Szenarien der Energie: Zur Ästhetik und Wissenschaft des Immateriellen [1. Aufl.] 9783839416891

Die Frage nach der Energie zielt in den Kern der Kunst- und Kulturwissenschaften. Sie gibt Anlass, Szenarien in den Blic

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German Pages 246 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
KULTURHISTORISCHE PERSPEKTIVEN
Was bleibt und was nicht bleibt. Eine sehr kurze Geschichte der Energie
Masse als Kraft. Energetische Konzepte des Sozialen
Wirksame Worte. Übertragungsphantasien in der russischen Moderne
Energieregulierung. Willenskultur und Willenstraining um 1900
Kapitalistische Kalorien. Energie und Ernährungsökonomie um die Jahrhundertwende
THEATRALE ANORDNUNGEN
Immaterialität und Übertragung. Das Energetische und seine Inszenierungen
Die Energie und die Theaterstimme. Einem Phänomen auf der Spur
Spannung erzeugen. Techniken der Energetisierung im Theater
Induzieren. Aspekte des Energiebegriffs bei Jerzy Grotowski und Thomas Richards
„Listening“. Kinaesthetic Awareness und Energie in zeitgenössischen Bewegungspraktiken
Low Energy – High Energy. Motive der Energetisierung von Körper und Szene im Tanz
„Wenn du gut bist, fliegst du in den Zuschauerraum...“ Ein Gespräch über künstlerische Energien
Autorinnen und Autoren
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Szenarien der Energie: Zur Ästhetik und Wissenschaft des Immateriellen [1. Aufl.]
 9783839416891

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Barbara Gronau (Hg.) Szenarien der Energie

Edition Kulturwissenschaft | Band 8

Barbara Gronau (Hg.)

Szenarien der Energie Zur Ästhetik und Wissenschaft des Immateriellen

Der Band wurde mit Mitteln des DFG-Sonderforschungsbereiches 447 »Kulturen des Performativen« gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Maren Leverentz (2010) Lektorat & Satz: Tina Ebert Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1689-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 7

K ULTURHISTORISCHE P ERSPEKTIVEN Was bleibt und was nicht bleibt. Eine sehr kurze Geschichte der Energie

Christian Kassung | 15 Masse als Kraft. Energetische Konzepte des Sozialen

Michael Gamper | 25 Wirksame Worte. Übertragungsphantasien in der russischen Moderne

Tatjana Petzer | 45 Energieregulierung. Willenskultur und Willenstraining um 1900

Michael Cowan | 67 Kapitalistische Kalorien. Energie und Ernährungsökonomie um die Jahrhundertwende

Elizabeth R. Neswald | 87

T HEATRALE ANORDNUNGEN Immaterialität und Übertragung. Das Energetische und seine Inszenierungen

Barbara Gronau | 111 Die Energie und die Theaterstimme. Einem Phänomen auf der Spur

Jenny Schrödl | 131 Spannung erzeugen. Techniken der Energetisierung im Theater

Marion Hirte | 155

Induzieren. Aspekte des Energiebegriffs bei Jerzy Grotowski und Thomas Richards

Gabriele C. Pfeiffer | 163 „Listening“. Kinaesthetic Awareness und Energie in zeitgenössischen Bewegungspraktiken

Gabriele Brandstetter | 183 Low Energy – High Energy. Motive der Energetisierung von Körper und Szene im Tanz

Sabine Huschka | 201 „Wenn du gut bist, fliegst du in den Zuschauerraum...“ Ein Gespräch über künstlerische Energien

Mit Rolf Elberfeld, Erika Fischer-Lichte, Barbara Gronau, Annemarie Matzke, Susanne Sachsse, Anne Tismer und Christoph Winkler | 223 Autorinnen und Autoren | 237

Einleitung B ARBARA G RONAU

Energie ist ein Schlüsselbegriff des 21. Jahrhunderts. Mit ihm werden die entscheidenden politischen, ökologischen und kulturellen Umbrüche der Gegenwart verbunden. Ob als befürchtetes „Energieproblem“1, als ersehnte „Energiewende“2 oder schlicht als „Herausforderung Energie“3 – das Nachdenken über energetische Zusammenhänge gehört zu den zentralen Topoi der globalisierten Welt. Trotz des inflationären Wortgebrauches unterliegt das Reden über Energie jedoch einer Reihe von Theoretisierungsproblemen, bei der sich die scheinbar so klare physikalische Größe in ein semantisches Feld aus materiellen, lebensweltlichen oder spirituellen Parametern aufzulösen droht. Die Frage: „Was meint der Begriff Energie?“ wird zumeist mit Synonymen wie Kraft, Masse, Arbeit, Wirksamkeit, Fluidum, Chi, Lebensgeist oder Spannung beantwortet. Das ist keineswegs ein Problem inexakter Wissenschaften, denn auch in der Physik weiß man nur, dass es sich bei der Energie um eine „gewisse Größe“ handelt, die bei allen Transformationsprozessen konstant erhalten bleibt.4 Das Problem liegt vielmehr in der Natur des Phänomens selbst. Energie hat keinen Dingcharakter, sie ist ein „Fluidum“, das sich nur in Umwandlungs- und Übertragungsprozessen zeigt. Zur Erfassung des Themenfeldes Energie scheint deshalb eine interdisziplinäre Begriffsgeschichte notwendig, die das Gleiten zwischen Begriff und Meta1 Vgl. dazu die Veröffentlichungen des PostFossil Instituts unter: http://www. peakoil.de/ (letzter Zugriff am: 01.03.2012). 2 Der Begriff taucht zum ersten Mal auf in: Florentin Krause/Hartmut Bossel/KarlFriedrich Müller-Reißmann: „Energiewende – Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran“, Frankfurt am Main 1980. 3 Jürgen Renn/Robert Schlögl/Hans-Peter Zenner (Hg.): Herausforderung Energie: Ausgewählte Vorträge der 126. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte e.V., Max Planck Research Library for the History and Development of Knowledge, Proceedings 1, 2011. 4 Siehe dazu den Beitrag von Christian Kassung im vorliegenden Band.

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pher, zwischen theoretischem und praktischem Wissen und zwischen den einzelnen kulturhistorischen Bedeutungssträngen zu erfassen vermag.5 Der vorliegende Band versammelt Beiträge aus den Natur-, Kultur- und Kunstwissenschaften, die das diskursive Feld des Energiebegriffes interdisziplinär zu bestimmen suchen. Im Fokus stehen Diskurse und Praktiken des Energetischen an der Schnittstelle von Technikgeschichte, Körperpolitik und Kunst, die von der Geschichte der Ernährungsphysiologie bis zum zeitgenössischen Tanz reichen. Die verhandelten Fragen: Wie wird der Begriff Energie verwendet? Welche kulturellen Vorstellungsbereiche und Wissensordnungen durchziehen ihn? Welche Praktiken und Wirksamkeiten werden damit verbunden? zielen auf eine kritische und kontextualisierende Perspektivierung des Begriffs. Dabei zeigt sich, dass das Diskursfeld durch drei sich überschneidende Vorstellungsbereiche gekennzeichnet ist. Der erste Bereich umfasst die traditionelle Deutung von Energie als einer wirkenden Kraft – also als performative Quelle der Welterzeugung. Ausgehend vom altgriechischen ‫݋‬ȞȑȡȖİȚĮ wird Energie mit „Wirkung, Nachdruck oder Kraft“6 gleichgesetzt und in den mechanisch geprägten Naturwissenschaften vor allem als Fähigkeit eines Systems „Arbeit zu leisten“ gedacht.7 Der zweite Vorstellungsbereich beschreibt Energie als ein mehr oder weniger unsichtbares „Dahinter“, d.h. als eine allen Dingen und Prozessen innewohnende metaphysische Dimension, die selbst unsichtbar ist.8 Der Aufdeckung dieser unsichtbaren Aspekte der Natur widmen sich Wissenschaft und Kunst im Messen, Zählen, Wiegen, Aufzeichnen und Darstellen

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Zum Projekt einer interdisziplinären Begriffsgeschichte siehe: Ernst Müller/ Falko Schmieder (Hg.): Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften. Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte, Berlin/New York 2008. „Energeia: heißt die Würckung oder Nachdruck, Kraft eines Dinges, sonderlich derer Lebens-Geister und des Geblüts. Kommt von energeia (griechisch), operor, würcken.“ Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexikon, Band 8, Halle und Leipzig 1734, Faksimile-Nachdruck, Graz 1961, Spalte 1774. „In der Naturwissenschaft bedeutet Energie die Fähigkeit, Arbeit zu leisten.“ Meyers großes Konversations Lexikon, 6. Auflage, 5. Band, Leipzig und Wien 1908, S. 774. „Energetics: The most fundamental result attained by the progress of physical science in the 19th century was the definite enunciation and development of the doctrine of energy, which is now paramount both in mechanics and in thermodynamics. [...] Ever since the physical speculation began in the atomic theories of the Greeks, it’s main problem has been that of unravelling the nature of the underlying correlation which binds together the various natural agencies.“ The Encyclopaedia Britannica, 11th Edition, Volume IX, Cambridge University Press 1911, S. 390-398, S. 390.

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von Materie, Schwingungen, Wellen oder Muskelregungen.9 Gerade wegen dieser Unsichtbarkeit scheinen Phänomen und Begriff des Energetischen prädestiniert für utopische Aufladungen oder okkulte Vereinnahmungen.10 Der dritte Vorstellungsbereich beschreibt Energie schließlich als zirkulierendes „Dazwischen“, d.h. als einen medialen und transgressiven Prozess, der Verbindungen zwischen Subjekten, Objekten, Körpern, Gedanken oder ganzen Kulturen stiftet. Von den Elektrizitätsexperimenten der frühen Neuzeit über die romantische Naturphilosophie Novalis’ bis zu den Jugendstilphantasien eines von Strömen und Strahlen durchwirkten Raumes reicht die Bandbreite dieser „transgressive energies“.11 Ob als Wirkung, unsichtbare Kraft oder transgressive Verbindung – die Basis aller Energievorstellungen liegt in ihrem eminent theatralen Charakter. Über Energie zu sprechen, heißt stets Szenarien in den Blick zu nehmen, die das Flüchtige und Immaterielle rahmen und ausstellen, denn nur so wird aus dem Unsichtbaren oder Gespürten eine diskursivierbare Größe, wird aus Erfahrung eine Entität. Das Energetische – so die These des vorliegenden Bandes – ist sowohl Bedingung als auch der Effekt von wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Inszenierungen. Die Geschichte dieser Inszenierungen reicht von Galvanis zuckenden Froschschenkeln über die Elektrisiermaschinen eines Otto von Guericke und die Tierkalorimeter der Ernährungsphysiologen bis zu den medienwirksamen Aufbauten zeitgenössischer Teilchenbeschleuniger. Die Aufschlüsselung und Analyse dieser Inszenierungsformen wird im vorliegenden Band entlang von drei Perspektiven vorgenommen: (a) einer ästhetischen Perspektive, die nach den Bedingungen der Wahrnehmung von Energie und den damit verbundenen Evidenzstrategien fragt, (b) einer medialen Perspektive, die Formen der Übertragung und deren Metaphorisierung analysiert und schließlich (c) einer performativen Perspektive, die energetische Effekte und Wirksamkeiten in den Blick nimmt.

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Vgl. stellvertretend für zahlreiche Studien: Philipp Sarasin/Jakob Tanner (Hg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1998; Anson Rabinbach: Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne, Wien 2001; Thomas Brandstetter/Christoph Windgatter: Zeichen der Kraft. Wissensformationen 1800-1900, Berlin 2008; Henning Schmidgen: Die HelmholtzKurven. Auf der Spur der verlorenen Zeit, Berlin 2009. 10 Vgl. Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian, Ausstellungskatalog Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main 1995, darin: Linda Dalrymple Henderson: „Die moderne Kunst und das Unsichtbare. Die verborgenen Wellen und Dimensionen des Okkultismus in den Wissenschaften“, S.13-31. 11 Christoph Asendorf: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Gießen 1998; Freddie Rokem: „Theatrical and Transgressive Energies“, in: Assaph C, No 15 (1999), S.19-38.

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Im Neben- und Ineinander dieser Perspektiven konturiert sich ein interdisziplinärer Begriff von Energie, der dem Nachdenken über unsere wichtigste Ressource neue Impulse verleiht.

Der vorliegende Band entstand im Rahmen des Sonderforschungsbereiches „Kulturen des Performativen“ der Freien Universität Berlin. Ich danke Erika Fischer-Lichte und Kristiane Hasselmann für die inhaltliche und organisatorische Unterstützung des Publikationsprojekts. Ein besonderer Dank gilt darüber hinaus meinen Kuratorenkolleg/innen Judica Albrecht, Nicola Schössler, Alexander Moers und Marcus Peter, die mich 2010 eingeladen haben, das Nachdenken über das „Verschwinden, Verschwenden und Verwenden“ unserer Ressourcen gemeinsam mit Wissenschaftler/innen und Künstler/innen im Rahmen des internationalen Festivals ENTROPIA. ENTROPIE IN PERFORMANCE UND WISSENSCHAFT fortzuführen.12 Auf die in diesem Rahmen abgehaltene Konferenz „Künstlerische Szenarien der Energie“ am 13. November 2010 gehen der hier publizierte Beitrag von Christian Kassung und das Künstlergespräch über die „Energie des Theaters“ zurück. Für die umsichtige Korrektur des Manuskriptes danke ich Tina Ebert und für die Gestaltung des Titelfotos Maren Leverentz.

L ITERATUR Asendorf, Christoph: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Gießen 1998. Brandstetter, Thomas/Windgatter, Christoph: Zeichen der Kraft. Wissensformationen 1800-1900, Berlin 2008. Dalrymple Henderson, Linda: „Die moderne Kunst und das Unsichtbare. Die verborgenen Wellen und Dimensionen des Okkultismus in den Wissenschaften“, in: Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian, Ausstellungskatalog Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main 1995, S. 13-31.

12 ENTROPIA. FESTIVAL ZU ENTROPIE IN PERFORMANCE UND WISSENSCHAFT IM WISSENSCHAFTSJAHR ENERGIE vom 11. bis 14. November 2010 im Radialsystem Berlin. Veranstaltet von KUNST-SToFF e. V. und prototypen-ausstellungen, kuratiert von Judica Albrecht, Nicola Schössler, Alexander Moers, Marcus Peter und Barbara Gronau. Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, der Daimler und Benz Stiftung und Schering Stiftung. Programm und Dokumentation unter: http://www.entropia-festival.de (letzter Zugriff am: 01.04.2012).

E INLEITUNG | 11

The Encyclopaedia Britannica, 11th Edition, Volume IX, Cambridge University Press 1911. Krause, Florentin/Bossel, Hartmut/Müller-Reißmann, Karl-Friedrich: „Energiewende – Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran“, Frankfurt am Main 1980. Meyers großes Konversations-Lexikon, 6. Auflage, 5. Band, Leipzig/Wien 1908. Müller, Ernst/Schmieder, Falko (Hg.): Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften. Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte, Berlin/New York 2008. Rabinbach, Anson: Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne, Wien 2001. Renn, Jürgen/Schlögl, Robert/Zenner, Hans-Peter (Hg.): Herausforderung Energie: Ausgewählte Vorträge der 126. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte e.V., Max Planck Research Library for the History and Development of Knowledge, Proceedings 1, 2011. Rokem, Freddie: „Theatrical and Transgressive Energies“, in: Assaph C, No. 15 (1999), S.19-38. Sarasin, Philipp/Tanner, Jakob (Hg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1998. Schmidgen, Henning: Die Helmholtz-Kurven. Auf der Spur der verlorenen Zeit, Berlin 2009. Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexikon, Band 8, Halle/Leipzig 1734, Faksimile-Nachdruck, Graz 1961.

Internetquellen PostFossil Institut unter: http://www.peakoil.de/ (letzter Zugriff am: 01.03.2012)

Kulturhistorische Perspektiven

Was bleibt und was nicht bleibt Eine sehr kurze Geschichte der Energie C HRISTIAN K ASSUNG

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Die berühmten „Lectures on Physics“, die der Nobelpreisträger Richard P. Feynman von 1961 bis 1963 am renommierten California Institute of Technology in Pasadena hielt, stehen noch heute unter Physikstudenten in dem Ruf, einen zugleich unkonventionellen und anspruchsvollen Zugang zu den Grundlagen der Physik zu vermitteln. Nach wie vor beginnt die Mehrzahl der Physiklehrbücher mit der klassischen Mechanik, schreitet also von den konkreteren zu den abstrakteren Begriffen fort und funktioniert insofern zumindest implizit wissenschaftsgenealogisch. So werden zu Beginn einfache Bewegungen untersucht, woraus sich das Konzept der mechanischen Kraft ergibt, um daraus die kinetische und die potenzielle Energie abzuleiten. Später – ontogenetisch wie phylogenetisch – kommen dann andere Energieformen hinzu. In diesem Gang durch die Physikgeschichte gewöhnt sich der Physikstudent also langsam daran, es bei der Energie mit einem hoch abstrakten Konzept zu tun zu haben, das quer zu allen physikalischen Wissensfeldern liegt.1 Die Physik ist immer schlauer, d. h. umfassender und abstrakter geworden, und so soll es auch mit den kognitiven Fähigkeit der Studierenden geschehen. Richard Feynman jedoch schlägt genau den entgegengesetzten Weg ein, weshalb seiner Vorlesung auch immer mehr hoffnungslos überforderte Erstsemester fernblieben. Die „Lectures“ beginnen mit der so schlichten wie hinterhältigen Frage „Was ist Energie?“2

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Paradigmatisch für ein solches klassisches Lehrbuch der Physik ist Christian Gerthsen/Hans O. Kneser/Helmut Vogel: Physik. Ein Lehrbuch zum Gebrauch neben Vorlesungen, Berlin/u. a. 1989. Richard P. Feynman: Vorlesungen über Physik. Band I. Hauptsächlich Mechanik, Strahlung und Wärme, München/Wien 1987, S. 59. Von den drei davorgeschalteten Einführungskapiteln kann abgesehen werden.

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Es gibt ein Faktum, oder wenn Sie so wollen, ein Gesetz, das alle Naturphänomene beherrscht, welche bis heute bekannt sind. Es gibt keine bekannte Ausnahme zu diesem Gesetz – soweit wir wissen, ist es exakt. Dieses Gesetz wird die Energieerhaltung genannt. Es sagt, dass es eine gewisse Größe gibt, welche wir Energie nennen, die sich bei den vielfachen Änderungen, die in der Natur vor sich gehen, nicht ändert.3 Mit anderen Worten tut der Nobelpreisträger gar nicht erst so, als wüsste er, was Energie genau ist. Vielmehr geht er von einer Eigenschaft aus, die bisher für sämtliche existierende Systeme beobachtet wurde: Es gibt etwas, das sich über alle Transformationsprozesse hinweg nie verändert, das immer konstant bleibt. Man kann dieses Etwas messen – ohne zu wissen, was es ist. Vielleicht auch sogar ohne jemals zu wissen, was es ist. Und man gibt diesem Etwas aufgrund seiner Eigenschaft, unter allen Umständen konstant zu bleiben, einen Namen: Energie bzw. Energieerhaltung. Das, was sich bei jeder Aktion, griechisch energeia, erhält. Schauen wir uns nun ein System an, das besonders eindrucksvoll die Verwandlung unterschiedlicher Energieformen demonstriert und deshalb auch intensiv von den Physikern des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts diskutiert wurde. Gemeint ist das Pendel, also das an einem Stab oder einem Seil hin- und herschwingende Gewicht, so wie es in Pendeluhren zum zeitmessenden Alltag gehört.4 In seinen „Unterredungen und mathematischen Demonstrationen“ berichtet Galileo Galilei 1638

Abbildung 1: Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betreffend

Quelle: Galileo Galilei, 1638.

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Ebd. Vgl. hierzu ausführlich Christian Kassung: Das Pendel. Eine Wissensgeschichte, München 2007.

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„Es stelle dieses Blatt eine auf der Horizontalebene errichtete Wand dar, und an einem in derselben befestigten Nagel hänge eine Kugel aus Blei von 1 oder 2 Unzen Gewicht, befestigt an einem dünnen Faden AB von 2 oder 3 Ellen Länge […]. Bringt man den Faden AB mit der Kugel nach AC, und lässt man die Kugel los, so wird dieselbe fallend den Bogen CBD beschreiben, indem sie so schnell den Punkt B durcheilt, dass sie um den Bogen BD ansteigt fast bis zur Horizontalen CD, indem sie um ein sehr kleines Stück zurückbleibt, da in der Folge des Widerstandes der Luft und des Fadens sie an der präcisen Wiederkehr gehindert wird. Hieraus können wir sicher schliessen, dass die im Punkte B erlangte Geschwindigkeit der Kugel beim Herabfallen durch den Bogen CB genüge, um den Anstieg um einen gleich grossen Bogen BD zu bewirken zu gleicher Höhe.“5

Galilei formuliert hier in nuce ein Erhaltungsprinzip für zwei unterschiedliche Erscheinungsformen von Energie. Auf der einen Seite wirkt die „Geschwindigkeit“ der Kugel, die am niedrigsten Punkt B am größten ist. Auf der anderen Seite wirkt der „Anstieg“, der bei den beiden höchsten Punkten D und C am größten ist. Hier ist zugleich die Geschwindigkeit am geringsten, nämlich null, weil die Kugel an diesen beiden Punkten ihre Bewegungsrichtung ändert. Heute spricht man nicht von Geschwindigkeit und Anstieg, sondern von kinetischer und potenzieller Energie, was die Sache aber nicht klarer macht, als sie bereits zu Galileis Zeiten ist: Man kann ein Gewicht bewegen und/oder anheben. In beiden Fällen muss eine gewisse Energie aufgewendet werden, die gespeichert zur Verfügung steht, sobald die Arbeit beendet ist, sprich dann in eine andere Energieform umgewandelt werden kann. Dieser Umwandlungsprozess geschieht beim Pendel mit einer unglaublichen Eleganz und Präzision: Ein Pendel beschreibt immer wieder exakt die gleiche Bewegung. Halten wir fest: Energie wird definiert durch ihre Erhaltung. Es gibt keine phänomenologische Ähnlichkeit zwischen der kinetischen und der potenziellen Energie eines Körpers. Ja noch schlimmer: Man sieht einem Ding überhaupt gar nicht an, ob es bewegt oder angehoben ist. Und man sieht ebenso wenig, ob ein etwas chemisch aktiv, warm oder elektrisch aufgeladen ist. Erst wenn der Kontakt zu einem System mit anderen Eigenschaften hergestellt wird, findet ein Verwandlungsprozess statt, und das heißt, dass die Energie sicht- und messbar wird, bis hin zu den enormen Auswirkungen einer Naturkatastrophe oder der Explosion eines Atomkraftwerkes. Und so verheerend oder technisch hoch effektiv diese Transformationsprozesse auch sein mögen, es gibt doch nichts Konkretes, das der Begriff der Energie

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Galileo Galilei: Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betreffend, Thun/ Frankfurt am Main 1995. (= Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, 11), S. 156.

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beschreibt. Energie ist ein vollständig abstraktes Erhaltungsprinzip. Diesen extremen Abstraktionsgrad betont auch Feynman: „Es ist wichtig, einzusehen, daß wir in der heutigen Physik nicht wissen, was Energie ist. […] Jedoch gibt es Formeln zur Berechnung einer numerischen Größe, und wenn wir alles zusammenaddieren, ergibt es […] immer die gleiche Zahl.“6

Allerdings können wir nur dann alles korrekt zusammenaddieren, wenn erstens das von uns beobachtete System abgeschlossen ist, also kein unbemerkter Energieaustausch stattfindet, und wenn zweitens alle Energieformen auch bekannt sind. Dies sind jedoch, wie ich im Folgenden zeigen werde, zwei alles andere als triviale Voraussetzungen.

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Damit komme ich noch einmal zurück zu Galileo Galilei und dem Erdenrest, der seinem ,Beweis‘ innewohnt. Galilei sagt, dass das Pendel nicht zur ursprünglichen Ausschlaghöhe zurückkehrt, weil der Widerstand von Luft und Faden dies verhindert. Und genau dieses „verhindern“ zeigt, wie stark er von konkreten Kräften und deren Umwandlung ausging und wie groß der Abstraktionsschritt hin zur Energie ist. Dieses Dispositiv charakterisiert die Situation der nachfolgenden 200 Jahre: Die Krafterhaltung ist fest im physikalischen Wissen verankert, aber um ein allgemeines Erhaltungsprinzip wird intensiv und kontrovers gerungen.7 So schreibt beispielsweise Gottfried Wilhelm Leibniz am Ende des 17. Jahrhunderts: „Eadem semper potentia est in Universo. Neque enim corpora universi cum corporibus aliis communicare possunt, quae Universo non contineantur. Itaque Universum est systema corporum cum aliis non communicantium, ac proinde (per praeced.) eandem semper potentiam habet.“8

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Feynman: Vorlesungen über Physik, S. 60. Vgl. G. Berthold: „Notizen zur Geschichte des Principes der Erhaltung der Kraft“, in: Annalen der Physik, 233/2 (1876), S. 342-351. „Im Universum ist immer dieselbe Kraft vorhanden. Die Körper des Universums können mit anderen Körpern, welche in dem Universum nicht enthalten sind, nicht kommunizieren. Das Universum ist also ein System von Körpern, welche mit anderen nicht kommunizieren, und daher erhält sich in ihm immer dieselbe Kraft.“ (Gottfried W. Leibniz.: „Dynamica de potentia et legibus naturae corporeae“, in: Gerhardt, C. I. (Hg.): Leibnizens mathematische Schriften. Abt. 2, Bd. 2., Halle 1860, S. 281-514, hier: S. 440.)

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Im 18. und besonders im 19. Jahrhundert kommen im Zuge neuer Technologien zur mechanischen Arbeit vor allem zwei Energieformen hinzu, die den Physikern das Leben schwer machen: die Elektrizität und die Wärme. Gerade Wärme, Kraft und Energie gehen immer wieder neue begriffliche Konstellationen ein. Geht die Energie wie bereits angeführt etymologisch auf energeia bei Aristoteles zurück, der hiermit die realisierte Möglichkeit, den Akt, gegen die noch nicht realisierte Möglichkeit, die Potenz oder dynamis bzw. kinesis, abgrenzte.9 Wie tiefgreifend die Auseinandersetzungen um den Energiebegriff waren, zeigt vor allem der gut ein halbes Jahrhundert andauernde Streit um das wahre Kraftmaß, den kein geringerer als Leibniz selbst 1686 entfachte. Descartes, der Urvater der philosophischen Mechanik, konzipierte Kraft als das Produkt von Masse und Geschwindigkeit. Leibniz setzte dagegen das Produkt von Masse und dem Geschwindigkeitsquadrat, die von ihm sogenannte vis viva.10 Springen wir an den Beginn des 19. Jahrhunderts, so finden wir nun zwar eine Vielzahl von Erhaltungssätzen für Impuls, Drehimpuls, Masse, Kraft oder die elektrische Ladung und eine noch größere Vielzahl von Energieformen vor, aber eben noch kein allgemeines Erhaltungskonzept.11 Die Zunahme der unterschiedlichen Energieformen und die gleichzeitige langsame Begriffsstabilisierung ließen zwangsläufig die Frage virulent werden, ob das Pendel nur einen Spezialfall eines sehr beschränkten physikalischen Systems darstellt. Sprich, ob die Energieerhaltung nicht schlichtweg für alle möglichen Energieformen gilt. Man könnte nun sehr ausgiebig darüber nachdenken, warum ausgerechnet 1840 ein absoluter Laie, der Heilbronner Sanitätsoffizier Robert Mayer, anlässlich einer Schiffsreise in die Tropen Wärme erstmals als eine der mechanischen Energie vollkommen äquivalente Energieform begreift: „Fall-

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Vgl. M.-Th. Liske: „Kinesis und Energeia bei Aristoteles“, in: Phronesis, 36/2 (1991), S. 161-178. In dieser Tradition versteht beispielsweise Wilhelm von Humboldt die Sprache als energeia und nicht als ein statisches System. 10 Vgl. Gottfried W. Leibniz: „Brevis demonstratio erroris memorabilis Cartesii & aliorum circa legem naturae, secundum quam volunt a Deo eandem semper quantitatem motus conservari, qua & in re mechanica abutuntur“, in: Acta Eruditorum, 1686, S. 161-163. Heute sagen wir zu mv Impuls und zu ½mv² kinetische Energie. 11 Es erfolgen in dieser Zeit auch die modernen Begriffsprägungen. 1807 verwendet Thomas Young erstmals den Begriff der Energie für die Leibnizsche vis viva, also die kinetische Energie eines Körpers, die aber erst 1829 von GustaveGaspard Coriolis in die Form ½mv² gebracht wird. Die potenzielle oder Gewichtsenergie als mechanischer Gegenpart wird 1853/1852 von William J. M. Rankine begrifflich definiert. Vgl. umfassend zur Kulturgeschichte der Energie: Crosby Smith: The Science of Energy. A Cultural History of Energy Physics in Victorian Britain, Chicago/London 1998.

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kraft und Bewegung gleich Wärme, […] Wärme gleich Bewegung und Fallkraft.“12 Je weniger Wärme also verloren geht, umso besser arbeitet eine Maschine – bei Mayer war es die Maschine Mensch und die merkwürdige Rotfärbung des Venenblutes beim tropischen Aderlass. Fünf Jahre später ist es bei Hermann von Helmholtz das Perpetuum Mobile, was der Energieerhaltung widerspricht, weil keine Maschine mehr Energie erzeugen kann, als in sie hineingesteckt wird. Damit sind wir bei den Maschinen des 19. Jahrhunderts und dem Entropiebegriff und der ernüchternden Entdeckung, dass die Erhaltung der Energie nur die eine Hälfte der physikalischen Wahrheit ist: Zwar bleibt die Gesamtenergie unter allen Umständen konstant, aber zwischen den einzelnen Energieformen kann nicht beliebig hin- und hergewandert werden. Besonders die thermische Energie der Atome und Moleküle eines Systems lässt sich nur sehr eingeschränkt in andere Energieformen umwandeln, weshalb um die Jahrhundertwende die Angst vor dem Wärmetod umging Wieder auf das Pendel zurückbezogen, heißt dies schlichtweg: Jedes Pendel kommt irgendwann zur Ruhe. Selbst wenn ich mein Labor hundertprozentig isoliere und alle durch Reibung entstandene Wärme speichere, so kann ich sie doch nicht vollständig in Bewegungsenergie zurückverwandeln. Das Pendel heizt das Labor unweigerlich auf, und zwar genau so lange, bis es selbst zum Stillstand gekommen ist. Wenn alles irgendwann zum Stillstand kommt, so auch das scheinbar so unprätentiöse Pendel. Was natürlich eine großartige und zugleich beängstigende Metapher ist: So lange wir uns bewegen, tanzen oder schlichtweg nur leben, erzeugen wir mit jedem Schritt durch diese Welt wertlose Wärme, vergrößern die Entropie. Und je mehr wir uns bewegen, gar eine wissenschaftliche Tagung oder ein Tanzfestival veranstalten, umso schlechter wird die Bilanz. Erst der Tod macht dieser Verlustbilanz allen Lebens einen energetischen Strich durch die Rechnung. Ich möchte mich aber nicht weiter mit der Entropie und dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik aufhalten, sondern vielmehr einen abschließenden Blick auf das heutige Wissen werfen. Wie steht es aktuell um den Begriff der Energie? Erstens. Nähern wir uns der Energie noch einmal mit Richard Feynman von einer anderen Seite her an: Ein Ding ist symmetrisch, wenn man es einer bestimmten Operation aussetzen kann und es danach als genau das Gleiche erscheint wie vor der Operation.13

12 Robert Mayer: „Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur“, in: A. von Oettingen (Hg.): Die Mechanik der Wärme. Zwei Abhandlungen, Leipzig 1911, S. 3-7. 13 Feynman: Vorlesungen über Physik, S. 159. Feynman übernimmt den Symmetriebegriff von Hermann Weyl.

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Typische Symmetrieoperationen der Physik sind Translationen im Raum oder in der Zeit. Wenn man in der Physik etwas an einem anderen Ort oder zu einer anderen Zeit tut, so darf sich die Struktur nicht ändern. Wenn ich also ein Experiment beschreibe und hierfür ein geeignetes physikalisches Modell entwerfe, dann bleiben die zugehörigen Formeln und Gesetze in Raum und Zeit identisch. Nun wissen wir heute, genauer nach 1918 mit Emmy Noether, dass der Energieerhaltungssatz eine Folge dieser Symmetrie oder genauer der Homogenität der Zeit ist. Wenn Naturgesetze jetzt genauso wie später oder früher gelten, dann muss die Energie konstant bleiben. Hier reißt ein jäher Abgrund zwischen der Alltagserfahrung und dem physikalischen Wissen auf: Natürlich ist für uns die Welt zu jedem Zeitpunkt eine andere. Aber das ist lediglich eine Frage der Anfangsbedingungen und nicht der zu Grunde liegenden Strukturen. Zweitens. 1927 stellte Werner Heisenberg die These auf, dass bei einem atomaren Teilchen zwei sogenannte komplementäre Eigenschaften nicht beliebig exakt gemessen werden können. Das bekannteste Eigenschaftspaar sind Ort und Impuls, als unmittelbare Folge des Teilchen-Welle-Dualismus. Aber auch für das Produkt von Energie und Zeit gilt, dass dieses niemals genauer als eine – zugegebenermaßen sehr kleine – Größe h bestimmt werden kann. Heisenberg selbst schreibt: „Ebenso wenig wie es sinnvoll ist, von der Frequenz einer Lichtwelle in einem Augenblick zu sprechen, kann von der Energie eines Atoms in einem bestimmten Moment gesprochen werden. Dem entspricht im Stern-Gerlachversuch der Umstand, dass die Genauigkeit der Energiemessung umso geringer wird, je kürzer die Zeitspanne ist, in der die Atome unter dem Einfluss der ablenkenden Kraft stehen.“14

Für die Quantenmechanik, und damit tun wir uns heute noch immer schwer, ist die Welt so, wie wir sie beobachten. Die alte, klassische, unbeobachtete Realität gibt es nicht mehr. Was heißt: Wenn wir das Produkt aus Energie und Zeit nicht präzise messen können, dann gibt es kurzzeitige Energieausreißer auch faktisch. Mit anderen Worten erlaubt die Unschärferelation kurze Abweichungen von der Energieerhaltung, z. B. den sogenannten Tunneleffekt. Teilchen können Barrieren überwinden, die eigentlich unüberwindbar sind. Wenn eine Mauer für jede einzelne Katze zu hoch ist, so gibt es doch im Rudel ein paar wenige Katzen, die drüber springen. Mit der klassischen Logik ist dies nicht vereinbar. Ich ziehe aus dieser sehr kurzen Geschichte der Energie abschließend drei kurze Folgerungen. Erstens. Energieerzeugung gibt es nicht, auch wenn wir ständig davon reden. Vielmehr ist ausreichend viel Energie vorhanden –

14 Werner Heisenberg: „Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik“, in: Zeitschrift für Physik, 43/3-4 (1927), S. 172-198, hier: S. 178.

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ich erinnere an die Energieformel der Speziellen Relativitätstheorie von 1905. Die vorhandene Energie muss nur eben in andere Energieformen verwandelt werden. Dies lässt sich technisch und ökologisch klüger oder weniger klug bewerkstelligen – wir tendieren zu unklugen Lösungen. Zweitens. Energieverbrauch gibt es nicht und ebenso wenig lässt sich Energie sparen. Wohl aber können Umwandlungsprozesse vermieden werden, die mit hohen Restmengen von nicht mehr weiter transformierbarer Wärme verbunden sind. Drittens und letztens. Was Energie letztlich ist, wissen wir nur aus den Umwandlungsprozessen zwischen verschiedenen Energieformen. Die Gestaltung dieser Umwandlungsprozesse definiert Kultur.

L ITERATUR Berthold, G.: „Notizen zur Geschichte des Principes der Erhaltung der Kraft“, in: Annalen der Physik, 233/2 (1876), S. 342-351. Feynman, Richard P.: Vorlesungen über Physik. Band I. Hauptsächlich Mechanik, Strahlung und Wärme, München/Wien 1987. Galilei, Galileo: Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betreffend, Thun/Frankfurt am Main 1995. (= Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, 11), S. 156. Gerthsen, Christian/Kneser, Hans O./Vogel, Helmut: Physik. Ein Lehrbuch zum Gebrauch neben Vorlesungen, Berlin u. a. 1989. Heisenberg, Werner: „Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik“, in: Zeitschrift für Physik, 43/34 (1927), S. 172–198. Kassung, Christian: Das Pendel. Eine Wissensgeschichte, München 2007. Leibniz, Gottfried W.: „Dynamica de potentia et legibus naturae corporeae“, in: Gerhardt, C. I. (Hg.): Leibnizens mathematische Schriften. Abt. 2, Bd. 2., Halle 1860, S. 281-514. Leibniz, Gottfried W.: „Brevis demonstratio erroris memorabilis Cartesii & aliorum circa legem naturae, secundum quam volunt a Deo eandem semper quantitatem motus conservari, qua & in re mechanica abutuntur“, in: Acta Eruditorum, 1686, S. 161-163. Liske, M.-Th.: „Kinesis und Energeia bei Aristoteles“, in: Phronesis, 36/2(1991), S. 161-178 Mayer, Robert: „Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur“, in: Oettingen, A. von (Hg.): Die Mechanik der Wärme. Zwei Abhandlungen, Leipzig 1911, S. 3-7. Smith, Crosby: The Science of Energy. A Cultural History of Energy Physics in Victorian Britain, Chicago/London 1998.

W AS BEIBT

UND WAS NICHT BLEIBT

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Galilei, Galileo: Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betreffend, Thun/Frankfurt am Main 1995. (= Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, 11), S. 156, Fig. 45. Abb. 2: Flammarion, Camille: La Fin du Monde, Paris 1894, S. 115, „La misérable race humaine périra par le froid“.

Masse als Kraft Energetische Konzepte des Sozialen M ICHAEL G AMPER

In seiner Schrift Die kollektive Reflexiologie, 1918 erstmals in Russisch und 1928 in deutscher Übersetzung publiziert, stellt der Neurophysiologe Wladimir Michailowitsch Bechterew Folgendes fest: „Es leuchtet ein, daß in der Masse Bedingungen vorhanden sind, nicht nur zur Erregung der Stimmung, sondern auch zur Entwicklung der Energie, und zwar in solchem Maße, daß sie sich in der Verstärkung der motorischen Impulse kundgibt.“1 Was Bechterew hier als ‚einleuchtende‘ Prämisse seiner kollektiven reflexiologischen Experimente ausweist, nämlich, dass in der Menschenmenge Prozesse ablaufen, die sich nicht bloß in psychischer Exaltation („Erregung der Stimmung“), sondern auch in energetischer Akkumulation („Entwicklung der Energie“, „Verstärkung der motorischen Impulse“) niederschlagen, hat eine Geschichte, die damals erst einige Jahrzehnte alt war. Zwar lässt sich die staunende Beschreibung der umstürzenden Gewalt von Auflaufmassen seit der Antike in fast allen historischen Epochen feststellen, doch waren dies in der Regel unsystematische Beobachtungen einer sozialen Kraft, der lediglich kurzfristige Effekte zugetraut wurden. Eine geschichtsmächtige und kulturbildende Wirkung wurde der Menschenmasse aber nicht zugestanden, vielmehr wurde sie im Lichte des Verdikts von Plotin über die Schlechtigkeit, Hässlichkeit und Gestaltlosigkeit der Materie gesehen, das sich sowohl mit der Etymologie von ‚Masse‘ als ‚Teig‘ und ‚Klumpen‘ als auch mit der physikalischen Bestimmung der Masse als quantifizierendes Maß von Materie, dem die Bestimmung der ‚Trägheit‘ zukommt, verbinden ließ.2 Es waren im Wesentlichen zwei Ereignisse, die den Ausgangspunkt bilden für eine neue Perspektive auf die Relevanz der energetischen Potenz der 1 2

Wladimir Bechterew: Die kollektive Reflexiologie. Mit einem Vorwort von Paul Plaut, Halle 1928, S. 31. Max Jammer: Der Begriff der Masse in der Physik, Darmstadt 1964, S. 32 f.; [Anonymus] „Artikel ‚Masse‘“, in: Michel Serres/Nayla Farouki (Hg.): Thesaurus der exakten Wissenschaften [1997], Frankfurt a. M. 2001, S. 587-590.

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Menschenmenge – das eine im Bereich des Politischen, das andere im Feld der Wissenschaften. Einerseits war dies die Französische Revolution, welche die Masse als politischen Faktor und als Subjekt von Geschichte nachhaltig ins Bewusstsein hob,3 andererseits war es Julius Robert Mayers Erhaltungsgesetz der Energie, also die Aufstellung des ersten thermodynamischen Hauptsatzes, den er zwischen 1841 und 1845 formulierte und der 1847 von Hermann von Helmholtz mit dem allgemeinen Energieerhaltungssatz bestätigt wurde. Ausgehend von der Entdeckung, dass nach dem Fall eines Gegenstands der Boden erwärmt sei und demnach Fallkraft in Wärme verwandelbar war, wurden Prozesse der Elektrizität, des Magnetismus, der Gravitation, der Wärmeleitung und der Verbrennung vergleichbar und konvertierbar. Energetische Vorgänge ergänzten nun die Physik der Materie, der Stoffe und Körper und präsentierten die Welt als Folge von Metamorphosen, Transformationen und Transsubstantiationen, die vom Erhaltungsgesetz regiert wurden. Die Konsequenzen der Thermodynamik stürzten denn auch die klassische Mechanik und damit die Newton’sche Physik in eine Krise und führten dazu, dass das Naturgeschehen physikalisch zunehmend in Termini von ‚Kraft‘, ‚Bewegung‘ und ‚Energie‘ gefasst wurde. Der Physiker Felix Auerbach ging gar so weit, dass er „das Stoffprinzip nur als einen Spezialfall des Energieprinzips gelten lassen“ wollte. Der Stoff sei „in letzter Instanz nichts anderes […] als eine durch seine vielfache Beständigkeit besonders scharf umgrenzte Erscheinungsform von Energiewirkungen“.4 Damit vertrat Auerbach die Position des Energetismus, der sich seit dem 1895 in Lübeck gehaltenen Vortrag Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus von Wilhelm Ostwald zunehmend auch als weltanschaulicher Monismus formierte, der alle Elemente und Bereiche menschlichen Lebens und menschlicher Kultur auf energetische Grundlagen zurückführte. Mit Hinweis auf die Arbeiten des belgischen Chemikers und Soziologen Ernest Solvay, der zwischen 1894 und 1910 die Questions d’énergetique sociale publizierte, verstand Ostwald die Energetik auch als wichtigen Beitrag zur „Erfassung und Ordnung“ der „so überaus verwickelten Probleme“ der „sozialen Erscheinungen“.5

3

4 5

Ausführlich dazu: Michael Gamper: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765-1930, München 2007, S. 125-212. Felix Auerbach: Die Weltherrin und ihr Schatten. Ein Vortrag über Energie und Entropie, Jena 1902, S. 25. Wilhelm Ostwald: Die Energie [1908], Leipzig 1912, S. 6. Siehe auch Ostwalds Buch „Die energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaften“, Leipzig 1909, das „grundsätzliche Betrachtungen zur Kulturwissenschaft“ liefern sollte und Fragen der Vergesellschaftung und Staatsbildung auf energetischer Grundlage erörterte (ebd., unpaginiertes Vorwort).

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I. T HERMO - UND E LEKTRODYNAMIK DER M ENSCHENMENGE Lange vor Ostwalds sozialer Energetik hatte sich schon Karl Marx mit der energetischen Kraft von Kollektiven und ihren Antrieben beschäftigt. Im Kapitel „Kooperation“ des ersten Bandes des Kapitals (1867) befasste er sich mit kollektiven Arbeitsprozessen und stellte dabei fest, dass Zusammenarbeit nicht bloß eine „Erhöhung der individuellen Produktivkraft“ ergeben würde, sondern dass es sich dabei um „die Schöpfung einer Produktivkraft, die an und für sich Massenkraft sein muss“6, handle. So würde „ein Dutzend Personen zusammen in einem gleichzeitigen Arbeitstag von 144 Stunden ein viel größres Gesamtprodukt liefern als zwölf vereinzelte Arbeiter, von denen jeder 12 Stunden, oder als ein Arbeiter, der 12 Tage nacheinander arbeitet“.7 Bemerkenswert an Marx’ Ausführungen ist aber nicht bloß die Feststellung der Mehrwert-Produktion durch Kooperation an sich, sondern auch die Begründung, die er hierfür anführte. Zum einen sah er, gleichsam physikalisch argumentierend, durch die „Verschmelzung vieler Kräfte in eine Gesamtkraft“ eine „neue[ ] Kraftpotenz“ entspringen, zum andern aber glaubte er eine aus dem „gesellschaftliche[n] Kontakt“ hervorgehende „Erregung der Lebensgeister“ am Werk, die er als „animal spirits“ bezeichnete.8 Seine Beobachtungen stützte Marx einerseits explizit mit Fußnotenverweisen auf ältere ökonomische Traktate, auf John Bellers’ Schrift Proposals for Raising a College of Industry of All Useful Trades and Husbandry von 1696, welche die Einrichtung von Arbeitsanstalten für die Armen vorschlug, und auf John Arbuthnots An Inquiry into the Connection between the Present Price of Provisions and the Size of Farms von 1773, der rationelle Arbeitsmethoden in der Landwirtschaft diskutierte. Andererseits bezog er sich für die Erklärung dieser Effekte vage auf eine in der philosophisch-medizinischen Tradition weit verbreitete und semantisch breit streuende Debatte um die „Lebensgeister“. Descartes hatte in Les Passions de l‘Ame von 1649 die „esprits animaux“ als „des corps tres-petits“ bezeichnet, die vom Hirn ausgehend sich im Blut über den Körper verteilten und die Muskelbewegungen bewirkten. 9 Die feinstofflichen „Lebensgeister“ fungierten auf Grund ihrer sinnlichen Nichtfassbarkeit schon bei Descartes als unbeweisbare Hypothesen und als Chiffren für ein Nicht-Wissen über die genauen Umstände menschlicher Tatkraft. Diese Eigenschaft prädestinierte die weitere philosophische Diskussion unter anderem bei Locke und Hume, die spätere ökonomische Konzeptualisierung bei Keynes sowie 6 7 8 9

Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Erster Band, Berlin 1987, S. 345 Ebd. Ebd. René Descartes: Die Leidenschaften der Seele. Französisch-Deutsch, hg. und übers. von Klaus Hammacher, Hamburg 1996, S. 16f.

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eine Verbreitung des Terminus auch in spiritistisch-mesmeristischen Schriften, und so mag sich auch die Verwendung des Terminus bei Marx erklären, wo er ebenfalls als Platzhalter für eine nicht näher zu bestimmende kollektive Kraft steht, die durch den Zusammenschluss mehrerer Menschen zu einer kooperativen Gruppe emergiert. Dieses hypothetische Wissen über eine prähypnotische Übertragung von Energien zwischen den Menschen in Situationen kollektiver Interaktion verweist voraus auf eine wissensgeschichtliche Konstellation rund 25 Jahre später, als im Rahmen der neu zu gründenden Massenpsychologie die Frage nach dem Energietransfer zwischen den Individuen in der Masse zu einer der drängendsten Fragen überhaupt wurde. Schon Gabriel Tarde war in seinen ersten Überlegungen zum Verhalten und zur Beschaffenheit der Menschenmenge in seiner Philosophie Pénale von 1890 fasziniert von der Intensivierung der wechselseitigen Nachahmungsakte in der Auflaufmasse. Tarde hatte ‚Nachahmung‘ in seinem im gleichen Jahr erschienenen Hauptwerk Les lois de l’imitation als Grundlage von Vergesellschaftung bestimmt und erkannte nun, dass sich diese auf Grund der körperlichen Nähe der Individuen dramatisch verstärke, besonders, wenn ähnliche Überzeugungen oder vergleichbare psychologische Zustände vorlägen. So erkläre sich, weshalb ein Verdacht, der sich beim isolierten Individuum nie hätte erhärten lassen, in der Menge zur Überzeugung werde.10 In dieser Weise konnte Tarde auch erläutern, wie aus dem komplexen, zivilisationsbegründenden Austausch von Ideen, Interessen, Gewohnheiten eine nationale „folie guerrière“ („Kriegswahnsinn“) entstehe. Auch der beim Einzelnen schwach ausgebildete, aber allen gemeinsame Hass auf eine feindliche Nation verstärke sich, so Tarde, „avec une énergie proportionelle au progrès de la civilisation“.11 Dies bedeutete, dass Gesellschaften, die in der Lage waren, große Mengen von Menschen in Nachahmungsakte zu verwickeln, auch prädestiniert waren, extreme und radikale Emotionen hervorzubringen. War so die energetische Qualität der Masse in der zugleich mit anthropologischem und juristischem Interesse geführten Debatte um die Psychologie der Menschenmenge eingeführt, so differenzierte Scipio Sighele ein Jahr später in La folla delinquente diese Position. So war er der Meinung, dass „die Kräfte zusammenwirkender Menschen sich nicht addieren, sondern einander paralysieren“ und deswegen „oft etwas sehr Mittelmässiges aus einem Kollegium“ hervorgehe, dessen Mitglieder alleine zu besseren Ergebnissen gekommen wären.12 Schwäche so die „Massenbildung“ „die geistige Kraft ebenso wie die der sympathetischen Gefühle“13, so stellte Sighele aber gleichzeitig „eine Tendenz zur Wildheit“ fest, welche die

10 Gabriel Tarde: La philosophie pénale [1890], Lyon 1903, S. 325. 11 Ebd., S. 325f. 12 Scipio Sighele: Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen [1891], autorisierte deutsche Übersetzung v. Hans Kurella, Dresden/Leipzig 1897, S. 16. 13 Ebd., S. 81.

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‚Masse‘ als mächtiges, brachliegendes Energiepotenzial erscheinen ließ.14 Mittels Zitaten von Giuseppe Pugliese und Herbert Spencer konnte so der Stimmungsumschwung in der Menge mit thermodynamischen Vorgängen in einem Dampfkessel beziehungsweise mit der Entzündung von Schießpulver erläutert werden. Durch einen „Schrei“ oder durch „Worte“ könnten ähnlich der Überdruckbildung beziehungsweise der Pulverexplosion sich langsam entwickelnde Prozesse plötzlich umschlagen und sich rasant beschleunigen. In solchen natürlichen Auslösungs- beziehungsweise Entladungsphänomenen werde dann die vorhandene soziale „Kraft“ aktualisiert und in eine bestimmte Richtung gelenkt.15 Sighele adaptierte damit für die Bildung von Menschenmassen ein Wissen, das Robert Julius Mayer schon 1876 als allgemeines Prinzip der Natur dargestellt hatte. Im Aufsatz Ueber Auslösung handelte Mayer über „Naturprocesse“, die „nur dann vor sich“ gingen, „wenn sie durch einen Anstoss eingeleitet werden“, bei denen „in der Regel die Ursache der Wirkung gegenüber eine verschwindend kleine Grösse“ darstelle und die „nicht nach Einheiten zu zählen“ und damit mathematisch nicht erfassbar seien.16 Als Beispiel für Auslösungsphänomene nannte Mayer das Knallgas, unterstrich aber auch deren grundlegende Bedeutung in Physiologie und Psychologie. So würden alle Bewegungserscheinungen auf „Auslösung“17 beruhen, zudem seien Auslösungsvorgänge von einer „angenehmen Empfindung“18 begleitet. Die Lust an der Auslösung, so vergaß Mayer nicht zu erwähnen, könne aber auch „zu den strafbarsten Verbrechen“ und „beklagenswerthen Anomalien“ führen.19 Dies bestätigte nun Sighele, indem er feststellte, dass in der „wütenden Masse […] der grösste Teil der ehrlichen Menschen [...] nach einem Gesetze der psychischen Mimicry“ dazu gezwungen sei, „ihr Verhalten nach dem ihrer Umgebung [zu] richten“.20 Es war die Kombination von geistiger und moralischer Depravierung mit der energetischen Gewalt der Auslösung, welche die Masse als zivilisationsgefährdendes Wesen erscheinen ließ. Den Versuch einer präziseren wissenschaftlichen Bestimmung dieser in der Menschenmenge zirkulierenden Energien machte der Neurophysiologe

14 Vgl. ebd., S. 82. 15 Vgl. ebd., S. 84f. 16 Julius Robert Mayer: „Ueber Auslösung“, in: ders.: Die Torricellische Leere und über Auslösung, Stuttgart 1876, S. 9-16, hier: S. 9, 10, 11. Zum Zusammenhang von ‚Auslösung‘ und ‚Masse‘-Diskurs sowie dessen wissensgeschichtlichem Kontext siehe: Armin Schäfer/Joseph Vogl: „Feuer und Flamme. Über ein Ereignis des 19. Jahrhunderts“, in: Henning Schmidgen/Peter Geimer/Sven Dierig (Hg.): Kultur im Experiment, Berlin 2004, S. 191-211. 17 Mayer: „Ueber Auflösung“, S. 16. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Sighele: Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen, S. 92.

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Jean Luys, ein Schüler von Jean-Martin Charcot und befreundet mit Gustave Le Bon,21 in einem kurzen und wenig bekannten Text von 1894. Luys bezog sich dabei affirmativ auf Sighele und Tarde und schrieb sich so ein in die Diskussion der Massenpsychologie der frühen 1890er Jahre.22 Der Titel seines Beitrags in den Annales de psychiatrie et d’hypnologie lautet denn auch La foule criminelle, doch dies täuscht über das eigentliche Anliegen des Textes hinweg, nämlich die Ergründung der neurophysiologischen Vorgänge in der Menge und die Aufdeckung von deren physikalischen Zusammenhängen. Ausgangspunkt von Luys’ Überlegungen ist die Beobachtung eines immergleichen Mechanismus: „Ce sont partout des explosions subites de l’émotivité des foules qui, obéissant à la voix d’un seul homme, se mettent en mouvement dans le sens indiqué par lui, et cela d’une façon automatique et inconsiente, rien que par la mise en action des énergies automatiques innées.“23 Die Situation, in der diese „automatisierten Energien“ fließen, ist die der Rede vor einer großen Versammlung, in der Sprache nicht als semantisch dekodierbares Zeichensystem, sondern als sensitiver Schlüsselreiz für eine plötzliche Explosion von Emotionen verstanden wird. Die Massensituation, mit der sich Luys beschäftigt, ist damit diejenige einer auf einen Einzelnen, einen potenziellen Führer, ausgerichteten Menschenmenge. Im Weiteren wendet sich Luys den Ursachen dieser plötzlichen Explosionen im Bereich der Nerventätigkeit zu und bringt diese „activités nerveuses nouvelles“ durch einen Vergleich mit der Elektrizität in Verbindung. Diese würden „comme des sources électriques par influence“ sukzessive in Gang gesetzt; bei ihnen handle es sich um „forces latentes“, die im Unbewussten schlummerten und nur auf einen Funken warteten, um eine plötzliche Explosion hervorzurufen.24 Luys setzt auch die alltägliche wechselseitige Beeinflussung der Individuen und Medien mit der „influence“ eines „foyer électrique“25 in Verbindung, der hier die Wirkung der Sprache verdeutlichen soll. Dabei wird durch die wiederholte Kursivsetzung von ‚influence‘ darauf hingewiesen, dass hier nicht nur die alltägliche Wortbedeutung von ‚Einfluss‘ evoziert werden soll, sondern auch die spezifischere Bedeutung im Rahmen der Elektrizitätslehre, also im Sinne von ‚Influenz‘, womit seit dem 18. Jahrhundert zunächst das Überspringen bzw. Überfließen der Elektrizität von einem auf einen anderen Körper, später

21 Zu Luys siehe: Robert A. Nye: The Origins of Crowd Psychology. Gustave Le Bon and the Crisis of Mass Democracy in the Third Republic, London, Beverley Hills 1975, S. 45f. 22 Jean Luys: „La foule criminelle“, in: Annales de psychiatrie et d’hypnologie 1894, S. 289-297, hier: S. 289, 296f. 23 Ebd., S. 290. 24 Ebd., S. 291. 25 Ebd., S. 291f.

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dann im 19. Jahrhundert die Beeinflussung elektrischer Ladungen durch ein elektrisches Feld bezeichnet wird. Werden so zunächst die psychischen „énergies automatiques innées“ rhetorisch mit der physikalischen Energieform der Elektrizität in Verbindung gebracht, so geht Luys im zweiten Schritt seiner Argumentation von den Vergleichen zu den materiellen Tatsachen über. Er betont, dass auch „des forces de nature purement physique“26 im Spiel seien, und er setzt bei einem thermodynamischen Phänomen an, nämlich bei physiologischen Wärmestrahlen der Menschen und deren Wirkungen in der Menge. Luys hebt darauf ab, dass die wechselseitige Erwärmung der Menschen eine Modifikation der Temperatur der Umgebungsatmosphäre bewirke, was eine physikalisch erklärbare neue soziale Situation zur Folge habe. Wärmestrahlen sind für Luys aber nur der Ansatz für die weitere Argumentation. Er erwähnt auch „agents électriques“ und „magnétiques“, von denen gesagt wird, dass sie eine Atmosphäre um die Personen bilden würden.27 Die von Luys in Anschlag gebrachte Genealogie dieser Forschungen führt von Karl Ludwig von Reichenbachs Od-Lehre über Alphonse Beau de Rochas Technologien zur Stromverteilung hin zu Luys’ eigenen hypnologischen Studien.28 Der unmittelbare, von Luys aber nicht erwähnte, wissenschaftshistorische Kontext wiederum ist der experimentelle Nachweis der elektrodynamischen Strahlung durch Heinrich Hertz 1886. In seinen eigenen Forschungen hatte Luys festgestellt, dass das menschliche Nervensystem ein menschliches Fluid ausströme. Wieder ist es ein Vergleich, der dieses Phänomen genauer charakterisieren soll, diesmal ist es aber nicht die Präposition „comme“, die einen rhetorischen Vergleich anzeigt, sondern nun ist es das vom Verb ‚comparer‘ abgeleitete Adjektiv „comparable“, das den Zusammenhang zu den Strömen der „barreaux aimantés“, der Magnetstäbe, herstellt.29 Durch die grammatikalische Konstruktion wird auf das Vergleichen als eine wissenschaftliche Tätigkeit verwiesen, die den Befund mit bekannten Tatsachen in Bezug setzt und durch den Aufweis von Ähnlichkeiten zu weiteren Einsichten zu gelangen versucht. Luys stellt also fest, dass der Mensch ein „véritable fluide vivant et personnel“ ausströme, das als eine „force rayonnante“ wirke. In der Menschenmenge ergebe das eine wechselseitige Beeinflussung der Personen durch ihre verschiedene Körperstrahlen. Luys denkt, in Übereinstimmung mit den Überzeugungen der zeitgenössischen Energetik, Wärme, Elektrizität, Magnetismus und Nervenströme als sich wechselseitig befördernde, aber auch in ihrer Phänomenalität und Identität ineinander übergehende Strahlkräfte. So etwa formuliert er „[E]t de même ils [des êtres vivants] s’électrisent, se fusionnent les uns les autres par les incitations inconsciem-

26 27 28 29

Ebd., S. 293. Ebd., S. 293. Ebd. Vgl. ebd., S. 294.

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ment perçues des effluves neuro-magnétiques qui se dégagent de leur système nerveux et de leurs expansions nerveuses sensorielles périphériques.“30 Das Geheimnis der Massenbildung und ihrer beunruhigenden Dynamik erklärt Luys so als Bildung eines „potentiel électro-magnétique très intense, énorme dans sa puissance dynamique“, das eine „atmosphère véritable chargée d’électricité nerveuse“ forme – geeignet, um jene unvorhersehbaren und blinden Effekte zu produzieren, welche aus der emotionalen Spannung der Versammlungsmenge hervorgingen.31 Luys verdeutlicht den Antrieb der Massen durch diese elektromagnetische Dynamik, die in ihren Metamorphosen und Transformationen die energetische Basis für die gewaltsamen Manifestationen der Masse bilde. Es ist dieses leicht zum Ausbruch kommende energetische Potenzial, das die Macht der Menge begründe, bei der ein leichter Impuls durch die Stimme oder Geste eines Einzelnen genügte, um eine Folge von Taten in Gang zu setzen.32 Die Aktivitäten des Redners setzen aber bloß Schlüsselreize. Der Masse braucht Luys zufolge keine externe Energie zugeführt zu werden, um sie in ihrem trägen Zustand zu aktivieren, diese bringt sie vielmehr selbst durch die Zusammenkunft der Individuen aus sich heraus hervor. Signifikant für den Status der im Begriff ihrer Begründung stehenden Massenpsychologie ist freilich ebenso wie für die zeitgenössische monistische Energetik, auf die sich Luys implizit bezieht, dass die beschriebenen Vorgänge bei aller Konkretheit ihrer Darstellung aufgehoben bleiben in einem konstitutiven Nicht-Wissen, das die Rede von der energetischen Masse rahmt und trägt. So kann sich Luys nicht entscheiden, welche Kräfte nun genau und wie wirken würden33, und er bezeichnet diese auch explizit als „puissances mystérieuses“34. Damit trägt er dem Umstand Rechnung, dass sich die junge Wissenschaft der Massenpsychologie mit dem Zugriff auf elektrische und magnetische Phänomene auf Wissensobjekte bezieht, die in der Physik selbst noch ‚epistemische‘ und damit unklare Dinge sind und sich deswegen auch in der Übertragung auf Gebiete der Kollektivpsychologie nicht als ‚technische Dinge‘ handhaben lassen, sondern hier vielmehr eine Potenzierung der ‚epistemischen‘, mithin erkenntnistheoretisch interessanten, aber auch unklaren Qualitäten der Dinge evozieren.

II. M ASSE

UND

E NERGIE

ALS

ÄQUIVALENZEN

Gustave Le Bon, mit Luys in engem Kontakt stehend, hat diese Analyse sicherlich gekannt, und auch wenn er die energetische Argumentation nicht 30 31 32 33 34

Ebd., S. 294. Ebd. Vgl. ebd., S. 295. Vgl. ebd., S. 294. Ebd.

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für seine ein Jahr später erschienene, populär gehaltene Psychologie des foules übernommen hat, so scheinen doch Luys’ Feststellungen nachzuhallen in Formulierungen wie „die Macht der Massen ist die einzige Kraft, die durch nichts bedroht wird“ oder „[d]ie Organisation hat ihre [d.i. die Masse] Kraft ins Ungeheure gesteigert“.35 Ähnlich wie später Freud hat Le Bon jedoch dem Führer eine wichtige Rolle für die Bildung und Orientierung der Masse zugeschrieben.36 Führt so die verbreitetste Schrift der Massenpsychologie eher weg vom Zusammenhang von ‚Energie‘ und ‚Menschenmasse‘, so ist es ein anderes, weit weniger bekanntes Werk des vielfältig interessierten Privatgelehrten Le Bon, das in einem neuen Zusammenhang steht, der nach der Jahrhundertwende für das vorliegende Thema wichtig wurde, nämlich die moderne Physik und ihre Behandlung der Größen ‚Masse‘ und ‚Energie‘. In L’évolution de la matière brachte Le Bon die damals allgemein anschauliche und erlebbare Krise des Stofflichen37 auf die Formel von der ,Dissoziation der Materie‘. „Das Dogma von der Unzerstörbarkeit der Materie“, so Le Bon, sei angesichts der Phänomene „der Kathodenstrahlen, der Röntgenstrahlen, der Ausstrahlungen radioaktiver Körper“ gefallen.38 Die wichtigsten Ergebnisse und Schlussfolgerungen seiner experimentellen Untersuchungen fasste er in sieben Punkten zusammen: (1) Die Materie verschwindet durch Dissoziation der Atome, aus denen sie besteht; (2) die Produkte dieser Dematerialisierung stellen Substanzen dar, die in ihren Eigenschaften zwischen ponderablen Körpern und dem imponderablen Äther stehen; (3) die vormals als träge und inaktiv aufgefasste Materie besitzt mit der intraatomischen Energie ein ungeheures Energiereservoir, (4) aus dem die meisten Kräfte im Weltall, insbesondere Elektrizität und Sonnenwärme, entspringen, womit Kraft und Materie als zwei verschiedene Formen derselben Sache deutlich werden: (5) die Materie als stabile Form, die Wärme, das Licht, die Elektrizität etc. als instabile Formen der intraatomischen Energie; wenn also Atome dissoziiert werden und damit Materie dematerialisiert wird, so werden bloß stabile in instabile Energieformen übergeführt. (6) Insgesamt verwandelt sich so Materie fortwährend in Energie; (7) das für die Lebewesen gültige Entwicklungsgesetz lässt sich auch auf einfache Körper übertragen: Die chemischen Arten sind ebenso wenig unveränderlich wie die lebendigen.39 Le Bon übertrieb nicht, wenn er erwar-

35 Gustave Le Bon: Die Psychologie der Massen [1895], mit einer Einführung von Peter R. Hofstätter, Stuttgart 1982, S. 2, 3. 36 Ebd., S. 83-101. 37 Siehe Christoph Asendorf: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Gießen 1989. 38 Gustave Le Bon: Die Entwicklung der Materie [1905], nach der 12. Ausgabe des französischen Originals übersetzt und überarbeitet von Max Iklé, Leipzig 1909, S. 3. 39 Ebd., S. 6f.

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tete, dass die Konsequenzen seiner Untersuchungen „unsere ganze Weltanschauung zum Wanken bringen“ würden.40 Le Bon ging mit seinem 1905 publizierten Buch über die Position von Ostwald hinaus, indem er das Erhaltungsgesetz für ungültig erklärte.41 Mit seinen experimentellen Untersuchungen zur intraatomischen Energie befand er sich dabei auf halbem Weg zu einem neuen physikalischen Paradigma, dessen prägnantester Meilenstein Albert Einsteins spezielle Relativitätstheorie aus dem gleichen Jahr war. Diese schloss mit dem Äquivalenzprinzip von Masse und Energie den konzeptuellen Annäherungsprozess der beiden Prinzipien ab. Die Masse eines Körpers, bisher vornehmlich das Maß seiner passiven Widerstandskraft als Trägheit, wurde nun zur Bezugsgröße für dessen Energieinhalt.42 Zurückblickend vom Standpunkt der allgemeinen Relativitätstheorie (1915), konnte Felix Auerbach 1921 bereits im Paradigma der klassischen Mechanik Ansätze zu einer Relativierung der strikten Trennung von Masse und Energie erkennen. Die Differenzierung von passiver, also träger, und aktiver, also gravitierender beziehungsweise schwerer, Masse habe es bereits möglich gemacht, Masse und Energie in ein Beziehungsverhältnis zu setzen, doch sei es damals nicht möglich gewesen, das Umrechnungsverhältnis zu finden. Dies sei erst der modernen Relativitätstheorie gelungen, die kinetische und statische Masse (m) als Funktion von Energie (E) und Beschleunigung (c) in der Formel m=E/c2 auszudrücken vermöge. Dank der nachgewiesenen Äquivalenz von Masse und Energie ergebe sich nun, dass ein Gramm Masse immer und überall gleichwertig c2 Erg sei.43 Damit besaß Masse ein ungeheures Energiepotenzial: Auerbach führte zu dessen Veranschaulichung an, dass es möglich sei, „mit einem Gramm Kohle einen Riesendampfer über den Ozean zu befördern“, falls es gelänge, die „innere Energie der Atome“ freizusetzen. Gegenüber Le Bons Theorie führte die Relativitätstheorie eine spezifischere Differenzierung zwischen den Energieformen von Masse und Wärme ein: Wärme wurde als Energie der Moleküle konzeptualisiert, während die Energie der Masse sich auf die

40 Ebd., S. 15. 41 Vgl. ebd., S. 14f.: „Wenn das Prinzip von der Erhaltung der Energie – das übrigens nur eine kühne Verallgemeinerung aus Erfahrungen an sehr einfachen Fällen ist – gleichfalls unter den Schlägen fallen muß, die es bereits treffen, so werden wir daraus schließen müssen, daß nichts auf der Welt ewig ist.“ 42 Max Jammer: „Art. ‚Energie‘“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter und (ab Band 4) Karlfried Gründer, 12 Bände, Basel, Stuttgart 1971-2004, Bd. II, S. 494-499, hier: S. 497. Zudem: Albert Einstein, Leopold Infeld: Die Evolution der Physik [1950], mit einer Einleitung von Albrecht Fölsing, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 194f., 234f. 43 Felix Auerbach: Raum und Zeit, Materie und Energie. Eine Einführung in die Relativitätstheorie, Leipzig 1921, S. 59f.

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Atom- und Elektronen-Energie beziehe, sich also in den Teilen, in den Bausteinen der Moleküle befinden sollte.44 Die Positionen von Auerbach, Ostwald, Le Bon und der Relativitätstheorie sind bei aller Differenz in wissenschaftlicher Ausrichtung, inhaltlicher Fokussierung und vor allem der Stringenz der (mathematischen) Beweisführung doch einig in der Kritik des Masse- beziehungsweise MaterieBegriffs der klassischen Mechanik und bezüglich des engen Verhältnisses von Masse/Materie mit Energie. Sie sind, gerade in ihren auf ein breites Publikum gerichteten Präsentationsformen, Beleg für ein von der fachwissenschaftlichen Diskussion in den allgemeinen Diskurs einwanderndes und dort immer deutlicher präsentes physikalisches Wissen von der Masse, das prinzipiell eine Alternative bietet zum semantischen Komplex der Trägheit beziehungsweise des Geist-Materie-Dualismus, der etwa noch Le Bons Psychologie des foules geprägt hatte. ‚Masse‘ in seiner vielfältigen Bedeutung war unter diesen diskursiven Voraussetzungen prinzipiell neu konzipierbar geworden, wie sich an expressionistischen Texten besonders gut zeigen lässt. Im Folgenden soll deshalb die literarische Inszenierung und fiktionale Dramatisierung des Äquivalenzprinzips und seiner möglichen Konsequenzen für die sozialen Verhältnisse am Beispiel eines Textes von Georg Heym exemplarisch vorgeführt werden.

III. ‚K RAFTFELDER ‘: E NERGETISCHE Z USTÄNDE

DER

M ASSE

Georg Heyms Erzählung Der fünfte Oktober von 1911 schildert eine Episode aus der Frühzeit der Französischen Revolution, die Phase unmittelbar vor dem so genannten ‚Zug der Marktweiber nach Versailles‘ am 6. Oktober 1789, der die Überführung der königlichen Familie und der Nationalversammlung nach Paris zur Folge hatte. Edmund Burke hatte 1790 dieses Ereignis in einer berühmten Passage zum Untergang der altständischen Zivilisation im Blutrausch der barbarischen Menschenmenge stilisiert.45 Heym wählte sich damit eine der prägnantesten ‚Masse‘-Szenen der Revolution zum Sujet und stellte sie in einen zeitgenössischen diskursiven Kontext, in dem die ‚Erneuerung des Menschen‘ durch neue Formen von ‚Gemeinschaft‘ ersehnt und gefordert wurde. Heyms Text situiert den Umschwung nicht im Bereich der individuellen Verbesserung, sondern in einem kollektiven Prozess, der dezidiert die sozia44 Ebd., S. 111-113. 45 Edmund Burke: Betrachtungen über die Französische Revolution [1790], aus dem Englischen übertragen von Friedrich Gentz [1793], Gedanken über die französischen Angelegenheiten, aus dem Englischen übertragen von Rosa Schnabel, hg. von Ulrich Frank-Planitz, Zürich 1987, S. 152-156. Siehe dazu auch Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 135-143.

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le Struktur der ‚Masse‘ als Voraussetzung hat. Worte wie „Volk“, „Menschenströme“, „Haufen“, „Heer“, „Scharen“, „Herden“, „Menschenherden“, „Volkshaufen“ betonen den kollektiven Impetus der Vorgänge, umspielen semantisch aber bloß die Begriffe „Masse“ beziehungsweise „Massen“ und „Menschenmassen“.46 Der Text erzählt zunächst die erlahmende Aktivität der völlig ausgehungerten Menge, die sich anfangs an einem unschuldigen Bäcker vergeht47, danach aber in „eine ungeheure Apathie“ verfällt und als „regungslose[ ] Masse[ ]“48verharrt, „verurteilt zum ewigen Tode, geschlagen mit ewiger Stummheit“49. So präsentiert sich die „Masse“ im plot zunächst als leidendes Objekt ausbleibender Handlung, nämlich der fehlenden Brotlieferung. Die „Masse“ erscheint so zunächst im Modus der alten Physik, gekennzeichnet vor allem durch eine in soziales Verhalten übersetzte ‚Trägheit‘. Diese Situation erfährt dann aber eine jähe Wende, in deren Verlauf die Menge selbst zum Subjekt der Vorgänge wird. Zuerst noch angestachelt durch die „Verrat“-Schreie und Agitationsreden des Aufrührers Maillard50, eines Veteranen des Bastillesturms vom 14. Juli, dringt ein „Schrei der Wut“ aus der stillen Menge, der bald zu einem „Meere der Schreie“ wird.51 Dieses formt sich „zu einer lauten Stimme“, die sich aus dem „Toben der Massen“ erhebt und die „Masse“ nach Versailles befiehlt52. Es sind nun nicht mehr die Maßnahmen beziehungsweise die ausbleibenden Vorkehrungen der Regierungsmacht oder die Herrschaft des Führers, denen die „Masse“ ausgesetzt ist, vielmehr befindet sie sich nun in einem Kräftefeld, das sie selbst neu ausrichtet und sie aus sich selbst agieren lässt. Dies ist der entscheidende Umschlag von einer ‚Masse‘, die träge ist und die der Energiezufuhr von außen, also durch den Führer Maillard, bedarf, zu einer energetischen ‚Masse‘, die ihre Kraft aus sich selbst gewinnt. Deutlich wird dies in der Erzählung durch den Umgang mit Maillard: Eben noch „der Gott der Masse“53, stoßen ihn wenig später die „Massen […] zur Seite“54. Explizit

46 Georg Heym: „Der fünfte Oktober“, in: ders.: Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe, hg. v. Karl Ludwig Schneider, Hamburg/München 1962, Bd. II, S. 6-18. Die Zitate in folgenden Seiten: „Volk“ (6, 14), „Menschenströme“ (8), „Haufen“ (9), „Heer“ (9, 16), „Scharen“ (11), „Herden“ (11), „Menschenherden“ (12), „Volkshaufen“ (13), „Masse“ (8, 16), „Massen“ (8, 9, 12, 13, 14, 15) und „Menschenmassen“ (16). – Die folgende Darstellung der energetischen Masse im Expressionismus ist eine gekürzte Version der Ausführungen in Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 449-467. 47 Vgl. Heym: „Der fünfte Oktober“, S. 6f. 48 Ebd., S. 9. 49 Ebd., S. 10. 50 Vgl. ebd., S. 13f. 51 Ebd., S. 15. 52 Ebd., S. 16. 53 Ebd., S. 16.

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wird in der Folge das ‚Kraftfeld‘-Paradigma aufgerufen, indem die Rede davon ist, dass der „Westhimmel“ wie „ein riesiger Magnet“ die „Köpfe“ herumgerissen und diese nach Versailles gelenkt habe55. Schließlich kulminiert die Erzählung in der metaphernreichen Beschreibung des Auszugs der „Massen“, über die es heißt: „Ihre Leiden waren geadelt, ihre Qualen waren vergessen, der Mensch war in ihnen erwacht.“56 Damit endet die Erzählung. Der Text wird so lesbar als eine Erzählung, die von verschiedenen energetischen Zuständen der „Masse“ handelt: zuerst von der langsamen Stilllegung des dynamischen Potenzials, das danach aber umso heftiger wieder aktiviert wird. Diese Bewegung ist übertragen in eine sprachliche Gestaltung, die mittels syntaktischer Anlage und bildhaftem Ausdruck diesen Prozess nachvollzieht. So spiegelt sich die allmähliche Erlahmung der „Masse“ am Anfang des Textes, die Erstickung ihres Willens im Hunger und ihr Versinken in einem „schrecklichen Schlaf“57, in sich immer länger ausdehnenden Satzperioden. War die Syntax vorher vorwiegend parataktisch konstruiert und dehnten sich die Sätze kaum über mehr als zwei oder drei Zeilen hinweg, so nehmen sie nun bis zu 15 Zeilen ein58. Beschreibungen, Auf-zählungen und Wiederholungen treten nun an die Stelle von Handlungen, und Partizipialkonstruktionen zeigen den erschöpften, jeglicher Aktivität beraubten Zustand an 59. Die dichte Materialität der halluzinierten Bilder scheinen die hungrigen und verzweifelten Menschen förmlich zu überwachsen und noch dichter zur „Masse“ zusammenzukitten. Am prägnantesten wird diese Verlangsamung aller Bewegung bis zum völligen Stillstand durch das Bild eines versteinerten Tanzes ausgedrückt: „Die zerstreuten schwarzen Figuren der Massen glichen den erstarrten Pas eines düsteren Menuetts, einem Tanze des Todes, den er mit einem Male hinter sich hatte erstarren lassen, verwandelt in einen riesigen, schwarzen Steinhaufen, gebannt und erfroren von den Qualen, Säulen des Schweigens. Unzählige Lots, die die Flamme eines höllischen Gomorra in ewige Starre geschmolzen hatte.“60

Mit der Ankunft von Maillard setzt unmittelbar nach dieser Passage jene Wende ein, die sich sprachlich in einem gedrängten Stil niederschlägt. Die Satzeinheiten werden wieder kürzer, es häufen sich nachgestellte Ellipsen und Verben übernehmen das semantische Hauptgewicht von Substantiven und Adjektiven. Diese Tendenzen steigern sich mit zunehmender Dynamisierung der Menge und werden ergänzt durch eine Metaphorik, die eine

54 55 56 57 58 59 60

Ebd., S. 17. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. Ebd., S. 9. Vgl. ebd., S. 9-12. Vgl. ebd., S. 10. Ebd., S. 12.

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energetische Aufladung der „Masse“ anzeigt. Dabei ist es auffällig, dass es durchweg traditionelle Bilder vorwiegend aus dem Bildspendebereich erhabener Natur sind, welche die neuen Vorgänge beziehungsweise die neuen Qualitäten der „Masse“ illustrieren. Die „Massen“ entbinden einen „Orkan“61 beziehungsweise einen „Sturm“ und „Wirbelwind“62, und selbst erscheint die „Masse“ als „Malstrom“63 beziehungsweise „Strom“, der alles, was sich ihm entgegenstellt, also auch die Führerfigur Maillard und seine Anhänger, mitreißt und wegschwemmt64. Diese Metaphern veranschaulichen eine positiv konnotierte, die Entwicklung zur Freiheit meinende Umwandlung von träger „Masse“ in eine energievolle, dynamische Menschenbewegung. Am deutlichsten wird dies in den letzten Abschnitten, welche die befreite und ‚Mensch gewordene‘ Menge schildern. Denn hier verschwindet die vorher auffällig oft wiederholte Bezeichnung als „Masse“ beziehungsweise „Massen“ zu Gunsten einer Licht- und Feuermetaphorik, deren Bildqualität sich durch ihre energetische Intensität bestimmt: „Das war der Abend, wo der Sklave, der Knecht der Jahrtausende seine Ketten abwarf und sein Haupt in die Abendsonne erhob, ein Prometheus, der ein neues Feuer in seinen Händen trug. […] Und das Abendrot lief über sie hin, über ihre Gesichter und brannte auf ihre Stirnen einen ewigen Traum von Größe. Die ganze meilenweite Straße brannten tausend Köpfe in seinem Lichte wie ein Meer, ein urewiges Meer. Ihre Herzen, die in der trüben Flut der Jahre, in der Asche der Mühsal erstickt waren, fingen wieder an, zu brennen, sie entzündeten sich an diesem Abendrot. […] Eine ewige Melodie erfüllte den Himmel und seine purpurne Bläue, eine ewige Fackel brannte. Und die Sonne zog ihnen voraus, den Abend herab, sie entzündete die Wälder, sie verbrannte den Himmel. […] Aber die gewaltigen Pappeln der Straße leuchteten wie große Kandelaber, jeder Baum eine goldene Flamme, die weite Straße ihres Ruhms hinab.“65

Im Zusammenspiel mit der untergehenden Sonne entfaltet die aus sich selbst heraus geeinte Menge eine Kraft, welche die „Asche“ in den „Herzen“ neu entflammt und als energetischer Überschuss auch die natürliche Umgebung ergreift. Schon die Energetik hatte Verbrennung als einen interessanten Fall der Thermodynamik erkannt, der in effiziente Arbeitsleistung umsetzbar war, und seit 1886, seit der Aufhebung des Patents von Nikolaus August Otto, war der Verbrennungsmotor zur führenden Maschine für

61 62 63 64 65

Ebd., S. 13. Ebd., S. 15. Ebd. Ebd., S. 16f. Ebd., S. 17f.

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Krafterzeugung mit steigender Verbreitung geworden.66 Bei Heym ist das energetische ‚Verbrennungs‘-Paradigma der Zeit in eine traditionelle, pathetisch überhöhende Bildsprache transponiert, die dazu dient, den appellativen Charakter von Dichtung zu steigern. Diese ist Ausdruck des „Mensch[en] der zweiten Stufe“, der, wie Erwin Loewenson es im Einführungsvortrag am ersten öffentlichen Abend des „Neuen Clubs“ 1909 vertrat, „Nihilismus“ und „Décadence“ hinter sich gelassen hat und die „Steigerung der Lebensintensität“ anstrebt: „Alles was in ihm funktionieren kann, will er rege haben, Energien sollen sich ausstrahlen, alle Gestaltungskräfte in Tätigkeit sein.“67 Gleichzeitig manifestiert sich in Heyms Text damit das „neue Pathos“, von dem Stefan Zweig bereits 1909 sprach und das zu einem bestimmenden Schlagwort expressionistischer Kreise werden sollte. Zweig strebte eine „poetische Sprache“ an, die an die Qualitäten des „Urgedicht[s]“ anknüpfen sollte, das „nichts als ein modulierter, kaum Sprache gewordener Schrei […] aus dem Überschwang einer Empfindung“ gewesen sei und einen „innigen, glühenden Kontakt mit der Masse“ hergestellt habe, den „die Dichter seit der Schrift verloren“ hätten.68 In seiner Gegenwart erkannte Zweig aber Anzeichen für eine „Rückkehr zu diesem ursprünglichen, innigen Kontakt zwischen dem Dichter und dem Hörer“ in den industrialisierten Städten. Die Dichtung müsse „vor allem selbst ein Wille, selbst eine Absicht, eine Energie, eine Evokation sein“.69 Eine solche pathetisch-energetische Aufladung zeichnet auch Heyms Text aus, der denn auch signifikanterweise auf dem Höhepunkt des Aufbruchs der Menge endet. Denn Fluchtpunkt des Textes ist die Veranschaulichung des energetischen Verlaufs der „Masse“, nicht die Erreichung eines konkreten politischen Ziels. Heyms Vision einer erlösenden Erneuerung der Menschen durch das energetische Potenzial der „Masse“ hat durchaus Vorbild-Wirkung gehabt. In ähnlicher Weise hat 1917 auch Leonhard Frank alle fünf Erzählungen seines Anti-Kriegsmanifests Der Mensch ist gut in Aufläufe von Menschenmengen münden lassen, die sich gegen die geltende Unterdrückungsund Kriegsordnung zur Wehr setzen wollen. Ohne den Zusammenhang von ‚Masse‘ und energetischer Dynamik wie Heym durch Handlungsführung, syntaktische Fügung oder Metaphorik herauszuarbeiten, ist auch ihm das

66 Georg Helm: Die Energetik nach ihrer geschichtlichen Entwicklung, Leipzig 1898, S. 208; Wolfgang König/Wolfhard Weber: Netzwerke, Stahl und Strom. 1840 bis 1914, Propyläen Technik-Geschichte, Band 4, Berlin 1997, S. 415-427. 67 Erwin Loewenson: „Die Décadence der Zeit und der Aufruf des Neuen Club“ [Manuskript 1909], zitiert nach: Thomas Anz/Michael Stark (Hg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920, Stuttgart 1982, S. 199f. (Hervorhebungen des Originals getilgt). 68 Stefan Zweig: „Das neue Pathos“, in: Das literarische Echo 11 (1908/09), 1701-1709, zitiert nach: Anz/Stark (Hg.): Expressionismus, S. 575. 69 Ebd., S. 576.

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Zusammentreten der Bevölkerung die entscheidende erlösende Tat: „Volk, dem Zwange entrissen, ins Menschentum hochgerissen, stieg auf die Straße.“70 Erst in der letzten Erzählung allerdings führt der Aufstand zum Erfolg: Die Uniformen und Machthaber weichen vor der „Menge“, der „Menschheit“ zurück, und das „zukünftige Geschehen“ kann so „in das Zeichen der großen Liebe gestellt“ werden.71 Wie Heym folgt auch Frank nicht den pessimistischen diskursiven Leitlinien der Massenpsychologie, sondern entwirft ein positives Bild der spontanen, nicht beherrschten, aus sich selber handelnden ‚Masse‘, die das Attribut der ‚Trägheit‘ gegen dasjenige der ‚Energie‘ eingetauscht hat.

IV. F ASZINATION UND AMBIVALENZ DER ENERGETISCHEN M ASSE Bilder der aus ihrer eigenen Massenhaftigkeit Energie gewinnenden Menschenmenge sind aber nicht auf den Expressionismus beschränkt gewesen, ja nicht einmal auf die fiktionale Literatur.72 Auch der Soziologe Theodor Geiger gewann in seiner Studie Die Masse und ihre Aktion von 1926 „soziologische[ ] Denkinhalte[ ]“ aus der „überraschende[n] Parallele zur Sprache der Physik“,73 nämlich aus deren Äquivalenztheorem von Masse und Energie. Geiger stellte fest, die Masse sei „die Trägerin der potentiellen Energie, d. h. jener Kraft, die dem Stoffquantum selbst innewohnt, ihm nicht als kinetische Energie durch mechanische Einwirkung von außen mitgeteilt wird“. Deswegen sei „Masse […] also in der Physik nicht eine eigentliche quantitative Bestimmung, wie Gewicht und Raumgehalt, sondern eine qualitative, dynamische“.74 Diese Einsicht machte Geiger fruchtbar für die Differenzierung von ,latenter‘ und ,aktueller Masse‘. Diese Konzeptualisierung ist für den vorliegenden Zusammenhang in zweierlei Hinsicht bedeutend: Zum einen wird die zusammengekommene und gemeinsam handelnde, also „aktuelle“ Menge als graduelle „Steigerung“ begriffen, als eine aus den Anlagen der „latenten Masse“ hervorgehende Umwandlung des energetischen Potenzials, das sich nun in aktualisierter dynamischer Bewegung äußert. „Aktuelle Masse“ ist somit 70 Leonhard Frank: Der Mensch ist gut [1917], Potsdam 1919, S. 97. 71 Ebd., S. 140. 72 Ausführlicher zur Grundlegung von sozialen Zusammenhängen in der physikalischen Energie-Masse-Äquivalenz mit Beispielen von u.a. Ernst Bloch und Deleuze/Guattari siehe Peter Friedrich: Die Rebellion der Masse im Textsystem. Die Sprache der Gegenwissenschaft in Elias Canettis Masse und Macht, München 1999, S. 237-246. 73 Theodor Geiger: Die Masse und ihre Aktion. Ein Beitrag zur Soziologie der Revolutionen, Stuttgart 1926 (Nachdruck Stuttgart 1987), S. 3. 74 Ebd., S. 2.

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nicht eine zur „latenten Masse“ alternative, aber gesellschaftlich prekäre Ausdrucksform von sozialem Protest, sondern geht als legitime Bewegung aus dieser hervor.75 Zum anderen ist „aktuelle Masse“ nicht ein Ergebnis der Ansteckung, also der Übertragung eines individuellen Zustandes auf andere Subjekte, sondern sie „geht aus dem Kollektivakt der Masse selbst hervor“.76 Damit betrieb Geiger, gegen die Massenpsychologie Le Bons, die Psychoanalyse Sigmund Freuds und die Psychopathologie Emil Kraepelins, eine Entpathologisierung und Entindividualisierung der ‚Masse‘ und fundierte auf der Basis physikalischer Äquivalenz-Modelle eine soziologische Theorie, die kollektive Eigenschaften nicht als Degenerations- beziehungsweise Atavismus-Erscheinungen individuellen Verhaltens, sondern als Qualitäten sui generis beschrieb.77 Und auch Elias Canettis Masse und Macht, jenes monumentale Werk aus dem Jahre 1960, das im 20. Jahrhundert wie kein anderes für das Phänomen der Menschenmasse steht, arbeitet sich ab am Faszinosum der energetischen Masse. Das „Umschlagen der Berührungsfurcht“, der Wechsel von „offener“ und „geschlossener Masse“ sowie die Vorgänge der „Entladung“ und des „Ausbruchs“ sind Phänomene des energetischen Zustandswechsels von Menschenmengen, die wegen der Grundsätzlichkeit ihrer Bedeutung auch gleich am Anfang des Buches verhandelt werden.78 In der Biographie des Autors lässt sich dieses Interesse am Justizpalastbrand von 1927, im Werk in der Schilderung dieses Ereignisses im autobiographischen Text Die Fackel im Ohr (1980) festmachen. Die dort gewonnenen Eindrücke hätten ihm „das wahre Bild dessen, was als Masse unser Jahrhundert erfüllt“79, gezeigt, hält Canetti dort fest. Dabei war ihm klar geworden, dass die Masse aus sich selbst heraus emergiert, dass sie selbst sich ihre Regeln und Gesetze gibt: „Ich hatte erlebt, daß die Masse zerfallen muss und wie sie diesen Zerfall fürchtet; daß sie alles daransetzt, nicht zu zerfallen; daß sie sich selbst im Feuer sieht, das sie entzündet, und um ihren Zerfall herumkommt, solange dieses Feuer besteht. […] Ich erkannte, daß die Masse keinen Führer braucht, um sich zu bilden, den bisherigen Theorien über sie zum Trotz.“80

Canetti reiht sich damit, als einer ihrer prominentesten Vertreter, in eine Phalanx von Autoren ein, die in der ‚Masse‘ nicht das disponible Substrat

75 Ebd., S. 123. 76 Ebd. 77 Helmuth Berking: Masse und Geist. Studien zur Soziologie in der Weimarer Republik, Berlin 1984, S. 77-80. 78 Elias Canetti: Masse und Macht, Hamburg 1960, S. 11-20. 79 Elias Canetti: Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931, Frankfurt a. M. 1982, S. 236f. 80 Ebd.

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eines außer ihr liegenden Willens sehen, sondern ihre selbstgestaltende Kraft betonen. Das Phänomen der energetischen ‚Masse‘ wird so als ein neuralgischer und ambivalenter Faktor des Sozialen gesetzt, der sich in unterschiedlicher, in gesellschaftseinigender oder gemeinschaftszerstörender Form, als „Festmasse“ oder „Hetzmasse“, figurieren kann.81

L ITERATUR [Anonymus:] „Artikel ‚Masse‘“, in: Michel Serres/Nayla Farouki, (Hg.): Thesaurus der exakten Wissenschaften [1997], Frankfurt am Main 2001, S. 587-590. Asendorf, Christoph: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Gießen 1989. Auerbach, Felix: Die Weltherrin und ihr Schatten. Ein Vortrag über Energie und Entropie, Jena 1902. Auerbach, Felix: Raum und Zeit, Materie und Energie. Eine Einführung in die Relativitätstheorie, Leipzig 1921. Bechterew, Wladimir: Die kollektive Reflexiologie. Mit einem Vorwort von Paul Plaut, Halle 1928. Berking, Helmuth: Masse und Geist. Studien zur Soziologie in der Weimarer Republik, Berlin 1984. Bon, Gustave Le: Die Psychologie der Massen [1895], mit einer Einführung von Peter R. Hofstätter, Stuttgart 1982. Bon, Gustave Le: Die Entwicklung der Materie [1905], nach der 12. Ausgabe des französischen Originals übersetzt und überarbeitet von Max Iklé, Leipzig 1909. Burke, Edmund: Betrachtungen über die Französische Revolution [1790], aus dem Englischen übertragen von Friedrich Gentz [1793], Gedanken über die französischen Angelegenheiten, aus dem Englischen übertragen von Rosa Schnabel, hg. von Ulrich Frank-Planitz, Zürich 1987. Canetti, Elias: Masse und Macht, Hamburg 1960. Canetti, Elias: Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931, Frankfurt a. M. 1982. Descartes, René: Die Leidenschaften der Seele. Französisch-Deutsch, hg. und übers. von Klaus Hammacher, Hamburg 1996. Einstein, Albert und Infeld, Leopold: Die Evolution der Physik [1950], mit einer Einleitung von Albrecht Fölsing, Reinbek bei Hamburg 2002. Frank, Leonhard: Der Mensch ist gut [1917], Potsdam 1919. Friedrich, Peter: Die Rebellion der Masse im Textsystem. Die Sprache der Gegenwissenschaft in Elias Canettis Masse und Macht, München 1999. Gamper, Michael: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765-1930, München 2007. 81 Canetti: Masse und Macht, S. 50-55, 66f.

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Geiger, Theodor: Die Masse und ihre Aktion. Ein Beitrag zur Soziologie der Revolutionen, Stuttgart 1926 (Nachdruck Stuttgart 1987). Helm, Georg: Die Energetik nach ihrer geschichtlichen Entwicklung, Leipzig 1898. Heym, Georg: „Der fünfte Oktober“, in: ders.: Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe, hg. v. Karl Ludwig Schneider, Hamburg/München 1962, Bd. II, S. 6-18. Jammer, Max: Der Begriff der Masse in der Physik, Darmstadt 1964. Jammer, Max: „Art. ‚Energie‘“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter und (ab Band 4) Karlfried Gründer, 12 Bände, Basel, Stuttgart 1971-2004, Bd. II., S. 494-499. König, Wolfgang und Weber, Wolfhard: Netzwerke, Stahl und Strom. 1840 bis 1914, Propyläen Technik-Geschichte, Band 4, Berlin 1997. Loewenson, Erwin: „Die Décadence der Zeit und der Aufruf des Neuen Club“ [Manuskript 1909], in: Thomas Anz/Michael Stark (Hg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 19101920, Stuttgart 1982. Luys, Jean: „La foule criminelle“, in: Annales de psychiatrie et d’hypnologie 1894. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Erster Band, Berlin 1987.. Mayer, Julius Robert: „Ueber Auslösung“, in: ders.: Die Torricellische Leere und über Auslösung, Stuttgart 1876. Nye, Robert A.: The Origins of Crowd Psychology. Gustave Le Bon and the Crisis of Mass Democracy in the Third Republic, London, Beverley Hills 1975. Ostwald, Wilhelm: Die Energie [1908], Leipzig 1912. Ostwald, Wilhelm: Die energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaften, Leipzig 1909. Schäfer, Armin und Vogl, Joseph: „Feuer und Flamme. Über ein Ereignis des 19. Jahrhunderts“, in: Henning Schmidgen/Peter Geimer/Sven Dierig (Hg.): Kultur im Experiment, Berlin 2004. Sighele, Scipio: Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen [1891], autorisierte deutsche Übersetzung von Hans Kurella, Dresden/ Leipzig 1897. Tarde, Gabriel: La philosophie pénale [1890], Lyon 1903. Zweig, Stefan: „Das neue Pathos“, in: Das literarische Echo 11 (1908/09), 1701-1709.

Wirksame Worte Übertragungsphantasien in der russischen Moderne T ATJANA P ETZER

„Warum soll man den Gedanken verwerfen, daß Energie, die Laut-Energie des Wortes, in Richtung auf eine bestimmte Wirkung gelenkt werden kann“, fragte 1920 der Priester und Philosoph Pavel Florenskij (1882-1937).1 Um die „Magizität des Wortes“ (magiþnost’ slova)2 zu bestimmen, genüge es nicht, das Wort rein physikalisch zu denken. Denn das würde bedeuten, vom geringen Messwert auf einen „kaum hörbaren flatus vocis, Lufthauch“, also auf ein „leeres Wort“ zu schließen und dessen „äußere Kraft“ zu vernachlässigen. Wie „kleinste Energiemengen größte Wirkungen erzielen“, ließe sich aber beschreiben, wenn man den Begriff der „lenkenden Kräfte“ in die Energetik einführe und die sprachmagische Wirkung anerkenne. Die Frage nach der Energie und Wirksamkeit des Wortes, die der studierte Mathematiker und Theologe Florenskij aufwirft, ist zum einen geleitet von der Vorstellung einer Schöpfungsmacht, die im Wesen eine performative Sprachkraft ist. Diese Vorstellung hat eine lange Geschichte und rekurriert auf das Verständnis des wirkenden Wortes Gottes (das im 33. Psalm als ‚belebender Hauch‘ beschrieben ist), auf sprachmagische Praktiken des Alltags3 und auf Wilhelm von Humboldts an Aristoteles anknüpfende Auffas1 Pawel Florenski: „Die Magie des Wortes“, in: ders.: Denken und Sprache. Werke in zehn Lieferungen. Bd. 3. Aus dem Russ. von Fritz Mierau, hg. von Sieglinde und Fritz Mierau. Berlin 1993, S. 207-236. Alle Zitate dieses Absatzes aus ebd. S. 212-214. 2 Im Gegensatz zu ‚Magie‘ (magija) steht Florenskijs Begriff der ‚Magizität‘ (magiþnost’) für die energetische Eigenschaft des Wortkörpers, welche überhaupt erst die Voraussetzung für magische Effekte bzw., mit den modernen Disziplinen gesprochen, psychophysische und psychophysiologische Prozesse ist, die durch Sprache ausgelöst werden können. 3 Magisch-okkulte und sprachmagische Praktiken rufen um 1900 ein großes ethnologisches, soziologisches und literarisches Interesse hervor. Vgl. Marcel Mauss/ Henri Hubert: „Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie“, in: Marcel Mauss

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sung von Sprache als „Tätigkeit“ und „wirkende Kraft“ (energeia). Für eine energetische Perspektive auf das Wort boten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zudem neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse und experimentelle Methoden an. Mit Wilhelm Ostwald, dem monistischen Wortführer der Energetik, beschrieb Florenskij das Wort als einen „festen Körper“, der über „Formenergie“ und eine „hohe Intensität“ verfüge.4 Damit wird explizit die physikalische Eigenschaft des Wortes als Medium von Energietransfer und Energieumwandlung zwischen zwei Systemen betont. Laut-Energien, die sowohl nach innen (auf den Sprecher), als auch nach außen (auf den Adressaten) gerichtet seien, bildeten für Florenskij die psychophysischen bzw. psychophysiologischen Parameter des Sprechakts. Wie aber ließe sich die durch das Wort verrichtete Leistung und damit jene Zustandsänderungen messen, die Sprache – der Affektenlehre und Wirkungsästhetik zufolge – im Produktions- und Rezeptionsprozess auslöst? Dazu Florenskijs Versuchsanordnung: Er stellte sich eine sensible Apparatur in der Art des Edinsonschen Phonographen vor, der eine gewöhnliche Masse in Schallwellen mit großer Wirkung, z. B. in eine enorme Stimme transformieren könne. Ließe man nun einen ganz gewöhnlichen Hut vom Stuhl auf den Fußboden fallen und würde dessen Fallenergie mit Hilfe dieses Geräts umwandeln, so könnte man den Hut „zehntausend Jahre ohne Pause von dem genannten Ereignis erzählen lassen“.5 Analog dazu könne eine gemäß physikalischer Messung geringe, aber doch „auf feinste Weise organisierte“ Lautenergie, die sich im Artikulationsakt entlädt und gezielt auf ein Objekt einwirkt, eine große (transformierende) Wirkung auslösen. Schließlich sei das Wort, resümierte Florenskij, ein „Kondensator des Willens“6 und der Sprechakt ein gerichteter Willensstoß oder mit anderen Worten: ein energetischer Impuls. Die Trias von Wort, Wille und Wirksamkeit, auf die man das energetisch-performative Sprachkonzept Florenskijs zuspitzen könnte und die bei symbolistischen Sprachmagiern und avantgardistischen Sprachtechnologen

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(Hg.): Soziologie und Anthropologie. übers. v. Henning Ritter, Bd. 1, Frankfurt am Main 1989, S. 43-179; Aleksej Vetuchov: Zagavory, zaklinanija, oberegi i drugie vidy narodnogo vraþevanija, osnovannye na vere v silu slova (Zaubersprüche, Beschwörungs- und Schutzformeln und andere Formen der Volksheilung, die auf dem Glauben an die Kraft des Wortes basieren). Warschau 1907. Robert Stockhammer: Zaubertexte: die Wiederkehr der Magie und die Literatur 1880-1945, Berlin 2000; insbesondere den Abschnitt „Magische Energie“, S. 180-184. Florenski: „Die Magie des Wortes“, S. 214. Florenskij bezieht sich auf das neunte Kapitel in Wilhelm Ostwald 1908: Die Energie, 2. Aufl. Leipzig 1912, S. 113-116. Formenergie (auch: Elastizität) ist die Grundlage für die Gestaltänderung fester Körper unter Beibehaltung ihres Volumens. Florenski: „Die Magie des Wortes“, S. 211f. Ebd., S. 223.

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seiner Zeit beobachtet werden kann, basierte auf Techniken der Speicherung und Freisetzung sprachlicher Energien. Diese steuerbaren Faktoren der Aufund Entladung eines Lautkörpers beflügelten geradezu die Übertragungsphantasien. Das Wort als gestaltende Kraft, die Transformation und mediale Übertragung von Energie im Allgemeinen und von Sprachenergie im Besonderen waren Ausgangspunkte philosophischer, literarischer und künstlerischer Diskurse und Szenarien. Florenskijs Brückenschlag zur Physik und Elektrotechnik, zur Psychophysik und Psychophysiologie (Ernst Mach, Wilhelm Helmholtz) sowie zu Ostwalds natur- und kulturphilosophisch fundierter Energetik7 ist dafür charakteristisch. Moderne Energiekonzepte beeinflussten in Russland die weltanschaulichen Entwürfe der Symbolisten und die Sprachexperimente der künstlerischen Avantgarde sowie die Visionen der Gotterbauer (bogostroiteli), die ein marxistisch-religiöses Kollektivbewusstsein propagierten. Was hier der Übertragung von Energiekonzepten zwischen den Disziplinen einen besonders fruchtbaren Nährboden bot, war die christlich-orthodoxe Lehre von den Energien Gottes und darüber hinaus eine aktuelle theologische Debatte, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts über die Gleichsetzung von Gottes Namen und Gottes Energie in der hesychastischen Tradition der Onomatodoxie (russ. imjaslavie, Namensverehrung) geführt wurde und ein breites philosophisches Interesse an Sprachwirkungskonzepten auslöste.8 Ohne diese Tendenzen, die zu einer diskursüberschreitenden Aisthetisierung des Wortes (Logos) führten, hier in ihrer Komplexität nachzeichnen zu können, möchte ich im Folgenden anhand exemplarischer Beispiele drei Merkmalen des nunmehr als energetische Substanz verstandenen Wortes nachgehen: Vitalität, „Magizität“, Explosivität. Diese unter Rekurs auf die exakten und experimentellen Wissenschaften in Publizistik und Literatur zur Darstellung gelangten Eigenschaften des energetischen Lautkörpers wurden für ästhetische Übertragungs- und Wirkungskonzepte der russischen Moderne theoriebildend.

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Die Schriften des in Riga gebürtigen Ostwald erfreuten sich in Russland einer breiten Rezeption. Zwischen 1888 und 1913 erschienen etwa 30 Publikationen in zeitnaher Übersetzung. Ostwalds Energielehre beeinflusste über die Philosophie, Dichtung und Literaturtheorie hinaus die Kunst, vgl. Charlotte Douglas: „Energetic Abstraction: Ostwald, Bogdanov, and Russian Post-Revolutionary Art“, in: Bruce Clarke, Linda Henderson (Hg.): From Energy to Information: Representation in Science and Technology, Art, and Literature, Stanford 2002, S. 76-94. Vgl. dazu die slavistischen Beiträge im Sammelband von Tatjana Petzer/Sylvia Sasse/Franziska Thun-Hohenstein/Sandro Zanetti (Hg.): Namen. Benennung – Verehrung – Wirkung. Positionen der europäischen Moderne, Ber-lin 2009.

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LEBENDIGE

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Wilhelm von Humboldt, der Sprache in erster Linie als Sprechtätigkeit betrachtete, evozierte mit dem aristotelischen Begriff der energeia in erster Linie das „Lebendige“.9 In der Rezeption durch den russisch-ukrainischen Sprach- und Literaturwissenschaftler Aleksandr Potebnja (1835-1891) beeinflusste diese Sprachkonzeption in Russland die Poetiken des Symbolismus und des Futuristen, die dem schöpferischen „lebendigen Wort“ (živoe slovo) und dem „Wort als solchem“10 huldigten. Der Symbolist Andrej Belyj (1880-1934),11 setzte dem „stinkenden, sich zersetzenden Leichnam“ der Alltagssprache die dichterische Sprachmagie entgegen.12 Die Vitalität des Wortes speiste sich aus Bildsprache, Rhythmus, Allusionskraft und Synkretismus. Später zerlegte er das Wort in seine ursprünglichen Bestandteile und inszenierte mit Glossolalie. Poem über den Laut (1922) sehr eindrucksvoll den Lautkörper als vis viva (lebendige Kraft) – von der noch Gottfried Wilhelm von Leibniz sprach, wenn er sich auf kinetische und potenzielle mechanische Energie im heutigen Verständnis bezog. Belyjs eigenwilliges Lautpoem entstand nach einem längeren Auslandsaufenthalt in den 1910er Jahren, den er zeitweise als Schüler des Anthroposophen Rudolf Steiner in Dornach verbrachte. Glossolalie ist der Versuch einer Kosmologie des Lautes auf der Grundlage von Steiners eurythmischer Kunst der „sichtbaren Sprache“.13 So geht die Anthroposophie davon aus, dass jeder gesprochene Laut im Inneren des Menschen eine Art Willensgebärde erzeugt und die eurythmische Bewegung diese zu einer ausdrucksvollen Gebärde der Gliedmaßen verstärkt. Belyj betonte dagegen die Lautgebärde. Die Zunge, Wurzel des uralten Sprachbewusstseins, verkörpert nun die eurythmische Tänzerin. Wie in der biblischen Szene des Zungenredens

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Zur Ergon-Energeia-Opposition in der Sprachphilosophie vgl. Leonhard Jost 1960: Sprache als Werk und wirkende Kraft. Ein Beitrag zur Geschichte und Kritik der energetischen Sprachauffassung seit Wilhelm von Humboldt, Bern 1960. Vgl. das Manifest von Vladimir Chlebnikov und Aleksej E. Kruþenych: Slovo kak takovoe, Moskau 1913. Belyj, eigentlich Boris Nikolaeviþ Bugaev, war Sohn des Mathematikprofessors Nikolaj Bugaev, dessen Vorlesungen über Diskontinuität wiederum Florenskij besuchte. Ähnlich wie Florenskijs intellektuelles Profil ist Belyj durch ein naturund geisteswissenschaftliches Studium geprägt; letzteres brach dieser jedoch zugunsten der schriftstellerischen Tätigkeit ab. Andrej Belyj: „Magija Slov“, in: ders.: Simvolizm kak miroponimanie (Symbolismus als Weltsicht), Moskau 1994, S. 131-144, hier: S. 135. Vgl. Steiners ersten Eurythmie-Vortrag in Dornach „Eurythmie als sichtbare Sprache“ vom 24. Juni 1924, auf: http://anthroposophie.byu.edu/vortraege/279c.pdf (letzer Zugriff im Oktober 2011). Von Wilhelm Wundt entlehnte Belyj die Konzeption der Laut-Gestik.

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(Glossolalie), in der automatisches Sprechen die Gemeinschaft in einen ekstatischen Zustand versetzt, wirkt die Zunge (russ. jazyk, auch ‚Sprache‘) in der Mundhöhle Wunder. Neben einigen Lautgesten, die durch das Zusammenspiel der tanzenden Zunge mit dem Luftstrom entstehen, hielt Belyj seine pseudo-wissenschaftliche Phonetik auch in Zeichnungen fest.14 Abbildung 1: Skizze aus Belyjs Entwürfen zu Glossolalie

Quelle: Andrej Belyj: Glossolalija. Poem über den Laut, 1922.

Es ist im buchstäblichen Sinne Schöpfung aus dem Munde. Die Gesten der Laute auf ihrem Weg zum Licht sind bei Belyj mythologisch beschrieben: „In dem Laut ‚r‘ flattert die Zunge: ihre Spitze zittert; der Luftstrom stößt die Zunge von hinten; und sich losreißend versucht er den zum Licht führenden Ausgang zu erreichen – Imitation der Geste des Laufens durch die Zeit – ‚r‘.“15 An anderer Stelle folgt eine physikalische Definition des Lautes: „Tätigkeit, Donner, Spannung (die Bogensehne spannt sich, um in den Weltenraum den zeitlichen Pfeil zu schießen), Kampf, Elektrizität, Kraft (sila), Arbeit (rabota), die Arbeit der Arbeiten, Zerbersten des Bodens und Eilen durch die Zeit – ist ‚r‘.“16 Das stimmliche Energie- und Kraftzentrum ist dort eingezeichnet, wo im oralen Schöpfungsraum der r-Laut durch den Druck des Expirationsstromes gebildet wird.

14 Um 1900 rückten paranormale Fähigkeiten wie die Glossolalie in der Verbindung zur Schrift, zur automatischen Kryptographie, in die Aufmerksamkeit der Psychologie. 15 Vgl. Andrej Belyj: Glossolalie. Glossolalia. Glossolalija. Poem über den Laut. A Poem About Sound. Poem o zvuke, hg. von Taja Gut. Aus dem Russ. von Maka Kandelaki, transl. from the Russian by Thomas R. Beyer. Dornach 2003, S. 52. 16 Ebd., S. 208.

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Abbildung 2: Die Geste „R-r-r-r-!“ (ɫɬɪɭɹ – Luftstrom, ɹɡɵɤɴ – Zunge, ɠɟɫɬɴ – Geste)

Quelle: Andrej Belyj: Glossolalija. Poem über den Laut, 1922.

Wie bereits Florenskijs Laut-Energie wird auch Belyjs synästhetische, lauteurythmische „Energie (r)“ durch messbare physikalische Größen beschrieben, die wiederum auf Schlüsselbegriffe aus Ostwalds Energetik verweisen. Im letzten Kapitel von Glossolalie kulminiert Belyjs Mythopoetik17 des energetischen Lauts in der Vision eines Tages, an dem auf der Zungenspitze „das zweite Kommen des Wortes“ liegen und die neue Bruderschaft der Völker energetisch verbunden sein wird: im mimischen Tanz und im Klang und Rhythmus der Sprache, die mit Nietzsche – also analog zur Musik – als elementare Formen des Willens gedacht werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts traten in Russland insbesondere zwei Denkfiguren der Vitalität in Erscheinung, die zwar eng zusammenhingen, aber in ihren Begründungen an verschiedene naturwissenschaftliche Diszi-

17 Im Gegensatz zu dem an den französischen Symbolisten geschulten Ästhetizismus des Frühsymbolismus, war der mythopoetische Symbolismus in der russischen Denk- und Sprachtradition verwurzelt. Der Rückgriff auf energetische Bedeutungsfelder wie Sonne, Licht, Strahlung, Energie war für Vertreter beider Strömungen charakteristisch. Hansen-Löve zufolge basierte die symbolistische Theorie der Entsprechungen (correspondances, russ. sootvetstvija) auf der (neo)platonistischen Ontologie und der für sie typischen Emanationslehre. Ontologische Elementarteilchen (Seinspartikel, Lichtmaterie, Licht-Samen), die aus dem kosmischen Ursprung (dem Ur-Sein bzw. der Ur-Einheit) emanierten, partizipieren in der vertikalen Hierarchie der kosmischen Seinsschichten. Diese energetische „Einstrahlung“ und die imaginative „Einsicht“ des symbolistischen Dichters können allein im Erleben (pereživanie) erfahren werden. Vgl. Aage A. HansenLöve: „Mythopoetik des russischen Symbolismus“, in: Wolf Schmid (Hg.): Mythos in der Slawischen Moderne, Wien 1987, S. 61-103, hier: S. 63-64. In Belyjs Prosagedicht Argonavty (1904; Die Argonauten) machen sich die neuen Argonauten in einer Licht-Raumschiffkonstruktion auf den Weg zur Sonne – dem „Goldenen Vlies“ eines Zeitalters, das von der Relativitätstheorie und Quantenphysik geprägt ist.

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plinen anknüpften: Die Vorstellung vom logostheologisch begründeten Schöpfungsakt knüpfte an die Physik, das Theorem der Auferweckung18 an die Lebenswissenschaften an. Philosophisch wurden diese durch das Theurgie-Konzept des Religionsphilosophen und Dichters Vladimir Solov’ev (1853-1900) gestützt. Es stellte die Weiterentwicklung der antiken theurgischen Praxis zu einem Handlungs- und Organisationsmodell der Gottwerdung dar, das sich als aktives „Umschaffen“ (pretvorenie) des Menschen in der Synthese von Religion, Technik und Kunst realisieren sollte. In Folge betonte der Religionsphilosoph Nikolaj Berdjaev (1874-1948), dass durch die Theurgie „neues Sein“ geschaffen werde: „In der Theurgie wird das Wort Fleisch“.19 Die Kunst, Trägerin theurgischer Kräfte, trat nunmehr als Erneuerungsinstanz der Welt auf. Im lebensschaffenden Konzept (žiznetvorþestvo) der Symbolisten kamen religiöse Sprachwirkungskonzepte zur Geltung, die an die figuratio, die Fleischwerdung des Wortes und an die Dynamik und schöpferische Energie des élan vital anknüpften. Aber auch bei Viktor Šklovskij (1893-1984), Schriftsteller und Theoretiker des russischen Formalismus, der sich auf das lebensbauende Prinzip (žiznestroenie) berief, findet sich diese Metaphorik. In einem kanonischen Aufsatz von 1914 erhob Šklovskij für die literarische Avantgarde den Anspruch auf die Erweckung des Wortes.20 Dort, wo das Wort von Versteinerung in Erneuerung, von Tod in Auferweckung umschlage, inkarniere die Poetik den Logos.21 Eine Wiederbelebung der Dinge gemäß eschatologischer Überzeugung in poetischer Form sollte das Leben vitalisieren und die Wahrnehmung medialer Erscheinungen auf die Zukunft ausrichten. Sklovskij argumentiert zwar nicht explizit mit dem energetischen Wirkungsgrad des Wortes, doch lag seiner

18 Unsterblichkeitsphantasmen, darunter die genuin russische Lehre der Kosmisten in der Nachfolge Nikolaj Federovs (1823-1903), für die die Auferweckung der Toten programmatisch war, hatten Konjunktur, wie auch in Biologie und Medizin Experimente zu Lebensverlängerung und Reanimation – u.a. auch durch die Zuführung elektrischen Stroms – Erfolge verzeichneten. Vgl. Tatjana Petzer: „Auferweckung als Programm. Entgrenzungen des Lebendigen in der russischen Moderne“, in: Katrin Solhdju/Ulrike Vedder (Hg.): Das Leben vom Tode her. Zur Religions-, Wissenschafts- und Kulturgeschichte einer Grenzbestimmung (im Druck). 19 Nikolaj Berdiajew: Der Sinn des Schaffens: Versuch einer Rechtfertigung des Menschen. Aus dem Russ. v. Reinhold von Walter, Tübingen 1927, S. 263. 20 Viktor Šklovskij: „Voskrešenie slova/Die Auferweckung des Wortes“, in: Texte der russischen Formalisten, II. Hg. u. mit einer Einleitung v. Wolf-Dieter Stempel, München 1972, S. 2-17. 21 Von der sprachphilosophischen Hinwendung zum Logos bis hin zum Sprachexperiment in der russischen Avantgarde vgl. auch Vladimir Fešþenko: Laboratorija Logosa. Jazykovoj eksperiment v avangardnom tvorþestve (Das Laboratorium des Logos. Sprachexperimente im avantgardistischen Schaffen), Moskau 2009.

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künstlerischen Erweckungstechnik eine vergleichbare performanzorientierte Sprachauffassung mit gerichteter Übertragungs-funktion zugrunde. Die lebenswissenschaftliche und physikalische Metaphorik treffen auch in der Poetik und Literaturauffassung Maksim Gor’kijs (1868-1936) zusammen. In der Nachfolge Lev Tolstojs (1828-1910) polemisierte dieser gegen die Rhetorisierung des authentischen Sprechens. In Gor’kijs Roman Die Beichte (1908, Ispoved’) kommt die volkstümliche Vorstellung zum Tragen, dass sich in der Lebendigkeit der Rede, im fließenden, melodischen Redestrom, die dichterische Wahrheit offenbare.22 Nur das vom Sprecher authentisch Gefühlte könne emotional auf den Leser übertragen werden. Tolstojs Konzept der Ansteckung zielte auf die Übertragung moralischer Imperative.23 Im Unterschied zu Tolstoj betonte Gor’kij jedoch, dass die emotionale Wirkung nicht allein vom Wort, sondern vom Gedanken ausgehe: „Stimmungen stecken an, aber erziehen nicht, einzig Ideen erziehen“.24 Gor’kij verfolgte zu dieser Zeit die neuen Theorien der Energetik, Parapsychologie und Neuropsychologie.25 Er hatte sich den Gotterbauern um Aleksandr Bogdanov (1873-1928) angeschlossen, für die Ostwalds Energielehre ein wesentliches philosophisches Fundament bildete.26 Er hörte Vorlesungen bei Vladimir Bechterev (1857-1927) über die Suggestion als contagium psychicum27 und rezipierte Naum Kotiks Theorie der Gedankenstrahlung. Kotik, der zu Kryptoästhetik und Telepathie forschte, behauptete für die Gedankenübertragung aufgrund ihres geringeren Energieverlusts (keine Redeaktivitäten) eine größere Effizienz gegenüber der Sprachübertragung.28 Gerade bei Massenphänomenen ließe sich beobachten, dass die

22 Vgl. Sylvia Sasse: Wortsünden: Beichten und Gestehen in der russischen Literatur, München/Paderborn 2009, S. 197-191 (Abschnitt „Totes vs. Vitales Wort“). 23 Sylvia Sasse: „Moralische Infektion. Tolstojs Theorie der Ansteckung und die Symptome der Leser“, in: Mirjam Schaub/Nicola Suthor (Hg.): Ansteckung. Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips, München 2005, S. 275-293. 24 Maksim Gor’kij: „O sovremennosti“ (Über die Gegenwart), in: ders.: Nesobrannye literaturno-kritiþeskie stat’i. Moskva 1941, S. 96, zit. nach Heinz Setzer: „Die Bedeutung der Energielehre für die Literaturkonzeption Maksim Gor’kijs nach der ersten russischen Revolution“, in: Welt der Slaven, 25/1 (1980), S. 394-427, hier: S. 411. 25 Ich folge hier dem grundlegenden Beitrag von Setzer: „Die Bedeutung der Energielehre für die Literaturkonzeption Maksim Gor’kijs“, a.a.O. 26 Bogdanov distanzierte sich später von Ostwald und wandte sich Ernst Mach zu. 27 Vgl. Vladimir Bechterev: Suggestion und ihre soziale Bedeutung. Rede gehalten auf der Jahresversammlung der Kaiserl. Medizin, Akademie 1897, St. Petersburg/Leipzig 1899. 28 Zeitgleich mit Gor’kijs Beichte erschien Naum Kotik: Die Emanation der psychophysischen Energie. Eine experimentelle Untersuchung über die unmittelbare Gedankenübertragung im Zusammenhang mit der Frage über die Radioaktivität des Gehirns, Wiesbaden 1908. Mögliche Inspirationsquellen könnten auch Ko-

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„psychophysische Emanation“, die von Gedanken ausgehe, zu einer „echten psychischen Infektion“ führe.29 Inspiriert von den Überzeugungen dieser Experimentalwissenschaftler – der Bündelung geistiger Energien, der energetischen Ausstrahlung von Gedanken, der sinnesphysiologischen Übertragbarkeit von Anschauungen –, entwickelte Gor’kij eine Art Literaturpsychologie des emanierenden Logos. Literatur verfüge demnach über eine bestimmte potenzielle Energie, die in Bewegungsenergie umgewandelt werden könne. Voraussetzung dafür war eine quasi-religiöse Sprachumgebung: das Kollektiv, welches für Gor’kij die wichtigste soziale Energiequelle darstellte. Am Ende der Beichte bewirkt der kollektive Wille des Volkes, welches gleich „Hunderten von Kraftströmen“ die kranke Person mit seinen Augen ‚bestrahlte‘, eine Wunderheilung.30 Ganz im Sinne der Sonnenmetaphorik vermochte Literatur Kräfte zu wecken und, gerade angesichts des allgemeinen Krisenbewusstseins, kulturelle Veränderungen anzustoßen.31 Damit wurde ihr das Potenzial zuerkannt, der latenten Neigung zur Verweigerung der Lebensaktivität32 entgegenzusteuern, die – systemisch gedacht – entropieverstärkend wirkte. Die Forderung nach Lebendigkeit entsprang einer christlich-anthropologischen Kulturkonzeption, die sich mit dem Wort gegen die logische Konsequenz des Zweiten Gesetzes der Thermodynamik stellte: „Kultur ist der bewußte Kampf mit der universalen Nivellierung: Kultur bedeutet Isolieren als ein Bremsen des Nivellierungsprozesses im Universum, bedeutet die Erhöhung der Spannung in allen Bereichen als Bedingung des Lebens im Gegensatz zur Gleichheit, dem Tod“.33

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tiks Schrift Das Lesen von Gedanken und N-Strahlen (1904; ýtenie myslej i Nluþi) und Konstantin Kudrjavcevs Emanation der psychophysischen Energie (1908; Emanacija psychofiziþeskoj energii) gewesen sein. Darauf verweist Mikhail Agursky: „An Occult Source of Socialist Realism: Gorky and Theories of Thought Transference“, in: Bernice Glatzer Rosenthal (Hg.): The Occult in Russian and Soviet Culture, Ithaca 1997, S. 247-272. Kotik: Die Emanation der psychophysischen Energie, S. 130. Maxim Gorki: „Eine Beichte“, in: ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Bd. 6. Berlin/Weimar 1966-78, S. 241-448, hier: S. 445. Gerade weil der Autor durch die „künstlerische Form auf ‚katalytischem Wege‘ geistige Energien freisetzt“, habe Literatur Gor’kij zufolge eine hohe propagandistische Wirkung, vgl. Setzer: „Die Bedeutung der Energielehre“, S. 405. Exemplarisch für diesen Aspekt der russischen Psyche stehe, so Setzer, die „Karamsovšþina“ – so benannt nach Dostojevskijs Helden, vgl. ebd., S. 415. Pawel Florenski: „Autorreferat“, in: ders.: Leben und Denken. Bd. 1. Aus dem Russischen von Fritz Mierau, hg. von Fritz und Sieglinde Mierau, Ostfildern 1995, S. 32-38, hier: S. 34.

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Wie die kultursoziologische Konzeption der Energetik, die eine aktivistische Gegenstrategie zum Entropieprozess formulierte, positionierte sich Florenskij in dieser Frage. Dem Entropie-Gesetz über die sinkende Ausnutzbarkeit von Energie, dem „Gesetz des Chaos“, stellte er das fleisch-gewordene Wort (Logos) als „Prinzip der Ektropie“ (Logos – naþalo ektropii) entgegen.34 Das Ektropie-Gesetz besagt, dass es energetische Systeme gibt, die nicht entropisch funktionieren. Ektropische Systeme unterliegen einer sinkenden Entropie oder anders gesagt: sie streben nach dem Zugewinn an Energie, denn nur eine positive Energiebilanz bewahrt vor dem Erlöschen. Die christliche Lehre vom inkarnierten Logos, in dem die Umgestaltung des gesamten kosmischen Seins, also auch die Transformation des Menschen, bereits enthalten ist, wird ebenso physikalisch gestützt, wie das fleischgewordene, lebendige Wort des schöpfenden Dichters, der im dynamischen Prozess das ewig Neue hervorbringt. Der ektropische Logos unterstreicht dabei die Gerichtetheit der sprachlichen (bei Florenskij auch: geistig-kulturellen) energeia.

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MAGIZISTISCHE

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„Das Wort ist synergetisch: Energie“ (Slovo sinergetiþno: ơnergija).35 Während Ostwalds Lehre in ihrer weltanschaulichen Konsequenz dazu führte, den Materiebegriff durch den der Energie zu ersetzen, aktivierte Florenskij, für den der Energiebegriff ähnlich zentral war, das synérgeia-Konzept der orthodoxen Theologie und argumentierte sprachphilosophisch (im Kern: religionsphilosophisch). Florenskijs Energetismus, der Energiekonzepte aus den Geistes- und Naturwissenschaften sowie der Religion im Begriff der Magizität zusammenführt, ist symbolistisch.36 Florenskij systematisierte seine energetische Betrachtungsweise von Sprache im Kontext des sogenannten Namenstreits, einer theologischen Polemik, die 1913 zwischen russisch-orthodoxen Mönchen auf dem Athosberg und dem Heiligen Synod über der Frage entbrannte, ob Gott in seinem Namen selbst gegenwärtig sei. In der Tradition der mystisch-kontemplativen Onomatodoxie setzten die Athos-Mönche Gottes Namen und Gottes Energie, in der Gottes Wesen lebendig und dadurch erfahrbar sei, gleich. Die Russisch-Orthodoxe Kirche verurteilte diesen Glauben als Häresie. Unter den Theologen, Philosophen und Dichtern, die Partei für die Namens-

34 Ebd. 35 Florenski: „Die Magie des Wortes“, S. 222. 36 Auch Belyj formuliert: „Syn-ergeia ist auch ‚Sym-bolie‘“, Andrej Belyj: Ich, ein Symbolist. Eine Selbstbiographie, aus dem Russ. von Sigrun Bielfeldt, Frankfurt am Main 1987, S. 153.

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verehrer ergriffen, war Florenskij.37 Ausgehend von der hesychastischen Namenspraxis entwickelte er eine Theorie des Namens, der er ein energetisch-synergetisches Sprachwirkungskonzept zugrunde legte.38 Der entscheidende Punkt der Frage nach dem Gottesnamen war für ihn der Begriff des Symbols: Wie im Gottesnamen manifestiere sich im Symbol das höhere Sein. Das Leugnen des Namens aber wäre die Leugnung der Möglichkeit des Symbols.39 Die orthodoxe Energielehre ist für Florenskij das Prisma, durch das er die Wirkkraft des Wortes konzeptualisiert. Vom theologischen Standpunkt aus entfalte das Wort seine Wirksamkeit durch die göttliche Einwirkung in menschlicher Rede und durch die menschliche Mitwirkung an den Energien Gottes:40 „Die Vereinigung der Energien trägt den Namen synergeia, gemeinsame Energie (der ganze Heilsprozeß ist synergetisch). Das Wort ist die Synergie des Erkennenden und der Sache, besonders in der GOTTESerkenntnis. Die menschliche Energie ist die Umgebung, die Bedingung für die Entfaltung der höheren Energie – GOTTES.“41

Aus physikalischer Perspektive ließe sich der synergetische Prozess als ein Resonanzphänomen par excellence beschreiben, bei dem die wechselwirkenden Komponenten eine neue Qualität ergeben.42 Durch das Zusammen-Wirken von Energien („ıȣȞȑȡȖİȚĮ“) und die wechselseitige Unterstützung der beteiligten Elemente entstehe, so Florenskij, wie in einem elektromagnetischen Schwingungskreis, in dem Erreger und Resonator Resonanz

37 Vgl. Sergei Khoruzhii [Sergej Choružij]: The Idea of Energy in the ‚Moscow School of Christian Neoplatonism‘“, in: Norbert Franz/Michael Hagemeister/ Frank Haney (Hg.): Pavel Florenskij – Tradition und Moderne, Frankfurt am Main 2001, S. 69-81. 38 Vgl. auch Tatjana Petzer: „Pavel und Aleksej, Narren um Christi willen. Zur psychophysischen Wirksamkeit von Namen bei Pavel Aleksandroviþ Florenskij“, in: dies., Sasse, Thun-Hohenstein, Zanetti: Namen, S. 121-141. 39 Pawel Florenski: „Über den Namen Gottes“, in: ders.: Denken und Sprache, a.a.O., S. 291-236, hier: S. 294. 40 Vgl. Florenski: „Die Magie des Wortes“, S. 222. 41 Florenski: „Über den Namen Gottes“, S. 300. 42 Vgl. Pawel Florenski: „Namensverehrung als philosophische Voraussetzung“, in: ders.: Werke in zehn Lieferungen, Bd. 3, aus dem Russischen von Fritz Mierau, hg. von Sieglinde und Fritz Mierau, Berlin 1993, S. 237-290, hier: S. 244f. Von der Resonanzhaftigkeit der Rede geht auch der Gotterbauer und spätere Volkskommissar für Bildung, Anatolij Lunaþarskij, in seinem Konzept der ‚warmen‘ Agitation – die Propaganda ist dagegen ‚kühl‘ – aus; entsprechend ließen sich Emotionen organisieren, vgl. Lunaþarskijevolution und die Kunst“, in: ders.: Die Revolution und die Kunst, Dresden 1974, S. 26-31, hier: S. 27, zit. nach Sasse, Wortsünden, S. 188-189.

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(„Synergie“) erzeugen, eine strukturell neue und qualitativ höhere Verbindung. Kommt also das synergetische Wirkprinzip in Natur und Gesellschaft zum Tragen, so liege „nicht mehr die eine oder die andere Energie gesondert“, sondern etwas „Neues“ vor. Oder es handele sich, ontologisch gedacht, um „mehr als die Summe der Seinsenergie der Selbstoffenbarung beider Eltern“.43 Diese Argumentation stellt Florenskij in die Tradition der aristotelischen Substanzontologie, die das „einheitliche Ganze“ durch die Formel „mehr als bloß die Summe seiner Bestandteile“ beschreibt.44 Gerade das Symbol ist in dieser Weise antinomisch zu definieren, und zwar als „ein Sein, das mehr ist als es selbst“, das etwas zur Erscheinung bringt „was nicht es selbst ist, was größer ist, aber sich durch das Symbol wesenhaft offenbart.“45 Durch das Symbol (insbesondere durch den Namen) kommt eine höhere Realität des Wesens und dessen Wirkkraft zum Vorschein. Im Symbol vereinigen sich niedere und höhere Energien, wobei die höhere Seinsschicht die niedere nährt. Mit der synergetischen Verbindung, der Durchdringung der Energien verschiedener Provenienz, erfolgt die energetische Aufladung des Lautkörpers. Darauf beruht die Wirksamkeit des Symbols. Gemäß der Analogie von Wort und Same in der Heiligen Schrift, wonach der Pflanzensamen ein Größeres und qualitativ Höheres hervorbringt, kann aus dem Wort eine neue Qualität erwachsen.46 Allerdings kann die Metaphorik des organischen Wachstums nicht die energetischen Prozesse in seinem Wesen veranschaulichen. Fungiert doch für Florenskij das Wort durch seine Resonanz-, Speicher-, Kondensations- und Umwandlungsfähigkeit als Katalysator der „sich durch eine Person offenbarenden Energie der Menschheit“.47 Der Sprechakt ist Willensbekundung und Partizipation am Schöpfungswerk Gottes. Durch die gelenkte Bewusstseinskonzentration setzt der Sprecher Energie frei, verrichtet Arbeit. Sein Wort (Logos) schafft dadurch einen „neuen Augenblickszustand der Wirklichkeit“.48 Das magizistische Wort bewirkt Veränderungen, die nur als magisch wahrgenommen werden kön-

43 Florenski: „Namensverehrung als philosophische Voraussetzung“, S. 243. 44 Ebd. In der Metaphysik des Aristoteles bezieht sich diese Aussage auf ein Ganzes, dessen Bestandteile „nicht nach Art eines Haufens, sondern wie eine Silbe“ zusammengesetzt sind (Metaphysik 1, V). Die aristotelischen Termini ousia und energeia spielen in der griechischen Gotteslehre eine große Rolle, vgl. P. Martin Strohm: „Die Lehre von der Energeia Gottes. Eine dogmengeschichtliche Betrachtung“, in: Kyrios. 8 (1968), S. 63-84. 45 Pawel Florenski: „Namensverehrung als philosophische Voraussetzung“, S. 246. 46 Florenski: „Über den Namen Gottes“, S. 295. 47 Florenski: „Namensverehrung als philosophische Voraussetzung“, a.a.O., S. 237. 48 Pawel Florenski: „Die allgemeinmenschlichen Wurzeln des Idealismus“, in: ders.: Leben und Denken, Bd. 1, aus dem Russischen v. Fritz Mierau, hg. v. Fritz und Sieglinde Mierau, Ostfildern 1995-1996, S. 169-200, hier: S. 188.

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nen. Florenskij entzaubert das sprachmagische Wirken nicht, er führt lediglich Akteure als Träger gerichteter Energien in die Betrachtung ein. Aus anthropologischer Perspektive ist die Magizität des Wortes Voraussetzung für die Soziodynamik. Wie in komplexen Selbstorganisationsprozessen strebt der Logos zur höchsten Stabilität49 und einer höheren Ordnung. Die synérgeia-Lehre der Ostkirche vom Zusammenwirken menschlicher und göttlicher Energien bildet den Kerngedanken der Theosis, der Vergöttlichung und Transformation des Menschen.50 In diesem Prozess ist der Mensch, der paulinischen Tradition folgend, synergós – Gottes Mitarbeiter und Helfer (I Kor 3,9). Der performative Sprechakt setze demnach Energien frei, die die Partizipation des Menschen am Schöpfungswerk Gottes ermöglichen. Mithilfe des Kurvenverlaufs der Wachstumsfunktion veranschaulichte Florenskij die mathematischen Bedingungen für die gesetzmäßig-kontinuierliche Entwicklung des Menschen, dessen Annäherungsprozess an Gott bzw. die potenzielle Möglichkeit zur Vergöttlichung. Demnach ließe sich die synergetische Mitwirkung des Menschen an der Gnade Gottes, die potenzielle Vervollkommnung des Einzelnen, als Verhältnis von Qualität und Quantität, Ousia und Hypostase, Name und Zahl symbolisch darstellen.51 Florenskijs Konzeption des ektropischen Logos weist Parallelen mit physikalisch-energetischen Auffassungen auf, die den Menschen von gewöhnlichen entropischen Systemen abhebt. Demnach binde der Mensch Energien, statt diese zu zerstreuen und baue unterschiedliche Energieniveaus auf, statt diese zu nivellieren. Die Fähigkeit, eigene und äußere oder fremde Energien in einem beträchtlichen Umfang zu nutzen, an sich zu bin-

49 Interessanterweise nennt man heute in der Kernphysik diejenigen Neutronenund Protonenzahlen eines Atomkerns ‚magisch‘, deren Schalen voll besetzt sind und Atome, deren Nukleonenzahl (Summe der Neutronen- und Protonenzahl) den magischen Zahlen entsprechen, besitzen eine besonders hohe Stabilität. Bei stabilen Isotopen, für die dieser Zustand zutrifft, spricht man von ‚Magizität‘. 50 Der Synergismus der orthodoxen Theologie folgt insbesondere den Auslegungen von Maximus dem Bekenner und Grigorios Palamas. Vgl. auch Konrad Onasch: „Vergottung und Erlösung“, in: ders.: Einführung in die Konfessionskunde der orthodoxen Kirchen, Berlin 1962, S. 231-237. 51 Zu Florenskijs Zeiten herrschten in der Energetik-Debatte zwei Strömungen: jene Ostwaldscher Prägung und eine empiriosymbolistische, die sich an Georg Helm orientierte, der in seiner mathematisch fundierten Energetik der Energie eine abstrakte Verweisfunktion zuerkannte, vgl. dazu die Beobachtung des Gotterbauers P. Juškeviþ: „Sovremennaja ơnergetika s toþki zrenija empiriosimvolizma“ (Die zeitgenössische Energetik aus der Perspektive des Empiriosymbolismus), in: Oþerki po filosofii marksizma, Sankt-Peterburg 1908, S. 162, zitiert nach Setzer, S. 397.

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den und zu speichern, zeichne ihn unter allen anderen Spezies aus.52 Dass der Mensch aufgrund seines Ektropismus eine kosmische Sonderstellung einnimmt, vertraten in Deutschland vor allem der Publizist Georg Hirth und Felix Auerbach, Professor für theoretische Physik an der Universität Jena.53 Auch Ostwalds kultursoziologische Konzeption der Energetik stellt eine Gegenstrategie zum Entropieprozess dar – für eine dynamische Aufwärtsentwicklung und positivistische Welterklärung. Ostwald, der die Hauptsätze der Thermodynamik von der Erhaltung und der Dissipation der Energie gleichermaßen auf Natur und Kultur anwendete, leitete aus dem Entropiegesetz monistisch ab, dass jede Entwicklung zur größten Effektivität bei kleinstem Energieverlust strebt. Um eine höhere Entwicklungsstufe zu erreichen, müsse demnach ein möglichst hoher Wirkungsgrad bei der Energieumwandlung erzielt werden. Daraus leitete er zwei Postulate ab: zum einen das harmonische Zusammenwirken der Teile in einem Ganzen, die Notwendigkeit von Organisation und Planung; zum anderen die kulturelle Elementarumwandlung niedriger, d.h. physischer Energie in ihre höhere, d.h. psychische und geistige Form durch die Synergie von Verstand und Willen. Diese bedingen die Genese des neuen Menschen, die Höherentwicklung. Aus energetisch-evolutionistischer Perspektive beweist gerade die Kunst deren Möglichkeit.54 Florenskijs Konzept des Zusammenwirkens ist davon, obwohl theologisch fundiert, nicht allzu weit entfernt, wenn man die sozialen Konsequenzen in den Blick nimmt. Der entscheidende Unterschied liegt darin, wo der „energetische Imperativ“ angesetzt wird. Florenskij sah die höchste Konzentration geistiger Energien, die zur Gestaltung der Welt führt, im Akt der Benennung. Er spitzte seine Ausführungen insbesondere auf die Namensgebung bei Personen zu. Die Lektüre der Einträge in Florenskijs Namen-Buch (Imena) von 192655 ergibt ein Netzwerk energetischer Konstellationen zwischen den einzelnen Namen, die sich zueinander einerseits paarig (im Sinne von stark-schwach, stabil-labil, aktiv-passiv usw.) verhalten, andererseits über Merkmale verfügen, die gra-

52 Ostwald rechtfertigt die Organisation, d.h. die Aneignung freier und fremder Energien durch den Menschen als ektropische Unternehmung, spricht sich jedoch gegen jede Form der Energievergeudung aus. Vgl. Wilhelm Ostwald: Die energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaften, Leipzig 1909, insb. S. 51ff u. S. 81ff. 53 Georg Hirt: Energetische Epigenesis und epigenetische Energieformen insbesondere Merksysteme und plastische Spiegelungen, München, Leipzig 1898. Seine „Programmschrift für Naturforscher und Ärzte“ veröffentlichte Hirth im eigenen Verlag. Felix Auerbach: Ektropismus oder die physikalische Theorie des Lebens, Leipzig 1910. 54 Vgl. Wilhelm Ostwald: Vorlesungen über Naturphilosophie, 2. Aufl. Leipzig 1902, S. 431, S. 433. 55 Pawel Florenski: Namen. Werke in zehn Lieferungen, Bd. 4, aus dem Russischen von Fritz Mierau, hg. von Sieglinde und Fritz Mierau, Berlin 1994.

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duell gestuft sind. Florenskij zufolge entfalte der Name seine psychophysiologische Wirksamkeit, indem er „entsprechend dem Kraftfeld seiner Form den gesamten Raum der Lebensbeziehungen“56 organisiere. Der wahrgenommene Name ist demnach Energie, die, von den Sinnesorganen in Nervenenergie umgewandelt, ihrerseits die physiologische Struktur des Gehirns modifiziert und in das Gedächtnis eingeht. So wirke der ausgesprochene Name – magisch – auf die Außenwelt und – mystisch – auf die Innenwelt des Sprechenden ein. Auf diese Weise offenbare sich der synenergetisch beschaffene Name als magizistische, d.h. formbildende Kraft.

D AS

EXPLOSIVE

W ORT

In seinem Essay über die „Magizität des Wortes“ betonte Florenskij, dass die Qualität der Energie, also die Ordnung oder Form einer bestimmten Energiemenge, bedeutsamer als ihre Quantität sei. Er führte folgendes Rechenbeispiel an: Die auf einer Tausende Quadratmeter großen Fläche über Jahrhunderte gespeicherte Sonnenwärme würde kein Quäntchen Pulver entzünden können. Dagegen sei eine konvexe Linse, die die Strahlungsenergie der Sonne von zehn Quadratzentimetern bündelt, in der Lage, innerhalb weniger Sekunden ganze Pulverkeller in die Luft zu sprengen und eine ganze Stadt zu vernichten.57 Am Wendepunkt von der mechanischen zur magischen Technik, vom Zeitalter der Maschine zum Zeitalter der Energie,58 kann eine entsprechende Explosionskraft auch für ‚kleinste‘ Laut-Energien angenommen werden. Folgt man Florenskijs Gedankenexperiment, so könnte eine Wirkungsverstärkung durch das eingangs beschriebene Transformationsgerät für Laut-Energie oder, abstrakter gedacht, durch „lenkende Kräfte“ erfolgen, die wie beim Maxwellschen Dämon mit minimalen Energieaufwand eine erstaunliche kinetische und thermische Umverteilung auslösen. Die Folge einer derartigen Kanalisierung wäre „eine Reihe rein physikalischer Wirkungen“.59 Belyj hat in seinem Roman Petersburg (1913/14) die explosive Kraft des Wortes im profanen Bild der Bombe verarbeitet.60 Auf metafiktionaler

56 Florenski: Namen, S. 25. 57 Der Florenski, „Die Magie des Wortes“, S. 213. 58 Vgl. Heinrich Hardensett: Magische Technik, in: Technik und Kultur 17 (1926), S.173-175. 59 Florenski, „Die Magie des Wortes“, S. 213. 60 Zur Explosion bei Belyj vgl. Gudrun Langer: „‚Petersburg‘ – der explosive Zustand der Kultur (Die ‚Verdauungsstörung‘ des ‚Schädelkastens‘)“, in: dies.: Kunst – Wissenschaft – Utopie. Die „Überwindung der Kulturkrise“ bei V. Ivanov, A. Blok, A. Belyj und V. Chlebnikov, Frankfurt am Main 1990, S. 273-329. Olga Matich: „Petersburg, the Novel“, in: dies. (Hg.): Petersburg/Petersburg: Novel and City, 1900-1921. Madison 2010, S. 29-120.

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Ebene entspricht die Bombe dem Wortschöpfen des Dichters. Im zelebralen Spiel wird die Wirklichkeit – als buchstäbliche „Nahrung“ (pišþa) – zunächst zerlegt und verflüssigt und in einem zweiten Schritt durch Synthese im Sinne des symbolon wieder zusammengefügt.61 Diese Umarbeitung (pererabotka) als Freisetzung von kreativen Energien durch Expansion und Explosion thematisierte Belyj erneut in dem Essay „Revolution und Kultur“ (1917). Im mechanistisch betrachteten Leben zeigt sich die Revolution hier als eine „Explosion, die eine tote Form in ein formloses Chaos verwandelt“62. Das Alte wird zersprengt, um eine neue lebendige Form zu ermöglichen, denn eine Explosion (vzryv) erfüllt nur dann ihren Sinn, wenn sie zur Voraussetzung für Umgestaltung und ein neues Wachstum wird.63 Mit der russischen Oktoberrevolution wurde klar, dass die Wirkungskraft einer einschlagenden Idee sogar über die pyrotechnische Aktion hinausgehen kann, auf die noch Belyjs Roman-Attentäter setzten. In seinem Poem „Erste Begegnung“ (Pervoe svidanie) von 1921 kulminiert die Kraft des explosiven Gedankens im Bild der Atombombe. Die Spaltung des Atoms, die Entdeckung des Elektrons durch Joseph John Thomson und der Radioaktivität durch Marie Skłodowska-Curie, der Begriff der Kraft, der bei Friedrich Nietzsche eine zentrale Rolle spielte64 – diese Meilensteine der Wissenschafts- und Kulturgeschichte verdichten sich hier allesamt zu einer Transformationsgewalt durch freigesetzte Energien, die ein erschütterndes Opfer, eine „Hekatombe“, heraufbeschwört. Übertragen auf das gedankliche bzw. sprachliche Konstrukt geht von der Explosivität des Wortes also in erster Linie eine Gefahr aus. Am nächsten kommt Belyjs Explosionsgedanken der Revolutionär und Schriftsteller Evgenij Zamjatin (1884-1937), der Albert Einsteins Relativitätstheorie zum Vorbild der Erzählsprache nahm und deren grundlegende Erneuerung forderte, und zwar „Hochspannungen

61 Andrej Belyj: „Formy isskustva“ (Formen der Kunst), in: ders.: Simvolizm kak miroponimanie. Moskau 1994, S. 90-105, hier: S. 90. 62 Andrej Belyj 1917: „Revolucija i kul’tura“ (Revolution und Kultur), in: ders.: Simvolizm kak miroponimanie, Moskau 1994, 296-308, hier: S. 300. 63 Vgl. auch Langer, „‚Petersburg‘ – der explosive Zustand der Kultur“, S. 299. Das geschichtstheoretische und anthropozentrische Explosions-Konzept des Kultursemiotikers Jurij Lotman (1922-1993), das dieser in seinem letzten Buch Kultur und Explosion (1992, Kul’tura i vzryv) entwickelte, bezieht sich nicht auf das ästhetische Explosions-Verständnis des Symbolismus, orientiert sich aber ebenso explizit an der Thermodynamik. Vgl. dazu das Nachwort der Herausgeber der deutschen Übersetzung: Susi K. Frank/Cornelia Ruhe/Alexander Schmitz: „Explosion und Ereignis. Kontexte des Lotmanschen Geschichtskonzepts“, in: Jurij Lotman: Kultur und Explosion. Aus dem Russ. von Dorothea Trottenberg. Frankfurt am Main 2010, S. 227-259. 64 Vgl. den Schluss von Nietzsches Nachlasswerkes „Der Wille zur Macht“, wo vom „Spiel von Kräften und Kraftwellen“ als dionysisches „Ewig-sich-selberSchaffen“ und „Ewig-sich-selber-Zerstörens“ die Rede ist.

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in jedem Wort“.65 Zamjatins dystopischer Roman Wir (1920, My) illustrierte zuvor die Ambivalenz des revolutionär-explosiven Wortes. Den Text über die „Magizität des Wortes“ beendete Florenskij in dem Jahr,66 als die Bolschewiki mit Vladimir Lenins wirkmächtiger Formel vom „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“ – ihre Hauptstoßrichtung festlegten. Im darauffolgenden Jahr arbeitete Florenskij in der von Lev Trockij geleiteten Hauptverwaltung der Elektroindustrie beim Obersten Volkswirtschaftsrat der RSFSR und der Staatlichen Kommission für die Elektrifizierung Russlands.67 Fortan ist er, bis zu seiner endgültigen Verurteilung, als Experte für elektrische Felder, Isolatoren, Transformatoren, elektrotechnische Standards im Dienst der neuen Macht, die Lenins Elektrifizierungsprogramm folgte. Dieses sollte letztlich an die Stelle jener kulturellen Modelle einer Anthropo(sozio)genese treten, die den Aufbruch zu einer neuen energetisch-synergetischen Menschheit verhießen. Die von Lenin kritisierte idealistische Energetik musste einem materialistisch gedachten Energiekonzept weichen.68 Waren die vorrevolutionären Visionen insbesondere auf ein russisches Gottmenschentum gerichtet,69 auf die gebündelten intellektuellen Energien des sozialistischen Kollektivs70 oder auf eine globale kooperierende Menschheit,71 setzte sich

65 Jewgeni Samjatin 1923: „Über Literatur, Revolution, Entropie und anderes“, in: Fritz Mierau (Hg.): Russen in Berlin. Literatur, Malerei, Theater, Film. 1918-1923, Leipzig 1987, S. 373-381, hier: S. 380. 66 Auf dem Maschinenmanuskript vermerkte Florenskij „1920.X.12-15. Moskau. Klinik für Geisteskranke“. In dieser Klinik arbeitete dessen Schwester. Es ist nicht auszuschließen, dass Florenskij dort Beobachtungen machte, die er für seine Überlegungen verwendete. 67 Florenskij nahm an dem 8. Kongress für Elektrotechnik teil, auf dem der sogenannte GOELRO-Plan zur Elektrifizierung Russlands erörtert wurde. 68 Die prominenteste Kritik an Ostwalds Energetik aus Russland stammt von Lenin. Seine Polemik gegen Ostwald und dessen Auffassung von der Dominanz der Energie über die Materie, die mit weltanschaulichen Konsequenzen verbunden war, legte Lenin bereits in Materialismus und Empiriokritizismus (1908) dar – einer Schrift, die Ostwald selbst wahrscheinlich unbekannt blieb. Vgl. Nikolai Rodynj/Jurij Solowjew: Wilhelm Ostwald. Aus dem Russ. von Harald Sommer, Leipzig 1977, S. 245-249. 69 Mit der synergetisch-theurgischen Schöpfung der symbolistischen Kunst ende, so Berdjaev, herkömmliches Menschenwerk, denn es sei „Gott-wirken, gottmenschliches Schöpfertum“, Berdiajew: Der Sinn des Schaffens, S. 263. 70 Allen voran hat Gor’kij in seiner Publizistik den Kollektivgeist im Sozialismus heraufbeschworen, welcher der energetischen Zerstreuung des individuellen Kapitalismus entgegengesetzt sei, vgl. dazu Maksim Gor’kij: „Razrušenie liþnosti (Die Zerstörung der Persönlichkeit)“, in: Gor’kij, Maksim: Sobranie soþinenij v 16 tomach, Bd. 16, Moskva 1979, S. 219-270, und die Artikelserie

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Russland nun zum Ziel, in erster Linie durch seine Elektrifizierung in die Welt auszustrahlen. Strom war die Lebensader der neuen kommunistischen Gesellschaft, denn in dem kaum industrialisierten Land vollbrachte die Elektrotechnik Wunder.72 An die Stelle des magizistischen Wortes, durch das sich Florenskij zufolge das göttlich-menschliche Wirken offenbare, trat die Wortgewalt des neuen sowjetischen Menschen: das elektrifizierte Wort.73 Das von Florenskij als Speicher, Transformator, Kondensator und Überträger von Energie gedachte Wort verwandelte sich – unter Einsatz manipulativer Verstärkungs- und Resonanzeffekte der neuen Übertragungstechniken – zum hochwirksamen psychophysischen Agitations- und Propagandawerkzeug.74 Die sowjetische Namenspolitik nahm die Rede vom inkarnierten Logos, vom fleischgewordenen Wort, wörtlich. Die gesellschaftliche Utopie begann durch eine Praxis der Umbenennungen und Neuschöpfungen.75 Auf dem Weg zur Neuen Menschheit war dem revolutionären Newspeak bestimmt,

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von 1912 „Izdaleka“ (Aus der Ferne), in: ders.: Nesobrannye literaturnokritiþeskie stat’i, Moskva 1941, S. 408-468. Vgl. Bogdanovs Philosophie der lebendigen Erfahrung (1913; Filosofija živogo opyta) und die Allgemeinen Organisationslehre (Tektologie) in drei Bänden (1913-1922, Tektologija. Vseobšþaja organizacionnaja nauka), in der er mit der Tektologie eine Wissenschaft der Zukunft entwickelte und darin das weltumfassende Organisationsprinzip zum zentralen Steuermechanismus zusammenwirkender physischer und geistiger Kräfte erhob. Der Elektrizität wurde bereits in der „elektrischen Theologie“ des 18. Jahrhundert die Rolle des Erlösers zuteil, was u.a. zur Herausbildung der elektrischen Medizin führte. Vgl. dazu auch das Konstanzer Forschungsprojekt „Das elektrifizierte Wort. Sprache, Technik und Gemeinschaft in der sowjetischen und russischen Moderne des 20. Jahrhunderts“ unter Leitung von Jurij Murašov. Lenins Modell des Agitprop (Agitation und Propaganda) zeichnet sich zunächst durch ununterbrochene und suggestive Erziehungsprogramme aus. Vgl. Sylvia Sasse: „‚Anna Karenina goes to Paradise‘ neben anderen Illusionen von der ‚Elektrifizierung des ganzen Landes‘“, in: Welt der Slawen. XLIV (1999), S. 285-306. Vgl. Franziska Thun-Hohenstein: „Dem neuen Namen Ebenbild sein“. Andrej Platonovs Poetik des Namens und der frühsowjetische Namenskult, in: dies, Petzer, Sasse, Zanetti, Namen, S. 143-164. In den 1920er Jahren dachte eine Gruppe Moskauer Federov-Anhänger dessen Auferweckungs-Lehre mit der Auffassungen der Namensverehrer zusammen und deuteten das imjaslavie zum imjadejstvie (russ. dejstvie: Handlung, Wirkung) um, womit Wort und Tat in Eins gesetzt wurden. Es ging ihnen vordergründig darum, den Tod durch das Wort zu besiegen. Vgl. dazu Michael Hagemeister: „Imjaslavie – imjadejstvie. Namensmystik und Namensmagie in Rußland (1900-1930)“, in: Petzer, Sasse, ThunHohenstein, Zanetti: Namen, S. 92-96.

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neue Realitäten zu schaffen.76 Die Engführung von Technik und Glaube in der nachrevolutionären Ordnung begünstigte sprachmagisch-manipulative Praktiken. Diese erreichten in den 1930er Jahren ihren Höhepunkt: aus Anrufung, Benennung, Verwünschung wurden nunmehr Verherrlichung, Umbenennung, Urteil. Florenskij selbst fiel der zerstörerischen Eigendynamik der ideologisch motivierten Worttaten zum Opfer.77 Endgültige Sicherheitsmaßnahmen gegen ideologiefremde wirksame Worte wurden mit der Literaturdoktrin des ersten sowjetischen Schriftstellerkongresses von 1934 getroffen, deren erklärtes Ziel eine kontrollierbare Wirkungsästhetik war und diese etwa durch die emotionale Aufladung der Beschreibungen von Elektrifizierungsfortschritten forcierte. Auf die Revolution („Energie“) folgte, mit Zamjatin gesprochen, eine Zeit des Dogmas („Entropie“).78

L ITERATUR Agursky, Mikhail: „An Occult Source of Socialist Realism: Gorky and Theories of Thought Transference“, in: Glatzer Rosenthal, Bernice (Hg.): The Occult in Russian and Soviet Culture, Ithaca 1997, S. 247-272. Auerbach, Felix: Ektropismus oder die physikalische Theorie des Lebens, Leipzig 1910. Bechterew, Wladimir v.: Suggestion und ihre soziale Bedeutung. Rede gehalten auf der Jahresversammlung der Kaiserl. Medizin Akademie am 18.12.1897, Leipzig 1899. Belyj, Andrej: „Magija Slov (1909)“, in: ders.: Simvolizm kak miroponimanie, Moskau 1994, S. 131-144. Belyj, Andrej: „Revolucija i kul’tura (1917)“, in: ders.: Simvolizm kak miroponimanie, Moskau 1994, S. 296-308. Belyj, Andrej: Glossolalie. Glossolalia. Glossolalija. Poem über den Laut. A Poem About Sound. Poem o zvuke (1922). Hg. von Taja Gut, aus dem Russ. von Maka Kandelaki, transl. from the Russian by Thomas R. Beyer, Dornach 2003.

76 Peter Weiss: „Was ist neu am ‚Newspeak‘“, in: Slawistische Beiträge, Bd. 200, München 1986, S. 247-325. 77 Florenskij wurde 1933 wegen mutmaßlicher „Konterrevolutionärer Agitation, Propaganda und organisierter konterrevolutionärer Tätigkeit“ zu zehn Jahren Zwangsarbeit in Ostsibirien verurteilt und einige Monate später in das Lager auf den Solovki-Inseln überführt. 1937 wurde er zum Tode durch Erschießen verurteilt. Zwanzig Jahre später wurde er rehabilitiert und nach dem Zerfall der Sowjetunion in den Kanon der Neumärtyrer und Bekenner der orthodoxen Kirche aufgenommen. 78 Samjatin: „Über Literatur, Revolution, Entropie“, S. 374f.

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Belyj, Andrej: Glossolalie. Glossolalia. Glossolalija. Poem über den Laut. A Poem About Sound. Poem o zvuke (1922). hg. von Taja Gut, aus dem Russ. von Maka Kandelaki, transl. from the Russian by Thomas R. Beyer, Dornach 2003, S. 161, Skizze aus den Entwürfen von Andrej Belyj zu Glossolalie, Blatt Nr. 12, S. 262, und Übersetzung in schematischer Umzeichnung, S. 262. Abb. 2: Belyj, Andrej: Glossolalie. Glossolalia. Glossolalija. Poem über den Laut. A Poem About Sound. Poem o zvuke (1922). hg. von Taja Gut, aus dem Russ. von Maka Kandelaki, transl. from the Russian by Thomas R. Beyer, Dornach 2003, S. 52. „Die Geste ‚R-r-r-r-!‘“.

Energieregulierung Willenskultur und Willenstraining um 1900 M ICHAEL C OWAN

Das Thema des „freien Willens“ beherrscht die abendländische Philosophie seit Jahrhunderten. Es reicht von der mittelalterlichen Frage nach der Vereinbarkeit von Prädestination und Sünde bis zu den Debatten über den relativen Einfluss von Vererbung und Umgebung in den modernen Sozialwissenschaften. Am Ende des 19. Jahrhunderts wird der „Wille“ jedoch zum Objekt eines neuen – hygienischen – Diskurses, der die Techniken der Subjektivierung und der industriellen Modernisierung begleitet und mitbestimmt. In diesem Kontext wird der „Wille“ vor allem als Instanz zur Regulierung von Energien verstanden. In der Nachfolge von Publikationen wie Theodule Ribots Les Maladies de la volonté (1884) identifizierten Wissenschaftler und Kulturkritiker die Willenskrankheit – einen Zustand, der zahlreiche nervöse Leiden umfassen konnte – als die charakteristische Pathologie der bürgerlichen Moderne. So konnte Friedrich Nietzsche in seinem 1885 erschienenen Text Jenseits von Gut und Böse konstatieren: „Nichts ist so sehr zeitgemäß als die Willensschwäche“.1 Nietzsches Entwürfe für eine neue Philosophie des Willens, der die epochenspezifische „Willensschwäche“ bekämpfen sollte, sind allgemein bekannt; darüber hinaus findet man um 1900 eine regelrechte Industrie von medizinischer und wissenschaftlicher Literatur, die sich mit der Diagnostizierung der Willenspathologie und der Artikulation ihrer Heilung beschäftige. Es wurden Instrumente und Systeme für die Messung und Normierung der Willenskraft erfunden.2 Zahlreiche, heute vergessene Titel wie Franz Kurt Reinhold 1

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Friedrich Nietzsche: „Jenseits von Gut und Böse“, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Band V, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. Auflage, München 1988, S. 146. Vgl. Narziß Ach: Über den Willensakt und das Temperament. Eine experimentelle Untersuchung, Leipzig 1910; Johannes Lindworsky: Der Wille. Seine Erscheinung und seine Beherrschung nach den Ergebnissen der experimentellen Forschung, 2. Auflage, Leipzig 1921, S. 130-134.

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Eschles Die krankhafte Willensschwäche und die Aufgaben der erzieherischen Therapie (1904) und Karl Birnbaums Die krankhafte Willensschwäche und ihre Erscheinungsformen. Eine psychopathologische Studie für Ärzte, Pädagogen und gebildete Laien (1911) geben einen Indiz für die damals weitverbreiteten Unternehmen, die Merkmale des „krankhaften“ Willens – besonders bei Kindern – zu erkennen. Die Frage, wie man den Willen trainieren sollte, beschäftigte nicht nur Neurologen und Philosophen, sondern auch Pädagogen, Anhänger der Körperkultur und Künstler. Für diejenigen, die die Willensschwäche als die spezifische „Epidemie“ der bürgerlichen Moderne betrachteten, galt es, einen neuen Lebensstil einzuführen, der die Kultivierung von Willenskraft wieder ins Zentrum stellen sollte: eine „Willenskultur“ für das neue Jahrhundert.3 Um zu verstehen, wie das „Wollen“ ins Zentrum eines solchen Diskurses über das moderne Leben geraten konnte, muss man die Verbindungen erkennen, die den aus der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts hervorgehenden Begriff des Willens mit neuen Ideen über Energie verknüpften. Im Kontext des industriellen Kapitalismus des späten 19. Jahrhunderts – mit seinen neuen Technologien und vor allem seinen neuen Formen von ökonomischer, informationeller und energetischer Zirkulation – erschienen sowohl der Körper als auch die Außenwelt immer mehr als Schauplätze für ungeheure Mengen an zirkulierenden Energien und Information.4 Bereits Schopenhauer hat versucht, den Willen innerhalb dieser neuen Ontologie von wimmelnden EnergieFormen zu verorten, indem er den Willen mit Energie tout court – als ein unhintergehbares „Streben“5 – identifizierte, das verschiedene sichtbare Formen annehmen konnte und dem es schließlich durch Akte ästhetischer Kontemplation zu entkommen galt. Aber die Anhänger der neuen Willenskultur um 1900 unterschieden sich von Schopenhauer nicht nur durch ihr Ziel, den Willen zu kultivieren anstatt ihn zu überwinden, sondern schon durch ihre Auffassung des Willens, den sie als ein Vermögen der Regulierung und Beherrschung von Energieflüssen im Körper und in der Welt verstanden. So schrieb der Autor eines 1906 unter dem Titel „Willensschwäche – Lebensglück“ erschienenen Artikels: „Der Wille ist ein Steuermann, der das von inniger Kraft getriebene Fahrzeug ins rechte Fahrwasser bringt und darin erhält.“6

3

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Vgl. J. Münster: Willenskultur. Die Religion der Modernen, Graz 1912; Martin Faßbender: Wollen, eine königliche Kunst. Alte und neue Anschauung über Ziele und Methoden der Willensbildung, Berlin 1911, S. 105; Hans Plecher: Das Problem der Willenserziehung im Lichte der Schulpraxis, Pädagogisches Magazin 512, Langensalza 1912, S. 11. Vgl. Christoph Asendorf: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Gießen 1989. Vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, I. Band, 2. Auflage, Leipzig 1844, S. 186. N.G.: „Willensschwäche – Lebensglück“, in: Körperkultur 1 (1906), S. 96.

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K RANKHEIT

UND

T HERAPIE

DES

W ILLENS

Bedenkt man diese Auffassung des Willens als Mechanismus für die Steuerung von Energieentladungen im Körper, so wundert es nicht, dass das Wollen zum Gegenstand so vieler Interventionsversuche in der Moderne wurde. Neben verschiedenen pädagogischen Abhandlungen, die für die Umgestaltung des Unterrichts von einer „Wissens-“ in eine „Willensschule“ plädierten7, tritt der Wunsch nach Willenskultivierung und -training am deutlichsten in einer bestimmten Gattung populärer Selbsthilfeliteratur um 1900 auf. In den populärwissenschaftlichen Zeitschriften der Zeit findet man z.B. zahlreiche Werbe-Inserate für Broschüren wie „Der Wille zur Tat“, die willensschwachen Lesern helfen sollten, die Willenskraft der größten Künstler, Politiker und Unternehmer zu erlangen: „Es gibt viele Menschen, die von Natur gut veranlagt sind, um sich umfangreiche Kenntnisse anzueignen und so eine glänzende Karriere zu machen, die es aber nicht über sich bringen können, sich hinzusetzen und tüchtig zu arbeiten. […] Diesen allen fehlt jener ausgeprägte Wille zur Tat, durch den die großen Staatsmänner, Feldherren, Handelsherren, Künstler usw. eben groß geworden sind.“8

Solche Programme der Willenstherapie reagierten offenbar auf ein starkes Bedürfnis nach Erfolg in einer vom Paradigma des ‚Unternehmens‫ ދ‬geprägten Öffentlichkeit – sowie auf den Glauben, dass die Stärkung der Willenskraft den Schlüssel zu diesem Erfolg bildete. In ihrer modernen Form als Selbsthilfe wurde die Willenstherapie zunächst nicht in Deutschland, sondern in Frankreich mit der Publikation von Jules Payots l’Éducation de la volonté (1893) und Paul Émile Lévys l’Éducation rationelle de la volonté (1893) gegründet. Aber Payots und Lévys therapeutische Methoden – die sie als „gymnastique mentale“ oder „gymnastique de la volonté“ bezeichneten – sollten auch nach 1900 in Deutschland ein starkes Echo finden. Texte wie Reinhold Gerlings Die Gymnastik des Willens (1905), A. H. Hansens Die Erziehung des eigenen Willens (1906), Norbert Grabowskys Lebensfrohsinn. Ein Handbüchlein für Lebensverdrossene. Zugleich ein Führer im Kampfe wider die sog. Nervosität (1907), Wilhelm Gebhardts Wie werde ich energisch? (1909), Johannes Marcinowskis Im Kampf um gesunde Nerven (1911), Wilhelm Bergmanns Selbstbefreiung aus nervösen Leiden (1911), Martin Faßbenders Wollen, eine königliche Kunst (1911) und Rudolf Winterrys Im Zeitalter des stärkeren Willens! (1914) – sowie zahlreiche Übersetzungen aus Frankreich, Eng-

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8

Einige Beispiele davon sind: Hans Keller: Prinzipien der Willenserziehung, Sebald 1913; Hans Plecher: Das Problem der Willenserziehung im Lichte der Schulpraxis, Langenszala 1912. „Wille zur Tat“ Inserat. Die Umschau 17 (1913), keine Seitenangabe.

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land und den USA9 – geben einen Eindruck von der damals lebhaften Nachfrage nach Anleitungen für die Selbstkultivierung der eigenen Willenskraft. Abbildung 1: Rudolf Winterry: Im Zeitalter des stärkeren Willens!

Quelle: Graz 1914, Umschlagsbild

Diese Selbsthilfeliteratur lässt sich als Teil einer älteren Tradition bürgerlicher Hygiene auffassen, die seit dem späten 18. Jahrhundert das normative Verhältnis des bürgerlichen Subjekts zum eigenen Körper definierte. Wie Philipp Sarasin in seiner Geschichte der Reizbarkeit gezeigt hat, wurden die Nervenkrankheiten seit dem 18. Jahrhundert fast immer als ein Ungleichgewicht im Nervensystem – als ein zu viel oder ein zu wenig an körperlicher Reizbarkeit – verstanden.10 Und noch bei Ribot waren alle Willenskrankheiten entweder auf einen défaut d’impulsion oder einen excès d’impulsion zurückzuführen, während William James die beiden Pole des „obstructed will“ und des „explosive will“ identifizierte.11 Die modernen Willenstherapeuten arbeiteten noch

9 Nicht zuletzt die Übersetzungen von Payot [1901] und Lévy [1903] selbst. 10 Vgl. Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen, Frankfurt am Main 2001, S. 11-32. 11 Vgl. Théodule Ribot: Les Maladies de la volonté, 5. Auflage, Paris 1883, S. 37; William James: Principles of Psychology II, Dover Publications 1950, S. 539. Bereits 1878 identifizierte Hermann Emminghaus zwei Richtungen der Willenskrankheit, die er „gesteigerte Willensenergie (Hyperbulie)“ und „Willensschwäche und Willenslosigkeit (Abulia)“ nannte. Hermann Emminghaus: Allgemeine Psychopathologie: Zur Einführung in das Studium der Geistesstörungen, Leipzig 1878, S. 237, S. 241. Auf ähnliche Weise schrieb KrafftEbing in seinem Lehrbuch der Psychiatrie (1883): „Das Wollen kann nun in zweifacher Weise sich krankhaft verändert zeigen. Es kann vermindert sein bis zur Willenslosigkeit, gesteigert bis zur Ungebundenheit“. Richard Freiherr von Krafft-Ebing: Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage für praktische Ärzte und Studierende, Stuttgart 1883, S. 77. Das gesund wollende Subjekt war

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innerhalb dieses Kontextes, wenn sie dem Willen die Aufgabe zuschrieben, eine „goldene Mitte“ der Energieentladungen im Nervensystem einzuhalten. Die Selbstkontrollfunktion bestand in der Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts der Nervenkraft und ihrer Entladungen. Andererseits unterschieden sich die um 1900 entstehenden Praktiken der Willenshygiene von der Nervenhygiene des 18. Jahrhunderts in mehreren Hinsichten: zunächst dadurch, dass sie auf eine ganz spezifische Unsicherheit zu reagieren versuchten. Infolge der durch die Gründerzeit ausgelösten ökonomischen Entwicklungen – der Liberalisierung des Marktes und Beseitigung von Handelsbarrieren – erschien das öffentliche und berufliche Leben immer mehr als ein Netz von fast unüberschaubaren Bewegungen und im darwinistischen Kontext des späten 19. Jahrhunderts als Schauplatz eines gnadenlosen Kampfes. Der Autor des Selbsthilfe-Handbuchs Im Zeitalter des stärkeren Willens beschrieb diese neue Auffassung der Moderne prägnant, als er behauptete: „Wir gehen Tagen entgegen, welche neue, ganz ungeahnte Gefahren mit sich bringen werden. Wehe Demjenigen, welcher sich gegen dieselben nicht in entsprechender Weise zu wappnen vermag. Er ist nichts anders als ein Spielzeug in den Händen der Anderen.“12 Immer wieder begegnet uns dieses Bild vom öffentlichen Leben als Raum voller Unsicherheit und Gefahren, wenn die Anhänger der Willenstherapie sich auf den sozialdarwinistischen Begriff des „Kampfes ums Dasein“ berufen. Und immer wieder versprechen diese Texte, ihre Leser durch die Einprägung eines neuen Selbstbewusstseins für die Teilnahme an diesem „Kampf“ auszurüsten. So behauptete Wilhelm Gebhardt in der Einleitung seines Handbuchs Wie werde ich energisch? „Jeder, der alle meine Anordnungen bis zu Ende durchführt und sämtliche Willensübungen absolviert, wird durch diese Selbstbehandlung moralisch und körperlich wiedergeboren werden. Neues Selbstvertrauen, das Gefühl der eigenen Kraft, das Bewußtsein der erarbeiteten Sicherheit, der Untergrund gestählter Energie wird ihn den Kampf ums Dasein mit ganz neuen Chancen aufnehmen lassen und ihm die Erfolge verschaffen, die bisher fern blieben.“ 13

nach diesem Modell dasjenige, der sein Nervensystem zwischen der Skylla der gelähmten Energie und der Charybdis der explosiven Energie lenken konnte. 12 Rudolf Winterry: Im Zeitalter des stärkeren Willens! Nebst einem Anhang über Hypnose u. Suggestion, Graz 1914, S. 9. 13 Wilhelm Walther Gebhardt: Wie werde ich energisch? Vollständige Beseitigung körperlicher und seelischer Hemmnisse wie Energielosigkeit, Zerstreutheit, Niedergeschlagenheit, Schwermut, Hoffnungslosigkeit, nervöse Angst- und Furchtzustände..., allgemeine Nervenschwäche, sexuelle Verirrungen usw., Erlangung von Selbstbewußtsein, Schaffensfreude und Erfolg in allen Unternehmungen durch eigene Willenskraft!, 9. Auflage, Leipzig 1912, S. 4-5.

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In den meisten Fällen verwies der in den Texten verwendete Begriff „Kampf ums Dasein“ auf das neue Terrain des ökonomischen und beruflichen Risikos, dessen Gefahren Jahrzehnte nach dem Börsenkrach von 1871 noch spürbar waren. Aber die Tatsache, dass die Anhänger der Willenstherapie eher abstrakt (statt in explizit ökonomischen Begriffen) von einem alles umfassenden „Kampf“ sprachen, unterstreicht, dass sie die neueren ökonomischen Entwicklungen als Teil einer weit umfassenderen Verwandlung verstanden. Die Nervosität des modernen Lebens erschien als Ergebnis des Verlustes von ökonomischen, kulturellen, sozialen und metaphysischen Formen der Sicherheit, der das Subjekt ganz wehrlos in einer unsicheren Welt von zirkulierenden Waren, Objekten, Menschen und Energien ausgesetzt war. Durch die Überwindung der Nervosität und die Einprägung eines neuen Selbstbewusstseins sollte das Willenstraining das moderne Subjekt für den Kampf in diesem unsicheren Raum rüsten. Es gibt hier eine grundlegende Ambiguität. Einerseits betrachteten die Anhänger der Willenstherapie den Verlust an Orientierungsformen und das Heraufkommen des „Kampfes“ als die wichtigste Ursache der epidemischen Ausbreitung von „Willensschwäche“.14 Andererseits aber bedeutete diese Ableitung der Willenspathologie aus dem „Kampf ums Dasein“ eben nicht, dass die Anhänger der Willenstherapie die Heilung der Willenskraft in der Vermeidung vom „Kampf“ sahen. Das Ziel ihrer Therapie bestand im Gegenteil gerade darin, dass der Patient erfolgreich an diesem Kampf teilnehmen konnte, wie das Motivationsgedicht aus Gerlings Gymnastik des Willens stellvertretend zeigt:

14 Beispielsweise beteuerte A. H. Hansen in seinem Handbuch Erziehung des eigenen Willens (1906): „Nicht unsere Verfehlungen machen uns nervös, sondern der Kampf ums Dasein mit seinen seelischen Erschütterungen und Gemütsbewegungen, mit seiner nagenden Sorge, tiefen Verbitterung, quälenden Angst, mit seinem heißen Ringen um Existenz, um bürgerliche und berufliche Stellung.“ A. H. Hansen: Die Erziehung des eigenen Willens (Eigene Macht). Ein untrüglicher Ratgeber zur unbedingten Stählung des eigenen Willens, zur Erlangung und Erhöhung der Arbeitsfreudigkeit und Tatkraft, zur Kräftigung des Gedächtnisses, Hebung der Nervosität etc. etc., eine durchschlagende Methode für Jeden, der nach Glück, Erfolg, Zufriedenheit, und wie die irdischen Güter alle heissen, strebt, Leipzig 1906, S. 13. Ganz wie die Propheten der Neurasthenie führten die Anhänger der Willenstherapie die moderne Willenskrankheit auf eine zunehmende und quälende „Sorge“ zurück, die durch die neue Auffassung des Soziallebens als einen gnadenlosen „Kampf ums Dasein“ bedingt war. Vgl. Wilhelm Erb: Über die wachsende Nervosität dieser Zeit, Heidelberg 1894; Willy Hellpach: Nervosität und Kultur, Berlin 1902.

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Hat die Welt dir wehgetan, So greif sie frisch von neuem an, Bis du, trotz Sturz und Wunden, Im Kampf sie überwunden!15

In seiner Geschichte der modernen Nervosität bemerkt Joachim Radkau, dass es während der Jahre um 1900 einen Übergang vom Paradigma der „rest cure“ (der Regenerierung der Nerven durch Ausruhen16) zum Paradigma der aktiven Wiederbelebung des Willens gab.17 Die Texte von Lévy, Gerling, Hansen, Birnbaum und Gebhardt bestritten den therapeutischen Wert des Ausruhens und meinten in der pathologischen Ruhesucht vielmehr die eigentliche Ursache der Neurasthenie zu erkennen. So betrachtete Wilhelm Gebhardt die Liebe zur Ruhe bei Neurasthenikern nicht nur als ein Symptom des schwachen Willens, sondern auch als eine gefährliche Wirkungsmacht, die das Problem nur noch verschlimmern konnte: „[D]as unaufhörliche Ruhebedürfnis ist geradezu charakteristisch für die Nervenschwäche. Und wie wirkt dieser Stimmungsuntergrund auf Geist und Willen zurück!“18 Wenn diese Theoretiker den „rest cure“ so vehement ablehnten, dann vor allem deshalb, weil die Definition von der Gesundheit selbst in einer Verwandlung begriffen war: Gesundheit bedeutete nunmehr die Fähigkeit, an dem ruhelosen Fluss der Energien, den das moderne Leben ausgelöst hatte, teilzunehmen, statt sich davon zurückzuziehen.19 Laut Gebhardts Schrift Wie werde ich energisch? war die Ruhe für ein lebendiges – d. h. energetisches – Wesen sowieso unmöglich: „Absolute Ruhe gibt es ja nur im Tode; so lange wir leben, sind wir thätig, und es kommt nur darauf an, wie.“20

15 Reinhold Gerling: Die Gymnastik des Willens, 5. Auflage, Oranienburg bei Berlin 1920, S. 36. 16 Die Therapie durch „rest cure“ ging vor allem auf den amerikanischen Physiologen Silas Weir Mitchell zurück, sie umfasste eine circa sechswöchige Isolation und Fütterung des Patienten bei verordneter Tatenlosigkeit. 17 Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 2000, S. 399-400. 18 Gebhardt: Wie werde ich energisch?, S. 46. 19 Wie Gerling in seiner Gymnastik des Willens erklärte: „Bewegung ist Leben, Ruhe ist Tod. Das Leben ist wie ein rieselnder Bach, der über Stock und Stein fließt; wird es ein stillstehendes Wasser, so versumpft es. Darum sollen wir die Ruhe als ein notwendiges Übel betrachten, lediglich dazu bestimmt, uns neue Gedanken und Kräfte zur Arbeit zuzuführen“, Gerling: Die Gymnastik des Willens, S. 61. 20 Gebhardt: Wie werde ich energisch?, S. 75.

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D EN W ILLEN

BEHERRSCHEN

Ebenso wie die neuen Tänzer um 1900 – Isadora Duncan, Loïe Fuller oder Rudolf von Laban - sollte das willensstarke Individuum sich also innerhalb der Welt der fließenden Energien bewegen, statt dieser Welt durch „Ruhe“ oder Schopenhauerscher Kontemplation zu entfliehen. Darüber hinaus versprach das Willenstraining seinen Anhängern die Kanalisierung und Beherrschung der inneren Energieflüsse. Das dazu am häufigsten zitierte Mittel war das der Hypnose. Tatsächlich ging die moderne Willenstherapie direkt aus der am Ende des 19. Jahrhunderts wiederbelebten Hypnoseforschung hervor.21 Bekanntlich war die Hypnose seit Mesmer als Mittel zur Kanalisierung von Energie betrachtet worden. Aber wo der Mesmerismus auf die Regulierung von „magnetischem Fluid“ abzielte, war die neue Hypnoseforschung eher auf die Regulierung von Nervenenergie und – in einer von Massenmedien gekennzeichneten Epoche – von „Information“ fokussiert. Eine zentrale Rolle sowohl bei Payot als auch bei Lévy spielte die Theorie der „psychomotorischen“ Wirksamkeit von Ideen, nach der unsere Vorstellungen quasi automatisch entsprechende Bewegungen im Körper hervorrufen. Payot beschrieb das Phänomen in seiner L’Éducation de la volonté wie folgt: „Jede Vorstellung einer zu vollziehenden, oder nicht zu vollziehenden Handlung hat […] eine Macht der Verwirklichung, die sich durch die Tatsache erklärt, daß zwischen Vorstellung und Handlung kein wesentlicher Unterschied besteht. Eine geplante Handlung ist bereits eine beginnende Handlung.“22

21 Payot und Lévy wurden in den Zentren der französischen Hypnoseforschung ausgebildet: Payot unter Théodule Ribot (der eng mit Charcot verbunden war) und Lévy in der Schule um Hypolite Bernheim und Ambroise-Auguste Liébault in Nancy. 22 Jules Payot: Die Erziehung des Willens, 3. Auflage, übersetzt von Titus Voelkel, Leipzig 1910, S.151. Schon Ribot hatte die zentrale Rolle dieses Phänomens betont: „Le principe fondamentale qui domine la psychologie de la volonté sous sa forme impulsive à l’état sain comme à l’état morbide, c’est que tout état de conscience a toujours une tendance à s’exprimer, à se traduire par un mouvement, par un acte.“ Ribot: Les maladies de la volonté, 4. Vgl. Paul-Émile Lévy: Die natürliche Willensbildung. Eine praktische Anleitung zur geistigen Heilkunde und zur Selbsterziehung, Leipzig 1903, S. 103: „Die suggestive Therapeutik nimmt nun folgende ursprünglich gegebene Tatsache als Basis: Jede Vorstellung enthält ihre Ausführung schon im Keime in sich; jede noch so schwache Vorstellung ist schon der Anfang einer Handlung.“ Beinahe alle Anhänger der Willenstherapie um 1900 waren sich einig über die Wichtigkeit der psychomotorischen Induktion.

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Ebenso erklärte Reinhold Gerling in der Einleitung seiner Gymnastik des Willens: „Jede eingegebene und angenommene Idee hat das Bestreben, sich in Handlung umzusetzen“.23 Ausgehend von dieser Grundhypothese der psychomotorischen Kraft der Ideen versuchten die willenstherapeutischen Selbsthilfebücher die Welt vor allem durch Autosuggestion zu regulieren: Durch die extreme Fokussierung der Aufmerksamkeit sollte genau geprüft und kontrolliert werden, welche Ideen in den Blickpunkt der Apperzeption kommen dürfen und welche draußen bleiben müssen (und dementsprechend welche Handlungsenergien im Körper ausgelöst und welche unterdrückt werden). Eine typische Übung dieser Art findet man in Hansens Erziehung des eigenen Willens, wenn der Autor seine Leser auffordert, „in großen festen Schriftzügen“ allabendlich folgende suggestive Sätze aufzuschreiben: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Ich bin nicht schüchtern. Ich werde nicht nervös, wenn ich mit jemandem spreche. Meine Willenskraft ist stark. Ich beherrsche mich vollständig, ich bin Herr meiner selbst. Meinem Willen kann niemand widerstehen. Ich bin entschlossen. Ich muß erfolgreich sein; es kann mich nichts abhalten, erfolgreich zu sein. Ich beherrsche die Menschen; sie können mir nicht widerstehen.24

Bei Hansen steigert sich die Idee der Selbstkontrolle („Herr meiner selbst“) fast mühelos in eine Fantasie von der Kontrolle über die objektiven Bedingungen der neuen sozio-ökonomischen Sphäre und seines „Kampfes ums Dasein“. Hansen gab seinen Lesern auch Anleitungen für die Konstruktion eines sogenannten „Willensstärkers“, der durch ein abstraktes Muster die Aufmerksamkeit des Betrachters auf suggestive Ideen wie Erfolg, Gesundheit, Glück, Energie, Tatkraft, Arbeitsfreudigkeit, etc. konzentrieren sollte. Abbildung 2: Willensstärker

Quelle: A. H. Hansen: Die Erziehung des eigenen Willens, Leipzig 1906, S. 22.

23 Gerling: Gymnastik des Willens, S. 5. 24 Hansen: Erziehung des Willens, S. 22.

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Die Rolle der Hypnose in der Kultur um 1900 wird heute meist unter Aspekten der Wiederbelebung okkulter Glaubenspraktiken diskutiert, in deren Kontext sie als ein anti-rationales Phänomen der Moderne erscheint, das bspw. die „dämonische“ Ästhetik des expressionistischen Kinos beeinflusst hat.25 Aber wie die oben angebrachten Beispiele zeigen, war die Hypnose auch ein wichtiger Bestandteil der neuen Technologien alltäglicher Selbstkultivierung, ein Werkzeug für die willentliche Regulierung von Ideen und entsprechenden Energietransfers im internen Theater des bürgerlichen Individuums. Als Technik der Selbstkontrolle blieb die Suggestion noch das ganze 20. Jahrhundert hindurch eine Grundkomponente der Selbsthilfeliteratur,26 aber in der Zeit kurz nach 1900 wirkte sie auch in zahlreichen anderen Bereichen der „Lebensreform“ fort, vor allem in der Körperkultur und einer durch sie propagierten hygienischen Ästhetik. Die zentralen Publikationsorgane der Körperkultur-Bewegung – Zeitschriften wie Kraft und Schönheit, Der Kulturmensch oder Körperkultur –, beziehen sich in auffallender Häufigkeit auf die Lehre von der psychomotorischen Kraft, um ihr Programm der physischen Selbstkultivierung zu erklären. Dabei verstanden die Aktivisten der Körperkultur das physische Training einerseits als Aktivität, die das Bewusstsein des Praktizierenden (seine „Ideen“) suggestiv umgestalten konnte.27 So etwa in der unter dem Namen „Willensgymnastik“ bekannten Übung, bei der es darum ging, durch die konzentrierte Simulation von schwierigen Aufgaben – wie Rudern oder der Selbstbefreiung aus Fesseln – dem Bewusstsein der Übenden eine Reihe positiver Ideen von Kraft und Mut einzuflößen. Andererseits gab es mentale Übungen, die den Körper verändern sollten; die Autoren verstanden ihre Verordnungen im Bereich der Körperübung durchaus als Teil eines umfassenderen Projekts der Selbstkultivierung, das sich grundsätzlich auf die Lehre von der psychomotorischen Kraft der Ideen berief, um die geistige Kontrolle über den Körper zu stärken. So erklärte der Autor eines 1905 in Der Kulturmensch erschienenen Artikels: „Wir haben […] in der Machtfülle des Geistes eine Handhabe, durch festen Entschluß oder, wie man es auch nennen kann, durch Autosuggestion das Sinnesleben unseres Körpers zu lenken und leiten.“28

25 Vgl. Stefan Andriopoulos: Besessene Körper: Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos, München 2000. 26 Siehe Anthony Robbins: Unlimited Power: The New Science of Personal Achievement, London 1988, S. 25. 27 Wie der Autor eines mit der Überschrift „Körperübung und Mut“ (1906) versehenen Artikels behauptete: „Das Gefühl der Schwäche erzeugt Furcht, und Furcht wiederum Schwäche. Das Bewußtsein, stark zu sein, macht uns leistungsfähiger und gibt die Initiative zur kühnen Tat.“ Albert Jansen: „Körperübung und Mut“, in: Der Kulturmensch 2 (1906), S. 267. 28 Theo Seelmann: „Körper und Geist“, in: Der Kulturmensch I (1904-5), S. 191.

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Auf der Basis dieser Lehre forderten die Enthusiasten der Körperkultur ihre Anhänger nicht nur zu gymnastischen Übungen auf, sondern zu einem allesumfassenden hygienischen Programm, das die Disziplinierung von Körper und Geist vorschrieb.29

Abbildung 3: Willensgymnastik

Quelle: Kraft und Schönheit. Zeitschrift für vernünftige Leibeszucht, 1912.

29 „Gedanken sind Kräfte, die sich im Körper realisieren. Vorstellungen von Krankheit sind die ersten Symptome ihres wirklichen Auftretens. Um gesund zu sein, muß man an Gesundheit glauben.“ Hugo Freund: „Vom weißen Leib und der schwarzen Seele“, in: Kraft und Schönheit 10 (1910), S. 273. Es war wohl dieser durch die moderne Experimentalmedizin unterstützte Glaube an die psychomotorische Kraft der Ideen, der die Anhänger der Körperkultur dazu motivierte, die berühmte Aussage aus Schillers Wallensteins Tod: „Es ist der Geist, der sich den Körper baut“, für sich in Anspruch zu nehmen und ihn auf der Umschlagseite jeder Ausgabe von Der Kulturmensch abzudrucken.

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D IE S CHÖNHEIT

DER

K RAFT

Dieses hygienische Paradigma spielte auch eine entscheidende Rolle in dem eigenartigen Kult der „Schönheit,“ zu dem sich die Anhänger der Körperkultur bekannten. Ab 1910 machten sich Zeitschriften wie Körperkultur und vor allem Die Schönheit an die Aufgabe, die vom Jugendstil tradierten Schönheitsideale (zierliche Bewegungen, blasser Teint und fragile Staturen) umzustoßen. An deren Stelle sollte sich – getreu dem Motto „Kraft und Schönheit“30 – die Verknüpfung der Schönheit mit Energie, Gesundheit, Stärke und Vitalität durchsetzen. Zweifelsohne hing dieses neue Ideal sehr stark mit eugenischen und sozialdarwinistischen Ideen zusammen, nach denen das körperliche Aussehen ein indexikalisches Zeichen für den inneren Gesundheitszustand war. Aber die Schönheit wurde gleichzeitig auch als psychogene und suggestive Kraft aufgefasst, die eine dynamische Wirkung auf den Betrachter ausüben konnte. So erklärte der Autor eines unter dem Titel „Ästhetik und Hygiene“ in der Zeitschrift Körperkultur veröffentlichten Artikels, die Ästhetik sei deshalb eine hygienische Angelegenheit, weil der Anblick schöner Körper den eigenen Wunsch nach Schönheit (und daher nach Kraft) anregt: „Ist […] dem Menschen einmal der Begriff von menschlicher Schönheit klar geworden, dann muß er den Drang nach ihr am eigenen Leibe empfinden.“31 Diese durchaus interessierte Ästhetik der Schönheit ist weit entfernt vom neokantischen Quietismus der Schopenhauerschen Kontemplationsästhetik, und es verwundert nicht, dass die Autoren Schopenhauer vorwarfen, er fordere „eine gewisse Selbstentäußerung des Menschen […], die Entmannung eines guten Teiles seiner genußfreudigen Kräfte […], kurz die Ertötung der lebendigsten und ungestümsten Triebe des menschlichen Willens.“32 Die Kultivierung einer neuen „Schönheit“ in den Körperkulturkreisen um 1900 hing also ganz eng mit dem Bestreben nach einer neuen „Willenskultur“ zusammen, in der die Konzentration psychogener Ideen die optimale Regulierung der körperlichen Energien bewirken und das moderne Subjekt auf diese Weise für die Teilnahme an der neuen energetischen Öffentlichkeit ausrüsten sollten. Ein anschauliches Beispiel dieser Verflechtung von physischem Körpertraining, Willenstherapie und Ästhetik im frühen 20. Jahrhundert findet man in den Werken des Künstlers Sascha Schneider. Schneider, der ab 1904 als 30 Man findet dieses Motto in den Publikationen der Körperkultur überall wieder. Es gab den Titel der gleichnamigen Zeitschrift sowie zahlreicher anderer Publikationen wie z.B. Des Volkes Kraft und Schönheit (J. Schneider, 1903), Deutsches Ringen nach Kraft und Schönheit (Karl Möller, 1907) und des später erschienenen Films Wege zu Kraft und Schönheit (Wilhelm Prager, 1925). 31 C. Konschitzky: „Aesthetik und Hygiene“, in: Körperkultur 2 (1907), S. 70. 32 Alfred Lehmann: „Pygmalion und die Seinen“, in: Die Schönheit 1 (1903-1904), S. 466.

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Professor an der Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule in Weimar unterrichtete, war ein renommierter Maler und Buchillustrator, der vor allem durch seine Darstellungen des männlichen Körpers bekannt wurde.33 In einem Gespräch mit Emil Schultze-Malkowsky, das 1909 in der Zeitschrift Die Schönheit als Begleittext für eine Reihe seiner dort abgebildeten Gemälde diente, beteuerte der Künstler: „Kraft ist für mich Schönheit, und ich denke da so radikal, daß ich eine höchst entwickelte Muskulatur für absolut schön halte. Des Mannes Schönheit ist seine Kraft.“34 Zehn Jahre später konnte Schneider die Lehre von der Verflechtung der Kraft und der Schönheit praktisch im Unterricht umsetzen, als er das „Kraft-Kunst-Institut“ in Dresden gründete.35 Ziel des Instituts war es, durch eine Kombination von Körpertraining und Kunsterziehung nicht nur seine Schüler sportlich auszubilden, sondern auch eine neue Kultur der energetischen Schönheit zu verbreiten. Dazu setzte Schneider u.a. Suggestionspraktiken wie die Hypnose ein.36 Wie man seinem frühen Gemälde Hypnose entnehmen kann, interessierte sich Schneider seit langem für die Kraft der Suggestion. Das Bild eines massiv-muskulösen Hypnotiseurs gibt zu verstehen, dass die Konzentration der mentalen Energien durch Hypnose eine Kraft produziert, die der körperlichen Kraft in nichts nachsteht. Reinhold Gerling, dessen Gymnastik des Willens bis in die 1910er Jahre das beliebteste Handbuch der Willenstherapie in Deutschland blieb, verwendete Schneiders Bild vom Hypnotiseur als Illustration für spätere Ausgaben seiner Hypnotische[n] Unterrichtsbriefe, wo er erklärte: „Das Sascha Schneider’sche Bild [illustriert] in packender künstlerischer Gestaltung die Macht der Hypnose.“37 33 Schneider illustrierte u.a. zeitgenössische Ausgaben von Goethes Faust und von Werken Karl Mays. Von ihm stammen u.a. die Wandmalereien für das Foyer im Deutschen Nationaltheater Weimar. Zu Schneiders Biografie vgl. Annelotte Range: Zwischen Max Klinger und Karl May: Studien zum zeichnerischen und malerischen Werk von Sascha Schneider (1870-1927), Bamberg 1999. 34 Emil Schultze-Malkowsky: „Moderne Schönheit-Propheten XVIII: Sascha Schneider“, in: Die Schönheit. Mit Bildern geschmückte Zeitschrift für Kunst und Leben 6 (1909), S. 113. 35 Vgl. Hans-Gerd Röder: „Das Kraft-Kunst-Institut von Sascha Schneider“, in: Dresdner Hefte 57 (1999). Wie Röder berichtet, veröffentlichte Schneider zum ersten Mal seine Pläne für ein ästhetisches Körperkultur-Institut in einer 1910 erschienenen Publikation unter dem Titel Gedanken über die Gestaltung einer Modellschule mit Angliederung einer freien Akademie (ibid., S. 23). 36 „Besonderes Gewicht legen wir auf ein autosuggestives System, das in hohem Maß dem ‚Geist, der sich den Körper baut‫ ދ‬entspricht.“ Schneider zitiert nach Röder: „Das Kraft-Kunst-Institut“, S. 24-25. 37 Reinhold Gerling: Hypnotische Unterrichtsbriefe zur Einführung in die Praxis des Hypnotismus, nebst Anleitungen zur Abhaltung eines Experimental-Vortrages über Hypnose u. Suggestion, 10. Auflage, Oranienburg-Berlin 1920, S. 121. Das Bild war zunächst in der Zeitschrift Die Schönheit erschienen.

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Abbildung 4: Sascha Schneider: Hypnose

Quelle: Die Schönheit. Mit Bildern geschmückte Zeitschrift für Kunst und Leben, 1909.

Obwohl der sich zu seiner Homosexualität bekennende Schneider immer wieder Diffamierungen ausgesetzt war, wurde er von den Körperkultur-Enthusiasten wegen seiner Visualisierung einer neuen Ästhetik der machtvollen Schönheit gefeiert. So rühmte Emil Schultze-Malkowsky Sascha Schneider als „Propheten moderner Schönheit“ und bezeichnete Schneiders Darstellungen des männlichen Körpers als Quelle der Befreiung aus dem von Pessimismus und Nervosität gezeichneten fin de siècle. Schneiders Kunst, so SchultzeMalkowsky, biete ein Gegenmittel gegen „das Übermäßige geistiger Kultur,

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das uns die Nerven lahm macht“.38 Als Illustration dieser befreienden Wirkung verwies der Autor auf zwei der bekanntesten Gemälde Schneiders: Das Gefühl der Abhängigkeit zeigt einen Mann mit hängendem Kopf, der durch Ketten an ein dunkles, lauerndes Monstrum angebundenen ist. SchultzeMalkowsky erkannte darin eine Allegorie der „Stimmung“ unklarer und nervöser Gefühle, aus der die Körperkultur ihre Anhänger durch feste Willensübung befreien wollte.39 Im Bild mit dem Titel Der Aussergewöhnliche gestaltet Schneider dagegen einen muskulösen Mann in aufrechter Triumphhaltung, der den im Hintergrund lauernden dunklen Gestalten zu trotzen scheint. Laut Schultze-Malkovsky vermittelt das Bild „den Wunsch und Willen, sich von allem loszukämpfen, durch das der Herdengeist und sonstwie niedere Gesinnung dem Herrenmenschen jeden Weg erschwert“.40 Abbildung 5: Sascha Schneider: Das Gefühl der Abhängigkeit

Abbildung 6: Sascha Schneider: Der Aussergewöhnliche

Quelle: Die Schönheit, 1908.

Quelle: Die Schönheit, 1909.

In Bildern wie diesen sah Schultze-Malkowsky nicht nur eine Darstellung der Befreiung aus den Willenspathologien, sondern auch einen möglichen 38 Emil Schultze-Malkowsky: „Moderne Schönheit-Propheten XVIII“, S. 114. 39 Ebd. 40 Ebd.

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‚Kraftstoß‫ ދ‬für schwache Betrachter, die in die Abulie zurückzufallen drohten: „Gestählt an Geist und Muskelkraft zieht dieser [der Aussergewöhnliche] seinen Weg trotzdem. Ein Bild, das denen, die da schwanken, den Mut zu neuem Antrieb geben mag.“41 Im Kontext des psychosomatischen Reformprogramms der Körperkultur schrieb man Kunstwerken also auch eine performative Funktion zu: Während die körperliche Gymnastik ein Mittel zur suggestiven Erzeugung von Selbstbewusstsein bildete, sollten die Bilder schöner Körper ihrerseits die Betrachter dazu motivieren, die Performanz körperlicher Gymnastik selbst aufzunehmen. Oder – mit dem Gymnastiklehrer und -theoretiker Karl Möller ausgedrückt – physische und ästhetische Bildung bzw. das Training von Körper und Geist, sollten unzertrennbare Teile desselben Strebens nach einer neuen Willenskultur bilden: „Unsere Kultur [hat] hervorgehoben, daß es der Geist sei, der sich den Körper baue, daß die körperliche Erziehung nicht nur ein äußerliches Anhängsel der ästhetischen sei, geübt nur des Körpers wegen, sondern daß in dem geheimnisvollen Ineinandergreifen des physischen und psychischen Geschehens das eigenste Gebiet für eine glückliche Wiedergeburt des Menschen zu suchen ist.“42

Diese „Wiedergeburt“ war das Ziel all jener Praktiken um 1900, die sich als Programm der psycho-physischen ästhetischen Bildung43 zusammen fassen lassen. Der daraus hervorgehende ‚neue Mensch‫ ދ‬war Synonym eines neuen Zeitalters der zirkulierenden Energie.

L ITERATUR Ach, Narziß: Über den Willensakt und das Temperament. Eine experimentelle Untersuchung, Leipzig 1910. Andriopoulos, Stefan: Besessene Körper: Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos, München 2000. Anonym: „Körper-Kultur“, in: Der Kulturmensch. Zeitschrift für körperliche und geistige Selbstzucht 1(1904). Asendorf, Christoph: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Gießen 1989.

41 Ebd., S. 116. 42 Karl Möller: „Kunst und Leibesübung in erziehlichen Zusammenwirken“, in: Karl Möller, Minna Radczwill und Ferdinand August Schmidt (Hg.): Schönheit und Gymnastik: Drei Beiträge zur Ästhetik der Leibeserziehung, Leipzig, 1907, S. 55. 43 „Unser Ideal der Körperbildung […] soll eine psycho-physische ästhetische Kultur sein“, Anonym in: „Körper-Kultur“, in: Der Kulturmensch 1(1904), S. 5.

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Emminghaus, Hermann: Allgemeine Psychopathologie: Zur Einführung in das Studium der Geistesstörungen, Leipzig 1878. Erb, Wilhelm: Über die wachsende Nervosität dieser Zeit, Heidelberg 1894. Faßbender, Martin: Wollen, eine königliche Kunst. Alte und neue Anschauung über Ziele und Methoden der Willensbildung, Berlin 1911. Freund, Hugo: „Vom weißen Leib und der schwarzen Seele“, in: Kraft und Schönheit. Zeitschrift für vernünftige Leibeszucht 10 (1910). Gebhardt, Wilhelm Walther: Wie werde ich energisch? Vollständige Beseitigung körperlicher und seelischer Hemmnisse wie Energielosigkeit, Zerstreutheit, Niedergeschlagenheit, Schwermut, Hoffnungslosigkeit, nervöse Angst- und Furchtzustände..., allgemeine Nervenschwäche, sexuelle Verirrungen usw., Erlangung von Selbstbewußtsein, Schaffensfreude und Erfolg in allen Unternehmungen durch eigene Willenskraft! 9. Auflage, Leipzig 1912. Gerling, Reinhold: Die Gymnastik des Willens, 5. Auflage, Oranienburg bei Berlin 1920. Gerling, Reinhold: Hypnotische Unterrichtsbriefe zur Einführung in die Praxis des Hypnotismus, nebst Anleitungen zur Abhaltung eines Experimental-Vortrages über Hypnose u. Suggestion, 10. Auflage, Oranienburg-Berlin 1920. Hansen, A. H.: Die Erziehung des eigenen Willens (Eigene Macht). Ein untrüglicher Ratgeber zur unbedingten Stählung des eigenen Willens, zur Erlangung und Erhöhung der Arbeitsfreudigkeit und Tatkraft, zur Kräftigung des Gedächtnisses, Hebung der Nervosität etc. etc., eine durchschlagende Methode für Jeden, der nach Glück, Erfolg, Zufriedenheit, und wie die irdischen Güter alle heissen, strebt, Leipzig 1906. Hellpach, Willy: Nervosität und Kultur, Berlin 1902. Inserat: „Wille zur Tat“, in: Die Umschau 17 (1913), keine Seitenangabe. James, William: Principles of Psychology II, Dover Publications 1950. Jansen, Albert: „Körperübung und Mut“, in: Der Kulturmensch. Zeitschrift für körperliche und geistige Selbstzucht 2 (1906). Keller, Hans: Prinzipien der Willenserziehung, Sebald 1913. Konschitzky, C.: „Aesthetik und Hygiene“, in: Körperkultur. Monatsschrift für vernünftige Leibeszucht 2 (1907). Krafft-Ebig, Richard Freiherr von: Lehrbuch der Psychiatrie auf klinischer Grundlage für praktische Ärzte und Studierende, Stuttgart 1883. Lehmann, Alfred: „Pygmalion und die Seinen“, in: Die Schönheit. Mit Bildern geschmückte Zeitschrift für Kunst und Leben, 1 (1903-1904). Lévy, Paul-Émile: Die natürliche Willensbildung. Eine praktische Anleitung zur geistigen Heilkunde und zur Selbsterziehung, Leipzig 1903. Lindworsky, J: Der Wille. Seine Erscheinung und seine Beherrschung nach den Ergebnissen der experimentellen Forschung, 2. Auflage, Leipzig 1921. Möller, Karl: „Kunst und Leibesübung in erziehlichen Zusammenwirken“, in: Karl Möller, Minna Radczwill und Ferdinand August Schmidt (Hg.):

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Schönheit und Gymnastik: Drei Beiträge zur Ästhetik der Leibeserziehung, Leipzig 1907. Münster, J.: Willenskultur. Die Religion der Modernen, Graz 1912. N.G.: „Willensschwäche – Lebensglück“, in: Körperkultur. Monatsschrift für vernünftige Leibeszucht 1 (1906). Nietzsche, Friedrich: „Jenseits von Gut und Böse“, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Band V, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. Auflage, München 1988. Payot, Jules: Die Erziehung des Willens, 3. Auflage, übersetzt von Titus Voelkel, Leipzig 1910. Plecher, Hans: Das Problem der Willenserziehung im Lichte der Schulpraxis, Pädagogisches Magazin 512, Langensalza 1912. Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 2000. Range, Annelotte: Zwischen Max Klinger und Karl May: Studien zum zeichnerischen und malerischen Werk von Sascha Schneider (1870-1927), Bamberg 1999. Ribot, Théodule: Les Maladies de la volonté, 5. Auflage, Paris 1883. Robbins, Anthony: Unlimited Power: The New Science of Personal Achievement, London 1988. Röder, Hans-Gerd: „Das Kraft-Kunst-Institut von Sascha Schneider“, in: Dresdner Hefte 57 (1999). Sarasin, Philipp: Reizbare Maschinen, Frankfurt am Main 2001. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung, I. Band, 2. Auflage, Leipzig 1844. Schultze-Malkowsky, Emil: „Moderne Schönheit-Propheten XVIII: Sascha Schneider“, in: Die Schönheit. Mit Bildern geschmückte Zeitschrift für Kunst und Leben 6 (1909). Seelmann, Theo: „Körper und Geist“, in: Der Kulturmensch. Zeitschrift für körperliche und geistige Selbstzucht 1(1904/05). Winterry, Rudolf: Im Zeitalter des stärkeren Willens! Nebst einem Angang über Hypnose u. Suggestion, Graz 1914.

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Rudolf Winterry: Im Zeitalter des stärkeren Willens!, Graz 1914, Umschlagsbild. Abb. 2: Willensstärker, aus: A. H. Hansen: Die Erziehung des eigenen Willens, Leipzig 1906, S. 22. Abb. 3: Willensgymnastik, aus: Kraft und Schönheit. Zeitschrift für vernünftige Leibeszucht, 1912. Abb. 4: Sascha Schneider: Hypnose, aus: Die Schönheit. Mit Bildern geschmückte Zeitschrift für Kunst und Leben, 1909.

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Abb. 5: Sascha Schneider: Das Gefühl der Abhängigkeit, aus: Die Schönheit. Mit Bildern geschmückte Zeitschrift für Kunst und Leben, 1908. Abb. 6: Sascha Schneider: Der Aussergewöhnliche, aus: Die Schönheit. Mit Bildern geschmückte Zeitschrift für Kunst und Leben, 1909.

Kapitalistische Kalorien Energie und Ernährungsökonomien um die Jahrhundertwende E LIZABETH R. N ESWALD

Wer sich morgens auf dem Hometrainer setzt, um die üppige Mahlzeit des Vortages „wegzustrampeln“, denkt dabei selten an die Thermodynamik. Dennoch stammt sowohl die Erkenntnis, dass Nahrungsmittel eine Form von Energie darstellen, deren Wärmewert in Kalorien gemessen wird, als auch das Wissen, dass der Körper Energie aufnimmt und in anderer Form abgibt, aus den Ernährungslehren des späten neunzehnten Jahrhunderts. Sogar der Hometrainer selbst ist ein Relikt der energetischen Ernährungsforschung dieser Zeit, die damit versuchte, das Verhältnis von kalorischem Input und Arbeitsoutput im menschlichen Körper zu messen. Während heute in westlichen Ländern immer wieder die Sorge um Überernährung dominiert, entstand die Ernährungsphysiologie zu einer Zeit, in der breite Bevölkerungsschichten unter Hunger und Unterernährung litten. Das wachsende wissenschaftliche Interesse an der menschlichen Ernährung war eine Reaktion auf die Industrialisierung und die darauffolgenden sozialen Veränderungen. Die Ernährungsphysiologie hatte sowohl die individuelle und öffentliche Gesundheit als auch die Bedürfnisse der technisch-industriellen Gesellschaft im Auge, als sie den Körper als Knotenpunkt entwarf, an dem sich Arbeit, Energie und Geldökonomie kreuzen. Im Folgenden geht es um die Frage: Wie und in welchem Kontext bildete sich eine auf Energieumwandlung und Kalorienmessung basierte Auffassung der Ernährung heraus? Dazu wird zunächst die Entwicklung der energetischen Ernährungslehre skizziert, um diese dann vor dem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext zu diskutieren.1

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Ich bedanke mich bei der Canadian Institutes of Health Research für die großzügige Unterstützung dieser Forschung.

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D IE

ENERGETISCHE

E RNÄHRUNGSLEHRE

Als der Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn in seinem wegweisenden Aufsatz „Die Erhaltung der Energie als Beispiel gleichzeitiger Entdeckung“ die wissenschaftlichen und philosophischen Voraussetzungen schilderte, die seines Erachtens zur gleichzeitigen Entdeckung des Energieerhaltungssatzes durch mehrere Naturwissenschaftler beitrugen, fand die Physiologie kaum Erwähnung.2 Dabei stand die Vorstellung, dass der lebendige Körper eine Art Maschine sei, welche die chemische Energie der Nahrungsmittel in eine äquivalente Menge von Wärme und mechanischer Bewegung umwandle, bereits am Beginn der Thermodynamik. In den frühen 1840er Jahren formulierte der Arzt Robert Mayer – einer der Entdecker des Energieerhaltungssatzes – eine Gleichung, die es ermöglichte, die Umwandlungsverhältnisse von verschiedenen Naturkräften quantitativ auszudrücken und betrachtete dies als Voraussetzung für die Klärung von physiologischen Fragen.3 Mayer ging von dem philosophischen Argument aus, dass Nichts aus Nichts entstehen könne. Eine Neuschaffung oder Vernichtung von Kraft sei daher unmöglich und die Menge an Kraft in der Welt müsse gleich bleiben. Auch den tierischen Stoffwechsel beschrieb Mayer als einen Umwandlungsprozess, der analog zu den Prozessen in der Dampfmaschine verlaufe, denn in lebendigen wie in metallischen Maschinen verschwänden brennbare Substanzen, während mechanische Arbeit erzeuge und Wärme abgegeben werde. Wenn aber die Gesamtmenge der entstandenen Arbeit und Wärme der ursprünglichen chemischen Energie entspreche, dann bedeute die Vermehrung der Wärme eine Verminderung der Arbeit: „Je grösser nämlich der zur Wärmebildung verwendete Bruchteil von y ist, um so kleiner wird der den mechanischen Zwecken gewidmete Rest, und umgekehrt.“4 In einer Gesellschaft, die auf Antriebsmaschinen und die menschliche oder tierische Muskelkraft angewiesenen war, stellte aber Bewegung – also der mechanische Effekt – ein erwünschtes, d.h. ökonomisch verwertbares Produkt dar. Industrielle Produktionsprozesse hingen mithin von der Effizienz dieser Transformation ab. Die Topoi, die Mayer in seiner Abhandlung durchschritt – mechanische Arbeit, Umwandlungseffizienz, Ökonomie und Umwandlungsbilanzen –

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Thomas S. Kuhn: „Die Erhaltung der Energie als Beispiel gleichzeitiger Entdeckung“, in: ders.: Die Entstehung des Neuen, Frankfurt a. M. 1977, S. 125-168. Kenneth Caneva: Robert Mayer and the Conservation of Energy, Princeton 1993; Elizabeth R. Neswald: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz. Zur Faszinationsgeschichte der Entropie 1850-1915, Freiburg i. Br. 2006, S. 133-144. Julius Robert Mayer: „Die organische Bewegung in ihrem Zusammenhange mit dem Stoffwechsel. Ein Beitrag zur Naturkunde“ (1845), in: ders.: Die Mechanik der Wärme, in: Gesammelten Schriften, hg. v. Jacob J. Weyrauch, Stuttgart 1893 (3. Aufl.), S. 45-128, hier: S. 84.

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spiegelten die Interessen einer sich industrialisierenden Gesellschaft wider, die zunehmend auf Maschinen angewiesen war und immer stärker nach dem Ort des Lebewesens im Allgemeinen und des arbeitenden Menschen im Besonderen fragte. Dennoch blieben seine Schriften noch bis in die 1860er Jahre weitgehend unbeachtet und seine Ansichten zunächst ohne Auswirkung auf die Entwicklung der Thermodynamik oder auf die Physiologie. Stärkere Auswirkung auf beide Gebiete hatte dagegen der 1847 von Hermann von Helmholtz entwickelte Energieerhaltungssatz, der z.T. auf seinen früheren physiologischen Experimenten beruhte.5 Obwohl Helmholtz seinen Satz explizit aus der Physik und Mechanik herleitete, wurde dieser sofort von dem Physiologen Emil Du Bois-Reymond aufgegriffen, der ihn zum Ausgangspunkt einer neuen, exakt messenden Physiologie machte, ohne allerdings die Gültigkeit des Erhaltungssatzes für physiologische Prozesse beweisen zu können.6 Obwohl die biophysikalischen Methoden im Feld der Ernährungsphysiologie, die sich hauptsächlich chemischer Methoden bediente, zunächst kaum Einfluss hatten, wurde auch dort von der Gültigkeit des Erhaltungssatzes für Lebewesen und von Kraftumwandlungen im lebenden Körper ausgegangen. Den Nachweis dafür erbrachte erst in den 1890er Jahren der Physiologe und Hygieniker Max Rubner, der anstatt – wie bisher üblich – isolierte körperliche Teilsysteme zu untersuchen, nunmehr den ganzen Körper zu seinem Untersuchungsobjekt machte. Er stellte sich diesen als eine monolithische ‚black box‘ vor, in die Energie eingeführt, dort umgewandelt und in anderer Form wieder abgegeben werde. Einfuhr und Ausfuhr ließen sich miteinander vergleichen. Alles was während dieses Umwandlungsprozesses stattfand, wurde als unwesentlich für das Verhältnis von Input und Output betrachtet: „Auch der Wandel der Kräfte von dem Momente des Entstehens bis zum definitiven Austritt als Wärme aus dem Organismus ändert an den Thatsachen nicht das Geringste. Die ursprüngliche Spannkraft kann sich als Lebensbewegung äußern, sie kann die Zuckung der Muskelzelle, die elektrischen Strömungen erzeugen; endet die Bewe-

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Hermann von Helmholtz: Über die Erhaltung der Kraft, eine physikalische Abhandlung, vorgetragen in der Sitzung der Physikalischen Gesellschaft zu Berlin am 23. Juli 1847, hg. v. Wilhelm Ostwald (Ostwalds Klassiker der Exakten Wissenschaften 1), Leipzig 1902. Emil Du Bois-Reymond: Untersuchungen über thierische Elektrizität, Berlin 1848, v.a. das Vorwort. Die biophysikalisch arbeitenden Physiologen übernahmen die Vorgehensweise der Physik, komplexe Systeme in künstlichen Teilsystemen zu unterteilen, vernachlässigten dabei aber das multifunktionelle Ineinanderwirken von Organen.

90 | E LIZABETH R. NESWALD gung in Wärme, so ist ihre Quantität der Spannkraft der ursprünglichen Kraftquelle entsprechend.“7

Um dies in Tierexperimenten zu beweisen, setzte Rubner einen Hund in einen Tierkalorimeter, d.h. in eine luft-, wasser- und wärmedichte Kammer, die an Messapparate für Sauerstoffverbrauch und Kohlendioxidproduktion sowie an Barometer und Thermometer angeschlossen war und das Tier von der Umwelt isolierte. Die Kammer war so eng, dass eine Bewegung des Tieres darin so gut wie unmöglich war, damit es keine Energie in schwer zu erfassendes Zappeln vergeudete. Die gesamte Energie der Nahrung sollte in messbarer Form von Wärme abgegeben werden. Zu dieser Wärme zählte Rubner auch die Verbrennungswärme von Kot und Harn, berücksichtigte dabei Wasserabgabe und Respiration und verglich diese Summe dann mit der Verbrennungswärme der Nahrung. Der Unterschied zwischen beiden betrug im Durchschnitt weniger als 0,5%. Dieses Ergebnis war für Rubner der Beweis, dass der Stoffwechsel eigentlich ein Kraftwechsel war und dass Lebewesen eine ausgeglichene Energiebilanz lieferten. Es gab weder Vermehrung noch ein Defizit im physiologischen Haushalt. Bei einer ausreichenden Ernährung, d.h. einer Ernährung, die auf die Erhaltung des Lebewesens in einem stabilen Zustand bedacht war, gab der Körper genauso viel Energie ab, wie er durch die Einfuhr von Nahrung bekam.8 Der Nachweis der Energieerhaltung im Lebewesen war Teil von Rubners seit 1880 unternommenen Bestrebungen, einen Paradigmenwechsel in der Ernährungsphysiologie einzuleiten und diese von einer stofflichen auf eine energetische Basis umzustellen. Dabei versuchte er ein Phänomen zu erklären, das von der damaligen Theorie der Ernährung nicht erklärt werden konnte. Es war den Physiologen zwar bekannt, dass Lebewesen Eiweiß, Fett und Kohlenhydrate brauchten um zu leben, und sie nahmen an, dass diesen Nahrungsmitteln unterschiedliche Funktionen zukamen, die auf ihren stofflichen Besonderheiten oder chemischen Eigenschaften beruhten. Ernährung war demzufolge ein Stoffwechsel, d.h. ein Austausch von Stoffen. Dennoch schien es in ihren Experimenten manchmal so, als ob ein Nahrungsmittel die Aufgaben eines anderen erfüllen konnte, ein Phänomen, welches ihre zentrale Annahme in Frage stellte. Bereits 1883 stellte Rubner die Hypothese auf, dass dies daran lag, dass Nahrungsmittel einander „nach Maasgabe der

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Max Rubner: „Die Quelle der thierischen Wärme“, in: Zeitschrift für Biologie 30 (1894), S. 73-142, hier: S. 84. Siehe auch: Max Rubner: Die Gesetze des Energieverbrauchs bei der Ernährung, Leipzig/Wien 1902. „Was der Nahrungsstoff an Energievorrath zur Zersetzung in den Körper hineinbringt, das schickt der Körper in genau gemessenen Quantitäten nach außen; es gibt in diesem Haushalt kein Manco und keinen Ueberschuss.“ Rubner: „Quelle“, S. 136.

KAPITALISTISCHE KALORIEN | 91

Kräfte, welche den Stoffen innewohnen“ substituieren konnten.9 Ernährung wäre demzufolge kein Stoffwechsel, sondern ein Kraftwechsel, d.h. ein Prozess der Kraftumwandlung, der von der chemischen Energie der Nahrungsmittel und nicht von ihren chemischen Komponenten abhing. Rubner schlug vor, die potenzielle Energie der Nahrungsmittel als kalorischen Wert auszudrucken. Der Begriff der ‚Kalorie‘ war zwar nicht ganz neu, hatte aber seinen Ort in der Chemie, wo er den Verbrennungswert von Substanzen bezeichnete. Auch wenn kalorimetrische Studien seit den 1860er Jahren an Nahrungsmitteln unternommen wurden (wobei hier der Ausdruck ‚Wärmeeinheit‘ noch gebräuchlicher war), so benutzte Rubner den Begriff ‚Kalorie‘ als Erster im modernen Sinn der Ernährungslehre.10 Demnach wurde die chemische Energie von Nahrungsmitteln in Kalorien erfasst, wobei eine (Gramm-) Kalorie die Menge Wärme bezeichnete, die nötig war, um die Temperatur von einem Gramm Wasser um ein Grad Celsius zu erhöhen. In weiteren Untersuchungen bestimmte Rubner den relativen kalorischen Wert der Hauptnahrungsstoffe Eiweiß, Fett und Kohlenhydrate und legte diesen Verbrennungswert als zentrale Eigenschaft der Nahrungsmittel fest.11 Die Umdeutung der Nahrungsmittel von ihrer chemischen Zusammensetzung und ihrem Geschmack hin zu ihrem Energiewert war jedoch nur eine Veränderung durch die energetische Ernährungslehre. Eine weitere Veränderung bestand in der Abkehr vom Vorrang eiweißhaltiger Nahrung, die bis dahin an der Spitze der Nahrungshierarchie gestanden hatte. Waren Ernährungsforscher bisher davon ausgegangen, dass der Körper große Mengen von Eiweiß braucht, um leistungsfähig zu bleiben, so behauptete Rubner dagegen: „Bis auf einen kleinen Bruchteil der Gesamtzersetzung ist es nämlich gleichgültig, welche Stoffe wir dem Körper zuführen.“12 Eiweiß war Rubner zufolge sogar physiologisch gesehen als Kalorienspender unökonomisch. Denn weitere Experimente zeigten, dass die Körpertemperatur sich nach dem Eiweißkonsum stärker erhöhte als nach der Einnahme anderer

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Max Rubner: „Die Vertretungswerthe der hauptsächlichen organischen Nahrungsstoffe im Thierkörper“, in: Zeitschrift für Biologie 19 (1883), S. 313-396, hier: S. 345. 10 Vgl. James L. Hargrove: „History of the Calorie in Nutrition“, in: Journal of Nutritio, 136/12 (2006), S. 2957-2961; Mildred R. Ziegler: „The History of the Calorie in Nutrition“, in: Scientific Monthly 15/6 (1922), S. 520-526. 11 Demzufolge lieferten 1 Gramm Eiweiß oder Kohlehydrate 4,1 Kalorien und ein Gramm Fett 9,3 Kalorien. Im Verhältnis zu seinem Gewicht lieferte das Fett die meiste Energie. Vgl. Max Rubner: „Calorimetrische Untersuchungen II“, in: Zeitschrift für Biologie 21 (1885), S. 337-410, hier: S. 377. 12 Rubner: „Vertretungswerthe“, S. 390.

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Nahrungsmittel.13 Es war anzunehmen, dass der Körper mehr Arbeit in die Verdauung oder Spaltung dieser komplexen Moleküle investieren musste und dabei mehr ‚Abwärme‘ als Begleitprodukt entstand. Diese Eigenschaft eines Nahrungsmittels, die Wärmebildung im Organismus anzuregen, nannte Rubner den „spezifisch-dynamischen Effekt“.14 Wenn Eiweiß zur höheren Wärmebildung führte, stand dem Organismus, dem Erhaltungssatz entsprechend, weniger Energie für mechanische Arbeit zur Verfügung. Berücksichtigte man darüber hinaus, dass bspw. Fleisch viel teurer war als Kartoffeln, so lag – laut Rubner – der unökonomische Aspekt des Eiweißkonsums auf der Hand. Die physiologisch und ökonomisch ‚rationellsten‘ Nahrungsmittel waren also diejenigen, die unter geringsten finanziellen Ausgaben die meiste Energie lieferten, ohne viel Arbeit für die Verdauung zu verursachen. Die Ernährungsphysiologie im späten neunzehnten Jahrhundert untersuchte die Beziehung zwischen dem Brennstoffinput und den diversen Formen vom energetischen Output im lebendigen Körper. Ernährung wurde in den Worten des amerikanischen Biochemikers Wilbur Olin Atwater zu einer Art „chemischer Buchhaltung“ mit ausgeglichener Bilanz.15 Der Körper selbst glich einer arbeitenden Maschine, die chemische Energie in Wärme und mechanische (und ökonomisch verwertbare) Arbeit umwandelt. Das implizite Ziel dieser Lehre lag darin, den effizientesten Brennstoff zu finden, d.h. die günstigste Umwandlung von Nahrung in Arbeit – bei gleichzeitigem Erhalt der lebendigen Maschine. Wie immer wieder betont wurde, bestand der Körper aus den gleichen Substanzen wie seine Brennstoffe. Würden diese nicht in ausreichendem Maße zugeführt, so beginne der Körper, um die physiologischen Prozesse aufrechtzuerhalten und externe Arbeit zu leisten, die eigene Substanz zu verzehren.16 Der energetischen Theorie zufolge war das Leben ein permanenter Prozess der Verbrennung.17

ARBEITENDER K ÖRPER

UND

ARBEITERKÖRPER

Wie zahlreiche Studien der letzten Jahrzehnte verdeutlicht haben, finden weder wissenschaftliche Experimente noch Theoriebildung losgelöst von 13 Eiweiß war Rubner zufolge nur in kleineren Mengen nötig, etwa um abgestoßene Zellen von Haut und Haaren zu ersetzen. Vgl. Rubner: Gesetze des Energieverbrauchs, S. 344-347. 14 Rubner: Gesetze des Energieverbrauchs, Kapitel IV. 15 W. O. Atwater: „How Food Nourishes the Body. The Chemistry of Food and Nutrition“, in: Century. A popular Quarterly 34 (1887), S. 237-251, hier: S. 238. 16 Vgl. z.B. B. Danilewsky: „Über die Wärmeproduction und Arbeitsleistung des Menschen“, in: Archiv für die gesammte Physiologie des Menschen und der Thiere 30 (1883), S. 175-198; Max Rubner: Volksernährungsfragen, Leipzig 1908, S. 100. 17 Rubner: „Quelle“, S. 137.

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gesellschaftlichen Kontexten statt.18 So ist auch die Entwicklung der Ernährungsphysiologie vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungen des neunzehnten Jahrhunderts zu betrachten.19 Seit der Jahrhundertmitte rückten Fragen von Hunger und Ernährung zunehmend ins Visier der Politiker und Sozialreformer, da diese Fragen sowohl die öffentliche Gesundheit als auch die soziale Stabilität berührten. Die industrielle Gesellschaft benötigte willige Arbeiter für körperlich schwere Arbeit und die europäischen Staaten verlangten im Zeitalter des Nationalismus und Imperialismus nach einsatzfähigen Soldaten, mussten aber feststellen, dass eine erhebliche Anzahl ihrer jungen Männer wehruntauglich war. Zudem machten etwa die städtischen Hungerunruhen in Deutschland in den 1840er Jahren und die Arbeiteraufstände und Gewerkschaftsbewegungen in den USA in den 1870er Jahren den sozialen Eliten deutlich, dass das Unruhepotenzial der unteren Schichten auf die Nichterfüllung ihrer Grundbedürfnisse zurückging.20 Vor diesem Hintergrund wiesen Ernährungsphysiologen, Hygieniker und Reformer wiederholt darauf hin, dass Hunger anfällig für Agitation, Alkoholmissbrauch und Radikalismus mache.21 Mangelnde Ernährung wurde daher nicht nur als eine Gefahr für die nationale ökonomische Leistungs-

18 Richtungsweisend ist: David Bloor: Knowledge and Social Imagery, London 1971. Siehe auch: M. Norton Wise/Crosbie Smith: „Work and Waste: political economy and natural philosophy in nineteenth-century Britain“, in: History of Science 27 (1989), S. 263–301, S. 391–449; 28 (1990), S. 221–261; Steven Shapin/Simon Schaffer: Leviathan and the Air Pump. Hobbes, Boyle and the Experimental Life, Princeton 1985. 19 Vgl. Naomi Aronson: „Social definitions of entitlement: food needs 1885-1920“, in: Media Culture Society 4 (1982), S. 51-61; Harvey Levenstein: Revolution at the Table. The Transformation of the American Diet, Berkeley/Los Angeles 2003; Dietrich Milles: „Working Capacity and Calorie Consumption: The History of Rational Physical Economy“, in: Harmke Kamminga/Andrew Cunningham (Hg.): The Science and Culture of Nutrition, 1840-1940, Amsterdam 1995, S. 75-96; Corinna Treitel: „Food Science/Food Politics: Max Rubner and ,Rational Nutrition‘ in Fin-de-Siècle Berlin“, in: Peter Atkins/Peter Lummel/Derek J. Oddy (Hg.): Food and the City in Europe since 1800, Aldershot 2007, S. 51-61. 20 Manfred Gailus: „Food Riots in Germany in the Late 1840s“, in: Past and Present 145 (1994), S. 157-193, Levenstein: Revolution, S. 44. 21 „Wie der schlechte Körper empfänglich für Kranksein allerart, so das Gehirn der Herabgekommenen für agitatorische Behandlung und Beeinflussung, für die Steigerung der Unzufriedenheit, für Groll und Haß, für Auflehnung und Revolte […]. Eine gut genährte Bevölkerung ist eine leicht zu regierende Masse.“ Rubner: Volksernährungsfragen, S. 136.

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fähigkeit betrachtet, sondern auch als Bedrohung der inneren Sicherheit und als Untergrabung der militärischen Stärke.22 Durch den Zuzug von immer mehr Menschen aus ländlichen Gebieten in die Städte änderten sich sowohl die soziale Strukturen als auch die Lebensund Ernährungsgewohnheiten. Während die ländliche Bevölkerung einen großen Teil ihrer Nahrung selbst erzeugt hatte, mussten die städtischen Arbeiter ihre Nahrungsmittel durch Lohn erwerben. Angemessene Ernährung war damit vor allem eine finanzielle Frage; sie zielte in erster Linie auf Sättigung und wenn möglich auch auf Geschmack ab. Physiologen, Hygieniker und Sozialreformer kritisierten dies als ineffizient und unwissenschaftlich, denn Arbeiter sollten nicht einfach essen, sondern lernen sich zu ernähren. Anstatt zu arbeiten um zu essen, sollte gegessen werden um zu arbeiten, d.h. den physiologischen und ökonomischen Kriterien folgend sollte die Menge und Art von Nahrungsmitteln konsumiert werden, die der jeweiligen körperlichen Tätigkeit und dem Lohn entsprach. Zudem übernahmen Staaten und Gemeinden seit Beginn des Jahrhunderts immer stärker die Aufgabe der Armenfürsorge, die bis dahin traditionell von Wohltätigkeitsvereinen und Kirchen geleistet worden war, und übten eine stärkere Kontrolle über die institutionelle Verpflegung aus.23 Armenhaus- und Krankenhausinsassen, Gefangene und Soldaten mussten auf Staatskosten verpflegt werden. Obwohl finanzielle Faktoren eine große Rolle bei der institutionellen Ernährung spielten, durften gesundheitliche Gesichtspunkte nicht gänzlich außer Acht gelassen werden, denn sogar Gefangene sollten nach abgebüßter Strafe keine bleibenden gesundheitlichen Schäden aus ihrer Haftzeit in die Freiheit mitnehmen.24 Damit stießen Ernährungs- und Versorgungsfragen nicht nur auf das Interesse von Physiologen, Hygienikern, Sozialwissenschaftlern und Bevölkerungsstatistikern, sondern wurden zu einer Angelegenheit von Regierung, Verwaltung und Militär. Die Untersuchungen zu menschlichen Ernährungspraktiken und zur Adäquatheit von institutioneller Verpflegung konzentrierten sich aus naheliegenden Gründen auf diejenigen, die anstrengende Tätigkeiten verrichteten und dabei nur über ein niedrigeres Einkommen verfügten.25 Die Wissen-

22 Z.B. Edward Atkinson: Suggestions for the Establishment of Food Laboratories in Connection with the Agricultural Experiment Stations of the United States (USDA Office of Experiment Stations Bulletin 17), Washington 1893, S. 18. 23 Vgl. Ulrike Thoms: Anstaltskost im Rationalisierungsprozeß. Die Ernährung in Krankenhäusern und Gefängnissen im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2005. 24 Ad. Schuster: „Untersuchung der Kost in zwei Gefängnissen“, in: Carl Voit (Hg.): Untersuchung der Kost in einigen öffentlichen Anstalten, München 1877, S. 142-185, hier: S. 143. 25 Zwei frühe Studien sind die von: Samuel Haughton: On the Natural Constants of the Healthy Urine of Man, and a Theory of Work founded Thereon, Dublin 1860;

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schaftler gingen zunächst davon aus, dass Menschen, die nicht unter extremer finanzieller Not litten und ihre Nahrung frei wählen konnten, natürlicherweise dazu tendierten, die Nahrungsmittel und -menge zu konsumieren, die ihr Körper jeweils brauchte. Auf dieser Basis interpretierten sie die durchschnittlichen Werte ihrer gesammelten Daten als dem tatsächlichen Bedarf entsprechend und entwickelten daraus Ernährungsnormen und -standards. So brauchte – den breit akzeptierten Normen des Physiologen Carl Voit entsprechend – ein „mittlerer Arbeiter“, d.h. ein Mann von durchschnittlicher Größe, der eine durchschnittliche Menge mechanischer Arbeit leistete, 118g Eiweiß, 56g Fett und 240g Kohlenhydrate täglich, um seinen Körper im Gleichgewicht zu halten.26 Dagegen zeigten etwa die Daten Wilbur Olin Atwaters, dass Amerikaner mehr konsumierten als Europäer. Er schloss daraus, dass sie schwerer arbeiteten und einen höheren Lebensstandard genossen und leitete daraus eine höhere Ernährungsnorm für US-Amerikaner ab.27 Insbesondere seit den 1880er Jahren wurden in breit angelegten Umfrage- und Untersuchungskampagnen die Ernährungsformen und Lebensumstände der arbeitenden Schichten und Unterschichten erfasst. Sozialreformer, Gewerkschaftsvertreter und Statistiker besuchten Arbeiterfamilien, um Daten über die Ausgaben für Wohnung, Kleidung und Nahrungsmittel zu sammeln und diese gegen die Einkünfte aufzurechnen. Es ging sowohl darum Kenntnisse über die Lebensweise der unteren Schichten zu gewinnen, als auch darum, eine empirische Basis zu erwerben, um existierende Missstände zu erfassen, für Reformen zu kämpfen und zu beurteilen, ob die ortsund berufsüblichen Löhne eine ausreichende Existenz ermöglichten. Dabei bewahrheitete sich das Engel’sche Gesetz, wonach der Prozentteil des Einkommens, welcher für Nahrungsmittel ausgegeben wurde, im Verhältnis

Lyon Playfair: On the food of Man in relation to his useful Work, Edinburgh 1865. 26 Carl Voit: „Ueber die Kost in öffentlichen Anstalten. Vortrag, gehalten am 13. September 1875 in der ersten Sitzung des Kongresses für öffentliche Gesundheitspflege zu München“, München 1876, S. 8. Später präzisierte ein Schüler von Voit den „mittleren Arbeiter“ als einen Mann von durchschnittlicher Größe (70 Kilo), der eine Tätigkeit Äquivalent zu der eines Schusters oder Soldaten in den Baracken für 9-10 Stunden täglich verrichtete. Vergleiche Hamilton C. Bowie: „Ueber den Eiweißbedarf eines mittleren Arbeiters“, in: Zeitschrift für Biologie 15 (1879), S. 459-484. 27 Atwater empfahl 125g Eiweiß, 125g Fett und 400g Kohlenhydrate für eine Gesamtkalorienzahl von 4,500. Obwohl Voit seine Normen entwickelte, bevor Rubner das Kalorienkonzept einführte und sich nicht mit der energetischen Theorie anfreunden konnte, hätte seine Norm etwa 3055 Kalorien ergeben. W. O. Atwater: „American and European Dietaries and Dietary Standards“, in: Storrs Experiment Station Annual Report (1891), S. 106-161, hier: S. 155f., S. 161.

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zum fallenden Einkommen anstieg.28 Wenn aber diejenigen, die über die kleinsten Einkommen verfügten, mehr als die Hälfte davon für Nahrungsmittel ausgeben mussten, blieb kaum etwas übrig zur Deckung von anderen Bedürfnissen. Ab den 1890er Jahren listeten die Budgets und Ernährungsumfragen nicht nur auf, wie viel Geld für welche Nahrungsmittel ausgegeben wurde, sondern häufig auch, wie viel Eiweiß, Fett oder Kohlenhydrate und Kalorien diese Nahrungsmittel enthielten, um die tatsächlich konsumierte Nahrung an den etablierten Normen für den Ernährungsbedarf zu messen.29 Dabei verfolgten die betreffenden Wissenschaftler und Sozialreformer durchaus entgegengesetzte Ziele. Denn mit den Daten zur Ernährung konnte man sowohl argumentieren, dass die Löhne keinen ausreichenden Lebensunterhalt ermöglichten, als auch, dass mit dem kargen Lohn auszukommen war, wenn man nur rationeller wirtschaftete und sich an die Lehren der Ernährungsphysiologie hielt. In der Ernährungsphysiologie wurde Unterernährung als Energieversorgungsproblem aufgefasst, das primär auf einen Mangel an ‚Brennmaterial‘ zurückzuführen war. Die neue Ernährungslehre bot Ansätze zur Lösung des Problems im Rahmen tradierter sozialer Hierarchien. In der älteren Theorie von Justus Liebig benötigten körperlich schwer arbeitende Menschen eine große Menge der kraftspendenden Substanz Eiweiß, die v.a. in Fleisch vorhanden war.30 Fleisch war aber ein Luxusartikel, dessen Verbrauch mit einem höheren sozialen Status verbunden war. Wenn städtische Arbeiter die Essgewohnheiten der Bessergestellten nachahmten und dieses Verhalten eine wissenschaftliche Begründung bekam, schien die soziale Ordnung bedroht. Wenn aber der neueren Ernährungstheorie zufolge und entgegen Liebigs Ansichten Eiweiß nicht kraftspendender als andere Nahrungsmittel war, hätten Arbeiter keine physiologische Berechtigung mehr Fleischverpflegung von ihren Arbeitgebern zu verlangen oder auf dieser Basis höhere Löhne einzufordern. Die Ansichten des irischen Naturwissenschaftlers Samuel Haughton verdeutlichen diese Einstellung, wenn er behauptet: „Men employed only in manual or routine bodily labour, are sufficiently well-fed

28 Ernst Engel: „Die Productions- und Consumtionsverhältnisse des Königreichs Sachsen“, in: Zeitschrift des statistischen Bureaus des Königlich Sächsischen Ministerium des Inneren, Nr. 8 und 9 (1857), S. 1-54. 29 Der Nahrungsmittelkonsum von Arbeiter wurde zuerst in den USA von W.O. Atwater und in Deutschland von F. Wörishoffer entschlüsselt. Vgl. Carroll D. Wright/W. O. Atwater: „Food Consumption. Quantities, Costs and Nutrients of Food-Materials“, in: Seventeenth Annual Report of the Bureau of Statistics of Labour, Boston 1886, S. 240-326; F. Wörishoffer: Die sociale Lage der Fabrikarbeiter in Mannheim und dessen nächster Umgebung, hg. i. A. d. Großh. Ministeriums des Inneren, Karlsruhe 1891. 30 Justus Liebig: Die Thier-Chemie oder die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie, Braunschweig 1843 (2. Aufl.), S. 225.

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on vegetable diet [...]. When the work is of a higher order, a better quality of food must be supplied.“31 Fleisch war nötig, um den Geist anzuregen, nicht aber den Körper. Rubners Nachweis der Minderwertigkeit des Eiweißes als Energielieferant unterstütze diese Ansicht. Wenn der Körper hauptsächlich Kalorien brauche und sich die Menge der Kalorien nach dem Tätigkeitsgrad richte, benötigten Arbeiter lediglich eine größere Menge Nahrung aber keine größere Menge Fleisch. Berücksichtigt man dabei die Ineffizienz des Eiweißes als Energielieferant und die höheren Marktpreise von Fleischprodukten und Fisch, so schien, wie bereits Haughton behauptete, eine auf Kohlenhydraten (d.h. auf Getreide und Kartoffeln) basierende Ernährung für die Arbeiter und unteren Schichten am angemessensten.32 Der Energieerhaltungssatz bot damit eine Richtlinie, um Nahrungsmittel sowohl energetisch als auch ökonomisch so zu hierarchisieren, dass sie mit den tradierten sozialen Hierarchien übereinstimmten. Fleisch war nötig, um das Gemüt und den Appetit von geistig arbeitenden Menschen anzuregen, aber die geeigneten Nahrungsmittel für Arbeiter und Arme waren Brot und Kartoffeln – Brennstoff für die lebendigen Maschinen.33

D IE P ROTESTANTISCHE E THIK

DER

E RNÄHRUNG

Der arbeitende Körper der Jahrhundertwende wurde von verschiedenen Ökonomien erfasst. Taylorismus, Bewegungsstudien und Arbeitswissenschaft entwarfen ihn als Teil einer produzierenden Maschine, deren zeitliche und energetische Effizienz es zu optimieren gelte,34 während Ernährungswissenschaftler die Effizienz des Körpers durch Praktiken der physiologischen und finanziellen Ökonomie zu erhöhen strebten. Grundlage dieser Bestrebungen waren die Annahmen, dass Ineffizienz ein Produkt von Unwissenheit war, dass Effizienz und Rationalität zusammengehörten und dass die Verwirklichung dieser Ziele auf den Einsatz moderner Wissenschaft an-

31 Haughton: Natural Constants, S. 33f. 32 Naomi Aronson hebt diesen Zusammenhang prägnant hervor: „Food had a utilitarian function: to enable people to perform their economic roles in society.“ Aronson: „Social definitions“, S. 52. 33 „His [the workers] food is his fuel, and his physical exertion must be sustained by a sufficient supply with the same regularity and certainty that the boiler of the steam engine must be fed with coal […].“ Edward Atkinson: „The Food Question in America and Europe“, in: Century. A popular quarterly 33 (1886), S. 238-247, hier: S. 242. 34 Vgl. hierzu Anson Rabinbach: The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, Berkeley/Los Angeles 1990.

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gewiesen war.35 Neben der bereits erwähnten Praxis der Datensammlung zu Ernährungspraktiken ließen die Physiologen deshalb Versuchspersonen in Respirationsapparaten und Kalorimetern Gewichte heben und stationäre Fahrräder (Ergometer) fahren, mitunter auch auf Schreibmaschinen tippen, Mathematikaufgaben lösen oder Bügeln, um den Energiebedarf bei unterschiedlichen Tätigkeiten zu messen und Ernährungsnormen für verschiedene Aktivitäten, Arbeiten und soziale Gruppen formulieren zu können. Nahrungsmittel wurden auf ihre chemische Zusammensetzung analysiert und in weiteren menschlichen Experimenten auf ihre Verdaulichkeit und Effizienz im tierischen und menschlichen Körper geprüft. Abbildung 1: Bicycle Ergometer and Universal Respiration Apparatus

Quelle: Benedict, F.G. and Edward P. Cathcart: Muscular work. A metabolic study with special reference to the efficiency of the human body as a machine, Washington DC 1913, o.S.

Solche rein physiologischen Gesichtspunkte waren aber, wie der Physiologe Josef König bemerkte, nur von begrenztem Nutzen im menschlichen Alltag, denn „[d]er Mensch wählt sich entsprechend seiner Geldmittel die Nahrungsmittel nach seinem Geschmack […].“36 Für König folgte daraus, dass

35 Auf dieser Basis setzte sich Atkinson bei der amerikanischen Regierung für die Etablierung von ernährungswissenschaftlichen Labors ein: „The lines of investigation which ought to be considered are, first, the best means to produce the highest amount of human energy with the least waste.“ Atkinson: Suggestions, S. 17. 36 Josef König: „Der Gehalt der menschlichen Nahrungsmittel an Nahrungsstoffen im Vergleich zu ihren Preisen“, in: Zeitschrift für Biologie 12 (1876), S. 497-512, hier: S. 497.

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sowohl Informationen zum Nährstoffgehalt als auch vergleichende Informationen zu Nahrungsmittelpreisen nötig waren, um Ernährungsineffizienz und Fehlausgaben zu vermeiden. Informationstabellen mit Angaben zu Nährstoffen, zur Verdaulichkeit und zum Geldwert von Futtermitteln standen den Landwirten bereits zur Verfügung, und nicht nur König beklagte, dass Regierungen und Forscher dem Ernährungsstand des Viehs mehr Aufmerksamkeit widmeten als dem des Menschen. Um dem entgegenzuwirken, sammelte er Daten von internationalen Studien zur Zusammensetzung verschiedener Nahrungsmittel. In einer Liste, deren Umfang rapide von einem Aufsatz auf zwei Bände anwuchs, fasste König tabellarisch den maximalen, minimalen und durchschnittlichen Gehalt an Eiweiß, Fett, Kohlenhydraten und – ab der Jahrhundertwende – Kalorien von verschiedenen Getreidearten, Gemüse und Fleischsorten, aber auch von fertigen Nahrungsmitteln wie Wurst, Brot und Mehl zusammen. Sogar Nährstoffdaten zur Muttermilch von Frauen verschiedener Länder und Einkommensschichten wurden aufgenommen.37 Anhand dieser Daten verlieh König jedem Nahrungsmittel einen „Ernährungswert“, legte dann anhand des Marktpreises pro Kilo einen „Nährgeldwert“ fest und führte so zwei getrennte Beurteilungssysteme zusammen. Die physiologisch-chemische Analyse und der Preis wurden somit in einer gemeinsamen Wertskala kombiniert. In den 1880er Jahren ermittelte Atwater auf ähnlicher Weise den Ernährungswert von amerikanischen Nahrungsmitteln.38

37 König sammelte veröffentlichte Daten von chemischen Analysen primär aus Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Vgl. Josef König: Chemische Zusammensetzung der menschlichen Nahrungs- und Genußmittel, Berlin 1879; Ders.: Die menschlichen Nahrungs- und Genussmittel, ihre Herstellung, Zusammensetzung und Beschaffenheit, ihre Verfälschungen und deren Nachweisung, Berlin 1880; Josef König: Nährgeldwerth der menschlichen Nahrungsmittel nebst Kostrationen und Verdaulichkeit einiger Nahrungsmittel, Berlin 1928. 38 W. O. Atwater/Charles D. Woods: The Chemical Composition of American Food Materials (USDA Office of Experiment Stations Bulletin 28), Washington 1896.

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Abbildung 2: Atwaters Tabelle der Nährstoffe

Quelle: Atwater, W.O. and C.D. Woods: The Chemical Composition of American Food Materials, Washington DC 1896, S. 34.

Das Ergebnis dieser Tabellen war die Erkenntnis, dass Marktpreis und Nahrhaftigkeit in keinem Zusammenhang standen. Teurere Nahrungsmittel hatten keinen physiologischen Mehrwert. Mit Rubners Feststellung, dass der arbeitende Körper vor allem Energie brauche und dass Eiweiß eine ineffiziente Energiequelle sei, stand nunmehr ein theoretischer Apparat bereit, um das Verhältnis zwischen Ernährung und sozialem Status festzuschreiben und Unterernährung als privates Versagen zu verurteilen. Zwar gaben fast alle Ernährungsphysiologen zu, dass man den Menschen nicht davon überzeugen könne, sich nur nach physiologischen und Effizienzgesichtspunkten zu ernähren. Dennoch wurde die Tendenz, Nahrungsmittel ihrem Geschmack

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entsprechend auszuwählen, vor allem an armen Menschen als irrational kritisiert.39 Denn eine rationelle, ökonomische Ernährung habe sich nach Geldbeutel und energetischem Bedarf zu richten und nicht nach persönlichen Vorlieben.40 Konnte die Unterernährung auf schlechtes Wirtschaften und Irrationalität bei der Nahrungswahl zurückgeführt werden, so lag die Lösung von sozialen Problemen nicht in der Erhöhung der Löhne, sondern in der Erziehung zu rationeller, dem Arbeitspensum und dem Energiebedarf entsprechender Ernährung und dem damit einhergehenden Verzicht auf feineren sinnlichen Genuss. Unterernährung und Armut wurden zu einem Problem der angemessenen haushaltsinternen Ressourcenverteilung.41 Das Konzept des Nährgeldwerts übersetzte Eiweiß- und Energiegehalt in Geldwerte, mit der Absicht, Kauf und Konsum zu steuern. Der Aufruf zum Wirtschaften blieb aber nicht auf die Kaufwahl beschränkt, sondern erstreckte sich auch auf den Körper. Zwar musste die Ernährung adäquat sein um Gesundheitsschäden zu vermeiden, aber sowohl Physiologie als auch Haushaltsbudget geboten es, eine übermäßige Ernährung zu vermeiden. Rubners Experimente zur Auswirkung der konsumierten Nahrungsmittelmengen auf die Verdauungseffizienz hatten gezeigt, dass Nahrungsmittel nicht nur Arbeit ermöglichten, sondern dass der Prozess ihrer Verdauung auch Energie verbrauchte, und dass die Umwandlungseffizienz mit Überernährung abnahm. Je mehr die Aufnahme den Bedarf überstieg, desto mehr wurde unverdaut wieder ausgeschieden. Der hungernde Organismus machte Rubner zufolge den effektivsten Gebrauch von Kalorien,42 der Knappgehaltene fast ebenso. In dieser Perspektive verhielt sich die physiologische Ökonomie analog zur Haushaltsökonomie des kleinen Sparers.43 Um also die Ernährung möglichst effizient zu gestalten und die verschwenderische Verdauungsarbeit gering zu halten, schien es geboten, die eingenommenen Nahrungsmittel auf die kleinste Menge zu reduzieren, welche die Aufrechterhaltung des täglichen Lebens erforderte. Physiologische Ökonomie bedeutete, die Kalorienmenge zu konsumieren, die der Körper benötigte, um sich selbst zu erhalten und seiner sozialen Rolle entsprechend

39 Vgl. Atwater: Methods and Results, S. 214f.; Ders.: „Pecuniary Economy“, S. 42f. 40 W. O. Atwater: „The Economy of Food“, in: Storrs Experiment Station Annual Report (1892), S. 163-190, hier: S. 178. 41 Vgl. Treitel: Food Science/Food Politics. 42 Vgl. Rubner: Gesetze des Energieverbrauchs, v.a. Kapital 4 u. 27. 43 Atwater erklärte einer populären Leserschaft, „[w]hen the dogs [in Rubners Experimenten] had just food enough to supply their needs, they used it with similar economy. In other words, when the income was equal to the necessary expenditure it was used as sparingly as the sums taken from the capital had been.“ Siehe W. O. Atwater: „Pecuniary Economy of Food“, in: Century. A Popular Quarterly, 35/3 (1888), S. 437-446, hier: S. 404.

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mechanische Arbeit zu leisten, aber nicht darüber hinaus.44 So erklärte der Biochemiker Russell Chittenden: „It is self-evident that the smallest amount of food that will serve to keep the body in a state of high efficiency physiologically the most economical, and hence the best adapted for the needs of the organism.“45 Während Atwater, Voit und die Mehrzahl der Physiologen auf der Basis ihrer Erhebungsdaten an Gruppen davon ausgingen, dass menschliche Ernährungspraktiken statistisch betrachtet den tatsächlichen Bedarf an Nahrung widerspiegelten, lehnte Chittenden dieses Vorgehen als unwissenschaftlich ab, da die Praktiken auf Gewohnheiten und nicht auf kontrollierten Experimenten beruhten. Er untersuchte deshalb in ausgedehnten Experimenten von bis zu sechs Monaten, ob ein Körper sich auf eine viel kleinere Menge an Kalorien und Eiweiß umstellen konnte. Sein Forschungsziel waren nicht Durchschnitte oder Optima, sondern Minima, also der kleinstmögliche Bedarf zur Aufrechterhaltung körperlicher Funktionen, Arbeitsfähigkeit und Gesundheit. Neben den gesundheitlichen Gesichtspunkten bezog sich Chittenden auch auf die finanziellen Vorteile des Minimalkonsums: Wer sich nach seinen Normen des minimalen Bedarfs ernähre, müsse weniger Geld für Nahrungsmittel ausgeben und habe ausgeruhte Verdauungsorgane – also eine bessere Gesundheit. In dem Maße, wie damit Krankheitsausfälle ausblieben und mehr Arbeit geleistet werde, komme es wiederum zu größeren Geldeinnahmen. In den Diskussionen zur physiologischen Ökonomie, zum Nährgeldwert und zur Ernährungseffizienz zeichnete sich deutlich ein moralischer Diskurs über die Tugenden der Ökonomie und die Laster der Verschwendung ab. Insbesondere amerikanische Ernährungswissenschaftler und Sozialreformer drückten ihr Entsetzen über den verschwenderischen Umgang der Amerikaner mit Nahrungsmitteln aus, wurden doch Kalorien und Geld äquivalent gesetzt. Die Verschwendung, die sich in „überfütterten“ Körpern ausdrückte, zeigte sich auch im häuslichen Wirtschaften. Je mehr eingekauft wurde und auf dem Tisch kam, desto mehr schied anschließend ungenutzt aus der Haushaltsökonomie wieder aus. Atwater zufolge wurde etwa zehn Prozent der eingekauften Nahrungsmittel weggeworfen, was einen großen Verlust darstellte, wenn Geld zwar in Nahrung umgetauscht, die chemische Energie dieser Nahrung jedoch nicht wieder in Arbeit und Geld umgewandelt wurde.46 Der unverbrauchte amerikanische Ackerboden – so die Vermutung Atwaters – ermögliche reiche Ernten und die höheren Löhne und Lebensstandards sollten am Esstisch demonstriert werden. Die Vorstellung, mit Nahrungsmitteln sparsam umzugehen, war den meisten Amerikanern zuwi-

44 Aronson: „Social definitions“, S. 52. 45 Russell Henry Chittenden: Physiological Economy in Nutrition. With special reference to the minimal proteid requirements of the healthy man, New York 1904, S. 8. 46 Atwater: Methods and Results, S. 219.

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der, der Segen der Fülle schien zugleich ihr Fluch zu sein.47 Damit lag die Lösung des Armutsproblems nicht mehr in einer Erhöhung der Einkommen, sondern in der Sparsamkeit, d.h. einer Praxis von physiologischer und finanzieller Ökonomie.

Z USAMMENFASSUNG Die von Naomi Aronson und Brian Turner 1982 veröffentlichten Studien zur sozio-kulturellen Bedeutung der Ernährungswissenschaft identifizierten – mit je unterschiedlicher Perspektivierung – Ökonomie und Rationalisierung als deren wichtigste Faktoren.48 Spätere Studien wie die wegweisenden Abhandlungen von Anson Rabinbach zur Arbeitswissenschaft und von Jakob Tanner zur institutionellen Ernährung nahmen Aspekte dieser beiden Positionen auf, indem sie sozialhistorische und wissenschaftshistorische Analysen innerhalb eines losen Foucault’schen Rahmens verbanden.49 Rabinson und Tanner gelang diese Fusion, weil sie die Thermodynamik und das damit zusammenhängende wissenschaftliche und sozialhistorische Umfeld berücksichtigten. Man könnte zugespitzt formulieren: die Geschichte der Thermodynamik ist der Schlüssel zum Verständnis der Entwicklung der Ernährungswissenschaft. Die Energielehre war in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ein neues wissenschaftliches Spezialgebiet, das aus Studien zur Dampfmaschine hervorging und Anspruch auf universelle Anwendbarkeit erhob. Dass die Thermodynamik ein breites diskursives Feld eröffnete, unter dem heterogene soziale und kulturelle Anliegen subsumiert

47 Atwater: „Pecuniary Economy“, S. 144. Vgl. auch Atkinson: Suggestions, S. 18. 48 Naomi Aronson: „Nutrition as a Social Problem: A Case Study of Entrepreneurial Strategy in Science“, in: Social Problems 29 (1982), S. 474-487; Bryan Turner: „The Government of the Body: Medical Regimes and the Rationalization of Diet“, in: British Journal of Sociology 33 (1982), S. 254-269. Siehe auch die darauf folgende Debatte: Naomi Aronson: „Comment on Brian Turner’s ,Government of the Body‘“, in British Journal of Sociology 35 (1984), S. 62-65; Bryan Turner: „More on ‚The Government of the Body‘: A Reply to Naomi Aronson“, in: British Journal of Sociology 36 (1985), S. 151-154. Während Turner in Anlehnung an Foucault die medizinischen Aspekte des Regimes und die Wege des Ernährungswissens von den sozialen Eliten zur arbeitenden Bevölkerung im Übergang vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert betonte, näherte sich Aronson dem Gegenstand aus einer wissenschaftssoziologischen und sozialhistorischen Perspektive, welche die kontextuelle und institutionelle Bedingung der Ernährungswissenschaft im neunzehnten Jahrhundert stärker hervorhob. 49 Rabinbach: Human Motor; Jakob Tanner: Fabrikmahlzeit. Ernährungswissenschaft, Industriearbeit und Volksernährung in der Schweiz 1890-1950, Zürich 1999.

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werden konnten, ist mittlerweile hinreichend bekannt.50 Die bisherige Aufmerksamkeit galt vor allem der Verbindung von Ernährungswissenschaft, Industrialisierung, Rationalisierung und den zeitgenössischen Auffassungen vom arbeitenden Körper als Maschine, bzw. als Motor. Wie die präenergetische Ernährungslehre zeigt, kann dieser Zusammenhang auch ohne expliziten Rekurs auf thermodynamische Topoi erkannt werden, wobei er durch deren Integration tiefere epistemologische Nuancen bekommt. Fragen der Effizienz und Rationalisierung durchdringen die Diskurse der Organisation von Arbeitsprozessen, Wirtschaft und Körperpraktiken im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert. Die thermodynamischen Gesetze verliehen solchen Bestrebungen eine besondere Brisanz. So war das Gespenst der Entropie aus den Ernährungsdebatten nicht wegzudenken. Der Erhaltungssatz beschrieb ein Nullsummenspiel: Die Menge an Energie in der Welt bleibt gleich, ihre Form aber ändert sich und manche Formen waren erwünschter als andere. Es galt, die Bestandteile der Energiebilanz so zu beeinflussen, dass nicht nur mehr von den erwünschten Energieformen entstand, sondern dass insgesamt mehr entstand als hinein gesteckt worden war. Die Effizienz zu erhöhen, Wirtschaften und Körperpraktiken „rational“ zu betreiben, hieß einerseits innerhalb eines begrenzten Entfaltungsraums zu agieren, andererseits gegen eben diese Grenzen zu kämpfen. Ein zweiter, verwandter Punkt ist derjenige der Äquivalenz. Die Energiegesetze stellten eine Weltformel dar, der zufolge alle in der Welt stattfindenden Prozesse als Energieumwandlungen beschrieben, quantifiziert und miteinander verglichen werden konnten. Auch der arbeitende Körper wurde gemäß diesem Weltbild zu einem Kreislauf energetischer Umwandlungen und Austauschverhältnisse. Nahrungsmittel stellten sowohl eine Form der potenziellen Energie als auch eine Form des investierten Geldes dar, denn die Investition in seinen ‚Energiehaushalt‘ ermöglichte es dem Arbeiter Geld (für weitere Nahrung und Konsumgüter) zu verdienen, während seine Arbeit in Güter umgewandelt wurde, die eine weitere Transformation in Geld erlebten. Geld und Energie stellten gleichermaßen begrenzte Ressourcen und allgemeine Äquivalenzen dar, die in zahlreiche andere Formen umgewandelt werden konnten und die es galt möglichst gewinnbringend einzusetzen. Die zwei Orte der Ressourcenverteilung51 – die energetische Ökonomie und die finanziellen Ökonomie – waren nicht nur aufeinander angewiesen; sie waren aufs Innigste miteinander verwoben. Die Kalorien waren kapitalistisch.

50 Vgl. die zahlreiche Studien zitiert in: Neswald: Thermodynamik. 51 Vgl. dazu: Treitel „Food/Science“, S. 57.

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L ITERATUR Aronson, Naomi: „Social definitions of entitlement: food needs 1885-1920“, in: Media Culture Society 4 (1982), S. 51-61. Aronson, Naomi: „Nutrition as a Social Problem: A Case Study of Entrepreneurial Strategy in Science“, in: Social Problems 29 (1982), S. 474-487. Aronson, Naomi: „Comment on Brian Turner’s ‚Government of the Body‘“, in: British Journal of Sociology 35 (1984), S. 62-65. Atkinson, Edward: Suggestions for the Establishment of Food Laboratories in Connection with the Agricultural Experiment Stations of the United States (USDA Office of Experiment Stations Bulletin 17), Washington 1893. Atkinson, Edward: „The Food Question in America and Europe“, in: Century. A Popular Quarterly 33 (1886), S. 238-247. Atwater, W. O.: „How Food Nourishes the Body. The Chemistry of Food and Nutrition“, in: Century. A Popular Quarterly 34 (1887), S. 237-251. Atwater, W. O.: „American and European Dietaries and Dietary Standards“, in: Storrs Experiment Station Annual Report (1891), S. 106-161. Atwater, W. O./Woods, Charles D.: The Chemical Composition of American Food Materials (USDA Office of Experiment Stations Bulletin 28), Washington 1896. Atwater, W. O.: „The Economy of Food“, in: Storrs Experiment Station Annual Report (1892), S. 163-190. Atwater, W. O.: „Pecuniary Economy of Food“, in: Century. A Popular Quarterly 35/3 (1888), S. 437-446. Bloor, David: Knowledge and Social Imagery, London 1971. Bois-Reymond, Emil Du: Untersuchungen über thierische Elektrizität, Berlin 1848. Bowie, Hamilton C.: „Ueber den Eiweißbedarf eines mittleren Arbeiters“, in: Zeitschrift für Biologie 15 (1879), S 459-484. Caneva, Kenneth: Robert Mayer and the Conservation of Energy, Princeton 1993. Chittenden, Russell Henry: Physiological Economy in Nutrition. With special reference to the minimal proteid requirements of the healthy man, New York 1904. Danilewsky, B.: „Über die Wärmeproduction und Arbeitsleistung des Menschen“, in: Archiv für die gesammte Physiologie des Menschen und der Thiere 30 (1883), S. 175-198. Engel, Ernst: „Die Productions- und Consumtionsverhältnisse des Königreichs Sachsen“, in: Zeitschrift des statistischen Bureaus des Königlich Sächsischen Ministerium des Inneren, Nr. 8 und 9 (1857), S. 1-54. Gailus, Manfred: „Food Riots in Germany in the Late 1840s“, in: Past and Present 145 (1994), S. 157-193.

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Benedict, F.G. and Edward P. Cathcart: Muscular work. A metabolic study with special reference to the efficiency of the human body as a machine, Washington DC 1913, o.S. Abb. 2: Atwater, W.O. and C.D. Woods: The Chemical Composition of American Food Materials, Washington DC 1896, S. 34.

Theatrale Anordnungen

Immaterialität und Übertragung Das Energetische und seine Inszenierungen B ARBARA G RONAU

Der Rekurs auf das Energetische taucht in den Darstellenden Künsten seit über einhundert Jahren in verschiedenen Konstellationen auf und hat sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt und ausdifferenziert. So empfiehlt etwa Yoshi Oida Übungen zur Entwicklung „menschlicher Energie“1; glaubt Peter Brook an verbindende „energies“2 zwischen Darstellern und Publikum, sucht Eugenio Barba die schauspielerischen „energies“3 verschiedener Theaterkulturen und spricht Bernhard Schütz von der „Energie des Raumes“4, der er sich als Schauspieler zu stellen habe. Die Performancekünstlerin Marina Abramoviü behauptet gar „Energie ist das Ziel meiner Kunst“5 und in der zeitgenössischen Theaterwissenschaft läuft die Performativität einer Aufführung darauf hinaus, dass hier „Energien ausgetauscht und Transformationen erlebt“ werden. Es scheint, dass der Begriff Energie von

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5

Yoshi Oida/Lorna Marshall: Der unsichtbare Schauspieler, Berlin 2012, S. 82-88. Vgl. „Any Event Stems from Combustion: Actors, Audiences and Theatrical Energy“ Peter Brook interviewed by Jean Kalman in: New Theatre Quarterly 8 (1992), No 30, S. 107-112. Eugenio Barba: „Energy“, in: E. Barba/N. Savarese (Hg.): A Dictionary of Theatre Anthropology. The Secret Art of the Performer, London/New York 1991, S. 186-204. Interessant ist dazu die kurze Darstellung von Künstlern des Odin Theatret zum Thema „What is Energy?“ unter: http://www.you-tube.com/watch?v-=u9P1zdaC0qY (letzter Zugriff am: 01.02.2012) „Die echte Träne ist wieder in Mode“ Bernhad Schütz im Gespräch mit Stephan Müller, in: Anton Rey/Hajo Kurzenberger/Stephan Müller (Hg.): Wirkungsmaschine Schauspieler. Vom Menschendarsteller zum multifunktionalen Spielmacher, Berlin 2011, S. 53-74, hier S. 60. Marina Abramoviü im Interview mit Martina Kaden anlässlich der Verleihung des „BZ Kulturpreises“ 2012, in: BZ vom 25.01.2012, S. 26.

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großer Bedeutung für die Darstellenden Künste wurde, ohne dass klar wäre, was damit eigentlich gemeint ist. Es verwundert nicht, dass die Rede von der Energie in künstlerischen Kontexten schnell auf Definitions- und Theoretisierungsprobleme trifft, denn die bei einer Aufführung, einem Malakt oder einer Gesangsprobe beteiligten Energien können nur schwer differenziert und kaum gemessen werden. Und doch werden sie, wie der Künstler zu Recht bemerkte, von jedem Betrachter und jeder Betrachterin unmittelbar gespürt, ja er wird sogar – ob unwillkürlich oder bewusst – auf das jeweilige Energieniveau seines Gegenübers mit Aufmerksamkeit, Spannung, Unwohlsein oder Langeweile reagieren. Die Frage nach der Definition der Energie und den mit ihr verbundenen Vorstellungsbereichen und Wissensordnungen stellt eine Kernfrage der Kunst- und Kulturwissenschaften dar. Auf der einen Seite umfasst sie das Problem der Beschreibung und Analyse ästhetischer Erfahrungen, die hier vor allem Erfahrungen körperlicher Art sind. Wie lässt sich etwas versprachlichen und theoretisieren, das zwar bemerkt, aber nicht gewogen, gezählt oder fotografiert werden kann? Auf der anderen Seite verweist sie auf die technischen, habituellen und ökonomischen Parameter, die allen künstlerischen Produktionsvorgängen innewohnen. Jede Opernarie, jede Bewegungsetüde und jeder Pinselstrich bringen energetische Prozesse des Körpers zum Ausdruck. Ob die Darbietungen mit Verve oder mit Verhaltenheit, mit Dynamik oder mit ‚schicklicher Zurückhaltung‘ vor das Publikum gebracht werden, hängt von den historisch und kulturell variierenden Diskursen über die Ökonomie des Körpers ab. So werden Theorien des Energetischen auch dann mitverhandelt, wenn der Begriff in den entsprechenden Theater- oder Schauspieltheorien gar nicht explizit auftaucht; und geht umgekehrt die künstlerische Verwendung des Energiebegriffes selten mit einer definitorischen oder diskurskritischen Einbettung einher. Die begriffliche Klärung und wissensgeschichtliche Konturierung des Energetischen ist ein Desiderat zeitgenössischer Ästhetik.6

6

Aktuelle definitorische Zugänge zum Enegriebegriff in Bezug auf das Theater finden sich in: Jenny Schrödl: „Energie“, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/ Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar 2005, S. 87-90; Wolf-Dieter Ernst: „Animalische Animation. Der Diskurs der Energie und die mimische Ausdrucksbewegung bei Stanislawski und Warburg“, in: Kati Röttger/Alexander Jackob (Hg.): Theater und Bild. Inszenierungen des Sehens, Bielefeld 2009, S. 189-206; Barbara Gronau: ‚Ich ernähre mich durch Kraftvergeudung‘ – künstlerische Strategien der Verausgabung, in: Christel Weiler/Jens Roselt/Clemens Risi (Hg): Strahlkräfte. Festschrift für Erika Fischer-Lichte, Berlin 2008, S.149-164; Dee Reynolds: Rhythmic Subjects. Uses of Energy in the Dances of Mary Wigman, Martha Graham and Merce Cunningham, Hampshire 2007.

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Weil Energie ein unsichtbares Phänomen ist, geht ihre Erforschung mit einer langen Tradition theatraler Versuchsanordnungen einher, die Aufführungen zwischen Kunst und Wissenschaft erzeugen. Mit einem theaterwissenschaftlichen Zugriff ist es möglich, den szenischen Charakter – also die Mediatisierung und Ästhetisierung energetischer Prozesse – aufzudecken und als Teil des verzweigten Energiediskurses sichtbar zu machen. Ich möchte das im Folgenden an drei Beispielen zeigen, die sich an den traditionellen Beschreibungskriterien von Energie orientieren: (a) Energie als unsichtbares „Dahinter“, (b) Energie als Verbindung stiftendes „Dazwischen“ und (c) Energie als bewirkende Kraft. Im ersten Fall geht es um den Zusammenhang von Immaterialität und Wahrnehmung. In dem Maße, wie das Energetische als flüchtiger, unsichtbarer Ursprung gedacht wird, steigt die Notwendigkeit, es durch Strategien der technischen, bildlichen oder leiblichen Inszenierung evident werden zu lassen. Wie verbinden sich Kunst und Wissenschaft in der Wahrnehmbarmachung des Immateriellen? Die zweite Perspektive – auf die Energie als „Dazwischen“ – untersucht das grenzüberschreitende und transformierende Vermögen des Energetischen. Hier geht es um die Frage nach Formen, Funktionen und Metaphern der Übertragung, denn der mediale Aspekt des Energetischen ist ein wesentlicher Bezugspunkt seiner Inszenierung. Als Metapher für Vereinigung und Auflösung kommt dem Begriff Energie in einer sich stetig ausdifferenzierenden Moderne zudem eine zunehmend utopische Funktion zu. Welche Rolle spielen diese Merkmale in den Künsten? Schließlich wendet sich die dritte Perspektive der performativen Qualität energetischer Prozesse zu, also der unter dem Begriff energeia tradierten Vorstellung eines aktiven, hervorbringenden Wirkens in der Welt. Bezeichnenderweise lässt sich diese Perspektive nur als Dialektik aus Erzeugen und Verschwinden bzw. Werden und Vergehen erfassen. Gerade der Energiebegriff zeugt von der Erkenntnis um den Zusammenhang von produktiver Verwertung und unausweichlichem Verlust. Wie sind im Theater energetische und ökonomische Effekte miteinander verknüpft? Ziel der folgenden Ausführungen ist es, die zeitgenössischen Forschungen zur Energie mit einer ästhetischen theaterwissenschaftlichen Perspektive zu verbinden, die das Bewusstsein für die inszenatorische Dimension und den kulturellen Kontext des Phänomens stärkt.

W AHRNEHMUNG UND E VIDENZ : Z UR ÄSTHETIK ENERGETISCHER P HÄNOMENE Die Schwierigkeit, Energie sichtbar und messbar zu machen, hat eine lange Tradition ausgeklügelter Experimentalsysteme mit eminent theatralem Charakter hervorgebracht. Allen voran stellt die Elektrizität ein schier unendli-

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ches Spiel- und Versuchsfeld „spektakulärer Experimente“7 dar, in denen der „unsichtbare, himmlische Licht- und Feuergeist“8 mit Hilfe von Apparaten gebannt werden soll. Das Faszinosum des Energetischen in Elektrizität, Licht, Magnetismus und Gravitation besteht einerseits darin, dass hier unsichtbare Kräfte die Materie zu durchziehen scheinen und andererseits darin, dass sie ausstrahlen, d.h. Wirkungen durch den leeren Raum erzeugen.9 Luigi Galvanis zuckende Froschschenkel, mit denen er Mitte des 18. Jahrhunderts seine Idee der ‚tierischen Elektrizität‘ beweisen wollte, gehören ebenso in diese Reihe, wie Benjamin Franklins publikumswirksam vorgeführter Blitzableiter oder Michael Faradays filigrane Eisenspäne zur Sichtbarmachung von Magnetfeldern. Neben leuchtenden Apparaten, magnetischen Vakuumkugeln oder sirrenden Aufzeichnungsmaschinen wurde immer wieder auf den menschlichen Körper als Test- und Beweisstück energetischer Phänomene zurückgegriffen. So setzte der Physiker Stephen Gray 1730 in London einen an Schnüren aufgehängten achtjährigen Jungen unter Strom, um die Anziehungskraft elektrisch geladener Körper zu testen und ließ Georg Bose eine junge Frau als „elektrische Venus“ auftreten, die jeden Berührungs- oder Kussversuch ihrer Verehrer mit kräftigen Stromschlägen beantwortete.10 Dass der menschliche Körper ein spektakulärer Stromleiter war, zeigten auch die von Guillaume Duchenne de Boulogne unter fragwürdigen Bedingungen unternommenen Versuche der Elektropunktion, also der Reizung von Gesichtsnerven durch niedrige Ladung. Seine Studien wurden nicht nur zum Vorbild späterer Schauspielmimiken, sie wurden schon als theatrale Szenen produziert und als Postkartenmotive verbreitet.11 Die Verbindung aus Körper und technischem Apparat im Rahmen eines Aufführungssettings reicht schließlich bis in die Roboterexperimente zeitgenössischer Künstler, die wie Stelarc mit künstlichen, an die eigenen Nervenbahnen angeschlosse-

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Vgl. Helmar Schramm/Ludger Schwarte/Jan Lazardzig (Hg.): Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert, Berlin 2006. 8 Vgl. Benjamin Specht: Physik als Kunst. Die Poetisierung der Elektrizität um 1800, Berlin/New York 2010, S. 24-26. 9 Damit müssen zwei Annahmen der Mechanik verworfen werden, nämlich dass sich Kraftübertragung ausschließlich der Berührung von Objekten verdankt und dass der physikalische Raum leer ist. 10 Vgl. Arthur Elsenaar/Remko Schar: „Electric Body Manipulation as Performance Art: A Historical Perspective“, in: Leonardo Music Journal, Volume 12 (2002), S. 17-28, hier: S. 17f. 11 Die zumeist an Psychiatriepatienten vorgenommenen Elektropunktionsexperimente wurden veröffentlicht in: Guillaume Benjamin Armand Duchenne: Mécanisme de la Physionomie Humaine ou Analyse Électro-Physiologique de l’Expression des Passions, Paris 1862. Zum Verhältnis von Krankheit, Elektrizität und fotografischer Inszenierung siehe auch: Georges Didi-Huberman: Die Erfindung der Hysterie, München 1997, S. 197-258.

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nen Gliedmaßen auftreten.12 Diese spektakulären Experimente haben das Ziel, unsichtbare Kräfte und Wirkungen wahrnehmbar werden zu lassen. Der theatrale Charakter der Versuchsanordnungen dient vor allem der Evidenzerzeugung: das „Dahinterliegende“ wird durch den blinkenden Apparat oder den zuckenden Muskel nicht nur anschaulich, sondern real. Der experimentelle Gegenstand – also das Wissen um energetische Formen und Funktionen – wird durch die Ästhetisierung und Inszenierung selbst erzeugt.13 Neben diesen auf technische Dispositive ausgerichteten Aufführungsformen, finden sich seit den Neoavantgarden der 1960er und 1970er Jahre zahlreiche Künstler, für die das Energetische zum Synonym des Ereignishaften und Immateriellen in der Kunst wird. Exemplarisch zeigt sich das im Œuvre Marina Abramoviüs, die von sich selbst behauptet „Energie ist das Ziel meiner Kunst“14. Im Laufe von fünf Jahrzehnten entwickelt Abramoviü verschiedene Performanceformate, die im Zeichen einer Prozessualisierung und Entmaterialisierung künstlerischer Arbeit stehen. Während es dabei in ihren frühen Arbeiten um die Auslotung der eigenen mentalen und physischen Grenzen durch Selbstverletzungen oder Ausdauerübungen geht, erweitert sich ihr Interaktionsradius – und damit auch ihr Fokus auf das Energetische – im Lauf der Jahrzehnte auf verschiedene Partner (Tiere, Eingeborene, den Künstler Ulay) und schließlich auf das Publikum selbst. Wie viele Künstler der Neoavantgarde speist sich Abramoviüs Arbeit zunächst aus zwei Impulsen: der Rebellion gegen soziale, politische und künstlerische Grenzen und einer logozentrismuskritischen Suche nach den materiellen und spirituellen Ebenen des Lebendigen. Beide Impulse werden mit Begriffen der Energie assoziiert und in der Arbeit mit dem (eigenen) Körper verortet. So gilt das stundenlange Tanzen oder Schreien in den frühen Solo-Arbeiten der RHYTHM Serie nicht nur der Mobilisierung eigener Körperenergien, sondern auch der Rebellion gegen die Strukturen der Familie und die des jugoslawischen Kunstbetriebes15. In den Performances der 1970er und 1980er Jahre, die die Künstlerin gemeinsam mit ihrem Partner

12 Vgl. Marquard Smith (Hg.): Stelarc: the monograph, Cambridge 2005. 13 Vgl. dazu exemplarisch Olaf Breidbach: „Begriff und Praxis am Beispiel der Elektrizitäslehre um 1800“, in: Ernst Müller/Falko Schmieder (Hg.): Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften. Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte, Berlin/New York 2008, S. 345-364. 14 Marina Abramoviü im Interview mit Martina Kaden anlässlich der Verleihung des „BZ Kulturpreises“ 2012 in: BZ vom 25.01.2012, S. 26. 15 „Stadien der Energie: Performance-Kunst am Nullpunkt“ Marina Abramoviü im Interview mit Thomas McEvilley, in: Marina Abramoviü: Artist Body. Performances 1969-1997, hg. v. Toni Stooss, Mailand 1998, S. 14-27, hier: S. 15.

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Ulay aufführt, wird die Arbeit am Energetischen zur „Beziehungsarbeit“16, die als spannungsgeladene Situation zwischen den Geschlechtern inszeniert wird.17 Analog zur Elektrizität, die zwischen Plus- und Minuspol oszilliert, sind es hier der weibliche und männliche Körper, die als Antipoden einen ereignishaften Austausch garantieren sollen. Die Begegnungen reichen vom konfrontativen Schlagen und Aufeinanderprallen beider Personen bis zu deren Ineinanderschlingen durch Küssen oder dem stundenlangen Sitzen mit verknoteten Haaren. Dass hier Energien ausgetauscht werden, wird vor allem sichtbar in der Emergenz physischer Effekte wie Schwitzen, Zittern oder Taumeln. Das ästhetische Ereignis ist nicht mehr durch Sprache, ja kaum mehr durch ein Tun gekennzeichnet, sondern entsteht als Zusammentreffen zweier Körper im Zustand der Endurance – des situativen Aushaltens. Gerade die Simplizität der einzelnen Aktionen soll dem Publikum eine Sensibilisierung für das Nicht-Faktische, für die Materialität von Körpern und Stimmen bescheren.18 Abbildung 1: Marina Abramoviü and Ulay: RELATION IN TIME, Studio G7/Bologna 1977, Dauer: 17 Stunden

Quelle: © Marina Abramovic and Ulay, Courtesy Marina Abramovic and Lisson Gallery London.

16 „Relation work“ ist das Motto der Zusammenarbeit beider Künstler ab 1976 in Venedig und wird folgendermaßen skizziert: „no fixed place; permanent movement; direct contact; local relation; self-selection; passing limitations; taking risks; mobile energy...“ siehe: ebd., S. 134. 17 „Sobald wir zusammen waren, offenbarte sich meine weibliche Energie und ich fühlte, dass ich nicht länger wie ein Mann sein musste.“ Ebd.,S. 17. 18 Vgl. Erika Fischer-Lichte „Ästhetik des Performativen“, Frankfurt am Main 2004. Hier ist die Kunst Marina Abramoviüs ein zentrales und wiederholt aufgegriffenes Beispiel für die performativen Aspekte der Kunst seit den 1960er Jahren.

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Dieser repräsentationskritische Ansatz motiviert schließlich auch Abramoviüs Interesse an Schamanismus und exotischen Ritualen, dem viele Aufenthalte in China, Brasilien und Australien gelten, und aus dem Performances mit Riesenschlangen und Amethysten hervorgehen, die als lebendige bzw. dinghafte „Energiemarker“19 fungieren. Die Suche nach Naturelementen und einem prämodernen Körperwissen ist hier immer auch eine Suche nach unsichtbaren Schwingungen, die in Boden und Steinen akkumuliert sind oder von Tieren erspürt werden können.20 In dieser Phase lässt sich unterscheiden zwischen der Arbeit mit Energiemarkern – den Schlangen, die den „Energiebahnen“ des Körpers oder der Erde folgen und mit ihren Bewegungen sichtbar machen – und mit Energieakkumulatoren – den Mineralien oder blutgetränkten brasilianischen Santeria Kerzen, die Abramoviü als Objekte installiert.21 Mit der Rückkehr zu einer Kunst der Begegnung in den 2000er Jahren knüpft die Künstlerin schließlich wieder an asketische Meditationspraktiken und die Idee der Präsenz an, die bereits in den 1980er Jahren Gegenstand der mit Ulay aufgeführten Performance-Serie NIGHTSEA CROS22 SING war. Nun geht es darum, ein „Energiefeld“ zu erzeugen, das auch das Publikum umfasst: „Ich nehme sie [das Publikum] nicht mehr als einzelne Individuen wahr, sie werden mir vielmehr als ein Energiefeld bewusst. Darum kann man eigentlich nicht von einem gänzlich in sich geschlossenen System sprechen, weil diese Energie nur dann auftritt, wenn ich in Beziehung zum Publikum stehe. Sie tritt nicht auf, wenn ich allein in meinem Atelier vor mich hinarbeite. Das Publikum wird zu einem elektrischen Feld, das mich umgibt. [...] Die Sache ist die, dass der Raum aufgeladen sein muss, damit du die Vorstellung von Raum und Zeit verlierst und es Gegenwart wird, hier und jetzt [...]. Es gibt keinen Anfang und kein Ende.“23

Abramoviüs Interesse für die ephemeren und situativen Austauschprozesse zwischen Körpern ist symptomatisch für die Besinnung auf die performativen Aspekte der Kunst in der Neoavantgarde. Sie zielt nicht nur auf die Entgrenzung eines objekthaft verfassten Kunstbegriffes, sondern auch auf die Erweiterung klassischer Rezeptionsmethoden. Das Sehen und Hören soll sich auf die äußerlich kaum wahrnehmbaren materiellen und spirituellen Aspekte des Körpers und der Natur richten. Damit schließt die Künstlerin in wesentlichen Zügen an das romantische Konzept des (Künstler)Subjekts als

19 Eine Schlange „fungiert wie ein Marker für Energien, sie zeigt, wo die Energie fließt.“ Abramoviü in: The Artist Body, S. 21. 20 Vgl. die Performances THREE (Wiesbaden 1978); DRAGON HEADS (Glasgow 1990; Hamburg 1992), in: ebd., S. 326. 21 Ebd., S. 21f. 22 NIGHTSEA CROSSING Performance Serie 1981-1987, vgl. dazu: Abramoviü, The Artist Body, S. 268-305. 23 Abramoviü in: ebd. S. 18.

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Medium unsichtbarer Weltzusammenhänge an und schreibt eine Tradition fort, die ihren historischen Höhepunkt in den „Schauspiele(n) der Energie“24 um 1900 entfaltet. Die zentralen Parameter des romantischen Diskurses finden sich auch in der zeitgenössischen Variante: in der Vorstellung einer natürlich-kosmischen Kraftebene, in der Verbindung mit einem als Gegenpol assoziierten „Anderen“, im Wunsch nach Entgrenzung und in der Auseinandersetzung mit dem Immateriellen. Das Energetische läutet hier eine Kunst des „neuen Jahrhunderts“ ein, in der sich „keine Objekte mehr zwischen Künstler und Publikum drängen werden“.25

S PRINGEN , S CHWEBEN , F ÜHLEN : P HANTASIEN DER Ü BERTRAGUNG Theater ist – wie bereits Max Herrmann schrieb – durch das „Miterleben von wirklichen Körpern und wirklichem Raum“26 gekennzeichnet. Begreift man Aufführungen dementsprechend als ephemere und spannungsgeladene Prozesse zwischen Darstellern und Zuschauern, so sind die dabei entstehenden Wirkungen nicht allein intelligibler Natur. Hier werden, wie Erika Fischer-Lichte und Jens Roselt betonen, „Energien ausgetauscht, Kräfte entbunden, Aktivitäten in Gang gesetzt, Transformationen erlebt.“27 Was die Autoren summarisch als „Energieaustausch“ bezeichnen, meint wohl vor allem die mediale Seite des Theaters, also all jene Übertragungsphänomene, die sich im Laufe einer Aufführung zwischen den Beteiligten einstellen. Mit dem Energetischen richtet sich der Fokus mithin auf die Frage nach dem Anteil des Publikums am Zustandekommen des ästhetischen Ereignisses, nach seiner sinnlichen und leiblichen Wahrnehmung. Der methodische Herausforderung, solche kollektiven Livephänomene angemessen zu beschreiben, sind mit den Performativitätsforschungen der letzten Jahre durch Begriffe wie „Präsenz“ und „Atmosphäre“ neue Impulse verliehen worden.28

24 Christoph Asendorf: „Die Dynamomaschine und die ‚heilige Jungfrau‘ – Schauspiele der Energie um 1900“, in: Thomas Brandstetter/Christoph Windgätter (Hg.): Zeichen der Kraft. Wissensformationen 1800-1900, Berlin 2008, S. 27-45. 25 Abramoviü in: The Artist Body, S. 21. 26 Max Hermann: Das theatralische Raumerlebnis, 1930, zitiert nach: FischerLichte/Roselt: „Attraktion des Augenblicks. Aufführung, Performance, performativ und Performativität als theaterwissenschaftliche Begriffe“, in: Theorien des Performativen, Paragrana Bd. 10 (2001), H. 1, S. 237-254, hier: S. 240. 27 Ebd., S. 239f. 28 Vgl. etwa Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main 1995; Erika Fischer-Lichte: „Verklärung und/oder Präsenz“, in: Dieselbe/Nicola Suthor (Hg.): Verklärte Körper. Ästhetik der Transfiguration, München 2006, S.163-183; Sabine Schouten: Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und

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Auch hier schließt der zeitgenössische Diskurs in gewissem Maße an die Entwicklungen der 1960er und 1970er Jahre an, wo ein Regisseur wie Eugenio Barba das „Energieniveau“29 eines Schauspielers zu steigern sucht und Peter Brook das „Event“ zwischen Bühne und Publikum in der „explosiven“ Berührung beider Seiten verortete. Sein Vergleich mit einer elektrischen Kohle-Bogen-Lampe zitiert dabei eine moderne Version der unsichtbaren Übertragung: „What are the conditions of theatre? There are two basic elements: the audience and the actors. At the outset, these two elements are seperated. The audience represents multiple sources of energy, as many as there are spectators, but these sources are not concentrated. In itself, the audience is just like the carbon-lamp: it has no intensity, each individual’s energy is diffuse and dispersed. [....] An event will only occur if each one of these individual instruments becomes attuned. Then all you need for something to happen is for a single vibration to pass through the auditorium [...].“30

Brooks erklärtes Ziel ist das Erzeugen einer Spannung, in der alle Mitwirkenden durch einen gemeinsamen Bogenstrich „aufeinander eingestimmt“ würden. Bezeichnend an diesem Bild ist nicht nur die triadische Struktur energetischer Prozesse: zwei gegensätzliche Entitäten werden durch eine unsichtbare Verbindung in einen Austausch gebracht. Bezeichnend ist auch das Sehnsuchtsbild eines sich unter dem Eindruck unsichtbarer Kräfte formierenden Kollektivs. Das transgressive Vermögen der Energie setzt sie in den Status einer quasi magischen Macht, die in der Lage ist, die Grenzen zwischen belebten und unbelebten Körpern mühelos zu überwinden. Im Ergebnis entstehen energetische Kollektive, wie sie der Kulturwissenschaftler Martin Burckhardt beschreibt: „Lassen Sie uns ins achtzehnte Jahrhundert zurückgehen, genauer ins Jahr 1746. Es ist die Zeit der Empfindsamkeit [...]. Da steht ein Abt, der Abbé Nollet, und weist sechshundert Kartäusermönche an, in einem Kreis Aufstellung zu nehmen. Der Kreis ist riesengroß, ein paar hundert Meter im Durchmesser, jedoch können die Mönche einander noch sehen. Da jeder auf seinem Platz steht, beginnen die Mönche, schweigend, wie es ihre Ordensregel gebietet, einander mit Eisendraht zu verdrahten. Als dies geschehen ist, berührt der Abt ein Behältnis – es ist innen und außen mit Stanniol umwickelt und mit Wasser gefüllt. Ein kleiner Draht, der ausschaut wie eine

Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin 2007; Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz, Frankfurt am Main 2009. 29 Eugenio Barba: „Wiederkehrende Prinzipien“, in: Walter Pfaff/Erika Keil/Beat Schläpfer (Hg.): Der sprechende Körper. Texte zur Theateranthropologie, Berlin 1996, S. 77-98, hier: S. 90. 30 „Any Event Stems from Combustion: Actors, Audiences and Theatrical Energy“, Peter Brook interviewed by Jean Kalman in: New Theatre Quarterly 8 (1992), No 30, S. 107-112, hier: S. 108.

120 | B ARBARA GRONAU selbstgebastelte Antenne, führt ins Innere. Und in diesem Augenblick, da der Abt das Behältnis berührt, passiert etwas Merkwürdiges, etwas, das den Namen Zeitriß verdient: die sechshundert Kartäusermönche beginnen zu zucken, gleichzeitig.“31

Es handelt sich bei diesem Szenario nicht – so Burckhardt – um einen „obskuren Ritus“, sondern um eine sehr erfolgreiche wissenschaftliche Versuchsanordnung aus der „Frühzeit der Elektrizität, als es gelungen war, eine größere Ladung Strom in einem Kondensator zu speichern“.32 Diese neuartige Macht habe der Abbé Nollet kurz zuvor bereits öffentlich präsentiert, als er einhundertachtzig Soldaten vor dem König im Kreis postierte, sie einander an den Händen fassen und durch eine einzige Entladung seiner Apparatur in die Luft springen ließ. Beachtlich an der Szene ist nicht nur die theatrale Aufmachung des Experiments mit dem großen öffentlichen Platz und dem König als gottähnlichem Zuschauer, sondern vor allem die Herstellung einer gleichgeschalteten, ja ekstatisch zuckenden Masse durch Energiefluss. Energie überwindet alle Grenzen und verbindet Subjekte (Mönche, Soldaten) oder Subjekte und Objekte (Menschen und Maschinen) durch unsichtbare „Ströme und Strahlen“.33 In einer sich stetig ausdifferenzierenden Moderne wird Energie zur Metapher für Transgression, Vergemeinschaftung und Dematerialisierung. Auch das macht sie zu einer bevorzugten Referenz für utopische Kunstentwürfe.

E RZEUGEN UND V ERSCHWINDEN : Ö KONOMIE DES U NSICHTBAREN Mit der industriellen Revolution richtet sich die Aufmerksamkeit vor allem auf die Energie des Körpers selbst. Die Kraft, das „Evangelium des 19. Jahrhunderts“34 – wird zum Heilsversprechen einer auf Fortschritt und Utilitarismus ausgerichteten Moderne, in der die Analogie von „Mensch und Mo-

31 Martin Burckhardt: „Der Autor und die elektromagnetische Schrift“, in: Sybille Krämer (Hg.): Medien, Computer, Realität, FfM 1998, S.27-54, hier: S. 31f. 32 Die Unmöglichkeit den Prozess der Übertragung zu beobachten, machte die Elektrizität darüber hinaus zu einem „okkulten Stoff“, der jeden Zeitfluss zu einem instantanen Moment der reinen Gegenwart zusammen schmelzen ließ. Sie gilt dem Autor deshalb als Gründungsszene der elektromagnetischen Computerschrift. Ebd., S. 32. 33 Vgl. Christoph Asendorf: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Gießen 1989. 34 Christopf Windgätter: „Kraft-Räume. Aufstieg und Fall der Dynamometrie“, in: Thomas Brandstetter/Christoph Windgätter (Hg.): Zeichen der Kraft. Wissensformationen 1800-1900, Berlin 2008, S. 108-137, hier: S. 108.

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tor“35 Ausdruck eines allgemeinen Produktivismus ist. Der vom deutschen Chemiker Wilhelm Ostwald 1912 aufgestellte sogenannte energetischen Imperativ – „Vergeude keine Energie, verwerte sie!“ 36 – zeugt ebenso von dieser Produktionsrhetorik wie die Leninsche Pathosformel Elektrifizierung + Sowjetmacht = Kommunismus. Am Beispiel der jungen Sowjetunion lässt sich verdeutlichen, wie zeitgenössische Energievorstellungen die künstlerischen Avantgarden beeinflusst haben, denn hier wird deutlich, dass die Neukonzeption des Schauspiels auch aus den Diskursen über Arbeit, Bewegung und Rationalisierung – also der Ausnutzung und Steigerung von Energie – betrachtet werden muss. Im Dynamismus der frühen sowjetischen Industrialisierungsphase ist die amerikanische Industriegesellschaft nämlich noch nicht Feind-, sondern Vor-Bild und die Übernahme des von Frederick Winslow Taylor für die amerikanischen Ford Werke entworfenen scientific managments in den Kanon der sozialistischen Arbeitsrichtlinien soll dazu dienen, das teilweise noch feudalistisch produzierende Russland in kürzester Zeit in einen modernen Industriestaat umzubauen. Das Œuvre des Theatermachers Wsewolod Meyerhold – der seinen großen künstlerischen Aufstieg mit der Oktoberrevolution 1917 erlebt – zeigt exemplarisch für die russische Avantgarde, wie Energie, Produktion und Motorisierung zu Leitbegriffen des politischen und industriellen Fortschritts werden und wie den Künstlern nunmehr die Rolle von Konstrukteuren des ‚neuen Lebens‘ zufällt. Meyerhold entwickelt in seinem Theaterlabor eine als Biomechanik bezeichnete Technik, die verschiedene Energiediskurse seiner Zeit zur Synthese bringt. Sie umfasst Trainingsübungen und Bewegungsvorschriften für Schauspieler, die Schnelligkeit, Effizienz und Modernität garantieren sollen und der Maxime folgen: „Der Körper ist eine Maschine, der Arbeitende ist ein Maschinist.“37 In Meyerholds Konzept schlägt sich nicht nur das mechanistische Denken der Sowjetindustrie, sondern auch die medizinischen Forschungen zur Nervenenergie nieder. Ausgehend von Iwan Pawlows und Wladimir Bechterews Studien zu den bedingten Nervenreflexen38 – also die Frage, wie man einen Körper durch wiederholte Reizung konditionieren kann – dreht Meyerhold das Prinzip des psychologischen Einfühlungstheaters um. Der Darsteller soll die Figur nicht ‚von innen heraus‘ mit seinen eigenen Gefühlen und Erinnerungen beleben, sondern die Bewegungen, Worte und sogar Empfindungen der Schauspieler werden als Folge einer rein äußerlichen Nervenbehandlung gedacht: „Ein

35 Anson Rabinbach: Der menschliche Motor. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne, Wien 2001. 36 Wilhelm Ostwald: Der energetische Imperativ, Leipzig 1912, S. 85. 37 Meyerhold zitiert nach: Jörg Bochow: Das Theater Meyerholds und die Biomechanik, hg. vom Mime Centrum Berlin, Berlin 1997, S. 88. 38 Vgl. Wladimir Bechterew: Die allgemeinen Grundlagen der Reflexologie des Menschen, Leipzig/Wien 1926.

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Mann tut so, als laufe er erschrocken vor einem Hund davon. Es ist kein Hund da, aber er läuft, als ob ein Hund hinter ihm her wäre. Beim Laufen entsteht in dem Mann tatsächlich ein Angstgefühl. So ist die Natur des Reflexes. Ein Reflex erregt einen anderen.“39 Anstelle der Einfühlungstaktiken des psychologischen Realismus – Erinnern, Durcharbeiten, Wiederverkörpern – seines Lehrers Konstantin Stanislawski setzt der Theatermacher auf die energetischen Entladungen der Muskeln und Nerven. Dazu greift er auf den amerikanischen Taylorismus und die Studien des Moskauer Arbeitsinstituts zurück, in denen die Bewegungsabläufe von Handwerkern und Industriearbeitern analysiert werden.40 Sie sind das Vorbild einer neuen Theatersprache, die rhythmisch und ökonomisch sein soll. Wie beim modernen Arbeiter werden auch in der Biomechanik Sprünge, Drehungen, Gewichtsverlagerungen in Segmente unterteilt und dann mithilfe eines Rhythmus’ in ein dynamisches Bewegungskontinuum gebracht.41 So skurril dieser Ansatz anmutet, im Effekt entsteht ein Stil, den man „postdramatisch avant la lettre“ nennen könnte. Igor Iljinski, dem Star des Meyerholdtheaters, wurde von der Kritik bescheinigt: „Zeitweise hatte der Zuschauer den Eindruck, als ob der Schauspieler wirklich mit seiner Figur wie mit einem Gegenstand spielt, sie vor den Zuschauern nach allen Seiten wendet, sie buchstäblich in der Luft jongliert, auf den Boden [...] wirft, damit sie – wie ein Bumerang – erneut in die Hände ihres Schöpfers zurückkehrt.“42 Meyerholds Darsteller sind nicht was sie spielen, sondern führen dies demonstrativ vor. Die Quelle ihrer Rollenarbeit sind nicht die seelischen Regungen, sondern der Körper in Aktion. Geradezu sinnbildlich ist hier, dass jede Bewegung nicht aus einem statischen ‚Nullzustand‘, sondern aus einer bereits vorher begonnenen Geste hervorgeht, so dass jede Theateraufführung aus einem Fluss von Bewe-

39 Meyerhold: „Ideologie und Technologie im Theater“, in: Derselbe: Schriften, Band II, Berlin 1979, S. 274. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass Meyerhold keine Unterscheidungen zwischen bedingten und unbedingten Reflexen trifft. Im Hundebeispiel muss die Erfahrung „Angst vor dem Hund“ bereits gebahnt sein, um eine entsprechende emotionale Reaktion hervorzurufen. Meyerhold scheint aber zumeist auf unbedingete (angeborene) Reflexe zu rekurieren. 40 Bezeichnenderweise lautet Taylors Erkenntnis: Nicht der Stärkste schafft die höchste Norm, sondern derjenige, der überflüssige Handgriffe vermeidet, alle Bewegungen aus dem Körperschwerpunkt vollzieht und ausdauernd rhythmisch arbeitet. Vgl. Frederick Winslow Taylor: Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung, Reprint der dt. Ausgabe von 1913, hg. v. Walter Bungard/Walter Volpert, Weinheim 1995. 41 Meyerhold unterscheidet „Otkas“ (ausholende Gegenbewegung), „Posyl“ (Ausführung) und „Stoika“ (Stand), vgl. Jörg Bochow: Das Theater Meyerholds und die Biomechanik, hg. vom Mime Centrum Berlin, Berlin 1997. 42 Boris Alpers zitiert nach: Bochow: Das Theater Meyerholds und die Biomechanik, S. 170.

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gungssequenzen entsteht, bei der jede Bewegung nicht beendet, sondern nur gebremst wird. Im Gegensatz zur Pose, bei der die Bewegung auf ihrem Höhepunkt in einem Bild ‚eingefroren‘ wird, arbeiten Meyerholds Schauspieler am Umschlag in eine neue Bewegung, also an einem permanenten Progress. Das Körperbild, das in den biomechanischen Etüden aufgerufen wird, ähnelt denn auch einem Boxer oder Skiläufer: „halb Gehen, halb Laufen, immer auf Federn“43 soll der Gang des Schauspielers sein, so dass der Zuschauer immer den Eindruck einer nicht ausgenutzten (energetischen) Reserve habe. Diese Vorstellung vom Körper als perpetuum mobile korrespondiert auf signifikante Weise mit dem modernen Ideal des unendlichen Produktionsflusses. Der Schauspieler ist hier kein Erforscher der Seele, sondern ein Akrobat des Fortschritts, gesteuert durch einen rationalen Zugriff auf sich selbst und ausgestattet mit der Energie des „neuen Eilmenschen“.44 Meyerholds Energiebegriff zeigt stellvertretend für die Theateravantgarde einen materialistischen, anti-individualistischen bisweilen behavioristischen Blick auf das Subjekt. Der Mensch ist hier die Summe seiner Reflexe und Nervenentladungen. „Energie“ wird dabei nicht als Metapher für Mystisches oder Unerklärliches benutzt, sondern meint eine regulierbare Größe alles Lebendigen. Sie steht damit für ein aufklärerisches Programm der industriellen Moderne. Und schließlich bilden hier Kunst bzw. Theater kein kontemplatives Gegenmodell zur Arbeit, sondern sind selbst eine Produktionsform, die es mithilfe der Wissenschaft zu modernisieren und zu ökonomisieren gilt. Welche Veränderungen im Verhältnis von Kunst und Ökonomie in den darauf folgenden Jahrzehnten wirksam wurden, möchte ich an einem letzten Beispiel aus der zeitgenössischen Theaterpraxis erläutern. Die Frage nach der Energie ist immer eine Frage nach der Ökonomie, denn jede Verwertung energetischer Ressourcen geht zugleich mit deren Entwertung einher, so dass die Summe nutzbarer Quellen mit der Zeit abnimmt. Diese – unter dem Schlagwort „Entropie“ – bekannte Einsicht hat sowohl zu Phantasien über dem „Kältetod“ der Erde als auch zum zeitgenössischen Ruf nach Sparsamkeit und „Nachhaltigkeit“ geführt.45 In künstlerischen Produktionsprozessen zeigt sich jedoch oft das genaue Gegenteil: Prozessualität, Chaos und Verschwendung werden hier nicht als Bedrohung, sondern als integrale Bestandteile von Produktivität verstanden. Ob es sich dabei um die Arbeit an einem „energetischen Tänzerkörper“, um die Auflösung werkhafter Strukturen oder die Inszenierung von chaotischen Zufällen

43 Meyerhold zitiert nach: Bochow: Das Theater Meyerholds und die Biomechanik, S. 85. 44 Meyerhold zitiert nach: Bochow: ebd, S. 81. 45 Vgl. Elizabeth Neswald: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz. Zur Faszinationsgeschichte der Entropie 1850-1915, Freiburg 2006.

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handelt, stets eröffnet das Energetische ein Spiel mit den Grenzen von Effizienz und Kontrolle. Das zeitgenössische Theater hat ein ganzes Arsenal von Gesten entwickelt, in denen der Körper sich durch exzessive Bewegungen sichtbar energetisch verausgabt: langes, ausdauerndes Stehen ohne sich zu rühren, das Halten des Körper im Ungleichgewicht, rhythmisches Stampfen und Schreien, aber auch Rennen, Klettern, Rutschen oder Tanzen bis zur völligen Erschöpfung. Während es im sogenannten bürgerlichen Theater bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als verpönt galt, physische Anstrengung auf der Bühne sichtbar werden zu lassen, so scheint es heute darum zu gehen, dem Publikum zu zeigen, dass bei der Darstellung Energie umgewandelt, sprich: dass hier gearbeitet wird. Mit dem Verschwinden der körperlichen Arbeit in der heutigen Dienstleistungsgesellschaft wird – so meine These – die Anstrengung in den Bereich der Kunst übertragen. In der Sehnsucht nach radikaler Verausgabung liegt eine symptomatische Verschiebung der Arbeitsgeste vom Sozialen ins Ästhetische. Die Palette theatraler Verausgabungsgesten46 reicht von den kompromisslosen Selbstkasteiungen der Body Art Künstler, über die stampfenden Chöre Einar Schleefs bis hin zu den überbordenden Szenarien Christoph Schlingensiefs. Sie umfasst finanzielle, materielle und physische Formen und trägt Züge eines Prozesses, den Georges Bataille als „Schöpfung durch Verlust“47 bezeichnet hat. Zu den eindrucksvollsten Szenarien dieser Dialektik gehört die Performance OP EIGEN KRACHT (,Aus eigener Kraft‘) der niederländischen Performancegruppe Schwalbe, die 2010 Premiere hatte. In dieser – als „CO2-neutrale Aufführung“ deklarierten Performance – betreten neun Darsteller die komplett verdunkelte Bühne und ziehen sich dort bis auf ihre aus dem Second Hand erworbene Unterwäsche aus. Man hört das leise Surren von Pedalen und einen Moment später flutet gleißendes Licht aus einem starken Schweinwerfer auf die Darsteller. Acht Männer und Frauen sitzen auf Hometrainern verschiedener Größe und Bauart und strampeln in atemberaubender Weise wortlos und mit fokussiertem Blick auf das Publikum

46 So wirft etwa Christoph Schlingensief bei seiner 1999 durchgeführten Aktion RETTET DEN KAPITALISMUS, SCHMEISST DAS GELD WEG! einen Teil seines Produktionsetats in Höhe von 1000,- DM aus einem Hubschrauber über der Stadt Graz; treibt Einar Schleef im SPORTSTÜCK seinen Sprechchor in ein neunundvierzig Minuten anhaltendes rhythmisches Exerzitium der Stimmen und Körper; führt Hermann Nitsch im PRINZENDORFER 6-TAGE SPIEL Akteure und Zuschauer „zu einem orgiastischen, sado-masochistischen ausreagieren“; trinkt sich die Darstellerin Ilia Papatheodorou in She She Pops BAD vor den Augen des Publikums in einen hemmungslosen Tequila-Rausch und fahren Marina Abramoviü und Ulay in RELATION IN MOVEMENT sechzehn Stunden mit einem leeren Kleinlaster im Kreis. Woher rührt diese zeitgenössische Tendenz zur Verausgabung? 47 Georges Bataille: Die Aufhebung der Ökonomie, München 1985, S. 15.

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was ihre Beinmuskeln hergeben. Die so erzeugte Kraft fließt aus den Sportgeräten direkt in den Schweinwerfer, der die Szenerie nicht nur erleuchtet, sondern herstellt. Nach anfänglicher Belustigung des Publikums wird schnell klar, dass hier nichts weiter zu sehen ist, als die völlige kollektive Verausgabung von acht durchschnittlich trainierten Schauspielerkörpern (und einem den Scheinwerfer bedienenden Ko-Akteur). Abbildung 2: SCHWALBE SPIELT OP EIGEN KRACHT. EINE CO2 NEUTRALE VORSTELLUNG

Quelle: Lotte van den Berg/Gruppe Schwalbe, Rotterdam 2010 Foto: Stephan van Hesteren.

Je länger diese Szene anhält, desto unangenehmer wird einem jedoch die eigene Position: „Niemand steigt vom Rad. Das Tempo bleibt hoch. Aus dem gemeinsamen Warmstrampeln ist ein zäher Marathon geworden.“48 Schon zeigen die Darsteller Anzeichen nachlassender Kräfte: rotglühende Oberschenkel, große Bäche von Schweiß, nach rechts und links taumelnde Oberkörper. Hier wird sich für unser Vergnügen buchstäblich „abgestrampelt“ und das manchmal fast eine Stunde lang. Spätestens wenn der Standscheinwerfer eine Runde durch den Raum dreht und nunmehr gleißendes Licht auch auf die Zuschauer senkt, fühlt man sich selbst auf unangenehme Weise in den Fokus gerückt. Der Wegfall von Narration, Figuren, Plot usw. wirft uns auf die nackte Ebene der theatralen Ökonomie zurück: nämlich Leistung gegen Geld zu tauschen. Mit jedem Darsteller, der am Ende seiner

48 Siehe die Rezension von Boris Alexander Knop „CO2 neutral zur Erschöpfung“ unter http://www.labkultur.tv/blog/verdammter-warmstrampelmarathon-0 (letzter Zugriff am: 1.2.2012).

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Kräfte seinen Hometrainer verlässt, wird dann auch das Licht schwächer. Im quälenden Finale hält der letzte Darsteller oder die letzte Darstellerin den eigenen Körper wie einen Leuchtturm gegen die sich ausbreitende Dunkelheit – bis auch diese Energiequelle verlischt. Abbildung 3: SCHWALBE SPIELT OP EIGEN KRACHT. EINE CO2 NEUTRALE VORSTELLUNG

Quelle: Lotte van den Berg/Gruppe Schwalbe, Rotterdam 2010 Foto: Stephan van Hesteren.

Mit dem Verschwinden der körperlichen Arbeit in der heutigen Dienstleistungsgesellschaft wird – so meine These – die Anstrengung in den Bereich der Kunst übertragen. In der Sehnsucht nach radikaler Verausgabung liegt eine symptomatische Verschiebung der Arbeitsgeste vom Sozialen ins Ästhetische. Die künstlerische Funktion der Verausgabung scheint mir eine doppelte zu sein: sie kehrt die Logik des homo oeconomicus um, die auf „Knappheit, Mangel, unendliches Streben und produktive, konsumtive Arbeit“49 ausgerichtet ist, und hält ihr eine Feier des (Sich-)Verlierens und Verausgabens entgegen. Dabei wird das Theater zu einem Forschungslabor, bei dem Verlauf und Grenzen der körperlichen Leistungs- und Leidensfähigkeit untersucht, die Materialität des Körpers oder der Stimme spielerisch erprobt und die Wirkungen auf das Publikum getestet werden. Diese Energie des Theaters evoziert ästhetische Erfahrungen, die über den Körper verlaufen. Man selbst verlässt die Vorstellung der Gruppe SCHWALBE irgendwie erschöpft.

49 Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Zürich/Berlin 2004, S. 345.

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Z USAMMENFASSUNG Trotz seiner kulturellen Schlüsselstellung werden Konzept und Begriff der Energie weitgehend assoziativ gebraucht. Der Begriff hat die Funktion einer produktiven Leerstelle oder einer „epochalen Metapher“50, in der sich die verschiedenen Wissensordnungen und Vorstellungsbereiche einer bestimmten Zeit kreuzen. Energie kann sowohl unsichtbare Kräfte als auch spannungsgeladene Konstellationen oder Transformationen bezeichnen. Mit zunehmendem Gebrauch in der Moderne seit dem 18. Jahrhundert verzweigt sich das diskursive Netz. Der Begriff selbst hat jedoch eine synthetisierende Funktion: mit ihm verbindet sich die Vorstellung einer Subjekt-Objekt bzw. Subjekt-Subjekt Verbindung durch Ströme, Strahlen oder Intensitäten. Die diskutierten Beispiele zeigen, wie sich Theorien des Energetischen und künstlerische Praxis gegenseitig befruchtet haben und wie aufschlussreich es sowohl für die Wissenschaft als auch für das Theater ist, diese Verschränkungen zu analysieren und zu kontextualisieren. Im Ergebnis lassen sich drei Beobachtungen formulieren: (a) Theorien des Energetischen sind impliziter Bestandteil aller Darstellenden Künste. Ihre begriffliche Klärung und Reflexion ist jedoch ein völliges Desiderat innerhalb der Ästhetik. (b) Für die Etablierung und Verbreitung des wissenschaftlichen Energiediskurses hat das Theater eine zentrale – und bisher weitgehend unberücksichtigte – Rolle gespielt. Die Theoretisierung energetischer Phänomene gelang nur über solche Inszenierungsformen, ja bisweilen ging die künstlerische und experimentelle Praxis der Theoriebildung voraus. (c) Gerade im zeitgenössischen Theater bilden energetische Prozesse den Mittelpunkt der künstlerischen Praxis, denn sie zeigen sich im Umgang der Darsteller mit ihrem Körper sowie in der Suche nach neuen Wirkungen auf das Publikum und schließlich in der Befragung des Begriffes ‚künstlerische Arbeit‘. Über Energie zu sprechen, heißt also einen Schlüsselbegriff menschlicher Kultur ins Auge zu fassen, an dem sich entscheidende Umbrüche im Verständnis des Menschen – seines Körpers, seiner Austauschprozesse und seiner Ökonomien – ablesen lassen. Das Theater bildet hierbei einen zentralen Fokus.

50 So lautet Benjamin Spechts treffende Bezeichnung für die Elektrizität um 1800, vgl. Benjamin Specht: Physik als Kunst.

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L ITERATUR Abramoviü, Marina: Marina Abramoviü im Interview mit Martina Kaden anlässlich der Verleihung des „BZ Kulturpreises“ 2012, in: BZ vom 25.01.2012. Abramoviü, Marina: „Stadien der Energie: Performance-Kunst am Nullpunkt“ Marina Abramoviü im Interview mit Thomas McEvilley, in: Toni Stooss (Hg.): Marina Abramoviü: Artist Body, Performances 1969-1997, Mailand 1998, S. 14-27. Asendorf, Christoph: „Die Dynamomaschine und die ‚heilige Jungfrau‘ – Schauspiele der Energie um 1900“, in: Brandstetter, Thomas/Windgätter, Christoph (Hg.): Zeichen der Kraft. Wissensformationen 1800-1900, Berlin 2008, S. 27-45. Asendorf, Christoph: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Gießen 1989. Barba, Eugenio: „Energy“, in: Barba, E./Savarese, N. (Hg.): A Dictionary of Theatre Anthropology. The Secret Art of the Performer, London/New York 1991, S. 186-204. Barba, Eugenio: „Wiederkehrende Prinzipien“, in: Pfaff, Walter/Keil, Erika/Schläpfer, Beat (Hg.): Der sprechende Körper. Texte zur Theateranthropologie, Berlin 1996, S. 77-98. Bataille, Georges: Die Aufhebung der Ökonomie, München 1985. Bechterew, Wladimir: Die allgemeinen Grundlagen der Reflexologie des Menschen, Leipzig/Wien 1926. Bochow, Jörg: Das Theater Meyerholds und die Biomechanik, hg. vom Mime Centrum Berlin, Berlin 1997. Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main 1995. Breidbach, Olaf: „Begriff und Praxis am Beispiel der Elektrizitäslehre um 1800“, in: Müller, Ernst/Schmieder, Falko (Hg.): Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften. Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte, Berlin/New York 2008, S. 345-364. Brook, Peter: Peter Brook interviewed by Jean Kalman in: New Theatre Quarterly 8 (1992), No 30, S. 107-112. Burckhardt, Martin: „Der Autor und die elektromagnetische Schrift“, in: Krömer, Sybille (Hg.): Medien, Computer, Realität, Frankfurt am Main 1998, S.27-54. Didi-Huberman, Georges: Die Erfindung der Hysterie, München 1997. Duchenne, Guillaume Benjamin Armand: Mécanisme de la Physionomie Humaine ou Analyse Électro-Physiologique de l’Expression des Passions, Paris 1862. Elsenaar, Arthur/Schar, Remko: „Electric Body Manipulation as Performance Art: A Historical Perspective“, in: Leonardo Music Journal 12 (2002), S. 17-28.

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schendarsteller zum multifunktionalen Spielmacher, Berlin 2011, S. 53-74. Smith, Marquard (Hg.): Stelarc: the monograph, Cambridge 2005. Specht, Benjamin: Physik als Kunst. Die Poetisierung der Elektrizität um 1800, Berlin/New York 2010. Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Zürich/Berlin 2004. Windgätter, Christopf: „Kraft-Räume. Aufstieg und Fall der Dynamometrie“, in: Brandstetter, Thomas/Windgätter, Christoph (Hg.): Zeichen der Kraft. Wissensformationen 1800-1900, Berlin 2008, S. 108-137. Winslow Taylor, Frederick: Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung, Reprint der dt. Ausgabe von 1913, hg. v. Bungard, Walter/Volpert, Walter, Weinheim 1995.

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Marina Abramoviü and Ulay: RELATION IN TIME, Performance, 16 hours without the public, last hour of the performance with the public present. Series of photographs taken every hour. Studio G7, Bologna, Italy 1977, © Marina Abramovic and Ulay, Courtesy Marina Abramovic and Lisson Gallery London. Abb. 2.+3: Lotte van den Berg/Gruppe Schwalbe: SCHWALBE SPIELT OP EIGEN KRACHT. EINE CO2 NEUTRALE VORSTELLUNG, Rotterdam 2010, Foto: Stephan van Hesteren, mit freundlicher Genehmigung der Künstler.

Die Energie der Theaterstimme Einem Phänomen auf der Spur J ENNY S CHRÖDL

Stimmen nehmen im Gegenwartstheater einen wesentlichen Stellenwert ein – kaum eine Inszenierung kommt heute ohne die explizite Thematisierung von Stimmlichkeit aus. Das Spektrum der eingesetzten Stimmen ist dabei heterogen und divergent, es reicht von sehr leisen Tönen und Flüstern über markante Schauspielerstimmen und exaltiertes mehrstimmiges Sprechen, über wohlklingende Reden und deutlich akzentuierte Äußerungen bis hin zu elektronisch verstärkten, modifizierten oder vervielfältigten Stimmen sowie zum Schreien und verausgabten Sprechen. Innerhalb der theatralen Aufführungen erscheinen besonders solche Situationen bemerkenswert, in denen die Stimmen der Schauspieler/innen eine besondere Energie ausstrahlen und die Zuhörenden mithin massiv in den Bann ziehen. Zu denken ist beispielsweise an die markanten und gleichsam eigentümlichen Stimmen von bestimmten Schauspieler/innen oder Virtuos/innen, wie Graham Valentine, Sophie Rois oder Martin Wuttke, die stets in besonderer Weise hervorstechen und sofort die gesamte Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ebenso ist zu denken an die Schrei- und Brülltiraden, in zeitgenössischen Inszenierungen von Frank Castorf, Dimiter Gotscheff, Luk Perceval oder René Pollesch, in denen die Schauspieler/innen durch lautstarkes und körperbetontes Sprechen eine besondere Präsenz und Eindringlichkeit evozieren, welche die Zuhörenden unmittelbar einnimmt. Schließlich ist zu erinnern an chorische Stimmen, beispielsweise in Einar Schleefs Theater, in der das stark verfremdete rhythmisierte und mehrstimmige Skandieren, Schreien, Rufen und Flüstern massive Kräfte evoziert, welche die Zuhörenden auf intensive Weise leiblich-affektiv involviert. Im Mittelpunkt meines Beitrags stehen derartige Energien der Theaterstimme. Der Begriff der Energie spielt in der neueren Stimmtheorie und -forschung kaum eine Rolle, obgleich die Phänomene, die mit dem Begriff der Energie umfasst werden können – wie Intensität, Kraft, Wirksamkeit – einen zentralen Stellenwert in der aktuellen Debatte um die Stimme ein-

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nehmen. Ein Grund dafür, dass der Begriff kaum verwendet wird, liegt wohl darin, dass der Phänomenbereich bereits durch andere Begriffe besetzt ist, insbesondere durch das Konzept der „Präsenz“.1 Stärker aber als der Begriff der Präsenz vermag das Energiekonzept die Erfahrungs- und Wirkungsdimensionen von Stimmen zu umfassen, die in der Forschung bislang größtenteils vernachlässigt werden. Das Wort Energie geht zurück auf das Lateinische „energia“ und meint wirkende Kraft oder Wirksamkeit. Der Begriff spielt in den ästhetischen, kultur- und kunstwissenschaftlichen Debatten seit den 1970er Jahren wiederholt eine Rolle2, eine theoretisch-systematische Erörterung des Begriffs hat bis heute allerdings nicht stattgefunden. Dementsprechend sind die Auffassungen über Energie vielfältig und widersprüchlich; grundsätzlich wird damit eine starke Wirk- und Ausstrahlungskraft bezeichnet, etwas, das zwischen Selbst und Welt entsteht und mit intensiven Eindrücken und Empfindungen einhergeht. Das Energetische umfasst ein Feld aus Spannungen, Schwingungen, Resonanzen, Bewegungen und Empfindungen, es manifestiert sich an unterschiedlichen Materialien, Körpern oder Prozessen und entspricht einem dynamischen Prinzip, welches bewahrend, vorantreibend, lähmend oder zerstörerisch wirken kann.3 Auch in der Theaterwissenschaft – vor allem im Kontext einer Ästhetik des Performativen – wurde die Kategorie verstärkt gebraucht, wobei ihre Verwendung oftmals metaphorisch oder deskriptiv erfolgte. In diesem Sinne beschreibt etwa Freddie Rokem: „Usually, however, these concepts and in particular the notion of ‚energy‘, are employed without indexing them formally in any way; they simply appear as a central cord around which many discussions about theatre are actually organized.“4 Nach Erika Fischer-Lichte wird mit Energie ein

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Vgl. etwa: Doris Kolesch: „Ästhetik der Präsenz: Theater-Stimmen“, in: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung, Frankfurt a. M. 2001, S. 260-275; Dieter Mersch: „Präsenz und Ethizität der Stimme“, in: Doris Kolesch/Sybille Krämer (Hg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a. M. 2006, S. 211-236. Eines der einflussreichsten Konzepte von Energie innerhalb der Kunst- und Kulturwissenschaften stammt von Stephen Greenblatt, der den Terminus „soziale Energie“ im Kontext einer kulturhistorischen Studie über die englische Renaissance einführte. (Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Frankfurt a. M. 1990.) Innerhalb ästhetischer Diskurse ist vor allem das Konzept des „Energetischen“ von Jean-François Lyotard herauszustellen. (Vgl. Jean-François Lyotard: „Die Malerei als LibidoDispositiv“, in: ders.: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982, S. 45-93.) Vgl. Jenny Schrödl: „Energie“, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar 2005, S. 87-90. Freddie Rokem: „Theatrical and Transgressive Energies“, in: Assaph 15 (1999), S. 19-38, hier: S. 19.

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intensivierter Austausch- und Aushandlungsprozess zwischen Schauspieler/innen und Publikum im theatralen Geschehen beschrieben.5 Ähnlich wie Atmosphäre ist Energie ein regelrechtes Zwischenphänomen, das sich eben zwischen Wahrgenommenen und Wahrnehmenden etabliert, ohne dass die Mitwirkung von Akteur/innen und Zuschauer/innen „sich säuberlich auf disparate Faktoren wie Aktion und Passion oder Produktion und Rezeption aufteilen ließe.“6 Im Kontext von Stimmpräsentationen und -erfahrungen in Theateraufführungen lässt sich Energie auf die besondere Präsenz und Materialität der Stimme von Sprecher/innen beziehen, die eine starke leiblich-affektive Wirkung und die Erfahrung von Intensität und Ergriffenheit bei den Wahrnehmenden hervorruft. Der Begriff der Energie bezeichnet also zunächst einmal eine Steigerung im Erscheinen und Erleben von Stimmen, einen besonders hohen Grad an Aktivierung und Wirkungsstärke und verweist mithin auch auf eine Differenz zu anderen Erscheinungs- und Erfahrungssituationen von Stimmen, in denen wir sie kaum bemerken bzw. nicht bewusst als solche wahrnehmen. Was genau macht aber die Energie von Stimmen im Theater aus? Welche speziellen Eigenschaften, materiellen und medialen Bedingungen sowie (theater-)ästhetischen Funktionen kommen ihr zu? Mit welchen Mitteln werden vokale Energien in theatralen Aufführungen hergestellt und wie werden sie wahrgenommen und erfahren? Energien im Allgemeinen und Energien der Stimme im Besonderen stellen ereignishafte, wandlungsfähige und flüchtige Phänomene dar, die zwar intensiv erlebbar, aber reflexiv und sprachlich schwer fassbar und bestimmbar sind. Sie zeichnen sich regelrecht durch einen Entzug systematischer Bestimmung und Klassifikation aus, auch im Sinne eines Entzugs empirischer Bestimmbarkeit und Messbarkeit. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden auch nicht der Versuch unternommen werden, eine einheitlichgeschlossene Definition oder allgemein gültige Analysekategorien und -parameter von vokalen Energien im Theater zu entwickeln. Vielmehr geht es darum, anhand signifikanter Merkmale des Erscheinens, Wirkens und Erfahrens von Stimmen im Theater ein offenes Begriffsfeld zu schaffen, welches dem Phänomen der Energie auf die Spur zu kommen sucht.

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Vgl. Erika Fische-Lichte: „Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung“, in: dies.: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen/Basel 2001, S. 347-363, insbes. S. 353ff. Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt a. M. 1999, S. 195.

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S TIMMPRÄSENZEN : M ATERIELLE Ü BERSCHÜSSE UND SINNLICHES E RFAHREN Von zentraler Bedeutung für solche vokalen Situationen starker Energie in theatralen Aufführungen ist zunächst einmal, dass die Stimme nicht primär als Medium der (dramatischen) Sprache und Rede sowie auch nicht als Ausdrucksträger für eine darzustellende Figur eingesetzt wird. Im Gegenteil scheint es gerade darum zu gehen, durch bestimmte Artikulationsweisen eine verständliche Sprache (und die mit ihr entstehenden Bedeutungen und Sinnzusammenhänge) zu unterminieren, und damit die Darstellungsfunktion der Stimme, Medium einer psychologisch gedachten Figur zu sein, anzugreifen. Zugleich tritt damit die jeweilige Stimme als solche, ihre konkrete klangliche Erscheinung im Hier und Jetzt in den Vordergrund, welche mit einer intensiven sinnlichen Wirksamkeit einhergeht. Mit anderen Worten: Die vokale Energie resultiert in solchen Situationen nicht primär aus den semantischen und expressiven Funktionen der Stimme, sondern aus der Betonung und Hervorbringung ihrer je spezifischen sinnlich-materiellen Erscheinungen, wie anhand von zwei Aufführungssituationen exemplarisch dargestellt werden kann. Ein Beispiel dafür ist der Auftritt Valery Tscheplanowas in Dimiter Gotscheffs HAMLETMASCHINE (2007)7: In der Szene steht die Schauspielerin im gelben, ärmellosen Sommerkleid vorne rechts auf der Bühne unter einem von der Decke hängenden Mikrophon. Den Kopf in den Nacken gelegt, den Hals entblößt, stöhnt und haucht sie zunächst angestrengt mehrmals das Wort „Ich“ ins Mikrophon, bevor sie den Satz mit „war Hamlet“ abschließt und gleich im Anschluss zu einem gellenden nonverbalen Schrei anhebt. Unmittelbar anschließend brüllt Tscheplanowa den Monologteil „Ich war Hamlet“8 heraus; hastig und kraftvoll, manchmal wütend oder aufgebracht, manchmal lustvoll wirkend, schleudert sie die Worte heraus, bis sie plötzlich abbricht und ein Moment der Stille einsetzt. Kaum ist etwas Ruhe eingekehrt, da hebt die Schauspielerin zu einem erneuten Schrei an, diesmal ein hohes Kreischen wie „Iiiieeehhh“, gleich danach verfällt sie wieder in das aufgeregt dröhnende Brüllen, lautstark fliegen Fetzen des Müllerschen Textes durch den Raum. Im weiteren Verlauf der etwa zehn Minuten dauernden Situation wechseln sich nonverbaler Schrei und schnelles, lautstarkes, brüllendes Reden immer wieder ab, bis die Situation unvermittelt abbricht. Das lautstarke Brüllen, die nonverbalen eindringlichen Schreie, aber auch die Geschwindigkeit des Sprechens sowie die mit der Vokalisation einhergehenden körperliche Prozesse (wie lautstarkes Atmen, Schlucken, Heiserkeit), welche durch Mikrophon und Lautsprecher in Form einer akus7 8

HAMLETMASCHINE, Regie: Dimiter Gotscheff, Premiere am 8. September 2007 am Deutschen Theater in Berlin. Vgl. Heiner Müller: „Die Hamletmaschine“, in: Frank Hörnigk (Hg.): Heiner Müller Material. Texte und Kommentare, Leipzig 1989, S. 41-49.

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tischen Großaufnahme verstärkt hervortreten und zusätzlich eine Nähe zwischen Schauspielerin und Zuhörenden suggerieren, irritieren ein kohärentes Wahrnehmen und Verstehen des Gesprochenen. Die besondere Erscheinung der Stimme Tscheplanowas überschreitet hier wiederholt das Gesagte, wobei die gesamte Szenerie ein Verständnis der gesprochenen Worte nicht vollkommen ausschließt, so wie auch durchaus Zuschreibungen über die (emotionale) Lage der dargestellten Figur vorgenommen werden können (Wut, Raserei, Aggressivität, Lust o.ä.). Aber ebenso durchbricht die Schauspielerin mit ihrer Stimme die kohärente Darstellung der Figur Ophelia, insofern sie u.a. durch den verausgabenden und kräftezehrenden Sprechgestus immer auch auf sich als real anwesende und tätige Darstellerin verweist. Und gleichzeitig verhindert die Art und Weise der Artikulation die ausschließliche Konzentration auf das Gesprochene und lässt ihre Stimme als solche in besonderer Weise präsent und wirksam werden. So geht mich das Schreien der Akteurin unmittelbar an, ich fühle mich eingenommen, gleichsam angesprochen, ja attackiert und mitgerissen, konzentriere mich auf die ausgestoßenen Klänge und Laute, auf das immer lauter und schneller werdende Klangeschehen, auf die Kraft und Intensität, mit der sich Tscheplanowa äußert. Mithin rückt die spezifische stimmliche Artikulation in der Vordergrund, aber auch der körperlich Vollzug des Sprechakts, der sich in heftigen Atemgeräuschen und in zunehmender Heiserkeit der Stimme kundgibt. Ein anderes Beispiel für die Sinn und Inhalt störende Kraft der Stimme und zugleich ihrer Hervorhebung im Kommunikationsprozess ist der „Sieben/Acht-Chor“9 aus Schleefs EIN SPORTSTÜCK (1998).10 In dieser Szene befindet sich ein großer Chor in Reih und Glied aufgestellt auf der Bühne. Die Akteur/innen vollziehen während der gesamten dreiviertel Stunde analoge Bewegungen, die an Bewegungsabläufe aus dem Kampfsportbereich erinnern. Wesentliches Moment der Szene ist nun das enorm lautstarke, rhythmisierte und wechselhafte Geschehen durch die stimmlichen Verlautbarungen der Akteur/innen. So ist das vokale Geschehen durch hohe Lautstärke und hohe Sprechintensität geprägt, ebenso wie durch schnelle und abrupte Wechsel der Stimmen: mal ist der gesamte Chor zu hören, mal nur die Frauen oder nur die Männer und an anderen Stellen nur einzelne Gruppierungen. Darüber hinaus zeichnet sich das Sprechen des Textes durch

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Die Bezeichnung der Szene als Sieben/Acht-Chor übernehme ich von David Roesner. So Roesner: „Ich nenne diesen fast dreiviertelstündigen Chor den Sieben/Acht-Chor, weil dies die beiden Zählzeiten sind, die immer wieder laut in den rhythmisierten Text hineingerufen werden und dabei formale Geschlossenheit erzeugen sowie die Musikalisierung überhaupt explizieren.“ (David Roesner: Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Marthaler, Schleef und Wilson, Tübingen 2003, S. 193.) 10 EIN SPORTSTÜCK, Regie: Einar Schleef, Uraufführung am 23. Januar 1998 am Wiener Burgtheater.

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eine stark verfremdete, eigentümliche Rhythmik aus, die radikal gegen eine sinngemäße Textbetonung verstößt, etwa durch die gleichartige Aussprache aller Wörter in einem Satz, durch das Unterlassen von Akzentuierungen des Satzanfangs bzw. der Satzendung oder durch die untypische Betonung von ‚kleinen’ Wörtern – der Textfluss erscheint auf diese Weise abgehackt und sperrt sich einem einfach zugänglichen Verständnis, so wie sich das massive vokale Geschehen generell einem ordnenden Ein- und Überblick durch die Zuhörenden entzieht. Auch diese Äußerungen provozieren eine Ausstellung der stimmlichen Erscheinungen, der Arten und Weisen der Artikulation und damit einhergehend stark überwältigende und suggestiv wirksame Erfahrungen. Wie sich anhand dieser Beispiele zeigt, irritieren oder stören die vokalen Einsätze dezidiert eine sinn- und darstellungsbezogene Präsentation, anstelle dessen tritt die Stimme als sinnlich-materielles Phänomen in Erscheinung (ebenso wie die anwesenden Akteur/innen) und provoziert auf diese Weise starke sinnlich-affektive Wirksamkeiten. Die Energie steht in einem engen Zusammenhang mit dem sinnlich-materiellen Erscheinen der Stimme, ohne allerdings in ihm aufzugehen oder identisch mit ihm zu sein. Die Schauspieler/innen akzentuieren mit ihren lautstarken, rhythmisierten oder körperbetonten Verlautbarungen die Materialität der Stimme, provozieren eine materiell-prozessuale Überschüssigkeit, die sich – mit Mladen Dolar gesprochen – „nicht in einen Signifikanten verwandeln und in Bedeutung auflösen kann.“11 Nach Sybille Krämer verkörpert die Stimme in der „materialen Präsenz, in ihrer unwiederholbaren Einzigartigkeit im Augenblick ihrer Verlautbarung, [...] eine Sinnlichkeit, eine Intensität, sei es als Anziehung oder Abstoßung – und zwar vor aller repräsentationalen Intention, semantischer Konstruktion und semiotischer Kontrolle.“12 In Situationen, in denen stimmliche Materialität eine erhöhte Intensität und Präsenz erlangt, bildet sie einen Rest, ein Überbleibsel, welches nicht ans Verständnis der Rede oder der Stimme als Ausdruck einer Figur angepasst werden kann. Der Klanglichkeit der jeweiligen Stimme erscheinen Inhalt und Ausdruck der Rede nicht zugehörig, sie bleibt gewissermaßen übrig und ist das, was sich nicht integrieren, nicht vollständig reflexiv fassen lässt, etwas, das also die Verständnisvermittlung in Kunstprozessen und -erlebnissen unterbricht und zugleich eine intensive Wirksamkeit und ästhetische Erfahrung von Seiten der Rezipierenden ermöglicht.13

11 Mladen Dolar: His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme, Frankfurt a. M. 2007, S. 31. 12 Sybille Krämer: „Das Medium zwischen Zeichen und Spur“, in: Gisela Fährmann/Erika Linz/Cornelia Epping-Jäger (Hg.): Spuren Lektüren. Praktiken des Symbolischen, München 2002, S. 153-166, hier: S. 160. 13 Vgl. zum Konzept der Materialität der Stimme sowie zur ästhetischen Erfahrung der Stimme im postdramatischen Theater: Jenny Schrödl: Vokale Intensitäten. Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater, Bielefeld 2012.

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Die Evokation und Ausstellung der Materialität der Stimme und die Produktion einer bestimmten Energie bewirkt mithin eine Autonomisierung des Materials Stimme. Diese „verstärkte Ausstellung der Eigenwirklichkeit von Stimmen“14 gehört zu den wesentlichen ästhetischen Prinzipien und zu den zentralen Neuerungen des Umgangs mit Stimmen auf den Bühnen des experimentellen bzw. postdramatischen Theaters seit den 1970er Jahren, auch in Rekurs auf verschiedene künstlerische Auseinandersetzungen mit Stimmen in der Performancekunst und den historischen Avantgarden. Stimmen erhalten einen eigenständigen Status auf der Bühne, werden als autonome Elemente präsentiert und erfahrbar gemacht, diesseits von semantischen, exexpressiven und instrumentellen Funktionen. Das hier erwähnte körperhafte, lautstarke Schreien und Brüllen von Tscheplanowa sowie die mehrstimmigen, entgegen dem üblichen Sprachgebrauch musikalisierten Sprechweisen von Schleefs Chor sind in dem Zusammenhang als zwei exemplarische Strategien der Hervorbringung stimmlicher Materialität zu verstehen, die aber längst nicht alle inszenatorischen Verfahren der Stimmpräsentation im postdramatischen Theater abdecken. Wesentlich für ein Verständnis der ästhetischen Erfahrung von Stimmen in solchen Situationen erscheint nun, dass diese in erster Linie mit Brüchen und Störungen im Wahrnehmungs- und Verstehensgefüge einhergehen. Irritiert und gestört wird das konventionelle Zuhören, welches nach Sabine Breitsameter „auf den Logos und seinen verbürgten Zeichencharakter baut: auf Worte, Begriffe, Dramaturgien, die sich ein- und zuordnen lassen.“15 Der oder die Zuhörende gerät also in eine unsichere Lage, in einen Zwischenoder Schwellenzustand im Sinne Fischer-Lichtes16, in welchem gewohnte und konventionell übliche Vollzüge und Muster der Wahrnehmung bzw. des Hörens nicht mehr vollständig greifen. Dagegen legen die stimmlichen Erscheinungen eine andere Wahrnehmungs- und Hörweise nahe, sie provozieren also unter Umständen eine Veränderung auditiver Wahrnehmung bei den Zuhörenden, eine Art sinnliches Hören. Bei dieser Art des Wahrnehmens und Hörens von Stimmen richtet sich die Aufmerksamkeit auf das sinnliche Erscheinen der Stimme, auf die Art, wie diese in einer konkreten Situation erklingt. Im Vordergrund stehen dabei das Zusammenspiel und die Prozessualität der jeweiligen Laute, Klänge und Geräusche, das Volumen oder die räumliche Ausbreitung, die körperlichen Vorgänge sowie die Kraft und Intensität, mit der sich geäußert wird. Dieses Hören legt also die Möglichkeit einer anderen Aufmerksamkeit auf die Stimme nahe, welche wir im Allgemeinen in „unserer alltäglichen

14 Doris Kolesch: „Stimmlichkeit“, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/ Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 317-320, hier: S. 318. 15 Sabine Breitsameter: „Methoden des Zuhörens. Zur Aneignung audiomedialer Kunstformen“, in: Paragrana 16 (2007), S. 223-236, hier: S. 225. 16 Vgl. Fischer-Lichte: „Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung“, S. 347-363.

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Art zu hören, konzentriert auf Bedeutung und Information, überhören.“17 Dieses sinnliche Hören vermag ebenso ein verändertes Wahrnehmen und Erkennen des anderen Menschen zu bewirken. Der oder die Hörende versucht dabei (idealiter) nicht, das artikulierende Subjekt innerhalb von vorgängigen Bildern (wieder) zu erkennen, es auf eine bestimmte be- und anerkannte Identitätsform festzulegen, sondern bleibt vielmehr offen und variabel in seiner Erkenntnis- und Zuschreibungsfähigkeit. Theaterstimmen appellieren an ein prozessorientiertes Hören, welches den Anderen und das eigene Selbst immer wieder neu oder anders zu entdecken und zu erfahren ermöglicht. Die ästhetische Erfahrung von Stimm-Energien ist über die Aspekte der Störungen bekannter und erwartbarer Wahrnehmungsverhältnisse sowie die Veränderung der Art und Weise des Wahrnehmens hinaus dezidiert vielschichtig und komplex strukturiert, so wie sie in den verschiedenen Situationen unterschiedliche Ausformungen annimmt und jeweils abhängig ist von der besonderen psychisch-physischen Konstitution, Bildung, Offenheit etc. der wahrnehmenden Person. Ein wesentlicher Begriff für die ästhetische Erfahrung von Stimm-Energien ist nicht zuletzt der Begriff der Gegenwart bzw. Präsenz. So betont etwa Martin Seel, dass „in dieser Aufmerksamkeit für das momentane Spiel der Erscheinungen [...] ein anschauendes Bewußtsein von Gegenwart [entsteht] – ein Bewußtsein eines Hier und Jetzt, daß zugleich ein Bewusstsein meines Hier und Jetzt umfaßt.“18 Die intensive Erfahrung stimmlicher Energie geht also mit einer verstärkten Ver-Gegenwärtigung von Selbst- und Kopräsenz einher, wobei diese Gegenwart weder als Fülle der Zeit, noch als ungebrochene Einheit von Ich und Welt verstanden werden darf, sondern immer durchzogen ist, wie bereits angesprochen, von Momenten der Differenz, des Entzugs, der Störung oder des Nichtverstehens. Kurzum, Erfahrung von Präsenz geht mit der Erfahrung von Absenz einher, ja sie bedingt diese wesentlich, wie u.a. Hans-Thies Lehmann nahe legt, wenn er schreibt, dass präsentische Intensität stets erfahren wird „als Abwesenheit, Bruch und Entzug, als Verlust, Vergehen, Nichtverstehen, Mangel, Schrecken. Entzug erst mobilisiert die emotionale Intensität von Präsenz.“19 Die Erfahrung von Stimm-Energien umfasst mithin eine Dimension des Gegenwärtigen, in welcher die Erfahrenden nicht zur Ruhe kommen und in nicht in einer Einheit mit dem Erlebten aufgehen, sondern in welcher sie vielmehr in einen veränderlichen Prozess und instabilen Zustand versetzt sind, der die eigene Gegenwart und die der anderen als dynamischen, verän-

17 Gernot Böhme: „Die Stimme im leiblichen Raum“, in: Doris Kolesch/Vito Pinto/Jenny Schrödl (Hg.): Stimm-Welten, S. 23-32, hier: S. 30. 18 Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, München/Wien 2000, hier: S. 62. 19 Hans-Thies Lehmann: „Die Gegenwart des Theaters“, in: Erika FischerLichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.): Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin 1999, S. 13-26, hier: S. 13.

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derlichen und offenen Prozess erfahrbar macht. Der oder die Zuhörende erlebt somit seine oder ihre Existenz und die seines und ihres Gegenübers als instabile, flüchtige und auch verletzliche Situationen, anstelle eines stabilen, unveränderlichen Zustands.

E NERGIEERZEUGUNG : K LANGDYNAMIK , V IELSTIMMIGKEIT UND VERSTÄRKTER K ÖRPEREINSATZ Im Zusammenhang mit Energien von Stimmen im Theater stellt sich nun die Frage danach, wie, also mit welchen Mitteln, Strategien oder Prozessen derartige Kräfte der Stimme erzeugt und hervorgebracht werden. Dabei lässt sich zunächst feststellen, dass das Energetische der Stimme nicht an einen speziellen theatralen Stimmtypus gebunden ist: Wie die bereits erwähnten Beispiele aus dem Gegenwartstheater andeuten, können sowohl solistische als auch chorische Stimmen, elektronisch verstärkte ebenso wie live hervorgebrachte Stimmen eine besondere Ausstrahlungs- und Wirkkraft provozieren. Darüber hinaus scheint das Energetische von Stimmen sich auch nicht auf ein einzelnes Attribut stimmlicher Verlautbarungen reduzieren zu lassen, etwa auf die Lautstärke - die im Übrigen auch Schallenergie genannt wird. Eine auffällig erhöhte ebenso wie eine markant verminderte Lautstärke des Sprechens vermag Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, Empfindungen auszulösen und unter Umständen eine starke Wirkung mit sich zu bringen;20 auch in theatralen Aufführungen ist die Verbindung von lautstarken Stimmen, etwa in Schrei- und Brüllakten, mit energetischer Wirksamkeit vorzufinden. Gleichzeitig wäre es aber zu kurz gegriffen, das komplexe und heterogene Phänomen der Stimme, welches stets ein kaum zu differenzierendes Zusammenspiel von Lautstärke, Tonhöhe, Klangfarbe, Sprechtempo, Rhythmisierung, Melodie etc. darstellt, so wie die vokale Hervorbringung von Energie auf ein einziges akustisches Element zu reduzieren. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass sich die Energie aus einen komplexen Zusammenwirken verschiedener Elemente, Bewegungen und Prozesse ergibt, welche die beteiligten Stimmlichkeiten, Körperlichkeiten und Subjekte ebenso einschließt wie den zeitlichen Vollzug, die Dauer des Artikulationsaktes, die räumliche Ausbreitung des stimmlichen Phänomens und nicht zuletzt den institutionellen Kontext, in dem das Geschehen stattfindet. Dennoch möchte ich im Folgenden auf zwei allgemeine Aspekte der Hervorbringung stimmlicher Energie näher eingehen, die mir anhand einer Reihe von vokalen Situationen besonders auffällig erscheinen. Freilich soll damit weder behauptet werden, dass diese Aspekte die einzigen stimmenergieerzeugenden Elemente wären, noch, dass es völlig in der Hand der Ak20 Vgl. Anja Müller: Die Macht der Stimme. Die Stimme als rhetorischer Wirkungsfaktor: Zur persuasiven Funktion und Wirkung der Prosodie, Bad Iburg 1999, S. 52ff.

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teur/innen läge, ob und wie sich Energien entfalten. Künstler/innen können mit ihren stimmlichen Verlautbarungen Erscheinungen, Wirkungen und Wahrnehmungen strategisch vorbereiten und in bestimmte Bahnen lenken, dennoch können sie weder die Erscheinungen von Stimmen noch ihre sinnlich-affektiven Wirkungen vollständig festlegen oder determinieren. Sie schaffen allein ein Potenzial, einen Möglichkeitsraum für bestimmte Erfahrungen und Wirksamkeiten. Auffällig an den theatralen Stimmpräsentationen, die eine starke energetische Ausstrahlung besitzen, ist eine bestimmte Wechselhaftigkeit – energetische Stimmen lassen sich charakterisieren als in Dynamik, als in markanten Bewegungen befindliche Klangerscheinungen. So ist beispielsweise der Monolog des Darstellers Graham Valentine in Christoph Marthalers MAETERLINCK (2007)21 durch eine enorme Veränderung der stimmlichen Artikulation gekennzeichnet, durch ein wechselhaftes Klanggeschehen: Valentines Monolog ist zunächst geprägt durch den unvermittelten Wechsel zwischen verschiedenen Sprachen. Formuliert er eben noch Sätze auf Französisch, so geht er plötzlich ins Englische über, dann wiederum ins Flämische usw. Daran anschließend verfällt er unvermittelt ins Singen, wobei es sich so anhört, als singe er mit zwei Stimmen, kommt abrupt wieder ins Sprechen, ändert allerdings mehrmals die Register, spricht mal mit hoher Kopfstimme, mal mit tieferer Bauchstimme. Schließlich vollzieht sich gegen Ende der etwa zehn Minuten dauernden Situation eine weitere Veränderung der Artikulation: der Virtuose endet mit stark körperbetontem Sprechen, es werden kaum mehr Laute oder Worte hörbar, sondern vielmehr ein nonverbales Geräuscharsenal, das aus Gurgeln, Prusten, Spucken und Lallen besteht. Selbst bei expliziten Schreiakten, die dem ersten Eindruck nach ihre Wirkmacht hauptsächlich über Lautstärke und Sprechintensität zu entfalten scheinen, handelt es sich bei genauerer Betrachtung um ein dynamisches Geschehen. So unterliegt etwa die primäre Schrei- bzw. Brüllarie des Schauspielers Jorres Risse in Frank Castorfs HUNDE – REICHTUM IST DIE KOTZE DES GLÜCKS (2008)22 verschiedenen Transformationen. Brüllt der Schauspieler an vielen Stellen seines Monologs ohrenbetäubend laut, wird er in anderen Momenten aber auch immer wieder leiser und geht fast ins Flüstern über, um dann wieder ins Brüllen zu verfallen usw. Auch das Brüllen selbst unterliegt akustischen Veränderungen und legt verschiedene Assoziationen nahe: erscheint die sprechende bzw. dargestellte Person durch ihre stimmliche Artikulation in einem Moment wütend und empört, ist sie im

21 MAETERLINCK, Regie: Christoph Marthaler, Premiere am 14. März 2007 in NTGent Schouwburg. 22 HUNDE – REICHTUM IST DIE KOTZE DES GLÜCKS, Regie: Frank Castorf, Premiere am 13. September 2008 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin.

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nächsten Moment verzweifelt und tieftraurig, an wieder anderen Stellen wirkt sie verunsichert, ja labil und dann wieder souverän und erhaben. Diese Beispiele verdeutlichen, dass das Energie produzierende Klanggeschehen sich dezidiert durch eine Wechselhaftigkeit und Veränderlichkeit auszeichnet. Man kann in dem Zusammenhang auch von einer konstitutiven Vielstimmigkeit energetischer Stimmen sprechen. Das heißt, der Verlauf bzw. Prozess einer stimmlichen Verlautbarung umfasst mehrere, verschiedene, auch einander widersprechende Stimmlichkeiten. Es ist mithin nicht ein einzelnes hervorstechendes Merkmal der jeweiligen Stimme (eine hohe Lautstärke, eine besondere Rauheit, ein bestimmter Akzent oder eine vokale Eigentümlichkeit), welche die energetische Ausstrahlung bedingen, sondern eher der dynamische Prozess, die Abwechslung und das Ineinanderübergehen verschiedener Stimmen und akustischer Phänomene innerhalb eines artikulatorischen Aktes. Wesentlich für die Wirksamkeit ist dabei, dass sich die Veränderungen der Stimmen markant bzw. auffällig kundgeben und für die Zuhörenden überraschend, unvorhersehbar, in diesem Sinne ereignishaft erscheinen. Vielstimmigkeit meint also, auch im Sinne des musikalischen Polyphonie-Begriffs,23 einen Satz bzw. Artikulationsakt aus mehreren unterschiedlichen Stimmen, welche gleichberechtigt in- oder nacheinander existieren, ohne dass sie als homogene Einheit erscheinen oder einer Leitstimme untergeordnet werden.24 Das heißt, es geht bei der hier zur Debatte stehenden Vielstimmigkeit weder um Stimmlichkeiten, die nur punktuell eine andere Figur/Person darstellen, aber prinzipiell im Dienst einer dominierenden Führungs- oder Erzählstimme stehen. Und es geht nicht, wie Doris Kolesch in Bezug auf Antonin Artauds polyphone Exzesse herausstellt, „um psychologische Stimmen, auch nicht um gleichsam veräußerlichte innere Stimmen, noch um durch einzelne Stimmen repräsentierte Charakterelemente einer Person“25. Die diversen Stimmen entwerfen vielmehr „prozessual einen jeweils neu und anders entstehenden Körper und damit verbundene Artikulationsformen und Atmosphären“26. Über die dynamische, vielstimmige Erscheinung hinaus ist für die Hervorbringung von vokaler Energie ebenfalls der körperliche Einsatz des Akteurs bzw. der Akteurin besonders markant. Denn in nahezu jeder Situation stimmlicher Energie im Theater steht diese im Zusammenhang mit einem intensiven Körpereinsatz, mit einer gesamtkörperlichen Involvierung des

23 Vgl. Alica Elscheková: Art. „Mehrstimmigkeit“, in: Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Band 5, Kassel/Stuttgart (u.a.) 1996, Sp. 1782-1790. 24 Vgl. David Roesner: Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Marthaler, Schleef und Wilson, Tübingen 2003, insbes. S. 241-250. 25 Doris Kolesch: „,Listen to the radio‘: Artauds Radio-Stimme(n)“, in: Forum Modernes Theater 14 (1999), S. 115-153, hier: S. 134. 26 Ebd.

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Schauspielers bzw. der Schauspielerin bei der stimmlichen Artikulation. Dies kann die Hörbarmachung von Körperinnenräumen oder das Ausstellen körperlicher Geräusche, wie bei Valentines Auftritt, beinhalten; es kann auch – wie beim Sieben/Acht-Chor in Schleefs SPORTSTÜCK oder Tscheplanowas Auftritt in Gotscheffs HAMLETMASCHINE – die Hörbarkeit des erschöpften oder schmerzenden Körpers umfassen. Generell nimmt die Ausstellung körperlicher Prozesse, insbesondere der verausgabten, schmerzenden oder verletzten Klangkörpers einen zentralen Stellenwert im postdramatischen Theater ein, womit einerseits in körperliche Grenzbereiche hineinagiert und eine Widerständigkeit des Körpers vorgeführt wird. Andererseits kann die extreme Auseinandersetzung mit Stimme und Körper zu einer Ausweitung, Überschreitung und Transformation persönlicher und/oder soziokultureller Grenzen führen, wobei die energetische Zirkulation im theatralen Raum eine entscheidende Rolle einnehmen kann, wie etwa Helge Meyer in Bezug auf die Performancekünstlerin Marina Abramovic nahe legt. Er konstatiert, dass für die Performerin „der Energiedialog mit dem Publikum ein wichtiges Element [ist], welches sie in eine Art FlowZustand zu versetzen scheint, bei dem ihre physischen Grenzen beliebig erweiterbar scheinen.“27 Der Energiefluss, der wesentlich vom Publikum abhängt und der zwischen ihm und der Performerin zirkuliert, erscheint hier also als die Bedingung der Möglichkeit, Schmerz- und physisch-psychische Leistungsgrenzen zu transformieren und sich über sie hinwegzusetzen. Schließlich umfassen diese körperlichen Ausstellungen des Schmerzes, der Verletzlichkeit und der Erschöpfung ein starkes Wirkungs- und Präsenzpotenzial. Wie Katharina Rost in Bezug auf klangliche Schmerzpräsentationen und -erfahrungen im Gegenwartstheater und in der Performancekunst herausstellt, sind es „hauptsächlich die Aspekte der Körperlichkeit, Verletzlichkeit, Gefahr und des Risikos, auf denen die starke Wirksamkeit beruht, d.h. gerade auf der Tatsache, dass bis in äußerst radikale Grenzbereiche hinein agiert wird.“28 Im Kontext der Energie erscheint überdies bemerkenswert, dass diese im Theater besonders mit Verausgabung und Erschöpfung in Zusammenhang gestellt wird, die Verschwendung und Ausschöpfung der Energie des Akteurs/der Akteurin durch die stimmliche Verlautbarung mithin das Potenzial starker Wirksamkeit und Erfahrung beim Zuhörenden ermöglicht, so wie einen intensivierten Kontakt zwischen den Beteiligen. Die Verschwendung, die Verausgabung sowie der fortschreitende Entzug und Verlust körperlicher Energien scheint gerade die erlebte Intensität sowie Gegenwärtigkeit der Situation verstärkt hervorzubringen.

27 Helge Meyer: Schmerz als Bild. Leiden und Selbstverletzung in der Performance Art, Bielefeld 2008, S. 194. 28 Katharina Rost: „Lauschangriffe. Das Leiden Anderer spüren“, in: Kolesch/ Pinto/Schrödl (Hg.): Stimm-Welten. Philosophische, medientheoretische und ästhetische Perspektiven, Bielefeld 2009, S. 171-187, hier: S. 179.

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Damit wird die Präsenz des Darstellers im Hier und Jetzt der Aufführung über die Darstellung einer Rollenidentität hinaus befördert. Wenn die Körperlichkeit des Akteurs über die stimmliche Verlautbarung hörbar wird und damit auch gewisse Erschöpfungs- und Schmerzzustände, dann verweist dies neben der möglichen Rolle, die er spielt, immer auch auf ihn selbst als einen anwesenden und tätigen Akteur. Die Art und Weise des Verlautbarens macht die Anstrengung des Schauspielens hörbar und spürbar als auch die körperliche Disziplin und Dressur, welche damit einhergeht. Postdramatisches Theater hebt mit der Ausstellung körperlicher Verletzung und Schmerz bei den Akteuren nach Lehmann den „sonst latenten Umstand ans Licht, daß Theater als körperliche Praxis nicht nur die Darstellung des Schmerzes kennt, sondern auch den Schmerz, den Körper in der Arbeit des Darstellens erfahren.“29

S TARKE G EFÜHLE

UND GEMISCHTE

E MPFINDUNGEN

In meinen vorangegangenen Überlegungen hatte ich von der ästhetischen Erfahrung energetischer Stimmen gesprochen und dabei vor allem die veränderte Wahrnehmungsweise, das sinnliche Hören hervorgehoben. Nun erscheint mir in Bezug auf die ästhetische Erfahrung von vokalen Energien in theatralen Aufführungen noch ein weiterer Aspekt von äußerster Bedeutsamkeit: die Affektivität. Das, was sich in solch intensiven vokalen Situationen in und am Zuhörenden ereignet und woran sich Energien in gewisser Weise materialisieren oder zeigen, umfasst immer auch starke Empfindungen und Gefühle. So löst beispielsweise der gehetzte, geschrieene, verausgabende Vortrag Tscheplanowas Empfindungen des Schreckens, der Verwunderung, der Faszination sowie der Gereiztheit aus; wird die affektive Wirksamkeit von Schleefs Sieben/Acht-Chor als suggestiv, hypnotischanziehend ebenso wie als verstörend und befremdend beschrieben.30 Energetische Wirksamkeit beruht ganz allgemein auf der Fähigkeit von Materialien, Körpern, Stimmen, Sprachen o.ä., heftige Empfindungen und Gefühle bei den Rezipierenden hervorzurufen, diese zu formen und zu transformieren. In diesem Sinne beschreibt beispielsweise Stephen Greenblatt Energie als die Fähigkeit „gewisser sprachlicher, auditiver oder visueller Spuren, kollektive physische und mentale Empfindungen hervorzurufen und diese zu gestalten und zu ordnen.“31 Grundsätzlich ist jede Wahrnehmung von Stimmen ein emotionaler Prozess; auf diesen engen Zusammenhang von Stimmlichkeit, Emotionalität

29 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 1999, S. 392. 30 Vgl. vor allem zu den ersten beiden Kategorien: Erika Fischer-Lichte: „Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung“, in: dies.: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, S. 355. 31 Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare, S. 15.

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und Hören hat u.a. Roland Barthes verwiesen, wenn er schreibt: „Es gibt keine menschliche Stimme auf der Welt, die nicht Objekt des Begehrens wäre – oder des Abscheus: Es gibt keine neutrale Stimme“. 32 Dass wir von Stimmen affektiv betroffen werden können, liegt nach Gernot Böhme daran, „dass wir in unserer eigenen leiblichen Präsenz im Raum durch die Stimmen, die wir hören, modifiziert werden“.33 Insofern wir leiblich in den Raum hinein spüren, tangieren uns andere Phänomene wie die Stimme und verändern unter Umständen unsere leibliche und affektive Befindlichkeit, „indem man sich eng oder weit fühlt, gedrückt oder gehoben und noch vieles mehr“.34 Mit welchen Empfindungen und Gefühlen wir auf Gehörtes (re-)agieren ist zudem kulturell und sozial konstituiert. Was wir als angenehmen oder unangenehmen Klang, als nervige oder erotisch anziehende Stimme empfinden, variiert kulturell und historisch. In Bezug auf die affektive Wirkung stimmlicher hervorgebrachter Energien ist hervorzuheben, dass es sich dabei um besonders starke affektive Betroffenheiten und Prozesse handelt – der Begriff der Energie verweist ja gerade, wie eingangs angesprochen, auf eine Heftigkeit des Erlebens und auf eine Stärke und Wucht der Wirksamkeit. Dies lässt sich einerseits anhand der jeweilig erlebten Gefühle erklären, insofern die Emotionen etwa der Begeisterung, des Schreckens oder der Angst eine je eigene Verstärkung und Intensität des Erlebens mit sich bringen. Überdies steht die besondere Stärke der affektiven Wirksamkeit m.E. aber vor allem damit im Zusammenhang, dass es bei den vokalen Situationen präziser gesagt um gemischte Empfindungen und Gefühle geht, die Überlagerung und/oder Abwechslung verschiedener, auch divergierender Emotionen innerhalb eines Erlebnisses mithin für die Intensivierung des affektiven Erlebens mit verantwortlich ist. Nach Konrad Paul Liessmann ist die Vermischung verschiedener Empfindungen innerhalb eines Erlebnisses ein wesentliches Merkmal ästhetischer bzw. künstlerisch evozierter Gefühle. Bei ästhetischen Eindrücken und Emotionen ginge es „gerade nicht um möglichst klare Eindrücke und eindeutige Gefühle [...]‚ sondern im Gegenteil darum, im Auftauchen unterschiedlicher, ja auch einander widersprechender Empfindungen eine besondere Erfahrungsqualität, eine besondere Form der Lust, die die Unlust schon in sich aufgenommen hat, zu finden.“35 Um derartige ambivalente, gemischte Empfindungen geht es nun auch in den Situationen vokaler Energie im Theater: Der vokale Einsatz Valentines in Marthalers MAETERLINCK beispielsweise vermag bei der Zuhörerin/dem Zuhörer ganz verschiedene Empfindungen und Emotionen hervorzurufen:

32 Roland Barthes: „Die Musik, die Stimme, die Sprache“, in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a. M. 1990, S. 279-285, hier: S. 280. 33 G. Böhme: „Die Stimme im leiblichen Raum“, S. 30. 34 Ebd., S. 31. 35 Konrad Paul Liessmann: Ästhetische Empfindungen. Eine Einführung, Wien 2009, S. 33.

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Das Wechseln der unterschiedlichen Sprachen kann eine Verunsicherung und empfundene Irritation mit sich bringen, der plötzliche Umschlag von Kopf- und Brustregister eine gewisse Komik und Heiterkeit und die körperlichen Klänge und Geräusche gerade zum Ende der Szene evozieren unter Umständen Gefühle der Scham und Peinlichkeit. Der oder die Zuhörende erlebt entsprechend im Prozess der Wahrnehmung von Valentines Vokalisation verschiedene Gefühle, die Lust- ebenso wie Unlustempfindungen einschließen. Auch Sophie Rois’ Stimme – etwa in Sebastian Hartmanns GESPENSTER (1999) – evoziert massive Anziehungskräfte, denen gleichzeitig Abstoßungskräfte eigen sind.36 Sie provoziert also gemischte Empfindungen wie Gefallen und gleichzeitig Missfallen, Irritation und zugleich Interesse (o.a.). Sabine Schouten bezeichnet Rois’ Stimme dementsprechend als „zugleich aufwühlend und befremdend“37. Aber woher kommt das starke Affizierungspotenzial der Stimmen? Die Bedingungen der Möglichkeit, andere Menschen in der beschriebenen Weise zu tangieren, ihre Befindlichkeiten zu modifizieren und sie in eine instabile emotionale Lage zu bringen, liegen zunächst in der angesprochenen Vielstimmigkeit der theatralen Stimmen selbst begründet. Das Affizierungspotenzial hat aber m.E. noch (mindestens) eine andere Bedingung, die ich als Hingabe an die Stimme, an ihre Setzung oder an ihr Ereignen/Erscheinen von Seiten des verlautenden Subjekts bezeichnen möchte. Generell eignet Stimmen ein singulärer Rest, der über die Verfügungsgewalt, die Könnerund Kennerschaft des verlautenden Subjekts hinausgeht. Zugleich zeichnet sie aber auch eine Beherrschung und Inszenierung durch die verlautenden Subjekte aus. Anders ausgedrückt, bei den Vokalisationen scheint das Spannungsverhältnis zwischen Kontrolle und Kontrollverlust, zwischen Tun und Lassen, zwischen Souveränität und Unterworfenheit durch die artikulierende Person eine wesentliche Rolle zu spielen. Das, was uns also an solchen Stimmen affiziert und massiv emotional tangiert, ist (neben ihrer prozessualen und vielstimmigen Erscheinung) demnach der doppelte Anspruch von Aussetzung/(Hin-)Gabe einerseits und von Kontrolle/Macht andererseits durch die sinnliche Erscheinung der Stimme.

E NERGIE -Ü BERTRAGUNG : L EIBLICHE R ESONANZEN UND T RANSFORMATIONEN Für die intensiven Situationen vokaler Präsenz und Wirksamkeit in theatralen Aufführungen ist nicht zuletzt die Übertragung von Energien besonders bemerkenswert. So kommt es immer wieder zu Momenten, in denen sich 36 GESPENSTER, Regie: Sebastian Hartmann, Premiere am 18. November 1999 in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. 37 Sabine Schouten: Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin 2007, S. 142.

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beispielsweise das gehetzte, erschöpfende und verausgabende Sprechen bzw. Verlautbaren des Akteurs bzw. der Akteurin auf die Zuhörenden überträgt: Sie fühlen sich selbst erschöpft und verausgabt, ja fühlen sogar körperlicher Erscheinungen des Gehörten, etwa in Form einer trockenen Kehle oder einer heiseren Stimme. So beschreibt etwa Clemens Risi ein derartiges Übertragungsgeschehen in Bezug auf intensive Momente in Opernaufführungen: „beim Rezipienten entsteht zuweilen das Verlangen, das gerade Erlebte nachzumachen, mitzumachen – bemerkbar etwa an körperlichen und stimmlichen Erschöpfungserscheinungen wie Atemlosigkeit oder Heiserkeit nach intensiven Erlebnissen. Es scheint, als bewirke die aktive Rezeption eine Verspannung und Anspannung gerade derjenigen Körperteile, die für die Produktion nötig wären: des Atemapparats und der Stimmlippen.“38 Die Zuhörenden passen sich also dem Energieniveau der Akteur/innen an, insofern sie ähnliche körperliche (und damit verbunden: affektive) Prozesse durchlaufen wie die, welche die stimmlich artikulierenden Akteur/innen erleben bzw. vorgeben zu erleben. Anders ausgedrückt: die starke Energie im Theaterraum entsteht gerade aus der spezifischen leiblich-affektiven Dynamik zwischen den Beteiligten und wird als intensiviertes Empfinden spürbar. Generell ist für das Hören ebenso wie für die Hervorbringung von Stimmen die leiblich-körperliche Involvierung zentral. Auditive Wahrnehmung ist ein Sinnesgeschehen, in das der gesamte Körper verwickelt ist. Wie Michel Serres anschaulich beschreibt, hören wir mit der „Haut und den Füßen. Wir hören mit dem Schädelkasten, dem Unterleib und dem Brustkorb. Wir hören mit den Muskeln, Nerven und Sehnen. Unser mit Saiten bespannter Korpus umgibt sich mit einem globalen Trommelfell.“39 Gleichfalls ist die Hervorbringung von Stimmen ein leiblich-körperlicher Prozess. An der stimmlichen Äußerung sind unterschiedliche Körperbewegungen und -organe (Atmungsorgane, Rachen- und Brustraum, Stimmlippen, Zunge, Lippen, Mund etc.) beteiligt, so wie der Stimm- bzw. Sprechakt ein gesamtkörperliches Geschehen darstellt, bei dem der Stand auf dem Boden für den Sprechenden ebenso wichtig ist wie die Körperhaltung. Neben dem biologischen Körper erklingt als Spur in der stimmlichen Artikulation auch der soziale Körper, welcher etwa Alter, Geschlecht, Gemüts- oder Gesundheitszustand der sprechenden Person vermittelt.40 Zumeist nehmen wir die körperlichen Prozesse im Sprechen sowie beim Hören allerdings nicht bewusst

38 Clemens Risi: „Die bewegende Sängerin. Zu Stimmlichen und körperlichen Austausch-Prozessen in Opernaufführungen“, in: Christa Brüstle/Albrecht Riethmüller (Hg.): Klang und Bewegung. Beiträge zu einer Grundkonstellation, Aachen 2004, S. 135-143, hier: S. 142f. 39 Michel Serres: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt a.M. 1998, S. 187. 40 Jenny Schrödl/Vito Pinto: „Körperstimme – körperlose Stimme“, in: Annette Stahmer (Hg.): The Body of the Voice/Stimmkörper, Berlin 2009, S. 89-91.

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wahr, so wie sie bis zu einem gewissen Grad nicht steuerbar und kontrollierbar sind. Außerdem unterliegen die Verlautbarungen, Öffnungen und Umrisse des Körpers verschiedenen soziokulturellen Reglementierungen, Disziplinierungen und Tabuisierungen. Für die Situationen vokaler Energie im Theater erscheint wiederum signifikant, dass die leiblich-körperliche Involvierung bewusst wahrnehmbar, erfahrbar und mithin explizit zum Thema wird. Aber vor allem die Übertragungen körperlicher Erscheinungen zwischen den Beteiligten vermag eine erhöhte Vergegenwärtigung körperlicher Prozesse und Präsenz mit sich zu bringen, sie binden das Erlebte an das „leibhafte Selbstempfinden“41 zurück. Wie lässt sich dieses Übertragungsgeschehen näher fassen und erläutern? Für derartige Übertragungsgeschehen lassen sich ganz unterschiedliche Erklärungsansätze finden: So erläutert etwa die Neurobiologie das unwillkürliche körperlich-affektive Imitieren des Gegenübers anhand sogenannter Spiegelneuronen42, während bspw. die Phänomenologie (vor allem von Hermann Schmitz) und im Anschluss an sie psychologische und ästhetische Ansätze von einem Prozess der „Einleibung“ bzw. der „leiblichen Resonanz“43 sprechen. Der Begriff der Einleibung bzw. leiblichen Resonanz meint eine „wechselseitige Verbindung oder Verschmelzung“44 verschiedener Personen im Hinblick auf ihre leibliche Verfasstheit der Enge, Weite, Spannung oder Schwellung, die über den eigenen Leib insofern hinausgehen, als das sie vom Leib einer anderen Person übernommen werden.45 Körperliche Verbindungen zwischen verschiedenen Menschen beruhen demnach auf einer Ähnlichkeit: Sie befinden sich in einer Bewegung, in denen analoge körperliche Verfasstheiten ausgetauscht und so auch wechselseitig verstärkt werden, ohne dass sie aber zu einer Einheit/Identität fusionieren. Analog zu leiblichen Regungen können auch Affekte und Gefühle durch den

41 Hermann Kappelhoff: „Die Ikone spricht”, in: Doris Kolesch/Jenny Schrödl (Hg.): Kunst-Stimmen, Berlin 2004, S. 162-177, hier: S. 165. 42 Vgl. Giacomo Rizzolatti/Corrado Sinigaglia: Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls, Frankfurt a. M. 2009. 43 Vgl. Undine Eberlein: „Leibliche Resonanz. Phänomenologische und andere Annäherungen“, in: www.sfb626.de/veranstaltungen/veranstaltungsarchiv/workshops/workshop_leibl iche_resonanz.html (letzer Zugriff am: 19.04.2009). 44 Bernd Tischer: „Einleibung und Emotion in der mündlichen Kommunikation“, in: Michael Großheim (Hg.): Wege zu einer volleren Realität. Neue Phänomenologie in der Diskussion, Berlin 1994, S. 103-118, hier: S. 105. 45 So formuliert Schmitz bezüglich der Einleibung, dass der „dialogisch-kommunikative Charakter der leiblichen Ökonomie [...] die spontane Bildung quasileiblicher Einheiten nahe[legt], die die Struktur des Leibes gemäß dem Alphabet der Leiblichkeit besitzen, aber über den eigenen Leib, den unmittelbaren Gegenstand des eigenleiblichen Spürens hinausgehen.“ (Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, S. 137.)

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Prozess der Einleibung übertragen und ausgetauscht werden. Wesentlich ist, dass dieses Resonanzgeschehen nicht (oder nicht primär) auf dem Vorgang der Einfühlung beruht, im Sinne des mentalen und imaginativen Hineinversetzens in die körperlich-affektive Situation des Akteurs bzw. der dargestellten Figur; ebenso geht es nicht um die Projektion von Emotionen auf eine andere Person, wie in der Psychoanalyse oder Psychotherapie. Sondern es geht bei diesem Mit-Empfinden oder Nach-Vollzug um den Prozess „eines ‚Energietransports‘, der sich hauptsächlich auf körperlich-leiblicher Ebene vollzieht.“46 In dem Maße, wie der Leib im phänomenologischen Sinne als prinzipiell dialogischer, mit Personen, Objekten, Erscheinungen seiner Umwelt verbundener verstanden wird, gehen auch stimmliche Verlautbarungen in das leibliche Spüren der Hörenden ein, modifizieren unter Umständen die leibliche Verfasstheit der hörenden Person und provozieren ähnliche körperliche Zustände und Auswirkungen. Schmitz spricht den sogenannten „Halbdingen“, wie der Stimme, sogar eine außerordentliche Position im Kontext der Einleibung zu. Aufgrund ihrer „kausalen Unmittelbarkeit“ seien Halbdinge „Attraktoren der Einleibung und überspannen mit ihren Bewegungssuggestionen die egozentrisch organisierten Richtungsräume.“47 Durch den räumlich-ausbreitenden Charakter von stimmlich-akustischen Phänomenen sowie durch die Eigenschaft des Ohres, nicht wie das Auge verschließbar, sondern prinzipiell offen und durchlässig zu sein, erscheinen stimmlich-akustische Phänomene besonders geeignet, wechselseitige körperliche Verbindungen oder Spannungen auszulösen. Bereits Maurice Merleau-Ponty hat auf diese Dynamik leiblicher Resonanz zwischen stimmlich artikulierender und hörender Person hingewiesen, er beschreibt: „Aber wenn ich dem Anderen, der spricht, genügend nahe bin, um seinen Atem zuhören, um sein Aufbrausen und seine Erschöpfung zu spüren, so kann ich das ungeheuerliche Entstehen seiner Lauterzeugung fast so miterleben wie mein eigenes. [Es gibt] eine Reflexivität zwischen Vorgängen der Lauterzeugung und Gehör; jene schreiben sich klanglich ein, und jeder Stimmlaut weckt ein motorisches Echo in mir.“48

Gleichfalls verweist Merleau-Ponty auf die Bedingungen dieses leiblichen Austauschs im Sinne einer besonderen Nähe, einer forcierten Eindringlichkeit und Abstandslosigkeit zwischen den Beteiligten, welche die Lauterzeu-

46 K. Rost: „Lauschangriffe“, S. 174. 47 Hermann Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, Ostfildern vor Stuttgart 1998, S. 59. 48 Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, S. 189.

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gung und die körperlichen Prozesse bei der Verlautbarung explizit hörbar macht, wie es im Theater durch lautstarkes Atmen oder Hecheln oder durch elektronisch verstärkte Sprechvorgänge innerhalb einer akustischen Großaufnahme geschieht. Das leiblich-affektive Resonanzgeschehen legt nun ein unwillkürliches Geschehen nahe, eine passive Betroffenheit der Beteiligten. Die leiblichaffektive Übertragung entsteht zwischen den Beteiligten, widerfährt diesen gewissermaßen, stößt ihnen zu, ohne ihr eigenes Zutun. Gleichzeitig ist aber auch die Aktivität der Zuhörenden wie der Sprechenden an dem energetischen Austausch- und Übertragungsprozess zu betonen. In diesem Sinne geschieht die leiblich-affektive Resonanz auch nicht einfach voraussetzungslos und automatisch; wie Undine Eberlein im Zusammenhang leiblicher Resonanz in Tanzaufführungen ausführt, bedarf es von Seiten des Publikums einer „Bereitschaft zur Offenheit und Hinwendung, der Aufmerksamkeit, des Einlassens und des ‚Mitschwingens‘ der Zuschauer“49. Die Intensität des stimmlichen Erlebens bzw. der affektiv-leiblichen Betroffenheit ist also stets mitabhängig von der physisch-psychischen Verfasstheit, Einstellung oder Haltung des Wahrnehmenden. In diesem Sinne sind die Zuhörenden stets als Ko-Produzenten zu verstehen; sie wirken am energetischen Geschehen mit, schon indem sie eine konzentrierte oder auch zerstreute Aufmerksamkeit, eine unruhige oder auch begeisterte Stimmung schaffen, die Teil der künstlerischen Situation wird. Das energetische Spannungsfeld zwischen Bühne und Publikum, der leiblich-affektive Austausch zwischen Sprechenden nimmt ganz unterschiedliche Formen an: So kann die Energie im dynamischen Geschehen bewahrend, vorantreibend, aufbauend, hemmend, lähmend oder zerstörerisch wirken. Zwei extreme Tendenzen des Energieverlaufs zwischen Bühne und Publikum lassen sich diesbezüglich unterscheiden: eine produktive, belebende Energie einerseits und eine destruktive, erschöpfende Energie andererseits. In der Inszenierung POOR THEATRE der Wooster Group (New York 2003)50 lässt sich die Energie als aufbauend und mobilisierend beschreiben. In einer Szene sind Stimmen und Laute von einem abgespielten Video zu hören, das eine Szene aus einer Inszenierung von Grotowski darstellt. Darüber sprechen die Akteur/innen der Wooster Group live, wiederholen und imitieren die Stimmen der Grotowski-Darsteller und übernehmen gleichfalls die polnische Sprache der Grotowski-Akteure. Es ergibt sich so eine Überlagerung verschiedener Stimmen, die teilweise polyphonisch anschwellen, teilweise einzeln hörbar werden, teilweise ununterscheidbar sind. Die stark mobilisierende und belebende Energie steht dabei vor allem mit den von den Stimmen ausgelösten Gefühlen des Staunens, der Euphorie und der Begeisterung im Zusammenhang, welche nach Christel Weiler ein „Ge-

49 U. Eberlein: „Leibliche Resonanz“, S. 6. 50 POOR THEATRE, Regie: Elizabeth LeCompte, Premiere am 19. November 2003 in The Performing Garage in New York.

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fühl gesteigerter Belebtheit“51 darstellen. In POOR THEATRE wirken diese affirmativen (Re-)Aktionen und Empfindungen des Publikums gleichfalls auf die Akteur/innen verstärkend zurück. Es scheint, als ginge die staunende Konzentration und positive Gestimmtheit des Publikums unmittelbar auf die Akteur/innen über, erhebe sie und sporne sie an. Gleichfalls vermag Energie als erschöpfend und kraftraubend empfunden werden, wie beispielsweise in der angesprochenen Sieben/Acht-Szene aus Schleefs SPORTSTÜCK, in dem die Stimmen der Akteur/inne zunehmend heiser werden, Einsätze werden verpasst, die Synchronizität gerät aus den Fugen. Aber nicht nur sie erscheinen erschöpft und ermüdet, sondern auch die Zuschauenden/-hörenden, die dem Geschehen beiwohnen und über Prozesse der leiblichen Resonanz die körperlichen Verausgabungen mitempfinden. Nach Fischer-Lichte wird die freigesetzte Energie, die aus den Mehrstimmigkeiten sowie aus den Erschöpfungen der Schleef’schen Akteur/innen resultiert, zum Mittel, das den Zuschauer „aus seiner Vereinzelung ‚erlösen‘ und in ein Mitglied in einer Gemeinschaft aus Akteuren und Zuschauern“52 zu verwandeln vermag. Dies verweist noch einmal auf die wesentliche theaterästhetische Funktion des Energetischen, nämlich die explizite Thematisierung und Gestaltung der leiblichen Kopräsenz von Akteur/innen und Zuschauenden/-hörenden. Und die Verwandlung des Zuhörers in eine Gemeinschaft aus Akteuren und Zuschauern benennt einen zentralen Aspekt des Energetischen: (Stimm-)Energie ist ein sich permanent transformierendes und Wandlung provozierendes Phänomen. Der Schlüsselbegriff für das Energetische scheint der der Transformation zu sein53, insofern er die komplexe Situation vokaler Energien im Theaterraum mit all den Beteiligten sowie mit den Phänomenen und Prozessen zwischen ihnen zu umfassen vermag. So betrifft die transformierende Fähigkeit von Energien nicht nur die spezifische Beziehung zwischen Sprecher/innen und Hörer/innen innerhalb theatraler Aufführungen, sondern auch das sprechende und zuhörende Subjekt sowie das stimmliche Phänomen selbst, welches durch permanente Wandlungen und Veränderungen geprägt ist.

51 Christel Weiler: „Begeisterungen. Plädoyer für eine Selbstverständlichkeit“, in: Ottmar Ette/Gertrud Lehnert (Hg.): Große Gefühle. Ein Kaleidoskop, Berlin 2007, S. 160-175, hier: S. 165. 52 Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung, S. 355. 53 Der Begriff Transformation ist auch im Kontext der ästhetischen und theaterwissenschaftlichen Debatten um Energie von zentraler Bedeutung. (Vgl. E. FischerLichte: „Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung“, S. 353; F. Rokem: „Theatrical and transgressive Energies“.)

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L ITERATUR Barthes, Roland: „Die Musik, die Stimme, die Sprache“, in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a. M. 1990, S. 279-285. Böhme, Gernot: „Die Stimme im leiblichen Raum“, in: Doris Kolesch/Vito Pinto/Jenny Schrödl (Hg.): Stimm-Welten, Bielefeld 2009, S. 23-32. Breitsameter, Sabine: „Methoden des Zuhörens. Zur Aneignung audiomedialer Kunstformen“, in: Paragrana 16 (2007), S. 223-236. Dolar, Mladen: His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme, Frankfurt am Main 2007. Eberlein, Undine: „Leibliche Resonanz. Phänomenologische und andere Annäherungen“, in: www.sfb626.de/veranstaltungen/veranstaltungsarchiv/workshops/workshop_leibliche_resonanz.html (letzer Zugriff am: 19.04.2009). Elscheková, Alica: Art. „Mehrstimmigkeit“, in: Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Band 5, Kassel/Stuttgart (u.a.) 1996, Sp. 1782-1790. Fischer-Lichte, Erika: „Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung“, in: dies.: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen/Basel 2001, S. 347-363. Greenblatt, Stephen: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Frankfurt a. M. 1990. Kappelhoff, Hermann: „Die Ikone spricht“, in: Doris Kolesch/Jenny Schrödl (Hg.): Kunst-Stimmen, Berlin 2004, S. 162-177. Kolesch, Doris: „Ästhetik der Präsenz: Theater-Stimmen“, in: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung, Frankfurt a. M. 2001, S. 260-275. Kolesch, Doris: Art. „Stimmlichkeit“, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Matthias Warstat (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 317-320. Kolesch, Doris: „,Listen to the radio‘: Artauds Radio-Stimme(n)“, in: Forum Modernes Theater 14 (1999), S. 115-153. Krämer, Sybille: „Das Medium zwischen Zeichen und Spur“, in: Gisela Fährmann/Erika Linz/Cornelia Epping-Jäger (Hg.): Spuren Lektüren. Praktiken des Symbolischen, München 2002, S. 153-166. Lehmann, Hans-Thies: „Die Gegenwart des Theaters“, in: Erika FischerLichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.): Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin 1999, S. 13-26. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 1999. Liessmann, Konrad Paul: Ästhetische Empfindungen. Eine Einführung, Wien 2009. Lyotard, Jean-François: „Die Malerei als Libido-Dispositiv“, in: derselbe: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982, S. 45-93.

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Tischer, Bernd: „Einleibung und Emotion in der mündlichen Kommunikation“, in: Michael Großheim (Hg.): Wege zu einer volleren Realität. Neue Phänomenologie in der Diskussion, Berlin 1994, S. 103-118. Waldenfels, Bernhard: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt a. M. 1999. Weiler, Christel: „Begeisterungen. Plädoyer für eine Selbstverständlichkeit“, in: Ottmar Ette/Gertrud Lehnert (Hg.): Große Gefühle. Ein Kaleidoskop, Berlin 2007, S. 160-175.

Spannung erzeugen Techniken der Energetisierung im Theater M ARION H IRTE

Was ist Energie im Theater? Wodurch drückt sie sich aus? Ist mehr Energie besser als wenig? Auch wenn man bei dem Begriff zuerst an Elektrizität und biologisch-chemische Vorgänge denkt – auch in den vermeintlich terminologisch präzisen Naturwissenschaften ist der Begriff durchaus vage. So erläuterte der Astrophysiker, Naturphilosoph und großartige Erzähler Harald Lesch von der LMU München kürzlich im Bayerischen Rundfunk dass das Phänomen schwer und deshalb nur anhand von Beispielen zu erklären sei: „etwas tue sich, käme in Bewegung, sei ein Vorgang.“ 1 Neben diesen Begriffen fielen Worte wie Reibung, Spannung und Handlung – also geläufige Ausdrücke in der Schauspiel- und Theatertheorie. Lesch erläuterte, dass Energie nicht verloren gehe, ergo auch nicht erzeugt, sondern nur umgewandelt werden könne. Diese für alles Leben so wichtige Umwandlung sei Arbeit. Er führte aus, dass es darum gehe, die Energie der Sonne (die wiederum durch Verschmelzung der Atome entsteht) für uns und unseren Planeten zu nutzen. Das Leben und die Organismen müssten diese Energie umwandeln oder in umgewandelter Form aufnehmen und speichern. Der permanente Ausgleich von aufgenommener und abgegebener Energie bedeute Leben, der Energieunterschied sein Ungleichgewicht, das ausgeglichen werden müsse, treibe voran, bedeute Handlung und Bewegung; Stillstand, Gleichgewicht nur den Tod. Damit hatte der Physiker meines Erachtens fast alles benannt, was das Thema Energie auch im Theater bzw. den Bereich des Schauspielens und seiner Ausbildung kennzeichnet. Die verwandten Ausdrücke ‚Spannung‘,

1

Vgl. die Sendung vom 18.5.2011 auf BR alpha „alpha centauri: Was ist Energie?“ http://www.br.de/fernsehen/br-alpha/sendungen/alpha-centauri/index.html (letzer Zugriff am: 01.09.2011)

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‚Reibung‘ (Konflikt), ‚Potenzial‘ und ‚Ladung‘ sowie ‚Vorgang‘, ‚Handlung‘ und ‚Arbeit‘ sind jedoch sehr viel genauer und gebräuchlicher.

E NERGIE

ALS

S PANNUNG

Wenden wir uns also zuerst der Spannung zu. Sie ist etwas, das der Schauspielschüler2 in allen Fächern, den szenischen wie technischen, als Voraussetzung erfährt und lernt. Alle Impulse des Ausdrucks, der Bewegung und Sprache lassen sich aus einer bestimmten Grundspannung heraus schneller, leichter und unmittelbarer erzeugen. Energieaufwand und -verlust wären anderweitig zu hoch und unökonomisch, um von Null auf Hundert zu kommen und wieder abzusinken. So übt und trainiert der Schauspieler sein körper-seelisches Instrumentarium als ein dauerhaft gespanntes, bei dem die optimal gestimmte Saite einen präziseren und feineren An- und Ausschlag produziert. Ob in den Grundlagen und Improvisationskursen das „Anschleichen“ (mit dem Rücken zu ihnen stehend soll der Einzelne die Anderen bei ihrer Bewegung durch schnelles Umdrehen erwischen) oder in der Sprecherziehung die Bauchdeckenspannung, immer wird der Schauspielschüler zu wacher Aufmerksamkeit und angespannter Reaktionsfähigkeit angeleitet. Er trainiert sein Wahrnehmungs- und Reaktionsvermögen auf den Anderen durch die klassische „Zug-um-Zug“ Übung, bei der ihm der Drei-Schritt „Aufnehmen, Bewerten, Reagieren“ beigebracht wird und schärft sein Körperspannungsbewusstsein durch die Techniken der Feldenkrais-Methode oder das Tai Chi. Auch im Partnerspiel, der Interaktion in der Rolle drückt der Begriff ,Spannung‘ den aufmerksamen, reaktionsbereiten Bezug auf den Partner aus, der wiederum nur durch die Grundspannung des Einzelnen hervorrufbar ist. Die Spannung zwischen den Spielpartnern ist somit an sich neutral, auch wenn der Begriff umgangssprachlich eine konflikt- oder affektbesetzte Bedeutung erfahren hat und das darstellerische Agieren auch ständig aus diesen Antriebskräften schöpft. Die sensible Apperzeption ist für alle Einflüsse empfänglich, nicht zuletzt reagieren die Schauspieler deshalb in Probensituationen auch auf „Energien“ der Beobachtenden empfindlich. Zu lernen und auszutarieren ist das richtige Maß der Spannung, eine Überangespanntheit führt zur Verkrampfung, die Unterspanntheit lässt zu langsam reagieren. Dies lässt sich auch physiologisch nachvollziehen. Der gewärmte, trainierte Muskel ist flexibel und dehnbar, nur der zu schwach trainierte ist bei zu großer Anspannung verhärtet und verkrampft und kann sich nicht mehr aus seiner Starre lösen. Das Training des physiologischen Instrumentariums verfolgt also das Ziel einer optimalen Möglichkeit zur Spannung und Entspannung aus ökonomischer Grundspannung.

2

Ich verwende im Folgenden der Einfachheit halber alle Berufsbezeichnungen im männlichen Plural als gängige Verallgemeinerung.

S PANNUNG

ERZEUGEN

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Dem Begriff der ,Spannung‘ ist die Konzentration verwandt, Unkonzentriertheit führt zu Spannungsverlust. Aber so wenig wie es möglich ist, einen Grad an Spannung und Konzentration dauerhaft zu halten, so wenig wünschenswert wäre dies. Energie wie Spannung ist nur im Kontrast, durch ihr Gegenteil erkenn- und erfahrbar. Dauernde Anspannung nivelliert sich genauso wie dauerhafte Spannungslosigkeit. Der physikalisch notwendige Spannungsabfall und sein erneuter Aufbau benötigen erstens Aktivität und treiben außerdem Veränderungen voran. Damit wären wir beim Begriff der ,Handlung‘. Die kleinste Einheit eines schauspielerischen Vorgangs auf der Bühne, die der Darsteller ausführen soll, ist die Handlung. Aristoteles definiert diesen Begriff, der seiner Ansicht nach als Voraussetzung – die Nachahmung handelnder Menschen – dem Theater zugrunde liegt, als soziale Praxis: eine Tätigkeit, die sich in Interaktion zu anderen Menschen und der Umwelt begibt. Handlung als Praxis, der eine Entscheidung vorausgehen muss.3 Das heißt, will ein Schauspieler auf der Bühne handeln, muss sich sein Tun als Reaktion auf eine ihn umgebende Situation abbilden, muss psychische Energie in den Prozess einer Entscheidung geflossen sein, bildet sein Handeln sein Verhältnis zu anderen Personen, sozialem Umfeld und einer vorhergehenden Situation ab. Auf das Gesamtgeschehen im (geschlossenen) Drama bezogen, bedeutet Handlung: „Eine breitere Geschichte wird im Moment der Krise erfasst, zur Auseinandersetzung zwischen Spiel und Gegenspiel konzentriert, zielstrebig steigend zum Höhepunkt (Kollision), dann fallend zur Katastrophe getrieben. Jedes Element der Handlung [...] ist lückenlos auf das andere abgestimmt, die Spannung des Zuschauers auf den Aus4 gang richtend.“

Diese Beschreibung Manfred Braunecks macht den energetisch-ökonomischen Aufbau einer Dramenhandlung deutlich: Hier beinhaltet der Begriff das Modell zweier gegenteiliger Antriebsfelder, deren Konflikt oder Reibung zu Steigerung der Spannung und anschließender Entladung führt. So ist auch Aristoteles’ Konzept der Katharsis im Prinzip nichts anderes als das einer energetischen Entladung. Zielführende Tätigkeit, Entscheidung im Konflikt – diese grundlegenden Elemente einer dramatischen Situation lernt der Schauspieler zu verkörpern. Dabei gilt es, die inneren Vorgänge, die inneren Konflikte und Entscheidungen sichtbar zu machen – psychische Energie in physische zu verwandeln.

3 4

Vgl. Bernd Stegemann: Lektionen 1 Dramaturgie, Berlin 2009. II. Dramaturgie der antiken Tragödie, S. 70. Manfred Brauneck, Gérard Schneilin (Hg.): Theaterlexikon 1, Reinbek bei Hamburg o.J., S. 434.

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Konstantin Stanislawski, der für die psychorealistische Schauspielkunst und ihre bis heute gültige Ausbildung so grundlegend ist wie Aristoteles für die Dramentheorie, empfahl für diese schauspielerische Aufgabe das Training von Phantasie und Konzentration, um in einer „vorgestellten Situation“ handeln zu können. Denn nichts anderes sei Schauspielen an sich, eine physische Handlung in einer vorgestellten Situation, die diese dadurch für die Spieler und Zuschauer real werden lässt. Diese geistige Energie hat der Schauspieler in der Vorbereitung der Rolle und seines Spiels aufzuwenden, damit in der sehr mechanischen Vorstellung der Stanislawskischen „Methode“ die Maschine des Schauspieler-Körpers „automatisch“ die richtigen Handlungen vollzieht und sogar die richtigen Gefühle produziert. Die Umwandlung und Aufwendung von Energie hält sich dabei sichtbar die Waage. Eine nicht gelungene, schlechte schauspielerische Szene zeichnet sich daher durch mangelnde Konzentration und Spannung sowie mangelndes präzises Vorstellungsvermögen aus. Sie haben das Spiel und damit das Handeln „allgemein“ werden, mangelndes Zusammenspiel von Körper und Geist haben das Medium „Schauspieler-Körper“ nicht ausreichend transparent werden lassen, um die inneren Vorgänge plastisch genug abzubilden. Die andere von Aristoteles benannte Aufgabe, die Darstellung einer durchgehenden Handlung für das Gesamtgeschehen, obliegt heute mehreren daran beteiligten Autoren. Liegt dem Theater eine literarische Vorlage zugrunde, ist natürlich ein Schriftsteller, doch darüber hinaus immer auch der Regisseur sowie der Darsteller/Interpret, sei er Schauspieler, Tänzer oder Musiker, beteiligt. Außerdem arbeiten bekanntlich an einer Bühnenaufführung noch weitere Personen und Gewerke mit, deren Phantasie und Vorstellungen in das Kunstwerk der Bühnenaufführung einfließen. Welche Regeln müssen nun diese Autoren beherzigen, um die Handlung spannungssteigernd dem Publikum zu vermitteln und dieses bis zur kathartischen Katastrophe zu fesseln? Aristoteles’ Wirkungspoetik gibt dafür Hinweise. Bei der geschlossenen Handlung (die heute natürlich nicht mehr als einzige Norm des Dramas zu gelten hat, aber dem Literaturtheater noch immer als Modell dient) bedarf es eines Anfangs und Abschlusses der Handlung sowie der Notwendigkeit einer inneren Abfolge – Begrenzung und Fasslichkeit waren somit lange Zeit ein wesentliches Kriterium für Wirkung und Gelingen eines Dramas. In Zeiten offener und postdramatischer Theaterformen gilt diese Regel nun nicht mehr, trotzdem gibt unter energetischen Gesichtspunkten die relative zeitliche Begrenztheit einer Aufführung (und sei sie noch so lang) eine Endlichkeit und damit das Moment zeitlicher Verdichtung vor. Darüber hinaus fordert Aristoteles von einer geschlossenen Handlung Konsequenz und Stringenz, nur das dürfe zu einer Fabel gehören, was, wenn es fehlte, diese unverständlich mache. Auch hier herrscht also wieder das energetische Gesetz der Gradlinigkeit und Verdichtung. Moderne Erzählweisen, nicht zu reden von Strichfassungen, eliminieren heute immer mehr Überflüssiges und entlarven Energie verschwendende Umwege als solche.

S PANNUNG

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Auch die Kategorien Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit der aristotelischen Erfolgspoetik sind nicht nur moralische, soziale oder historische, sie lassen sich auch in ihrer energetischen Dimension erfassen. Aristoteles bevorzugt es nämlich „wenn die Ereignisse wider Erwarten eintreten und gleichwohl folgerichtig auseinander hervorgehen.“5 Das heißt, erwünscht sind Überraschungsmomente, die sprunghaft das Spannungspotenzial ansteigen lassen, dabei den Zuschauer aber nicht durch unglaubwürdige Konstruktion vor den Kopf stoßen. Die Identifikationsmöglichkeit mit dem Helden gilt zudem bis heute als wichtiges, wenn nicht notwendiges Element der dramatischen Handlungsführung. Der „gemischte Charakter“ - der Aristoteles zufolge geeignetste Held ist dem Publikum in Auftreten und Verhalten bekannt. Dieses Maß an Vertrautheit lässt das Publikum mit Held und Geschichte mitleiden und hilft Spannungspotenziale aufzubauen. Diese permanente, von Aristoteles mit hoher Bewusstheit betonte Widersprüchlichkeit, durchzieht nun als Voraussetzung der Wirkungsabsicht alle Aspekte der Fabel und ihrer Beteiligten. Der Interesse weckende und steigernde Gegensatz, der Wechsel zwischen Bekanntem und Unbekanntem, zwischen dem Erwartbaren und Unerwarteten sollen die Charaktere wie den Handlungsverlauf kennzeichnen. Auch die Gegensatzpaare des Gezeigten und Nicht-Gezeigten, des Ausgesprochenen und Unausgesprochenen gehören sicher noch dazu. Was also inhaltlich beschreibbar ist, lässt sich auch hier wieder in den formalen energetischen Kategorien von Spannung, Entspannung, Aufbau und Entladung, Anstieg und Explosion beschreiben. Die erst durch Lessings Lektüre zu einem moralischen Ziel gewordene Katharsis ist somit zu allererst eine energetische Entladung des aufgestauten Spannungspotenzials des psychischen Apparats.

G IBT ES MEHR ODER WENIGER T HEATERÄSTHETIKEN ?

ENERGETISCHE

Betrachten wir zur Reflexion dieser Frage ein paar durch ihre Handschrift und Stilistik besonders ausgeprägte Beispiele zeitgenössischen Regietheaters: Michael Thalheimers extrem verknappte Klassikerfassungen, Christoph Marthalers verschlafen versponnene Singspiele, Sebastian Nüblings körperlich über manche Grenze getriebene Gruppen- oder Einzelchoreografien oder jüngst das high speed Stakkato der Regiearbeiten von Herbert Fritsch. In vielen von Thalheimers Klassikerinszenierungen stehen die Protagonisten in der Mitte an der Rampe und sprechen ihre Texte oft schnell nach vorne, die Körper sind zur Starre gezwungen, Berührungen verboten. So staut Thalheimer den inneren Druck, den unterdrückten Trieb oder die Wunschenergie seiner Figuren, bis er sie (fast) explodieren lässt: Körper winden sich, Texte brechen aus ihnen hervor, bis sie sich wieder fangen und 5

Aristoteles: Poetik griech.-dt., Stuttgart 1982. S. 33.

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in gemessener Starre die Szene verlassen. Ein verwandtes Verfahren der Energiestauung, Verdichtung und Entladung lässt sich auch in oft wesentlich leiseren, verträumten Inszenierungen Marthalers finden. Die große Stille seiner Arbeiten, die oft lang andauernden minimalen Vorgänge seiner Spieler brechen sich dann wieder Bahn in aggressiven Übergriffen wie bei Josef Ostendorfs Landgerichtsdirektor Speer in Horvaths KASIMIR UND KAROLINE, der das Mobiliar zerlegt oder in ebenso verbissenen wie schweißtreibenden Slapstiknummern mit zuklappenden Betten wie in STUNDE NULL ODER DIE KUNST DES SERVIERENS6. Sind nun diese langsamen, durch kollektive Schlafanfälle gekennzeichneten Slowmotion-Abende Marthalers weniger energiereich als das sich ständig in Bewegung befindliche Spiel der Nübling-Schauspieler oder die schnellsprechenden Puppenmenschen in Herbert Fritschs Kuriositätenkabinett? Selbst in der Kategorisierung in „heiße“ oder „kalte“ Inszenierungen ließen sich diese gar nicht unterscheiden. Denn der eine wie der andere arbeitet bei der Erzeugung seiner spezifischen Spielenergie mit Widerständen – psychischen oder physischen –, an denen sich seine Figuren abarbeiten und dabei Reibungshitze entstehen lassen. So lässt Sebastian Nübling z.B. in seiner Inszenierung von Marlowes EDWARD II. bei den Salzburger Festspielen (in Koproduktion mit dem Theater Basel 2004) die Spieler ständig gegen und über Eskaladierwände rennen und stürmen. Die von Muriel Gerstner gebauten Wehrzinnen sperren deren Bewohner ein und fordern zum körperlichen Sturmlauf dagegen heraus. In Nüblings Uraufführung von Händl Klaus’ Komödie DUNKEL LOCKENDE WELT (Münchner Kammerspiele 2006) tanzen und bewegen sich die beiden Hauptdarsteller Wiebke Puls und Jochen Noch fast ununterbrochen zu den leisen Rhythmen eines Bossa Nova - die gesamte Konversation ein Balztanz. Physische Leistung und ständige Bewegung - das hohe energetische Potenzial der Nüblingschen Inszenierungen ist fast immer unabweisbar und insbesondere in diesem Fall eine glückhafte Grundidee der Insze-nierung. Doch eine dauerhafte Anspannung und ständige Hochspannung können auch Leerlauf produzieren, wie sich meines Erachtens deutlich an Arbeiten wie Herbert Fritschs NORA Inszenierung (Theater Oberhausen 2010) erkennen lässt. Ähnlich verdichtet und reduziert wie in Michael Thalheimers Strichfassungen (nur vier Darsteller und eine Spieldauer von 1 Stunde 40 Minuten braucht Fritsch für seine NORA) lässt er seine grotesk geschminkten und kostümierten Figuren in puppenhafter Starre und umso rasanterem Sprechtempo ein grelles Grand Guignol aufführen, doch die ununterbrochene Anspannung dieser Spielweise nivelliert die Spannung und ermüdet den Zuschauer, der irgendwann erkennt, Entlastung und Entspannung sind in diesem Konzept nicht vorgesehen, und der deshalb innerlich „aussteigt“.

6

Deutsches Schauspielhaus in Hamburg, 1996 und 1995.

S PANNUNG

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Darstellerische Energie bzw. Energie im Theater sind also nur durch den ständigen Wechsel, durch Aufbau und Erneuerung eines Energiepotenzials erkennbar – erst der Widerstand erzeugt ein Reibungspotenzial, das zur Auseinandersetzung herausfordert.

L ITERATUR Aristoteles: Poetik, Stuttgart 1982. Brauneck, Manfred und Schneilin, Gérard (Hg.): Theaterlexikon 1, Reinbek bei Hamburg 2009. BR alpha „alpha centauri: Was ist Energie?“ http://www.br.de/fernsehen/bralpha/sendungen/alpha-centauri/index.html Stegemann, Bernd: Lektionen 1 Dramaturgie, Berlin 2009.

Induzieren Aspekte des Energiebegriffs bei Jerzy Grotowski und Thomas Richards G ABRIELE C. P FEIFFER

L EBENDE O RGANISMEN Jerzy Grotowski (1933-1999) hatte mit seinen Aufführungen AKROPOLIS, DER STANDHAFTE PRINZ UND APOKALYPSIS CUM FIGURIS in der europäischen Theaterlandschaft der 1960er Jahre für Aufsehen gesorgt.1 Sein damals publiziertes und mittlerweile viel zitiertes Buch FÜR EIN ARMES THEATER2 war zu einer Art Pflichtlektüre unter Theaterleuten avanciert. Als er den um 19 Jahre älteren polnischen Theater- und Literaturkritiker, Übersetzer und Autor Jan Kott (1914-2001) etwa 1987 in Santa Monica, Kalifornien, traf, war er bereits als innovativer Theaterregisseur aus Polen international bekannt. Kott, der mit ihm nicht nur die Gemeinsamkeit des Herkunftslands sondern auch das Interesse an Theater teilte – wenngleich aus unterschiedlichen Perspektiven – entging kaum eine Entwicklung, die Jerzy Grotowski in seiner Theaterarbeit durchlief. Über ihre Begegnung in Kalifornien schrieb Kott: „Ich traf ihn in all den Jahren immer wieder, manchmal war er dick, manchmal mager, als ob sich seine inneren Veränderungen in seiner körperlichen Erscheinung widerspiegeln würden. […] Grotowski sprach über den Voodoo-Kult aus Haiti. Über

1

AKROPOLIS (zwei Fassungen 1962, weitere 1964, 1965, 1967), DER STANDHAFPRINZ (zwei Fassungen 1965, eine weitere 1968) und APOKALYPSIS CUM FIGURIS (1969). Towards a Poor Theatre, hrsg. v. Jerzy Grotowski, Preface von Peter Brook, Holstebro 1968; Deutsch erstmals 1969: Jerzy Grotowski: Das arme Theater, Vorwort von Peter Brook, Velber 1969. Zweite deutsche Fassung: Jerzy Grotowski: Für ein Armes Theater, Zürich 1986. Seit 1994 und weitere Auflagen: Jerzy Grotowski: Für ein Armes Theater, Berlin 1994.

TE

2

164 | G ABRIELE C. PFEIFFER das Schauspielerische des Zeremoniells, das die Teilnehmer in Trance versetzt. Und auch darüber, wie ein Schauspieler den Trancezustand kontrollieren kann.“3

Grotowski hatte sich zum Zeitpunkt dieses Treffens schon längst vom sogenannten herkömmlichen Theater abgewandt, war aus der Wahrnehmung der meisten Theaterfachleute verschwunden, nur noch vereinzelt hatten sie ihn – über die Arbeitsphase seiner Theaterproduktionen hinaus – in seiner Phase des Paratheater und auf der Suche nach den Theatre of Sources begleitet, noch weniger wurde dokumentiert.4 Doch es gab auch immer wieder einige, die bei seinen exklusiven Theater-Experimenten anwesend waren, denn Grotowski lud immer wieder Expert/innen ein, mit denen er seine Arbeit nach einer Präsentation diskutierte; so etwa seinen langjährigen Freund und Kollegen Peter Brook, von dem ein Artikel bereits in der Publikation Für ein Armes Theater als Vorwort abgedruckt ist. Brook beschreibt darin das Theater von Grotowski als eindeutiges Laboratorium und bezieht sich hierbei auf das Teatr 13 RzĊdów,das Theater der 13 Reihen in Opole, in dem die oben genannten Aufführungen erprobtrden waren. Diese von Brook formulierte Charakteristik eines Laboratoriums für Grotowskis anfängliches Theaterschaffen und seine Suche blieben während all seiner Arbeitsphasen gültig. Brook ist der Meinung, dass Grotowski „die Natur des Schauspielens, seine Erscheinungsformen, seine Bedeutung, Wesen und Wissenschaft seiner geistig-körperlich-emotionalen Vorgänge so tiefgreifend und vollständig untersucht“5 wie sonst niemand. Brook weiter: „Er leitet ein Laboratorium. Er braucht Publikum nur gelegentlich, in kleiner Zahl. Er steht in einer katholischen Tradition – oder in einer antikatholischen; in diesem Falle treffen sich die beiden Extreme. Er schafft eine Form des Gottesdienstes.“6 Das, was Grotowski zu Beginn interessierte und an dem er seine Schauspieler/innen arbeiten ließ, damals allen voran Ryszard Cieslak (1937-1990), war das Zerstören von sogenannten Blockaden, und er ‚erklärt‘ in seinem Buch: „Bei der Ausbildung eines Schauspielers in unserem Theater geht es nicht darum, ihn irgend etwas zu lehren; wir arbeiten darauf hin, die Widerstände seines Organismus gegen diesen psychischen Vorgang zu eliminieren. Das Ergebnis ist ein Befreitsein vom Zeitsprung zwischen innerem Impuls und äußerer Reaktion, so daß der Impuls schon eine äußere Reaktion ist. Impuls und Aktion fallen zusammen: Der Körper verschwindet, verbrennt, und der Zuschauer sieht nur eine Reihe sichtbarer Impulse.

3 4 5 6

Jan Kott: „Grotowski oder die Grenze“, in: ders.: Das Gedächtnis des Körpers. Essays zu Theater & Literatur. Berlin 1990, S. 230-237, hier: S. 232-233. Vgl. The Grotowski Source Book, hrsg. v. Richard Schechner und Lisa Wolford, London/New York 1997. Peter Brook: „Vorwort“, in: Jerzy Grotowski: Für ein Armes Theater, Berlin 1994, S. 9-12, hier: S. 9. Ebd., S. 11.

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Unser Weg ist mithin eine via negativa – keine Ansammlung von Fertigkeiten, sondern die Zerstörung von Blockierungen.“7

Im Kern ging es bei Grotowski stets um die Freilegung von Energieflüssen im und aus dem Inneren der Schauspielenden – sei es noch bei den Inszenierungen in Opole8, bei denen ein Spannungsverhältnis zwischen den Schauspielenden und der Rolle im Mittelpunkt der schauspielerischen Tätigkeit und somit auf der Bühne stand oder sei es später wenn es nur mehr um das innere Spannungsverhältnis der Performer/innen ging. Dafür war es notwendig, andere als die herkömmlichen Spielweisen und körperlichen wie stimmlichen Trainingsmethoden zu finden und sich Anregungen aus anderen performativen Traditionen zu holen. Grotowski suchte performative Elemente und Theaterpraktiken auf seinen Reisen wie beispielsweise auch Peter Brook in Indien oder auch auf Haiti zu finden. Auf welche Praktik oder Technik auch immer er sich beruft, für Grotowski ist „der entscheidende Faktor“, „die Technik der psychischen Durchdringung: Der Schauspieler muß lernen, seine Rolle wie das Skalpell eines Chirurgen zu benutzen, um sich selbst zu zerlegen. Es geht weder darum, ein Portrait der eigenen Person unter bestimmten Umständen zu liefern oder eine Rolle zu ‚leben‘, noch ist die abgehobene Art des Schauspielers gemeint, die im epischen Theater üblich ist und auf kaltem Kalkül beruht. Das Wichtige dabei ist, die Rolle als ein Sprungbrett zu benutzen, ein Instrument, mit dem sich studieren läßt, was hinter unserer Alltagsmaske verborgen ist – der allerinnerste Kern unserer Persönlichkeit –, um es zu opfern, bloßzulegen.“9

Jerzy Grotowski nennt diesen Schauspieler einen „heiligen Schauspieler“ und seine Technik „induktive Technik (das heißt eine Technik des Eliminierens)“.10 Erika Fischer-Lichte sieht in dieser Theaterpraxis eine Bestätigung der von ihr für die 1960er Jahre konstatierten Verwendungsweisen von Körper resp. Leib, „die konsequent von der Doppelung von Leib-Sein und Körper-Haben ausgehen und ausdrücklich auf die Spannung zwischen phänomenalen Leib und semiotischen Körper verweisen. In diesem Kontext wurde eine Reihe von Verfahren entwickelt, die darauf ziel(t)en, diese

7 8

Jerzy Grotowski: Für ein Armes Theater, Berlin 1994, S. 15. In den Arbeiten der 1960er Jahre kann noch von Inszenierungen gesprochen werden. 9 Jerzy Grotowski: Für ein Armes Theater, S. 38-39. 10 Ebd., S. 36. Vgl. auch „[…] das Wort ‚heilig‘ nicht im religiösen Sinn verstehen. Es ist vielmehr eine Metapher, um eine Person zu benennen, die durch ihre Kunst auf den Scheiterhaufen steigt und einen Akt der Selbstaufopferung vollzieht“. Ebd., S. 46.

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Spannung produktiv zu machen.“11 Sie beschreibt vier verschiedene Methoden und führt jeweils Beispiele hierzu an. Eine davon ist die vollends Neubestimmung des Verhältnisses von „Darsteller und Rolle“, die exemplarisch in Grotowskis Theaterarbeiten verwirklicht worden sei. Sie fokussiert dabei auf seine erste Arbeitsphase, jene der Theaterproduktionen: „Für Grotowski ist das Körper-Haben nicht vom Leib-Sein zu trennen. Der Körper ist für ihn kein Instrument, er ist weder ein Ausdrucksmittel noch Material für Zeichenbildung o.ä. Seine ‚Materie‘ wird vielmehr in und durch die Tätigkeit des Schauspielers ‚verbrannt‘, in Energie verwandelt. Der Schauspieler beherrscht nicht seinen Körper – weder im Sinne Engels noch im Sinne Meyerholds – er läßt ihn vielmehr selbst zum Akteur werden: Der Leib agiert als verkörperter Geist (embodied mind).“12

Wenn es nun keine Rolle, keinen Zeichen-Körper gab, welche die Zusehenden entschlüsseln (konnten), bleibt unklar, was denn die Zusehenden bei den Aufführungen ‚sahen‘. Eine der revolutionären Aktionen der Grotowski-Inszenierungen war es, das Publikum so nah wie möglich an das Geschehen zu bringen, auch wenn eine Trennung von Publikum und Bühne bestehen blieb. AKROPOLIS war eine Inszenierung, die noch nahe an der literarischen Vorlage blieb, keinen direkten Kontakt zwischen den Zusehenden und den Schauspieler/innen zuließ, quasi mit zwei Ensembles spielte: dem Publikum als Lebende und den Akteur/innen als Tote; auf den STANDHAFTEN PRINZ sah das Publikum wie auf „eine Art grausamen Sport in einer alten römischen Arena“13 und bei APOKALYPSIS CUM FIGURIS saßen die Zusehenden am Rand auf vier einfachen Bänken, wobei sich die Frage stellt, ob es sich hier noch um „spectators“ handelte „or is it perhaps witnesses are about to become?“14 Grotowski versuchte dabei – wie stets in seiner Arbeit –, zu definieren, was Theater kennzeichnet, sowie die Beziehung zwischen Schauspielenden und Zusehenden zu erforschen. Das einzigartige Element des Theaters bezeichnete er als „die Nähe des lebenden Organismus“15 und bei Grotowskis Inszenierungen war diese Nähe durchaus physisch sichtund spürbar. Gerade diese physische Nähe zieht Hans-Thies Lehmann für

11 Erika Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft, Tübingen 2010, S. 43; Fischer-Lichte bezieht sich auf: Helmuth Plessner: „Zur Anthropologie des Schauspielers (1948)“, in: ders.: Ausdruck und menschliche Natur. Gesammelte Schriften VII. Frankfurt am Main 2003, S. 399-418. Zu den vier Verfahrensweisen vgl. dies.: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004, S. 139-150. 12 Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 140. 13 Vgl. z.B. „Akropolis: Umgang mit dem Text“ und „Der standhafte Prinz“, in: Jerzy Grotwoski: Für ein Armes Theater, S. 65-84 und S. 104-122. 14 Konstanty Puzyna: „A myth vivisected: Grotowski’s Apocalypsis“, in: The Grotowski Source Book, S. 88-106, hier: S. 91. 15 Jerzy Grotowski: Für ein Armes Theater, S. 44.

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seine Überlegungen über ein Theater heran, das sich nicht in der „Übermittlung von Zeichen und Signalen“16 erschöpft. Für Grotowski ist es der Grund, weshalb jede Herausforderung seines „heiligen Schauspielers“, „jeder seiner magischen Akte (die das Publikum nicht nachmachen kann) zu etwas Großem, Außergewöhnlichem“17 werden lässt und weshalb schließlich „die Distanz zwischen dem Schauspieler und dem Publikum abgeschafft werden [muß]. Die drastischen Szenen sollen Auge in Auge mit dem Zuschauer stattfinden, so daß er auf Armeslänge vom Schauspieler entfernt ist, seinen Atem spüren kann, seinen Schweiß riecht“.18 Wenn die Reduktion der „Entfernung zwischen Akteuren und Zuschauern so sehr [gesteigert wird], daß physische und physiologische Nähe (Atem, Schweiß, Keuchen, Muskelbewegung, Krampf, Blick) das mentale Bedeuten überlagert, so entsteht ein Raum von angespannter zentripetaler Dynamik“ wie Hans-Thies Lehmann dies beschreibt. Damit wird das „Theater zu einem Moment der mitgelebten Energie statt der übermittelten Zeichen.“19 Auf diese Art interpretiert er schließlich auch die berühmten Aufführungen von Jerzy Grotowski und erkennt in ihnen: „quasi-rituelle Szenen, insofern die emotionale Beteiligung der Zusehenden konstitutiv für das Geschehen wurde. Die Akteure werden aus so bedrängender Nähe (‚close up‘) angesehen, daß der Betrachter nicht anders kann als auf seine körperliche Nähe und seinen voyeuristischen Nahblick aufmerksam zu werden, er gerät in den Bannkreis organischen Miterlebens – das freilich klar unterschieden bleibt von realer Teilnahme, die es bei Grotowski nicht gibt.“20

E NERGIEUMWANDLUNG Die konsequente Art und Weise, seine Arbeit und Theaterforschungen durchzuführen, brachten Grotowski schließlich dazu, sich überhaupt nicht mehr mit dem Publikum zu beschäftigen. Die von Lehmann benannte „mitgelebte Energie“ konnte zwar weiterhin stattfinden, war aber nun nicht mehr zwingend notwendig. Das Hauptinteresse von Grotowski lag nunmehr nur mehr beim und am Schauspieler. Er konzentrierte sich zunehmend und vollends auf diesen, den Grotowski einen „Performer mit großem P“ genannt wissen will. Im gleichnamigen Artikel hält er fest, dass dieser ein „Mann der Tat“, „ein Handelnder, ein Priester, ein Krieger“ und „ein Daseinszustand“, „ein Pontifex, ein Brückenbauer“ ist. Er selbst hingegen verstand 16 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999, S. 285. 17 Jerzy Grotowski: Für ein Armes Theater, S. 44. 18 Ebd. 19 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 285-286. 20 Ebd., S. 286.

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sich als „ein Lehrer des Performers“.21 Den Prozess, Performer zu werden und das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler, das nun in den Mittelpunkt der praktischen Theaterforschungen geriet, wiederum beschreibt er wie folgt: „Auf dem Weg des Performers nimmt man das Wesen während dessen Osmose mit dem Körper wahr und arbeitet dann an dem Vorgang; man entwickelt das Ich-Ich. Die zuschauende Anwesenheit des Lehrers kann zuweilen als Spiegel der Ich-IchVerbindung fungieren (diese Verbindung ist noch nicht abgesteckt). Wenn der IchIch-Kanal abgesteckt ist, kann der Lehrer verschwinden und der Performer weiterarbeiten in Richtung auf den Körper des Wesens; […] den Weg vom Körper-undWesen zum Körper des Wesens.“22

Grotowski bezieht sich auf zwei Aspekte im Menschen: erstens auf das bekannte (nichtsdestotrotz ein sich zu konstituierendes) Ich, das mit anderen kommuniziert, und zweitens das „Ich-Ich“, das in jeder einzelnen Person vorhanden, aber nicht von den Blicken der anderen gesehen wird. Es ist sozusagen jener Aspekt, der außerhalb der Zeit existiert, der sich selbst zuschaut, ein aktives Sehen. In meditativen Übungen wird beispielsweise versucht, diese beiden Teile zusammenzuführen. Bei Grotowski nun findet der ausgesprochene Zusammenfall vom trainierten physischen Körper des Schauspielers, der im Sinne von Fischer-Lichte als „semiotischer Körper“ eingesetzt werden könnte, und dem „phänomenalen Leib“ statt, um zum „Körper des Wesens“ – oder mit Fischer-Lichte gesprochen – zum „embodied mind“ zu werden. Dabei ist es weniger wichtig, „Organismusmasse“ (gut trainierte Muskeln) zu entwickeln, sondern einen „Organismuskanal“ (einen Kanal, durch den Energien fließen können) zu bauen.23 Für Performer/innen kann die Anwesenheit einer lehrenden Person hilfreich sein, da diese wie ein Spiegel für dieses Ich-Ich funktioniert, v.a. dann, wenn die Verbindung der beiden Aspekte – wie es während einer Meditation geschieht – noch nicht hergestellt ist. Mit der Zeit, wenn diese Verbindung, dieser Ich-Ich-Kanal gefunden ist, sind Lehrende nicht mehr notwendig. Als sich Jan Kott und Jerzy Grotowski in Kalifornien trafen, forschte letzterer bereits intensiv an diesen Möglichkeiten, er hatte die Phase des Paratheaters und der Theatre of Sources hinter sich gelassen und beschäftigte sich

21 Vgl. Jerzy Grotowski: „Der Performer“, in: Walter Pfaff, Erika Keil, Beat Schläpfer (Hg.): Der sprechende Körper. Texte zur Theateranthropologie, Museum für Gestaltung Zürich, Berlin 1996/1997, S. 43-47. Vgl. dazu Antonio Attisani: „Il Performer. Il testo e un commento“, in: ders.: Un teatro apocrifo. Il potenziale dell’arte teatrale nel Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards, Milano 2006, S. 45-72. 22 Vgl. Jerzy Grotowski: „Der Performer“, S. 43-47, hier: S. 45. 23 Vgl. ebd.

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mit dem Focused Research Programm Objective Drama24. Das Publikum gab es längst nicht mehr, aber geladene Gäste – wie eben beispielsweise Kott waren immer wieder zugegen: „Noch im selben Jahr, im Mai oder Juni, wurden wir […] von Grotowski zu ihm nach Irvine eingeladen. In einem dichten Wald, in dem sich die Gebäude und auch die Menschen verlieren, liegt ein kalifornischer Campus. […] Am Rande des Campus hatte Grotowski neben einer alten, ererbten Scheune eine kreisförmige sibirische Jurte aus hellem Holz gebaut. In dieser dunklen Scheune, in dieser hellen Jurte, in der nahegelegenen Steppe und am Ozean übte Grotowski ein Jahr lang mit seinen neuen Schauspielern, Stunden um Stunden, manchmal bis spät in die Nacht hinein.“25

Einer darunter war Thomas Richards (*1962), ein junger und ehrgeiziger Schauspieler/Student. Er hatte ein paar Jahre zuvor an der Yale Universität bei einem zweiwöchigen Workshop von Ryszard Cieslak teilgenommen, der ihn motivierte, sich um die Aufnahme für das Focused Research Programm in Irving bei Grotowski zu bewerben. Dies war der Beginn des letzten Lehrer-Schüler-Verhältnisses, das Jerzy Grotowski einging, denn so wie er anfänglich mit Cieslak gearbeitet hatte, so tat er es am Ende seines Arbeitsschaffens mit Richards – auch wenn zuvor noch ein paar Hürden genommen werden sollten.26 Richards nahm an diesem Seminar teil und lernte u.a. auch Maud Robart27 aus Haiti sowie Lieder und traditionelle Gesänge von ebendort kennen. Mit diesen sowie weiterem afrikanischen und afrokaribischen Liedmaterial arbeitete Grotowski nun vorzugsweise, denn „der Performer“, so Grotowski, „versteht es Körperimpulse mit dem Lied zu verbinden“28 und v.a. kann es als Instrument eingesetzt werden. Thomas Richards erklärte später, „[…] diese Lieder sind wirklich Instrumente oder, besser gesagt, können für den Menschen Instrumente sein, mit denen er eine Arbeit an sich selbst vollbringt. Sie können zu Instrumenten werden, die dem Organismus

24 Vgl. Lisa Wolford: Grotowskis‘ Objective Drama Research, Mississippi 1996. 25 Jan Kott: „Grotowski oder die Grenze“, S. 234. 26 Vgl. die Erzählung von Thomas Richards, als er einen zweimonatigen Workshop mit Grotowski in Italien abbrach, um nach einem kurzen Aufenthalt im Odin Teatret bei Eugenio Barba, wo er Aufzeichnungen der ersten Aufführungen in Opole sehen konnte, wieder zurückzukehren. Richards nahm an dem einjährigen Forschungsprogramm in Irving teil und ging anschließend mit Grotowski nach Italien. Vgl. „Auszüge aus Der Rand-Punkt des Schauspielens“, Ein Interview mit Thomas Richards, interviewt von Lisa Wolford, in: Flamboyant, Schriften zum Theater, Heft 5/Herbst 1996, S. 37-68, hier: S. 38-39. 27 Maud Robart ist Mitbegründerin der Gruppe Saint-Soleil. Sie traf Jerzy Grotowski 1977 in Haiti und ist eine einzigartige Mitarbeiterin Grotowskis, da sie nach der ‚Inszenierungsphase‘ die einzige ist, die von „Theatre of Sources“ bis hin zu letzten Arbeitsphase in Italien mit Grotowski zusammenarbeitete. 28 Jerzy Grotowski: „Der Performer“, S. 44.

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bei einem Prozeß helfen, den wir Energieumwandlung nennen können.“29 Grotowski selbst wollte weniger von diesen Wandlungen, dieser Arbeit sprechen, als sie vielmehr durch seine Schauspielenden erprobt und erfahren wissen. „Grundsätzlich ähnelt unsere Arbeitssprache derjenigen der Bühnenkünste, allerdings mit Hinweisen auf die Methode der physischen Handlungen von Stanislawski. Um jedoch an den alten Gesängen und ihren Schwingungsqualitäten zu arbeiten, mußten wir eine neue Terminologie entwickeln. […] Dort, wo wir an die vielschichtigeren Aspekte der sogenannten ‚inneren‘ Arbeit herangehen, vermeide ich soweit wie möglich jeden sprachlichen Ausdruck. Ich vermeide es beispielsweise, die Frage nach den Energiezentren, die wir im Körper ausfindig machen können, in Worte zu fassen. Ich sage ausdrücklich ‚die wir im Körper ausfindig machen können‘, weil das nicht völlig eindeutig ist. Gehören sie zum biologischen Bereich oder zu einem komplexeren Bereich? Die bekanntesten sind die Zentren, die man gemäß der Yogatradition Chakras nennt. Es ist offensichtlich, daß man das Vorhandensein der Energiezentren im Körper exakt nachweisen kann: von denen, die am engsten mit dem biologischen Weiterleben verbunden sind, über die sexuellen Impulse und so fort, bis hin zu den immer komplexeren (oder sollte man sagen: subtileren?) Zentren.“30

Selbst wenn Jerzy Grotowski (wie später auch Thomas Richards) das Sprechen über die Energiearbeit zu vermeiden sucht, gibt es einige Gelegenheiten, bei denen er sich dazu äußert. Bereits in seinem Buch Für ein Armes Theater setzte er sich damit auseinander: „Ich glaube, man muß eine spezielle Anatomie des Schauspielers entwickeln; zum Beispiel muß man im Körper die verschiedenen Zentren der Konzentration für verschiedene Darstellungsweisen finden, indem man die Zonen des Körpers sucht, die der Schauspieler manchmal als seine Energiequellen spürt. Die Lendengegend, der Bauch und die Gegend um den Solarplexus fungieren oft als solche Quellen.“31 Grotowski beobachtet während seines harten und disziplinierten Trainings (Physical, Plastic und Vocal Training) genau den Körper und die Muskulatur der Schauspielenden, im Besonderen die Lendengegend und den Bauch. Der gesamte Körper wurde zu Zeiten des Laboratoriums wie in allen anderen Arbeitsphasen auch in täglichen über mehrere Stunden sich erstreckenden Übungseinheiten trainiert. Aufzeichnungen und Erfahrungsberichte provozieren geradezu Assoziationen zu Spitzen- und Extremsport-

29 „Auszüge aus Der Rand-Punkt des Schauspielens“, Ein Interview mit Thomas Richards, S. 42. 30 Jerzy Grotowski: „Er war eine Art Vulkan“, in: Peter Brook/Jean-Claude Carrière/Jerzy Grotowski (Hg.): Georg Iwanowitsch Gurdjieff, aus dem Französischen von Hans-Henning Mey, Berlin 2005, S. 52-111, hier: S. 67-68. 31 Jerzy Grotowski: Für ein Armes Theater, S. 40.

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ler/innen sowie zu Trainingseinheiten asiatischer Kampf- und KunstTraditionen.32 In den 1980er Jahren, im Rahmen seines Objective DramaProgramms gab es nunmehr das Ziel, die eigene physische Kraft (Energie) des Schauspielenden zu wecken. Hierbei ist eine Fokussierung auf oben angesprochene Lenden bzw. Bauch zu beobachten. „This physical power, which the Hindu tradition refers to as the ‚sleeping energy‘ (kundalini) lies at the bottom of the spine,“33 erklärt I Wanda Lendra aus Bali, einer der Technikexperten im Objective Drama-Programm in Irvine. Grotowski, vertraut mit hinduistischer Philosophie und Voodoo-Praktiken sowie indischer Bauls-Tradition, interessiert an Trancetechniken für den Schauspieler – wie er nicht nur Jan Kott mitteilte –, entdeckte für seine Arbeiten die traditionellen afrikanischen und afrokaribischen Lieder als Möglichkeit, diese „schlafende Energie“ zu wecken und für ‚seinen Performer‘ zu nutzen. Wird diese Energie stimuliert, mobilisiert sie das Bewusstsein, die Feinmotorik und die sinnliche Wahrnehmung – Kompetenzen, die für Darsteller/innen entscheidend sind, um das, was Eugenio Barba das „bios des Schauspielers“ nennt, auf der Bühne zu erzeugen.34 Aus diesem Grund war Grotowski daran interessiert, spezielle Körperübungen, „the undulating spinal movement of the Haitian voodoo ritual and the Hindu spinal movement exercise called kundalini“35, zu erarbeiten. Es wurde in dieser Zeit ein eigenständiges Körperübungsprogramm – eine Mischung aus den Physical Trainingseinheiten der 1960er Jahre und Yogaübungen – genannt Motions entwickelt. Sie werden in leicht abgewandelter, adaptierter Form auch heute noch durchgeführt. Das Ziel dabei war es immer, jenen „Daseinszustand“ einzuüben, der dem „state of trance“ glich, der an „the Balinese trancer“ erinnert: „a state of acute awareness, a state of true self (inget), and a state of being unaware (engsap)“36. In jüngeren Jahren verstand Grotowski, „unter Trance die Fä-

32 Vgl. u.a. etwa Franz Marijnen: „Training des Schauspielers“ und Eugenio Barba: „Das Training des Schauspielers“, in: Jerzy Grotowski: Für ein Armes Theater, S. 142-188 und S. 189-247. I Wayan Lendra: „Bali and Grotowski: Some parallels in the training process“, in: The Grotowski Source Book, S. 312-327. Thomas Richards: At work with Grotowski on physical actions. With a preface and the essay ‚From the theatre company to art as vehicle‘ by Jerzy Grotowski. London 1995. Vgl. auch Video- bzw. DVD-Material des Odin Teatret: DVD – Training at the „Teatr Laboratorium“ in Wroclaw, produced by by Odin Teatret Film, 1972. B/W. 90 min. Dir. Torgeir Wethal. 33 I Wayan Lendra: „Bali and Grotowski: Some parallels in the training process“, S. 327. 34 Eugenio Barba: „Wiederkehrende Prinzipien“, in: Walter Pfaff, Erika Keil, Beat Schläpfer (Hg.): Der sprechende Körper. Texte zur Theateranthropologie, Museum für Gestaltung Zürich, Berlin 1996/1997, S. 77-98. 35 I Wayan Lendra: „Bali and Grotowski: Some parallels in the training process“, S. 327. 36 Ebd., S. 315.

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higkeit, sich auf eine bestimmte theatralische Weise konzentrieren zu können; sie kann mit einem Minimum an gutem Willen erlangt werden.“37 Im Laufe der Jahre verlangte er von seinen Schauspielenden aber weit mehr als ein Minimum an „gutem Willen“. Hartes physisches Training und zunehmend mehr das Arbeiten an und mit Liedern waren notwendig, um in diesen „state of trance“ zu gelangen. Als Grotowski schließlich 1986 nach Pontedera in Italien übersiedelte, um dort (s)ein Workcenter zu errichten, hatte er viele dieser alten traditionellen afrokaribischen und afrikanischen Lieder, die Körperübungen für die Beweglichkeit der Wirbelsäule nach Vorbildern aus dem Haitischen-Voodoo- sowie Hindu-Kult und einen neuen Assistenten, Thomas Richards, im Gepäck.

S CHWINGUNGEN Das zunächst als Workcenter of Jerzy Grotowski und später in Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards umbenannte Zentrum wurde auf Einladung des Centro per la Sperimentazione e la Ricerca Teatrale in Pontedera (heute: Fondazione Pontedera Teatro) 1986 von Jerzy Grotowski gegründet. Es war Grotowskis letzte Arbeitsphase, in der er sich auf den Forschungszweig konzentrierte, der unter „art as vehicle“ bekannt wurde – eine Bezeichnung, die sein alter Freund und Kollege Peter Brook für die Arbeiten fand, die er im Working-Space des Workcenter in der Nähe von Pontedera in Vallicelle gesehen hatte.38 In dieser Zeit und an diesem Ort kristallisierte sich schließlich jener Arbeitsschwerpunkt heraus, der auf Basis alter afrikanischer und afrokaribischer Lieder durchgeführt werden sollte. Zunächst von Grotowski begonnen, wurde dieser von Thomas Richards gemeinsam mit Mario Biagini (*1964) nach dessen Tod fortgesetzt.39

37 Jerzy Grotowski: Für ein Armes Theater, S. 39. 38 „Am anderen Ende gibt es etwas sehr Altes, doch in unserer heutigen Kultur Unbekanntes: die Kunst als Fahrzeug – ein Ausdruck den Peter Brook gebrauchte, um meine gegenwärtige Arbeit zu kennzeichnen.“ Jerzy Grotowski: „Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug“, in: Thomas Richards: Theaterarbeit mit Grotowski an physischen Handlungen, Berlin 1995, S. 179-216, hier: S. 188. Vgl. auch Peter Brook: „Grotowski, Art as Vehicle“, in: The Grotowski Source Book, S. 381-384. Grotowski selbst bietet auch Alternativen, er schreibt: „We can say ‚Art as vehicle‘, but also ‚objectivity of ritual‘ or ‚Ritual arts.‘ When I speak of ritual, I am referring neither to a ceremony nor a celebration, and even less to an improvisation with the participation of people from the outside.“ Jerzy Grotowski: „From the Theatre Company to Art as Vehicle“, in: Thomas Richards: At work with Grotowski on physical actions, S. 113-135, hier: S. 122. 39 Vgl. „Auszüge aus Der Rand-Punkt des Schauspielens“, Ein Interview mit Thomas Richards, S. 41.

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Aktuell können zwei Linien im Workcenter verfolgt werden: die eine, die sich unter der Leitung von Biagini wieder verstärkt einem Publikum zuwendet.40 Und eine weitere, jene, die nach wie vor unter der Leitung von Richards im Kontext von art as vehicle entsteht. Die jüngste Geschichte des Workcenter ließe sich unter jenen drei Perspektiven auf „die Energie des Theaters“, die Barbara Gronau vornimmt, zusammenfassen: „erstens aus der Perspektive der Ökonomie des Körpers, die in Tanz, Gesangs- und Schauspieltheorien ausformuliert und in Körpertechniken und -übungen tradiert wird“ – das ist, was Thomas Richards mit seinem Focused Research Team in Art as Vehicle tut, „zweitens aus der Perspektive der Wahrnehmungswirkung, die der jeweilige Körpereinsatz beim Betrachter hervorruft“ – das ist, was Mario Biagini wiederum mit seinem Open Program tut, in dem er Theater produziert, und schließlich „drittens aus der Perspektive der kollektiven Austauschprozesse, die sich zwischen den Akteuren vor und hinter der Bühnenrampe entfalten“41 – das ist, was auf die gemeinsame Arbeitsphase von Richards und Biagini verweist – ein kongeniales Tandem. Richards konzentriert sich also, wie er es mit Grotowski begonnen hatte, auf die Arbeit an afrikanischen und afrokaribischen Liedern und deren Schwingungsqualität mit Fokussierung auf das, was im Inneren der Schauspielenden passiert. So meint Richards, wenn er von Energie redet, „sprechen wir von der Qualität und nicht von der Quantität der Energie. Wir sprechen nicht von ‚kraftvoll sein‘. Wir sprechen im Sinne von Energiequalitäten und der Umwandlung von einer (groben) Energiequalität in eine andere (subtilere). In meiner persönlichen Sprache, für mich selbst, nenne ich dies ‚innere Handlung‘.“42 Im Rahmen von art as vehicle stehen die Performer/innen, auch Handelnde genannt, sowie ihr Tun im Mittelpunkt. Es geht um die Zusammensetzung ihrer inneren Bilder, die für Zusehende unsichtbar bleiben. Die Arbeit/Montage für die dramaturgische Zusammensetzung von Bildern für die Augen eines Publikums ist dabei unerheblich.43 Dennoch sehen Gäste immer wieder Aufführungsstrukturen im Rahmen von art as vehicle, die mittlerweile eine eigene Chronologie aufweisen: Zu Beginn wurden zwei

40 Biagini war von Anfang an in Italien dabei. All das, was im Workcenter mit vielen verschiedenen Künstler/innen in den letzten 25 Jahren erprobt und erforscht wurde, findet mit ihm seinen Weg zurück zu Aufführungen. 41 Barbara Gronau: „Die Energie des Theaters“, in: Wissenschaftsmagazin fundiert Das Wissenschaftsmagazin der Freien Universität Berlin, No.1/2007, unter: http://www.fuberlin.de/presse/publikationen/fundiert/2007_01/07_01_gronau/ind ex.html (letzer Zugriff am: 01.09.2011) 42 „Auszüge aus Der Rand-Punkt des Schauspielens“, Ein Interview mit Thomas Richards, S. 42. 43 Vgl. Jerzy Grotowski: „Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug“, S. 197.

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Aufführungsstrukturen geschaffen, einerseits noch in Irving MAIN ACTION, zunächst unter der Leitung von Grotowskis Assistent Jim (James) Slowiak begonnen und später mit Grotowski selbst fortgesetzt, und andererseits unmittelbar nach der Ankunft in Italien und nur mehr unter Grotowskis Leitung POOL ACTION, benannt nach dem einzigen Gegenstand, mit dem gespielt wurde: einem Kinderplanschbecken. I Wayan Lendra hatte mit Richards an den Liedern geübt, Grotowski hingegen arbeitete mit ihm an der Struktur. Richards erzählt: „Anfangs waren wir beide allein im Raum [Grotowski und Richards], und schufen zwei Actions mit mir als dem einzigen Handelnden. In der zweiten Periode in Italien sagte Grotowski: ‚Nun, Thomas, versuchen Sie langsam etwas, was in Ihrer Arbeit erscheint, Ihren Kollegen weiterzugeben.‘ So fing ich an, eine Arbeitsgruppe zu leiten und eine weitere Aufführungsstruktur mit vier anderen Schauspielern zu schaffen, die für sie zur Entdeckung dieser Energieumwandlung werden könnte – nicht mit Worten, sondern in der Praxis – auf der Grundlage der alten schwingungsgeladenen Lieder.“44

In Italien angekommen übertrug Grotowski also die Verantwortung der Lieder und einer Arbeitsgruppe Thomas Richards. Dabei wurde besonders Bedacht darauf genommen, die Qualität der Vibrationen der gesungenen Lieder zu erproben und zu erforschen. Mittels Gesang, durch das Singen sollten jene Schwingungen erzeugt werden, die auf den physischen Körper (Resonanzräume) sowie auf den emotionalen Körper (Stimmungen) der Performer/innen wirkten: je intensiver die Auswirkungen des angestimmten Liedes, umso stärker aufgeladen der Körper der Performer/innen. Richards begann eine neue Aufführungsstruktur zu konzipieren, die aufgrund ihrer Location DOWNSTAIRS ACTION genannt wurde.45 Die Zusammensetzung bestand aus strukturierten Szenen der Lieder, die Handlungen waren genau in ihre räumlichen Beziehungen gesetzt, sodass sie „die Möglichkeit gaben, die Umwandlung der Energiequalität der Handelnden zu fördern“46. Während der Körper einer Handlungspartitur folgte, einer einstudierten Linie von Handlungen (vorstellbar wie beispielsweise bei einer Choreografie) in Bezug auf physische Bewegungen, auf Kontakte mit Partner/innen und Abfolge von Handlungen nachging, bewegte sich die ‚innere Handlung‘ der Performer/innen in einer senkrechten Linie, verfolgte eine subtile Spur. Ers-

44 „Auszüge aus Der Rand-Punkt des Schauspielens“, Ein Interview mit Thomas Richards, S. 44. 45 Vgl. Dokumentationsfilm von Mercedes Gregory aus dem Jahr 1989: Art As Vehicle. A film documentation of Downstairs Action, filmed at the Workcenter of Jerzy Grotowski (Pontedera, Italy) in July 1989. Produced and directed by Mercedes Gregory. 46 „Auszüge aus Der Rand-Punkt des Schauspielens“, Ein Interview mit Thomas Richards, S. 53.

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teres sichtbar von außen – eine horizontale Handlung, zweiteres unsichtbar von außen – eine vertikale Handlung. Die Aufführungsstruktur muss also als Stütze für das funktionieren, was Grotowski „Vertikalität“47 nennt. Das ist das Ziel. Die darauf folgende Struktur und gleichzeitig die bis dato am längsten praktizierte, war ACTION 1990-2006. „In der Struktur von ACTION“, erzählt Richards, „gibt es ein Fenster. Es sind mehr Elemente da, die von einem Beobachter als etwas, was einer ‚Rolle‘ ähnlich ist, ausgelegt werden können.“48 Das heißt, hier können Bilder im Zusehenden so zusammengesetzt werden, dass sie imstande sind, eine Geschichte zu erzählen: die Wandlung von einem alten Mann in ein Baby, die Auseinandersetzung von Tod und Leben, oder das Spiel mit grundsätzlichen Elementen wie Wasser und Feuer, eine Beschäftigung mit religiös-rituellen Handlungen wie der Fußwaschung oder der Kreuzigung. Entscheidend bleibt auch hier, dass die angestimmten Lieder für die Performer/innen Impulse setzen und dabei Emotionen freilegen. Richards steht mit seinen Handlungen im Mittelpunkt – auch räumlich – er stimmt die Lieder an, gibt also im wörtlichen Sinne den Ton an. Er wird dabei von seinem TandemKollegen Mario Biagini unter- und gestützt sowie über die Jahre hinweg von wechselnden Personen begleitet, die einen Chor bilden. In den letzten drei Jahren, in denen ACTION durchgeführt wurde, begann Richards im Rahmen eines drei-jährigen EU-Projekts49 zusätzlich an einer „action in creation“ zu arbeiten, die den Titel THE TWIN trug.50 Dies war der Versuch, einerseits einen weiteren Haupthandelnden, Souphiène Amiar, einzuführen – diesmal ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, das von Anbeginn an einer praktischen Übermittlung folgte – und andererseits die Struktur vor Zusehenden zu entwickeln. Die vorangegangenen „actions“ wurden abseits von Öffentlichkeit erarbeitet und nur zu bestimmten Zeiten vor geladenen Personen

47 Vgl.: „Verticality – we can see this phenomenon in categories of energy: heavy but organic energies (linked to the forces of life, to instincts, to sensuality) and other energies, more subtle.“ Jerzy Grotowski: „From the Theatre Company to Art as Vehicle“, S. 113-135, hier: S. 125. 48 „Auszüge aus Der Rand-Punkt des Schauspielens“, Ein Interview mit Thomas Richards, S. 53. 49 Von 2003 bis 2006 führte das Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards ein von der EU (Programm Culture 2000) gefördertes internationales und interdisziplinäres Projekt unter dem Titel Tracing Roads Across durch; organisiert und koordiniert von Gülsen Gürses (Gründerin und Künstlerische Leiterin des Theater des Augenblicks in Wien). Die praktische Theaterforschung und Präsentationen in verschiedenen europäischen Ländern wurden von einem wissenschaftlichen Dokumentationsteam begleitet, dem die Autorin angehörte. 50 Vgl. Antonio Attisani: „Fratellanza e gemellarità“, in: ders.: Un teatro apocrifo. Il potenziale dell’arte teatrale nel Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards, Milano 2006, S. 171-225.

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präsentiert, um die Arbeit anschließend zu diskutieren. Mit THE TWIN wurde von Anfang an im Austausch mit Zusehenden gearbeitet. Mit Ende dieses Projekts scheint auch das Ende der langbewährten Zusammensetzung von ACTION sowie der performativen Zusammenarbeit von Mario Biagini und Thomas Richards gekommen. Während Biagini sich verstärkt Theaterproduktionen,51 „Performance Events“, widmet, wenngleich mit dem Wissen um die Erfahrungen von art as vehicle, erarbeitet Richards eine komplett neue Struktur im Rahmen dessen mit seinem „Focused Research Team“ unter dem Namen THE LIVING ROOM.52 Die Essenz der praktischen Theaterforschung besteht – nach wie vor – darin, die Erarbeitung von und Arbeit an den von Richards so genannten „inneren Vorgängen“53 vorzunehmen.

E NERGIEQUALITÄT Diese „inneren Vorgänge“ werden nun im Äußeren, in den Körperbewegungen, der Körperhaltung, sichtbar. Der Ablauf scheint bestimmt durch die einzelnen Lieder, die in einer bestimmten Reihenfolge der erarbeiteten Aufführungsstruktur gesungen werden. Das einzelne Lied wiederum ‚zwingt‘ den Körper des Handelnden in eine bestimmte Haltung. Das ist recht unspektakulär – so wie ein Wiegenlied, eine Tarantella, ein Marschlied schon beim Zuhören je eine andere Körperhaltung auslösen. Geschieht dies beim Singen, wird es bis zur Perfektion trainiert. Der erfahrene Richards lehrt z.B. Souphiène Amiar, in welcher Körperspannung er welche Töne zu singen hat, welches Lied in welchem Schritt zu gehen ist. Beim Beobachten hat es den Anschein, als ob einerseits Amiar von selbst den Tönen folgend schreitet, andererseits (sind die Töne noch nicht so rein, ist das Lied noch nicht perfekt einstudiert) ahmt er Richards Schritte als Twin nach. Die Bewegungen werden solange eingeübt, bis das Körpergedächtnis sie auswen51 Vgl. dazu die während des EU-Projekts erarbeiteten Versionen von Dies Irae im Rahmen von The Bridge, Developing Theatre Arts. Siehe z.B. Gabriele C. Pfeiffer: „The Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards’ way (back) to storytelling“, in: Formes du narratif dans le theatre. hier, aujourd’hui, demain. tiyatroda anlati biçimleri. dün, bugün yarın. Colloque 26-27 Mai, 2006 Istanbul. [4.Formes du narar Uluslararasi Tiyatro olimipyatlari Istanbul/4th International Theatre Olympics]. Istanbul 2007, S. 59-69; Ausgabe 2008, S. 81-95. 52 Weitere Informationen können auf der seit Herbst 2010 betriebenen Homepage des Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards abgerufen werden: http://www.theworkcenter.org/ 53 Vgl. zu „innerer Impuls“ Fußnote 7, zur „innerer Arbeit“ Fußnote 29, zu „innerer Handlung“ Fußnote 42.

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dig zu gehen, zu schreiten, zu springen vermag.54 Aus der Sicht – oder wohl besser der Wahrnehmung – einer handelnden Person senkt sich das Lied und mit ihm die Melodie in den Körper hinab. Vorausgesetzt, die Melodie ist genau gehalten, das Lied „tonrein“ gesungen, was selbstverständlich ebenso geübt werden will: „Bei den neuen Gruppenmitgliedern nun geht es zunächst darum, die Melodien, die Tempo-Rhythmen, die Tonschwingungen zu erlernen, die Silben der Wörter, ihre Aussprache genau zu lernen. Tonrein singen zu können – […] Und danach, wenn die Person irgendwie bereit ist, dann sehen wir zu, daß sie entdecken, was das Lied während des Singens für sie bewirken kann, und natürlich gibt es später das ganze Problem der Entwicklung der Aufführungsstruktur, der Linien der Handlungen, der Spielelemente.“55

Die Handelnden sprechen (auch wenn, wie vorhin erwähnt, Grotowski sich windet, dies in Worte zu fassen), wenn sie es schließlich erlernt haben, von „Energieherden im Organismus“, einem „Energiezentrum innerhalb des Organismus“, das aktiviert werden muss.56 Und dann erst beginnt das Spiel bzw. die Arbeit an den unterschiedlichen Qualitäten von Energie: „[…] nach oben zu fließen in diese andere Quelle und sich in eine viel feinere Energiequalität umzuwandeln. Wenn ich fein sage, meine ich leichter, lichtvoller. […] Dieser Weg von einer Energiequalität, einer dichten und vitalen, immer höher bis zu einer sehr feinen Energiequalität, und dann jenes Subtile, das zurück nach unten sinkt in die grundlegende Körperlichkeit.“57

Das ist ein Versuch von Richards zu beschreiben, was mit ihm passiert, während er mit den Liedern arbeitet. Aber was nun nehmen Zusehende, Gäste, auch Zeug/-innen genannte Personen wahr? Was sehen sie? Sie können keine „leichtere, lichtvollere Energiequalität wahrnehmen“, da es sich hierbei um ‚innere Handlungen‘, die vertikale Bewegung der Performer/innen handelt. Sichtbar bleibt die horizontale Bewegung: einzelne Muskelanspannungen, physische Regungen, die Haltung des gesamten physischen Körpers, die Bewegungen einzelner Körperteile, das Mienenspiel des Gesichts. Auffällig ist dabei der oft verklärte Blick und eine entspannte Gesichtsmuskeln, die langsam barfuß von Ferse auf Zehenspitze abrollend ausgeführten Schritte, sowie langsames Heben und Senken der

54 Vgl. Interview mit Souphiène Amiar: „Entrevista a Souphiene Amiar, director de Nede“, am 12. Januar 2009 von canale de arte, http://www.canaldearte.com/, (letzer Zugriff am: 3.10.2011) 55 „Auszüge aus Der Rand-Punkt des Schauspielens“, Ein Interview mit Thomas Richards, S. 52. 56 Vgl. ebd., S. 42. 57 Ebd., S. 43.

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Arme und das Spreizen der Hände. Die Schwingungen und Stimmungen der Lieder wirken auf den gesamten Körper und lassen diesen auch zu Boden gleiten, sich auf diesen werfen oder auch aufspringen. Niemals aber sind die Performer/innen statisch. Die Handelnden glauben, dass „während die Zeugen zuschauen, könnten sie anfangen, in sich selbst etwas von dem wahrzunehmen, was sich in den Handelnden ereignet.“58 Es gibt Zusehende, die in Tränen ausbrechen, es gibt welche, deren Körper zu schwingen beginnt, es gibt andere, die absolut ruhig dasitzen und wie ‚beseelt‘ aus dem WorkingSpace gehen. Es gibt aber auch jene, die kopfschüttelnd den Raum verlassen und nie wieder kommen. Es gibt – wie Lehmann sie nennt – „auserlesene Adepten“, mit denen Grotowski und später Richards und Biagini „mit intensiver, ‚spiritueller‘ Körperkontrolle an der Idee eines ‚Theaters‘ arbeitete, das mehr quasi-religiösen Exerzitien glich.“59 In der einen oder anderen Form – ob Begeisterung oder Ablehnung – das, was hier geschieht ist eine Form von Induktion. Deren Rückspiegelung durch die „Zeug/innen“ wiederum nutzt das Workcenter, um seine Arbeit zu kalibrieren, obwohl „es nicht das Ziel unseres Aufführungswerkes [ist], Induktion hervorzurufen. Würde es zu unserem Ziel, so verlören wir nach meinem [Richards] Gefühl sofort dieses ‚Innere‘. Folglich ist das ein anderer Aspekt, durch den wir durch eine besondere Art der Nachwirkung uns und unsere Arbeit besser sehen können, um das, was wir tun, zu objektivieren.“60 Lisa Wolford konnte 1995 die Struktur von ACTION, welche zu diesem Zeitpunkt bereits fünf Jahre erprobt wurde, beobachten und berichtet in ihrem Artikel Action, der nicht darstellbare Ursprung. Ein Bericht61 ausführlich von Ablauf, Bildern und Assoziationen, die sie aufgrund ihres amerikanisch-kulturellen Hintergrunds und als Theaterfachfrau herzustellen im Stande war. Nach einer ausführlichen Beschreibung der Abläufe, quasi ein Nachzeichnen einer Partitur, die sie gesehen hat, hält sie fest: „Dies ist der Ort, wo die Sprache scheitert, in sich zusammenfällt, der Ort, wo das Wort schweigsam wird und ins Sein hineintanzt. Ich kann sprachlich nicht sagen, was ACTION ist; […] ich könnte in ein paar Tagen, ein paar Stunden in diesem Raum sitzend das Geheimnis erfassen, das diese Menschen entdeckt/geschaffen haben, einige von ihnen über einen Zeitraum von vielen Jahren. […] Es ist ein im Körper und

58 Ebd., S. 47. Das mag bei einigen Zeugen der Fall sein, muss aber nicht. 59 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 399. 60 „Auszüge aus Der Rand-Punkt des Schauspielens“, Ein Interview mit Thomas Richards, S. 47. 61 Lisa Wolford: „Action, der nicht darstellbare Ursprung. Ein Bericht“, in: Flamboyant. Schriften zum Theater, Heft 5/Herbst 1996, S. 9-36.

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durch den Körper hervorgebrachtes und die Zellen durchdringendes Wissen, ein aktives Werden, an dem ich als passiver Zeuge nicht vollständig teilhaben kann.“62

In der Tat sprechen auch die Workcenter-Performer/innen nicht (gerne) über das, was geschieht, wenn sie handeln. Sie sprechen wenig und schon gar nicht wird von „Energie“ gesprochen: „[…] grundsätzlich sprechen wir während der Arbeit […] überhaupt nicht von Energie oder der ‚inneren Handlung‘. […] Am Anfang ist es einfach tagtägliche Arbeit am Spiel und an den Liedern. Lieder: Genauigkeit der Melodie, wie der Körper beim Singen gehalten werden sollte, wo entspannt – es gibt ein besonderes Wissen darüber, wie man den Körper hält und wie man den Körper mittels der Lieder lebendig werden und die Impulse im Körper mit dem Lied übereinstimmen läßt, wie man zum Beispiel entdeckt, was in jemandes Art zu stehen eine Hemmung bewirkt. Die Arbeit ist ein ganz genaues technisch handwerkliches Niveau und ganz und gar nicht ein Reden über Energiequalitäten. Dies ist etwas, was es in der Praxis zu entdecken gilt.“63

Es muss also zunächst rein technisch – wie bei THE TWIN zu beobachten war – trainiert werden: die Melodie, die Führungsstimme, der Rhythmus, die Worte.64 Der Moment, in dem das Lied energetisch zu wirken beginnt, ist nicht ein Moment der gelingt oder misslingt – bestenfalls tritt er ein. Wenn das geschieht, stoppt Richards den Ablauf und beginnt durch unzählig viele Wiederholungen an der Spiellinie zu arbeiten, bis eine Spielpartitur entsteht. Die Aufmerksamkeit der Handelnden darf dabei nicht ermüden. Mit jedem neuen Liedanfang, bei jeder Wiederholung wird darauf geachtet, dass es wie der erste Impuls ist – wohl ein grundsätzliches Anliegen von Theaterarbeit. Die Spielpartitur wird auswendig gelernt, bis die Handlungspartitur von alleine läuft.65 Thomas Richards beschreibt in einem Interview mit Lisa Wolford sein Verhältnis zur dieser Energiearbeit, den Schwingungs- und Energiequalitäten etc.66 Er spricht hier eindeutig von einer Trainingssituation und nicht von dem Augenblick einer Aufführung. Er spricht nicht vom Kontakt, der zwischen ihm als Schauspieler und einem Publikum hergestellt werden kann oder von dem Energieniveau, das Eugenio Barba meint. Wenngleich das Training, das praktische Forschen, das Üben stets einer späteren Aufführung dienen kann oder wie es mittlerweile durch die Spaltung Richards/Biagini in

62 Ebd., S. 23. 63 „Auszüge aus Der Rand-Punkt des Schauspielens“, Ein Interview mit Thomas Richards, S. 57-58. 64 Es gibt immer eine Führungsstimme, vorzugsweise Richards, aber auch Biagini. 65 Vgl. Auszüge aus „Der Rand des Schauspielens“, S. 48. 66 Ebd., S. 37-68.

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zwei Teams im Workcenter seit 2007/2008 zu sehen ist, in eine solche münden kann. So zeigt das Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards mit dem Focused Research Team in Art as Vehicle und dem Open Program zwei neue getrennte kreative, im besten Sinne energie- und spannungsgeladene, künstlerische Wege in der derzeitigen Theaterlandschaft.

L ITERATUR Attisani, Antonio: „Il Performer. Il testo e un commento“, in: ders.: Un teatro apocrifo. Il potenziale dell’arte teatrale nel Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards, Milano 2006, S. 45-72. Attisani, Antonio: „Fratellanza e gemellarità“, in: ders.: Un teatro apocrifo. Il potenziale dell’arte teatrale nel Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards, Milano 2006, S. 171-225. Barba, Eugenio: „Wiederkehrende Prinzipien“, in: Walter Pfaff, Erika Keil, Beat Schläpfer (Hg.): Der sprechende Körper. Texte zur Theateranthropologie, Museum für Gestaltung Zürich, Berlin 1996/1997, S. 77-98. Brook, Peter: „Vorwort“, in: Jerzy Grotowski: Für ein Armes Theater, Berlin 1994, S. 9-12. Fischer-Lichte, Erika: Theaterwissenschaft, Tübingen 2010. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004. Gregory, Mercedes: Art As Vehicle. A film documentation of Downstairs Action, filmed at the Workcenter of Jerzy Grotowski (Pontedera, Italy) in July 1989. Produced and directed by Mercedes Gregory. Gronau, Barbara: „Die Energie des Theaters“, in: Wissenschaftsmagazin fundiert. Das Wissenschaftsmagazin der Freien Universität Berlin, Heft 1/2007 unter: http://www.fuberlin.de/presse/publikationen/fundiert/ 2007_01/07_01_gronau/index.html (letzter Zugriff am: 5.12.2008) Grotowski, Jerzy: Das arme Theater, Vorwort von Peter Brook, Velber 1969. Zweite deutsche Fassung: Jerzy Grotowski: Für ein Armes Theater, Zürich 1986. Seit 1994 und weitere Auflagen: Jerzy Grotowski: Für ein Armes Theater, Berlin 1994. Grotowski, Jerzy: „Der Performer“, in: Walter Pfaff, Erika Keil, Beat Schläpfer (Hg.): Der sprechende Körper. Texte zur Theateranthropologie, Museum für Gestaltung Zürich, Berlin 1996/1997, S. 43-47. Grotowski, Jerzy: „Er war eine Art Vulkan“, in: Peter Brook/Jean-Claude Carrière/Jerzy Grotowski (Hg.): Georg Iwanowitsch Gurdjieff, aus dem Französischen von Hans-Henning Mey, Berlin 2005, S. 52-111. Grotowski, Jerzy: „Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug“, in: Thomas Richards (Hg.): Theaterarbeit mit Grotowski an physischen Handlungen, Berlin 1995, S. 179-216. Kott, Jan: „Grotowski oder die Grenze“, in: ders.: Das Gedächtnis des Körpers. Essays zu Theater & Literatur. Berlin 1990, S. 230-237. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999.

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Lendra, I Wayan „Bali and Grotowski: Some parallels in the training process“, in: The Grotowski Source Book, S. 312-327. Pfeiffer, Gabriele C.: „The Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards’ way (back) to storytelling“, in: Formes du narratif dans le theatre. hier, aujourd’hui, demain. tiyatroda anlati biçimleri. dün, bugün yarın. Colloque 26-27 Mai, 2006 Istanbul. [4. Formes du narar Uluslararasi Tiyatro olimipyatlari Istanbul / 4th International Theatre Olympics]. Istanbul 2007, S. 59-69; Ausgabe 2008, S. 81-95. Plessner, Helmuth: „Zur Anthropologie des Schauspielers (1948)“, in: ders.: Ausdruck und menschliche Natur. Gesammelte Schriften VII. Frankfurt am Main 2003, S. 399-418. Puzyna, Konstanty: „A myth vivisected: Grotowski’s Apocalypsis“, in: The Grotowski Source Book, S. 88-106. Richards, Thomas: At work with Grotowski on physical actions. With a preface and the essay. From the theatre company to art as vehicle‘ by Jerzy Grotowski, London 1995. Schechner, Richard und Wolford, Lisa: The Grotowski Source Book. Hrsg. v. Richard Schechner und Lisa Wolford, London/New York 1997. Wolford, Lisa: Grotowskis‘ Objective Drama Research, Mississippi 1996. Wolford, Lisa: „Auszüge aus Der Rand-Punkt des Schauspielens“, Ein Interview mit Thomas Richards, interviewt von Lisa Wolford, in: Flamboyant. Schriften zum Theater, Heft 5/Herbst 1996, S. 37-68. Wolford, Lisa: „Action, der nicht darstellbare Ursprung. Ein Bericht“, in: Flamboyant. Schriften zum Theater, Heft 5/Herbst 1996, S. 9-36.

„Listening“ Kinaesthetic Awareness und Energie in zeitgenössischen Bewegungspraktiken G ABRIELE B RANDSTETTER

„Listen“! Dieser Appell gilt gemeinhin der Aufmerksamkeit eines Gegenübers. Der amerikanische Musiker und Performer Max Neuhaus berichtet von einer Serie von „Lecture Demonstrations“, die er in den 60er Jahren durchführte, unter dem Titel: „LISTEN“: „Mich interessierte“, so schreibt er,1 zunächst „der Imperativ, den ‚Listen‘ ausdrückt“; und er erzählt eine private Anekdote, wie er zu diesem Thema kam: „Meine damalige Geliebte – sie war französisch-bulgarischer Abstammung – schrie dieses Wort, wenn sie wütend war, um dann mit Gegenständen nach mir zu werfen.“ Seine erste Arbeit als freier Künstler bestand darin, die Besucher seines „Konzerts“ auf einen Weg, einen „Spaziergang“ durch Manhattans „Lower Eastside“ zu führen: Er drückte den Zuhörern, die zu einem Konzert gekommen waren, mit einem Gummistempel das Wort „listen“ auf die Hand und durchquerte mit ihnen bestimmte Straßen und Viertel. Während dieser Führung durch die alltägliche Umgebung schwieg er, konzentrierte sich ganz auf das Hören „und ging einfach los“2. „Zunächst war es den Leuten natürlich etwas peinlich“, so Neuhaus, „aber meine Konzentration wirkte in der Regel ansteckend.“ Nach dem aufmerksamen Gang durch diese alltäglichen Klanglandschaften „hatten viele für sich selbst eine neue Art des Hörens gefunden.“3 So weit Max Neuhaus. Und wer würde sich bei dieser LectureDemonstration des Hörens nicht an die als Klavier-Stück angekündigte Performance 4’33 von John Cage erinnern; jenes stille Stück, in dem das Solo1 2 3

Max Neuhaus: LISTEN, in: Ausst.-Kat. Kunst- und Ausstellungshalle der BRD Bonn (Hg.): Auf tönernen Füßen, Göttingen 1994, S. 125-127. Ebd., S. 126. Ebd.

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Instrument, das Klavier, nicht erklingt? Stattdessen aber wird ein Raum der Aufmerksamkeit für die vielfältigen Geräusche und Klänge innerhalb und außerhalb des Konzertsaals geöffnet. „Listen“: die Polung der sinnlichen Aufmerksamkeit auf ein „Hören“ wird in einer nochmal anderen Weise von Xavier le Roy eingesetzt, in seiner Solo-Performance SELF UNFINISHED (1998). Le Roy beginnt das Stück damit, dass er beim Betreten des leeren weißen Raums auf einen Kassettenrecorder zugeht und einen Knopf drückt – wie zum Start von Musik für ein (Tanz-)Stück. Es erklingt jedoch weder Ton noch Musik noch Geräusch. Le Roy setzt die Geste der (Er-)Öffnung einer Klang-Dimension und bewirkt damit ein „Listening“: Die Aufmerksamkeit des Publikums auf ein mögliches Hörereignis verändert das Hören und die Aufmerksamkeit. Diese Fokussierung eines „Listening“ ermöglicht – synästhetisch gedacht – eine andere Wahrnehmung des Raumes und der Bewegung. „Listen!“: der Bewegung lauschen, die Körper-Raum-Bewegung hören, dies bedeutet, dass das Sehen eine andere, eine zusätzliche sinnliche (kinästhetische) Qualität erhält. Mit Paul Valéry, für den das Ohr der bevorzugte Sinn der Aufmerksamkeit ist, könnte man sagen, das Ohr „wacht gewissermaßen an der Grenze, jenseits derer das Auge nicht mehr sieht.“4 Mit „Listening“ geht eine spezifische Qualität von Energie einher, die intensiv ist und sich innerhalb eines Zustandes von Kontinuität und Dauer entwickelt. „Listening“ ist ein Terminus, der zum Grundvokabular der Kontaktimprovisation zählt. Ich möchte im Folgenden der Verwendung des Begriffs nachgehen und Verknüpfungen mit Diskussionen und Praktiken der „kinaesthetic awareness“ betrachten. Cheryl Pallant bemerkt in ihrer Einführung zu Contact Improvisation als einer „Dance Form“5, dass „Listening“, „Listening to Motion“, ein Begriff sei, der regelmäßig in der Kontaktimprovisation verwendet wird: „Listening, according to Contact Improvisation’s metaphorical use of the word, refers to paying attention to all sensory occurrences arising from touch, from the play of weight as partners move through space, and from the event of one body encountering the presence of another. Listening refers to noticing stimuli not only within oneself but also from another.“6

Das Feld der Bedeutungen, die mit „Listening“ angesprochen sind, bezieht sich auf eines jener – offenen – Szenarien des Metaphorischen, die Lakoff

4 5 6

Paul Valéry: Cahiers, Bd. II, Paris 1974, S. 934; vgl. Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a. M. 2004, S. 198. Cheryl Pallant: Contact Improvisation: An Introduction to a Vitalizing Dance Form, North Carolina/London 2006. Ebd., S. 31f.

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als „metaphors we live by“7 bezeichnete. Mit dem Bild der Aufforderung eines „Listen“/„Listening“ ist somit ein nicht nur auf Akustisches begrenztes Wahrnehmungsfeld des Sensorischen benannt: Es ist ein synästhetisches Beziehungsgeflecht von Erfahrungen des Körpers, seiner inneren und äußeren Zustände („states“) in Ruhe und Bewegung. Es geht um „awareness“, die in der Contact Improvisation auf mannigfaltige Weise in und durch synästhetisch-kinästhetische Adressierungen der Wahrnehmung geübt und verfeinert wird: Eine Auswahl an Sätzen von Cheryl Pallant, die zu solcher (synästhetischen) Wahrnehmung anleiten, möge diese Spiel-Breite von „Listening“ illustrieren: „Listen to the click of cartilage, the slap of skin, of the whisper of your will typically silenced by a shout. Notice a part of your body for which you have no name, no history, no awareness. [...] Feel weight push into your stubbornness, your expectations, against your habit of always yielding to aggression or constantly fighting it. [...] Sniff the circumstances, the leg extending into view, the hand urging direction [...]. Watch time dissolve [...]. Follow the sound into the garden past the bench in the corner on [...]. Tend your body as if it were the body of a lover [...] Drink the elixir of expansion, the release within repose. Find the edge between comfort and discomfort, the familiar and the unknown. Balance there, however precariously. Devolve into protozoa. [...] Let your body call you back into yourself [...].“8

Aus dieser Liste von Adressierungen einer sinnlichen Wahrnehmung, die für die Vorbereitung und Einstellung in der Contact Improvisation wichtig ist, wird ersichtlich, dass „Listening“ sich nicht so sehr auf ein Hören als einer sensorischen Form der Erfassung akustischer Ereignisse bezieht (auch wenn dies ein Teil davon ist), sondern vielmehr einen sehr breiten, offenen Zustand der sinnlichen/sensorischen Wahrnehmung meint. Es beinhaltet auch das Abtasten, die Taktilität des Berührens. „Listen“ richtet sich also nicht in erster Linie auf ein Hör-Ereignis. Vielmehr ist damit ein Vorgang der Kreuzung von Aktion und Ereignis gemeint, der im Deutschen mit den Begriffen „Zuhören, Hören auf, Horchen und Lauschen“ differenzierbar ist – und damit den Selbstbezug ebenso wie den Bezug zum Anderen (Partner) und zum Raum impliziert.9 „Listen“, „Listening to motion“ referiert in Contact Improvisation auf synästhetische und kinästhetische Formen der Wahrneh-

7

8 9

George Lakoff und Mark Johnson: Philosophy in the Flesh, New York 1999; Mark Johnson: The Body in the Mind: The Bodily Basis of Meaning, Imagination and Reason, Chicago 1987. Cheryl Pallant: Contact Improvisation, S. 7f. Vgl. Jean-Luc Nancy: À l’écoute; dt: Zum Gehör, aus dem Französischen übersetzt von Esther von der Osten, Berlin/Zürich 2010, S. 15f. und S. 38f. Nancy argumentiert, dass „listening“ sich auf das gesamte Register der Sinne bezieht, in Berührung und mit dem Unterschied zwischen Innerem und Äußerem.

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mung, wobei damit sowohl bewusste als auch unbewusste „sub-liminale“ Wahrnehmungen umfasst werden.

C ONTACT I MPROVISATION

UND

K INÄSTHESIE

Contact Improvisation ist eine Tanzpraktik, in der zwei (oder mehr) sich bewegende Partner, stets in Berührung, ihre Bewegungsmöglichkeiten erkunden. Curt Siddall, ein früher Vertreter der Contact Improvisation, definiert diese Tanzform als „a combination of kinesthetic forces: Contact Improvisation is a movement form, improvisational in nature, involving two bodies in contact. Impulses, weight, and momentum are communicated through a point of physical contact that continually rolls across and around the bodies of the dancers.“10 Historisch geht diese Bewegungspraxis auf Steve Paxtons Bewegungs- und Improvisationsexplorationen am Oberlin College 1972 zurück. Seither hat sich diese Tanzform international etabliert und differenziert, als Improvisations-Performance ebenso wie als „social dance“ in Form von regelmäßigen „Jams“, als Übungsform in Verbindung mit unterschiedlichen Release-Techniken, die wiederum die Ästhetik des Zeitgenössischen Tanzes prägen. „The physical training of Contact Improvisation emphasizes the release of the body’s weight into the floor or onto a partner’s body [...]“, schreibt Ann Cooper Albright, „the experience of internal sensations and the flow of the movement of two bodies is more important than specific shapes or formal positions.“11 Steve Paxton hebt in einem frühen Artikel (in: The Drama Review, 1975) die sechs wesentlichen Elemente von Contact Improvisation hervor: „attitude, sensing time, orientation to space, orientation to partner, expanding peripheral vision, and muscular development, which includes centring, stretching, taking weight, and increasing joint action.“12

10 Zit. nach: Ann Cooper Albright und David Gere (Hg.): Taken by Surprise. A Dance Improvisation Reader, Middletown 2003, S. 206. 11 Ebd., S. 206. Es ist hier nicht der Ort, um auf die historischen und ästhetischen Strukturen von Contact Improvisation näher einzugehen. Albright hat darauf hingewiesen, dass es ein „tricky business“ sei, eine kohärente Beschreibung von Contact Improvisation zu geben: „the form has grown exponentially over time and has travelled through many countries and dance communities. Although it was developed in the seventies, Contact Improvisation has recognisable roots in the social and aesthetic revolutions of the sixties.“ (Ebd., S. 205) – Zur Geschichte der Contact Improvisation s.: Cynthia Novack: Sharing the Dance. Contact Improvisation and American Culture, Madison 1990. 12 Steve Paxton, zit. nach Cheryl Pallant: Contact Improvisation, S. 12f.

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Abbildung 1: Who leads? Andy Wichorek and Kelley Lane.



Quelle: Contact Improvisation: An Introduction to a Vitalizing Dance Form © 2006

Abbildung 2: Establishing a Contact Point: Corrine Mickler and Brandon Crouder.

  

Quelle: Contact Improvisation: An Introduction to a Vitalizing Dance Form © 2006

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Die Betonung von motorischen Seiten der Bewegung – wie z.B. die Arbeit mit „momentum“, „gravity“, „mass“/„weight“, mit „chaos“ und „inertia“, die Aufmerksamkeit auf höchst differenzierte Zustände des Muskeltonus’ zwischen Entspannung und Anspannung („release“/„inertia“ und „contraction“/Widerstand) und schließlich das „shifting“ der räumlichen Wahrnehmung zwischen dem Fokus auf das Innere des Körpers und das Äußere des Raumes machen klar, dass ein Akzent des Gesamt-Konzeptes von Contact Improvisation auf der bewussten Arbeit mit dem „sixth sense“, der Kinästhesie, liegt. Dabei greifen hier zwei Felder des Kinästhetischen ineinander: die kinästhetische Propriozeption und die Arbeit mit kinästhetischer Kommunikation – durch Berührung und Körperkontakt, sowie durch Verschiebungen des Gewichts und der räumlichen Lage (Position), welche Verschiebungen der dynamisch interagierenden Tänzer-Körper sind. Diese verkörperten Dynamiken sind offen für unterschiedliche Dimensionen von Energie – von weichem, fließenden Kontakt bis hin zu der Stärke körperlichen Widerstandes – innerhalb des Gebens und Aufnehmens von Gewicht und Bewegungsimpulsen. „Both the gross motor awareness of kinesthesia and the less conscious sensory feedback mechanism of proprioception form the basis of the physical dialogue which is so pivotal to creating dance“, schreibt Cheryl Pallant13. Erfahrene „Contacter“ wie z.B. Nancy Stark Smith betonen deshalb immer wieder die räumliche, nicht nur durch den Blick, sondern durch gesamt-körperliche Wahrnehmung sich herstellende Orientierung: ein Zustand, den sie „telescoping awareness“14 nennt, ein „shifting between narrow and wide views, from up-close sensation to perceptions of the wider world.“15 Die Faktoren „sensation of dropping through space“, „the forces of gravity, momentum, and mass“16 beeinflussen zugleich die Dynamik und Energie der Contact-Bewegungen. Einer höchst ausdifferenzierten Praxis der tänzerischen Arbeit mit Kinästhesie steht eine Verzögerung der theoretischen Auseinandersetzung mit Ergebnissen der physiologischen, phänomenologischen und neurowissenschaftlichen Kinästhesie-Forschung gegenüber. Diese hat – im Feld der Tanzwissenschaft – erst seit kurzem eine breitere Beachtung gefunden.17 Einen ersten Anstoß zu dieser Diskussion gab der schon aus den 1980er Jah-

13 14 15 16 17

Cheryl Pallant: Contact Improvisation, S. 32. Vgl. Albright/Gere: Taken by Surprise, S. 153. Ebd., S. 154. Ebd., S. 157. Vgl. Barbara Montero: „Proprioception as an Aesthetic Sense“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, Vol. 64/2 (2006), S. 231-242; und Jonathan Coleman/Barbara Montero: „Affective Proprioception“, in: Janus Head Vol. 9/2 (2002), S. 299-317.

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ren stammende Artikel von Mary M. Smyth: Kinesthetic Communication in Dance.18 Die Forschungen und Entdeckungen zu „Kinesthesis“ als Lageund Bewegungs-Sinn des Körpers, von Sherrington (1906)19 bis zu Gibson (1966)20 werden von Smyth daraufhin befragt, in welcher Weise „watching someone dance could link to the movement system of the observer“.21 Diese Frage bleibt zuletzt für Smyth nicht beantwortbar.22 Es ist eine Arbeit, die mehrere Hypothesen durchspielt, jedoch bevor die neueren Erkenntnisse zur Funktion von Spiegelneuronen in Tanz und Tanzwissenschaft rezipiert wurden.23 Das Thema „Kinästhesie“ hingegen ist in der Tanzforschung aktuell, seit sich das Interesse auf die Bedeutung von „Energie“, „Rhythmus“, „Synchronisation“ von Bewegungen im Modernen und Zeitgenössischen Tanz richtet. So widmet Dee Reynolds ihre Untersuchung zu „Rhythmic Subjects“24 den „uses of energy“ und den Fragen von Kinästhesie, nicht nur bezogen auf Körperposition, Muskelspannung und Bewegung, sondern auch im Blick auf kinästhetisch „verkörperte“ kulturelle Vorstellungen und Einstellungen des Kinästhetischen. Rudolf von Labans Konzept von „effort“ und phänomenologische Theorien (Edmund Husserl und Maurice MerleauPonty) informieren ihren Ansatz. Mit dem Begriff der „kinesthetic imagination“, der sich nicht nur auf die subjektiven Seiten der Propriozeption, sondern auch auf Fragen der kulturellen Prägung und der Übertragung von Energie bezieht, gelingt es ihr, das Phänomen der Kinästhesie aus dem Feld der Selbstwahrnehmung in der Tänzer-Praxis zu lösen und für Fragen der (syn-)ästhetischen Wahrnehmung des Beobachters zu öffnen.25

18 Mary M. Smyth: „Kinesthetic Communication in Dance“, in: Dance Research Journal, Vol. 16/2 (Herbst 1984), S. 19-82. 19 Charles Sherrington: The Integrative Action of the Nervous System, New Haven 1906. 20 James J. Gibson: The Senses Considered as Perceptual Systems, Boston 1966. 21 Mary M. Smyth: „Kinesthetic Communication in Dance“, S. 19. 22 Mary M. Smyth stellt fest, dass: „Somehow remains a gap in the process. Even if dancers were happy that such a process could in any way relate to the experiences which they called ‚kinesthetic communication’, we still do not know how it is effected [...] We do not yet know how seen movement can do this.“; Mary M. Smyth: „Kinesthetic Communication in Dance“, S. 22. 23 Giacomo Rizzolatti et al.: Mirrors in the Brain: How our Minds Share Actions, Emotions, and Experience, Oxford 2008. 24 Dee Reynolds: Rhythmic Subjects. Uses of Energy in the Dances of Mary Wigman, Martha Graham and Merce Cunningham, Hampshire 2007. 25 Vgl. Susan Leigh Foster: „Movements Contagion: The kinesthetic impact of performance“, online publication: University of California, International Performance and Culture Multicampus Research Group, Juni 2008, in: http://ucipc.com/wp-content/uploads/2008/06/movementcontagion-11.pdf (letzter Zugriff am: 17.10.2011); zu Kinästhesie und Empathie siehe auch: Susan Leigh Foster: Choreographing Empathy, Kinesthesia in Performance, London 2010.

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Abbildung 3: Relying on kinesthetic intelligence, centeredness, and counterbalance: Veronica Ramon and Cheryl Pallant.

Quelle: Contact Improvisation: An Introduction to a Vitalizing Dance Form © 2006

In der Praxis von unterschiedlichsten Körpertechniken, die für den Zeitgenössischen Tanz (aber nicht nur für diesen) Relevanz besitzen, ist eine Thematisierung des Kinästhetischen von zunehmendem Gewicht; selbst dann, wenn der Terminus „Kinästhesie“ nicht zum Vokabular des Diskurses zählt. So gaben etliche RepräsentantInnen von Körpertechniken – wie Feldenkrais, Alexander-Technik, Body Mind Centering – bei einer kürzlich veranstalteten Interview-Serie an, mit Grundprinzipien von Kinästhesie zu arbeiten, längst bevor sie den Begriff und entsprechende Forschungen zur Kenntnis nahmen. So antwortet z.B. der Tänzer Julyen Hamilton, dass seine Arbeit stark räumlich ausgerichtet sei: „This spatial sense is highly informed through the kinesthetic sensing of the inner body.“ Mehr noch: die „choices“, die immer Bewegungsentscheidungen sind, werden dadurch beeinflusst, dass sie nicht von außen – „via an outside eye“ gemacht werden, sondern „choices made from the proprioceptive abilities within the body as it senses itself and its environment.“ Das Ergebnis sei ein „radically spatial event permitted by the public and performers sharing of space.“26 Susan Klein, die Begründerin der „Klein Technique™“ betont die außerordentliche Wichtigkeit des Kinästhetischen, sowohl als „tool that allows us to understand the body“ als auch für die künstlerische Arbeit: „For

26 Vgl. Sabina Holzer and Katrin Roschangar auf Corpus.web vom 28.9.2010: „Kinesthetics: Four questions. Answered for Corpus by Andrey Andrianov, Rosemary Butcher, Julyen Hamilton, Susan T. Klein, Jeremy Krauss, Steve Paxton, and Linda Rabin“, in: http://www.corpusweb.net/kinesthetics-fourquestions.html (letzter Zugriff am: 17.10.2011).

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me the beauty and excitement in kinesthetics is bringing a body-felt understanding of movement to consciousness. It is fine-tuning our ability to feel, on subtle levels. [...] Kinesthetics is our tool to bring the body into a deep state of balance, to its optimal state of movement potential.“27 Der damit verbundene „process of discovery“, der geradezu eine Um-Schreibung von fixierten Blockaden, von Haltungen von Muskeln, Knochen und Gewebe auszulösen vermag, führt zu einem kinästhetisch informierten „internal knowing“.28 Das Ziel ist – wie in den meisten Konzepten von Körpertechniken, die mit „Body Mind Centering“, „Ideokinese“ oder „Functional Integration“ (wie z.B. die Feldenkrais-Methode) arbeiten: „body alignment, ease of movement and overall body harmony in dance“, wie Linda Rabin formuliert.29 Nicht ein ‚schönes‘ Körperbild, das einem durch einen ästhetischen Stil oder Bewegungscode vorgegebenem Training folgt, ist hier – in allen Arbeiten von kinästhetisch ausgerichteten Praktiken – leitend für die Idee von Tanz und Choreografie, sondern die von Linda Rabin gestellte Frage: „What would dance performance be like if dancers drew from this essential source?“30

AUFMERKSAMKEIT : K INAESTHETIC AWARENESS Ein Schlüsselbegriff, der in nahezu allen Texten und Diskursen der genannten Körpertechniken und der Contact Improvisation eine zentrale Rolle spielt, ist jener der Aufmerksamkeit – im doppelten Sinn von „attention“ und „awareness“, von gerichteter Aufmerksamkeit (aufmerken) und „auffallen“, wie der Philosoph Bernhard Waldenfels im Rückgriff auf phänomenologische Theorie (bei Husserl und Merleau-Ponty) unterscheidet.31 „It all starts with paying attention“, so sagt Linda Rabin.32 „Kinesthetics, the sense that tells us where and how we exist in our internal environment and how we connect and relate to our external environment“,33 kann zu einem bewussten Wahrnehmen führen. Interessant ist dabei insbesondere die Spaltung der Aufmerksamkeit. Susan Klein folgend: „It requires a split level of consciousness: one level is doing while the other level is observing

27 Ebd. 28 Ebd. 29 Ebd.; Linda Rabin arbeitete mit Lulu Sweigard mit „Ideokinesis“, erlernte „Alexander-Technik“ (durch Rika Cohen), praktizierte „Body Mind Centering®“ (gegründet von Bonnie Bainbridge Cohen) und wurde schließlich Lehrerin des „Continuum Movement“ (gegründet von Emile Conrad). 30 Ebd. 31 Vgl. Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. 32 Sabina Holzer/Katrin Roschangar: „Kinesthetics: Four questions“, Corpus. 33 Susan Klein in: Sabina Holzer/Katrin Roschangar: „Kinesthetics: Four questions“, Corpus.

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what is done. Kinesthetic awareness allows us to keep track of what we are doing with our bodies as well as how we are doing it.“34 Aufmerksamkeit – als „attention“ und „awareness“ – umfasst das gesamte Sinnes- und Handlungsszenario, das z.B. in den Bewegungsexplorationen von Contact Improvisation angesprochen wird. Aufmerksamkeit impliziert Achtsamkeit – auf die Prozesse der eigenen Körperlichkeit ebenso wie auf die Erfahrungen der Berührung mit dem Anderen. Aufmerksamkeit öffnet damit den gesamten Fächer des Begriffs, wie er in einer anthropologisch-phänomenologischen Spezifizierung beschreibbar ist. Waldenfels weist unter Rekurs auf Immanuel Kant darauf hin, dass damit die Aspekte der willentlichen Steuerung von Aufmerksamkeit („attentio“, „abstractio“, „distentio“), das Bemerken („animadvertere“) und das Beobachten („observare“) ineinander übergehen.35 Hinzu kommt noch der Modus der Selbstaffektion, d.h. „die Affektion des inneren Sinnes durch uns selbst mit einem ‚Actus der Aufmerksamkeit’.“36 Eben diese Doppelung von nur teilweise steuerbarer „awareness“ und Selbstaffektion durch Bilder in der (inneren) Wahrnehmung markieren das Potenzial von Kinästhesie und „kinesthetic imagination“ (Dee Reynolds). Genau hier öffnet die Schlüsselformel „Listening“ das synästhetisch-kinästhetische Spektrum der Möglichkeiten von Aufmerksamkeit: als „perception“ und „awareness“. Eine kleine Episode mag die Verschiebungen und Übertragungen zwischen Bewegen und (Beobachter-)Wahrnehmen illustrieren: Im Sommer 2010 fuhr ich mit zwei Team-Mitarbeitern durch die sommerliche brandenburgische Landschaft in ein Dorf, zu einer Art „Tanzland“Farm, genannt „Ponderosa“, wo ein Workshop zu Contact Improvisation mit Nancy Stark Smith, einer der bekanntesten Persönlichkeiten in diesem Feld, stattfand. Wir waren angemeldet und hatten die Erlaubnis als kleine Forschergruppe den Workshop zu beobachten. In einer großen, etwas baufälligen Scheune, inmitten eines verwilderten holunderduftenden „Paradieses“ – wie ein Relikt aus den Hippie-Zeiten der 70er Jahre – fand der Workshop statt: in einem lichten, großen, durch Holzbalken gestützten Raum, dessen Atmosphäre alle Teilnehmer einstimmte – durch seine Weite, räumliche Öffnung, Konzentration, Ruhe und Dynamik, durch die rhythmische Teilung des Raumes durch Fenster und Balken. Neunzehn TeilnehmerInnen des Workshops – und wir Beobachter – verteilten sich in diesem Raum. Auffallend war, wie sehr dieser Raum, seine Auf-Teilung den gesamten Prozess des Workshops und die unterschiedlichen Aktionszentren der Bewegung und der „Kontakte“ mit hervorbrachte. Partizipation war hier nicht nur „sharing the space“, sondern zugleich und gleichermaßen: ein Konstituieren von „space“ im Handeln, Bewegen und Zuschauen.

34 Ebd. 35 Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 230f. 36 Ebd., S. 231.

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Die Frage nach dem Verhältnis von „movers“ (Workshop-Teilnehmern) und uns als Beobachtern war während des gesamten Prozesses lebendig – und sie veränderte sich! Die Beziehungen transformierten die Wahrnehmung. Der Workshop intendierte „to pay special attention to the delicate transition from intimate, private authenticity to art making intended to be viewed by the public. [...] Are the subtle experiences of perception and action inside improvised dance visible to the watcher?“37 Diese Erfahrungen und diese Fragen wurden geteilt: Wir wurden am Ende gefragt: „What did you see?“ – im Blick auf einen Bewegungsprozess, in dem es um einen beständigen Wechsel von „dance, watch, listen, being watched“ ging. Ohne hier ins Detail zu gehen, lassen sich folgende Aspekte herausheben, die die „Arbeit“ an Synchronisation und Partizipation verdeutlichen und differenzieren. Dabei ist es bemerkenswert, dass alle Themen und Prozesse, die in dem Workshop vorkamen, mit der Frage der „Aufmerksamkeit“ verknüpft waren: Aufmerksamkeit als sensorisch-kinästhetischer Modus von Partizipation. Zu den Fragen, die sich – aus der Beobachtung dieses (und anderer) Workshops – ergaben, gehört auch die Überlegung, in welcher Weise das Vokabular der Kommunikation und des Szene-Diskurses die Erfahrung, und damit auch die Formen und Möglichkeiten der Partizipation beeinflussen. Zuerst waren wir der Meinung, dass im Verlauf des Workshops das Wort „task“ – bezogen auf unterschiedliche Bewegungshandlungen – des Öfteren verwendet wurde. Es stellte sich bald heraus, dass wir uns „verhört“ hatten: nicht von „task“ (wie in der „task-based improvisation“), sondern von „taste“ war die Rede! „To taste… the moment, the contact, the weight, the line or space“, oder „all the tastes in the background. “ Handlungsmodell und sinnliche Wahrnehmung verschränken sich genau darin – und es ist eine Erfahrung, an der „movers“ und „observers“ in unterschiedlicher Weise teilhaben. Zwischen kleinen Gruppen und auch zwischen allen Workshop-TeilnehmerInnen fanden sehr verschiedenartige Formen der Bewegungs-Synchronisation statt. Es ist hier nicht der Raum, darauf einzugehen. Eine kleine Episode von Synchronisation möchte ich hier erwähnen, die sich zwischen „movers“ und „observers“ herstellte, weil sie zugleich die Emergenz des „sharing“ – des Grundgedankens der Contact Improvisation38 beleuchtet. Auf die Frage, die im abschließenden Gespräch mit allen TeilnehmerInnen an uns gestellt wurde: „What did you see?“, antwortete einer aus unserer Forschungs-Gruppe, das Eintreten (und sharing) in diesen Workshop-Raum und Rahmen sei eine markante Erfahrung gewesen. Weshalb? Wegen der Differenz zwischen einer Situation von Stress (aus der vorhergehenden Arbeitssituation, Uni-Alltag, anstrengender Fahrt) zu einem Raum und den

37 Nancy Stark Smith in der Workshop-Ankündigung. 38 Vgl. Cynthia Novack, die ihr – immer noch grundlegendes Buch zu Contact Improvisation – so benannt hat: „Sharing the Dance“; Cynthia Novack: Sharing the Dance: Contact Improvisation and American Culture, Madison 1990.

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Begegnungsmöglichkeiten von großer Ruhe, Freiheit der Selbst-Organisation, Lösung von Perfektions-Zwängen. Dieses Feedback an die Workshop-TeilnehmerInnen wurde sehr positiv aufgenommen. Es war deutlich, dass die Erfahrung der Lösung von Spannung, des Raumgebens für differenzierten „Contact“ („taste“) und die Distanz zur (leistungsorientierten) Arbeitsökonomie dem Konzept des Workshops und der Contact Improvisation unbewusst antworteten. Darüber hinaus aber war es die Erfahrung von Differenz selbst, die hier den von außen kommenden Beobachter als Partizipierenden – im Sinne von „sharing“ – in die Gruppe der „movers“ einschloss. Für unsere Fragen nach Partizipation schließt sich hier die Überlegung an, ob und in welcher Weise jene Parameter, die das Partizipatorische ausmachen, überdacht werden sollten. In diesem Fall würde dies z.B. auch bedeuten, dass die „responsiveness“, die sich zwischen Workshop-„movers“ und Workshop-„observers“ herstellte, nicht die Antwort auf die Frage nach der Partizipation darstellt. Sondern dass genau darin eine Frage liegt: die Frage nach den Kriterien des Partizipatorischen und ihren Kontextabhängigen Veränderungen: Was beispielsweise sagt dies über Formen der Synchronisation und Konzepte der Teilhabe aus, wenn die Lösung von Spannung, oder die Veränderung der Atmung als ein (emergenter) Effekt einer solchen Übertragung in einer Gemeinschaft bewertet wird? Hier sind Dimensionen des sensorisch-Energetischen angesprochen, die zu Nuancierungen und Differenzierungen des Begriffs „Energie“ herausfordern. In welcher Weise werden in solchen Prozessen unterschiedliche Dimensionen der Erfahrung und des Wissens angesprochen? Im Falle unseres Beispiels zeigten sie sich in der Adressierung eines „tacit knowledge“ (Michael Polanyi) einer liminalen Aufmerksamkeit als einem schwer beschreibbaren Zustand, in dem man für Signale empfänglich ist, die man nicht intentional fokussiert, sondern die in einer beweglich-beiläufigen Weise aufgenommen werden.39

39 Unsere Fragen konzentrieren sich demgegenüber auf Modi von Partizipation, die durch solche Formeln und Kriterien nur unzureichend zu beschreiben sind: beispielsweise, in welcher Weise bin ich zugehörig und „included“ in einen Prozess von Aktionen, Übungen, Bewegungen – wie bei jenem Contact ImprovisationsWorkshop im „Tanzland“ Ponderosa – auch wenn ich als „Audience“, Observer, als Spectator „dabei“ bin, und doch außerhalb bleibe, was mit der Bezeichnung von „exclusion“, oder „not belonging“ nicht genau erfasst wäre. Besteht nicht eben darin das interessante Potenzial eines rethinking of Partizipation, das aus der Erfahrung und der Theorie von Performance stammt? In der Beobachtung, dass die Zuweisungen von aktiv und passiv (wie Rancière betont) und die Reichweite des Begriffs von Handlung und von Performance nicht eindeutig festzulegen sind, ja dass gerade durch die Beweglichkeit der Beziehungen (z.B. von Performern und Zuschauern) und durch die Verschiebungen von Rahmen die unterschiedlichsten temporären Möglichkeiten von Partizipation emergieren.

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„L ISTENING “: „S MALL D ANCE “ Die Fragen, die mit dieser Episode eines „Kontakts“ zwischen Tänzern und Beobachtern eines Contact Improvisation-Workshops beleuchtet werden sollten, sind komplex. Weder neurowissenschaftlich noch ästhetischtheoretisch ist die Vielfalt der Aspekte einfach zu lösen – beispielsweise die Frage: Wie sind die diffizilen und mikroskopischen kinästhetischen Prozesse, die während einer Stunde in Susan Klein-Technik, oder in einer Sequenz von Contact Improvisation stattfinden, für einen Beobachter wahrnehmbar? Im Kontext des Contact Improvisations-Diskurses ist es „Listening“ – als eine Qualität der Aufmerksamkeit und des Gewahrseins, worin sich für „mover“ und „observer“ das „voluntary“ und „involuntary“ der Bewegungsprozesse erschließen: „Remaining present and listening go hand in hand.“40 Die Kinästhesie – darauf weisen phänomenologische Ansätze von Husserl, Merleau-Ponty bis Waldenfels hin – ist eine körperliche Raum-ZeitErfahrung. Als solche nimmt sie eine besondere Gestalt innerhalb eines Hör-Klangs-Raums an.41 Dies impliziert eine „akustische Epoché“, d.h. einen Bruch (in) der Re-Sonanz. „Listening“ bedeutet dementsprechend mit Waldenfels, dass es eines „Andershörens“42 bedarf, das die Ordnung des Hörens durchbricht, um die synästhetisch-kinästhetische Qualität jenes „movere“ – im Sinne eines sensorischen und emotionalen Bewegtseins – zu erreichen, um die es im Kontakt-Berührungs-Spiel der Contact Improvisation geht. „Kinästhese“, wie Edmund Husserl den Begriff einführt, ist somit nicht „als Bewegungsempfindung zu verstehen, die sich nur durch einen speziellen Empfindungsinhalt von anderen Empfindungen unterscheidet, sondern ‚Kinästhese‘, die das Ich sich selbst zuschreibt, bedeutet ein sich bewegendes Empfinden vor einem sich empfindenden Bewegen, wobei die chiastische Formulierung andeutet, das Kinesis und Aisthesis weder phänomenal noch neuronal völlig zur Deckung kommen.“42

Dieses Zögern, Verzögern – jene kinästhetische Epoché, die eine Lücke im Verhältnis von Sich-Bewegen und der (Selbst-)Wahrnehmung offenhält43 – wird in den (elaborierten!) Beschreibungen von Kinaesthetics und Contact Improvisation immer wieder markiert. Linda Rabin spricht von der Frage:

40 Cheryl Pallant: Contact Improvisation, S. 34. 41 Vgl. Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 199; Vgl. Carman Taylor: „The Body in Husserl and Merleau-Ponty“, in: Philosophical Topics, Vol. 27 (1999), S. 205-286. 42 Ebd., S. 194. 42 Vgl. Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen, Frankfurt a. M. 1999, S. 68ff. 43 Bernhard Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, S. 221.

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„what is movement within the movement?“44; Nancy Stark Smith betont für die Contact Improvisation immer wieder die elementare Bedeutung der kinästhetischen Erfahrung von „disorientation“ und eines „gap“, das die Kontrolle der Bewegungsorientierung unterbricht. An dieser Stelle mag sich die – lange obsolete – Frage wieder einstellen, an welcher Grenze die Arbeit mit kinästhetischer Wahrnehmung zwischen der Praxis von „social dance“ und künstlerischer Performance verläuft, sich verschiebt, diffundiert. Die Ausrichtung auf „flow“, auf „coordinating falling, following momentum, blending with ‚partner’s movement‘“ wendet sich – so Nancy Stark Smith – in ein Spiel „against“: „making myself heavy instead of light when a lift starts, [...] insisting instead of yielding, adding no to yes. [...] I’ve been in the harmony business a long time now. [...] As much as I love running around, I think I’m going to try running into things more often, or at least against them.“45 Diese Brechung – von der Seite einer Gegenkraft, eines kinästhetischen Widerstands her – spiegelt das Pendulum, das Balancieren um Bewegung und Stillstand, in dem sich die Potenzialität/Reflexivität des Kinästhetischen artikuliert: Die äußerste Reduktion der Bewegung als ein „deep inner dance“ – und die Frage: was geschieht „by reducing the outer movement to a minimum, and by slowing down the speed to a degree, I continued to explore the inner world of the dance“, so fragt sich Linda Rabin.46 Sie war gespannt zu erfahren, was „the audience would perceive when all extraneous movement was removed, if the simplicity of a dancer’s walk, sitting or raising an arm, could communicate the intriguing world of sensations and feelings coursing through the performer.“47 Auch wenn diese innere Reise, dieser „innere Tanz“ nicht in allen Details nachvollziehbar sein kann, Verknüpfungen der kinästhetischen Wahrnehmung – ein „sharing“ auch zwischen „mover“ und „observer“ – ist ein wesentlicher Aspekt einer syn- und kinästhetischen, (das heißt einer empathischen) BewegungsSynchronisation in der Contact Improvisation und anderen hier erwähnten Körperpraktiken. Die Reduktion, die Aufmerksamkeit auf den mikroskopischen „inner dance“ eröffnet ein spezifisches Feld der (kin-)ästhetischen Bewegungserfahrung, an der Grenze des Stillstands; ein Still-Stehen, das eben nicht ein Stillstand ist, sondern ein Szenario voller riskanter innerer Bewegung: „Even standing, we execute a continuous fall.“48 Wo wäre hier Anfang und Ende, Ruhe und Bewegung in einem Tanz, der in nichts anderem besteht, als in einem still Da-Stehen? Nancy Stark Smith beschreibt jenen Tanz, den

44 Sabina Holzer/Katrin Roschangar: „Kinesthetics: Four questions“, Corpus. 45 Nancy Stark Smith in einem Artikel in Contact Quarterly 1984, zit. in Albright/ Gere: Taken by Surprise, S. 162. 46 Sabina Holzer/Katrin Roschangar: „Kinesthetics: Four questions“, Corpus. 47 Ebd. 48 Ann Woodhall formulierte dieses zentrale Paradox, zit. in Albright/Gere: Taken by Surprise, S. 157.

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Steve Paxton in den 1970er Jahren erfand und den er SMALL DANCE nannte.49 Ein Tanz, der in nichts anderem als „standing“ besteht. Sie kommentiert ihre Erfahrung: „Relaxing erect, the intelligence of the body is revealed as it fires the appropriate muscles just enough to keep the body mass hovering within the range of its vertical supports. The micromovements that occur to keep me balanced are so tiny and yet so magnified, and arise from such a deep feeling of stillness and space, that I get giddy, tickled by the impossible magnitude of such subtle sensations. The disorientation in the stand comes from the feeling that inside the apparent solidity and stillness of standing, there is nothing but movement and space!“50

Disorientation, die intensive Bewegung – der Tumult eines unbekannten energetischen Zustands im Herzen des Still-Stehens – diese Momente der kinästhetischen Erfahrung eines „Listening“ sind es, die das Potenzial von Bewegungs(er)findung im Zeitgenössischen Tanz öffnen und übertragen.

L ITERATUR Coleman, Jonathan/Montero, Barbara: „Affective Proprioception“, in: Janus Head Vol. 9/2 (2002), S. 299-317. Cooper Albright, Ann/Gere, David (Hg.): Taken by Surprise. A Dance Improvisation Reader, Middletown 2003. Flach, Sabine/Söffner, Jan/Fingerhaut, Jörg (Hg.): Habitus in Habitat III. Synaesthesia and Kinaesthetics, Bern 2011. Gibson, James J.: The Senses Considered as Perceptual Systems, Boston 1966. Heilmann, Nora (2006): „Rupture in Space“, in: http://www.ruptures. wordpress.com (letzter Zugriff am: 17.10.2011). Holzer, Sabina Holzer/Roschangar, Kathrin: „Kinesthetics: Four questions. Answered for Corpus by Andrey Andrianov, Rosemary Butcher, Julyen Hamilton, Susan T. Klein, Jeremy Krauss, Steve Paxton, and Linda Rabin“, in: Corpus.web vom 28.9.2010 http://www.corpus-web.net/kinesthetics-four-questions.html (letzter Zugriff am: 17.10.2011).

49 Zu Steve Paxtons genauer Anweisung von „Small Dance“ vgl. die „Rekonstruktion“ von Nora Heilmann (2006): „Rupture in Space“, in: http://www.ruptures.wordpress.com (letzter Zugriff am: 17.10.2011); Vgl. Erin Mannings Kommentar „A Mover’s Guide to Standig Still“ in Bezug auf Steve Paxtons „Small Dance“ in: Relationscapes. Movement, Art, Philosophy, Cambridge/ Massachusetts/London 2009, S. 43-49. 50 Zit. in Albright/Gere: Taken by Surprise, S. 162f.

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Johnson, Mark: The Body in the Mind: The Bodily Basis of Meaning, Imagination and Reason, Chicago 1987. Klein, Susan in: Sabina Holzer/Katrin Roschangar: „Kinesthetics: Four questions“, Corpus. Lakoff, George/Johnson, Mark: Philosophy in the Flesh, New York 1999. Leigh Foster, Susan: „Movements Contagion: The kinesthetic impact of performance“, online publication: University of California, International Performance and Culture Multicampus Research Group, Juni 2008, in: http://uc-ipc.com/wp-content/uploads/2008/06/movementcontagion-11pdf. Leigh Foster, Susan: Choreographing Empathy, Kinesthesia in Performance, London 2010. Mannings, Erin: „A Mover’s Guide to Standig Still“ in Bezug auf Steve Paxtons „Small Dance“ in: Relationscapes. Movement, Art, Philosophy, Cambridge/Massachusetts/London 2009, S. 43-49. Montero, Barbara: „Proprioception as an Aesthetic Sense“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, Vol. 64/2 (2006), S. 231-242. Nancy, Jean-Luc: À l’écoute; dt: Zum Gehör, aus dem Französischen übersetzt von Esther von der Osten, Berlin/Zürich 2010. Neuhaus, Max: LISTEN, in: Ausst.-Kat. Kunst- und Ausstellungshalle der BRD Bonn (Hg.): Auf tönernen Füßen, Göttingen 1994. Novack, Cynthia: Sharing the Dance: Contact Improvisation and American Culture, Madison 1990. Pallant, Cheryl: Contact Improvisation: An Introduction to a Vitalizing Dance Form, North Carolina/London 2006. Reynolds, Dee: Rhythmic Subjects. Uses of Energy in the Dances of Mary Wigman, Martha Graham and Merce Cunningham, Hampshire 2007. Rizzolatti, Giacomo: Mirrors in the Brain: How our Minds Share Actions, Emotions, and Experience, Oxford 2008. Sherrington, Charles: The Integrative Action of the Nervous System, New Haven 1906. Smyth, Mary M.: „Kinesthetic Communication in Dance“, in: Dance Research Journal, Vol. 16/2 (Herbst 1984), S. 19-82. Stark Smith, Nancy: in einem Artikel in Contact Quarterly 1984, zit. in Albright/Gere: Taken by Surprise, S. 162. Taylor, Carman: „The Body in Husserl and Merleau-Ponty“, in: Philosophical Topics Vol 27 (1999), S. 205-286. Valéry, Paul: Cahiers, Bd. II, Paris 1974. Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a. M. 2004. Waldenfels, Bernhard: Sinnesschwellen, Frankfurt a. M. 1999.

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Alle Abbildungen zitiert aus: Contact Improvisation: An Introduction to a Vitalizing Dance Form © 2006 Cheryl Pallant by permission of McFarland & Company, Inc., Box 611, Jefferson NC 28640. www.mcfarlandpub.com.

Low Energy – High Energy Motive der Energetisierung von Körper und Szene im Tanz S ABINE H USCHKA

E NERGIE

UND IHRE

W AHRNEHMUNG

Unsichtbar, unhörbar und substantiell so ganz und gar ohne Form bestimmt Energie das Maß unserer Produktivität und unseres Befindens, ja unserer Substanz. Obwohl das sinnliche Wahrnehmungsspektrum von Energie eingeschränkt ist, nehmen wir ihre Wirkungen gleichwohl wahr und merken, wenn wir müde, überdreht, entspannt, angespannt oder gereizt sind. Der eigene Energielevel verändert sich immer spürbar. Die Frage nach der Energie adressiert damit eine un(be)greifbare Qualität, die uns körperlich betrifft, bewegen wir uns doch in, mit und inmitten von Energiezuständen.1 Über dieses Auftreten und wahrnehmbare Eintreten von Energiezuständen gibt das enzyklopädische Wissen über Energie als physikalische Größe kaum Auskunft. Für dessen Auftreten als „Bewegungsenergie“ etwa gilt der Grundsatz, dass sie „gleich der Arbeit [ist], die notwendig ist, um einen Körper aus der Ruhe bis auf eine bestimmte Geschwindigkeit zu beschleunigen.“2 Energie eignet demnach eine Notwendigkeit und ein hoher Grad an Wirksamkeit, die die Physik etwa in Kraftfeldern wie dem Gravitationsfeld beobachtet. Was den beiden divergenten Wissensfeldern über Energie dennoch gemein ist und somit das Wissen über die Notwendigkeit von Energie zur Anregung von Prozessen mit dem Wissen über ihre spürbare Anwesenheit vereint, ist ihre (unhintergehbare) qualitative Bedeutung. Es ist gewis1

2

Gesellschaftlich gewinnt die Frage nach der Energie zudem an Bedeutung, denn offensichtlich verschwenden wir viel Energie und greifen damit nicht allein an unsere Ressourcen, sondern verausgaben uns im Grunde selbst. Hieraus ergeht mitunter eine Sorge (um uns selbst), wie es etwa die anhebende Aufmerksamkeit angesichts grassierender burn-out Syndrome anzeigt. Der neue Brockhaus. Lexikon und Wörterbuch in fünf Bänden und einem Atlas, Wiesbaden 1974.

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sermaßen eine innewohnende Potenzialität, die Energie auszeichnet, um Verwandlungsprozesse anzuregen. In ihren Intensitäten zeigt und artikuliert sich das Energetische. Körpertechnische und ästhetische Bewegungsverfahren wissen – so möchte ich im Weiteren zur Diskussion stellen – um spezifische Qualitäten von Energie, basieren sie doch auf produzierenden Verfahren und Kunstfertigkeiten des Sich-Bewegens. Es ist mitunter die Kunst, den eigenen Körper in Bewegung zu bringen und Energien über Atmung, Imagination oder kinästhetische Übungen aktivieren zu können. Angeregt werden Zustände oder Intensitäten, die spezifisch energetische Zugänge (sich-)bewegender Bewegungsprinzipien aktivieren oder freilegen. Gerade dem ästhetischen Bereich des Tanzes eignet dieses auf den ersten Blick eigentümliche Wissen, nämlich Energetisierung verschiedenster Stofflichkeit und Qualität qua Bewegung,3 unterscheidbar nach Grad und Motivik, bewirken zu können. Energie tritt im Tanz als Bewegung auf und entfaltet sich durch die anwesenden Körper auf der Bühne in bewegungstechnischen und kompositorisch angelegten Transformationsvorgängen. Als Szenarien der Energie im Feld choreografischer Realisationen – als welche sie verstanden werden können – eignen ihnen Prozesse und Grade von Verwandlungen, die in gewisser Weise eine Anregung des Blicks auf die Körper/Szenen zu erzeugen suchen. Abbildung 1: Training der Release Klasse von Lance Gries

Quelle: Tanztechnik Forschungsprojekt an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst ©Katja Mustonen

3

Prozesse der Aktivierung von Energie und ihre Transformationen sind im Bereich des Körperlichen entschieden empfindlicher als im Bereich des Physikalischen, besitzen sie doch im Körper selbst stoffliche Qualitäten. Verausgabung und Erschöpfung kennzeichnet das Energetische ebenso wie Ekstase oder Wohlbefinden. An beiden Enden der Skala ist Energie selbst körperlich wahrnehmbar.

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Doch gleichwohl es gerade die Tanzkunst ist, der es um die Produktion und Aktivierung von Energien als Bewegungserscheinung etwa in Form von Präsenz oder Ereignis gelegen ist, ja gerade ihre Kunst um das Ausspielen von energetischen Wahrnehmungsfeldern weiß, zögert der ästhetisch-wissenschaftliche Tanzdiskurs bislang, Energie als analytische und qualitative Größe in Betracht zu ziehen.4 Denn das Energetische gehört wahrnehmungsästhetisch nicht nur einem undurchsichtigen, nahfühligen und damit unbestimmten Bereich zu, der noch unfassbarer zu beschreiben oder zu analysieren ist als etwa Atmosphären in ihren leiblichen Stimmungen.5 Vielmehr sprechen verschiedene Körpertechniken von Energie in den unterschiedlichsten spirituellen Figurationen, womit ihre Qualitäten eher mit Aspekten des Religiösen als des Ästhetischen belegt sind. Wohl auch aus diesen Gründen hat es der (ästhetische) Tanzdiskurs bislang vermieden, das Energetische als ästhetische Kategorie zu behandeln, ja dem Energetischen überhaupt eine Transparenz einzuräumen, über die man sich verständigen könnte. Was also wäre der potenzielle Gewinn, Aufführungen, Tanztechniken, Stile und Ästhetiken in ihren energetischen Figurationen zu analysieren? Obwohl körperliche Bewegungen in ihren technischen und kompositorischen Verfasstheiten Energien hervorbringen und mit ihnen arbeiten, besagt der Hinweis, es zeige sich in ihnen ,Energie‘ selbst wenig. Es fehlt das qualifizierende Moment. So stellt sich die Frage, wie Energien im Terrain körperlicher Bewegungen begreifbar und differenzierbar wären, in welchen Weisen und Ausprägungen sie auftreten und wie mit ihnen gearbeitet wird.

T ANZ

UND

E NERGIE

Die deutsche Etymologie hebt die Wortbedeutung von ‚Energie‘ als ,Tatkraft, Nachdruck‘ hervor, ein Aspekt, der im Tanzbereich an die Allianz 4

5

6

Eine aktuelle Ausnahme bildet die Dissertation von Dee Reynolds, die sich ausdrücklich dem Thema Energie als kinästhetischer Imaginationsraum und kulturell signifikanter Ausdrucksform widmet. Methodologisch lehnen sich die Analysen u.a. maßgeblich an Rudolf von Labans effort theory an. Vgl.: Dee Reynolds: Rhythmic Subjects. Uses of Energy in the dances of Mary Wigman, Martha Graham und Merce Cunningham, Alton, Hampshire 2007. Den Atmosphären hat G. Böhme ausgiebige Studien gewidmet. Vgl. Gernot Böhme: Atmosphäre, Frankfurt am Main 1995, in: ders.: Anmutungen. Über das Atmosphärische, Ostfildern vor Stuttgart 1998. Vgl. Eintrag im Etymologischen Wörterbuch des Deutschen (nach Pfeifer), der vermerkt: „Energie f. ,Tatkraft, Nachdruck‘, als naturwissenschaftlicher Terminus ,Arbeitsvermögen physikalischer Systeme‘. Griech. enérgeia (‫݋‬ȞȑȡȖİȚĮ) ,Wirksamkeit, wirkende Kraft‘, zum Adjektiv griech. energ‫ڼ‬s (‫݋‬ȞİȡȖȒȢ), wirkend, kräftig’, einer Bildung zu griech. érgon (‫ݏ‬ȡȖȠȞ),Werk, Sache‘ (verwandt mit

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von Körpereinsatz und Ökonomie erinnert. Tänzerkörper arbeiten in ihren spezifischen Techniken mit immenser ,Tatkraft‘, das haben nicht nur hinlänglich physiologische und sportwissenschaftliche Studien herausgestellt. Es ist vor allem der aktivierte muskuläre, mentale und imaginäre Krafteinsatz, in der sich diese ,Tatkraft‘ artikuliert. Rudolf von Laban systematisierte diese verschränkt mit einer psychologischen Bewegungstypologie ab den 1940er Jahren in seiner effort theory (Lehre von den Antriebskräften).7 Darin werden expressive Ausdrucksschemata klassifiziert, die Bewegung nach räumlichen und zeitlichen Aspekten, dem Einsatz von Kraft und ihrem Charakter des flow (Bewegungsfluss) psychologisch, ästhetisch und ökonomisch als energetische Ausdrucksgestalten fassen. Jener angewandten ,Tatkraft‘ wohnt somit eine expressive und ästhetische Dimension inne, in der sich das energetische Prinzip der Bewegung zeigt und in ihren Ökonomien mitunter eine politische Dimension hat.8 Als Ausdruck einer Tatkraft verstanden, liegt der besondere Wert von Energie im Tanz damit nicht allein in dem physischen Vermögen ihrer Erzeugung, sondern in dem Vermögen, qua Energie Wirkung zu erzeugen So scheint es eher die dem Griechischen entlehnte Wortbedeutung von enérgeia (‫݋‬ȞȑȡȖİȚĮ) zu sein, die das Energetische im Tanz beschreibt, d.h. eine im Wortsinn ,Wirksamkeit, wirkende Kraft‘. Als solcherart ,wirkende Kraft‘ kommt Energie im Tanz eine klare ästhetische Funktion zu, nämlich eine ästhetische Wirkungskraft in Körpern und auf der Bühne zu entfalten, ausgestellt etwa als herausgehobenes körperliches Vermögen virtuoser Bewegungsgestaltung, in psychischen Konstellationen oder zurückgenommen in neutralisierten Körperbildern. Ja, es scheinen gerade ästhetische Qualitäten einer intensitätssteigernden Wirkungskraft zu sein, in der sich das Energetische im Tanz zeigt und auf die sich bewegungstechnische und kompositorische Verfahren aufmerksam richten, um in Körpern auf der Bühne nicht nur Prozesse der Verwandlung und Transformation anzuzetteln, sondern Zustände der Erregung seitens der Zuschauer zu erzeugen. Welche ästhetische und politische Dimension kommt den produzierten Energiefeldern im Einzelnen damit zu? Auch wenn diese Frage hier zunächst offen bleiben muss, so zeigt sich mit Blick auf historische und zeit-

7 8

Werk, s. d.), wird über gleichbed. spätlat. energƯa als énergie ins Frz. entlehnt und von dort in der ersten Hälfte des 18. Jhs. ins Dt. übernommen. […] In der Physik setzt sich Energie in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. gegenüber älterem lebendige Kraft als Fachausdruck durch (engl. energy jedoch schon bei Young 1807).“ Vgl. Rudolf Laban/C. F. Lawrence: Effort, London 1947. In: Erläuterung: Eden Davies: Beyond Dance. Laban‫ތ‬s Legacy of Movement Analysis, London 2001. Vgl. hierzu die Studie von Mark Franko: The Work of Dance. Labor, Movement and Identity in the 1930s, Middletown 2002, die die Allianz von Politik und Ästhetik als Akte einer praktizierten Körper/Arbeit und ihrer Ökonomien im Tanz verfolgt.

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genössische Dispositionen eine geradezu akute Relevanz, energetische Prinzipien und Zustände im Körper und auf der Bühne zu gestalten, sie zu aktivieren und auszustellen. Energie avanciert, so sucht es die folgende kurze Passage durch den Bühnentanz des 20. und 21. Jahrhunderts deutlich zu machen, zum Szenischen choreografierter Körper.

T ANZ UND E NERGIE I: ARBEIT AM G RUND DER B EWEGUNG Zu Beginn des 20. Jahrhunderts macht sich im Modernen Tanz ein markantes Aufmerken für Generierungsprozesse von Bewegung als ästhetischer Darstellungsraum bemerkbar. Es ist das bewegende Prinzip der Bewegung selbst, also ihre energetischen Prinzipien, die Tänzer/innen und Choreograf/innen technisch und szenisch ausloten. Die Frage nach dem ‚wie‘ der Bewegung stellt sich als eine nach der Quelle und den Prinzipien eines SichBewegens. Körper und Subjekt werden als Formen eines ursächlichen Prinzips von Bewegung ausgestellt. Die tanztechnischen Auseinandersetzungen richten sich auf einen initiierenden Moment bzw. eine Quelle, aus der heraus der eigene Körper ein bewegendes Prinzip von Bewegung erfährt. Innerhalb der Ordnungen von Natur, Esoterik und Gefühl suchen Isadora Duncan, Ruth St. Denis oder Loie Fuller die Gestalt eines sich-bewegenden (Grund)Prinzips auszustellen, mit dem sich das Subjekt choreografisch entwirft. So forschte etwa Isadora Duncan bekanntermaßen „nach dem Sitz des inneren Ausdrucks, von dem aus die seelischen Erlebnisse sich dem Körper mitteilen und ihm lebendige Erleuchtung verleihen sollen“9 und fand ihn – regungslos im Trancezustand versunken – aus dem Solarplexus herauskommend. Dieser „Sitz aller Bewegung“ wie sie schreibt, „die Triebfeder, die motorische Kraft, die Einheit, aus der die Vielfältigkeit des Bewegungskomplexes entspringt“10, markiert den „seelischen“ Grund der Bewegung, um sich über die Impressionen der Musik durch ihren Körper hindurch fortzupflanzen. Das ursächliche Prinzip der Bewegung, aus der das SichBewegen hier hervorgeht, zeitigt eine körperliche Eigenwahrnehmung verbunden mit einer medialen Instanz des Musikalischen. Aus ihren Impressionen tritt – wie Mark Franko11 und Gerald Siegmund12 betont haben – die empfindende Tänzergestalt hervor. Die Arbeit am Grund der Bewegung zielt auf einen Raum und einen Zustand, in dem Bewegungen wahrgenommen, empfunden oder sich imagi9 Isadora Duncan: Memoiren, Frankfurt a. M./Berlin 1988, S. 57f. 10 Ebd. 11 Mark Franko: Dancing Modernism/Performing Politics, Bloomington und Indianapolis 1995, S. 1-24. 12 Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérome Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld 2006, S. 124- 130.

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niert entfalten. Als ursächliche Prinzipien von Bewegung gefasst, treten ihre Zustände und Intensitäten in der weiteren choreografischen Auseinandersetzung als ästhetische Bewegungsformen auf, die den Körper als Subjekt von Bewegungen ausstellen. Modelliert finden sich dabei interessanterweise weniger spezifische Figurationen eines Sich-Bewegens denn eine gebärdengleich ausgestellte Gefühlsgestalt, die auf einen energetischen Grund von Bewegung verweist. Der Körper projiziert sich als seelischer Resonanzboden eines universalen Prinzips von Energie. Damit ist sicherlich eine der stärksten Utopien des Modernen Tanzes markiert, nämlich den Körper als ein ,reines‘ bewegendes Prinzip ausstellen zu wollen. Der ästhetische Blick auf das Sich-Bewegen als energetisches, sich-selbst generierendes Prinzip zettelt eine Vision an, in der Körper und Subjekt als utopische Instanzen für eine transzendente Ordnung eintreten. Doch verdeckt diese Arbeit am Grund der Bewegung die konstitutive Fremdheit, die jeglicher Selbstbewegung anhaftet, ja die in ihren innersten Antrieben wohnt, wie Bernhard Waldenfels herausgestellt hat.13 In der phänomenologischen Anlage leiblicher Bewegung ist das Subjekt stets in einer instabilen Lage positioniert. Es kann niemals völlig Herr der Bewegung sein, obwohl das Sich-Bewegen14, wie Bernhard Waldenfels ausgeführt hat, einen reflexiven Vorgang andeutet, der die Frage nach einer produzierenden Instanz aufwirft. Doch ist im leiblichen Vollzug eine Trennung von einem reinem Bewegen und reinem Bewegtwerden, d.h. von Bewegungssubjekt und Bewegungsobjekt unmöglich. Das Reflexivpronomen „sich“ bezieht sich – so Waldenfels – „auf die Bewegung selbst.“ Somit sei „von Bewegungsereignissen auszugehen, die jemandem widerfahren und in die jemand eingreift, ohne dass diese Ereignisse den impersonalen Charakter eines ,es bewegt sich‘ je völlig abstreifen.“15 Es verfällt somit im Sich-Bewegen als Bewegungsereignis die Alternative einer reinen Selbstbewegung mit einer eigenen Ursächlichkeit und einer Fremdbewegung im Sinne eines Bewegtwerdens mit einer äußeren Ursächlichkeit: das Sich-Bewegen spannt sich vielmehr auf zwischen einem widerfahrenden wie auch eingreifenden Bewegungsvollzug und einem „es bewegt sich“, womit es als Ereignis erkennbar wird, das auf die Bewegung selbst verweist. Dem Modernen Tanz ist es gerade um die Erzeugung eines solchen (tänzerischen) Bewegungsereignisses gelegen, das energetisch auf die Solotänzer/innen als Subjekte eines Bewegungsprinzips verweisen soll. Die Tänzer/innen treten dabei nicht – wie Gerald Siegmund richtig vermerkt hat – notwendigerweise als intentionale Tänzersubjekte auf. Wenn es also dem Modernen Tanz um die Darstellung von Bewegungsereignissen gelegen ist,

13 Vgl. Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt 2000. 14 Bernhard Waldenfels: „Sichbewegen“, in: Gabriele Brandstetter, Christoph Wulf (Hg.): Tanz als Anthropologie, München 2007, S. 14-30. 15 Waldenfels: „Sichbewegen“, S. 18.

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so geschieht dies keineswegs im Modus der Intentionalität, sich als Subjekt ihrer Bewegung zu erkennen zu geben, sondern sich im Modus des „es bewegt sich“ zu zeigen, einem Bewegungsereignis, das ihnen widerfährt und in das sie gestaltend eingreifen. Damit entwerfen sich die Tänzer/-innen und Choreograf/innen als körperliche Stätten, die quasi im Hindurchströmenlassen von Energie in Bewegung geraten. Während etwa Duncan ihr Tänzersubjekt verneint – „Es ist ein Irrtum, mich eine Tänzerin zu nennen“16 – und Loïe Fuller aus der Erfahrung einer „intensiven Emotion“17 und einer undefinierbaren, wankenden Kraft heraus entdeckt, Bewegung zu haben und als tanzendes Subjekt veräußern zu können, modelliert Mary Wigman ein absolutes Tänzersubjekt, das mit religiösem Pathos als „tänzerische Form geläutert, entpersönlicht“ erscheint.18

T ANZ UND E NERGIE II: G ESTALTUNGSZUGÄNGE

IM

S ICH -B EWEGEN

Das Sich-Bewegen markiert den ästhetischen Raum des Tanzes. Tanztechnisch und choreografisch entscheiden deren praktizierte Zugänge über den Gebrauch und das Verständnis der entstehenden und gestalteten Bewegungsvollzüge, die im eigenen Sich-Bewegen vermittelt sind. Denn schließlich lernen Tänzer in Differenz etwa zu Schauspieltechniken mit ihren Bewegungstechniken nicht primär etwas zu verkörpern, sondern sich allererst und stetig in Bewegung zu bringen, sich zu transformieren, ja sich gegebenenfalls gestalthaft ständig anders zu machen.19 Dabei unterliegt das 16 Duncan: Memoiren, S. 58. 17 Loïe Fuller: Fifteen Years of a Dancer‫ތ‬s Life. (Boston 1913) Reprint New York 1977, S. 33. 18 Vgl. Mary Wigman: „Komposition“, in: Walter Sorell (Hg.): Mary Wigman - Ein Vermächtnis, Wilhelmshaven 1986, S. 204. In Wigmans 1935 erschienen Werk Deutsche Tanzkunst erhöht sie ihr Künstlerbild wie folgt: „Während der künstlerischen Arbeit sinkt der Mensch in den Urzustand des Seins. Er kehrt zu sich selbst zurück, um sich in irgendetwas zu verlieren, das größer ist als er selbst, in das unmittelbare, unteilbare Sein. Wie von einem augenblicklichen Funken erreicht und galvanisiert durch den Lebensstrom, wird er als Einzelerscheinung ausgelöscht, doch dabei mit der Gabe gesegnet, eins mit dem All zu sein. Das ist der Moment der Gnade, in dem der Mensch zum Gefäß wird, bereit, die Energien zu absorbieren, die auf ihn einfließen. Das führt zum ekstatischen Zustand, in dem sich bloßes Wissen in Erlebtes verwandelt.“ Zitiert nach Sorell, S. 179. Vgl. in kritischer Auseinandersetzung Sabine Huschka: „Pina Bausch, Mary Wigman, and the Aesthetic of ,Being Moved‘“, in: Susan Manning, Lucia Ruprecht (Hg.): New German Dance Studies. University of Illinois Press 2012 [im Druck]. 19 Bestenfalls konkretisiert sich ein Moment von Fremdheit, über den der Philosoph Han vermerkt: „Es ist heilsam einen Raum für das Fremde bei sich freizuhalten.

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Sich-Bewegen in tanztechnischen Praktiken einer reziproken Arbeit am Körper/Subjekt, um Bewegungen als Gestaltungsprozess hervorbringen zu können. Als ästhetische Technologien des Selbst20 richten sich bewegungstechnische Verfahren und Tanztechniken auf eine Arbeit am (eigenen) Körper, um ihn zu mobilisieren, zu koordinieren und orientiert an spezifischen Gestaltungsidealen auszubilden. Tanztechniken bilden demnach eine jener Säulen im Bühnentanz, die Zugänge und Artikulationsweisen von Energie schaffen. Obwohl es tautologisch anmutet, so suchen ihre Bewegungs- und Körpertechniken verschiedene Strategien der Generierung einzusetzen, um Energie im Körper zu evozieren und dessen Potenzialität zu aktualisieren. Die Trainingsprogramme zielen mitunter auf eine ästhetisierende, ökonomisierende, harmonisierende oder vitalisierende Ausbildung des Körpers und prägen damit Zustandsformen und Bilder vom Körper. Abbildung 2: Meg Stuart/Damaged Goods: VIOLET (2011)

Quelle: Meg Stuart/Damaged Goods ©Chris Van der Burght

Diese gehen nicht allein mit ästhetischen Leitbildern einher, vielmehr reflektieren sie auf kulturelle und gesellschaftliche Körperpraktiken, wie Dee

Das wäre ein Ausdruck der Freundlichkeit, die es auch möglich macht, daß man sich anders wird.“ Byung-Chul Han: Abwesen. Zur Kultur und Philosophie des Fernen Ostens, Berlin 2007, S. 7. 20 Vgl. Luther H. Martin, Huck Gutman und Patrick H. Hutton (Hg.): Technologien des Selbst, Frankfurt am Main 1993. Mit Beiträgen von Michel Foucault, Rux Martin, Luther H. Martin, William E. Paden, Kenneth S. Rothwell, Huck Gutman, Patric H. Hutton. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff.

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Reynolds in ihrer Studie Rhythmic Subjects (2007) treffend herausgestellt hat.21 Körper- und Tanztechniken formen als ästhetisch-kulturelle Bewegungspraktiken Modellierungen eines Sich-Bewegens, in denen das Subjekt als Artikulationsstätte von Energie konfiguriert wird.22

T ANZ UND E NERGIE III: ARBEIT AN DER T RANSFORMATION Obwohl das Sich-Bewegen nach Waldenfels immer auch „auf die Bewegung selbst“23 verweist, bleibt doch ein konstitutiver Spalt, nämlich weder ganz als Selbstbewegung hervortreten zu können noch ganz als reines Bewegungsereignis eines ,es bewegt sich‘ verkörpert zu werden. Dieser Umstand bedingt das Erscheinen eines energetischen Prinzips von Bewegung. Ein bewegendes Prinzip von Bewegungen ist erst stofflich im Körperlichen wirksam und wahrnehmbar. Im Bühnentanz braucht es daher spezifische Techniken und Anlässe, das Sich-Bewegen als Widerfahrnis oder aktiven Prozess einzusetzen und als bewegendes Prinzip ästhetisch werden zu lassen. Erst aus fremden Anstößen gerät die Bewegung in Bewegung, tritt das Sich-Bewegen als Bewegen ins Bewusstsein. Die Tanztechnik und Tanzästhetik von Merce Cunningham exemplifiziert diesen Zusammenhang wohl am deutlichsten. So entwickelte Cunningham tanztechnische und choreografische Verfahren, die gezielt das Fremde in den Prozess des Sich-Bewegens einlagern. Die Methode, dies zu bewirken, markiert einen Einschluss von Ungewohntem und Nicht-Gewusstem, womit ein Anreiz geschaffen ist, mitunter ungeschickt und unbeholfen Bewegungen zu entwickeln und das bewegende Prinzip im Sich-Bewegen zu finden. Die Tänzer sollen beim Tanzen und täglichen Training stets die Frage vor Augen haben: „How can you do a movement that you’ve done over and over again and think you have it perfect or whatever? How can you do it in a way that it becomes awkward again, as you have to, to find it all over again?“24 Das Ziel des Sich-Bewegens liegt hier nicht in der Bemeisterung

21 Habituelle und normative Energieökonomien prägen das Selbst, wie Dee Reynolds unterstreicht [„The ,self‘ is bound up with habitual and normative economies of energy.“ (Ebd., S. 2)], es konfiguriert sich aus phänomenologischer Sicht zudem stets am Schauplatz der Bewegung. 22 Vgl. Sabine Huschka: „Nach dem Subjekt im Tanz fragen: Beweggründe als ästhetische Positionen von Macht und Ohn-Macht“, unveröffentlichter Vortrag auf der GTW-Tagung in Mainz am 30.10.2010. 23 Waldenfels: „Sichbewegen“, S. 18. 24 Merce Cunningham in: The John Tusa Interview. Transcript of the John Tusa Interview with Merce Cunningham (letzter Zugriff am:15.09.2011). www.bbc.co.uk/radio3/johntusainterview/cunningham_transcript.shtml.

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des Körpers, sondern in einer stets über neue Anlässe notwendig gemachten Meisterschaft, Veränderungen statthaben zu lassen. Auch die kompositorisch eingesetzte Aleatorik von Cunningham setzt sich zwischen Körper und Bewegung und durchtrennt ihr ‚natürliches‘ Band.25 Die Tänzer/innen bewegen sich aus einem Bereich des sich selbst Fremd-Werdens und suchen die aleatorisch ermittelten abstrakten Bewegungsentwürfe ein-zukörpern. Die Heraus- und wieder Hineinverlagerung von Bewegung markiert das Sich-Bewegen als einen Prozess, in dem der Fremdbezug als ein zu meisterndes Widerfahrnis das Zentrum der Arbeit am Körper bildet. Dies ist ein Sinn der Aleatorik, der sich auch in der Tanztechnik von Cunningham einzulösen sucht. Hier sind es die sich stets verändernden Bewegungsphrasen, die ohne Wiederholung rhythmisch, räumlich und koordinativ das Ritual des täglichen Trainings durchsetzen. Das Ziel der Technik gilt einer physischen, mentalen und emotionalen Mobilisierung, bei der die Aufmerksamkeit auf die Bewegungsausführung – dem Sich-Bewegen – gerichtet ist, um sich in diese gewissermaßen zu versenken. Die Stätte des Sich-Bewegens bleibt dabei unbestimmt. Ja, sie erfährt in ihrem gegebenen Selbstentzug und Fremdbezug einen steten Aufschub, das eigene Sich-Bewegen zu entwerfen. Auf diese Weise ist die ästhetische Einverleibung der Bewegungen mit ihren gegebenen Gefühlsmomenten eingelassen in das bewegende Momentum der Bewegung selbst, ohne die Instanz eines Subjekts ausdrücklich zu markieren. Es ist eine künstlich erzeugte Leerstelle, die den Anlass des Sich-Bewegens gibt und den Beweg-Grund markiert. Doch steht Cunninghams Ästhetik ein Verständnis von Bewegung voran, im Körper-in-Bewegung eine spezifische Energie, ein Momentum zu finden. Cunningham interessierten Bewegungserscheinungen, die, wie er in einem seiner letzten Interviews betonte, Leben haben.26 Hervorgegangen ist eine virtuose techné einer metastabilen Energiebalancierung des Körpers, in der die Wirbelsäule nicht als stabile Achse im Körper fungiert, sondern durch Aktivierung und Dynamisierung ein metastabiles Gleichgewicht mit den Gliedern und ihren raum-zeitlichen Eigengestaltungen von Bewegung erzeugt. Die Cunningham-Technik sucht hierüber Möglichkeiten eine sich formende Wandelbarkeit in Bewegung zu eröffnen, eine intensitätsbildende Bewegungstransformation.27 Es ist ein komplexes wie minutiös raumzeitliches Artikulationsspektrum mit einem in der Kraft gemäßigten Duktus, der seinen sogenannten intellektuellen Tanzstil geprägt hat. Das Sich-

25 Vgl. Sabine Huschka: Merce Cunningham und der Moderne Tanz. Körperkonzepte, Choreographie und Tanzästhetik, Würzburg 2000, S. 358-423. 26 Merce Cunningham in: The John Tusa Interview, a.a.O. 27 Vgl. Sabine Huschka/IDA – Institute of Dance Arts, Anton Bruckner Privatuniversität Linz: „Daniel Roberts – Cunningham Technik“, in: Ingo Diehl/Friederike Lampert (Hg.): Dance Techniques 2011.Tanzplan Germany. Tanztechniken 2010. Tanzplan Deutschland, [mit 2 DVDs], Leipzig 2011, S. 180-207.

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Bewegen projiziert, wie Banes und Carroll betont haben, eine „geistklare Logik“28, mit der sich, wie José Gil sagt, ein spezifischer ‚float‘29 artikuliert.

C HOREOGRAFIE UND E NERGIE : ARBEIT AN DER W AHRNEHMUNG Diese wahrnehmbar gemachte geistklare Logik in den Tänzen von Merce Cunningham, ihrem float aus ungewöhnlichen Bewegungsfolgen, die sich aus den habituellen Mustern des Körperlichen herausheben, scheint sich der Zeitgenössische Tanz vehement verweigern zu wollen. So tritt etwa bei Meg Stuart, aber auch bei William Forsythe das bewegende Prinzip choreografierter Bewegungen mitunter als Störung, als Fremdes, als Widerstand auf. Bewegungstechnisch und inszenatorisch wird dies über einfallende oder hemmende Reize innerhalb der Bewegungsgenerierung erzeugt. Das Bewusstsein des Sich-Bewegens richtet sich auf einen dis-integrierenden Aspekt oder Bereich, wissend, dass – Energie gleichwohl immer existent – einer spezifischen Aktivierung, Hervorkehrung, eines Anstoßes oder sogar einer Hemmung bedarf, um als energetisches Prinzip in choreografierten Körpern auf der Bühne wirksam werden zu können. So werden Bewegungen etwa durch Techniken des dis-fokus (William Forsythe) erzeugt, die den Körper koordinativ aufsprengen und Wahrnehmungszustände erzeugen, aus denen unbewusste Bewegungsvorgänge hervortreten.30 Anders als in der Moderne verkehrt sich das Interesse an der aktivierbaren Potenzialität von Bewegungen und richtet sich nicht mehr auf neue Bewegungsformen als ein ursächliches (reines) energetisches Prinzip von Bewegung. Vielmehr sind die stets psychischen wie kulturell wirksamen Verwandlungsprozesse von Interesse, in denen das Energetische im Körper gleichermaßen eingefasst und ummantelt regiert. Choreografen/innen und Tänzer/innen arbeiten dazu mit einem qualitativen Spektrum aus willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungsimpulsen, die Körper, Räume und Umgebung in disparate Wahrnehmungszustände versetzen, oszillierend zwischen unbeherrschbaren und beherrschenden Energiezuständen. Generiert werden Transformationsvorgänge, die Spuren des Unbewussten und Nicht-Gewussten tragen. In ihren geweblichen Falten haust quasi das Energetische, das in Gestalt überreizter Körper, beschleunig28 Noël Carroll und Sally Banes: „Cunningham and Duchamps“, in: Ballett Review 2.2 (Summer 1983), S. 73-79, hier: S. 73. 29 José Gil: „The Dancer’s Body“, in: Brian Massumi (Hg.): A shock to thought: Expressions after Deleuze & Guattari, London/New York 2002, S. 117-148, hier: S. 122. 30 Dana Caspersen: „Der Körper denkt: Form, Sehen, Disziplin und Tanzen“, in: Gerald Siegmund (Hg.): William Forsythe. Denken in Bewegung, Berlin 2004, S. 107-116.

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ter Bewegungstiraden oder verlangsamter somnambuler Phrasen szenisch wird. Zu beobachten ist eine auffällige Diskrepanz widersprüchlicher Zugänge zu Energie, die zwischen Techniken der Entleerung und Techniken der Aufladung wandeln und somit zwischen Low Energy und High Energy changieren. Ob in Szenen einer beschleunigte Virtuosität überführt, wie es die letzte Produktion NEW WORK von LaLaLa Human Steps zeigt, oder in Szenen einer nahezu mit neurologischen Störungen besetzten Körperlichkeit überführt, wie in Meg Stuarts aktueller Produktion VIOLET – die choreografischen Artikulationen ihrer High Energy basieren zunehmend auf Körpertechniken der Entleerung. Es sind gleichsam Bewegungstechniken – hier zunächst als Low Energy bezeichnet31 – , die den Körper in freigelegte fließende Energiezustände führen.

H IGH E NERGY -S ZENE I: „V IOLET “ VON M EG S TUART / D AMAGED G ODS Tatsächlich bewegen sich die fünf Tänzer/innen in Meg Stuarts neuester Choreografie VIOLET wie irre – und doch kaum von der Stelle. Angewurzelt an einem Ort präsentieren sich ihre gleichmäßig aufgereihten Körper frontal dem Publikum. Ruhig und gleichsam neutral in Haltung und Spannung starren sie in die Zuschauertribüne. Mechanische Bewegungen setzen sich in Gang – stetig Hin und Her – begrenzt – und stupide in ihrer ständigen Wiederholung bauen sie Sog und Ansturm im siebzigminütigen Stück auf. Zu Beginn des Abends grellen – für Sekunden nur – hochvoltige Spots in den Zuschauerraum. Eine kaltweiße Lichtwand. Kurzzeitig erblindet, erahnt man allein die Tänzer. Sie stehen tatsächlich vor einer pechschwarzen Plastikwand, deren Latexglanz für geraume Zeit danach der hellste Reiz der Bühne bleibt. Der eingesetzte Lichtreiz wirkt nach und spannt Nerven und Wahrnehmung auf einen gleichsam in Dunkelheit gehüllten Raum. Schon jetzt haust in der neutralen Körperszene der Schrecken, hat die Störung Einzug erhalten. Nervös hält man seine Ohrenstöpsel in der Hand, die am Einlass ausgeteilt wurden. „Ja, es kann laut werden!“, hieß es. Der Blick auf die Bühne lauert auf das, was noch kommen muss: dem Herausbrechen einer monströsen und gespenstischen Gewalt aus nervlich zerborstenden vibrierenden Körpern, wie sie Meg Stuart schon lange als theatral-choreografische Zustände interessieren. Sukzessive entfährt den Tänzern eine immer stärkere Gestikulation bedeutungsloser Abläufe, deren vibrierende, pendelnde und schleudernde Armbewegungen wie Pfähle im eigenen Körper eingerammt sind. An einem 31 Der Terminus low energy ist ein vorläufiger Arbeitsbegriff, um bewegungstechnische Einwirkungen von Energien im Raum des Körperlichen beschreiben zu können.

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Teil der Physis bleiben die Bewegungen eingerastet – werden von dort in ihrer irren Beschleunigung geblockt. Ihr einzelnes Zittern, Rasen, Keuchen und Wegbrechen bleiben lange eingespannt – räumlich eingefasst von selbst gesetzten Einschränkungen. Eine Blase selbst-bezüglicher Imaginationen und sich ausstülpenden Nervenreizungen liegt um die Körper. Die Arme ziehen den gesamten Schulterapparat, Mimik und Organbereich in Mitleidenschaft. Es setzt weniger ein zuckend-schwingender Gesamtflow ein, als ein gebrochenes Rattern gegenläufiger Kräfte. Die Bewegungen artikulieren sich aus einem aufgebauten inneren Widerstand, der Energie nicht in einem Fluss zu halten vermag, da in ihnen ein Fremdes waltet. So entsteht ein vibrierendes Störfeld, in dem ständig Mächte und Kräfte umgewandelt werden: in andere Richtungen, aus anderen Räumen, gesteigert in Intensität und einem befremdenden Imaginären. So einfach dies wahrzunehmen ist, so schwierig ist es zu beschreiben. Stuarts Tanzbewegungen gehören porösen, zerborstenen und nervösen Gestalten an, eingekerkert in Imaginationsnester, die gereizt in unkontrollierten konvulsivischen Momenten austreten. Doch bleiben die Bewegungen in sich gehalten von jenem Rest an Körper, der irgendwie zusammen- und festhält an einem Selbst, das verschwunden bleibt. Die Bewegungen zeigen und sind immer zwei Dinge [x und y]. VIOLET verdeckt seine Gewalt hinter dem verlauteten Selbstverständnis seiner Choreografin, eine „abstrakte“ Arbeit realisiert zu haben. Doch könnte VIOLET konkreter nicht sein. Seine Theatralität liegt im Energetischen, die choreografisch mit Intensitäten einer nervlich-mechanischen Überreizung des Körpers arbeitet. Es sind diese muskulär durchlässigen Tänzerkörper, die von Zustand zu Zustand fallen und sich präzise zwischen einwirkenden Imaginationen und Kräften hindurch außerhalb ihrer Selbst bewegen. Stuart holt mit ihrer neuen Produktion choreografische, bewegungstechnische und theatrale Verfahren heran, die wie zuvor in Stücken wie NO LONGER READYMADE (1993) oder VISITORS ONLY (2003) die Wahrnehmung der Zuschauer nahezu aggressiv einzufassen suchen. Ein Entzug der eigenen Wahrnehmung ist nicht möglich. VIOLET baut sich zu einer gewaltigen Wand aus Sinnesreizungen auf, die den gesamten Theaterraum energetisch aufladen: der akustische Pegel der Live-Komposition von Brendan Dougherty aus Elektronik und Percussion ist bis an die Schmerzgrenze hochgefahren, die Bewegungen der Tänzer werden immer wieder bis an den Rand physischer Erschöpfung getrieben. Der eigene Blick verharrt kinästhetisch empathielos in einer ab- und anschwellenden Dramaturgie aus apathischen Mechaniken und psychotischen Exaltationen objektgleicher Körper. Am Ende des Abends werden die Tänzer/innen schweißüberströmt an der Rampe stehen. Man selbst verlässt das Theater angegriffen und verstört. Erschöpfung macht sich breit. VIOLET demonstriert den energetischen Widerstandsraum im Körper und lädt diesen und das Theater hierüber bis zum Bersten auf. Doch verschanzt sich das Stück zunehmend hinter einer Wand, die sich der Wahrnehmung gegenüber abdichtet, da den sich entladenden

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Klängen und Bewegungen kein Echoraum gegönnt wird. Die ausgespielten Körperenergien rücken in VIOLET zunehmend in eine aphotische (lichtlose) Zone.

S ZENE II: L OW E NERGY – ARBEIT

AM

F LUSS

DER

B EWEGUNG

Tanztechnisch erarbeitet Meg Stuart ihre Stücke auf der Basis verschiedener Bewegungssysteme und ihrer Wahrnehmungsschulungen. Selbst in Kontaktimprovisation und Movement Research an der New Yorker Tish School for the Arts ausgebildet (1983-1986), informieren ihre Prinzipien von Release und Alignment Stuarts Zugang zum Körper. Hinzu tritt das Training in Body-Mind-Centering.32 All diese unterschiedlichen Bewegungstechniken kommen – grob gesprochen – in einer spezifischen Wahrnehmungsschulung von propriozeptiven, organischen und vegetativen Vorgängen überein und trainieren eine gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber den vielfältigen Mikroprozessen im eigenen Körper. Die Techniken ersuchen eine Sensibilisierung des Körpers für verschiedene Spannungs- und Energiezustände zu erwirken, erarbeitet durch physische, mentale und imaginative Zugänge, die verschiedenste Spürmodalitäten im Körper aktivieren und dabei mitunter auf ein Reservoir an Imaginationstechniken zurückgreifen. Es sind daher im umfassenden Sinne somatische Techniken, die nicht allein etwa auf tastenden Wahrnehmungsmodalitäten beruhen. Vielmehr spielen imaginierte Körperbilder, evozierte psychische Zustandsmomente oder vorgestellte Körperszenarien in das propriozeptive Moment der Eigenwahrnehmung hinein.33 Eine der zentralen Fragen ist, wie der Körper nicht nur ,seine‘ Energie (effektiv) nutzen und wie er dessen Potenzialität als Bewegungsmoment initiieren kann, sondern wie eine geschaffene Annäherung an die grundsätzlich gegebene Potenzialität von Energie freigelegt werden kann, damit eine Steigerung, ja mitunter eine Übersteigerung des herrschenden physischen Bewegungsradius bewirkt wird. In gewisser Weise ersucht man selber ganz und gar in Bewegung zu kommen, „für die Bewegung durchlässig“ zu werden, um gegebenenfalls, wie es sich auch der Gründer der Kontaktimprovi-

32 BMC wurde ab den 1970er Jahren von der amerikanischen Tänzerin Bonnie Bainbridge Cohen entwickelt und findet bis heute als Grundlage für improvisatorische Techniken im Zeitgenössischen Tanz ebenso Anwendung wie im therapeutischen Bereich. Vgl. Bonnie Bainbridge Cohen: Sensing, Feeling and Action. The Experimential Anatomy of Body-Mind-Centering, Northampton 1993. 33 Vgl. hierzu auch Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérome Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld 2006, S. 411-414.

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sation Steve Paxton erträumte, „den Planeten verlassen zu können.“34 Es geht offensichtlich um ungewöhnliche Aktivierungen von Energiezuständen, in denen sich der Körper aus sich selbst heraushebt und als Bewegungsereignis erfährt. Zeitgenössische Tanztechniken des Release und Alignment lehren hierzu ,Energie-Felder‘ im Körper zu aktivieren, um einen Intensitätsgrad zu erwirken, der als Spannungslösung erfahrbar ist. Aus diesem Zustand heraus artikulieren sich mühelose Bewegungen, da sich der muskuläre Kraftaufwand zur Bewegungsgenerierung verringert. Es sind mitunter jene ,tiefen‘ Ströme von Energien, die östlichen Körperphilosophien und ihren Bewegungsweisen wie etwa im Tai Chi oder Chi Gong kulturell weitaus geläufiger sind. Die Grundlage der Release-Techniken bildet ein umfassendes anaanatomisches Wissen über den Aufbau des menschlichen Körpers, seinem Skelett, den Gelenken und dem Muskelapparat, aber auch über dessen organische und nervliche Funktionsweisen, die verschiedenste Flüssigkeiten und Festigkeiten als Bewegungsprozess vereinigen. Release meint in einer seiner grundständigen Bedeutungen ein, wie Gabriele Wittmann ausführt, „,Loslassen‘ im Sinne eines Sich-Öffnens für andere Möglichkeiten – und für die Frage, wie sich diese neuen Möglichkeiten anschließend realisieren lassen. […] Es geht also nicht nur um ein Loslassen-von, sondern vor allem um eine Loslassen-für: Energie, die blockiert war zu öffnen, damit sie neu genutzt werden kann.“35 Obwohl die praktizierten Release-Techniken mit disparaten Verfahren der Sensibilisierung, Visualisierung und Imagination – unter verschiedensten Zielsetzungen – arbeiten, geht es primär um eine Entgrenzung des Körpers als ein sich weitendes Bewegungsterrain.36

34 Im Gespräch über MAGNESIUM (1972), das als erste Kontaktimprovisation gilt – getanzt von einer Gruppe männlicher Studenten vom College in Oberlin, Rochester und Bennington – reflektiert Paxton sein Interesse an einer neuen Bewegungsweise: „I wanted to be able to leave the planet and not worry about the reentry.“ (Paxton, Juni 2008). Zur Beschreibung und Analyse des Stücks vgl. Cynthia J. Novack: Sharing the Dance. Contact Improvisation and American Culture, Madison/Wisconsin 1990, S. 60-62. 35 Gabriele Wittmann, Sylvia Scheidl, Gerald Siegmund/Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main: „Lance Gries – Release- und Alignmentorientierte Techniken“, in: Ingo Diehl/Friederike Lampert (Hg.): Dance Techniques 2011. Tanzplan Germany. Tanztechniken 2010. Tanzplan Deutschland, [mit 2 DVDs], Leipzig 2011, S. 290. 36 Vgl. zur Übersicht der historischen Genese und verschiedenen Release-Lehrmethoden: Gabriele Wittmann: „Release- und Alignment-orientierte Techniken“, in: Ingo Diehl/ Friederike Lampert (Hg): Dance Techniques 2011. Tanzplan Germany. Tanztechniken 2010. Tanzplan Deutschland, [mit 2 DVDs], Leipzig 2011, S. 290-294.

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Dies lässt sich am einfachsten am Prinzip des Alignment exemplifizieren, mit dem eine dynamische weil richtungsweisende Auf- und Ausrichtung des Körpers gemäß seiner anatomischen Struktur in den Raum hinein geschult wird. Im Alignment organisiert sich der Körper gewissermaßen energetisch expansiv. Abbildung 3: Die gedachten Kraftlinien quer und hoch der Wirbelsäule

Quelle: Skizze von Lance Gries.

Das Release-Training, wie es etwa von Lance Gries gelehrt wird und als Teil des bundesweiten Forschungsprojekts Tanztechnik der Bundeskulturstiftung/Tanzplan Deutschland in seiner Konzeption reflektiert wurde,37 trainiert einen ausgerichteten, aktiv-passiven und passiv-aktiven Körpergebrauch, mit dem der Körper in einer eröffneten Multidimensionalität in einen Energieaustausch mit der Umwelt eintritt.38 Daraus resultiert eine Prä-

37 Die Ergebnisse des Forschungsprojekts Tanztechnik 2009/2010 liegen seit 2011 vor. Vergleichend wurden moderne, postmoderne und zeitgenössische Techniken (Jooss-Leeder, Humphrey-Limón, Cunningham, Release und Counter-Technik von Anjouk van Dijk) analysiert. Die Einzelprojekte waren an verschiedenen europäischen Ausbildungsinstituten für Tanz (u.a. Frankfurt a.M., Dresden, London, Linz, Köln) lokalisiert und untersuchten individuelle Vermittlungsverfahren der Techniken. Die Analysen richteten sich u.a. auf physiologische, ästhetische Bewegungsprinzipien, Körperkonzeption, pädagogische Leitideen und die historischen und soziokulturellen Kontexte. 38 Vgl. Gerald Siegmund: „Konzept und Ideologie“, Teilbericht in: „Lance Gries – Release- und Alignment-orientierte Techniken“, in: Ingo Diehl/Friederike Lampert (Hg): Dance Techniques 2011, a.a.O., S. 295 ff.

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senz, die mit keinem „Abstrahlen von Energie“ übereinkommt, sondern vielmehr „aus sozialer Interaktion mit der Situation und den anderen Partnern“ resultiert.39 Choreografisch verarbeitet aber tritt das hier erlernte Vermögen der Tänzer/innen in ganz anderer Weise auf. Meg Stuart interessiert nicht der einsetzende flow in den Bewegungen, sondern: „physische Zustände, die man nicht kontrollieren kann. Zittern, Fieber, Schwitzen, Ticks, Bewegungen, die wir nicht verbergen können. […] Oftmals gebe ich den Tänzern die Aufgabe, sich vorzustellen, daß der Körper, mit dem sie sich bewegen, nicht ihr eigener ist. Somit treibe ich sie bis an die Grenze des Kontrollverlusts, […]. Das Ergebnis ist ein höchst virtuoses ,aus der Kontrolle geraten‘.“40

Aufgerufen wird das Fremde im eigenen Haus, um eine Formulierung von Siegmund Freud zu verwenden, das bekannterweise jeglicher Selbstbewegung beiwohnt und in ihm wirksam ist.41 Bewegungstechnisch gelingt dies eben durch die Nutzung des erlernten Wissens der Tänzer/innen, ihre Körper für Energien durchlässig zu machen und sich situativ offen für äußere Anlässe und Einwirkungen bewegen zu können. Tatsächlich tritt Energie, um rückblickend noch einmal an VIOLET zu erinnern, dort als psychisches Störfeld auf. Körpertechnisch und kompositorisch wird dies durch mechanisch operierende Bewegungsprozesse generiert, deren potenzielle Wirkungskraft mit einer Disfunktion der ausgespielten Kräfte einhergeht. Aus diesem Raum der Unvereinbarkeit energetisieren die Bewegungen ihre verstörende Wirkungsdynamik, die mittels einer nahezu festnagelnden choreografischen Fixierung des Körpers an einzelnen Orten und geblockten Körperteilen in der Bewegungsausführung verstärkt wird. Der offenen Freilegung von Energie im Sinne des Release werden massive Hemmnisse entgegengestellt, womit – gezielt evozierend die Wirkung von Störfeldern aufgerufen wird. So sprechen auch Programmheft und Presse von einer freigelegten „energetischen Bewegungslandschaft, ein mit Möglichkeiten aufgeladenes Terrain der Körper“, in der eine „emotional überwältigende Kraft und bizarre Fremdheit“

39 Ebd. S. 297. 40 Irmela Kästner: Meg Stuart – Anne Teresa de Keersmaeker, Tina Ruisinger (Fotografie). Übers. der Interviews aus dem Engl.: Irmela Kästner, München 2007, S. 31. 41 Bernhard Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt a/M 2002. Vgl. ausführlicher und im Bezug auf die Bewegungstechnik der Kontaktimprovisation, die eine der tanztechnischen Grundlagen von Meg Stuart bildet: Sabine Huschka: „Berührung – Übertragung – Kontaktzonen. Zur Theatralität von Körperkontakt“, in: Renate Berenike Schmidt und Michael Schetsche (Hg.): Körperkontakt – Interdisziplinäre Erkundungen, Gießen 2012 [im Druck].

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(Nicole Strecker, Deutschlandradio)42 herrsche. Das Tanzstück wird also eindeutig mit Energieprozessen identifiziert, die zwar vage qualitativ beschreiben, das Energetische jedoch als Ausbruch des Fremden im Körper wahrnehmen. Es scheint daher gerade das Zusammenspiel des Fremden im Eigenen zu sein, aus der hier die energetische Momente in ästhetischer Gestalt ihre Wirkung beziehen. Dies ist sicherlich nur eine Option, das Energetische als Wandlungsprozess inszenatorisch auszuspielen und sein ästhetisches Wirkungsfeld aus der Differenz widerläufiger Generierungsmomente für Bewegungen radikal an den Blick der Zuschauer zu adressieren. Das körpertechnische Wissen über die Öffnung und situative Eingemeindung disparater Energiezustände bildet eine notwendige Basis, um den Zuschauer (qualitiativ) anregen zu können. Das kompositorische und choreografische Setting bildet die zweite notwendige Basis, auf der physische und mentale Veränderungen angezeigt und bestenfalls angezettelt werden – und das Energetische als geöffneten Spalt zwischen Unvereinbarem erfahrbar machen. DaBUCs choreografische Wissen um Energie eröffnet vielleicht gerade dann einen ästhetischen Erfahrungsraum, wenn mit ihm der Anschluss an gesellschaftliche (Körper)Realitäten geschaffen ist und körperliche Realitäten als Realisierungen des Energetischen hervortreten. An diesen Vorgang erinnert gerade Jean-Luc Nancy, wenn er schreibt: „Der Körper darf nicht wissen, wie es beginnt. Es ist der Andere, dieser Körper, der nicht seiner ist, der sich nicht selbst gehört und der nicht an seinem Platze bleibt, denn noch ein Anderer nimmt unermüdlich seinen Platz ein.“43

L ITERATUR Bainbridge Cohen, Bonnie: Sensing, Feeling and Action. The Experimential Anatomy of Body-Mind-Centering, Northampton 1993. Böhme, Gernot: Atmosphäre, Frankfurt am Main 1995, in: ders.: Anmutungen. Über das Atmosphärische, Ostfildern vor Stuttgart 1998. Brockhaus. Lexikon und Wörterbuch in fünf Bänden und einem Atlas, Wiesbaden 1974. Carroll, Noël Carroll/Banes, Sally: „Cunningham and Duchamps“, in: Ballett Review 2.2 (Summer 1983), S. 73-79.

42 Nicole Strecker: „Beeindruckender Wutschmerz. VIOLET von Meg Stuart in Essen uraufgeführt. 8.7.2011.“ www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute-/1500 48 7/ (letzter Zugriff am: 7.11.2011). 43 Jean-Luc Nancy: „Die Separation des Tanzes“, in: Sigrid Gareis, Krassimira Kruschkova (Hg): Ungerufen. Tanz und Performance der Zukunft, Berlin 2009, S. 35

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Caspersen, Dana: „Der Körper denkt: Form, Sehen, Disziplin und Tanzen“, in: Gerald Siegmund (Hg.): William Forsythe. Denken in Bewegung, Berlin 2004, S. 107-116. Cunningham, Merce in: The John Tusa Interview. Transcript of the John Tusa Interview with Merce Cunningham. www.bbc.co.uk/ra-dio3/johntusainterview/cunningham_transcript.shtml. (letzter Zugriff am: 15.09.2011). Duncan, Isadora: Memoiren, Frankfurt a. M./Berlin 1988. Franko, Mark: The Work of Dance. Labor, Movement and Identity in the 1930s, Middletown 2002. Franko, Mark: Dancing Modernism/Performing Politics, Bloomington und Indianapolis 1995. Fuller, Loïe: Fifteen Years of a Dancer's Life, (Boston 1913) Reprint New York 1977. Gil, José: „The Dancers’s Body“, in: Brian Massumi (Hg.): A shock to thought: Expressions after Deleuze & Guattari, London/New York 2002, S. 117-148. Han, Byung-Chul Han: Abwesen. Zur Kultur und Philosophie des Fernen Ostens, Berlin 2007. Huschka, Sabine: „Pina Bausch, Mary Wigman, and the Aesthetic of ,Being Moved‘“, in: Susan Manning/Lucia Ruprecht (Hg.): New German Dance Studies, University of Illinois Press 2012, S. 182-199 [im Druck]. Huschka, Sabine/IDA – Institute of Dance Arts, Anton Bruckner Privatuniversität Linz: „Daniel Roberts – Cunningham Technik“, in: Ingo Diehl/ Friederike Lampert (Hg.): Dance Techniques 2011. Tanzplan Germany. Tanztechniken 2010. Tanzplan Deutschland, [mit 2 DVDs], Leipzig 2011, S. 176-207. Huschka, Sabine: „Nach dem Subjekt im Tanz fragen: Beweggründe als ästhetische Positionen von Macht und Ohn-Macht“, unveröffentlichter Vortrag auf der GTW-Tagung in Mainz am 30.10.2010. Huschka, Sabine: Merce Cunningham und der Moderne Tanz. Körperkonzepte, Choreographie und Tanzästhetik, Würzburg 2000. Huschka, Sabine: „Berührung – Übertragung – Kontaktzonen. Zur Theatralität von Körperkontakt“, in: Renate Berenike Schmidt/Michael Schetsche (Hg.): Körperkontakt – Interdisziplinäre Erkundungen, Gießen 2011 [im Druck]. Kästner, Irmela: Meg Stuart – Anne Teresa de Keersmaeker, Tina Ruisinger (Fotografie). Übers. der Interviews aus dem Engl.: Irmela Kästner, München 2007. Laban, Rudolf/Lawrence, C. F.: Effort, London 1947. In: Erläuterung: Eden Davies: Beyond Dance. Laban's Legacy of Movement Analysis, London 2001. Martin, Luther H./Gutman, Huck/Hutton, Patrick H. (Hg.): Technologien des Selbst, Frankfurt a. M. 1993. Mit Beiträgen von Michel Foucault, Rux Martin, Luther H. Martin, William E. Paden, Kenneth S. Rothwell,

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Training der Release Klasse von Lance Gries (Tanztechnik Forschungsprojekt an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst). ©Katja Mustonen Abb. 2: VIOLET (2011) – Damaged Goods Concept/Choreography: Meg Stuart created with and performed by: Alexander Baczynski-Jenkins, Varinia Canto Vila, Adam Linder, Kotomi Nishiwaki, Roger Sala

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Reyner; live music: Brendan Dougherty. ©Chris Van der Burght, mit freundlicher Genehmigung der Künstler Abb. 3: Skizze von Lance Gries. In: Ingo Diehl/Friederike Lampert (Hg.): Dance Techniques 2011. Tanzplan Germany. Tanztechniken 2010. Tanzplan Deutschland, [mit 2 DVDs], Leipzig 2011, S. 302.

„Wenn Du gut bist, fliegst Du in den Zuschauerraum...“ Ein Gespräch über künstlerische Energien1 R OLF E LBERFELD , E RIKA F ISCHER -L ICHTE , B ARBARA G RONAU , A NNEMARIE M IEKE M ATZKE , S USANNE S ACHSSE , A NNE T ISMER UND

C HRISTOPH W INKLER

Barbara Gronau: Wenn man über künstlerische Begriffe und Konzepte von Energie spricht, liegt es nahe, nach physiologischen Prozessen, das heißt nach Bewegungsformen zu fragen. Deshalb beginne ich mit dem Tänzer und Choreografen Christoph Winkler: Ist Energie ein Begriff in Ihrer Arbeit? Gibt es ein bestimmtes Wissen um energetische Prozesse, die man lernen und trainieren kann? Lässt sich ein Bewusstsein für energetische Zusammenhänge als Choreograf oder als Lehrer vermitteln? Und woran macht sich das dann fest? Gibt es überhaupt so etwas wie mehr oder weniger energetische Körper auf der Bühne? Christoph Winkler: Prinzipiell versuche ich den Begriff Energie zu vermeiden. Ich versuche eher konkretere Anweisungen oder Informationen zu finden, die beim Tanz ein bestimmtes Resultat herstellen, wobei ich natürlich bemerke, wenn sich jemand anstrengt, und als Zuschauer darauf reagiere. Ich erstelle am Anfang so eine Art „Energiepass“ für jeden Performer oder auch für jeden Tänzer, indem ich mir sehr viel Zeit nehme herauszufinden, was seine Muskularität ist, ob er ein hoher Springer ist oder jemand, der einen schnellen Impuls hat. Eine sehr lange Zeit beschäftige ich mich damit, durch einfache Übungen erst einmal so eine Art energetisches Level herzustellen. Am Beginn steht eine ganz stereotype Bewegungsfolge, die ich jedem Tänzer gebe. Beim Erlernen oder Adaptieren werden diese

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Der hier abgedruckte Text ist die gekürzte und überarbeitete Fassung des Podiumsgesprächs „Die Energie des Theaters“, das am 13. November 2010 im Radialssytem Berlin im Rahmen des Festivals ENTROPIA. FESTIVAL ZUR ENTROPIE IN PERFORMANCE UND WISSENSCHAFT stattfand.

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Kombinationen dann in die jeweils eigene Bewegungssprache umgewandelt. Erst wenn das abgeschlossen ist und zumindest ein bestimmter Wissensstand vorhanden ist, beginne ich zu arbeiten. Gronau: Nun gibt es ja verschiedene Techniken, mit denen man lernen kann, bestimmte energetische Zustände bei sich selbst zu produzieren. Spielen die in Ihrer Arbeit eine Rolle? Winkler: Das Problem mit den Techniken im Tanz ist, dass sie inflationär gebraucht werden. Techniken im Tanz sind bis zur Realsatire entstellt. Wenn Sie sich beispielsweise das Workshop-Programm eines großen zeitgenössischen Tanzfestivals – wie bspw. des Wiener „Impulse Festivals“ – anschauen, müssen Sie laut lachen: flying low, instant instinct, spatial geometry, non-acting, acting for the performer, Yoga für Tänzer usw. Das ist auch ein Markt, der sich selbst generiert. Tänzer sind dem Technischen gegenüber bis zur Verführbarkeit aufgeschlossen. In meiner Arbeit müssen die Tänzer aber bereit sein, mit der Technik aufzuhören, sie zu dekonstruieren. Gronau: Sie haben eingangs gesagt, dass Sie versuchen den Begriff Energie zu vermeiden. Das rührt vielleicht auch aus seinem unklaren Bedeutungshorizont: wir sind ständig mit ihm konfrontiert, ohne ihn genau definieren zu können. Vielleicht ist die Frage nach der Energie auch der Versuch, das Ungreifbare der Darstellung, das Nichtsprachliche oder Intersubjektive auf der Bühne zu erfassen. Aus der Perspektive des Tanzes und dessen inflationären Techniken scheint es sich hier um ein riesiges Toolsystem zu handeln, das ich nur beherrschen muss, um auf meinen Körper zuzugreifen. Ich möchte Susanne Sachsse fragen, ob das im Schauspiel genauso ausdifferenziert ist. Gibt es ein Bewusstsein dafür, dass ich den Körper nach bestimmten Techniken schärfen, stärken, modellieren kann? Machst du bspw. bestimmte Übungen, bevor Du auftrittst? Susanne Sachsse: Ich mache ganz einfache Sachen. Mein Körper muss wach sein, ganz einfach. Und wach heißt für mich, dass er warm ist. Ich renne auf der Bühne oder hüpfe Seilspringen, damit ich dann im Spiel nicht einfach zu faul bin, das zu tun, was ich mir vorgenommen habe und auf der anderen Seite nicht zu faul bin, das Vorgenommene während der Vorstellung in Frage zu stellen oder gar zu verwerfen. Ich habe sehr gute Kollegen, die machen Yoga oder beruhigen sich, das kann ich gar nicht. Ich muss wach sein. Und wach ist bei mir nur, wenn man weich ist. Ich folge immer dem Motto von Gilles Deleuze: Ein gutes Stück, eine gute Inszenierung oder ein guter Schauspieler muss in jeder Minute so sein, wie ein Rennauto in der Mitte der Geschwindigkeit. Gronau: Du hast mit Regisseuren gearbeitet, die für völlig verschiedene Theaterästhetiken stehen: Einar Schleef, Robert Wilson und Heiner Müller. Warst Du in diesen Produktionen in einem anderen – wenn wir ihn so nennen wollen – energetischen Zustand? Erfordert die Darstellung von Wilson eine andere Grundenergie als die Darstellung eines Schleef-Abends oder die Darstellung eines Heiner Müller-Abends? Muss man anders „drauf“ sein?

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Oder ist das sozusagen immer dasselbe? Ist das dann immer Susanne Sachsse? Sachsse: Ich denke, das ist immer Susanne Sachsse und trotzdem ist der Zustand immer verschieden. Ich vermeide das Wort Energie in meiner Arbeit und würde eher sagen, es ist immer eine Frage des Rhythmus’. Man entscheidet sich für einen Rhythmus. Aber weil Theater ein Live-Event ist, musst Du Dich ausliefern. Und für diesen wunderbaren Kampf mit dem Publikum oder dem Spielpartner– der auch immer eine Affäre ist, die ihre Intimität öffentlich ausstellt –, da könnte vielleicht das Wort Energie passen. Bei Schleef hat man tatsächlich körperlich gespürt, was vom Zuschauerraum, d.h. von den Leuten und auch vom Raum, kam. Das Berliner Ensemble ist ein verkackt prunkiges Gebäude, das in schlechten Inszenierung einfach auf dich fällt und dich verschüttet. Aber wenn du gut bist, fliegst du in den Zuschauerraum und darüber hinaus. Bei PUNTILA2 von Schleef haben tatsächlich die Kornleuchter geklimpert, wenn wir hoch genug waren und die Zuschauer hat es von den Sitzen gerissen. Das Besondere an Schleef war ja, dass er mit Rhythmen ungewohnt umgegangen ist. Er hat uns atonal sprechen lassen und darüber neue Wortbedeutungen etabliert. Ich erinnere mich an eine Diskussion von einem Schauspieler in der Probenarbeit zu PUNTILA. Im Text heißt es „man möchte ein Mensch sein“. Der Kollege insistierte immer: „Ich muss doch MENSCH betonen, weil MENSCH ist doch wichtig. Wir reden doch von diesen Dingen.“ und Schleef hat gesagt: „Nein, betone EIN und jeder hört Mensch.“ Auch Wilson arbeitete mit Energien, aber eher über eine fast schon filmische Wirkung. Er hat immer gesagt: „Stell dir vor, du wirst von hinten gezogen, um nach vorne zu gehen.“ Das war für mich ein wichtiger Hinweis. Man hält eine innere Spannung und findet zu einer Balance. Gronau: Das Bild findet sich interessanterweise in der Beschreibung von japanischen NÔ-Theater-Techniken, bei denen sich der Darsteller vorstellen soll, dass er um die Hüfte gefasst und nach hinten gezogen wird, während er zugleich sein Spiel nach vorne ausrichtet. Rolf Elberfeld: Ja, eine Bewegung ist nie nur nach vorne, sondern immer auch gegenläufig. Das ist die innere Spannung der Bewegung. Das haben die Japaner gesehen. Erika Fischer-Lichte: Die Energie bei Robert Wilsons frühen Arbeiten lag doch vor allem in der unglaublichen Langsamkeit der Bewegung. Diese Langsamkeit hat sich in den Zuschauerraum ausgebreitet und eine ungeheure Konzentration erzeugt. Gronau: Das heißt, es gibt energieerzeugende bzw. energieverstärkende Momente, die aus dem Publikum kommen und sich auf das Spiel übertragen. Es gibt aber auch Momente, die kommen vom Spielpartner, also einer Interaktion, die auf der Bühne selber stattfindet. Wenn ich Anne Tismer

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HERR PUNTILA UND SEIN KNECHT MATTI, Regie: Einar Schleef, Premiere 17. Februar 1996 im Berliner Ensemble.

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richtig verstanden habe, haben Sie sich für eine eher einsame Tätigkeit entschieden und keine Lust mehr auf den deutschen Theaterbetrieb. Woher rührt die Energie für Ihre Suche nach neuen künstlerischen Formaten jenseits der Institution? Anne Tismer: Naja - Ich bin mit Joseph Beuys aufgewachsen, also mit dem was ich über ihn gelesen und gehört und gesehen habe – und es hat mich immer beeindruckt, wie geduldig er versucht hat seine Gedanken zu erklären. Er hat mal zu einem seiner Schüler, dem Heiner Stachelhaus, gesagt: „Na, malste noch?“. Diesen Satz habe ich mir zum Beispiel gemerkt. Ebenfalls habe ich mir ein Interview gemerkt, indem er erklärt, warum der Arbeiter, der jahrelang bei Ford gearbeitet hat, auch immer wieder zu Ford will, egal was man ihm anbietet. „Der Arbeiter will wieder zu Ford“. 2004 habe ich den Künstler John Bock kennengelernt und eine ganze Menge Arbeiten mit ihm gemacht und möchte das auch weiter und ich möchte mal leichtfertig behaupten, ich bin seine Schülerin. Das sieht man deutlich an diesem Objekt hier, das zu meiner letzten Arbeit gehört. Die heißt DIE SCHWEINSKOPFSÜLZE und war Teil eines Spektakels in der Volksbühne zum Thema Berlin.3 Meine Familie väterlicherseits kommt aus Berlin und da gab es meine Urgroßmutter, die für meinen Vater immer Schweinskopfsülze gekocht hat. Ich habe mich aufgemacht, herauszufinden, wie man Schweinskopfsülze überhaupt herstellt und wo man die Schweinsköpfe herbekommt. Das war dann doch ganz einfach, also bei Kaisers. Das Ganze habe ich dokumentiert und gefilmt. Dann gibt es noch eine Zeichnung von mir von einem lebendigen Schwein, es gibt dieses geschlachtete Schwein aus Wolle als Objekt mit heraushängenden Gedärmen und dann gab es mich, die oben links im Foyer der Volksbühne – in der Ecke mit den Garderobenhaken – Schweinskopfsülze gekocht hat. Während des gesamten Spektakels kamen immer wieder Leute vorbei, die nicht gemerkt haben dass sie durch eine Installation laufen. Sie haben mich gefragt, ob ich Würstchen verkaufe, weil sie Schweinefleisch gerochen haben. Im ganzen Haus roch es nach der Schweinskopfsülze. Weil ich aber hinter einem Tresen stand, wo man normalerweise als Theaterbesucher seine Kleider aufhängt, wurde ich vor allem gefragt, wo die Toilette sei oder wo jetzt die nächste Veranstaltung ist. Im gesamten Raum hingen Wollwürste – an einer Wand hing das ziemlich große ausgeschnittene Schweineobjekt aus Wolle – an einer anderen Wand lief der Film, in dem ich den Vorgang erkläre, wie ich versuche einen Schweinekopf zu kaufen und zu kochen. Ich selber stand vor dem Topf mit dem sichtbaren Schweinekopf. An allen Wänden hingen Zettel, auf denen ich die Geschichte meiner Urgroßmutter und ihren Verwandten in Berlin aufgeschrieben hatte und jeder hätte sich das durchlesen können –

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Anne Tismer: WAS WEISS ISCH ALLES VON MEINE BERLINER FAMILIE HEIMAT Installation beim Volksbühnen Spektakel Nummer 10 „Extrem jerne politisch“ am 29. und 30. Oktober 2010.

UND DIE SCHWEINSKOPFSÜLZE VON MEINER UROMA,

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aber das haben die wenigsten Uneingeweihten wahrgenommen. Es war eine unglaublich großartige Erfahrung auf eine bestimmte Art. Ich war weg. Ich kam in den Vorstellungen der meisten Besucher mit meiner Arbeit nicht vor, obwohl ich nicht müde wurde zu sagen, dass der Raum eine Installation ist und dass ich keine Garderobiere bin. Spät am Abend fing ich aber selber an zu glauben, dass ich doch eine Garderobiere bin und kein Künstler. Das war für mich ein wahnsinnig großes Erlebnis. Gronau: Ist Hermann Nitsch mit all seinen geschlachteten Tieren, die dann auf seinem Schloss in Prinzendorf rituell ausgestellt werden, ein Hintergrund für diese Arbeit? Kommt die Inspiration aus der Geschichte der Aktionskunst oder aus solchen „physischen Aktionen“? Tismer: Bei einer dieser Aktionen von Herman Nitsch, bei der Tiere geschlachtet und viel Wein getrunken wurde, bin ich mal mitgelaufen. Wirkliche tote Tiere in Aktionen sind für mich als künstlerischer Vorgang eigentlich nicht interessant weil ich das effektheischend finde und darum nicht mag. Ich habe trotzdem in der Aktion SCHWEINSKOPFSÜLZE wie meine Urgroßmutter 1940 den Schweinekopf gekocht und auch die Schweinefüße, aber ich weiß nicht, ob ich es wieder tun würde. Für mich ist ein Bild von einem geschlachteten Schwein, wo die Gedärme raushängen schon als Foto ziemlich furchtbar und traumatisierend. Dinge, die mich traumatisieren und die mir Angst machen, vergegenständliche ich gerne in einem anderen Material. Jetzt hängt das Schwein da und ist nicht aus Fleisch, sondern aus Wolle. Gronau: Sie arbeiten seit einigen Jahren mit einem Künstlerkollektiv aus Togo zusammen. Gibt es dort andere Vorstellungen davon, was ein Körper auf der Bühne macht oder was ein Körper vor anderen Menschen, die während einer Aufführung oder während einer Aktion zuschauen, macht? Gibt es da für Sie eine Möglichkeit sich anders zu bewegen, anders zu handeln? Ist der Wahrnehmungsrahmen ein anderer als in Deutschland? Tismer: Generell haben alle Togoer ein besseres Körpergefühl als Deutsche, Togoer Babys lernen auch schneller laufen und schon Kinder können sehr gut tanzen, aber die Arbeit mit dem Körper ist nicht unser Schwerpunkt. Die Künstler mit denen ich arbeite, sind auch nicht ein Kollektiv, sondern jeder ist selbständig. Wir sind ungefähr siebzehn – meistens weniger – das hängt mit finanziellen Mitteln zusammen. Wir machen Installationen und Happenings und schreiben auch zusammen Texte. Ich kam auf Einladung des Goethe-Instituts nach Togo und habe mich zuerst einmal über das schöne Wetter gefreut und darüber, dass die meisten Menschen freundlich sind und mir auch sogar zuhören, falls ich mal was zu erzählen habe. Meine eigene Wahrnehmung dessen, was um mich herum ist, ist in Deutschland auch immer anders gewesen, da habe ich das Gefühl – es ist in Deutschland manchmal komplizierter mich zu erklären. Ich bin nicht in Deutschland aufgewachsen, aber ich spreche die deutsche Sprache – es ist oft erschreckend für andere und auch für mich, dass es doch eine Fremdheit gibt. In Togo habe ich schon durch die andere Hautfarbe das Signal des

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Fremden – also wundert sich hier niemand über meine Sicht der Welt – wir wundern uns eher über unsere ähnlichen Gedanken – es gibt viele Gemeinsamkeiten und das macht unsere Arbeit leicht. Ja, es ist auch keine einsame Arbeit, wir sind fast nie alleine. Die Togoer Künstler, die ich kennengelernt habe, haben auch eine große Erfahrung in gemeinsamer Arbeit und ein geringes Aggressionspotenzial und große Geduld. Wir haben eine Aktion über die reichen Togoer Stoffgroßhändlerinnen – die Nana Benz – und ihre Geschichten gemacht und wir werden ein Happening über gestohlene und tote Hühner und über Tausendfüßler machen: DAS DISKRETE PARADIES DER TAUSENDFÜSSLER. Ich vertue mich aber auch hier. Einmal habe ich ein Thema vorgeschlagen, von dem ich dachte, dass es alle kennen, weil ich es auch kenne, obwohl ich nicht religiös bin: die Geschichte von Judith aus der Bibel – aber die kannte keiner, es hat auch keinen interessiert und alle wurden ganz müde und langsam. Sowas versuche ich also nicht mehr vorzuschlagen. Abbildung 1: DAS DISKRETE PARADIES DER TAUSENDFÜSSLER

Quelle: Happening von und mit Anne Tismer, Joel Ajavon, Jean Toglou, Jeanfrederic Batasse u.a., Lomé 2012, Foto: Anne Tismer.

Gronau: Die Zusammenarbeit in einer Gruppe, die gemeinsam kreiert und produziert – und bei der man vielleicht noch nicht vorher weiß, mit welcher Energie man auf die Bühne geht – ist auch eine Erfahrung von Mieke Matzke. Beim Performancekollektiv She She Pop gibt es sicher nicht die Notwendigkeit sich und seinen Körper in irgendeinen Zustand zu bringen, um dann die ästhetischen Vorstellungen eines Regisseurs zu erfüllen. Was sind

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bei Euch Energien, Vorbereitungsszenarien und Zustände bevor ihr auf die Bühne tretet? Mieke Matzke: Leib und Körper war lange Zeit überhaupt kein Thema bei uns. Es gab zwei, drei, die wollten Körpertraining machen, aber kurz vor der Premiere war dann aber keine Zeit und dann fiel das weg. Wir arbeiten sehr konzeptuell, aber im Laufe der Jahre haben wir uns bestimmte Techniken erarbeitet, um ähnliche Ergebnisse zu erzielen, wie Susanne Sachsse sie gerade beschrieben hat. In unserem Stück WARUM TANZT IHR NICHT? stellen wir mit den Zuschauern gemeinsam eine Ballsaal-Situation her. Davor spielen wir gemeinsam immer einen Song, zu dem wir zusammen tanzen und uns ziemlich stark verausgaben und wach machen. Es gibt aber auch einen Punkt, bei dem wir ganz unterschiedlich sind. Manche trinken noch einen Sekt, andere machen Yoga. Was auch sehr wichtig ist: Wir lieben es vorher in der Garderobe zu sein und uns ewig lange zu schminken und anzukommen. Das könnte man auch in einer Viertelstunde machen, denn wir haben ja meist keine große Maske, aber diese eineinhalb Stunden da zusammen zu sein, ist ein ganz wichtiger Punkt, gerade um aus dem Alltag heraus zu kommen. Gronau: In Eurer Produktion TESTAMENT4 steht ihr ja mit Euren Vätern auf der Bühne. Wie geht Ihr da mit physiologischen Differenzen um? Ein Siebzigjähriger, der eine eineinhalbstündige Vorstellung in einer führenden Rolle mittragen muss, erfordert andere Verabredungen oder schafft von vornherein eine andere Grundenergie. Matzke: Die Väter haben immer gesagt: „Ist ja egal, wenn ich etwas vergesse, ist ja meine Rolle.“ Es gibt eine Szene, die „Sturmszene“, die zwar von außen sehr chaotisch aussehen soll, die aber choreografisch sehr schwierig und sehr genau auf die Musik getimt ist. Darin war erstaunlich, dass die Väter fast immer schneller waren als wir. Wir haben nämlich immer das Publikum, also den Außenblick, mitgedacht. Gronau: In vielen Eurer Aufführungen wird das Publikum in das Spiel involviert und adressiert. Gibt es Eurer Erfahrung nach so etwas wie Übertragungen zwischen Bühne und Publikum? Was wäre das und kann man das Energie nennen? Matzke: Gerade in den interaktiven Szenarien, die wir entwerfen, spielen wir natürlich mit bestimmten Erwartungshaltungen, mit denen der Zuschauer in das Theater geht. Bei WARUM TANZT IHR NICHT?5 ist die Grundsituation: die Bühne ist ein Ballsaal, in dem Performer und Zuschauer zusammentreffen. Nachdem erklärt wurde, wie die Spielregeln sind und dass heute Abend alles möglich ist, wird „Are you lonesome tonight“ aufgelegt und nichts passiert. Es gibt nur die leere Tanzfläche und die Frage:

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She She Pop: TESTAMENT. VERSPÄTETE VORBEREITUNGEN ZUM GENERATIONSWECHSEL NACH LEAR, Uraufführung am 25.02.2010, Hebbel-am-Ufer Berlin. She She Pop: WARUM TANZT IHR NICHT?, Uraufführung Januar 2004, Kampnagel Hamburg.

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„Soll ich jetzt aufstehen und tanzen? Wird mich gleich eine Performerin auffordern? Soll ich lieber sitzen bleiben? Geh ich lieber raus? Gehe ich nach Hause?“ Am besten sind die Abende, bei denen nichts passiert, sondern die Situation ausgehalten wird, denn da merkt man eine Übertragung. Wir sitzen zwischen den Zuschauern und merken: hier entsteht eine Spannung, die darauf wartet sich zu entladen. Da kommen wir zu Begriffen wie Energie. Abbildung 2: She She Pop: WARUM TANZT IHR NICHT?

Quelle: She She Pop, Kampnagel Hamburg, Foto: Stefan Malzkorn.

Gronau: Kannst Du mit Deiner wissenschaftlichen Arbeit an diese Erfahrungen und den Begriff Energie anschließen? Spielt die Energie in der von Dir untersuchten Geschichte der Theaterprobe6 eine Rolle? Matzke: Am Ende des 18. Jahrhunderts bildet sich die Theaterprobe als Form heraus. Dabei taucht dabei immer wieder der Begriff des „Feuers“ auf, zum Beispiel bei August Lewald. Es geht darum, das Feuer zu „bändigen“

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Annemarie Matzke: Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2012.

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ohne es zu „ersticken“. Das findet man später, also Anfang des 20. Jahrhunderts, bei Stanislawski oder auch bei Meyerhold. Es ist immer ein Training, in dem es um eine bestimmte Disziplinierung oder eine Auseinandersetzung mit der Energie geht. Gleichzeitig gibt es in jeder Inszenierung etwas Unvorhersehbares, dass eine andere Art von Energie frei setzen kann. Aber vorher brauche ich etwas, das durch Training gespeichert wird, damit ich mich dann verausgaben kann. Ein Kontrollverlust, der vorher auch eine Form von Kontrolle braucht, also eine Doppelbewegung. Gronau: Dazu würde ich gerne Erika Fischer-Lichte fragen, wie Sie das Verhältnis von Disziplinierung und Kontrollverlust theaterhistorisch einschätzen. Im bürgerlichen Theater – bis ins 20. Jahrhundert hinein – fand man so etwas wie Schweiß auf der Bühne unappetitlich. Die Verausgabung, von der Mieke Matzke gesprochen hat, sollte immer nur kontrolliert entäußert werden. Fischer-Lichte: Es ist ja nicht so, dass Energie nur in Erscheinung tritt, wenn sich jemand wie wahnsinnig auf den Boden wirft und ins Schwitzen gerät. Gerade die physische Selbstkontrolle braucht eine große Menge Energie, die sich dann auch auf das Publikum überträgt. Es gibt sehr verschiedene Arten wie Energie erzeugt oder freigesetzt werden kann und es hat in der Theatergeschichte immer irgendwelche Begriffe für solche Prozesse, wie das „Sich-Wach-Machen“, gegeben. Ich bezweifle allerdings, dass der Begriff aus der Technik in die Kunst oder andere Lebensbereiche übertragen wurde. Wenn man sich anschaut, wie Humboldt den Begriff der Energie gebraucht, sehe ich eher, dass der Vorzug dieses Begriffs darin lag, dass er sowohl Lebensprozesse als auch das Technische umfasst. Besonders interessant dabei finde ich, was da von den Künstlern kommt: Sich-Wach-Machen heißt ja, einen bestimmten Bewusstseinszustand erreichen zu wollen, in dem man im Stande ist, Prozesse mit dem Publikum in einem „Zwischenraum“ in Gang setzen zu können. Elberfeld: Ich glaube, wenn wir uns an diesem Punkt auf Begriffe zuspitzen, dann verlieren wir etwas. Da hilft vielleicht eine Methode wie die Phänomenologie, die eher von Erscheinungsweisen als von Begriffen ausgeht. „Wachwerden“ ist dann ein Phänomen, das erscheint oder in einer bestimmten Weise erzeugt bzw. hergestellt wird. Die verschiedenen Praktiken des „Wachmachens“ müssten sauber beschrieben werden und zwar sowohl von den Künstlern, die das tun, als auch von denjenigen, die das beobachten. Es geht vielleicht eher darum, in einer geteilten Praxis oder im teilnehmenden Mitmachen, Beschreibungsformen zu entwickeln, die aus einer leiblichen Erfahrung mitgetragen werden, als Zuschauer, als Mitmacher und so weiter. Es ist ein sich ständig verschiebender Prozess, Beschreibungsformen, Wörter, Metaphern, Wortwendungen zu finden, mit denen man sich gegenseitig bewegen kann. Gronau: Dass du das so einforderst, finde ich absolut überzeugend. In meiner Beschäftigung mit dem Prinzip Energie habe ich zunehmend das Gefühl, dass dieser Begriff eigentlich eine Leerstelle ist. Diese wird mit ver-

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schiedensten Begriffsinhalten gefüllt, die zur jeweiligen Situation oder Fragestellung passen: physiologische, lebensweltliche, künstlerische, technische etc. Interessant ist nun, dass der Begriff das auf eine Weise tut, die man „produktives Missverständnis“ nennen könnte. Beim Stichwort „energetisches Theater“ denkt man vielleicht an Artaud und die Begeisterung für Rituale, Selbstentäußerungen, Transgressionen verschiedenster Art. Man kann sich jedoch fragen, ob das, was Artaud stellvertretend für die Avantgarden im 20. Jahrhundert formuliert hat, nicht ein produktives Missverständnis des von ihm bewunderten Balinesischen Theaters war. Die semantische Offenheit des Begriffes Energie scheint zugleich seine Produktivität auszumachen. Sind dir solche Umdeutungsprozesse in der japanischen Philosophie oder Literatur – also im Transfer von der ostasiatischen in die europäische Perspektive – aufgefallen? Elberfeld: Ich denke schon. Es ist immer wieder das Problem der Übersetzung. In der europäischen Ästhetik taucht der Begriff bei Sulzer, Leibniz und Herder auf und wandert dann zu Schelling, Fichte und Hegel, die über Magnetismus geschrieben haben. Das war die absolut eigentümliche Kraft, ein Phänomen, dass sie denkerisch zu fassen versuchten, aber nicht wirklich in den Griff bekamen. In Europa gab es also eine philosophische Tradition, die bereit lag, um ostasiatische Perspektiven aufzunehmen und sich mit diesen zu verbinden. Derrida sagt, durch jede Übersetzung wird ein Text fortund weitergeschrieben. Durch jedes Wahrnehmen wird eine Wahrnehmung, eine Energie fortgeschrieben, verwandelt, verändert. Von daher ist es immer ein produktives Missverständnis. Das erfahre ich im tänzerischen Bereich – vor allem im Butoh – besonders stark. Man sieht einen Menschen und schon taucht ja dieser Mensch in mir in irgendeiner Weise auf und dadurch werde auch ich verändert. Das ist immer ein Umsetzungsprozess. Gronau: Das ist vielleicht die Gelegenheit, um noch einmal beim Tanz nachzufragen: In der zeitgenössischen Tanzwissenschaft taucht vermehrt das Schlagwort der „kinetic empathy“7 auf, also der Idee, dass ich während ich einem sich bewegenden Körper zusehe, die Bewegung zugleich mit- und nachvollziehe. Gibt es in der choreografischen Arbeit solche Momente der Übertragung, die Sie einkalkulieren? Momente, die Sie selber spüren und von einem Darsteller als individuelle Grundlage für Ihre Arbeit benutzen? Winkler: Sie meinen eine wirkungstechnische Absicht? Na ja, eine Diagonale ist eine Diagonale. Wenn jemand aus der Diagonale kommt, dann erzeug er eine starke Raumlinie. Ich habe eine ganze Menge Lehrproben gesehen wie „Tanz deinen Namen“ und das funktioniert. Dabei wird der Name geschrieben und der Tänzer muss dann seinen Namen tanzen. Das ist so naiv, aber das funktioniert bei einem bestimmten Background. BodyMind-Centering ist ein bildgebendes Verfahren. Man stellt sich Körperflüssigkeiten vor und versucht diese in eine körperliche Entäußerung zu geben, um die Resultate anderer Techniken, die Pattern generieren, zu vermeiden.

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Vgl. dazu den Beitrag von Gabriele Brandstetter im vorliegenden Band.

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Das heißt, es gibt eine riesige Anzahl von somatischen Praktiken, so dass ich in meiner Arbeit immer erst nach dem Wert für dieses bestimmte Projekt fragen muss. Und wenn ich das entschieden habe, dann kaufe ich das auch mit meinem eigenen Sachverstand ein. Ich lasse da jemanden kommen, der sagt, das mit der Stimme und der Bewegung erscheint uns ganz gut. Das muss ich gar nicht selbst machen. Wenn es um eine bewegungsbasierte Choreografie geht, dann habe ich ein bestimmtes Repertoire von Phrasierungen, wie ich das zusammensetzte. Das geschieht dann auf eine Wirkungsästhetik hin, indem ich bestimmte Räume besetze und das dann variiere oder verändere, quasi eine Komposition, die visuell ist. Da gibt es dann zwar ganz konkrete Ansagen, wie „Das ist die Lücke und dann gehst du da durch und wartest bis der da fertig ist“. Aber das ist auch ein wenig in der Schwebe. Es ist verabredet, aber wann der Einsatz oder der Impuls von Jemandem kommt, ist zwar wirkungsgerichtet, aber es bleibt immer ein Rest, den jeder für sich selbst entscheiden muss. Gronau: Sie haben am Anfang gesagt, dass Sie verschiedene Energiepässe ausstellen. Was ist denn ein Darsteller mit einem vollen oder ein Darsteller mit einem geringeren Energiepass? Wer sind denn energetische Darsteller? Mir ist bei der Vorbereitung immer wieder der Schauspieler Thomas Thieme eingefallen. Ich glaube, das hat in dem Fall etwas mit der Stimme und der Leibesfülle zu tun. Winkler: Ich glaube, das ist eher Präsenz. Gronau: Ja, aber was ist Präsenz? Winkler: Wenn ein Mensch ins Studio kommt, dann er hat eine Präsenz, dann ist er ein gewisser Typ. Ich habe zum Beispiel mal einen KrumpingTänzer8 gehabt, der war einundzwanzig, den konnte man nicht nah an andere Tänzer stellen, weil der so nach außen gestrahlt hat. Eine Ausstrahlung, auch ohne zu wissen, was das ist und auch ohne das per se in irgendeiner Form absichtlich einzusetzen. Der war einfach da. Und das spürte man. Der kam rein, ging einmal über die Bühne und auf einmal machte es so HUSCH. Dagegen ist bspw. Bettina Thiel von der Staatsoper eine sehr nach innen gekehrte Tänzerin, sehr introspektiv. Sie schaut auch seltener in das Publikum, hat aber eine solche Körperlichkeit, dass die, wenn ich sie anstupse, zehn Minuten später immer noch wackelt, weil sie so flexibel ist und das in ihrem Körper nachhallt. Wenn man herausfinden will, wie man auf der Bühne Reibung herstellen kann, muss man die Ausgangsbedingungen des Darstellers erkennen und respektieren. Fischer-Lichte: Ich denke auch, dass diese Art individueller Präsenz ohne energetische Prozesse nicht möglich ist. Gerade dieses Ausstrahlen auf Andere ist etwas, das ich immer mit einem Vokabular aus dem Begriffsfeld

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Krumping (Kingdom Radically Uplifted Mighty Praise): schneller, amerikanischer Freestyle-Tanz, der meist als Wettkampf ausgetragen wird; kongenial dokumentiert in David LaChapelles Film RIZE (2005). Christoph Winkler arbeitet seit 2009 mit dem Tänzer Eugene „U-gin“ Boateng zusammen.

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von Energie beschreiben würde. Die Darsteller, die auf die Bühne kommen und das sofort haben, Martin Wuttke ist auch so jemand, benutzen ganz offensichtlich bestimmte Techniken. Ob die bewusst oder unbewusst sind, spielt für die Wirkung keine Rolle. Gründgens zum Beispiel kam auf die Bühne und alles schaute ihn an. Wenn Sie ihn aber hinter der Bühne privat trafen, wirkte er eher unscheinbar. Als Thomas Mann sein Schwiegervater war, hat er dieses schöne Bonmot geprägt, Gründgens sei wie ein Glühwürmchen: Am Tag sieht man es überhaupt nicht, und kaum wird es dunkel, dann fängt es an zu leuchten und strahlt aus. Darin steckt ein interessanter Aspekt: Präsenz braucht eine Bühnensituation, einen Anderen als Beobachter und Mitspieler. Das ist doch das Spannende am Theater und an der Aufführungssituation – etwas, das wir in keiner anderen Kunstform haben! Da sind zwei verschiedene Gruppen von Menschen gleichzeitig im selben Raum und zwischen ihnen trägt sich etwas zu. Manchmal braucht man nebulöse Begriffe wie Energie, um sich dem anzunähern und dann in der Lage zu sein, die damit gemeinten Phänomene genauer zu beschreiben. Gronau: Der Raum ist in der Tat ein wichtiges Stichwort, denn Energie ist ja nicht nur ein Effekt der Physis, des Leibes und des Trainings, also der technischen Vorbereitung zu denken, sondern auch als Effekt eines Raumes, in dem live agiert wird. Susanne Sachsse hat am Anfang gesagt, am Berliner Ensemble sei der Raum furchtbar, weil man vorn an der Rampe eigentlich gegen den Raum spielen müsste. Und Anne Tismer hat gesagt, sie habe da oben in der Volksbühne gekocht und alle haben sie für die Garderobiere oder die Würstchenverkäuferin gehalten und der Raum war wie ein schützender Rahmen, ein Inkognito. Meine Frage zum Schluss wäre deshalb: Inwiefern ist der Raum als Schnittstelle wichtig, die alle Seiten miteinander verbindet? Matzke: Die Erfahrung, dass es riesige Unterschiede gibt zwischen den Räumen, die man bespielt, kenne ich auch. Eine quantitative Masse von Zuschauern macht etwas mit der Energie. Es ist etwas ganz anderes, ob ich vor einhundert Leuten spiele oder vor fünfhundert oder vor achthundert Leuten. Das kann zwar in allen Fällen nach hinten losgehen, aber achthundert Menschen erzeugen eine Massenpräsenz, die ich schon auf der Bühne spüre. Auch für jeden im Publikum ist es etwas anderes, ob man zwischen achthundert oder zwischen zwanzig Leuten sitzt. Das ist von vornherein eine andere Situation, die ein anderes Energielevel bewirkt. Man kann aber nicht sagen, was besser oder schlechter ist. Ich würde außerdem nicht nur die Anzahl der Zuschauer, sondern auch die Architektur bei der Frage mitdenken, wie Energie gebündelt oder auch vergeudet werden kann. Es gibt wirklich Räume, bei denen Energie verschwindet, wo man als Darstellerin dagegen arbeitet. Das kann schwierig sein, das kann aber auch gut sein. Ich glaube, unter diesem Aspekt sollte man sich Theaterräume einmal anschauen. Gronau: Vielen Dank!

„W ENN

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1. DAS DISKRETE PARADIES DER TAUSENDFÜSSLER Happening von und mit Anne Tismer, Joel Ajavon, Jean Toglou, Jeanfrederic Batasse, Lili Awouzouba, Basile Yawanke, Senion Hodin, David Ganda, Lomé 2012; Foto: Anne Tismer. Abb. 2. WARUM TANZT IHR NICHT? von und mit Sebastian Bark, Johanna Freiburg, Fanni Halmburger, Lisa Lucassen, Mieke Matzke, Katharina Oberlik, Ilia Papathodorou und Berit Stumpf, Uraufführung Kampnagel Hamburg 2004, Foto: Stefan Malzkorn, mit freundlicher Genehmigung der Künstler.

Autorinnen und Autoren

Brandstetter, Gabriele ist Professorin für Theater- und Tanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Ästhetik von Tanz, Theater und Literatur vom 18. Jh. bis zur Gegenwart; Theater und Tanz der Moderne und der Avantgarde; Zeitgenössisches Theater, Tanz, Performance; Theatralität und Geschlechterdifferenz; Virtuosität in Kunst und Kultur; Körper – Bild – Bewegung. Veröffentlichungen u.a.: Tanz als Anthropologie (2007, Mithg. C. Wulf); Prognosen über Bewegungen (2009, Mithgg. S. Peters, K. van Eikels); Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren. Kunst – Medien – Praxis (2010, Mithg. H.-F. Bormann, A. Matzke); Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias: Szenographie und Choreographie im zeitgenössischen Theater (2010, Mithg. B. Wiens). Cowan, Michael, ist seit 2010 Associate Professor in der Abteilung für Languages, Literatures and Cultures an der McGill University in Montreal mit Schwerpunkt Kultur- und Mediengeschichte. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Wechselwirkungen zwischen Filmgeschichte und Visual Culture, das Verhältnis von Medien und Wahrnehmung sowie die Körperdiskurse in der europäischen Moderne. Zu seinen jüngsten Publikationen zählen Technology’s Pulse. Essays on Rhythm in German Modernism (London 2011); Cult of the Will. Nervousness and German Modernity (Pennsylvania 2008). Elberfeld, Rolf ist Professor für Philosophie an der Universität Hildesheim, nach dem Studium der Philosophie, Religionsgeschichte, Japanologie und Sinologie 1995 Promotion und 2002 Habilitation in Philosophie; Forschungen u. a. zur chinesischen und japanischen Philosophie und interkulturellen Ästhetik. Publikationen u. a.: Kitaro Nishida (1870–1945). Das Verstehen der Kulturen. Moderne japanische Philosophie und die Frage nach der Interkulturalität (Amsterdam 1999); Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. Methoden interkulturellen Philosophierens (Stuttgart-Bad Cannstatt 2004); Sprache und Sprachen. Eine philosophische Grundorientierung (Freiburg 2012).

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FischerLichte, Erika ist Professorin für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin, Leiterin des BMBF-Forschungskollegs „Verflechtungen von Theaterkulturen“, Sprecherin des Graduiertenkollegs „InterArt“ und des Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Performativen“ (1999-2010). Gastprofessuren in den USA, Russland, China, Japan und Indien. Mitglied der Academia Europaea, der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina; jüngste Publikationen u.a: Ästhetik des Performativen (Frankfurt am Main 2004); Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Fachs (Tübingen 2010); Global Ibsen. Performing Multiple Modernities (Mhg. Gronau/Weiler, New York 2011); Performativität. Eine Einführung (Bielefeld 2012); Dionysos Resurrected (Bristol 2012). Gamper, Michael ist seit 2011 Professor für Deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Kultur und Wissensgeschichte an der Leibniz Universität Hannover, zuvor 2006 bis 2011 SNF-Förderprofessor für Literaturwissenschaft an der ETH Zürich. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Kulturgeschichte des Wissens, das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft, die Verflechtungsgeschichte von Wissen und Ästhetik, gesellschaftliches Imaginäres und Kollektivphänomene sowie Massenkultur/Unterhaltung/Popularität. Jüngste Publikationen u.a. Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765-1930 (München 2007); Elektropoetologie. Fiktionen der Elektrizität 1740-1870 (Göttingen 2009). Gronau, Barbara ist Juniorprofessorin für Theaterwissenschaft am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. 2006 Promotion am SFB „Kulturen des Performativen“ der FU Berlin mit der Arbeit Theaterinstallationen. Performative Räume bei Beuys, Boltanski und Kabakov, München 2010 (ausgezeichnet mit dem JosephBeuys-Preis für Forschung). Danach wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin; Gastdozenturen in Mainz und Bern; Gastprofessorin an der Universität der Künste. Zahlreiche Tätigkeiten als Dramaturgin und Kuratorin an verschiedenen Theatern, vor allem dem Hebbel-am-Ufer Berlin. Publikationen u.a.: Performanzen des Nichttuns (Wien 2008) und Ökonomien der Zurückhaltung. Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion (Bielefeld 2010, beide hg. mit A. Lagaay).

A UTORINNEN

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Hirte, Marion ist seit 2008 Professorin für Produktionsdramaturgie an der Uiversität der Künste Berlin. Zuvor arbeitete sie nach einem Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft an der FU Berlin als Schauspieldramaturgin am Theater Bremen, dem Bayerischen Staatsschauspiel, dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg, den Münchner Kammerspielen und zuletzt als Chefdramaturgin am Schauspielhaus Graz. Sie betreute auch Opernproduktionen und unterrichtete Theatergeschichte und Dramaturgie an der Universität Hamburg und der Otto-Falckenberg Schule. Jüngste Veröffentlichung: „Besichtigung einer Mehrheitsgesellschaft – Dramaturgische Thesen zu einem aktuellen Inszenierungsansatz des Kaufmann von Venedig“ in Zeno Ackermann, Sabine Schülting (Hg.): Shylock nach dem Holocaust. Zur Geschichte einer deutschen Erinnerungsfigur (Berlin/New York 2011). Huschka, Sabine ist derzeit Gastprofessorin für „Theorie und Geschichte des Theaters“ an der Universität der Künste Berlin und war zuvor als Vertretungsprofessorin für Theater- und Tanzwissenschaft am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, der Universität Bern und Universität Hamburg tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Performativität von Wissen in den Darstellungskünsten, kultur- und theatertheoretische Zugänge zum Bühnentanz, Aufführungsanalyse von Gegenwartstheater und Zeitgenössischem Tanz, Performancetheorie und Historiographie des Bühnentanzes. Ihre wissenschaftliche Laufbahn ist begleitet von künstlerischen Tätigkeiten und einer Ausbildung in Integrativer Tanz-Pädagogik. Veröffentlichungen u.a.: Wissenskultur Tanz. Historische und zeitgenössische Vermittlungsakte zwischen Praktiken und Diskursen (Bielefeld 2009 Hrsg.); Moderner Tanz. Konzepte – Stile – Utopien (Reinbek 2002). Kassung, Christian ist seit 2006 Professor für Kulturtechniken und Wissensgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, davor Vertretungsprofessuren an der Universität Siegen sowie der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz/Österreich. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Wissens- und Kulturgeschichte der Naturwissenschaften, v.a. der Physik, eine instrumenten- und apparategeschichtlich orientierte Epistemologie sowie die Geschichte und Praxis technischer Medien. Zu den jüngsten Veröffentlichungen gehören: Das Pendel. Eine Wissensgeschichte (München 2007); Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls (Bielefeld 2009).

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Matzke, Annemarie Mieke ist Mitglied des Performance Kollektivs She She Pop und Professorin für experimentelle Formen des Gegenwartstheaters an der Universität Hildesheim. Nach dem Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen Promotion über „Formen der SelbstInszenierung im zeitgenössischen Theater“; danach wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hildesheim und der Freien Universität Berlin; 2009 Habilitation an der FU Berlin (Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe, Bielefeld 2012). Seit 1994 zahlreiche Inszenierungen mit She She Pop, u.a. BAD (2002); WARUM TANZT IHR NICHT? (2004); TESTAMENT (2010). Arbeitsschwerpunkte: Praxis und Theorie des Gegenwartstheaters, Schauspieltheorien, Probenprozesse und theatrale Raumkonzepte. Neswald, Elizabeth R. ist seit 2006 Professorin für Wissenschafts- und Technikgeschichte an der Brock University in Ontario, davor Vertretungsprofessorin an der University of Aberdeen und Postdoctoral Research Fellow an der National University of Ireland, Galway. Ihre Faszination für die vielseitige Interpretierbarkeit der Energiegesetze führte sie von der Medienphilosophie Vilém Flussers über eine Kulturgeschichte der Thermodynamik zur Ernährungsphysiologie des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Veröffentlichungen u.a.: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz. Eine Faszinationsgeschichte der Entropie 1850-1915 (Freiburg i.Br. 2006); Medien-Theologie. Das Werk Vilém Flussers (Köln/Weimar 1998). Zur Zeit arbeitet sie an einer Geschichte der energetischen Ernährungstheorien und -praktiken: Counting Calories: Thermodynamics, Statistics and the Emergence of Modern Nutrition Science. Petzer, Tatjana ist Slawistin und Literaturwissenschaftlerin. Oberassistentin am Slavischen Seminar der Universität Zürich und Dilthey-Fellow am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Promotion zu Geschichte als Palimpsest. Erinnerungsstrukturen in der Poetik von Danilo Kiš, Frankfurt am Main 2008. Zahlreiche Publikationen zu ost- und südslawischen Kulturen, Literaturen und Künsten, als Mithg.: Namen: Benennung – Verehrung – Wirkung. Positionen in der europäischen Moderne (Berlin 2009); Die Ordnung pluraler Kulturen. Figurationen europäischer Kulturgeschichte, vom Osten her gesehen (Berlin 2012). Aktuelle Forschungsprojekte zu Synergie- und Wirkungskonzepten, slawischen Wissenskulturen, Futurologie und Ästhetik.

A UTORINNEN

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Pfeiffer, Gabriele C. ist seit 2009 Universitätsassistentin und seit 2010 Vizestudienprogrammleiterin am TFM | Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien, zuvor war sie als Lehrbeauftragte am TFM tätig sowie als wiss. Mitarbeiterin im Leitungsteam des Don Juan Archiv Wien und im Dokumentationsteam des EU-Projekts des Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Inter- und Transkulturelles Theater, Experimentelles Theater (Österreich, Italien) und Theateranthropologie. Zu den jüngsten Publikationen zählt Kommt herbei! Eintritt frei. Comœdianten sind da. Ich erzähle Euch die Geschichte vom Dario Fo-Theater in den Arbeiterbezirken (Wien 2009). Sachsse, Susanne ist Schauspielerin, Regisseurin, Performerin und Installationskünstlerin. Als Schauspielerin wirkte sie u. a. in Arbeiten von Heiner Müller, Einar Schleef und Robert Wilson mit. Gemeinsam mit Yael Bartana, Keren Cytter und Katya Sander kreierte sie Videos, Performances und Installationen. Filmauftritte u. a. in Bruce LaBruces THE RASPBERRY REICH (2004) und PIERROT LUNAIRE (2011). Sie ist Mitbegründerin des Künstlerkollektivs CHEAP. 2011/2012 war sie in Vegars Vinge's JOHN GABRIEL BORKMAN (Volksbühne/Prater) zu sehen, co-kuratierte das Festival CAMP/ANTI-CAMP (HAU/Berlin, 2012), führte Regie und spielte in ihrem selbstgeschriebenen Stück COMMUNIST BIGAMIST. TWO LOVE STORIES (HAU/Berlin, Kaserne/Basel, 2012). Gegenwärtig arbeitet sie am Drehbuch ihres ersten Films SERIOUS LADIES, inspiriert vom Leben und Werk Jane Bowles. Schrödl, Jenny ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Zuvor arbeitete sie im SFB 447 „Kulturen des Performativen“, im Projekt „Stimmen als Paradigmen des Performativen“; dort schloss sie im Juli 2010 ihre Dissertation zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater ab. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören: Theorie und Ästhetik der Stimme, Wirkungs- und Erfahrungsforschung sowie Gender/Queer Performance. Jüngere Publikationen: Vokale Intensitäten. Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater (Bielefeld 2011) sowie Stimm-Welten. Philosophische, medientheoretische und ästhetische Perspektiven (gem. hrsg. mit Doris Kolesch und Vito Pinto, Bielefeld 2009). Tismer, Anne ist Performancekünstlerin, Autorin und Bildende Künstlerin. Sie wurde in Versailles geboren, studierte in Hamburg Jura und Sinologie, und in Wien drei Jahre lang Darstellende Kunst. 2009 wurde ihr als erste ausländische Künstlerin der Belgische „prix special de la critique theatre et dance“ verliehen. Nach Zusammenarbeit mit John Bock (2004-2009) entwickelte sie eigene Kunstaktionen und Performances, gründete 2005 mit Rahel Savoldelli das Kollektiv gutestun und war 2006 Mitbegründerin des Kunstortes Ballhaus Ost in Berlin. Seit 2009 verbindet sie eine enge Zusammenarbeit mit Joel Ajavon, Jean-Frederic Batassé und anderen Togoer Künstlern. Anne Tismer lebt und arbeitet in Lomé, Brüssel und Berlin.

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Winkler, Christoph ist Choreograph und arbeitet seit 1998 freischaffend in Berlin. Nach dem Studium der Choreographie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ war er artist in residence an der Tanzfabrik Berlin und in Nancy. Die 2007 von ihm gegründete Agentur für zeitgenössischen GoGo Tanz: Berlin GOGOS läuft seit ihrer Gründung international in verschiedenen Formaten. In seiner Produktion TAKING STEPS setzt sich Christoph Winkler mit dem von der UNESCO und der OECD initiierten Programm „Lifelong Learning“ auseinander; in seiner Produktion DANCE!COPY!RIGHT? (2012) untersucht er Fragen des künstlerischen Urheberrechts und der Kopie von Bewegungen im Tanz.

Edition Kulturwissenschaft Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen Februar 2013, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0

Erika Fischer-Lichte Performativität Eine Einführung September 2012, 240 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1178-6

Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Das Prinzip »Osten« Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums 2010, 180 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1564-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Edition Kulturwissenschaft Bernd Hüppauf Vom Frosch Eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie 2011, 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1642-2

Claus Leggewie, Darius Zifonun, Anne Lang, Marcel Siepmann, Johanna Hoppen (Hg.) Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften November 2012, 344 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1327-8

Stephan Moebius (Hg.) Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies Eine Einführung September 2012, 312 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2194-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Edition Kulturwissenschaft Christoph Bieber, Benjamin Drechsel, Anne-Katrin Lang (Hg.) Kultur im Konflikt Claus Leggewie revisited 2010, 466 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1450-3

Barbara Birkhan Foucaults ethnologischer Blick Kulturwissenschaft als Kritik der Moderne Januar 2012, 446 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1955-3

Roland Innerhofer, Katja Rothe, Karin Harrasser (Hg.) Das Mögliche regieren Gouvernementalität in der Literatur- und Kulturanalyse 2011, 338 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1474-9

Thomas Kirchhoff, Vera Vicenzotti, Annette Voigt (Hg.) Sehnsucht nach Natur Über den Drang nach draußen in der heutigen Freizeitkultur

Stephan Conermann (Hg.) Was ist Kulturwissenschaft? Zehn Antworten aus den »Kleinen Fächern«

Mai 2012, 288 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1866-2

Januar 2012, 316 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1863-1

Alexander Kratochvil, Renata Makarska, Katharina Schwitin, Annette Werberger (Hg.) Kulturgrenzen in postimperialen Räumen Bosnien und Westukraine als transkulturelle Regionen

Uta Fenske, Walburga Hülk, Gregor Schuhen (Hg.) Die Krise als Erzählung Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne März 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1835-8

Klaus W. Hempfer, Jörg Volbers (Hg.) Theorien des Performativen Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme 2011, 164 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1691-0

Januar 2013, 350 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1777-1

Eva Kreissl (Hg.) Kulturtechnik Aberglaube Zwischen Aufklärung und Spiritualität. Strategien zur Rationalisierung des Zufalls Februar 2013, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2110-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de