Regen das, was uns tröstet. Das Reich der Phantasie fordert uns immer auf, Geschichten zu erzählen, die uns vorstellen lassen, wie wir das gute Leben zu leben hätten. Mit dem Versäumthaben sollen wir uns jedenfalls nicht aufhalten, auch wenn das Unabgegoltene des Vergangenen 24 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Die Performance der Utopie

immer auch in die Gegenwart hereinscheint und in die Zukunft weist. Eine Menschheit ohne Träume, das gibt es auch nicht, denn die Erschaffung der Welt liegt immer erst vor ihr. Den Mut zu haben, sich mit der Utopie zu beschäftigen, bedeutet, für eine Weile den empirischen Boden unter den Füßen zu verlassen und sich auf neues Terrain, die bessere Welt, einzulassen.

Die Villa In diesem globalen Klima der Unübersichtlichkeit und kulturellen Geozentrismen, die zu einer intellektuellen Paralyse des Weltgeists geführt haben, ist die Villa entstanden. 1 Zunächst war das Wunder der Walzmühle: die Konversion eines altehrwürdigen Industriegebäudes zu einer Wandelgalerie für die Utopie, die sich architektonisch in die Flusslandschaft der Stadt einfügte; ein symbolischer Ort. 2 Die Villa selbst war als Gegenteil von Gedenkpolitik und Museum geplant. Denn wer einen Philosophen »aktualisiert«, dessen Resonanz in der Vergangenheit liegt, »würdigt« ihn im Sinne eines Abgesangs. Feuilletons zum runden Geburtstag und Festakte zu nach ihm benannten Kulturpreisen lassen ihn im Glanz kurz aufleuchten, um sich bereits am nächsten Tag wieder dem Alltag zuzuwenden, dem der Philosoph entstorben ist. Der Philosophie ein »Palast« 3 zu sein, war der Zauber der utopischen Konzeption; ein gesellschaftliches Zentrum, wo die Philosophen, Künstler und Autoren ihrem Publikum begegnen konnten; 4 ein Ort für den Diskurs öffentlicher Wissenschaft, im »spekulativen Farbenbogen der Philosophie« klassischer wie zeitgenössischer Ausrichtung (also Aristoteles, Hegel, Marx, Spinoza, Schelling und Nietzsche ebenso wie Adorno, Habermas, Sloterdijk, Benhabib, Kermani, Illouz und Nida-Rümelin); auch ein Ort für Literaten mit philosophischem Hintergrund wie Ann Cotten oder Marcel Beyer. Ein Ort also, an dem mehr das Thema als die Person und mehr die Aussage als der Ruhm zu glänzen hatte. Das ist der dialektische Brückenschlag eines außeruniversitären Instituts, das kontrapunktisch Statements in die Gesellschaft hineinwirken ließ. Zum Zeitpunkt der Gründung der Villa befanden sich die Utopien im freien Fall. Wer von ihnen sprach, musste doppelt gute Grün25 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Die Performance der Utopie

de haben, warum er einem als aussichtlos geltenden Denk- und Handlungsprojekt den Weg zu weisen gedachte. Zukunft ja, Utopie nein? Zukunft findet immer auch ohne unser Zutun statt, wogegen Utopie den Mut erfordert, Zukunft mit Hoffnung aufzuladen, um sie – wie Martin Seel sagte – für denkbar, wünschbar und erfüllbar zu erklären; mit anderen Worten: die Menschen mitzunehmen. Keine self-fulfilling-utopia, vielmehr eine an belehrbarer Hoffnung (docta spes) und am Humanum ausgerichtete Orientierungspolitik. An dieser Stelle tritt der Philosoph Ernst Bloch in Erscheinung, in dessen Namen die Villa errichtet wurde. Kein anderer hat sich so konsequent der Utopie verschrieben und sich auf die Herausforderungen von Krisenbewältigung beziehen lassen. In den 400 Jahren seit Thomas Morus’ Utopia kam erst Geist der Utopie wieder einem Systementwurf nahe. Schon der frühe Bloch denkt radikal, spricht und schreibt in einer brachial-existentialistischen Sprache, so in »Geist, der sich erst bildet«: Wissenschaft ist radiziertes, Kunst potenziertes Leben, und die Philosophie? Unser Blut muß werden wie der Fluß, unser Fleisch wie die Erde, unsere Knochen wie die Felsen, unser Gehirn wie die Wolken, unser Auge wie die Sonne.«

Bloch vermochte es, den pejorativ missbrauchten Utopiebegriff mit einem Konkretionsgrad aufzuwerten, um sowohl den theoretischen Ausgriff auf die Belange der Menschheit zu wagen – also Metaebenen – als auch dem Kleinsten, Unmerklichsten und Alltäglichsten Geltung zu verschaffen. Wie keiner war Bloch ein Polyhistor, ein Rhetor und Enzyklopädist, ein letzter Universalgelehrter und philosophisches Charisma, dem sein Biograph Peter Zudeick »philosophischen Eros« zugedacht hat, was wir in der heutigen zersplitterten Zeit ebenso vermissen wie brauchen. So war der Plan, Ernst Blochs Philosophie und Utopie selber zu radizieren und zu potenzieren. Das sei mit drei Déjà-vus vorgestellt. (1) In Metzlers »Geschichte der Philosophie« behandelt Christoph Helferich alle wichtigen Philosophen seit der Antike. Schließlich angekommen bei Karl Popper, Theodor W. Adorno und Hans-Georg Gadamer heißt es:

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»Damit könnten wir eigentlich schließen. Es bleibt aber noch ein Unbehagen, eine Verlegenheit. Es muß noch von einem Mann berichtet werden, (…) (d)er nirgendwo hinpaßt, nicht ins Kaiserreich und nicht in die Weimarer Republik, der vor dem Faschismus in die Tschechoslowakei, dann in die USA emigrieren mußte, der von 1948 bis 1965 Philosophieprofessor in Leipzig war, aber, weil man ihn dort nicht mehr haben wollte, 1961 in die Bundesrepublik umgesiedelt ist, um schließlich in Tübingen weiter Philosophie zu lehren, bis er 1977 im Alter von 92 Jahren gestorben ist. Er erscheint nicht am Ende dieses Abschnitts des europäischen Denkens, weil er etwa als Summe oder letztes Wort zu verstehen ist. Er tritt an den Schluß, weil er in einer verzagten, skeptischen und zerrissenen Zeit noch immer sehr viel zu sagen hat. Als Kontrapunkt, denn Ernst Bloch – von dem hier die Rede ist – ist ein Philosoph der Hoffnung. Sein Leben lang hat sein Leben dem gegolten, was in der Vergangenheit ›unerledigt‹ geblieben ist, womit die Gegenwart schwanger geht – das Morgen im Heute, das Mögliche, das bessere Leben, die konkrete Utopie.« 5

Die »Verlegenheit« ergibt sich aus der Sonderstellung von Ernst Bloch, der keine Schule begründet hat und der stets quer zu den Verhältnissen gedacht und dagegen angeschrieben hat. Bloch ist ein Solitär, was keineswegs heißt, dass seine Philosophie ausgrenzt. Im Gegenteil: Es gibt viele Schulen, die sich auf seine Philosophie einlassen beziehungsweise sie rezipieren: Hegel, Marx, Sartre, Cassirer, Benjamin, ja sogar Heidegger (in Italien). Aber er stand als Zeitgenosse auch antipodisch etwa zu Günther Anders oder Hans Jonas. Außerdem rehabilitiert Bloch zu Unrecht untergegangene oder in Geschichtsnischen versteckte revolutionäre Denker wie Thomas Müntzer und Joachim di Fiore. Bloch ist einer, der die Geschichte der Ideen bei Metzler abschließt und zugleich weitertreibt, denn er hinterlässt unter anderem in Frankreich, Italien, Südamerika, Japan und Australien Spuren. (2) Zur Eröffnung der Villa wurde der Ernst-Bloch-Preis an den Historiker Eric J. Hobsbawm verliehen, und dort sagte der Förderpreisträger Navid Kermani folgendes Bemerkenswertes zum vergessenen Philosophen: »Bloch ist veraltet. Aber der Befund spricht nicht gegen ihn, er spricht gegen uns. Und ich glaube, die eigentliche Kraft, die Blochs Philosophie heute entwickeln kann, die Schärfe und die Provokation, liegt

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nicht in den Versuchen, seine Gegenwärtigkeit mühsam zu behaupten, sondern im Gegenteil: die Distanz, die uns trennt, schmerzhaft zu empfinden. Bloch muß nicht aktualisiert, er muß erinnert und gegen die Gegenwart gelesen werden, damit sie nicht alles bleibt. Wenn ich sage, daß die philosophischen Hauptschriften (…) Blochs veraltet seien, meine ich deshalb nicht, daß sie nicht gelesen werden müßten. Im Gegenteil sagt Bloch mir noch in seiner Fremdheit, seiner Antiquiertheit, seinen hinreißenden und ärgerlichen Anmaßungen mehr als fast alles, was heute philosophisch geschrieben wird. Eben weil wir ihn hinter uns gelassen haben, lesen wir in ihm, was wir verloren haben. Vielleicht ist auch der Begriff des Veralteten ganz falsch: Das Prinzip Hoffnung ist voller Jugend, aber vielleicht sind wir, ist unsere Zeit und meine Generation zu alt geworden, als daß Bloch unmittelbar zu uns spräche.« 6

Kein »Urteil« als dieses anachronistische war beflügelnder. Blochs »Antiquiertheit« so offen anzusprechen ist nichts als die Wahrheit, aber der spätere Friedenspreisträger Kermani wendet sie gegen uns. Blochs Resonanz in der Vergangenheit ist das Unabgegoltene, und die Villa der Ort der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit der Welt. Bloch selber niemals sektenhaft im Mittelpunkt belassen, sondern seine offene Philosophie im Hintergrund als Mahnung. Grund genug, sich der Themen, die aus der Blochschen Philosophie extrahiert wurden und trotzdem zeitlos daherkommen, anzunehmen: Hoffnung, Heimat, Aufrechter Gang, Religion, Künste, Naturallianz und Arbeit. An diesen sieben – für die Ausstellung sogenannten – Themensatelliten lässt sich jeder Diskurs andocken. Dies erkannte die »Neue Zürcher Zeitung«, die erstaunt darüber war, in welcher Weise es »doch möglich ist, ein Denken und seine Themen von der Lebenswelt abzulösen, in welcher sie entstanden sind.« 7 Bedeutet das nicht – frei nach Franz Marc, Utopie so zu behandeln, als würden wir mit ihr an einem anderen Ort wieder auftauchen? (3) Eine andere, aber ganz ähnliche Stimme, die nicht um Bloch herumschreibt, um ihn zum Fossil eines Denkens der 1968er Zeiten des Protests zu degradieren, ist Slavoj Žižeks Statement: »In his extraordinary opus, Ernst Bloch provided a detailed and systematic account of such an open universe—opened up toward its future, sustained by the hope of redemption, joy, and justice to come. He analyzed this dimension of hope in all its scope, from »low« kitsch

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romances through political and economic liberation up to religious extasis. In our »postmodern« cynical constellation, he reminds us that denunciation of ideology is not enough: every ideology, even the most horrifying Nazism, exploits and relies on authentic dreams, and to combat false liberation one should learn to discern in it the authentic utopian core. This approach reaches its climax in Bloch’s insight that ›only an atheist can be a good Christian and only a Christian can be a good atheist.‹ One should take this insight quite literally: in order to be a true atheist, one has to go through the Christian experience of the death of God—of God as the transcendent Master who steers and regulates the universe—and of resurrection in the Holy Spirit—in the collective of those who fight for emancipation. We may disagree with many points made by Bloch, say, with his critique of Freud, but he is one of the rare figures of whom we can say: fundamentally, with regard to what really matters, he was right, he remains our contemporary, and maybe he belongs even more to our time than to his own. 8

»Utopie für alle«, das sollte möglich sein. Rein wissenschaftlich spricht manches dagegen, wenn die Utopie der Politikwissenschaft subordiniert wird. Aber auch hier spricht nur die westliche Auffassung von Philosophie. Bei Utopie müssen wir grundsätzlicher denken. Die Utopie kann schwerlich für sich alleinstehen und ist kein Eigenzweck, denn dann könnte sie – Hobsbawm hat davor gewarnt – missbraucht werden für nichthumane Zwecke. Vielmehr ist die Utopie eine Korrespondenzwissenschaft, denn sie steht als Prädikat für die Einzelwissenschaften; utopisch denken und handeln können die Soziologie, die Architektur, die Medizin, um nur wenige zu nennen. Es gibt bei Brecht in »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« den paradiesisch anmutenden Zustand in der Stadt, wo alle scheinbar alles haben und glücklich sind; bis einer sich erhebt und ruft: Aber etwas fehlt! Das heißt: Die Utopie ist alles, nur keine Perfektion, bei der es nichts mehr zu tun gibt. Dieses Etwas fehlt ist das, worauf sich Utopie bezieht. Bloch erläutert dies in einem Gespräch mit Theodor W. Adorno so: »Jede Kritik an Unvollkommenheit, an Unvollendetem, Unerträglichem, nicht zu Duldendem setzt (…) schon die Vorstellung von, die Sehnsucht nach einer möglichen Vollkommenheit voraus. (…) Hoffnung ist das Gegenteil von Sicherheit, ist das Gegenteil eines naiven Optimismus.« 9

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Die utopischen Formate Letztlich sind Utopien nicht zum Denken da, sondern zum Handeln. Ingeborg Bachmann hat einmal von Utopiezeichen gesprochen, die für den »inneren Zusammenhang« ihrer Schriften stehen mögen. Die Utopiezeichen erkennen wir daran, wenn hinter der scheinbar trockenen, wissenschaftlichen Materie ein Narrativ steht, das für die Menschen greifbar ist und für die »Melancholie der Erfüllung« (Ernst Bloch) steht. Das ideale Format anzustreben ist selber eine Utopie, denn es zu finden und zu formulieren bedeutet nichts weniger als in Gegensätzen und in Unmöglichkeiten zu denken – und nach den Sternen greifen. Nicht selten gelang es auf diese Weise, gegensätzliche, das heißt streitbare Diskutanten zu benennen und an einen Tisch zu bringen, wie das mit der Politikerin Sahra Wagenknecht und dem Politiker Heiner Geißler der Fall war: weiblich / männlich, Ost / West, jünger / älter, rot / schwarz; 10 oder mit Bischof KarlHeinz Wiesemann und dem Philosophen Navid Kermani zum Thema des veränderten Stellenwerts der Weltreligionen; oder mit dem Philosophen Axel Honneth und der Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth zum Thema »Revolution der Demokratie?«, moderiert von Gert Scobel von Kulturzeit/3sat; oder mit der Schriftstellerin Juli Zeh und dem Philosophen Robert Pfaller zum Thema »Vom Nutzen und Nachteil des Denkens für das Leben«. Selbst das gescheiterte Gespräch zwischen Juli Zeh und Frank Schirrmacher, dem Chefredakteur der FAZ, der ein paar Wochen vor der Veranstaltung unerwartet verstorben war, steht für den utopischen Impuls. Das gilt schließlich für die geplante Inszenierung eines Gesprächs mit dem Philosophen Oskar Negt und dem Filmemacher Alexander Kluge, die im Blochschen Arbeitszimmer (unter der begehbaren Glasplatte) gemeinsam aus »Geschichte und Eigensinn« lesen sollten, das sie 1972 Wort für Wort zusammen verfasst haben. Sogar der Ernst-Bloch-Preis, das originäre Verdienst von Karlheinz Weigand, lange vor der Wirkungszeit der Villa ins Leben gerufen, geriet mit dieser Ausrichtung erst zum Königsformat. Seit der Preisverleihung an Jürgen Moltmann wurde der Radius der BlochExegeten überschritten, was bedeutet, dass beginnend mit Pierre Bourdieu und Michael Pauen auch Wissenschaftler mit dem Preis bedacht wurden, die im engeren Sinne nicht mit Bloch in Verbindung zu bringen waren. Um beispielsweise den richtigen Bloch-Preisträger zu finden, sollte – was der Fall war – Barack Obama oder Susan Son30 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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tag eine Möglichkeit gewesen sein, bevor sie mit guten Gründen verworfen wurden. Also kein inhaltsleeres name-dropping, was auch auf Jürgen Habermas zutraf, der Bloch schon früh als »marxistischen Schelling« bezeichnet hat. Alle Preisträger seit 1997 haben diese geistige Verbindung zu Bloch beziehungsweise zur Utopie in ihren Preisreden schließlich selbst hergestellt: Pierre Bourdieu (utopie réfléchie), Eric J. Hobsbawm (Utopie als Glaube an die universalen Werte der Aufklärung), Seyla Benhabib (Utopie und Anti-Utopie), bis hin zu Dan Diner (Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen), Carolin Emcke und Achille Mbembe. Das waren Ereignisse im Weltformat. – Als zweites, ergänzendes Königsformat wurde »Die Zukunftsrede« etabliert, die Volker Braun, Sascha Lobo und Ernst Ulrich von Weizsäcker hielten. Die Villa ist ein Zukunftsforum für Themen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, um den Zeitgeist aufzurufen. Außer zu runden Jubiläen oder Tagungen mit der Ernst-Bloch-Gesellschaft 11 wurde der Bezug zu Bloch nur aus bewusster Distanz hergestellt. Man konnte, musste sich aber nicht in der Sphäre der Blochschen Philosophie bewegen, um auf so verschiedene Geschichts- und Gegenwartsphänomene wie Migration, digitale Welt, Rechtsradikalismus oder Europa zu setzen. Beispiele dafür waren die Lesungen der Zeitzeugin Anita Lasker-Wallfisch, eine der letzten bekannten Überlebenden des Mädchenorchesters von Auschwitz, ebenso wie der konzertante Auftritt von Wolf Biermann oder die Ausstellung zum „Exil“ zusammen mit der Berliner Akademie der Künste. Vergangenes wurde in die Gegenwart hereingeholt, um aus ihm im Diskurs mit der Gesellschaft zu lernen.

Dieses Buch Die in diesem Buch zusammengestellte Auswahl von Vorträgen und Essays widerspiegeln das »außenpolitische« Engagement des Direktors. 12 Die Einladungen (zu Vorträgen oder Beiträgen in Büchern, Presse und Fernsehen) sind als Reaktion der Öffentlichkeit auf die Wirkung der Villa zu sehen. Deren konkret-utopischer Ansatz hatte sich herumgesprochen. Die Vielfalt der Themenstellungen repräsentiert die breite Fächerung der Utopie und auch ihre Interdisziplinarität. Hier entfaltet sich schließlich der mögliche Rang der Philosophie

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selbst, ganz in dem Sinne, dass sich auch die Einzelwissenschaften so manchen utopic turn durchaus zumuten und zutrauen können. Die Texte spannen einen Schirm auf, unter den die utopischen Ideen und Ansätze für eine bessere Welt ausgebreitet sind. Dort herrscht die Fragestellung vor, welche Philosophie heute gebraucht wird, die den Mut zur Utopie hat. Letztlich sind es Texte, die beispielhaft mit den Themenbereichen Philosophie, Natur, Kultur, Reisen und Reisen zeigen, dass das utopische Denken auf politisches Handeln hinausläuft. Das Ganze ist abgerundet mit einer Auswahl von zwei von ihm veranstalteten Diskursen, die für sein öffentliches Eintreten für Streitkultur stehen mögen, mit Heiner Geißler und Sahra Wagenknecht sowie mit Alfred Grosser, Konrad Paul Liessmann und Mark Terkessidis. – – – Was uns die Utopie auch lehrt: Erfahrung hat uns nicht immer klug werden lassen. Manchmal hat sie uns niedergeschlagen, und wir hatten erst noch zu lernen, was Demut bedeutet. Dafür steht aktuell die COVID-19-Krise, die uns einerseits besonnen werden lässt, aber auch zwingt, nicht nur einen Plan, sondern auch eine krisenfähige Utopie zu haben. Insofern ist die Rückkehr zur Utopie der Schritt zurück, der zwei Schritte nach vorn machen lässt.

Anmerkungen Die Villa, das seit 1995 geplante und im Jahr 2000 gegründete Ernst-BlochZentrum, mit dem erreicht war: der Erwerb aller Nachlässe (auch des wissenschaftlichen); der Umbau der ehemaligen Direktorenvilla der Walzmühle zum Zwecke der Schaffung einer einzigartigen Architektur und Konzeption für das Werk des Weltphilosophen; die Gewinnung von dreißig Sponsoren; die Gründung einer Stiftung mit der Stadtsparkasse, der Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur, der Landesbank, der Stadt Ludwigshafen; alles im höheren siebenstelligen Euro-Bereich. Siehe: Ernst-Bloch-Zentrum. Zukunft als Programm, Edition Braus im Wachter-Verlag, Heidelberg 2002, mit Beiträgen von Klaus Kufeld, Peter Ruf und Karlheinz Weigand.

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Die Performance der Utopie Zur Konversion der Walzmühle siehe den schönen Bildband von Arne Winkelmann und Timo Schuster: Die Ludwigshafener Walzmühle. Industriebau – Wahrzeichen – Zeitzeuge, antaeus, Frankfurt am Main 2020, bes. 113 ff. 3 So Ernst Bloch in: Gedenkbuch für Else Bloch-von Stritzky, in: ders.: Tendenz – Latenz – Utopie, Ergänzungsband zur GA, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1978, 25. 4 In »Gäste der Villa« auf den Seiten 277–278 sind Wissenschaftler, Künstler und Politiker aufgeführt, die in Vorträgen, Lesungen, Ausstellungen und Tagungen den utopischen Diskurs bereichert haben. Mit vielen von ihnen blieb auch der Direktor im regen Austausch. 5 Christoph Helferich, Geschichte der Philosophie, Metzler, Stuttgart 2001, 444. 6 Navid Kermani: Bloch, gegen die Gegenwart gedacht (Rede anlässlich der Verleihung des Ernst-Bloch-Förderpreises 2000 am 5. November 2000 im ErnstBloch-Zentrum), abgedruckt in: Die Gegenwart der Utopie. Zeitkritik und Denkwende, Hg. von Julian Nida-Rümelin und Klaus Kufeld, Verlag Karl Alber, München/Freiburg 2011. 7 Joachim Güntner: Zukunftsthemen und Erinnerungsstücke, in: Neue Zürcher Zeitung, 27. Dezember 2002. Abgedruckt in diesem Band (Anhang). 8 Slavoj Žižek: Bloch’s Ontology of Not-Yet-Being, in: Peter Thompson / Slavoj Žižek (Editors): The Privatization of Hope, Ernst Bloch and the Future of Utopia, Duke University Press Durham and London 2013, IX f. 9 Etwas fehlt … Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Ein Gespräch mit Theodor W. Adorno (1964), in: Gespräche mit Ernst Bloch, Hg. von Rainer Traub und Harald Wieser, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975, 75. 10 Dieses Streitgespräch ist in diesem Band ab Seite 223. 11 Unter den Präsidentschaften von Burghart Schmidt und Francesca Vidal hat die Ernst-Bloch-Gesellschaft maßgeblich zur konzeptionellen Ausarbeitung der Villa beigetragen. 12 Eine gute Zusammenfassung der »Innenpolitik« gibt: Klaus Kufeld: Im Diskursraum der Utopie, Eine szenische Auslese aus 20 Jahren Ernst-Bloch-Zentrum, mit Fotografien von Bernhard Kunz, Ludwigshafen 2018. 2

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Philosophie

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Gibt es Zukunft ohne Utopie? (500 Jahre »Utopia« von Thomas Morus) Vortrag, gehalten im Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen (2016)

Woran denken wir eigentlich, wenn wir von Zukunft sprechen? Wie diffus oder konkret ist das? Entstehen dabei Pläne oder Wolkenkuckucksheime? Eines steht fest, wir kriegen sie nicht zu fassen. Schon die nächste Minute ist schon wieder Vergangenheit, ehe wir sie erleben. Die Zeit fließt, ja alles fließt. Mit uns und ohne uns. Aus dem »Verweile doch, du bist so schön«, was Faust zum Augenblick sagt, macht Ernst Bloch eine ganze Philosophie: das »Dunkel des gelebten Augenblicks« ist das Weltgeheimnis. Und mit ihm auch die nicht greifbare Zukunft. Heute, in der modernen, entdeckten und erforschten Welt erscheint uns Zukunft immer planbarer, prognostizierbarer, es gibt Zukunftsforschung, Zukunftswissenschaft und Trendforschung (von Horst W. Opaschowski bis Matthias Horx und Harald Welzer), aber verifiziert kann sie nur werden in der Vergangenheit. Wir können überprüfen, ob die Zukunftsmodelle von Rem Koolhaas oder von El Lissitzky oder von Malewitsch Zukunft getragen haben, aber empirisch belegbar, wie sonst Wissenschaft es sein will, sind sie nicht. Die Welt konnte sich immer auch ganz anders entwickeln. Und immerhin dürfen wir nicht vergessen, dass Kriegen und ähnlichen Desastern oft Visionen zugrunde lagen, die Zukunft zerstört haben. Schon in diesem Sinne kann Zukunft nicht wertfrei sein. Wenn die Philosophie – nach Hegel – ihre Zeit in Gedanken fasst, steht die Utopie für Kritik an ihr.

I.

Zeitkritik

Heute gibt es durchaus ein babylonisches Sprachgewirr, wenn wir Zukunft, Plan, Vision und Utopie in einem Atemzug benennen und doch verschieden einstufen und bewerten. Sogar der gute Vorsatz, etwa zum Jahreswechsel, gehört dazu. Dabei ist auffällig, dass über 37 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Gibt es Zukunft ohne Utopie?

Zukunft gerne und über Utopie nur mit Hemmungen oder gar mit Abwehr gesprochen wird. In der Philosophie ist man sich einig, dass die Geschichte der Utopie mit Platons Politeia 1 beginnt. Sie ist eine politische Utopie, auf dem Fundament des Gedankens der Gerechtigkeit, entstanden als Antwort auf den ungerechten Tod des Sokrates und als Kritik an der attischen Gesellschaft. Bis in die Neuzeit herein waren die meisten Utopien Staatsutopien und Gesellschaftsentwürfe, und das ist es auch, was Platon, Morus, Hobbes und Rousseau eint. Alle Klassiker der politischen Utopien, Platons Politeia (zirka zwischen 390 und 370 vor unserer Zeitrechnung), Thomas Morus’ Utopia (1516), Tommaso Campanellas Sonnenstaat (1602/1603) oder Francis Bacons Nova Atlantis (1627) aus der Renaissance, sind entstanden aus der Kritik an gesellschaftlichen Zuständen ihrer Zeit. 2 Sie gelten als fiktive Staatsmodelle und Raumutopien, wo die perfekte, ins (nach heutiger Lesart) Diktatorische gehende soziale und politische Ordnung zum Regulationsprinzip erhoben ist. Bei Morus etwa ist die Sklavenarbeit keineswegs in Frage gestellt und bei Campanella gibt es den freien Willen des Individuums nicht, was für die Sonnenkönige des Französischen Absolutismus direkt Beispiel gebend war. Die Tatsache, dass in Platons idealem Staat schließlich Philosophenkönige herrschen sollten, die der gerechten Idee verpflichtet sind, Frauen aber ohne Rechte bleiben, kann nicht über den hermetischen Charakter perfektionistischer Gesellschaften hinwegtäuschen. Der Kommunismus hat durchaus seine 2400-jährige Geschichte. An der Koppelung der Idee vom gerechten Leben ohne Sorge, Neid und Krieg, mit dem alles schützenden starken Staat, hat die europäische Kultur über Jahrhunderte festgehalten, erst Immanuel Kant und die Aufklärung stellten die Emanzipation des Menschen als Vernunftwesen in den Vordergrund. 3 Kant war auch der erste, der eine kosmopolitische Utopie entworfen hat. Seine kleine Schrift »Vom ewigen Frieden« diente als Vorlage für die heutige UNO. Heute stellen wir fest, dass der Begriff der Utopie deutlich diskreditiert ist. »Utopien« haben den sprichwörtlich schlechten Ruf, der zugleich aber von ihrem Wesen ablenkt. (1) Der erste Grund liegt meines Erachtens im Begriff selbst. Die (Kunst-)Wortschöpfung »Utopia« von Thomas Morus 4 hat sich semantisch vollständig verselbstständigt. Der Begriff, wörtlich mit »Nicht-Ort« und »Nirgends« 5 übersetzt, legt ab ovo die falsche Spur der Nichterreichbarkeit oder macht seinen Inhalt ausgedacht und all38 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Gibt es Zukunft ohne Utopie?

beliebig. So gelten die meisten Staatsromane und Gesellschaftsentwürfe (von »Utopia« bis zum »Gottesstaat«) als utopisch im Sinne von unerreichbar, während ihre eigentlichen Aussagen, sei es die gerechte Verteilung der Güter, sei es Selbstbestimmung über den technischen Fortschritt oder Gleichheit zwischen den Menschen in den Hintergrund treten. Alles Utopische wurde eher pejorativ konnotiert. Auch die neuzeitlichen Utopien wie das »Kommunistische Manifest« von Marx und Engels und Dystopien wie »1984« von Orwell und »Schöne neue Welt« von Huxley erzeugten angreifbare Bilder auf Kosten der Idee und der Motive (zum Beispiel Abschaffung des entfremdeten Menschen). Die reale Praxis der Gleichschaltung von Bedürfnissen oder des Überwachungsstaats ließ die Kritik an unwürdigen politischen Verhältnissen vergessen und hatte die Pervertierung und nachhaltige Diskreditierung der Utopie zur Folge. (2) Der zweite Grund für den schlechten Ruf von »Utopie« liegt in ihrer örtlichen oder zeitlichen Entgrenzung, mit all den Folgen einer uneindeutigen Begriffssemantik. Die Geschichte der Utopie seit der Renaissance zeigt, dass die Menschen ihre utopischen Vorstellungen durchgängig an einen anderen Ort, in eine andere Zeit oder gar in eine andere Welt verlegt haben. 6 Orts- und zeitversetzte Ferne katapultiert die Utopie ins Reich des Irrealen. Solcherart abstrakte Utopie, so Ernst Bloch, »ist an sich nichts als ein Wunschtraumgebilde […], ohne Bedürfnis [es] zu prüfen auf [seine] reale Gültigkeit, auf [seine] Vermittlung mit der Realität.« 7 So ist Ernst Bloch der erste, der den Utopiebegriff rehabilitierte, indem er ihn vom Kopf auf die Füße stellte. Er sorgte dafür, dass der Begriff der Utopie aufhört ein Schimpfwort zu sein, indem er den Scharnierbegriff der »konkreten Utopie« einführt. Auch wenn das ambivalente Dilemma, dass Utopie nicht wirklich konkret und Konkretion nicht wirklich utopisch sein kann, versuchte Bloch in der Beziehung zwischen Hoffen und Scheitern (»Optimismus mit Trauerflor« 8) zu überbrücken. Oder in seiner Unterscheidung zwischen »unechter« und »echter Zukunft«. Unechte Zukunft kommt auf uns zu, ohne unser Einwirken; echte Zukunft ist gestaltbar. Dieser Begriff der »echten Zukunft« wird in seine historischen Koordinaten gestellt, denn nichts, was kommen kann, kann ohne Bezug zur Gegenwart, ja zur Vergangenheit gedacht werden. Das Unabgegoltene unserer Geschichte bleibt ein Motiv, das Gegenwärtige und Zukünftige zu begreifen. Ernst Bloch gibt dem Begriff der Utopie gewissermaßen seine Energie und seinen politischen und ethischen Gehalt zurück. Er fasst 39 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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ihn anthropologisch und zugleich interdisziplinär – und zwar durchaus gewagt im Grenzbereich zwischen Philosophie und Psychologie. Er knüpft ihn an die Hoffnung. Und das Hoffen ist eine anthropologische, zutiefst menschliche Konstante, weil jeder Mensch wünscht, träumt, Sehnsucht empfindet und eben hofft auf Besseres. Zukunft kann dann nicht mehr neutral gedacht werden. Bloch hält die Hoffnung (im Scheitern) für belehrbar (docta spes) und sie ist damit nicht mehr nur ein psychologischer Affekt, sondern durchaus eine rationale Fragestellung, nämlich wie sich das Hoffen in der Realität bewähren kann. Eine ähnliche Ambivalenz trägt der Begriff der »Heterotopie« von Michel Foucault, mit dem Gegenräume, Alternativorte, lokalisierbare Utopien, andere Orte wie Schiffe, Museen, Theater bezeichnet sind. Der Begriff der Heterotopie (wörtlich: anderer Ort) trägt die utopische Energie der Beunruhigung, wenn auch nicht notwendig die der Veränderung. Foucault unterscheidet zwischen Utopie und Heterotopie und sagt: »Die Utopien trösten; wenn sie keinen realen Sitz haben, entfalten sie sich dennoch in einem wunderbaren und glatten Raum … […] Die Heterotopien beunruhigen […].« 9 Utopien trösten deshalb, weil mit ihnen die »Sehnsucht nach dem Anderen« (Max Horkheimer) zum Ausdruck kommt. Wir kennen das Tröstende in der Sehnsucht nach Frieden oder in der Sehnsucht nach Nähe, Liebe und Vergebung, höchsten Werte also, die wir sowohl rational als auch emotional einfassen können. In der Wissenschaft wird gerne zwischen der »Thomas-MorusWeise« und der »Ernst-Bloch-Weise« unterschieden. 10 Erstere steht für Typologisierung, letztere für die Anthropologisierung der Utopie. Ernst Bloch hat den Utopiebegriff aus seinem verwissenschaftlichten Korsett befreit, indem er ihn um die »Kategorie Möglichkeit« 11 anreicherte. Während sich die klassische Utopieforschung noch hauptsächlich mit fiktiven, »ausgefeilte[n] Elaborat[en]« (Sitter-Liver) in Literatur und Staatsroman beschäftigte, sind es heute – stellvertretend für die Kreativenergie der Zivilgesellschaft – auch und gerade die Künste (Malerei, fiktiver Roman, Musik, Performancekunst), die utopische Potenziale ansprechen und transformieren, sublimieren. 12 Die Ausstellung hier im Wilhelm-Hack-Museum zeigt das ja eindrücklich, z. B. in architektonischen Zukunftsmodellen zum ökologischen Wohnen. Solcher Art Architekturen sind für Bloch »Produk40 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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tionsversuche menschlicher Heimat«. Die klassische Utopietradition ist jedenfalls seit Blochs Epoche machendem Werk Geist der Utopie aus dem Jahr 1918 13 weit zurückgelassen, weil dort »auch Kunst und Literatur ungleich stärker von den dort umkreisten Möglichkeiten menschlichen Wünschens und Hoffens angeregt und beeinflusst worden sind.« 14 Hören Sie sich das einmal in der Blochschen Sprache an: Ich bin. Wir sind. Das ist genug. Nun haben wir zu beginnen. In unsere Hände ist das Leben gegeben. Für sich selber ist es längst schon leer geworden. Es taumelt sinnlos hin und her, aber wir stehen fest, und so wollen wir ihm seine Faust und seine Ziele werden. 15

Wir sehen, Bloch denkt hier existentialistisch, der Mensch ist zwar da und für sich allein, aber er entwirft sich erst im Wir zu einem wirklichen Menschen. Subjekt ist noch nicht Prädikat. Bloch selbst spricht von einer »kopernikanischen Wende« 16 im utopischen Denken. Denn ein so verfasstes Denken und Handeln begreift Utopie als performative Energie und Sprengkraft 17, und erst mit ihrer Erdung wird sie zum Potenzial für Veränderung und letztlich zum politischen Faktor. (Übrigens ganz im Sinne Karl Mannheims.) Die Utopie wird zum Potenzial für Kritik am Zeitgeist, an ungerechten Verhältnissen – und eigentlich ist schon »Utopia« von Morus so zu lesen. Denn schon der Renaissance-Politiker Thomas Morus, ein hoher Staatsbeamter, nämlich Staatskanzler unter Heinrich VIII., schrieb mit »Utopia« eine Gesellschaftssatire (Kritik der Aristokratie Heinrichs VIII.), mit dem Possenreißer Hythlodeus als Hauptperson und eben nicht als für bare Münze zu nehmende Idealstaatsvision. Wir überwinden die »extreme pejorative Semantik« (Saage) 18, die den Utopiebegriff umgibt, nicht, wenn man ihn der »Verallerweltlichung« (Andreas Heye) bezichtigt. Er ist im Alltagsgebrauch nicht deshalb verschliffen und in seinem semantischen Sinn ins Gegenteil verdreht, weil man ihn anthropologisiert auffasst, sondern weil man es versäumt hat, ihn vom Kopf auf die Füße zu stellen. Martin Seel macht hierzu einen bemerkenswerten Vorschlag zur Verechtzeitlichung der Utopie, überhaupt zu ihrer Zeitlichkeit. In seinen »Drei Regeln für Utopisten« bindet er die Utopie auf die Gegenwart zurück in der Ver41 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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mittlung mit der Kategorie Möglichkeit, philosophisch ganz mit Bloch, faktisch jedoch ohne ihn: »Utopien sind unmögliche Möglichkeiten, die mögliche Möglichkeiten sichtbar werden lassen.« 19 Seel erlegt der Utopie »Regeln« auf, spricht von deren »Denkbarkeit«, »Erfüllbarkeit« und sogar »Erreichbarkeit«. 20 Die »realistische«, antidogmatische Komponente des Utopischen besteht darin: »Wir müssen nicht nur wünschen, sondern wollen können, in dem utopischen Zustand zu sein.« 21 Auch wenn wir uns die Utopie philosophisch als etwas Mögliches und Anzustrebendes vorstellen können, ist der Begriff im politischen Raum ins »Arsenal entehrter Begriffe« geraten, wie Max Horkheimer das ausdrücken würde. 22 Vor der Wende 1989/1990 war der Utopiebegriff stark ideologisiert und gerne synonym gesetzt mit Sozialismus, »diese[m] verblassten und verwitterten Wort […].« 23 Die Wende selbst war vielen willkommener Anlass, um das »Ende des utopischen Zeitalters« 24 auszurufen und als finalen Totschlag der Utopie aufzufassen, weil sich das System Sozialismus in ein »Selbstmatt« hineingewirtschaftet hat. Die Synonymisierung von gescheitertem Real-Sozialismus und Utopie bedeutete den Utopieverlust schlechthin, unterstützt von polemischer Geißelung. (In diese schwere Zeit des Utopieverfalls fiel auch die Gründung des Ernst-Bloch-Zentrums … Die Konjunktur sprach eigentlich gegen uns.) Das Feuilleton, etwa DIE ZEIT, sprach von »Utopien, das alte Lieblingsspielzeug der Intellektuellen«, die »sang- und klanglos in der Abstellkammer des Weltgeistes [verrosteten].« 25 Und als der über den Realsozialismus obsiegt habende selbstregulative Kapitalismus lange Zeit seine Weltregie selbstherrlich (weil ohne Geschäftspartner auf Augenhöhe) führte, musste der Kampf um Gerechtigkeit und Menschlichkeit im »utopischen Vakuum« geführt werden. Erst als es zur dramatischen Weltfinanzkrise 2008/2009 kam, witterte die Kapitalismuskritik Morgenluft (z. B. über Alain Badiou, Slavoj Žižek 26), was ihr prompt als auferstandene »Propaganda für den Kommunismus« 27 umgedeutet wurde. Für die einen »[kann] ein Schuss Kommunismus dem Kapitalismus nicht schaden« (Žižek), für die anderen sollte man »dem Kapitalismus endlich Manieren beibringen und es mit dem liberalen Altmenschen noch einmal versuchen« (Assheuer). 28

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Wie ist das nun heute? Der freiheitliche, aufgeklärte Mensch heute kann sich in den perfektionistisch durchregularisierten Systemen seit Morus längst nicht mehr wiederfinden. Im Gegenteil: Die digitale beziehungsweise Internetwelt hat praktizierbare Utopien in Echtzeit geschaffen, die diversifizierte »Cyberworld« verspricht neue utopische Räume, die den Menschen in der Zeitmaschine mitnehmen, gesteuert und zugleich selbst am Steuer. Die »Realität« dieser Utopien verführt in Wunschwelten subjektiver Betroffenheiten. Die sozialen Netzwerke, die ein ungeheures Potenzial für Kommunikation zwischen den Menschen und Völkern tragen, müssen ihre utopische Energie erst noch herausarbeiten. Die Allerreichbarkeit und Allverfügbarkeit der Menschen schließen Nähe, Freundschaft, Würde und Glück nicht per se ein. Ich kenne manchen, den Google und sein alles könnendes Smartphone durchaus einsam gemacht haben. Die Utopie der digitalen Kommunikation ist eine technische, eine menschliche per se nicht unbedingt. In diesem Sinne würde ich die digitale und Cyberworld eher als Heterotopie bezeichnen, die beunruhigt, und weniger als Utopie, weil sie nicht unbedingt tröstet.

II.

Denkwende

Utopien haben immer dann wieder Konjunktur, wenn der Menschheit Gefahren drohen. Die Wertigkeit von Zukunft bekommt dann Aufwind. Während die einen Glaubenskriege entfesseln oder diffuse Ängste vor Flüchtlingen schüren, wächst bei den anderen – der Mehrheit? – der Traum Frieden zu stiften, in Freiheit zu leben, ja gut zu leben. Die Stichworte für utopiehaltige Zukunft sind Klimawandel, Bedrohung des Planeten, Wachstumsspirale, Integration, auch Europa. Und an dieser Stelle kommt die Moral ins Spiel in Form einer politischen Ethik der Utopie. Ohne direkt auf Utopie zu sprechen zu kommen, gibt es bei Hannah Arendt einen Hinweis zur »Unabsehbarkeit der Taten« und zur »Macht des Versprechens«, um »das Zukünftige zu sichern.« 29 Der Moralanspruch trifft auch auf das utopische Handeln zu. Hannah Arendt sagt:

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»Die Versprechen [werfen] gewisse, genau abgegrenzte Inseln des Voraussehbaren, wie Wegweiser in ein noch unbekanntes und unbegangenes Gebiet.« Dafür müsse man »mit der Zukunft so […] schalten und so über sie […] disponieren, als wäre sie eine Gegenwart.« 30

Das moralische Versprechen an die Zukunft betrifft unsere Verantwortung im Heute. Hannah Arendts »Vita activa« ist einer Politik des moralischen Handelns verpflichtet und hier kann der Bogen bis in die Antike zurückgespannt werden, bis Platons Politeia, wenn man so will. Denn alle sozialen Utopien bleiben einer Idee verpflichtet, sei es die gerechte oder die friedliche Welt. Wir gehen dann auf Abstand zu allen technokratischen und auf Gewinn und Übermaß orientierten Lösungen. Wir gehen auch auf Abstand zu den schnellen Lösungen, denn »Utopien lassen sich Zeit. Ganz im Gegenteil zu ihrem visionären Ruf sind sie zu fest mit der Gegenwart vertäut, zu tief an ihre Struktur gebunden, als dass sie sich drängen lassen würden. Sie lassen sich nicht entwerfen.« 31

Deshalb ist die Utopie auch kein Plan und auch keine Maßnahme, die man einführt wie einen Markenartikel. Utopien werden nicht ausgedacht, sondern betrieben, oft über Jahrzehnte oder noch länger. Deshalb ist die Utopie bei Ernst Bloch auch prozesshaft. Wir lesen die Konjunktur des Utopischen ab, wenn wir die jüngste Geschichte der vergangenen dreißig Jahre im Zeitraffer beleuchten; die Jahre 1980, 1990, 2010 und 2020 lassen Zusammenhänge zwischen dem jeweils herrschenden Zeitgeist und dessen Perspektive auf Utopien erkennen. – Im Jahr 1980 spielt der real-existierende Sozialismus noch seine weltpolitische Rolle. – Utopien sind mit dem ideologischen Netzwerk kommunistischer Staatsmodelle verstrickt. – Im Jahr 1990 sorgt der Zusammenbruch der Sowjetunion für eine historische Zäsur mit Auswirkungen auf die Weltordnung. – Utopien befinden sich im freien Fall der Entwertung. – Im Jahr 2010 erleben wir das unlegitimierte Inkrafttreten des libertären Kapitalismus, zum Beispiel in Finanzkrisen mit Weltwirkung. – Utopien stehen wieder für Korrektive, erleben eine diskursive Renaissance. – Im Jahr 2020 werden wir gelernt haben müssen, wie Flücht44 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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lingsintegration, Armutsbekämpfung und Rettung des Planeten geht. – Utopien helfen uns, das uns richtig vorzustellen, nämlich wie wir uns als Menschen als solche bewähren. Im Zeitraffer widerspiegelt sich die beschleunigte Epoche. Im Dekadenabstand hatten sich nationale bzw. lokale Politikweisen auf neue Koordinaten im Weltmaßstab ein- und umzustellen. Der Wandel zeigt, dass es einen inneren Kern im Utopiebegriff geben muss (Bloch nennt das »Invariante der Richtung« 32), der ihn vor »Verallerweltlichung« schützt und ihn stabilisiert, vielleicht sogar krisenfester macht. Dieser Kern ist die Gegenwart der Utopie, nämlich, dass sie gar »nicht auf Zukunft gerichtet« (Mercedes Bunz) ist, sondern zeitkritisch am Zustand einer Gesellschaft, ihrer Wirtschaft, ihrem Gemeinwesen, ihrer Politik, ansetzt, um den »kritischen« Zustand zu beleuchten und schließlich zu verbessern. Das utopische Denken können wir schon in einer Art Trockenübung schulen. Und wieder lohnt der Rückgriff auf Platons Politeia, in der von »besonnenen«, »wohlberatenen« Menschen die Rede ist, die sich die »Fähigkeit zu leiten« (im Sinne von gerechtem Handeln) erst noch zu erarbeiten haben. 33 Die Ziele im utopischen Denken sollen nicht an bilderhaften Idealen ausgerichtet sein, aber Werte, die die Menschheit insgesamt betreffen, das gesunde Weltklima oder der »Ewige Frieden« können, Hans-Georg Gadamer folgend, als dialektische Metaphern des Idealen angesehen werden. In diesem Sinne können Utopien auch nicht missbraucht werden, etwa für fundamentalistische, nationalistische oder rassistische Ziele. Utopie und Humanum sollten Synonyme sein. Zur Praxis wird die »Trockenübung« allerdings erst im politischen Menschen. Oskar Negt zeigt, wie »der politische Mensch« 34 gestaltet werden muss, um die Anforderungen der Utopie (der Demokratie) überhaupt zu erfüllen. Negt mahnt die Konzeptionslosigkeit der Regierungen an, die »Realitätslosigkeit der Realpolitiker« 35, das heißt den Mangel an systemisch langfristigem und über die Generationen vorausgedachtem politischen Handeln. Dieser Mangel ist eine der Hypotheken, die auch die notwendigen Utopien aushebeln. »Politische Menschen« sind aber alle. Allen muss daran gelegen sein, an einer besseren Welt mitzuarbeiten anstatt sie nur einzufordern oder zu konsumieren. Die Utopie fängt vor der eigenen Haustür an. 36 Denn ihr wahrer Wert sind Betroffenheitswerte, die sich nicht an kalten Faktoren wie Wachstum, Profit, Eigentum, Quote, Erfolg u. ä. 45 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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bemessen, die im ideologischen Raum (oder zwischen Wahlperioden) schöngeredet werden, sondern Werte, die sich in der Befindlichkeit der Menschen als utopische, zukunftsfähige erweisen. Ausgerechnet die große Liberale Marion Gräfin Dönhoff zeigt einen Weg der Moral, indem sie der »entehrten« Tradition Sozialismus ihre Würde zurückgibt, indem sie schreibt: »Gewiß, als wirtschaftliches System ist der Sozialismus im Wettstreit mit der Marktwirtschaft gescheitert, aber als Utopie, als Summe uralter Menschheitsideale: soziale Gerechtigkeit, Solidarität, Freiheit für die Unterdrückten, Hilfe für die Schwachen, ist er unvergänglich.« 37 In der Tat, die realistische Utopie braucht den politischen Menschen, der sich mit der Kultur, der Fähigkeit zur Kooperation 38, der Bildung und seiner interkulturellen Kompetenz beschäftigt und bewährt.

III. Die Utopie des Öffentlichen Glücks Heute gibt es wieder die Klage des Utopieverlusts. So die im Mannheimer Morgen zum Jahreswechsel aufgeworfene Frage an mich. 39 Zunehmend gibt es auch Publikationen, Diskussionen und Ausstellungen wie hier im Wilhelm-Hack-Museum, die die Frage nach der guten Zukunft wieder offensiver angehen. (Beispiel die aktuelle Ausgabe von Du zum Thema Zukunft. 40) Warum? Vielleicht weil »Etwas fehlt«, wie wir mit Brecht sagen könnten, der in »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« glückliche Menschen beschreibt, die »alles« haben, aber ausrufen: etwas fehlt. Was fehlt denn? Ausgerechnet der Forscher Francis Heylighen, der sich mit den Funktionen und Wirkungen des »globalen Gehirns« beschäftigt, bei dem es sich in Form von Computern, Datenbanken und Kommunikationsverbindungen um »ein enorm komplexes, selbstorganisierendes System [handelt], das Informationen verarbeitet, Entscheidungen trifft, neue Zusammenhänge begreift und auf neue Ideen kommt« 41, kommt zu der folgenden Einsicht: »Bei einer Utopie kommt es entscheidend darauf an, ob sich die Menschen auch glücklich fühlen.« 42 Glück kann nicht geplant werden, aber eine Planung kann den Glücksfaktor »vergessen«. Damit meine ich nicht nur subjektive Befindlichkeiten, sondern Stimmungen, ja auch kollektive Stimmungen, das allgemeine Lebensgefühl, Lebensqualität. Im Negativfall ist

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es kollektive Unzufriedenheit, Depressionen, ein Rumoren in der Gesellschaft, Zukunftsangst, ja, und eben Utopieverlust. Dafür gibt es viele Beispiele. Beispiele sind der Protest zum Bahnprojekt »Stuttgart 21« oder auch PEGIDA. Man kann die Anhänger der Verteidigung des Abendlandes für eine diffuse Protestbewegung halten, aber sind sie nicht letztlich unglückliche Menschen? Mit denen vielleicht keiner spricht? Die einen Gegner ausrufen, wo gar keiner ist? An »Stuttgart 21« konnten wir gut nachvollziehen, wo Politik von der Unzufriedenheit der Menschen aus allen Schichten überrascht wird. Es zeigt den entscheidenden Unterschied zwischen einer langfristigen Planung, die – in der Politikersprache – eine Vision sein mag, und der Utopie. Das über zwanzig Jahre geplante Projekt hatte das Glück der Menschen nicht auf der Rechnung. Der damalige Schlichter Heiner Geißler hatte, um Interessen überhaupt ausgleichen zu können, die integrative Energie des Utopischen eingedacht. 43 Kein Legitimationsprozess einer noch so gut organisierten Demokratie kann von einer erfolgreichen Planung sprechen, wenn dieser Plan keine Utopie darstellt in dem Sinn, dass der Plan die Menschen mitnimmt – und öffentlich glücklich macht. Gibt es also Zukunft ohne Utopie? Meine Antwort lautet: Utopie ist Zukunft mit Hoffnung. Mit begründeter, begründbarer und aufgeklärter Hoffnung, nämlich nach Erfüllbarkeit im Humanum. Utopiehaltige Zukunft, für die ich etwas tun kann, ob es nun die Liebe oder der Weltfrieden ist. Auf das utopische Potenzial sollten wir mit Ernst Bloch vertrauen, der einmal gesagt hat: »Die Menschen wie die Welt tragen genug gute Zukunft.«

Anmerkungen Platon, Der Staat, Stuttgart 1973. Morus, Thomas, Utopia (= Über den besten Staat und über die neue Insel Utopia), Bacon, Francis, Nova Atlantis (= New Atlantis), und Campanella, Tommaso, Sonnenstaat (= La Cittá del Sole), alle in: Der utopische Staat, übersetzt und hg. v. Klaus J. Heinisch, Reinbek bei Hamburg 1993. – »Vorläufer« der »New-Atlantis« ist die utopische Insel »Atlantis« in Platons Dialogen Timaios und Kritias, in: Sämtliche Dialoge 1993, 36 ff. und 41 ff. (Timaios) bzw. 192 ff. (Kritias), worin Platōn von der Atlassage berichtet.

1 2

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Gibt es Zukunft ohne Utopie? Einen guten Überblick von Th. Hobbes bis J. Butler bieten John Rawls’ Vorlesungen Geschichte der politischen Philosophie, hg. v. Samuel Freeman, Aus d. Amerikanischen von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 2008. 4 Thomas Morus, Utopia, in: Der utopische Staat, a. a. O., 7–110. 5 Altgriechisch U-Tópos = oú (nicht) und τόπος (Ort). 6 Vgl. die Synopsen in: Marvin Chlada, Der Wille zur Utopie, Aschaffenburg 2004. 7 Ernst Bloch, Experimentum Mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis, GA Bd. 15, Frankfurt/Main 1975, 277. 8 Ders., Tendenz – Latenz – Utopie, Erg. Bd. Zur GA, Frankfurt/Main 1978, 297. 9 Michel, Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper, Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Frankfurt/Main 2005. – Schon sehr früh, wenn auch noch sehr beiläufig, hat Foucault zwischen Utopie und Heterotopie unterschieden. Siehe Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Aus dem Französischen v. Ulrich Köppen, Frankfurt/Main 1974, 20. 10 Barbara Holland-Cunz, Bloch versus Morus – eine Diskurs-Konstruktion der Utopieforschung, in: Erwägen Wissen Ethik (vorm. Ethik und Sozialwissenschaften EuS – Streitforum für Erwägungskultur), 2005. 11 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, GA Bd. 5, Frankfurt/Main 1959, 258 ff. 12 (1) Beispiele in der Kunst: Das Prinzip Hoffnung. Aspekte der Utopie in der Kunst des 20. Jahrhunderts, 1983/84 Katalog des Museums Bochum. Apokalypse. Ein Prinzip Hoffnung? Ernst Bloch zum 100. Geburtstag, (Ausstellungskatalog des Wilhelm-Hack-Museums Ludwigshafen a. Rh.), Hg. von Richard W. Gassen und Bernhard Holeczek, Heidelberg 1985. Utopien heute? Zukunftsszenarien für Künste und Gesellschaft, Hg. von Volker Hörner und Klaus Kufeld, mit Zeichnungen von Alfred Hrdlicka aus dem Zyklus »Die große Französische Revolution«, Heidelberg 2001. Und: Utopien heute? Kunst zwischen Vision und Alltag (Ausstellungskatalog des Wilhelm-Hack-Museums Ludwigshafen a. Rh.), Hg. von Richard W. Gassen, Ludwigshafen a. Rh., 2001. (2) Beispiele in der Literatur: Dietmar Dath, Die Abschaffung der Arten, Frankfurt/Main 2010; Juli Zeh, Corpus delicti. Ein Prozess, Frankfurt/Main 2009; Christian Kracht, Imperium, Köln 2012. (3) Beispiel aus der Performance-Kunst: Reichstagsverhüllung von Christo und Jeanne-Claude im Jahr 1995. 13 Bloch, Ernst: Geist der Utopie. GA Bd. 3 (2. Fassung), Frankfurt/Main, 1964. Siehe besonders das Kap. »Philosophie der Musik«, 49 ff. 14 Reto Sorg / Stefan Bodo Würffel, Utopie und Apokalypse – Meisterzählungen der Moderne?, in: Dies. (Hg.): Utopie und Apokalypse in der Moderne, München, 2010, 9. 15 Bloch, Ernst: Geist der Utopie. a. a. O., 11. 16 Bloch, zit. nach Richard Saage, Utopieforschung, 1997, 159. 17 Vgl. Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt/Main 1985, Gustav Landauer, Revolution, Berlin 1974 18 Richard Saage, Plädoyer für den klassischen Utopiebegriff, in: Erwägen Wissen Ethik, a. a. O., 291. Saage bleibt konsequent bei seiner Einschätzung der »Ausuferung des Utopiebegriffs auf Kosten seiner analytischen Trennschärfe« (Richard Saage, Zur Differenz und Konvergenz von Utopie und Apokalypse. Von 3

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Gibt es Zukunft ohne Utopie? Gustav Landauer zu Franz Werfel und Oskar Maria Graf, in: Reto Sorg / Stefan Bodo Würffel (Hg.): Utopie und Apokalypse in der Moderne, München, 2010, 22). 19 Martin Seel, Drei Regeln für Utopisten, in: Merkur, Heft 9/10, Sept./Okt. 2001. Die Position ist deshalb so interessant, weil sie von einem »Anti-Utopiker« (Karl-Heinz Bohrer, in: ebd., Vorwort) stammt. 20 Ebd., 748, 749 f. bzw. 752 f. 21 Ebd., 749. 22 Max Horkheimer, zit. nach Oskar Negt, Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, Göttingen 2010, 524 und 543. 23 Mercedes Bunz, Die Utopie der Kopie, in: Renaissance der Utopie. Zukunftsfiguren des 21. Jahrhunderts., hg. von Rudolf Maresch und Florian Rötzer, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2004., 156 f. 24 Joachim Fest, Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin 1991. Und: Jean Baudrillard, Weder Zukunft noch Ende – Die Reversion der Geschichte, in: Rudolf Maresch (Hg.), Zukunft oder Ende. Standpunkte oder Analysen, Entwürfe, München 1993. 25 Thomas Assheuer, Wer hat Angst vor der Utopie?, in: Die Zeit, 50/2002. 26 Slavoj Žižek, Auf verlorenem Posten, Aus dem Engl. v. Frank Born, Frankfurt/Main 2009. 27 Thomas Assheuer, Vorwärts, Genossen!, in: Die Zeit, 25/2010. 28 Vgl. zu diesem Zusammenhang: Hubert Christian Ehalt / Wilhelm Hopf / Konrad Paul Liessmann (Hg.): Kritik & Utopie. Positionen und Perspektiven, Wien, 2009. 29 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich 2002 [1958], 311. 30 Ebd., 312 ff. 31 Bunz 2004, 156. 32 Vgl. Klaus Kufeld, Invariante der Richtung. 50 Jahre Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, in: Treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre, Band 5: Das Jahr 1959 in der deutschsprachigen Literatur, hg. von Günter, Häntzschel, Sven Hanuschek und Ulrike Leuschner, edition text + kritik, München 2009. 33 Platon, Der Staat, 1973, 123 f. 34 Oskar Negt, Der politische Mensch, 2010. 35 Ebd., 488. 36 Zur Abgrenzung von Verantwortung und »Privatutopien« siehe Claus Offe, Nach dem »Ende der Utopie« – Zivilgesellschaft als Fortschrittsidee? Metamorphosen des utopischen Denkens, in: Jörn Rüsen / Michael Fehr / Annelie Ramsbrock (Hg.), Die Unruhe der Kultur. Potentiale des Utopischen, Weilerswist 2004. 37 Gräfin Dönhoff, Marion, zit. nach ebd., 541. 38 Vgl. Julian Nida-Rümelin, Demokratie als Kooperation, Frankfurt/Main 1999. 39 Gemeint ist: Haben wir alle Utopien verloren, Herr Kufeld? Debattenbeitrag, Mannheimer Morgen, 2. Januar 2016. 40 Du 863, Februar 2016.

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Gibt es Zukunft ohne Utopie? Heylighen, Francis, Das globale Gehirn als neues Utopia, in: Renaissance der Utopie, 2004, 94. 42 Ebd., 107 (Hervorh. K. K.). 43 Heiner Geißler, Ou Topos. Suche nach dem Ort, den es geben müsste, Reinbek bei Hamburg 2010, bes. 158 ff. und 177 ff. 41

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Freiheit und Krise Vor Corona – nach Corona Essay, geschrieben für den Mannheimer Morgen (2016 und 2020)

I.

Die erschöpfte Freiheit – vor Corona

Noch nie in der Geschichte ging es uns so gut und lebten wir so lange im Frieden. Wie kann es also sein, dass die Depression zur schleichenden Volkskrankheit wird, ein Unbehagen in der Gesellschaft herrscht und wir einen beispiellosen Utopieverlust beklagen. Scheitern wir vor dem Widerspruch zwischen Mangel und Überfluss oder haben wir nur das Hoffen verlernt? Ausgerechnet mit der Verwirklichung einer der bedeutsamsten politischen Utopien, nämlich dem Fall der Berliner Mauer, stürzt die Konjunktur der Utopien radikal ab. Der Triumph der Freiheit läutet für Joachim Fest das nicht unwillkommene »Ende des utopischen Zeitalters« (1990) ein. Für andere, wie die liberale Marion Gräfin Dönhoff, ist der Sozialismus »entehrt« als »Utopie, als Summe uralter Menschheitsideale« wie soziale Gerechtigkeit und Solidarität. Wird also die Idee gleich mit zu Grabe getragen, tritt ein, wovor Jürgen Habermas schon 1985 warnt: »Wenn die utopischen Oasen austrocknen, dann breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus.« Während wir erkennen, dass die Utopie durchaus ein zweischneidiges Schwert ist, wird über Nacht der Kapitalismus »alternativlos«; er hat seinen unangenehmen Konkurrenten los und die Märkte beginnen sich wie entfesselt auszutoben. Die Welt globalisiert, das Internet organisiert, die Börse das Barometer. Es entsteht unglaublicher Reichtum in der Sphäre, die die Welt den »Westen« nennt. Der Reichtum verteilt sich aber nicht von selbst. Vielmehr entstehen Blasen, die 2008/2009 platzen und auch Europa in eine finanzpolitische Depression drücken. Und der internationale Terrorismus zerstört Weltkultur, bedroht Fußballspiele und greift die Freiheit an. Langsam ist es unbehaglich geworden in der Welt des Mangels und des Überflusses. 51 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Freiheit und Krise

»Wir haben keine Anfänge mehr« Der Verfall der Utopien geht auch auf Kosten der Orientierung. Schon Sigmund Freuds »Unbehagen in der Kultur« (1929/30) bemängelt mit Macht, Erfolg und Reichtum »falsche Maßstäbe« und die Unterschätzung der »wahren Werte des Lebens«. Noch der Mensch der Spätmoderne ist mehr denn je durch die Zeit gehetzt und zum Leistungssubjekt degradiert. Der französische Soziologie Alain Ehrenberg kommt zum Befund vom »erschöpften Selbst« (1998), das in ein »Unbehagen in der Gesellschaft« (2010) münde, als braute es sich aus den gestressten Biographien der Depressionen und Burnouts regelrecht zusammen. In der Tat rechnet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Depression bis zum Jahr 2020 zur weltweit zweithäufigsten Volkskrankheit hoch. Was Mediziner und Psychologen als Anpassungsstörung, Antriebslosigkeit oder Mangel an Selbstwertgefühl bezeichnen, bedeutet letztlich die gestörte Beziehung zur Gemeinschaft. Da fragt sich dann schon, wer denn noch die Träger von Utopien sein sollen, Mutlosigkeit und Trägheit sind es jedenfalls nicht. George Steiners »Wir haben keine Anfänge mehr« (1990) bringt das Aufkommen der Depressionen mit einem problematischen Status der Hoffnung in Verbindung. Es sei der »Niedergang des Messianischen«. Auf der einen Seite erstaunt das, denn Europa, Weltordnung und globale Verständigung bleiben ja die utopischen Projekte der Menschheit; auf der anderen Seite bringt der steigende Wohlstand offensichtlich nicht den glücklichen Menschen hervor. Ist der anachronistische Utopieverlust etwa ein Problem unserer Freiheit, wie Ehrenbergs schlussfolgert: »Im Zeitalter der unbegrenzten Möglichkeiten symbolisiert die Depression das Unbeherrschbare.« Wir kommen einfach nicht mehr mit, werden vom Wohlstand erschlagen. Das Unbeherrschbare ist nämlich der Auswuchs der Freiheit. Sollen wir es so deuten, dass das von Nietzsche als Souverän ausgerufene Individuum heute vor den Freiheiten kapituliert, die ihm Technik und Wohlstand eingebracht haben? Der Philosoph ByungChul Han meint hier, dass Nietzsche in Wahrheit das ausgebeutete Leistungssubjekt vorwegnimmt und ihm Muße auferlegt. Genau dies kann der depressive und durch die Zeit gepeitschte Mensch nicht mehr beherzen. Er lässt sich von der Freiheit blenden und vom Wohlstand dopen. Er ist weder Narzisst, noch Egoist, sondern Massenindi52 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Freiheit und Krise

viduum, totalgesättigt, bestvernetzt – und zugleich der Einsamste. Das spätmoderne Leistungssubjekt ist nach Han zwar frei von der Repression der Herrschaft, dafür wendet sich die Gewalt depressiv nach innen. Keineswegs bedeutet etwa der Rückgang der Krankenstände von 5,1 Prozent (1991) auf 3,8 Prozent (2014), dass die Gesellschaft wieder gesünder wird, sondern – so Ehrenberg – mehr »kranke Gesunde« hervorbringt. Um der »kulturellen Erschöpfung« zu entkommen, hat die Gesellschaft sich den »therapeutischen Diskurs« erfunden, wie die Soziologin Eva Illouz konstatiert. Der »auf eine verwirrende Vielfalt sozialer und kultureller Schauplätze versprengt ist«: die Fernsehtalkshows, das Internet, die Consultingfirmen, die Sozialfürsorge, die Selbsthilfegruppen. Das erschöpfte Selbst wird dadurch aber nicht stärker und sein Schwanken zwischen Don Quichote und Münchhausen hört nicht auf.

Die Utopie ein Kampfbegriff Der gute Verdienst, das beste Gesundheitssystem der Welt, das üppige Recht auf Urlaub, der weggeschaffte Müll, das reiche Kulturleben lassen uns – weltweit betrachtet – auf einer Insel der Glückseligkeit wähnen. So viele verwirklichte Utopien in Freiheit und Ordnung. So viele Privilegien? Aber genau dort sehe ich die Keime für die Depression: denn was wir Privileg nennen, ist die Errungenschaft unserer Eltern und Großeltern – und macht uns noch nicht glücklich. Schon Albert Camus wusste, dass die Freiheit in erster Linie nicht aus Privilegien besteht, sondern aus Pflichten. Privilegien zu genießen und Nutznießer zu sein, mündet schleichend in Trägheit. So entsteht das Paradox der Wohlstandsdepression, das uns Jeremy Rifkin so erklärt: »Erreicht der Mensch ein Einkommensniveau, das ihm die fundamentalen Annehmlichkeiten und Sicherheiten des Lebens beschert, beginnt sein Glück sich einzupendeln. Jeder weitere Zuwachs an Wohlstand (…) führt zu abnehmenden Grenzerträgen hinsichtlich des Gesamtglücks, bis schließlich ein Punkt erreicht ist, ab dem (…) der Betreffende wieder unglücklicher wird.« Sind den Menschen inmitten des reichen, ungenügsamen Westens die Nebenwirkungen der von wirklichen Sorgen freien Wohlstandsgesellschaft nicht bekannt: Besitzstandswahrung statt Innovation, Neid statt Kooperation? Wenn sie nichts mehr wirklich anstreben wollen, was ist dann unsere Utopie? 53 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Freiheit und Krise

Wirksam ist die Utopie nur als ein Kampfbegriff, denn nur der erkämpfte Fortschritt bedeutet Freiheit. Der Optimist kämpft für etwas – und sein Motiv ist nicht der Nutz, sondern das Unrecht. Deshalb spricht Ernst Bloch vom »Unrecht des Pessimismus« und der Pflicht, »scharf besorgt zu sein«. »Scharf besorgt« sein können wir etwa wegen einer besonders hinterhältigen und pessimistischen Depression, wo dumpfe Angst herrscht. »PEGIDA drückt auf die Stimmung einer ganzen Stadt«, sagte mir kürzlich der Schriftsteller Marcel Beyer, der in Dresden lebt. Eines ganzen Landes, möchte ich ergänzen, wie die Front National in Frankreich auch. Diese Auswüchse stehen durchaus für die schweigende Mehrheit im Land, die nicht mehr wählen geht, dem Theater nichts abgewinnt, es sich in der Unkündbarkeit bequem macht. Axel Honneth spricht hier von »Pathologien der Freiheit« (2011). Ausgenutzte Freiheit, die zur schweigenden Erschöpfung führt? Wer gegen »das Fremde« antritt, um angeblich das »Abendland« schützen zu müssen, hält die Utopie für eine Belästigung. Es ist ein Skandal und zugleich Paradox, dass die Menschen dort in dem Wahn vor einer Bedrohung leben, wo gar keine Bedrohung ist: eingenistet in Dresden, der Stadt mit der niedrigsten Migrantenquote von allen Großstädten (7 Prozent, Frankfurt am Main 43 Prozent).

Eigentlich ist es ganz einfach, mitzukommen. Dass wir unter Utopieverlust leiden, heißt nicht, dass wir heute hoffnungslose Zeiten durchleben – trotz 9/11, Islamischem Staat und Paris. Die an der Menschheit verursachten Lateralschäden wie Genozide, Atombombe oder zwei Weltkriege gehören nur nicht zur Erfahrungswelt der heutigen Generationen. Deren Druck ist die Bilderflut und der »rasende Stillstand« (Paul Virilio), das »gute Leben« hier und die Armut dort. Enthauptungen durch den IS können wir im Internet sehen, die Gaskammern waren in keinem einzigen Medium sichtbar. Weil wir heute aber wissen, was wir sehen, können wir es als unsere Freiheit ansehen, gegen Unrecht anzukämpfen. Hier ist das Terrain der Utopie und deren orientierende Kraft. Und Hoffnung gibt es zuhauf: die Aufnahme von Flüchtlingen zeigt uns der Welt als eine aufgeklärte Gesellschaft, in der humanitären Seite der Willkommenskultur, in der Geste für eine Politik der Freundlichkeit. Kommen die großen Bündnisse – wie heute gegen den IS – zwischen den Men54 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Freiheit und Krise

schen nicht stets aus dem Unrecht, aus dem »scharfen Besorgtsein«, mit dem Ziel einer Utopie? Ob Obama und Merkel wissen, dass sie dem »Prinzip Hoffnung« eine gute Ethik mitgegeben haben, eine Freiheit nämlich, die verpflichtet: Yes, we can, übersetzt: Ja, wir schaffen das. Zur Utopie schaffen wir es, wenn die Gebots- nicht in eine Verbotskultur umschlägt. Denn diese macht wieder nur depressiv, alle.

II.

Herausforderung an die Ethik – nach Corona

Der Philosoph und Architekt Paul Virilio sprach schon vor 30 Jahren von einer »entfesselten Mobilität«, die einem »unwiderruflichen Schwund« ausgesetzt ist (Andreas Kuhlmann, Die Zeit, 10. April 1992). Nun, die Welt ist weitergerast, zum Stillstand kam sie nicht. Und das schon, als das kommerzielle Internet gerade seinen Anfang nahm und von digitaler Welt noch nicht die Rede sein konnte. So ist das mit Worten und Appellen, die die Wirklichkeit beschreiben, aber nicht verändern. Dazu bedarf es schon übergeordneter Ereignisse wie Naturkatastrophen, die die Menschheit wachrütteln und es vermögen, quasi-funktionierende Systeme im Mark zu erschüttern. Das wusste auch der Philosoph der Vernunft, Immanuel Kant, der aus Anlass des Erdbebens von Lissabon 1755 erklärt: Die Betrachtung solcher schrecklichen Zufälle […] demüthigt den Menschen dadurch, dass sie ihn sehen lässt, er habe kein Recht […], von den Naturgesetzen, die Gott angeordnet hat, lauter bequemliche Folgen zu erwarten, und er lernt vielleicht auch auf diese Weise einsehen: dass dieser Tummelplatz seiner Begierden billig nicht das Ziel aller seiner Absichten enthalten sollte.

Auch Heinrich von Kleist verarbeitet das Erdbeben im Königreich Chili 1647 in einer Novelle, in der er das Problem der Theodizee aufgreift und die Frage, wie das Böse in die Welt gelangt und warum es von Gott nicht verhindert wird. Naturkatastrophen gelten den Menschen schon seit je als katalytische Denkanschübe. In schrecklichen Naturereignissen, die von Menschen nicht oder nur bedingt beeinflussbar beziehungsweise verursacht sind, präsentiert sich »das Ganze« der Natur in seiner nackten Totalität. Für den Philosophen, der keiner Verschwörungstheorie 55 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Freiheit und Krise

folgt, leitet sich aus Erdbeben, Sturmfluten und Meteoriteneinschlägen (und seien sie auch nur befürchtet) ex negativo die besondere Verantwortung des Menschen für alles ethisch Gestaltbare ab. Ein Virus, das global wütet, ist nochmals eine neue Dimension, denn dessen Ausbreitung beschränkt sich nicht auf Lokalität. Und es ist unsichtbar. Aber es ist kein »Krieg« (Macron), denn dieser hätte einen sichtbaren und bekämpfbaren Feind. Ausgerechnet die totalglobalisierte und totalvernetzte Welt steht nicht nur still, sondern wirkt erstaunlich gelähmt und ratlos. Wie anders sollten wir die Reaktion von Staaten bezeichnen, die kein wirksameres Mittel als Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen aufzuweisen haben. Krisenbewältigung durch law and order, statt einen Plan für eine Ethik der Krise zu haben? Für eine längere Weile sind Straßen und Strände menschenleer, haben Schulen und Spielplätze geschlossen, haben Kultureinrichtungen dicht gemacht, werden Produktionen in Firmen eingestellt, finden keine Sportereignisse mehr statt. Doch so real der »rasende Stillstand« diagnostiziert war, kein Bürger, kein Wissenschaftler, kein Politiker scheint auf dieses Szenario vorbereitet gewesen. Eine Dystopie, ein lähmender Stillstand, dem keine Vernunft Menschliches entgegensetzen kann. Ist sie auch als Auswuchs der Globalisierung zu werten, wenn irgendwo auf der Welt Menschen Fledermäuse essen, deren Viren sich übertragen, und der Faktor Geschwindigkeit via Tourismus oder Arbeitsmigration für ihre rasante, unkontrollierbare Verbreitung sorgt? Laut Virilio das verhängnisvollste Phänomen schon im Ausgang des 20. Jahrhunderts, denn die Globalisierung vernichtet den Raum und verdichtet die Zeit: der sogenannte dromologische Stillstand als paradoxer Effekt der Selbstblockade? Einverstanden, dass wir für den Moment einmal die genaueren (und sich im übrigen widersprechenden) Statistiken und Analysen beiseitelassen? Um uns zu fragen, was eigentlich mit uns passiert und was wir aus dem – wie Alexander von Humboldt sagte – »lebensweltlichen Totalereignis« Corona-Virus schließen können: wo werden wir sein in ein paar Monaten oder Jahren. Der Stillstand kommt als Schock daher. Schockstarre. Welch kleine Würmer wir sind, wie hilflos und abhängig, ob Bürger oder Bundeskanzlerin. Das Virus kennt keine Klassen, keine Rassen, keine Geschlechter. Weshalb die befreiende Wirkung dieses Schocks nicht gerade auf der Hand liegt. Aber er sei die Chance, unsere Existenz(en) in ein neues Verhältnis zu setzen und der Maßlosigkeit, dem menta56 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Freiheit und Krise

len Absolutismus der Gier ein Ende zu setzen. Das Allbetroffensein symbolisiert sich im rigorosen wie regulativen Durchgreifen des Staats, der seine Entscheidung, Kontakte weitestgehend einzuschränken im Sinne des Gemeinwohls fällt. No risk, no fun. Doch während wir noch staunen, dass wir keine Freunde mehr treffen können, das Verreisen untersagt ist und uns keines Theaterschauspiels erfreuen dürfen, erleben wir den Verlust als Innehalten: der Faktor Erfolg-um-jeden-Preis ist abgelöst von Besonnenheit; endlich mal Zeit, Stapel abzuarbeiten, ohne gleich wieder in ein nächstes Projekt hineinzuschlittern; endlich mal Romane und konzentriert eine Zeitung lesen statt nur Fachbücher; keine Termine mehr, was nach dem Budget eines Zeitmillionärs klingt; und, ach ja, Briefe schreiben, digitale und sogar analoge, die – zeitseidank – länger als gewohnt ausfallen. Plötzlich, wie über Nacht, werden die Menschen erfinderisch. Zeit, vergleichsweise in Hülle und Fülle vorhanden, versetzt die Bürger in die Lage, wieder verstärkt ihren Alltag wahrzunehmen – ja ihrer Existenz gewahr zu werden. Erst jetzt wissen sie, dass sie in Saus und Braus gelebt haben und für vieles nicht mehr den Sinn. Luxus, war das gestern? Hat das Virus dem »Luxuswesen Mensch« (Peter Sloterdijk) einen Stillstand eingebracht, aus dem es sich befreien kann? »Der Mensch«, sagte Pascal, und bringt damit den tragischen Zustand des Menschseins zum Ausdruck, »ist nur ein Schilfrohr, das schwächste der Natur, aber er ist ein denkendes Schilfrohr.« Dessen hybrides Denken Katastrophen nicht verhindern kann. In der »Pest« von Albert Camus (für die er in seinem Tagebuch als ursprünglichen Titel »Die Gefangenen« vorsah) heißt es: »Die einzige Art, die Leute zusammenzubringen, besteht immer noch darin, daß man ihnen die Pest schickt.« Ist das die Tragikomik der Hoffnung? Eine paradoxe Sehnsucht jedenfalls wird dort zum Ausdruck gebracht, nach dem »Hunger nach menschlicher Wärme, der die Menschen doch wieder zueinander treibt.« In der Tat, die moderne Jetztzeit, befeuert von grenzenlosem Wachstum eines entfesselten Kapitalismus und von einer Atem beraubenden Beschleunigung, hat die Menschheit überrollt und verroht. Jedoch ist nicht davon auszugehen, dass sie nach dem großen Cut dort einfach weiter macht, wo sie aufgehört hat. Dort, wo gestern noch für bessere Luft auf die Straße gegangen wurde, werden morgen die Emissionswerte in den großen Städten auf Niedrigstniveau gesunken sein, was die Luft so rein wie nie zuvor macht; dort, wo Kultur- wie Fußballvereine ums Überleben kämpfen werden, können 57 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Freiheit und Krise

nicht einfach weiterhin Gehälter beziehungsweise Transfers in Millionenhöhe gezahlt werden; dort, wo Kindern und jungen Menschen temporär der Zugang zu Bildungseinrichtungen verwehrt wird, kann morgen nicht zur Tagesordnung übergegangen werden; dort, wo der Tourismus zum Erliegen kommt, können (und sollen) Venedig und Dobrownik nicht einfach wieder aufgefüllt werden; und schließlich dort, wo die Hauptlast der Coronakrise liegt, in den Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, wird nicht weiter profitgeschäftlich gedacht und personell unterbesetzt verfahren werden können. Der von Staat zugesagte Ausgleich für Gewinneinbrüche von Groß- und Kleinunternehmen von Flugindustrie über Gastronomie bis Kleinkunst wird zu einem Verteilungskampf werden. Allerdings nicht ohne die Chance auferlegt zu sehen, Missentwicklungen nicht einfach fortzuschreiben, sondern auf Gerechtigkeit zu achten. Ob die Globalisierung, deren Zahnräder nicht mehr reibungslos ineinandergreifen, wohl zurückgefahren wird? Mut zur Utopie? Es ist zu hoffen, dass die Menschheit geläutert aus diesem Prozess hervorgeht. Dass die »Demüthigung« (Kant) in einen Stolz verwandelt wird. Denn – und nochmals mit Camus – »was man in den Heimsuchungen lernen kann, nämlich, daß es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt.« Das jedoch nur dann, wenn Menschen sich im »Innenraum einer Zivilisation« (Thomas Assheuer: Die Heimsuchung, in: DIE ZEIT, 26. März 2020) umsehen, wo sie sich in ihr (prekäres?) Verhältnis zur Natur setzen; denn ein Virus ohne Gründe gibt es nicht. – Die Ethik der Krise besagt, dass ein Verlust zunächst in Staunen umschlägt, dann aber katalytisch wirkt. Spätestens am Höhepunkt der Krise (griechisch κρίσις krísis heißt ursprünglich »Meinung«, »Beurteilung«, »Entscheidung«, später »Zuspitzung«; auch Kritik, was »trennen« und »unterscheiden« bedeutet, geht auf das gleiche Verb zurück.) werden unsere moralischen Empfindungen angesprochen: wir bilden uns ein Urteil, wir spitzen zu, wir entscheiden. Aber in welche Richtung? Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy (Durch das Tor des Schreckens, in: Die Zeit, 8. April 2020) gibt uns einen Einblick in diese Schöne neue Welt, aber auch die Richtung vor Kraft der Utopie: In der Geschichte haben Seuchen die Menschen gezwungen, mit der Vergangenheit zu brechen und sich ihre Welt neu zu entwerfen. (…) Wir können uns entscheiden, hindurchzugehen und dabei die Kadaver

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Freiheit und Krise

unserer Vorurteile und unsres Hasses hinter uns herzuschleppen, unsere Datenbanken und toten Ideen, unsere toten Flüsse und verqualmten Himmel. Oder wir können leichten Schrittes hindurchgehen, mit wenig Gepäck, bereit dazu, uns eine andere Welt vorzustellen. Und bereit, für sie zu kämpfen.

– – – Die Utopie ein Kampfbegriff? An dieser Stelle, der uns gewaltig aufrüttelnden Schockstarre, löst sich schließlich ein Erkennen aus, das unser Sensorium auch für andere, erst durch die Krise sichtbar werdenden Missstände öffnet und uns zum Handeln drängt. Doch wir werden künftig nicht nur genauer hinzuschauen haben, sondern prüfen müssen, ob wir als klügere Menschen aus der Krise hervorgehen.

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Die Diskursfähigkeit der Utopie (100 Jahre Geist der Utopie) Vortrag, gehalten an der Università Roma Tre (2018)

Abstracts Resonance – World War I – Messianism – Utopian capacity for discourse – Ernst Bloch Centre Ernst Bloch’s »Spirit of Utopia«, published first in 1918 and thus 40 years before »The Principle of Hope«, is the philosophical answer to the First World War. In his first systematic »Opus magnum«, he bases his utopia as an alternative, in which a »Theory of Music« gives the unutterable a language: the »indisputable war«. Strongly speaking, he challenges the euphoria with which the peoples (also the intelligentsia) entered the war and how desperately it was campaigned. Bloch’s particular importance cannot not be explained from his resonance in collective protest moods; in »Spirit of Utopia«, the young Bloch already shows the first signs of an indirect resonance, that open the timeless content of his philosophy: the renewed interpretation of Marx, humanism as its utopian target; the »Wärmestrom«, the introduction of metaphysical thinking into Marxism; the serious intercourse of religions, especially of Christianism, but also the atheistic, and the content of hope in them; the Upright Walk as the ethical habitus of the critical, revolutionary subject. Already in »Spirit of Utopia« the philosopher adopts an expressionistic tune that wants to be more than immediate effect. He shows a secular messianism and the »face of the will« to fictitious utopian figures like Don Quijote, the rebel and symbol of hope of Jesus Christ up to Marx’s humanism. This philosophy aims at mystical longing and utopian hope, which he later elaborates in his works such as »The Principle of Hope«, »Atheism in Christianism« or »Natural Law and Human Dignity«. Ernst Bloch touches topics that move the people of all societies and ignite the »sociological fantasy«, show him as philosopher and writer. In this sense, the Ernst Bloch Centre was founded in 1997, which 60 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Die Diskursfähigkeit der Utopie

wants to be understood as a »discourse space of utopia« in order to keep up utopian thinking. And this means making Ernst Bloch philosophically alive for posterity by conducting the social discourse with him and around him.

I.

Resonanz

Als es Mitte der 1990er Zeit wurde, mit Ernst Bloch eine Renaissance der Utopie zu wagen und ein Ernst-Bloch-Zentrum in seiner Geburtsstadt zu errichten, überraschte einer der Bloch-Schüler mit dem Statement: Bloch ist tot. Bloch ist tot? Machen wir das nicht, weil sein Denken lebt? Der Zeitgeist sprach zwar gegen Bloch 1, denn die Berliner Mauer war gefallen und mit diesem utopischen Ergeignis der Real-Sozialismus gescheitert, aber musste das utopische Denken gleich mit zu Grabe getragen werden? 2 All das sollte kein hinreichender Grund sein, gerade Ernst Blochs Philosophie zu opfern. Die Frage ist vielmehr, welchen Echtzeitwert wir seiner Philosophie beimessen. Dabei müssen wir über die gewaltige, zeitgenössische Resonanz dieser Philosophie zu Lebzeiten hinwegsehen, um ihren Wert zu erkennen. Zunächst erlebte Bloch eine heftige unmittelbare Resonanz: der Knalleffekt der Umsiedlung aus der DDR in die BRD 1961; die Studentenbewegung der 1968er; der Vietnamkrieg; die Kapitalismuskritik der Nachkriegsgesellschaft. Aber neben den unmittelbaren Wirkungen, die dem Zeitgeist entsprachen, gibt es die mittelbare Resonanz, die den zeitlosen Gehalt seiner Philosophie abbildet: das erneuerte Marx-Verständnis, der Humanismus als dessen utopisches Ziel; der Wärmestrom, die Einführung metaphysischer Denkweisen in den Marxismus; das Ernstnehmen der Religionen, insbesondere des Christentums, aber auch der atheistischen, und der Hoffnungsgehalt in ihnen; die Ontologie des Noch-Nicht-Seins als der eigentlichen Blochschen Entdeckung; der anthropologische Wesensgehalt der Hoffnung in der docta spes als der Vermittlung zwischen Zukunft und Gegenwart bzw. Vergangenheit; der aufrechte Gang als ethische Haltung des kritisch vordenkenden, revolutionären Subjekts. Um Bloch nicht nur in der Wirkung der 1968er kennenzulernen, muss man vor allem nochmal 50 Jahre, auf die Zeit vor dem Erscheinen von »Das Prinzip Hoffnung«, zurückschauen, als nämlich 1918 »Geist der Utopie« erschien. Ich betrachte es als sein erstes Haupt61 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Die Diskursfähigkeit der Utopie

werk. Es war des jungen Blochs Antwort auf den Ersten Weltkrieg, seine Kritik und philosophischen Folgerungen. »Geist der Utopie« war die erste systematische Begründung von Blochs philosophischem Denken, der Utopie schlechthin, und das Erfassen des Erkenntniswerts der Musik (Mozart, Beethoven, Wagner, Schönberg) für seine Utopie. Schon dort gelangen wir in die Nähe der zentralen Aussagen und der Essenz seines Werks und lernen mit ihm, soziologisch zu denken, »soziologische Phantasie« zu generieren, wie Oskar Negt gesagt hätte. Anders gesagt: wir müssen in Geschichtskategorien denken, wenn wir Blochs Paradigmen seines Denkens erfassen und auf die bleibenden Themen der Gesellschaften (aller Welt), im »Multiversum der Kulturen«, beziehen wollen.

II.

Geist der Utopie

Wenn wir heute dem 100-jährigen Erscheinen von »Geist der Utopie« gedenken, sollten wir diese mediativen Denkmuster anwenden – etwa immer mit dem Ziel, dass unsere Tagung über den Horizont der Spezialisten hinausreicht. Wir sollen so sprechen, als säße ein Journalist unter uns, der unsere Erkenntnisse in alle Welt hinausträgt – oder als sorgte ein Buch für Verbreitung. Somit würden wir nicht im Gestern der Bedeutung Blochs verharren, sondern diese in einem historischen Kontext reflektieren und das »Unabgegoltene« zum Thema des Heute machen. Nur so würde das »reine Gedenken« an Ernst Bloch zu einer aktiven Erinnerung im Sinne der Überzeugungskraft seines Werks. Beim »Prinzip Hoffnung«, dessen Grundzüge in den 1930er und 1940er Jahren im amerikanischen Exil geschrieben wurden, während das Dritte Reich die Welt wie ein Krake umschlang und sich gefügig machte, scheint diese Aufgabe vergleichsweise leicht zu sein, denn darin ist der Begriff der Hoffnung philosophisch gefasst und rationalisiert. Bloch hat als Erster die Kategorie Hoffnung in die Philosophie eingeführt, indem er sie auf alle Betätigungsfelder des Menschen bezogen hat: in den Wunschbildern des Augenblicks, im antizipatorischen Bewusstsein, in den vorscheinenden Stoffen für eine bessere, humanere Welt, von Alltagsphänomenen bis hin zur utopischen Sozialtheorie »Freiheit und Ordnung«, bis hin zu Literatur, Architektur, Geographie, Oper und andere. Eine umfassende und systemhafte Enzyklopädie der menschlichen Hoffnungen. Schließlich schließen die Bände mit dem Kapitel »Karl Marx und die Menschlichkeit; Stoff 62 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Die Diskursfähigkeit der Utopie

der Hoffnung« 3, in dem Bloch seine Utopie auf den geradezu symbolischen Punkt bringt: Heimat. In Bezug auf »Geist der Utopie« lässt sich gut die Entwicklung des Philosophen zeigen, denn es gibt zwei Bände mit diesem Titel. Wer die erste Fassung (veröffentlicht 1918) 4 mit der zweiten (veröffentlicht 1923) 5 vergleicht, stellt fest, dass sich dort noch zwei Kapitel finden, die in der zweiten Fassung fehlen: »Der komische Held« und »Über die Gedankenatmosphäre dieser Zeit«. Die erste Fassung, geschrieben zwischen April 1915 und Mai 1917, also mitten im Ersten Weltkrieg, hatte noch den Charakter des Jugendwerks, mitsamt seiner expressionistischen Sprache, und ist als unmittelbare Reaktion auf den Ersten Weltkrieg zu lesen, während die zweite Fassung schon unter dem Einfluss der Oktoberrevolution und des aufkeimenden marxistischen Denkens verfasst wurde. Die zweite Fassung wurde außerdem nach dem Tod der Mitautorin Else von Stritzky (1921) veröffentlicht. Insofern liegen Welten zwischen den beiden Ausgaben. Im »komischen Helden« ging es um Don Quijote, eine der großen fiktiven utopischen Figuren, dort heißt es: »Das Ich und die Situation, in die es gerät, ergeben das Geschick. Daraus, aus diesem Zusammenstoß eines wegelosen, rücksichtslosen Ichund Weltbilds mit einer dagegen mehr als je unempfindlichen, geschichtsphilosophischen Situation der Umwelt und Überwelt, stammt auch Don Quijotes Versagen, sodann sein Irrsinn und zuletzt vor allem sein traurig-komisches Schicksal.« 6

Darüber, so Bloch weiter, »muß man hier weinen und lachen zugleich. Und zwar derart, daß das Lachen darüber steht.« 7 Und weiter: »Der Held steht in einem geladenen Raum, es gibt ein Dahinter und seine blitzartige Tätigkeit entscheidet.« 8 Dieser »geladene Raum« ist bei Bloch die Spannung, das kämpferische Potenzial, in dem der aufrechte Mensch steht. Das Kapitel »Über die Gedankenatmosphäre dieser Zeit« ist die Auseinandersetzung mit den Geistesströmungen der Zeit, hauptsächlich der ihn beeinflusst habenden, auch zeitgenössischen Philosophie, mit Kant, Hegel, Simmel, Bergson, Nietzsche. Den Heideggerianern hält Bloch entgegen, »daß nämlich die Sorge nichts oder fast nichts von jenen lernen kann, die gegenwärtig auf den öffentlichen Stühlen das Denken lehren.« 9 Und zu Hegel sagt Bloch: »Es ist Hegel wesentlich, alles Innere nach außen gebracht und alles Kantisch Offene ab63 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Die Diskursfähigkeit der Utopie

geschlossen zu haben.« 10 Was bei Hegel allerdings fehle, sei »die Tat, der Kampf, die den handelnden Menschen aufrufende Sorge oder Verzweiflung auch im Ganzen der Geschichte und Kultur.« 11 Bei Kant war das Denken ein einsames Licht, die Nacht dieser Welt zu verbrennen. Bei Hegel wird der Gedanke zu einem Schulmeister oder wahllosen Advokaten des Seins, das ihn beauftragte, und die Nacht der Welt rückt in das bloß unbelehrte Subjekt zurück. 12

Und weiter: Kant bleibt innerlich und unendlich, seine Forderungen verdämmern bewußt uninhaltlich in der Ewigkeit; Hegel wird dagegen als die glänzendere, großartigere, machtvollere, an Händel und Beethoven gemahnende Erscheinung, als ein Denker der Weite und wahrhafter Weltbesitzer mit dem unermeßlichsten Zug unterworfener und durchdachter Objekte im Gefolge des Systems. 13

Bloch tritt in der ersten Fassung von »Geist der Utopie« noch messianistisch auf und bedient sich eines expressionistischen Vokabulars, das in der Philosophie so neu war und was ihn für heutige Leser nicht leicht verständlich macht: Dorthin geht es hinaus, ratend, befehlend, erratend, was kommen soll, zum veränderten Denkenwollen, zum Umdenkenwollen der ganzen Welt. (…) Wir selber sind an dem Gang der Welt, die kernlos ist (…), mithandelnd, mitentscheidend, miternennend beteiligt. 14

Er beginnt hier schon seinen »gläubigen« Atheismusbegriff herauszuarbeiten, der »eine ungeheure Frömmigkeit, heißeste Gottesliebe« anzeigt. Und die Apokalypse, die »das Apriori aller Politik und Kultur (ist), die sich lohnt so zu heißen,« 15 wird zur utopischen Verheißung.

III. Der undiskutierbare Krieg Bloch geht es in »Geist der Utopie« darum, einen materialistischen Begriff von Geschichte zu rekonstruieren, ohne dessen wahrhaftige Kritik die Betrachtung und Bewertung der gesellschaftlichen Verhältnisse unmöglich ist. Etwa die Frage, wie es das nachwilhelminische 64 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Deutschland hat dazu bringen können, diesen »undiskutierbaren Krieg« 16 anzuzetteln und bis zum verwüstlichen Ende auch zu führen. Für das Volk war die Heftigkeit und das Ausmaß der Katastrophe eines Weltkriegs nicht denkbar und nicht vorstellbar. Nicht nur im wilhelminischen Deutschland, sondern in ganz Europa herrschte eine seltsam oszillierende Stimmung zwischen Überdruss und Aufbruch vor, die Fernando Pessoa mit einer »unbestimmten Unruhe« beschreibt und orakelt: »Vielleicht schmeckt Ruhm nach Tod und Nichtigkeit und riecht Triumph nach Fäulnis.« 17 Nun, es gab nicht nur im wilheminischen Deutschland, sondern in ganz Europa die Befindlichkeit des Fin-de-siècle, wo nach Impressionismus, Jugendstil und Spätromantik ein Schwanken zwischen Aufbruchsstimmung, Zukunftseuphorie, diffuser Zukunftsangst, Endzeitstimmung, Lebensüberdruss, Leichtlebigkeit, Frivolität und Dekadenz herrschte. Die Menschen waren satt und überdrüssig, aber auch zu einem Aufbruch bereit. Trotzdem erstaunt es aus heutiger Sicht, dass sogar die geistige und künstlerische Elite mehrheitlich hingerissen ist, den Krieg will und in den Krieg will. 18 Und das noch, als der Krieg schließlich entfesselt ist und noch Jahre tobte. Fast alle wurden in den Stimmungssog gezogen zwischen Bangigkeit und Enthusiasmus, Kriegsangst und Kriegslust, seien es Guillaume Apollinaire, Thomas Mann, Robert Musil, Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, Knut Hamsun. Und man fragt sich heute: welche »Erlösung« sollte dieser Weltkrieg sein? Jedenfalls widersetzten sich nur wenige der Stimmung: Stefan Zweig, Romain Rolland oder Hermann Hesse, der rief: »O Freunde, nicht diese Töne!« 19 Auch einer von diesen wenigeren sensiblen, kritischen Geistern war Ernst Bloch, der die geistige Situation der Zeit vorausschauend beschrieb. Er sieht 1911 – damals 26-jährig – das wilhelmische Deutschland als »Protzentum« der Oberschicht 20, brutal, geistlos, zynisch. Alles strebe nach dem »Oben«, »ein Aufschwung wie nie, zweifellos, doch die Pleite wohnt schon nebenan.« Dann, 1914, der Aufmarsch. »Alles, Brot, Gesichter, Zeitungen, Gedanken, ist durchbacken vom Krieg. Fast das ganze Volk, übel gewohnt, schlecht geführt, besteht nur noch aus Gier, aus Machtbesessenen, die es sind, und solchen, die es werden wollen.« 21 Es bricht »der undiskutierbare Krieg« aus. Und Bloch macht eine wichtige Unterscheidung: »Ob auch die wirtschaftlichen Interessen allein daran schuld sind, daß sich eine Wehrmacht im sozialen Raum 65 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Die Diskursfähigkeit der Utopie

gebildet hat«, ist das eine, »daß danach die gegeneinander aufgestellten Heere plötzlich von selber, unbekümmert um Wirtschaftliches, losmarschieren«, ist das andere. 22 Der Ungeist, ja eine geradezu groteske Sehnsucht nach Siegertum hatte für Bloch seine lange Gärung und geht weit hinter 1870 zurück, wo »der Ellbogen gebraucht wurde wie nie zuvor, und die meisten finden das richtig. Je zackiger, desto besser, bis hin zum Krieg, der in Potsdam gemacht wurde. Und er wird geführt, wie die Alldeutschen es stets gewünscht haben.« 23 Für Bloch war die alldeutsche Gesinnung also keineswegs erst im Nazi. »Unter allen«, so schreibt er 1917, war unser Land am meisten verwahrlost und krank. (…) Deutschland (…) eine verfaulte Ruine, in der Geld und Rohheit ihren Bockskult feiern; Jesus Christus ist zum Gaunerspott geworden. Deutschland ist eine einzige finstere, mitternächtliche, knarrende Todesmaschine, in der der Satan haust. 24

Indes sprach man in der Medienpropaganda von der »großen Zeit«, eine euphoristische, pathetische Metapher, unter der die Menschen in Massen in den Krieg gehetzt wurden – um ihn schließlich im Geist der eigenen Sache zu führen. »Die große Zeit« war satirisch auch das große Thema in Karl Kraus’ Tragödie »Die letzten Tage der Menschheit.« 25 Die Instrumentalisierung dieses Kriegs bringt Paul Valéry vielleicht am besten auf den Punkt: »Der Krieg ist ein Massaker von Leuten, die einander nicht kennen, zum Nutzen von Leuten, die einander kennen, aber nicht massakrieren.« 26 Sie kennen das Ergebnis: 10 Millionen tote Soldaten, 20 Millionen Verwundete, die ersten Giftgaseinsätze, der erste Völkermord der Geschichte – an den Armeniern. O ja, die Welt war aller globalen Kriegseuphorie zum Trotz aber durchaus gespalten. Der 20- bis 30-jährige Bloch war schon ein scharfer Ahner und Kritiker seiner Zeit. Doch mit den wirklich großen, utopischen Plänen war es vorerst vorbei. Seinen »Geist der Utopie« hatte er schon früh im Kopf. Schon 1914 schreibt er an seinen Freund Georg Lukács, dass sein endgültiger Titel für den größten Systementwurf seit Hegel lauten werde: »Der Name Gottes. Einleitung in die Summe der spekulativen Philosophie.« Nicht nur mit »Geist der Utopie« sollte es anders kommen, auch und gerade der »undiskutierbare Krieg« schlug wie eine Bombe in die Pläne ein und »alles gerät ins Hintertreffen: Jetzt ist Wichtigeres zu tun.« 27 66 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Die Diskursfähigkeit der Utopie

Bloch geht in »Geist der Utopie« ganz kryptisch auf die philosophische Betrachtung eines einfachen Bartmann-Krugs ein, um seinen Utopie-Begriff zu erläutern. Ich will das hier nicht wiederholen bzw. vorwegnehmen, weil dies an anderer Stelle dieser Tagung ausgeführt wird. Beachtenswert ist für mich nur die Frage, ob Bloch an nicht wenigen Stellen seines Werks archaische Mittel zuhilfe nimmt, um zu zeigen, wie durchdacht seine Philosophie ist. Adorno hat auf diese Metapher in einem Aufsatz nicht ohne Respekt hingewiesen und geschrieben: »Der Krug Blochs bin ich selber, wörtlich und unmittelbar, dumpfes Muster dessen, was ich werden könnte und nicht sein darf. (…) Was die Höhlentiefe des Krugs ausdrückt, ist kein Gleichnis; wäre man darin, so suggeriert Bloch, so wäre man im Ding an sich.« 28

IV. Diskursfähigkeit Dispute in Form von Tagungen wie diese haben im öffentlichen Leben wenig Resonanz. Das betrifft insbesondere Bloch. Mein Interesse im Ernst-Bloch-Zentrum war es deshalb stets, Blochs Bedeutung mit den öffentlichen Themen der heutigen Zeit zu vermitteln. Dies aber immer in kritischer Distanz, um nicht einer Personen- oder Geschichtsverklärung zu verfallen. Deshalb war der Erfolg stets auch mit der Frage der öffentlichen Akzeptanz verknüpft: Was hält ein neutrales Publikum von Bloch? Was lässt es sich in seinem Namen sagen? Wie steht das mit der Utopie? Und vor allem heute? Gibt es eine Botschaft diesseits des Marxisten Bloch? Der sich im übrigen nicht selbst als Marxist bezeichnet hat, sondern als auf der Marxschen Lehre aufbauend und sie zugleich verändernd. Diese Fragen sind zugleich die Substanz, woraus sich eine zeitgenössische Resonanz herleiten lässt. Bloch selbst hat gezeigt, wie das gehen kann. Er selbst war in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg viel journalistisch unterwegs, auch aus Not. Die Sammelbände »Durch die Wüste«, »Kampf, nicht Krieg«, »Vom Hasard zur Katastrophe«, »Viele Kammern im Welthaus«, ja auch die »Spuren« sind Sammlungen von Aufsätzen, die er für die Weltbühne und die Frankfurter Zeitung geschrieben hat. 29 Bloch betätigte sich als Mediator seiner eigenen Philosophie. Dieser Ansatz war mir stets Modell, wie mit Bloch heute umzugehen sei. 67 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Die Diskursfähigkeit der Utopie

Zwischen »Geist der Utopie« (1918) und »Das Prinzip Hoffnung« (1959) liegen vierzig Jahre bedeutenden Schaffens. Zwei Weltkriege zu erleben bedeutete zweimal ins Exil zu gehen. Dazu kommt eine Flucht der ganz anderen Art, nämlich vor der Gängelung des DDR-Regimes. In diesen vierzig Jahren baut sich ein immenser Stoff bei Bloch auf, den er, der größtenteils journalistsch unterwegs war und bis 1949 keine Anstellung hatte, systemisch anging. »Geist der Utopie« ist insofern als erstes »Systembuch« anzusehen, entstanden in historischer Zeit, in dem er seine Philosophie der Utopie entfaltete. Dieses (auch Dank seiner Frau Else von Stritzky) zutiefst im religiösen Geist verfasste Buch kann als Ursprung für Blochs Auffassung von christlichem Atheismus stehen, ein »Hoffen ohne Glauben«, in dem seine Ontologie des Noch-Nicht-Seins bereits vorgezeichnet war. Diskurs bedeutet, sich Widersprüchen zu stellen. Sich Widersprüchen auszusetzen, bedeutet aber auch, dialektisch zu denken. Die Utopie, die zwischen Vergangenheit und Zukunft vermitteln kann ist Beispiel gebend. Aus ihrem Gehalt wird der Stoff des ErnstBloch-Zentrums generiert. Ich bezog ihn induktiv auf die Formate »Autoren bei Bloch«, »Talk bei Bloch«, Tagungen, Workshops etc. Vor allem der Ernst-Bloch-Preis und Die Zukunftsrede wurden zu Highlights, in welcher Weise die Intelligenz von heute utopisches Denken widerspiegelt. Bourdieu, Moltmann, Benhabib, Kermani, Volker Braun, von Weizsäcker berührten soziologische, theologische, literarische, naturwissenschaftliche Themen von besonderer Aktualität. Ernst Bloch ist längst aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden. Doch das mindert seine Bedeutung nicht. Als ich im Jahr 2010 zu seinem 125. Geburtstag, also einem »halbgeraden« Jubiläum, einen Beitrag über Bloch in der Wochenzeitschrift »Die Zeit« unterbringen wollte, bekam ich von dem zuständigen Redakteur die Antwort: »Kommen Sie zum 150sten wieder.« Wichtiger als an Geburts- oder Todestagen festgemachte Bedeutung ist es, dass es mit dem ErnstBloch-Zentrum überhaupt einen Ort gibt, an dem an der Diskursfähigkeit des Blochschen utopischen Denkens festgehalten wird. Dieses Programm macht das Ernst-Bloch-Zentrum zu einem »Diskursraum der Utopie«. 30

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Die Diskursfähigkeit der Utopie

Anmerkungen Vgl. Klaus Kufeld: Zeit für Utopie, in: Die Gegenwart der Utopie. Zeitkritik und Denkwende, Hg. von Julian Nida-Rümelin und Klaus Kufeld, Verlag Karl Alber, München/Freiburg 2011. 2 Joachim Fest: Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin 1991. 3 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, GA Bd. 5, Frankfurt/Main 1959, 1602 ff. 4 Ernst Bloch: Geist der Utopie, Erste Fassung, GA Bd. 16, Frankfurt am Main 1971 (als faksilimilierte Ausgabe bei Duncker & Humblot 1918). 5 Ernst Bloch: Geist der Utopie, Zweite Fassung, GA Bd. 3, Frankfurt am Main 1964. 6 Bloch 1971, 59. 7 Ebd., 65. 8 Ebd., 73. 9 Ebd., 244. 10 Ebd., 276. 11 Ebd., 284. 12 Ebd., 286. 13 Ebd., 287 f. 14 Ebd., 340. 15 Ebd., 341. 16 Ernst Bloch: Durch die Wüste, Frankfurt am Main 1964, 10 ff. 17 Fernando Pessoa, zit. in: Über den Feldern. Der Erste Weltkrieg in großen Erzählungen der Weltliteratur, Hg. Von Horst Lauinger, Manesse, Zürich 2014, Nachwort, 760. 18 Vgl. ebd., Nachwort, 762. 19 Ebd., 763. 20 Ernst Bloch; Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz, GA Bd. 11, Frankfurt am Main 1070, 15. 21 Ebd. 20. 22 Ebd., 21. 23 Ebd., 29. 24 Ebd., 34. 25 Vgl. Anton Holzer (Hg.): Die letzten Tage der Menschheit. Der Erste Weltkrieg in Bildern, Mit Texten von Karl Kraus, Primus, Darmstadt 2013. 26 Zit. nach: Über den Feldern 2014, Nachwort, 771. 27 Peter Zudeick: Der Hintern des Teufels. Ernst Bloch – Leben und Werk, Elster, Bühl-Moos 1987, 49. 28 Henkel, Krug und frühe Erfahrung, in: Ernst Bloch zu ehren, Beiträge zu seinem Werk, hg. von Siegfried Unseld, Frankfurt am Main 1965, 18. 29 Ernst Bloch: Durch die Wüste, Frankfurt am Main 1964, Ders.: Kampf, nicht Krieg. Politische Schriften 1917–1919, Frankfurt am Main 1985, Ders.: Viele Kammern im Welthaus, hg. von Friedrich Dieckmann und Jürgen Teller, Frankfurt am Main 1994, Ders.: Der unbemerkte Augenblick. Feuilleton aus der 1

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Die Diskursfähigkeit der Utopie »Frankfurter Zeitung« 1916–1934, hg. von Ralf Becker, Frankfurt am Main 2007, Ders.: Spuren, GA Bd. 1, Frankfurt am Main 1969. 30 Klaus Kufeld (Hg.): Im Diskursraum der Utopie, Eine szenische Auslese aus 20 Jahren Ernst-Bloch-Zentrum, mit Fotografien von Bernhard Kunz, Ludwigshafen 2018.

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Kultur

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Vom Homo sapiens zum Homo digitalis Steuern wir auf ein neues Menschenbild zu? Vortrag bei der Ingelheimer Schöpfungswoche (2017)

Auf den ersten Blick bringt die digitale Welt vor allem Vorteile mit sich: mit dem Smartphone sind wir allgegenwärtig, bei Wikipedia mit Weltwissen versorgt, mit Google landen wir im globalen Gedächtnis, auf Facebook werden wir von Gott und der Welt geliket oder geschmäht, das E-Book erleichtert uns um Berge von Büchern und mit Twitter sind wir in Echtzeit mitten im Geschehen. Die Utopie des nanotechnischen Fortschritts ist Realität. Ist das bereits der »rasende Stillstand« (Paul Virilio) oder rückt die Menschheit zusammen? Haben wir den selbst erzeugten Fortschritt noch in der Hand, oder nicht vielmehr er uns? Die öffentlichen Diagnosen lassen uns mit einem gewissen »Unbehagen in der Kultur« durchaus zurück. Selbst Interneterklärer wie Sascha Lobo sind ins Nachdenken geraten. Ist nach dem Maschinenzeitalter, das uns Fortschritt und Wohlstand gebracht hat, die digitale Revolution ausgebrochen – und sind wir dann noch dieselben?

I.

Interneterklärungen

Apropos vergangene Zeit: lange bevor wir von der Wissens- oder Informationsgesellschaft gesprochen haben – so hoffnungsgeladen wie noch diffus – hat Marshall McLuhan, von dem immerhin die Worterfindung des »globalen Dorfs« stammt, 1964 geschrieben: »Die Technik der Elektrizität ist aber mitten unter uns, und wir sind benommen, taub, blind und stumm bei ihrem Zusammenprall mit der Technik Gutenbergs.« Die Revolution des Buchdrucks ist heute eine Selbstverständlichkeit. Aber heute scheinen wir erstmals von einer Technik, der digitalen Technik, nicht nur eingeholt, sondern überholt zu werden und das Mensch-Maschine-Verhältnis ist ein herrschaftliches, die Zeit ist enteilt. Jeder von Ihnen kennt den Sprung, nein den Rutsch 73 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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aus seinem analogen Leben, von der Telefonzelle zum Smartphone, vom ADAC-Atlas zur Navi, vom Stammtisch zu Facebook. Selbst eine der größten technischen Errungenschaften, das Automobil steigert sich in das Auto-Auto, selbstfahrend, als wisse es, wo wir hinwollen; aber wer denkt an die Funklöcher, hier und dort: das Steuer nicht mehr in der Hand? Auch wenn wir uns wehren, das »Internet der Dinge« wird eines Tages alles und jeden verbinden, und das in einem integrierten, weltumspannenden Netz, schreibt Jeremy Rifkin, wir werden bereichert und unterstützt, aber auch kontrolliert und versklavt. Wir genießen die Errungenschaften eines digital turns, aber sind wir noch Herren der Lage, ja unserer selbst? Die Zukunft ist nicht mehr das, was sie einmal war … Die Wachstumsideologien überrollen uns. All diese Turns sind dem Wachstumsdenken der Menschheit, ja der menschlichen Natur geschuldet. Der Homo sapiens ist in den Homo oeconomicus mutiert, dessen Bibel die Wachstumstheologie ist. Dabei sind wir faktisch seit fast 60 Jahren wissenschaftlich eines Besseren belehrt. 1 Als sich zu Beginn des neuen Jahrtausends das Internet zu einem Massenphänomen zu entwickeln begann, herrschte bei den meisten Menschen große Begeisterung vor, denn das Netz bot ein ganzes Universum neuer Möglichkeiten, es war eine Art konkret gewordene Utopie, mit der sich viele Hoffnungen verknüpften. Das Ziel einer Welt-Gemeinschaft schien über die Vernetzung ein Stück näher gerückt zu sein. Ereignisse in bislang unerreichbaren Regionen konnten nun in Echtzeit vom heimischen Computer aus verfolgt werden. Und nicht nur die Welt rückte zusammen, sondern es ergaben sich auch ganz neue Möglichkeiten der Kooperation, die eine Freiheit von der Abhängigkeit des kommerziellen Markts und demokratische Teilhabe versprachen. Neue Medien: Wikipedia, Facebook, Napster, Amazon, Google, Sie kennen das und nutzen das und wundern sich vielleicht, dass Sie alles quasi umsonst bekommen. Quasi umsonst. Neue Begriffe: Schwarmintelligenz, Shitstorm oder Maschinenherz, wie Sascha Lobo in seinem Buch. Neue Verben: twittern, simsen, downloaden oder googeln. Digitales Vokabular schleicht sich in die Alltagsprache. Wer nicht mitmacht oder es ignoriert (beides kommt auf das Gleiche hinaus), wird überholt, bleibt zurück. Der Fortschritt hat aufgehört, eine Schnecke zu sein, wie Günter Grass noch meinte. Oder er hat den wahren, nicht nur den technischen Fortschritt gemeint. Doch dann, wie durch einen Schlag aus einem verträumten und erträumten Leben heraus wurde durch Edward Snowdens Enthüllun74 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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gen offenkundig, dass das Internet nicht nur ein Ort der scheinbar unendlichen Freiheit ist, sondern auch einer der umfassenden Überwachung. Snowden deckte auf, dass das Überwachungsprogramm Prism den US-amerikanischen und den britischen Geheimdiensten den ungehinderten und verdachtsunabhängigen Zugriff auf die Daten beinahe aller Internetnutzer ermöglicht. Über Nacht waren die bürgerlichen Rechte des Schutzes der Kommunikation und der Privatsphäre in der digitalen Welt verwirkt. Alles und jeder wird überwacht, ununterbrochen, bei allem was man tut. Sogar Bundeskanzlerin von Freunden. Manchmal spiegeln sich hitzige Feuilletondebatten in den Preisträgern des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels wider. Als Ernst Bloch diesen Preis im Jahre 1967 erhielt, wurde er ihm nicht zuletzt wegen seines Widerstands gegen den Vietnamkrieg verliehen. 2014 wurde der Preis zum ersten Mal mit Jaron Lanier an einen Autor vergeben, der ausschließlich zu digitalen Fragen publiziert und in der Welt der Internetkonzerne zuhause ist, für Microsoft Research arbeitet. Lanier steht für die liberal-marktbasierte Strategie gegen den Datenkraken und verfolgt die Vision einer fortgesetzten Datensammlung gegen Entgelt, die davon ausgeht, dass wenn wir keine Privatheit mehr erreichen können, wir wenigstens für die unvermeidbare Hergabe unserer Daten bezahlt werden sollten. Sein Laudator Martin Schulz spricht von der Degradierung des Menschen zum reinen Objekt und Datenproduzenten, was letztlich ein inhumanes Weltbild befördere und die Freiheit des Menschen bedrohe. Er schlägt die Implementierung einer »Charta der digitalen Grundrechte« vor, die die Achtung der Privatsphäre, die Datensicherheit, ein Recht auf Vergessen im Netz und die Aufhebung einer zu starken Machtkonzentration der Internetkonzerne festschreiben müsste. Andere Netzkritiker wie der Publizist Evgeny Morozov gehen weiter. Ihm zufolge könne die von Big Data ausgehende reale Gefahr für die Demokratie nicht durch marktbasierte Lösungen behoben werden – wie eben bei Lanier. Die Frage des Datenkonsums – so Morozov – müsse vielmehr als eine ethische Frage begriffen werden, die alle Menschen betreffe, und nicht nur einige junge Expertinnen und Experten. Er warnt vor einem »hypermodernen Feudalismus«. 2 Einen Liberalismus, der etwas anderes meint als nur die Freiheit, sich überall zu verkaufen, vertritt der ehemalige Bundesinnenminister und engagierte liberale Bürgerrechtler Gerhart Baum. Angesichts der Gefahr eines Weltüberwachungsstaats befürchtet er einen bei75 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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nahe unbemerkten Verlust an liberalen Grundwerten. Genau diese sollten aber in allen Bereichen auf die digitale Welt übertragen werden. Auf einer anderen Ebene setzen Juli Zeh und Ilija Trojanow an. Die beiden bekannten Schriftsteller sind die Speerspitze einer von ihnen selbst ins Leben gerufenen Bewegung von Schriftstellern gegen Massenüberwachung. Unter dem Titel »Die Demokratie verteidigen im digitalen Zeitalter« veröffentlichten sie im Dezember 2013 in 31 Qualitätszeitungen weltweit einen von 562 anerkannten Schriftstellern unterschriebenen Aufruf, der sich an alle Staaten, Konzerne und gar die Vereinten Nationen richtete. Sie und auch die UN wurden aufgerufen, die Unverletzlichkeit des Individuums zu respektieren und zu verteidigen. Ihnen geht es letztendlich um einen Mentalitätswandel, denn es gehe um nichts weniger als die Bedrohung der Demokratie durch die Massenüberwachung. – Zu fragen ist, wer ihre eigentliche Zielgruppe ist. Der unbedachte und sorglose User jedenfalls nicht. Der lässt sich gerne verführen, noch provozierender gesagt: korrumpieren mit den Bequemlichkeiten von der online-Reisebuchung bis zur Allerreich- und Allverfügbarkeit. 3 Auch andere zeitgenössische Autoren beschäftigen sich literarisch mit dem Thema, zum Beispiel Jonas Lüscher in »Kraft«. 4 Der Roman identifiziert in Silicon-Valley die Problemzone der digitalen Welt: einerseits ein »spannender Ort mit wahnsinnig vielen klugen Leuten« und andererseits »mit welcher Naivität« dieser »Glauben an die Technologie sich dort immer wieder Bahn bricht.« 5 Ihr Schriftstellerkollege Hans Magnus Enzensberger, der die Enthüllungen Snowdens als deutliches Indiz dafür sieht, dass wir in postdemokratischen Zeiten leben, will es gar nicht erst mit Appellen an die Politik versuchen. Stattdessen hat er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einfache Regeln veröffentlicht, die jeder Mensch persönlich umsetzen könnte, um sich der Überwachung zu entziehen. Enzensberger ist es aber mit seinem schwarzen Humor, glaube ich, bitterernst, wenn er fordert: »Wer ein Mobiltelefon besitzt, werfe es weg.« 6 Doch die Flucht zu ergreifen, »ist gar nicht so einfach. Was ein Krake einmal erbeutet hat, gibt er nie wieder freiwillig her.« Unser Dilemma: die Datenströme haben letztlich tatsächlich wir selbst erzeugt. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben zeigt mit einem fast unscheinbaren Hinweis unser großes Dilemma auf. Er sagt, dass Staaten und ihre Subsysteme spätestens seit »9/11« mehr denn je 76 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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»aus Sicherheitsgründen« handeln. Das funktioniert nämlich wie ein Autoritätsargument, weil sie dann jede Diskussion abwürgen und Maßnahmen durchzusetzen erlauben, die sonst nicht akzeptiert würden. Der vermeintlich harmlose Begriff »Sicherheit« scheint alle anderen politischen Begriffe zu überlagern, so Agamben. Gefahren vorzubeugen, Unruhen und gar Katastrophen zu verhindern ist das Eine, dass Sicherheit die Freiheit auffrisst, wie Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung sagt, ist aber das Andere. 7 Was ist mit dem Homo sapiens passiert? Ich komme zu einem vorläufigen Befund des Digital Turn. Ich knüpfe dabei an Sigmund Freud an, der von »der dreifachen Kränkung der menschlichen Selbstverliebtheit durch Kopernikus, Darwin und Freud selbst« spricht. Die erste, als sie [die Menschheit, KK] erfuhr, daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern ein winziges Teilchen eines in seiner Größe kaum vorstellbaren Weltsystems. Sie knüpft sich für uns an den Namen Kopernikus, obwohl schon die alexandrinische Wissenschaft ähnliches verkündet hatte. Die zweite dann, als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichtemachte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies. Diese Umwertung hat sich in unseren Tagen unter dem Einfluß von Ch. Darwin, Wallace und ihren Vorgängern nicht ohne das heftigste Sträuben der Zeitgenossen vollzogen. 8

Und nun kommt Freud zu der von ihm selbst ausgelösten dritten Kränkung: Die dritte und empfindlichste Kränkung aber soll die menschliche Größensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht. 9

Und nun kommt, als sei das nicht genug, die vierte Kränkung: Der große »Interneterklärer« Sascha Lobo hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von der »digitalen Kränkung des Menschen« gesprochen – und sich öffentlich zu einem »Irrtum« bekannt. Worin besteht diese Kränkung? Dass sich der Homo sapiens durch den 77 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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»Homo digitalis« selbst in Frage stellt? Weil er mit den »Grenzen des Wachstums« in eine Sackgasse rennt, und die Vernunft gleich mit? Weil Daten ihn beherrschen und Orwells Horrorvision »1984« längst Realität ist? Doch sogar wenn unser Problembewusstsein zu wachsen scheint, weil wir in Big Data und der Allverfügbarkeit von Information etwas vermissen, befindet sich die digitale Welt längst auf ihrem unaufhaltsamen Alleinmarsch. Google, Facebook, Amazon, Microsoft und Apple geben den Ton an, den wir nicht ignorieren können. Im Google-Magazin heißt es: »Aufbruch Daten. Wie Informationen das Leben vereinfachen«. Die gesamte Lebens- und Arbeitswelt ist inzwischen auf Daten aufgebaut und mit ihnen durchdrungen. Die Datenschützer scheinen ihrer Aufgabe nicht mehr gewachsen und durch die Übermacht der Datenkonzerne droht ein »Digitaler Sisyphos«. 10 »Raus aus der Steinzeit« hieß es in der Süddeutschen Zeitung, und dass Deutschland den Anschluss bei der Digitalisierung bereits verpasst habe. 11 Es gehe um Neuland und Entwicklungsland. Letzteres: Deutschland! Der digitalen Welt sind wir nämlich vier Jahre zurück.

II.

Digital Turn und Menschenbild

Wo führt das alles hin, oder – mit Kant gefragt – was erwarten wir, was erwartet uns, was dürfen wir hoffen? Wie steht es im heutigen Zeitgeist mit dem guten Leben, der Gerechtigkeit, der Emanzipation, dem Bildungsideal, ja dem Menschenbild? Wie können Familie, Schule und Hochschule ihren Einfluss auf die Menschenbildung wahren? Wie versteht sich das Land der Dichter und Denker heute? An Tradition fehlt es jedenfalls nicht: sie reicht von der klassischen Tugendlehre über Kant, Herder, Wieland, Humboldt, Goethe, Lessing bis hin zur Arbeiterbildung und zur Kritischen Erziehung. Aber was nimmt der Zeitgeist noch an? Zwar sind die Tore zu höherer Bildung für sozial Bildungsbenachteiligte nicht mehr verschlossen, aber wir sehen uns durchaus unliebsamen Nivellierungen gegenüber: »Eine Schule für besonders Begabte, die von nahezu der Hälfte der Schüler besucht wird, (…) ist ein Widerspruch in sich.« 12 Wer will die papierlose Schule? 13 Führt sie denn nicht zum Verlust unserer Handschrift? Wer kann das wollen? Pfropft unser Bildungssystem die jungen Menschen mit Wissen voll oder erzieht es sie zu einer Work-Life78 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Balance? Bildet es inmitten der Datenmeere zum Leben? »Vielwisserei belehrt nicht«, wusste schon Heraklit, und Ernst Bloch fügt dem hinzu: Vielwisserei ist keineswegs dasselbe wie jene umfassende Bildung, in der einmal edle Naturen des aufsteigenden Bürgertums, gegen die Arbeitsteilung und Verdinglichung, noch ganze Menschen sein wollten. 14

Während einem unzeitgemäßen Wissens- und Bildungskanon ein dramatischer Wandel bevorsteht, driften die Disziplinen weiter auseinander und lassen Parallelwelten zu, wogegen auch das beste Networking kaum etwas ausrichtet. Der Austausch zwischen einem Humboldt und einem Gauß über die »Vermessung der Welt« 15 ist mehr denn je Fiktion, denn wer redet noch mit wem. Fragen Sie heute einen IT-Fachmann nach dem Glücksparadox oder einen Kant-Forscher nach dem Haber-Bosch-Verfahren, Sie werden dann überdurchschnittlich häufig feststellen, dass wir ein Volk von Spezialisten geworden sind. Aus der »allgemeinen Hochschulreife« ist ein Fachabitur geworden und das »Studium Generale« weitgehend verschwunden. Das Zeitalter des Bologna-Prozesses managt und formatiert das Bildungssystem durch und durch. Man möchte nun meinen, die Fortschrittskrise des digitalen Zeitalters führt zu einer Hab-Acht-Sensibilisierung, sich schützen zu wollen vor der Verschacherung des guten Menschseins. Zwar bringt die Magie des Smartphones und E-Mail-Programms ein riesiges Potenzial an Kommunikation hervor, beraubt uns aber um die face-to-face-Zeit: reagiere sofort, sagen sie, sonst versäumst du etwas. Dort, genau an der Stelle der Souveränität über die Zeit muss ein humaner Bildungskanon ansetzen, der den Blick für das Ganze wieder öffnet – mit einem Wort: Zeit und Raum für die Bildung der Person. Mit dem Einserschüler oder Fachexperten ist es nicht getan, wenn die »Soft skills« (altmodisch: Kulturtechniken) nicht vorkommen. Um was geht es da. Auf den Punkt bringt dies Nida-Rümelin in einer Schau auf die Tugenden, die zu Unrecht als »alt« gelten: eigenständige Urteilskraft, intrinsische Motivation, Stärke der Persönlichkeit, Empathie, kulturelle Offenheit, Sprachen als Schlüssel zu zeitgenössischen und vergangenen Lebenswelten, historisches Bewusstsein, Orientierungswissen, auch mathematisch-naturwissenschaftliches, statt Vielwisserei. 16

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Das wäre dann ein Weg zum Bildungsideal, dass die Menschen Orientierung finden sich einzuordnen, und Wissen lediglich das Instrument ist, nicht selbst das Ideal. Das erinnert uns an Kant und wir können uns heute mehr denn je fragen, was sein »Sapere aude« bedeutet. Der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unwissenheit besteht eben gerade nicht im Wissen, sondern im Verstehen! Insofern ist das Buch an sich noch kein Verstehen. »Kant argumentiert auch gegen Belesenheit. Verstehen liegt für ihn gerade nicht im Lesen: ›Habe ich in Buch, das für mich Verstand hat‹, warnt er, ›brauche ich mich ja selbst nicht zu bemühen‹.« 17 Julian Nida-Rümelin beschäftigt sich in seinem Buch »Philosophie einer humanen Bildung« 18 mit der Bologna-Reform, versucht zu retten, was zu retten ist, wenn er an die »Einheit der Person« appelliert. Er bindet das Bildungsideal unbedingt an die Entwicklung der Persönlichkeit. Der Appell bedeutet: der Vielwisser (und mit ihm sein Vetter Besserwisser) hätte sich auf die klassischen Tugenden zu besinnen, aller altmodischen Konnotation zum Trotz; es gehe nicht darum, seinen Lebenslauf berechnend durchzuorganisieren (das wäre die Karriere, von franz. carrière: Rennbahn), sondern mit »guten Gründen« einen Weg einzuschlagen, der einen nicht durch das Leben peitscht: Ob das gewählte Leben gelingt, ob es die eigenen Fähigkeiten zur vollen Entfaltung bringt, ob es eine Praxis ermöglicht, die Sinn stiftet und Selbstbestimmung ermöglicht, hängt von seiner inneren Stimmigkeit ab, davon, dass die Autorin ihr eigenes Leben lebt.

Das Kontrastprogramm, also die Gründe, die dieses Bildungsideal strukturell und fundamental behindern und in Gefahr bringen, liefert Frank Schirrmacher in seinem neuen Buch Ego – das Spiel des Lebens. Welch ein Befund schon der Titel! Es scheint, als würde hier der virtuelle, nicht mehr fassbare Feind, die computertechnische Achse des Bösen beschrieben, worin der »Homo oeconomicus« die Autorschaft über unser Leben übernommen hat und uns auf ein neues Menschenbild hinsteuert. 19 Das Szenario lautet: »Wo immer wir sind, wir sind zu zweit. (…) Nummer 2 trifft Entscheidungen für uns, macht Deals, schaut in die Zukunft, lobt uns, beschenkt uns, bestraft uns.« 20 »Nummer 2«, ein Hominid, wurde als Homo oeconomicus geboren und steht für die »Hypothese des Menschen zur Simulation des Menschen«, er ist der Agent für »Nummer 1« und damit Erzähler 80 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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der Geschichte des echten Menschen. Was sich so leicht wie trügerisch Spieltheorie nennt, ist ein analysierender Algorithmus, der einem das Leben vorrechnet, bis »die neuen Lebensgeschichten keine Ich-Geschichten mehr sind, sondern Du-Erzählungen.« Nach den in IT-Technik übersetzten Universalregeln der Spieltheorie hat »Nummer 2« bereits so fest zugepackt, dass wir ihm uns nicht mehr entwinden können. Sein Programm: Dein Ego ist der Erfolg und wie du auch waltest, also folge ihm; habe kein schlechtes Gewissen, wenn du rücksichtslos vorgehst, denn dein Erfolg, das bist Du. Dieses Ego hat also System, indem es im System funktioniert. Ausgerechnet ein Neffe Sigmund Freuds, Edward Berneys, erfindet den Begriff »Public Relations«, um das Ego im Netzwerk der öffentlichen Beziehungen auszuspannen: »Death Dating«, sagt Schirrmacher, und das bedeutet die Vermarktung des Inneren des Kopfes durch die Sozial-Ingenieure der Informationsgesellschaft, die für »die Kolonialisierung und Ausbeutung eines seelischen Kontinents« sorgen. Was bleibt dem Menschen nun, der sich aus dem Ego rekrutiert und das Soziale vergisst – und im Übrigen auch seinen kreativen Individualismus? Die Todesspirale heißt »Informationskapitalismus«, und wie ernst das ist, zeigt schon, dass der Begriff ungeschützt aus der Feder des gewiss nicht linkslastigen Frank Schirrmacher kommt. An all das denke ich, wenn ich Menschen in der Kneipe sitzen sehe, die auf ihr Smartphone einklackern, das ihnen aber leider keine Wunschantworten gibt (ihre Pokerfaces wie aus der D&C-Werbung verraten es); die Blickrichtung geht in den virtuellen Raum der digitalen Welt der allgefügigen Nachricht, während der potentielle Gesprächs- oder gar Liebespartner womöglich neben ihnen wartet. Ungleichzeitige Wesen sind sie geworden, würde Bloch sagen, denke ich. Frank Schirrmacher versetzt uns eindrucksvoll in diesen Real-Alb, um sich immerhin – nach 273 Seiten – um den Return zu mühen, wie um die Schraube auf das Ego wieder zu lockern: dass lebenslanges Lernen »stabile Identitäten herausbildet«. Schirrmachers Ausweg bestünde darin, »ganz einfach: nicht mitspielen. Jedenfalls nicht nach den Regeln, die Nummer 2 uns aufzwingt«, und »die Ökonomisierung unseres Lebens von einem mittlerweile fest in die Systeme verdrahteten Mechanismus des egoistischen und unaufrichtigen Menschenbilds zu trennen.« Als sei es für einen Ausstieg ja nie zu spät. Womit wir bei der Politik wären mit dem Appell für zeitgemäße Bil-

81 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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dungsstrukturen – aber bitteschön bevor »Nummer 2« sich in das Erbgut einschleicht. Es ist ein Irrtum zu glauben, Bildungsideale sind aus dem Vollen zu schöpfen. Es sind eher die Krisen und andere prekäre Verhältnisse, die ein Bewusstsein für Utopien erzeugen. Wer Krisen nicht ernst genug nimmt oder zu spät reagiert, braucht mitunter den Schock. So brachten die PISA-Studien eine Art Bewusstsein über den Schock und hatten ihr Gutes immerhin darin, dass Bildung politisch einen anderen Rang erhielt. Aber dann bleibt bei all den unzähligen Bildungsangeboten, mit denen junge Menschen und Schulen überschwemmt werden, immer noch die Frage nach dem Wohin. Ich gebe diese Frage einmal an die junge Generation weiter, die der Shell-Studie von 2010 zufolge durchaus zuversichtlich in die Zukunft schaut. Wie ist das bei der Generation Y, also derjenigen nach 1980 geborenen Menschen, die als »verwöhnt und anspruchvoll« gilt 21 und mit der Selbstverständlichkeit des »rasenden Stillstands« (Paul Virilio) aufwachsen? Die Frage soll nicht sein, wie schnodderig einer ist, sondern wie viel gelungenes Leben aus seinen Ansprüchen herauskommt. Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass die jungen Menschen aus Familien mit Migrationshintergrund oder aus sozial schwächeren Schichten kaum Generation Y-Eigenschaften aufweisen, so Mathias Albert von der Shell-Jugendstudie. Das Bildungspotenzial könnte also gerade aus den Spannungen der ungleichen Rahmenbedingungen aktiviert werden. Bei Nida-Rümelin gespickt bringen wir den »Citoyen der Zukunft« (Rousseau) hervor nur dann, wenn wir Wege aus den »Schatten-Künsten« (Platon) der disziplinären Verselbständigung hin zu einem »Orientierungswissen« finden. Schon Aristoteles stellte »die innere Stimmigkeit der Lebenspraxis in den Mittelpunkt der Bildung«. Ein derart hehres wie stimmiges Bildungsideal zielte auf die »Einheit der Person«, die sich von wertenden Unterschieden etwa zwischen ästhetischer und technischer Bildung, zwischen Sinnlichkeit und Ausbildung im Fach verabschiedet. Hier wäre die neue, weil vermittelnde Rolle der Ethik. Was Schule, Universität, Unternehmen wieder neu zu fördern hätten, ist ein integraler Ansatz von Bildung. »Das gelungene Leben«, was wie Perfekt klingt, aber tatsächlich Futurum zwei ist, hieße pädagogisch tatsächlich aufs Ganze zu gehen. Das bedeutet für alle Bildungsprojekte, den Rückblick aus der Zukunft zu wagen, um einen Begriff von Lebenslauf zu bekommen, der sich von den Erfolgstechniken des Karrieredenkens absetzt mit dem 82 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Ziel: Nicht die Karriere bestimmt dich, sondern du bestimmst deinen Lebenslauf. Das konkret-utopische Szenarium dabei: schon junge Menschen in die Lage zu versetzen sich vorstellen zu können, wo sie sich in zehn, zwanzig, ja dreißig Jahren wähnen wollen, um dann immer noch identisch zu sein mit der Persönlichkeit, die sie jetzt schon sind; um daraus abzuleiten, was eben im Jetzt zu tun sei, damit die Person nicht von der Rollenerwartung erdrückt wird. Zu einer Philosophie von Bildung dergestalt gehört auch ein Bewusstsein, dass der so genannte »Ernst des Lebens« nicht erst beim Durchschreiten des Werkstors oder Berufsportals beginnt: die versierte Arbeitskraft, der kooperative Kollege, der kluge Kopf – idealerweise alles zusammen – bildet sich bereits bei dem jungen Menschen, der noch gar nicht »angekommen« sein kann, aber schon Fahrt aufnimmt. 22 Wie sagte Schiller: Vergiss die Träume deiner Jugend nicht. Diese »Traumarbeit« soll Gegenstand lebenslangen Lernens bleiben. Warum hier nicht auf die jungen Menschen zugehen und beim unbefangenen, belehrbaren Geist der Jugend anfangen?

III. Ist der Homo digitalis auch gut? Die »schöne neue digitale Welt« beschreibt der junge Historiker Yuval Noah Harari in »Homo Deus« als »Datenreligion« und Zeitalter des »Dataismus«. 23 Er fragt, wenn es dem Dataismus gelingt, die Welt zu erobern, was wird dann mit uns Menschen geschehen? Anfangs wird es wahrscheinlich das menschliche Streben nach Gesundheut, Glück und Macht beschleunigen. Der Dataismus breitet sich gerade deshalb aus, weil er diese menschlichen Sehnsüchte zu stillen verspricht. Um Unsterblichkeit, Glück und göttliche Schöpfungskraft zu erlangen, müssen wir ungeheure Datenmengen verarbeiten, welche die Kapazitäten des menschlichen Gehirns bei weitem überschreiten. Also werden die Algorithmen das für uns erledigen. Doch sobald die Macht von den Menschen auf die Algorithmen übergeht, könnten die humanistischen Projekte irrelevant werden.« Und weiter: »Der Dataismus droht (…), Homo sapiens das anzutun, was Homo sapiens den Tieren angetan hat. 24

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Vieles deutet darauf hin, dass auch der vierfach gekränkte Mensch nicht wirklich gelernt hat. Der Homo sapiens ist der mit Vernunft, längst nicht mit Weisheit ausgestattete Mensch. So wie der Homo digitalis, der mit Technik, längst nicht mit Orientierung, ausgestattete Mensch ist. Der sokratische Syllogismus also möge lauten: der Homo sapiens ist ohne Orientierung; er ist kein Selbstläufer. Denn Vielwisserei und Alleskönnerei machen dumm, und Vorteils- und Erfolgsdenken bringen nicht das gute Leben hervor im wirklichen Menschsein im Wir und im Hier und Jetzt und im Heute und im Morgen. Um uns dem Morgen nicht zu verschließen und den Zug nicht ohne uns abfahren zu lassen, brauchen wir, so die Fachwelt, ein zweites Bildungssystem, das nicht nur bei den Jungen ansetzt und zu einem Generationenvertrag führt. Vielleicht brauchen wir sogar einen neuen Begriff für »Realität«. 25 Es kann auch nicht sein, dass sich die Welt in »digitale Kindheit« 26 und in »anti-digitales Alter« aufteilt, bei der Letzteres in Unverständnis zurückbleibt. Was ist passiert, dass Ranga Yogeshwar feststellen kann, dass die tradierten Rollen sich umkehren: »Dass Eltern ihre Kinder fragen, wie etwas geht, wird immer normaler. Logischerweise ändert das die Machtverhältnisse.« Yogeshwar rät deshalb den Eltern: »Lernt programmieren!« 27 Die Soziologin Jutta Almendinger empfiehlt »eine neue Aufteilung der bisher üblichen drei Blöcke Ausbildung, Arbeit, Ruhestand«. Auch ältere Menschen bräuchten die Bereitschaft zum Lernen. Nach 15 Jahren Erwerbstätigkeit sollten wir wieder in eine Lernphase geführt werden. 28 Das gälte nicht nur für den Privatbereitbereich, sondern auch für die Politik. Die Menschen arbeiten und leben in der Gegenwart und Zukunft unter dramatisch veränderten Bedingungen zusammen. Sie wollen nicht nur gute Arbeiter und gute Chefs sein, sondern auch gute Menschen. Mir scheint, es geht darum, was Yuval Noah Harari zum Schluss seines Buches uns als Frage aufgibt: »Was ist wertvoller – Intelligenz oder Bewusstsein.« 29

Postskriptum (2021): Inzwischen beherrscht die Coronakrise die Menschheit, nimmt ihre Freiheit in Haft. Der Lockdown (zu deutsch: Einschließung) besagt auch: »Der Bürger wird daran gewöhnt, dass Einschränkungen der Grundrechte zu den Bewältigungsstrategien einer Krise gehören.« 30 84 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Anmerkungen Rachel Carsons »Stummer Frühling« von 1962 und die beiden Berichte »Grenzen des Wachstums« von 1972 und 1974 (Meadows u. a.) weisen erstmals das fundamentale existentielle Dilemma der Menschheit nach. 2 Evgeny Morozov, Hypermoderner Feudalismus, in Süddeutsche Zeitung, 2. Mai 2016. 3 Einen Kontrapunkt setzt hier Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, Suhrkamp, Berlin 2020. 4 Jonas Lüscher, Kraft, C. H. Beck, München 2017. 5 Jonas Lüscher, Die beste aller digitalen Welten (Interview mit Antje Weber), in: Süddeutsche Zeitung, 21. April 2017. 6 Hans Magnus Enzensberger, Wehrt euch!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. März 2014. 7 Eine gute Zusammenstellung der Debattenlage gibt: Technologischer Totalitarismus. Eine Debatte, hg. von Frank Schirrmacher, Suhrkamp, Berlin 2015, unter anderem mit Hans Magnus Enzensberger, Martin Schulz, Juli Zeh. 8 Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916–17 [1915–17]), in: ders., Studienausgabe, Bd. I, Fischer, Frankfurt am Main 2000, 282. Siehe auch: Ralf Becker, Die Stellung des Menschen in der Natur, in: Gerald Hartung et al. (Hrsg.), Naturphilosophie als Grundlage der Naturethik. Zur Aktualität von Hans Jonas, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2013, 122. 9 Ebd., 283. 10 Karl-Heinz Büschemann, Digitaler Sisyphos, in: Süddeutsche Zeitung, 19./ 20. September 2015. 11 Dirk von Gehlen, Raus aus der Steinzeit, in: Süddeutsche Zeitung, 14./15. Januar 2017. 12 Elsbeth Stern und Aljoscha Neubauer, Intelligenz. Große Unterschiede und ihre Folgen, DVA, München 2013. 13 Die es bereits gibt: Internatsschule Schloss Neubeuern. 14 Ernst Bloch, Spielwiese, Fachidiotie, uomo universale, in: Ders., Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie, Bd. 10 der GA, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1968, 401 ff. 15 Vgl. Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2005. 16 Julian Nida-Rümelin, »Das hat Humboldt nicht gewollt«, in: Die Zeit, 3. März 2005. 17 Bob Blume, Wage es, zu lesen! Bücher als kategorischer Imperativ für die digitale Gesellschaft, in: Der Freitag, 23. März 2017. 18 Julian Nida-Rümelin, Philosophie einer humanen Bildung, edition KörberStiftung, Hamburg 2013. 19 Vgl. auch: Homo Oeconomicus. Ein neues Leitbild in einer globalisierten Welt?, Hg. Verena von Nell und Klaus Kufeld, Lit-Verlag, Berlin 2006. 20 Frank Schirrmacher, Ego, Das Spiel des Lebens, Blessing, München 2013, 58. 21 Nadine Bös: Work-Life-Balance? Typisch deutsch!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22./23. Juni 2013. 1

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Vom Homo sapiens zum Homo digitalis Siehe auch: Klaus Kufeld, Über das gelungene Leben. Die versierte Arbeitskraft, der gute Kollege, der kluge Kopf bildet sich bei jungen Menschen – Dringende Anmerkungen zum Bildungsideal, in: Die Rheinpfalz, 16. Oktober 2014. 23 Yuval Noah Harari, Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, C. H. Beck, München 2017. 24 Ebd., 533 f. 25 Thomas Ribi, Das Flüstern der Dinge, in: Neue Zürcher Zeitung, 27. April 2016. 26 Max Scharnigg, Mein halbes digitales Leben, in: Süddeutsche Zeitung, 8./9. August 2015. 27 Ranga Yogeshwar, Lernt programmieren!, in Der Tagesspiegel, 30. August 2015. 28 Zit. nach Dirk von Gehlen, a. a. O. 29 Harari, a. a. O., 536. 30 Heribert Prantl, Homo digitalis, in: Süddeutsche Zeitung, 31. Oktober / 1. November 2020. 22

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Ist Europa Heimat? Und für wen? Vorlesung bei den Projekttagen der Integrierten Gesamtschule Ernst Bloch, Ludwigshafen (2015)

Ob Europa Heimat ist, und für wen, ist eine wichtige Frage. Warum? Weil wir uns vielerlei fragen müssen: Erstens: ob das Europäisch-Sein eine Frage unserer Identität ist? Zweitens: ob »europäische Integration« ehrlich ist, weil die sich etablierende Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen sich gar nicht verträgt mit dem Gezanke der EU-Staaten um die Aufnahme von Flüchtlingen. (A propos »Willkommenskultur«: Voll des Lobes schreibt der britische »Guardian«, nach der internationalen Karriere der Begriffe »Kindergarten« und »Blitzkrieg« könnte ein neues deutsches Wort in den angelsächsischen Sprachgebrauch einfließen: »Willkommenskultur«.) Was ich bei Ihnen voraussetze: dass Sie sich mit dem Thema bereits beschäftigt haben und – aus dem Unterricht oder aus dem Nachrichtenalltag oder über Social Media – sich bereits ein Bild von Europa machen, gleich welches. – Was ich von Ihnen verlange: einen gewissen Abstraktionsaufwand, um strukturelle Zusammenhänge zu erkennen und darin eine Bewertung zu verankern.

I.

Europa von außen

Europa ist nicht einfach »da«. Schon die griechische Mythologie lässt die Frage offen, wie Europa zustande kam – und was es ist. Der Sage nach wurde die Enkelin des Poseidon von Zeus in Phönizien entführt. Der Gott der Götter war in einen weißen Stier verwandelt und schwamm mit Europa auf dem Rücken nach Kreta. Dort verwandelte sich Zeus abermals und zwar in einen Adler und legte seine Schwingen über die kleine, naive Europa. Die Meinungen gehen auseinander, was dann geschah. Die einen sagen, er vergewaltigte sie, die andern, er liebte sie. Was geschah wirklich? Konnte Europa Zeus drei Söhne schenken, wenn er sie nicht liebte? – Nehmen wir das Bild doch ein-

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Ist Europa Heimat?

mal, um zu fragen, aus heutiger Sicht, ob Europa erzwungen oder gewollt wird? Die schmerzliche Erfahrung der Politiker ist, dass sich fast alle bereits in Europa wähnen, um tagtäglich festzustellen, dass Europa ein Fakt und zugleich eine Zukunftsvorstellung ist, mit anderen Worten, dass sie das, was sie Europa nennen, als Zustand beschreiben, während es nicht aufhört, eine Geschichte zu haben und ein – so hätte Ernst Bloch gesagt – fließendes Ineinander von Kulturen zu sein. Europa ist also ein Prozess. Und, Europa ist eine Hoffnung für die Zukunft, aber man muss wissen, dass Hoffnungen enttäuschbar sind, denn auch wenn sie scheitern, bleiben sie Hoffnungen, die nach Erfüllung streben. Manchmal können wir unseren Blick auf das Reale der Hoffnung schärfen, wenn wir die Perspektiven wechseln, ja vielleicht sogar uns in die Sicht der Anderen hineinversetzen. Dazu möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf die Statements zweier großer Intellektueller unserer Zeit lenken, die sich im Abstand von gut zwanzig Jahren zu Europa geäußert haben, Hans Magnus Enzensberger und Jürgen Habermas. Enzensberger schrieb 1987: »Ach Europa!« 1 und Habermas schrieb 2008: »Ach, Europa« 2. Während bei Enzensberger noch eine imperative Anmahnung herauszuhören ist und er Europa mit einem Ausrufezeichen versetzt, ist es bei Habermas schon eher ein Seufzer, der eine Enttäuschung nicht verbergen kann? Was ein unscheinbares Komma, ein winziges Päuschen im Sprachfluss so ausmacht und einen Unterton hereinbringt, nur um den richtigen europäischen Ton anzuschlagen. Enzensberger investierte noch seine ganze utopische Energie, um das beabsichtigte, das notwendige und das gewollte Europa einzufordern. Aber, und das finde ich nun äußerst interessant, er tut es nicht von seiner »Mitte« her, also von den Epizentren der Macht in Brüssel und Straßburg, sondern er tut es von Ungarn, Norwegen oder Polen her, also von seinen Peripherien, die Europa immer auch schon waren – und es zugleich erst noch werden wollen. Das Europa in Belgien ist nicht dasselbe wie das Europa in Bulgarien; Europas Wohlstand ist disparat, ungleichartig, wenn wir die Wirtschaftskraft Deutschlands und die Fastpleiten etwa in Griechenland bedenken. Wenn Enzensberger »Ach Europa!« ausruft, wirft er die fast ungläubige Frage auf, was Europa überhaupt sei. Noch vor der Wende 1989/ 1990 war seine Frage nach Europa nur scheinbar pauschal, im Grunde 88 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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aber sublim und zugleich merkwürdig offengeblieben: Was ist Europa? Das Europa, von dem wir heute sprechen, war niemals schon fertig und ist gewachsen und zugleich in dauernder Veränderung begriffen. Europa von außen, also von den Rändern her betrachtet, ist nicht dasselbe Europa, das von innen nach außen regiert. Anders Habermas, der wie gesagt zwanzig Jahre später, einerseits den »Lobgesang auf die europäische Vielfalt« anstimmt, von der andererseits »heute nur noch der seufzende Ton« 3 übrig bleibt. Warum? Weil es ein Missverständnis gibt zwischen Europas Einheit und Vielfalt? Einheit setzt Vielfalt voraus, Vielfalt führt aber nicht automatisch zu Einheit, weil Partialinteressen sich nicht ohne Weiteres vereinheitlichen lassen. Europa ist kein Melting Pot, wo alle Ethnien in den gleichen Topf gerührt sind. Habermas will vielleicht sagen: dass Europa sich zwischen der Utopie, es werden zu wollen, und der Notwendigkeit, es politisch werden zu müssen, zerreibt? Jedenfalls scheint es, dass Europa für die einen ein Traumgebilde, ein Konstrukt, vielleicht nur ein Mythos bleibt, und für die anderen schlicht überflüssig, weil nicht das Europäer-Sein Identität und Leben bestimmt, sondern das Münchner-Sein oder das Pfälzer-Sein oder das Kölner-Sein – so wie Navid Kermani einmal sagte: »Ich bin Iraner mit deutschem Pass, kein Deutscher, aber Kölner«. Also, fühlt sich der Kölner oder der Ludwigshafener, gar Oggersheimer schon auch als ein Europäer? Ein wenig ändert sich die Europa-Sicht also schon, wenn wir die Außenperspektive einnehmen. Distanz verändert den Draufblick, die Tiefenschärfe ist eine andere. Ja erst Distanz sorgt für ein Vermissen Europas, wenn man das Heimische an ihm nicht mehr hat. Aus großer Ferne betrachtet, rückt Europa merkwürdig nahe. Sie können es selbst testen: wenn Sie in Ludwigshafen gefragt werden, wo Sie herkommen, kommen Sie aus Oggersheim; wenn Sie in Heidelberg gefragt werden, wo Sie herkommen, kommen Sie aus Ludwigshafen; wenn Sie in München gefragt werden, wo Sie herkommen, kommen Sie aus der Nähe von Mannheim oder Heidelberg; wenn Sie in Italien gefragt werden, wo Sie herkommen, kommen Sie aus Deutschland; wenn Sie in China gefragt werden, wo Sie herkommen, kommen Sie aus Europa. Interessant, je weiter Sie von Europa weg sind, desto mehr werden Sie zum Europäer – und werden auch als solcher wahrgenommen.

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Das heutige grenzenlose, also offenere Europa von Schengen 4 hat seine Peripherien nicht aufgehoben, sondern nur verlagert. Mehr denn je ist deshalb das »Kern-Europa« wieder in Frage gestellt. Juri Andruchowytsch und Andrzej Stasiuk sprechen vom »sogenannten Mitteleuropa«, weil ihr Europa als Ukrainer beziehungsweise Pole ein anderes ist. 5 Der aktuelle Konflikt zwischen Russland und Ukraine, den wir auch als eine Art Bruderkrieg ansehen können, zeigt auch durchaus unterschiedliche kulturelle Bindungen auf, die nicht selbstredend mit dem Kerneuropa zusammenhängen. Ich denke, viele von uns haben hier verzerrte Wahrnehmungen, wo der Kern, oder sagen wir es topographisch, die »Mitte« Europas liegt. Geographisch betrachtet liegt der Mittelpunkt des heutigen Europas in Litauen. Zwischen Mitte und Mitte scheint ein großer Unterschied. Der Erweiterungsprozess, seine Idee und Kultur haben neue Perspektiven eröffnet, die zugleich alte europäische Traditionslinien wieder gegenwärtig machen. Europa ist nicht nur Berlin, Rom und Brüssel, sondern eben auch Warschau, Kiew und Istanbul. Vergangenes und Heutiges befinden sich auf einer neuen Stufe des »Konflikts« zwischen dem, was Europa »im Innersten zusammenhält«, und dem, was politisch nicht ganz von der Intention der Expansion freigesprochen werden kann. Schließlich sucht Europa in und mit seiner Politik der Geltung im Weltkonzert auch seine neue, globale Rolle, als Wirtschafts- wie auch als Friedensmacht. Und es braucht, ja wir brauchen diese »globale« Rolle, um vor den Giganten der Zukunft, zum Beispiel China, bestehen zu können. Doch der Maßstab wird, so hoffe ich, nicht nur der Wirtschaftsfaktor Europa sein, sondern auch der Demokratieund Freiheitsfaktor, die – das dürfen wir nicht vergessen – nicht »eingeführt«, sondern in einer über 2000-jährigen Geschichte erarbeitet wurden, spätestens einer über 200-jährigen Aufklärungsgeschichte. Und genau die Sorge um Letztere ist die Habermassche Wahrnehmung des »Ach«-Seufzers Ausdruck für ein mitunter verzweifeltes Nacharbeiten, wenn es um die Kultur, den Geist, ja die Seele Europas geht, wo dem Intellektuellen die Rolle des »avantgardistischen Spürsinns für Relevanzen« 6 zukommt. Wie so oft in der Geschichte werden die Intellektuellen dann bemüht, wenn dem politischen Tun die Utopien oder die charismatischen Figuren fehlen.

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II.

Europa von innen

Vorne sagte ich: Aus großer Ferne betrachtet rückt Europa merkwürdig nahe. Wenn wir anderseits Europa fokussieren, indem wir es bereisen, wenn wir mittendrin sind, wird es praktisch unsichtbar. Denn mittendrin zu sein bedeutet, wir befinden uns in Rumänien oder in Wien oder eben daheim – und Europa ist um uns herum. »›Der europäische Gedanke‹ usw. spielen weder im Bewusstsein von Reisenden noch als Reiseziel irgendeine wahrnehmbare Rolle. Europa gibt es nicht«, sagt zugespitzt gar Tobias Gohlis. 7 Wie mag das erst der »sesshafte« Bürger Europas sehen – der, der nie unterwegs ist!? Auffällig ist, dass niemand ernsthaft am politischen »Tatbestand« Europa zweifelt, insbesondere nicht an seiner Vielfalt, dass wir aber ganz offensichtlich die Vorstellungen, welches Europa wir heute vorfinden, wie es geworden ist und was es uns bedeutet, stark differieren. Schon wenn wir dem politischen bzw. geographischen Europa die kulturelle Folie auflegen, wird es un-einheit-lich; Betrachten wir das Vereinigte Königreich, das immer eine Sonderrolle im europäischen Prozess beansprucht hat. Hier ist noch das Empire im Kopf der Menschen, die Commonwealth-Mentalität. Die britischen Politiker sprechen das natürlich niemals aus, aber sie »denken und handeln« mit den Großmachtsherzen der Briten. Selbst als Winston Churchill seinerzeit nach dem Zweiten Weltkrieg den Vorschlag der »Vereinigten Staaten von Europa« gemacht hat, war Großbritannien durchaus nicht mitgedacht, das muss man wissen. Denn Großbritannien begreift sich als eine »Welt für sich« und vielleicht bis heute. Spätestens seit dem Brexit wissen wir das. Oder nehmen wir die neu assoziierten Ost-Staaten Europas. Wo ist deren Geschichte verortet? Inwiefern ist die Türkei Europa, wenn es politisch-kulturell exkludiert wird oder qua Abgrenzung sich selbst exkludiert? Wo ist die Heimat dieser Menschen? Das Kunststück bei der Herausbildung einer europäischen Identität besteht darin, die »Sonderrollen« der nationalstaatlichen Kulturen als Vorteil für Europas Qualität anzuerkennen. Es gibt den »Staatsbürger«, ja »Weltbürger« oder Kosmopoliten, aber den »Europa-Bürger« gibt es nicht. 8 Wir kommen der Sache aber näher, wenn wir uns mit dem »Inneren« Europas beschäftigen. Mit anderen Worten mit der Seele Europas. Vielleicht ist ja dort das »Einheitliche« Europas zu finden; vielleicht finden wir dort unsere »europäische Identität«. Vielleicht ist dort ein Ansatzpunkt, wo wir eine »abgestufte Integration« lernen 91 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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und zwischen Kern und Peripherie, zwischen Mythos und Heimat 9, ja zwischen Kultur und Politik unterscheiden. Jacques Delors hat einmal gesagt beziehungsweise gefordert: L’Âme de l’Europe (Europa eine Seele geben). Er meinte, dass die Seele Europas nicht »deutsch« und nicht »französisch« fühlt, sondern in der Inklusion des »europäischen Gedankens«. Man denke nur an Athen, Versailles oder Rom, dann entdecken wir zweifellos europäische Wurzeln in unserer Kultur – und damit in unserem Selbstverständnis, wenn man will unserer Identität. Unsere »europäische Identität« ist eine aus dem Selbstverständnis der Kulturen erwachsende Anerkennung des Anderen. 10 Zum Schluss dieses Kapitels versuche ich zu zeigen, was die kulturelle Vielfalt Europas bedeutet, wenn wir in den Mikrobereich der Lebenswelten der Menschen gehen, in die Städte, in die Dörfer, in die Regionen, die stolz sind auf das, was sie sind und darstellen. Dazu trage ich Ihnen ein längeres Zitat von Richard Swartz, einem schwedischen Journalisten, vor. Es ist ein Auszug seiner Rede hier im Haus zum Thema, was die Kultur Europas sei, womit auch die Frage nach Europas Identität aufgeworfen sei, die sich eigentlich aus Multi-Identitäten herausbildet: (…) Was ist ein Europäer? Was ist Europa? Ich kann es wirklich nicht so genau sagen. Ich weiß nur, dass all diese Fragen nach Identität lästig sind. Sie sind lästig und manchmal auch gefährlich. Sie haben eher, glaube ich, die Tendenz, etwas zu zerstückeln oder zu reduzieren, als irgendetwas festzulegen. Wir plagen uns ja alle in unserem Leben mit diesen Fragen: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Und wenn wir am Ende des Lebens dastehen, dann haben die meisten von uns, glaube ich, eigentlich keine genaue Vorstellung von diesen Sachen, sie/wir haben keine Antworten auf diese Fragen gefunden. – Ich bin, das wurde kurz erwähnt, auch ein gutes Beispiel dafür. Ich bin also Schwede, in Schweden geboren und Schwedisch ist meine Muttersprache. Ich habe in Prag unter dem Kommunismus studiert, immer noch damals. Ich wohne seit vielen, vielen Jahren in Wien, und habe mein ganzes Berufsleben als Korrespondent in Osteuropa verbracht. Ich bin mit einer Kroatin verheiratet, sie ist aber aus Rijeka (Fiume) und wohl eher eine Italienerin als eine Kroatin. Wir reden zu Hause miteinander meistens englisch, wenn sie nicht auf Kroatisch auf mich schimpft, und dann schweige ich auf Schwedisch. Was bin ich, wie könnte man mich beschreiben? Wie könnte man einem Menschen

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wie mir einen Umriss geben? Wie gesagt, ich glaube, es wäre – wenn man es versuchen würde – eher zu meinem Nachteil als zu meinem Vorteil. Etwas Eindeutiges würde hier mehr zerstören als irgendetwas Gutes schaffen. Jetzt bin ich aber mit diesem Problem, mit dieser Problematik nicht alleine. In meinem kleinen, winzigen Dorf in Istrien, wo wir seit 15 Jahren auch wohnen, da leben heute etwa 25 Leute, nicht mehr – da sind sie auch mit denselben Problemen konfrontiert. Im Dorf gibt es da einen kleinen Jungen, Marco heißt er, ist so etwa 6 oder 7 Jahre alt, und er hat verstanden, dass ich eigentlich nicht dazugehöre und auch etwas Komisches spreche, was er nicht versteht. Und dann kommt er zu mir und sagt: ›Was ist das, was du sprichst, was ist das für eine Sprache?‹ Dann sage ich: ›Das ist Schwedisch.‹ – ›Aha!‹, staunt er ein bisschen darüber, und dann frage ich ihn: ›Kannst du Schwedisch?‹ – Nein, das könne er nicht. Aber dann sagt er stolz: ›Ich kann vier Sprachen.‹ – ›Aha, vier Sprachen, was kannst du für Sprachen?‹ – ›Ich spreche kroatisch [ja, das tut er, aber sehr, sehr schlecht], ich spreche slowenisch [tut er aber auch nicht besonders gut], ich rede, ich spreche italienisch [na ja, ein echter Italiener würde dem nicht zustimmen], und ich rede ›naš jezik‹ [das heißt auf slawisch: unsere Sprache]‹. Und in der Tat, diese »unsere Sprache« ist wahrscheinlich seine beste Sprache; das ist eine Mischung aus den drei anderen Sprachen, die er eigentlich nicht besonders gut spricht – vor allem so gemischt, dass man ihn im nächsten Dorf, vier oder fünf Kilometer von uns entfernt überhaupt nicht verstehen kann. Dort sprechen die Leute auch dieselben Sprachen, also Italienisch, Kroatisch und Slowenisch, aber diese werden anders gemischt, und seit Generationen ist das so. Also, es sind in Wirklichkeit verschiedene Welten, die miteinander sehr wenig zu tun haben. Und diese ›unsere Sprache‹ färbt sich auch ab von dem, was man macht oder wo man sich befindet. (…) Ich könnte natürlich auch in meinem Dorf eine Liste von klassischen europäischen Werken vorlesen, das würde aber keine Bedeutung haben, das würde niemanden interessieren, nicht einmal, wenn ich das im Wirtshaus machen würde – das ist sinnlos. Ich glaube, und das ist meine kleine These hier, Europa kommt zu so einem Dorf – und es gibt, wie gesagt, etliche solcher Dörfer in diesem Teil Europas – eher auf Schleichwegen, auf unterirdischen Flüssen und unterirdischen Verbindungen, wo die Kultur, im breiten Sinne des Wortes, wichtig ist. Also zu ›Kultur‹ gehört Sinn für Schönheit und die Fähigkeit, etwas neu zu sehen, aber wo die Werte und die Veränderungen, die mit einer regulierten Marktwirtschaft und vor allem mit Rechtsstaat-

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lichkeit verbunden sind, wichtiger sind. Ich habe hier nicht nur ohne Absicht das Kataster erwähnt: Das Kataster ist unheimlich wichtig, wichtiger als Goethe für das zukünftige Europa. Das wird immer noch viele Jahre dauern, bevor man sagen kann, dass mein Dorf ein Teil von unserem gemeinsamen neuen Europa ist. Das geht nicht so schnell, und diese Art und Weise, wie Europa jetzt vorankommt, ist vielleicht, wie das heute heißt, nicht very sexy, und wir brauchen auch sehr viel Geduld und Zeit. Das sind ja beides zwei Kategorien, die heute nicht besonders im Überfluss vorhanden sind. Der moderne Mensch hat weder Zeit noch Geduld, aber wir müssen ein bisschen davon auftreiben, und mit dieser Hoffnung möchte ich hier schließen – und ich hoffe für andere Dörfer wie auch für mein istrisches Dorf eine gute europäische Zukunft. 11

Das ist Europa wahrlich von innen gedacht. Die Menschen leben im Dorf, in der Stadt, und Europa betrifft sie im Alltag nicht. Sie fragen sich nicht, wer sie sind; sie sind einfach. Sie kommen mit Europa erst dann in Berührung, wenn sie von einer EU-Vorschrift direkt betroffen sind, deren Sinn nicht per se für Europa sprechen muss. »Europa von innen« ergibt somit ein durchaus anderes Bild als »Europa von außen« – und ist deshalb sehr erklärungs- und vermittlungsbedürftig. Wir müssen also fragen: Wie muss diese Überbrückung beschaffen sein? Wie kommt Europa auch in einem Dorf Istriens an, und welche Vorteile hätte das?

III. Europa porös Also: gehen wir ein weiteres Mal mitten hinein ins Getümmel. Dazu erzähle ich Ihnen eine Geschichte von Ernst Bloch. In »Italien und die Porosität« belebt er das Bild mit den kommunizierenden Menschen, die den porösen Raum gestalten: Eine Gesellschaft Neapolitaner ein Lokal betreten zu sehen, die Anknüpfung und Mischung der Gespräche zu beobachten, ist eine wahre Lehrstunde in Porosität, da ist nichts etwa aggressiv, (…) sondern alles eben freundlich-offen, ein diffuses, ein kollektives Gleiten. Privatheit, Abgrenzung einer eigenen Sphäre bleibt fast überall unverständlich; (…). Die Sprache, die Vokalbildung namentlich, ist gleichfalls nach allen Seiten offen, weithin schallend, ausströmend, aufs Freie

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und Bemerktwerden bestimmt, (…) rasche Gesten laden das Wort noch weiter aus, reichen es herum, und so wird aus Dialogen bald ein Chor. Die Sprache strömt, wie die Fontäne aus dem Mund einer Brunnenfigur […]. 12

Bloch bemüht die Innensicht, geht mitten in die Gesellschaft der Menschen, in Neapel, rollt Italien vom Süden auf, von dem schon Goethe gesagt hat: »Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele; hier ist der Schlüssel zu allem.« Wir sind dann – mit Enzensberger – im Europa von den Rändern her gedacht. Aber was heißt das nun, porös? Walter Benjamin hat als Erster den Begriff des Porösen verwendet, der so viel wie Durchlässigkeit bedeutet und auf räumliches Sehen abhebt. Der poröse Raum ist selbst in ständiger, dynamischer Bewegung, ist – wie Bloch sagt – »polyrhythmisch und polyphon«. 13 Die Vielstimmigkeit, schlicht: die Vielfalt, wird schließlich zum »Laderaum« im Aggregat grenzüberschreitender Haltungen seiner Akteure. Die von Bloch aus dem Alltag gezogene kleine Geschichte, wo Menschen sich unterhalten, sich zurufen, Stimmung erzeugen, ist die Stimme der Vielfalt, das Ineinander der Stimmen. Mit diesem Bild können wir uns auch das Ineinander der Kulturen vorstellen. Dort ist der »Laderaum«, wo es um die Aufhebung von voneinander abgeschlossenen und getrennten »Kulturkreisen« geht. Das Bild geht zunächst zurück auf eine utopische Absicht, nämlich des Ineinanders der Kulturen, die in einem »Multiversum der Kulturen« 14 sich nicht ausschließen, sondern sozusagen treffen. 15 Nach allem, was wir gehört haben, mag Europa eine Utopie sein. Aber nach Ernst Bloch bedeutet Utopie, dass unsere Vorstellung von der Zukunft möglich werden kann. Robert Menasse macht dieses Utopische am Bespiel der »Römischen Verträge« 16 anschaulich: Die Römischen Verträge schienen noch ein Jahr vor ihrer Unterzeichnung noch völlig unrealistisch. Der Mauerfall war noch am Tag davor völlig utopisch. Wenn es eine historische Erfahrung meiner Generation gibt, dann diese: Die sogenannte pragmatische Vernunft der sogenannten Realisten hat sich vor der Geschichte dramatisch lächerlich gemacht. Es ist aufgrund unserer Erfahrungen die Pflicht meiner Generation, den politischen Eliten immer wieder zuzurufen: ›Denke an die Römischen Verträge oder erinnere dich an den Fall der Berliner Mauer! Es ist viel mehr möglich, als du heute für machbar hältst!‹ 17

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Aber es gibt noch einen Begriff von Ernst Bloch, der uns zur Seele Europas führen kann, und das ist der Begriff »Heimat«. Heimat ist nach Bloch, »was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war.« Was Ernst Bloch mit »Heimat« bezeichnet hat, sollte für Europa derart zutreffen, dass Europa als Heimat – für die Menschen, die sich schließlich als Europäer fühlen sollen – neu erfunden werden sollte und keinesfalls das »Alte Europa« bleiben kann. Und doch: Der »Mythos« an Europa, also das essenziell, geschichtlich und kulturell Verbindende, auch die »unerledigte Vergangenheit« (Ernst Bloch), wäre dabei der psychologische Faktor, die Antriebskraft für den Einigungsprozess. Und noch etwas Wichtiges, an dem wir in heutiger Zeit nicht mehr vorbei kommen, wenn wir von Europa sprechen. Europa ist zum gelobten Land der Geflüchteten geworden. Die sich zu einer gigantischen Völkerwanderung auswachsen wird. Völkerwanderungen waren in der Sozialgeschichte nie freiwillig, sondern existentiell veranlasst: Flucht vor Hunger, Flucht vor Verfolgung, Flucht vor Krieg. Aber wo gehen diese Migrierenden hin und mit welchen Hoffnungen? Dass allein in 2015 340 Brandanschläge auf Flüchtlingsheime verübt wurden, zeigt die Enttäuschbarkeit von Hoffnung. Was ist dann »Heimat« für einen Syrer, der sein zerstörtes Land verlässt, über die Türkei nach Kos oder Lesbos kommt und im Traumland Europa ankommt. Daran, wie porös Europa sich definiert, wird sich sein Wertefundament bewähren. Hier zeigt sich am dramatischsten, dass der Heimatbegriff ein Zukunftsbegriff ist. Was hier »in die Kindheit scheint«, ist schwere Hypothek. Der bei Bloch positiv aufgeladene dialektische Heimatbegriff kommt ins Wanken, kann aber philosophisch aufrechterhalten bleiben. Hoffnung, die mit Verzweiflung vermischt ist, bleibt nämlich immer noch Hoffnung. Zurück zur griechischen Mythologie. Machen Sie sich selbst nun ein Bild, was mit der Königstochter Europa passiert sein muss, als Zeus, der Gott der Götter, seine Adler-Schwingen über sie legte. Wurde Europa gezwungen oder machte sie es freiwillig?

Anmerkungen Hans Magnus Enzensberger, Ach Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern. Mit einem Epilog aus dem Jahre 2006, Frankfurt/M. 1987.

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Ist Europa Heimat? Jürgen Habermas, Ach, Europa. Kleine politische Schriften XI, Frankfurt/M. 2008. 3 Ebd., S. 7. 4 Das »Schengener Abkommen« aus 1985 steht für die Abschaffung der stationären Grenzkontrollen an den Binnengrenzen Europas. 5 Juri Andruchowytsch / Andrzej Stasiuk, Mein Europa. Zwei Essays über das sogenannte Mitteleuropa, Frankfurt/M. 2004. 6 Siehe »Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen. Die Rolle des Intellektuellen und die Sache Europas« in: Habermas 2008, S. 77 ff. 7 Tobias Gohlis, Ach, Europa – Betrachtungen eines Reisenden, in: Klaus Kufeld (Hg.), Europa – Mythos und Heimat. Identität aus Kultur und Geschichte(n), Freiburg/München 2006, S. 131. 8 Otfried Höffe, Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung, C. H. Beck, München 2004. 9 Siehe Klaus Kufeld (Hg.), Europa – Mythos und Heimat. Identität aus Kultur und Geschichte(n), Freiburg/München 2006. 10 Siehe auch Adolf Muschg, Das Andere Europas«, in: Klaus Kufeld (Hg.), Europa – Wandel durch Kultur, Hg. von Klaus Kufeld, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2008, 37. 11 Richard Swartz, Nachrichten aus dem wachsenden Europa, in: Klaus Kufeld (Hg.), Europa – Wandel durch Kultur, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2008, 185 ff. 12 Ernst Bloch, Italien und die Porosität, in: ders., Literarische Aufsätze, GA Bd. 9, Frankfurt/Main 1965, 509. 13 Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, GA Bd. 13, Frankfurt am Main 1970, 146. 14 Ebd., 129. 15 Vgl. auch Trojanow, Ilija / Hoskoté, Ranjit, Kampfabsage. Kulturen bekämpfen sich nicht, sie fließen zusammen, aus dem Englischen von Heike Schlatterer, München 2007. 16 Die Römischen Verträge wurden am 25. März 1957 von Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden in Rom unterzeichnet und traten am 1. Januar 1958 in Kraft. 17 Robert Menasse, Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas, Wien 2012, 89. 2

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Flucht und Heimat Ernst Blochs Dreams of a Better Life als utopischer Systementwurf für eine Philosophie der Verheißung Essay, geschrieben für einen Sammelband zur Deutschsprachigen Philosophie im Exil in den USA (2018) 1 »Man nimmt sich mit, wohin man geht.« Ernst Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie

1.

Prägungen

Die Folien, die wir hinter Ernst Blochs Biographie identifizieren, sind drei Fluchten: vor dem Ersten Weltkrieg, dem Dritten Reich und dem gescheiterten sozialistischen Experiment DDR. Nehmen wir die glänzenden Zeiten – auch die gibt es – wie die »Goldenen Zwanziger« oder das »Wirtschaftswunder« hinzu, ergeben sich überaus spannende und auch prägende Kontrastwirkungen. An ihnen reibt sich zeitlebens Blochs Kampfnatur und entfacht den unbedingten Willen zur Utopie. Die mit einer gewaltigen Wirkung ausgestattete Persönlichkeit Blochs stellt alles hinter sein Werk zurück. Die Wurzel liegt schon in seiner Herkunft, denn dort sind seine Prägungen begründet, die ihm die utopische Energie zur Bewältigung von Flucht und Vertreibung mitgeben. Sein Biograph Peter Zudeick spricht von Flucht- und Protestträumen bereits in frühen Jugendjahren – im kontrastreichen Gegenüber der Arbeitermilieus Ludwigshafens und der beschaulichen Residenzhaftigkeit Mannheims. 2 Da ist die Flucht vor dem engstirnigen Vater, einem Eisenbahnbeamten, der ihn nicht Philosophie studieren lassen will; die Flucht vor seinen Lehrern, den »Kleinbürgern und Narren« 3, für die er angeblich zu dumm ist, Philosophie zu studieren; schließlich die Flucht von Ludwigshafen, dem »roh-kalte[n], phantastische[n] Gesicht des Spätkapitalismus« 4. Bloch erlebt seine Vaterstadt als ein »Unzuhause« 5 und eine permanente Aufbruchsstimmung. Der aufsässige Gymnasiast saugt die Gegenwelten auf: die Wirtshäuser, den Jahrmarkt, die Abenteuer- und Detektivromane, die Holländer auf den Schiffen, Karl May und »Wildwest am Rhein«. 6 Und der »Geist, der sich erst bildet« 7, findet in der Schlossbibliothek 98 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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in Mannheim seine Aufladung, wo der junge, erkenntnishungrige Bloch den ganzen spekulativen Farbenbogen der Philosophie, Hegel, Kant, Nietzsche, Schelling, liest, sich religiösen Dingen widmet. Ernst Bloch, der sich als »Lebensgott« 8 einstuft, touchiert erstmals die große Welt und euphorisiert sich an ihr. Bloch erfasst den Zeitgeist in aller Tiefenschärfe. Hier die Euphorie des Aufbruchs ebenso wie die keimende Dekadenz im wilhelminischen Deutschland und ganz Europa, dort die Befindlichkeit des Fin-de-siècle, wo nach Impressionismus, Jugendstil und Spätromantik ein Schwanken zwischen Zukunftseuphorie und Endzeitstimmung herrscht. Die Menschen wollen den Krieg. Und das noch, als der Krieg schließlich entfesselt ist und schon Jahre tobt. Doch während viele Intellektuelle von Thomas Mann über Robert Musil bis Knut Hamsun vom Stimmungssog erfasst werden, widersetzen sich nur wenige der Stimmung: Stefan Zweig, Georg Lukács, Karl Jaspers oder Hermann Hesse. Auch Ernst Bloch bleibt sich treu, schon der 26-Jährige prangert das geistlose, zynische »Protzentum der Oberschicht« 9 an. Dann, 1914, der Aufmarsch, »der undiskutierbare Krieg«. Der »Ungeist der Alldeutschen« 10 ist keineswegs erst im Nazi. 11 Der Erste Weltkrieg radikalisiert Ernst Bloch. Das bedeutet die Rekrutierung einer Energie der Sublimierung ins Philosophische, die sich zunächst hauptsächlich in Geist der Utopie 12 fokussiert, seinem ersten großen Wurf. Er bringt es 1918 heraus, auch unter dem starken Eindruck seiner ersten Frau, der tiefreligiösen Else von Stritzky, und gibt dem Kern für ein revolutionäres Bewusstsein eine bilderreiche Gestalt. Nach den wilden 1920ern zwischen den Weltkriegen, für Bloch eine Art Zwischenwelt, genießt er in Berlin, in der berühmten ›Künstlerkolonie‹ in Wilmersdorf, das Leben eines Bohemiens, lernt Karola Piotrkowska kennen und verkehrt mit Brecht, Weill, Benjamin, Kracauer, Lukács und Adorno. Bloch widmet sich in den 1930ern der Erbschaft dieser Zeit, ein Buch, das wir bis heute als weitsichtig gefasste Soziologie des versagenden Bürgertums und Seismographie des heraufkommenden Faschismus lesen können. »Nicht alle sind im selben Jetzt« 13, so eröffnet Ernst Bloch im Mai 1932 seine unter dem Titel Ungleichzeitigkeit und die Pflicht zu ihrer Dialektik entfalteten Überlegungen angesichts des anbrandenden Nationalsozialismus. In der Tat bietet er hier eine analytische Denkkategorie an, die kollektive Missstimmungen erklären kann. Es 99 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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ist die Kategorie der Ungleichzeitigkeit. Mit Marx geht er davon aus, dass materielle Produktionsweisen und gesellschaftlich-kulturelle Entwicklungen nicht notwendiger Weise synchron verlaufen, und entwickelte Ungleichzeitigkeit zur Kategorie der Ideologiekritik, die dazu diente, des Misslichen und zugleich des noch Subversiven, Unabgegoltenen und Utopischen gewahr zu werden. Mittels dieser Kategorie konnte er einen rückwärtsgewandten Bewusstseinszustand weiter Bevölkerungskreise als tragend für die Durchsetzungsfähigkeit des Nationalsozialismus ausmachen ebenso wie die kollektiven Stimmungen als Nährboden für Demagogie. 14 Dan Diner erfasst Blochs scharfe Wahrnehmung mit dem Begriff der »ungleichzeitigen« Entwicklung: Warum – so lautet die beständig kreisende Frage des Philosophen aus dem Geiste und in den Begriffen seiner Zeit – warum handeln Menschen, arbeitende Menschen, Arbeiter, Proletarier sich selbst zuwider und folgen politischen Verführern ins Nichts? Mit der inzwischen emblematisch gewordenen Figur von der ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ sucht Bloch in der Krise seiner Zeit die weit sich auftuende Schere zwischen dem Begriff der Klasse geschuldeten Erwartungen und dem davon sich absetzenden falschen Bewusstseins der Masse epistemisch zu schließen. 15

Hier bleibt zunächst festzuhalten, dass Blochs Werk tragende Prägungen auf die Jugendzeit und den Ersten Weltkrieg zurückgehen. Allen unverrückbaren Überzeugungen zum Trotz stellt er seine Person zu jeder Zeit hinter das Werk. Er spricht so gut wie nie von sich. 16 Die Person Bloch, die aus dem ›knisternden Akkord‹ zwischen dem spätkapitalistischen Prekariat Ludwigshafens und dem bürgerlichen Reichtum Mannheims hervorgeht und gegen die fatale Aufbruchsstimmung zum und im Ersten Weltkrieg den donnernden Propheten evoziert, legt konsequent die Spur zur Geschichtsfigur Bloch.

2.

Roter Faden

Ernst und Karola Bloch gehen über Wien, die Schweiz, Paris und Prag 1938 in die USA und führen ein rastloses, ja brotloses Leben. Dort, im amerikanischen Exil arbeitet Ernst Bloch über einen Zeitraum von elf Jahren am Prinzip Hoffnung. Er schreibt es, während die Schächer des 100 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Dritten Reichs die Welt ausbluten lassen. Man möge vergegenwärtigen: das Opus magnum entsteht mit dem politischen Pathos eines Gegenentwurfs gegen die nationalsozialistische Weltbedrohung einerseits und des ›American Dream‹ in der Freiheitsideologie Washingtons und Jeffersons andererseits. Bloch schreibt am größten Systementwurf seit Hegel und Fichte; der Arbeitstitel des Prinzips Hoffnung heißt Dreams of a Better Life. 17 Blochs Lebensauffassung widerspricht unserem gewohnten Bild von Leiden in Emigration und Exil. Er lebt ab 1938 in den USA mehr oder weniger isoliert, zunächst in New Hampshire und ab 1942 in Cambridge (Massachusetts), doch: er isoliert sich auch selbst. Daran ändert auch nicht viel, dass er mit Thomas Mann, Theodor W. Adorno, Hanns Eisler, Joachim Schumacher oder Adolf Lowe zusammentrifft oder korrespondiert. Es muss Bloch sehr geschmerzt haben, dass Max Horkheimer ihn wegen seiner angeblich kommunistischen Haltung nicht in sein Institut für Sozialforschung aufnimmt. Dies trotz der Intervention Adornos, der von seiner prekären Lage weiß und der in einem »erschütterten« 18 Brief Hilfe verspricht. Eine Anstellung dort hätte ihm die nötige existentielle Sicherheit gegeben. 19 Stattdessen bringt ihn seine Frau Karola durch. Von ihren Aufzeichnungen und aus vielen Briefwechseln dieser Zeit wissen wir aber auch, wie Bloch sich zwar selbst isoliert, aber auch ungestört an seinem Hauptwerk schreiben kann. In einem Brief kurz nach der Einreise gesteht er Wieland Herzfelde noch: »Ich bin ein Fremdling wie selten irgendwo und habe selber Lebensunsicherheit, also das stärkste Gegengefühl von Heimat« 20; ein paar Jahre später aber, 1942, hat sich Bloch längst ganz seiner Aufgabe verschrieben, wenn er Otto Klemperer mitteilt: »Unverdrossen und unberührbar vom Dreck der Welt arbeite ich.« 21 Es ist, als hätte Bloch die unter den Nazis entartete ferne Politik in Europa und der Welt wie einen Horrorfilm einfach ausgeblendet, im beinahe blinden Vertrauen auf die langfristige Entwicklung der sozialistischen Idee und die Hoffnung auf das Humanum. Bloch ist der englischen Sprache nicht mächtig und will es auch gar nicht sein. 22 In seiner Ansprache auf dem Congress of American Writers in New York 1939 erklärt Bloch seine Auffassung und Verfassung des Lebens in fremder Kultur: 1. Der Vertriebene ist durchaus nicht entwurzelt. Denn er hat sein Land wider Willen und ohne innere Notwendigkeit verlassen. So hängt er noch mit ihm zusammen, desto genauer, je verantwortlicher

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er sich politisch verhält. Andererseits lebt der Flüchtling unter fremden Völkern, muß sich ihnen anpassen. Unter und mit ihnen sucht er Brot und Arbeit, gegebenenfalls Geltung. Dem gegenwärtigen Regime seiner alten Heimat so feindlich gesinnt wie kein anderer, verbindet er sich den progressiven Kräften des Lands, das ihn aufgenommen. Er findet sich freilich in der neuen Heimat nicht ganz mühelos und eilig zurecht wie die Wetterfahnen, die nach jedem Wind sich drehen. Weder ist der politische Flüchtling völlig von drüben losgerissen, noch ist er (man denke allein an die Sprache) völlig hier angelangt. So befindet er sich in einem Zwischen-zustand, lebt sozusagen auf der Grenze. 2. Aber befinden sich heute nicht die meisten Menschen in einem Zwischenzustand? Leben nicht auch die seßhaftesten Einwohner auf einer Grenze, wenn nicht des Raums, so doch der Zeit? […] Jeder Mensch lebt eine Grenzexistenz zwischen dem Alten, das er vielleicht nicht aufgeben will, aber auch nicht halten kann, und dem Neuen, das noch nicht wirklich wurde. In das der Zeitgenosse – mit Angst oder Hoffnung, je nachdem – hinüberhängt. Auch dieser Zustand ist eine Art Emigration, das heißt ein Auszug aus dem bisher Gewohnten. Es ist kein Auszug aus dem Land, worin man groß geworden, wohl aber aus der Soziologie der Väter und der eigenen Jugend. Wir alle, Vertriebene wie Seßhafte und Gastfreunde, leben derart auf der Schwelle zweier Zeiten. Und wir leben diese Grenzexistenz desto bewußter, je konkreter wir uns der Sache der Zukunft verschrieben haben. Wir begreifen, daß die alte Gesellschaft mit einer neuen schwanger geht, wir sind Leidtragende und Beförderer dieser schweren Geburt. […] Aber Exodus liegt in der Luft, ökonomischer, sozialer, geschichtsphilosophischer Exodus […] Nichts ruht mehr in der Gegenwart, es wird umgebrochen und umgeschmolzen, auch Montage aus Trümmern ist eine Art Produktionsform geworden, es ist eine Zeit des Übergangs, eine Mischzeit aus Abbruch und Geburt. 23

»Exodus«, »Montage«, »Übergang«, »Mischzeit«, das sind die Stichworte, wie Bloch das Exil als Aufbruch in eine neue Zeit utopisch wendet; er widmet die scheinbare Isolation in Konzentration auf sein Opus magnum um. Und in einem anderen Vortrag »Zerstörte Sprache – zerstörte Kultur« bei dem von Oskar Maria Graf geleiteten German-American Writers Association (Schutzverband Deutscher Schriftsteller) sagt er in New York 1939:

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Wir sprechen nun einmal deutsch. Diese Sprache haben wir mitgenommen, mit ihr arbeiten wir. […] Man kann Sprache nicht zerstören, ohne in sich selber Kultur zu zerstören. Und umgekehrt, man kann eine Kultur nicht erhalten und fortentwickeln, ohne in der Sprache zu sprechen, worin diese Kultur gebildet ist und lebt. 24

Zweifellos, so Bloch später in einem Interview, fühlt er sich glücklich, ungestört auf deutsch schreiben zu können, in einer Sprache, die rundum nicht gesprochen und banalisiert wurde, einer wissenschaftlichen und philosophischen Sprache. Ich habe Tag und Nacht gearbeitet, elf Jahre lang, ernährt von meiner Frau, also kein Vorbild im amerikanischen Sinn […] In Amerika fangen die Millionäre mit Tellerwaschen an, die Philosophen hören damit auf. 25

Jedenfalls ist Amerika für Bloch ein Vorbild in Sachen Freiheit, Humanität und Menschenrechte, ganz im Sinne der (bürgerlichen) Unabhängigkeitserklärung und der Gründungsideologie Washingtons und Jeffersons. Bloch rühmt Amerika als »das Land einer recht demokratischen, recht humanistischen Ideologie«. 26 Der Begriff »education«, das Erziehungsideal, werde im amerikanischen Bürgertum so wichtig genommen wie kaum irgendwo. 27 Trotzdem, und bei aller Vorliebe für den ›American Dream‹, liegt ›Heimat‹ für Bloch in Europa. So schließt er seinen Vortrag: Man verliert mit der originalen, mit der sachlich eng gebundenen Distanz weder das neue noch das alte Land, man verliert seine europäischen Angelegenheiten nicht einen Augenblick. Man hält sie vielmehr scharf zum Zweck; keinen Amerikaner mag es also erstaunen, wenn wir zur gegebenen Zeit nach Europa gehen sollten. Um eines anderen Deutschlands willen und um der stark zu verändernden Verhältnisse willen. 28

Es entspricht dem Selbstverständnis Blochs wie seiner Philosophie, »kein Auswanderer, sondern ein Ausgewichener« zu sein, wie Manfred Riedel differenziert: Der Vertriebene ist nicht entwurzelt, weil er sein Land wider Willen und ohne innere Notwendigkeit verlassen hat, er hängt noch mit ihm zusammen. […] Das Spannungsfeld von Heimat und Fremde ver-

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menschlicht den utopischen Gedanken und bindet ihn an die Zeit zurück. 29

Bloch unterscheidet sich ganz fundamental von seinen Zeitgenossen im Exil, deren theoretisches Denken durch die Erfahrung des Nationalsozialismus eine grundsätzliche Neuausrichtung erfuhr. Walter Benjamin begründete einen neuen Geschichtsbegriff; 30 Hannah Arendt fasste ihre Totalitarismustheorie neu ein; Günther Anders beschäftigt sich mit der Antiquiertheit des Menschen; Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schreiben die Dialektik der Aufklärung. 31 Bloch, so Falko Schmieder, unterscheide zwischen dem »Schnellamerikaner«, der eben endgültig mit seiner Vergangenheit abschließt und Deutschlandhass zu Selbsthass gedeihen ließe, und einem »zweiten Typ, der sein altes Sein und Bewusstsein halten wolle, als wäre mit der Einreise in die USA nichts geschehen«. 32 Man kann seine Haltung für »Weltfremdheit« 33 halten, aber auch für Systemtreue. Bloch ist sich zeitlebens seiner Sendung bewusst, seine Dreams of a Better Life waren sein Fixpunkt im Weltgeschehen, so desaströs es auch war. Die Jahre der sozialen Isolation schildert Karola Bloch so an Alfred Kantorowicz: »So sehr ich Ernsts Arbeitsfähigkeit bewundere – manchmal bin ich erstaunt, wie er Katastrophen zu überwinden versteht und in einem Schutzpark seiner selbst leben kann.« 34 Der Schutzpark brachte Bloch eine Phase höchster Kreativität. Der Kern seines Gesamtwerks wurde im Exil in den USA formuliert. Nicht nur schrieb Bloch in den acht Jahren zwischen 1938 und 1946 an den Erstfassungen des Prinzips Hoffnung, sondern auch an den Grundlagen des Hegel-Buchs (später: Subjekt – Objekt), am Materialismus-Buch, an Naturrecht und menschliche Würde und auch an seiner Religionsphilosophie (später: Atheismus im Christentum). 35 Der Preis für Blochs Werktreue und Beharren auf der Einheit von Sprache und Kultur ist hoch, denn Blochs expressionistischer Ausdrucksstil mag mit ein Grund dafür gewesen sein, dass amerikanische Verleger sich nicht an ihm erwärmen konnten. Keiner der Exilgenossen kann ihm helfen, sein 650-Seiten-Manuskript bei einem Verlag in den USA unterzubringen. Die Oxford University Press (»too cryptic«), die Viking-Press, die Guggenheim-Stiftung, die Carl-Schurz-Foundation lehnen alle ab. 36 Immerhin gelingt es Ernst Bloch noch in den USA, an einem erfolgreichen Verlagsprojekt mitzuwirken, dem Aurora-Verlag, zusammen mit zehn weiteren ›Verlegern‹, darunter Brecht, Döblin, Heinrich Mann, Feuchtwanger 104 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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und Wieland Herzfelde. Doch erst im Oktober 1943 kann ihm Herzfelde offiziell schreiben, »der Verlag ist nun endlich eine beschlossene Sache« 37. Im Jahr 1944 erscheint schließlich sein Buch Freiheit und Ordnung (es sollte später im Wesentlichen das zentrale Kapitel 36 im Prinzip Hoffnung bleiben). 38 Aus seinem Traum, dass »beim AuroraVerlag meine zwanzig Bände ›Gesammelte Werke‹ sauber gebunden« 39 erscheinen, wird allerdings nichts. Auch die Adressaten sind andere geworden. Ursprünglich wollte Bloch »das Buch ›Dreams of a Better Life‹ für Amerika schreiben«, denn »in der Tat behandelt es einen sehr amerikanischen Stoff; in der Ausarbeitung ist es das deutscheste Buch geworden, voll von altem Deutschland; ohne daß ich das doch im geringsten wollte, im Gegenteil«. 40 Der Untertitel »Von Diogenes bis Marx« wird ebenso weggelassen wie »Lesebuch für Deutsche«. 41 Auf der Grundlage von Freiheit und Ordnung entsteht noch in der Exilzeit in den USA seine erste Niederschrift, das sogenannte Ludwigshafener Manuskript, das den Titel Die Hoffnung, ihre Analyse und Funktion trägt. 42 Damit sind die dort erstmals formulierten Grundlagen für eine Enzyklopädie der Hoffnungsgehalte ausformuliert, was als ›Angelpunkt‹ für die weitere Werkgenese gelten kann. 43 Konsequent und »noch getragen von dem fast naiven Vertrauen« in das sozialistische Aufbauprojekt, arbeitet sich Bloch an den Kern seiner Philosophie heran, ganz im Abseits der prekären politischen Weltlage. In der US-Manuskriptfassung Traum, Mittel zum Zweck, Stoff der Hoffnung zieht Bloch »eine Linie vom bloßen wishful thinking ›zum Wagen der Geschichte‹, in den der Traum, der informierte, ›einsteigen‹ kann.« 44 Mit Geist der Utopie als philosophische Verarbeitung des Ersten Weltkriegs ist der rote Faden schon vorgesponnen, im Exil in den USA und unter deprivierten Lebensverhältnissen wird er zum Hauptstrang. Das Exil eine Art Parallelwelt, das Werk sein Gegenentwurf. Der rote Faden lässt sich schließlich auch an den sehr diversiven Werkphasen des Prinzips Hoffnung ablesen. Obwohl dies von der Bloch-Forschung noch nicht in gebotener Tiefe erfasst und bis heute Desiderat geblieben ist, gibt es diverse bedeutende Zugänge, die den hier beschriebenen Werkduktus mitbelegen. 45 Bloch arbeitet bis zum Erscheinen bei Suhrkamp 1959 insgesamt 21 Jahre am Prinzip Hoffnung. Die Hintergrundfolien sind das Dritte Reich und das realsozialistische Projekt DDR, bis hin zu seiner Flucht 105 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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von dort in den Westen. Allein die vielen Fassungen, von Freiheit und Ordnung bei Aurora bis zur Endfassung bei Suhrkamp, belegen zwar den Einfluss der unterschiedlichsten politischen und kulturellen Hintergründe, auch seine persönlichen Lagen, aber Blochs Arbeitsweise und Konsequenz lässt sich nicht erschüttern und bleibt gegenüber politischem Einfluss resistent. Das weiß er schon in den ersten Tagen nach seiner Ankunft, als er Klaus Mann schreibt, er plane »ein Buch, das den Vorzug haben dürfte, recht amerikanisch zu sein und mich dennoch nicht einen Zoll aus dem Zentrum der wichtigsten Angelegenheiten zu entfernen … : ›The dreams of a better life‹«. 46 Viele Fragen der Werkgenese sind indes bei weitem nicht zu Ende erforscht – und das bei fast vollständiger Quellenlage, archiviert, erschlossen und für die Forschung verfügbar im Bloch-Archiv des Ernst-Bloch-Zentrums in Ludwigshafen am Rhein. 47 Immerhin zeigt die gegenwärtige Forschungslage, dass der These Karlssons, nach der das »›Prinzip Hoffnung‹ […] von Blochs Situation in der DDR geprägt wurde« 48, widersprochen werden kann. Seine Kernphasen sind in den USA entstanden. Politische Einflüsse auf Bloch sind das Eine, die Stabilität, die »Invariante der Richtung« 49 in seinem philosophischen Gesamtwerk das Andere. Dies auseinanderzuhalten betont auch Oskar Negt, der Blochs politischen Irrtum in Bezug auf seine Haltung zur Sowjetutopie in eine übergeordnete, ideologieresistente Perspektive stellt, um den Blick auf Blochs Weg weisendes Gesamtwerk nicht zu verstellen: Von seinem frühen Buch Geist der Utopie (1918) über Thomas Münzer als Theologe der Revolution, Erbschaft dieser Zeit, Prinzip Hoffnung bis zu Naturrecht und menschliche Würde und Politische Messungen (1970) zieht sich ein roter Faden, der […] von zwei charakteristischen Elementen geprägt ist: einem tiefwurzelnden moralischen, den ganzen Reichtum der Natur und der Geschichte erfassenden Materialismus und dem Willen, den revolutionären, vielfach unentbundenen Potenzen in Natur und Gesellschaft zu Sprache und Begriff zu verhelfen. 50 Der »deutsche Philosoph der Oktoberrevolution« habe gezeigt, wie es möglich ist, »neue Dogmatisierungen aufzubrechen« und »auch einen neuen Weg aufzuzeigen, wie Philosophie überleben kann, ohne auf ihre politische Wirksamkeit zu verzichten«. 51

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3.

Heimat und Verheißung

Blochs konsequente Linie lässt sich am besten am Heimat-Begriff bemessen, als einer Chiffre für Utopie. Schon 1926 geht er näher darauf ein und zwar in dem Text Hebel, Gotthelf und bäurisches Tao, worin er von »Heimatkunst« spricht, den Begriff aber noch nicht philosophisch einfasst. 52 Kein Philosoph auch vor ihm (und nach ihm?) stellt ihn ins Zentrum. Zu Recht erkennt Iring Fetscher: Bloch bemüht sich immer wieder, den Rechten das Monopol auf die Verwendung von Begriffen wie Heimat, Reich, ja sogar ›deutsches Wesen‹ streitig zu machen. Fast ist er der einzige Linke, der es versuchte. 53

In der Tat wird der Heimat-Begriff bei Bloch – im Exil in den USA – zur zentralen utopischen Metapher. 54 Seine veränderten Fassungen beziehungsweise Zuordnungen in Freiheit und Ordnung im US-Exil und im Prinzip Hoffnung der Suhrkamp-Fassung lassen keine Rückschlüsse auf den Einfluss weltpolitischer Veränderungen auf Biographie und Werk zu. In der US-Fassung hat »Heimat« »eine gesellschaftstheoretische Bedeutung […]. Dann stellte er sie ans Ende des Prinzips Hoffnung, wo Heimat […] den Übergangszustand bezeichnet zwischen der Vorgeschichte und der Genesis der Welt als einer rechten […], während er in der Endversion zu einem Zielbegriff wird, der eine existentielle Spannung zwischen einer in der Kindheit wurzelnden utopischen Vision und ihrer Verwirklichung im Weltprozess wird.« 55 Im furiosen Finale im Prinzip Hoffnung heißt es: Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat. 56

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Auch Freiheit und Ordnung im Aurora-Verlag 13 Jahre zuvor, das Buch der Sozial- und Staatsutopien, lässt Bloch eschatologisch ausklingen: »Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, worin noch niemand war: Heimat.« 57 Allerdings fehlt in der Frühfassung noch das zeitliche Pendant: »das allen in die Kindheit scheint«. Heimat ist noch nicht dialektisch eingefasst und noch ohne Resonanz. Mit dem Grundgedanken, dass die Genesis nicht am Anfang liegt, sondern am Ende, dass »die Welt nie fertig ist«, dass sie niemals als Zustand gedacht werden kann (wie in vielen Ideologien von Staatssystemen), führt uns Bloch zu einem ganz besonderen Verständnis von »Heimat«. Heimat ist die sozialutopische Metapher für eine human verfasste Lebensform, ja Humanität und Frieden schlechthin. Heimat bedeutet das in der Offenen-Welt-Sein. Denn erst in der Zukunft, im Noch-Nicht, also dem utopischen Ort, der mit dem Unabgegoltenen der Vergangenheit vermittelt ist, ist der »mögliche Ort existentieller Selbstbegegnung«. 58 In der Begegnung und Selbstbegegnung »beheimatet«, ja »verheimatet« sich der Mensch. Zwar sind ihm die Spuren der Herkunft präsent, aber er klebt nicht fest wie an einem fixen Ort. Er nimmt seine herkünftige Heimat immer mit, strebt zugleich nach einem Wohin. Damit findet die ›transzendentale Obdachlosigkeit‹, die der Philosoph Georg Lukács diagnostizierte, im Prinzip Hoffnung ihren beinahe biblischen Ausklang. Bloch ist sich einer Antwort auf sein Werk stets sicher. Seit Erbschaft dieser Zeit geht er davon aus, dass es sich beim Faschismus um ein Zeichen des »Zerfalls der kapitalistischen Ordnung« 59 und um eine vorübergehende Erscheinung handelt. Krass gesagt wartet er in Cambridge die Selbsterledigung der Nazis einfach ab. Auch wenn Kritiker Blochs Prinzip Hoffnung für ein »Dokument der Verzweiflung an der Geschichte und einer Flucht vor ihr« 60 halten mögen, Bloch sieht das Exil als produktiven Schutzraum, auf lange Sicht ganz im Vertrauen auf späte Resonanz. Der temporär fehlende Resonanzboden für Blochs Philosophie im Exil wie auch heute soll nicht heißen, dass eine Philosophie nur Geltung in ihrer Zeit haben könne. 61 Das Gegenbeispiel ist ein resonanzhaltiger Heimat-Begriff, wie ihn Hartmut Rosa anwendet, und der bei Bloch in Anleihe geht. 62 »Heimat gewinnt Bedeutung erst aus der Erfahrung einer Dichotomie zwischen anverwandelten und fremd bleibenden, indifferenten Welt108 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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ausschnitten« 63 und wird so zum Schlüsselbegriff für eine Soziologie der Weltbeziehungen. In Heimat, so Rosa, »begegnen wir der für die Moderne so mächtigen Idee einer antwortenden, entgegenkommenden Welt. Begreift man Heimat in diesem Sinne also als einen anverwandelten, resonanten Weltausschnitt, dann lässt sie sich konzeptuell lösen von einer räumlichen Fixierung«. 64 Genau dies ist bei Bloch der Fall. Das Exil in den USA, im »Irgendwo auf der Welt«, empfindet und denkt Bloch als Zwischenwelt, als Schritt der »Anverwandlung von Welt«. 65 Bloch versteht seine Exil- und Vertreibungserfahrung letztlich – und mit den Worten Rosas – als »Weltreichweitenvergrößerung« 66, die er immer weiterverwertet, ohne den philosophischen Nukleus stören zu lassen. So schreibt Bloch kurz nach seiner Rückkehr aus den USA an Hermann Broch: »Das neue Buchmanuskript [Das Prinzip Hoffnung, d. Verf.] habe ich auf S. 681 sozusagen mitten im Satz unterbrochen und werde am neuen Schreibtisch fortfahren, als wäre nichts geschehen. Es ist ja auch nichts geschehen.« 67 Wenn Bloch schon in seinem Vortrag 1939 sagt, Exodus liegt in der Luft, ökonomischer, sozialer, geschichtsphilosophischer Exodus […] Nichts ruht mehr in der Gegenwart, es wird umgebrochen und umgeschmolzen 68,

bedeutet Exil nicht allein die Flucht vor dem politisch-existentiellen Ausschluss, sondern Front und Novum: »Die Menschen wie die Welt tragen genug gute Zukunft; kein Plan ist selber gut genug ohne diesen gründlichen Glauben in ihm.« 69 Der Glauben an diesen Plan war ihm Verheißung mit der Kraft eines Versprechens, gedacht als moralisches Versprechen an die Menschheit, so wie es Hannah Arendt formuliert hat: »[D]as Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten, ist die ihm [dem Menschen, d. Verf.] innewohnende Macht, das Zukünftige zu sichern«. 70 Vor diesem Hintergrund erweist sich mit Bloch das Exil als ein Exodusplot, vor dem »Dreck der Welt« zwar geflohen zu sein, dafür aber mit stoischer Haltung dem Exodus den aufrechten Gang abzuringen. 71 Allen politischen Irrungen und exilbedingten Wirrungen zum Trotz ist kaum einer wie Ernst Bloch ein wortgewaltiger Zeitzeuge eines ›extremen Jahrhunderts‹ (Eric J. Hobsbawm). Er ist, so Gert Ueding, eine »historische Person«, die durch alle Sphären des 20. Jahrhunderts geschritten war«, und »der letzte Philosoph, der ori109 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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ginales Denken und Sprachgewalt, universale Bildung und persönliche Autorität ineins verkörperte, dessen Schicksal auch deswegen immer das Exil gewesen […] ist, weil ihm keine einheitliche Kultur, kein akademischer Stil mehr entsprach«. 72

Anmerkungen Der gleichnamige Beitrag ist zuerst erschienen in: Max Beck, Nicholas Coomann (Hg.): Historische Erfahrung und begriffliche Transformation. Deutschsprachige Philosophie im Exil in den USA 1933–1945; Wien: LIT Verlag 2018, S. 117–131. [Siehe auch unter Quellenangaben] 2 Peter Zudeick: Der Hintern des Teufels. Ernst Bloch, Leben und Werk, BadenBaden 1985, S. 14. 3 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit (= Gesamtausgabe, Bd. 4), Frankfurt a. M. 1962, S. 209. 4 Ebd. 5 Arno Münster (Hrsg.): Tagträume vom aufrechten Gang. Sechs Interviews mit Ernst Bloch, Frankfurt a. M. 1977, S. 21. 6 Über prägende Erlebnisse im Ludwigshafen der Jahrhundertwende, [Fernsehinterview des Südwestfunks, 12. 10. 1970 mit Manfred Buchwald], in: BlochAlmanach 1, hrsg. v. Karlheinz Weigand, Baden-Baden 1981, S. 14. 7 Ernst Bloch: Spuren (= Gesamtausgabe, Bd. 1), Frankfurt a. M. 1969, S. 61. 8 Ebd., S. 65 ff. Siehe auch Klaus Kufeld: Ernst Bloch und der Lebensgott, in: Chaussee. Zeitschrift für Literatur und Kunst der Pfalz (2015), Nr. 34, S. 70–82 sowie ders.: Zwischen den Welten – Flucht und Heimat bei Ernst Bloch, in: Chaussee. Zeitschrift für Literatur und Kunst der Pfalz (2016), Nr. 38, S. 87–96. 9 Ernst Bloch: Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz (= Gesamtausgabe, Bd. 11), Frankfurt a. M. 1970, S. 15. 10 Ebd., S. 29. 11 »Unter allen«, so schreibt Bloch 1917, »war unser Land am meisten verwahrlost und krank. […] Jetzt steht Deutschland da als […] eine verfaulte Ruine, in der Geld und Rohheit ihren Bockskult feiern; Jesus Christus ist zum Gaunerspott geworden. Deutschland ist eine einzige finstere, mitternächtliche, knarrende Todesmaschine, in der der Satan haust.« (Ebd., S. 29 u. 34.) 12 Ernst Bloch: Geist der Utopie (= Gesamtausgabe, Bd. 3), Frankfurt a. M. 1964 [zuerst bei Paul Cassirer 1923]. 13 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit, a. a. O., S. 104. 14 Es sind Stimmungen, die auf einem »Unbehagen in der Gesellschaft« beruhen, wie Alain Ehrenberg aus heutiger Sicht gezeigt hat. (Siehe Alain Ehrenberg: Das Unbehagen in der Gesellschaft, Berlin 2011.) 15 Dan Diner: Gedächtnisse der Ungleichzeitigkeit [Rede zum Ernst-Bloch-Preis 2006 im Ernst-Bloch-Zentrum Ludwigshafen], unveröffentlichtes Manuskript. 16 Die Ausnahmen sind überschaubar: Ernst Bloch: Über Eigenes selber, in: Morgenblatt (1959), Nr. 14 (Sondernummer); ders.: Spuren, a. a. O., S. 61–72; 1

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Flucht und Heimat ders.: Gedenkbuch für Else Bloch-von Stritzky † 2. 1. 1921, in: Ders.: Tendenz – Latenz – Utopie (= Gesamtausgabe, Ergänzungsband), Frankfurt a. M. 1978, S. 13–50; ders.: Über prägende Erlebnisse im Ludwigshafen der Jahrhundertwende [Fernsehinterview des Südwestfunks, 12. 10. 1970 mit Manfred Buchwald], a. a. O., S. 11–22. 17 Dreams of a better Life (Manuskript, ca. 650 S., Frühjahr 1940) war die Erstfassung, die sich bis zur Fassung »Die Hoffnung, ihre Analyse und Funktion« (1947) weiterentwickelte (das sogenannte »Ludwigshafener Manuskript«, im Ernst-Bloch-Archiv Ludwigshafen). Vgl. David Karlsson: Von Cambridge, Massachusetts nach Leipzig, DDR. Zur Entstehung von Ernst Blochs »Das Prinzip Hoffnung«, in: Bloch-Almanach 15, hrsg. v. Karlheinz Weigand, MössingenTalheim 1996, S. 117–136, hier: S. 136. 18 Ernst Bloch an Wieland u. Trude Herzfelde, 06. 10. 1942, in: Dies.: »Wir haben das Leben wieder vor uns«. Briefwechsel 1938–1949, hrsg. v. Jürgen Jahn, Frankfurt a. M. 2001, S. 87. 19 Den Briefwechsel zwischen Horkheimer und Bloch dokumentiert Jan Robert Bloch: Dreams of a better life: Zum Exil Ernst Blochs in den USA, in: BlochAlmanach 18, hrsg. v. Karlheinz Weigand, Mössingen-Talheim 1999, S. 109– 131. 20 Ernst Bloch an Wieland Herzfelde, 03. 03. 1939, in: Dies.: »Wir haben das Leben wieder vor uns«, a. a. O., S. 43. 21 Ernst Bloch an Otto Klemperer, 30. 07. 1942, in: Ernst Bloch: Briefe 1903– 1975, hrsg. v. Karola Bloch, Jan Robert Bloch, Anne Frommann u. a., Frankfurt a. M. 1985, S. 716. 22 Über Vorträge an Volkshochschulen und ähnlichen nichtakademischen Einrichtungen brachte es Bloch nicht hinaus. Siehe Karola Bloch: Aus meinem Leben, Mössingen-Talheim 1995, S. 221. 23 Ernst Bloch: Ansprache auf dem Congress of American Writers (New York 1939), in: Ders.: Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz, a. a. O., S. 261–263, hier: S. 261 f. 24 Ernst Bloch: Zerstörte Sprache – zerstörte Kultur (Vortrag im Schutzverband Deutscher Schriftsteller, New York, 1939), in: Ders.: Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz, a. a. O., S. 277–299, hier: S. 277. 25 Arno Münster (Hrsg.): Tagträume vom aufrechten Gang – Sechs Interviews mit Ernst Bloch, Frankfurt a. M., 1977, S. 70 f. Siehe auch die Erinnerungen von Eric E. Hirshler, dem Sohn von Blochs vielleicht ältestem Freund Max Hirschler: »Wird schon wärn …«. Erinnerungen an Ernst Blochs Exil in den USA, in: Bloch-Almanach 3, hrsg. v. Karlheinz Weigand, Baden-Baden 1983, S. 12–17, hier: S. 14. 26 Ernst Bloch: Zerstörte Sprache – zerstörte Kultur, a. a. O., S. 293. 27 Vgl. ebd. Siehe auch Karlheinz Weigand: Ernst Bloch, in: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, Bd. 3: USA, Teil 1, hrsg. v. John M. Spalek, Konrad Feilchenfeldt u. Sandra H. Hawrylchak, Bern/München 2000, S. 15–50, hier: S. 18 ff. 28 Ebd., S. 299. Falko Schmieder weist darauf hin, dass es von dem Vortrag verschiedene Fassungen gibt. So fehlt in den Politischen Messungen die Schlusspassage des Vortrags: »Aber wir verstehen auch, daß Amerika zum Unterschied von

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Flucht und Heimat Deutschland eine bürgerliche Revolution im Leib hat; seine Nationalhelden Washington und Lincoln, nicht der große Kurfürst und Bismarck. Man spricht hier, wie formalistisch immer, eine Art Nationalsprache, wenn man Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sagt. […] Dreams of a better Life: das überhaupt ist das amerikanische Grundthema; und es ist uns Europäern verwandt geworden wie kaum ein anderes. Mehr Genies als es Musen gibt, hätten derart am amerikanischen Stoff zu tun, am manifesten von heute, am latenten von morgen.« (Falko Schmieder: »Fortfahren, als wäre nichts geschehen«. Ernst Blochs Utopien im Exil, in: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin 12 (2011), Nr. 23, S. 39–45, hier: S. 42. Erschienen auch in: Eckart Goebel/ Sigrid Weigel (Hrsg.): Escape to Life. German Intellectuals in New York. A Compendium on Exile after 1933, Berlin/Boston 2013, S. 128–141.) 29 Manfred Riedel: Tradition und Utopie. Ernst Blochs Philosophie im Lichte unserer geschichtlichen Denkerfahrung, Frankfurt a. M. 1994, S. 97. 30 Siehe Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, hrsg. v. Gérard Raulet, Berlin 2010. Darin z. B. Teil VII, wo er sich mit Paul Klees »Angelus Novus« auseinandersetzt als einer Allegorie des Fortschritts. 31 Vgl. Falko Schmieder: »Fortfahren, als wäre nichts geschehen«, a. a. O., S. 39. 32 Ebd., S. 42. 33 Ebd., S. 43. 34 Karola Bloch an Alfred Kantorowicz, 11. 08. 1942, unveröffentlichter Brief, Ernst-Bloch-Archiv. 35 Näheres siehe Karlheinz Weigand: Ernst Bloch, a. a. O., S. 26 ff. 36 Vgl. Karola Bloch: Aus meinem Leben, a. a. O., S. 187 f. 37 Ernst Bloch an Wieland Herzfelde, 23. 10. 1943, in: Dies.: »Wir haben das Leben wieder vor uns«, a. a. O., S. 91. 38 Vgl. Ernst Bloch: Freiheit und Ordnung, Abriss der Sozial-Utopien, New York 1946. Siehe auch Karola Bloch: Aus meinem Leben, a. a. O., S. 215. 39 Ernst Bloch an Wieland Herzfelde, 02. 07. 1945, in: Dies.: »Wir haben das Leben wieder vor uns«, a. a. O., S. 139. 40 Ernst Bloch an Wieland Herzfelde, 03. 03. 1939, in: Ebd., S. 43. 41 Ernst Bloch an Wieland Herzfelde, 30. 08. 1944, in: Ebd., S. 102. 42 Siehe Ernst Bloch: Die Hoffnung, ihre Analyse und Funktion, Ludwigshafener Manuskript, 1947 (im Ernst-Bloch-Archiv im Ernst-Bloch-Zentrum Ludwigshafen). 43 Vgl. Ulrich Müller-Schöll: »… das allen in die Kindheit scheint«. Zum Einfluss der politischen Erfahrung auf die Theoriebildung in Ernst Blochs Prinzip Hoffnung, in: Francesca Vidal/Werner Wild (Hrsg.): Die Utopie des Friedens. Bloch-Jahrbuch 2016/17, Würzburg 2016, S. 173–192, hier: S. 174. 44 Ebd. 45 Vgl. David Karlsson, a. a. O., S. 117 ff., siehe dort auch die Synopse der Werkphasen, S. 136; Manfred Riedel: a. a. O.; Peter Zudeick: a. a. O. Vgl. zur Dokumentation der am Ernst-Bloch-Zentrum präsentierten Forschungsarbeiten zu Das Prinzip Hoffnung die Beiträge von Jan Robert Bloch, Martin Seel, Sven Hanuschek, Wolfgang Schopf und Klaus Kufeld in: Bloch-Almanach 28, hrsg. v. Klaus Kufeld, Mössingen-Talheim 2009, S. 45 ff.; Jan Robert Bloch: Dreams of a better life: Zum Exil Ernst Blochs in den USA, a. a. O.; Klaus Kufeld: Invariante

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Flucht und Heimat der Richtung. 50 Jahre Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, in: Treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre, Bd. 5: Das Jahr 1959 in der deutschsprachigen Literatur, hrsg. v. Günter Häntzschel, Sven Hanuschek u. Ulrike Leuschner, München 2009, S. 163–177; Klaus Kufeld: Heimat bei Bloch, Pathos der Ankunft, in: Bloch-Almanach 29, hrsg. v. Frank Degler u. Klaus Kufeld, Mössingen-Talheim 2010, S. 51–65; Ernst-Bloch-Zentrum (Hrsg.): Bloch. Eine Bildmonographie, bearb. von Karlheinz Weigand, Frankfurt a. M. 2007. 46 Ernst Bloch an Klaus Mann, 31. 07. 1938, in: Ernst Bloch: Briefe 1903–1975, S. 646. 47 Archivalisch im Bestand des Ernst-Bloch-Archiv erhalten und zur weiteren Forschung bereit: 650 Seiten für Dreams of a better life, Teile von Kapitel 15 in der Zeitschrift Maß und Wert (1940); das auf 1980 Seiten angewachsene Skript zu Dreams of a better life (1944), der 1946 im New Yorker Aurora Verlag erschienene Text Freiheit und Ordnung (später mit geringfügigen Änderungen als Kapitel 36 in Das Prinzip Hoffnung des 5. Bandes der Gesamtausgabe integriert), Manuskript Kapitel 53; das »Ludwigshafener« Manuskript: Die Hoffnung, ihre Funktion und ihre Inhalte (1947) als druckfertige Version. Das »Tübinger« und »Potsdamer« Manuskript (Skript zu Bd. 1); beide Manuskripte sind jeweils von Bloch grundlegend überarbeitete Fahnenabzüge vom ersten Band des im amerikanischen Exil geschriebenen »Ludwigshafener« Manuskripts mit eingelegten Beiblättern. Dazu: Jürgen Jahn: Bericht über ein Skript. Anläßlich seiner Präsentation am 1. August 1997, in: Bloch-Almanach 19, hrsg. v. Karlheinz Weigand, Mössingen-Talheim 2000, S. 207–217, hier: S. 211. 48 David Karlsson: a. a. O., S. 119. 49 Ernst Bloch/Theodor W. Adorno/Horst Krüger: Etwas fehlt … Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht, in: Ernst Bloch: Tendenz – Latenz – Utopie, Ergänzungsband zur Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 1978, S. 355. 50 Oskar Negt: Ernst Bloch – der deutsche Philosoph der Oktoberrevolution. Mit einem Kommentar aus heutiger Zeit: Oktoberrevolution (Gesprächspartner Lenin), in: Bloch-Almanach 34, hrsg. v. Klaus Kufeld, Bielefeld 2017, S. 53–72, hier: S. 61. (Zuerst erschienen als »politisches Nachwort« in: Ernst Bloch: Vom Hasard zur Katastrophe. Politische Aufsätze aus den Jahren 1934–1939, Frankfurt a. M. 1972.) 51 Ebd., S. 68. 52 Ernst Bloch: Hebel, Gotthelf und bäurisches Tao, in: Ders.: Literarische Aufsätze (= Gesamtausgabe, Bd. 9), Frankfurt a. M. 1965, S. 365–384, hier: S. 368. 53 Iring Fetscher: Träumer nach vorwärts. Der kritische und irrende Zeitgenosse Ernst Bloch: Sechzig Jahre Hoffnung, in: Die Zeit (12. 02. 1971). 54 Vgl. Klaus Kufeld: Heimat bei Bloch: Pathos der Ankunft, a. a. O. 55 Ulrich Müller-Schöll: »… das allen in die Kindheit scheint«, a. a. O., S. 185 f. 56 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung (= Gesamtausgabe, Bd. 5), Frankfurt a. M. 1959, S. 1628. 57 Ernst Bloch: Freiheit und Ordnung, a. a. O., S. 190. 58 Manfred Riedel: Anfänge des utopischen Denkens. Ernst Blochs Vision vom europäischen »Vaterland der Zeit«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 40 (1992), Nr. 10, S. 1107–1127, hier: S. 1117. 59 Falko Schmieder: »Fortfahren, als wäre nichts geschehen«, a. a. O., S. 43.

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Flucht und Heimat Ebd. Siehe Axel Honneth: Hoffnung in hoffnungslosen Zeiten [Rede zum ErnstBloch-Preis 2015 im Ernst-Bloch-Zentrum], in: Bloch-Almanach 34, hrsg. von Klaus Kufeld, Bielefeld 2017, S. 15–27, hier: S. 16. (Auch in: Axel Honneth: Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung. Erweiterte Ausgabe, Berlin 2017, S. 181–196.) 62 Siehe Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016. 63 Ebd. S. 603. 64 Ebd. 65 Ebd., S. 605. Auch die Reisephilosophie kennt diese Erfahrung zwischen Fernweh und Heimweh. Näheres in: Klaus Kufeld: Die Reise als Utopie. Ethische und politische Aspekte des Reisemotivs, München 2010. 66 Hartmut Rosa: Resonanz, a. a. O., S. 605. 67 Ernst Bloch an Hermann Broch, 07. 04. 1949, in: Ernst Bloch: Briefe 1903– 1975, a. a. O., S. 846. 68 Siehe Fn. 20. 69 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, a. a. O., S. 519. 70 Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben [The Human Condition, Chicago 1958], München/Zürich 2002, S. 311. 71 Christoph Türcke schreibt hier Bloch ein neuzeitlich-politisches Verständnis des altbiblischen Exodus zu: »ein Ausscheren, Nicht-Mitmachen, Dissidenz, Ketzerei.« (Christoph Türcke: Exodus als politische Kategorie, in: Hans-Ernst Schiller: Staat und Politik bei Ernst Bloch, Baden-Baden 2016, S. 147–154, hier: S. 150.) 72 Gert Ueding: Wo noch niemand war. Erinnerungen an Ernst Bloch, Tübingen 2016, S. 171. 60 61

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Der multiversale Literatur(en)-Kanon Ein kulturphilosophisches Plädoyer Vortrag auf einer Internationalen Konferenz der Capital Normal University, Beijing, sowie an der Universität Wuhan und am College of Chinese Language and Literature der Beijing Normal University (2005) Die »(Re-)Formation« des Literatur-Kanons ist eine große Herausforderung. Es ist der ehrgeizige Versuch, buchstäblich Welten zusammenzubringen, die lange, wenn nicht schon immer, getrennt voneinander existiert haben. Dabei erlauben Sie mir, gleich zu Beginn auf eine sprachliche Feinheit hinzuweisen: Formiert wird nur etwas völlig Neues. Re-Formiert kann nur werden, was grundsätzlich bereits existiert; es knüpft dann an bereits Formiertes sozusagen wieder bzw. neu an, unter neuen Bedingungen, mit neuen Erkenntnissen oder auf einer neuen, höheren Entwicklungsstufe. Meine Ausgangsthese vorab lautet: Die Re-Formation des Literatur-Kanons kann nicht auf »eine Liste« hinauslaufen, sie kann aber eine »konkrete Utopie« formulieren, die den Keim für die Zukunft der Literatur(en) im Gegenwärtigen, ja im Vergangenen entdeckt und – die globalen Bedingungen einbeziehend – herausprozessiert. Es sollte deshalb unsere Aufgabe sein, diese Konferenz als Initialzündung für eine grundsätzliche und intensive Beschäftigung mit den verschiedenen Literatur-Kanons aller Kulturkreise zu begreifen und uns dabei auf das noch nicht Gewordene, das Kommende zu konzentrieren. Ich schätze es als erreichbar ein, dass wir uns über die Verständigungsebenen – auch im weltweiten Maßstab – im Klaren werden können und diese Konferenz als Werkstatt für ein weltumspannendes Literaturprojekt auffassen: Experimentum Mundi litterarum. Ich werde die literaturwissenschaftlichen Analysen und die Kanon-Forschung 1 den zuständigen Fachleuten überlassen. Mögen sie dabei eine »globale Literatur« entdecken. Meine Aufgabe wird es sein, Ihnen einige kulturphilosophische Erklärungsmuster anzubieten, welche die Reformation des Literaturkanons unterstützend begleiten. Dazu gehört auch, das globale Zusammenwachsen unserer Welt – nach Ökonomie und Geisteswissenschaft – zu differenzieren: In dem Maße, wie Technik und Ökonomie unsere Kommunikation 115 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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beschleunigen und immer komplexer, ja unübersichtlicher werden lassen, sind es die Geisteswissenschaften, welche diese Prozesse entschleunigen und zum Innehalten und Reflektieren mahnen, ohne sich der technologischen Entwicklung zu verschließen. Den Rahmen für diese neue Entwicklung bildet die globalisierte Welt als deren gleichzeitige Ausdehnung beziehungsweise Zusammenrücken. 2 Die »Sprache« in diesem Prozess ist die Literatur. Diese Sprache kann und darf nicht vereinheitlicht werden, denn die Sprache ist Ausdruck der Identität der Kulturen. Etwas veraltet mag es dabei manchem erscheinen, die Philosophie zu bemühen, aber es ist die Philosophie, die den ästhetischen Mehrwert aus den Denktraditionen aller Kulturkreise herauszuarbeiten vermag; im Westen ist dies das Erbe der griechischen Philosophie, der Aufklärung nach Kant bis hin zu den zeitgenössischen Lehren von Foucault und Habermas; im Osten sind es der Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus bzw. Zen-Buddhismus, welche unabhängig von den verschiedenen Epochen der Kaiserhäuser bis hin zum Kommunismus die heutige (Denk-)Kultur beeinflussen. Heute haben wir uns zu fragen, wo wir stehen. Es ist auch eine Frage des Koordinatensystems. Schon wenn ich von einer Ost-WestBeziehung spreche und damit China, Japan, Indien meine, ist von Nord-Süd noch nicht die Rede, also etwa nicht von Afrika. Auch die Behauptung, die Wurzeln der Weltkultur lägen in Griechenland und China 3, scheint riskant, weil sie dann von herrschenden Normen ausginge, die dem Wert aller geisteswissenschaftlichen Entwicklungstraditionen nicht gerecht würde. 4 Andererseits war es vor allem die Literatur in diesen Kulturkreisen, die uns Zeugnis von unserer WeltGeschichte gibt und Garant von Überlieferung ist. Stets haben die Menschen ihr »Weltwissen« zusammengetragen und kanonisiert. Die ersten europäischen Kanons gehen auf alexandrinische und byzantinische, die ersten ostasiatischen auf konfuzianische Traditionen zurück. Diese eigentlich philosophischen Wurzeln sind heute auch in der Kanonbildung und -weiterentwicklung nachzuvollziehen, wenngleich sich in Europa seit dem Mittelalter und seit den sogenannten Klassikern ein bedeutender Wandel vollzogen hat: die italienische Literatur erfuhr über Dante (etwa ab 1300), die anglikanische über Shakespeare (etwa ab 1600), die französische über Balzac und Hugo (18. Jahrhundert) und die deutsche etwa über Goethe (18./19. Jahrhundert) bedeutende Entwicklungsimpulse. 5 Dazu kommen Aspekte wie die Entwicklung bzw. Erneuerung der Sprachkultur selbst, etwa 116 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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mit Luthers einheitlicher Bibelübersetzung in Deutschland oder mit Manzoni in Italien. Unabhängig davon aber, ob Sie heute nun die Upanishaden, die Fünf kanonischen Bücher der Ju-Schule, die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, Grimmelshausens Simplizissimus, Joyce’s Ulysses oder ob Sie den Nobelpreisträger Gao Xingjian als Kanonliteratur sehen wollen, literarische Werke werden schon dann Teil unseres Weltgedächtnisses, wenn sie eine überdurchschnittliche Aufmerksamkeit und vor allem Anerkennung erfahren. Das Entscheidende an kanonfähiger Literatur aber ist dreierlei: Erstens, wenn Literatur auf Dauer und auf hohem Niveau relevant bleibt und etwa in den Schul-Kanon aufgenommen wird; zweitens, wenn Literatur übersetzt wird und damit ihr Verbreitungsgrad weltumspannend ist; ein dritter Gesichtspunkt ist dann noch die Ebene der Kultur- und Literaturpreise, die zwar nicht als Wertmaßstäbe per se anzusehen sind, aber dazu beitragen, dass Literatur im globalen kulturellen Kontext zur Geltung kommt. Ich werde Ihnen nach diesen einführenden Worten nun ein dreiteiliges kulturphilosophisches Plädoyer für einen multiversalen Literaturkanon vortragen, und zwar in drei Schritten: (1) Die Vorstellung der Kategorien Ungleichzeitigkeit und Multiversum und die Begründung der ungleichzeitigen Rahmenbedingungen für die Entwicklungen der Kulturen – ausgehend von offenen Kunsttheorien wie der des Philosophen Ernst Bloch; (2) Die Darlegung der Gleichzeitigkeit kultureller, insbesondere literarischer Strömungen, obwohl es viele unterschiedliche LiteraturKanons gegeben hat und gibt; (3) Die Vorstellung dialogischer und diskursiver Ansätze aus der interkulturellen Philosophie, die geeignet sind, global verbindende Kriterien für einen multiversalen Literatur-Kanon zu bestimmen.

(1) Ungleichzeitigkeit Damit wir uns einer vorurteilsfreien Auffassung von Literatur(en) aus allen Erdteilen annähern können, sind offene Kunsttheorien hilfreich, welche künstlerisches Schaffen nicht (nur) retrospektiv bewerten – und wenn man so will kanonisieren, sondern welche Kunst Zukunftsgehalt aufweist. Bei Ernst Bloch ist dies die sogenannte Vorschein-Ästhetik, wonach Kunst noch nicht Gewordenes antizipiert. Literatur, die sich nicht auf den deskriptiv-geschichtslosen Raum be117 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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schränkt, gewinnt ihren »utopischen Gehalt« aus der Überschreitung des Wirklichen und Gegenwärtigen. In der Vorschein-Ästhetik spiegelt sich die »bewegende« Rolle der Kunst in der Gesellschaft wider und ist somit angewandte Philosophie für die Gesellschaft. 6 Ernst Bloch hat dies etwa in Geist der Utopie vorgestellt am archaischen Beispiel eines einfachen, alten Krugs, der zum Symbol der Selbstbegegnung wird. Bei genauerem Hinsehen wird der sogenannte Bartmannskrug zum Gefäß des Utopischen, der es möglich macht, den Teil unseres Selbst, den wir oft vergessen, reicher und gegenwärtiger werden zu lassen. Denn wir brauchen Symbole, so unscheinbar sie sein mögen, an denen ein Noch-Nicht-Gewordenes aufleuchtet. Unschwer lässt sich diese Sicht auf alle Kunstwerke übertragen; schließlich erlauben sie uns den Blick in eine transzendente Welt. Die utopischen Stoffe spiegeln sich vor allem aber in den Figuren der Unruhe wider, wie bei Goethes Faust, Cervantes’ Don Quijote oder bei Stendhal, Flaubert, Dickens, Dostojewskij und Tolstoi, Gottfried Keller, bis hin zum experimentierenden Robert Musil und zu Thomas Mann und Bertolt Brecht, bei dem die Satire-Kritik und Utopie poetisch prozessmächtig wird. Die Literatur als »bewegende Kunst« kann somit nichts einseitig Festgelegtes, für alle Zeiten Kanonisiertes sein, Literatur kann und soll nach ihrem antizipierenden Charakter untersucht werden, will sie die Zeiten überdauern. Um die dialektische Funktion der Kunst zu verstehen, müssen wir uns mit der Blochschen Kategorie der Ungleichzeitigkeit befassen. Damit verbindet sich die Frage, warum zum Beispiel Mozarts Zauberflöte oder Beethovens Neunte Symphonie noch heute Geltung beanspruchen können, wo doch ihre Entstehungsepoche heute alles andere als relevant für uns ist. Nach Bloch kann man in ihnen noch Unabgegoltenes hören, also unerledigte Vergangenheit. 7 Den gleichen Effekt erzielt hohe Literatur, wofür gerade aktuell in Deutschland die Wiederaufführung von Schillers Werken zu dessen 200. Todestag ein zeitloses Beispiel gibt. In Blochs Erbschaft dieser Zeit wird der Gedanke kulturphilosophisch gewendet. Ungleichzeitigkeit wird zur Kategorie der Ideologiekritik, die dazu dient, des Misslichen und des Utopischen gewahr zu werden. Bloch sagt, dass in einer Gegenwart verschiedene Zeiten wirken können, dass es innerhalb ein und derselben Zeitstufe verschiedene Stufen des Bewusstseins, der kulturellen sowie der ökonomischen Bedingungen geben kann. Diese komparatistische Perspektive lässt sich nun auch auf die Kulturen, ja auch innerhalb einzelner Länder oder Ethnien, beziehen, sei es in Europa, 118 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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in Südamerika oder in China. Die Literatur ist hierbei eines der Spiegelbilder all dieser Verhältnisse. Insofern entspricht unser Thema der (Re-)Formation des Kanons einer kulturpolitischen Modernisierungstendenz.

(2) Multiversum Um die interkulturelle Perspektive in unsere Betrachtungen hereinzuholen, bedienen wir uns des Kulturbegriffs des Multiversums. 8 Der Fortschrittsbegriff bei Ernst Bloch geht auf den universellen Aspekt des Kulturbegriffs ein. Dieser braucht »statt der Einlinigkeit ein breites, elastisches, völlig dynamisches Multiversum« als ein »Ineinander der Kulturen«. Um dem riesigen außereuropäischen Material gerecht zu werden, brauchen wir nach Bloch eine »neue Zeit-Mannigfaltigkeit«, um den Zielinhalt – z. B. die Literatur – auf den der wirkliche Fortschritt sich bezieht und den er befördert, reich und tief zu erkennen, »daß die verschiedenen Völker, Gesellschaften, Kulturen auf der Erde – bei aller Einheitlichkeit ihrer ökonomisch-sozialen Entwicklungsstadien und deren dialektischer Gesetze – Platz an ihm haben und zu ihm hin.« Der Blochsche Fortschrittsbegriff duldet kein Kulturkreis-Denken. Zu dem herauszuprozessierenden Humanum »sind sämtliche Kulturen auf der Erde, samt ihrem Erbsubstrat, Experimente und variant bedeutsame Zeugnisse. Sie konvergieren auch deshalb in keiner irgendwo bereits vorhandenen Kultur, gar als einer ›herrschenden‹, überragend ›klassischen‹, die in ihrem Sosein (…) bereits kanonisch wäre.« 9 Was Bloch mit dem »Multiversum der Kulturen« anspricht, bezeichnen heute Soziologen wie Ulrich Beck »kollektive Identitäten« 10 oder Philosophen wie Sloterdijk »Synchronwelt« 11. Die Darlegung eines Ineinanders der Kulturen weist aber über die Anerkennung der Verschiedenheit weit hinaus. Der Blochsche Zeitbegriff hilft, die Kulturen im Zeitalter der Globalisierung zu diagnostizieren und ihnen universelle Werte zuzusprechen, damit eine utopische Haltung einzunehmen und das Korrelat von Gegenwart, nämlich »unerledigte Vergangenheit« zu bestimmen. In heutiger, globaler Zeitrechnung gibt es allerdings wieder gefährliche herrschende Politikströmungen wie die selbsternannte Weltmachtstellung der U.S.A. oder den islamischen Fundamentalismus, die unseren Fortschrittsbegriff ad absurdum führen. Außerdem verführen die globalen Expansionen unserer 119 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Ökonomien und Kommunikationssysteme zu global ausgetragenen Kulturkonflikten (»Kampf der Kulturen« 12), welche die Weltordnung auf den Prüfstand stellen. Davon betroffenen sind dann auch unsere Kulturwerte, wenn sie ideologisch oder fundamentalistisch missbraucht werden. Selbst wenn wir feststellen, dass die Wiege der Demokratie im klassischen Griechenland Europas liegt, selbst wenn wir wissen, dass die asiatischen Kulturen viel eher als die Europäer gelernt haben, die Zeichensysteme von Anderen zu lesen, Papier- und Druckkunst erfunden haben, so müssen wir heute nüchtern feststellen, dass die globale Welt »Zwischenwelten« geschaffen oder zurückgelassen hat, die den Blochschen Fortschriffsbegriff – auf die Politikrealität bezogen – doch stark relativieren. 13 Wir haben deshalb zu berücksichtigen, dass – wenn wir über Kulturen oder Literaturen sprechen – wir keinesfalls neue herrschende Wertsysteme aufbauen dürfen und dass wir uns dessen bewusst sein müssen, dass zum multiversalen Denken ein inklusives Verständnis von Kulturen aller Erdteile gehört. Ein im Multiversum aufgehender neuer, globaler Kulturbegriff ist stets ein relationaler, interkultureller und übergleichzeitiger, idealerweise sogar überpolitischer Kulturbegriff. Wenn wir die Ihnen vorgestellten Blochschen Kategorien der Ungleichzeitigkeit und des Multiversums nun auf unser Thema, die kanonische(n) Literatur(en) beziehen, machen wir eine erstaunliche Entdeckung. Denn nicht weniger als die Literatur ist es, welche in der Lage ist, die Ungleichzeitigkeiten zu relativieren und paradigmatisch die Gleichzeitigkeit der Ineinanders und Miteinanders von Kulturen zu symbolisieren. Obzwar ungleichzeitig entstanden, finden die Produkte der Literatur im Übergleichzeitigen, also in der Überschreitung der Gegenwart, ihre wahre Bedeutung. Zwar zeigt der Blick in die Weltgeschichte immer wieder die Folie eines bis heute noch nicht überwunden Dualismus: Nord-Süd-Gefälle, Ost-West-Konflikt, Gläubige und Ungläubige, Globalisierte Welt und Dritte Welt; jedoch muss man – und das ist die in diesem Zusammenhang überraschende Feststellung – aller Ungleichzeitigkeit zum Trotz beobachten, dass in der Literatur die heutige Welt durch Gleichzeitigkeit und durch interkulturellen Diskurs gekennzeichnet ist. Über nationale oder ideologische Grenzen hinweg begegnen sich die Zeitgenossen im geistigen Raum der Weltliteratur und der Weltbildung. Ein Wissen über Goethe und Einstein, über Konfuzius und Gandhi ist überall und zu jeder Zeit vorhanden und verfügbar. Jeweilige sozioökonomische Ungleich120 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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zeitigkeiten sind sekundär, man lernt auf jeden Fall kulturell voneinander vor dem Hintergrund gegenseitigen Respekts. 14 Trotzdem ist das Verhältnis der Kulturen zueinander, das seit der Aufklärung eurozentrisch gedacht wurde, neu zu bestimmen. Die Vertreter der Diskursethik, vor allem Jürgen Habermas, spielen hier eine wichtige Rolle, ebenso Emmanuel Lévinas mit seinem Blick auf den »Anderen« oder Paul Ricœur, der für Selbstachtung auf der Basis von Fremdvertrauen und Verlässlichkeit untereinander plädiert. 15 Der interkulturelle Dialog birgt die Chance, dass im Kontext der einen globalen Welt jede Kultur (somit auch die Literatur) mit sich in Konflikt gerät und darüber selbstreflexiv wird (Dieter Senghaas); dabei stehen sich die verschiedenen Kulturen nicht als abgeschlossene Einheiten gegenüber, das interkulturelle Gespräch ist zwischen kulturellen Segmenten quer durch die Welt zu führen. Die geistigen Probleme der Gegenwart bedürfen der Hinwendung zu den kanonischen klassischen Autoren und Texten, um die Potenziale aller Kulturen zu nutzen. Wir nehmen »fremde« Kulturen zur Kenntnis, wir lernen deren Sprachen, wir bilden uns weiter, wir schaffen Kommunikation und wir heben gleichzeitig das Trennende auf, wir fügen scheinbar Unverwandtes zueinander, wir lösen uns von zentristischen Koordinatensystemen des christlichen Abendlandes einerseits und des fernöstlichen Kulturverständnisses andererseits. Kurz: Wir besinnen uns auf die Conditio humana. Wie aber kommen wir bei der Re-Formation des Literaturkanons zum gemeinsam Verbindenden? Wir fragen uns beispielsweise, welche Ost-Literatur in West zur Kenntnis genommen werden muss und welche West-Literatur in Ost. Meine Beobachtung ist, dass dem Osten – zum Beispiel in China – die europäische Kultur durchaus mehr und auch intensiver vertraut ist als umgekehrt. Das betrifft sowohl den Blickwinkel wie auch die Betrachtungstiefe. Wie unterscheiden sich ein chinesischer Germanist und ein deutscher Sinologe: Liegt der Unterschied in der Weitwinkeloder in der Teleperspektive? Vielleicht haben wir – um beim Bild der Fotographie zu bleiben – nicht nur Entferntes heranzuholen, sondern auch die Weitwinkelaufnahme zu üben – übrigens mit dem Effekt größerer Tiefenschärfe! Die Reformation des Literatur-Kanons ist ein Anliegen, das über Jahrhunderte gewachsene Traditionen einschließt und Universalität nicht ausschließt. Aus der Sicht von Deutschland gibt es gute frühe Beispiele: Goethe holt mit dem West-östlichen-Divan die Welt des Ori121 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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ents in die deutsche Literatur herein, Rückert übersetzt orientalische Literatur, Friedrich Schlegel studiert »über die Sprache und Weisheit der Indier« und Hegel orientalische Philosophie, der Franzose Adelbert von Chamisso lebt in Berlin, Hermann Hesse entdeckt die indische und chinesische Weisheitslehre, Erich Fromm beschäftigt sich mit Zen-Buddhismus, Brecht nimmt chinesische Philosophie in sein Werk (»Me-ti, Buch der Wandlungen«). Heute mischen sich Literaturen zunehmend: der Bulgare Canetti erhält den Nobelpreis für seine deutschsprachige Literatur, der Syrer Rafik Schami schreibt in Deutsch und arbeitet in der Pfalz, der Iraner SAID wird Präsident von PEN-Deutschland. Daraus ist vielerseits »Brückenliteratur« entstanden. Heute streitet man sich allein in Deutschland um den »richtigen« Literatur-Kanon etwa in der Hinsicht, was im Bildungskanon der Schulen Pflicht sein sollte. Marcel Reich-Ranicki hat einen viel diskutierten deutschen Literatur-Kanon präsentiert 16, dessen Gewicht zwar unbestritten ist, damit aber keine Kanonisierung auf Ewigkeit beanspruchen kann. Natürlich fehlen darin nicht Goethe, Thomas Mann, Kafka oder Frisch. Ein europäischer Literatur-Kanon ist schon etwas komplizierter. Shakespeare, Balzac, Flaubert, Eco werden nicht fehlen, das eigentliche Problem beginnt mit der außereuropäischen Literatur, mit Stoffen also, die ihre Bedeutung aus der Überschreitung ihrer kulturellen Erfahrungsbereiche gewinnen. Die Weltbedeutung etwa von Gabriel Gárcia Márquez’ Hundert Jahre Einsamkeit oder Musils Mann ohne Eigenschaften kommt aus deren historischer Kontextualisierung und aus deren kultursoziologischer Übertragbarkeit auf andere Gesellschaften. Jedoch muss man heute auch feststellen, dass, wie Manfred Fuhrmann 17 gezeigt hat, die Ökonomisierung der Gesellschaft(en) viele Traditionslinien unterbrochen hat und ein europäischer Bildungskanon nur noch in Restbeständen existiert. Sie beugen sich nolens volens dem Druck, den Internet, Kommunikationstechnologie und virtuelle Arbeitswelten geschaffen haben. Wir müssen also unser Thema, die Reformation des Literatur-Kanons, nicht nur literaturwissenschaftlich auf völlig neue Beine stellen 18, sondern wir müssen den globalen, kommunikationstechnologischen Rahmen einbeziehen. Der Gefahr der Ökonomisierung des Kulturellen sind auch globale geisteswissenschaftliche Koordinaten entgegenzusetzen. Somit kommt die gleichzeitige Literatur in die Rolle, auf die ungleichzeitigen Entwicklungen zu reagieren, etwa in der Überwindung von Geozentrismen. 122 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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(3) Conditio humana Ich habe Ihnen die Literaturentwicklung sozusagen dialektisch darzulegen versucht, dass sich einerseits die Gesellschaften mit ihren Kulturen ungleichzeitig entwickeln und dass sich dieser ungleichzeitige Prozess in der Ära der Globalisierung nicht nivelliert. Andererseits beobachten wir die Entwicklung der Literatur – per se betrachtet, also nicht kanonisiert –, als gleichzeitigen Prozess. Bücher und literarische Stoffe entstehen überall und sind theoretisch allen Menschen zugänglich. Nichtsdestoweniger fehlen die Koordinaten für die Unvoreingenommenheit in Kenntnisnahme und Verbreitung der Literatur, wozu die Kanonisierung der Literatur leider selbst beiträgt. Welchen Weg müssen wir also gehen? Ich komme zurück auf Blochs Fortschrittsbegriff, der das Ineinander der Kulturen fordert auf der Basis der Aufarbeitung unerledigter Vergangenheit. Bezogen auf die Literatur, bedeutet dies das Abschiednehmen von Parallelwelten à la Ost-West, wie sie sich in den nationalsprachlichen und kulturkreishaften Kanonisierungen von Literatur üblicherweise darstellen. Multiversum heißt nicht, den Kanon als »Bildersaal der Weltliteratur« zu vervollständigen bzw. »Ideal-Bibliotheken« anzustreben (Hermann Hesse) 19, sondern utopisch nach vorn zu wenden. Analog dem von Hegel, Nietzsche, Heidegger und Russell hergeleiteten Begriff der Philosophiegeschichte, der nicht nur bei den Vorsokratikern, Platon und Aristoteles beginnt, sondern die Einflüsse aus der islamischen Welt des vorderen Orients und aus Ägypten und auch die indische und die chinesische Tradition einbezieht, können wir von einem neuzeitlichen Literaturbegriff ausgehen, der interkulturell anwendbar ist. Er erlaubt vielseitige Differenzierungen, um die Strömungen des westlichen Rationalismus, des indischen Mystizismus und des chinesischen Naturalismus bzw. Immanentismus interkulturell zu vermitteln. 20. Dieser interkulturelle Transfer hat eine politische Dimension, auf die ich zum Schluss noch zurückkomme. Zunächst fragen wir uns, welche Kriterien nun für diesen Prozess hilfreich sind, um zu einem weltumspannenden multiversalen Literaturkanon zu kommen? Ich will dies thesenhaft skizzieren:

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Conditio humana Literatur gehört wie alle Kultur und Philosophie zur Conditio humana; in der Literatur aller Völker und Zeiten gibt es einen allgemeinmenschlichen Gehalt. Schon für Goethe sind seine Übersetzungen aus chinesischer Lyrik und arabischer Dichtung (West-östlicher Divan) eine Bestätigung dieser Erkenntnis: die Menschen in China und anderswo denken, handeln und empfinden fast ebenso wie wir und man fühlt sich bei der Lektüre sehr bald als ihresgleichen. 21 Die interkulturelle Literaturbetrachtung ist auf Erfahrungsgewinn im Lektürevollzug ausgerichtet; Lektüre kann und soll jene Art von geistigem Leben ermöglichen, das die westliche Tradition über Jahrhunderte mit dem Begriff »Seele« verbunden hatte, das heißt ein geistiges Leben, in dem Intellekt und Momente starker Empfindung zusammenfallen können. Sie ist somit auf andere Kulturen übertragbar: zum Beispiel die in der Tradition des europäischen Realismus (Balzac, Flaubert, Zola, Dickens, Tolstoi, Fontane usw.) vergegenwärtigte Tragik des Lebens, der wir am Ende nur mit Gelassenheit begegnen können.

Erfahrung durch Philosophie In der Konzentration auf klassische Texte schwinden zum Teil die Grenzen und Hierarchien von Literatur und Philosophie, denn der Prozess des Lesens ist im Sinne Hans Blumenbergs längst zu einer Metapher für kognitive Prozesse im weiteren Sinn geworden; andererseits geht es in der Lektüre auch um die Faszination der von der Literatur aufgeworfenen existentiellen Fragen, auf welche die Philosophie als wissenschaftliche Fachdisziplin (die westliche zumindest; wie ist es bei der östlichen?) zwar keine bindenden Antworten geben, jedoch als Brückenglied fungieren kann. Die konkrete Utopie des Multiversums der Literaturen ist mithin ein gleichzeitiger Prozess philosophischer Erfahrung und literarischer Interpretation unseres Seins.

Weltliteratur – klassisch Mit dem von Goethe geprägten Begriff der »Weltliteratur« sind Homer, Shakespeare, Cervantes u a. Klassiker gefasst; sie gehören der 124 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Weltliteratur an, weil diese Werke die Grenzen der Nation, in der sie entstanden sind, überschritten haben – und im übrigen die Grenzen der Sprache, in der sie geschrieben wurden. Literatur als »Weltprodukte« ist ein Güteraustausch, analog dem Weltverkehr und Welthandel, letztlich ein wachsender Organismus. Die Kanonisierung dieser »Produkte« sind nichts als Versuche, bedeutende Stoffe von allgemein menschlichem Gehalt »festzuhalten« und gewissermaßen zu verewigen. Beispiel Literaturnobelpreis: dieser ist ein interessantes Zeitfenster, keineswegs aber ein Maßstab für weltumspannende literarische Qualität. 22 Die literarische Welt im multiversalen Sinn des Wortes wird durch den Nobelpreis nicht erfasst: Seit dem Jahr 1900 wurde erst 1913 erstmals ein Nicht-Europäer (der Inder Rabindranath Tagore), 1945 erstmals Südamerika (die Chilenin Gabriela Mistral) und 1991 erstmals der afrikanische Kontinent (die Südafrikanerin Nadine Gordimer) mit dem Nobelpreis bedacht und gar erst im Jahr 2000 mit Gao Xingjian ein Chinese. Ein Beleg für den Eurozentrismus? Die Globalisierung trägt dazu bei, dass die (literarische) Welt enger zusammenrückt.

Transnationalliteratur – heute Das Problem der nationalsprachlichen Literatur »löst« sich mit den Übersetzungen in andere Sprachen. So »entstehen neue literarische Identitäten, die ausgezeichnet in unsere Welt passen, wo sich die kulturellen Ströme kreuzen und befruchten. 23 Navid Kermani, Salim Alafenisch, Rafik Schami oder Galsan Tschinag, die als Iraner, Palästinenser, Syrer beziehungsweise Mongole in deutscher Sprache schreiben und dafür ausgezeichnet wurden, sind zukunftweisende Beispiele. Der Adelbert von Chamisso-Preis zeichnete solche Autoren aus, Verlage wie der Union-Verlag in Zürich verlegt Autoren aus allen Kulturen. So entsteht Transnationalliteratur, die »keine vulgäre Vermischung oder Verwässerung von Unterschieden sein kann, sondern das gemeinsame Dach, unter dem diese Unterschiede gelebt, verhandelt und kultiviert werden können.« 24 Daran muss sich nach Heinz Kimmerle allerdings eine »Methodologie der Tat« knüpfen als bewusste Auseinandersetzung mit der »anderen« Kultur im Dialog, in der Zusammen-Arbeit und in gemeinsamen Projekten. Beispielgebend ist auch Günter Grass, der 1987 und nun 125 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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wieder 2005 im indischen Calcutta weilte, um dort nicht nur zu schreiben 25, sondern die andere Kultur zu leben. 26 Meine Damen und Herren, zusammenfassend will ich sagen, dass die (Re)Formation des Literaturkanons nur dann ein erfolgreiches Unternehmen werden kann, wenn wir die Philosophie und ein erweitertes »Weltverständnis« (Siegfried Lenz) 27 in unseren interkulturellen, multiversalen Kontext der Literatur einbeziehen. Wenn Kunst nach Walter Benjamin »Statthalter der Utopie« ist, ist auch der Literatur ihre Rolle für das Utopische zugewiesen. Mein Blochscher Begriff des Multiversums weist über die Kanonisierung der Literatur kulturphilosophisch hinaus. Ich habe gezeigt, dass es nicht um die »ideale Weltbibliothek« gehen kann, sondern um das multiversale Ineinander der Literaturen als »Erfahrung der Welt« (Blaise Cendrars). Die Literaturen als das geschriebene Gedächtnis der Menschheit liefern Zeugnis vom humanen Menschwerden und tragen einen utopischen Kern in ihren Stoffen. Sie weisen über das Gestern und das Jetzt hinaus und nehmen die tonangebende Rolle im geistigen Überbau der Globalisierung ein. Ich unterstütze die Sicht von Lucien Leitess, der diese Zusammenhänge und insbesondere die Kanonfrage auf eine literaturpolitische Ebene bringt und fordert, eine »demokratische Republik der Weltliteratur zu verwirklichen.« 28 Auf dem Weg dorthin ist eine sich interkulturell verstehende »Literaturphilosophie« zu entwickeln, welche alle Geozentrismen (»Kampf der Kulturen«), Ethnozentrismen und Arroganzgefälle aufgibt und das Konkret-Utopische aus allen Kulturkreisen der Menschheit herausarbeitet. Mit dem PEN gibt es bereits eine Weltorganisation für die Dichter und Schriftsteller mit 130 nationalen Zentren in 91 Staaten (2003); sein politisches Gewicht wäre allerdings zu stärken, vielleicht im Zusammenhang mit den Vereinten Nationen beziehungsweise der UNESCO. Ich fürchte aber, bei aller angedachten Utopie, dass wir den Weg der kleinen Schritte weiter gehen müssen. Der Prozess beginnt mit der Erfassung der vorhandenen »Weltliteratur« (Wikipedia ist ein Schritt in diese Richtung, wenn auch nicht von allen Nationen nutzbar), ferner geht es um die komplizierten Fragen des Wissenstransfers, also auch der Bildungspolitik, und schließlich geht es um den Aspekt der Bewährung, so wie einst Hesse sagte: »Ehe die Meisterwerke sich an uns bewähren, müssen wir uns an ihnen bewähren.« 29 Auch wenn die Welt sich global ausgedehnt hat und wir zum Beispiel ohne größere Schwierigkeit über Kontinente hinweg 126 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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hier in Beijing zusammentreffen, müssen wir, die Menschen, uns (re)formieren und uns im kulturellen Kontext wahrnehmen und respektieren, bevor wir uns an die Arbeit der (Re)Formation des Literaturkanons machen können.

Postskriptum: China. Zwischen 2002 und 2012 folgte ich mehrmals Einladungen zu Vortragsreisen, die mich nach Beijing, Shanghai, Chengdu, Xi’an und Wuhan führten. Die Atmosphäre dort war äußerst gastfreundlich und offen, geprägt von höchstem beiderseitigen intellektuellen Interesse. Mehrfach waren umgekehrt Studentinnen in Ludwigshafen und Heidelberg für Studienzwecke am Ernst-Bloch-Zentrum und an Universitäten zu Gast. Auch aus heutiger Sicht waren die gegenseitige Aufmerksamkeit und ein interkulturelles Sicheinlassen groß. Die Zuhörerschaft war sehr vielfältig, ausgewiesene Scholars ebenso wie junge Studenten, hauptsächlich aus China, USA und Großbritannien. Die Übersetzung vom Deutschen beziehungsweise Englischen in die chinesische Sprache basierte auf gegenseitigem Vertrauen, auch wenn ihre Aussagekraft dem Autor gewissermaßen entgleitete. China schien unter Jiang Zemin und Hu Jintao auf dem Weg zur Öffnung. Ab der Präsidentschaft von Xi Jinping, der seit 14. März 2013 im Amt ist (und auf Lebenszeit), habe ich China zurückhaltender nach innen und expansiver nach außen erlebt. Emails nach und aus China schienen erschwert, was keineswegs dem freundschaftlichen Charakter der Beziehungen vor allem zum Freund und Gastgeber, Professor Cao Weidong von der Beijing Normal University, entsprach.

Anmerkungen »Das Wort Kanon kommt aus dem Griechischen und bedeutet ursprünglich ›Richtscheit‹, ›Maßstab‹, im übertragenen Sinne auch ›Regel‹ und ›Norm‹. Als Begriff bezeichnete ›Kanon‹ in der Antike Normierungen unterschiedlicher Art, z. B. Regeln wohlproportionierter Menschendarstellung (der ›Kanon‹ des Polyklet) oder Grundsätze des ›richtigen‹ Denkens (der ›Kanon‹ des Epikur). Die Bezeichnung wurde dann auf die Auswahl der alt- und später auch neutestamentlichen Schriften übertragen, die der Kirche offiziell als feste Fundamente christlichen Glaubens galten. Den ›Kanonischen Büchern‹ oder ›Heiligen Schrif-

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Der multiversale Literatur(en)-Kanon ten‹ stehen die ›Apokryphen‹ als Schriften von zweitrangiger Bedeutung gegenüber. Übertragungen des Kanon-Begriffs auf die weltliche Literatur, zunächst auf die der Antike, sind seit dem 18. Jahrhundert belegt.« Thomas Anz, Begriffe und Positionen literaturwissenschaftlicher Kanon-Forschung, DFG-Symposion »Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung«, hrsg. von Renate von Heydebrand, Stuttgart, Weimar: Metzler 1998. Vgl. auch Stefan Neuhaus, Revision des literarischen Kanons, Göttingen 2002. 2 Auf die Zwiespältigkeit der Globalisierung habe ich an anderer Stelle hingewiesen, siehe: Klaus Kufeld, Multiversum und Ungleichzeitigkeit. Ein ideologiekritischer Beitrag zur kulturellen Debatte der Globalisierung, in: Bloch-Almanach 21/2002; in chinesischer Übersetzung in: Culture and Poetics, Cao Weidong et al. (Hg), Beijing 2004 (ISBN 7-208-04698-0). 3 Sokrates, Platon, Aristoteles bzw. Lao zi, Kong zi, Zhuang zi. 4 Selbst Kant und Hegel werden, was andere als westliche, aufgeklärte Kulturen anbetrifft, rassistische Vorurteile vorgeworfen; siehe z. B. Heinz Kimmerle, Interkulturelle Philosophie, Hamburg 2002, S. 57 ff. 5 Z. B. der französische Kanon wirkt dabei etwas »enger« gefasst und geht nicht gern über den frankophilien Sprachkulturkreis hinaus. 6 Vgl. Ernst Bloch, Ästhetik des Vor-Scheins, hrsg. von Gert Ueding, Bd. 1 und 2, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974. 7 Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt am Main 1996, S. 151. 8 »Multiversum« wurde schon im Altertum verwendet, etwa in den atomistischen Lehren des Chrysipp; in der Moderne hat ihn erstmals William James 1895 eingeführt. 9 Ernst Bloch, ebd., S. 146 f. 10 Ulrich Beck, Was ist Globalisierung?, Frankfurt am Main 1997, S. 50. 11 Martin Bauer, Kunde aus dem Gelee, zu Peter Sloterdijks »Im Weltinnenraum des Kapitals«, SZ-Literatur, Nr. 6/2005. 12 Der zweifelhafte Begriff stammt von S. P. Huntington, Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1997. 13 Die Erfahrung der »terrestrischen Globalisierung« (Sloterdijk) hat eine Welt von weit und weniger weit entwickelten Gesellschaften zurückgelassen, auch in post-kolonialer Zeit. Die Erfahrung von Weltkriegen, ethnischen Konflikten, Rassenhass und militantem Terrorismus in fast allen Teilen der Welt hat ein dualistisches Weltbild zwischen Gut und Böse leider nicht verschwinden lassen. Insofern stehen der modernen Globalisierung auch rückschrittliche, reaktionäre Tendenzen durchaus entgegen, die der Aufhebung der Ungleichzeitigkeit nicht entgegenwirken können. 14 Die Kontrastfolie Extremismus – wie zur Zeit besonders der islamistische – ist zum großen Teil erklärbar als Abwehr-Reaktion auf diese Entwicklung zur gleichzeitigen Welt. 15 Vgl. Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998, S. 201. 16 Worin der Philosoph Ernst Bloch als literarischer Essayist aufgenommen ist.

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Der multiversale Literatur(en)-Kanon Manfred Fuhrmann, Latein und Europa. Wesen und Wandel des gelehrten Unterrichts in Deutschland, Köln 2002, und ders. Bildung. Europas kulturelle Identität, München 2002. 18 Wobei festzustellen ist, dass das Koordinatensystem selbst fehlt; vgl. Mark Siemons, Die kulturelle Lücke, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Januar 2005. 19 Hermann Hesse, Eine Bibliothek der Weltliteratur, Stuttgart 1978, S. 6 bzw. 31. 20 Vgl. Heinz Kimmerle, ebd., S. 76. 21 Die stärker ausgeprägten Beziehungen Asien/Europa gegenüber etwa Asien/ Afrika oder sogar Afrika/Europa haben in den Handelsströmen ihren Ursprung; eine Fülle europäischer Kulturmerkmale ist aus Asien nach Westen gewandert, andere bewegten sich in Gegenrichtung. Die Globalisierung sollte diese Richtungen ausweiten. 22 So auch Marcel Reich-Ranicki, Berliner Morgenpost, 21. Oktober 2003. 23 Lucien Leitess, in: Zeitschrift für KulturAustausch 3/2004. 24 Andreas Pflitsch, Literatur und Globalisierung. Anpassung und Widerstand im arabischen Roman, in: Islam und Globalisierung, 2/3/2003. 25 Günther Grass, Die Rättin, Darmstadt und Neuwied 1986, und ders.: Zunge zeigen, München 1999. 26 Eine andere Art Welt-Literatur, andere Kulturen zu leben, ist die Reiseliteratur. Vgl. Klaus Kufeld, Die Erfindung des Reisens. Versuch gegen das Missverstehen des Fremden, Edition Splitter, Wien 2005, S. 23 ff. 27 »Die Literatur hat die Wissenschaft nötig, wenn sie ihr Weltverständnis erweitern will …«, Siegfried Lenz, Wettlauf der Ungleichen. Literatur im wissenschaftlichen Zeitalter, in: Absichten und Einsichten, hrsg. von Markus Krause/ Stephan Speicher, Stuttgart 1990, S. 141. 28 Der Verleger des Züricher Unionsverlags, Lucien Leitess, in: a. a. O. 29 Hermann Hesse, ebd., S. 44. 17

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Heimat als Utopie Essay für den Kulturpolitischen Kongress, Berlin (2020)

Heimat, das magische, unübersetzbare Wort, hat gerade im Deutschen eine ungeheuere Gravitation: Bodenständigkeit, Verbundenheit, Erhalt. Aber: So konservativ Heimat daherkommt, so sehnsuchtsvoll ist sie auf die Zukunft ausgerichtet. Dazwischen ist spätestens seit der Migrationsfrage ein Raum für den zeitgenössischen Diskurs entstanden, den das Infas-Institut schon wieder auf Leitkultur zuspitzt (vgl. Steinwede 2019). In jedem Fall wird Heimat zunehmend politisiert, für die einen als ideologisch aufgeladener Kampfbegriff, für die anderen als Verteidigung eines sozialen Orts. Wim Wenders bringt Heimat so auf den Punkt: Heimat ist ein Wort, das man gegen alle die verteidigen muss, die damit Schindluder getrieben haben. Oder noch tun. Heimatgefühle, Heimatfilm, Heimatliebe, Heimatschutz […] Ojemine! Dabei kann ich auch einfach nur in eine Landschaft gucken, wie […] in die Uckermark, und denken: ›Schön. Friedlich. Heimatlich!‹ Dabei muss mir das Wort gar nicht im Halse stecken bleiben. Die Landschaft ist unschuldig. Das Wort auch. […] ›Heimat‹ gehört allen, überall auf der Welt! ›Heimat‹ ist ein Menschenrecht! […]. (Wenders 2018: 41)

Klingt das nicht nach einer Utopie, die konkret werden möchte?

I Die Frage ist, ob und wann wir erkennen, dass Heimat, das sehnsuchtsgeladene Idyll, uns einschläfert – oder gar überrumpelt. Wenn wir heute etwa die Filmdoku »Babylon Berlin« sehen und wie sich vor fast 100 Jahren in das Ausgelassene der Gesellschaft das SubversivNationale einschleicht, gehen manchem die Augen auf – im Nachhinein. Aber selbst wenn wir es erkennen, wenn wir anfangen zu 130 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Heimat als Utopie

warnen, zu prophezeien, will uns keiner glauben. Wahrheit verstört Laune. In eben dieser »Zwischenzeit«, in den 1920er Jahren, schreibt der Philosoph Ernst Bloch in »Erbschaft dieser Zeit« seismographisch früh von dem Aufkommen eines folgenreichen nationalen Denkens. Er schreibt es, während die einen noch feiern und die anderen in den Hinterzimmern der politischen Mächte schon an ihrem Sieg feilen. Bloch spricht von »Ungleichzeitigkeit« in der deutschen Kultur – was bedeutet, dass Teile der Gesellschaft gegenüber dem objektiven gesellschaftlichen Fortschritt zurückgeblieben sind. Es ist die »gestaute Wut« auf der einen und unerledigte, unabgegoltene Vergangenheit auf der anderen Seite, die im Jetzt zusammenprallen. Ungleichzeitig eben. »Haus, Boden, Volk sind solche objektiv abgehobenen Widersprüche des Überkommenen zum kapitalistischen Jetzt, worin sie wachend zerstört und nicht ersetzt worden sind.« (Hervorheb. im Original, Bloch 1962: 117) Die Nationalsozialisten sind auf dieses Unbehagen, ja Raunen im Volk zum Schein, aber gezielt eingegangen, um es für eigene propagandistische Zwecke zu missbrauchen. Rechte Politik ist für solche kollektiven Stimmungen empfänglicher als linke. Denn die Linke doziert lieber von Klassenbewusstsein, anstatt sich wirklich auf das Prekariat einzulassen. Die Rechten haben hier keine Hemmungen und reden dem Volk einfach nach dem Maul. Deshalb kann Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« (2016) heute – in überraschten, um nicht zu sagen hochgeschreckten intellektuellen Kreisen – auch ein so großer Erfolg werden, denn es thematisiert eine Ohnmacht, ja einen Bruch mit ungleichzeitiger Heimat. Nach Reims nach Jahren in die Arbeiterklasse zurückzukehren, ist keine Heimkehr. Mit Scham blickt Eribon auf seine Herkunftsklasse zurück. Gerade heute dürfen wir – frei nach Freud – wieder ein »Unbehagen in der Kultur« diagnostizieren. Zum Zentralvokabular der Deutschen in den 1920er und 1930er Jahren gehört auch der Begriff der Heimat. In dem Vaterland, Patriotismus, Nationalismus so unscheinbar wie brandgefährlich kulminieren. Heimat, die gewissermaßen kristallisierte Metapher, in der die geheimsten Gefühle sich mit offen ausgesprochenen politischen Überzeugungen verbinden. Heute nennen wir das Blut-und-BodenPolitik – und wissen, was dabei herauskommt. Und schon wieder befinden sich Teile der Gesellschaft im fundamentalistischen Modus, wenn es um Geflüchtete, Migrationspakt oder ähnliches geht. Deshalb ist es nicht ungefährlich, heute wieder von und über Heimat zu 131 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Heimat als Utopie

sprechen. Oder erst recht. Denn wir sind nicht verschont von subversiven und manifesten nationalistischen Strömungen – wofür »Populismus« nur ein diskreter Tarnname ist. Der Diskurs ist notwendiger denn je, denn es geht um nichts Geringeres, als Heimat ihre plastische Kontur abzugewinnen, um offensiv rechter Politik den Rang abzulaufen. Und plastisch heißt: Heimat ethisch aufzuladen mit demokratiefähigen Handlungen.

II Nach dem Zusammenbruch 1945 gerät auch der völkische Begriff Heimat in Verruf. Mitverraten ein heiliges Gut der Deutschen. Wer in den dann folgenden Jahrzehnten von Heimat spricht, sollte entweder aus der tiefsten Provinz stammen und / oder nationalkulturell ticken. Erst seit etwa zehn Jahren bringt es der Begriff zu einer gewissen Renaissance, gleichwohl gibt es einen hohen Klärungsbedarf. Und wieder zwei Lager: Das eine, repräsentiert durch Innenminister Seehofer, der sich gezielt dort als Heimatminister zu erkennen gibt, wo sein Publikum gleichzeitig einen Maßkrug vor sich stehen hat, wie in Vilshofen zum Politischen Aschermittwoch. Dort ist das ideale Forum zu finden, an ein Heimatgefühl zu appellieren, das an Schutz und Wohlfühlen erinnert, also an Assoziationen im Unterbewussten der Menschen ansetzen. Hochemotional aufgeladene Worthülsen, Heimat als Köder. Das andere, das mit Heimat eine Schutzzone anspricht, etwa eine vertraute Landschaft oder Traditionen oder ein Lebensgefühl, dessen Erhalt sich aber auf die Zukunft bezieht. Hier grenzt Heimat nicht aus, sondern definiert sich als erst noch zu erreichender sozialer Wert, der Vielfalt etc. einschließt. Heimat wird als Herkunfts- und Zielbegriff verstanden, dialektisch eingeordnet. Heimat dialektisch einordnen, was bedeutet das? Der Philosoph Ernst Bloch bietet hier ein utopisches Konzept von Heimat, was viel mit seiner Exil-Biografie zu tun hat. 1 Sein Hauptwerk »Das Prinzip Hoffnung« mündet furios im Begriff Heimat als das Symbol für die konkrete Utopie: »Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung 132 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Heimat als Utopie

und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.« (Bloch 1959: 1628) Geschrieben in einer Zeit, in der die Schlächter Europa in Schutt und Asche legten. Heimat wird als Finale eines Schaffens- und Umbildungsprozesses gefasst, einerseits ein Blick in die Vergangenheit (»was allen in die Kindheit scheint«), und andererseits eine vorausschauende Sicht (»worin noch niemand war«), ein echter »U-topos«, ein Noch-Nirgends. Ein Noch-Nicht. Alles, was in der Vergangenheit unerledigt und unabgegolten ist, verlangt nachhaltig nach Auflösung, ist Stoff für die Zukunft. In diesem Sinne hat der Utopie-Begriff von Ernst Bloch einen unmittelbaren Bezug zum Gegenwärtigen – und Vergangenen. Und bedeutet: Mögliches. In seiner Philosophie ist Heimat kein statischer Begriff, sondern ein dialektischer Korrespondenzbegriff. Das heißt, er hat ein Pendant, einen Gegenpol, der ihn gewissermaßen in die richtigen Koordinaten setzt – und das »Menschenrecht« (Wim Wenders) an ihm einfordert. Mit dieser Sichtweise wird Heimat plastisch, das utopische Bild konkret. 2

III Was heißt das nun: Heimat als Korrespondenzbegriff? Erstens steht etwa der Begriff der Globalität in Korrespondenz zu Heimat. Je stärker die Welt globalisiert, desto stärker die Suche nach Heimat in der Nähe. Was den Menschen aus der Hand genommen ist und auszuufern droht, was ihnen aus den Sinnen gleitet, unübersichtlich wird, rasend beschleunigt, was über den Köpfen der Menschheit hinweg passiert, löst sozusagen Gegenimpulse aus. Das Innere der Menschen sagt: Stopp! Dieses Nicht-Mehr-Mitkommen machen sich Populisten zunutze. Le Pen, Orbán, Salvini, Erdoğan, Bolsonaro und Trump stellen sich national auf unter dem Vorwand, die Identität ihres Landes zu wahren. Tendenziell ist das faschistoides Denken. »Becoming great again« ist ihre reaktionäre Weise, der Globalisierung zu trotzen. Speziell in Europa gefährdet das den Zusammenhalt, der wiederum globalisierungspolitisch nötiger ist denn je. Heimat, populistisch instrumentalisiert als süß schmeckender, aber bitter abgrenzender Begriff, Heimat als Feindschaftsbegriff zu Vielfalt, Freiheitlichkeit, Universalkultur, Kosmopolitik. Zweitens korrespondiert Heimat mit dem Begriff des Weltbür133 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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gertums. In seiner kleinen (im Übrigen satirischen) Schrift »Zum ewigen Frieden« spricht Immanuel Kant von Weltbürgerrecht, von »Hospitalität (Wirtbarkeit)«. Es ist »das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen von diesem nicht feindselig behandelt zu werden.« (Kant 1984: 21) Die Erde, sagt Victor Segalen, ist als Kugel monoton. Mit jeder Ausdehnung zieht sie sich zugleich zusammen. Jeder Schritt von uns weg ist ein Schritt auf uns hin. Das heißt, der Raum auf einer Kugel ist objektiv begrenzt. Wir können uns nicht unendlich ausweiten, wir haben uns zu begrenzen. Deshalb ist auch Wachstum nicht endlos herbeizubeten. Stattdessen haben wir mit Vielfalt umzugehen, anstatt auszuschließen. Wachstum ist Quantität; Vielfalt ist Qualität. Die Frage, die sich in der begrenzten Welt dann stellt: Wo ist die Heimat des Weltbürgers? Impliziert Heimat nicht grundsätzlich Toleranz gegenüber dem Anderen? Schließlich und drittens steht Heimat in einer Wechselbeziehung zu Nähe-Ferne. Je weiter wir uns von unserer Heimat entfernen, desto näher kommt sie uns. Das ist schon beim Reisen der Fall. Auf Reisen nämlich wird das Heimatgefühl größer, intensiver und eröffnet manch differenzierte Sicht, ihr Wert steigt. (Allerdings kann Heimat auch Heimweh auslösen, was laut Wim Wenders eine Schweizer Krankheit sein soll, und bliebe dann rückbezogen, auf Familie, Geborgenheit, In-Ruhe-gelassen-werden etc.) Entfernen wir uns von Heimat andererseits nie, karamellisiert sie und verkrustet zu einem statischen Konzept des Bleibens. Die Daheimgebliebenen verteidigen Heimat, ohne dass beziehungsweise bevor sie angegriffen wird. Bei der rechtspopulistischen Bewegung Pegida zum Beispiel ist die Ablehnung des Fremden ja weitgehend fiktiv und mehr ein Gefühl als eine rational nachvollziehbare Bedrohung. Angst, das Gegenteil von Hoffnung, verführt zu irrationalen Gedanken, irrationalen Handlungen, weil gegen die eigenen Interessen der Menschen gerichtet. Diffuse Angst also, denn Furcht hätte wenigstens einen Gegner. Kennen wir Heimat nur aus der Nähe, ist sie uns wie selbstverständlich und wir nehmen sie mangels Vergleich für absolut. Sie wird zum Idyll, gerät zur nostalgischen Verklärung. Zur Dialektik von Heimat ein Zitat: »Die Heimat der Daheimgebliebenen staut sich in Schränken, Truhen, Kommoden, Alben und Kellern; ihr Gedächtnis hat einen Ort namens Idylle und ist nichts als Gegenwart. Die Heimat der Ge-

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gangenen ist in Koffern gelandet; ihr Gedächtnis hat einen Ort namens Sehnsucht und ist nichts als Zukunft.« (Kufeld 2011, 130)

IV In Korrespondenzen und in Bezüge gesetzt wird Heimat plötzlich dreidimensional, Heimat wird plastisch. Anders als bei Bernhard Schlink, der die Zukunftsgewandtheit von Heimat mit »Unerfüllbarkeit« (Schlink 2000: 27) 3 in Verbindung bringt. Vielmehr hat Heimat Resonanz, wie der Soziologe Hartmut Rosa sagt. Und erst dieses Plastischwerden, das Resonanzhafte an Heimat, die »Anverwandlung« von Realität bedeutet die Abkehr vom romantischen Begriff Heimat – und stattdessen seine Radikalisierung (vgl. Rosa 2016: 604). Heimat wird zu einem durchdachten Gefühl. Man erinnere sich an Blochs Heimatbegriff »das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war«. Er sagt es so, dass Heimat kein Fixpunkt, kein Ausgangspunkt unserer Betrachtung sein kann (»die Genesis liegt nicht am Anfang, sondern am Ende«), sondern ein Zielbegriff ist, Heimat als Utopie, in die wir alles investieren können, was wir haben und was uns teuer ist. Heimat als ein utopisches Final. Vielleicht sollte es sich mit der Heimat verhalten wie mit der Hoffnung. Die stets nach vorn gerichtete Hoffnung ist bei Ernst Bloch kein Affekt, kein reines Gefühl. Denn Hoffnung sei nur wirksam, nachhaltig wirksam, wenn sie auch der Wirklichkeit standhalte. Docta spes, die belehrte, belehrbare Hoffnung werde erst aus Enttäuschung klug (vgl. Bloch 1959: 1 ff.). Diese Hoffnung wird durch das Herz gedacht. Heimat allein als rückwärtsgewandter Affekt bleibt ein diffuses Heimatgefühl, das sozusagen im Herzen hängenbleibt – und manchmal sich dort verfängt, nostalgisch kristallisiert. Und nostalgisch hieße: womöglich den Wirklichkeitsbezug zu verlieren. Politisch ausgeschlachtet, nicht aber ideologisch befangen, wird sie nun doch wieder zum Kampfbegriff. Heimat als der Zukunft zugewandte Kategorie des Denkens verleugnet das Gefühl keineswegs, denn die Emotion bleibt klug. Erst dann wird Heimat zu einem praktizierten Menschenrecht.

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Literatur: Bloch, Ernst (1959): Das Prinzip Hoffnung, GA Bd. 5, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bloch, Ernst (1962): Erbschaft dieser Zeit, GA Bd. 4, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Eribon, Didier (2016): Rückkehr nach Reims, Berlin: Suhrkamp. Kant, Immanuel (1984): Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Stuttgart: Reclam. Kufeld, Klaus (2010): Die Reise als Utopie. Ethische und politische Aspekte des Reisemotivs, München: Fink. Kufeld, Klaus (2011): Mir san mir. München, Bayern und der Rest der Welt, Hamburg: Corso. Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp. Schlink, Bernhard (2000): Heimat als Utopie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Steinwede, Jacob (2019): »Verbindend, nicht trennend. Was die Deutschen unter Heimat verstehen«, ZEIT ONLINE, 15. Mai 2019 https://www. zeit.de/2019/21/heimat-begriff-bedeutung-geborgenheit-identitaetleitkultur (letzter Zugriff: 20. 01. 2020). Wenders, Wim (2018): »Heimat«, in: DIE ZEIT, 3. Dezember 2018.

Anmerkungen Diese Biographie ist von drei großen Exilen bestimmt: in die Schweiz, als Flucht vor dem Ersten Weltkrieg; in die USA, als Flucht vor dem Dritten Reich (dort entstand ab 1938 auch »Das Prinzip Hoffnung«); vor der DDR (als Abschied von der realsozialistischen Idee). 2 Es gibt im Englischen übrigens ein interessantes Wortspiel um »Nowhere«: No-Where als utopisches Nirgends, Now-Here als konkretes Hier und Jetzt. 3 Zum differenzierten Begriff von Heimat siehe auch Kufeld 2010, zum Beispiel Heimat als »Ort existentieller Selbstbegegnung« (Manfred Riedel) und »provisorische Heimat« (Burghart Schmidt). 1

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Natur

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Natur und Interesse Von der Umwelt zur Lebenswelt Essay für den Band »Akadien oder Dschungelcamp« (2014)

»DIE MODERNE IST VON DER IDEEN-WELT in die Innenwelt gezogen und von der Innenwelt dann in die Umwelt. Dort herrscht Zerstörung, Verseuchung, Verschwendung, dieses Reich gibt es nur als vom Kollaps bedroht. Und darin haust der verfügte Verfüger, das ökopathetische ›Wir‹. Verstrickt in zahllose Abhängigkeiten und Wechselwirkungen, müßte dieses Wesen die Eigenschaft eines selbstkritischen Adlers besitzen, Raubvogel und Zweifler in einem, gleich scharfsichtig.« Botho Strauß

Wie kommt es, dass Natur, Umwelt, Klima politisiert sind wie nie und trotzdem »Apokalyptiker und Integrierte« 1 dauerhaft und nebeneinander her agieren und sich gegenseitig lähmen? Die scharfsichtige Diagnose des Gesellschaftstrends macht den Skeptizisten Botho Strauß in Lichter des Toren 2 zum Apokalyptiker, doch die Beschwörung der utopischen Figur des »selbstkritischen Adlers«, dem Widersacher des Integrierten, begräbt die Hoffnung nicht. »Arkadien« in Echtzeit ist immer noch möglich und leicht zu gewärtigen, denn es ist Teil unserer Vorstellungswelt vom guten, natürlichen Leben. Es ist der idyllische Strand, der Wald, der Garten – und möglichst ohne Menschen? Und »Dschungelcamp«?, ist da der Raubvogel am Werk in der Rolle des selbstausgestellten Menschen, der mit hybridem Gestus die Natur zum Ekel erniedrigt – und damit sich selbst? Wo bleibt die Würde? Zugespitzt gesagt: völlige Eingelassenheit steht gegen völlige Ausgelassenheit – eine Agonie. Seit Darwin sollte das Verhältnis Mensch und Natur auf eine Tautologie hinauslaufen mit der Utopie der Freiheit von Herrschaft, jedoch hat der rationale Mensch, »Gott der Thiere« (Herder), die Einheit längst wieder aufgekündigt. Ein gesundes Verhältnis zur Natur können »wir«, wir Menschen, nur dann entwickeln, wenn wir uns von der spalterischen instrumentalen 139 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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»Zwei-Kulturen-Theorie«, der Parallel- oder gar Gegeneinanderforschung von Naturwissenschaft und Human- beziehungsweise Geisteswissenschaft verabschieden. Schon Jürgen Habermas forderte die Selbstreflexion der Wissenschaft als Voraussetzung für die »Befreiung aus dogmatischer Abhängigkeit« 3, um zwischen dem technischen Interesse der Natur- und dem praktischen Interesse der Geisteswissenschaften zu vermitteln. Mit Hilfe der Sozialwissenschaft, der Zukunftswissenschaft und der Wissenschaft vom »guten Leben« unser Verhältnis zur Natur neu zu justieren, wäre dann die Rolle und Aufgabe einer »dritten Kultur« (John Brockman). 4 So löste sich die »neue Einsamkeit« (Jürgen Mittelstrass) 5 der Disziplinen auf zugunsten von dem, was Hegel »Realphilosophie« nennt und Sandra Mitchell »integrativen Pluralismus«. Dieser beinhaltet die Vielfalt der Natur, die dynamische Stabilität und Instabilität der Kausalprozesse und eine nicht zu beseitigende tiefgreifende Unsicherheit. Das bedeutet auch Abschied zu nehmen von einem zumindest im »westlichen« Denken üblichen dualistischen (oder gar antagonistischen) Verhältnis von Natur und Mensch und eine neue Denkkultur: ein in dynamischem Wandel begriffenes, kompliziertes, chaotisches und dennoch verständliches Universum. 6

Somit soll ein Gedankengang im »Streit der Fakultäten« (Immanuel Kant) vermitteln, der unsere diversiven Auffassungen von der Natur radikal auf deren Wesen zurückführt. Dies soll mittels verschiedener, ökologischer, ästhetischer und philosophischer Zugänge versucht werden sowie mit Perspektivenwechseln im Verhältnis zwischen Mensch und Natur. »Natur«, als Intersubjekt, wird zum Gegenstand einer »dritten Kultur«, um über ein Umweltdenken zu einem Lebensweltdenken zu kommen.

I.

Mensch gegen Natur

Die grundsätzliche, Eingangsfrage lautet nicht, was, sondern wer die Natur überhaupt sei. Die Erhebung also der Natur in den Subjektstand. Wir begegnen der Natur überall, aber wir wissen nicht, wer sie ist. Die Natur liebt es, sich zu verbergen, meinte schon Heraklit. Ist es der Wald oder sind es die Wiesenblumen, wenn wir von Natur reden? 140 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Oder das Draußen? Meinen wir, Natur sei alles, was nicht Stadt ist? Also ein Ausflugsziel ohne Ampeln und ohne viele Häuser – oder gar ohne Menschen? Wir meinen zu wissen, was die Natur sei, schließlich begleitet sie uns in der Alltagssprache: wir sprechen »von der Natur« der Dinge – und meinen ihr Wesen? wir sprechen vom »Natürlichsten der Welt« – und meinen das Selbstverständliche? Die (philosophische) Frage ist doch, wie wir Abstraktions- und Gegenstandsebene zusammenbringen. Für Lucius Burckhardt ist die Natur »unsichtbar« und für Michael Hampe gegenstandslos: Die Natur überhaupt ist ja kein möglicher Gegenstand der Erfahrung. Deshalb sind alle Aussagen über die Natur als Ganze rein spekulativ, ungültige Schlüsse von Teilen auf eine bloß vorgestellte Ganzheit. 7

»Die Natur« also nur unsere Vorstellung – außerhalb von uns? So stellt sich die Frage der Zugänge, um überhaupt den gemeinsamen Forschungsgegenstand auszumachen.

Erster Zugang: Natur ökologisch Nähern wir uns der Natur einmal an und schauen auf die alltäglichen Dinge, die wir vielleicht gar nicht mehr wirklich wahrnehmen. In der Süddeutschen Zeitung war das Bild eines gewöhnlichen Waldes abgebildet, das mit dem Text unterschrieben war: »Der deutsche Wald: Fast jeder Bürger würde ihn schützen, wenn man ihn fragen würde. Fast jeder würde sich Holz rausholen, wenn er dürfte.« 8 Das ist schon eine nicht ganz unalltägliche Provokation. Die Spanne vom Urwald zum Nutzwald ist überschaubar – und was heißt »Nutzwald«, wenn wir ihm in Form von Möbeln und Streichhölzern wiederbegegnen? Karin Steinberger beschreibt das so: Der Wald wächst, er wächst seit Jahrmillionen. Er hat Eiszeiten überstanden, Wärmezeiten. Aber er wächst nicht richtig, nicht gewinnmaximierend, sagt der Mensch und fuhrwerkt im Wald herum. In einem von Menschen gepflegten Wald hat jeder Baum eine Bestimmung, jeder hat einen Namen. […] Ein guter Baum ist makellos, lang, gerade, astfrei, furnierfähig. Er muss einen Zieldurchmesser und ein Zielalter erreichen, sonst ist er ein böser Baum und kommt raus aus dem Wald. Ein böser Baum ist krumm, eigenwillig, wie von Caspar

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David Friedrich gemalt. Es ist ein Baum, der Probleme macht im Bandsägewerk.

Ich habe selbst einmal mit toten »bösen« Bäumen gearbeitet, nämlich als Schüler in einer Spezialschreinerei, die hochwertige Klaviere und Flügel herstellte. Dort hatte ich die Aufgabe, »reines« Holz zu fabrizieren, Holz ohne »Fehler«. Der Polier sagte: »Du machst einfach alle ›Stellen‹ heraus, alle Astansätze müssen verschwinden.« »Wie ›verschwinden‹ ?«, fragte ich. »Nun, es müssen im wörtlichen Sinne astreine Flügelbretter herauskommen, ohne einen Makel, ohne ›böse‹ Stellen. Kein Mensch kauft ein Flügel, wenn das Holz nicht ästhetisch fehlerfrei ist.« Der Mensch bestimmt, welches Brett er braucht, dass es ihm nützlich ist. Der Baum muss sich fügen, astrein sein. – Beherrscht also der Mensch den Baum? Um zu ermessen, was wir da anstellen, müssen wir uns ein wenig mit den Fakten beschäftigen – und uns an die Substanz der Dinge wagen. Und dies führt uns zugleich einer Antwort näher, Was oder Wer die Natur denn sei? Michael Hampe schreibt in Tunguska: In den Milliarden Jahren dieser Materiekreisläufe wurden die Zyklen des Lebens mehrmals gehemmt, verlangsamt, einmal beinahe gestoppt, doch nie endgültig unterbrochen. (Sollte das nicht endlich einmal sein?) Fossile Funde belegen, dass das Leben seit seiner Entstehung im Wasser mindestens fünf Mal schon fast wieder ausgelöscht wurde. […] Heute sind die Menschen überall auf dem Planeten zu einem Teil der Natur geworden, doch nicht als harmlose Passagiere, […] sondern so wie ehemals (und immer noch) die Vulkane und die Meteore. Nun sind sie die auf dem Planeten allgegenwärtige Naturkatastrophe, die erste, die von sich als einer solchen weiß. […] Die Menschen […] sind […] mit Millionen von Abgasrohren der dauernde Vulkanausbruch, der milliardenfach vervielfältigte Rachen des tyrannosaurusrex (ist das eine Sache der Moral?), denn mit 3,8 Millionen pro Nacht ausgebrachten Fanghaken reißen sie täglich Millionen von Fischen aus dem Wasser, mit Abermillionen Klingen zerfetzen sie pro Tag in den Schlachthäusern tausende Tonnen von Vögeln, Schweinen und Rindern. […] Die Menschen sind die schlausten der Jäger, und sie sind sehr, sehr viele, sie sind Heuschrecken gleich denen, die sich selbst vertilgen werden […]. – Wer führt hier die Klage? Die Natur gegen die Menschen? Sind das denn zwei? Oder die Natur gegen sich selbst, weil

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sie Menschen hervorgebracht hat? Menschen gibt es, viele sogar, aber gibt es die Natur? 9

Die dramatische Schilderung klingt bitter und anklagend und basiert doch nur auf Fakten. Doch Fakten lösen Fragen nicht. Wenn es um Fakten geht, kommen wir um die Naturwissenschaften nicht herum. Die Physiker, die Meteorologen, die Biochemiker, versorgen uns mit ihrem Wissen über den Zustand der Natur, sei es unsere Erde, sei es unser Leib und sogar unser Gehirn. Doch viele Fakten, allzumal die tagesrelevanten, dramatisieren mitunter, wenn sie nur für sich genommen werden. Klimahistoriker wie Wolfgang Behringer mahnen generell zur Entspannung, denn auch wenn wir mit Paul Crutzen vom »Anthropozän«, also der Ära der vom Menschen beeinflussten Natur sprechen, sind klimageschichtlich betrachtet Erwärmungen und Erkaltungen der Erde auch ohne den menschlichen Einfluss Normalität. Behringer hält deshalb das »Gleichgewicht der Natur« für eine Mär, weil man auch sagen könnte, »es ist immer im Gleichgewicht, weil alle Klimafaktoren interagieren und das Resultat per definitionem nur ein Gleichgewichtszustand sein kann.« 10 Vorsicht sei also angeraten, gerade wenn es um die »Deutungshoheit der Naturwissenschaft über das Menschliche« 11 geht. Bei allem Faktenglauben gibt es in der Naturwissenschaft erstaunlicherweise keine Einigkeit zwischen zwei Hauptströmungen der materiellen Welterklärung: Die eine, die elementaristische Grundvorstellung glaubt an das »Einfache«, dass »die Analyse natürlicher Komplexitäten an ein Ende kommt, etwa in der Entdeckung von Atomen oder anderen letzten Elementen.« Wissenschaftler wie der Physik-Nobelpreisträger Steven Weinberg hoffen, im ganz Kleinen der Superstrings zu den letzten Elementen der Natur vorzustoßen, wo dann auch alle Naturkräfte – bisher Feuer, Wasser, Erde, Luft – zu einer einzigen zusammengefasst werden können. Die andere, die infinitive Grundvorstellung, »[hält] dagegen alles Einfache für ein Kunstprodukt ungenauer Erkenntnis und die Komplexität der inneren und äußeren Natur für unendlich.« 12 Wo ordnen wir uns ein – dass die Natur an ein Ende kommt oder dass sie unendlich ist? Es gibt bei Dostojewskij ein Gespräch zwischen einem alten Narren und einem jungen, nervösen Menschen: 13 Zuerst spricht der Alte:

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Was ein Geheimnis ist? Alles ist ein Geheimnis, Freund, in allem ist das Geheimnis Gottes. In jedem Baum, in jedem Grashälmchen ist dieses selbe Geheimnis eingeschlossen. […]

Dagegen der nervöse junge Mann: […] Aber alle diese Geheimnisse hat der Menschenverstand schon längst aufgedeckt, und was noch nicht aufgedeckt ist, das wird noch aufgedeckt werden, das ist sicher, und vielleicht sogar in kürzester Zeit. Die Botanik weiß ganz genau, wie der Baum wächst; der Physiologe und der Anatom wissen sogar, warum der Vogel singt. […] Nehmen Sie ein Mikroskop […] und betrachten Sie durch dieses Glas einen Wassertropfen: da werden Sie werden eine ganz neue Welt entdecken […]. Auch das war ein Geheimnis, aber man hat es doch aufgedeckt.

In diesem Konflikt ist der Streit herauszulesen über die Unvereinbarkeit zwischen den an Tatsachen und den am offenen System orientierten Denkrichtungen. Im einen Fall, bei dem wissenschaftlichen Naturalismus, käme die Natur zu einem Ende. Zu Ende geforscht. Das wäre die Ansicht des jungen, nervösen Mannes. Im zweiten Fall, beim transfiniten Naturalismus, bleibt die Welt immer unfertig und kann nicht zu Ende gedacht werden. Sie bleibt – wie Bloch sagte – »unfertiger Raum« und »Umbau« heißt die nie endende utopische Parole. 14 Dies wäre die Ansicht des alten Narren, der bei Dostojewski schließlich noch sagt: »daß die Welt ein Geheimnis ist, das macht sie ja sogar noch schöner.« 15 Welcher Strömung schließen wir uns an, ohne uns dabei die eigene Wunschvorstellung zurechtzulegen?

Zweiter Zugang: Natur ästhetisch Wie wir die Natur sehen, heißt, welches Bild wir uns von ihr machen. Wir möchten sie erkennen. Dies ist eine Leistung unseres Geistes. Die Frage aber ist, was wir wahrnehmen, ob es ein Bild außerhalb von uns ist oder ein Bild, in dem wir drin sind. Die Philosophen sprechen hier von der Kunst des Sehens oder von Aisthetik. Das Gemälde »Mönch am Meer« von Caspar David Friedrich zeigt einen unendlich kleinen Menschen, der auf einer Düne am 144 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Strand vor dem unendlich großen Firmament steht und auf das fast schwarze Meer blickt, über dem sich ein ungeheurer Himmel spannt, der vier Fünftel des Gemäldes einnimmt. Der Mensch ist ein Mönch. Es ist Friedrichs vielleicht radikalstes Bild. Dieses Bild schockierte das Publikum von 1810 durch seine extreme Maßlosigkeit. Der Mönch zwingt uns zur Identifikation mit seiner Situation. Er zieht uns ins Bild […]. Wir alle sind gemeint. Dieses Bild hat das Raumerlebnis des modernen Menschen auf die knappste Formel gebracht. 16

Die Kluft, der Hiatus, zwischen dem Menschen und der Natur ist unendlich groß. Sie ist zweiteilig: da ist der »utopische« Abstand zwischen dem Mann und der sich vor ihm auftuenden unendlichen Weite des Meers; und da die Kluft zwischen dem Betrachter selbst und dem Bild. 17 Trotz ihrer Maßlosigkeit muss die Natur aber nicht als bedrohlich, sondern soll als belebtes Gegenüber erfahren werden. Diese Landschaft weckt durch ihre Unabsehbarkeit eine Erwartung, eine Sehnsucht, in ihr aufzugehen. Gerade in der Kunst, im künstlichen Bild, geben wir der Natur eine utopische Funktion. Das rätselhafte Licht kommt aus dem Nirgendwo, trotzdem könnte man mit einem Anklang an die Bibel sagen: »Das Licht wirkt in die Finsternis.« Wolfgang Welsch führt viele Beispiele bei den Künsten an, sich mit der Natur eins zu fühlen – in Weltverbundenheit, zum Beispiel in den Bildern von Claude Monet und Paul Cézanne oder in der Dichtung bei Rainer Maria Rilke. 18 »Cézanne: der Maler als vollkommenes Echo der Landschaft« 19 und Eichendorff, Goethe, Rilke, die Poeten der Eingelassenheit. Wolfgang Welsch zeigt anhand von Rilkes kleinem Text »Erlebnis hIi« 20, wo es um »völlige Eingelassenheit in die Natur« einerseits und ein »Auf die andere Seite der Natur geraten« andererseits geht, als Aufhebung der Schwelle zwischen Mensch und Natur, als »Weltinnigkeit«, ja als Glückserfahrung, in der das »Bewusstsein zum gemeinsamen Ort von Mensch und Welt wird.« 21 Sein Körper ist zu einem »reinen Sensorium der Natur« geworden. 22 Manchmal schafft es die Kunst, das Bild, das Gedicht, ja auch die Musik, uns einen besonderen Zugang zur Natur zu ermöglichen – und den sogenannten utopischen Überschuss zu erklären. Es gibt bei Georg Simmel eine schöne Stelle, wo er den Unterschied zwischen einem Sonnenaufgang beschreibt, »den kein Menschenauge sieht« 145 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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(weil er ja immer da ist) und dem Bild dieses Sonnenaufgangs, dem ein Maler »seine Stimmung, seinen Form- und Farbensinn, sein Ausdrucksvermögen hineingelegt hat.« Das »kultivierte Bild« von der Natur halten wir für eine »Bereicherung, eine Wertsteigerung des Daseins überhaupt.« 23 Was im einen Fall Kitsch ist, ist im andern Fall die besondere Atmosphäre. Wobei man ein Bild mit Sonnenaufgang als Kitsch empfinden mag, niemals aber den realen Sonnenaufgang. – Was aber macht den Unterschied aus?

Dritter Zugang: Natur philosophisch Der dritte Zugang zur Natur ist vielleicht der spannendste, nämlich ob Mensch und Natur verschieden sind – oder ein und dasselbe? Liegt die Antwort etwa im »Mönch am Meer« verborgen vor, wenn uns das Bild zweierlei sagen kann, denn: – entweder es zeigt angesichts der überwältigenden Übermacht der Natur die Winzigkeit des Menschen als Geringfügigkeit, die Natur also als »Gewalt« – oder es zeigt den Menschen in seiner Winzigkeit als Bestandteil der Natur, sodass sich die Frage einer Herrschaft, gleich wer gegenüber wem, erst gar nicht stellt. Zweifellos gibt es für die Befürchtung Anlass genug, dass der Mensch tief in seiner kulturellen Prägung von der Beherrschbarkeit und gar von seiner (existentiellen) »Pflicht« zur Beherrschung der Natur beseelt ist, zumindest in der christlich-abendländischen Kultur, wenn es zum Beispiel schon in der Bibel heißt: »Machet euch die Erde untertan« (Erstes Buch Mose, 1, 28). Der Mensch also die Krone der Schöpfung und die Natur Feindesland? Über 2.000 Jahre Ideengeschichte haben ihn nicht belehrt. Was bereits 300 vor Christus Aristarch von Samos und im 16. Jahrhundert Galileo Galilei und Giordano Bruno wussten, hat Nicolaus Copernicus im 17. Jahrhundert bewiesen. Doch das heliozentrische Weltbild passte als Denkform zu keiner Zeit in des Menschen Weltbild, am wenigsten in das der Renaissance, die die Sonderstellung des Menschen noch krönte, und erst recht nicht in das des Technikzeitalters. Die Erkenntnis von Galilei, der einst dafür unter der Inquisition hingerichtet wurde, wurde erst im Jahr 1992 vom Papst rehabilitiert. Geht es also seit Urzeiten doch ganz grundsätzlich um ein 146 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Macht- und Herrschaftsverhältnis, das sich aus dem Prozess der Kulturalisation des Menschen ableitet? Wolfgang Welsch spricht vom »anthropischen Prinzip« 24, nämlich dass der Mensch die Welt als seine Konstruktion begreift, das letztlich auf nichts anderes als auf eine Mensch-Welt/Natur-Opposition hinausläuft. 25 Fast die gesamte Geistesgeschichte des christlich-abendländischen Menschenbilds von Aristoteles über das christliche Mittelalter zu Kant bis in die Moderne und Postmoderne herein stellt den Menschen, das »Maß aller Dinge« (Pythagoras), in das Zentrum der Welt. Wird da seit 2500 Jahren ein Hybrid gepflegt? Homo cogitans, Prinzip Vernunft? Schon mit Sokrates, dem Stadtmenschen, folgte eine Abkehr von den frühen Naturphilosophen und eine folgenreiche Teilung. Es ist die Abtrennung der moralischen und politischen Existenz der Menschen von der Welt der Natur. Sokrates sagt in Platons Phaidros: »Die Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt.« Sokrates bewegte nicht die Natur, sondern die Welt der Gründe. Michael Hampe spricht hier von der »sokratischen Spaltung«. Seit Sokrates bzw. Platon beherrscht uns eine eigene Sprache um die Begriffe »Person«, »Freiheit«, »Vernunft« und »Grund«, die sich von der Sprache über Kräfte, Ursachen, Wirkungen, Körper, Geschwindigkeit usw. unterscheidet. 26 Es ist wohl auch so, als sei die Sprache über die Natur von den Naturwissenschaften besetzt; oder anders gesagt: die Philosophie hat sich von der Natur verabschiedet und sich auf die Sphäre des Geistes verlegt. Das ist, wenn man so will, auch die Geschichte der Entfremdung von der Natur. Oskar Negt reklamiert hier die »Mitproduktivität« der Natur als der sich selbst schaffenden Materie (natura naturans bei Schelling) und – unter Rückgriff auf Bloch – »die Entwicklung eines proportionalen Gefüges von Mensch, Natur und Technik« – als Programm einer »Allianztechnik«. 27 Hier wäre schließlich die Vermittlungsaufgabe der Philosophie beziehungsweise der eingangs erwähnten »dritten Kultur« (wozu sicherlich auch die Kunst eingezählt werden muss), die nicht nur eine kompensatorische Gegenbewegungen erzeugen, sondern auch auf Versöhnungskonzepte zwischen der Verletzlichkeit und den utopischen Möglichkeiten des Planeten abzielen würde. 28

147 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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II.

Natur gegen Mensch

Was bedeuten nun Fukushima und Haiyan naturpolitisch, stellvertretend für Naturkatastrophen, die menschliches Verschulden nicht ausschließen können? Mit dem Erscheinen von Rachel Carsons »Der stumme Frühling« 29 im Jahr 1962 und »Grenzen des Wachstums« 30 des Club of Rome im Jahr 1972 lagen immerhin schon empirische Dokumente für Konfliktszenarien vor, die ex post ein Bewusstsein haben wachsen lassen, das – seit der Rio-Konferenz – im Begriff der »Nachhaltigkeit« kulminiert. Entlehnt aus der Forstwirtschaft und zum Fachwort auch in den Humanwissenschaften geworden, steht er für eine Verantwortungsethik, die uns hilft, unser heutiges Handeln auch für morgen tragbar zu machen. Mithin ist »Nachhaltigkeit« zum Begriffsfetisch geworden, den einen Reizwort und den anderen Glaubensfrage. 31 Der Umgang mit der Natur ist immer noch stark von der vermeintlichen Sonderstellung des Menschen geprägt – trotz seiner eigenen, gegenteiligen (natur)wissenschaftlichen Erkenntnisse. Warum? Sigmund Freud erklärt die Unbelehrbarkeit des Menschen mit einer »dreifachen Kränkung der menschlichen Selbstverliebtheit durch Kopernikus, Darwin und Freud selbst«. 32 Die erste, als sie [die Menschheit, KK] erfuhr, daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern ein winziges Teilchen eines in seiner Größe kaum vorstellbaren Weltsystems. Sie knüpft sich für uns an den Namen Kopernikus, obwohl schon die alexandrinische Wissenschaft ähnliches verkündet hatte. Die zweite dann, als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies. Diese Umwertung hat sich in unseren Tagen unter dem Einfluß von Ch. Darwin, Wallace und ihren Vorgängern nicht ohne das heftigste Sträuben der Zeitgenossen vollzogen. 33

Und nun kommt Freud zu der von ihm selbst ausgelösten dritten Kränkung: Die dritte und empfindlichste Kränkung aber soll die menschliche Größensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen will, daß er nicht einmal Herr ist im eige-

148 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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nen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht. 34

Das heliozentrische Weltbild, die Entstehung der Arten und die Triebkraft des Unbewussten stellen für die Einen Gott grundsätzlich in Frage, für die Anderen stehen sie für den schmerzhaften Abschied von der Alleinstellung in der Natur. In der Tat ist die Tatsache, mit dem Affen verwandt zu sein, ernüchternd, denn: Jahrtausende hätte (oder hat!) der Mensch die Welt falsch gedacht. Dies oder Ähnliches, was wohl Charles Darwin 1832 gedacht haben muss, als er, der zivilisierte Mensch, im südlichen Feuerland erstmals dem wilden Menschen gegenüberstand und das Undenkbare dachte 35, denkt der hybride Mensch auch bis heute. Doch trotz Darwin wurde der Mensch von Diderot zum »anthropischen Prinzip« (Wolfgang Welsch) erhoben, von Kant mit Vernunft noch einmal beladen, von Nietzsche gar zum »Übermensch« stilisiert, der alle seine Möglichkeiten ausreizt, um mittels immer höher entwickelter Technik an die Grenze des Machbaren (ja des Wünschbaren, wie Hiroshima oder Fukushima zeigen) zu gehen. Sein wirtschaftlicher und technologischer Erfolg hat ihn überheblich gemacht, einschließlich seines Kampfes gegen die Natur. Der Überhebliche überhebt sich erst unter der Last seiner eigenen Taten. Erst die natureingemachten Katastrophen, die Tornados, Fluten und Erdbeben, reißen ihn aus dem Schlummer der Selbstvergewisserung. Keine Wettervorhersage und kein Seismograph helfen ihm dann. Das ist die Botschaft von Fukushima. Doch auch an dieser Stelle der offensichtlichen Unbelehrbarkeit des Menschen sei jeglicher Fatalismus fehl am Platz. Den Menschen mit der Hybris der Überheblichkeit zu kompromittieren heißt nicht, nicht weiterhin an den Menschen zu glauben. Denn – so Ernst Bloch – die Beziehung des Menschen zur Natur verkündet mehr von seiner eigenen umfassenden Aufdeckung als die Beziehung des Menschen zu Menschen; denn der ›Mensch‹ ist der relative, doch die ›Natur‹ ist der absolute Gegenstand, ist das eigentliche Horizont-Problem der Geschichte. 36

Schon im Begriff der »Naturgewalt« manifestiert sich die Ohnmacht des Menschen. Keine Scherbenhaufen eines Tornados, keine Jahrhun149 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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dertflut, nicht das erschütterndste Erdbeben und auch nicht Meteoriteneinschläge wie der in Tunguska 1908 scheinen den Menschen von seiner Vormachtspsychose abzubringen und ihn zur Besinnung zu zwingen. Haken wir hier einmal philosophisch nach, vielleicht bei Immanuel Kant, beim Philosophen der reinen Vernunft. Kant sagt aus Anlass des Erdbebens von Lissabon 1755: Die Betrachtung solcher schrecklichen Zufälle ist lehrreich. Sie demüthigt den Menschen dadurch, dass sie ihn sehen lässt, er habe kein Recht […], von den Naturgesetzen, die Gott angeordnet hat, lauter bequemliche Folgen zu erwarten, und er lernt vielleicht auch auf diese Weise einsehen: dass dieser Tummelplatz seiner Begierden billig nicht das Ziel aller seiner Absichten enthalten sollte. 37

Naturkatastrophen gehören zum »geologischen Alltag« (Frank Schätzing), galten den Menschen jedoch schon immer als katalytische Denkanschübe; ob sich aber der »Geist« von Katastrophen auch belehren lässt? Das moderne Fukushima jedenfalls zeigt auf den Missgriff des Menschen. Solange der Mensch das Wort von der »Naturgewalt« parat hat, wie um sich sein Feindbild zu erhalten, fühlt er sich bedroht – und hat noch nicht fertig gelernt. Er hat sich von der gefühlten »Demüthigung«, wie Kant sagt, noch nicht emanzipiert und die Kränkung, wie bei Freud, noch nicht verkraftet. Selbst der moderne, rationale Mensch »weiß« noch nicht, dass der von der Natur erkaufte Fortschritt mit unwiederbringlichen Verlusten einher geht.

III. Mensch gegen Mensch Würde der Natur … Wenn die Natur nur unsere Vorstellung ist und von menschlichen Interessen zergliedert, wäre unsere Aufgabe die der Konkretion und Erfahrbarkeit. Ein Baum ist konkret, ein Wald dagegen schon eine gewisse Abstraktion. Dass mein Apfelbäumchen blüht, kann ich bewundern und zu meiner Sache machen, mit dem Ozonloch und wie es mich konkret betrifft, ist das schon schwieriger. Das Apfelbäumchen habe ich vielleicht selbst gepflanzt, den Bezug zum Ozonloch muss ich mir erschließen, weil ich es nicht sehen und nicht riechen kann. 150 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Ich muss also wissen, was »die Natur« mir wert ist, und zwar nicht nur im materiellen, sondern auch im ethischen Sinn, und dann erst sind wir bei den ideellen Werten und bei der »Würde«, und an dieser Stelle wieder beim Menschen und seiner Verantwortung. Die Beweisführung von Darwin, dass die Abstammung des Menschen mit dem Tierreich verwoben ist, bedeutet, dass der Mensch nicht mehr vom Rest der Natur isoliert werden kann. Der Philosoph Hans Jonas macht hierzu und im Zuge der sogenannten drei Kränkungen des Menschen eine, wie ich finde, entscheidende und hilfreiche Wendung. Jonas sagt: In der lauten Entrüstung über den Schimpf, den die Lehre von der tierischen Abstammung der metaphysischen Würde des Menschen angetan habe, wurde übersehen, daß nach dem gleichen Prinzip dem Gesamtreich des Lebens etwas von seiner Würde zurückgegeben wurde. 38

Mit dieser Einsicht entpuppt sich die Kränkung als Hybris und macht den Weg frei für ein Bewusstsein im »Kontinuum der Evolution«. Erst jetzt begreifen wir die Einheit der Natur, in der der Mensch kein Verlierer ist. Denn der vermeintliche »Verlust (bedeutet) nicht eine Entwürdigung des Menschen, sondern bietet die Möglichkeit zu einer Würdigung der Natur, aus der wir hervorgegangen sind und deren Teil wir bleiben.« 39 Mit diesem Paradigmenwechsel sind wir bei der »Würde der Natur« und einer Ethik, mit der Hans Jonas dem Menschen abverlangt, sie »nicht im (menschlichen) Subjekt, sondern in der Natur selbst zu begründen.« 40 Die Natur selbst ist kein moralisches System. 41 Zu einer Frage der Moral wird die Natur erst wieder durch den Menschen, der in die Natur eingreift und sie verletzt. Und die Frage ist dann auch, zum Beispiel »beim ›Naturschutz‹, ob es wirklich um die Natur geht und nicht um menschliches Wohlbefinden«. 42 Das »Dschungelcamp« ist das selbstvergessene Format, wo Lustgewinn mit Demütigung verwoben ist. So klagt Botho Strauß den Menschen an: »Indignatio saeva – die wilde Beleidigung, die der rohe Mensch ist für das empfindliche Tier.« 43 Dass der Mensch nicht nur willens, sondern auch fähig sein kann, diesen radikalen holistischen Bewusstseinsschritt zur Einheit der Natur zu machen, belegt der Philosoph und Utopieforscher Beat Sitter-Liver, der – ganz im Sinne von Hans Jonas und Albert Schweit151 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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zer – von der »Würde der Kreatur« spricht, die den Schutz der Tiere und der Pflanzen eindenkt. 44 Es gibt derzeit nur zwei Länder auf der Erde, wo die »Würde der Kreatur« in ihren Verfassungen festgeschrieben ist – die Schweiz und Ecuador. Was diese Rechtsgrundlage wert ist, bleibt mit der Politik Ecuadors opak, weil es den gestern noch verteidigten Schutz des Yasuni-Nationalparks, einem der wichtigsten Großbiotope der Welt, gerade aufkündigt – aus wirtschaftlichen Gründen. 45

… versus Interesse an der Natur Es scheint offensichtlich, dass es sich der Mensch in der Natur wohlig eingerichtet hat und eher seinen Interessen, als den metaphysischen Einsichten eines Darwin oder eines Freud folgt. Immer wieder, ja über Jahrhunderte sehen wir uns auf ein Menschenbild zurückgeworfen, von dem es schon in Sophokles’ Antigone heißt: »Ungeheuer ist viel, und nichts ungeheurer als der Mensch«. Müssen wir uns also den Menschen nach wie vor so vorstellen, dass er von der Natur bis zum Gottesteilchen alles weiß und große Mühe hat, sich selbst zurückzustellen? Die Erdbeben, die sein Bewusstsein erschüttern, und die Fluten, die ihn nach Luft schnappen lassen, finden immer im Woanders statt und verdienen – auf lange Sicht – oft nur die Aufmerksamkeit einer Tagesnotiz in der Zeitung. Umso mehr ist das Streben des Menschen auf Erfolg und Luxus ausgerichtet, das ein moralisches Leben verhindert, zum Beispiel in Hinsicht der Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen. Der Mensch ist das von seinen Interessen bestimmte Wesen. Bleiben wir eine Weile bei den sogenannten »Interessen« der Menschen, den wirtschaftlichen, den persönlichen etc. Das Wort »Interesse« heißt im Lateinischen eigentlich »teilnehmen, dabei sein«, im üblichen Sprachgebrauch jedoch hat es leicht den Touch von »persönlichem« Interesse in dem Sinne, seinen Willen einzubringen und durchzusetzen. Aus einem sozialen Wort wird so ein egoistisches Wort. Doch genau an dieser Stelle, am Interesse an der Natur, polarisiert sich die Menschenwelt, und die Interessenskonflikte gibt es sogar innerhalb der ökologischen Bewegung, wie etwa zwischen Natur- und Umweltschützern. 46 Eigentlich war es erst die moderne Öko-Bewegung, die die Polarisierung der Interessen, der Natur zu schaden, bewusst gemacht hat. 47 Das Naturbewusstsein mag weltweit 152 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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gestiegen sein, aber die serielle Untäterschaft des Menschen findet kein Ende und wird auf Nebenkriegsschauplätzen verhandelt – mit der grassierenden Verbots(un)kultur, wo das globale schlechte Gewissen auf Kosten des guten Lebens und dem Genuss an ihm abgearbeitet wird, was Robert Pfaller zu Recht abmahnt. 48 Weitaus skurriler ist noch die rücksichtslose und perverse Ausbeutung der Natur, wo sie politisch sogar als Waffe benutzt wird. So weist die hochaktuelle Untersuchung von Jacob Darwin Hamblin in Arming Mother Nature die gezielte Vernichtung natürlicher Ressourcen nach, die die virulente Dramatik des Kampfes zwischen den Menschen zeigt. Hamblin berichtet über eines der verheerendsten Erdbeben der Geschichte, nämlich das von Chile im Jahr 1960, von wo Tsunamis auch noch auf den Philippinen und auf Australien einkrachten, und von einem davon ausgehenden maßlosen (politischen) Verbrechen an der Natur. Er berichtet, im Kalten Krieg hätten NATO, (Natur-)Wissenschaftler und Militärs Pläne entworfen, in einem künftigen Krieg gegen die Sowjetunion mit Krankheitserregern, Erzeugung künstlicher Erdbeben und Beeinflussung des Klimas zu arbeiten, um den Erzfeind tödlich zu treffen. Ziel der Kollaboration sollten beispielsweise die riesigen Weizenfelder gewesen sein, von denen die sowjetische Wirtschaft abhängig sei. 49 Die Natur, als Waffe, und zugleich als deren Opfer. Ähnliches betrieben die USA beim Einsatz von Agent Orange im Vietnamkrieg, das die Entlaubung von Teilen des Dschungels bewirkte. – Schließlich sahen Politik und Wissenschaft ein, dass »Arming the Nature« nicht nur den Feind, sondern die gesamte Erde nachhaltig beschädigen würde. Aber man stelle sich diese desaströse Strategie vor: Mensch gegen Mensch, bewaffnet mit Natur …

Von der Um-Welt zur Lebens-Welt Das Buch der Philosophie ist das Buch der Natur. Galileo Galilei

Welche Auswege gibt es? »Ausweg« heißt, einen Weg aus einem Dilemma zu finden. Ich sehe zwei Wegweiser, einen Tunweg und einen Denkweg. Und damit kommen wir zurück auf die Rolle einer »dritten Kultur«. 50 153 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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(1) Politik Um aus der Todesspirale der sich im Weg stehenden Interessen der Menschen herauszukommen, könnte ein Begriff des Philosophen Immanuel Kant hilfreich sein: das »interesselose Wohlgefallen«. 51 Derart Wohlgefallen »gründet sich auf keinem Interesse, aber es bringt ein Interesse hervor.« Bezogen auf die Natur (das Naturbild, das Naturerleben etc.) wäre dies vielleicht das lehrreiche Gegendenkmodell zum Interessenskonflikt: ich engagiere mich für Natur, ohne sie zugunsten meiner egoistischen Interessen zurechtzubiegen, gar zu benutzen oder zu zerstören. Dies könnte die Philosophie der Politik einer »Dialektik der grünen Aufklärung« sein. 52 Ein Gesinnungswandel fängt schon bei der »reinen« Betrachtung beziehungsweise Anschauung an. Wie das geht, sich eine gute, richtige, interesselose Vorstellung von der Natur zu machen, zeigt uns Jürgen Goldstein unter Bezug auf die Beobachtungskunst von Charles Darwin. Er sagt: Die reine Anschauung ist […] ein asketischer Akt: In ihm sieht man so weit wie möglich von eigenen Interessen ab, stellt angelerntes Wissen zurück und will zunächst einmal bei nichts anderem sein als bei dem Angeschauten. 53

Das »Glück des Schauenden« 54, der sich selbst genug ist, könnte auch das Glück des Forschenden sein, wenn er die »Würde der Natur« zu seinem (Berufs-)Ethos macht. Diese Haltung in allen die Natur betreffenden Angelegenheiten könnte alle Wissenszweige zusammenführen. Vor allem die Natur-Wissenschaften, seien es Biologie oder Klimaforschung, könnten begreifen, dass ihr Gegenstand, die Natur, nicht objekthaft zum Menschen steht; eine verantwortungsvolle und weitblickende Naturwissenschaft müsste sich dann nicht mehr als Leitdisziplin sehen und – mit angeblicher »Deutungshoheit« (Kristian Köchy) – von den Humanwissenschaften abgrenzen, sondern die Ethik oder die Lebensphilosophie in ihre Forschung einbeziehen. 55 Umgekehrt soll die Natur nicht als romantisiertes Objekt missverstanden werden, um auch wieder nur dem Wohlsein, dem eigeninteressengebundenen Wohlgefallen zu dienen, und auch nicht als benutztes Objekt. Aus dem anthropozentrischen Begriff Um-Welt, die den Menschen umgibt, aber nicht einschließt, wird Lebens-Welt – Natur als »Lebensganzes« (Bloch). Diese wirklich interdisziplinäre Wissensauffassung sollte be154 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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deuten, dass die Gesellschaften auf der Erde sich auf einen neuen Gesellschaftsvertrag verständigen, der nach wie vor dem »Tempel der Vernunft« 56 vertraut. Die Würde der Natur muss zum festen Bestandteil von Gesetzgebung und Verfassung werden, da die intakte Natur der Garant für einen gesunden Planeten bildet. Dieser (Aus-) Weg ist notwendigerweise ein Um-Weg, doch zu betreten ist er heute.

(2) Philosophie Ein zweiter »Ausweg« ist ein Denkweg, der erneut über Caspar David Friedrichs »Mönch am Meer« führt. Das radikale Bild sei dialektisch ins positive Licht gerückt, denn: wer die ungeheure, ja maßlose Winzigkeit des Menschen vor der Natur wirklich erkennt, fühlt sein Bewusstsein auf »Reset« und in seine naturkompatiblen Koordinaten gesetzt; denn ist es nicht gerade des Menschen Winzigkeit, die ihn zu einer Haltung der Bescheidenheit und – altes Wort – der Demut, der Genügsamkeit bringen kann? Und kann er gerade aus dieser Haltung seine wahre »Größe« entdecken – als »ein über sich, ein weit um sich schauendes Geschöpf« (Herder) 57, das darin von Macht sich distanziert?

Postskriptum: Der Essay diente auch als Grundlage für Vorlesungen an der International Summerschool, Neustrelitz, zum Thema »Mensch und Natur«.

Anmerkungen Eco, Umberto: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt am Main 1984. 2 Strauß, Botho: Lichter des Toren. Der Idiot und seine Zeit. München 2013, 49. 3 Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt am Main 1968, 256. 4 Brockman, John: Die dritte Kultur, Das Weltbild der modernen Naturwissenschaft. München 1996. 5 Siehe die Antwort von Jürgen Mittelstrass auf John Brockman in: zeit.de/ 1998/06/Dritte_Kultur_Kein_Bedarf?page=all. Auch Wolf Lepenies greift das 1

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Natur und Interesse Thema auf und bezieht sich auf den Streit zwischen C. P. Snow und F. R. Leavis. »Im Streit der zwei Kulturen [Natur- vs. Literatur und Geisteswissenschaften, K. K.] stand eine dritte, die der sozialwissenschaftlichen Intelligenz, unübersehbar im Hintergrund.« (Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München / Wien 1985, 187 f.). 6 Mitchell, Sandra: Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen. Frankfurt am Main 2008, 151. 7 Hampe, Michael: Tunguska oder Das Ende der Natur. München 2011, 300. 8 Steinberger, Karin: Finger weg. Was darf rein, was nicht? Was ist ein guter Baum, was ein böser? Der deutsche Wald als Wille und Vorstellung. Ein Spaziergang, in: Süddeutsche Zeitung vom 28./29. Juli 2012. 9 Hampe 2011, 21–25. 10 Behringer, Wolfgang: Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung. München, 4., durchs. Aufl. 2009. 11 Köchy, Kristian: Die Natur des Menschen und die Naturwissenschaften. in: Detlev Ganten u. a. (Hg.): Was ist der Mensch? Berlin / New York 2008, 150. 12 Hampe 2011, 263. Siehe auch Thomas Nagel, der sich vehement gegen ein reduktionistisches Naturverständnis wendet, wonach neodarwinistische Theorien, die Geist, Bewusstsein und Werte materialistisch erklären wollen, falsch seien. (Nagel, Thomas, Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Berlin 2013). 13 Dostojewski, Fjodor M.: Der Jüngling. Übersetzung von E. K. Rahsin, München 1992, 545 ff. Auch Andreas Maier und Christine Büchner zitieren das Gespräch in: Bullau. Versuch über Natur. Frankfurt am Main 2006, 78 f. 14 Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung, GA Bd. 5, Frankfurt am Main 1959, 926 f. 15 Dostojewski 1992, 551. 16 Schmied, Wieland: Caspar David Friedrich. Köln 1992 (Katalog), 63. 17 Heinrich Kleist hat (wie übrigens auch Clemens Brentano) damals darüber einen Ausstellungsbericht geschrieben und auch Ernst Bloch nimmt auf ihn Bezug. (Bloch 1959. 979 ff.). Näheres siehe bei Kufeld, Klaus, Die Reise als Utopie. Ethische und politische Aspekte des Reisemotivs, München 2010, 84. 18 Zit. nach Wolfgang Welsch: Blickwechsel. Neue Wege der Ästhetik. Stuttgart 2012, 170 (Fußn. 47). 19 Welsch, Wolfgang: Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, Weilerswist 2012, 567. 20 Rilke, Rainer Maria: Werke in drei Bänden, Bd. 3, Prosa. Frankfurt am Main 1966, 522 ff. 21 Welsch, Wolfgang: Mensch und Welt. Eine evolutionäre Perspektive der Philosophie. München 2012, 75 f. 22 Welsch 2012, 564. Welsch spricht von »Verschmelzungserfahrungen« (571) und das, was Sigmund Freud (unter Bezug auf Romain Rolland) »ozeanische Gefühle« genannt hat. (Siehe vertiefend: Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Studienausgabe, Bd. IX, Gesellschaft/Religion. Frankfurt am Main 2000, 198.) 23 Simmel, Georg: Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: Gesamtausgabe, Bd. 14. Frankfurt am Main 1996, S. 394.

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Natur und Interesse Welsch 2012. Siehe Wolfgang Welsch: Vom anthropischen Weltbild der Moderne zu einem künftigen evolutionären Weltbild, in: Robert Pfaller / Klaus Kufeld: Arkadien oder Dschungelcamp. Leben im Einklang oder Kampf mit der Natur, Verlag Karl Alber, München/Freiburg 2014, S. 34 ff. 26 Hampe 2011, 226 f. 27 Negt, Oskar: Nur noch Utopien sind realistisch. Politische Interventionen. Göttingen 2012, 284. 28 Viele Versöhnungskonzepte wären hier relevant, beispielhaft seien genannt: Alexander von Humboldts Bild für eine holistische Naturauffassung ist das Naturgemälde, in dem »die einzelnen Theile der großen Gesammtheit gewissermaßen als coexistirend betrachtet« werden (Die Kosmos-Vorträge 1927/28 in der Berliner Singakademie. Hg. v. Hamel, Jürgen / Tiemann, Klaus-Harro. Frankfurt am Main 2004). Oder Ernst Blochs »Naturallianz«, das heißt die ganzheitliche philosophische Auffassung von Mensch, Kultur, Technik und Natur: »Naturströmung als Freund, Technik als Entbindung und Vermittlung der im Schoß der Natur schlummernden Schöpfungen, dem »Konkretesten an konkreter Utopie.« (Bloch 1959, 813.) Siehe auch: Bloch, Jan Robert / Zimmermann, Rainer E.: Naturallianz. In: Kufeld, Klaus / Zudeick, Peter (Hgg.): Utopien haben einen Fahrplan. Gestaltungsräume für eine zukunftsfähige Praxis. Mössingen-Talheim 2000. 29 Carson, Rachel: Stummer Frühling. Mit einem Vorwort von Joachim Radkau. München 2007 [1962/1963]. 30 Meadows, Donella H. / Meadows, Dennis L. / Randers, Jørgen / Behrens, William W.: The Limits to Growth. London 1972, [Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart 1972]. 31 Mit Umberto Eco ist der »Begriffsfetisch« den einen Kampfmittel und den Anderen Abwehrsignal. Er hat, so Eco, »die Eigentümlichkeit, das Gespräch zu blockieren, den Diskurs in einer emotionalen Reaktion zum Stillstand zu bringen.« (Eco 1984, 19). 32 Becker, Ralf: Die Stellung des Menschen in der Natur. In: Gerald Hartung u. a. (Hgg.): Naturphilosophie als Grundlage der Naturethik. Zur Aktualität von Hans Jonas. Freiburg / München 2013, 122. 33 Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916–17 [1915–17]). In: ders.: Studienausgabe, Bd. I. Frankfurt am Main 2000, 282. 34 Ebd., 283. 35 »Der Geist eilt durch vergangene Jahrhunderte zurück und fragt sodann, konnten unsere Vorfahren solche Männer sein? – Menschen, deren Zeichen und Ausdrücke uns weniger verständlich sind als jene unserer Haustiere.« (Charles Darwin, zit. nach Jürgen Goldstein: Die Entdeckung der Natur. Etappen einer Erfahrungsgeschichte [Naturkunden Nr. 3]. Berlin 2013, 10.) 36 Bloch, Ernst: Über Naturbilder seit Ausgang des 19. Jahrhunderts. In: Literarische Aufsätze, Verfremdungen II (Geographica). GA Bd. 9. Frankfurt am Main 1965, 451. 37 Kant, Immanuel: Vorkritische Schriften I 1747–1756. In: Kants Werke. Akademie Textausgabe Bd. I. Berlin 1968, 431. Ähnliches verarbeitet Heinrich von 24 25

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Natur und Interesse Kleist Das Erdbeben von Chili (Stuttgart 2003) oder Plinius d. J., der über den dramatischen Ausbruch des Vesuvs berichtete. 38 Jonas, Hans: Das Prinzip Leben, zit. nach Ralf Becker: Die Stellung des Menschen in der Natur. In: Gerald Hartung u. a. (Hgg.): Naturphilosophie als Grundlage der Naturethik. Zur Aktualität von Hans Jonas. Freiburg / München 2013, 129. 39 Becker 2013, 122. 40 Ebd., 130. 41 Behringer 2009, 281. Davon abgesehen kommt die Natur völlig ohne den Menschen aus: Tiere beispielsweise richten es sich in aus Menschensicht unwirtlichen Orten ein, wie Josef Reichholf zeigt (Stadtnatur. Eine neue Heimat für Tiere und Pflanzen. München 2007). 42 Ebd., 282. 43 Strauß, Botho: Die Fabeln der Begegnung. München 2013, 141. 44 Sitter-Liver, Beat: Ethik als utopische Zeitkritik. In: Julian Nida-Rümelin / Klaus Kufeld (Hgg.): Die Gegenwart der Utopie. Zeitkritik und Denkwende. München / Freiburg 2011, 95. 45 Ex, Christine: Rohstoffdiplomatie auf Abwegen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Oktober 2013. 46 Radkau, Joachim: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. München 2011, 628. 47 Carson 1971 und Meadows 1972. 48 Siehe Pfaller, Robert: Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie. Frankfurt am Main 2011. 49 »The headquarters of the […] NATO, scientists and military officers drew a different lesson from the disaster. They saw the Chilean earthquake as a shining example of what Americans might soon implement against the Soviet Union. […] Arming Nature, by harnessing its physical forces and exploiting its biological pathways, fit with the methods American scientists and military leaders expected to use a fight a war against the Soviet Union. Aside from earthquakes, scientists in the decades after World War II worked on radiological contamination, biological weapons, weather control, and several other projects that united scientific knowledge of the natural environment with the strategic goal of killing large number of people.« Jacob Darwin Hamblin: Hamblin, Jacob Darwin: »Arming Mother Nature«. The Birth of Catastrophic Environmentalism. New York 2013, 3 f. Siehe auch: Apel, Thomas: Mutter Natur im Kriegseinsatz. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. August 2013. 50 Vgl. Fußnoten 5 bis 7. 51 Bei Kant heißt es »reines, uninteressirtes Wohlgefallen« (Kant, Immanuel: Kritik der Urtheilskraft. In: Kants Werke. Akademie Textausgabe Bd. V. Berlin 1968, 205.)«. 52 Radkau 2011, 614 ff. 53 Goldstein 2013, 20. 54 Ebd., 21. 55 Hier auch relevant das Thema Technikfolgenabschätzung. Siehe zum Beispiel: IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (https://www.izt. de).

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Natur und Interesse Bloch, Ernst: Die Felstaube, das Neandertal und der wirkliche Mensch, in: Ernst Bloch: GA Bd. 9, Literarische Aufsätze, Frankfurt am Main 1965, 462 ff. 57 Herder, Johann Gottfried, zit. nach Goldstein 2013, 14. 56

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Die Apologeten des Wachstums Philosophische Fragen zur Rettung des Planeten Vorlesung an der 14. International Summerschool am Gymnasium Carolinum, Neustrelitz (2020), mit Vorlektüre und Film

Vorlektüre: Wachstum Wachstum [vakstum], spätmhd. wahstuom; in der Biologie: gedeihliche Entwicklung, Heranwachsen, auch Fruchtertrag. In der Mathematik: Zunahme einer bestimmten Messgröße im Zeitverlauf. In der Wirtschaft: der Gesamtwert der Waren und Dienstleistungen in einer Volkswirtschaft, gemessen im Bruttoinlandsprodukt. Wachstumsformen: gesundes W., stetiges W., grünes W., nachhaltiges W., exponentielles W., grenzenloses W., Null-W., Minus-W., Schulden-W., Wachstum des Wachstums, Wildwuchs, Wucher. Natürliches Wachstum folgt strengen endogenen Gesetzen, kann aber gefördert werden: Pflege, Subvention, Nach-Wuchs. Die Olive kann 1000 Jahre alt werden, ewig wachsen aber nicht.

Wachstum als Fortschritt In der Wirtschaft laufen die Uhren anders. Wirtschaftswachstum »ist ein im wirtschaftlichen und sozialen Leben positiv besetzter Begriff, der mit einer Zunahme von Wohlstand und Lebensqualität gleichgesetzt wird«, so das ZEIT-Lexikon. Damit wird ökonomisches Wachstum zum Fetisch für Fortschritt und sogar zu einer sozialen Metapher. Wachstum gilt als der unabstellbare Motor der Marktwirtschaft bzw. des Kapitalismus. Aber von welchem Fortschritt ist die Rede und für wen? Für Adam Smith, den Begründer der Nationalökonomie (»Wohlstand der Nationen«), kommt der Fortschritt der Produktivität aus Eigennutz, Ertrag und Gewinn, nicht aber außerhalb eines sozialen Gleichgewichts. Karl Marx (»Das Kapital«) filetiert die kapitalistische Produktionsweise als Klassensystem, die Ware Arbeitskraft ist von den Produktionsmitteln entfremdet. Die modernen Ökonomen (John Maynard Keynes / Post-Keynesianismus) 160 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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schwanken zwischen selbstregulativen Markttheorien (Wirtschaftsliberalismus) und interventionistischen Modellen, um wirtschaftliches Gleichgewicht zu sichern – aber immer unter dem Wachstumsdiktat. Heute und angesichts von Weltwirtschaftskrisen wankt der wachstumsbasierte Fortschritt, denn korrespondierende Kategorien wie Naturpolitik, Bevölkerungsentwicklung, Ernährung, Armut etc. erzwingen ein Umdenken. Der Kapitalismus generiert grenzenloses Wachstum, aber Wohlstand für alle?

Wachstum als Wunder Das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit lässt wundern nur darüber, dass aus der Hausse nach dem Zusammenbruch quasi Dauergesetz wird. Im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 bürgt der Staat unbeirrt für den Fortschritt, auch wenn die Renditen (von 5,1 Prozent 1960 auf heute 1 Prozent bei den G7-Ländern) längst zurückgehen, dass die Sozialsysteme auf Pump finanziert werden müssen und Umweltauflagen den hohen Preis der Verlagerung von Produktion in Billiglohnländern haben. Crashbanken werden sogar mit Milliarden subventioniert. Standen sich Wachsen und Planen im Kalten Krieg noch unversöhnlich gegenüber, brüstet sich der selbstregulative Markt heute »alternativlos«. Bei vielen Theoretikern klingt Kapitalismus wie ein Krake, der sich über die Menschheit gelegt hat. Meinhard Miegel fragt nach seinem Geheimnis und Erfolgsrezept und spricht von der »unerwiderten Liebe der Menschen zum Kapitalismus« (FAZ, 18. 08. 2014), als sei er ein oktroyiertes Fremdsystem und der Mensch nur sein Nutznießer. Bernard de Mandeville formuliert in der »Bienenfabel« bereits 200 Jahre vor Max Webers These, wonach das protestantische Arbeitsethos die Ursache für die Entstehung des Kapitalismus gewesen sei, eine lakonische Gegenthese: nicht die Tugenden, sondern Geiz, Stolz, Eitelkeit, Neid lassen eine große, moderne Gesellschaft blühen. Profit, Mehrwert, Eigennutz hätten damit ihre anthropologische Begründung zur Ausrede. Schon Erich Fromm (1976) sagt, durch den Kapitalismus des 18. Jahrhunderts wurde »das wirtschaftliche Verhalten (…) von der Ethik und den menschlichen Werten abgetrennt«. Das immer noch geträumte Wirtschaftswunder, grenzenlos wachsen zu können, belässt die Ökonomie im Rang der Leitwissenschaft, allen Finanzcrashs zum Trotz und obwohl durch die fatale Eigengesetzlichkeit des Kapitalis161 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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mus »das Verhältnis des Menschen zur Natur zutiefst feindselig« geworden ist. Ebenso gerne vorgebracht wie missverstanden wird Adam Smiths »unsichtbare Hand« des sich selbst regelnden Markts, denn für Smith, immerhin Moralphilosoph, gilt: »Erst nachdem die Voraussetzungen für ein moralisches Fundament erfüllt sind, kann die Entfaltung eines freien Unternehmertums zu befriedigenden Resultaten führen.« (Vgl. Paech 2014) Weil aber »das wohlhabendste Fünftel der Menschheit 83 Prozent der Weltgütermenge beansprucht« (Miegel 2014), überstimmt das heilige und unumkehrbare Wachstums-Credo das ökologisch vernünftige Handeln und lässt die Politik (von schwarz sogar bis grün) in der Endlosschleife des Wachstumsglaubens verfangen. Und global: eilen die Staatschefs seit Rio von einem Weltklimagipfel zum andern, um sich dann doch auf den Weltwirtschaftsgipfeln korrumpieren zu lassen. Der Explosionsdruck der globalisierten und digitalisierten Wirtschaft nimmt den Implosionsdruck der verknappten Ressourcen in Kauf.

Wachstum als Kollaps Dabei sind wir faktisch seit 50 Jahren eines Besseren belehrt. Rachel Carsons »Stummer Frühling« von 1962 und die beiden Berichte »Grenzen des Wachstums« von 1972 und 1974 (Meadows u. a.) weisen erstmals das fundamentale existentielle Dilemma der Menschheit nach. Der Club of Rome zeigt uns in einem Kinderrätsel (sic!), wie der Einsicht die Zeit davongelaufen ist: »In einem Teich befindet sich eine Seelilie, die mit einer Rate von 100 Prozent wächst, d. h. sie verdoppelt sich täglich. Nach 30 Tagen bedeckt sie die gesamte Fläche des Teichs und erstickt damit alles Leben in ihm. Nach wieviel Tagen war nur die Hälfte des Teichs bedeckt? Antwort: am 29. Tag war nur die Hälfte, am 28. Tag sogar nur ein Viertel des Teichs bedeckt.« Wirtschaftswissenschaftler sprechen hier von den unsichtbaren Folgen des »exponentiellen Wachstums«. Dessen ungeachtet hat die moderne Wirtschaftstheorie nichts anderes hervorgebracht als den Homo oeconomicus, den Wachstumsgläubiger schlechthin – und der ist mittlerweile ein Global player. Der Raum der Wirtschaft wächst, ja wuchert und die Zeit steht still, könnte Harmut Rosa sagen. Eric J. Hobsbawm (1997) bilanziert zum Ende des »kurzen 20. Jahrhunderts«, dass der »gigantische ökonomische und technisch-wissenschaftliche Prozeß der Kapitalismusentwicklung (…) 162 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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nicht ad infinitum so weitergehen kann.« Weniger die Vernunft aber lässt uns aufhorchen, sondern die kataklystische Mahnung des einen Planeten Erde. Und die besagt, dass seine Kapazität und Ressourcen ultimativ begrenzt sind und wir über unsere Verhältnisse leben. Die Schriften von Hoimar von Ditfurth und Erhard Eppler bis Joachim Radkau und Michael Hampe klären auf, Mentalitätswandel ziehen sich aber über Jahrzehnte, während im praktischen Leben Eigennutz über Einsicht, Markt über Mehrheiten obsiegen. Wirtschaftswachstum, Bevölkerungswachstum, Wohlstandswachstum korrelieren mit Schadstoffwachstum, Verelendungswachstum – und alle kollidieren. Die moderne Form der Wertschöpfung pervertiert in der Wegwerfgesellschaft: Luxus wird zu Wohlstandsabfall, während Milliarden von Menschen hungern. Die Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität« 2013 schlägt einen neuen Begriff von Wohlstand vor, der auch soziale und ökologische Dimensionen abbildet, aber von Alternativen zum ökonomischen Wachstum sieht sie ab. Zum linearen Wachstum, der Vervielfachung des BIP, kommt das Wachstum des Wachstums, die ständige Vermehrung der Geldmengen bis hin zu den Finanzblasen, die Erzeugung künstlicher Bedürfnisse für Dinge, die wir nicht brauchen, die systematische Produktion von Mängelwaren. Wenn gesättigte Märkte nicht mehr wachsen können, treiben dafür ziemlich giftige StilBlüten, die jetzt unter dem Stichwort »geplante Obsoleszenz« bekannt werden. Sie beschreibt das Phänomen, wenn Produkte absichtlich eine geringe Lebensdauer haben, etwa wenn also der Drucker kurz nach Ende der Garantiezeit nicht mehr funktioniert. (SZ-online, 31. 10. 2014) Immerhin, ein Paradigmenwechsel wird heftig diskutiert und die Wachstumsparanoia in Frage gestellt. Nachhaltigkeit, Minimalismus, ja »das gute Leben« bekommen Aufwind (Skidelsky 2013). In der Ideengeschichte ist die Abschwörung eines »radikalen Hedonismus« (Fromm) mit Diogenes, Franziskus und Kant nicht neu, politikfähig ist das bis heute nicht. Etwa die Stimme von Horst Köhler 2009: »Die Finanzmärkte waren Wachstumsmaschinen. Sie liefen lange gut. Deshalb haben wir sie in Ruhe gelassen. Das Ergebnis waren Entgrenzung und Bindungslosigkeit.« Oder Papst Franziskus, der 2013 in der Enzyklika Evangelii Gaudium sagt: »Wir haben die ›Wegwerfkultur‹ eingeführt, die sogar gefördert wird.« Hohe Instanzen, die näher bei Karl Marx sind, als manchem lieb ist.

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Wachstum als Glück Gibt es überhaupt Alternativen zum Wachsen? Immerhin wird Luxus zunehmend pejorativ konnotiert, denn mit den Crashs und Blasen kommt der Kapitalismus an seine »Haltbarkeitsgrenze«. Der Planet wird und wird in der Todesspirale des Wachstums auch nicht mithalten. Und hier sind sich Keynes und Marx sogar einmal einig: dort in der »Stagnationstheorie«, hier im »tendenziellen Fall der Profitrate«. Die Angst vor dem Paradoxon des Nullwachstums, der Kapitulation der kapitalistischen Logik, grassiert. Von »Wohlstandsdämmerung« (Paech 2012) ist die Rede, statt Effizienz wird über Suffizienz nachgedacht und die »Idee der ›vier E‹« verfolgt: Entschleunigung, Entflechtung, Entrümpelung und Entkommerzialisierung. (Uwe Schneidewind / Angelika Zahrnt 2013) Der »Club of Rome« also lebt. – Der Postwachstumsökonom Niko Paech (2014) fordert ein neues Verständnis von Produktion und Konsum angesichts der tendenziellen Verknappung der Ressourcen und Überversorgung in der Wohlstandsgesellschaft. Denn der Homo oeconomicus optimiert anstatt zu dosieren. Das bedeutet, dass der Konsument über Nutzungsintensivierungen, Nutzungsdauerverlängerung und Eigenproduktion nachdenkt – und zum »Prosumenten« wird. Das Fortschrittscredo wird zum »Kampfbegriff.« Der Gesellschaftstheoretiker Jeremy Rifkin (2014) geht davon aus, dass die Fortschrittsdynamik den Kapitalismus nicht aber erledigen wird. Umzudenken hätte er aber bei der Tendenz zur »Nahezunull-Grenzkosten-Gesellschaft«, wo im »Internet der Dinge« immer mehr fast alles umsonst zu haben ist. Damit findet auch ein WerteWandel statt. Statt von Wohlstand im Sinne von Reichtum ist zunehmend vom »guten Leben« die Rede, denn ausgerechnet der luxusverwöhnte Mensch tendiert gegen Unglücklichsein: »Erreicht der Mensch ein Einkommensniveau, das ihm die fundamentalen Annehmlichkeiten und Sicherheiten des Lebens beschert, beginnt sein Glück sich einzupendeln. Jeder weitere Zuwachs an Wohlstand (…) führt zu abnehmenden Grenzerträgen hinsichtlich des Gesamtglücks«. Rifkins Gegenmodell zum kapitalistischen Wirtschaften sind die »kollaborativen Commons«: »Märkte beginnen Netzwerken zu weichen, Eigentum wird zunehmend weniger wichtig als Zugang zu dem, was benötigt wird. Eigennutz wird gemildert durch kollaborative Interessen.« Gibt Rifkin hier eine neue Antwort auf die Bienenfabel und auf die digitale Welt gleich mit? Die Utopie: während die 164 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Laster doch nur zum Kollaps tendieren, haben die Tugenden das Zeug zur Kooperation. Ob Wachstum und Wohlstand oder Postwachstum und Décroissance, eine Verbesserung der Umwelt- und Lebensverhältnisse stellt nichts weniger als die Frage der Demokratie, Gerechtigkeit und Verantwortung. Denn mit Marx gedacht ist das Kapital kein Akteur, sondern ein soziales Verhältnis. Wir könnten nun sagen: Wachstum hat zu Wohlstand geführt, aber auch zu Wildwuchs und Wucher. Die Belastung des Planeten erfordert eine ethikbasierte Wirtschaftskultur. Schließlich können wir nicht über uns selbst hinaus wachsen und ein Umzugsplan auf den Mars liegt im Pentagon zwar in der Schublade, ist aber von niemand gewünscht, der Mensch bleiben will. Apropos: Dass »Wachstum« von Wachs kommt, mit dem die Bienen ihre Waben bauen, bis es endlich dahinschmilzt, ist wortgeschichtlich nicht belegt.

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Film: Die Apologeten des Wachstums Der Film: https://www.youtube.com/watch?v=0314SzCLTkwDer Film: https://www.youtube.com/watch?v=0314SzCLTkw © Industrietempel e.V. Mannheim und GML Ludwigshafen am Rhein.

Das Booklet: Thomas Reutter. Industrietempel, Die Apologeten des Wachstums. Eine außerordentliche Werksbesichtigung. Videoinstallationen. Im Müllheizkraftwerk.

Das Müllheizkraftwerk: »Wer Menschen erreichen will und – noch schwieriger – deren Verhalten positiv verändern möchte, der muss sich in der Öffentlichkeitsarbeit etwas Besonderes überlegen. Dem INDUSTRIETEMPEL gelang dies mit dem Ansatz, außergewöhnliche Kunstprojekte für außergewöhnliche Orte durchzuführen. Menschen genau an den Ort zu holen, an dem jeder Konsum endet – in ein Müllheizkraftwerk – und genau dort mit dem Thema Konsum zu konfrontieren ist außergewöhnlich und schafft Aufmerksamkeit! Damit ist dies ein sehr guter Weg, Menschen mit dem Thema eigener Konsum und Abfallvermeidung zu beschäftigen.« (Dr. Thomas Grommes, Geschäftsführer der GML – Gemeinschafts-Müllheizkraftwerk Ludwigshafen GmbH)

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Vorlesung: 129 Fragen an junge Menschen Liebe Schülerinnen und Schüler, was lösen der Text zu »Wachstum« und der Film »Apologeten des Wachstums« bei Ihnen aus? Überraschung? Bestürzung? Erstaunen? Empörung? Unverständnis? Wut? Oder Ungläubigkeit? Stellen Sie sich Fragen? Fühlen Sie sich betroffen? Haben Sie damit zu tun? Fühlen Sie sich als Mittäter? Oder sind es die Anderen, bei denen Sie die Vergehen sehen? Löst er Impulse bei Ihnen aus? Welche Impulse löst er bei Ihnen aus? Wissen Sie, dass gutes Philosophieren bedeutet, gute Fragen zu stellen? Und dass ich dies Ihnen mit 100 Prozent Fragen, 129 Fragen vorführen werde? Und dass die Fragen, die ich Ihnen stellen werde, schon mehr sein mögen als die Wahrheit, die Antworten vorgeben zu sein?

I.

Schwanken

Denken Sie, dass Menschen »gerne« verdrängen, was Sie wissen und weitermachen, als sei nichts geschehen? Geschieht das aus Verzweiflung oder aus Bequemlichkeit? Verzweifeln sie nicht schon deshalb, weil sie denken, was kann ich, ich machen, wenn ich weiß, dass ein Trump, ein Bolsonaro ein Flüchtlingsproblem, ein Klimaproblem schlicht leugnen? So wie es gar Menschen gibt, die den Holocaust leugnen, und Dokumentarfilme runterreden oder für geschauspielerte Fakes halten? Oder sind sie bequem, weil ihnen Hühnchenfleisch einfach schmeckt anstatt die unwürdigen Verhältnisse in Massenhühnerställen zur Kenntnis zu nehmen? Weil sie über zu wenig Empathie verfügen und sich nicht vorstellen können oder wollen, eines dieser Hühner zu sein und wie es sich darin anfühlt? Also: Verzweifeln sie, weil sie sich als Einzelne ohne Macht, also ohnmächtig fühlen? Oder sind sie bequem, nur weil es ihnen gut geht und es sie nicht oder nur wenig interessiert, wie es Anderen geht?

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II.

Staunen

Ahnen Sie bereits bereits, worauf ich hinaus will? Oder fühlen Sie sich, obwohl wissend, wie betäubt von der Faktizität des Faktischen? Fühlen Sie sich als Einzelne angesprochen oder als Mitglied eines Systems? Fühlen Sie, dass es beim Wachstum, bei der Verschwendung und ungerechten Verteilung von Lebensmitteln und den Hunderten von Kriegsherden, die es auf der Welt gibt, und bei der Klimaproblematik etc. pp. nicht um den Einzelnen geht? Nicht gehen kann? Dass aber, wenn Einzelne nicht mehr fliegen, trotzdem über vier Milliarden Flüge weltweit organisiert sind in Flugplänen der Fluggesellschaften? Über Jahre hinaus, als geschähe nichts Weltbewegendes? Außer dass die Geschäfte der Geschäftsleute stimmen? Weil auch ohne »den Einzelnen« ununterbrochen Regenwälder abgeholzt werden und Arten sterben? Sprechen wir nicht überhaupt von Systemen, die uns regieren und auf uns einwirken, ja auch ohne uns funktionieren? Weil Politiker zu Recht betonen, dass, wenn wir auf den Stoppknopf des unendlichen Wachstums drücken würden, auch Arbeitsplätze wegfielen und wir um unsere eigenen Lebensräume und den sozialen Frieden zu fürchten hätten? Wie also steht es mit dem Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem System, in dem der Einzelne lebt? Wissen Sie, was »Wachstum« wirklich bedeutet? Kann alles immer wachsen? Eine Blume, verblüht sie nicht? Selbst ein Olivenbaum, gibt er nicht nach 1000 Jahren seinen Geist auf? Stirbt nicht jedes Lebewesen? Warum glauben die Menschen dann trotz dem real an Unsterblichkeit, wie schon der Philosoph Platon oder die Buddhaiten? Sie glauben nicht an Unsterblichkeit, ich meine im realen Leben? Wissen Sie, dass die Menschen an unbegrenztes Wachstum, sozusagen Unsterbbarkeit des Wachstums glauben – nämlich in der Wirtschaft? Nämlich dass alles zusammenbrechen würde, würde die Wirtschaft nicht immer weiter wachsen? Kann das bis ins Unendliche gedacht werden? Soll ich Ihnen ein Gegenbeispiel liefern? Das zeigt, dass es sich beim Wirtschaftswachstum um eine Todesspirale handelt? Wissen Sie, dass es einen Erdüberlastungstag gibt? Dass der Erdüberlastungstag, der Earth Overshoot Day, den Zeitpunkt beschreibt, ab dem die Weltbevölkerung mehr Rohstoffe nutzt, als im Verlauf dieses einen Jahres aufzubringen sind? Und dass dieser Tag, der erstmals seit 1970 errechnet wurde, auf den 29. Dezember fiel? Und dass dieser Tag 168 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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2018 auf den 1. August fiel? Und dass dieser Tag noch 2019 bereits auf den 29. Juli fiel – weltweit? Und in Deutschland sogar auf den Mai? Und was das nun bedeutet? Nämlich dass nun, knapp 50 Jahre später, sich der Zeitpunkt der Erdüberlastung schon um sieben Monate nach vorne verlagert hat? Und dass das bedeutet, dass wir Deutschen seit dem Mai dieses Jahres rein rechnerisch über unsere Verhältnisse leben? Und dass diese Information vielleicht eine tagesschaulang oder eine zeitungsmeldungslang zur Kenntnis genommen wird – um dann wieder zum Todesspiralenleben überzugehen? Nämlich dass wir mehr verbrauchen als unsere Erde an Ressourcen hergibt beziehungsweise produziert? Rinder für Fleisch, Flächen für Baumwolle und Mais und Soja, Wasser in Millionen von Hektolitern für unser Essen? Nur um unserer Unerstättlichkeit, unserer Gier willen? Dass wir zwei Erden bräuchten, um ressourcengerecht zu leben – aber nur eine Erde haben? Dass wir uns bis zum Mai vollfressen und dann eigentlich sieben Monate zu hungern hätten? Und im Weltmaßstab? Dass wir uns vollfressen, während Millionen von Menschen hungern? Ist das nicht die Faktizität des Faktischen, dass wir aus dem Konsumkreislauf, dem Konsumzwang keinen Weg mehr finden? Dass die Finger der Medien letzten Endes nur auf uns zurückdeuten? Und ist es nicht so, dass die Tatsache, dass der Amazonas brennt, Atemnot erzeugt? Dass Gaia, die Erdgöttin, unter chronischer Atemnot leidet? Weil der Amazonas unsere Lunge ist? Dass der Wald nicht nur in Brasilien brennt, sondern auch in Bolivien, den USA und in Australien? Waren Sie, wie ich, jemals im bolivianischen Urwald? Können Sie sich vorstellen, wie trocken es sein muss, dass ein Regenwald, ein also immer schwülfeuchter Urwald, überhaupt brennt? Und haben Sie eine Vorstellung davon, dass Brasiliens Präsident schon deshalb falsch liegen muss, wenn er Löschhilfen aus Frankreich oder Deutschland ablehnt, weil sein Rodungsinteresse für Ackerflächen für Rindfleisch und Soja nicht mehr seinem Wachstumskalkül entspräche? Und dass dieser Präsident nichts begreift und sich wie ein selbstherrlicher Egoist benimmt, wenn er das Statement von Macron, dass der Amazonas als Weltlunge globales Eigentum sei, als Neokolonialismus bezeichnet?

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III. Entscheiden Wenn wir nach diesen Kenntnisnahmen und Erkenntnissen, die uns nur noch staunen lassen, nun denken mögen, dass, wie Greta Thunberg das tut, nun alles sofort ändern müssen, überfordern wir uns dann nicht selbst? Müssen wir gerade jetzt nicht auch aufpassen, dass nicht alles sofort vonstatten gehen kann, sondern dass endlich dringende Zeitpläne eingehalten werden? Dass wir jetzt auch aufpassen müssen, dass sich diese wichtige Umweltbewegung nicht ideologisiert, instrumentalisiert und radikalisiert? Ist es, liebe Schülerinnen und Schüler, heute nicht die Zeit, in der Sechzehnjährige (Sie wissen, wen ich meine?) für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen werden? Also Menschen, die noch keine Schule absolviert haben, geschweige denn einen Beruf erlernt? Und dass eine 17-Jährige, also ein Mädchen – grob – in Ihrem Alter schon einmal den Friedensnobelpreis bekommen hat [Malala Yousafzai] und einen Kopfschuss durch die Taliban überlebt hat und seither als Friedensbotschafterin für die UNO unterwegs ist? Wissen Sie, wie sie heißt? Ist es heute nicht die Zeit, dass nicht ich, sondern Sie, ja Sie hier stehen und uns erklären, wie Sie sich fühlen? Ist es heute nicht die Zeit, dass Sie Junge uns Erwachsenen erklären, woran wir sind? Spricht diese erkenntnisreiche Zeit für die Jugend oder gegen die Erwachsenen, etwa die Wissenschaft? Was denken Sie? Weil Sie die Betroffenen all der Probleme sind, die wir, also sagen wir die Wissenschaftler im besonderen und die Erwachsenen im allgemeinen, erst entfachen? Und schert man sich womöglich einen Dreck um die Konsequenzen? Weil Sie diese Generation, von der wir sprechen und um die es geht, sind? Weil Sie die Generation sind, die überhitzte Sommer, fehlende Gletscher und untergehende Städte und Inseln und aussterbende Arten wird aushalten müssen? Weil Sie sagen können, dass die Menschheit heute zum ersten Mal wissen kann, dass es sich bei der Klimaproblematik weitgehend um eine selbst eingebrockte Suppe handelt? Und dass die Spezies Mensch sich schuldig macht, einer für den anderen – einer für den nächsten? Weil Sie diese Zukunft sind, von der wir nur theoretisch oder ausgedacht sprechen? Ist es das, weil Sie fühlen, was wir nur denken? Weil Sie den Unterschied leben und erleben? Könnte dies alles nicht dazu führen, dass Sie sich während meiner Fragenperformance bereits Notizen machen, vielleicht gar Antworten und Handlungsanweisungen, um sie hier oben an dieser 170 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Stelle uns vortragen – Ihnen selbst vortragen? Zum Beispiel, dass wir nur noch vegan essen sollten – und warum? Dass wir uns abgewöhnen sollten, mit dem SUV vor dem Ökoladen zu parken oder am Sonntagmorgen unsere Semmeln mit dem SUV beim Bäcker abholen – und warum? Oder dass wir nicht mehr fliegen sollten oder nur noch unter Bedingungen – und welchen und warum? Und Sie könnten diese Bedingungen sogar formulieren? Und könnten Sie uns dann nicht ins Gewissen reden und uns klarmachen, dass ein Gewissen zu haben allein schon deshalb ein Fortschritt, ja Fortschritt ist, weil wir uns mit einem schlechten Gewissen bereits unterbewusst Gedanken machen – die nötigen Gedanken? – und nicht einfach zum Beispiel unser Wachstumsproblem apologetisch hinwegreden? Weil Sie wissen, ein schlechtes Gewissen ist deshalb schon ein gutes Gewissen, weil es einer übergeordneten Instanz über Ihren Geist Ausdruck gibt, weil eine Kontrollinstanz also zum Zuge kommt? Weil ein schlechtes in ein gutes Gewissen umzuarbeiten bedeutet, dass Sie in der Lage sind, die anderen Menschen in Ihrem Denken mitzudenken? Weil Sie es satt haben, Ihre Meinung eine Privatmeinung sein zu lassen und stattdessen endlich sagen wollen, um was es geht, existentiell geht? Weil Sie es satt haben, unter Widersprüchlichkeiten, Unfreiheiten, Abhängigkeiten, Schwierigkeiten, Fremdbestimmung, Hierarchien, Machtverhältnissen zu leben und sich zu Unrecht klein fühlen zu müssen? Weil Sie das Bedürfnis haben, nicht Wahrheiten zu verbreiten, sondern Betroffenheiten? Weil es Sie direkt und unmittelbar angeht, was anderweitig zu Tode analysiert und proklamiert und mystifiziert wird? Weil Sie gar eine Antwort darauf haben, was unsere Zukunft bedeutet? Weil nämlich Sie – als Z-Generation – als Enkel zu uns – als Generation – als Großväter sprechen können? Denn geht es konkreter, als den direkten Kontakt zwischen konkreter Gegenwart und konkreter Zukunft zu pflegen? Was Ernst Bloch konkrete Utopie genannt hat?

IV. Handeln Warum also, das frage ich Sie, ergreifen Sie nicht die Gelegenheit, die ich Ihnen hiermit anbiete, hier zu sprechen – hier direkt im Anschluss? Sind Sie vielleicht schon dabei, Ihre Notizen, die Sie sich jetzt machen, in einer kleinen Rede hier vorzutragen und uns Ihre 171 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Sicht zu erläutern, was zu tun sei? Haben Sie nicht eine eigene Meinung zum Konsumfetisch in unseren Gesellschaften? Und dass Wettessen von Currywurst und Chilis nur die Perversität des Wachstumsdenkens unterstreichen? Und dass Wachstum ein grundlegendes, fatales Missverständnis unseres ökonomischen Systems zum Ausdruck bringt? Weil pures Wachstum per se keine Qualität beinhaltet? Weil Wachstum on the long run Ungerechtigkeit erzeugt? Weil sie wissen oder auch nur ahnen, dass ein CO2-Ausstoß nur eines Fluges in die Karibik, nämlich vier Tonnen, dem Haushaltsverbrauch von 80 Menschen aus Tansania in nur einem Jahr entspricht? Dass Millionen von neuproduzierten Elektroautos in China das Klimaproblem schon deshalb nicht lösen, weil niemand Vorsorge für zu entsorgenden Batterien trifft und weil der Strom auch nur aus der Steckdose kommt, der wie erzeugt wird? – über Atomkraftwerke oder Steinkohle oder Braunkohle? Weil mit Waren vollgestopfte Großmärkte in Unmengen von Plastikhüllen verpackt sind, die in den Mäulern von Fischen in den Meeren landen? Und damit wieder in unseren Mägen? Denken Sie, liebe Schülerinnen und Schüler, dass ich Ihnen die Lebenslust zerstöre, wenn ich Ihnen solche Fragen stelle? Oder denken Sie, dass ich es nicht schaffe, Ihnen die Lust am guten Leben zu nehmen, weil Sie bereit sind umzudenken, sich als Botschafter des guten Lebens zu betrachten, das Schöne und das Nützliche, das Wünschenswerte und das Machbare zusammenzudenken – und gar mit dem Unliebsamen und Zuwiderlaufenden und natürlich Ihren Hoffnungen zurecht zu kommen? Glauben Sie mir, dass ich denke, dass ich Ihnen das zutraue? Nun mein erster Satz, der nicht als Frage formuliert ist: Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.

Postskriptum: Die International Summerschool am Gymnasium Carolinum in Neustrelitz ist ein seit 2007 Jahren wirkendes Zukunftsprojekt für Schülerinnen und Schüler der 12. Klasse. Unter der Präsidentschaft von Sigrid Jacobeit (Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin) und dem Management von Henry Tesch (Schulleiter Gymnasium Carolinum, Kulturminister a. D. von Mecklenburg-Vorpommern) 172 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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und seiner engagierten Lehrerschaft wurde Schule zum Experimentierfeld für junge Menschen, die an die Themen »Prinzip Hoffnung«, »Menschenbild« und mehrmals »Mensch und Natur« herangeführt wurden. Die interdisziplinären Vorlesungen und Naturexkursionen unter der Leitung von Ulrich Meßner dort sind der Versuch, auf Augenhöhe mit der Jugend zu referieren und zu diskutieren. Aus zahlreichen Vorlesungen dort wurde diejenige ausgewählt, die vom ersten bis zum letzten Satz aus Fragen besteht. 129 Fragen, die zusammen mit der Vorlektüre zum Wachstum und mit dem Film des Industrietempels Mannheim mehr Antworten geben als traditionelle Formate es je könnten? Ein Experiment. Worauf die Jugendlichen in der abschließenden Diskussion ihrerseits mit großartigen Antworten und Statements überzeugten. Das zeigte, dass wir es mit einer selbstbewussten und kritischen Jugend zu tun haben: unserer Zukunft.

Literatur: Carson, Rachel, Stummer Frühling, mit einem Nachwort von Joachim Radkau, C. H. Beck, München 2007 [1962/1963]. Fromm, Erich, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main / Wien 1976. Hobsbawm, Eric J., Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Hanser, München 1997. Mandeville, Bernard, Die Bienenfabel oder private Laster, öffentliche Vorteile, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980 [1705]. Meadows, Dennis L. u. a. (Hgg.), Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Zürich 1972. Miegel, Meinhard, Exit – Wohlstand ohne Wachstum, Propyläen Verlag, Berlin 2010. Paech, Niko, Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie, oekom Verlag, München 2012. Paech, Niko, Postwachstumsökonomie als Abkehr von der organisierten Unverantwortlichkeit des Industriesystems, in: Pfaller / Kufeld 2014, 217– 247. Pfaller, Robert / Kufeld, Klaus (Hgg.), Arkadien oder Dschungelcamp. Leben im Einklang oder Kampf mit der Natur, Verlag Karl Alber, München/ Freiburg 2014. Rifkin, Jeremy, Die Null Grenzkosten Gesellschaft. Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus, Campus, Frankfurt am Main / New York 2014.

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Skidelsky, Robert / Skidelsky, Edward, Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens, Kunstmann, München 2013. Uwe Schneidewind / Angelika Zahrnt, Damit gutes Leben einfacher wird. Perspektiven einer Suffizienzpolitik, oekom Verlag, München 2013.

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Reisen

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Vom Verlassen der Paradiese Des unüberholbaren Romantikers philosophische Perspektive auf das Reisen, auch das touristische Eröffnungsvortrag, gehalten am 12. Salzburger Tourismusforum der Universität Salzburg, der Fachhochschule Salzburg und dem Institut für Interdisziplinäre Tourismusforschung (2014) [Unmittelbar auf diesen Vortrag in Salzburg folgte der eines ausgewiesenen Tourismusexperten und Unternehmers von TUI. Sofort war die Frage präsent, was die Philosophie dem Geschäftsmodell entgegensetzen kann, ob das überhaupt zusammengeht. Feststeht, dass wir alle Touristen sind, der Tourismus aber das Reisen bis zur Unkenntlichkeit verändert hat. Dabei ist das erst der Anfang, denn nicht mehr als drei Prozent der Menschheit ist je geflogen. Insofern nahm ich die Rolle des Romantikers ein, um das zu retten, was wir gerade verlieren. Denn es geht um nichts weniger als die vielleicht Schönste aller Utopien.]

Einleitung Wie hat der Tourismus angefangen? Nein, nicht erst vor über zweihundert Jahren. Der Tourismus hat angefangen, seit wir wissen, dass die Erde eine Kugel ist. »Verläßt man auf einer Erdkugel einen Punkt, so heißt das, daß man sich ihm schon wieder nähert! Die Kugel ist monoton.« (Segalen 1983, 75) Bezogen auf die Geschichte des Reisens bedeutet das, der Mensch macht auf der Strecke zwischen seiner Sesshaftigkeit und seiner entgrenzten Mobilität die fatale Erfahrung, dass er tendenziell nichts mehr erleben kann und nichts mehr zu erzählen hat. (Hamilton-Patersen 2007, 16) Der Tourismus, Vorläufer der Globalisierung und Industrie des Reisens, ist das Ende vom Reisen (Schütze 1995, 58). Die Räume gestaucht, die Zeit pressiert, ist die totalmobile Welt um das Reisen entleert. Urlaub (etymologisch: die Erlaubnis, fortzugehen), das Gegenteil vom Reisen (Theroux 2000b), koppelt den Menschen ab nicht nur von der Arbeitswelt, sondern auch von der Erlebenswelt. So bedeutet der Tourismus, der nichts mehr und nichts 177 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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besser organisiert als die perfekte Ankunft, on the long run den Abschied von seinem Urmotiv – dem Reisen. Und damit verschwinden auch die Konturen der sensiblen Sphären der Entdeckung, der Erfahrung und des Erkennens der Welt mit der Folge, dass mit der Abkopplung des Reisens auch die Menschen allein mit ihrer Sehnsucht nach dem Paradies zurückbleiben. Mit der Geburt des Tourismus als der Erfahrung der Monotonie der Erdkugel beginnt eine neue, vollkommen inszenierte und formatierte Reisepolitik, und auf dem Zenit dieser Entwicklung sucht der Mensch fortan das Weite in der Beschleunigung. Fortschritt, der dem reiselustigen Menschen tendenziell nichts zu bieten hat und letztlich Marktgesetzen gehorcht, lädt dazu ein, die Welt zu konsumieren, immer höher hinaus und weiter weg, immer schneller und luxuriöser, bis wir fast nichts mehr zu tun haben. Um in seinem Finish vor den Ergebnissen kapitalistischer Gewinnmaximierung zu stehen: überlaufene Kulturdenkmäler, Raubbau an der Natur, Eingemeindung fremder Kulturen ins globale Dorf, Reisen verkauft als Geschäft. Entdeckung wird der Routine, Erholung der Erschlaffung geopfert. Die World Tourism Organization (UN-WTO) hat das im wahrsten Sinne Flächen deckende Problem erkannt und den »Global Code of Ethics« entwickelt, aber zu mehr als einer appellativen Fünf-vor-zwölf-Politik kommt es kaum. Mehr denn je wirkt die Eigendynamik des Tourismus, denn dieser gewinnt den Hase-und-Igel-Wettlauf gegen das Reisen schier immer: das touristische Angebot ist immer schon da und notfalls werden wir – totalentlastet – zum Reiseziel hingetragen und hingesteuert. Das Anliegen ist nun aber die Beobachtung, dass wir ausgerechnet an dem Punkt, wo der Tourismus alle Paradiese erreichbar gemacht hat, wieder etwas vermissen: das Erleben, das Erzählen, das fremde Neue, eben die Glücksmomente des Reisens. Allerdings können wir den Tourismus, der von der Sehnsucht der Menschen lebt, indem er ihnen ihre Sehnsucht erfindet und dann als Sensation wiederverkauft, zugleich in die Pflicht nehmen, Verantwortung zu übernehmen und den Menschen das Unterwegssein im Reisen nicht zu verbauen. Sustainable Tourism, World Heritage und Sentimental Journey sind die Stichworte. Dabei geht es mir darum, »Tourismus und mobile Freizeit« in ihrer Eigendynamik anzuerkennen. Dafür braucht es einerseits den unaufgeregten Blick für die kalte Wirklichkeit der globalen, total beschleunigten und inzwischen auch weitgehend digitalen und durchformatierten und im Übrigen Marktgeset178 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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zen gehorchenden Welt, andererseits braucht es ein sensibles Bewusstsein, sehenden Auges durch die Welt zu gehen, um unsere Genusssucht mit der Verletzlichkeit dieser unserer einen Welt abzugleichen. Das will ich in vier Schritten bewältigen: In einem ersten Schritt bleibe ich auf dem Boden der Fakten und skizziere im historischen Streifzug, wie der Wirtschaftsfaktor Tourismus das Reisen überholt hat. – In einem zweiten Schritt befinden wir uns im Transitraum der Widersprüche: wie können wir in der Welt, die sich ausdehnt und gleichzeitig zusammenzieht, überhaupt noch Reisende bleiben? – In einem dritten Schritt machen wir den philosophischen Abflug und nehmen den wolkenfreien Himmel der Werte ins Visier. Was ist unser Reisemotiv und wie ist der moderne Prototyp eingestellt? – In einem vierten Schritt versuchen wir eine utopische Landung in einer Landschaft, wo das Reisen neu erfunden wird und Reisen und Bleiben eins werden. Dort begreift sich der Reisende als Gast der Welt.

(1) Der Reisende Auf dem Boden Machen wir uns nichts vor: unsere globalisierte Welt folgt dem Diktat der Beschleunigung. Dem Tourismus ist es gleichgültig, ob und warum wir in Urlaub fliegen oder auf Geschäftsreise gehen – und eigentlich ist es uns selbst sogar gleichgültig: »Wir sind eben lieber Touristen als Reisende. Wir gehen weg, um dem Alltag zu entfliehen, aber wir wollen nicht der Reise wegen unterwegs sein und dabei Verzicht üben müssen an dem, was wir bereits kennen und schätzen. Das Ziel ist die Ankunft, und das bitte rasch.« (Spillmann 2013) Niemand, und auch nicht der ethischst aufgestellte Reisende, kann heute ohne den Tourismus auskommen. Selbst der Präsident von »atmosfair« musste einst die Erfahrung machen, dass, um zu einem Klima-Gipfel nach Manila zu gelangen, der Verzicht aufs Flugzeug ihn zwei Wochen Reisezeit und damit Arbeitszeit (wenn nicht gar Lebenszeit) kostete. Der Tourismus lässt auf seinem globalisierenden Siegeszug unweigerlich alle einsteigen – oder er lässt sie zurück. Alle nämlich wollen schnellstmöglich an ihr Ziel und vergessen das Unterwegs. Die »touristische Wende«, also der Beginn der Serienorganisation des Reisens, ist noch vor 1800 anzusetzen und die Entwicklung des Tourismus ist in zweierlei eine Erfolgsgeschichte: erstens steht der Tourismus in seiner Entwicklung für die Demokratisierung des 179 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Reisens, die auch das Ende der soziokulturellen Isolation und Frauenausgrenzung einläutet (vgl. z. B. Pelz 1993, Stiegler 2010, 41 ff.). Und zweitens steht der Tourismus für die drittgrößte Wirtschaftsbranche der Welt, denn »weder in der Pharma-Produktion noch in der Chemie- oder Computer-Industrie [werden] so große Umsätze erzielt und so viele Personen beschäftigt werden wie im Tourismussektor« (Hennig 1999, 9), mit steigenden Zahlen. Und das nüchterne Gesetz heißt: Markt, Wachstum. Die UNWTO’s »Tourism 2020 Vision« prognostiziert für 2020 fast 1,6 Milliarden internationale Flüge; das bedeutet allein bei 378 Millionen Fernreisen einen CO2-Ausstoß von unglaublichen 1,5 Milliarden Tonnen pro Jahr. Ob Dienstreise oder Urlaubsreise, in allen Bereichen außerhalb der »Kfz-Reichweiten« haben sich die Krakenfänge des (Flug-)Tourismus bereits festgesaugt und bestimmen Art und Preis des globalen Verkehrs. Der Zukunftsfaktor Tourismus ist die unaufhaltsame, praktische Globalisierung. Damit hat der Tourismus alle Trümpfe der mobilen Welt in der Hand, auch weil er sich immer wieder neu erfindet, vom gepflegten Agriturismo bis hin zum Ein-Euro-Fliegen. So ist aus der Kutsche der Jet und aus der Demokratisierung die Pauschalierung hervorgegangen, und der Slogan »Now everyone can fly!« (Air Asia) klingt wie das perfekte touristische Rezept. Um angesichts des Trends auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben, halte ich es auch heute noch gerne mit Hans Magnus Enzensbergers Theorie des Tourismus (Enzensberger 1971). Diese klarsichtigste Wesensbestimmung der touristischen Entwicklung nimmt den Wirtschaftsfaktor Tourismus als notwendig und gegeben hin. »Der Fortschritt des Tourismus […] läßt sich an drei Errungenschaften darstellen, deren jede für die Entwicklung einer Industrie großen Stils unentbehrlich ist: Normung, Montage, Serienfertigung« (Enzensberger 1971, 196). Damit vollzieht sich zunächst eine »Revolution« der bürgerlichen Erkundung der Welt, die tendenziell nahezu alle Bedürfnisse nach Mobilität befriedigen kann. Das Reisen als soziales Privileg der Bildungsbürger entwickelte sich sodann mit seinen Pionieren Murray (Red Book), Thomas Cook und Baedeker hin zu einer Emanzipationsbewegung (zum Beispiel im Recht auf Urlaub), aber auch zu einer pauschalierten (Reisen für alle). Für Burghart Schmidt ist der »Kategorische Voluntativ« hervorgebracht, »ein besichtigendes Nachhecheln dem, was einem die Reiseführer versprechen.« (Schmidt 2014, 12) Trotz dieser Eskalation der Mobilität (und Reisefreiheit) gäbe es 180 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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allerdings keinen Grund, so Enzensberger, den Tourismus historisch zu isolieren (Enzensberger 1971, 185) und so zu tun, als wäre er eine Fehlentwicklung, weil die Menschen seit je reisen und immer auch bedient werden wollen. Wichtiger sei anzuerkennen, dass aus einem exklusiven Privileg eine inklusive Bewegung werden konnte. Mit anderen Worten: Die genormte und serielle Ausbreitung des Reisens im Tourismus ist im Grunde nichts anderes als die zum Industrieformat hochgeschraubte Weltneugier des Menschen. Das faustische Fahrtmotiv, »tätigweites Erfahrenwollen übers Bekannte und Gewesene hinaus« (Bloch 1970, 64), ist sozusagen der Garant, denn es siegt über das Zuhausebleiben immer, zumindest statistisch. Die Konsequenz Enzensbergers gilt nicht pauschal dem Tourismus, sondern dem pauschalen Kritiker am Tourismus und letztlich der Diskrepanz zwischen Genuss und Selbstbetrug, zwischen Normung und Freiheit (vgl. Kufeld 2010, 101). Und das ist schon ziemlich philosophisch gedacht.

(2) Der Reisende im Transit Mit diesen Einsichten befinden wir uns im Transit zwischen den Welten und beginnen aber gleichzeitig zu zweifeln. Wir wollen etwas erleben und wollen schnell weg, aber wir spüren eine Grenze, die uns nicht sorglos abheben lässt. Denn die Endlosspirale der Wachstumsraten und der Beschleunigung trifft auf ein gewaltiges Veto: die Natur rebelliert, die fremden Kulturen rebellieren, die Stresshormone rebellieren – und alle gebieten sie Einhalt, und alle machen weiter. Der Tourismus ist Realität, aber der »rasende Stillstand« (Paul Virilio) auch. Und es steht nichts weniger auf dem Spiel als das Reisen. Ob wir nun in Angkor in Kambodscha, im Vallée de Mai auf den Seychellen oder in Machu Picchu in Peru sind, allzu viele waren irgendwie sichtbar schon einmal da. Trampelpfade, Müllberge, übervölkerte Küsten: das sind die Spuren der Besichtigungs-, Besteigungs- und Bevölkerungstouristen, einst mit ihrer Sehnsucht nach dem Neuen im Gepäck, heute desensibilisiert in Sachen Weltkultur, Völkerstolz und Naturwürde. Der »Homo Everestus Touristus«, der heute mit seinem katastrophalen Müllverhalten in Verbindung gebracht wird, ist nur ein Beispiel (Posch, A., In: The Ecohimal 2014). Eigentlich ist die Massengenusssucht eine Massenerlahmung, denn weder im Großen noch im Kleinen gibt es ein wirkliches Bewusstsein einer Täterschaft. (…) Die »kleinen Täter«, die wir einzeln 181 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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alle sind, wenn wir nicht »grün« reisen oder gar daheimbleiben, schieben die Schuld auf die »großen« Täter, die von Weltklimakonferenz zu Weltklimakonferenz hetzen; die »großen« Täter reagieren mit Verbotspolitik, die nur die »kleinen« Täter treffen und im Großen verpuffen. Immerhin beruhigen wir unser Gewissen, wenn wir uns Ethik-Codes ausdenken und – nostalgisch gesagt – »empfindsam« reisen (vgl. Sterne 1972), aber vielleicht schon dann nicht mehr, wenn wir uns von George Monbiot vom »Guardian« durchschaut fühlen, der da sagte: Wenn wir verhindern wollen, dass der Planet weiterkocht, müssen wir ganz einfach darauf verzichten, so schnell zu reisen, wie dies Flugzeuge erlauben. Die moralische Dissonanz ist ohrenbetäubend.

Wir begreifen sofort, um was es geht, und doch: begreifen wir überhaupt, dass es um das Überleben des Planeten geht? Muss der Tourismus auf die Hebebühne der Verkehrstauglichkeit? Und wie mitschuld sind seine Nutzer? Von derlei Zweifeln geplagt rumort unser Gewissen. Wo die ungleichzeitigen Welten kollidieren und unsere Sinne überfordern, leiden wir nämlich schon unter dem Jetlag der Epoche. Mit dem Sinnbild des dauernden Unterwegs von Transitraum zu Transitraum wird für Durs Grünbein das »Reisen ein Vorgeschmack auf die Hölle«, wo »dem Körper […] Zeit gestohlen [ist], den Augen Ruhe. Das genaue Wort verliert seinen Ort.« (Grünbein (2009, 7). Derlei Gedanken wirren dem Reisenden durch den Kopf und genau dagegen will er anarbeiten, nämlich das Horrorszenario, den Zustand unaufhörlicher emotionaler Stressbildung zu überwinden. Im Transitraum kämpfen wir an zwei Fronten. Die eine Front ist die besagte sich ausbreitende Lethargie in der entdeckten Welt, wo wir uns in einen Hedonismus hineinsteigern, um einmal Ruhe zu haben und Muße zu tun; wir nennen das Urlaub. Die andere Front ist der eigentlich nicht mehr zu ignorierende Zielkonflikt zwischen Tourismus und Reisen und berührt die Frage nach dem objektiven Zustand unserer Erde und unsere (Mit-)Verantwortung darin. Der Stress, unser »touristisches Dilemma« (Kufeld 2010, 97 ff.) dabei ist, dass wir als Nutzer und zugleich Kritiker gefangen und befangen sind. Andererseits ist der Transit nicht nur Wartehalle und Stau, sondern auch Übergang und Chance, also durchaus die Suche nach der rechten Balance zwischen Verbot und Gebot. Manches Internet-Reise182 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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büro wie lastminute.de bittet bei der Flugbuchung um freiwillige Entrichtung eines Umweltobulus (in diesem Fall an atmosfair.de), um mit dem Geld zum Ausgleich für den CO2-Ausstoß kompensatorisch Reyclingprojekte zu unterstützen. Atmosfair rechnet vor, dass man mit einer einzigen Flugreise in die Karibik mit einem CO2-Ausstoß von 4000 kg bereits deutlich über dem klimaverträglichen Jahresbudget eines Menschen von 3000 kg CO2 liege. Mit dem Obulus würde zwar nicht das Fliegen legitimiert und der entstandene Umweltschaden nicht ungeschehen gemacht, aber eine solche Abgabe sei ein Reparaturversuch und besser, als die Folgen zu ignorieren. Das klingt salomonisch, denn es ist gut fürs Gewissen, tut etwas für die Umwelt, aber die Atmosphäre wird nicht minder geschädigt. Mit jedem Flugticket tut sich eine neue, bisher nicht dem Tourismus verantwortete Rechnung auf. Den wahren Preis zahlen nicht die Fluggesellschaften, sondern – per Kostenumlage – wir Fluggäste und wir als Gesellschaft. Diese muss mit der geschädigten Umwelt und im Übrigen auch mit den sozialen Folgen, die aus der Kluft zwischen Arm und Reich resultieren, fertig werden. Mit Appellen ist es nicht getan, das wissen wir seit Kyoto, Rio und Warschau bestens. Wahrscheinlicher ist eine weitere globale Panikreaktion: Die Prognosen der UNWTO oder der BAT zeigen uns – statistisch – schon heute den absoluten Overdrive. Und es ist fraglich, ob die Prognosen hinreichend sind, denn sind allein die Tourismuspotenziale Chinas oder Indiens realistisch hochzurechnen? Sicher ist, dass die Chinesen ein äußerst reisefreudiges Volk sind (die Japaner lassen grüßen!), die sich zu Hunderten von Millionen vor den Toren der Welt drängeln und auf den Startschuss der wirklichen Öffnung Chinas warten, dem sich die Globalmacht nicht mehr lange wird verschließen können. Der Biergarten am Chinesischen Turm im Münchner Englischen Garten könnte sich allmählich für den Ansturm seiner originären Kundschaft rüsten. Das Ferne wird so nah rücken, dass das Wort des Jahrhunderts einmal heißen könnte: globale Klaustrophobie. Und genau hier, wo die Welt sich ausdehnt und sich gleichzeitig zusammenzieht (Theroux 2000b), stoßen wir an Grenzen und es stellen sich Wertefragen und sogar existentielle Fragen. Denn: sind diese hemmungslosen, menschlichen Bedürfnissen folgenden Genussmaximierungen auch gut? Wie steht es mit dem kulturellen Respekt, der Umweltverantwortung und dem globalen Konsens? Und hier, spätestens hier befinden wir uns mitten im Terrain der Philosophie. Auf diesem Gebiet wollen wir aufrichtig und unbestechlich sein und 183 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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wollen uns nicht mehr herausreden: »Alle reisen, doch niemand möchte Tourist sein. Touristen, das sind die anderen« (Hennig 1999, 13).

(3) Der Reisende beim Abflug Paradiese zu verlassen setzt voraus sie betreten zu haben (vgl. Kufeld 2005). Die Frage ist, ob es einen Sündenfall gab, ein Vergehen an ihnen. Columbus, Cook, gar Humboldt? Mit anderen Worten: ist das eingelöste Flugticket der verbotene Apfel und die auferlegte Schuld? Es könnte ja immerhin sein, dass wir das Paradies naiv für einen Urlaubsort – die Heterotopie schlechthin (Foucault 2005) – gehalten haben, dessen wir uns bedienten und uns an ihm bereicherten zum eigenen Genusse, achtlos und ohne die Demut, ohne die kein Paradies ein Paradies bleiben kann. Paradiesische Orte mit dieser Verwechslungsgefahr sind die Alpen, ist der Himalaya, ist der – so genannte – Traumstrand, ist das Naturidyll an einem einsamen See; Orte also, die unsere Erwartungen an die Natur und Neugier auf fremde Kulturen befriedigen, ohne an die Verletzungsgefahr zu denken. Diese Arglosigkeit – der Mensch ohne Kopf – ent-schuldigt uns aber nicht. Im Gegenteil, was hier vonnöten ist, ist Achtsamkeit – der Mensch mit Kopf.

3.1 Motive Die englische Sprache kompromittiert – unfreiwillig – diesen immanenten Konflikt, der das »touristische Dilemma« zum Ausdruck bringt: ein Land bereisen heißt, »to cover a country«, und es zu entdecken »decover«. Also: im selben Augenblick, da ich ein Land entdecke, bedecke ich es, mit meinen Bedürfnissen – aber lasse ich ihm dann, als Eindringling, als Fremder, auch seine Eigenheit, seinen Charme, seinen Stolz? Allein schon dieses Paradox, Ent-decker und Be-decker zugleich zu sein, wirft in einem philosophischen Sinn die Frage nach dem normativen Reisemotiv auf. Ein philosophisches Reisemotiv allerdings bleibt nicht am subjektiven, gar egoistischen Motiv haften, sondern es klärt das Interesse – und bezieht den Anderen oder das Andere ausdrücklich mit ein. (…)

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3.2 Der ideale Reisende Die Frage ist, wie ich souverän und Herr der Sache bleibe. Als Tourist bin ich das nämlich längst nicht mehr, weil Normung, Montage und Serienfertigung mich total abhängig gemacht haben. Wir finden hier in der Geschichte des Reisens eine Reihe prototypischer Dispositionen, auf die Welt zuzugehen, um von der Erfahrung an ihr nicht vereinnahmt zu werden. Für das Reisemotiv charakteristische ethische Haltungen finden sich – sogar losgelöst vom zeitgeschichtlichen Kontext – in den unterschiedlichsten Prototypen seit 2000 Jahren, von Herodot über Columbus bis Chatwin. Ich greife hier exemplarisch einige wenige heraus und beschränke mich mit Seumes »Selbstaufklärung«, Keyserlings »Empathie« und Chatwins »Zivilisationskritik« auf die klassisch-modernen Prototypen, weil wir an ihrem Beispiel auch schon die Kontrastierung zum Tourismus mitdenken können. (Vgl. Kufeld 2010, 46 ff. und 173) Bei Johann Gottfried Seume gibt es den zentralen Begriff des kosmischen Sehens. Er sagt: »Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr als wer fährt.« (Seume 2001, 8) Seume grenzt sich schon von Goethes Kutsche ab, weil erst das Gehen (Seume nannte es »Fußwandeln«), die unmittelbare Nähe des ihn unmittelbar umgebenden Kosmos, ihn zum Menschen macht: »Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.« (10). Im Spazierengehen – in seinem Fall von Leipzig bis Syrakus (2000 Kilometer) – hat er sich als Mensch noch selbst fest in der Hand. Dieser Typus des Reisenden ist ein Seher und ein im weitesten Sinne politischer, souveräner, unabhängiger und sich selbst aufklärender Mensch. Einen zweiten Prototypen finden wir in Graf Hermann Keyserling mit seinem Credo der Empathie. Keyserling, der vielleicht erste wirkliche Reisephilosoph, sah sich als eine Art »Ich-Forscher«, der zur Erkenntnis aber erst gelangt, wenn er sich in die Koordinaten der Welt zu verorten vermag. Von ihm lernen wir, dass der Umweg der wahre Weg ist im doppelten Sinne: Weg als Wagenspur und Weg als Art und Weise (Schütze 1995, 195). Ganz im Sinne komparativer Sichtweisen erweist eine Europäerseele sich am dienlichsten [zur äußeren Gestaltung des Lebens], eine indische zur Realisierung in der psychischen

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Sphäre, eine chinesische zur Konkretisierung der Idee, eine japanische zum ästhetischen Naturverständnis. (Keyserling 745)

Keyserling war in der Tat einer der ersten Reisenden, die östliches Denken in empirischer Tiefe in das europäische Denken eingebracht haben. (Keyserling, 388, vgl. auch Kufeld 1010b, 63) Keyserling übt das, was Rilke später »völlige Eingelassenheit« nennt (Rilke 1966, 522 ff.). Schließlich ist da Bruce Chatwin, dessen Reiseprosa einen zutiefst zivilisationskritischen Hintergrund hat, mal in literarischer Reiseprosa wie den Traumpfaden (Chatwin 2006, auch: Chatwin, B. / Theroux, P. 2004), mal im sozialkritischen Essay. Chatwins Antrieb ist Spurensuche, um gerade in den entferntesten Weltgegenden (und aus deren Perspektive) große Werteverluste der modernen Zivilisation zu konstatieren, wo »die Welt […] ein globales Dorf geworden [sei]« (Chatwin 1998, 109), wo ein großer Teil der Weltbevölkerung […] mehr denn je unterwegs [ist]: Touristen, Geschäftsleute, Wanderarbeiter, Aussteiger, politische Aktivisten usw. […] Doch dieser neue Internationalismus hat einen neuen Lokalpatriotismus hervorgebracht. Separatismus greift um sich. (110).

Chatwin thematisiert die »Sehnsucht zivilisierter Menschen nach einem einfachen Leben, das mit dem Leben von Nomaden und anderen ›primitiven‹ Völkern gleichgesetzt wird. (105) Er plant ein Buch mit dem Titel »Heimweg nach dem Paradies«, das er nie schreibt.

(4) Der Reisende bei der Landung Nun, voller kritischer Gedanken und guter Vorsätze, die uns die Urgroßväter der Touristen mit auf den Weg gaben, setzen wir zur Landung an. Kann es uns Aufgeklärten gelingen, das Reisen neu zu erfinden? (vgl. Kufeld 2005) Vielleicht heißt das ja, dass wir das Bleiben lernen müssen? Wir wollen genießen (was ja verweilen, bleiben heißt), gleichzeitig wollen wir Neues erfahren (was ja fortschreiten, verändern heißt), wir sind uns aber auch der Gefahren bewusst. Wir fragen uns, wie wir das Platonsche Reiseverbot und Reisegebot austarieren, um dem Transit 186 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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des Zweifels endlich eine moralisch verträgliche Richtung zu geben. Ein Dilemma im Gepäck zu haben, bedeutet noch lange nicht, sich etwas verbieten zu lassen oder gar sich selbst etwas zu verbieten. Der Philosoph denkt grundsätzlich nicht in Verboten, denn seine Ethik ist eine Gebotskultur, die bei aller Gelassenheit schon auch eine Zumutung sein darf. Umso mehr denkt der Philosoph gerne an das Golden-Mittige, wenn es gilt, Extreme auszutarieren. Schon Aristoteles’ Tugendbegriff steuert eine »Mitte zwischen den beiden falschen Weisen, die durch Übermaß und Unzulänglichkeit charakterisiert sind« (Aristoteles 1969), an. In der (heutigen) Sprache der Ethik – und mit Georg Simmels Worten – entspricht die »Mitte« dem »griechischen Ideal der Sophrosyne, der schönen Selbstbeschränkung, jenes inneren Maßhaltens, das gleichmäßig vom Zuviel und vom Zuwenig absteht.« (Simmel 1989, 91) in diesem Sinne könnten wir auch sagen, der (Pauschal-)Tourismus ist das »übertrieben Gute«, der Überfluss, die Maßlosigkeit vielleicht, die eher hedonistischen und ökonomischen als Gesetzen »sittlichen Handelns« folgt. »Mitte« meint aber nicht einfach einen »Ort« zwischen »aktivem Reisen« und »kreativer Muße«, auch nicht schon das »gute« Reisen selbst. Mitte ist sozusagen der »philosophische Ort« des Anzustrebenden, was wir mit ethischen Handlungen zu füllen und dem wir »sittlichen Geist« erst noch einzuhauchen haben. Erholung wird nicht als »Endziel«, quasi als »Erfüllung«, begriffen, »denn man gönnt sie sich um der Tätigkeit willen.« (Aristoteles 1969, 287 [1176b 27 – 1177a 16]) Die ethische Maxime könnte dann lauten: Nimm an der Welt teil und lass es dir dabei gut gehen, achte aber darauf, dass du auch zu ihrem und nicht nur deinem Nutzen beiträgst. Und so ringen wir heute auch um die Ermöglichung globaler Kommunikation ebenso sehr wie um Stolz der Kulturen, um den Naturgenuss ebenso sehr wie um die Würde der Natur. An allem ist der Tourismus mit seinem Angebot für Entdeckungen ebenso sehr beteiligt wie bei seinen Flügen und Luxusresorts. Heute ist die Welt total entdeckt und wir können alles wissen. Wir wissen sogar, dass es bald ungemütlich werden könnte auf dem Planeten, wenn wir nichts tun. Die Natur hat längst begonnen zu rebellieren und erschüttert katalytisch unser Bewusstsein. (Vgl. Luger 2008, 17–41, Luger 2014, Pfaller / Kufeld 2014) Überließen wir unser »Reiseschicksal« allein dem Marktmechanismus des Tourismus, wird aus dem Zusammenrücken ein Zwang, denn es wird enger – auch für die Privilegien. 187 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Andererseits gibt es auch ein wachsendes Naturbewusstsein, ja vielleicht sogar eine neue Demut. Denn immerhin konstatieren wir auch die kompensatorischen und verlangsamenden Gegenbewegungen, wie sie beispielsweise in den remythisierten Formen des Reisens wie dem »Urlaub auf dem Bauernhof«, dem »Agriturismo« in Italien, der Bäder- und Spa-Kultur, dem »peregrinischen« Kult-Pilgern (nach Santiago de Compostela, nach Machu Picchu oder sonst wohin) und generell dem so genannten »Nah-Reisen« zum Ausdruck kommen. (Vgl. Kufeld 2010, 175 ff., vgl. Stiegler 2010) Diese Trends, die mit einem Bewusstsein der Nachhaltigkeit einhergehen, sind zweifellos die Chance für den Tourismus. Hier ist das Terrain, wo das Reisen wieder neu erfunden werden könnte.

4.1 Gast der Welt Je mehr wir uns von der Beschleunigung der Welt mental distanzieren, desto größer die Chance für eine Reiseethik, die die Utopie nicht aus den Augen verliert, dass »Bleiben und Reisen eins sind« (Groys 2002). Der Gedanke nämlich, an einem bereisten Ort auch bleiben zu können, lässt mich den Ort mit größerer Achtsamkeit behandeln, so als würde ich ihn gar nicht wieder verlassen. Das bezieht sich auf meinen Zugang ebenso wie auf meine hinterlassene Zahnpastatube, also auf die Frage, sich auf den Ort einzulassen, anstatt ihn zu konsumieren. Ich will dies mit einer Metapher zeigen, die in nahezu jeder Reise wirksam wird und die zwischen der Entfremdung von und der Annäherung an die Welt vermitteln kann: die symbolische Rolle des Gasts. Mit Bloch wissen wir, dass in der Fremde nicht der Fremde der Fremde ist, sondern dass ich selbst der Exot bin. (Bloch 1959, 434) Die Frage der Perspektiven, wie wir auf das Fremde zugehen, ist eine Gratwanderung zwischen Verstehen und Missverstehen. Im Lateinischen bedeuten sowohl hospes als auch hostis »Fremder, Ausländer«. Interessant nun, dass sich hospes zur Bedeutung »Gast, Gastgeber« entwickelt (hospitality), während hostis zum »Feind« wird (hostility). Freundschaft und Feindschaft haben also eine gemeinsame Sprachwurzel. »Es sieht also danach aus, als sei der Fremde ein potentieller Feind.« (Waldenfels 2006, 12) Das grundsätzliche Gastsein des Reisenden bedeutet demnach, auf einer Schwelle zu sein und weder völlig drinnen, noch völlig draußen. Er ist eine Art Zwischenwelt188 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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mensch. Die Ambiguität wird zur normativen Herausforderung, da beide Seiten gefragt sind, was zu tun ist. Keiner von beiden kann nur »bei sich« bleiben, wenn er am Gast- bzw. Gastgeberstatus nicht exklusiv festhalten will. (vgl. Kufeld 2010, 125) Der Reisende bleibt »radikal fremd« (Waldenfels 2006, 7), wenn er nicht versucht, sich nicht nur vorübergehend, sondern grundsätzlich, tendenziell dauerhaft, mit dem Fremden zu arrangieren und sich entsprechend mental einzustellen. Georg Simmel bietet in diesem Spannungsbogen hier einen auch für eine Reiseethik relevanten Handlungsansatz an. In seinem »Exkurs über den Fremden« (Simmel 1992) vermittelt er im normativen Konflikt zwischen (Gast-)Freundschaft und Feindschaft. Er »entschärft« den Konflikt dahingehend, dass er Fremdsein einerseits und als Gast einer Gruppe zuzugehören andererseits nicht trennt. Simmel definiert den Fremden nicht als Wandernde[n], der heute kommt und morgen geht, sondern als [den], der heute kommt und morgen bleibt. (ebd., 764)

Der Status der »Zugehörigkeit in der Nichtzugehörigkeit« (ebd.) ergibt sich für Simmel aus der »Einheit von Nähe und Entferntheit […]: die Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, dass der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, daß der Ferne nah ist. Denn das Fremdsein ist natürlich eine ganz positive Beziehung, eine besondere Wechselwirkungsform.« (ebd., 765) Mit Simmel wissen wir schon genauer, was es mit dem Fremdenbzw. Gaststatus auf sich hat. Wichtig ist, dass wir uns des grundsätzlichen Konflikts, also des Gefahrenpotenzials, bewusst sind und sozusagen eine »Meta-Gast-Rolle« einnehmen. Aus dieser Warte treten Gastgeber und Gast in ein offenes Kommunikationsverhältnis, in dem sich die Gast- bzw. Gastgeberrolle etabliert oder in dem Feindschaft dominiert. Der Simmel’sche »Fremden«-Begriff schlägt die Brücke zwischen Toleranz (Goethe: »Dulden heißt beleidigen«) und Anerkennung und ermöglicht eine objektivierte soziologische bzw. moralische Gemengelage. Eben diese Objektivität bedeutet für Simmel Freiheit (vgl. ebd., 767), das heißt eine »Exaggerierung der spezifischen Rolle des Fremden«, in der er »der Freiere [ist], praktisch und theoretisch, er übersieht die Verhältnisse vorurteilsloser, misst sie an allgemeineren, objektiveren Idealen (…).« (ebd.) Der freie Gast nimmt keinen festen »Standpunkt« (Jaspers) ein, lässt kulturarrogan189 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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tes Denken erst gar nicht aufkommen. Erst diese Offenheit kann ein kosmopolitisches Ethos begründen. Legen wir an dieser Stelle – wie zur Probe – die Folie Tourismus auf die fremde Kultur beziehungsweise Landschaft. Wir machen dann die interessante Beobachtung, dass der geschäftstüchtige Tourismus bereits in die Rolle des Gastgebers geschlüpft ist, bevor der Fremdenstatus geklärt ist, wenn er nämlich via Angebot (Flug, Urlaubsresort) eigenmächtig seine Rolle im fremden Land besetzt beziehungsweise getauscht hat. Entsprechend »[verdrehen] Touristen das Gastrecht. Sie behandeln die Welt als eine, die ihnen selbstverständlich zu Diensten ist.« (Schütze 1995, 61) Die Vollkasko-Mentalität »genießt« das All-inclusive-Angebot. Damit wären Primärfakten geschaffen, die den Wertekonflikt zum Nebenkriegsschauplatz machen. Erst das Geschäft, dann die Werte, frei nach Brecht. Und eben diese Folie können wir mühelos auf die Landkarte Natur legen. Auch unser Bezug zur Natur, die schließlich unser Tourismus- bzw. Reiseumfeld ist, ist von unserem Fremden- bzw. Gaststatus her zu denken. Auch hier kommunizieren wir, sensibilisieren wir uns und haben Widersprüche zu lösen im Kontext der Interessen. (Vgl. Kufeld 2014, Luger 2014) Konrad Ott fordert gerade vor dem Hintergrund der weltweit voranschreitenden Politik der Nachhaltigkeit einen Gestaltwandel, der für den Tourismus sogar unter wirtschaftlichen Prämissen von Interesse sein könnte. Ott meint, dass der Tourismus an einem gedeihlichen Miteinander mit den Nationalparken ein stärkeres Interesse haben [wird] als an Dauerkonflikten. Der Tourismus sollte jenseits des ›winwin‹-Geschwafels einsehen, dass er von einem kollektiven Schutzgut profitiert, dem ein hoher Rang zukommt und das aus Steuergeldern unterhalten beziehungsweise verwaltet wird. Der Tourismus wäre zu verpflichten, in der Umgebung von Nationalparken und wohl auch von Biosphärenreservaten einen Gestaltwandel hin zu einem Naturtourismus vorzunehmen, anstatt die Denkschablonen des Massentourismus auf geschützte Landschaften zu übertragen. Ein partnerschaftliches Verhältnis zum Naturschutz setzt einen Gestaltwandel des Tourismus voraus – nicht umgekehrt! (Ott 2014, 59 f.)

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4.2 Parthenogenesis Nun sind wir längst utopisch gelandet. Der Tourismus hat uns das vorbereitete Ziel versprochen, die Reisephilosophie sagt uns dagegen, dass die Tilgung des Unterwegsseins zum Ende des Reisens führt. Urlaub ist Ankunft, Reise ist der un-endliche Neustart. Der Homo ethicus, weiß, dass er sich sein Glück zu erarbeiten hat, um dabei – wie Sisyphos – ein glücklicher Mensch zu sein. Mit ihm wird der Tugendbegriff einer zeitgemäßen, globalen, dauerhaften Prüfung unterzogen, die Balance zwischen der »Erfahrung der Welt« (Nicolas Bouvier) und der Sophrosyne, der Selbstbeschränkung, zu finden. Erst jetzt, im Tugendstand der tätigen Selbstaufklärung, hat der Reisende auch wieder zu erzählen. Wir müssen nun aber nicht alle zu Mönchen und Nonnen werden, wenn wir also Verzicht üben und doch unsere Kreise ziehen. Bleiben heißt nicht Reiseverzicht. Denn Bleiben kann ja schon heißen bescheidener zu werden, nicht alles zu erwarten, sich überraschen zu lassen, sich einzulassen statt sich auszulassen, »sesshafte Reiselust« (Cristoff 2011) zu üben statt zu übersehen. Reisen muss nicht abheben um jeden Preis. Fassen wir das epikureische Genießen nicht als allverfügbaren und damit missverstandenen Luxus auf, bedeutet es bewusstes Leben, Gebrauch der Sinne, Rücksicht auf Natur, Zurücknahme des Ichs. Und was für das Subjekt gelten kann, soll auch für das System gelten. Da wir alle auf dieser einen Welt Gast sind und die Weltbevölkerung in hundert Jahren komplett ausgetauscht sein wird, müssen wir lernen, an morgen zu denken, das Ganze so zu teilen, dass Wildnis Wildnis bleibt und dass wir nicht alles haben können. Ein nachhaltiger Tourismus kann hier schützen helfen, was zu schützen ist, indem er sein Geschäft mit der Zumutbarkeit für fremde Völker und für die Natur abgleicht. Doch das ist Aufgabe der Politik. Das Beispiel Galapagos zeigt wie das geht: »Der Tourismus schützt Galapagos, weil Galapagos den Tourismus fördert, der die Naturschutzpolitik ökonomisch rechtfertigt. Ohne Tourismus kein Naturschutz, ohne den es keinen Tourismus gäbe.« (Schütze 1995, 160) So resultierte aus einer ungebremsten Genusspolitik einerseits und einer Verbots- oder gar Tabupolitik andererseits eine Gebotskultur der Absprachen zwischen Ökonomie, Wissenschaft und Politik. Die Instrumente, seien es UNESCO oder UNWTO, sind ja immerhin schon da und warten auf Anwendung. Als unüberholbarer Romantiker gebe ich hier und nicht zuletzt 191 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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ein kleines paradigmatisches Naturerlebnis zum Besten, wie ein philosophisch innehaltendes Leben zur Gewinn bringenden Sensation werden kann, zum Beispiel, wenn wir uns ganz einfach auf die Lehrerin Natur einlassen: Auf der kleinen Seychellen-Insel La Digue gibt es einen nur dort lebenden kleinen Vogel, den »Paradies-Fliegenschnäpper«. Es gleicht einer Sensation den Vogel zu Gesicht zu bekommen. Jedoch hatte ich eine Vorstellung ihn aufzuspüren. So bin ich per Fahrrad in das Naturschutzgebiet »Vev Reserve« gefahren und platzierte mich »irgendwo« am Ufer eines kleinen Tümpels. Es genügte, sich nur fünf Minuten mäuschenstill zu verhalten und völlig regungslos dem Kommenden entgegen zu warten. Die Geduld wurde mit einem zunächst unverhofften kleinen Wunder belohnt: plötzlich fing alles um mich herum an sich zu regen; zuerst ein paar wenige, dann immer mehr und schließlich Hunderte von feuerroten kleinen Krebsen schlüpften aus ihren Löchern, die sie in den Ufersand gegraben hatten, und lugten mit ihren Stielaugen neugierig in die Luft. Die Krabben, sonst extrem scheu, fühlten sich in der vertrauten, weil regungslosen Szenerie sicher und krabbelten seitwärts sogar etwas von ihren Löchern weg. Eine derartige Naturszene kann man erleben, ja herbeiführen schon mit ein paar wenigen Minuten völligem Einswerden mit der Natur: eine Art Meditation und poetische Andacht. Am gegenüberliegenden Ufer flogen kleine Schwalben und der eine oder andere Reiher aufgeregt hin und her und fühlten sich wie das rote Krebsvolk ungestört. Eine Ahnung sagte mir, dass nun der Augenblick reif sein sollte, um den Paradiesfliegenschnäpper zu sichten. Und es kam so: zuerst sah ich lediglich ein längliches schwarzes Etwas durch die Büsche schwirren, bis dieses Etwas sich auf einen Baum setzte. Die Sensation war perfekt: es war der gesuchte kleine Vogel. Er war deutlich zu erkennen an seinem Gefieder mit einem feinen schwarzblauen Glanz und an seinem auffälligen Schwanz mit seinen langen, eleganten Federn, die für perfekte Flugbalance sorgen. Als stiller, scheinbar gar nicht anwesender Beobachter hatte ich das intensive Erlebnis der Berührung einer Idylle, von unverfälschter, harmonischer Natur. Derartige Teilnahme ist das Ergebnis äußerster Geduld und Konzentration und völliger Zurücknahme der Person. Die Natur hat, nimmt man so intensiv an ihr teil, etwas Unberührbares. – O wunderbares Land! (Kufeld 2005, 32)

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Dass die Natur, nimmt man intensiv an ihr teil, etwas Unberührbares habe, heißt, dass das Utopische als das scheinbar Unmögliche gelungen ist, nämlich das betretene Paradies zugleich verlassen zu haben: die Krebse und der Vogel haben mich nicht wahrgenommen; ich war da – für mich, aber ich war zugleich nicht da – für sie. Das gleiche Bild können wir bemühen, wenn wir uns auf Galapagos, am Titicacasee befinden und wenn wir den Everest besteigen. Wir können es so tun, als seien wir nicht da gewesen. Wir tun es, um der Erdkugel ihre Monotonie zu nehmen.

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Die Natur macht alle gleich Reflexionen zur Ethik des Reisens Essay, geschrieben für die Süddeutsche Zeitung (2005)

[Mit dem Seebeben im südostasiatischen Raum ist der Begriff des »Tsunami« in unseren Wortschatz gekommen. Seither steht das Wort für von Menschen nicht verschuldete Naturkatastrophen – und dafür, dass uns die Natur nicht gehört. Nichts war an der Westküste Thailand mehr so, wie es einmal war. Josef Haslinger erzählte mir später – als Bestätigung – von seinen persönlichen Erfahrungen auf Koh Phi Phi, als er in die Flutwelle geriet. Meist sind es katalytische Anschübe dieser Art, die auch den Tourismus und damit die Idyllen seiner Urlauber hart treffen, der dann als Geschäftsmodell hinterfragt wird. Und bringen sie zur Besinnung? Können wir daraus eine Ethik für das Reisen entwickeln? Anhand zweier Aufsätze für die Süddeutsche Zeitung werfe ich ein Schlaglicht auf die Reisekultur. Können wir das herkömmliche touristische Reisen als Utopie aufrechterhalten?]

I. Das Seebeben von Asien wird auch für das Reisen Konsequenzen haben. Die Zerstörungswelle hat entlang der Küsten von Thailand, Sumatra, Sri Lanka, Indien und Myanmar Tausende Quadratkilometer unbewohnbar und damit auch unbereisbar gemacht. Die Berichte über Tote und Verletzte in den betroffenen Gebieten lesen sich wie ein Countdown des Horrors. Kennern war schon früh klar, dass die Zahlen in den sechsstelligen Bereich steigen würden. Denn es lag auf der Hand, dass sich die ersten Berechnungen auf die »registrierten« Ausländer stützten, das heißt in aller Regel auf die Pauschaltouristen. Dem entsprechend mussten die Zahlen bei den nicht registrierten Betroffenen Spekulation bleiben: Niemand konnte sagen, wie viele von den Individualtouristen, geschweige denn von den unzähligen No-Names in der Bevölkerung, also den Ärmsten der Armen, den 196 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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vielen »fliegenden Händlern« und den einfachen Hüttenbewohnern in den Küstenregionen, unter den Opfern waren, welche nicht zuletzt, wenn auch sehr bescheiden, vom Tourismus leben. Es war aber kein Zufall, dass sich die Berichterstattung aus dem vergleichsweise hoch entwickelten Thailand auf Phuket beziehungsweise Khao Lak konzentrierte. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass die mit harter Währung erkaufte Strandnähe, ein Privileg begüterter westlicher Touristen, zur Todesfalle wurde. Das Muster der Reportagen lieferte demnach ein treffliches Abbild der wirtschaftlichen Herrschaftsverhältnisse in den einzelnen Ländern, indem es zunächst nur einen winzigen Ausschnitt des Gesamtdramas reflektierte. Von der Ostküste Indiens südlich von Madras wurde kaum Notiz genommen; kaum ein Bericht von der Küstenregion nahe Phuket um Krabi, wo in der Regel kaum Pauschaltouristen hinkommen; kaum ein Bericht von den Andamanen und Nikobaren, Inseln, die, da in direkter Nähe des Epizentrums, vermutlich am stärksten betroffen waren; kaum ein Bericht aus Myanmar (dem früheren Burma). Myanmar mit seinen liebenswerten Menschen hätte, da es zudem unter einer Militärdiktatur leidet, wie kein anderes Land die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit gebrauchen können. Die Ausmaße der Flut südlich von Yangon müssen schrecklich sein, wenn man bedenkt, dass die Region näher am Epizentrum des Bebens liegt als etwa Sri Lanka. Vereint im Unglück Andererseits schienen sich in der Katastrophe die ethnischen, religiösen und ideologischen Schranken des gesellschaftlichen Status’ zu relativieren. Tamilen und Singhalesen in Sri Lanka, Brahmanen und »Unberührbare« in Indien, Muslime und Christen in Sumatra, Pauschaltouristen und Traveller in Thailand fanden im Unglück zueinander. Die Ambitionen der Tamil-Tigers, die sich im Osten und Norden von Sri Lanka seit Jahrzehnten auf den Bürgerkrieg mit der singhalesischen Regierung eingerichtet hatten, traten zum Teil ebenso in den Hintergrund wie die der Partisanen in Banda Aceh im Norden Sumatras. Die Flut, die zunächst alles dem Erdboden gleichgemacht hat, bereitete den Boden für ein friedliches Zusammenleben. Die Natur machte für kurze Zeit alle Menschen gleich. Schlagartig ist bewusst geworden, dass wir nur diese eine Erde haben. Die blanke Existenzangst zeigte die wahre Dimension des Menschseins und führte zu mancher bis dahin undenkbaren humanitären Aktion. Das biblische Ausmaß des Seebebens gleicht einer Apokalypse, einer Offenbarung der wirklichen Werte unseres Zusammenlebens auf der Erde. Die 197 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Konsequenzen daraus sollten sich nicht nur auf die unmittelbare Hilfe für die Menschen in den betroffenen Ländern und deren Wiederaufbau richten. Auch unsere »westliche Philosophie« des Reisens muss überdacht werden. Kein Mensch sollte, zumal wenn er Gast in einem Land ist, Natur und Kultur einzig als schönes, gut klimatisiertes Dekor benutzen. In Koh Phi-Phi beispielsweise sah sich die Insel in ihrer Schönheit schon lange vor dem Beben von den ausschließlich von Touristen verursachten Müllbergen und einem eklatanten Wassermangel beeinträchtigt. Wir haben wieder zu lernen, mit der Natur zu leben, das heißt, das Primat der Natur anzuerkennen. Im Feindesland Naturkatastrophen können vom Menschen weder beeinflusst noch überwältigt werden. Und doch reißen uns gerade die Urgewalten der Natur regelmäßig aus dem Verdrängungsschlaf der globalen High-Tech-Welt und zwingen uns zum Nachdenken. Der Philosoph Ernst Bloch hat das vor 30 Jahren so auf den Punkt gebracht: »Wir haben eine heimatlose Qualität in der gesamten Naturwissenschaft und in der durch sie erschlossenen Natur. Wir können es nicht haben, dass wir in der Natur stehen wie in einem Feindesland, dass wir von Ausbeutung der Naturkräfte sprechen – Kommunisten haben von Ausbeutung der Natur gesprochen, es steht in der Bibel im ersten Kapitel (›Machet euch die Erde untertan‹) –: reiner Imperialismus. Gibt es hier ein freundliches Verhältnis statt diesen grauenhaften abstrakten Gegensatz, der immer größer wird, je roher man in die Natur hineingreift und Unfug mit ihr treibt …« (Ernst Bloch im Gespräch mit Gottfried Kirchner, TV-Interview, ZDF 3. 7. 1975). Es gilt allerdings grundsätzlich zu unterscheiden zwischen dem »erdgeologischen Alltag« (Frank Schätzing in: Die Zeit, 30. 12. 2004), demgemäß die Verschiebung der Kontinentalplatten regelmäßig »passiert« mit mehr oder weniger großen Auswirkungen für Natur und Mensch einerseits und den selbst gemachten Problemen andererseits, die wir Menschen an der Oberfläche und Atmosphäre des Planeten anstellen – mit den langfristig selbstzerstörerischen Folgen. Wie wir Menschen mit der Natur umgehen beziehungsweise umzugehen vermögen, mag ein Beispiel verdeutlichen. Von den Bewohnern der Andamanen-Inseln, die wie gesagt in direkter Nähe zum Epizentrum des Seebebens liegen, kamen wider Erwarten nur wenige zu Schaden. Viele von ihnen hatten das Erdbeben nämlich vorausgesehen oder, besser gesagt, voraus gespürt. Viele Stunden vor dem Beben hoben die Vögel zu kreischen an und die Tiere nervös auf der Stelle zu hüpfen. Die Tiere nahmen rechtzeitig die Witterung auf und 198 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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gaben den Inselbewohnern genau den Vorsprung, der nötig war, um sich in Sicherheit zu bringen. Sie flohen auf Bäume oder auf Anhöhen. Heute weiß man, dass jede Stunde, ja Minute Rettung bedeuten konnte. Auf den Andamanen gab es übrigens so gut wie keine Touristen. Das Beispiel zeigt uns den desaströsen »Kulturmangel«, der darin besteht, dass der so genannte zivilisierte Mensch in heutiger Zeit ohne Kenntnis und ohne das Bewusstsein der Natur aufwächst. Im Unterbewusstsein der hoch entwickelten Kulturen halten die Menschen die Natur für etwas Objekthaftes, ja etwas Beherrschbares. Sie sind nicht mehr und fühlen sich nicht mehr eins mit der Natur. Sie wissen nicht, dass es nicht sein kann, dass das Wasser »unter Ebbe« zurück geht; sie wissen nicht, dass »gelbe« Wolken Hagelstürme befürchten lassen; sie wissen nicht, dass Tiere eben »zu tanzen« beginnen, wenn sich auch nur das kleinste Erdbeben in der Nähe andeutet. Tiere als Seismographen, seien es Hunde oder Fische! Die Katastrophenprävention, die nun von der UNO geplant wird, konzentriert sich offenbar wieder nur auf technische Methoden. Die zweifellos sinnvollen und unverzichtbaren technischen Frühwarnsysteme werden jedoch nicht das mangelnde Bewusstsein der Menschen für Warnsignale aus der Natur ersetzen können. Bewusstsein kommt bekanntlich von Wissen. Eine intakte Technik ist selbst nur ein Hilfsmittel, das Verhalten und das Denken der Menschen werden dadurch noch nicht »mitgenommen«. Worum es nun eigentlich ginge, wäre eine den Menschen nicht entfremdete Politik und die »Mitnahme« der Menschen durch Aufklärung, Bildung, sozial orientierte humanitäre Maßnahmen und eine weltweit neue Verteilung des Reichtums. Das Seebeben in Asien hat etwas schauderhaft Enthüllendes. Es betrifft auch das Verhältnis des modernen westlichen Menschen zur Natur – und zwar nicht nur in einem geistig-philosophischen, sondern durchaus pragmatischen Sinne. Wer je in Phuket war, weiß, dass die Urlaubsparadiese dort längst zu eindimensionalen HollywoodKulissen verkommen sind. Der typische Phuket-Urlauber sieht sich erwartbar und mehr oder weniger bewusst mit einer unreinlichen Mischung aus Genusssucht und billigem Sextourismus konfrontiert, die sich in der Regel als Ignoranz der liberalen Kultur Thailands darstellt. Anstatt das Land zu bereisen und wirklich kennen zu lernen, wird heute fast jede Einzelheit bereits im Reisebüro festgelegt beziehungsweise pauschal geplant. Kaum zur Reise aufgebrochen, hat man sich am Zielort bereits eingerichtet. Die Reisebranche ist zu einem riesigen Wirtschaftsfaktor zur Eroberung immer neuer Kul199 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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tur- und Naturräume ausgewachsen. Seine popularisierte Variante, der Pauschaltourismus, ist vielfach maßgeschneidert und lässt von vornherein kaum noch Spielräume für individuelle, selbstbestimmte Wege. Die touristischen Räume sind maximal vermarktet, Reiseziele perfekte Klischees, das Angebot am Ort hebt auf Event- und Animationskultur ab und setzt auf den falschen Zauber hedonistischen Genießens: Sonne, Faulsein, Paradies. Zweckorientiert eingeflogen. Von Land und Leuten bisweilen keine Spur, obwohl oft bereits 100 Meter hinter den Vergnügungsarealen das wahre Thailand beginnt. Der Pauschaltourist wird zweckorientiert eingeflogen und überfliegt zugleich die Landschaften. Der Hochglanz-Prospekt diktiert die Wunschwelten: die ideal gewachsene Palme vor türkisblauem Meer, die farbenprächtige Tracht, den heimeligen Bungalow, den All-inclusiveService. Viele Ferienanlagen sind als Raubbau an der Natur und der Kultur der Menschen eigens für den Pauschaltourismus hingesetzt worden, nach dem perfekten Strickmuster der Highlife-Spaßkultur. Resorts in Thailand gleichen denen von Bali oder Jamaica; sie sind sorgsam vom Alltag der Länder abgetrennt und werden so zum Ausland im Inland. Inzwischen scheint es einerlei, ob man sich in einem sozialistisch regierten Land wie Kuba befindet oder auf der von hinduistischer Kultur geprägten Insel Bali: die Strände von Varadero und Kuta gleichen sich wie auch das Angebot dort und richten sich an den »global user«. Urlaub ist Genießen und Erholen; Reisen ist Entdecken und Einfühlen. Beides miteinander zu verbinden, heißt nicht, dass Urlaub Stress bedeuten muss. Es hat allenfalls zur Folge, dass man sich vorbereitet auf ein fremdes Land mit seiner Sprache, seiner Kultur und – seiner Natur mit all den Hochgenüssen, aber auch mit seinen Risiken. Die Reisenden von morgen, ob sie aus Japan oder den USA stammen, sollten das Reisen nicht dahingehend globalisieren, dass sie den Ballermann-»Geist« von Mallorca in alle Welt verpflanzen, sich und ihre Genusssucht den Menschen am Ort aufdrängen und ihr Urlaubsziel bis zur Unkenntlichkeit verändern. Das die Menschen in der Katastrophe von Südasien Vereinigende ist eine große Chance, die nicht vertan werden darf. Die Menschen müssen sich öffnen und bereit sein für notwendige Veränderungen. Die Sentenz Hölderlins »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch« kann man ruhig wörtlich nehmen. Es wäre ein großer Fehler, die vielen humanitären Aktionen auf punktuelle Maßnahmen zu beschränken oder allein »den Anderen« 200 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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zu überlassen. Das Rettende darf sich nicht in spontanen Hilfsaktionen erschöpfen, es kann nur die nachhaltige Unterstützung sein. Dabei gehört es auch zur Verantwortung der Touristen, den (im doppelten Sinn) heimgesuchten Ländern treu zu bleiben. Es gilt, den Vermeidungseffekt zu überwinden, der schon bei den Überfällen in Luxor, bei den Entführungen in Algerien oder Kolumbien oder jetzt eben bei der Katastrophe in Südasien ausgelöst worden ist. Khao Lak steht nicht allein für Thailand mit seiner immensen Natur- und kulturellen Vielfalt. Den betroffenen Ländern ist vor allem wirtschaftlich nicht geholfen, wenn wir sie zu Reisewüsten verkommen lassen. Freilich verlangt dies ein Mehr an Eindenken und Selbstaufklärung, das auch den Aspekt des richtigen Verhaltens im fremden Land einschließt. Insofern wären alle Reisenden, nicht nur die vom Unglück betroffenen, gut beraten, über ihre Ethik des Reisens nachzudenken. Es kann nicht im Interesse der nachfolgenden Generationen sein, dass wir eine Welt hinterlassen, in der Zerstörung zu Selbstzerstörung mutiert. Die Natur-Zeitbombe tickt schon lang genug.

II. Wenn man sich heute nach dem Tsunami in Kao Lak umsieht, ist man zuerst einmal erstaunt über die umtriebige Gelassenheit. Ein halbes Jahr nach dem verheerenden Tsunami-Seebeben zeigt die Region etwa 80 Kilometer nördlich der Ferieninsel Phuket ein verändertes Gesicht. Der Schock nach der großen Welle hat sich gelegt, Katastrophenstimmung herrscht dort nicht mehr. Während die Provinz Phang-Nga vor dem 26. Dezember insgesamt betrachtet eher ärmlich daherkam und nur von wenigen touristischen Farbtupfern, den Urlaubsresorts, aufgemuntert schien, scheint heute dort einiges in Bewegung gekommen. So auch Dim, ein junger Thai, der sich aufs Züchten von Kautschuk-Pflanzen verlegt hat. Er zeigt mir seinen kleinen Bestand und erklärt mit einigem Stolz, dass dieser Lebensunterhalt noch vor dem Tsunami gerade in dieser Gegend undenkbar gewesen wäre. Wie zum Beweis deutete er auf eine unweit gelegene, in letzter Zeit entstandene kleine Fabrik zur Züchtung von Krabben und anderem Meeresgetier. Früher habe er in einem Hotel an der Karon-Beach gearbeitet, als aber die Touristen ausblieben, habe er sich, wie viele andere auch, nach anderen Erwerbsmöglichkeiten umgesehen – zunächst ohne Er201 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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folg. Schließlich habe er wie viele junge Thais einfach in Kao Lak mit angepackt und beim Wegräumen von Schutt geholfen. Dieses Mitanpacken habe sich binnen kürzester Zeit geradezu zu einer Bewegung in der gesamten Küstenprovinz auf einer Länge von immerhin fast 200 Kilometern entwickelt. Nebenbei bemerkte Dim, dass sich auch sein Englisch, worin sich Thais in der Regel recht schwer tun, merklich gebessert habe. Schließlich, Zufall oder nicht, hätte sich ihm die Möglichkeit der Pflanzenzucht eröffnet. Sein Leben gestaltet sich – nach unseren westlichen Vorstellungen – deshalb noch nicht üppig (seine Zigaretten dreht er immer noch selbst mit einem einfachen Schilfrohr), aber es ist eine kleine Existenz mit Sinn und Ertrag, mit der er Frau und Kindern ein gutes Leben versprechen kann.

Kao Lak und die Wende Die kleine Geschichte spricht für die Stimmung im Katastrophenland. Sie hat in der Tat umgeschlagen, wenn auch auf zwei völlig konträren Ebenen. Diejenigen, die beim Aufbau der geschädigten Küstenstreifen mitarbeiten, geben der griechischen Bedeutung des Wortes Katastrophe, was nämlich Umkehr/Wende bedeutet, ihre wahre Bedeutung. Der Sinnspruch »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch« (Hölderlin) schlägt sich in seit Monaten auf Hochtouren laufenden zahlreichen Projekten internationaler Zusammenarbeit nieder. Wie nachhaltig die Folgen sind und die Hilfsmaßnahmen auch sein müssen, zeigt zum Beispiel das Kinderprojekt, bei dem World Vision of Thailand, Terre des Hommes Italia und Echo, Humanitarian Aid, der Europäischen Union zusammenwirken. Sie haben ein kleines Notkinderdorf aufgebaut, um besonders Tsunami-bedingten Waisenkindern Unterkunft, Essen und ein wenig Zeitvertreib zu bieten. Das Leben dort ist zwar von einer verständlich gedrückten Stimmung geprägt; viele Kinder können gar nicht begreifen, was eigentlich passiert ist, die kleineren von ihnen passen sich dem Leben einfach an, kennen es vielleicht nicht anders. Der Tsunami ist Teil ihrer Kindheit geworden. Das Leben geht aber weiter, weil es weitergehen muss.

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Phuket: Flucht nach vorn Anders sieht die »Wende« in Phuket aus, dort, wo der Tsunami zwar auch gewütet hat, aber mit viel weniger dramatischen Folgen. Man hat sich trotz »Low Season« schnell wieder auf den allgemeinen Trubel eingelassen. Natürlich strömen die Massen nun eher ins geradezu übervölkerte Koh Samui, wo sich eine Katastrophe anderer Art anzubahnen droht, aber was kümmert das den, der seinen Urlaubsanspruch auf Teufel komm raus geltend macht. Jedenfalls ist in Phuket längst wieder auf das normale Unterhaltungsprogramm umgeschaltet, welches die Insel schon einst berühmt-berüchtigt hat werden lassen. Nur noch bemitleidenswert ist das extreme Überangebot an so genannten Ladies und Ladyboys, die ihr Schicksal an den Verkauf ihrer Seelen geknüpft haben. Die Erfahrung des Tsunami lässt die Welle der Frustration höher schlagen denn je, weil sich die Prostitution für die meisten bitter als Einbahnstraße erweist. Ansonsten fließt das Singha-Bier in Strömen, um Schmerz und Verlust im wahrsten Sinne des Wortes hinunterzuspülen. Ein fliegender Händler verkauft Gummimasken mit den Konterfeis von Che, Bush und Hitler. Ein völlig »Verirrter«, über und über (das Gesicht eingeschlossen) mit Tätowierungen aus-gezeichnet, erwirbt im Suff eine HitlerMaske; es ist dazu noch ein Deutscher, der im Unterschied zum Verkäufer eigentlich wissen müsste, was er tut. Ein paar Meter weiter machen taubstumme Thais mit aufwändig gestalteten Fotobüchern zu irrwitzigen Preisen ihre Geschäfte mit den Horrorszenen am Tage des Tsunami und brüsten sich, dem sensationellen Grauen ein Gesicht gegeben zu haben. Immerhin wären derartige »Souvenirs« etwas zum Nachdenken. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist die Dokumentation des Grauens an die Mitgefühle für die Taubstummen gekoppelt und pure Kalkulation ihrer Auftraggeber. An den meisten Küstenstreifen entlang der Westküste ist es jedoch merklich ruhiger geworden. In Karon, Kata und Nai Harn berichtet man über hohe Wasserstände im Bereich Beach-naher Restaurants, man trifft aber auch erstaunlich viele Einheimische, die mit dem Ort Kao Lak nichts verbinden und sich auch kein eigenes Bild verschafft, geschweige denn geholfen zu haben. Man schaut auf seinen eigenen Vorteil. Immerhin gibt es in Karon umfangreiche Arbeiten zwischen Strand und Küstenstraße, sozusagen als vorbeugende Maßnahmen. Man hat dort immerhin gelernt, dass man sich künftig mit Hilfsdämmen oder Betonmauern zu schützen weiß. Der gewohn203 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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ten Strand-Ästhetik wird dies allerdings durchaus schaden. Kein Vergleich aber zu den Küsten auf dem Festland nördlich der Insel. Dort, wo es die Menschen am härtesten getroffen hat, herrscht ein Zustand »under construction«. An vielen Orten werden unmittelbar an der Flutgrenze von Baggern tiefe Gräben ausgehoben, um stabile Begrenzungen gegen befürchtete weitere Flutwellen einzubauen. Was nie ein Badeort war, kann dann auch nie mehr einer werden, für die einfachen Bewohner dort ist das kein Verlust. Sie freuen sich vielmehr, dass überhaupt und zum ersten Mal etwas für das arme Gebiet getan wird. Man muss sich nämlich das, was in der Presse um die Jahreswende als Kao Lak bekannt wurde, auf einer fiktiven Reiselandkarte so vorstellen, dass ökonomisch wirklich nur das unmittelbare Umfeld der Resorts prosperierte und keinesfalls etwa der Distrikt insgesamt. Die durch das Unglück bedingte – und das heißt erzwungene – Wende lässt dies nun anders erscheinen, denn die umfangreichen (Wieder-)Aufbauarbeiten schaffen schlicht Arbeitsplätze und bringen womöglich die gesamte Gegend auf Vordermann.

Die Idylle als geologische Falle In der Tat ist eine breit angelegte Küstensanierung auch mehr als erforderlich. Die tiefen Spuren der großen Welle sind unübersehbar. Je flacher die Gelände, desto tiefer drangen die Flutwellen bis auf einen Kilometer ins Landesinnere ein. Die Gewalt der Wasserströme muss so gewaltig gewesen sein, dass sich das Meer im Landesinneren geradezu eigene »Fluss«-Läufe gebahnt, Brücken abgerissen, Straßen zerstört und künstliche Salzwasser-Seen hinterlassen hat. Die Vegetation dort ist natürlich nachhaltig geschädigt, denn keine Pflanze verträgt zu hohen Salzgehalt, um weiter gedeihen zu können. Was dort landwirtschaftlich zu wachsen hatte, ist ökologisch nicht mehr vertretbar. Dort aber, wo sich nicht weit vom Meer entfernt die Berge auftürmen, dort hatten sich die exklusiven Resorts eingenistet, die es bekanntlich am härtesten traf. Der gewaltige Tsunami-Effekt wirkte dort doppelt, denn notgedrungen – wenn auch nicht ohne Absicht – waren die Hotels ganz nahe ans Wasser gebaut, was natürlich die verheerendste Wirkung zeitigte. Doch damit nicht genug: Die Riesenwelle schwappte vom Berg zurück und überrollte die überraschten Opfer unausweichlich ein zweites Mal. Die Chance, diesem Inferno zu entrinnen, muss in 204 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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der Tat gering gewesen sein. Natürlich ist man besonders dort bemüht, wieder zum Normalzustand zurück zu finden und alles entsprechend wiederherzurichten. Doch die Strandidylle, die vornehmlich bei Schweden und Finnen beliebt war (warum eigentlich?) ist seither wie von einem Fluch behaftet. Denn wer möchte es sich in Zukunft schon an einem Urlaubsort einrichten, dessen Lage eine geologische Falle ist. Da scheint kein Kraut dagegen zu wachsen. Dort hat die »Umkehr« keine Zukunft, außer im Bewusstsein der Menschen, der Veranstalter wie auch der Reisenden. Insofern hat die eingefahrene Tourismuskultur langfristig Schaden genommen.

Hat die Umkehr eine Zukunft? Man ist an Goethe erinnert, nach dem die Natur zwar »keine Sprache noch Rede hat, aber Zungen und Herzen schafft, durch die sie fühlt und spricht«, auch wenn ihr Inhalt manchmal grausig ausfällt. Die Katastrophen scheinen passieren zu müssen oder – wie Jürgen Habermas das ausgedrückt hat: »Erst ein Erdbeben macht uns darauf aufmerksam, daß wir den Boden, auf dem wir täglich stehen und gehen, für unerschütterlich gehalten hatten«. Erst die Krise erzeugt Bewusstsein, wenigsten das Wissen darüber. Da man heute beobachten kann, dass man schnell wieder zur Tagesordnung übergeht, was im übrigen auch notwendig ist, muss man immer wieder auf die Schattenseite hinweisen. Wenn in der Umkehr kein Fortschrittsgehalt erkennbar wird, haben wir nichts gelernt. Die Urlauber und Reisenden sind hier durchaus mit in der Verantwortung, denn: auch sie können in Gespräch und Tat mithelfen, Bewusststein zu erzeugen, nämlich dafür, dass kein Preis zu hoch sein darf, um seine egoistischen Träume ungehindert auszuleben. Und wenn es nur das Bewusstsein ist, dass »der Strand« nicht alles ist, was Urlaub bieten kann. In unmittelbarer Nähe zum Gebiet um Kao Lak liegt beispielsweise der berühmte Phang Na-Nationalpark mit seiner kaum zu überbietenden Naturschönheit. Mag manche auch nur der dort gedrehte James Bond-Film anziehen, hinzugehen, letzten Endes tut sich dort eine unvergleichliche, vielleicht an die Amazonas-Mäander erinnernde Naturidylle auf, die völlig bezaubert. Dieses Stück Regenwald ist von der Katastrophe verschont. Aus Sicht der Reisekultur muss man nur feststellen, dass das nahe gelegene Kao Lak auf lange Sicht als Anlaufpunkt für Touren 205 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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und somit als Ergänzung ausfällt. Nun kann man sich sozusagen wieder exklusiv in den Nationalpark zu begeben. Mit Sicherheit tut es der von Lärm und High-Life gebeutelten Region um Phuket einmal ganz gut, dass Ruhe und ein wenig Besinnung eingekehrt sind. Wenn die Menschen es nicht mehr schaffen, sich in ihrem Wachstumswahn zu begrenzen, schwingt eben die Natur die große Keule und mahnt alle zur Ein-Sicht.

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Religion

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»Die Hoffnung ist kühn« Wie utopiefähig ist das Christentum? Vortrag auf der Tagung »Utopia. Religion – Macht – Gesellschaft« der Schader-Stiftung, Darmstadt (2016)

Was hat der Philosoph dem Theologen, der Theologe dem Philosophen zu sagen, wenn es um die Hoffnung geht, als den in die Zukunft gerichteten Erwartungsaffekt, der zur Utopie werden kann? Einer Antwort näher zu kommen, beginne ich einmal so: Die Welt der Religionen ist diversiv. Hinduiten glauben an 300.000 Götter, Christen oder Muslime oder Juden an einen einzigen. An dieser Stelle werden wir auf der Welt kein Einverständnis finden. Wie sonst als in einem Wertediskurs können wir zusammenfinden. Jedenfalls nicht im entgrenzten Jenseitigen, das einer beliebigen Auslegung und Interpretation ausgeliefert ist und zunehmend für die Menschheit gefährliche Auswirkungen hat, sondern im Diesseitigen. Außerdem leben wir unter »ungleichzeitigen Bedingungen«: während für das Christentum die mittelalterlichen Kreuzzüge oder die Inquisition mit ihren inhumanen Auswucherungen erlegte Geschichte ist, sprengen heute, in der Neuzeit, im Namen des Islam Selbstmordattentäter im »heiligen Krieg« mit Nicht-Gläubigen (und nicht mit AndersGläubigen) sich selbst und Unschuldige in den Tod – und alles »in Gottes Namen«. Allein deshalb gäbe es gute Gründe, die Religion zu entmythologisieren und letztlich zu entprivatisieren, um die Gottesfrage in das Menschenreich zurückzuholen. Vielleicht hilft uns dabei, uns zu besinnen, was Ludwig Feuerbach gesagt hat, nämlich dass das Geheimnis der Theologie die Anthropologie sei, weil theologische Sätze das Wesen des Menschen einbeziehen. 1 Das wäre dann auch die Praxis der sogenannten »Natürlichen Theologie«, wo Theologie und Wissenschaft, Gott und Vernunft sich vereinbaren könnten. 2 Und diese Geschichte ist, wie wir wissen, älter als das Christentum und geht, wenn Sie so wollen, bis auf die Vorsokratiker wie Xenophanes oder Anaxagoras bis Platon zurück, auf die »Eudaimonia«, das Glück auf Erden, und schließlich auf die auf Gott basierende Frage der Ethik. Worin also besteht die Utopie? Und die Utopiefähigkeit? Bedeu209 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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tet eine Fähigkeit zu haben – also nicht nur glauben zu müssen! – nicht allein schon, dass wir uns von menschenferner Transzendenz zu lösen hätten?

Utopie Kann Transzendieren allein auf das Göttliche bezogen sein? Nicht nur auf die Religion bezogen hat Ernst Bloch die Utopie als »ein Transzendieren ohne Transzendenz« 3 bezeichnet. Es bedeutet Re-ligio als Rückbindung des Transzendenten auf das Wesenhaft-Menschliche, vom Jenseitigen zum Diesseitigen, eine Begegnung mit Gott in der Selbstfindung, auf ein Heimfinden. Das macht »Hoffen ohne Glauben« 4 möglich, ohne Gott zu leugnen. Blochs religionsphilosophisches Verständnis von Utopie gibt sich in weiten Teilen als »ExodusLosung«: das Auszugsmotiv steht für die Kritik an der »von Himmel und Obrigkeit verhängten Religion«, um »unzufriedene, selbstschöpferische Antizipation«. 5 Die Auszugsfiguren par excellence, die dieses utopische Format tragen, sind Moses, Hiob und Jesus von Nazareth. »Aus den mythischen Figuren«, kommentiert Jürgen Moltmann, »der uralten Religion werden seit Buddha und Moses immer deutlicher erkennbar historische Menschen. Moses und Jesus tragen ein Gesicht und ihre Geschichten haben einen harten historischen Kern. Sie weisen nicht auf eine jenseitige Erlösung nur hin, sondern sind selbst Retter und Erlöser, denn ihre eigene religiöse Erfahrung wird zur Rettung des Volkes. Sie besteht im Transzendieren.« 6 Moses zieht aus Ägypten aus, um die Israeliten zu befreien, und er tut es hadernd und im Streit mit dem kleinen eifersüchtigen Berggott Jahwe. Sein Glaube bewährt sich am Hoffen und dieses ist der Befreiungsimpuls: »Moses zwingt den Gott, mit ihm zu gehen, macht ihn zum Exoduslicht eines Volks.« 7 Hiob ist der Rebell, der murrend, aber fromm sich Gerechtigkeit erkämpft. Dieser, wie Bloch sagt, »Gotteshader« erkämpft sich gar einen »Exodus aus Jahwe selbst«. 8 Schließlich die Figur des Jesus und mit ihm der »Christus-Impuls«, der die Religion endgültig entmythologisiert. Bloch beeindruckt die Unschuld und Schüchternheit und »Zartheit seiner Hybris« Jesus’: zuerst das hilflose Kind, dann der fest bleibende Widersacher gegen die herrschende Klasse. Ein Mensch übernimmt die Rolle Gottes. Für Bloch ist das nicht einzig und allein auf diesen 210 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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einen Menschen bezogen, sondern, messianisch angestachelt, eben im humanen Pathos auf alle Menschen. 9 In den Worten Blochs: Jesus ist genau gegen die Herrenmacht das Zeichen, das widerspricht, und genau diesem Zeichen wurde von der Welt mit dem Galgen widersprochen: das Kreuz ist die Antwort der Welt auf die christliche Liebe. 10

Was in Jesus von Nazareth, dem »einzigen zweifelsfrei guten Mensch«, offenbar wird, nennt Bloch schon in »Geist der Utopie« das Gute als Saatkorn, als Lebensprinzip des Geistes, die Kunde von der möglichen Erlösung durch Dienen untereinander, durch Hingebung zum Anderen Werden, sich selbst Erfüllen mit Liebe als dem Geist der Versammlung und der universalsten Selbstbegegnung. 11

Für Moltmann »lehrt Jesu Bergpredigt eine Adventmoral der kommenden Neuen Welt Gottes und passt darum in keine geschichtliche Gesellschaft. (…). Das (…) heißt, dass mit Jesus jenes Wort oder jene Weisheit erschienen ist, die vor der alten Schöpfung bei Gott war, um jetzt eine neue Schöpfung aufzurichten. Das ist die große Alternative, die an Jesus sichtbar wird. Bloch greift damit über den jüdischen Messias, über den römischen Heiland und über den kirchlichen Christus hinaus in jene Zukunft aller Dinge, die in der Apokalypse ›Neuschöpfung‹ genannt wird. Darum muss er auch alle Gottesbilder, Gotthypostasen und Gott-Transzendenzen aufheben, die wie Lampen am Himmel dieser Alten Welt hängen.« 12 Der »Neuschöpfung« in der Apokalypse entspricht auch das Verständnis der Genesis, die nicht am Anfang, sondern am Ende liegt. Vor diesem Hintergrund ist Blochs Utopie des Religiösen zu verstehen. Ausgehend von Feuerbachs religiöser Anthropologie widerspricht er vehement Marx, indem er das Eigentlich-Religiöse nicht ablöst vom chiliastischen Traum, sondern indem er sogar in der klassenlosen Gesellschaft der Religion ihren Platz zuweist. Das Entscheidende hierbei: Es ist gerade der Atheismus, der zu Gott führt. Denn: »Religion (…) ist nicht bloß eine Haltung zum Transzendenten, sondern eine Haltung zum Seienden insgesamt.« 13 So kommt Bloch zu seinem Befund:

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Nur ein Atheist kann ein guter Christ sein, gewiß aber auch: nur ein Christ kann ein guter Atheist sein. Wie könnte sich der Menschensohn sonst gottgleich genannt haben. 14

Der Atheist ist kein Gottesleugner, sondern der Kontrahent eines verfügten, herrschaftlichen, des verabsolutierten Gottes. 15 Denn Überwindung heißt keine Ablehnung Gottes, sondern, ganz im Zeichen des Leidensweges Christi, das Hoffen auf einen Gott, »auf ein radikales Jenseits im Bewußtsein.« 16 Die Utopie »Der siebte Tag werden wir selbst sein« 17, wie der Kirchenvater Augustinus sagte, ist dieses Aufgehen Gottes im Menschen.

Hoffnung »Blochs Grundsatz ›Wo Hoffnung ist, ist Religion‹ führt zu seiner Vorstellung vom Christentum als dem ›Wesen der Religion‹, sofern und soweit nämlich im Christentum der ›human-eschatologische, darin sprengend gesetzte Messianismus herausgekommen ist‹. Zugleich gilt auch das Gegenteil: ›Wo Hoffnung ist, ist Atheismus‹, sofern und soweit im Atheismus und seiner Religionskritik eben dasselbe intendiert wird, nämlich der human-eschatologische, darin sprengend gesetzte Messianismus. 18 Religion selbst ist Aberglaube, wenn sie nicht Hoffnung ist. »Wird Gott als absolut gedacht und als ewig verehrt, dann wird diese Hoffnung gelähmt.« 19 Johann Baptist Metz sagte einmal, »daß die Theologie, wenn sie etwas über die Höhen und Gefährdungen des Glaubens heute erfahren will, gut beraten ist, sich mit einem Atheisten vom Rang Blochs auseinanderzusetzen.« Und heute, nach 50 Jahren, ist der Bedarf eher größer, weil die Welt gefährlicher geworden ist. »Da ist es«, so Metz weiter, »natürlich die Mobilisierung des Zukunftsgewissens, die hier von entscheidender Bedeutung im Konflikt und auch in fruchtbarer Auseinandersetzung mit Bloch wird; seine Bestimmung von Hoffnung – an der man, wie er selbst sagte, nicht nur etwas zu trinken, sondern auch etwas zu kochen habe –, die darauf hinweist, daß gerade auch christliches Hoffnungsgut nicht einfach eine Alternative zuläßt zwischen Erwartung und Kampf, zwischen Verheißungsglaube und geschichtlicher Forderung; vor allem auch das entprivatisierte Verständnis von Hoffnung (…). 20 Das entscheidende Stichwort hier lautet: Mobilisierung des Zukunftsgewissens. Was natürlich auch für 212 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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den Islam zu gelten hätte, Navid Kermani hatte es schon in seiner Ästhetik des Islams in »Gott ist schön« 21 eindrücklich angemahnt. Umso bemerkenswerter ist es, dass selbst die Katholische Kirche deutliche Schritte nach vorn macht. Hierzu drei Beispiele: Zum einen ist da die Enzyklika von Papst Benedikt VI.: »Spe salvi« (Gerettet durch die Hoffnung), in Anlehnung an einen Satz des Apostels Paulus: »Auf Hoffnung hin sind wir gerettet.« (Röm 8,24). Karl Kardinal Lehmann bezieht in einem 81 Seiten langen Rundschreiben Stellung in Form eines sehr didaktischen Appells zur Abkehr von der Spaß- und Hinwendung zur spes-Gesellschaft: Bei Immanuel Kant haben sich z. B. die verschiedenen Interessen in der Frage vereint »Was darf ich hoffen?«. Die Antwort sollte von der Religion gegeben werden. Das dreibändige Werk des Philosophen Ernst Bloch »Das Prinzip Hoffnung« (Berlin 1954–1959) gehört zu den Grundbüchern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und hat bis heute einen großen Einfluss. 22

Prompt kommentiert spiegel-online in süffisanter Weise: Der Text liest sich passagenweise wie eine Tübinger Vorlesung aus den späten Sechzigern. Der Papst zitiert die Väter der Revolte, Marx und Engels, Kant, Horkheimer und Adorno, und klingt bisweilen wie der alte Philosoph des ›Prinzip Hoffnung‹, Ernst Bloch, vermischt mit einer Dosis New Age: Ewigkeit (ist) nicht eine immer weitergehende Abfolge von Kalendertagen, sondern etwas wie der erfüllte Augenblick (…).

Ein zweites Beispiel: Papst Franziskus gibt mit seiner Enzyklika »Laudato Si« eine Umwelt-Enzyklika aus. Dort finden sich Fragen der Zukunft der Schöpfung, der Zukunft des Menschen und dessen Umgang mit der Natur mit den ganz profanen Fragen nach Frieden, Gerechtigkeit oder Menschenwürde verknüpft. Das klingt auch schon reichlich säkular und auf Augenhöhe mit dem Zeitgeist und gar nicht mehr nach einem Generaldispens vor dem Hintergrund einer kritisch hinterfragten Theodizee, mit dem Kollaps des Planeten im Genick. Schließlich wagt Papst Frankziskus in seiner Enzyklika »Fratelli tutti« gar eine Utopie: die der brüderlichen Welt. In einem der Kernsätze aus 287 Kapiteln steht geschrieben:

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Ich lade zur Hoffnung ein. Die Hoffnung ist kühn. Sie schaut über die persönliche Bequemlichkeit, über Sicherheiten, die den Horizont verengen, hinaus. 23

Alles ein wenig spät, aber ein Umdenken und Bewusstwerden der irdenen Probleme weisen auf mehr Utopiefähigkeit als noch gestern. Ernst Bloch könnte sich nun rühmen, dass sein »Prinzip Hoffnung« über das päpstliche »Spe salvi« in den theologischen Kanon eingereiht wird, und das in Kenntnis auch von »Atheismus im Christentum« mit dem Bekenntnis: »Ich bin Atheist um Gottes willen.« Während Benedikt noch keine Missverständnisse aufkommen lässt, indem er klarstellt: »Jesus war nicht Spartakus«, war und ist für Bloch Jesus der Rebell, der in Giordano Bruno, Joachim di Fiore, Luther und Thomas Müntzer seine kämpferischen Erben zeitigte, die das »Unerledigte« in der Geschichte wachhalten. Hoffnung ist die »Leidenschaft für das Mögliche«, sagt Søren Kierkegaard. Die Leidenschaft verbindet Ernst Bloch mit dem Rationalen. Das 1628 Seiten starke, enzyklopädisch angelegte »Prinzip Hoffnung« entfaltet bei allem Pathos einen konkreten, säkularen Utopiebegriff, der besagt, dass das Zukünftige das Mögliche ist, gestaltbarer Raum, Umbau, Arbeit an einer besseren, aber immer unfertig bleibenden Welt. »Das Prinzip Hoffnung« kann deshalb als phänomenologische Grundlegung für Blochs Eschatologie stehen. Moltmann meint, »daß er [Bloch, K. K.] das Problem des eschatologischen Horizonts gesehen und im weiten Panorama menschlicher Erwartungen aufgegriffen hat, daß er in einer einzigartig dastehenden Weise von da aus zu neuen Begriffen für Materie, Geschichte, Anthropologie und Kosmologie gekommen ist, darin übertrifft er die christliche Theologie in ihrem Gespräch mit den Wissenschaften heute bei weitem.« 24 Für die einen ist »Das Prinzip Hoffnung« »hochreligiöse Endlandschaft« (Walser) und »Messianismus«, für die anderen Ketzerei. 20 Jahre später, 1968, erscheint eines der wichtigsten Werke Blochs, »Atheismus im Christentum«, mit der enormen weltweiten Wirkung der »Theologie der Befreiung«. 25 Befreiung im Exodus, Freiheit im Heimfinden. Auf diesem revolutionären Weg wird der Mensch vom Homo absconditus zum Schöpfer seiner selbst: Eritis sicut deus (Ihr werdet sein wie Gott!) Und es ist tatsächlich Blochs Heimatbegriff, mit dem die Hoffnung endgültig entmythologisiert daherkommt und der Sehnsucht nach der besseren Welt einen uto214 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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pischen Ort gibt, eine ins Irdische hereingeholte Eschatologie, wie im furiosen Finale des »Prinzips Hoffnung« auf den Punkt gebracht: »Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Daseinradikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.« 26

Utopiefähigkeit: Christologie nach vorn Gehen wir davon aus, »dass das Christentum eine Religion der Freiheit ist« und »spätestens seit Paulus zum unaufgebbaren Kern christlichen Selbstverständnisses« gehört. »Aber diese Freiheit wird klassisch in erster Linie als metaphysische Freiheit aufgefasst, nämlich als Freiheit von ungeistigen Mächten, vom Geister- und Dämonenglauben und von einer deterministisch gedachten Natur.« 27 Heute – und spätestens seit der Aufklärung – meint Freiheit etwas anderes, sie besteht nicht unbedingt im Transzendieren, vielmehr ist es heute der soziale Gehalt der Religion, der den Glauben den Menschen unterfüttert. Der Bibel, gelesen als Mythologie, fehlt es an sozialen Fragen, und das ist auch der Grund, warum auch der Reformer Luther nie auch nur das geringste Interesse an ihnen zeigte. 28 Die Kirche von heute ist anders, sie ist genau die (Rück-)Besinnung aufs Soziale, die Menschen mitzunehmen, ihnen mit und ohne Gott eine Heimat zu sein, die sie verbindet. Protestantische Ethik also, die diesen Namen verdient, und kein »Aufkläricht«, wie Lessing sagte, auch keiner der Religion, denn damit geben sich die Menschen der globalen Welt, die alles wissen und vieles haben können, auch nicht mehr zufrieden. Dazu kommt in geradezu fataler Weise, dass die großen monotheistischen Religionen in einem Zustand des Wetteifers sich befinden, der, und sei es nur im missbrauchten Islam, in einen – frei nach Samuel Huntington – »Clash of Religions« führt. Die Zeichen der Zeit sind durchaus sehr gefährlich. Alle theistischen Ansätze, die Theodizee werden vor dem Hintergrund von Holocaust oder der modernen Scharia kritisch hinterfragt. Doch während Christen zusam215 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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menwachsen und sich öffnen in ökumenisch geprägten Riten, Kirchentagen, konfessionsübergreifenden Initiativen wie »Foren der Religionen« oder »Wochen der Brüderlichkeit«, verschließen sich Muslime mehr und mehr. Säkularisierende, laizistische Entwicklungen pervertieren in ihr Gegenteil, wie das Beispiel der Türkei zeigt. – Die globale Welt findet bei ungleichzeitigen Bedingungen schwer zueinander. 29 Was macht Utopiefähigkeit des Christentums nun heute aus, und das unter globalen Bedingungen, unter denen eine Religion zu haben zwar Privatsache bleibt, auf der Ebene der (politischen) Auswirkungen gelebter Überzeugungen öffentliche Wirksamkeit erzeugen kann. Wir haben einerseits gelernt, dass wir nach Auschwitz zwar immer noch Gedichte schreiben, aber nicht zur Tagesordnung übergehen können. Wir erleben andererseits und tagtäglich sogenannte heilige Kriege (eine Contradictio in adjecto), die ein weltweites Einverständnis in der Gottesfrage dramatisch ins Wanken bringen. Ernst Bloch gewinnt heute deshalb wieder an Bedeutung, weil er – vom atheistischen Standpunkt und um Gottes Willen – die Religion enttheokratisiert. Und das mag einem Protestanten leichter fallen als einem Katholiken. Was Ernst Bloch lehrt, ist eine »Christologie von unten«. 30 »Während die ›Christologie von oben‹ auf Gott und Auferstehung des Gottessohnes konzentriert ist, um diesen neuen Anfang in seinem Ende im Schema von Erniedrigung und Erhöhung zu fassen, richtete sich die ›Christologie von unten‹ ganz auf das ›Leben Jesu‹. Tod und Auferstehung spielen in ihr keine Rolle mehr. Albert Schweitzer hat in seiner berühmten ›Geschichte der Leben-Jesu-Forschung‹ 1907 diese ›Christologie von unten‹ und ihr Scheitern beschrieben.« 31 (Die Prototypen für eine ›Christologie von unten‹ gehen auf Schleiermachers »Glaubenslehre« zurück.) Allerdings: »Das Problem der ›Christologie von unten‹ liegt darin, dass Jesus nicht der vorbildliche Mensch an sich für den modernen Humanismus war, sondern ein jüdischer Wanderprediger mit einer apokalyptischen Botschaft vom umstürzenden Reich Gottes. Das Problem der ›Christologie von oben‹ besteht darin, dass sie einen metaphysischen Gottesbegriff voraussetzt, nach welchem Gott ewig, unwandelbar, leidensunfähig und unsterblich sein muss. 32 Deshalb kommt Bloch zu einer »Christologie nach vorn«. In diesem Sinne ist auch die Exodus-Losung ein utopisches Leitmotiv und nicht allein eine Auszugsgeschichte, sondern eine Befreiungs216 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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geschichte. Und noch mehr, nämlich eine politische Kategorie: »Exodus ist nicht nur eine Geschichte, sondern eine Haltung: ein Ausscheren, Nicht-Mitmachen, Dissident, Ketzerei.« 33 Vor diesem Hintergrund muss nicht nur die Befreiungstheologie in Lateinamerika gesehen werden, die Blochs »Atheismus im Christentum« maßgeblich beeinflusste, sondern auch die heutigen Fluchtbewegungen aus Afghanistan, Syrien oder Irak in das Land Europa, »wo Milch und Honig fließen.« In diesem Sinne liegt, wie Johann Baptist Metz sagt, »das gesuchte Heil (…) nicht ›über uns‹, bei Gott (…) sondern ›vor uns‹, steigt nicht hernieder, sondern steht uns bevor.« 34 Der erst 19-jährigen Ernst Bloch, schreibt in »Gedanken über religiöse Dinge« (zur Überwindung des Leids): »Der gemeinsame Gehalt aller höheren Religionen (…) ist innerer Gottesdienst als Religion der unsichtbaren Kirche. In dem Ausleben der tiefsten inneren Neigungen liegen alle Werte der Kultur bedingt.« 35

Könnte sich hier die Utopiefähigkeit des Christentums bewähren, indem es seine Universalisierbarkeit nicht voraussetzt, sondern erst erarbeitet? Nicht als martialischer Heilsglaube an ein Jenseits wo auch immer, in Offenbarungstheologie und was auch immer, sondern als existentieller Glaube an die Werte der Conditio humana. Das Christentum könnte sich zwar sogar an Kant orientieren, der zugespitzt sagt, »dass es nur eine Religion geben könne«, aber seine Bewährung als universal gültige Religion hätte den Weg über die praktische Vernunft zu gehen »und damit über die Einsicht in die unbedingte Geltung des Sittengesetzes. Das wäre das Projekt Weltethos, welches sich die Suche nach ethischen Gemeinsamkeiten in den diversen religiösen Überlieferungen und Lebenszusammenhängen zur Aufgabe macht, um auf diese Weise globale und universale Maßstäbe des Gerechten und Guten zu finden. 36

Hier interessant auch die zeitgenössische Einlassung von Jürgen Habermas, der den Diskurs zwischen Religion und ›säkularer‹ Gesellschaft gefordert hat. (…) Für Habermas spielt die Philosophie im öffentlichen Diskurs mit

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religiösen Traditionen deswegen eine bedeutende Rolle, weil diese Traditionen [bzw. Kulturen, K. K.] (…) dies in einer Sprache tun, die außerhalb ihres je eigenen Überlieferungszusammenhangs unverständlich ist. Er schreibt der Philosophie hier die Aufgabe eines Dolmetschers, eine ›mäeutische Rolle‹ zu. 37

Wer von uns kennt auch schon gut den Koran, wer von jenen gut die Bibel? Und in welches Gottes oder Propheten Namen wird dann jeweils gesprochen? Hier könnte das Blochsche »Transzendieren ohne Transzendenz« zu einer religionsphilosophischen Methode werden, um das Projekt Weltethos in den Glaubenstugenden »Glaube, Liebe und Hoffnung« neu zu verhandeln. Auch ein in unserer prekären Ära nicht zu unterschätzendes Problem, das die Utopiefähigkeit des Christentums heute unmittelbar berührt, ist, dass Religion heute politischer denn je ist, ob es uns gefällt oder nicht. In sogenannten heiligen Kriegen wird ganz offensichtlich unser konkret-hoffendes Menschsein zugunsten einer diffusen Gottes- und Heilsideologie entwertet. Die Bewährung des Christentums bestünde nicht nur im festen Glauben an sich selbst und seine fortschreitende Reformierbarkeit, sondern in der Habermasschen Empfehlung seiner mäeutischen Rolle. Hier sehe ich das Potenzial seiner Utopiefähigkeit. Das bedeutete dann, dass Theologie und Wissenschaft den permanenten Diskurs pflegen, wie das auf dieser Tagung ja schon der Fall ist, und diesen auch mit anderen Religionen forcieren. Deshalb stelle ich meine Ausgangsfrage abschließend nochmals: Was wird der Philosoph dem Theologen, der Theologe dem Philosophen entgegenhalten: er hoffe stärker, gewisser, freier, nüchterner. (…) Was entscheidet? Die Klarheit des Wortes, das Wagnis des Lebens: konkretes Existieren. Darin ist Theologie Wissenschaft, daß sie keine Vorgaben einschmuggelt, ihre Voraussetzungen und Begriffe offen darlegt, streng verantwortet (…). Sie hat nicht zu zeigen, wie man das macht. Sie hat zu sagen, was das heißt. 38

Hoffentlich wird das Luther-Jahr als Chance genutzt, das Verhältnis von Christentum und Moderne in einer offenen Debatte auf Augenhöhe zu bringen.

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Anmerkungen Hennig Tegtmeyer, Gott, Geist, Vernunft. Prinzipien und Probleme der Natürlichen Theologie, Mohr Siebeck, Tübingen 2013, 29. 2 Zur Definition: Natürliche oder rationale Theologie »(geht) vollständig auf eine natürliche Quelle zurück, nämlich auf die Vernunft allein, während Offenbarungstheologie aus einer übernatürlichen Quelle zu schöpfen beansprucht, die Selbstoffenbarung Gottes«, ebd., 1 (Fußn. 1). 3 Ernst Bloch, Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs, GA Bd. 14, Frankfurt am Main 1970, 23. 4 Ernst Bloch, Hoffen ohne Glauben, in: Bloch-Almanach 19/1993. 5 Bloch 1970, 23. 6 Jürgen Moltmann, Ernst Blochs Christologie, in: Bloch-Almanach, 23/2004, 134. 7 Ernst Bloch Das Prinzip Hoffnung, GA Bd. 5, Frankfurt am Main 1959, 1402. 8 Ebd. 1456. 9 Vgl. Axel Denecke, Jüdisch-marxistischer Messianismus bei Ernst Bloch und der christliche Messiasglaube, in: Bloch-Almanach, 13/1993, 69. 10 Bloch 1959, 1489. 11 Bloch, zit. nach Moltmann 2004, 125. 12 Ebd., 141. 13 Tegtmeyer 2013, 332 f. – Dieser Haltung bleibt Bloch bis zuletzt treu. Z. B. in »Naturrecht und menschliche Würde«, Frankfurt am Main 1961, 310. 14 Bloch 1970, 24. 15 Die ersten Atheisten, die atheoi, waren noch unter Nero eben die Christen eines ihnen verfügten Gottes des Alten Testaments. Siehe: Bloch 1993, 293. 16 Manfred Mezger, Theologie als Wissenschaft, in: Ernst Bloch zu ehren. Beiträge zu seinem Werk, hg. von Siegfried Unseld, Frankfurt am Main 1965, 199. 17 Bloch 1970, 25. 18 Moltmann 2004, 127 f. 19 Ebd. 129. 20 Ernst Bloch und die Theologie (Fernsehgespräch), in: Bloch-Almanach 3/1983, Nomos 1983, 35. 21 Navid Kermani, Gott ist schön. Das Ästhetische Erleben des Korans, C. H. Beck, München 1999. 22 Pressemeldung der Deutschen Bischofkonferenz: »Eine große Ermutigung im Zeichen der christlichen Hoffnung« – Karl Kardinal Lehmann würdigt die neue Enzyklika von Papst Benedikt XVI. »SPE SALVI« (30. 11. 2007 – Nr. 078) (http://www.dbk.de/de/presse/details/?presseid=166&cHash= 7ba011f9874ec539f9c99b256b9d5510). 23 Papst Franziskus, zit. nach »Neue Weltordnung«, in: Die Zeit, 8. Oktober 2020. 24 Lediglich Eugen Rosenstock-Huessy könne, so Moltmann, hier Bloch an die Seite gestellt werden. 1

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»Die Hoffnung ist kühn« Siehe z. B. Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2005 (Erstausgabe 1964). 26 Bloch 1959, 1628. 27 Henning Tegtmeyer, »Es ist das beste an der Religion, dass sie Ketzer hervorruft.« Ernst Bloch und der philosophische Theismus, in: Susanne HerrmannSinai / Henning Tegtmeyer (Hg.), Metaphysik der Hoffnung. Ernst Bloch als Denker des Humanen, (Leipziger Schriften zur Philosophie 22, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2012, 104. 28 Willi Winkler, Luther. Ein deutscher Rebell, Rowohlt / Berlin Verlag, Berlin 2016, 467. 29 Dafür steht beispielhaft die Dichotomie zwischen Naturalismus und Theismus, die für Holm Tetens in einem »Patt tiefer Ratlosigkeit« endet. Siehe. Holm Tetens, Gott denken. Ein Versuch über Rationale Theologie, Reclam, Ditzingen 2015, 79. 30 Moltmann 2004. 31 Ebd., 145. 32 Ebd. 33 Christoph Türcke, Exodus als politische Kategorie, in: Hans-Ernst Schiller, Staat und Politik bei Ernst Bloch, Nomos, Baden-Baden 2016, 50. 34 Johann Baptist Metz: Gott vor uns, in: Ernst Bloch zu ehren. Beiträge zu seinem Werk, hg. von Siegfried Unseld, Frankfurt am Main 195, 228. 35 Ernst Bloch, Gedanken über religiöse Dinge, in: Bloch-Almanach, Folge 12/ 1992, Ludwigshafen am Rhein 1992, 9–13 [zuerst in: Das Freie Wort, V. Jg. 1905/1906, S. 690–694]. 36 Tegtmeyer 2013, 339 (dort der Verweis auf Kant und auch Küng). 37 Ebd., 341. Auch die neueste »Geschichte« der Philosophie von Jürgen Habermas geht auf das Verhältnis von Glauben und Wissen im Besonderen ein. Siehe: Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie, Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Suhrkamp, Berlin 2019. 38 Mezger 1965, 205. 25

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Diskurs

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Mut zur Utopie (Das utopische Gespräch) Mit Sahra Wagenknecht (Berlin) und Heiner Geißler (Gleisweiler) Moderation: Kathrin Senger-Schäfer (MdB a. D.)

Kufeld: Die Performance der Utopie hat sich während der letzten 25 Jahre ja schon gewaltig gewandelt. Wenn ich damals, etwa nach der gefallenen Mauer oder auch noch bei Gründung dieses Hauses, von einer Renaissance der Utopie gesprochen hatte, wurde ich nicht selten argwöhnisch belächelt. Aber spätestens seit 9/11 und der Megafinanzkrise konnte das Wort Utopie ein wenig aus seiner ideologischen Verklammerung herausgelöst werden. Und seither spießen auch wieder die utopischen Ideen, in der Kunst sowieso. Wir müssen wissen, dass nicht nur die Wirtschaft Konjunktur hat, sondern auch die Utopie. Mit dem Unterschied, dass sich die Utopie antizyklisch verhält. Ihr Kurs steigt, wenn es Krisen gibt, er fällt, wenn die Menschen allzu zufrieden sind. Das ist der Grund, warum die Utopie keine Freunde hat bei denen, die ein Interesse daran haben, Macht, Reichtum und neoliberale Freiheit zu zementieren; und das ist der Grund, warum der Mut zur Utopie erst mit den Krisen zunimmt. Aber immer müssen die Ideen aus dem Zauberkasten des utopischen Denkens auf der Hut sein. Warum? Erstens: weil die Utopie immer noch pejorativ konnotiert ist, d. h. sie wird dem Reich des Unmöglichen und nicht dem Reich des Möglichen zugeordnet. Gerne wird vergessen, dass Französische Revolution, Gleichberechtigung und Mauerfall Utopien waren. Zweitens: weil die Utopie ideologisch aufgeladen ist und gerne diskreditiert wird. Helmut Schmidt etwa sagte, wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. Und als Joachim Fest 1991 »Der zerstörte Traum« veröffentlichte, entstand durchaus der Eindruck, dass mit dem Zerfall der Staatssozialismen nur die passende Gelegenheit abgewartet wurde, um nach dem Kalten Krieg postwendend dem utopischen Denken wieder den Krieg zu erklären. Drittens: weil die Utopie angstbesetzt ist, oft auch in der Politik. Viele Menschen trauen sich sozusagen nicht, utopisch zu denken. 223 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Mut zur Utopie

Ernst Bloch fordert hier den »Willen zur Utopie«, der – und das ist meine Ergänzung in Bezug auf diese Veranstaltung – den »Mut zur Utopie«, Zivilcourage braucht. Das ist deshalb nicht so leicht, weil »der aufrechte Gang am letzten gelernt« wird. Zu diesem »utopischen Gespräch« begrüße ich Frau Dr. Sahra Wagenknecht, die laut »Zeit« das »Gegenbild zum Klischee des schwatzhaften Politikers verkörpert«, und Herrn Dr. Heiner Geißler, von dem wir laut »Die Rheinpfalz« »lernen können, wie sehr Demokratie Provokateure braucht.« Senger-Schäfer: Guten Abend, herzlichen Dank an unsere Diskutant*innen für ihr Kommen. Beide sind promovierte Wissenschaftler. Frau Dr. Wagenknecht in Ökonomie, Herr Dr. Geißler in Rechtswissenschaften. Beide haben aber auch unter anderem Philosophie studiert. Beide engagieren sich bei ATTAC beziehungsweise OCCUPY. Und bei beiden konnte ich im Laufe der Zeit auch eine Änderung oder eine Modifizierung von ihren Ansichten erkennen. Während Frau Dr. Wagenknecht – jetzt wird’s spannend – das prominenteste Gesicht der Kommunistischen Plattform, einer Strömung innerhalb der Linken war, beruft sie sich jetzt in ihrem Buch, und das ist ein absolut empfehlenswertes Buch, Freiheit statt Kapitalismus, in dem sie sich auch mit Ludwig Erhard auseinandersetzt. Und während Herr Dr. Geißler, der einst die Linke äußerst stark attackierte, sich heute zu OCCUPY und ATTAC bekennt oder da auch aktiv mitarbeitet, hat er in seinem Buch Ou topos. Die Suche nach dem Ort, den es geben müßte einen antikapitalistischen Gegenentwurf geliefert. Meine Eingangsfrage: Wann sind Sie beide – Sie haben ja Philosophie studiert – mit Ernst Bloch in Berührung gekommen, und gab es sowas wie eine Initialzündung? Oder ein Initialerlebnis? Geißler: Also ich habe nicht nur Jura studiert und Philosophie studiert, ich bin zurzeit auch immer noch Vorsitzender des Südpfälzer Gleitschirmfliegerclubs. Das ist auch was Extremes, aber das ist wie beim Sport und ja nur etwas in den Augen derer, die das Extreme nicht beherrschen. Die ganze Weltgeschichte ist bewegt worden durch Utopien, wenn ich das einmal so sagen darf … Wagenknecht: Also ich kann nicht, mit Ausnahme des Gleitfliegerclubs, damit kann ich wirklich nicht dienen, mit solchen spektakulären Dingen, aber in vielem anderen eigentlich völlig dem anschließen, 224 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Mut zur Utopie

was Sie gesagt haben. Also, ich glaube, dass auch jeder, der politisch aktiv ist, in seinem Kopf ja doch etwas haben muss, wo er hin will, und das ist ja etwas anderes als das, was ist. Und natürlich ist das auch noch etwas Weitergehendes als was man vielleicht innerhalb von drei oder vier Jahren erreichen kann, und insoweit würde ich sagen, ja, für gute Politik braucht es Utopien. Braucht es Vorstellungen einer anderen Gesellschaft, einer besseren Gesellschaft, und braucht es natürlich auch einen gewissen Kompass, was man tun will, wo man sich hinbewegen will. Und ich finde, es ist gerade das Schlimme an der heutigen Politik, dass die meisten Politiker so was erkennbar nicht mehr haben. Sondern dass sie nur noch von Wahlperiode zu Wahlperiode kalkulieren, also eben keine Vision, aber auch keine Strategie, keine Linie, kein Inhalt, nichts mehr da. Und das macht natürlich auch, glaube ich, einen wesentlichen Grund aus, warum sich viele Leute zum Beispiel gar nicht mehr an Wahlen beteiligen, weil es gar nicht mehr so grundsätzliche Politikentwürfe gibt, die dann als alternative Möglichkeit einer Regierung zur Abstimmung stehen, weil alles so beliebig geworden ist, alles so klein, alles so leer, und deswegen finde ich einfach gerade solche Debatten, und ich muss auch sagen, egal in welcher Partei solche Politiker, auch wie Heiner Geißler, die einfach aus einer Überzeugung heraus, die sich ja auch verändert hat, aber die natürlich … der man anspürt, da will jemand etwas, da hat jemand eine Vorstellung, warum er das überhaupt alles macht, die geht über das hinaus, dass man irgendwie Tagespolitik betreibt. Das finde ich unglaublich wichtig und davor habe ich allergrößten Respekt und deswegen diskutiere ich auch immer gerne gerade auch mit Heiner Geißler. Geißler: Ja, so Gott will. Senger-Schäfer: Ja, das hoffen wir doch. Ich möchte noch mal auf Ernst Bloch zurückführen und zu dem Prinzip Hoffnung zurückkommen. Im Prinzip Hoffnung heißt es: Bei konkreter Utopie kommt es darauf an, den Traum von ihrer Sache, der in der geschichtlichen Bewegung selbst steckt, genau zu verstehen. Utopie heißt demnach, realistische Antizipation des Guten. Ist Utopie nun ein Unort, wie es ja eigentlich die Begrifflichkeit nahelegt, oder ist sie eben doch ausfüllbar mit Fortschritt und mit Wirklichkeit?

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Geißler: Ich glaube, das kann man so eindeutig nicht sagen, weil Utopie kommt ja von Ou Topos, das heißt: der Ort, das kommt alles von der Topographie und Ou ist das griechische Verneinungswort. Also, es heißt eigentlich der Nichtort. Berühmt wurde der Begriff durch Thomas Morus, durch sein Buch Utopia, das ja auch Ernst Bloch kommentiert hat und über das er geschrieben hat, und wo er geglaubt hat, es sei schon das Vorläuferkonzept des kommunistischen Manifestes und was auch immer er alles in diese Utopia von Thomas Morus hineingedacht hat. Völlig zurecht – es ist ein unglaubliches Buch, aber ich glaube, dass Thomas Morus dieses Ou Topos anders übersetzt hat, nicht als Unort, sondern, so interpretiere ich das, als einen Ort, den es geben müsste. Man kann es auch übersetzen mit: Ein Ort, den es noch nicht gibt. In der Definition liegt schon, dass es sich um einen Ort handelt, den es geben könnte, und deswegen glaube ich, müssen wir auch ein bisschen jetzt in dem Gespräch unterscheiden, also ein Ort, den es geben müsste, aber der absolut zweifelhaft ist. Er hat ja auch was mit Marx und hat aber auch was mit den Kirchen, mit der katholischen Kirche, zu tun, denn was wünschen sich die Leute eigentlich. Sie wünschen sich ein glückliches Leben, etwas primitiver ausgedrückt, sie wünschen sich das Paradies, aber das Paradies als Utopie. Das ist eine höchst gefährliche Angelegenheit. Und zwar ganz einfach deswegen, weil eine solche Utopie entweder die Leute enthemmt, und wenn man ihnen sagt, ihr bekommt sogar eine Belohnung mit 70 Jungfrauen, wenn ihr andere Leute umbringt, Ungläubige in die Luft sprengt, da wird aus einer solchen Utopie eine höchst gefährliche Ideologie. Oder das, was Marx und dann auch später Lenin gesagt hat, eine solche Hoffnung auf das Paradies kann auch zum Opium werden. Weil die Leute vertröstet werden auf das kommende Leben, und zwar mit Unterstützung derjenigen, die an der Regierung sind, die an der Macht sind, weil ihnen das passt, was die Kirchen hier machen. Und das auch unterstützen. Und die Leute vertrösten auf das Jenseits. Auch wenn es ihnen schlecht geht, wenn sie arm sind, wenn sie ungerecht behandelt werden. Warum? Damit die ja keine Revolution machen und das Unrecht selber beseitigen. Das sind die beiden gefährlichen Visionen von Utopien, es sind Utopien, die es geben könnte, aber von denen wir gar nicht wissen, ob sie eintreffen, eintreffen können. Auch das Jenseits, das ist eine zweifelhafte Angelegenheit. Und deswegen glaube ich, dass wir uns mit diesen Utopien auch auseinandersetzen müssen, weil sie nämlich die Weltgeschichte negativ beeinflusst haben. Und da gibt 226 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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es noch die Utopien, von denen wir aber wissen, dass sie möglicherweise doch eintreten können. Und es lässt sich eben wirklich darüber streiten, welche Utopie denn nun eigentlich näher an der Verwirklichung ist. Oder überhaupt an der Verwirklichung, und darum geht es auch ein bisschen in der Politik. Ich stimme Ihnen nicht ganz zu, wenn Sie sagen, die jetzige Politik hätte keine Inhalte. Ich finde, was da in den letzten Jahren passiert ist, sind gewaltige Veränderungen. Die Energiewende, die Abschaffung der Allgemeinen Wehrpflicht, eine völlig neue Auffassung von Familie und Ehe, was sich langsam durchsetzt auch in der Gesellschaft, die ganzen Auseinandersetzungen in Europa, die Auseinandersetzung mit der islamischen, der islamistischen Theologie, das sind äußerst spannende und bewegende politische Entwicklungen, aber Sie haben insoweit recht, das eigentliche Problem, dass die Leute beschäftigt, das sie bedrückt, das dazu führt, dass sie Angst haben, ist eben das Zukunftsproblem. Wie sieht die Welt von morgen aus? Soll es so weitergehen? Oder muss es nicht grundsätzlich verändert werden? Wagenknecht: Na gut, da muss man erstmal darüber reden, was sind Revolutionen? Also es gibt philosophische Revolutionen, es gibt geistige Revolutionen, es gibt Umbrüche in der Gesellschaft, und es gibt das Klischee, dass eine Revolution darin besteht, dass man Barrikaden baut und Verunsicherung um sich schießt. Und ich finde, von diesem Klischee muss man weg. Natürlich brauchen wir in dem Sinne eine revolutionäre Veränderung, weil einfach so viele Probleme derzeit sich zuspitzen, die so nicht weitergehen können. Es ist der Klimawandel, wo, auch wenn es bei G7 schöne Sprüche gibt, im Grunde nichts Substanzielles passiert. Das ist der Welthunger, wo wir jeden Tag, jedes Jahr zuschauen, wie Millionen Menschen einen elenden Tod sterben, den sie nicht sterben müssten, weil die Erde in der Lage ist, alle Menschen zu ernähren. Das ist das Problem, wie wir wirtschaften, dass wir nach wie vor unendlich viel Müll produzieren, die Natur vergiften, die Ressourcen verschleißen. Das sind ja alles ungelöste Probleme und die haben natürlich alle auch etwas mit unserer Wirtschaftsform und unserer Wirtschaftsordnung zu tun, also sie haben damit zu tun, welche Kriterien unser Wirtschaften leiten. Und ein Unternehmen wird eben nicht gerade, je größer es ist, je stärker es auch von irgendwelchen Fonds und institutionellen Anlegern dominiert wird, eben nicht geführt, um gute Arbeitsplätze zu schaffen, um nachhaltige Produkte zu produzieren, sondern es wird geführt, um 227 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Rendite zu machen, um möglichst viel rauszuholen. Und ich glaube, ganz wichtig ist, wenn wir über Utopien reden, dass wir uns dessen bewusst sind, dass es auch ein Trick der etablierten Politik ist, Lösungsansätze als »utopisch« zu diskreditieren, die eigentlich ganz real wären. Also wo gesagt wird, das ist völlig utopisch, beispielsweise das Problem Armut zu lösen. Das war im Mittelalter utopisch, denn mit den Produktionsmitteln des 16. Jahrhunderts war das Problem Armut nicht zu lösen. Selbst bei einer völligen Gleichverteilung wären dann eben alle arm gewesen, es war nicht möglich damals. Aber in der heutigen Welt, zumindest in den Industriestaaten wäre es natürlich überhaupt kein Problem, dass niemand mehr in Armut leben muss. Und das ist auch durchaus etwas, was eigentlich – dass wir es uns leisten, dass in einem reichen Land wie Deutschland so viele Kinder unter Armutsbedingungen aufwachsen müssen. Dass wir es uns leisten, in einem reichen Land wie Deutschland, Menschen, die ihr Leben lang geschuftet haben, im Alter sich dann aufs Schärfste einschränken müssen und sich viele Dinge nicht mehr leisten können. Das ist eigentlich ein Skandal! Aber er erscheint uns so normal, und dann wird uns gerne erzählt, alles andere ist doch utopisch oder ist doch Träumerei oder ist irgendwie linkes Hirngespinst, und in dem Sinne meine ich, natürlich muss die Utopie immer auch noch weiter weitergehen. Und irgendwann gab es Zeiten, da war sogar ein Mindestlohn utopisch. Jetzt ist er Realität, wenn auch löchrig und zu niedrig. Vieles wird ja auch real, was zunächst mal utopisch schien, und ich glaube, man braucht weitgreifende Utopien, durchaus auch langfristige, um wenigstens in der unmittelbaren Gegenwart eine Verbesserung zu erreichen, man muss sie zumindest im Kopf haben. Ich finde die Frage einer anderen Form des Wirtschaftens, einer anderen Ordnung des Wirtschaftens, das ist eine Frage, die sich akut stellt, weil auch der Umstand, dass Europa aus dieser Krise nicht rauskommt, doch auch was damit zu tun hat, dass einfach der Mut nicht da ist, das Geld da zu holen, wo es liegt, wo es sich stapelt: bei der Oberschicht. Das ist in Griechenland, das ist aber auch in allen anderen Ländern – und das hat mit wirtschaftlichen Machtverhältnissen zu tun. Nicht nur, dass Politiker zu blöd sind, dass wir noch nie so viele Millionäre und Milliardäre auch in Europa hatten wie heute. Das kann ja jeder nachlesen. Also es gibt zwar nicht viele Statistiken, aber es gibt sie schon. Aber es gibt Wirtschaftsmacht, und die Macht beeinflusst Politik und beschränkt ihre Handlungsspielräume und deswegen wird dann gerne gesagt, ja alles andere ist ja nicht möglich 228 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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wegen der Globalisierung oder der Wettbewerbsfähigkeit, das sind alles Ausreden. Wagenknecht: … aber abschließend, ich finde, Utopien sind etwas, das einen sehr realen Bezug hat. Also deswegen stimme ich auch zu: Utopie ist nicht was Jenseitiges, also ich bin ohnehin Atheistin. Deswegen bin ich für jenseitige Utopien nicht unbedingt zu haben. Ich sehe höchstens, dass es durchaus Menschen gibt, im Positiven, die aus solchen Vorstellungen natürlich auch eine Kraft schöpfen, die Realität und das Diesseits zu verändern. Dass sie glauben, das ist ja etwas anderes. Aber eine Jenseits-Utopie, die vertröstet und Passivität bringt, ist natürlich eher eine Negativ-Utopie, weil sie ja das zementiert, was heute an negativen, an eigentlich unerträglichen Verhältnissen existiert. Senger-Schäfer: Vielen Dank! Herr Geißler hat schon das Mikrofon gezückt, ich sehe es ihm an, er möchte dazu was sagen. Geißler: Ja, ich muss ja irgendwann mal was sagen. Die erste Hälfte war ein bisschen das Parteiprogramm der LINKEN, nicht wahr, was Sie gebracht haben, aber man kann das auch als Utopie bezeichnen, was so im Alltag und auch ganz konkret in Deutschland sozial- und gesellschaftspolitisch passiert. Aber ich finde, wir sollten den Begriff nicht zu klein handeln. Die Frage mit Hartz IV zum Beispiel, oder mit der Armut oder mit den Minijobs. Dass es jetzt so ist, wie es heute ist, ist glaube ich nicht zurückzuführen auf das Fehlen einer Utopie, sondern auf eine ganz handfeste und natürlich ideologisch gefärbte falsche politische Entscheidung in der Agenda 2010. Und da gibt es eine Utopie, eine kleine Utopie, dass die Partei DIE LINKE eines Tages stärker wird als die SPD, das halte ich für eine realisierbare Utopie. Und zwar einfach deswegen, weil die SPD ist jetzt bei 25 Prozent und hängt in diesem Turm fest aus einem ganz einfachen Grund: weil sie das eigentliche »Dilemma der Linken«, jetzt mal in Anführungsstrichen, obwohl ich den Begriff ja nicht mag, das eigentliche Problem nicht aufgearbeitet hat, nämlich dass der Gerhard Schröder zusammen mit einigen anderen die Seele der sozialdemokratischen Partei regelrecht verraten hat. Deswegen ist ihre utopische Chance, dass sie die eigentliche Linkspartei werden in der Bundesrepublik, aber ich würde es nicht als Utopie bezeichnen. Sondern das mit der Agenda 2010 ist eben eine politische Fehlentscheidung, die da getroffen wor229 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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den ist, weil die Sozialdemokraten damals den kardinalen Fehler gemacht haben, nämlich dass sie den klügsten und besten Mann, den sie gehabt haben, damals – nämlich Oskar Lafontaine – ausgetauscht haben gegen einen Spieler wie Gerhard Schröder. So, das ist der schwerwiegende Vorgang, und zweitens, dass dem entsprechend dann auch die Politik mit der Agenda 2010. Aber damit habe ich die kleine Utopie, das kleine Utopieverständnis, abgehandelt. Ich will nur einen Satz sagen: die eigentlich große utopische Herausforderung, die haben Sie angesprochen, liegt eben darin, dass wir heute keine ethisch begründete Konzeption einer Weltwirtschafts- und Friedensordnung haben, die tatsächlich am Humanum sich orientiert, am Schicksal und der Zukunft der Menschen, aber auch der Natur, sondern wir leben in einer Gesellschaft, die immer mehr, ja fast ausschließlich, von der Gesundheitspolitik bis zur Bildungspolitik beherrscht wird von den Interessen des Kapitals. (…) Heute wird der Mensch diskreditiert, er wird zum Kostenfaktor degradiert. Kostenfaktor! Und er gilt umso mehr, je weniger er kostet, und er gilt umso weniger, je mehr er kostet. Und das durchzieht die gesamte Weltpolitik und das durchzieht auch unsere Politik in Deutschland. Und das ist eine negative Utopie, die gibt es nämlich auch, es gibt Utopien, Vorstellungen, von denen wir wünschen, dass sie nicht eintreten: Nationalismus, Rassismus. Und dazu gehört auch der Kapitalismus. Wagenknecht: Ja ich kann mich da ja völlig anschließen, also das ist ja das Kernproblem. Wie organisieren wir unsere Gesellschaft, wie wollen wir leben? Das ist ja ein uraltes Problem, also das hat schon die deutschen Klassiker, Goethe und andere bewegt. Schon Hegel hat ja in seiner Rechtsphilosophie diesen aufkommenden Kapitalismus beschrieben. Erstaunlich weitsichtig, er hat damals schon gesehen, einerseits die ganzen produktiven Potenziale, also das ganze Unmaß an Reichtum und er hat gleichzeitig eben sehr deutlich gesagt, dass diese Gesellschaft, die da entsteht, bei allem Übermaße des Reichtums einem entstehenden Übermaß an Armut nicht Herr werden kann, also sprich mit mehr Reichtum auch mehr Armut produziert, dass die Kontraste da sind, dass die Wirtschaft krisenhaft ist, schwankend ist, Arbeitslosigkeit – und nun sind wir 200 Jahre weiter – und trotzdem arrangieren sich die meisten eigentlich mit dieser Ordnung, oder sie halten eben tatsächlich eine andere für utopisch. Da wird dann gesagt, ja der Mensch ist nun mal so. Aber der Mensch ist ja nicht primär ein Egoist oder ist vielmehr nicht ein Homo Oeconomicus, der 230 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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ja so in den ganzen ökonomischen Modellen vorausgesetzt wird, so ein roboterhafter Nutzenoptimierer, der sozusagen nur seiner privaten Gier folgt. Sondern der Mensch ist ja viel, viel mehr: der Mensch ist ein soziales Wesen, der Mensch ist ja im Grunde auch ein Wesen, das ein Gefühl hat für Schönheit, das Liebe empfinden kann und die Frage ist ja, welche Eigenschaften des Menschen werden in einer Gesellschaft gefördert und welche verkümmern eher. Und wenn in einer Gesellschaft alles auf Konkurrenz aus ist, alles auf Kommerzialisierung, wenn wir es inzwischen normal finden, über die Eigenkapitalrendite von Krankenhäusern nachzudenken oder dass das in Handelszeitungen, Wirtschaftszeitungen ein ganz normales Thema ist, darüber zu philosophieren. Dann verkümmert in uns natürlich ganz, ganz viel, was eigentlich ur-menschlich ist, und ich finde, das sollte wirklich eine ganz dringende Aufgabe auch von Politik und Politikern sein, weil nur dann auch Menschen eher wieder an Alternativen Gefallen finden, dafür auch etwas tun. (…) Was wäre die Alternative? Naja, die Alternative vielleicht sähe die aus wie die DDR. Die will man aus guten Gründen nicht wiederhaben. Ich glaube, es ist die verdammte Verpflichtung, darüber nachzudenken, dass es andere gäbe und wie sie aussehen können. Da können wir auch nicht nur irgendwie aus der Historie und den Philosophen zehren. Also Marx hat grandiose Ideen gehabt, aber er hat kein Bild einer anderen Gesellschaft entwickelt, sondern er hat einfach Vorstellungen, Ideen, die man aber weiterdenken muss. Warum funktioniert die Wirtschaft heute so, wie sie funktioniert? Das hat etwas mit Eigentum zu tun. Das hat etwas damit zu tun, wem Firmen gehören und was die Interessen sind? Und ich finde schon, dass die Perspektive, statt einer Aktiengesellschaft, einer finanzgeleiteten Wirtschaft, eine Mitarbeitergesellschaft wäre. Wo diejenigen, die arbeiten, selber auch mit darüber entscheiden, was in den Unternehmen passiert, dass sie eigentlich auch die Leitlinien setzen. Da wäre es nicht mehr das Interesse, viel Geld rauszuholen, sondern da wäre natürlich eher das Interesse, zu investieren, damit das Unternehmen tatsächlich mit den Arbeitsplätzen wächst. Da wird auch keiner mehr in Billiglohnregionen ein Unternehmen verlagern, wenn die Beschäftigten das selber entscheiden könnten. Also es sei denn, sie haben Lust, irgendwie nach China oder nach Rumänien auszuwandern, aber das ist sehr unwahrscheinlich. (…) Und dafür, glaube ich, brauchen wir Utopien, dafür brauchen wir auch weitere Vorstellungen, weil ich finde schon, dass eine solidarische Ökonomie, eine Gemeinwohlökonomie auch in vie231 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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len Bereichen einfach der bessere Weg wäre. Gerade die Digitalisierung heißt ja, es entstehen überall Monopole. Weil durch die Netzwerke wird das ja auch immer größer, immer mächtiger. Wenn ich das privaten Renditejägern überlasse, mache ich mich völlig abhängig, das heißt, ich brauche eine andere Wirtschaftsform in diesen Bereichen. Und da ist natürlich eine Gemeinwohlökonomie meines Erachtens das einzige, dass sozusagen das Eigentum auch dem Allgemeinwohl dienen, dass das auch wirklich durchgesetzt werden kann. Senger-Schäfer: Ich wollte nochmal mit Ihnen weitermachen, Frau Wagenknecht, Sie haben es genannt: Multiple Krisen, auch in Ihrem Buch Freiheit statt Kapitalismus, schreiben Sie ja ganz differenziert über die Wirkmacht dieser sogenannten Bankenkrise und dass das wie ein Dominoeffekt gewissermaßen immer eine Krise die nächste nach sich zieht. Wir sehen jetzt ganz aktuell an Griechenland, was das bedeuten kann. Was ist Ihre Utopie zu der Situation in Griechenland? Wagenknecht: Na die Situation in Griechenland ist eigentlich ganz schwer für Utopien geeignet, weil ich sag mal so: Was wollen wir? Was wollen wir für ein Europa? Die Grundfrage. Also ich meine, Griechenland ist ja die Wiege Europas, sie ist ja auch die Wiege der europäischen Demokratie, und eigentlich dürfte ein Gedanke, Europa ohne Griechenland, überhaupt nicht denkbar sein. Also es gäbe keine europäische Kultur ohne die griechische Kultur. Aber wir haben uns ja so weit davon entfernt, Europa in kulturellen Kategorien zu denken, dass die Frage auch schon kaum noch einer stellt. Sondern Europa ist nur noch ein finanzwirtschaftlich-ökonomisches Konstrukt. (…) Wer so ein Europa betreibt, und wer gleichzeitig dann eben auch den Wohlstand in vielen Ländern für viele Menschen verringert, der muss sich nicht wundern, dass sich auch immer mehr von Europa abwenden. Und ich finde, wir müssen uns mal auf die europäischen Wurzeln besinnen. Ich meine, auch die Aufklärung ist ja eine ur-europäische Tradition, Aufklärung heißt, man gestaltet eine Gesellschaft. Und ganz konkret zu Griechenland muss man natürlich sagen, alles das, was uns in den letzten fünf Jahren als Rettung Griechenlands verkauft wurde, war keine Rettung, sondern hat dieses Land weiter in die Armut getrieben. Wir haben unglaublich viel Steuergeld dafür verschleudert, ein Land, das überschuldet war, weil seine Oberschicht korrupt ist, weil seine Politikerklasse korrupt war, und es waren ja Parteien, die die Schwesterparteien von CDU und SPD waren. 232 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Also es war ein Land, das völlig überschuldet war, dem haben wir Geld gegeben, und zwar nicht dem Land, sondern den Gläubigern dieses Landes. Und haben dadurch eine scheinbare Zahlungsfähigkeit aufrechterhalten. Und natürlich war es von vornherein eine Lüge, so zu tun, als würde dieses Geld zurückkommen. (…) Und das ist seit fünf Jahren die Situation, und jetzt reden wir immer wieder darüber, dass es neue Pakete gibt, die nur dazu sein sollen, die alten Schulden zu bezahlen – mit neuen Schulden. Und dafür werden dem Land Auflagen gemacht, die es seit fünf Jahren ärmer machen. Löhne müssen runter, Renten müssen runter, Sozialleistungen werden gekürzt und im Ergebnis ist die griechische Wirtschaft um 25 Prozent geschrumpft. So was gibt es sonst in Friedenszeiten gar nicht. Also ein Viertel der Wirtschaftsleistung hat dieses Land verloren unter diesen Auflagen. Und damit sind natürlich die Schulden immer weiter gestiegen, die waren damals bei 130 Prozent. Und jetzt tut man wieder so, als wäre die Realität, dass wir jetzt nur neue Pakete machen müssen und dann ist das Problem gelöst. Man versucht nur das Problem rauszuschieben, weil Frau Merkel auch den Leuten nicht sagen will, dass sie Steuergeld veruntreut hat. Eine Lösung wäre auf der einen Seite, Griechenland braucht einen Schuldenschnitt, das wäre jetzt bei jedem Unternehmen so. Wer faktisch Konkurs ist, da ist es bei Unternehmen ein Straftatbestand, das nennt man Konkursverschleppung. Genau das findet nämlich hier statt. Also ein Schuldenschnitt muss her, sonst kommt dieses Land nie wieder auf die Beine, und da glaube ich, ist die jetzige Regierung am ehesten auch willens das zu tun, weil sie da keine Verflochtenheit hat, es muss natürlich bei denen das Geld geholt haben, die vorher diese Schulden wesentlich verantwortet haben, die griechische Oberschicht. In Griechenland gehört die Wirtschaft etwa 600 Familien, das sind auch überwiegend Monopole in dem Land, die auch die Wirtschaft abwürgen, die auch immer reicher geworden sind, auch durch die Privatisierungen. Und dieses Geld muss geholt werden, diese Monopole müssen aufgebrochen werden, damit dann Investitionsprogramme stattfinden können, damit die private Wirtschaft auch wieder angekurbelt wird. Also das ist alles keine große Utopie und das wäre unmittelbar, was man tun könnte, wenn man wirklich helfen wollte. Schuldenschnitt, keine Rückzahlung mehr, dann brauchen sie auch kein Geld, und ihnen die Freiheit geben und die Freiräume, im Land ihre eigene Wirtschaftsaktivität anzukurbeln, damit endlich wieder Wachstum in diesem Land entsteht. Nur dann haben wir eine Chance, wenigstens einen Teil dieses 233 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Geldes jemals zurückzubekommen, was dort an Bürgschaften gegeben wurde. Senger-Schäfer: Der verstorbene Schriftsteller und auch Mahner Günter Grass hat mal gesagt, es gibt in der Politik keine Stunde Null. Das heißt, Verträge überdauern Regierungen. Wie sehen Sie das, Herr Geißler, gerade jetzt in Bezug auf Griechenland und angesichts der Tatsache, dass Sie auch in der Sozialpolitik sehr engagiert waren? Geißler: Also in der Analyse gebe ich Ihnen recht, Frau Wagenknecht. Ich glaube auch, dass ohne einen Schuldenschnitt die Sache nicht gelöst werden kann, aber das Problem des Schuldenschnitts besteht zudem darin, selbst wenn den Griechen alle Schulden erlassen werden, dann haben wir keine Garantie, dass die Griechen nicht genauso weitermachen wie bisher. Der griechische Finanzminister hat vorgestern gesagt: eine an sich wirklich notwendige Erhöhung der Umsatzsteuer in Griechenland, damit die sich auch wieder vom Staatshaushalt her sanieren können, hat gar keinen Wert, denn wenn wir die Umsatzsteuer erhöhen, dann zahlen die Griechen noch weniger Steuern als bisher. Das heißt, die Griechen haben sich inzwischen daran gewöhnt, dass es eine Art Volkssport ist, Steuern zu hinterziehen. Ich möchte deswegen die Frage der Utopie, und das, was Sie auch gesagt haben, etwas weiterführen. Wir müssen ja die Frage beantworten, wenn wir über Utopien reden. Auch über eine neue Wirtschafts-, Friedens- und Gesellschaftsordnung. Was ist denn das Fundament einer solchen Wirtschaftsordnung? Einer neuen Gesellschaftsordnung? Hilmar Kopper, der langjährige Sprecher der Deutschen Bank, der hat einmal gesagt: Heute wird die Welt beherrscht von den drei Gs. Von Geiz, Gier und Geld. Und es geht immer nur darum, mit Geldgeschäften Geld zu machen. Nun ist das etwas, was zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland, als Ludwig Erhard – meine Partei – und andere Parteien waren mit dabei, die Soziale Marktwirtschaft durchgesetzt haben. Die Soziale Marktwirtschaft ist in so einem Wirtschaftsrat mit einer Stimme Mehrheit verabschiedet worden. Und hat wirklich etwas Neues gebracht, war eine Wirtschafts- und Sozialphilosophie, auf einer ethischen Basis, nämlich die Kombination des Ordoliberalismus der Freiburger Schule, Walter Eucken, Wilhelm Röpke, später Müller-Ammack, und der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik. Das heißt, es hatte eine ethische Basis. Die Leute, die haben damals anders gedacht. Der 234 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Bankier Abs, der langjährige Vorstandssprecher der Deutschen Bank, hat (…) gesagt, das sei »kriminell – kriminell«. Und zwar gegen diejenigen damals in der Sozialen Marktwirtschaft, die wir heute nicht mehr haben, von einem ethischen Fundament aus. Das galt noch bis zum Jahr ’80, ’82, ich wurde damals Minister und habe das miterlebt, wie sich das langsam durchgesetzt hat. 1980 war das Weltbruttosozialprodukt 12 Billionen Dollar. Die Geldmenge, die im Umlauf war, betrug auch 12 Billionen, das heißt, sie entsprach der ökonomischen Wertschöpfung, die auf der Welt vorhanden war. Heute haben wir ein Bruttosozialprodukt auf der Welt von 70 Billionen oder 80 Billionen, aber wie groß ist die Geldmenge? Sie wissen es vielleicht sogar exakter und genauer, die Weltbank kann es ja noch nicht einmal richtig schätzen. Jedenfalls werden große Mengen Geld von der realen Ökonomie nicht gedeckt. Das ist zunächst der unmoralische Vorgang, den wir haben. Das heißt, diejenigen, die über diese Riesensummen verfügen, die Investmentbanker, die Devisenhändler, die Börsenspekulanten haben keine moralische Basis mehr. Man hat sich auf der Welt angewöhnt, dass das Unmoralische das Normale wird, und das hat man seit Jahren und Jahrzehnten nicht nur geduldet, sondern diejenigen, die dagegenhalten, das waren die Gutmenschen. Das waren die Gesinnungsakrobaten. Das waren die Leute, die von der Realität Null Ahnung haben. Und deswegen meine ich, man kann Utopien entwickeln, aber dann braucht man ein Konzept. Man muss den Leuten sagen, wie die Welt von morgen aussehen soll. Und jetzt fasse ich das mal einfach mit einem Schlagwort zusammen. Was wir brauchen, ist nicht eine Weiterentwicklung des Kapitalismus, nicht die Abschaffung des Wettbewerbs, das schrieben Sie in Ihrem Buch ja auch nicht! Was wir brauchen, ist eine internationale ökosoziale Marktwirtschaft. Ludwig Erhard hatte zwei Prinzipien oder drei entwickelt, Wohlstand für alle und eben nicht nur für 2/3. Inzwischen haben wir uns mit einem Prekariat in Deutschland von 10 bis 12 Millionen Leuten abgefunden. Die weniger verdienen als die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens. Also eine Entwicklung, die dem völlig entgegensteht, was man mit der Sozialen Marktwirtschaft eigentlich gedacht hat, nämlich die alte soziale Frage zu lösen. Die Arbeiterfrage. Früher waren die Leute arm, weil sie Arbeiter waren. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dieses Problem, das ist durch die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland gelöst worden. Heute sind wir wieder dort angelangt durch die Agenda 2010. Plötzlich haben wir Millionen von Menschen, die deswegen arm sind, weil sie 235 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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keine Arbeit haben. Im Moment sieht es anders aus. Da haben die Hartz IV-Empfänger genau das Charakteristische, und das haben wir heute weltweit. Infolgedessen brauchen wir eine moralische Grundlage für eine solche internationale ökosoziale Marktwirtschaft. Was Sie sich vorstellen in einem neuen demokratischen Sozialismus, was immer Sie darunter verstehen, so weit weg ist das gar nicht von dem, was wir uns da gemeinsam vorstellen können. Aber wir brauchen einige moralische ethische Prinzipien, die überall gelten müssen, auf der ganzen Welt. Und dafür ist die Politik zu schwach, dies durchzusetzen. Was wir brauchen, ist ein Menschenbild, das unantastbar ist, und zwar unabhängig davon, ob jemand jung oder alt, Mann oder Frau, Deutscher oder Ausländer, arm oder reich, aber eben auch unabhängig davon, ob jemand Arbeitnehmer ist oder Unternehmer. Also ein Menschenbild, das auf der totalen Gleichstellung und Gleichberechtigung der Menschen abhebt. Das ist zunächst mal das Erste. Und das Zweite, das haben Sie völlig richtig gesagt, der Mensch ist ein Sozialwesen und das wird immer weniger erkannt, auch von denen, die die führenden Meinungen haben in der Republik. Wenn man mit den Wirtschaftsverbänden – ich habe mal einen erlebt, den Vorstandsvorsitzenden von Continental – der hatte in einer Diskussion an der Passauer Uni gesagt, Hartz IV ist für mich das beste Gesetz, das in Deutschland verabschiedet ist. Da habe ich gesagt, ja warum ist Hartz IV das beste Gesetz? Dann hat der gesagt, weil der Krankenstand in meinem Unternehmen noch nie so niedrig gewesen ist, seit es dieses Gesetz gibt. Das weiß die Kassiererin in den Läden, bei uns in den Baumärkten, überall. Die haben Angst, krank zu werden, weil sie den Job verlieren, weil sie dann diesen Ansprüchen nicht mehr genügen. Das ist kein Sozialwesen. Und deswegen muss man erkennen, dass eine sozialgerechte Ordnung nicht mehr realisiert werden kann wie im Mittelalter. Das haben Sie auch erwähnt, mit Lazaretten und warmen Suppen, sondern eine gerechte Sozialordnung braucht auch Gesetze. Und braucht eine gesetzlich verfügte Solidarität, beides gehört zusammen. Und Nächstenliebe ist ein moralischer Wert, das ist gar keine Frage, aber mit diesem Begriff können die Leute heute nichts mehr anfangen. Wir brauchen wieder das Bewusstsein, dass das eigentliche Problem Solidarität ist. Ich hätte das Buch anders genannt, ich hätte nicht gesagt »Freiheit statt Kapitalismus«, sondern »Solidarität statt Kapitalismus«. Denn bei uns auf der ganzen Welt ist die Freiheit gar nicht so sehr gefährdet, aber die Solidarität gilt nicht mehr, obwohl es ganz offensichtlich ist, dass es ein 236 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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schwerer gedanklicher Fehler ist, also selbst Hans-Olaf Henkel, der frühere Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, führende Vertreter der AfD, auch einer wie Guido Westerwelle, oder wer auch immer, Rainer Brüderle. Die haben sich nach ihrer Geburt nicht selber gefüttert, oder sich selber gewickelt, sondern sie waren, um überleben zu können, auf die Mitwirkung anderer Menschen angewiesen. Also Menschenwürde, Anerkennung der Menschenwürde, und zweitens die Erkenntnis, dass Solidarität eine Pflicht ist, wir haben die Pflicht, denen zu helfen, die in Not sind. Und um dies wieder zur Grundlage des menschlichen Handelns zu machen darf man die Politik nicht allein lassen. Die politischen Parteien können das nicht leisten. Wir brauchen die Gewerkschaften, die da genauso versagen. Und am meisten versagen diejenigen, die das am besten machen müssten, nämlich die Kirchen. Die Kirchen leisten zurzeit, und seit Jahren und Jahrzehnten im Gegensatz zu der Zeit vor 60 Jahren, NellBreuning, ich nenne nur diesen Namen, keinen Beitrag hinsichtlich einer Konzeption einer Welt-, Sozial- und Wirtschaftsordnung. Der jetzige Papst hat das zum Ausdruck gebracht … Bei dem jetzigen Papst ist die Hoffnung vorhanden, dass er eben diese Dinge jetzt anders sieht und auch anders aussagt, und zwar, weil er es so macht, nicht in Form einer Enzyklika, die kein Mensch lesen kann, wird dann auch noch auf lateinisch geschrieben, sondern indem er es in wenigen Sätzen klar zum Ausdruck bringt und zwar so, dass die Menschen es verstehen. Senger-Schäfer: Sie haben Frau Wagenknecht ja jetzt den Tipp gegeben, dass das Buch besser »Solidarität statt Kapitalismus« gehießen hätte. Ich denke, dazu muss sie Gelegenheit bekommen, etwas zu sagen. Wagenknecht: Die Frage ist ja auch, wie verstehen wir Freiheit, also ich finde, eine grundsätzliche unsolidarische Gesellschaft ist auch eine unfreie Gesellschaft. Weil sie uns natürlich auch elementarer Freiheiten beraubt, also für mich ist Freiheit nicht nur, dass man eben seine Privatsphäre schützt, das sind ja alles Dinge, die heute überhaupt nicht mehr gewährleistet sind. Also, sobald wir ins Internet gehen, werden all unsere Daten abgeschöpft und gespeichert, mindestens von Privatunternehmen, wenn man Pech hat, auch noch vom BND, der das dann an den NSA weitergibt, also das sind alles wichtige Freiheiten. Aber für mich ist Freiheit noch wesentlich mehr als das. 237 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Freiheit ist schon, dass ich in einem Gemeinwesen lebe mit anderen Menschen, das mir Entfaltungsmöglichkeiten gibt – das heißt, eine Gesellschaft, wo Kinder armer Menschen von vornherein weniger Chancen haben auf gute Bildung als Kinder reicher Menschen, ist für mich eine unfreie Gesellschaft, weil die Chance, sich zu entwickeln, zu entfalten natürlich ein Freiheitsmoment ist, oder auch das, was wir gerade in Folge der Agenda 2010 am Arbeitsmarkt haben. Wenn Menschen nur noch befristete Jobs kriegen, die dann natürlich auch sich nicht mehr wehren werden, weil sie wissen, wenn sie sich wehren, dass dann ihre Befristung ausläuft, das ist ein Element von Unfreiheit und natürlich auch gerade, was Sie angesprochen haben, Hartz IV. Hartz IV macht unfrei, weil man viele Dinge einfach nicht mehr wagt, … verliere ich meinen Job? Falle ich in dieses soziale Loch? Deswegen für mich ist der Freiheitsbegriff weiter, aber ich will ja gar nicht polemisieren, also ich bin absolut bei Ihnen, bei der Aufwertung oder bei dem Bezug auf den Begriff Solidarität. Und ich finde auch, Solidarität und Nächstenliebe sind eigentlich zwei sehr ähnliche Dinge, das kann man unterschiedlich benennen, aber es heißt ja eigentlich das gleiche. Es heißt, dass mir nicht egal ist, wie es dem anderen neben mir geht. Dass mir nicht egal ist, wie es denen geht, die in dieser Gesellschaft eben nicht auf der Gewinnerseite sind. Und auch, dass es mir nicht egal ist, dass in Griechenland inzwischen tatsächlich Familien wieder hungern. Aber stattdessen ist es leider so, dass natürlich auch, auch gefördert durch bestimmte Zeitungen in diesem Land, eher sozusagen der Stammtischdiskurs ist, na die Griechen sollen doch bleiben wo sie sind. Und da finde ich einen Aspekt wichtig, den haben Sie angesprochen: dieses Wertesystem, welche Werte gelten in einer Gesellschaft? Das bestimmt natürlich auch mit, wie sich Menschen verhalten, gerade weil Menschen soziale Wesen sind. In einer Gesellschaft, wo Gier und Egoismus eher geächtet sind, also wo jemand, der absolut habgierig, egoistisch, ignorant sich verhält, schlecht angesehen ist, ist das natürlich schon eine Hemmschwelle, sich so zu verhalten. Was wir aber erleben, gerade im Zuge dieses ganzen neoliberalistischen Mainstreams, war ja sogar ein Kult dieser Eigenschaften, also das sind eigentlich die Cleveren, das sind die Smarten, die, die sich so durchsetzen können, die, die ihre Ellenbogen einsetzen, die, die dann auch oben ankommen, die Leistungsträger, als ob einer, der sich irgendwie am Finanzmarkt hochspekuliert hat, oder einer, der über Private Equity zig Unternehmen ausgeweidet hat, damit reich geworden ist, dass er Arbeitsplätze ver238 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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nichtet, als ob der ein Leistungsträger ist. Wir haben uns daran gewöhnt, jemand, der reich ist, als einen Leistungsträger zu bezeichnen. Und – wie gesagt – die Methoden, reich zu werden, haben wir legitimiert, also wir – also über die Medien, über den Diskurs, auch aus einer missverstandenen Interpretation von Adam Smith. Markt, das ist dort, wo lauter bösartige, habgierige Leute eigentlich nur bösartige und habgierige Ziele verfolgen, aber der Markt sorgt dafür, dass am Ende das Gute für das Ganze rauskommt. Und das ist eigentlich nicht Adam Smith. Adam Smith hatte ja diese »unsichtbare Hand«, die kommt zwar in seinem Werk vor, aber er hat ja nicht umsonst neben seinem ökonomischen Hauptwerk eine Ethik hinterlassen, also wirklich ein Werk über ethische Grundsätze, und er hat immer wieder darauf hingewiesen, dass eigentlich eine marktgeleitete Gesellschaft, die ihre ethische Grundlage verliert, furchtbar in eine ganz negative Entwicklung kommt. Dieser Neoliberalismus hat überhaupt kein Recht, sich auf solche Traditionen zu beziehen, weil es eine ignorante Ideologie ist, eine Ideologie, die bestimmten Interessen dient, sie auch legitimiert, aber die man auch deswegen hinterfragen muss, damit man die Werte, die damit verbunden sind, nicht akzeptiert, und sich ganz klar dagegen wehrt zu sagen, wer Erfolg hat, wer nach oben kommt, wer habgierig ist, der hat am Ende vielleicht sogar was für die Gesellschaft geleistet. Das ist nicht so und das muss man auch ganz klar infrage stellen. Geißler: Ja, ich möchte gerne diese Gedanken weiter ausführen. Und zwar, wir haben beide gesprochen von der Solidarität, aber auch von der Freiheit und der Menschenwürde, aber wir müssen jetzt glaube ich noch ein bisschen tiefer gehen, denn Sie und ich, wir alle miteinander, wir müssen die Frage beantworten, ist das denn richtig, was wir sagen? Woher wissen wir, dass die Vorstellungen, die ich vom Menschen habe, richtig sind? Warum soll eigentlich ein Arzt jemanden behandeln, medizinisch, auch wenn der gar kein Geld hat? Warum soll ein 85-jähriger ein künstliches Hüftgelenk bekommen? Warum soll bei dem der Dialyseapparat weiterlaufen? Warum sollen die in Indien, weil es dort so viele Mädchen gibt, mit Ultraschallgeräten die landauf, landab die Frauen untersuchen, Mädchen nicht abgetrieben werden? Warum eigentlich ist es falsch, wenn ein Unternehmer sagt, ich führe meinen Betrieb so, dass es meinen Interessen dient? Wir sagen, das ist falsch! Aber warum ist es falsch? Das muss man natürlich beantworten, diese Frage. Wir sagen: Das ist ein abso239 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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luter Anspruch, dass ein Unternehmer eben das Unternehmen auffasst als eine Organisation, das eben besteht aus denen, die das Kapital haben und den anderen, die die Arbeit verrichten. Und dann kommt noch Know-how dazu und vieles andere mehr. Und wir sagen, es ist ein absolutes Muss, dass ein Arzt, der ausgebildet worden ist mit Steuergeldern an der Universität, auch die Menschen behandelt, auch wenn die nicht so viel bezahlen können. Nur um dieses Beispiel zu nehmen. Das heißt, wir geben diesen Regeln, die wir für richtig halten als ethisches Fundament, einen Absolutheitsanspruch. Der unbedingt gelten muss. Aber warum ist das absolut richtig? Und jetzt kommen wir eben zu der entscheidenden Frage der Kirchen, aber von uns allen miteinander. Die Gültigkeit eines absoluten Anspruchs setzt von der Begründung her natürlich auch jemanden voraus, der ebenfalls unbedingt, absolut sprechen kann. Also jetzt will ich mal sagen, das ist der Gottesweis von vielen, die nach Kant gekommen sind, aber vor allem von Kant, Gott als Forderung nicht der reinen Vernunft, sondern der praktischen Vernunft. Er sagt, die Menschenwürde muss verankert sein in jemandem oder in etwas, das die Menschen selber nicht manipulieren können. Das unabhängig ist vom Menschen, das ist sein Gottesbeweis, den muss niemand für richtig halten, aber er hat eine gewisse Plausibilität. Bei uns in Deutschland gibt es den Artikel 79, Absatz 3, den praktisch niemand kennt, und dort steht, dass der Artikel 1 des Grundgesetzes und natürlich auch die daraus resultierenden Grundrechte und die Organisation des Staates in föderale Institutionen wie die Länder nicht geändert werden dürfen und zwar durch keine Mehrheit, auch wenn es 100 Prozent aller Abgeordneten wären. Das sind Ewigkeitsregeln, die wir in unserer Verfassung haben. Im Grunde genommen kommt darin zum Ausdruck, dass diese Verfassung, die wir haben, diese ethische Basis, diese ethische Grundlage hat. Das hätten wir auch in Europa machen können, da müsste jemand nicht an Gott glauben, aber die Erkenntnis, dass es ein ethisches Fundament geben muss, das die Menschen selber nicht manipulieren können, auch keine irgendwie geartete Mehrheit. Einige wenige Grundsätze, einige wenige Werte, die nicht abhängig sind von parlamentarischen Mehrheiten, das hätte man auch in Europa machen können, inklusive der Griechen. Aber man hat das Gegenteil gemacht, diejenigen, die anders denken, die sagen, man kann das Leben der Menschen manipulieren, so dass sie abhängig sind in ihrer Leistungsbereitschaft und ihrem Leistungserfolg. Und wenn sie dazu nicht in der Lage sind, dann werden sie eben aus240 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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gesondert, das heißt genau das getan, was Ludwig Erhard, von dem sie völlig richtig das positive herausgearbeitet haben, gesagt hat: Wohlstand für Alle. Das heißt, es wäre genauso wichtig, wenn auf dieser Ebene mit der griechischen Regierung geredet werden würde. Wir müssen uns angewöhnen, dass Europa nur dann eine Chance hat, wenn wir die Menschenrechte akzeptieren und weiter vertreten auf dieser Erde, uns insofern auch unterscheiden von den Chinesen, und von einem Teil der Amerikaner, das heißt, dass wir die europäische Grundlage wieder entdecken. Und das sind die Grundwerte der Französischen Revolution, das sind die Grundwerte der Leute, die auch die deutsche Einheit realisiert haben, die deswegen auf die Straßen gegangen sind, weil sie den Zustand in der DDR als unmoralisch empfunden haben, also was uns fehlt in der Diskussion, ist nicht Ökonomie. Davon hören wir genügend, was uns fehlt ist der Beitrag, den eigentlich die Kirchen leisten müssten, aber leider eben nicht leisten. Und deswegen müssen wir die Kirchen herausfordern, und sagen, ihr könnt nicht beiseite stehen und zugucken, wie sich die Welt verändert, sondern ihr müsst euch einmischen und nicht nur Glocken läuten und das liturgische Brimborium. Sondern ihr habt eine Verantwortung für die Menschen und die Ordnung dieser Erde. Senger-Schäfer: Das ist fast schon ein schönes Schlusswort für diese erste Runde. Ich bitte um Wortmeldungen Aus dem Publikum: Herr Dr. Geißler, Sie haben die Kirche jetzt so stark benannt. Ist es denn wirklich notwendig, in unserer heutigen Gesellschaft die Kirche so in die Verantwortung zu nehmen, denn das Elend, was wir hier erleben, hat ja nicht die Kirche produziert, sondern hat die Politik produziert. Und ich wehre mich ein Stück weit dagegen, jetzt diese alten Kirchensachen der Kirche überzuheften, zu sagen, ihr seid schuld, weil ihr da nicht ordentlich gegensteuert. Aus dem Publikum: Der Begriff Gier ist gefallen. Und ich habe eine Frage an beide, Ausbeutung ist ja bei Marx ein analytischer Begriff und kein wertender Begriff. Und deswegen funktioniert der Kapitalismus so wie er funktioniert. Das ist jetzt keine Bösartigkeit der Manager, sondern das System funktioniert so, weil es so funktionieren muss und deswegen würde ich gerne den Titel »Mut zur Utopie« nachfragen, wo sind denn jetzt die Vorschläge, wie man den Kapitalismus abschafft? Da warte ich drauf, da freue ich mich drauf, da ar241 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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beite ich mein Leben schon dran, von Ihnen erwarte ich jetzt die Antwort. Senger-Schäfer: Dann machen wir jetzt hier erstmal einen Break. Wo ist der Ansatz, dazu, wo ist die Utopie, wie sieht sie aus, den Kapitalismus abzuschaffen? Und die Frage war an Sie beide gerichtet. Wagenknecht: Ja, ich denke, das hängt ja ein bisschen zusammen. Also natürlich hängt eine Wirtschaftsordnung, die eben auf reinen Kommerz aus ist, die immer stärker von Finanzinteressen dominiert ist, in der der Finanzsektor immer größer wird, auch Banken eben nicht mehr Diener der Realwirtschaft, sondern quasi Universalherrscher geworden sind, große Fonds mit Billionen teilweise spekulieren, solche Wirtschaft bedeutet natürlich auch, dass sich eine bestimmte Ethik durchsetzt. Das kommt auch sozusagen aus dieser Wirtschaft, es kommt natürlich nicht von irgendwo. Ich glaube, wir brauchen beides. Wir brauchen ethische Grundsätze, wobei ich jetzt für mich persönlich sage, für mich sind die natürlich in einem religiösen Bezug verankert. Wobei ich zustimme, dass die Kirchen, die ihre Existenz ja darauf gründen, eigentlich ja in der Pflicht wären, da wenigstens das Wort zu erheben. Aber für mich … ich, ich brauche hier nicht die Kirche, um einen bestimmten ethischen Grundsatz zu haben, sondern ich finde, der ergibt sich auch ganz weltlich. Also aus dem humanitären Ideal, aus dem, was einfach der Mensch ist und aus seiner Menschenwürde. Und daraus ergibt sich, dass wir eine Gesellschaft anstreben müssen, in der diese Menschenwürde garantiert ist, und in der eben nicht der Mensch abgewertet wird zum ökonomischen Faktor, dem man auch die Lebensverhältnisse ruinieren kann, wenn dafür ein Prozent Rendite mehr rausspringt. Also da brauche ich keinen anderen externen Bezug. Aber ich meine schon, dass sich auch ökonomische Strukturen verändern müssen, also nicht nur die Ethik, weil, wie gesagt, in einem Konzern, der bestimmte Eigentumsstrukturen hat, ist es nicht eine Frage der Ethik des Managements, ob sie reguläre Arbeit durch Leiharbeit ersetzen, wenn die Politik ihnen das ermöglicht. Aber es ist dann auch nicht mehr der Freiraum des Managements, es anders zu machen, wenn die Eigentümerseite das will. Weil, sonst wechselt eben einfach der Manager. Dann schmeißen sie den raus und dann nehmen sie einen anderen. (…) Und deswegen glaube ich, müssen wir auch über diese Kernfrage, was Kapitalismus ausmacht, nämlich das wirtschaftliche Eigentum, reden. Also dass in 242 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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einer kapitalistischen Ordnung eben Unternehmen faktisch etwas ähnliches sind wie Autos, wie Einfamilienhäuser, sie sind privates Eigentum, dass man verkaufen kann, mit dem man handeln kann, das man vererben kann und bei dem man das Recht hat, quasi die Erträge sich anzueignen. Und das ist ja auch eine Debatte, die ja damals auch von der katholischen Soziallehre aufgemacht worden ist. Mit welchem Recht eigentlich jemand, nur weil er ein Anfangskapital bereitstellt, dann auch automatisch das gesamte im Unternehmen von den Beschäftigten erwirtschaftete Vermögen als sein Eigentum verbucht. Also John Locke hat mal gesagt, Eigentum entsteht durch Arbeit. Das meinte eigene Arbeit. Im heutigen Wirtschaftssystem entsteht Eigentum in Größenordnungen nicht nur eigene Arbeit, sondern dadurch, dass man andere für sich arbeiten lässt. Das ist rechtlich verankert, also die Rechtsstruktur unserer Unternehmen ist so. Und dieses Recht ist eigentlich ein Unrecht, und deswegen finde ich, wer sozusagen in einem Unternehmen arbeitet, wer das Unternehmen groß macht, natürlich als Unternehmensleiter, als Geschäftsführer, hat ein gutes Einkommen verdient, aber für seine Arbeitsleistung. Aber wer irgendwie nur Anlage, wer ein Unternehmen als Anlagevermögen betrachtet und da, wie wir das teilweise haben, also und wir hatten das ja auch bei Karstadt, irgendwelche Glücksritter, die sich da für einen Monat für einen Euro einkaufen und dann Millionen rausziehen und Unternehmen ausweiden, wo ist denn da ein Recht? Und deswegen ist für mich eigentlich die ideale Unternehmensverfassung die Mitarbeitergesellschaft, also die, wo nicht externe Anleger in einem Unternehmen sozusagen renditeorientiert arbeiten, also renditeorientiert dieses Unternehmen führen, sondern indem das Unternehmen denen gehört, die in diesem Unternehmen arbeiten. Einschließlich natürlich der Leitungsebene. Weil je größer ein Unternehmen ist, desto mehr geht eben sein Erfolg auch auf die Leistung derer zurück, die in ihm arbeiten und nicht auf die des Gründers. Insoweit müssen wir schon auch über Unternehmensstrukturen und Eigentumsstrukturen in der Wirtschaft sprechen, wenn wir tatsächlich eine humanere Gesellschaft wollen, und ich finde, dann muss man eben auch noch sagen, ich bin für Wettbewerb auf jeden Fall, ich bin auch für Marktmechanismen da, wo sie funktionieren. Also da wo es auch wirklich Wettbewerb geben kann. Aber es gibt Bereiche, die eignen sich nicht für Marktwirtschaft. Und da ist zum Beispiel auch der Gesundheitsbereich, oder Bildung, oder vieles mehr. Also da, wo es um Existenzielles geht, da ist der Mensch kein 243 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Kunde, oder da sollte er auch kein Kunde sein, weil ein Kunde wird danach behandelt, wieviel Geld er mitbringt. Und wenn ich das auf Gesundheitsleistung übertrage, heißt das eben, wer die bessere Versicherung hat, der kriegt auch die bessere Leistung. Ich finde das zutiefst inhuman. Wenn ich das aufs Bildungssystem übertrage, heißt das eben: der, der die reicheren Eltern hat, der hat auch die bessere Ausbildung, weil er die besseren Schulen, Privatschulen, Privatunis besuchen kann. Ich finde das zutiefst inhuman. Das ist ein Angriff auf die Menschenwürde, aber bei existenziellen Leistungen: Bildung, Gesundheit, auch Pflege im Alter, da kann es nicht sein, dass sozusagen das persönliche Geld darüber entscheidet, ob ich solche Leistungen in guter Qualität bekomme oder ob ich sie nicht bekomme. Weil das gehört für mich zu den ethischen Grundsätzen. Das sind Ansprüche, die jeder Mensch hat, einfach, weil er ein Mensch ist. Und das finde ich, sollte gesellschaftlich so akzeptiert werden. Geißler: Also erstens, der Kapitalismus, das ist ein großer Irrtum, ist nicht die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland! Von ihrer Konzeption her. Die Bundesrepublik ist ein sozialer Rechtsstaat, das steht im Grundgesetz. Und die Soziale Marktwirtschaft hat genau diese Grundlage gehabt, aber die haben wir nicht mehr. Ich will nur das Beispiel von Nokia in Bochum, glaube ich … Nokia gehörte den finnischen Investoren und Arbeitgebern in Helsinki. Die haben plötzlich entdeckt, in Bochum müssen wir einen Stundenlohn bezahlen von 18,50 ßeuroß, in Rumänien können wir dasselbe Handy herstellen für 6,50 ßeuroß. Also haben sie den Laden in Bochum dichtgemacht. Haben 5000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Existenzgrundlage verloren und die Firma hat die Produktion der Handys nach Rumänien transferiert. Die sind dafür bestraft worden, das ist ganz klar, weil die Arbeitsbedingungen in Rumänien natürlich so waren, dass sie lieber in Bochum geblieben wären. Nur dass dies möglich ist, das ist eben die Frage nach der Berechtigung des kapitalistischen Systems. (…) Im 18., 17. Jahrhundert wurden die Sklaven samt den Schiffen verkauft, und wenn das Schiff unterging, dann gingen die Sklaven mit unter. In einer solchen Situation befinden sich heute weite Teile der Unternehmen, ich rede jetzt gar nicht von den über hundert Zona Francas, die die Chinesen und was weiß ich in Mittelamerika oder Südafrika aufgebaut haben. Mit Zehntausenden Menschen, die keine Rechte haben. Wo Gewerkschaften verboten sind, wo sämtliche Standards der internationalen Arbeitsgemein244 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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schaft missachtet werden, wo Hungerlöhne bezahlt werden. Das ist weltweit überall in allen Kontinenten vorhanden. Und bei uns in Deutschland, der Mindestlohn ist etwas, was von bestimmten Leuten bis heute, auch den Unternehmerverbänden, bekämpft wird. Der Mindestlohn ist keine Maßnahme, es sei denn, man macht ihn so hoch wie die Linken, aber das ist echte – jetzt in Anführungsstrichen – »Utopie«. 8,50 ßeuroß, das kann ja niemals Existenzminimum sein, davon kann der Mensch auch nicht leben, wenn er eine Familie hat, aber der Mindestlohn hat eine andere Funktion, das müssten die mal kapieren. Das Denken geht bei der Geschichte flöten, das nämlich der Mindestlohn die Schmutzkonkurrenz der Lohndumpingnachbarn, der Friseur um die Ecke herum, der 3,50 ßeuroß bezahlt, obwohl er 8,50 ßeuroß bezahlen könnte, soll die Schmutzkonkurrenz verhindern. Ich war sieben Jahre Zentralschlichter im Bauhauptgewerbe und damals ist 1998 der erste Mindestlohn eingeführt worden in Deutschland, und zwar für die Baufacharbeiter und den normalen Arbeiter. Zwei Mindestlöhne auf Antrag der Arbeitgeber, weil sie sich die Schmutzkonkurrenz, den Lohndumping von Leuten, von Baufirmen, wehren wollten, die ihnen die Aufträge weggenommen haben und ihre Leute die Arbeitnehmer schlecht bezahlt haben. Der Kapitalismus ist genauso falsch wie der Kommunismus, Entschuldigung. Die Kommunisten – das war nicht die Frau Wagenknecht, die war vielleicht früher mal – die Kommunisten haben das Kapital eliminiert, ich spitze jetzt mal zu, und die Kapitaleigner liquidiert. So, das war ihre Konzeption, bekanntlich sind sie daran gescheitert. Der Kapitalismus, der macht das umgekehrt: er zerstört die Menschen am Arbeitsplatz, indem er sie entlässt, gerade wie er will, und er zerstört die Menschen selber in ihrer Existenz. Das heißt, der Arbeitsplatz wird liquidiert und damit eben auch der Mensch. Das ist das System. Beide Systeme, beide Ideologien sind falsch. Wir brauchen den dritten Weg, den haben Sie auch versucht zu beschreiben. Der dritte Weg einer – jetzt würde ich sagen – sozial-ökologischen Marktwirtschaft. Dafür brauchen wir eine Renaissance, das muss wieder realisiert werden. Jetzt kommt die Sache mit der Kirche, die Kirche hat es – das ist richtig – nicht verursacht, aber die Kirchen haben natürlich geschwiegen und geduldet, dass sich das so entwickelt hat. Jetzt müssen Sie sich einmal vorstellen, da haben jetzt die G7-Staaten in Garmisch ihre Tagung gehabt. Dagegen ist überhaupt nichts einwenden, da gibt es wieder Sitzungen der G20-Staaten, wo diese ganzen Themen, die Frau Wagenknecht am Anfang aufgeführt hat, mit der Armut auf 245 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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der Welt, und Klima und so weiter und so fort. Der Papst hat jetzt eine Enzyklika geschrieben über Umwelt und Klima. Das ist ja alles gut und recht, aber jetzt stellen Sie sich einmal vor, die Kirchen – die katholische Kirche – die gesamte Bischofskonferenz, an der Spitze die fünf Kardinäle in ihrem Kardinalsrot. Und da kamen die Bischöfe mit violett und ihren prächtigen Gewändern, die Prälaten, die Dompräbendare, die Domkapitulare und was es sonst noch an führenden Leuten in der katholischen Kirche gibt. Und dann vielleicht noch 5000 oder 6000 Pfarrer. Und dann kommen die Evangelischen. Allerdings schwarz gekleidet, aber immerhin weiße Beffchen. Und die würden, das würde ich jetzt mal gerne sagen, die würden in Garmisch oder in Berlin eine Demonstration machen, das heißt die modernen Formen der politischen Willensbildung ebenfalls ausnützen. Das wäre mit Demonstration vorm Alexanderplatz bis zum Brandenburger Tor und das Fernsehen müsste tagelang darüber berichten, die kämen von dem Thema gar nicht mehr weg, das heißt die Kirchen müssen jetzt endlich im Internet, aber auch durch die modernen Formen der demokratischen Willensbildung sich einmischen in diese Entwicklungen, das ist meine feste Überzeugung. Und wenn die nicht mitmachen, dann handeln sie unverantwortlich und sie können es nur richtig machen, wenn sie sich endlich einigen, wenn diese Spaltung überwunden wird, es sind zwei Milliarden Christen auf dieser Erde, der größte Global Player, den wir auf der Erde haben, und wenn die einheitlich unter einer richtigen geistlichen Führung sich einmischen würden in die Politik, was ihre Aufgabe ist, das hat Jesus nahezu jeden zweiten Tag getan. Der hat Krach gekriegt mit allen, die an der Macht waren. Mit den Sadduzäern und den Pharisäern – wenn die jetzt endlich das täten, was das Evangelium sagt, dann hätten wir in der Tat eine Chance. Mit der Hilfe – da muss man nicht Christ sein oder getauft sein – aber mit Hilfe der Kirchen, auch mit einer geistigen Führung die Welt wirklich zu verändern. (…)

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Heimat ohne Grenzen? (Talk bei Bloch. Live.) mit Alfred Grosser (Paris), Konrad Paul Liessmann (Wien), Mark Terkessidis (Berlin)

Moderation: Dietrich Brants (Südwestrundfunk) Kufeld: Heimat? Ausgerechnet dieser altbacken klingende Begriff hat heute wieder Konjunktur. Und dies, obwohl er von seiner rückwärtsgewandten Nostalgie und seiner »Blut und Boden«-Ideologie nicht ganz gelöst werden kann. Auf der anderen Seite – und das mag der Grund für seine geradezu utopische Aufladung sein – trägt Heimat Sehnsucht in sich und ist nach vorn gerichtet. Das Ewig-Gestrige, diese »Rück-Sicht«, ist am besten mit Ernst Bloch zu kontrastieren und seiner plastischen Formulierung: »was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war«. Heute ist »Heimat« nicht ohne Grund ein öffentliches Thema, ein Thema öffentlicher Debatten. ARD und Deutschlandfunk widmeten ihm größere Features, ständig ist es in den Gazetten. Für uns ist das nicht überraschend – und doch. Blochs Heimat-Verständnis ist zentraler Bestandteil der Utopie und in diesen Kreisen schon immer Thema, i. e. S. seit 1990 in Jahrbüchern, Almanachen, Tagungen und Vorträgen. Heute – im Rahmen der Reihe Talk bei Bloch. Live. – steht der Heimatbegriff mitten im politischen Raum. Heimat ohne Grenzen? Plötzlich hat er Resonanz. Aber leider immer noch missbraucht, wie eh und je. Und doch: unter den Vernünftigen ist Heimat durchaus nach vorn gewendet und Orientierungshilfe in dramatisch unübersichtlicher Welt. Und wird mit unsren Experten Herrn Professor Alfred Grosser, Herrn Professor Konrad Paul Liessmann und Herrn Dr. Mark Terkessidis politisch? Brants: Vielen Dank für die einführenden Worte, Herr Kufeld. Heimat ist ein deutsches Wort ohne Plural. Für das gibt es meines Wissens keinen – Heimaten ist nicht gebräuchlich im Sprachgebrauch. Ersatzweise kann man vielleicht Identität verwenden, das hat zumindest den Vorteil, dass es dafür einen Plural gibt. Den verwenden Sie, Herr Professor Grosser, in ihrem Buch als Untertitel, deshalb würde 247 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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ich gerne diesen Plural als Konzept verstehen, das deklinieren Sie durch in diesem Buch 1, politisch, historisch, sogar ökonomisch – viele andere Themen, aber ich würde Sie gerne zuerst persönlich fragen, wenn Sie erlauben: Welche Identitäten – Plural! – haben Sie, würden Sie sagen – und weshalb bevorzugen Sie den Plural? Grosser: Weil ich viele Identitäten habe, wie jeder von uns, ich bin alt und nicht jung, meine vier Söhne arbeiten für mein Ruhestandsgeld, ich bin Professor, das heißt: ich kann nicht arbeitslos werden. Das gibt mir eine Identität, die radikal anders als wie die, die arbeitslos sind oder arbeitslos werden können. Ich bin Mann und nicht Frau, das gibt mir noch in der deutschen und in der französischen Gesellschaft viele Vorteile – und dann käme auch die Frage, was die Heimat für mich ist, und die Antwort ist Frankreich – aber das muss ich etwas differenzieren. Zuerst einmal glaube ich, sagen zu müssen, Heimat ist an sich nicht das Land. Im Ersten Weltkrieg wurde von deutschen Soldaten viel gesungen: »In der Heimat, in der Heimat, da gibt’s ein Wiederseh’n«, das war nicht Deutschland, das war Bayern, das war irgendein Ort. Bei Edgar Reitz im Film Heimat ist es nicht Deutschland, es ist eine gewisse kleine Gegend, und in diesem Sinne ist Heimat selten der Staat. In meinem Fall ist es Frankreich, und zum Beispiel wenn in dem Programm steht, ich sei deutsch-französisch, protestiere ich, denn ich bin nicht deutsch-französisch, ich bin Franzose. Und wie ist das gekommen? Dass ich völlig verfranzösisiert wurde? Natürlich könnte ich sagen: wo ist meine Heimat? Und ich habe auch den Frankfurter OB sehr gekränkt, als ich die Laudatio für Marion Dönhoff machte und begann: Frankfurt ist mein Geburtsort und nicht meine Heimatstadt. Er war sehr empört über diese Formulierung. Und ich könnte sagen: es könnte dort sein, wo das Grab, das gemeinsame Grab – Vater, Mutter, Großmutter, Schwester – und wo meine Frau und ich auch begraben werden. Aber an sich ist es Frankreich – warum? Weil ich total französisiert geworden bin; um nur ein Beispiel zu geben: wenn ich jetzt ein Buch geschrieben habe, erlaube ich dem deutschen Verleger, der das wunderbar gemacht hat, mein Deutsch ein bisschen zu korrigieren. Wenn der französische Verleger das tun würde, würde ich sagen, ich verlasse den Verlag. Denn, eben, meine Sprache ist vor allen Dingen Französisch. Und ich mache Fehler manchmal auf Deutsch. Und ich glaube, diese Verwurzelung in Frankreich macht auch, dass ich mich als Franzose zuerst fühle, als Europäer natürlich – das gehört dazu – und unser Präsident jetzt hat 248 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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gezeigt, dass man zugleich Franzose und Europäer sein soll. Aber, ich glaube, in Deutschland habe ich zwei menschliche Gemeinschaften, denen ich nicht angehöre, dass ich mit denen mitmachen darf, mitkämpfen darf, gegen die Bösen, und für die Guten. Das ist als Franzose in Deutschland und als Atheist im Katholizismus. Und in beiden Fällen werde ich akzeptiert, ich darf mitmachen, und man weiß, dass ich draußen bin. Und in Deutschland fühle ich mich ein bisschen als Onkel der Bundesrepublik seit der Zeit – aber von draußen. Und ich mische mich viel ein in Deutschland, aber immer von draußen, mit einem Gefühl der Mitverantwortung für das Geschehene. Eine Mitverantwortung, die nicht eine Beteiligung von innen bedeutet. Brants: Ein zweiter Punkt ist Ihnen wichtig, das lernt man sehr schnell in Ihrem Buch – wenn es um Identität geht. Sie zitieren den Philosophen Emmanuel Lévinas. Der schreibt wörtlich: »Die Identität des Individuums besteht nicht darin, sich von außen identifizieren zu lassen, durch den Finger, der auf einen zeigt.« So haben Sie es jetzt auch selbst gehalten, und Sie haben das selbst bestimmt. Grosser: Das ist eines der Hauptthemen des Buches: der Finger, der auf einen zeigt. Es gibt nicht das Wort »die«, das sollte vermieden werden – es gibt nicht »die« Deutschen, »die« Frauen«, die« Franzosen, »die« Bayern und so weiter. Übrigens die Identitäten … ich denke da, ich habe gesagt: Bayern – ich kenne Bayern, die sich als Bayern fühlen. Habe noch nie einen Nordrhein-Westfalen getroffen, der sich als Nordrhein-Westfale fühlt, und noch nie einen Baden-Württemberger getroffen, der sich als Baden-Württemberger fühlt. Also das sind ganz andere Heimaten in Baden und in Württemberg. Aber um zurückzukommen: was macht eigentlich die Identität aus? Wenn ich versuche, Menschen zu begreifen, die anders sind als andere derselben Kategorie. Wenn wir 1945 – wir, sagen wir: französische Hitleropfer, wenn wir gesagt hätten, »die« Deutschen, dann hätte es heute noch keine deutsch-französischen Beziehungen gegeben. Wir haben gesagt, es gibt die Deutschen, »die«, und die Deutschen, »die anders«. Konzentrationslager sind von Deutschen aber für Deutsche gegründet worden. Als die ersten Franzosen in Buchenwald oder Dachau angekommen sind, hatten dort schon Hunderttausende von Deutschen gelitten oder waren gestorben. Also musste man mit anderen Deutschen und nicht »die« Deutschen zusammengehen. Und das ist etwas, was ein ständiger Kampf sein muss, gegen das »die«. 249 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Brants: Dieser Finger, der auf einen zeigt, die Identität, die einem zugeschrieben wird, das ist auch ein Thema in Ihrem Buch, Herr Terkessidis: Interkultur 2. Sie plaudern da auch ein bisschen aus ihrem Leben. Und erzählen zum Beispiel die Geschichte, dass Sie in der Grundschule – weil Sie einen griechischen Nachnamen haben – als Spezialist für Griechenland angesprochen worden sind. Plötzlich waren Sie »der Grieche« – wegen des griechischen Nachnamens. Das ist zum Beispiel so ein Finger, nehme ich an, der auf einen zeigt. Dabei sind Sie inzwischen Spezialist für ganz anderes und für vieles andere, zum Beispiel für die Popkultur, »Entsichert« heißt ein für mich wunderbares Buch über den Krieg und die Kriegssymbolik in der Massenkultur. Passiert es Ihnen heute noch, dass Sie wegen des griechischen Nachnamens als Spezialist für Griechenland angesprochen werden und plötzlich Auskunft geben müssen, sagen wir über die Schuldenkrise und dergleichen? Terkessidis: Ja, Sie können sich ja vorstellen, dass das dieser Tage immer noch so ist! Ich meine, mit dem Alter wird es etwas besser. Also in der Schule war es so, dass ich auch der Fachmann für die griechische Antike sein sollte – also, ich war gar nicht in der Schule, um irgendwas zu lernen, sondern das Wissen über meine Herkunft floss irgendwie so durch meine Adern, einfach so. Und lustigerweise ist es so, dass wenn man heute teilweise mit Eltern von Schülern zum Beispiel türkischer Herkunft redet, das immer noch genauso ist. Ich bin noch nie so oft zu einer Talk-Show eingeladen worden wie während der Griechenlandkrise, obwohl ich mich gar nicht erinnern kann, dass ich sehr viel zu Griechenland geschrieben habe. Da wird natürlich der Alibi-Grieche gesucht, der in jeder Talk-Show sitzen kann und in meinem Fall ist es noch mal besonders absurd, weil ich sozusagen eine deutsche Mutter und einen Vater habe, der aus Griechenland eingewandert ist, aber schon in den 1950er Jahren. Also, das heißt: es gibt den Namen und es gibt natürlich sozusagen transnationale Familienverhältnisse, aber nichtsdestotrotz stand für mich eigentlich die Zugehörigkeit nie zur Disposition. Es war ziemlich befremdlich, wenn man sagt, ich bin aus Eschweiler, wo ich geboren bin, in der Nähe von Aachen, und jemand sagt dann, aber wo sind Sie denn eigentlich her? Brants: Es gibt eine schöne Anekdote in dem Roman, »White Teeth« (Zähne zeigen) von Zadie Smith. Da wird einem Jungen, dessen Eltern aus Indien eingewandert sind, auch diese Frage gestellt: »Wo 250 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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kommst Du eigentlich her?« Und er sagt dann: »Wimbledon Hospital.« – und das ist wahrscheinlich sehr präzise. Also ich nehme an, Herr Grosser hat gerade gesagt, Deutsch-Franzose möchten Sie auf keinen Fall genannt werden. Ich nehme an, Deutsch-Grieche wollen Sie auch nicht genannt werden, Herr Terkessidis? Das hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass Sie mit dem Begriff Identität wie mit dem Begriff Integration sehr skeptisch umgehen, oder diese Begriffe Ihnen höchst suspekt sind. Weshalb ist das so? Weil da eine Grenze gezogen wird … Herr Kufeld hat es eingangs genannt, es wird eingegrenzt mit dem Begriff Identität, es wird aber auch abgegrenzt, man kann auch ausgrenzen damit. Weshalb sind Ihnen diese Begriffe suspekt? Terkessidis: Wenn es um Identität geht, ich weiß nicht so richtig, was das ist. (…) Selbst auf den Konferenzen, wo dann großartig herumgeredet wird, wie sehr wir den Begriff jetzt kritisch sehen, wie sehr wir mehrere Identitäten haben – sobald der Begriff im Spiel ist, hat jeder dann doch das Gefühl, dass es irgendwas Greifbares sein soll. Und es gibt auch keine Theorien letztendlich, obwohl wir den Begriff so oft benutzen, der diesen Begriff so sinnvoll definiert, dass der eigentlich ganz gut theoretisch untermauert wäre. Und dann befinden wir uns ja auch in einer Zeit, wo wir alle im Grunde erleben, wie sich so traditionelle Milieus nicht nur durch die Einwanderung, aber natürlich auch durch die Einwanderung auflösen. Und ich glaube, der Begriff Integration, der simuliert uns dann ganz oft immer, dass wir alle irgendwann mal in den Zustand zurückkehren, in dem wir alle eine glückliche friedliche, monoethnische Familie gewesen sind und das dann wieder werden können, und ich glaube, das werden wir nicht wieder werden. Und das ist aber auch gar nicht so schlimm, weil im Alltag, glaube ich, kommen wir im Großen und Ganzen viel kommoder miteinander aus als das manchmal durch auch mediale Berichterstattung suggeriert wird. Und ich glaube, darauf kann man auch aufbauen, auf diesem kommoden Miteinanderumgehen, und dann braucht man vielleicht eher einen Vielheitsplan als ein Integrationskonzept. Brants: Ich merke, Herr Grosser, Sie wollen auf die Kritik der Identität reagieren, aber ich würde gerne natürlich zuerst Herrn Liessmann in das Gespräch einflechten, und tue das ganz simpel, indem ich Ihren Buchtitel aufgreife: »Lob der Grenze«. 3 Da geht es um ganz verschie251 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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dene Phänomene, die Sie unter Grenze fassen. Es geht um die Grenze zwischen Jung und Alt, zwischen Sein und Nichts, zwischen öffentlich und privat, es geht sogar um die Belastungsgrenze, an die man stoßen kann, beim Sport, und, so habe ich es verstanden, ist für Sie die Grenze zwischen Ich und Welt eine Erkenntnis aus der Entwicklungspsychologie, wenn das Kleinkind nicht lernt abzugrenzen, zuerst von Gegenständen, von anderen Menschen und überhaupt von der Welt. Dann wird es keine Identität, keine Ich-Identität ausbilden, also ist die Grenze oder Das-Grenze-Ziehen etwas ganz Natürliches. Durchgängig ist bei Ihnen, dass Sie einen Unterschied feststellen: die Grenze markiert einen Unterschied. Es gibt dann kein Sowohl-alsauch, sondern ein Entweder-oder. Und, Sie ahnen es, die Frage muss natürlich nach dem Eingangsgespräch lauten – Sie markieren das als Vorteil – ist das auch ein Vorteil, wenn es um Identität oder Identitäten geht? Liessmann: Sie haben völlig richtig darauf verwiesen, dass ich den Begriff der Identität, sofern ich ihn überhaupt verwende, sehr ungern gebrauche, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Ludwig Wittgenstein hat in seinem »Tractatus logico-philosophicus« mal geschrieben, der Begriff der Identität sei eigentlich unsinnig. Denn entweder besagt er, dass eine Sache mit sich selbst identisch ist, also A ist gleich A, dann brauche ich nicht eine Identitätszuschreibung vornehmen, dann ist das so wie es ist – oder ich sage, etwas ist identisch mit etwas anderem, dann ist es offensichtlich nicht identisch, sonst wäre es ja nichts anderes. Das heißt also, dort, wo wir Differenzen markieren, kann ich nicht von Identitäten sprechen, dort wo es keine Differenzen gibt, erübrigt sich die Rede von Identität. Das heißt, wenn überhaupt, dann würde ich diesen Begriff eher in einem psychologischen Sinn verwenden. Ich selbst würde allerdings den Begriff Ichbewusstsein oder Selbstbewusstsein vorziehen. Es geht um das Wissen des Menschen oder das Nachdenken in der Reflexion darüber, wer er ist und wie und in welchem Verhältnis er zur Welt steht und wie er dieses Weltverhältnis entwirft. Identität oder Identitäten in einem sozialen Sinn, kulturellen Sinn, religiösen Sinn, politischen Sinn würde ich einfach nicht verwenden. Ich glaube, dass hier ein Begriff wie partielle Zugehörigkeiten durchaus ausreicht. Genauso, wie es Herr Grosser gesagt hat. Ich bin auch ein Mann, gehöre deshalb zu diesem Teil der Weltbevölkerung, aber ist das jetzt meine Identität? Meine Identität wäre es nur, wenn ich nichts wäre außer Mann, aber 252 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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das bin ich nicht. Ich bin auch noch Angehöriger einer speziellen Sprachkultur. Ich bin Liebhaber von Opern, teile diese Leidenschaft wiederum mit sehr vielen Menschen, die nicht Mann sind, sondern zum Beispiel Frauen sind oder intersexuell und trotzdem gern in die Oper gehen. Das heißt also, diese Formen von Identitätszuschreibungen engen unglaublich ein und legen einen Menschen auf einen einzigen Aspekt seiner Existenz fest. In meiner Jugend war ich Maoist. Jetzt bin ich es nicht mehr. Identität hieße, dass ich noch immer, wie es mein Wikipedia-Eintrag macht, auf diese Jugendsünde festgelegt werden soll. Identitäten: das ist der Finger von außen, das sind Zuschreibungen, die unverrückbar gelten sollen, obwohl sie nicht unverrückbar sind. Deshalb habe ich da größte Schwierigkeiten. Aber auf der anderen Seite – da haben Sie natürlich völlig Recht – glaube ich trotzdem, dass der Wechsel von Identitätszuschreibungen oder von Zugehörigkeitsgefühlen, von Bindungen, die man eingehen kann und wieder auflösen kann, jetzt kein Argument dagegen ist, dass nicht von Fall zu Fall bestimmte Grenzen gezogen werden und gezogen werden müssen, sowohl im Denken wie auch im Handeln, und das tun wir natürlich auch. Jeder, der versucht, einen Begriff zu definieren, zieht eine Grenze. Definition wörtlich übersetzt bedeutet Grenzziehung. Jeder, der sich jetzt klar darüber werden will, was Identität eigentlich bedeutet, möchte natürlich diesen Begriff der Identität von anderen Begriffen, Deutungen, Interpretationen bis zu einem gewissen Grad abgrenzen, sich dagegen verwehren, hier nicht falsch verstanden zu werden. Im sozialen Leben legen wir natürlich auch höchsten Wert darauf, mit bestimmten – sagen wir mal – politischen Gruppierungen nicht verwechselt zu werden. Ich nehme an, dass die Grenze zwischen den meisten von Ihnen und der AfD nicht fließend ist, sondern ziemlich strikt gezogen wird. Und obwohl Sie diese weder in die eine noch in die andere Richtung überschreiten, sind Sie froh, dass es diese Grenze gibt, dass Sie sie benennen können, warum diese Grenze für Sie nicht fließend sein kann, weil Sie mit denen das und das und das nicht gemein haben, obwohl Sie vielleicht im selben Ort geboren worden sind, also vielleicht ein Heimatgefühl teilen, das Sie bei aller Differenz womöglich verbinden könnte. Was mich am Phänomen der Grenze fasziniert, ist ja nicht, dass hier die Grenze eine Abschottung erlaubt und eine starre Identitätszuschreibung – ganz im Gegenteil! Das habe ich bei dem Philosophen Hegel gelernt, über den Ernst Bloch ein wunderbares Buch geschrieben hat – »Subjekt -Objekt« –, dass die Grenze ihre Attraktivität deshalb hat, 253 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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weil der Begriff der Grenze höchst ambivalent ist. Denn etwas als eine Grenze zu bestimmen oder als eine Grenze zu erkennen, heißt gleichzeitig zu erkennen, dass dieses Etwas überschreitbar ist. Grenzen sind dadurch definiert, dass sie zwar auf der einen Seite etwas voneinander unterscheiden, dass diese Unterscheidung aber, weil es eine Grenze ist, immer in beide Richtungen überschreitbar sein muss. Das macht Grenzen übrigens auch so attraktiv, für Überschreitungen aller Art. Hätte es keine ästhetischen Grenzen gegeben, gäbe es keine Moderne Kunst. Diese hat davon gelebt, dass Grenzen überschritten werden können und es hat unglaublichen Spaß gemacht, solche Grenzen zu überschreiten – und Sie alle wissen, es macht manchmal sogar Spaß machen kann, die Grenzen des guten Geschmacks zu überschreiten. (…) Und wir alle wissen, dass wir es als eine zutiefst noch immer eine entscheidende und verstörende Grenzverletzung empfinden würden, wenn, ohne dass wir irgendeine Ahnung haben, warum – so wie in Franz Kafkas Prozess – plötzlich jemand vor der Tür stünde, uns verhaftet, mit Gewalt in Haft nimmt, keine Auskunft gibt, warum und wieso, und uns sozusagen in dieser Integrität verletzt, indem er eine Grenze überschreitet. (…) Brants: Da handelt es sich ja aber doch um sehr verschiedene Grenzen. Also bei der Körpergrenze oder der Grenze zwischen Ländern, an die könnte man denken, als Sie vorhin sagten, dass es auch eine Lust sein kann, die Grenze zu überschreiten und das ist dann eine durchlässige Grenze. Grosser: Ja, ich wollte zuerst reagieren auf etwas, was Sie gesagt haben. Was nur ein Deutscher sagt: Nämlich »Immigrationshintergrund«. Das sagt in Frankreich kein Mensch. Terkessidis: Issues de l’Immigration! Ja, das ist doch das gleiche, oder? Grosser: Niemand von Ihnen sagt, Sarkozy ist Sohn eines ungarischen Immigranten. Niemand sagt, er hätte einen Immigrationshintergrund. In Deutschland sagt man das noch von Özdemir, als sei das nicht ein normaler deutscher Politiker. Und der Unterschied ist natürlich auch, dass auf der anderen Seite alle unsere jungen Leute in den sogenannten Vororten Franzosen sind und als Franzosen trotzdem diskriminiert werden. Diskriminiert in der Schule, diskriminiert 254 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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durch die Polizei und so weiter. Dann suchen sie eine andere Identität und finden den Islam. Aber nicht der Islam war zuerst da, sondern die Diskriminierung – das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt: Die Grenze, das ist das, was viele junge Leute erreicht haben in Deutschland, und die möchten jetzt in Deutschland beheimatet sein. Was wird dann von ihnen verlangt? Das heißt: inwieweit sollen sie das Schicksal Deutschlands in der Vergangenheit als das eigene Schicksal nehmen? Da scheint mir ein fundamentales Problem heute zu sein. Und die Antwort ist meiner Ansicht nach die, die ich den Gymnasiasten gebe, ich spreche viel in Gymnasien, in Realschulen, in Berufsschulen in Deutschland, und bekomme immer die Frage, was geht uns eigentlich ’33–’45 noch an? Und ich sage immer, ihr habt das Glück, in einem Staat zu leben, der nicht als Nation gegründet worden ist, sondern auf eine politische Ethik, die doppelte Ablehnung, wie Hitler in der Vergangenheit, und in erster Linie Nachbarschaft. Das ist eine politische Ethik. Und die müsst ihr befolgen – das ist euer Erbe. Und das soll das Erbe der Neuen sein. Man soll nicht fragen, wie es in Stuttgart vor ein paar Jahren der Fall war, was hat dieser Maler auf Rügen gemalt? Das wusste doch kein deutscher Staatsbürger! Was ist im Sommer in Bern 1954 passiert? Das wissen die jüngeren Generationen auch nicht mehr, dass damals die Deutschen den Ungarn in der Vorrunde die Beine zerschlagen haben und dann im Endspiel gesiegt haben. Aber dieses Einführen in eine gemeinsame Ethik – und welche Ethik? Und da bin ich bei meinem dritten, aber letzten Punkt, aber der für mich sehr wichtig ist. Ihr sollt Distanz nehmen zu euren Zugehörigkeiten, zu euren Identitäten, um das Leiden der Anderen zu verstehen. Ich gebe mal ein persönliches Beispiel. Weil ich völlig Franzose geworden war habe ich die französischen Verbrechen im Algerienkrieg mehr gebrandmarkt als schlimmere Verbrechen von anderen Ländern. Es ist, weil meine vier Großeltern Juden waren, dass ich Israel mehr für die Unterdrückung der Palästinenser kritisiere als andere Länder, die noch mehr unterdrücken. Das ist die Distanz zu sich selbst, um das Leid der Anderen zu verstehen. 1945 konnten wir von keinem jungen Deutschen verlangen, das Ausmaß von Hitlers Verbrechen zu kennen, wenn wir nicht ein echtes Mitgefühl hatten für ihre Familie, barbarisch vertrieben aus der Tschechoslowakei, Überlebende der Bomben auf Hamburg oder Dresden. Heute – und das habe ich auch in der Paulskirche gesagt am 9. November – kann ich von keinem jungen Palästinenser verlangen, dass er wirklich die Attentate verurteilt, wenn ich hier ein echtes Mitgefühl habe für das 255 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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große Leiden in Gaza und in den Gebieten. – Das Verstehen des Anderen, das Leiden des Anderen, ist die Voraussetzung einer Gesellschaft in Moral, die das anerkennt und die ihm hilft, Mensch zu werden, indem er Distanz nimmt zu sich selbst, und dann die Leiden der Anderen auch erkennt. Brants: Das verlangt den Perspektivwechsel. Nicht nur die Fähigkeit, sondern auch die Möglichkeit des Perspektivwechsels, also auch zum Beispiel die Geschichte eines Anderen einzunehmen. Grosser: Vor ein paar Tagen ist ein großer Preis gegeben worden an ein Deutsch-Polnisches Schulbuch. Wenn ich denke, wie mein Freund Rudolf von Thadden mit Trieglaff 4 Schwierigkeiten gehabt hat, als deutscher Historiker in der Auseinandersetzung mit den Polen um eine gemeinsame Geschichtsschreibung. Aber Deutsch-Polnisch, das ist ja ein enormer Fortschritt, und die gemeinsame Geschichte, das ist manchmal unwahrscheinlich schwierig zu machen, aber es ist nicht ganz neu. Als ich in dem Gymnasium vor dem Krieg war, bei SaintGermain-en-Laye bei Paris, war das große Geschichtsbuch, das wir damals hatten, zum Beispiel für den Krieg ’70/’71 oder den Krieg ’14/’18 gab es ein Zusatzkapitel, die Übersetzung eines deutschen Geschichtsbuchs aus derselben Klasse, um zu zeigen, dass die Geschichte auch anders dargestellt werden konnte. Und das ist eine gute Erziehung. Natürlich ist es schwierig, natürlich stößt man dann aufeinander, aber es hat vieles Gutes gemacht (…). Brants: Das ist jetzt etwas zwischen Nationen. Polen und Deutschland haben Sie als Beispiel genannt, zu Deutschland und Frankreich – man könnte auch Israel und Palästina nennen und viele andere. Nun ist es aber ein Phänomen, Herr Terkessidis, das man natürlich auch in deutschen Großstädten findet. Gibt es viele, die nebeneinander leben, miteinander leben, Sie nennen das ein Nebeneinander unterschiedlicher Lebensentwürfe, in dem es keine gemeinsame Vergangenheit gibt? Was auch mit den Herkünften zu tun hat. Was müsste denn an die Stelle dieser, sagen wir mal, Vergangenheitsseligkeit treten, über die Herr Grosser schreibt, dass das Gewicht der Geschichte noch immer die Geister von heute prägt? Grosser: Ein ganz kurzes Beispiel: ich habe mal gesprochen mit einem Herrn Gauland, Vizepräsident der AfD und sehr nahe von Pe256 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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gida, und habe gefragt: Verteidigung des Abendlandes, okay, das heißt die Verteidigung von Abermillionen Toten der beiden Weltkriege, die Verteidigung von sechs Millionen toten Juden, die Verteidigung von Millionen Sklaven, die gestorben sind, das wollen Sie alles verteidigen? – Ja, so ist es nicht gemeint! Ja, wie ist es denn gemeint? Keine Antwort! Brants: Herr Terkessidis, wie bringt man Leute zusammen, gibt es ihnen vielleicht auch einen Eindruck von gemeinsamer Zugehörigkeit, wenn es unterschiedliche Vergangenheiten sind, auf die sie sich beziehen, zum Beispiel, um eine Identität zu konstruieren? Was gibt es für Alternativen? Terkessidis: Naja, vielleicht kurz zu dem Begriff Migrationshintergrund – also da haben Sie natürlich Recht, das ist irgendwie eine sehr deutsche Formulierung und wir sind ja auch immer bemüht, sozusagen dem Statistischen Bundesamt eine Kategorie zu geben, damit es was zu zählen hat … und so weiter, also das ist schon klar, und sehr deutsch, aber wenn man in die französische Literatur und Migration guckt, dann gibt es auch diesen Begriff Issues de l’Immigration, also aus der Migration stammend, besonders in Bezug auf Jugendliche algerischer Herkunft und so weiter, die dann sozusagen wieder besonders im Problemfokus der Öffentlichkeit stehen, also es ist nicht so, als ob es den Begriff nicht geben würde. Und dann muss man vielleicht im Vergleich von Deutschland und Frankreich auch nochmal sagen, dass Deutschland ein sehr junges Einwanderungsland ist. Deutschland hat 1998 erst anerkannt, dass es ein Einwanderungsland ist, oder wie damals es formuliert wurde: einen unumkehrbaren Prozess der Zuwanderung. Das klang damals für Leute, die sich mit dem Thema beschäftigt haben, ein bisschen lächerlich, aber zusammen mit der Veränderung des Staatsangehörigkeitsrechtes von 2000, weg vom Blutsrecht, hat das zum ersten Mal sozusagen eine Perspektive darauf geöffnet, dass die Bevölkerung überhaupt nicht ethnisch homogen ist. Seit 20 Jahren befinden wir uns eigentlich in einem neuen Raum. Davor sind auch ganz viele Politiker kontrafaktisch immer davon ausgegangen, dass diese Ausländer irgendwann mal nach Hause gehen würden. Und dann musste man natürlich kein einziges Problem lösen. Man konnte sich prima in einem Provisorium einrichten. Was natürlich Unsinn war, weil natürlich hatte schon ein Prozess der Ansiedlung stattgefunden, das heißt, wir befinden uns in dem Begriff 257 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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»mit Migrationshintergrund« in einer Welt, wo man vorher Ausländer gesagt hat, und wo im Grunde sozusagen die Einwanderung nach Deutschland natürlich immer noch so ein bisschen als Epiphanie wahrgenommen wird. Also 2015 – um Gottes willen! Jetzt kommen all diese Leute nach Deutschland – wenn Sie sich mal angucken, wieviel Leute zwischen 1965 und 2014 nach Deutschland gekommen sind, dann reden wir von 71 Millionen, die entweder in das Bundesgebiet gezogen sind für permanenten Aufenthalt oder vom Bundesgebiet weggezogen sind. Also Fluktuation von anderthalb Millionen pro Jahr. Da kommen einem die eine Million Syrer oder andere Geflüchtete gar nicht mehr so aufregend vor. Das ist Teil einer Normalität der Mobilität in einem ökonomisch wichtigen mitteleuropäischen Staat. Und Migrationshintergrund ist ein Begriff, der auf der anderen Seite sowas thematisiert wie Benachteiligung. Ich muss also sozusagen irgendwie so eine Kategorie haben, weil es ist so, wenn man in Deutschland Migrationshintergrund hat, ist zum Beispiel das Armutsrisiko immer noch bei 27 Prozent. Im Vergleich zur Bevölkerung deutscher Herkunft: 12 Prozent. Das ist schon enorm. Oder die Bildungsbeteiligung. Brants: Lassen Sie uns doch mal bei dem Thema bleiben, Migrationshintergrund. Es ist ja auch interessant, wie da eine Grenze gezogen wird – das ist ja eine sprachliche Grenze, die gezogen wird, wenn man die Formulierung vollständig nimmt, dann heißt sie Menschen mit Migrationshintergrund, aber gesehen wird da nicht »Le Mensch«, sondern gesehen wird dann der Migrationshintergrund. Also es ist eine Grenzziehung, die einen ganz offensichtlichen Zweck hat – und wenn es so ist, wie Sie es beschreiben, es gibt eine Normalität der Einwanderung, die sich statistisch hervorragend belegen lässt, aber sprachlich findet eine Grenzziehung statt. Warum ist die immer noch so populär? Man könnte das ja, ähnlich wie Herr Grosser es geschildert hat in Frankreich, ad acta legen und sagen: Sarkozy, naja, Vater aus Ungarn eingewandert, na und? Terkessidis: Aber die Frage ist, ob das in Frankreich so ist. Herr Grosser hat die Diskriminierung ja angesprochen, also es ist ja in Frankreich nicht so, als ob nicht diskriminiert würde. Also dass ich Franzose bin, wenn ich algerischer Herkunft bin, bedeutet ja noch nicht, dass …

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Grosser: Die Herkunft darf statistisch nicht erfasst werden. Terkessidis: Ist das ein Vorteil? (…) Ich bin mit einem griechischen Vater früher als Ausländer gesehen worden, jetzt habe ich Migrationshintergrund. Immerhin! Also man muss auch sozusagen gucken, wo diese Grenzziehungen herkommen. Und mit Migrationshintergrund gibt man sozusagen ja eine gewisse Zugehörigkeit rein. Ich schätze es nicht, aber ich muss auch sozusagen den Prozess anstoßen, indem man sozusagen zu dem Bewusstsein kommt, dass diese Gesellschaft vielheitlich ist und dass man das gestalten muss. Und das kann ich, im Moment nur, wenn ich diesen Begriff weiter benutze. Liessmann: Ja, und gleichzeitig war das ein wunderbares Beispiel von der Ambivalenz, die solche Grenzziehungen eben mit sich bringen. (…) Diskriminieren heißt ja an sich, wertneutral, etwas unterscheiden. Bei all diesen Diskriminierungen kann man immer sagen, dass es auf die politische Stoßrichtung ankommt. Ich kann sagen, ich brauche diesen Begriff des Migrationshintergrunds, um eben bestimmte Sozialbenachteiligungen zu erkennen, zu beschreiben, um gegensteuern zu können. Aber in dem Moment, wo ich diesen wunderbaren Begriff des Migrationshintergrunds habe, habe ich damit auch Probleme ad acta gelegt. Dann ist es halt so, dass Menschen von irgendwo anders zugewandert sind, aufgrund ihrer kulturellen oder sonstigen Situation offensichtlich nicht denselben Bildungsgang gehen können wie andere, und man muss sich deshalb nicht sonderlich drum bemühen, wenn man offensichtlich hier eine Wurzel des Versagens, oder eine Wurzel der Benachteiligung erkannt hat. Ich habe diesen Begriff Migrationshintergrund auch nie mögen – genauso wie Identität. Weil einerseits war es ja ein Versuch, wie Sie ja vorgeführt haben, von dieser reinen Inländer-, Ausländerbegrifflichkeit wegzukommen. (…) Vielleicht ist es besser, die Menschen, die hier leben, als diejenigen zu sehen, die sie einerseits als Individuen sind und andererseits als deutsche Staatsbürger. (…) Das hat mich deshalb so irritiert, weil Wien eine Stadt ist, die aus Zeiten der Monarchie ständig von Zuzug gelebt hat, vor allem aus Osteuropa, sodass kein Wiener einen wirklich deutschen Namen trägt. Ich bin einer der Wenigen, und zwar deshalb, weil ich kein Wiener bin, sondern mein Vater aus Deutschland kommt – ich habe sozusagen sächsischen Migrationshintergrund. Also in Wien fragt niemand, wenn jemand Pospisil heißt, woher kommst du eigentlich? Aus der Tschechoslowakei 259 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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oder aus Slowenien? Das ist ja kein deutscher Name, nein, in Wien tragen etliche Personen diesen Namen. Aufgrund der Geschichte der Zuwanderung seit dem 19. Jahrhundert haben Unzählige ungarische Namen oder tschechische Namen, polnische Namen, ukrainische Namen, weil alle aus der Monarchie zugezogen sind – haben diese jetzt in Österreich aus politisch korrekten Gründen einen Migrationshintergrund. Und ich halte das für einen Rückschritt, ehrlich! Grosser: Zuerst einmal völlig einverstanden – ich habe auch in meinen Büchern geschrieben, wir waren zwei Ausländer in der Schule in Saint-Germain-en-Laye. Deswegen sind wir auch sehr schnell Franzosen geworden, haben die Sprache gelernt. Wenn wir 60 Prozent Nicht-Französisch-Könnende in der Klasse gewesen wären, wäre das natürlich viel schwieriger gewesen. Der zweite Punkt ist, was ich nicht verstehen kann in Deutschland, dass ihr von Türken so ungefähr als Immigranten sprecht. Türken sind in Deutschland nach einem Staatsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und des Staates Türkei. (…) Aber sie sind eben anders, sie sind nicht Immigranten, und sie sind nicht Flüchtlinge. Sind ein Teil der Menschen in Deutschland oder in Frankreich nicht auch Christen? Die Frage muss man sich stellen. Zum Beispiel was rechtfertigt noch das C bei der CSU? Ja, wenn Sie sehen, dass im Namen des Christentums alle Menschen gleich angesehen werden müssten und im Namen von Ernst Bloch und in meinem müssten auch die Ungläubigen sagen, unser Humanismus zwingt uns, alle anderen als ebenbürtig anzuerkennen. (…) Wo beginnt die Freiheit der Kulturen? Wo endet die Möglichkeit, sich der gemeinsamen Ethik zu entziehen? Und da sehe ich keine gute Antwort und das scheint mir die schwierigste Frage zu sein, die wir mit der Immigration bei uns und bei Ihnen haben. Brants: Sehen Sie eine Antwort? Terkessidis: Ja, ich sehe die Probleme. (…) Sind 60 Prozent Kinder mit Migrationshintergrund, und da bin ich wieder bei dem Begriff, ein Hinderungsgrund dafür, die deutsche Sprache zu lernen? Und da würde ich sagen: Nein! Was bedeutet das eigentlich, in dem Fall, wenn ein Kind Migrationshintergrund hat, ich finde, das sind erstmal 100 Prozent Kinder. Und wenn Sie an eine Grundschule gehen und die Kinder beobachten, wenn sie eingeschult werden, die einen können schon lesen und schreiben, die anderen können gar nichts, die 260 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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einen können schon bis in die Tausender hineinzählen, die anderen können gar nichts. Manche Kinder haben nicht Deutsch als Muttersprache, manche Kinder haben Deutsch als Muttersprache und der Sprachtest hat gezeigt, dass sie trotzdem die gleichen Defizite haben wie die Kinder mit Migrationshintergrund – also das bedeutet manchmal gar nichts. Und in dem Moment, wenn ich die richtigen Konzepte habe, und wenn ich die Schule auf eine geeignete Art und Weise umstelle, muss das eigentlich kein Problem sein. (…) Ethnizität scheint zu bedeuten: »Die« Türken haben ganz andere Werte als wir. Aber das stimmt gar nicht. Wir haben auf der einen Seite Leute, die für Erdoğan sind, wir haben auf der andren Seite Leute, die überhaupt nicht dafür oder sehr dagegen sind, wir haben Leute, die sich sehr zugehörig fühlen und wir haben Leute, die sich gar nicht zugehörig fühlen, was auch viel mit sozialer Herkunft zu tun hat. Wir haben auch einfach Leute von der Staatsangehörigkeit ferngehalten und da muss man sich auch nicht drüber wundern, dass die sich sozusagen am politischen Spektrum der Türkei orientieren. All das ist sozusagen Teil unserer Geschichte. Wir können feststellen, dass in der Bevölkerung mit Migrationshintergrund es eine relativ große Wertespreizung gibt, aber dass diese Werte unterschiedlicher sind innerhalb einer ethischen Gruppe als zwischen zwei ethnischen Gruppen. (…) Grosser: Was noch gar nicht angesprochen worden ist, das ist die der Frauen und es gehört dazu, dass wir im Sinne der Frage von Roman Herzog sagen: Es ist eine Vorbedingung bei uns, in unseren Gesellschaften, dass die Frau gleichberechtigt ist. Allerdings müssen wir natürlich hinzufügen, wie geht’s mit der Katholischen Kirche? Aber wenn die Katholische Kirche sich ein bisschen verändern würde in diesem Punkt, gäb’s einige Fortschritte. Nein, ich glaube vor allen Dingen, dass wir heute wirklich vor der Problematik stehen, wie integrieren wir – und das habe ich jetzt dreimal erlebt – ich war in Schulen, wo Flüchtlinge aufgenommen werden und vorbereitet werden auf 2 B. 2 B ist der Stand der Deutschkenntnis, das einem erlaubt, einen Beruf zu suchen. Und in einer der Schulen ist nicht nur ein Computer für jeden, damit er langsam oder schnell lernen kann, es ist auch die Tatsache, dass viele aufgenommen werden, die wirklich das Schlimmste erlitten haben, was auch ihre Identität prägt. Nur einer, den ich angesprochen habe, hat sich erlaubt, mir seine Geschichte zu erzählen, wie er aus Äthiopien zu Fuß geflohen ist, nach 261 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Syrien gekommen ist, dort – er wollte nicht sagen, ob er vergewaltigt oder versklavt worden ist – aber das war nötig, um das Geld zu verdienen, um auf das Schiff zu kommen, das gesunken ist. Aber er ist gerettet worden und dann ist er zu Fuß von Griechenland nach Deutschland gekommen. Die anderen wollten ihre Geschichte gar nicht erzählen. (…) Brants: Und jetzt ist dieser junge Mann hier, ist vielleicht Muslim, hat so viele Grenzen überwunden, und stößt plötzlich auf neue Grenzen, ähnlich wie sie es beschrieben haben, Herr Terkessidis. Er stößt auf kulturelle Grenzen, er wird plötzlich als Teil einer homogenen Gruppe aufgefasst, die in sich aber sehr disparat ist, stößt vielleicht auf religiöse Grenzen, vor allem irgendwann auf soziale Grenzen, Sie haben das Armutsrisiko angesprochen. Und jetzt frage ich mich doch, Herr Liessmann, ob es vielleicht besser ist … Liessmann: Wäre ich jetzt Psychoanalytiker, dann würde ich darüber nachdenken, warum wir das Thema hatten »Heimat ohne Grenzen?« und über alles Mögliche diskutieren, nur nicht über unser Thema. Von Heimat war noch nicht die Rede. Das Zweite ist: Ich weiß jetzt nicht, ob das an den Grenzen liegt. Sie haben ja selbst gesagt, wenn man dieses Fallbeispiel nimmt, wieviel Grenzen zu überwinden waren, und natürlich stößt jeder auf unterschiedliche Grenzen, das ist jetzt nicht nur Frage eines Migranten oder eines Flüchtlings. Herr Terkessidis hat es ja gesagt, es gibt soziale Grenzen natürlich auch unter anderen Bevölkerungsgruppen. Ich weiß jetzt nicht, was es bedeuten würde, oder wie das überhaupt vollzogen werden kann, all diese Grenzen aufzuheben. Denn diese Grenzen entstehen ja einfach durch bestimmte Formen des sozialen Zusammenlebens, und ich weiß nicht, ob nicht hinter diesem unbedingten Willen zur Integration, der immer hier so spürbar ist, auch nicht so etwas wie die Vorstellung eines Zugriffs dahintersteckt, der vielleicht den Menschen auch nicht gerecht wird. Man kann ja über … Brants: Kann ich Sie kurz unterbrechen, wenn ich darf? Und auch beruhigen, was die Psychoanalyse betrifft, weil das ist ja im Grunde genommen die Utopie, die auch von dem Begriff Heimat ausgehen könnte …

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Liessmann: Das weiß ich eben nicht. Ich halte den Begriff der Heimat auch für so ambivalent, dass man ihn jetzt nicht zu einer kosmologischen Universalutopie hochstilisieren kann. Natürlich, irgendwann einmal fühlen wir uns alle in diesem Universum beheimatet, aber ich weiß nicht, ob dieses Gefühl tatsächlich so befriedigend ist, also ich finde, man muss den Begriff der Heimat schärfer fassen und abgrenzen. Herr Grosser hat es ja am Anfang gemacht: abgrenzen von anderen Formen des sozialen Zusammenlebens und sozialen Organisierens. Heimat ist nicht Nation. Heimat ist nicht Staat. Heimat ist nicht identisch mit Vaterland, wenn man diesen Begriff überhaupt noch verwenden will. Auch für einen bewussten Europäer wird es schwer sein, zu sagen: Europa ist meine Heimat. Auf der anderen Seite ist Heimat nichts Schicksalsgegebenes, nichts Festgelegtes, sondern tatsächlich etwas, das sich entwickeln und auch verändern kann. Aber eben in ganz bestimmten Rahmen. Auch so schöne Formulierungen wie »geistige Heimat«, die für mich ganz wichtig ist, die ist ja nicht beliebig, sondern »geistige Heimat«, das ist eine Form des Denkens, des Sprechens, des Argumentierens, das einem vertraut geworden ist gegenüber anderen Formen des Denkens, Sprechens, Argumentierens, auf die man vielleicht neugierig sein kann, aber die noch unvertraut sind. Aber vielleicht werden sie einmal, wenn man sich damit näher auseinandersetzt, zu etwas Vertrautem. Das heißt, also so einfach, glaube ich, kann man das nicht zu einer Universalutopie machen, und auf der anderen Seite will ich darauf hinweisen, ob nicht eine ganze Reihe dieser Probleme dadurch auch entstanden sind, dass ja diese Form von Gruppenidentität und Gruppenidentitätszuschreibungen ja ursprünglich zunächst im linken Diskurs seit 1945, oder seit 1980 besser gesagt, ein Projekt war, das man positiv gesehen hat. Den Menschen nicht als Individuum sehen, nur nicht als Individuum! Sondern entweder als Frau, oder als Migrant, oder als Muslim, oder was auch immer. Und sozusagen dieses Umformulieren von Individual- und Bürgerrechten, wie es an sich unsere Menschenrechteverfassung kennzeichnet, zu Gruppenrechten, die dann nur der in Anspruch nehmen kann, der auch nachweisen kann, ich gehör’ dazu, hat dazu geführt, dass ständig alle Menschen darüber nachdenken: wo gehör’ ich eigentlich dazu? Und wo sind die Vorteile und Nachteile dieser Zugehörigkeitsgefühle, die Selbstzuschreibungen oder Fremdzuschreibungen sein können? Mein Plädoyer wäre in dem Zusammenhang für eine Rückkehr zu einem wirklich radikalen und konsequenten Individualismus. Sehen wir die Menschen als Individuen, 263 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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die unterschiedliche Ansichten, unterschiedliche Vorstellungen, unterschiedliche Herkünfte haben. Aber entscheidend ist eben er oder sie als Einzelner, als Einzelne – und nicht die Zugehörigkeiten, die höchst variabel sind und natürlich eben genau dann zu solchen fatalen künstlichen Konflikten führen, dass wir gerne eine homogene Gruppe sähen, wo keine ist. Und uns selber und dann auch die anderen in Situationen bringen, die wir eigentlich vermeiden könnten, indem wir sie zuerst als Personen sehen. Genauso, wie Sie das geschildert haben: In der Schule, wo man die Kinder als Individuen sehen soll; jeder hat Defizite und jeder hat das, was er schon mitgebracht hat oder mitbringt und jetzt versuchen wir, damit fertig zu werden. Aber zu klassifizieren, das sind die, das sind die anderen und das sind die, und die bekommen die Förderung, aber du gehörst nicht dazu – da kommen wir wirklich in des Teufels Küche. Terkessidis: Kann ich auch nur nochmal unterstützen, um vielleicht noch mal ein Beispiel aus der Praxis zu nennen. Mein Sohn geht in Kreuzberg in die Schule, der ist jetzt 10 und noch auf der Grundschule. Das ist sozusagen eine Stadtteilschule, die sich über die letzten Jahre extrem positiv entwickelt hat, auch auf Betreiben der Direktion. Die machen vieles richtig. Das ist wirklich ein ganz tolles Beispiel dafür, wie Schule funktionieren kann. Nominell sind da 80 Prozent Kinder mit Migrationshintergrund und für jedes Kind mit Migrationshintergrund, ob das nun das Kind einer Ärztin iranischer Herkunft ist, oder das Kind eines Taxifahrers kroatischer Herkunft, bekommt die Schule Geld. Nur weil es Migrationshintergrund hat. Jetzt ändert sich die Klientel innerhalb von Kreuzberg und es gibt auch Verdrängung, Gentrifizierung und so weiter, das ist auch durchaus ein Problem, aber nichtsdestotrotz strömen jetzt mehr Kinder deutscher Herkunft an diese Schule. Was bedeutet, die Schule kriegt weniger Zuwendungen jetzt, wegen der Tatsache, dass weniger Kinder mit Migrationshintergrund da sind. Also das heißt, du hast sozusagen gute Arbeit gemacht und wirst am Ende für deine gute Arbeit bestraft. Sollten wir uns nicht am Grundgesetz orientieren, dass ja auf einer starken Idee des Individuums aufbaut? Ich meine, auch in Bezug auf die Einwanderungsgesellschaft: Wenn manche Deutsche vom Grundgesetz sprechen, dann tun sie so, als wäre uns das sozusagen aus dem Fleisch gewachsen. Ist es nicht! Sondern, der Parlamentarische Rat hat es geschrieben, und das waren lauter Leute, die von den 264 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Nazis verfolgt worden sind. Das waren also quasi »Volksverräter«, die dieses Grundgesetz geschrieben haben. Und das Grundgesetz ist nicht umsonst in Deutschland nicht zur Abstimmung gestellt worden, weil man Gefahr lief, dass das vielleicht abgelehnt wird. Über viele Jahrzehnte ist das deutsche Volk von diesem Grundgesetz überzeugt worden. Weil dieses Grundgesetz funktioniert, weil wir in einem Staat mit starken Institutionen leben, der diese Rechtlichkeit nicht immer perfekt, aber doch schon einigermaßen bedeutend gewährleisten kann. Insofern kann ich auch die nächsten Einwanderer von diesem Grundgesetz überzeugen. Das Grundgesetz ist ein Lernprozess für alle Leute, die sich in Deutschland aufhalten. Grosser: Also Entschuldigung, Bayern hat dem Grundgesetz nicht zugestimmt – das ist das Erste. Das Zweite ist, es hat einen deutschen Bundespräsidenten gegeben namens Johannes Rau, und der hat gesagt, es steht als Regel 1 des Grundgesetzes, die Würde des Menschen ist wertvoll, es steht nicht da: die Würde des deutschen Menschen ist wertvoll. Ich glaube, das war ein sehr richtiges Wort, und Sie haben heute in Deutschland wirklich wenig Grund der Klage, wenn Sie das hätten, was wir positiv in Frankreich haben, das sind die katholischen Schulen, die unwahrscheinlich viele muslimische Schüler haben. Und ich finde das eine gute Sache. (…) Brants: Ich möchte noch einmal darauf zurückkommen, was Sie, Herr Liessmann, und Sie, Herr Terkessidis, gerade so sehr in den Vordergrund gestellt haben: nämlich das Individuum. Das ist, glaube ich, Artikel 3 des Grundgesetzes: Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Sprache – und jetzt kommt der Titel der Veranstaltung – seiner Heimat und Herkunft, seiner religiösen und seiner politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Das heißt: die Zugehörigkeiten, die immer mit dem Begriff Heimat (…) in Verbindung gebracht werden, werden von dem Grundgesetz strikt abgelehnt – zugunsten der Individualität. Und da sind wir doch eigentlich im Zentrum Ihres Buches, Herr Grosser: Le Mensch. Den gilt es zu sehen und nicht den Menschen »mit« oder den Menschen »aus« und so weiter. Oder, Herr Liessmann? Liessmann: Ich denke jetzt nicht, dass das Grundgesetz hier diese Zugehörigkeitsgefühle als negativ bewertet. Sondern es wird nur gesagt, dass aus solchen Zugehörigkeiten oder Herkünften oder Zu265 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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schreibungen keine Vor- oder Nachteile von Seiten des Staates erwachsen dürfen. Natürlich kann man sich als Rheinländer oder Kärntner fühlen oder diese Verbundenheit haben zu Menschen, die ähnlich fühlen, oder denken, man darf sich als Mann oder als Frau, als Gläubiger oder Atheist fühlen, wie auch immer. Aber ich darf aus diesen Zugehörigkeiten nicht Rechte oder Privilegien oder auch Benachteiligungen von staatlicher Seite her folgern beziehungsweise ableiten – das ist das Entscheidende. Dieses Rechtsprinzip liegt auch den meisten Verfassungen zugrunde. Auf der anderen Seite: Es ist schon ein Problem, das wir in unseren alltäglichen Diskursen so schwer wegkommen können von diesen Zuschreibungen und ich möchte dazu auch eine Anekdote erzählen. (…) Wie einige vielleicht von Ihnen wissen bin ich in Villach geboren worden, und diese Stadt liegt in Kärnten. Nach dem Abitur im zarten Alter von 18 Jahren habe ich dieses österreichische Bundesland verlassen, und habe nie wieder dort gelebt. Die nächsten vierzig Jahre meines Lebens war ich nicht dort. Wie Sie auch wissen, war Jörg Haider, der es zu einiger internationalen Berühmtheit und Berüchtigtheit gebracht hat, Landeshauptmann von Kärnten. Sie haben keine Ahnung, wie oft ich als Philosoph, als Intellektueller, als in Wien lebender Professor darauf angesprochen wurde, und zwar nicht, was sagst Du oder was sagen Sie zu Jörg Haider? Sondern die Frage war immer: Was sagen Sie als Kärntner zu Jörg Haider? Da frage ich mich, was hat das, dass ich zufällig dort geboren bin, damit zu tun, was ich jetzt zu Jörg Haider sage? (…) Brants: Aber genau das ist der qualitative Unterschied, mit dem wir begonnen haben. Das ist also die Selbstbestimmung der Identität, der Heimat, oder der Identitäten, oder überhaupt der Selbstbestimmung als Subjekt. Das ist das autonome Subjekt, das von sich selbst sagt, was es ist, wer er ist, das Lévinas-Zitat vom Anfang, dass ist der eine Teil – und der andere Teil sind die Zuschreibungen: Das ist der Finger, mit dem gezeigt wird: Sie Kärntner! Sie Grieche! Und das ist die Fremdbestimmung, die so zu Ausgrenzungen etc. führt. Und Ihr Gegenkonzept, Herr Grosser, ist Le Mensch. Grosser: Aber in der Gesellschaft sind ja die Selbstbezeichnungen enorm. Ist ein Apotheker zuerst Mitglied des Apothekerverbands oder deutscher Bürger? Die Antwort ist: Mitglied des Apothekerverbandes. Die Notare, andere Gruppen auch. Die IG Metall möchte alle 266 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Metallarbeiter als Identität nehmen, damit die IG Metall auch repräsentativ sein kann. Und die IG Metall ist weitgehend repräsentativ, aber man zwingt Menschen, entweder sich selbst zu identifizieren nach ihrem Beruf, das ist der alte deutsche pietistische fundamentale Irrtum – Beruf ist Berufung; und der politische Beruf, das ist für die, die die Berufung haben, Politik zu machen, also machen wir das nicht. Sehen wir bei Reitz und seinem Dorf. Und ich glaube, wir haben heute – in Frankreich jedenfalls – ganze Gruppen, Berufsgruppen, die darauf warten, wie sie behandelt werden sollen, nicht als französische Staatsbürger, die jetzt gewählt haben, sondern als Gruppenmitglied, die sich als Gruppenmitglied zuerst identisch fühlen, bevor sie sich überhaupt als Staatsbürger empfinden. Und das gilt bei Ihnen auch so. Und ich glaube, dass in unseren Gesellschaften die Berufsverbände immer beanspruchen, die echte Identität ihrer Mitglieder zu vertreten. (…) Liessmann: Man könnte natürlich salopp sagen, was spräche dagegen, zu akzeptieren, dass wir einerseits Individuen sind und dass die rechtlichen Rahmenbedingungen auf unsere Individualität Rücksicht nehmen müssen. Und auf der anderen Seite, dass wir natürlich soziale Wesen sind, die sich in unterschiedlichen sozialen Verbänden organisieren oder finden, und natürlich dann auch bestimmte kollektive Interessen haben können, etwa als Angehöriger eines bestimmten Berufsstandes. Ich sehe jetzt kein Problem damit, und glaube, es ist situationsbezogen. Wenn ich an der Universität aktiv bin und dort in einem Konflikt bin, dann bin ich natürlich in erster Linie Universitätsprofessor. Bei einer Wahl bin ich in erster Linie Staatsbürger. Und ich wähle ja nicht als Professor, ich wähle als Staatsbürger. Und in einer erotischen Situation fühle ich mich als Mann, nicht als Professor und auch nicht als Staatsbürger, interessanterweise. Das ist das eine. Das andere ist, das muss man der historischen Gerechtigkeit willen auch sagen, zumal wir hier im Ernst-Bloch-Zentrum sind: Die Vorstellung, dass Individualität nachrangig und die kollektive Zugehörigkeit vorrangig ist – vor allem die soziale kollektive Zugehörigkeit – war ja auch eine marxistisch linke Idee. Das Klassenbewusstsein! Entscheidend ist die Frage der Klassenzugehörigkeit. Wo stehst Du, im Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit? Du kannst noch der beste Mensch sein, wenn du ein Bourgeois bist, also auf der Kapitalseite bist, dann bist du der Klassenfeind. Aus, fertig! Das heißt also, diese Form von Kollektivierung hat nicht nur diese böse nationalisti267 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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sche Vergangenheit, sondern es gibt, vor allem was die Sozialidentitäten betrifft, dieses linke Konzept, was ja auch nicht ganz falsch ist, denn natürlich sind wir soziale Wesen und natürlich definieren wir uns auch über unsere Tätigkeiten, unsere Freiheitsmöglichkeiten, unsere soziale Situation, unser Lebensstandard wird ja davon auch mitbestimmt, damit natürlich auch unser Denken. Ganz falsch lag Marx mit dem Gedanken, dass das gesellschaftliche Sein unser Bewusstsein bestimmt, ja auch nicht. (…) Terkessidis: Darf ich nur gerade vielleicht zum Begriff Heimat ein Wort sagen? Also ich meine, Heimat, das ist dieses Gefühlige. Vor zehn Jahren bin ich von Köln nach Berlin gezogen, aber ich kann mir kaum vorstellen, wie es ist, wenn man von Syrien nach Deutschland zieht. Von Köln nach Berlin ist schon hart genug. Und was sich vor allen Dingen wahnsinnig unterscheidet, sind diese Kommunikationsmuster: ich kann in Berlin quasi zwei Jahre in eine Bäckerei gehen und man lernet sich einfach nicht kennen. In Köln hätten wir nach drei Tagen schon unsere kompletten Lebensgeschichten erzählt. Das liegt an den Kommunikationsmustern dieser Stadt. Aber, je länger ich in Berlin bin, wird natürlich Berlin der Ort, an dem ich arbeite, den ich mitgestalte und so weiter und so weiter, also an dem ich teilnehme – und je mehr ich das Gefühl habe, dort was mitgestalten zu können, desto mehr wird es dann natürlich irgendwie meine Heimat. Also ich entdecke plötzlich Gefühle gegenüber Berlin. Je weniger Leute das Gefühl haben, sie könnten den Ort, an dem sie leben mitgestalten, desto weniger empfinden sie ihn auch als Heimat. Brants: Ein weiteres klares Ergebnis! Beim nächsten Mal, Herr Terkessidis, werden Sie als Berliner Publizist vorgestellt, völlig klar. Sie haben die Gelegenheit zu fragen, nutzen Sie sie! Aus dem Publikum: Ich wollte gerne eine Brücke schlagen. Der Begriff Heimat ist, finde ich, so ein bisschen zu kurz gekommen, was bedeutet das überhaupt? Er wird oft verwechselt mit Herkunft. Und Heimat ist ja eigentlich etwas, wo man sich wohlfühlt, wo man ungern weggeht. Meine Mutter kommt aus Schlesien und musste weg, und kam hierher, und dort wo sie wohnte, da hießen die Siedlungen, wo die Schlesier wohnten, Kopftuchsiedlungen. Da würde man ja heute drüber lachen, man würde sagen, was war denn das? Also es wiederholt sich alles, und ich glaube, der Begriff Heimat ist 268 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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oft falsch besetzt und vor allem ist es auch ein Mangel des Geschichtsbewusstseins, was bei vielen Leuten vorhanden ist. Weil, es hat sich alles wiederholt. Als die Italiener zum ersten Mal mit Knoblauch gekocht haben, habe manche Leute die Polizei geholt in Deutschland. Grosser: Cicero hat gesagt: Ubi bene ibi patria. Da wo es mir wohl ergeht, da ist meine Heimat. In diesem Sinn patria: Heimat. Und das müssen Sie sehen, dass für viele, die aus der Not kommen, die aus dem Hunger kommen, die aus der Vertreibung kommen, die aus der Verfolgung kommen, wenn sich aufatmend leben lässt, ist das schon eine Heimat. Terkessidis: Ich würde das nicht von der Hand weisen, das Gefühl, dass dieses Zuhause sich auf jeden Fall verändert. Also ich meine, ich muss auch nicht so tun, als wäre es eine tolle Bereicherung, wenn neben mir in einer zentralen Unterkunft 500 Geflüchtete einziehen, es ist ja egal, welcher Herkunft die sind, die sind erstmal unbekannt. Und wenn ich das Gefühl habe, die Politik hat das möglicherweise gar nicht so richtig im Griff, dann bekomme ich auch nicht den Eindruck, dass das Vertrauen in meiner Umgebung auch wiederhergestellt werden kann. Das heißt, man kann das ganz gut sehen, also dass es bei den Kommunen, die mit ihren Bürgern darüber geredet haben, wo und wie Geflüchtete untergebracht werden, viel besser funktioniert als dort, wo man autoritär gesagt hat, jetzt stellen wir einen Klotz hin und ihr lebt damit. Das heißt, das ist eine ganz klare Gestaltungsaufgabe: Wie stelle ich das Vertrauen wieder her? »Wir schaffen das« reicht mir nicht. Liessmann: Natürlich spielt Herkunft bei Heimatgefühlen eine Rolle. Aber Herkunft ist, wenn man so sagen will, ein etwas umfassenderer Begriff. Der kann weit zurückgehen. Herkunft ist ja nicht nur der Geburtsort, sondern Herkunft ist natürlich auch, in welche Familie man hineingeboren worden ist, welche Geschichte, welche Familiengeschichten transportiert werden. Mit welchen Traditionen man aufwächst, wie man sich dazu stellt. Alles das zählt zur Herkunft. Ich würde den Heimatbegriff auch, ähnlich wie es schon gemacht wurde, sehr stark atmosphärisch-emotional bestimmen. Deswegen ist Heimat für mich ein Begriff, der prinzipiell keine Grenzen kennt, jetzt, weil es keine politische Form und keine rechtliche Form von Heimat gibt, sondern eben dieses Gefühl des Vertrauens, des Gewohnten, des 269 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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wie Selbstverständlichen, das man einerseits vielleicht in bestimmten Phasen seiner Sozialisation haben kann, und dass andererseits – das macht ja auch den utopischen Charakter von Heimat aus – dass man andererseits sich immer ersehnen möchte, in einer Welt zu leben, in der das Zusammenleben zwischen Menschen etwas Selbstverständliches und nicht ständig konfliktbeladen ist. Es ist auch eine schöne Vorstellung, und das, was für mich den Heimatbegriff ganz wesentlich kennzeichnet, ist eigentlich die romantische Fassung dieses Begriffs. Als romantischer Begriff existiert Heimat nur im Konjunktiv. Denken Sie an dieses wunderbare Gedicht von Joseph von Eichendorff, Mondnacht, wo es am Ende heißt: »und meine Seele spannte weit ihre Flügel auf, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus.« Also, Heimat ist eine Sehnsuchtsvorstellung, dass man irgendwo ankommen kann, irgendwo ankommen möchte, sich wirklich geborgen und zu Hause fühlen kann, und gleichzeitig weiß, das Leben bietet genau das nicht – aber es mag ein starkes Motiv sein, an Verhältnissen zu arbeiten, dass so ein Gefühl des Einverständnisses, des Ja-sagen-Könnens zur Welt, in der man lebt, möglich machen könnte. Und deshalb ist Herkunft vielleicht ein Element von Heimat, aber ich glaube – und dass träfe auch den letzten Satz von Ernst Blochs Prinzip Hoffnung –. Heimat ist auch konnotiert mit der Frage: wo will ich eigentlich hin?

Anmerkungen Gemeint ist Alfred Grosser: Le Mensch. Die Ethik der Identitäten, Dietz, Bonn 2017. 2 Mark Terkessidis: Interkultur, Suhrkamp, Berlin 2011. 3 Konrad Paul Liessmann: Lob der Grenze. Kritik der politischen Unterscheidungskraft, Zsolnay, Wien 2012. 4 Gemeint ist Rudolf von Thadden: Trieglaff. Eine pommersche Lebenswelt zwischen Kirche und Politik, Wallstein, Göttingen 2010. 1

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Anhang

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Zukunftsthemen und Erinnerungsstücke von Joachim Güntner Erstveröffentlichung am 27. 12. 2002 in »Neue Zürcher Zeitung«

»Nichts merkwürdiger als der Blick von aussen ins eigene Zimmer«, schrieb Ernst Bloch einmal: »wie da alles hinter dem Glas verschönt ist, die Lampe leuchtet, der Sessel wohnt, die Bücher glänzen.« Die Lampe leuchtet nicht mehr, aber merkwürdig, ja frappant ist der Blick in Blochs Zimmer heute mehr noch als früher. Jeder Besucher der Dauerausstellung des Ernst-Bloch-Zentrums in Ludwigshafen könnte das bestätigen. Erreicht er nämlich, an einer Informationswand entlang den Lebensweg des Philosophen verfolgend, dessen Tübinger Zeit, so tut sich auf einer Fläche von etwa drei mal vier Metern vor ihm plötzlich der Boden auf. Panzerglas bedeckt das Loch im Parkett. Darunter im Kellergeschoss, der Betrachtung preisgegeben in überraschender Perspektive: Blochs hierher versetztes Tübinger Arbeitszimmer.

Detailgenau bewahrt Es ist eine suggestive Rekonstruktion: Die Brille liegt auf dem Schreibtisch, als sollte sie gleich wieder aufgesetzt werden, mehrere Pfeifen und ein Päckchen Tabak bezeugen den leidenschaftlichen Raucher, eine kleine Handbibliothek ist an den Tischrand gerückt, auf zwei Blättern scheint Bloch soeben noch etwas geschrieben zu haben. Die Situation ist inszeniert, denn immerhin hat Karola Bloch nach dem Tod ihres Mannes noch fast zehn Jahre lang das Arbeitszimmer benutzt. Jedoch sind die originalen Möbel versammelt, die Bücher in alter Ordnung aufgestellt. Die Vorhänge vor den Fenstern, die unterschiedlichen Anstriche der beiden Türen – genau wie einst. In einer Ecke unter der Stehlampe steht der Sessel, von dem aus Bloch, nachdem er erblindet war, diktierte; davor der zweite, einfachere Arbeitstisch für den mitschreibenden Assistenten; diagonal gegenüber der Manuskriptschrank, das Heiligtum des Schriftstellers 273 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

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Bloch und der Sammelplatz seiner meist auf losen Blättern niedergeschriebenen Texte. Auf einer Kommode die Bücher, die der Philosoph besonders schätzte; auf einer Konsole, »hohe Kante« genannt, die eigenen Werke: nicht als Repräsentationsobjekt, sondern als Arbeitsmittel. Sentimental das Tischchen im Winkel zwischen den Türen, fast ein Hausaltar. Wie ein Heiligenbildchen steht darauf ein Foto von Blochs erster, früh verstorbener Frau; der Madonna an der Wand direkt darüber ist ein Rosenkranz umgehängt. Irritierende Erinnerungsstücke im Arbeitszimmer eines Marxisten. Dem Zürcher Atelier für Gestaltung, das die Versenkung des Zimmers konzipiert hat, kann man nur gratulieren. Die freie Sicht von oben eröffnet eine ungewöhnliche Totale, zugleich stellt sich im Betrachter ein merkwürdig gemischtes Gefühl von Nähe und Ferne ein, begleitet von leichtem Schwindel, sobald man sich auf die Glasfläche wagt. Eine Bloch-Renaissance habe überhaupt nur eine Chance, sagt Klaus Kufeld, der Leiter des Zentrums, »wenn man Bloch nicht verherrlicht, nicht auf einen Sockel stellt, wenn Bloch kein Fossil ist und dies kein Museum, sondern ein Haus, das sich ganz auf die Zukunft konzentriert«. Nicht auf die Person des Philosophen, auf seine Themen komme es an, und dies Konzept bestimme gleichermassen die Architektur und das Programm des Ernst-Bloch-Zentrums. Darum die Vereinigung von Archiv, Bibliothek, Tagungsräumen und Dauerausstellung unter einem Dach. Auch eine elektronische Datenbank mit digital aufbereiteten Manuskripten, Interviews, Fotos, Videos und Filmen gehört dazu; einiges davon ist über die Website www.bloch.de online zugänglich. Forscher aus aller Welt geben sich im Zentrum ein Stelldichein, Lehrer kommen mit ihren Schulklassen. Man kooperiert mit Universitäten, veranstaltet Workshops, Vorträge, kleine Konzerte und erreicht, wie die erstaunlich hohe Zahl von 6000 Besuchern im Jahr belegt, ein mehr als nur fachlich interessiertes Publikum. Der strikt antimuseale Impetus zeigt sich in der Dauerausstellung besonders an den sieben sogenannten »Themensatelliten«, multimedial aufgebauten Exponaten auf Rädern, halb Skulptur und halb Regalturm, mit Zitaten und Bildmotiven bestückt, die den Besucher zu einer »interaktiven« Auseinandersetzung mit Bloch’schen Themen wie Hoffnung, aufrechtem Gang, Heimat oder Naturallianz anregen sollen.

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Zukunftsthemen und Erinnerungsstücke

Direktorenambiente Als das Zentrum 1997 gegründet wurde, gab es in Ludwigshafen bereits ein Bloch-Archiv, einen Bloch-Almanach, einen Preis und eine Ernst-Bloch-Gesellschaft. Der Anstoss, daraus etwas Grösseres zu machen, kam nach dem Tod von Blochs Witwe im Jahre 1994, als es gelang, den Tübinger Privatnachlass von Ernst und Karola Bloch für Ludwigshafen zu erwerben. Im November 2000 endlich bezog das neue Zentrum sein Domizil, die ehemalige Direktorenvilla der Walzmühle am Rhein. Mit ihren schönen Lampen, eichenen Türen und Einbauschränken ist die Villa um einiges gediegener als Blochs Arbeitszimmer, und man weiss nicht, was der Philosoph, der »feine Pinkel« nicht ausstehen konnte, zum Direktorenambiente gesagt hätte. Die Lage indessen, mit Blick auf den Fluss und das gegenüberliegende Mannheim, hätte man gar nicht besser wählen können. Sie fängt noch einmal jenen spannungsvollen Gegensatz ein, den Bloch wiederholt betont hat: hier »die reine Fabrikstadt Ludwigshafen, hässlich, geschichtslos«, dort »überm Rhein dann das alte vornehme Theater Mannheims, die Schlossbibliothek, diese Oase, philosophiehaltig«. In der Mannheimer Bibliothek las der Gymnasiast Bloch »mit heissem Bemühen« die philosophischen Klassiker; am linken, dem Mannheimer Rheinufer aber traf er holländische Matrosen, die schon dem Achtjährigen das Pfeiferauchen beibrachten und für alle Zeit die Wahl seines Tabaks bestimmten: »Translanta«, ein billiges Kraut, das zu rauchen Bloch zeitlebens stolz war und von dem jetzt noch ein Päckchen auf seinem Schreibtisch liegt, vermutlich das letzte dieser Sorte. Wer zurzeit das Ernst-Bloch-Zentrum besucht, bekommt zusätzlich zur Dauerausstellung eine zweite gezeigt, die Einblicke in Blochs Nachlass gewährt. Untypisch für sein Haus, weil ja doch eigentlich museal, nennt Klaus Kufeld die überwiegend in Vitrinen präsentierte Schau. Sie folgt der Chronologie, beginnt mit dem Frühwerk »Geist der Utopie« (1918) und endet mit dem Opus »Experimentum Mundi«, das Bloch nur mehr diktieren konnte. Dazwischen Manuskripte, Briefe, Erstausgaben der Werke, auch Aufsätze aus Zeitschriften wie der über »Hitlers Gewalt« in dem Weimarer Periodikum »Tage-Buch« von 1924, eine frühe Antizipation des Diktators. Druckfahnen tragen ausufernde Korrekturen und bestätigen so das Ondit, dass der beständig umformulierende Autor seine Setzer zur Verzweiflung trieb. Schöne Fotos gibt es, Einzelporträts und 275 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Zukunftsthemen und Erinnerungsstücke

Gruppenbilder, anrührende Zeugnisse einer verflossenen Zeit. Unter den Korrespondenzen haben es besonders die politischen in sich. Eine SED-Hausmitteilung von 1960, ein Jahr vor Blochs »Republikflucht« aus der DDR, berichtet vom Scheitern des Versuchs, den populären Leipziger Professor zu einer Stellungnahme gegen Karl Jaspers und Adenauers Atomwaffenpolitik zu bewegen: Bloch entzog sich dem Ansinnen mit der Ausrede, er »betrachte sich als trojanisches Pferd in Westdeutschland«, und bei seinen Freunden dort »würde der Eindruck entstehen, dass bei der Abfassung einer Stellungnahme ein Rotarmist mit MP dahinter gestanden habe«.

Finale aus Objekten Abgesetzt von diesem Werk und Wirkung betreffenden Hauptteil der Ausstellung folgt ein Finale aus spezifischen Objekten: Die Kondolenzliste zum Tod von Ernst Bloch etwa ist zu sehen, die Totenmaske und ein Gipsabdruck seiner linken Hand. Eine kleine Abteilung widmet sich Karola Bloch. Auch der berühmte Bartmann- Krug, der in »Geist der Utopie« eine Rolle spielt, findet sich: »das ungeschlachte Gerät«, wie Bloch im Vergleich mit kostbaren, aber von ihm ungeliebten Nachahmungen schrieb. Sodann Geburtsurkunde, Heiratsurkunde, Todesanzeige in lakonischer Trinität. Teile von Blochs Plattensammlung, Geschirr, ein Goldrand-Kaffeeservice, Rasierzeug, eine Sonnenbrille. Die Gebrauchsspuren sind stark, viele Objekte von melancholischer Schäbigkeit. Der Kontrast zu den schicken, Blochs Aktualität behauptenden »Themensatelliten« könnte grösser nicht sein. Seltsam, wie es doch möglich ist, ein Denken und seine Themen von der Lebenswelt abzulösen, in welcher sie entstanden sind.

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Gäste der Villa

Wissenschaftler. Künstler. Politiker … Robert Aitken, Luna Al-Mousli, Elmar Altvater, Jürg Altwegg, Götz Aly, Juri Andruchowytsch, Franziska Augstein, Steve Austen, Patrick Bahners, Dieter Bartetzko †, Letizia Battaglia, Gerhart Baum, Kurt Beck, Artur Becker, Jürgen Becker, Ralf Becker, Seyla Benhabib, Dov Ben-Meir, Detlef Berentzen †, F. W. Bernstein, Peter Bichsel, Wolf Biermann, Jan Robert Bloch †, Kurt Bodewig, Maria Böhmer, Norbert Bolz, Detlof Graf von Borries, Axel Börsch-Supan, Pierre Bourdieu †, Volker Braun, Bazon Brock, Wibke Bruhns, Micha Brumlik, Christopher Buchholz, Edelgard Bulmahn, Michael Buselmeier, Giuseppe Cacciatore, Weidong Cao, Luciana Castellina, Patrizia Cipolletta, Wolfgang Clement, Daniel Cohn-Bendit, Ann Cotten, Gerardo Cunico, Anna Czajka, Dietmar Dath, Michael Daxner, Yair Degani, F. C. Delius, Renan Demirkan, Friedrich Dieckmann, Beat Dietschy, Dan Diner, Violeta Dinescu, Volker Dittrich, Guy Dockendorf, Thea Dorn, Andreas Dresen, Jörg Drews, Malu Dreyer, Gretchen Dutschke-Klotz, Freimut Duve, Moritz Eggert, Rainer Ehrt, Carolin Emcke, Ursula Engelen-Kefer, Siegfried Englert, Erhard Eppler, Gernot Erler, Helmut Fahrenbach, Manfred Fath, John Feldmann, Raimund Fellinger, Samuel J. Fleiner, Rainer Forst, Niklas Frank, Karl Frierson, Max Fuchs, Ralf Fücks, Heiner Geißler, Hanna Gekle, Wilhelm Genazino, Volker Gerhardt, Hans Gerlach, Detlev Glanert, Hermann Glaser, Eugen Gomringer †, Dieter M. Graef, Jo Groebel, Alfred Grosser, Durs Grünbein, Gregor Gysi, Sandra Hacker, Gerd Haffmans, Josef Haslinger, Volker Hassemer, Friedhelm Hengsbach, Heike Henkel, Eckhard Henscheid, Jana Hensel, Lisa Herzog, Hansgünther Heyme, Edgar Hilsenrath, Nico Hofmann, Eric J. Hobsbawm †, Otfried Höffe, Joachim Hofmann-Göttig, Gertrud Höhler, Barbara Honigmann, Axel Honneth, Jochen Hörisch, Detlef Horster, Kazuo Hosaka, Eva Illouz, Sigrid Jacobeit, Zoë Jenny, Reinhard Jirgl, Mirjam Josephsohn, Anna Kaiser, Dževad Karahasan, Hellmuth Karasek †, Wolfgang Kaschuba, Navid Kermani, Joachim Kersten, Bodo 277 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Gäste der Villa

Kirchhoff, Georg Klein, Reiner Klingholz, Jan Knopf, Gerd Koch, Klaus Heinrich Kohrs, György Konrád, Ursula Krechel, Rolf Kreibich, Volker Kriegel †, Michael Krüger, Carsten Kühl, Joachim Kühn, Rolf Kühn, Katja Lange-Müller, Anita Lasker-Wallfisch, Susanna Layh, Thomas Lehr, Van Bo Le-Mentzel, Konrad Paul Liessmann, Yahua Lin, Sascha Lobo, Barbara Lochbihler, Erich Loest †, Joachim Lucchesi, Kurt Luger, Jonas Lüscher, Ludger Lütkehaus, Chiara de Luzenberger, Iris Magdowski, Reiner Manstetten, Avishai Margalit, Jagoda Marinić, Susanne Mayer, Silvia Mazzini, Achille Mbembe, Márton Méhes, Robert Menasse, Bascha Mika, Jürgen Moltmann, Luis Murschetz, Adolf Muschg, Ivan Nagel †, Armin Nassehi, Oskar Negt, Julia Neigel, Susan Neiman, Bernd Neumann, Julian Nida-Rümelin, Leoluca Orlando, Ulrich Oevermann, Hasan Özdemir, Elif Özmen, Niko Paech, Boris Palmer, Michael Pauen, Lucien Pelletier, Joachim Perels, Robert Pfaller, Christian Pfeiffer, Maximilian Probst, Jesco Frhr. von Puttkamer, Leonor Quinteros Ochoa, Joachim Radkau, Gérard Raulet, Jan Philipp Reemtsma, Aribert Reimann, Manfred Riedel †, Wolfgang Rihm, Hartmut Rosa, Hansjürgen Rosenbauer, Anne Roth, Patrick Roth, Petra Roth, Jutta Rump, SAID, Rafik Schami, Anna Scheuermann, Oliver Scheytt, Hans-Ernst Schiller, Burghart Schmidt, Gerhard Schmitt, Simone Schmollack, Dieter Schnebel †, Philipp Schönthaler, Friedrich Schorlemmer, Welf Schröter, Sigi Schwab, Marianne Schuller, Harald Schwager, Martin Seel, Gert Scobel, Georg Seeßlen, Lutz Seiler, Walter Siebel, Daniel Simmen, Hans-Werner Sinn, Peter Sloterdijk, Adam Soboczynski, Jan Sokol, Anne Sommer-Bloch, Klaus Staeck, Saša Stanišić, Klaus Stanjek, Thomas Steinfeld, Bernd Stiegler, Margarete Stokowski, Dieter Stolte, Johano Strasser, Rita Süßmuth, Richard Swartz, Mark Terkessidis, Marion Tauschwitz, Gerhard Teufel, Elisabeth von Thadden, Klaus Theweleit, Wolfgang Thierse, Uwe Timm, Tocotronic, Dieter Thomä, HansUlrich Treichel, Galsan Tschinag, Klaus Tschira †, Mohamed Turki, Gert Ueding, Francesca Vidal, Bernhard Vogel, Lucas Vogelsang, Eggert Voscherau, Sahra Wagenknecht, Najem Wali, Günter Wallraff, Johanna Wanka, Beatrice Weder di Mauro, Hans Weiler, Gabriele Weingartner, Ernst Ulrich von Weizsäcker, Robert K. Frhr. von Weizsäcker, Harald Welzer, Bischof Karl-Heinz Wiesemann, Werner Wild, Johannes Willms, Willi Winkler, Ursula Wolf, Ranga Yogeshwar, Feridun Zaimoğlu, Edo Zanki, Juli Zeh, Katinka Zeuner, Fang Zhang, Xiaomeng Zhang, Rainer E. Zimmermann, Jürgen Zöllner, Peter Zudeick und andere.

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Quellenverzeichnis

Vorträge Gibt es Zukunft ohne Utopie? (500 Jahre »Utopia« von Thomas Morus) Vortrag im Wilhelm-Hack-Museum 2016 im Rahmen der Ausstellung »Wie leben?« Erstveröffentlichung in: Die Gegenwart der Utopie. Zeitkritik und Denkwende, Hg. von Julian Nida-Rümelin und Klaus Kufeld, Verlag Karl Alber, München/Freiburg 2011. Hier aktualisiert. Die Diskursfähigkeit der Utopie. (100 Jahre »Geist der Utopie«) Der Vortrag »Il discorso filosofico con Ernst Bloch« an der Universitá Roma Tre, 18. Oktober 2018, wurde für diesen Band aktualisiert und ergänzt. Er ist auch erschienen in: B@belonline, N. 5 (2019): Ernst Bloch e il principio utopico ieri e oggi. Spirito dell’utopia un secolo dopo, Roma 2019. Vom Homo sapiens zum Homo digitalis. Steuern wir auf ein neues Menschenbild zu? Vortrag am 3. Mai 2017 zur 5. Ingelheimer Schöpfungswoche. Erstveröffentlichung. Ist Europa Heimat? Und für wen? Vorlesung anlässlich der Projekttage »Ernst Bloch: ein Name verpflichtet« der Integrierten Gesamtschule Ernst Bloch, Ludwigshafen, im Ernst-Bloch-Zentrum, 2015. Abgedruckt auch in: Festschrift 40 Jahre Integrierte Gesamtschule Ernst Bloch, IGS Ernst Bloch, Ludwigshafen o. J. (2020).

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Quellenverzeichnis

Der multiversale Literatur(en)-Kanon. Ein kulturphilosophisches Plädoyer Vortrag auf der »International Conference on Canon (Re-) Formation in the Context of Cultural Studies« an der Capital Normal University, Beijing, sowie an der Wuhan University (2005). Erstveröffentlichung in: Cultural Studies and Literary Theory, Bd. 15, Beijing Normal University, ins Chinesische übersetzt von Cao Weidong, Beijing 2008, S. 21–34. Die Apologeten des Wachstums. Philosophische Fragen zur Rettung des Planeten Vorlesung an der International Summerschool am Gymnasium Carolinum, Neustrelitz, 2020. (Der Teil »Wachstum« ist erschienen in: der blaue reiter – Journal für Philosophie, 36. Ausgabe. Jubiläumsausgabe zum Thema Luxus, 2/2015 / auch in: Krisengebiete. Dr. B. Reiters Lexikon des philosophischen Alltags, J. B. Metzler, Stuttgart 2016; der Film: © Industrietempel Mannheim). »Die Hoffnung ist kühn.« Wie utopiefähig ist das Christentum? Überarbeitete und aktualisierte Fassung des Vortrags »Wie utopiefähig ist das Christentum?« bei der Schader-Stiftung, Darmstadt, 2016 zur Tagung »Utopia. Religion – Macht – Gesellschaft«; Erstveröffentlichung in: Bloch-Almanach, Folge 34/2017, Hg. von Klaus Kufeld, Aisthesis Verlag, Bielefeld 2017. Vom Verlassen der Paradiese. Des unüberholbaren Romantikers philosophische Perspektive auf das Reisen, auch das touristische Als Eröffnungsvortrag gehalten am 12. Salzburger Tourismusforum der Universität Salzburg, der Fachhochschule Salzburg und dem Institut für Interdisziplinäre Tourismusforschung (2014); Erstveröffentlichung in: Tourismus und mobile Freizeit – Lebensformen, Trends, Herausforderungen, Hg. von Roman Egger und Kurt Luger, Books on Demand, Norderstedt 2015. Hier leicht gekürzt.

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Quellenverzeichnis

Essays Freiheit und Krise. Vor Corona – nach Corona Teil I erschienen unter dem Titel: »Haben wir alle Utopien verloren, Herr Kufeld?«, Mannheimer Morgen, 2. Januar 2016; gekürzt auch in: »Die erschöpfte Freiheit und der Wille zur Utopie«, in: http://blogs.philosophie.ch/zukunft/2016/09/08/ die-erschoepfte-freiheit-und-der-wille-zur-utopie/ (September 2016); Teil II erschienen unter dem Titel: »Wird die Globalisierung zurückgefahren?«, in: Mannheimer Morgen, 11. April 2020. Natur und Interesse. Von der Umwelt zur Lebenswelt Erstveröffentlichung in: Arkadien oder Dschungelcamp. Leben im Einklang oder Kampf mit der Natur, Hg. von Robert Pfaller und Klaus Kufeld, Verlag Karl Alber, München/Freiburg 2014. Flucht und Heimat. Ernst Blochs Dreams of a Better Life als utopischer Systementwurf für eine Philosophie der Verheißung Erstveröffentlichung in: Max Beck (Wien), Nicholas Coomann (Leipzig) (Hgg.): Historische Erfahrung und begriffliche Transformation. Deutschsprachige Philosophie im Exil in den USA, LitVerlag, Wien 2018. Heimat als Utopie Erstveröffentlichung in: Jahrbuch für Kulturpolitik 2019/2020, Bd. 17, (Thema: Kultur. Macht. Heimaten), Hg. vom Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft, transkript Verlag, Bielefeld 2020. [Moderation des Forums 9, Heimat(er)finder in utopischen Räumen, Berlin, 2019 auf dem 10. Kulturpolitischen Bundeskongress KULTUR.MACHT.HEIMATen.]. Die Natur macht alle gleich. Reflexionen zur Ethik des Reisens Teil I ist erschienen als »Die Natur macht alle gleich. Bemerkungen zur Sinnfrage des Reisens: Katastrophen wie die Flut in Südostasien reißen uns aus dem Verdrängungsschlaf unserer High-Tech-Welt, in: Süddeutsche Zeitung, 18. Januar 2005; Teil II erschienen als »Umkehr nach der Krise. Die Tsunami-Katastrophe in Khao Lak und Phuket könnte ein neues Bewusstsein bei Reisenden und Veranstaltern wecken«, in: Süddeutsche Zeitung, 5. Juli 2005. 281 https://doi.org/10.5771/9783495825099 .

Quellenverzeichnis

Diskurse Mut zur Utopie »Das utopische Gespräch« am 18. Juni 2015 im Ernst-Bloch-Zentrum mit Heiner Geißler und Sahra Wagenknecht; Impuls: Klaus Kufeld; Moderation: Kathrin Senger-Schäfer (MdB a. D.). Erstveröffentlichung. Heimat ohne Grenzen? »Talk bei Bloch. Live.« am 20. Juni 2017 im Ernst-Bloch-Zentrum mit Alfred Grosser, Konrad Paul Liessmann, Mark Terkessidis; Impuls: Klaus Kufeld; Moderation: Dietrich Brants (Südwestrundfunk). Erstveröffentlichung.

Anhang Zukunftsthemen und Erinnerungsstücke Von Joachim Güntner, Erstveröffentlichung am 27. 12. 2002 in: © Neue Zürcher Zeitung.

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Dank

… für die freundliche Unterstützung der Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur, Ministerpräsidentin Malu Dreyer und Geschäftsführerin Katharina Popanda, sowie der Stiftung Ernst-Bloch-Zentrum, Geschäftsführerin Immacolata Amodeo. … Patrizia Cipolletta (Rom), Sigrid Jacobeit (Fürstenfeld), Margit Kohl (München), Kurt Luger (Salzburg), Henry Tesch (Neustrelitz), Cao Weidong (Beijing) für wichtige Impulse. … Sarah Bischoff für umsichtiges Lektorat. … aller Gegnerschaft, die nur noch mehr beflügelt hat.

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