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German Pages 382 Year 2014
Dorit Müller, Sebastian Scholz (Hg.) Raum Wissen Medien
Dorit Müller, Sebastian Scholz (Hg.)
Raum Wissen Medien Zur raumtheoretischen Reformulierung des Medienbegriffs
Die Drucklegung wurde durch Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft teilfinanziert, welche das Graduiertenkolleg »Topologie der Technik« an der Technischen Universität Darmstadt zur Verfügung stellte.
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Inhalt
Raum, Wissen, Medien. Anmerkungen zu einem Zusammenhang Dorit Müller, Sebastian Scholz | 9
I
MEDIALE RÄUME – WISSENSORDNUNGEN Lebensraum. Frühe pflanzengeographische Karten und die »natürliche Ökonomie« der Gewächse Nils Robert Güttler | 39 Die Fabrik als Wissensraum. Bürgerliche Raum- und Wirklichkeitskonstruktionen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Daniela Fleiß | 59 Finanzströme und unendliches Geld. Raumzeitliche Metaphern in der Finanzmarkttheorie Ramón Reichert | 85 (Supra-)Nationalstaatliche Grenze, elektronischer Raum und globale Medienkommunikation Hedwig Wagner | 105 Strategiespiele und Diskurse geopolitischer Ordnung Rolf F. Nohr | 127
II
W ISSENSRÄUME – RAUMMEDIEN Inklusion durch Exklusion. Die Kunstkammer als Wissensraum kolonialer Topographien Dominik Collet | 157 Antarktis als medialer Wissensraum. Shackletons Expeditionen Dorit Müller | 181 Das transplane Bild. Medium des Raumwissens Jens Schröter | 213 Zum absoluten Präsens medialer Wissensräume Tim Raupach | 229
III MEDIENTOPOLOGIEN UND DAS W ISSEN DER M EDIEN Bilder/Räume denken. Zum diagrammatischen Bild Daniela Wentz | 253 Logiken der Transformation. Zum Raumwissen des Films Laura Frahm | 271 Stadt, Land, Film. Raumexperimente bei Rohmer und Resnais Herbert Schwaab | 303 Räume des Denunzierens. Metaperzeptive und metafilmische Verfahren im Spielfilm über den Nationalsozialismus Sigrid Nieberle | 325
Filmstill-Stillleben. Über und in D ER M ENSCH IM D ING von Tom Tykwer Martin Schlesinger | 349 Autorinnen und Autoren | 373
Raum, Wissen, Medien Anmerkungen zu einem Zusammenhang D ORIT M ÜLLER , S EBASTIAN S CHOLZ
Im Zuge einer neuerdings intensivierten sozial- und kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Kategorie des Raumes lässt sich ein verstärktes Interesse am »Raumparadigma« sowohl für die Wissenschaftsforschung als auch für die Medienwissenschaft konstatieren. Dabei geht es nicht um ein Verständnis von »Raum« als substanzielle dreidimensionale Entität, in welcher Handlungen, Techniken und Inhalte wie in einem Container miteinander interagieren. Vielmehr werden »Räumlichkeiten« untersucht, die durch apparative Konstellationen, symbolische Ordnungen, institutionelle Kontexte und kulturelle Praktiken überhaupt erst konstituiert werden und zugleich bestimmte Wissensformen und mediale Zusammenhänge stets neu hervorbringen. So rückt einerseits eine auf soziale Praktiken und Experimentalanordnungen orientierte Wissenschaftsforschung die »Räume des Wissens« in den Blick (Rheinberger/Hagner/Schmidt-Wahrig 1997; Ash 2000). Und andererseits nimmt medienwissenschaftliche Forschung verstärkt die räumlichen Bedingungen und Raumgebungsverfahren ihrer Gegenstände ernst (Günzel 2007; Döring/Thielmann 2009). Damit sind keinesfalls alle Aspekte der gegenwärtig geführten Raumdebatte in den genannten Wissensgebieten umrissen. Vielmehr hat sich das Spektrum der Themenfelder bemerkenswert ausdifferenziert, wie nicht nur die Überblicksdarstellungen zur kulturwissenschaftlichen Raumdiskussion (zuletzt Günzel 2009; 2010), sondern auch zahlreiche Einzelstudien belegen (u.a. Döring/Thielmann 2009; Meusburger/Jöns/Livingstone 2009; Buschauer 2010; Frahm 2010).
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R ÄUME
DES
W ISSENS
Das oben skizzierte Raumkonzept gewinnt in der Wissens- und Wissenschaftsforschung als Analysekategorie dort an Bedeutung, wo nicht nur die konkreten Orte der wissenschaftlichen Arbeit (Labor, Fabrik, Universität, Operationsraum, Schreibtisch) sondern auch die sozialen Netzwerke der Produktion von Wissen sowie ihre apparativen und medialen Bedingungen im Vordergrund stehen. Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit Räumlichkeit als Faktor der Wissensproduktion bildeten institutionengeschichtliche Studien, welche nach den sozialen Verhältnissen und Praktiken innerhalb von Forschungsstätten, im weitesten Sinne also nach der »Topologie« sozialer Raumordnungen fragten (Bourdieu 1988). Zum Gegenstand solcher Forschungen werden unter anderem Zugangs- und Ausschlussbedingungen von »Wissensräumen«, welche mit Blick auf Raumbelegungen in universitären Einrichtungen, Bücherordnungen und Nomenklaturen in Bibliotheken und Archiven sowie auf Verteilungen wissenschaftlicher Apparaturen in Laboratorien untersucht wurden (Vgl. die Beiträge in Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 [2000] 1-4). Arbeiten zum Wissenstransfer wiederum berücksichtigen räumliche Dimensionen insofern, als hier Mechanismen der Übertragung von Wissensbeständen zwischen den Bereichen »Wissenschaft« und »Öffentlichkeit«, zwischen geographischen »Zentren« und der »Peripherie« oder differierenden kulturellen Sphären herausgearbeitet werden. (Daum 2000; Antos/Weber 2005; Ash 2006; Mayntz 2008). Gender-orientierte Wissenschaftsforschung geht hingegen von der Standortgebundenheit der Forschenden aus, lenkt den Blick auf je individuelle und kulturelle Perspektiven von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und diskutiert somit die Situiertheit des Wissens unter Bezugnahme auf die räumlich konzeptualisierten Kategorien »Geschlecht« und »Geschlechterdifferenz« (Harding 2004; Haraway 1995). Darüber hinaus richtet sich die Aufmerksamkeit epistemologischer Studien vermehrt auf die symbolischen Ordnungen und medialen Bedingungen wissenschaftlicher Praxis. So werden einerseits im Anschluss an Bruno Latour (1987) wissenschaftliche Beobachtungsergebnisse und ihre Aufschreibesysteme wie Tabellen, Diagramme, Karten und Fotografien als »unveränderliche Bewegliche« beschrieben, welche gewonnene Daten stabilisieren und zugleich transportabel
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machen und somit die Grundlage für eine beständige Zirkulation und Transformation von Wissen bilden. Zu den Untersuchungsfeldern dieser Forschung, welche die Generierung von Wissen topologisch in einem Netzwerk unterschiedlichster Aktanten verortet, zählen Prozesse der Beobachtung, Aufzeichnung, Kartierung und Standardisierung von Wissen, Praktiken der Raumorientierung und Raumaneignung in den Wissenschaften sowie die Etablierung globaler Machtbeziehungen durch wissenschaftliches Agieren. Andererseits dient Michel Foucaults Überwachungs-Modell des Panoptikons (1975) als Ausgangspunkt wissenschaftstheoretischer Untersuchungen, die den Relationen zwischen Raumstrukturen, Ordnungen der Sichtbarkeit, Machteffekten und Wissensproduktion nachgehen. Im Ergebnis dieser »Raumwenden« bilden sich neue Forschungsfelder wie die Surveillance Studies, die Umweltgeschichtsschreibung und Infrastrukturforschung sowie Projekte der Wissenschaftsgeographie, u.a. die Kartierung und Lokalisierung genetischer Differenzen heraus (vgl. Hanke/Höhler 2010: 316-318). Explorationen in diesen Feldern zielen einerseits auf die kulturellen und medialen Bedingungen genuin raumbezogener Wissenschaften wie Meteorologie, Ökologie, Länderkunde oder Kartographie (Schröder/Höhler 2005; Lenz 2008) und andererseits auf die räumliche Konditionierung der Wissenskonstitution (Latour 1990; Ophir/Schaffer 1991; Agar/Smith 1998; Livingstone 2003; Meusburger/Jöns/Livingstone 2009). Nicht zuletzt haben Diskussionen über die epistemischen Effekte räumlicher Dispositionen auch das Interesse an einer philosophiehistorischen Aufarbeitung des Zusammenhangs zwischen Wissen und Raum geweckt (Joisten 2010). Eine Hinwendung zum »Raum« findet innerhalb der Wissens- und Wissenschaftsforschung demnach auf mindestens drei Ebenen statt: Erstens wird die konkrete Räumlichkeit wissenschaftlicher Gegenstände, Objekte und Versuchsanordnungen einer genaueren Untersuchung unterzogen. Diese kann sich auf die geographisch verortbaren Stätten der Forschung, die Architektur ihrer Einrichtungen oder die apparativen Ensembles, in denen geforscht wird, beziehen. Räumlichkeit schließt in diesem Sinn aber auch geographische Räume als Gegenstand der Forschung (Wüste, Arktis, Ozean) sowie Kulturregionen ein, in denen sich bestimmte Denk- und Forschungsstile herausbilden und verbreiten. Studien dieser Ausrichtung beschäftigen sich
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u.a. mit folgenden Fragen: Unter welchen Bedingungen werden institutionelle »Räume des Wissens« als Forschungsstätten anerkannt oder privilegiert? Welche Stätten der Forschung lassen sich je nach Funktion, Ort, Ausstattung, Praktiken und Status unterscheiden? Wodurch zeichnet sich ihre konkrete räumliche Struktur (im architektonischen, geographischen, kulturellen Sinn) jeweils aus? Welchen Struktur- und Funktionswandlungen, Veränderungen der Bedeutungszuschreibungen und Organisationsformen unterliegen privilegierte Wissensräume? Wie wirken sich unterschiedliche Wissenspraktiken (Forschung, Ausbildung, Volksbildung) am gleichen Ort (Museen, Kliniken, Universitäten, zoologische Gärten) auf die konkrete räumliche Organisation des Wissensraumes aus? Zweitens werden gesellschaftliche Dimensionen von »Wissensräumen«, d.h. ihre mikrosozialen Ordnungen zum Untersuchungsobjekt. Im Vordergrund stehen hierbei Untersuchungen zum Wandel wissenschaftlicher Praktiken durch ihre Ausübung in verschiedenen räumlichen Umgebungen und umgekehrt solche nach der Veränderung von Räumen durch soziale Praktiken. Im Rahmen der Studien werden insbesondere Zugänge zu und Begrenzungen von »Wissensräumen« (Forschungsinstitutionen, Archive, abgelegene Erdteile) sowie Grenzziehungen zwischen Norm und Ausnahme, Autorität und Illegitimität, Zentralismus und Peripherie, Universalität und Lokalität erforscht und mittels dieser Perspektive auch das Verhältnis von Experten- und Laienkultur, von Leitdisziplinen und Hilfswissenschaften sowie von Inklusion und Exklusion in Forschungszusammenhängen thematisiert. In den Blick geraten dabei auch die regionalen und weltweiten Netzwerke, welche durch Verknüpfung der Forschungsstätten und Wissenschaftler entstehen. Zentrale Fragen sind hier: Welche sozialen Interaktionen bestimmen die Gestaltung von »Wissensräumen«? Wie wird der Zugang zu Wissen durch Verteilung von Instrumenten, Artefakten und Forschungsmaterialien organisiert? Wie verändern sich »Wissensräume« durch soziale Interaktionen und Vernetzungen mit anderen Forschungsstätten? Welche neuen Organisationsformen bilden sich im Zuge einer Globalisierung wissenschaftlicher Praxis aus? Drittens rücken symbolische Räume in den Fokus wissenshistorischer Forschung. Gemeint sind damit »Räume des Wissens«, die auf Darstellungen und Repräsentationen beruhen: in einem engeren Sinne Inszenierungen des Wissens in öffentlichen Räumen wie Wunderkammern, Weltausstellungen, Museen oder Bildungseinrichtungen, in
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einem weiteren Sinne semiotische Ordnungen, welche aus Experimentalanordnungen und apparativen Momenten hervorgehen und auf Inskriptionen wie Daten, Tabellen und Graphen beruhen (Latour 1987, 1990; Rheinberger/Hagner/Schmidt-Wahrig 1997). Paradigmatisch für diese Richtung ist die Untersuchung räumlicher Strukturen des Labors. Laboratorien werden in der Forschung unter verschiedenen Gesichtspunkten topologisch dimensioniert (vgl. Hanke/Höhler 2010: 313f.): als ein lokal bestimmbarer Ort im Sinne einer spezifischen »Situierung der Wissensproduktion«, die einem »Außen« entgegengestellt wird; als architektonische Strukturierung (Aufstellung von Laborbänken, Instrumenten, Verbrauchsmaterialien), welche die Dinge und »Spuren« in eine geregelte Ordnung zueinander bringt; als ein »Experimentier-Raum«, welcher nicht natürlich gegeben ist, sondern präpariert wird (durch Befreiung von Keimen, Ausstaffierung mit Modelltieren, künstlichen Lichtquellen etc.), wodurch Forschungsergebnisse in bestimmter Weise vorgeprägt werden. In den Blick geraten aber auch die der Laborpraxis inhärenten displacements und translations zwischen verschiedenen Orten inner- und außerhalb des Labors, welche die Dichotomien zwischen Mikro- und Makroperspektive auflösen und neue Zusammenhänge herstellen. Schließlich wird das Labor als zentraler Ort der Herstellung von »Inskriptionen« untersucht, d.h. als Ort, in dem Aufzeichnungsapparaturen »Spuren« und ihre »Einschreibungen« erzeugen, welche aufeinander verweisen, sich in Ketten organisieren und somit eine Ordnung der Referenz bilden. Inskriptionen unterliegen zudem Verräumlichungen – etwa wenn sie als Zahlenkolonnen in Tabellen eingetragen und als Datenkurven in Diagramme übertragen werden oder als 3D-Visualisierung im Computer erscheinen. Im Rahmen einer Auseinandersetzung mit symbolischen Räumen der Wissensproduktion ergeben sich für die Forschenden demnach folgende Fragen: In welchen Umgebungen und Netzwerken wird Wissen produziert, repräsentiert und inszeniert? Wie bedingen Darstellungsformen und ihre räumlichen Strukturen (Anordnungen von Exponaten in Museen, Strukturierung von Daten in Tabellen, Karten und Diagrammen) den Wissensprozess? Welche Auswirkungen haben Praktiken der Zurichtung von Experimentalanordnungen? Welche Transformationen finden statt, wenn Daten im Prozess der Aufzeichnung, Verarbeitung und Verbreitung in unterschiedliche Notationssysteme übertragen werden? Wie schreiben sich Aufzeichnungssysteme aufgrund
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ihrer apparativen Verfasstheit, ästhetischen Konventionen und sozialen Dimensionen in den Wissensprozess ein? Topologische Fragestellungen spielen nicht zuletzt in einer sich gegenwärtig etablierenden bildwissenschaftlich informierten Wissenschaftsforschung eine entscheidende Rolle. Die seit den späten 1990er Jahren entstehende Bildwissenschaft setzt sich u.a. mit der räumlichen Strukturierung wissenschaftlicher Bilder und der ihnen zugrunde liegenden bildgebenden Verfahren in Medizin und Naturwissenschaften auseinander. Insbesondere die Debatten um Diagrammatik und Graphematik haben gezeigt, dass »das Räumliche zu einem Medium und Darstellungspotential avanciert und als ein Ordnungsprinzip unserer symbolischen Welten und unserer Wissensfelder zum Einsatz kommt« (Krämer 2009: 96). Für die Fragestellung des Bandes ist gerade letzteres Forschungsgebiet besonders anschlussfähig, da es den Bezug zu den Medienwissenschaften herstellt, in denen die intensivierte Beschäftigung mit Raumfragen nicht nur neue Einsichten hinsichtlich der räumlichen Verfasstheit medialer Prozesse sondern auch der epistemischen Relevanz räumlich strukturierter Medien eröffnet hat.
M EDIENRÄUME Untersuchungen zum Raum erstrecken sich in den Medienwissenschaften auf eine Vielzahl unterschiedlicher Aspekte, die sowohl mit dem Raumbezug der einzelnen Medien als auch mit der jeweiligen medientheoretischen Perspektive zu tun haben. Mediale Räumlichkeit kann zunächst »inhaltlich, strukturell und technisch« unterschieden werden (Günzel 2010b: 219). Inhaltlich wird Raum etwa mittels literarischer Rhetoriken und filmischer Erzählformen, durch farbige Linien und Kontraste in der Fläche (Zeichnungen), durch Datenreihen (Tabellen) oder Ortsangaben in einem Gitternetzsystem (Karten) präsentiert und erzeugt. Strukturell zeigt sich die räumliche Dimension von Medien in ihrer Fähigkeit, Distanzen zu überwinden – sei es zwischen »Autor« und »Leser«, »Produzent« und »Nutzer«, »Sender« und »Empfänger« oder zwischen Netzwerkknotenpunkten. So werden Medien in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Konzeption als Techniken der »Raumvertilgung« (Virilio 1983) oder der Raumkonstruktion (McLuhan/Powers 1995) betrachtet. Technisch gesehen bringen Medien einen »operativen« Raum hervor,
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der dem dargestellten Inhalt entsprechen kann (analoge Medien) oder davon unabhängig ist, d.h. keinen direkten Bezug zum sinnlich wahrnehmbaren Raum hat (digitale Medien). Entsprechend der jeweiligen Perspektive auf Medien geraten nun einerseits mediale und medientechnische Bedingungen der Raumkonstitution sowie andererseits räumliche Konditionierungen von Medien in den Blick. Entscheidend für Untersuchungen in diesem Spektrum ist dabei, ob es sich bei den analysierten Medien um »natürliche« (Luft), »dingliche« (Körper), »mechanische« (Schreibmaschine), »elektrische« (Telefon) oder »elektronische« (Computer) Medien handelt, ob diese als »Werkzeuge« oder als »Dispositive« konzipiert werden und ob technische Apparaturen, Kommunikation, Mediendiskurse oder Medialität der Ausgangspunkt einer Beschäftigung mit medialen Räumen sind. (Vgl. Weber 2003). Innerhalb des breiten Spektrums der medienwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Raum können deshalb folgende Zugänge unterschieden werden: Raumdiskurse und raumkonstituierende Darstellungsverfahren von Medien: Eine Vielzahl von Studien wendet sich Raumkonzepten und raumerzeugenden Verfahren in unterschiedlichen Medien zu. Raum wird hier als Produkt diskursiver Aushandlungen und medienspezifischer Gestaltungsweisen verstanden. Solche Untersuchungen befassen sich unter anderem mit Raumdiskursen (Simons 2007; Werber 2007; Mueller/Stemmler 2009), arbeiten narratologische Verfahren und Inszenierungsweisen von Raum in der Literatur heraus (Böhme 2005; Hallet/Neumann 2009); sie analysieren Raumkonstruktionen im Film (Lange 2001; Dürr/Steinlein 2002; Agotai 2007; Khouloki 2007) oder untersuchen »Topographien« des Fernsehens (Nohr 2009). Eine wichtige Rolle spielen Karten, welche nicht nur als »Raum der Repräsentation« einer bestimmten historischen Aufzeichnungsform, sondern auch als »Operations- und Imaginationsmatrix« (Döring 2008, vgl. auch Dünne 2011) beleuchtet werden. Im Bereich der Kunst- und Bildwissenschaften wendet sich die Aufmerksamkeit den »Räumen der Zeichnung« (Lammert 2007) und der Spatialität von Bildern, Diagrammen und transplanen Bildern zu (Avanessian/Hofmann 2010; Krämer 2009; Bauer/Ernst 2011; Brack/Schröter/Winter 2009). Eine herausgehobene Stellung besitzen Fragen der Raumkonstitution in der Erforschung von Computerspielen, welche aufgrund ihrer Raumbezogenheit als »Allegorien des Raums« schlechthin bezeichnet werden (Aarseth 2001).
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Arbeiten der Game Studies konzentrieren sich auf die Generierung von Raumkonzepten im virtuellen Netz, analysieren die Funktionalität von Perspektivierungen, Kartierungen und Wegmarken in Spielen und beschreiben Effekte, die durch eine Überlagerung von reellen und virtuellen Bildräumen in Onlinespielen, beim Geocaching oder durch Einsatz von Datenbrillen sichtbar werden (Funken/Löw 2002; Borris/Walz/Böttger 2007; Nohr/Wiemer 2008). Räumliche Ordnungen und Raumpraktiken als Bedingungen von Medien: Aus entgegengesetzter Perspektive sind Medien nicht allein als Produzenten von Raum, sondern gleichwohl als Effekte räumlicher Strukturen und Praktiken zu begreifen. In einigen Studien rücken daher technische und kulturelle Ordnungen als medienkonstituierende Komponenten ins Zentrum. Dazu gehören kulturelle Artefakte und apparative Anordnungen wie Schreibwerkzeuge, drucktechnische Apparate, Projektoren oder Verkehrsmittel, welche als Dispositiv, d.h. als materielle Voraussetzungen historisch sich ausbildender Medien untersucht werden (Schäffner 2000; Siegert 2003). Diese apparativen Anordnungen »regeln die medialen Möglichkeiten zur Erzeugung semiotischer Räume und sind ihrerseits in einen bestimmten kulturpragmatischen Kontext eingebettet« (Dünne/Doetsch/Lüdeke 2004: 16). Die Beschäftigung mit kulturellen »Praktiken der Raumaneignung« (Bourdieu 1972; Certeau 1980) kann deshalb gewissermaßen den Blick auf »die Gemachtheit« der Räume einerseits und die räumlichen Dispositive von Medien andererseits lenken. Raumüberwindung durch Medien: Raum spielt des weiteren eine herausgehobene Rolle für die Untersuchung von Kommunikationsprozessen. Ausgehend von einem Konzept, das Raum als »Störgröße« auffasst, welche Kommunikation verzerrt und Kulturtechniken zur Überwindung und Kontrolle dieser »Störungen« hervorbringt (Innis 1951), betonen neuere mediengeschichtliche Untersuchungen die Relevanz räumlicher Distanz für die Herausbildung medialer Übertragungstechniken seit der Antike. Zu den »raumüberwindenden Medien« werden neben den klassischen Informationsmedien Buchdruck, Telegraph, Telefon oder Fernsehen auch Boten und Pferde, Verkehrstechniken und Geld gezählt (Siegert 2003; Krämer 2008; Buschauer 2010). Konsenz dieser Forschungen ist die Prämisse, dass die genannten Medien nicht nur als »Werkzeuge« der Vermittlung und Raumüberwin-
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dung fungieren, sondern qua ihrer Eigenlogik Räume schaffen sowie Informationen generieren und transformieren. Medienräume und Medientopologien: Schließlich stellen medientheoretische Studien einen Raumbezug her, indem sie Medien selbst als Raum konzeptualisieren: zum Beispiel als »Aggregatraum« und »Systemraum« (Panofsky 1927), »als Raum der Ströme« (Castells 1989), als »Global Village« (McLuhan 1989) oder als »Cyberspace« (Dodge/Kitchin 2001). Neuerdings bestimmen außerdem medientopologische Ansätze die Raumdiskussion: Diese machen die relationalen Anordnungen von Zeichen und Diskursen, von Text- und Bildräumen oder spezifischen Darstellungsverfahren innerhalb der Medien selbst zum Gegenstand der Untersuchung. Ihr Aufkommen markiert eine Neuakzentuierung der Raumdebatte. Diese war bisher vor allem durch das Nebeneinander zweier Konzepte – dem sogenannten spatial turn und dem topographical turn – geprägt. Unter dem Begriff des spatial turn versammeln sich Beiträge aus Humangeographie und Sozialwissenschaften sowie den Cultural Studies vornehmlich angloamerikanischer Provenienz, welche den geographischen Raum zum Ausgangspunkt und Zentrum der Debatte machen. Sie tendieren hierbei oftmals dazu, die Hinwendung zum Raum als emanzipatorisches Projekt zu betreiben, in dem sie etwa räumliche Begriffe als Metaphern (»Zwischenraum«, »Thirdspace«, »Hybridität«) für eine neue Verortung von Subjekten in postkolonialen Gesellschaften vereinnahmen (Soja 1989). In Abgrenzung dazu wurde ein topographical turn ausgerufen, der bestimmend für zahlreiche kulturwissenschaftliche Analysen wurde, die den »Raum als Text« untersuchen, um dessen »Zeichen oder Spuren semiotisch, grammatologisch oder archäologisch zu entziffern« (Weigel 2002: 160). Das Proklamieren eines topological turn und daran anschließende kultur- und medienwissenschaftliche Studien stellen eine weitere Ausdifferenzierung der RaumDebatte dar. Ihr Ausgangspunkt ist die mathematische Topologie, welche die »Beschreibung von Lagebeziehungen von ihrer physikalischen Existenz oder ihrer Materialität abkoppelt« (Günzel 2007b: 22). Entsprechend zielen die Arbeiten nicht auf einen Begriff von Erfahrungsraum, der durch Dimension, Ausdehnung und Volumen charakterisiert und veränderbar ist, sondern richten sich auf relationale Bezüge zwischen Entitäten kultureller und medialer Ordnungen. Eine Topologie der Architektur etwa untersucht die »verwobenen Muster« und »kom-
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plexen Dynamiken« von Form, Struktur, Kontext und Programm einer Architekturpraxis, welche sich Prozessen der »Entmaterialisierung« und »Hybridisierung« im 21. Jahrhunderts stellen müsse (Huber 2007a: 203, 217). Topologien des Films hingegen beschäftigen sich mit Relationen zwischen verschiedenen räumlichen Ordnungen (dispositive, mediale und modale Räume), die der Film qua seiner »Transformationslogiken« entstehen lässt (Frahm 2010). Topographische Perspektiven lassen sich in solche Modelle integrieren, da sie mit ihrem Fokus auf Spuren und Sichtbares, auf distinkte und konkrete Elemente gewissermaßen als Voraussetzung und Teil einer filmischen Topologie fungieren (Ries 2007). Jüngere Forschungen interessieren sich für eben dieses Verhältnis zwischen Topographie und Topologie und fragen auch danach, welches Medienwissen der genuin medialen Topologie innewohnt (Fahle 2011). Medienordnung und Wissenskonstitution: Topographische und topologische Untersuchungen lenken die Aufmerksamkeit der Medienwissenschaften auf die epistemische Rolle des Ikonischen und Performativen. Daraus gehen einerseits Studien hervor, welche »Schauplätze des Wissens« wie Laboratorium, Bühne, Kunstkammer oder Bibliothek erforschen. Dabei werden Architekturen und instrumentelle Anordnungen dieser Räume nicht als »Kontext«, sondern als Akteure der Wissensgenese konzeptualisiert (Schramm/Schwarte/Lazardzig 2003). Andererseits entstand eine medien- und bildwissenschaftliche Richtung, die sich mit »visuellem Denken« und der »Logik« des Bildes beschäftigt (Boehm 2007; Heßler/Mersch 2009). Sie knüpft zwangsläufig auch an Überlegungen zur Topologie der Medien an. Indem sie nämlich Fragen danach aufwirft, »wie Bilder beweisen, behaupten, ob sie Hypothesen aufstellen, Vorbehalte ausdrücken oder negieren können, sowie was ihre besondere Leistung im Erkenntnisprozess ist, wie sie Wissen erzeugen« (Heßler/Mersch 2009: 11), ist sie notwendig mit Strukturen und Ordnungen, Kontrasten und Binaritäten, Übertragungen und Inskriptionen von Zeichen konfrontiert und damit zugleich auch mit den räumlichen Dimensionen der Wissensproduktion. Arbeiten auf diesem Feld untersuchen beispielsweise den epistemischen Stellenwert von ikonischen und diagrammatischen Anteilen in Karten (Günzel 2009), analysieren Verräumlichungseffekte in der ballistischen Fotografie und Kinematographie (Nowak 2011) oder setzen sich mit dem »prekären Zeichenstatus« digitaler Bilder (Grube 2006)
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und den epistemischen Konsequenzen ihrer Transformationen auseinander (Schneider 2009). Aus dem breiten Spektrum der geschilderten Ansätze und Zugänge der raumbezogenen Diskussion in der Medienwissenschaft lassen sich folgende Fragestellungen formulieren, welche für die weitere Auseinandersetzung mit Topographien und Topologien der Medien anschlussfähig sind: Worin bestehen die räumlichen Dimensionen der Medien und was macht das Mediale konkreter Räumlichkeiten aus? Wie konstruieren Medien Räume, wie überwinden sie Entfernungen und wie strukturieren sie Lagebeziehungen zwischen Elementen? Wie lassen sich mediale Räume topologisch beschreiben? Inwieweit modellieren Medien neue Vorstellungen von Räumlichkeit und damit neue epistemische Räume? Das hier im Rahmen der heterogenen Kategorie ›Raum‹ umrissene Untersuchungsparadigma mit der inhärenten Verknüpfung von Wissen und Medien fand bisher eher wenig Berücksichtigung und bleibt ein Forschungsdesiderat, auf das der Band reagieren möchte. Ziel ist es deshalb, die Herausforderungen raumtheoretischer Neukonzeptualisierungen für die Analyse von Medien und ihre epistemischen Einsätze erstmals systematisch und anhand historischer Fallstudien fruchtbar zu machen. Der Band versammelt sowohl medientheoretische als auch medien- und wissenschaftshistorische und geschichtswissenschaftliche Zugänge. Zu den Untersuchungsgegenständen zählen einerseits raumund wissenskonstituierende Verfahren von Aufzeichnungsmedien wie Diagrammen und Karten, Fotografien, Filmen und 3D-Bildern, andererseits spielen raum- und handlungsstrukturierende Praktiken von Computerspielen und Navigationssystemen eine Rolle. Im Zentrum des Interesses stehen darüber hinaus epistemische Effekte von Raumordnungen und -praktiken in Ausstellungsmedien wie beispielsweise der Kunstkammer. Zugleich gelangen epistemische Dimensionen räumlich strukturierter Ordnungen – etwa der Finanzmärkte, Fabriken und Grenzanlagen – in den Blick.
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R AUM – W ISSEN – M EDIEN Die Dreiheit von Raum, Wissen und Medien eröffnet ein breites Spektrum an Untersuchungsperspektiven: Zum Ausgangspunkt können spezifische Medien werden, welche Wissenselemente stabilisieren und transportabel machen, dabei neu ordnen oder reformieren, konkrete Wissensbestände generieren und neue epistemische Ordnungen schaffen. Da solch ein medial generiertes Wissen immer schon räumlich verfasst ist, können nicht nur mediale Beschreibungsverfahren konkreter Räumlichkeiten, sondern vor allem auch die Beziehungen, Dynamiken und Transformationen medialer Techniken und Praktiken selbst erfasst werden. Insofern verbinden sich mit dem Reden über die Räume und Räumlichkeiten von Medien und ihrem Wissen Fragen sowohl nach der Eigenlogik medialen Wissens als auch nach der topologischen Spezifik von Medien. Nicht zuletzt kann der raumtheoretische Ansatz Einsichten in die epistemischen Ordnungen medial verfasster Konstellationen bieten. Daran anknüpfend wird das Gegenstandsfeld im Rahmen der vorliegenden Publikation auf dreifache Weise erschlossen: erstens mit dem Ziel, die Konstruktionsweisen von Raum- und Wissensordnungen in und durch Medien zu erforschen, zweitens mit Blick auf die epistemischen und räumlichen Bedingungen der Herausbildung medialer Konstellationen und drittens geht es darum, aus einer genuin topologischen Perspektive die Wissensformen der Medien selbst zu untersuchen. Mediale Räume – Wissensordnungen Der erste Teil des Bandes beschäftigt sich mit den medialen Bedingungen der Raum- und Wissenskonstitution. Ausgehend von unterschiedlichen medial konditionierten Räumen, welche geographischer, politischer, ökonomischer oder industrieller Provenienz sein können, werden Prozesse der Wissensgenese untersucht. Die Fragen, die in diesem Abschnitt behandelt werden, konzentrieren sich auf zwei Zugänge zum Wechselverhältnis von Raum, Medien und Wissen: (1) Wie präsentieren, verhandeln und konfigurieren Medien konkrete Räumlichkeiten? (2) Wie bringen mediale Konfigurationen räumliche Ordnungen und damit auch neue Wissensordnungen hervor? Die Eigenlogik von Aufzeichnungs- und Präsentationsmedien, so eine gemeinsame These der Beiträge, verändert nicht nur die Wahr-
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nehmung räumlicher Zusammenhänge und die Praktiken ihrer Aneignung, sondern schafft auch Wissensüberschüsse. Diese können in Form neuer Datenanordnungen, als Zusammenschau disparater Wissenselemente, als Autorisierung theoretischer Vorannahmen, als Perspektivierung von Wissensbeständen oder als diskursiv und bildlich umgesetzte Handlungsanweisungen zum Ausdruck kommen. Im Rahmen dieser Überlegungen wendet sich der Wissenshistoriker NILS GÜTTLER der Verwendung von Pflanzenkarten um 1800 in der sich herausbildenden Botanik zu, um zu demonstrieren, wie die räumliche Verteilung von Pflanzenarten organisiert wird – mittels panoramatisch-kartographischer Zusammenschau von Mess- und Beobachtungsreihen in Querschnittskarten oder durch die Hervorhebung, Verdichtung und Relationierung von Elementen im »operationalen Raum« der Karte. Diese Konstruktion einer botanischen Raumordnung beansprucht einerseits, unverfälschte Erkenntnisse botanischer Erscheinungs- und Verteilungsformen zu präsentieren und erhärtet andererseits auch theoretische Vorannahmen über direkte Zusammenhänge zwischen Pflanzenvorkommen und Höhenlage der Pflanzengebiete. Zugleich verweist sie durch explizite Markierung noch unbekannter botanischer Räume auf operative Möglichkeiten der Neuordnung von Verteilungen und steuert durch diese Vorgabe den Informationsfluss zukünftiger botanischer Forschung. Auch die Beiträge der Medienwissenschaftler HEDWIG WAGNER und ROLF F. NOHR beschäftigen sich – obgleich von unterschiedlichen Positionen aus – mit der Gemachtheit geographischer Räume, hier durch Medien des digitalen Zeitalters. WAGNER untersucht den Grenzraum Europas als ein medientechnologisch erzeugtes und durch globale Medienkommunikation geformtes Konstrukt. Dabei interessiert sie besonders der Wandel des Grenzraumkonzeptes im Übergang von der analogen zur digitalen Medienkultur. Sie zeigt, wie sich die Dominanz territorialen Raumdenkens im analogen Zeitalter der Grenzsicherung durch die neuen digitalen Methoden der EU-Außengrenzsicherung ins Gegenteil verkehrt: Im Zuge der GPS-gestützten Ortung und biometrischer Erfassung wird nun der medientechnologisch konstruierte »Raum« zur Grundlage für die tatsächliche territoriale EUGrenzziehung. Die »reale« EU-Außengrenze stellt keine durch Grenzanlagen markierte Trennlinie mehr dar, sondern ist als geographischer Ort lediglich ein digitaler Speicherpunkt. Mit ihm sind neue Formen der Referenz verbunden, die »auf einer Logik der Visualisierung des
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Unsichtbaren beruhen und eine Ökonomisierung von Daten vornehmen«. NOHR setzt sich mit der Aktualisierung geopolitischer Raumkonzepte und ihren epistemischen Implikationen im Computerstrategiespiel auseinander. Ausgangspunkt sind dabei zwei wesentliche Aspekte von Strategiespielen – ihre Tendenz, unter Einbindung von Karten sowohl geographische Räume zu generieren als auch Formen von Wissen über politisierte Räume und Territorien zu produzieren. Der Prozess der Wissensgenese wird von Nohr auf unterschiedlichen Ebenen durchbuchstabiert: Computerspiele als Interdiskurse greifen erstens existierendes soziales Wissen auf, integrieren es und bieten es dann den Usern als spezifisches Wissen zur subjektiven Aneignung an. Zweitens überführen sie spezialdiskursives Wissen aus »teilexkludierten Wissensformationen« in ein »gesellschaftliches Breitenwissen«. Drittens fungiert »Raum« im Computerspiel als Schnittstelle der Wissenstransformation, da sich hier ein »diskursiv niedergelegtes spezialdiskursives Wissen aus einer abstrakten diskursiven Konstellation in kommonsensuales und interdiskursives Wissen« umformt. Nohr beschreibt in seinem Beitrag exemplarisch, welche Wissensformationen in Strategiespielen ›medialisiert‹ werden, wie dabei Politik als Raumhandlung codiert und die »Lebensraum«-Politik des Nationalsozialismus über Age of Empires mit Samuel Huntington’s Clash of Civilization verbunden wird. Nichtgeographische Raumordnungen stehen im Zentrum der Ausführungen des Medienwissenschaftlers RAMÓN REICHERT und der Historikerin DANIELA FLEISS. REICHERT konzentriert sich auf die räumlichen Dimensionen moderner Finanzmärkte, welche zu großen Teilen durch Mediendiskurse und Kulturtechniken hervorgebracht werden und epistemische Effekte haben. Zugrunde liegt die These, dass Raummetaphern, technische Bilder und Infografiken wie das Börsenbarometer, der Börsenkompass oder Aktienkurven maßgeblich an der Formierung, Strukturierung und Produktion von Finanzmarktwissen beteiligt sind. So versinnbildlichen Metaphern wie das der Meteorologie entstammende Barometer schwankende Kursentwicklungen, zugleich plausibilisieren sie die Entwicklung des Neuen und stehen für die Vorstellung von endlosen Spielräumen für Börsenspekulation. Bewegungs- oder Navigationsmetaphern wie der Börsenkompass suggerieren hingegen eine zielgerichtete Standort- und Routenbestimmung der Kursentwicklungen auf den Finanzmärkten. Aktienkurven erzeu-
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gen darüber hinaus einen kontinuierlichen Verlauf und verstärken den Eindruck von Einheitlichkeit, Beständigkeit und harmonischer Perspektivierung der Finanzmärkte. In ihrer Eigenschaft als Beobachtungs- und Steuerungsinstrumente produzieren die Metaphern und Infografiken »neue Sichtbarkeitsordnungen und sensorielles Wissen zur Entscheidungsgrundlage für die Spekulation«. Mit Hilfe der genannten Mediendiskurse und Aufzeichnungsverfahren könne, so Reichert, ein »intuitives Handlungswissen« etabliert werden, mit dem sich ein »Orientierungsraum« eröffne. FLEISS setzt in ihrer Studie den Akzent auf Inklusions- und Exklusionsprozesse bei der Konstitution von Wissensräumen. Gegenstand ist die Fabrik als »touristische Attraktion« des ausgehenden 19. Jahrhunderts, welche mittels spezifischer Ausstellungspraktiken in einen »sozialen und epistemischen Raum« überführt wurde. Wie Fleiß aufzeigt, hatten an der Konstruktion des Raums sowohl ästhetische Verfahren (Fabrik als Bühne) und performative Akte (Rekurse auf die Völkerschau bei der Vorführung der Arbeiter) als auch Praktiken der sozialen Ausgrenzung durch Besucherkontrolle und die Referenz auf Darstellungsverfahren zeitgenössischer Medien (Reiseführer, Bilderausstellung) Anteil. Die Fabrikschau konnte auf diese Weise unterschiedliche Wissensformen integrieren, Wissensbestände tradieren und neues Wissen mithervorbringen: Wissen über die anscheinend elementaren Funktionsweisen industrieller Produktionsabläufe, Kenntnisse über die soziale Situation der Arbeiter sowie ästhetisches und kulturelles Wissen, das sich qua räumlicher Inszenierung in die mediale Ordnung der Ausstellung einschrieb und somit wirkmächtig wurde. Wie die Beiträge des ersten Teils trotz oder gerade aufgrund ihrer differierenden Begrifflichkeit und Herangehensweisen beispielhaft zeigen, sind Medien auf vielfältige Weise sowohl an der Konstruktion von Räumen (durch diskursive Verhandlungen und Narrativierungen, durch Verwendung von Metaphern, grafische Veranschaulichungen, Einschluss- und Ausschlussprozesse, Referenzbildung, digitale Erfassungs- und Auswertungsverfahren) als auch an der Herstellung und Weitergabe bestimmter Datenanordnungen, theoretischer Vorannahmen und Vorbehalte, kognitiver Muster sowie von Orientierungs- und Handlungswissen beteiligt. Weitgehend unberücksichtigt bleiben hier noch – und damit wird sich der zweite Teil des Bandes eingehender beschäftigen – die Transfers zwischen medial geprägten Wissensord-
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nungen und Raummedien im Sinne einer wechselseitigen Erweiterung der jeweils historisch situierten Wissens- und Medienräume. Wissensräume – Raummedien Im zweiten Teil des Bandes stehen die epistemischen und räumlichen Bedingungen der Entstehung medialer Verfahren und Praktiken sowie deren Rückwirkungen auf Wissensprozesse im Vordergrund. Ausgangspunkt sind Wissenskonstellationen, die in verschiedener Hinsicht räumliche Dimensionen aufweisen: geographisch (antarktischer oder kolonialisierter Raum), sozial (Inklusion und Exklusion), technisch (Materialprüfung) und gesellschaftlich (kollektive Erinnerung). Die Beiträge gehen von der These aus, dass die von ihnen untersuchten epistemischen Konstellationen aufgrund ihrer spezifischen räumlichen Verfasstheit mediale Praktiken konstituieren, wobei diese wiederum neue Möglichkeitsräume für Wissensprozesse eröffnen. Die hier gestellten zentralen Fragen sind folglich (1) Wie konditionieren, gestalten und transformieren Prozesse und Ordnungen des Wissens mediale Techniken, Verfahren und Praktiken? (2) Wie wirken diese »medialen Räume« auf die Wissensproduktion zurück? So werden im ersten Beitrag des Historikers DOMINIK COLLET »koloniale Wissensräume« und ihre Medialisierung in Kunst- und Wunderkammern seit dem 16. Jahrhundert untersucht. Zentrale These ist, dass die im Zuge europäischer Expansionsbestrebungen aufkommende wissenschaftliche Sammeltätigkeit von Naturforschern, Ethnologen und Historikern nicht nur die Etablierung und Gestaltung der neuen Ausstellungsmedien bedingte, sondern zugleich das erworbene »koloniale Wissen« durch die »Eigenlogik des Raummediums Kunstkammer« arrangiert, kontextualisiert, bewertet und damit überhaupt erst geschaffen wurde. Collet demonstriert dabei einerseits Effekte epistemisch bedingter Vorannahmen auf die räumliche Verteilung der Exponate und auf die Darstellungspraktiken des Museums (Ordnung der Exponate in Alte und Neue Welt, in Zentrum und Peripherie, in Oben und Unten, Innen und Außen). Andererseits belegt er Rückwirkungen der Wissenspraktiken in den Wunderkammern auf die Gelehrtenkultur der Zeit. Sein Interesse richtet sich insbesondere auf die Inszenierungsweisen der Ausstellungen (durch Bezugnahmen auf Konzepte des »Gedächtnistheaters«, des »Mikrokosmos« und der »ErdteilAllegorie«), auf Verfahren der Auswahl und Verknüpfung von Objek-
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ten (Komplexitätsreduktion, Dekontextualisierung, Narrativierung) sowie auf die Praktiken der Einbettung ausgestellter Sammlungen in ein Netzwerk anderer Wissensräume (Labore, Werkstätten, Bibliotheken und Manufakturen). Die Literatur- und Medienwissenschaftlerin DORIT MÜLLER fragt in ihrem Beitrag nach den Konstitutionsweisen des Wissensraumes Antarktis in Expeditionsberichten, Karten, Fotografien und Filmen, welche im Umfeld der Expeditionen Ernest Shackletons produziert wurden. Die Untersuchung macht zum einen deutlich, wie vielschichtig die Konditionierungsweisen medialer Konstruktion des antarktischen »Wissensraumes« waren: epistemisch (durch Einfließen theoretischer Vorannahmen und tradierter Wissensbestände über den Südpol), sozial (durch Praktiken der Aushandlung über die Finanzierung der medientechnischen Ausrüstung und über Publikations- und Aufführungsrechte), technisch (durch Entwicklung und Einsatz klimaresistenter Medientechnik) und ästhetisch (durch Einschreibung ästhetischer Konventionen der Landschafts- und Technikdarstellung). Zum anderen wird auf die herausragende Rolle verwiesen, welche Medien im Prozess der Raum- und Wissensgenerierung spielen – aufgrund spezifischer Darstellungsverfahren (Umordnung, Zusammenführung und Relationierung raumbezogener Daten) und intermedialer Übersetzungsvorgänge (Glättung und Transformation von Daten, Kontextualisierung und Narrativierung von Objekten, Schaffung neuer Symbolordnungen). Im Zentrum der Studie des Medienwissenschaftlers JENS SCHRÖTER stehen technisch-transplane Bilder, zu denen er Stereoskopien, integrale Fotografien, Fotoskulpturen, lentikulare Bilder, Holographien, Volumetrien und interaktiv-transplane Bilder zählt. Ihr Aufkommen, so die These, ist bedingt durch Entwicklungen in raumbezogenen Wissenschaften wie der Architektur, dem Vermessungswesen oder der Teilchenphysik, wo Informationen über Räume und räumliche Strukturen von Objekten benötigt werden, welche linearperspektivisch projizierte Bilder (analoge und digitale Fotografie) nicht bieten können. Am Beispiel der Holographie macht Schröter klar, dass die epistemischen Leistungen transplaner Bilder nicht nur in der Visualisierung von Objekten, sondern auch in der Sichtbarmachung räumlicher Zustände und Zusammenhänge bestehen. So ermögliche das Verfahren der ›real time holographic interferometry‹ den »inneren Raum«, d.h. die Spannungszustände von Objekten unter Temperatur- und
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Druckveränderungen nicht einfach nur anschaulich zu machen, sondern geradezu herzustellen – eine Medienpraxis, die wiederum Wissenspraktiken in der Materialforschung verändere. Gegenstand des letzten Beitrags von TIM RAUPACH sind die räumlichen und epistemischen Strukturen digitaler Medien. Prämisse der Untersuchung ist, dass Computer im Unterschied zu vorherigen Medien »erinnerungsunfähig und vergessensphobisch« seien, d.h. Informationen werden »jederzeit, dauerhaft, ohne Zu- oder Abneigung« registriert. Digitale Technologien bedingen demnach einerseits eine Wissenspraxis, die auf der »Utopie einer freien Verfügbarkeit über alles existierende Wissen« beruhe. Auf der anderen Seite sei es evident, dass Medien »den sozioökonomischen und epistemologischen Wissensraum, den sie fortgesetzt re-instanziieren, zugleich epistemologisch indifferent« machen. Deshalb plädiert der Verfasser für eine medienwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Möglichkeitsbedingungen dessen, was eine Gesellschaft jeweils als Wissen definiert und wie dieses Wissen zwischen Öffentlichkeiten und Spezialdiskursen kommuniziert werde. Wie die Untersuchungen belegen, sind Raummedien und Wissenskulturen eng miteinander verkoppelt: Raummedien unterschiedlichster historischer Herkunft und technischer Beschaffenheit (Kunstkammer, Karte, Fotografie, Film, Hologramm oder Computer) unterliegen einerseits sich wandelnden kulturellen und epistemischen Bedingungen (Veränderungen von theoretischen Vorannahmen, Untersuchungsobjekten, Erkenntnisinteressen, Methoden und Wissenspraktiken). Andererseits vollziehen diese Medien immer auch Prozesse der Wissenskonstitution: durch Verfahren der Auswahl und Verknüpfung von Objekten, durch Inszenierungsweisen und Praktiken der Kontextualisierung und Perspektivierung, durch Datenzusammenführung und Relationierung, durch intermediale Übersetzungsvorgänge und die Sichtbarmachung räumlicher Zustände oder durch Praktiken der ungerichteten Anhäufung und Speicherung von Wissen. Inwieweit die beschriebene Genese neuer Wissensbestände, Erkenntnisformen und Wissenspraktiken auch das Wissen über Medien selbst betrifft, d.h. zu Veränderungen im Nachdenken der Medien über sich und ihre Praktiken führt, ist Gegenstand des dritten Teils.
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Medientopologien und das Wissen der Medien Der dritte Teil des Bandes ist durch eine genuin topologische Perspektive auf Medien geprägt. Ausgangspunkt sind diagrammatische und filmische Räume sowie deren Konstitution durch relationale Anordnungen formaler und thematischer Elemente. Die hier versammelten Beiträge interessieren sich vor allem für den Zusammenhang zwischen diesen topologischen Strukturen und der Genese von Wissen, welches Medien über sich selbst und andere Medien gewinnen können. Dieses Medienwissen kann sich auf eine Reihe unterschiedlicher »Vermögen« beziehen: darauf, abstrakte Sachverhalte und komplexe Prozesse, Regelwerke und mediale Gesetzmäßigkeiten ins Sichtbare zu überführen; bestimmte Transformationslogiken (wie Verdichtung, Verschiebung oder Übersetzung) als genuin filmisches »Raumwissen« vorzuführen und zu reflektieren; in der Gleichzeitigkeit topographischer und topologischer Konzepte die filmische Eigenlogik zu entdecken oder durch das Nebeneinander vorfilmischer, filmischer und nachfilmischer Dimensionen filmtheoretische Prämissen zu überprüfen. Kurzum, die Artikel beschäftigen sich mit den folgenden zwei Fragen: (1) Inwieweit liegen diagrammatischen Bildern und Filmen räumliche Zusammenhänge und damit ein spezifisches, epistemisches Potential zugrunde? (2) Was können Bilder und Filme über sich wissen und wie schreibt sich dieses Wissen in Bilder oder filmisch verhandelte Wissensdiskurse ein? Diagrammatische Bilder sind Untersuchungsgegenstand des ersten Beitrags. Die Medienwissenschaftlerin DANIELA WENTZ geht von der These aus, dass die spezifische epistemische Struktur des Diagramms auf einer zugleich bildlichen und räumlichen Logik beruht. Die räumliche Logik ergebe sich zum einen aus der Schriftbildlichkeit des Diagramms, in welcher sich ein spezifischer »Strukturraum« konfiguriere. Seine Leistung bestehe darin, bildliche Anteile ins Operative zu überführen und dem Scripturalen eine ikonische Präsenz zu verleihen. Die räumliche Anordnung erzeuge somit eine »operative Bildlichkeit«, die beim Erwerb und bei der Begründung von Wissen eine grundlegende Rolle spiele. Zum anderen seien Diagramme durch Relationen der Formen in der Zeit bestimmt – durch den Verweis auf jeweils andere Diagramme, aus denen sie hervorgehen, um ihrerseits wieder ein Diagramm hervorzubringen. Aus dieser Bewegung heraus könne sich das Diagramm als ein Medium des Denkens, als ein »Knotenpunkt der
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Produktion von Wissen« entfalten. Aufbauend auf diesen Überlegungen erweitert Wentz das diagrammatische Modell in zweifacher Hinsicht: sie bezieht es erstens auch auf nicht-räumliche Sachverhalte, das heißt auf Relationen zwischen Begriffen, Theorien oder abstrakten Objekten. Und zweitens überträgt sie es auf alle »Bilder«, die in der Lage sind, »abstrakte Sachverhalte, komplexe Prozesse, Regelwerke, Gesetzmäßigkeiten etc. ins Sichtbare zu überführen«. Als Beispiel dient ihr das Konzept des Panopticons von Michel Foucault, welches sie als Diagramm im Sinne einer Verdichtung und gleichsam als Offenlegung der in der Disziplinargesellschaft wirksam werdenden Kräftekonstellation deutet. Dabei spricht sie nicht nur den architektonischen Schnitten und Grundrissen diagrammatisches Potential zu, sondern auch den Fotografien, welche notwendig selbstbezüglich seien, indem sie die Genese und die Gesetzmäßigkeiten des Raumes, den sie zugleich determinieren, erkunden und herausstellen. Die Raum- und Filmtheoretikerin LAURA FRAHM untersucht das Verhältnis zwischen Raumlogik und Raumwissen des Films. Ausgehend von der Überzeugung, dass Raum ein »sozial produziertes, relationales Beziehungsgefüge« und eine »komplexe Überlagerung kultureller und medialer Raumpraktiken« sei, bestimmt sie die topologische Struktur des Films: Sie erkennt diese in der Fähigkeit des Films, genuin bewegte Räume auszubilden, »die einer kontinuierlichen Transformation« unterliegen. Diese Transformation drücke sich auf mehreren Ebenen aus: in der Verdichtung und Konkretisierung von Entitäten, in der Verschiebung und Zustandsänderung sowie in der Übersetzung und Formengebung von Bewegungen. Anhand von Filmarbeiten, die auf Ralph Steiner, Jean Epstein und Walter Ruttmann zurückgehen, demonstriert Frahm nicht nur, wie Filme sich thematisch mit allem Fließenden und seinen unterschiedlichen Aggregatszuständen auseinandersetzen, sondern auch, wie sie durch die Visualisierung und stete Aktualisierung ihres grundlegenden Potentials, den Raum selbst zu transformieren, »Raumwissen« zugleich produzieren. Gegenstand des Beitrags von HERBERT SCHWAAB sind »Raumexperimente« in Filmen von Alain Resnais und Eric Rohmer, welche als »soziologische Traktate« über Fragen von Peripherie, Zentrum, Stadtplanung und Lebensformen bezeichnet werden. Im Gegensatz zu Deleuzes Behauptung, dass sich das Kino seit Resnais nicht mehr mit Raum und Bewegung befasse, sondern mit Topologie und Zeit, kommt es dem Filmwissenschaftler Schwaab darauf an, gerade die raumbe-
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schreibenden Momente der Filme herauszustellen. Ihm geht es um drei Aspekte: Erstens möchte er die filmische Auseinandersetzung mit städtischer Architektur und dem modernen Leben aufzeigen, zweitens die Gestalt und die ästhetischen Merkmale der Konstruktion dieser Räume analysieren und drittens demonstrieren, dass sich die Filme als eine Annäherung an reale Räume und Alltäglichkeit begreifen lassen. In dieser Annäherung macht Schwaab Aspekte der Wissensgenese aus: Sie betreffen nicht nur ein »Wissen von dieser Welt«, sondern bieten auch »den ästhetischen und befreienden Genuss einer spezifischen Objektqualität«, die sich die Filme erarbeitet hätten. Ein weiterer Wissensaspekt ergebe sich aus der Überlagerung topologischer und topographischer Elemente, aus dem Wechselspiel einer topologischen »Ordnung der Relationalität, der Nachbarschaft und des Kontinuums« einerseits und der exakten kartographischen Nachzeichnung der konkreten Orte andererseits. Die Literaturwissenschaftlerin SIGRID NIEBERLE wendet sich »metaperzeptiven« und »metafilmischen« Verfahren im Spielfilm über den Nationalsozialismus zu. Ausgangspunkt ist dabei die räumlich konzeptualisierte Figur der »Denunziation« und ihre spezifische filmische Umsetzung durch Andrzej Wajda, Thomas Mitscherlich, Joseph Vilsmaier und Quentin Tarantino. »Denunziation« fasst Nieberle als einen »Wissensraum«, der dreifach bestimmt ist: als Kommunikationsakt zwischen Individuum und Institution; als performativer Sprechakt sowie als Akt der Wissensvermittlung und Handlungsanweisung. Die Filme, so Nieberles These, transformieren die topologische Struktur der Figur des Denunzierens (Praktiken des Davor und Dahinter, des Ausblendens und Fokussierens, der Fremd- und Selbstbeobachtung) in Erzählweisen, metamediale Metaphern und selbstreflexive Verfahren, welche die Zuschauer »nicht in die Illusion der naiven Geschichtskonstruktion entlassen, sondern auf die Erzählweisen des Spielfilms und seine transformationale Intermedialität« hindeuten. Im Mittelpunkt der letzten Studie von MARTIN SCHLESINGER steht Tom Tykwers Kurzfilm Der Mensch im Ding. Der Medienwissenschaftler versteht diesen Film als Verdichtung einer These, welche besagt: Für die Entstehung filmischen Wissens reichen weder die Möglichkeiten eines einzelnen noch die eines nur filmischen Raumes aus. Erst in der sichtbaren Konfrontation und in einer erfahrbaren Bewegung zwischen und innerhalb verschiedenartiger medialer Räume werde filmisches Wissen denkbar. In seiner Filmanalyse bemüht sich
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Schlesinger dann auch, die unterschiedlichen räumlichen Dimensionen zu ergründen. Die »Denkbewegung« des Films, so das Ergebnis, sei einerseits eine »Wanderung zwischen weiten und nahen Einstellungen«, zum anderen »topologisch ein Flug zwischen Dimensionen«, die sich vor oder nach dem Film, innerhalb oder außerhalb des Films befänden. Durch ihre jeweils eigenen Gegebenheiten zeigten die »Räume« des Films Möglichkeiten visueller und akustischer Wissensproduktion auf und verdeutlichen dabei, »inwiefern ihre Differenzen, ihre Verknüpfungen und auch das Wissen von ihren Eigenschaften selbst erst in der zusammenhängenden und kontinuierlichen Gegenüberstellung sichtbar und denkbar werden«. Tykwers Film könne auf diese Weise als ein »filmisches Labor« betrachtet werden, welches die Untersuchung spezifischer Möglichkeiten filmischer Theoriebildung erlaube. Die Analyse der topologischen Ordnungen von Medien entpuppt sich in diesen letzten Beiträgen zugleich als Chance, Medien unter einer wissenstheoretischen Perspektive neu zu betrachten – sie in ihrer Eigenschaft als »Wissenslabor«, als »Knotenpunkt der Produktion von Wissen« oder auch als Katalysator und Aktualisierung epistemischen Potentials ernst zu nehmen, welches auf die Logiken bildlichen und filmischen Wissens selbst zurückführt. Eine topologisch ausgerichtete Medienwissenschaft kann hierauf aufbauend die nächsten Schritte zur Beschreibung des komplexen Verhältnisses von Medien und Wissen gehen. Sie wird vor allem auch danach fragen müssen, in welchem Verhältnis eben jenes selbstreflexive Medienwissen zu anderen Wissensformen, Wissenspraktiken und Wissensordnungen steht, welche in, durch und über Medien produziert wird. *** Anlass für den vorliegenden Band bildete ein Workshop des Graduiertenkollegs »Topologie der Technik« an der Technischen Universität Darmstadt. Er fand unter dem Titel Raum Wissen Medien im November 2009 statt. Für die Vorbereitung und Durchführung der Veranstaltung möchten wir unseren damaligen Kollegiaten, den Sprechern und Mitarbeitern des Kollegs sowie allen Beitragenden herzlich danken. Besonderer Dank gilt Julika Griem für fachliche Beratung und finanzielle Förderung, Sønke Myrda für umfassende Hilfe bei der Manu-
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skripterstellung sowie Birgit Klöpfer vom transcript Verlag für ihre freundliche Unterstützung und unendliche Geduld. Dorit Müller, Sebastian Scholz
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Mediale Räume – Wissensordnungen
Lebensraum Frühe pflanzengeographische Karten und die »natürliche Ökonomie« der Gewächse N ILS R OBERT G ÜTTLER
Als die wissenschaftliche Ökologie im späten 19. Jahrhundert entstand, spielten »Nachhaltigkeit« und Naturschutz noch eine untergeordnete Rolle. Stattdessen definierte einer ihrer ersten und wichtigsten Vertreter, der Botaniker Oskar Drude, die neue Disziplin mit ganz anderen Worten: »Unter diesem Namen Ökologie fassen wir zusammen die Lebenserscheinungen der Pflanzen- und Tierwelt im Kampf um den Raum unter den vom Klima und der Landschaft äußerlich gegebenen Bedingungen.« (Drude 1905: 101) Das Bild vom »Kampf um den Raum«, das Drude hier zu einem konstituierenden Moment der Ökologie erklärte, klingt in heutigen Ohren und besonders in den Ohren von Historikern befremdlich. Ähnlich befremdlich war retrospektiv auch Drudes Referenz. Er entlehnte das Konzept nämlich von dem Zoologen und Geographen Friedrich Ratzel, der wenige Jahre zuvor eine Schrift veröffentlicht hatte mit dem Titel: »Lebensraum« (Ratzel 1901). Ratzels Lebensraum-Studie war in weiten Teilen typisch für die zeitgenössische Biogeographie, also die wissenschaftliche Erforschung der Verbreitung des Lebens auf der Erde. In der Biogeographie waren Kampfmetaphern spätestens seit Charles Darwin selbstverständlich. Indem Ratzel diese älteren Vorstellungen jedoch noch stärker auf den Menschen übertrug und rassisch interpretierte, gab er der Idee vom »Kampf um den Raum« eine konservativ-völkische Wendung und wurde so zum Stichwortgeber nationalsozialistischer Geopolitikphan-
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tasien (Smith 1980; Wolter 2008). Obwohl sich das LebensraumKonzept fortan als fester Bestandteil deutschtümelnder politischer Metaphorik mit all ihren verheerenden Konsequenzen nach 1933 etablierte, schien der Begriff im erstgenannten Kontext – der Ökologie – kaum problematisch. Noch heute wird »Lebensraum« hier weitgehend synonym mit »Biotop« verwendet. Das Biotop, so die gängige LehrbuchDefinition, ist der Lebensraum einer Biozönose, also einer Lebensgemeinschaft. Völkische Geopolitik und wissenschaftliche Ökologie – zwei unterschiedlichere historische Kontexte könnte ein Begriff kaum in sich vereinen. Wenn auch selten in dieser radikalen Form, so sind ähnlich disparate Konstellationen durchaus ein charakteristischer Bestandteil der Ökologiegeschichte. Koloniale Infrastrukturen waren für viele Biogeographen vor Ratzel ein bevorzugtes Forschungsmilieu (Browne 1996) und die historische Forschung hat inzwischen zeigen können, wie Machtpolitik und ökologischer Erkenntnisfortschritt bis in die Gegenwart immer wieder Hand in Hand gingen (vgl. den Forschungsüberblick: Ford 2007; jüngst auch aus kulturwissenschaftlicher Perspektive: Gießmann u.a. [Hg.] 2009). An einem speziellen Strang der Biogeographie – der Pflanzengeographie – möchte ich der wiederkehrenden Janusköpfigkeit ökologischer Forschungen weiter nachgehen und den Fokus hierbei auf den Bereich der Medialität erweitern. Als Ratzels Lebensraum-Begriff im frühen 20. Jahrhundert die neu entstandene Ökologie prägte, hatten Pflanzengeographen nämlich bereits eine rund hundertjährige Erfahrung in der Erforschung von »Lebensräumen« (wenn auch avant le lettre); nicht zufällig waren viele »Ökologen« der ersten Generation ursprünglich Pflanzengeographen (Worster 1994: 191-204). Seit die Pflanzengeographie im späten 18. Jahrhundert als wissenschaftliche Disziplin entstand, wandten Botaniker eine besondere graphische Technik an, um sich über die Räume pflanzlichen Lebens klar zu werden: die Kartierung. Anhand der Frühgeschichte pflanzengeographischer Karten um 1800 soll nun die These entwickelt werden, dass sich das Wissen um Pflanzenverbreitung von Beginn an in jenem Spannungsfeld von Epistemologie – also der Frage nach dem richtigen, unverfälschten Erkennen von botanischen Raumphänomenen – und Operativität – der (bio-)politischen Anwendung dieser Erkenntnisse – befand, das später auch für die Ökologie charakteristisch werden sollte.
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Die Karten, die im Folgenden diskutiert werden, dienen keineswegs als bildliche Ausschmückung dieser These. Vielmehr manifestierte sich das Spannungsfeld von Erkennen und Anwenden überhaupt erst in diesen Karten. »Lebensraum« ist somit mehr als eine anachronistische Chiffre für die Durchdringung von Theorie und Praxis, die in den Karten zum Vorschein kam. Tatsächlich reicht die Vorstellung, der Raum allen Lebens sei ein umkämpfter, in genau jene Frühgeschichte der Pflanzengeographie zurück, die im Mittelpunkt des folgenden Aufsatzes steht. Es war nicht unerheblich dem Einsatz von Karten geschuldet, dass der »Kampf« als grundlegendes Charakteristikum pflanzlichen Lebens und des Lebens im Allgemeinen sichtbar und vorstellbar wurde.
ANGEWANDTE E PISTEMOLOGIE : G IRAUD S OULAVIES »G EOGRAPHIE DER P FLANZEN « Begeben wir uns zeitlich einen großen Schritt zurück und räumlich in Richtung Südwesten, ins vorrevolutionäre Frankreich. Hier entstand, soweit heute bekannt, die historisch erste pflanzengeographische Karte. Sie war das Resultat eines naturforschenden Einmann-Unternehmens. Mitte der 1770er Jahre untersuchte der naturgeschichtlich interessierte Pfarrer und Autodidakt Jean-Louis Giraud-Soulavie die Naturverhältnisse seiner Heimatprovinz Vivarais (vgl. Ramakers 1976). Die Ergebnisse seiner Studien veröffentlichte er zwischen 1780 und 1784 in der zweibändigen Histoire naturelle de la France méridionale (1780-84). Dem zweiten Band »Les Végétaux« fügte er zwei Karten bei: eine »normale«, vogelansichtige Karte des Gebietes, die Carte géographique des plantes, und einen Querschnitt durch die Region, den Coupe verticale des montagnes vivaroises (Abb. 1). Der Coupe verticale, der fortan im Mittelpunkt steht, stellt die Pflanzenverteilung im Verhältnis zur topographischen Struktur der Region dar (vgl. Giraud-Soulavie 1780-84: Bd. 2.1, 223-258). Von der linken oberen Bildecke verläuft ein Berghang vom Gipfel des Mont Mezin nach unten. Die angedeuteten Felsformationen und Baumgruppen geben einen Eindruck von der Landschaft im Verhältnis zur Höhe über dem Meeresspiegel. Zudem sind Ortsnamen eingetragen. Durch horizontale, den Hang durchkreuzende Linien markierte GiraudSoulavie verschiedene Klimagrenzen, die im Bild mit den Verbrei-
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tungsgrenzen bestimmter Gewächse korrelieren. Aufsteigend sind dies: die Obergrenze der Orange, der Olive, des Weins, der Kastanie, der Tannen sowie der alpinen Pflanzen. Zur rechten und linken Seite wird der Hang darüber hinaus von je einer barometrischen Skala flankiert. Abbildung 1: Jean-Louis Giraud-Soulavie, »Coupe verticale des montagnes vivaroises«, 1783
Quelle: Giraud-Soulavie 1780-84, Bd. 2/1, Anhang
Kartographiegeschichtlich war diese Darstellungsweise ein Novum. Zwar waren ähnliche Querschnitte schon lange im Bergbau gebräuchlich und hielten zeitgleich auch in die Geologie Einzug (Eckert 192125: Bd. 1, 450-453; Rudwick 1976; Schwarz 1987: 161-163), doch hatte niemand zuvor versucht, mit ihnen auch die Verteilung belebter Objekte zu visualisieren. Giraud-Soulavies Entscheidung für die neuartige Darstellungsform entsprang einer besonderen Aufmerksamkeit, die er zuvor bei seinen Feldstudien entwickelte hatte. Auch wenn es seiner guten Kenntnis der Region und den vielen Gesprächen mit Einheimischen zu verdanken war, dass er die im Coupe verticale dargestellte Veränderung der Pflanzenwelt bei steigender Höhe überhaupt bemerkt hatte, bestand das eigentlich Neue seiner Forschungen in ihrer instrumentellen Absicherung (vgl. Bourguet 2002: 104-106). Von einem Instrumentenbauer in Lyon besorgte sich Giraud-Soulavie Thermometer und Barometer, mit denen er seine Landschaftsbeobachtungen ständig kontrollierte (Giraud-Soulavie 1780-84: Bd. 2.1, 265-
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276). Von diesen Messungen zeugen die beiden barometrischen Skalen im Coupe verticale. Die Skalen am Rand verweisen aber nicht nur auf den Instrumentengebrauch im Feld, sondern zugleich auch auf eine besondere epistemische Funktion des Coupe verticale. Der Querschnitt half GiraudSoulavie dabei, die vielen Mess- und Beobachtungsreihen miteinander zu verbinden, indem er die Rohdaten in einem Bild zusammenführte. Er insistierte darauf, dass es sich bei diesem »drawing things together« (Latour 1990) keineswegs um ein beliebiges bildliches Verfahren handelte. Den Querschnitt bezeichnete er nämlich im Gegensatz zum Sprachgebrauch heutiger Geographen explizit als »Karte« bzw. »barometrische Karte« (Giraud-Soulavie 1780-84: Bd. 2.1, 274-276). Auch für spätere Pflanzengeographen wie Alexander von Humboldt, der mit seinem berühmten »Naturgemälde der Tropenländer« zur weiten Verbreitung des Querschnitts in der Pflanzengeographie beitrug (Beck/Hain 1989), lag der besondere mediale Vorteil von Karten in ihrem Potential, diverse Beobachtungen sicher zu synthetisieren (Dettelbach 1999; Godlewska 1999). Ab dem frühen 19. Jahrhundert benutzten Pflanzengeographen vermehrt Karten, um die zuvor im Feld beobachteten und mit Instrumenten gemessenen physikalischen Faktoren (etwa Luftdruck und Temperatur) bildlich miteinander in Beziehung zu setzen. »Mit einem Blick« (Humboldt 1806: 11, 15; 1807: 137) konnten sie kartographisch den wechselseitigen Zusammenhang von Phänomenbereichen wie der Pflanzen- und Temperaturverteilung beobachten, der sich in situ meist der »direkten« Beobachtung entzog (vgl. Daston 2008: 106-110). Die panoramatisch-kartographische Zusammenschau war gleichzeitig ein beliebtes Mittel, um den Lesern einen kondensierten Einblick in die komplexen pflanzengeographischen Detailforschungen zu geben. Querschnittskarten dominierten hierbei das Bildprogramm der Disziplin bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Die besondere epistemische Qualität erklärt die Entstehung von Giraud-Soulavies Karte aber nur zum Teil. Seine »Géographie des Plantes« von Vivarais erschöpfte sich nicht nur darin, Naturforschern ein Prinzip zu veranschaulichen, wie sie Landschaften zu betrachten, zu beschreiben und darzustellen hätten. Es ließ sich gleichzeitig konkret »anwenden« (Giraud-Soulavie 1780-84: Bd. 2.1, 187-197). Im Coupe verticale drücken sich nämlich Grundprinzipien einer anwendungsorientierten »physikalischen Botanik« aus, die Giraud-Soulavie
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im Vorwort gegen die damals in Europa dominierende Klassifikation, wie sie etwa Carl von Linné in Uppsala praktizierte, positionierte (Giraud-Soulavie 1780-84: Bd. 2.1, 30-31). Statt zu viel Zeit mit der seines Erachtens nutzlosen Erörterung von Art- und Gattungszugehörigkeit zu verbringen, sollte die »physikalische Botanik« Antworten auf nationalökonomische Fragen liefern. Botaniker müssten laut Giraud-Soulavie in ihrer täglichen Forschung vor allem »atmosphärische« Phänomene stärker berücksichtigen (Giraud-Soulavie 1780-84: Bd. 2.1, 35-38), wodurch die Akklimatisierung von Pflanzen erleichtert würde. Indem sich die kostspielige botanische Forschung an »landwirtschaftlichen, ökonomischen und industriellen« Problemstellungen orientiere (Giraud-Soulavie 1780-84: Bd. 2.1, 43), erhöhe sich automatisch auch ihre gesamtgesellschaftliche Relevanz. Das praxisrelevante Argument ist für das Verständnis von GiraudSoulavies Pflanzengeographie entscheidend. Die Pflanzenverteilung seiner Heimatregion, die im Coupe verticale sichtbar wurde, bildete für ihn immer auch ein Modell, um kulturelle Ökonomien »natürlicher« zu gestalten. Die Geographie der Pflanzen verwies für ihn nämlich darauf, wie sich botanische Forschung in ihren institutionellen Zentren am sinnvollsten organisieren sollte und wie darauf aufbauend die nationale Ökonomie umgestaltet werden könne. Statt die Pflanzen nach den Klassen eines Systems aufzustellen und sie dadurch räumlich zu dekontextualisieren, wie dies etwa am botanischen Zentrum des Landes, dem Pariser Jardin des Plantes, praktiziert wurde, solle man sich an dem atmosphärischen »natürlichen Garten« (Giraud-Soulavie 1780-84: Bd. 2.1, 188) seiner Heimatregion orientieren. »Natürlich« war dieser Garten nicht dadurch, dass er unabhängig von menschlichen Eingriffen gewachsen war. In seinem Querschnitt hatte er sich fast ausschließlich auf Nutzpflanzen konzentriert, von denen einige Pflanzen wie etwa die Orange in die Region importiert worden waren (Giraud-Soulavie 1780-84: Bd. 2.1, 194). Das von ihm beschriebene Verbreitungsgebiet der Orange war vielmehr in der Hinsicht »natürlich«, als die regionale Topographie ihr klimatisch bestimmte Grenzen setzte. Basierend auf seinen regionalen Grenzbeobachtungen schlug Giraud-Soulavie die Neuordnung der botanischen Wissensorganisation in Frankreich nach den Grundsätzen der Pflanzengeographie vor (GiraudSoulavie 1780-84: Bd. 2.1, 198-205). Dazu müssten drei Gärten miteinander koordiniert werden und arbeitsteilig den botanischen Reich-
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tum Frankreichs verwalten. Seine Heimatregion selbst könne in einen riesigen botanischen Garten verwandelt werden, wofür die alpine Topographie die besten Voraussetzungen liefere. Hier könnten die alpinen, europäischen und amerikanischen Gewächse leicht akklimatisiert werden. Diese Pflanzen würden dann je nach ihrer »natürlichen« Umgebung in großen Gürteln – wie sie auch im Coupe verticale zu sehen waren – parallel zum Meeresspiegel an den Bergen angepflanzt. Der botanische Garten in Montpellier solle Pflanzen aus Afrika und tropischen Länder aufnehmen. Dem Pariser Jardin des Plantes blieben dann aufgrund seiner geographischen Lage nur die Pflanzen aus »temperiertem« Klima. »Pourquoi la Botanique n'obtiendroit-elle pas une institution aussi salutaire? Le Jardin royal des plantes de Paris feroit partir des élèves qui auroient donné des preuves de zèle & de savoir; ils étudieroient les effort de la nature végétante sur les montagnes les plus froides si peu connues: ils en apporteroient tous les ans des nouvelles productions.« (Giraud-Soulavie 1780-84: Bd. 2.1, 200)
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In Giraud-Soulavies Coupe verticale überschnitten sich also unmittelbar epistemische Praktiken – das synthetisierende Erkennen der »natürlichen Ökonomie« – und operative Möglichkeiten – die Umgestaltung der nationalen Zirkulation von Pflanzenmaterial. Die Vorstellung, in der Natur bestünde eine »Ökonomie«, die – einmal erkannt – als Modell für die Neuordnung aktueller wirtschaftlicher Verhältnisse dienen könne, war allerdings älter (vgl. den ideengeschichtlichen Überblick: Morgenthaler 2000). Sie ging ausgerechnet auf denjenigen Botaniker zurück, den Giraud-Soulavie am schärfsten kritisiert hatte: den schwedischen Botaniker Carl von Linné. Linné beschrieb Mitte des 18. Jahrhunderts in seiner Schrift Oeconomia naturae die Natur als ein harmonisches Ganzes (Linné 1751). Alles in der Natur, jedes organische Wesen, stünde laut Linné im Zusammenhang mit seiner Außenwelt. Die wissenschaftsgeschichtliche Forschung der letzten Jahre hat gezeigt, dass Linnés Konzept der »natürlichen Ökonomie« aber keineswegs als »ökologisch« im heutigen Sinn bezeichnet werden kann. Stattdessen beruhte seine Vorstellung des Tausches in der Natur auf seiner Praxis, botanische Netzwerke zu
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organisieren. Seine Vorstellung von »natürlicher Ökonomie« war abgeleitet aus einer Ökonomie der Naturforschung. Die Tauschbeziehungen unter Botanikern dienten ihrerseits als Modell, um nationale Wirtschaftskreisläufe neu zu organisieren (Müller-Wille 1999; 2003). Giraud-Soulavie adaptierte dieses ältere Modell »natürlicher Ökonomie«, wandte es aber auf den konkreten geographischen Raum seiner Heimatregion an, um darauf aufbauend den nationalen Wirtschaftskreislauf Frankreichs zu restrukturieren. Sein Projekt, das im Coupe verticale Gestalt annahm, klingt somit im ersten Moment utopischer, als es tatsächlich war. Giraud-Soulavie war zudem kein wissenschaftlicher Außenseiter, sondern stand mit einer der wichtigsten naturgeschichtlichen Institutionen Frankreichs in Kontakt: dem Pariser Jardin des Plantes. Auch wenn Giraud-Soulavie die klassifikatorische Ausrichtung des Gartens in seinem Buch kritisiert hatte, dürfte er mit seiner »Geographie der Pflanzen« bei vielen Mitarbeitern des Gartens auf offene Ohren gestoßen sein. In Paris ging man nämlich zu diesem Zeitpunkt bereits ähnlichen Fragestellungen nach und begann damit, die einstige Konzentration auf die Klassifikation aufzugeben und den Garten gegenüber anwendungsorientierten Bereichen und Personengruppen wie Gärtnern, Landwirten, Apothekern etc. zu öffnen. Dieser Praxisbezug, der im späten 18. Jahrhundert für die europäische Botanik insgesamt zukunftsweisend wurde, hatte (bio-)politische Gründe (McClellan/Regourd 2000). Viele europäische Gärten – etwa die Londoner Kew Gardens – wurden zu dieser Zeit in koloniale Infrastrukturen integriert (Drayton 2000). Auch die anwendungsorientierte Ausrichtung des Pariser Jardin des Plantes entsprang politischem Kalkül. Die französische Krone strebte seit der Jahrhundertmitte eine grundlegende Reform der französischen Wirtschaft und Gesellschaft an, die ihrerseits von einer Landwirtschaftsreform getragen werden sollte (vgl. im Folgenden: Spary 2000: 99-154). Die Ressourcen Frankreichs und seiner Kolonien gerieten so verstärkt in die Aufmerksamkeit der Politik. Vom Jardin des Plantes aus sollten die nationalen Ressourcen zentral koordiniert werden. Die Direktoren wandelten den Garten daher bereits sehr früh in ein Forschungszentrum zur Akklimatisierung von Pflanzen um. Sie unterhielten ein weites Korrespondenznetz, dass sich zu einem erheblichen Teil aus lokalen Hobbygärtnern, Botanikbegeisterten, Landwirten, usf. im französischen Mutterland und den Kolonien zusammensetzte. Die Korrespondenten wurden dazu
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angehalten, gezielt Informationen über Nutzwert und Kultivierung bestimmter Pflanzen nach Paris zu liefern (Spary 2000: 50-98). Im Garten selbst befanden sich bereits ein großer Berg, mehrere Hänge und spezielle Terrassen, auf denen verschiedene Mikroklimata simuliert wurden, um die ursprünglichen Standorte von Pflanzen zu imitieren (Prest 1981: 47-48). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden die Akklimatisierungsbereiche sukzessive um weitere Gewächshäuser und landwirtschaftliche Versuchsfelder ergänzt. Viele der Theorien, die im Umfeld des Jardin des Plantes entwickelt wurden – wie die Klima- und Degenerationstheorien von Georges-Louis Leclerc de Buffon oder physiologische Theorien zur Bedeutung der Luft –, fußten auf praktischen Überlegungen, die sich beispielsweise aus dem Transport und der Kultivierung von Pflanzen ergeben hatten (Spary 2000: 102-132). Giraud-Soulavies regionales Forschungsprogramm passte nahezu perfekt zu den Akklimatisierungsforschungen in der Hauptstadt. Es öffnete diesen Forschungen zugleich neue Räume. Nicht nur in Gewächshäusern und auf künstlich bewässerten Beeten – so lautete schließlich Giraud-Soulavies Botschaft an die Pariser Botaniker – könnten Pflanzen aus Frankreich und den Kolonien gezüchtet werden. Das französische Territorium selbst stelle Räume bereit, um die koloniale und nationale Zirkulation der Pflanzen »natürlicher« zu steuern. Der Coupe verticale lieferte hierfür ein mögliches Modell. Kurz vor der Jahrhundertwende, rund zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung des Querschnittes, griff der Chefgärtner des Jardin des Plantes, André Thouin, diese Idee wieder auf, als er in einer Vorlesung auf eine experimentelle Farm zur Akklimatisierung von Nutzpflanzen zu sprechen kam (Thouin 1827: Bd. 3, 459-468; vgl. Conan 2007: 213219). Solche Farmen existierten zwar vereinzelt auf französischem Boden, waren aber bislang durch das mitteleuropäische Klima in ihren Möglichkeiten begrenzt. Deshalb, so Thouin, müsse eine solche Farm idealerweise in den Tropen oder in den Bergen im äußersten Süden Frankreichs errichtet werden. Sein Bruder Gabriel setzte diese Idee später ins Bild (Abb. 2). Auf der Abbildung ist ein fiktives Tal zu sehen, das vollständig in eine Akklimatisierungsfarm umgewandelt wurde. Vom Zentrum aus verlaufen sternförmig Wege in alle Himmelsrichtungen. Auf den dazwischenliegenden Feldern werden verschiedene Sträucher, Bäume und andere Nutzpflanzen gezüchtet. Die
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Farm führt hinauf bis zur Baumgrenze, die durch Wege erreicht werden kann (Thouin 1823: 53-55). Abbildung 2: Gabriel Thouin, »Projet d'une ferme expérimentale de la Zone Torride«, 1823
Quelle: Thouin 1823, N° 50
Ob André Thouin die Schriften von Giraud-Soulavie im Kopf hatte, als er seine Idee formulierte, ist unbekannt. Doch zeigt sie sehr deutlich, welche »ökonomischen« Implikationen die Geographie der Pflanzen im späten 18. Jahrhundert beinhaltete. Sie stellte Strategien bereit, den weltweiten botanischen Markt national nutzbar zu machen und die Zirkulation von Pflanzenmaterial gezielt zu steuern. Zwar wurde Viva-
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rais nicht, wie Giraud-Soulavie vorgeschlagen hatte, in einen riesigen botanischen Garten umgewandelt. Doch spezialisierten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in ganz Europa vor allem kleinere botanische Gärten auf »ökonomische« – etwa medizinisch-pharmazeutische und landwirtschaftliche – Fragestellungen. Diese Gärten wurden zu Zentren pflanzengeographischer Grundlagenforschung (Matagne 1999). Gleichzeitig wurde das Netz von Akklimatisierungsgärten auf den kolonialen Schifffahrtsrouten ausgebaut. Die tropische Landwirtschaftslehre erhielt in Frankreich hierdurch erhebliche Impulse (JuhéBeaulaton 1999). Der pflanzengeographische Querschnitt Giraud-Soulavies, der die »atmosphärischen« Grundprinzipien der neuen Pflanzengeographie erstmals modellartig visualisiert hatte, war nunmehr nicht auf eine kleine Region Frankreichs beschränkt. Er half dabei, die globalen botanischen Märkte effizienter zu organisieren. Die Karte trat vermittelnd zwischen die Gärten und die verschiedenen Territorien.
O PERATIVE P OTENTIALE Die praktische Relevanz pflanzengeographischen Wissens ist von der Geschichtsschreibung bislang wenig beachtet worden (eine Ausnahme ist etwa: Klemun 2000). Wie eng verbunden der »ökonomische« und »wissenschaftliche« Diskurs aber von Beginn an waren, verdeutlicht ein Blick auf die Organisationsformen pflanzengeographischer Forschungen. Praktisch alle wichtigen Pflanzengeographen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts standen mit dem weltweiten Netz an Kolonialgärten und vor allem ihren europäischen Knotenpunkten in Paris, London oder Uppsala in engem Kontakt (Browne 1992). Auch der prominenteste Vertreter der neuen Disziplin, Alexander von Humboldt, hielt sich vor und nach seiner Südamerikareise am Jardin des Plantes auf. Sein Reisebegleiter, Aimé Bonpland, der speziell für die Sammlung von Pflanzenmaterial zuständig war, war am Pariser Garten ausgebildet worden. Später wurde sogar das botanische Substrat ihrer Reise – die Reisetagebücher, Notizen und große Teile der Sammlung – an den Pariser Garten verkauft (Lack 2009). Im Feld prägten ökonomische Fragestellungen die Forschungspraxis von Pflanzengeographen bis in ihre alltäglichsten Handlungen. Humboldt etwa nannte in seinem südamerikanischen Reisebericht, der
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im 19. Jahrhundert zur Pflichtlektüre von Pflanzengeographen werden sollte, botanische und ökonomische Probleme oft im gleichen Atemzug. Bereits auf der Überfahrt nach Südamerika beschrieb Humboldt auf Teneriffa, wo sich die botanische Vielfalt der Erde in extremem Maße verdichtete, die Pflanzengeographie der Kanareninsel und kartierte die dortigen Vegetationsverhältnisse in gleicher Manier wie einst Giraud-Soulavie mit einem kartographischen Querschnitt, dem Tableau physique von Teneriffa (vgl. Humboldt 1991: Bd. 1, 167-174; 1814: Tafel 2). Teneriffa war aber für Humboldt nicht nur als riesiges pflanzengeographisches Beobachtungslabor von Interesse. Die Insel barg für ihn zugleich ein enormes Akklimatisierungpotential: »Die Anlage eines botanischen Gartens auf Teneriffa«, schrieb Humboldt, »ist ein sehr glücklicher Gedanke, da eine solche Anlage sowohl für die wissenschaftliche Botanik als auch für die Einführung nützlicher Gewächse in Europa sehr förderlich werden kann.« (Humboldt 1991: Bd. 1, 120-121). Humboldt schlug aufgrund dieser Erfahrung vor, Teneriffa zu einem Transitpunkt der botanischen Kolonialmärkte auszubauen: »Die Gewächse gehen häufig, ehe sie unsere Küste erreichen, zugrunde, weil sie auf der langen Überfahrt eine mit Salzwasser angereicherte Luft atmen müssen. Im Garten von Orotava [auf Teneriffa] fänden sie eine Pflege und ein Klima, bei denen sie sich erholen könnten.« (Humboldt 1991: Bd. 1, 121) »Wissenschaftliche Botanik« und Akklimatisierungsüberlegungen waren also kein Gegensatz, sondern schon bei Humboldt explizit durch ein »sowohl ... als auch« miteinander verschränkt. In den Querschnitten der Disziplin – sei es in Giraud-Soulavies Coupe verticale oder Humboldts Naturgemälden – durchdrangen sich diese beiden Dimensionen pflanzengeographischer Forschung. So wurde dem Auge nicht nur sichtbar, wie eine bestimmte Region botanisch unterteilt war; es ließ sich auch ersehen, wie die kartographisch identifizierten Räume zur Kultivierung neuen Pflanzenmaterials genutzt werden konnten. »Es gibt eigentlich gar keine Erfahrung in der Pflanzengeographie, die nicht dem Landwirthe direct oder indirect zu statten käme«, schrieb etwa der einflussreiche Botaniker Otto Sendtner um die Jahrhundertmitte (Sendtner 1854: 3). Solche Aussagen gehörten fortan zum gängigen Jargon, mit dem Pflanzengeographen im 19. Jahrhundert den Wert ihrer Disziplin umschrieben.
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Abbildung 3: Augustin Pyramus de Candolle, »Carte botanique de France«
Quelle: Candolle/Lamarck 1805, Karte erschien als Separatdruck
Dieses Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis zeigte sich besonders deutlich in der Carte Botanique de France (Abb. 3) aus dem Jahr 1805. Sie war eine der ersten Karten, die sich an der Darstellung der Pflanzenverteilung in einer »normalen«, vogelperspektivischen Karte versuchte (Ebach/Goujet 2006). Wohl nicht zufällig stammt auch diese Karte aus dem Dunstkreis des Pariser Jardin des Plantes, der mittlerweile in das Muséum Nationale d’Histoire Naturelle integriert worden war. Ihr Autor Augustin-Pyramus de Candolle arbeitete zu diesem Zeitpunkt an dem Garten und entwarf die Carte botanique als Ergänzung zur dritten Auflage von Jean Baptist Lamarcks Flore Française. Auf der Karte unterteilte Candolle Frankreich in fünf botanische »Regionen«, die er durch Flächenfärbung voneinander unterschied. Als Unterlage benutzte er eine Frankreichkarte, die von allen politischen Einteilungen befreit war und stattdessen nur noch physische Elemente wie Flüsse und Berge enthielt. Zusätzlich wurde die dritte Raumdimension durch Höhenlinien, die erst wenige Jahre zuvor erfunden worden waren, dargestellt.
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Frankreich wird auf der Karte eingerahmt durch die grünen Küstenlinien der »maritimen Zone«. Weit über die Hälfte des Landes, vor allem der Mittel- und Nordosten, ist gelb koloriert. Hervor stechen zudem die Bergregion (blau), die mediterrane Zone (rot) und die Zwischenzone (orange), die zusammen den Süden des Landes dominieren. Neben der pflanzengeographischen Aufteilung des Landes in verschiedene »Regionen« hatte die Carte botanique aber noch eine weitere Darstellungsebene. Durch unterschiedliche Schrifttypen kennzeichnete Candolle, ob in Paris über eine Stadt oder eine Region hinreichend botanische Informationen zur Verfügung standen (Lamarck/ Candolle 1805, Bd. 2: V-VI). Gegenden, die noch nicht botanisiert worden waren, ließ er unbeschriftet. Durch dieses simple Verfahren lieferte die Karte dem Betrachter in kürzester Zeit einen kompletten, nationalen Forschungsüberblick. Gleichzeitig markierte sie noch unerforschte Gebiete (Lamarck/Candolle 1805, Bd. 2: V). In der Carte botanique verdichteten sich soziale, wirtschaftliche und epistemische Anliegen. Sozial gesehen war die Karte für Candolle bildlicher Ausdruck seiner neuen »Methode« (Lamarck/Candolle 1805, Bd. 2: VI), Frankreich pflanzengeographisch zu parzellieren, ohne alle Regionen des Landes selbst bereisen zu müssen. Stattdessen benutzte er ein Netz von Beobachtern und legte dieses Netz seiner Einteilung zugrunde. Die Karte integrierte so das Wissen der unzähligen Hobbybotaniker, die, wie zwanzig Jahre zuvor Giraud-Soulavie, ihre Heimatregionen botanisch durchforschten. Diese lokalen Beobachter wurden auf diesem Weg bildlich in eine »nationale« Forschungsgemeinschaft integriert, deren Muster in der Karte zum Ausdruck kam. Beim Ziehen der Grenzen orientierte sich Candolle an Nutzpflanzen und verglich diese Linien mit den in Paris verfügbaren Lokalfloren. In seinem Begleittext ließ er sich zudem intensiv über das Akklimatisierungspotential bestimmter Pflanzen aus, so dass der kartographische Überblick konkrete Hinweise auf künftige Anbaugebiete für Nutzpflanzen liefern konnte (Lamarck/Candolle 1805, Bd. 2: VIII-XI). Zugleich entstand im Medium Karte ein neuer epistemischer Beobachtungsraum. Durch das Experimentieren mit der Karte konnte Candolle bestimmte wissenschaftliche Zusammenhänge bildlich plausibilisieren, die sich in der Regel der »direkten« Beobachtung entzogen. Der Vergleich zwischen den Grenzlinien der botanischen Regionen und den Höhenlinien auf der Karte erhärtete beispielsweise Candolles Vermutung, dass ein direkter Zusammenhang zwischen den bo-
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tanischen Regionen und der Höhe über dem Meeresspiegel bestehen musste. Die Karte bestätigte augenfällig diesen Zusammenhang (Lamarck/Candolle 1805, Bd. 2: IX). Candolles Carte botanique fixierte also nicht nur vorhandenes Wissen. Sie entfaltete in epistemischer, aber auch in sozialer Hinsicht eine operative Wirkung. Bestimmte Zusammenhänge wurden überhaupt erst durch die kartographische Darstellung denkbar. Gleichzeitig steuerte die Karte den Informationsfluss zukünftiger botanischer Forschung, indem sie Räume markierte, die im botanischen Zentrum Paris noch unbekannt waren. Nicht zuletzt sollten sie dann dabei helfen, Nutzpflanzen zu mobilisieren, um von Paris aus das materielle Fundament der nationalen Landwirtschaft neu zu strukturieren und auszubauen.
AUSBLICK Im Spannungsfeld von Erkenntnismedium und machtpolitischer Anwendung, etablierte sich die Kartierung in den Jahrzehnten um 1800 als wichtiger Bestandteil pflanzengeographischer Forschung. Als Friedrich Ratzel rund hundert Jahre später seine Schrift über den »Lebensraum« veröffentlichte und damit die Begriffswelt der entstehenden Ökologie nachhaltig prägte, hatte dieses Spannungsfeld, das sich in den frühen Kartierungen manifestierte, also bereits eine lange Tradition. Dass das Verhältnis von Leben und Raum hierbei nicht friedlich aufzufassen sei, war längst selbstverständlich. Als Charles Darwin 1842 erstmals seine Idee des »struggle for existence« zu Papier brachte, konnte er auf Vorgänger verweisen. Er bezog sich hierbei nicht zufällig auf den zuletzt erwähnten Pflanzengeographen AugustinPyramus de Candolle, der rund fünfzehn Jahre nach seiner Carte botanique erstmals den Kampf um den Raum als Grundkonstante der Pflanzenverbreitung charakterisiert hatte (Candolle 1820: 384; vgl. Browne 1983: 52-57). Candolle leitete diese Vorstellung wesentlich aus der Existenz »botanischer Regionen« ab, wie er sie für Frankreich erstmals 1805 kartographisch ermittelt hatte (Candolle 1820: 410-412). Die Grenzen der Regionen waren schon für Candolle historische Produkte; die leiseste Veränderung der physikalischen Verhältnisse (wie etwa des Wetters) könnte ihren Verlauf aber verändern.
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In seinem ersten handschriftlichen Entwurf zum »Origin of Species« begann Darwin den Absatz zur »natural selection« dann auch wie folgt: »Natural Selection. De Candolle's war of nature [...] If proof were wanted let any singular change of climate occur here, how astoundingly some tribes increase, also introduced animals, the pressure is always ready capacity of alpine plants to endure other climates – think of endless seeds scattered abroad – forests regaining their percentage – a thousand wedges are being forced into the economy of nature.« (Darwin 1909: 7-8)
Leben, Raum, Kampf, Ökonomie, Natur, Kultur – die Grenzen zwischen diesen Begriffen hatten sich schon vor Darwin in den ersten kartographischen Studien über Räume pflanzlichen Lebens bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Damit war Darwins Konzept der »Ökonomie der Natur« von Fragen kultureller Ökonomien kaum mehr zu trennen (Schabas 1990). Als später der eingangs erwähnte Oscar Drude das »Lebensraum«Konzept für die neu entstandene Ökologie empfahl, strich er genau jene ständige Durchdringung praktischer und theoretischer Fragestellungen als ihr charakteristisches Merkmal heraus. Alltägliche gärtnerische Erfahrungen mit der »Haushaltsführung einer Pflanze« – etwa bei der Akklimatisation und Zucht – hätten seit jeher der »methodischen Wissenschaft« nicht nachgestanden (Drude 1905: 114). Um jedoch die individuellen, praktischen Erfahrungen auf Dauer wissenschaftlich verwerten, mit anderen Beobachtungen verbinden und schließlich auf große Räume ausdehnen zu können, empfahl Drude den Ökologen ein Medium, das sich seit Giraud-Soulavie aufgrund seiner hohen Synthesefähigkeit bewährt hatte: die Karte (Drude 1905: 114). Dass sich unter den ersten erfolgreichen Ökologen so viele kartographisch arbeitende Pflanzengeographen wie Drude befanden, kam also nicht von ungefähr. Das Kartieren hatte sich im frühen 20. Jahrhundert in der Pflanzengeographie längst als gängige Praxis etabliert, um beim Studium von Lebensräumen epistemischen und operativen Anforderungen gleichermaßen zu genügen.
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Die Fabrik als Wissensraum Bürgerliche Raum- und Wirklichkeitskonstruktionen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert D ANIELA F LEISS
1. E INLEITUNG »›Space‹ is very much on the agenda these days«, stellte die englische Geografin Doreen Massey 1994 fest (Massey 1994: 249). Heute, mehr als fünfzehn Jahre später, hat diese Aussage immer noch Gültigkeit, und zwar zunehmend über den Kreis der Geographie hinaus. Immer mehr Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, die Soziologie, die Ethnologie, und in jüngster Zeit auch die Geschichtswissenschaft, entdecken den Raum in seiner Entstehung und seiner Ausgestaltung als Analysekategorie. Speziell für die Geschichtswissenschaft, deren Domäne eher die Zeit, denn der Raum ist, stellt sich die Frage, welche zusätzlichen Erkenntnisse die Einbeziehung des Räumlichen in die Analyse historischer Prozesse vermitteln kann. Der britische Sozialhistoriker Simon Gunn betonte in dieser Frage, dass soziale Prozesse sowohl in der Zeit als auch im Raum analysiert werden müssten, da Fragen nach Besitz und Bedeutung des Raumes oft tief eingebettet seien in historische Konflikte und Prozesse (Gunn 2001: 11). Gunn bezog sich mit seiner Aussage allerdings auf den konkreten territorialen Raum der Stadt, also einen absoluten Raum, der von den Bewohnern zwar geschaffen, verändert und mit immer neuem Sinn gefüllt werden kann, der aber nur einen Schauplatz für die sozialen Prozesse darstellt.
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Aber kann das Verständnis von Raum bei der Analyse historischer Zusammenhänge nicht noch weitergehen? Kann Raum mehr sein als ein Schauplatz? Neuere soziologische Ansätze in der Nachfolge von Henri Lefebvre, die der Geschichtswissenschaft ebenfalls als Vorlage dienen können, gehen davon aus, dass Raum nicht einfach existiert, sondern dass er erst durch soziale Beziehungen konstituiert wird (Lefebvre 1991). Hieran können sich dann noch radikalere Überlegungen anschließen, beispielsweise jene, dass Raum nur als mentale Konstruktion bestehe und bewusst darauf zu verzichten sei, einen tatsächlich gegenständlichen Raum hinter den verschiedenen Formen des Mediums ›Raum‹ zu sehen (Pott 2007: 38). Eine solche Überlegung wird durch die Erkenntnisse aus der Wissenssoziologie nach Peter Berger und Thomas Luckmann (Berger/Luckmann 1977) sowie durch die Überlegungen der Mentalitätsgeschichte (Geiger 1967; Sellin 1985; Le Goff 1987; Burke 1987) und das Habitus-Konzept von Pierre Bourdieu (Bourdieu 1982) gestützt, nach denen ein vortheoretisches Wissen existiert, das der Mensch mit seiner Vergesellschaftung aufnimmt, und das seine Wirklichkeitswahrnehmung bedingt. Betrachtet man in Fortführung dieses Ansatzes Wirklichkeit als einen Bewusstseinsraum, in dem sich eine Gesellschaft oder gesellschaftliche Gruppe bewegt, so lässt sich die These aufstellen, dass ein solcher Bewusstseinsraum durch das Wissen der jeweiligen Gruppe determiniert, strukturiert oder mitunter in seinen besonderen Bedingungen erst geschaffen wird. Man kann diesen Raum daher als eine Art Wissensraum bezeichnen. Der Wissensraum, so die grundlegende Annahme, strukturiert die Wirklichkeit und gibt die Möglichkeit, sich der eigenen Identität zu vergewissern. Dieses geschieht besonders durch die Ausgrenzung anderer Gruppen, die zu dem Wissensraum aufgrund fehlenden, vortheoretischen Wissens keinen Zugang haben. Ein solcher Wissensraum kann zum Bespiel ein touristischer Raum sein, zu dem nur diejenige Person Zugang erhält, die aufgrund ihres Wissens diesen Raum mit konstruieren kann. Ein touristisches Erlebnis kann in einer solchen Lesart unabhängig vom bereisten geographischen Raum nur in einem touristischen Wissensraum stattfinden. Die symbolische Praxis zur Konstruktion dieses Wissensraumes lag im richtigen touristischen Blick, eine Art des Schauens, wie sie auch im Kaufhaus oder im Zoo eingesetzt wird. Historisch betrachtet lässt sich ein solcher touristischer Raum besonders anschaulich am Beispiel der Fabrik als touristischer Attraktion gegen Ende des 19. Jahrhunderts
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festmachen, da hier der absolute, also real existierende geographische Raum, der zur Erzeugung materieller Güter dient, und der relative, also mentale Raum in den Köpfen der Menschen, der Wissensraum, der als touristischer Erlebnisraum dient, signifikant auseinanderfallen. Dass der touristisch motivierte Zugang zur Fabrik einer gruppenspezifischen Konstruktion der Wirklichkeit entsprang und damit einen speziellen Wissensraum entstehen ließ, wie dieser Wissensraum ausgestaltet war, und welchen Zweck er erfüllte, soll anhand von zeitgenössischen Fotografien, Beschreibungen von Rundgängen durch die Fabrik sowie von Reportagen in damaligen populären Zeitschriften untersucht und belegt werden. Das Beispiel soll zeigen, dass der Raum, wenn die Historikerin oder der Historiker ihn wie ausgeführt als Wissensraum begreift, zu einem Merkmal wird, das zu untersuchen sinnvoll sein kann, um gesellschaftliche Gruppen in der Geschichte in ihrer inneren Gestalt und in ihrer Beziehung zu anderen Gruppen herauszustellen und so gesamtgesellschaftliche Prozesse im Sinne einer neuen Kulturgeschichte1 umfassend zu deuten.
2. W ISSENSRÄUME UND G ESCHICHTSWISSENSCHAFT 2.1 Räume als mentale Konstruktion Wie genau sieht nun der Raum aus, der mehr ist als ein Schauplatz, der nur im Kopf besteht, und durch dessen Konstruktion sich – so die These – gesellschaftliche Gruppen voneinander abgrenzen? Konstitutiv ist dabei die erste Unterscheidung zwischen einer absoluten oder relativen Betrachtung des Raumes. Überlegungen seit der Antike charakterisieren den Raum entweder nur als Hülle, in dem sich
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Die neue Kulturgeschichte versucht, alle Lebensbereiche des Menschen, sowohl materielle als auch geistige Dimensionen, in ihren Vernetzungen zu erfassen. Die Ergebnisse der Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte bilden dabei den Rahmen der subjektiv wahrgenommenen Wirklichkeit, die sich wiederum in der Ideengeschichte als Untersuchung der bewussten und der Mentalitätsgeschichte als Untersuchung der unbewussten Wirklichkeitswahrnehmungen und -konstruktionen zeigt.
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soziale Prozesse oder historische Ereignisse abspielen, oder als erst durch soziale Operationen konstituiert. Bedeutendste Vertreter der historischen Debatte fanden sich in den Naturwissenschaftlern Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz. Während der erste den absoluten Raum als von Gott gegeben voraussetzte, stellte Leibniz heraus, dass weder Raum noch Zeit eine dingliche Existenz hätten, sondern ideelle Ordnungsformen seien, die in der Konstruktion des menschlichen Geistes gründeten. In Folge der enormen Erfolge der naturwissenschaftlichen Theorien Newtons dominierte auch sein Raumkonzept über 200 Jahre die Wissenschaft und die öffentliche Wahrnehmung. Erst Einsteins Relativitätstheorie stellte es in Frage (Schroer 2009: 3339, 44). In den modernen Sozialwissenschaften – und nicht minder in der Geschichtswissenschaft – dominierte das Konzept gleichermaßen lang, das den Raum nur als Hülle voraussetzt, ohne sich mit seinen Konstitutionsbedingungen auseinanderzusetzen (Für die Sozialwissenschaften die Zusammenfassung von Schroer 2009: 46f. Für die Geschichtswissenschaft ist die Verwendung von Raumkonzepten bisher nicht systematisch untersucht worden). Die entscheidende Wende brachte die Arbeit Henri Lefebvres, in der er Raum nicht als Hülle auffasste, als eine immer schon vorhandene und natürlich gegebene Instanz, in dem sich das gesellschaftliche Leben abspielt, sondern selbst als ein Produkt gesellschaftlicher Prozesse: »(Social) space is a (social) product.« (Lefebvre 1991: 26) Raum spielt hier nicht mehr eine Rolle als absolute Dimension, sondern erscheint als Konstrukt aus sozialen Beziehungen (Massey 1994: 2). Ein ähnliches Konzept, das Raum als Ausdruck sozialer Beziehungen begreift, findet sich bei Pierre Bourdieu. Er konstruiert das Modell eines doppelten sozialen Raumes. Nach Bourdieu existiert soziale Realität zweimal: in den Dingen und in den Köpfen, außerhalb und innerhalb der Akteure, auf der Ebene der objektiven Gegebenheiten und der symbolischen Repräsentationen. Auf der objektiv-materiellen Ebene entscheidet der Besitz an ökonomischem, kulturellem und symbolischem Kapital, auf der Ebene der symbolischen Repräsentation finden symbolischen Praktiken in Form von Lebensstilen und kulturellem Konsum statt. Der Habitus vermittelt zwischen diesen beiden Ebenen (Bourdieu 1992: 103; Gilcher-Holtey 1996: 115). Entscheidend ist an dieser Stelle, dass der Raum der symbolischen Repräsentationen als völlig unabhängig von jedem materiellen Raum verstanden werden
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kann. Denn während der soziale Raum, den Lefebvre beschreibt, durchaus Bezüge zur materiellen Welt besitzt, sie zum Teil erst in ihrer jeweiligen Form erschafft – beispielsweise durch die Städteplanung –, erscheint der Raum, der durch symbolische Praktiken entsteht, als losgelöst von materiellen Objekten, da er nur noch im Bewusstsein der ihn erschaffenden Akteure existiert. Wenngleich Bourdieu diese Besonderheit des Raumes als Element der symbolischen Repräsentation selbst nicht eigens herausarbeitet, so ist er in der hier vorgestellten Lesart in die Nähe neuester radikaler Überlegungen zu rücken, in der Raum allein als kognitives Schema interpretiert wird, als »eine Konstruktion psychischer (Bewusstseins-) Systeme, die operativ keinen Umweltkontakt haben.« (Pott 2007: 29) Der Sozialgeograph Andreas Pott stützt sich in Anlehnung an die soziologische Systemtheorie nach Luhmann (Luhmann 1984) auf die Überlegung, dass soziale Systeme keine räumlich-materielle, sondern eine völlig andere, nämlich rein endogen hervorgebrachte Form von Grenze hätten, weswegen die von ihnen hervorgebrachten Räume ebenfalls nur im Bewusstsein existieren könnten (Pott 2007: 28). Folglich lasse sich nicht ein wie auch immer gearteter gegenständlicher Raum hinter eine Konstruktion des Mediums Raum annehmen (ebd: 38). Stattdessen seien Räume ausschließlich als Formen zu verstehen, die von Beobachtern hergestellt würden. Räume erscheinen somit nur noch als im Bewusstsein des Einzelnen existent, als mentale Konstruktion. Mit dieser Feststellung ist der Weg bereitet für die noch viel entscheidendere Frage nach den Entstehungsbedingungen und -gründen dieser Räume. Wie, wann und warum wurden und werden mentale Räume hervorgebracht? 2.2 Distinktion durch Wissensräume Um sich der Konstruktion von mentalen Räumen, ihren Grundlagen und ihrem Zweck zu nähern, muss zuerst verdeutlicht werden, dass zwischen dem Raum und der Gesellschaft ein Wechselverhältnis besteht, denn es ist nicht nur der Raum, der durch soziale Verhältnisse und soziale Praktiken konstituiert ist, sondern das Soziale an sich ist ebenso räumlich konstruiert. Daraus resultiert, dass die Gesellschaft notwendigerweise ebenfalls räumlich konstruiert ist. Die Tatsache der räumlichen Organisation wiederum ruft eine bestimmte Funktionsweise von Gesellschaft hervor. (Massey 1994: 254).
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Wie genau schlägt sich die räumliche Organisation in der Funktionsweise von Gesellschaft nieder? Welche Bedeutung haben mentale räumliche Konstruktionen für gesellschaftliche Gruppen? Um dies zu beantworten, werden verschiedene Ansätze zur Existenz eines vortheoretischen Wissens miteinander zum Konzept eines Wissensraumes verbunden. In einem zweiten Schritt wird die Wirkung eines solchen Wissensraumes analysiert. Verschiedene Disziplinen und Forschungsrichtungen gehen davon aus, dass es ein vortheoretisches Wissen gibt, das der Mensch implizit mit seiner Vergesellschaftung aufnimmt. Die Wissenssoziologie spricht von einem ›Allerweltswissen‹, das die Struktur bilde, ohne die es keine menschliche Gesellschaft gebe (Berger/Luckmann 2004: 16). Die Mentalitätsgeschichte bezieht sich auf Emile Durkheim und seinen Entwurf der ›Représentations Collectives‹ und geht davon aus, dass es unbewusste Vorstellungen gebe, die im Miteinander der Individuen entständen und über den Einzelnen hinausgingen (Durkheim 1976: 6673). Diese ›Mentalität‹ ist demnach eine »geistig-seelische Disposition« (Geiger 1967: 77), die als unmittelbare Prägung durch die soziale Lebenswelt entsteht. Das jeweils gruppenspezifische Bündel vortheoretischen, unbewussten, durch die Vergesellschaftung vermittelten Wissens, das dann bestimmte Verhaltensweisen evoziert, nennt Bourdieu den ›Habitus‹ (Bourdieu 1982: 278). Das Wissen sorgt dafür, dass die Individuen sich als Teil einer bestimmten Gesellschaft oder Gesellschaftsgruppe automatisch und oft unbewusst auf bestimmte Weisen verhalten. Das Verhalten macht also die innere Haltung sichtbar. Der Habitus ist dabei das Bindeglied zwischen vortheoretischem Wissen und äußerem Verhalten, indem er eine ›Sinnwelt‹ (in der Terminologie der Wissenssoziologie, Plessner 2004: XVI), einen ›Wissensraum‹ (mit dem hier ansatzweise definierten Begriff) konstituiert und gleichzeitig durch ein Bündel symbolischer Praxisformen, ›Lebensstile‹ nach Bourdieus Bezeichnung (Bourdieu 1982: 278), zum Ausdruck bringt. Die Wirklichkeit des Einzelnen ist damit in mehrfacher Sicht gesellschaftlich konstruiert. Um es auf den Punkt zu bringen: Durch das vortheoretische Wissen, das mit der Vergesellschaftung aufgenommen wird, entsteht ein bestimmter Habitus, der sich in speziellem Verhalten zeigt, und der einen Wissensraum erschafft. Dieser Wissensraum erscheint sowohl als Produkt als auch vice versa als Produzent gesellschaftlicher Pro-
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zesse und Verhältnisse (Ähnliche Überlegungen bei BachmannMedick 2006: 292). Der Zweck der Konstruktion eines Wissensraumes liegt zum einen in der allgemeinen Strukturierung der Wirklichkeit, ohne die, wie bereits bei Berger und Luckmann angeklungen, menschliche Gesellschaft gar nicht möglich wäre. Zum anderen werden in dieser Struktur die Identität einer Gesellschaft oder einer gesellschaftlichen Gruppe und damit auch die Identität des Einzelnen als Teil dieser Gruppe definiert, da nur Mitglieder Zugang zu dem spezifischen Wissensraum haben. Zugang zu und Teilhabe an einem Wissensraum zu haben, ist also konstitutiv für die Identität. Wesentliches Merkmal bildet die Tatsache, dass eben andere Individuen keinen Zugang zu diesem Wissensraum haben, dass man sich durch die Konstruktion eines Wissensraumes von anderen abgrenzt. Die symbolischen Praktiken als Ausdruck des Wissensraumes bieten dabei die sichtbaren Mittel zur Distinktion im Sinne Bourdieus. Ein- und Ausgrenzung und damit verbunden oft die Produktion und Manifestation sozialer Ungleichheit, das ist der Hauptzweck des Wissensraumes. Der Zugang zu geographischen Räumen, der ebenso durch Distinktionsprozesse eingeschränkt sein kann, ist nicht der allein entscheidende, sondern die Möglichkeit, an dem Wissensraum teilzuhaben. Zum Besuch eines Theaters gehört mehr, als den Eintritt aufzubringen: Man muss den Wissensraum, der hinter der symbolischen Praxis der Theateraufführung steht, ebenfalls betreten können, um zu verstehen, was dort geschieht (in Anlehnung an Schroer 2009: 98, allerdings spricht Schroer im Sinne Bourdieus von kulturellem Kapital). Damit kann festgehalten werden, dass letztlich der Wissensraum als mentale Größe ebenfalls dazu beiträgt, die Einheit einer sozialen Gruppe zu schaffen, nicht (nur) die materiellen Verhältnisse, wie Marx postuliert hatte. Der Wissensraum, nicht so sehr das wie auch immer geartete Kapital, wird so zur zentralen Analysekategorie für Distinktionsprozesse, die die verschiedenen Geistes- und Gesellschaftswissenschaften nutzen können, um ihren Blick auf soziale Prozesse zu intensivieren (ähnliche Überlegungen auch bei Bachmann-Medick 2006: 292, 303f).
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3. D IE F ABRIK E NDE
DES 19. J AHRHUNDERTS ALS BÜRGERLICHER T OURISMUSRAUM
3.1 Das Bürgertum und das Bedürfnis nach Distinktion Die Analysekategorie des Wissensraumes zur Verdeutlichung sozialer Prozesse zu nutzen, kann sich im Sinne einer umfassenden Kulturgeschichte beispielsweise mit Blick auf die Distinktionsbemühungen der Gesellschaftsgruppe des Bürgertums im 19. Jahrhundert als fruchtbar erweisen. Aufgrund verschiedener Gründe, die im Folgenden kurz erläutert werden sollen, hatte das Bürgertum am Ende des Jahrhunderts ein besonderes Bedürfnis nach Abgrenzung und Selbstdefinition. In der Folge entstanden verschiedene Wissensräume wie beispielsweise der Zoologische Garten, das Kaufhaus und nicht zuletzt die Fabrik als touristische Attraktion. Letztere konnte nur vom Bürgertum als touristischer Raum wahrgenommen werden. Das 19. Jahrhundert wird in der historischen Forschung auch das ›bürgerliche‹ genannt, da sich in der Zeit zwischen der Französischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg diese gesellschaftliche Gruppe besonders in Deutschland neu formierte und etablierte und mit ihren Ideen und Zielen zumindest teilweise das gesellschaftliche und politische Bild Deutschlands gestaltete (einen Überblick über die Ergebnisse der Bürgertumsforschung mit ausführlichen Literaturhinweisen liefert Schäfer 2009). Im letzten Viertel des ›langen‹ 19. Jahrhunderts erschien die Position dieser Gruppe zunehmend diffus, sowohl aus der rückblickenden Perspektive des Historikers als auch in der Einschätzung der Zeitgenossen. Denn auf allen Gebieten – so scheint es dem Forscher und schien es bisweilen den Zeitgenossen – war das Bürgertum entweder in seiner Entwicklung stehengeblieben oder gar auf dem Rückzug. Politisch hatte es durch das Scheitern der Revolution 1848/49 und dann endgültig durch die bismarcksche Reichsgründung ›von oben‹ nie wirklichen Einfluss gewinnen können. Damit ging ein Verlust an gesellschaftlicher Deutungsmacht einher, denn die Leitvorstellung des Liberalismus, nach dem alle Staatsbürger rechtlich und politisch gleichgestellt sein sollten, ließ sich so nicht mehr vollständig umzusetzen. Die weiteren Ansprüche des Liberalismus, dass durch freie Entfaltung der Persönlichkeit, durch Bildung und durch den durch redliche Arbeit erworbenen Besitz jeder ein Teil der bürgerli-
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chen Gesellschaft, ein mündiger Bürger, werden könnte, verloren so an Schlagkraft (Nipperdey 1990: 394). Das galt besonders im Bürgertum selbst, das sich immer mehr abzugrenzen begann. Allein wirtschaftlich konnte sich das Bürgertum noch behaupten. Da es aber schon immer als Gesellschaftsgruppe sehr heterogen gewesen war (Kocka 1987: 42), gelang das nur einem Teil der Mitglieder, und zwar erfolgreichen Wirtschaftsbürgern und Bildungsbürgern in gehobenen Positionen. Der Großteil derjenigen, die sich vom eigenen Anspruch her zum Bürgertum zählten, die Angestellten, die Beamten im mittleren Dienst oder die Selbstständigen mit nur wenigen Mitarbeitern, waren von ihrer wirtschaftlichen Situation her bisweilen kaum mehr besser gestellt als beispielsweise die Facharbeiter großer Fabriken, von denen sie sich aber vehement distanzierten (Nipperdey 1990: 375-378). Anspruch und Wirklichkeit gingen besonders bei ihnen weit auseinander. Zu dem Verlust an politischem Einfluss, gesellschaftlicher Deutungsmacht und teilweise wirtschaftlicher Prosperität kam das – zumindest von den Zeitgenossen teilweise so empfundene – Wiedererstarken des Adels nach der Reichsgründung auf der einen und die Bedrohung durch die immer weiter anwachsende Masse der Arbeiter auf der anderen Seite (Wehler 1987: 255). In dieser als krisenhaft empfundenen Lage musste sich ein Großteil des Bürgertums verstärkt seiner Identität vergewissern, was besonders durch die Distinktion von den oben genannten Gruppen gelingen sollte (Wehler 1987: 273). Wissensräume, modifizierte traditionelle und neu geschaffene, sollten zu Distinktionsräumen umgestaltet und zur Selbstvergewisserung umgenutzt werden. 3.2 Bürgerliche Wissensräume Bürgerliche Wissensräume existierten freilich schon vor der besonderen Situation im letzen Drittel des 19. Jahrhunderts. Im Grunde schufen die Zusammentreffen der verschiedenen bürgerlichen Vereine und Gesellschaften, deren Gründung schwerpunktmäßig schon vor der Jahrhundertmitte lag, ebenso wie die privaten Salons und Musikabende oder der zuvor schon angeführte Theaterbesuch nichts anderes als Wissensräume. Im Gegensatz zu reinen Wissensräumen waren sie allerdings nicht nur relative, mentale Räume, sondern an geographische Räume gebunden. Noch bevor das Wissen als limitierender Faktor überhaupt eine Rolle spielte, war der physische Zugang einem Großteil
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der Bevölkerung aufgrund fehlenden ökonomischen und kulturellen Kapitals bereits verwehrt. Insofern lässt sich an diesen Räumen, die sowohl als absolute als auch relative Räume in Erscheinung traten, die Theorie des Wissensraumes nicht in ihrer ganzen Tragweite ausführen. Anders liegt die Sache dagegen bei Räumen, die nicht als geographische Räume begrenzt waren, sondern nur durch Wissen konstituiert wurden. Herausragende Beispiele hierfür stellten das Kaufhaus und der Zoologische Garten dar, die beide als geographische Räume für nahezu jeden zugänglich waren, sich aber in ihrer eigentlichen Bedeutung erst durch das entsprechende Wissen erschlossen. Während bereits um die Jahrhundertwende Museen, zoologische und botanische Gärten in Europa als Lehreinrichtungen des Bürgertums weit verbreitet gewesen waren, so wandelte sich ihr Charakter bis zum Ende des Jahrhunderts zunehmend zu jenem speziell inszenierter künstlicher Paradiese (Wessely 2008a: 12), wozu dann noch Einkaufspassagen und Warenhäuser und später Dioramen und Kinos – und als temporäre Einrichtungen die Weltausstellungen – zählten. Sie zu besuchen, entwickelte sich zu einem Abenteuer für nahezu jede Gesellschaftsgruppe, obwohl es ursächlich das Bürgertum gewesen war, das den Zoo als Möglichkeit, seine sozialen, politischen und kulturellen Ideale vor einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren, geschaffen hatte, und für das das Kaufhaus als Konsumeinrichtung und in gewisser Weise als Freizeitvergnügen dienen sollte. Beide, Kaufhaus und Zoo, erschienen damit Statussymbole eines selbstbewussten städtischen Bürgertums (Wessely 2008a: 10f). In diesem Sinne begriff die historische Forschung den Zoo seit Mitte der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts zunehmend. Man stellte Fragen nach den Inszenierungen des Verhältnisses von Menschen und Tieren im Zoo, nach verschiedenen Konzepten von Natur, Exotik und Fremdheit. Konkret stand dabei im Fokus, wie Menschen im Zoo handelten, was sie sahen und wie sie es sahen (Wessely 2008a: 13-15). Das Kaufhaus wurde seinerseits auf den Aussagewert für die bürgerliche Kultur vor dem Ersten Weltkrieg hin untersucht (Miller 1981: 179). Dahinter stand jeweils die These, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem historischen Phänomen einen Blick auf die Motive der Nutzer erlaube. Da der Zoo oder das Kaufhaus als geographische Räume erst einmal nur geringe Eintrittsbarrieren aufstellten – die meisten Zoos erhoben zumindest zu bestimmten Zeiten nur niedrige Eintrittspreise, der Besuch von Kaufhäusern oder zumindest der Bummel entlang der
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Schaufenster stand jedem offen, ein moralischer Kaufzwang herrschte hier entgegen der Situation in traditionellen Geschäften nicht (Wessely 2008a: 37-43 und Wolter 2005: 26) – stellt sich die Frage, wie sich das Bürgertum innerhalb oder jenseits dieser geographischen Räume von den anderen Gesellschaftsgruppen abgrenzte, wie es einen eigenen Wissensraum Zoo oder Kaufhaus erschuf. Dabei lässt sich erkennen, dass die Art des Schauens, des Betrachtens, auch des Reduzierens und Pauschalisierens eine bedeutende Rolle spielte, eine Art des Schauens, die Ausdruck bürgerlichen Wissens war, Teil eines distinguierten Lebensstils. Kein anderer Sinn ist im 19. Jahrhundert einer so radikalen Veränderung unterworfen wie das Sehen (Jütte 2000: 202). Der Drang zu betrachten, zu schauen, das Bewerten und Einordnen, die Fähigkeit zur Inszenierung von Blicken, das gehörte zum vortheoretischen Wissen, das die Mitglieder des Bürgertums mit ihrer Vergesellschaftung aufnahmen: Er stellte spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen festen Bestandteil der bürgerlichen Kultur von Ordnung und Bildung dar. Die Flut der Reisebeschreibungen, die bis ins Detail den ›richtigen‹ Blick vorgebenden Reiseführer, die wissenschaftliche Kategorisierung von Pflanzen und Tieren und ebenso die Blickinszenierung und die Herstellung von Schauobjekten im Zoo und im Kaufhaus legen davon Zeugnis ab (allg. Brandes 1995 und Plessen 1993). Das Sehen entwickelte sich zum wichtigsten Mittel der Welterfahrung (Wolter 2005: 27). Aber Sehen hieß nicht gleich Sehen. Denn während ›die Masse‹ von reiner »Schaulust«, also Sensationsgier, getrieben wurde, ging es dem Bürgertum um den »Schauwert« (Balme 2007: 6576): Unterhaltung und Belehrung sollten hier Hand in Hand gehen, der Wert eines Gutes sollte sich durch die angemessene Art der Betrachtung, durch Einordnen und Kategorisieren, erschließen. Der ideale bürgerliche Besucher hatte ein scheinbar distanziertes Verhältnis zu den Gegenständen seiner Betrachtung, folgte festen Regeln des Sehens und der Wissensaufnahme; dagegen war das Verhältnis der Masse von unmittelbarer Körperlichkeit geprägt, was massive Kritik hervorrief (Wessely 2008a: 38). Im Kaufhaus standen demnach nicht mehr nur die Waren im Vordergrund, sondern der spezielle Blick auf sie, der bestimmte Assoziationen hervorrief. Die Warenwelt mit ihren endlosen Auslagen entwickelte sich zur Inszenierung (Reinhardt 1993: 269), die noch durch die Architektur von lichtdurchfluteten Glashallen mit Balkonen oder Auf-
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gängen über mehrere Stockwerke unterstützt wurde (Wolter 2005: 27). Abbildungsreiche Broschüren und Kataloge, die die Kaufhäuser herausgaben, verbreiteten diese Bilder der Warenwelt als Reflex des bürgerlichen Selbstbildes (Miller 1981: 173f). Mit dieser Welt der inszenierten Waren wirklich etwas anfangen konnte jedoch nur derjenige, der den entsprechenden Blick beherrschte, der über die reine Schaulust hinaus den Schauwert erkannte. Auf dieselbe Weise wurde auch der Wissensraum Zoo konstruiert. Die Analogien in der Inszenierung des Blickes zeigen sich beispielsweise, wenn man, wie es Christina Wessely getan hat, die Grundrisse von Kaufhäusern und Tierhäusern vergleicht und erkennt, dass die Käfige eine der Warenauslage vergleichbare Ordnung besaßen (Wessely 2008a: 105f). Das Spiel mit Licht und Schatten, mit passenden Hintergrundfarben und entsprechenden Requisiten wie beispielsweise Grünpflanzen unterstützte diesen Effekt, wodurch der Objektcharakter der Tiere deutlich zutage trat. Das Tier wurde als Schauobjekt verfügbar für den Betrachter. Dabei wurde das ›richtige‹ Betrachten, das vortheoretische Wissen um den Schauwert des Tieres der eigentliche Akt, den das Bürgertum im Zoo unternahm und durch das es einen eigenen Wissensraum konstruierte. Dass die Natürlichkeit dabei erschaffen, indem die Natur übertroffen wurde (Rothfels 2002: 201), dass sich die Natur nach dem richten sollte, was das Bürgertum als natürlich ansah (Wessely 2008b: 164f), zeigte sich als eine gravierende Folge.2 Indem das Bürgertum die ›richtige‹ Art des Schauens praktizierte, indem es den Schauwert erkannte und nicht der reinen Schaulust der Masse erlag, schuf es im öffentlichen, unbeschränkten geographischen Raum des Zoos einen Wissensraum Zoo, zu dem die Massen, die in den Zoo strömten, keinen Zugang hatten. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Christina Wessely, wenn sie den Zoo als ein Konstrukt von Wahrnehmungsmodi bezeichnet, der durch Blicke und durch Techniken der Bewegung entstehe (Wessely 2008a: 76). Trotz fehlen-
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Eine Steigerung hiervon stellten die Völkerschauen dar, die seit dem späten 19. Jahrhundert ebenfalls im Zoo stattfanden. Die Dörfer der »Wilden« aus Afrika oder Asien, in denen die Menschen scheinbar natürlich ihren Alltagstätigkeiten nachgingen, waren eine noch stärkere Inszenierung von Natürlichkeit, indem sie die zur Schau gestellten Menschen in einen für den Betrachter verständlichen und von ihm erwarteten Zusammenhang stellten (Wolter 2005: 35-95 und Dreesbach 2005: 49-152).
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der absoluter Barrieren konnte der mentale Raum des bürgerlichen Zoos damit nur von Wenigen betreten werden. Die Konstruktion des Wissensraumes Zoo wurde damit ein Mittel zur Distinktion von allen Gesellschaftsgruppen, die zu diesem Raum aufgrund fehlenden Wissens keinen Zugang hatten. Der richtige Blick war gleichfalls beim Tourismus unverzichtbar. »Als sehr konkrete Wahrnehmungs-Anleitung« (Pagenstecher 2003: 205) empfahlen Reiseführer den Reisenden vorgegebene Blickwinkel und Interpretationsweisen, die einerseits auf dem bestehenden Wissen um das richtige Schauen des Bürgertums aufbauten, es andererseits aber zugleich weiter ausbildeten. Entsprechend dem bürgerlichen Wissensstreben – und analog zu der Besichtigung der Waren im Kaufhaus und der Tiere im Zoo – hakte man kanonisierte Sehenswürdigkeiten ab, hielt die Besichtigung in Tagebüchern fest und fügte die Objekte in ein bestehendes Ordnungssystem ein (Pagenstecher 2003: 34). Es ist damit der Blick, der touristische Sehenswürdigkeiten erschafft, der den Objekten einen Schauwert über ihre eigentliche Bedeutung hinaus zuweist (Pagenstecher 2006: 169). Damit wandelte sich der touristische Raum zu einem Wissensraum, der Tourismus zum Ausdruck einer spezifischen Mentalität. Was der Tourist sah, lag an seiner inneren Befindlichkeit, nicht so sehr an den äußeren Eindrücken. Erst das Wissen um den richtigen Blick gab den Sehenswürdigkeiten Bedeutung (ähnliche Überlegungen bei Spode 1999: 113-137). Der performative Akt besaß bei der Betrachtung touristischer Sehenswürdigkeiten noch größere Bedeutung als im Zoo, da hier der geographische Raum immer mehr in den Hintergrund trat. Nicht die Tatsache, wo man sich als Tourist aufhielt, war relevant, sondern dass man sich als Tourist verhielt. Damit gestaltete es sich aber auch immer aufwändiger, den Schauwert der jeweiligen touristischen Objekte herzustellen, dass in seinem alltäglichen Zusammenhang nicht unbedingt Schauwert besaß (Edensor 2000: 341). Die Tatsache, dass man sich beispielsweise in den Alpen befand, wurde nur für denjenigen zu einem touristischen Erlebnis, der einen entsprechenden Wissensraum Alpen konstruieren konnte. Dieses Verhalten wird von der Tourismusforschung immer stärker als symbolischer Kampf um soziale Überlegenheit interpretiert, der Tourismus als »Schlachtfeld sozialer Distinktion« (Hennig 1997: 17f) beschrieben und auch direkt auf die Bourdieusche Theorie bezogen.
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Folgt man Bourdieus Feststellung, dass die Distinktion umso stärker sei, je aufwändiger es wird, alltägliche Objekte zu ästhetisieren und so ihrer eigentlichen Bedeutung zu entheben (Bourdieu 1982: 25), so ist davon auszugehen, dass die Distinktion umso größer ist, je stärker der geographische Raum in den Hintergrund tritt, je bedeutender der performative Akt zur Erschaffung des Schauwertes und je wichtiger der damit konstruierte mentale Raum wird. Diese Feststellung trifft in besonderem Maße auf die Fabrik als touristische Attraktion zu. 3.3 Der Fabrikraum als Tourismusraum Bis auf wenige erste Ausnahmen (Fleiß 2010, Marsh 2008) ist die Fabrik als touristische Attraktion von der historischen Forschung noch nicht untersucht worden. Daher ist es hier von besonderem Interesse, die Theorie der Distinktion durch die Konstruktion eines mentalen Wissensraums Fabrik zu überprüfen. Gleichzeitig eignet sich die Untersuchung der Fabrik, verstanden als Sehenswürdigkeit, insofern besonders, da zwar ein geographischer Raum Fabrik (im Sinne einer Produktionsstätte) besteht, dieser aber nicht identisch ist mit dem mentalen Wissensraum Fabrik (im Sinne einer touristischen Attraktion). Während der geographische Ort Zoo und der Wissensraum Zoo zumindest teilweise zusammenfielen, existierte der Wissensraum Fabrik nahezu völlig losgelöst vom geographischen Raum Fabrik, da in ihm die Arbeiter im Bourdieuschen Sinne ästhetisiert wurden, die Arbeiter in einem performativen Akt Schauwert erhielten. Welche Rolle spielte das Schauen denn nun in der Fabrik? Wie ging die Inszenierung von Blicken vonstatten? Was wurde letztlich gesehen und wie wurden Arbeit und Arbeiter ästhetisiert? Welche Rolle das Schauen spielte, wird beispielsweise bei der ständigen Ausstellung der Berliner Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft – kurz AEG – deutlich, die seit Ende des 19. Jahrhunderts ihre Produkte der Öffentlichkeit in besonderer Inszenierung in einem eigenen Schauraum präsentierte. Vordergründig sollten damit, so berichtete die seit 1898 erscheinende AEG-Kundenzeitung, die weiten Wege zwischen den einzelnen Produktionsstandorten wegfallen, wollte man sich über die Produkte der Firma informieren (Wanderung durch die ständige Ausstellung der AEG, AEG-Zeitung No. 6, Dezember 1913, S. 7, Deutsches Technikmuseum Berlin). Dahinter stand freilich die Bemühung der AEG, überhaupt erst beim Verbraucher Bedürfnisse für
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ihre neuen Produkte zu schaffen (Kunczik 2009: 203). Dazu nutzte man allerdings Techniken der Ausstellung, die nicht nur stark an die der Weltausstellungen erinnerten, sondern auch an die Präsentation der Waren im Kaufhaus oder der Tiere im Zoo. Bei dem Versuch, die Produkte der Firma bekannt zu machen und das Image der Firma zu fördern, nahm die AEG also Bezug auf das Wissen der Besucher um den richtigen Blick, um die Fähigkeit, sogar den Wunsch, Dinge einzuordnen, das neue Wissen um die Dinge in den bestehenden Wissensvorrat zu integrieren, den Schauwert zu erkennen. Schon die bauliche Konstruktion mit dem langgestreckten Hauptraum und den davon abgehenden Ausstellungsnischen erinnerte an das Kauf- oder das Tierhaus (Wanderung durch die ständige Ausstellung der AEG, AEG-Zeitung No. 6, Dezember 1913, S. 8, Deutsches Technikmuseum Berlin). Mit der Ausstellung bot die AEG den Besucherinnen und Besuchern die Möglichkeit, einen Wissensraum zu konstruieren. Das wird umso deutlicher, wenn man bedenkt, dass nicht alle ausgestellten Produkte für den privaten Gebrauch bestimmt waren und ihre Funktionsweise sich nicht auf den ersten Blick erschloss, so beispielsweise die der »Einrichtungen zum Ein- und Ausschalten des elektrischen Stromes«. Gleichförmig standen, wie eine Abbildung aus der Ausstellung in der Kundenzeitschrift zeigte, die Apparate, die sich teilweise nur in kleinen Details unterschieden, nebeneinander. Eindruck schufen sie auf den ersten Blick nicht durch spektakuläre Funktionsweisen, sondern durch die genaue Ordnung, in der sie sich befanden (vgl. Abb. 1). Erst durch die Beschreibung dieser Produkte – beispielhaft hier die Beschreibung in der Kundenzeitung – erhielten die Produkte tiefere Bedeutung: »Die AEG hat diese Apparate den mannigfachsten Anwendungsgebieten entsprechend ausgebildet. Bei ihrer Konstruktion ist besonders Wert darauf gelegt, den beim Unterbrechen (Abschalten) des elektrischen Stromes auftretenden Lichtbogen zu beschränken, damit der Bedienende und die Schaltanlage nicht gefährdet wird. Je nach der Art des abzuschaltenden Stromes dienen hierfür verschiedene sinnreiche Einrichtungen wie z.B. das schnelle Abreißen der Kontaktmesser, das Ausblasen des Lichtbogens mittels eines magnetischen Gebläses usw. usw.« (Wanderung AEG 1913: 8)
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Abbildung 1: Eisengekapselte Schaltapparate
Quelle: Wanderung durch die ständige Ausstellung der AEG.
Diese doch recht komplex anmutende Erklärung richtete sich nur an diejenigen, die die Bereitschaft zeigten, sich auf den Fachjargon einzulassen, um den Schauwert der Dinge zu erkennen. Wer dagegen von reiner Schaulust geleitet war, empfand diese Erklärung nicht als Erhellung des Sachverhalts, sondern als Abschreckung. Weder die abgegebenen Erklärung noch die unkommentierte Anordnung von elektrischen Apparaten scheinbar mehr nach optisch-ästhetischen als nach instruktiven Vorgaben konnte demnach das Sensationsbedürfnis der Massen befriedigen. Der Besuch des Schauraumes der AEG beinhaltete damit die Konstruktion eines Wissensraumes, der die Masse ausschloss. Mit einer solchen Produktpräsentation kam der Konzern den Bedürfnissen des Bürgertums entgegen, das in Wechselwirkung die Produkte des Konzerns mit einem positiven Bild versah. Es ist zwar nicht klar, ob der Zugang zum geographischen Raum der Ausstellung generell auf das Bürgertum beschränkt war, der Blick in das Besucherbuch lässt aber oft den Schluss zu, dass es sich nur um jenes gehandelt hat. Während die AEG nur fertige Waren ausstellte, bestand in anderen Fabriken in Deutschland auf Anfrage auch die Möglichkeit, die Produktionsstätten zu besichtigen. Herausragendes Beispiel war die Firma Krupp, deren Besucherbücher seit den 1890er Jahren einen stetigen Anstieg an Besuchern verzeichneten (Historisches Archiv Krupp, WA4). Waren es erst vorwiegend Einzelpersonen, die sich in persönlichen Schreiben eine Führung durch die Anlagen erbaten, steigerte sich
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der Besuch dann besonders durch Gruppenführungen, wie die Akten des Unternehmens belegen. Studierende, Schülergruppen, Lehrer, naturwissenschaftlich interessierte Vereine, Berufsgruppenvereinigungen jeder Fachrichtung oder staatliche Beamte nahmen die Gelegenheit wahr, wenn sie aus anderen Gründen in Essen weilten, oder reisten eigens aus ganz Deutschland an (Historisches Archiv Krupp, W48). Während anfangs handschriftliche Protokolle den Ablauf der Führungen für die Akten dokumentierten, ersetzte man sie um die Jahrhundertwende durch Formblätter, die alle Stationen des Werksgeländes in einer bestimmten Reihenfolge aufführten und auf denen dann verzeichnet wurde, auf wessen Bitte die Führung veranlasst, was besichtigt worden war, wer die Führung vorgenommen hatte und welche Präsente die Teilnehmer überreicht bekommen hatten. Je nach speziellem Interesse standen entweder die Teile des Werkes auf dem Plan, in denen Rohstoffe wie Eisen und Stahl hergestellt wurden oder die Teile, in denen bereits die fertigen Produkte Gestalt annahmen. Oft war es eine Mischung aus beiden Teilen, die besonders den absoluten Laien auf dem Gebiet der Stahlherstellung und -verarbeitung einen Einblick in die Arbeit der Firma Krupp vermittelten. Dabei ist auffällig, dass bestimmte Punkte auf fast jeder Führung angesteuert wurden. Hier lässt sich die Überlegung anstellen, dass Gründe dafür entweder im Unternehmen lagen, also beispielsweise eine Führung die Arbeitsabläufe in diesen Teilen weniger beeinträchtigte, dass es aber auch möglich sein könnte, dass hier besonders großer Eindruck erzeugt werden konnte, sich hier für die Besucher der beste Blick bot. Weitere Einblicke waren im Rahmen einer Führung bei Krupp darüber hinaus in den Alltag der Arbeiter möglich. Auf dem Besichtigungsprogramm konnten die verschiedenen Arbeiterkolonien des Unternehmens sowie verschiedene ›Wohlfahrtseinrichtungen‹ wie die Bücherhalle oder die Bäckerei stehen. Für Frauen waren das die einzigen Teile des Unternehmens, die sie besichtigen konnten, da Frauen in den Betrieben nicht erlaubt waren. Natürlich dienten diese Führungen aus Sicht des Unternehmens dazu, durch die Präsentation sozialen Engagements das Ansehen der Firma zu steigern, sie gaben den Besuchern aber zusätzlich die Möglichkeit, ähnlich wie bei Völkerschauen, aus sicherem Abstand die Arbeiterfamilien in ihrer ›natürlichen Umgebung‹ zu beobachten. Als Erinnerung an diesen Blick dienten die Materialien, die die Teilnehmer im Anschluss an die Führung als Präsent bekamen, zu-
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meist eine Mappe mit Postkarten (Historisches Archiv Krupp, S6), eine Broschüre mit statistischen Angaben und einer größeren Anzahl von Bildern (Historisches Archiv Krupp, S2/FR3-1-1902 und S2/FR31-1905), und bisweilen eine größere Werbeschrift, die die Stationen der Führung essayistisch beschrieb (Friedrich C.G. Müller: Krupp’s Gussstahlfabrik, Düsseldorf 1896). Die Eindrücke der Führung sollten damit verfestigt werden, und so wurden gleichfalls die Blicke verfestigt. Das Bild beispielsweise der Satzachsendreherei (vgl. Abbildung 2, Historisches Archiv Krupp, S2/FR3-1-1902), das mit seiner symmetrischen Gestaltung den Blick des Betrachters geradezu in die Tiefe des Raumes zog, hatte das Potential, sich im Gedächtnis festzusetzen. Abbildung 2: Satzachsendreherei
Quelle: Friedrich Krupp: Statistische Angaben 1902
Dort hatte dann – wünschenswert aus Sicht des Unternehmens – die Erinnerung an die herausragenden Produkte der Firma Krupp einen festen Platz, aber mit ihr auch das Wissen um den Schauwert der Produkte. Ob es nun um Eisenbahnachsen oder verschiedene Sorten von Kanonen (vgl. Abbildung 3, Historisches Archiv Krupp, S2/FR3-11902) ging, nach einer Führung durch die Kruppschen Anlagen sah sich der bürgerliche Besucher in der vermeintlichen Lage, ihren technischen Wert zu bestimmen, den Herstellungsprozess in Grundzügen
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nachzuvollziehen und die Abläufe in diesem Wert ins Verhältnis zu seiner bisherigen Erkenntnis über technische Prozesse zu setzen. Abbildung 3: Kanonen-Werkstatt V
Quelle: Friedich Krupp: Statistische Angaben 1902
Ob er tatsächlich die Produktionsvorgänge durchschaut hatte, spielte dabei nicht so sehr eine Rolle wie die Handlung des ›Verstehens‹ selbst, das, so suggeriert ebenso die Werbeschrift, die den Gang durch die Fabrik schilderte, einige Anstrengung und Disziplin erforderte und – so sehr man sich die Erfahrung auch gewünscht hatte – doch kein leicht konsumierbares Vergnügen darstellte: »Nachdem wir durch eigene Anschauung und auf Grundlage der uns zur Verfügung gestellten Werkstatistik über die äußeren Verhältnisse der Kruppschen Fabrik, über ihre Producte und ihren Bedarf an Rohstoffen orientirt sind, ist es nunmehr unser sehnlicher Wunsch, ihre Thore zu durchschreiten und uns drinnen mit Muße umzusehen. Daß ein solcher Umgang in Wirklichkeit eine Woche Zeit und unsere ganze körperliche und geistige Kraft in Anspruch nehmen wird, wenn wir einigermaßen sehen und auch verstehen wollen, was in den verschiedenen Hütten und Werkstätten vor sich geht, darauf sind wir wohl schon gefaßt.« (Müller 1896: 15)
Auch hier wurde damit das Erkennen des Schauwertes zur symbolischen Handlung, die einen Wissensraum konstruierte.
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Dieser Wissensraum hatte unabhängig vom geographischen Ort der Fabrik Bestand, denn ähnlich wie Reisebeschreibungen den Bürger in ein fremdes Land – bzw. den Wissensraum des fremden Landes – zu versetzen vermochten, konnten ebenso Beschreibungen von dem Gang durch die Fabrik den Leser in den Wissensraum Fabrik versetzen. Solche Beschreibungen finden sich nicht nur in von den Fabriken selbst veranlassten Werbeschriften, sondern in großer Zahl ebenso in weit verbreiteten so genannten Familienzeitschriften, von denen die ›Gartenlaube‹ Ende des 19. Jahrhunderts mit einem Leserkreis von geschätzten vier Millionen als die bedeutendste erschien. Mehrmals im Jahr berichtete die Zeitschrift von den Abläufen in verschiedenen Fabriken, wobei die Berichte zumeist so gestaltet waren, dass sie nicht nüchtern beschrieben, sondern die Leserschaft mit auf eine Führung nahmen. Dabei konnten jedoch die Leserinnen und Leser ihre Blicke nicht frei wählen. Stattdessen gab der Autor sie nicht nur vor, sondern versah sie gleich noch mit Bedeutung. »… wir erkennen alsbald, daß hier die verschiedensten Arten von Glaswaren hergestellt werden«, gebot ein Reporter 1892 seinen Lesern bei der Beschreibung der Vorgänge in einer Glashütte, und stellte weiter heraus: »Interessant zu beobachten ist die Entstehung der farbigen Wasserkrüge. Wortlos erledigen die emsig arbeitenden Gesellen ihre vielen Handgriffe.« (Arthur Achleikner: Aus Deutschlands Industriewerkstätten. Die Glashütte am Schliersee, in: Die Gartenlaube. Illustrierte Familienblatt 1892, S. 650) Ohne die Vorgaben des Reporters, vielleicht nur mit nüchternen Beschreibungen der Produktionsvorgänge, würde sich das Geschehen der Leserschaft nicht erschließen. So wurde er aber gleich mehrfach belehrt: über die Bedeutung der Vorgänge und über ihren Schauwert. Deutliche Analogien bestehen hier zu bekannten Reiseführern der Zeit, die genau vorgaben, welche Blicke wo vorzufinden und als malerisch oder erhaben zu erachten waren. Sogar die Empfindung beim Schauen wurde vorgegeben, wie ein Beispiel aus dem Jahr 1898 aus einem Bericht über eine Porzellanfabrik zeigt: »Wenn wir eine Porzellanfabrik besuchen, um uns an der Hand eines kundigen Führers in die Herstellung dieses einst so teuer geschätzten, heute so alltäglichen Gebrauchsmaterials einweihen zu lassen, so werden wir zunächst in diejenige Abteilung geführt, in welcher die Zubereitung der Materialien vor sich geht. Wir erstaunen über die Sorgfalt, mit welcher dieselbe vorgenommen wird.« (Luthmer 1898: 746)
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Ein kleiner Kreis von Auserwählten erlebte hier eine Einweihung, nicht nur wie der Produktionsvorgang vonstattenging, sondern auch, welche Bewertung er verdiente. Über die Produkte hinaus wurden dabei ebenfalls die Arbeiter in dieser Betrachtungsweise mit Schauwert versehen. Aus den Kruppschen Werken berichtete die ›Gartenlaube‹ folgendermaßen: »An 400 Arbeiter harren, mit langen Zangen bewaffnet, vor den Öfen auf das Zeichen zum Beginn; flackernde blaue und rotgrüne Flammen, die hie und da durch Spalten der Ofentüren züngeln, beleuchten rußige Gesichter. […] Das Zeichen zum Beginn ertönt. Im gleichen Augenblick öffnen sich 17 Ofenmäuler; blaustrahlende Helle flutet aus ihrem Innern durch den Raum, und emsige Bewegung kommt in die Arbeitermassen.« (von Bassewitz 1909: 296)
Der Grad der Distinktion von dieser in der Gesellschaft des Kaiserreichs von den Bürgern eigentlich als Bedrohung empfundenen ›Masse‹ konnte kaum größer sein: Als Schauobjekte mit gewissen stereotypen Eigenschaften versehen nahmen die Beobachter sie nicht als Individuen wahr, sondern nur noch als Teile eines antropomorphen Schauspiels, dessen Betrachtung den Zweck hatte, sich von eben dieser ›Masse‹ abzusetzen und sich der eigenen bürgerlichen Identität zu vergewissern.
4. F AZIT Der Versuch, eine eigene Identität zu entwickeln, ist eine Grundkonstante in der menschlichen Gesellschaft. Damit verbunden sind unweigerlich Fragen nach der Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe, nach ihrer Geschichte, nach ihren Merkmalen und Eigenschaften und damit verbunden nach der Abgrenzung von anderen Einheiten. Nach der hier vorgestellten Theorie entsteht, festigt und zeigt sich die Gruppenidentität in der Konstruktion eines oder mehrerer Wissensräume, die bestimmt sind von einem gemeinsamen vortheoretischen Wissen, das allen Mitgliedern durch ihre Vergesellschaftung innewohnt bzw. immer wieder unbewusst neu geschaffen wird, und das bestimmte Handlungsanweisungen impliziert. Eine Ausprägung dieses Handelns, das einen speziellen Wissensraum erschuf, bestand beim Bürgertum des 19. Jahrhunderts in einer bestimmten Art zu
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schauen, die über reine Sensationslust hinausging, und geistige Leistungen wie das Verstehen, Einordnen und Bewerten, mit einem Wort persönliche Weiterbildung, umfasste. Dabei kam es nicht so sehr darauf an, ob tatsächlich alles verstanden wurde, sondern vielmehr um die Einstellung selbst. Neben dem Besuch eines Kaufhauses, des Zoos oder bekannter touristischer Sehenswürdigkeiten war es die Besichtigung der Fabrik, auf deren Basis das Bürgertum einen solchen Wissensraum konstruieren konnte. Während im Kaufhaus die fertigen Waren, im Zoo die Tiere oder im Falle der ebenfalls dort abgehaltenen Völkerschauen fremde Ethnien beschaut wurden, waren es in der Fabrik der Produktionsvorgang der Produkte bzw. die Handlungen der Arbeiter. Die Konstruktionsleistung erschien dabei umso größer, je mehr der geographische Raum und der Wissensraum sich als voneinander unabhängig darstellten, womit auch immer größere Barrieren Überwunden werden mussten, um den Wissensraum zu betreten. Während im Zoo die Arbeiterfamilie und die Familie aus dem Bürgertum noch denselben Löwen sahen – selbst wenn sie in ihm vielleicht etwas unterschiedliches sahen –, so war es für den Einheimischen in einem von Touristen besuchen Ort schon nicht mehr ohne weiteres möglich, eine touristische Attraktion, die er eigentlich aus seinen alltäglichen Zusammenhängen kannte, als solche wahrzunehmen. In der Fabrik wurde diese Differenz noch einmal gesteigert, denn nicht nur die Herstellung der Waren, für die Arbeiter alltägliche, lebensnotwendige Verrichtung, wurde zur touristischen Attraktion, sondern der Arbeiter als Teil des Produktionsprozesses teilweise selbst. Indem das Bürgertum den Arbeiter in seinem Alltag zum Schauobjekt machte, verwehrte es ihm den Zutritt zum Wissensraum Fabrik. So grenzte es sich von ihm ab.
L ITERATUR Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg: RowohltTaschenbuch-Verl. Balme, Christopher B. (2007): »Schaulust und Schauwert. Zur Umwertung von Visualität und Fremdheit um 1900«, in: Hans-Peter Bayerdörfer u.a. (Hg.), Bilder des Fremden. Mediale Inszenierung von Alterität im 19. Jahrhundert, Berlin: Lit-Verl., S. 63-78.
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Finanzströme und unendliches Geld Raumzeitliche Metaphern in der Finanzmarkttheorie R AMÓN R EICHERT
D AS B ILD DER DETERRITORIALISIERTEN F INANZSTRÖME In den gegenwärtigen Debatten um den Stellenwert der Finanzmärkte innerhalb der sozialen Morphologie der gesellschaftlichen Struktur werden oft Bilder von einer neuen Macht der Finanzströme heraufbeschworen. Demnach würden die Ströme des globalen Finanzkapitals alle möglichen Bereiche affizieren. Sie würden zwar anfänglich begrenzt auf Aktienmärkten zirkulieren, sich dann aber über die angrenzenden Dienstleistungszentren rasch auf die Nachrichtensysteme ausbreiten und dabei die öffentlichen Diskurse infiltrieren, um sich schließlich im globalen Netzwerk der digitalen Kommunikationsmedien zu verbreiten. Diese »Macht der Ströme« würde, so die weit verbreitete Vorstellung, zu einer sozialen Determination auf höherer Ebene führen und letztlich einen neuen Kapitalismus etablieren. Die hier angesprochenen Bilder von deterritorialisierten Finanzströmen rekurrieren immer auch auf eine bestimmte Metaphorik des »Fließens«, die als ein räumlich und zeitlich gleichmäßiger, ununterbrochener und einheitlicher Prozess vorgestellt wird und heute das Leitbild der Kapitalmarktforschung darstellt (vgl. Tellmann 2007: 242). Diese dominante Vorstellung von anonymen und aggregatähnlichen Praktiken der Finanzmärkte, die sich verselbständigt haben, die niemand mehr aufhalten kann und die keiner mehr durchschauen kann, verstellen mehr oder weniger den Blick auf die Dimension der Media-
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lisierung der Finanzmärkte. Berücksichtigt man den Stellenwert der digitalen Medien im Tagesgeschäft der Finanzmarkttransaktionen, dann wird rasch klar, dass die Finanzströme in diskontinuierliche Praktiken aufgegliedert sind und eine homogene Raumvorstellung des beständigen und kontinuierlichen »Fließens« und »Strömens« unterlaufen: »Die Währungsströme, die um die Welt zirkulieren, werden initiiert, aufgeteilt und mit Energie versehen wenn Händler u.a. Interessenten eine Konversation eröffnen.« (Bruegger/Knorr-Cetina 2005: 153) Es haben sich digitale Märkte herausgebildet, auf denen eine diskret operierende Signalstruktur den Ton angibt: »Es gibt auf Märkten keine ›Ströme‹, das heißt keine sich stetig-kontinuierlich verändernden Phänomene, sondern nur voneinander unterscheidbare, das heißt diskrete Einzelschritte.« (Tanner 2002: 142) Demgegenüber zielen fluss- und prozessorientierte Konzeptionen vornehmlich darauf ab, die raumzeitlichen Bedingungen der gegenseitigen Transaktionen von Gütern und Informationen zwischen den Wirtschaftssubjekten als möglichst durchlässig, das heißt möglichst ohne materielle oder informatorische Medienbrüche bedingte Flussunterbrechungen, darzustellen. Die Metaphern des Fließens und Strömens sind auch Leitbilder und -konzepte für das Logistiksystem der Finanzwirtschaft und sagen daher etwas Zutreffendes über die Zeitverhältnisse der Informations- und Kommunikationstechnologien aus: »Der Strom benennt eine über eine lange Zeit durchgehende Bewegung. Viele einzelne Ereignisse und Veränderungen erzeugen in ihrer Summe die Kontinuität eines Stroms. Was Fernsehen und Radio senden, ändert sich laufend, aber als Strom bleiben die Programme dieselben.« (Heidenreich 2004: 28)
Die Flussmetapher propagiert aber auch das betriebswirtschaftliche Ideal der System- und Totalkostenmentalität, das die meisten Technikdiskurse der Finanzwirtschaft prägt. Denn dort wird gebetsmühlenartig der kostensparende Faktor der Finanzmarkttechnologien beschworen. Dementsprechend entspringt das Bild des Finanzstromes immer auch einer bestimmten Übersetzung, welche die relative Ortsunabhängigkeit der digitalen Praktiken in das Konstrukt eines zusammenhängenden Flusses transformiert. Vor diesem Hintergrund dient die Aktienkurve zur Bändigung der delokalisierten und dezentrierten Transaktionen: sie schafft einen kontinuierlichen Verlauf, einen narrativen Plot, eine visuelle Verschmelzung zerstreuter Aktivitäten zu einer stetigen Bewe-
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gung, die eine übersichtliche Linie formt, die entweder nach oben oder nach unten zeigt. Somit schafft die grafische Repräsentation der Aktienkurve Einheitlichkeit, Beständigkeit und eine harmonische Perspektivierung der Finanzmärkte. Finanzmarktkrisen bedeuten immer auch eine erhöhte Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. In Krisenzeiten steigern sich in Finanzmarktdiskursen die Austragungs- und Aushandlungsprozesse zwischen den Repräsentationsfiguren der Finanzmarktöffentlichkeit und der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Auch das Bild der Börsen ändert sich. Sie verlieren ihr positives Casino-Image der spontanen Bereicherung und gelten schlagartig als unkontrollierbare Bedrohungen für die gesamte Wirtschaft und die soziale Wohlfahrt. Damit einhergehend ändert sich auch das Image vom neoliberalen Subjekt. Die in den 1990er Jahren massiv betriebene Popularisierung der Wertpapiermärkte hat die Gegebenheit eines ›hemmungslosen‹ Wirtschaftssubjekts in den Raum gestellt, das in der Lage sein sollte, sich von kulturellen Traditionen und sozialen Reglementierungen zu entwinden. Es wurde als flexibilisierter Spekulant aufgebaut, der sich standortungebunden zu orientieren hatte und die sich permanent wechselnden Macht- und Kräfteverhältnisse im weltweiten Handel als ›Beteiligungschance‹ wahrnehmen sollte. In diesem Sinne wurden die global agierenden Spekulanten immer auch als Netzwerkarbeiter angesprochen, die durch ihre Aktivitäten unvermeidlich zum Ausbau der sozialen/ökonomischen Transaktionen beitragen sollten: »Immaterielle Arbeit konstituiert unmittelbar kollektive Formen, Netzwerke und Ströme.« (Lazzarato 1998: 61) Immaterielle Arbeit ist eng mit der Struktur des Netzwerks als Produktionsparadigma verbunden und bezieht sich dabei ausdrücklich auf die durch ein Netzwerk zu generierenden Angebote und Produkte. Der Wert der durch immaterielle Arbeit hervorgebrachten Produkte ist damit auf ihren informativ-kulturellen Inhalt begründet. Damit beginnt der Markt, die kreative Aktivität der Teilnehmer aufzusaugen und zwar in enger Verknüpfung mit der Aufforderung, sich selbst permanent einzubringen. Die Computer-Börse im Netz hat eine neue Machttechnik entstehen lassen: den partizipativen Finanzmarkt für Hobby-Spekulanten. Die Digitalisierung der Finanzmarktspekulation tradiert ferner das alte Narrativ von der Universalisierung der Geldwirtschaft, demzufolge die Freiheit des Individuums auf entscheidende Weise durch das Geld gesellschaftlich konstituiert ist. Das Geld ermöglicht den Individuen eine gewisse soziale Mobilität
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und erscheint als ein Medium der Entgrenzung. In seiner Theorie des Geldes zeigt Simmel, dass sich die entgrenzenden Wirkungen des Geldes auf alle Dimensionen des sozialen Alltagslebens beziehen (Simmel 1900/1989: 265). Das Geld ist nicht nur ein Mittel, um die derzeitig am Markt angebotenen Waren und Leistungen zu bezahlen, sondern dient auch als ein Einsatz für etwas, das erst in der Zukunft hergestellt werden könnte. Insofern hat das Geld – neben seiner sachlichen Kaufkraft – immer auch einen imaginären Aspekt. Das Geld ermöglicht also als Investition Optionen für zukünftiges Handeln und erweitert als ein globales Medium auch die räumliche Freiheit des Individuums. Es erschließt neue soziale Reichweiten und macht dadurch seinen Besitzer von lokalen Ressourcen unabhängig (Simmel 1900/1989: 663). Die elektronische Börse hat in vielfacher Hinsicht eine Abstraktionsrhetorik in Gang gebracht, die im wesentlichen auf das Argument hinausläuft, dass Geld noch indifferenter und effektiver zirkulieren kann und sich als vollkommen abstrahiertes Medium des spekulativen Imaginären der sozialen und kulturellen Kodierungen entziehen kann. Diese durch die Digitalisierung der Finanzströme angeheizte Ausprägung der transnationalen und in allen Zeitzonen operierenden Spekulation hat allerdings in der Finanzökonomik eine Gegenbewegung entstehen lassen, die für die soziale, symbolische und kulturelle Einbettung der Finanzmärkte steht. In dieser Hinsicht entwickeln die Akteure am Finanzmarkt Deutungen des Marktgeschehens, »die sich nicht funktional aus der Operationsweise der Märkte ableiten lassen« (Langenohl 2007: 9). In dieser Hinsicht kann ›Markt‹ als eine Chiffre aufgefasst werden, die für gravierende, weltweite Transformationsprozesse in den Beziehungen zwischen Ökonomie, Politik und Kultur einsteht (vgl. Jameson 1991). Die Kulturökonomie von Arjun Appadurais (1990) entwickelt für diesen Forschungsbereich einen perspektivreichen Ansatz. Er konzipiert eine kulturalistische Theorie des Finanzmarktes, die auf der Grundannahme von globalen kulturellen Strömen aufbaut, die er als Überlagerungen von Ethnoscapes, Mediascapes, Technoscapes, Financescapes und Ideoscapes begreift. Diese aufeinander aufbauenden soziokulturellen Ströme versteht er als jeweils nichtterritoriale Netzwerke, die Akteure und Institutionen in imaginären Räumen – sowohl hierarchisch als auch räumlich verteilt (Zentrum/Rand) – miteinander in Beziehung setzen. Die technologische Infrastruktur, die diese Netzwerke maßgeblich konstituiert, definiert den Raum der Informationsund Geldströme. Kommunikationstechnologien, Rechnernetze, Funk-
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systeme, computergestützte Verarbeitung bilden insgesamt die materielle Basis für die strategisch entscheidenden Prozesse der finanziellen Netzwerke. Sie ordnen ein Netzwerk von Interaktionen an und ermöglichen eine räumliche Verbindung zwischen den herrschenden Funktionen. Innerhalb dieser Netze existiert kein Ort aus sich heraus, weil die Positionen und Relationen in erster Linie durch die Austauschprozesse der Ströme im Netzwerk definiert sind. Eine theoretische Schwäche des Ansatzes von Appadurais liegt möglicherweise darin, dass er den kulturökonomischen Raum der Ströme im Modus der Gleichzeitigkeit beschreibt. In seinem Raummodell herrscht also das Prinzip der Echtzeit. Dieses Zeitregime hat schließlich auch massive Auswirkungen auf die sozialen Interaktionen und die betroffenen Akteure selbst. Sicherlich strukturiert das durch die digitalen Kommunikationsmedien angeheizte Echtzeitregime die Entscheidungsmöglichkeiten des börslichen Handelns: es eröffnet einen »flexiblen Zeithorizont, in dem jeder Teilnehmer beinahe jederzeit Transaktionen vollziehen kann« (Grzbeta 2007: 134). Medienspezifische Echtzeittechnologien erzeugen neue Konjunkturen der Flussmetapher, indem sie immer auch Visionen einer lückenlosen Verfügbarkeit von Datenstrukturen produzieren: »Als ›Streaming‹ taucht die Metapher des Stroms ein weiteres Mal auf. Man spricht davon, seit es möglich ist, Video- und Tonsignale, die selbst zeitlich definiert sind, so schnell über Datennetze zu senden, dass sie in Echtzeit gehört oder gesehen werden können.« (Heidenreich 2004: 28f)
Allerdings ist der Begriff der ›Echtzeit‹ nicht unproblematisch, da er die Zeitvorstellung eines Hier und Jetzt suggeriert und in Aussicht stellt, dass wir alle im gleichen Augenblick am Handel teilnehmen können und damit an einem einzigen unendlichen Bewusstsein im Internet angeschlossen sind. Diese kulturalistische Perspektivierung der Finanzmarktzeit darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der kapitalistische Produktionsprozess ein operatives Zeitkonzept etabliert hat, das eine Transformation der Zeit in ein »knappes, unter Effizienzgesichtspunkten zu bewirtschaftendes Gut [hervorgebracht hat], welches dafür verantwortlich ist, dass Zeit als eine lineare, qualitätslose und abstrakte Größe erfahren wird.« (Rosa 2005: 258) Daher darf das von Appadurais theoretische legitimierte Echtzeitregime nicht fraglos wie eine faktische Gegebenheit behandelt werden, welches das Fi-
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nanzmarktgeschehen in seiner Gesamtheit determiniert, da es sich zwischen zwei Börsenzeiten, der subjektiv erlebten und der objektiv gemessenen Zeit, aufspannt. Die Zeit des subjektiven Beobachters ist mit dem kollektiven Erwartungshorizont der Börse verkoppelt, während die objektive Temporalisierung der Börse auf die Zeit als einer quantitativen Mess- und Steuergröße abhebt: »Die Zeit gibt den Geschäften an der Börse nicht nur ein externes Maß, sondern sie wird durch die Ereignishaftigkeit dieser Geschäfte allererst produziert (…)« (Baecker 1999: 304). Mit dieser Aufspaltung der zwei Zeitachsen kann das objektivistische Echtzeitregime in seiner scheinbaren Machtfülle in Frage gestellt werden. Eine in sich geschlossene Zeit des Finanzmarktes kann es in dieser Hinsicht nicht mehr geben. Die Markt-Zeit ist immer auch mit einer narrativen und interpretativen Zeit verknüpft und verweist daher immer auch auf eine Praxis der Messung und auf eine normative Politik der Setzung. Die Zeitlichkeit der Finanzwirtschaft hat einen irreduziblen Bezug zu kulturellen Konventionen und medialen Rahmenbedingungen und »beinhaltet immer schon selbst die Setzung eines Maßes, welches sich selbst nicht aus einer inhärenten Logik einer monetären Ökonomie ergibt und die keinen Grund in einer Rationalität, Natur oder Notwendigkeit besitzt« (Tellmann 2007: 258). Diese unterschiedlichen Zeitebenen des Finanzmarktes bilden keine gemeinsame Einheit; und auch keine sukzessive Folge. Die interpretative Zeit entwickelt sich nicht kontinuierlich, sondern zeigt sich als wiederkehrender Einbruch in die Geschichte der Finanzmarkttransaktionen. Der flow steht nicht für einen kontinuierlichen Strom, sondern für wiederkehrende und singuläre Einbrüche, die den Ereignischarakter des Finanzmarktes betonen. Im Globalisierungsdiskurs der Finanzmärkte wird immer wieder darauf verwiesen, dass es für das reibungslose Funktionieren der Geldund Kreditmärkte quasi-natürlich ›notwendig‹ sei, dass sich die ›Finanzströme‹ gleichsam ›zeitlos‹ (d.h. idealiter ›ungehindert‹ in ›Echtzeit‹) über den Globus bewegen. Der Triumph des deterritorialisierten Geldes räumt den sogenannten ›Modernisierungsverlierern‹ negativ konnotierte Diskurspositionen ein und deklassiert sie als reterritorialisierende Kräfte eines Beschleunigungsregimes, in dem alles und jeder im Fluss sein soll: »We are witnessing the revenge of nomadism over the principle of territoriality and settlement. In the fluid stage of modernity, the settled majority is ruled by the nomadic and exterritorial elite.« (Bauman 2000: 13) Gegenüber einem institutionalisierten Be-
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schleunigungsimperativ sollen die zeitlich und räumlich Fixierten ins Hintertreffen geraten. Währenddessen auch heute noch flexibilisierte Trader zur globalen Elite zählen, gelten orts- und zeitgebundene Praktiken als hemmende Flussbedingungen. Die Vorstellung von frei zirkulierenden Finanzströmen ist also unter allen Umständen nicht frei von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, sondern entspringt vielmehr einer neuen Form von Macht, die eine verflüssigte und entpersonalisierte Form angenommen hat. In Anlehnung an Foucaults Konzept der »Gouvernementalität« (2000: 41-67) nennen Hardt und Negri (2000) den verflüssigten Machttypus auch »governance without government« und machen damit auf den strategischen Zusammenhang von Beschleunigungsbefähigung, Flexibilisierung und Selbsttechnologien aufmerksam. Diese Idee eines sich permanent in Bewegung befindlichen flows charakterisiert Zygmunt Bauman treffend als Diskursfigur der vorherrschenden »liquid modernity« und beschreibt dieses veränderte Raum-Zeit-Regime als neuen sozialen Aggregatzustand: »Fluids, so to speak, neither fix space nor bind time. While solids have clear spatial dimensions but neutralize the impact, and thus downgrade the significance of time (effectively resist its flow or render it irrelevant), fluids do not keep to any shape for long and are constantly ready (and prone) to change it; and so for them it is the flow of time that counts, more than the space they happen to occupy: that space, after all, they fill but ›for a moment‹. In a sense, solids cancel time; for liquids, on the contrary, it is mostly time that matters. […] These are reasons to consider ›fluidity‹ or ›liquidity‹ as fitting metaphors when we wish to grasp the nature of the present, in many ways novel, phase in the history of modernity.« (Bauman 2000: 2)
Die Vorstellung, dass sich Transaktionen von orts- und zeitgebundenen Märkten gelöst haben und sich gleichsam ohne Zeitverluste in alle möglichen Richtungen ausweiten, dominiert nicht nur die Diskurse der Trader, sondern ist mittlerweile dabei, kulturelle Hegemonie zu erlangen. Kapitalinvestitionen und Informationstransfers sind beide gleichermaßen von der Logik der technischen Beschleunigung affiziert. Mit der Globalisierung hat sich die Temporalisierung (Erhöhung der globalen Transaktionsgeschwindigkeit), die Extensität (weltweite Ausdehnung) und der Wirkungsgrad (Steigerung der Transaktionszahlen pro Zeiteinheit) der Finanzmarkttransaktionen maßgeblich und nachhaltig verändert. Diese Reduktion von Transaktionskosten und
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infrastrukturellen Widerständen hat auch weitreichende soziale und kulturelle Folgen, die durchaus eine sich wandelnde Selbstbeziehung der Subjekte zu eröffnen vermag. Diese Vorstellung einer ununterbrochenen Akzelerationsdynamik behauptet auch Manuel Castells in seiner Netzwerkanalyse, wenn er davon ausgeht, das die elektronischen Netzwerke der Börsen einen »space of flows« (»Raum der Ströme«, Castells 2004: 83) erzeugen, der diversifizierte Lokalitäten in einem interaktiven Netzwerk von Aktivitäten und Akteuren miteinander verbindet. Er sieht den »Raum der Ströme« durch ein hierarchisch nicht stabilisiertes Netzwerk gekennzeichnet, dass sich mittels temporärer Verdichtungen und dezentraler Verzweigungen organisiere: »Our societies are constructed around flows: flows of capital, flows of information, flows of technology, flows of organizational interactions, flows of images, sounds and symbols. Flows are not just one element of social organization: they are the expression of the processes dominating our economic, political, and symbolic life.« (Castells 1996: 412) Castells unterteilt den space of flows in eine materielle Ebene der technischen Infrastruktur für globale Kommunikation in annähernder Echtzeit, in eine hierarchische Ebene von Knoten, die nach ihrem Gewicht im Netzwerk organisiert sind und schließlich in eine machttechnologische Ebene der räumlichen Organisation, in der bestimmte Eliten den Raum der Ströme steuern. Die Konzeption des Finanzmarktes als space of flow setzt einen netzwerkförmigen, durch ununterbrochene Bewegung konstituierten Raum der Informations-, Kommunikations-, Geld- und Warenströme voraus. Die Finanzmärkte sind also um Ströme herum konstruiert. In topologischer Hinsicht gelten globale Netzwerke (Informations- und Kommunikationsnetzwerke) als Repräsentanten des Raums der Ströme, der den Raum von Orten (Präsenzbörsen) ersetzt. Auch die Positionen innerhalb der Netzwerke werden durch Ströme definiert. Das heißt aber nicht notwendig, dass der Raum der Ströme gänzlich ortlos organisiert ist. Denn die Börsen als materielle Orte der Finanztransaktionen verschwinden nicht, sondern werden als Bestandteile des Netzwerks absorbiert. Diese Örtlichkeit der Börsen verwandelt sich unter den Bedingungen von Netzwerk und Strömen in Schaltstellen, Verbindungslinien und Knotenpunkte. Die Finanzströme im Netz schaffen also neue Formen von Raum, die neue Ordnungen sozialer Organisation hervorbringen. Andererseits muss eingeräumt werden, dass dieser hier angesprochene Raum kein neutraler Behälter ist, sondern immer
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schon aus kulturellen und symbolischen Kodierungen hervorgeht, die Aushandlungsprozessen und Bedeutungsproduktionen grundsätzlich offen gegenüberstehen. Fasst man folglich den Markt – nicht nur den Finanzmarkt – als eine Sphäre auf, die selbst historischen, kulturellen und sozialen Veränderungen unterworfen ist und Wissens-, Machtund Medienpraktiken miteinbezieht, dann erscheinen Marktdynamiken und Markthandeln auch als bedingt durch epistemologische, mediengeschichtliche und kulturtechnische Dimensionen.
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Seit dem 17. Jahrhundert erschloss man zur Sichtbarmachung unsichtbarer Finanzmarkttransaktionen mit Hilfe von Wissensapparaten und Mediendiskursen einen technologieinduzierten Wahrnehmungsraum.1 Dabei ging es vor allem darum, ein intuitives Handlungswissen zu etablieren, das in erster Linie einen Orientierungsraum zu eröffnen hatte. In diesem Zusammenhang erfüllte die Beobachtermetapher des Barometers eine wichtige Funktion: sie beschrieb den Finanzmarkt nicht als deterministisches Zwangsverhältnis von Sachverhalt und Entscheidungswissen, sondern etablierte – mit dem Verweis auf eine irreduzible Komplexität empirisch schwer nachvollziehbarer Dynamiken – im Finanzmarktwissen einen deutungsoffenen Horizont. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Messgeräte wie das Barometer (stock barometer) und der Kompass (stock compass) in wachsendem Maße zu populären Medien der Außendarstellung von Börsen. Warum aber konnten diese beiden Messgeräte so rasch zur Standardbezeichnung des Börsengeschehens aufsteigen? Einen ersten Hinweis liefert die Materialkultur der Instrumente. Denn das Barometer und der Kompass waren geläufige Instrumente des Alltagslebens. Sie waren den meisten vertraut und wurden auf den ersten Blick verstanden. Die mit dem Börsenbarometer angekündigte Meteorologisierung der Finanzmärkte verstärkte die Vorstellung, dass seinen Beobachtern oft keine (oder nur wenige) feste und sichtbare Anhaltspunkte zur Verfü-
1
Der Begriff »Barometer« wurde 1665-1666 durch den irischen Naturforscher Robert Boyle etabliert. Er leitet sich vom griechischen báros »Schwere, Gewicht« und métron »Maß« ab und steht für die Messung des Gewichtes der Luft.
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gung stehen. Messinstrumente wie etwa das Barometer oder der Hygrometer produzierten eine Serie von Daten, mit denen sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts die entstehende Meteorologie als statistisches Erhebungsprogramm etablierte: die Luftströmungen konnten zwar mit Hilfe der Messgeräte gemessen und dargestellt, aber nicht ergründet werden. So steht die Luft als die Versinnbildlichung des Nicht-Festen für das Bodenlose und Schwankende der unwägbaren Kursentwicklungen; zugleich plausibilisiert sie die Entwicklung des Neuen und steht für die Vorstellung von endlosen Spielräumen der Börsenspekulation. Indem die Barometer-Metapher etwa von Hamilton wörtlich genommen wurde, konnte in diesem Zusammenhang die Börse als eine Art zentrale Messstation wirtschaftlicher Aktivitäten geltend gemacht werden. In den breit gestreuten Mediendiskursen zur Meteorologie der Märkte galt für ihn die Börse als Barometer für die allgemeine ›Wirtschaftslage‹ mit ihren Auswirkungen auf die politische ›Wetterlage‹. Die Vorstellung, die finanzwirtschaftliche Dynamik als meteorologischen Prozess zu modellieren, bewirkte harmonisierende Effekte, da es bei der Vermessung von Wetterphänomenen ja immer auch darum ging, kontinuierliche Größen aufzuzeichnen. Das Bild der stetigen Bewegung meteorologisch-physikalischer Messapparaturen (Barometer, Kompass) sollte den Eindruck vermitteln, dass sich die Finanzmärkte ohne menschliche Einwirkung gleichsam ›selbsttätig‹, ›lineargleichmäßig‹ und ›naturgesetzlich‹ organisieren würden. Ein Messinstrument wie das Barometer hatte aber nicht nur eine metaphorische, sondern auch eine explikative Funktion. Mit dem von Charles J. Bullock (1869-1941) und Warren M. Persons (1878-1937) entwickelten Drei-Kurven-Börsenbarometer wurde 1918 erstmals der Versuch unternommen, die empirischen Untersuchungen zur gesamtwirtschaftlichen Konjunktur in einem Kurvendiagramm abzubilden.2
2
Vgl. zur Geschichte der makroökonomischen Vorhersage im 19. Jahrhundert Betz (2006: 43-52, hier: 43): »The oldest records of economic forecasts date back to the 1830s and consist of directional forecasts of business activities; they have more recently been used to reconstruct business cycles. Since statistical methods like regression and correlation analysis were developed only in the last decades of the 19th century, those early forecasts must have been based on judgment, informal reasoning or simple extrapolation.«
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Die Entwicklung des Börsenbarometers verdankt sich dem gestiegenen Wissensbedarf nach Markt- und Konjunkturtheorie nach dem Ersten Weltkrieg: »In dieser Zeit wurden in vielen Ländern Konjunkturforschungsinstitute gegründet, von denen die meisten heute noch bestehen. […] In den Vereinigten Staaten war schon 1917 von Bullock und Persons das Harvard University Commitee for Economic Research gegründet worden, das das erste wissenschaftlich anerkannte Konjunkturforschungsinstitut der Welt darstellte.« (Schohl 1999: 3) 1919 begannen Bullock und Persons in der Review of Economic Statistics mit der Veröffentlichung des sogenannten Harvard-Barometers, das in regelmäßigen Abständen über die ›Wetterlage‹ an den US-Börsen informieren sollte. Die Grundidee dieses Konjunkturbarometers war, mehrere statistische Reihen von empirischen Daten in einem Diagramm abzubilden, die für den Konjunkturverlauf als besonders aussagekräftig angesehen wurden. Die erhobenen statistischen Reihen wurden in drei Gruppen zusammengefasst und repräsentierten den Effekten-, Waren- und Geldmarkt (drei Teilindexe). Die grafische Repräsentation der Konjunkturdaten überlagerte diese drei Kurven, aus deren Phasendifferenz die Ökonomen eine spezifische Vorhersage ableiteten. Allerdings wurden in die Errechnung des Konjunkturindikators nicht die Entwicklung der Löhne und des Konsums oder Angaben zur Arbeitslosigkeit miteinbezogen. Das gesamte erste Heft der Review of Economic Statistics war dem prognostischen Diskurs umfangreicher Konjunkturanalysen vorbehalten (Persons 1919: 5107). Diese meteorologische Konzeption ökonomischer Prozesse hat bis heute Gültigkeit und prägt den metaphernreichen Prognosediskurs im Finanzmarktjournalismus (vgl. zur kulturellen Semantik der technischen Analyse von Aktienindizes Tanner 2002: 129-180). Seither werden immer wieder Großwetterlagen zur Beschreibung von Finanzmarktaktivitäten geltend gemacht. So herrscht in finanzwirtschaftlichen Prosperitätsphasen ein »Hochdruck«, der sich in einem komplexitätsreduzierenden »Hoch« der Kurse niederschlägt, währenddessen wirtschaftliche Krisenzeiten als »Tiefdruckzone« ausgewiesen werden. Mit der neoliberalen Umgestaltung der Finanzmärkte und der Börsenderegulierung in den 1980er Jahren haben Naturmetaphern erneut Konjunktur. Sie sollen die politische Dimension der Märkte verschleiern und einen verhaltensmoderierenden Wahrnehmungsraum des Ökonomischen herstellen:
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»So bietet zum Beispiel eine amerikanische Firma seit einigen Jahren heat maps an, die Börsennotierungen rund um die Welt auf eine Art ›Wetterkarte‹ übertragen und mit denen es möglich ist, die Großwetterlage auf den erdumspannenden Devisen- und Kapitalmärkten zu visualisieren. Kurs- und Volumenbewegungen, Markt- und Kreditrisiken, Kursstürze und Arbitragemöglichkeiten werden in verschiedenen Farbtönen dargestellt; Topmanager sollen jederzeit wissen, wie es mit dem Barometer steht – und so ein Bericht über dieses Informationsinstrument – ›am Morgen auf einen Blick erkennen können, ob sich über Nacht ein Tiefdruckgebiet aufgebaut hat oder gar ein Sturm aufzieht‹.« (Tanner 2002: 145)
Die Meteorologisierung der Märkte ist Teil einer historisch veränderlichen Rechtfertigungsstrategie, die zur diskursiven Herstellung von Evidenz und Selbstverständlichkeit abgerufen wird. Sie dient zur Naturalisierung des Ökonomischen und koppelt finanzwirtschaftliche Motive an soziale Normalisierungsprozesse wie sie etwa Jürgen Link in seinem Aufsatz »Das ›normalistische Subjekt‹ und seine Kurven. Zur symbolischen Visualisierung orientierender Daten« (Link 2002: 107-128) beschrieben hat. Meteorologische Figuren haben in der medialen Beobachtung von Finanzmärkten also eine spezifische Funktion. Sie stellen öffentlichen Konsens her und sorgen für die Aufrechterhaltung der kulturellen Hegemonie. Die einfache Übertragbarkeit des meteorologischen Wissens auf Prozesse der Finanzmarktspekulation verweist auf die Vorherrschaft der physikalischen Metaphern innerhalb der Ökonomie, die Apparate und Technologien genauso einschließt wie Institutionen, symbolische Formen oder konkrete Darstellungsformen. Jeweils unterschiedliche Medienkonzepte spielen eine geschichtsmächtige Rolle bei der Entstehung der modernen Finanzmärkte. Sie schaffen die medialen Infrastrukturen, die Nachrichtenund Informationssysteme der Finanzmarkttransaktionen und ermöglichen darüber hinaus die Kodierung historischer Prozess- und Ereignishaftigkeit selbst. Technische Bilder wie etwa das Börsenbarometer und alltägliche Visualisierungstechniken wie die Infografiken sind maßgeblich an der Formierung, Strukturierung und Produktion von Finanzmarktwissen beteiligt und können als Armaturen individueller und kollektiver Deutungen sowie als Dispositive des Wissens in ihrer historischen Genese untersucht werden. Diese visuelle Kultur der Börse dauert bis heute an: die Wissensmedien »Kurven« und »Charts« gelten bis heute als sensible »Barome-
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ter« der Wirtschaftslage (vgl. Bartz 2007: 269-282, 2008). In ihrer Eigenschaft als Beobachtungs- und Steuerungsinstrumente produzieren sie neue Sichtbarkeitsordnungen und sensorielles Wissen zur Entscheidungsgrundlage für die Spekulation. In seiner Studie zur »Sprache des Aktienhandels« beschreibt Thomas Schwarz die meteorologische Semantik der Börsenberichterstattung der »Frankfurter Allgemeine Zeitung«: »Die regelmäßig wiederkehrende Metaphorisierung des Dax als ›Börsenbarometer‹ (30.10.1993) weist ihn wie sein Pendant aus der Meteorologie als Instrument zum Fällen von Tendenzaussagen aus. Als sich der Dax Mitte Januar 1997 hart der Grenze von 3.000 Punkten nähert, wird dieser Prozess als ein etwas verfrühter ›Börsenfrühling‹ naturalisiert (17.1.1997). […] Anfang Februar heißt es, die Frankfurter Aktienbörse habe nach ›stürmischem Beginn‹ deutlich ›unter dem Tageshoch‹, aber dennoch ›freundlich geschlossen‹. […] Diese Form der meteorologischen Allusionen lassen den Handel als ›jahreszeitlich‹ bedingt ›natürlich‹ und insofern als relativ normal erscheinen.« (Schwarz 1998: 52)
In der Medienberichterstattung über die Börse finden sich zahlreiche Beispiele für Naturalisierungen, da der Aktienhandel Gegenstand prognostischer Diskurse ist und daher ein Vergleich mit der Wettervorhersage ausreichend motiviert zu sein scheint. Eine auf meteorologischen Protokollsätzen aufbauende Börsensemantik erklärt den Finanzmarkt aus der Natur der Dinge heraus und bestimmt damit die mit ihm verwobenen sozialen, geschichtlichen und technologischen Prozesse als eine Form der Natur. Die gleichermaßen popularisierende und populäre Meteorologie der Börse, die häufig im Finanzmarktjournalismus anzutreffen ist, rückt damit die Diskurse der Geschichte, der Soziologie, der Technologie und nicht zuletzt der Medien in den Hintergrund. Nach Roland Barthes besteht eine maßgebliche Funktion des Mythos darin, an die Stelle der Geschichte der Dinge, eine sich vorgestellte ›Natur‹ zu rücken (Barthes 1964: 19). So werden etwa zyklische Abweichungen »in der Börsenberichterstattung durch einen Rückgriff auf den meteorologischen Diskurs naturalisiert« (Schwarz 1998: 54). In diesem Sinne basiert auch das Konzept der meteorologischen Börse auf einem ontologisch verstandenen Naturbegriff, der die historische, soziale, technische und mediale Organisation des Finanzmarktes zurückweist. Ein derart naturalisierter Finanzmarkt soll alle Probleme,
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die im Kontext der Spekulation entstehen können (z.B. soziale Ungleichheit), der Kritik entziehen und die Krisen der Geld- und Kreditmärkte als ›unverrückbare‹ Naturtatsachen festschreiben. Die Naturalisierung des Aktienhandels muss aber weniger unter dem Aspekt der Popularisierung, sondern vielmehr als ein Effekt von Normalisierungspraktiken gesehen werden. Denn die Denkfigur der Naturalisierung zielt auf die Herstellung gesetzesähnlicher Aussagen, die fraglos gelten sollen und zielt damit in erster Linie auf eine wirkmächtige Evidenz, um kritische Fragen zur menschlichen Einflussnahme zurück zu drängen. Andererseits darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die meteorologische Normalisierung des Aktienhandels keineswegs ›naturnotwendig‹ eine Leitdifferenz von Norm und Abweichung konstituiert, sondern als eine umkämpfte diskursive Praxis immer auch Verschiebungen und Veränderungen ausgesetzt ist. So kann auch der meteorologische Börsendiskurs die Normalitätsgrenzen des Marktes nicht starr unter das Naturgesetz fixieren und bleibt selbst von seiner flexiblen Umdeutung betroffen. Obwohl sich Finanzmärkte als äußerst irreguläre Phänomene präsentieren, die durch Zufallsbildung entstehen und im Grunde nicht als Objekt existieren, gesteht man ihnen einen umfassenden Einfluss auf die soziale, politische und ökonomische Ordnung zu: »Finanzmärkte sind die Maschinen, in denen sich ein Großteil menschlicher Wohlfahrt entscheidet.« (Mandelbrot/Hudson 2007: 347) Mit der Transformation der Finanzmärkte zu rechnergestützten Systemen prägt heute der algorithmische Computerhandel die Dynamik von Aktienmarkt und Wertpapierhandel und hat dazu geführt, dass die gigantischen Datenmengen der Finanzprodukte, Derivate und Transaktionen von ihrer manuellen Lesbarkeit bedroht sind. Auch wenn heute der automatisierte Börsenhandel mehr als die Hälfte der Transaktionen abwickelt: die Finanzmärkte bleiben schwierige Objekte (vgl. Arnoldi 2006: 381-399). Sie präsentieren sich den Marktbeobachtern als instabile zeitliche Objekte, die in ihrer irreversiblen Veränderlichkeit und Singularität nur in der Zeitdauer existieren. Folglich können sie gar keinen Gegenstand repräsentieren, sondern verweisen vielmehr auf ein Werden, das sie zu einem Ereignis an der Schwelle der Wahrnehmbarkeit werden lässt. Sie schaffen permanent Abweichungen und ändern im Übergang auch ihre Messbarkeiten. Damit unterscheiden sie sich von geradlinigen Bewegungen, wie sie den Bewegungen im metrischen Raum zu Grunde liegen. Die Temporalisierungen der Finanz-
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märkte verweisen vielmehr auf das Ungleiche und Inkommensurable von Handlungszusammenhängen, welche die Kategorien der chronologischen Zeit und des vermessenen Raumes sprengen (vgl. zur Theorie des Unmessbaren Rancière 2002: 39). Heute wird der Handel mit Futures und Optionen mehrheitlich über elektronisch betriebene Börsen, den Computerbörsen, abgewickelt. Ihr herausragendes Charakteristikum sind hohe Transaktionsgeschwindigkeiten. Nach der Beendigung des Bretton-Woods-Abkommens und der Freigabe der Wechselkurse im Jahre 1973 sind die Devisenmärkte zu einem weltweiten Markt zusammengewachsen, dessen Teilnehmer über ein globales Datennetz miteinander verbunden sind. Neue Kursnotierungen treffen im Sekundenrhythmus ein und stehen nahezu in Echtzeit den Marktteilnehmern zur Verfügung. Gehandelt wird per Telefon oder per Computer, und so vergeht oft nur sehr kurze Zeit vom Entschluss eines Händlers bis zur Ausführung einer Transaktion. Im computerisierten Futures-Handel (e-trading) liegen die Latenzzeiten (order latency) derzeitig im unteren Bereich von 5 bis 35 Millisekunden. Datentechnisch sind den einzelnen Computerbörsen weltweit eine Vielzahl von Handelsterminals (user devices) über eigene Benutzerschnittstellen angeschlossen, die allesamt nach einheitlichem technischem Standard arbeiten. In Anbetracht der Forschung und Entwicklung im Bereich der computertechnischen Marktorganisationsformen zeichnet sich bereits heute ab, dass sich die einzelnen Börsenhandelsplätze auflösen und sich ein weltumspannender Terminmarkt herausbilden wird, auf welchem internationale Investoren – ungeachtet unterschiedlicher Zeitzonen – in der Lage sein werden, über dezentrale Terminals (access points) standortunabhängig mit Hilfe eines ausschließlich auf Computerbasis arbeitenden Kommunikationssystems, und einem dadurch ermöglichten Marktzugang, ohne Schließzeiten zu jeder Tages- und Nachtzeit Handel zu treiben. Die Verbreitung virtueller Finanznetzwerke verweist darauf, wie unsicher, notorisch schwankend und unzuverlässig das Terrain der Spekulation geworden ist und dass diese Unschärfe mit der ständigen Bewegung zu tun hat, in welcher die Finanzmärkte die Apparate ihrer Kontrolle zu versetzen imstande sind. Aber kann es grundsätzlich und prinzipiell gelingen, einen analytischen Referenzraum zu konstruieren, in dem die unendlich vielen geringen Verschiedenheiten der Kursbewegungen, die kontinuierlichen
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Übergänge und die lückenhaften Kausalketten der Finanzströme in einem System stabiler und diskreter Unterscheidungen restlos aufeinander abbildbar sind? Es zeichnet sich hier eine semiotische Problemlage ab, die die Bezeichnungsrelation auf dezidierte Weise gefährdet und für eine unaufhebbare referentielle Verwirrung sorgt, die sowohl in der Wahrscheinlichkeitsbetrachtung der Finanzstochastik als auch in der populären Metaphorik der Finanzpresse mit dem Begriff der Turbulenz gekennzeichnet wird. Hochgradig volatile Finanzmärkte werden häufig mit einer Semantik reiner Aktivität beschrieben. Dabei versuchen vitalistische Finanzmarktdiskurse, die unkörperlichen Wirkungen der Transferdynamik zu beschreiben und favorisieren dabei infinitive und partizipiale Verbformen, wenn etwa der Finanzmarkt von einem ›Geldstrom‹ oder einer ›Liquiditätswelle‹ erfasst wird. Als ein Aggregat diskursiver, medialer, visueller und technischer Prozeduren bleibt das Marktgeschehen konstitutiv unterbestimmt und muss in erster Linie als ein Prozess verstanden werden, der keinen Ursprung, kein Objekt und kein Ziel kennt. Dementsprechend erweist sich das Finanzmarktwissen als ein aggregatähnliches Wissen, das kein diskursives Zentrum erzeugt und einem empirischen Umherirren gleicht. Da es den Ereignissen auf den Märkten kein Ziel zuordnen kann, bleibt es der Strategie ohne Finalität verhaftet. Diese Blickweise legt eine stochastische Interpretation der Märkte nahe: Akausalität und Regellosigkeit aller Vorgänge an der Börse erscheinen dem meteorologischen Blickregime der Unschärfe als angemessene Beschreibungen des Ganzen. Vitalistische Finanzmarktdiskurse nutzen meteorologische und maritime Metaphern, um das Bild eines in stetigem Wandel befindlichen Flusses zu entwerfen (vgl. Henderson 1982: 147-53, 2000: 167-173). In der deutschen Übersetzung trägt William Hamiltons Buch über die Grundsätze der Dow Theory – bis heute – den Titel »Der ultimative Börsenkompass« und signalisiert damit, dass es den Leser durch die Unwägbarkeiten der Finanzmarktspekulation manövrieren könne. Andererseits basiert sein Wissen der Finanzmärkte auf prognostischen Erwartungen und muss daher einräumen, dass den Marktbeobachtern oft keine (oder nur wenige) feste und sichtbare Anhaltspunkte zur Verfügung stehen. Der häufige Gebrauch von Navigationsmedien und -metaphern verstärkt diese Sichtweise. Die Charakterisierung der Börse mit Metaphern wie Barometer, Kompass, Seismograph, Thermometer und Indikator verweist auf den Umstand, dass Börsen eine öffentli-
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che Plattform für Parallelentwicklungen in anderen gesellschaftlichen Ordnungen darstellen und damit einflussreiche gesellschaftliche Effekte hervorbringen: »Geht es um Bewegungen in außerordentlichen Höhen, dann kommt das hightech Vehikel des Flugzeugs ins Spiel. Sowohl 1993 in der 2000er- als auch 1997 in der 3000er-Hausse ist wiederholt von einem ›Höhenflug‹ der Kurse die Rede, wobei letztere maßgeblich von einem ›Absturz der Mark‹ provoziert worden ist. ›Turbulenzen an den Märkten‹ (F.A.Z., 1.3.1997) verursachen bei den Passagieren Panikschübe und bei den handlungsunfähigen Flugzeugkapitänen Denormalisierungsalarm. 1997, als der Höhenmesser 3000 Punkte anzeigt, werden die ›Aktienkurse‹ durch den festen Dollar ›beflügelt‹(F.A.Z., 18.1.1997).« (Schwarz 1998: 51)
Die Vorstellung einer Kursveränderung in der Zeit veranschaulichen räumliche Bewegungs- oder Navigationsmetaphern, die hauptsächlich mit dem Bild des Kompasses abgerufen werden. In seiner metaphorischen Verwendung suggeriert der Börsenkompass eine zielgerichtete Standort- und Routenbestimmung der Kursentwicklungen auf den Finanzmärkten. Die im Buch häufig aufgerufene Kompass-Metapher adressiert folglich einen Spekulanten, der, ausgerüstet mit den technischen Medien der Moderne, versucht, die unberechenbaren Unsicherheiten des Marktes in den modernen Traum von der Berechen- und Beherrschbarkeit der Welt zu transformieren. In diesem Zusammenhang fungieren Metaphern als ein wichtiger Bestandteil des alltäglichen Sprechens über Finanzmärkte und liefern Hinweise auf ihren konzeptionellen Aufbau. Daraus kann die These abgeleitet werden, dass der metaphorische Sprachgebrauch der Börse auch einen bestimmten Einfluss auf das finanzmarktliche Handeln selbst besitzt. Barometer und Kompass können in dieser Hinsicht als instrumentelle Metaphern und handlungsleitende Bilder angesehen werden, die zumindest einen Aussagewert über das Selbstverständnis der Spekulanten darstellen. Mit diesen Bildern wird jedoch nichts erklärt; sie verdunkeln vielmehr grundlegende Zusammenhänge und erschweren mögliche Antworten auf die Frage, wie die globalen Finanzmärkte zu regulieren wären. Erst vor diesem Hintergrund kann verständlich werden, warum die Metapher der Ströme das Selbstverständnis des Finanzmarktwissens bislang konkurrenzlos geprägt hat. In diesem Zusammenhang haben
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zahlreiche Studien bereits auf die Dynamisierung der Beschreibungssprache in der Finanzpresse hingewiesen und die diskursiven Strategien und Effekte der Eingrenzung und Entgrenzung von Krisen untersucht (vgl. die Krisenanalyse des Finanzmarktdiskurses von Löfgren/ Willim 2005). Dabei geht es den meisten Studien um die Frage, durch welche Argumente, Konzepte und Metaphern die Gefahr einer sich entgrenzenden Kreditkrise im theoretischen framing einer dunklen und verworrenen Empirie der Finanzwelt beschworen und gleichzeitig eingegrenzt wurde und welche Migrationen diese rhetorischen Figuren in der Folgezeit unternahmen, um die unterstellte ›Endlosigkeit‹ der spekulativen Geldvermehrung zu plausibilisieren.
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(Supra-)Nationalstaatliche Grenze, elektronischer Raum und globale Medienkommunikation H EDWIG W AGNER
Dieser Beitrag fokussiert auf die Grenzen Europas, ihre mediale Repräsentation und ihre Herstellung durch Medien. Das besondere Interesse gilt dabei der Rolle der Medien bei der Grenzsicherung. Zuerst werden einige Aspekte der herkömmlichen Grenzsicherung der DDR dargestellt, anschließend die Vision ›Grenze 2000‹ präsentiert. Drittens wird auf FRONTEX, die ›Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen‹ der EU, eingegangen, insbesondere auf ein spezifisches Verfahren bei der EU-Außengrenzsicherung, dem Einsatz von Thermal- und Infrarotkameras. Im Zentrum des Interesses steht der Zusammenhang von Medientechnologie und Territorium, von Europa und elektronischer Grenzziehung. Das Argument der Reformulierung des Raums auf Grundlage medialer Information wird verfolgt, ausgehend von der kartographierten Landvermessung, hin zur mediengeographischen Codierung des Territoriums. Insbesondere der Raum im Sinne des Verhältnisses von Realraum und Medienraum interessiert hierbei. Wenn die territoriale Integrität von Gesellschaft an Schlüssigkeit und die Staatsgrenzen an Wichtigkeit verlieren (Faßler 2008: 17), auf welcher Grundlage erfolgt dann der operative Vollzug des Grenzregimes (Mau 2008) in Zeiten des Geo-Web-Browsings?
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ANALOGE Z EITEN : D IE G RENZSICHERUNG DER DDR Abbildung 1: Hinweisschild: Halt! Hier Grenze
Quelle: Grenze 78; R: Ralph Giordano, 1978
Grenzen sind medial vermittelte Markierungen im unmarkierten Landschaftsraum wie Hinweisschilder und Bodenlinien. Sie werden mittels medialer Techniken aufrecht erhalten, den Raummedien. In Abb. 1 ist eine Territorialisierung von Machttechnik und Raum-Operationalisierung zu sehen. Gemeinhin wird Medien, insbesondere den digitalen Medien und der globalen Medienkommunikation über das Internet sowie den digitalen Datenräumen, zugeschrieben zu enträumlichen. Hier bei den analogen Raummedien dienen Medien, später auch digitale Medien, nicht dazu zu enträumlichen, sondern Raum zu markieren und zu sichern. Mit Blick auf diese spezifische Form medialer Grenzsicherung können ganz allgemein Aussagen zu und Erkenntnisse über das Verhältnis von Medien und Raum gewonnen, kann die Frage nach einem möglichen Regulierungsverfahren des Territorialen durch Medien und in den Medien gestellt und beantwortet werden. Diese Grenzsicherungsmaßnahmen waren – obwohl sie schon tödlich sein konnten und leider auch oft genug waren – noch mechanischer und elektrischer Natur wie die prinzipiell übersteigbaren Barrieren. Sie arbeiteten noch mit der Schlagkraft ballistischer Errungenschaft, die elektrische Signalübertragung hatte noch einen Sender, eine Übertragungsleitung und einen Empfänger, konnte noch an einer Stelle ausgelöst, aber eben auch unterbrochen werden – sie stammen aus dem
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Maschinenparkzeitalter der zweiten industriellen Revolution, wie Gilles Deleuze im Postskriptum über die Kontrollgesellschaften (Deleuze 1993) diese technische Entwicklungsstufe als mentalen Gesellschaftszustand charakterisiert. Abbildung 2: Grenzbefestigungsanlage
Quelle: Leben an der Grenze in Deutschlands Mitte, 1984 (Archivnr.: 3232064, 16mm, Kulturarchiv Hannover)
Zu diesem Zeitpunkt, dem Zeitpunkt der analogen Grenzsicherung, die bezeichnend ist für die ersten beiden Grenzgenerationen der deutschdeutschen Grenze, schien das Denken des Raums vom Territorium auszugehen und ›lediglich‹ medial vermittelt zu werden. In sein Gegenteil verkehrt hat sich dieses Denken des Verhältnisses von Medien und Raum mit den Verfahren der EU-Außengrenzsicherung. Hier ist der medientechnologische Raum Grundlage für die territoriale EUBegrenzung. Die Konstruktion eines Medienraums liegt hier der Grenzkonzeption zugrunde. Interessant bei dieser Verkehrung der basalen Ausgangslage – vom Raum zu den Medien – ist es, einen Blick auf eine Vision zu werfen, die angedacht, geplant, aber nie verwirklicht wurde.
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V IRTUELLE V ISION : G RENZE 2000 Der weitere pionier- und signaltechnische Ausbau der Staatsgrenze der DDR gipfelte in der Planung der modernen Grenze 2000. 1983 brachte der Verteidigungsminister der DDR, Heinz Hoffmann, eine Beschlussvorlage ein, um »die Sperrfähigkeit, Funktionstüchtigkeit und Wirksamkeit der errichteten Grenzanlagen« zu optimieren.1 Ziel der Modernisierung der Grenzanlagen war: den Schusswaffengebrauch zu vermeiden und vor allen Dingen Minen überflüssig zu machen. Mit elektronischen Übersteigsicherungen oder empfindlichen Bodensensoren sollte in erster Linie die Beobachtbarkeit durch den Gegner und die Sichtbarkeit der Grenzverletzungen – so der offizielle Sprachgebrauch der DDR – unmöglich gemacht werden. Mit den neuesten technologischen Barrieremaßnahmen sollte das Erreichen der Grenzlinie zu 100 % verunmöglicht werden. Im März 1989 äußerte der Leiter der Abteilung »Perspektivische Entwicklung von Grenzsicherungsanlagen« seine Grenzvisionen: »Der Grenzübergang muss zunehmend besser mit dem Gesamtbild der wachsenden Attraktivität unserer sozialistischen DDR in Einklang gebracht werden.«2
Die einzelnen Elemente der High-Tech-Grenze 2000 waren: Infrarotschranken, deren Strahlen beim Durchqueren Scheinwerfer einschalten und Alarm auslösen – im Gegensatz zu den Stolperdrähten oder sonstigen Berührungskontaktpunkten – ein ›wireless‹, ein kabelloses Verfahren, das durch in der Luft übertragene Lichtwellen funktioniert, die ein ganzes Feld, einen dreidimensionalen Landschaftsraum zum Strahlenfeld, zum Sichtfeld bzw. zum Feld der Sichtbarmachung machten. Dass die Sichtbarmachung der Gestalt mit einer Feindcharakterisierung zusammenhängt und darin Krieg und Illusionskunst, mithin auch Filmgeschichte ihren gemeinsamen Grund haben, darauf hat der Medientheoretiker Friedrich Kittler hingewiesen.
1
So der Verteidigungsminister der DDR, Heinz Hoffmann, in der Geheimen Kommandosache 27/26/83. Zitiert nach: Schmalz 1996.
2
Aktennotiz des Leiters der Abteilung „Perspektivische Entwicklung von Grenzsicherungsanlagen“ vom 23.03.1989, Bl. 131, Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA), AZN 17791, zit. nach Satjukow 2009.
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»Denn die eigene Frage als Gestalt, wie alle Sichtmedien von der Blendlaterne bis zum Filmprojektor oder Radarstrahl sie hervorrufen, heißt – nach Carl Schmitts grausam-schönen Wort – immer ›Feind‹. Unterschiede, historische, bleiben auf den Grad seiner Ausleuchtbarkeit beschränkt.« (Kittler 2000: 77)
Des Weiteren sollte das ›Funkstrahlsignalgebersystem Vitim‹ zum Einsatz kommen, das bis zu einem Kilometer überwachen konnte, das Postensignalgerät ›Tros‹ »zur schnellen Geländesicherung [...], das seismische Signalgerät ›Gerb‹, auch PS 75 s genannt, dessen in der Erde versenkte Sensoren Erschütterungen im Umkreis von 500 Metern registrierten [...], oder der Vibrationsmeldungsgeber ›Gawot‹, der an Metallgittern im Wasser angebracht wurde; [...]. Der Star im Technikpark sollte ›Gerogin RLD-73‹ sein, eine Mikrowellenschranke, [...]. Auf bis zu 300 Metern konnten bis zu sieben Meter breite ›Sicherungslinien› über das Gelände gelegt werden.« (Schmalz 1996: online)
F REUND -F EIND -V ERHÄLTNISSE DEN M EDIEN
IN DER
DDR
UND
Vibrationsmelder, Funkmessaufklärungsgeräte, elektronische Übersteigsicherungen und empfindliche Bodensensoren waren die wesentlichen Bestandteile. Und natürlich: ein vernetztes Computersystem. Die Historikerin Silke Satjukow kommt zu dem Schluss: »Intelligente Computer würden sorgfältiger denn je zuvor Freunde und Feinde filtern. [...] Dem Weltverständnis der Ost-Berliner Parteipatriarchen zufolge konnte es auch im letzten Jahrzehnt der DDR nur Freund oder Feind geben – tertium non datur.« (Satjukow 2009: online)
Dieses Urteil fällt sie angesichts des abschließenden Vorschlags zur Gestaltung der ›Grenze 2000‹, vorgelegt vom Stellvertreter des Ministers und Chef der Grenztruppen, Baumgarten, vom 23.11.1989, also zwei Wochen nach dem sogenannten Mauerfall. Ende Oktober 1989 gingen an der Übergangsstelle Drewitz die ersten Fahndungscomputer ans Netz. Die rechnergestützte Abfertigung an der Grenze wurde erstmals durch den raffiniert programmierten und vernetzten Personalcomputer EC 1834 abgewickelt. Damit wurde so-
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wohl das Zettelkastensystem abgelöst als auch die auf Zeichendeutungsfähigkeiten des Grenzbeamten beruhende Passkontrolle des Personalausweises und des Reisepasses überflüssig gemacht sowie deren heimliche photomechanische Reproduktion. Der Automatisierungsgrad war ein anderer geworden und stand nicht mehr in einer kontinuierlichen Entwicklungslinie der Grenzkontrollen, sondern hatte einen paradigmatischen Sprung vollzogen. Zur bis dahin praktizierten Grenzsicherung der DDR urteilt die Historikerin Satjukow: »Die DDR-Grenzübergangsstellen zur Bundesrepublik glichen nicht einem fulminanten, vielversprechenden Portal, das die Errungenschaften der Neuen Zeit feierte und vorführte, sondern einer martialisch gesicherten Hintertür. Die Anmutung dieser Schleuse war diejenige des Dienstboteneingangs. Die ideologische Rigidität der Staats- und Parteioberen fand hier ihre perfekte Form – in einer weit ins Land hineinreichenden Überwachungs- und Repressionspraxis.« (Ebd.)
Das Beklagen des anachronistisch-analogen Grenzsicherungsverfahrens, das die DDR so alt aussehen ließ, wäre mit dem neuen Grenzsicherungsverfahren in ein perfekteres, in ein totaleres Repressionssystem eingemündet. Mit der Umstellung auf die digitale Informationsverwertung, die Grenzübergangsstellenverschaltung durch das dezentrale Computer- und Wissensnetzwerk, wäre das System der lokalen, also räumlich beschränkten Kontrolle abgelöst worden und hätte sie, wenn sie in Kraft getreten wäre, zu einer landeseinheitlichen und landesweiten Kontrolle erweitert. Medientechnologisch gesprochen wäre der vormals begrenzte Medieneinsatz im Raum (Abfotografieren des Passes, Spiegeldurchleuchtungen von KFZ-Bodenwannen u.ä.) zu einer medialen, infographischen Raumrepräsentation geworden, hätte aus den sogenannten GÜSTS, den Grenzübergangsstellen eine Herstellung von Rauminterventionspunkten gemacht, hätte sie zur Schnittstelle von Medienraum und Raummedien gemacht. Dieses neue Interface, diese neue Schnittstelle von Mensch und Computer, wäre an die Stelle des grimmigen Antlitzes, des ›human face‹ der Grenzer, die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit waren, getreten. Das ›human face‹ hätte sich zum Interface gewandelt, dabei aber das Antlitz, die Angesichtigkeit verloren.
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»Ihre Gesichter, ihr Gestus und ihr Habitus, waren das erste, was einreisenden Westbürgern begegnete – und ihre Gesichter waren die letzten, die Ausreisende zur Kenntnis nahmen. Die Staatssicherheitsleute im Uniformrock der Grenztruppen waren das vorgeschaltete, in ihrem Sinne das vorgeschobene Antlitz der DDR. Den Diensthabenden war jeder Ankommende prinzipiell verdächtig. Die politische Fiktion, mit welcher sie tätig wurden, hieß: Jeder, der diese Schleuse passiert, steht unter dem Verdacht, ein Feind des Sozialismus zu sein. Nicht die Passage zu ermöglichen oder gar zu erleichtern war ihr Gebot, sondern, im Sinne politischer Wachsamkeit, einreisende Gegner zu entlarven.« (Ebd.)
Die prinzipielle Verdächtigkeit aller Bürger und Bürgerinnen wird aber erst mit Mechanismen der Grenzverlagerung ins Landesinnere zum Generalverdacht und zum Normalfall. Bei der ›Grenze 2000‹, wie bei FRONTEX, ist es nicht mehr das Territorium selbst, von dem ausgegangen wird, sondern nur noch die mediale Bezugnahme auf ein begrenztes Territorium, nationalstaatlich im Falle der DDR, supranationalstaatlich im Falle der EU-Außengrenzsicherung. Der Weg führt nun nach Europa, dem früheren Schengen-Raum, zur alten und zur neuen EU, in den neuen Schengen-Raum und zu FRONTEX.
FRONTEX Abbildung 3: alte EU-Außengrenze
Quelle: http.//commons.wikimedia.org/wiki/ Enlargement_of_the_European_Union
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Als im Mai 2004 zehn neue Mitgliedsstaaten in die EU aufgenommen wurden, und zum 21.12.2007 dann die Grenzkontrollen an der alten EU-Außengrenze wegfielen, wurde die ehemalige EU-Außengrenze zu einer EU-Binnengrenze, verschob sich die Peripherie ostwärts. Die EU-Außengrenze ›wanderte‹. Zur Sicherung dieser neuen EU-Grenze wurde FRONTEX ins Leben gerufen – eine EU-Institution. FRONTEX, aus dem Französischen ›frontières extérieures‹, ist die ›Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen‹ der EU und des Schengen-Raums – und hat sich buchstäblich die Trias: ›Libertas, Justitia, Securitas‹ auf die Fahnen geschrieben. Die Spezifität liegt in der besonderen Schnittstelle, die diese Institution ausbildet: einerseits kooperieren in ihr nationale staatliche Organisationen wie Polizei, Grenzschutz, Geheimdienst, die dann bilateral zwischen zwei Einzelstaaten zusammen arbeiten, andererseits bettet sich diese Institution in das supranationalstaatliche Gebilde EU ein, einen transnationalen, nicht globalen Verbund, der mit Aspekten nationalstaatlicher Politik und globalen Wirtschaftstransaktionen auf einer gemeinsamen politischen Willensbildung und Institutionenebene handelt. Abbildung 4: Logo FRONTEX
Quelle: http://www.frontex.europa.eu
Die EU stellt insgesamt, FRONTEX in Sonderheit, eine Antwort auf Globalisierungsprozesse dar, denen sie eine europäische Antwort geben möchte. Diese Organisation will auf Migrationsströme reagieren, macht Migrationsrouten ausfindig, wehrt Handlungsweisen mit AntiGlobalisierungsmotivation ab. Die Aufgaben von FRONTEX bestehen in der Risikoanalyse, dem Bereitstellen eines Wissens über das geo-
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graphische Feld der Migration. Eine zweite Aufgabe liegt in der Organisation EU-weiter, also über die einzelnen Mitgliedsstaaten hinausgehender, Abschiebeoperationen. Die Hauptaufgabe von FRONTEX ist aber zuallererst die Etablierung eines gemeinsamen Grenzregimes, die Schaffung EU-weiter Grenzschutztruppen, die operative Gewährleistung der Überwachung und Sicherung der Grenze. Dies beinhaltet die Schaffung gemeinsamer Kommunikationsstrukturen, einem Netz von sicheren Kommunikationsmedien, aber auch die medientechnologische Ausrüstung der mobilen und fixen Grenzschutztruppen sowie die hochtechnologische Überwachung der Grenze selbst. Ich möchte hier aus einer ganzen Reihe angewandter Technologien nur auf eine in der Anschauung beispielhaft näher eingehen, auf die Thermal- und Infrarotkamera.
D IE M EDIENTECHNOLOGIEN : • Das EU-eigene Satellitenzentrum bei Madrid: Ortung von Migra• •
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tionsströmen und Fluchtbooten Biometrische Personenerfassung an Flughäfen, Transitorten im Landesinneren und an der Grenze Vernetzung nationaler Überwachungstechnologien, Überwachungsmöglichkeiten von Küsten und Häfen und der Einsatz von Drohnen, Koordination Bereitstellen eines verschlüsselten Mailservice für die Kommunikation von der FRONTEX-Zentrale (Warschau) zu den nationalen Grenzschutzbehörden, den National Point of Frontex Contact Bereitstellen von ICONET, ein neues, Internet-basiertes Netzwerk zum Informationsaustausch über Migration in Europa (Kommunikation über Abschiebeflüge) Gemeinsame Verschlüsselung des Funkverkehrs von Polizei und Militär, national und international Multinationale, in Echtzeit erfolgende Informationsübertragung, bspw. v. militärischen Aufklärungsflugzeugen zu Schiffen 56 Thermal- und Infrarotkameras, 33 mobile CO²-Detektoren, acht Herzschlag-Detektoren und ein passiver Bildgeber für Millimeterwellen 2000: ›EURODAC‹, eine EU-weite Fingerabdruckdatenbank
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• 1998: ›FADO‹ (False and Authentic Documents), eine Datenbank
für gefälschte Dokumente; Europäisches Visa-Identifikationssystem, Europäisches Migrationsobservatorium, Gemeinsames Frühwarnsystem, Gemeinsame Grenzschutztruppe und Europäische Grenzschutzschule; SIVE (Integriertes System der Außengrenzüberwachung) Mein Augenmerk soll dabei stets die Frage bilden, wie diese Medientechnologien3 zu einem Wandel des Grenzregimes beitragen. Ein Grenzregime bezeichnet nach Steffen Mau die Einheit von Grenzpolitik und Grenzmanagement, also die Gesamtheit der institutionellrechtlichen Regelungen eines Staates oder eines Staatengebildes: das ist die Grenzpolitik – und des operativen Betriebs von Grenzen: das ist vor allem die Ausübung von Grenzkontrollen. Bei der EUAußengrenzabsicherung durch FRONTEX sind insbesondere drei Punkte markant: 1.) Die Erweiterung des Grenzraumes; 2. ) Die Entterritorialisierung der Grenze: von der Grenze zum Raum; 3.) Exterritorialität. • Zu 1.) Die Erweiterung des Grenzraumes: Das Schengener Abkom-
men von 1985 führte zu einer Ausweitung der Bevölkerungskontrolle. Faktische Grenzkontrollen sind seit dem Schengen-Abkommen im Inneren jedes Mitgliedsstaats möglich. Dies stellt eine Erweiterung des Grenzraumes ins Landesinnere dar. Die Europäische Abschiebekoordination und das Rückübernahmeabkommen mit vielen Drittstaaten bewirkten, dass die ideelle EU-Außengrenze über das Mittelmeer wanderte. Dieser Aspekt stellt eine Erweiterung des Grenzraumes nach Außen – über das Mittelmeer hinaus – dar. • Zu 2.) Die Entterritorialisierung der Grenze: von der Grenze zum Raum. »Die Wandlung der Grenze von ihrer linearen geographischen Bedeutung hin zu einem mobilen, fragmentierten Grenzraum, einer ›entgrenzten Grenze‹«, so Kasparek (2008c: 12), stellt die Entterritorialisierung der Grenze dar und ist ein ganz zentraler Punkt. Damit sind Phänomene wie die Vorverlagerung der Grenze ins Landesinnere durch das EU-Visasystem gemeint, die Vorverlagerung
3
Datenbasis der Punkte: Kasparek 2008, Marischka 2008 u. Marischka 2007.
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der EU-Außengrenze in Transitstationen des Landesinneren, wie Flughäfen, Häfen, Bahnhöfen und dergleichen mehr. • Zu 3.) Die Exterritorialität: »Eine andere Entwicklung kann am Besten als Punktierung des Innen durch die Grenze beschrieben werden.« (Kasparek 2008c: 14) Die Rede ist von zahllosen Flüchtlingslagern in Europa und außerhalb Europas, in Lybien z.B., in den sogenannten Regional Protection Areas. Mit der Stationierung von Polizei, Grenzschutz und Militär eines europäischen Mitgliedsstaates, Italiens z.B. in einem außereuropäischen Land, Albanien nämlich, ist eine exterritoriale Sicherung der Grenze als gängige Praxis zu verzeichnen. Gegen den Anschein von Territorialität liegt mit den drei genannten Punkten hier eher eine Enträumlichung der Grenze vor, eine Loslösung des Grenzregimes vom Territorium selbst. Der Wandel des Grenzregimes von der DDR zu FRONTEX in Hinsicht auf den Zusammenhang von Medien und Raum zeigt sich offenkundig: weg von einer augenscheinlichen Sichtbarkeit, physischevidenten Markern wie Grenzzäunen, Schlagbäumen und dergleichen mehr, hin zu einer öffentlichen Unsichtbarkeit der Grenze. Zwar gab es medienwirksame Inszenierungen von FRONTEX – man denke hierbei insbesondere an die ›Manöverauftritte‹, die über die Massenmedien verbreitet wurden – und damit eine mediale Sichtbarmachung. Doch der eigentliche Wandel des Grenzregimes liegt in einer neuen Medialität. Mit Verfahren wie der GPS-gestützten Ortung und biometrischer Erfassung werden Wahrnehmungsweisen verbunden, die medientechnologische Grundlagen haben und nur in diesen medientechnologischen Bildern visualisierbar, erfassbar sind und nur so zur Kenntnis gelangen. Die dergestalt geleistete Sicherung von Grenzen ist die Konstruktion, die mediale Herstellung einer Grenze, die keine Scheidelinie mehr ist, sondern den gesamten durch Satelliten aufgenommenen geographischen Raum erfasst und in ihm operiert. Die geomediale Karte der Erdoberfläche ist zum Grenzraum geworden, in dem Linieneintragungen erfolgen. Solch ein geographischer Medienraum ist auch in dem Film De l’autre coté bzw. auf Englisch: From the Other Side von Chantal Akerman als Filmsequenz integriert.
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Abbildung 5: Der Einsatz der Thermal- und Infrarotkamera an der Grenze
Quelle: Screenshot aus: Chantal Akerman ›De l’autre coté / From the Other Side‹
Dieses Bild stammt aus »De l’autre coté / From the Other Side«, ein ›loop‹ in der Kunstinstallation bzw. eine Sequenz im gleichnamigen 16mm-Film. Der ›loop‹ macht aus dieser Echtzeitaufnahme ein poetisch-überhöhtes Linienspiel. Die Visualisierung der Grenze, die nur auf Karten eine scharf gepunktete Trennlinie auf Papier ist, eine Scheidelinie ohne Extension, erfolgte zuvor im Film bzw. in der Installation in Realfilmbildaufnahmen vom Grenz-Blechzaun, der die USA von Mexiko trennt, eingefangen in endlosen Kamerafahrten. Hier ist nun tatsächlich ein Punktlinienverlauf zu verfolgen, der das Filmbild trennt und vernäht. Hier wird – ungewöhnlich in der Ikonographie von Grenzfotografien und Grenzfilmbildern – die migrierende Menschenkette zur innerfilmbildräumlichen Grenzlinie, eine transitorische Migrationsbewegung, die die Grenze tatsächlich als Linie erfahren lässt. Die Aufnahme aus schwarz-weiß Bildern von den Überwachungskameras der amerikanischen Grenzschutzpolizei ortet mittels Infrarotund Wärmebildtechnik einen Flüchtlingsstrom. Das Gelände wird mit einem Fadenkreuz in der Bildmitte und an den Rändern mit numerischen Ordnungsangaben, die eine Feldortung erlauben, aufgenommen. Es ist ein Rasterbild.4 Aus dem gleißenden Weiß, dem reinen Licht, der medientheoretisch gesprochen puren Information, der Nicht-
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Vgl. Siegert 2003.
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Materie,5 kristallisieren sich bewegende weiße Flächen heraus, von denen man allmählich erkennt, dass sie die Umrisslinien von Menschen annehmen. Wenig mehr als anthropomorphisierte Gestalten laufen sie im Gänsemarsch entlang, bis man sich allmählich gewahr wird, dass es sich um eine voranmarschierende Menschenkette handelt. Aufgefädelt wird hier eine Truppe, wie von unsichtbarer Hand nach vorne gezogen. Chantal Akerman greift als Filmemacherin nicht soweit ein, dass sie uns den Aufgriff der Flüchtlinge zeigt, die Arretierung und Arrestierung, die Inhaftierung und Inkriminierung. Die Aufgespürten werden nicht zu psychologischen Figuren, werden nicht Mensch, sondern bleiben Bildinformation. Eine technische Bildinformation, die korrespondiert mit der Menschenleere und Informationsleere der Realfilm-Grenzbilder, die minutenlang abgefahren nur die unbestimmte Weite und Leere zeigte. In Bezug auf die Sichtbarkeit, so Faßler, ist von einem paradigmatischen Bruch zwischen den analogen Medien Film / Fotografie und den digitalen Bilderzeugungsverfahren auszugehen. Analoge Medien sind von einer bestimmten visuellen Codierung. Sie sind symbolgestützte, Gesellschaft konstituierende Repräsentationssysteme. Dagegen wird eine neue Art der Visualität gesetzt. »Weg von symbolischer Repräsentation und selbstgenügsamer, territorialer Gesellschaft.« (Faßler 2009: 210) Staatlichkeit kann in Termini der Herrschafts-, Erhaltungs-, Verhinderungsvisualität gedacht werden. »Ob in Barrikaden-Gemälden der Französischen Revolution, in Eisensteins Revolutionsmetaphorik, in Kurzfilmen über den agitierenden Lenin, in skulpturalen Symbolen der Justitia oder repräsentativen Fotos des jeweiligen Bundesoder Staatspräsidenten: visuelle Gebilde tauchen immer dann auf, wenn etwas abgeschlossen oder gesetzt ist. Sie transportieren Codierungen, Befolgungsbefehle in jede Situation hinein, in denen sich Menschen erneut über Zustände, Veränderungen verständigen wollen. Diese Visualität ist Herrschafts-, Erhal-
5
»Das Licht kann als Inbegriff des Medialen aufgefasst werden, so z.B. bei Marshall McLuhan in dem berühmten Diktum, dass alle Medien zum Inhalt andere Medien hätten, eben mit Ausnahme des Lichts, das überhaupt keinen Inhalt habe; oder auch mit Fritz Heider und neuerdings mit Niklas Luhman [sic!] als reines Medium, Substrat vielfältiger visueller Ding- und Formbildungen, aber selbst und an sich selbst niemals sichtbar.« (Engell/ Siegert/Vogl 2001, S.198).
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tungs-, Verhinderungsvisualität. Ihre Absicherung erfolgt dabei nicht über selbstverständliche visuelle Schaffenskraft menschlicher Wahrnehmung, Expressivität und Argumentation. Symbolische Erhaltungs- und Verhinderungsvisualität ist Unterfall der typografischen Erziehungsordnungen.« (Ebd.)
Eine Herrschaftsvisualität ist die Reetablierung der Grenze mittels infographischer digitaler Daten dieser geomedialen Präsentation (vgl. Abb. 5). Auf alle Fälle jedoch ist sie nicht mehr im Modus des symbolgestützten, Gesellschaft konstituierenden Repräsentationssystems der analogen visuellen Codierung. Dieses Akermanbild ist für uns nicht als Herrschafts-, Erhaltungs- und Verhinderungsvisualität lesbar. Die auf dem Bild abzählbaren Punkte, die visualisierten Gestalten, sind mit den Infrarot- und Thermalkameras durch den Grad ihrer Ausleuchtbarkeit ›wesenhaft‹, nämlich in ihrem Wesen, unterschieden von den MigrantInnen, die noch von Grenzern mit starken Taschenlampen im Gelände und mit Scheinwerfern bewaffneten Jeeps aufgespürt wurden. Ihr ›Feindcharakter‹ – um das von Kittler schon in Ironisierungszeichen gesetzte Wort aufzugreifen – aber ist geblieben. Die Allumfassenheit und prinzipielle Konvertierbarkeit, die auf Grundlage des Binärcodes operiert, ist hier gut zu sehen. Diese Infrarotkameraaufnahmen können – und dies ist eine zentrale Forderung von FRONTEX: Echtzeit-Operationen – also instantan in digitale Bilder umgewandelt, gespeichert und versendet werden. Ging es mit der Karte um eine referenzielle Adressierbarkeit von Orten im physischen Raum, die Regeln der Repräsentation folgt, so geht es mit diesen Kamerabildern um die Adressierbarkeit von Menschenbewegungen – in Form von medialer Information an Orten – im physischen Raum, referenziert im Digitalen, dessen Regeln der Repräsentation nicht bekannt sind. Sie können einerseits zur zahlenstatistischen Auswertung herangezogen werden, können andererseits aber durch das Global Positioning System (GPS) zur Lokalisierbarkeit und Verortung eingesetzt werden und dienen dann der Speicherung geomedialer Migrationsrouten. Die Folge, die dies zeitigt, ist eine Handhabbarmachung im Sinne eines Zugriffs auf Menschen, auf Zahlen, auf Bilder, auf Migrationsrouten. So weit nach Bruno Latour, der in »Science in Action« die Übersetzungsleistung, hier konkret die geomedialen Handels- und Unterwerfungsrouten beschreibt (vgl. Latour 1997). Hier sind die Siegert’schen Erkenntnisse aus »(Nicht) Am Ort. Zum Raster als Kulturtechnik« (Siegert 2003) in Anschlag zu bringen und
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zu fragen, wie das gemeinsame Paradigma von Bildkonstruktion und Biopolitik vonstatten geht. Welcher Zusammenhang von technischem Bildgebungsverfahren und Migration ist hier zu entdecken? Sind diese Kameraaufnahmen und ihre Indienstnahme durch die amerikanischen Grenztruppen den polizeilich-biopolitischen Ordnungsmaßnahmen der frühneuzeitlichen kolonialen Disziplinargesellschaft, die mit PapierKartographien arbeitete, zuzurechnen? Oder stellen diese Aufnahmen die der Kontrollgesellschaft zuzurechnende Frage nach dem Ort und beziehen sich »auf das Problem der statistischen Vorhersagbarkeit und Steuerbarkeit von Ereignissen, die im Zusammenhang von Migrationsfragen auftauchen« (Siegert 2003: 100)? Die Deleuze-Foucault’sche Zeitaltereinteilung der Disziplinar-, Kontroll- und der gouvernementalen Gesellschaft geht einher mit Bestimmungen zu Korrespondenzen ihres Maschinenparks. Die Zäsuren in den Mediengeschichtsepochen, die medientechnologische Grundlagen haben, werden medientheoretisch prozessiert. So wird das Web mit seiner Medientechnologie als Gesellschaftszustand des postkolonialen, gouvernementalen Wissens genommen. Im gouvernementalen Zeitalter und seiner Medien findet normalerweise kein Rückschluss von der Medienoberfläche auf die Erdoberfläche statt, sondern den interaktiven Prozessen computermediatisierter Kommunikation liegt das Modell der ›Verfolgung‹ zugrunde: computertechnologisch und militärisch. Also von der Auffindbarkeit, dem Ergreifen, dem direkten Einwirken auf das Territorium hin zur informatischen, zur zeichenhaften Spurenverfolgung. Die gouvernementalen Kräfte erfassen das Nichtsesshafte virtuellen Nomadentums, die Bewegung im Cyberspace. Die Herrschaft über das Web hängt im Zeitalter des virtuellen Nomadentums vom Wissen über das Migrationsverhalten der Bevölkerung ab. »Der Nihilismus im Sinne von Ortlosigkeit ist zur transzendentalen Möglichkeitsbedingung des postkolonialen Cyber-Empires geworden.« (Vgl. Siegert 2003: 103) Nach Siegert beruht das neuzeitlich-europäische Konzept des Ortes auf der medientheoretischen Unterscheidung zwischen Daten und Orten. Im sogenannten ›Hyperrealen‹ verlaufen die Grenzen nicht (!) mehr zwischen dem, was einen Ort besetzen kann und was nicht, sondern die neue Unterscheidung verläuft zwischen Daten und Nicht-Daten. Die Ordnungslogik der polizeilich-biopolitischen Registrierung und die Ordnungslogik der militärischen Intervention finden hier statt. Hier gibt es noch einen direkten Rückschluss von der medialen Bild-
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oberfläche auf die Erdoberfläche, hier wird die Nichtsesshaftigkeit, die permanente Migration, nicht im Sinne einer prinzipiellen Rasterfunktion und einer potentiellen Nachverfolgung, einer Spurnachzeichnung als Wissensfunktion eingesetzt, sondern die direkte Rückübersetzung, die Relokalisierung geht hier vonstatten. In diesem Sinne ist dies ein Aufweis der Herrschaft der Kontrollgesellschaft, die sich rein technisch gesehen der Medientechnologie bedient, die die Kybernetisierung des biopolitischen Rasters betreibt, aber nicht uneingeschränkt in der Herrschaftslogik der gouvernementalen Mächte des Nichtsesshaften steht. Hier geht es nicht um die Ortlosigkeit der transzendentalen Möglichkeitsbedingung der postkolonialen Cyber-Empires. Auch wenn aufgrund der Technizität des Bildes die Grenze zwischen Mensch und Phantom durchlässig geworden ist, die hier zugrunde liegende Wirklichkeitskonstruktion folgt noch der Unterscheidung des Rasters, differenziert noch zwischen dem, was einen Ort besetzen kann und was nicht. Die Reterritorialisierungsleistung dieser eingesetzten Medientechnologien besteht in der Ortung, der suprastaatlichen territorialen Gebietskontrolle. Auf die Logik der Unterscheidung von Orten und Daten rekurrierend, verfallen sie in ein altes staatliches vor-digitales Machtprozedere zurück. Solch eine Reterritorialiserungslogik – trotz oder vielmehr mittels digitaler Medientechnologie – kann auch in Bezug auf die Visualität festgestellt werden. Mit der These der Grenzziehung und Grenzaufrechterhaltung zur Stabilitätsabsicherung der Globalisierung (vgl. Mau 2007) wird auf die Notwendigkeit, die Kehrseite der Medaille, verwiesen: die potentielle Verortbarkeit von Menschen. Es ist nicht mehr das Wissen um ihren aktuellen, tatsächlichen Aufenthaltsort: das wäre die alte, analoge DDR – mit Foucaults und Deleuzes Worten: eine Disziplinargesellschaft. Sondern es ist das Wissen um ihre mögliche Aufspürbarkeit, ihren potentiellen Aufenthalt, das im FRONTEX-Regime Europas Herrschaftswissen und Signum einer Gesellschaft ist, die dem gleicht, was Deleuze Kontrollgesellschaft nennt, also eine Gesellschaft, die ihre Kontrollmechanismen permanent kreativ moduliert. Ich bin mit FRONTEX einem Re-Konstitutionsprozess europäisch-moderner Gesellschaft nachgegangen, die sich gerade auf der Grundlage digitaler Netzentwicklung formiert (vgl. Faßler 2008). Gerade FRONTEX als Grenzregime der modernen Gesellschaft versucht der Dynamik globaler, infogener Felder zu entsprechen. Digitale Präsentation ist – und
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dies zeigt sich besonders gut am Rasterbild – von der europäischneuzeitlichen Leistung der Kartographie ausgegangen, die erstmalig einen indexikalischen Bezug von Karte zu Realität hergestellt hatte, ist aber über sie hinausgegangen. Nun wird mit dem geographischen Datenspeicherort im Digitalen eine neue Art der Referenzierung eingeführt. Die geosoziale Codierung bezieht sich dabei gerade auf eine Logik der Visualisierung des Unsichtbaren und nimmt eine Ökonomisierung von Daten vor.
F AZIT Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen war die medientheoretische These, dass moderne Kommunikationstechniken und Medien entgrenzen, der Raum und das Territorium an Bedeutung verlieren. Dieses nun schon hinlänglich bekannte, kritisierte und präzisierte Postulat muss angesichts der Medientechnologien bei der Grenzsicherung revidiert werden. Das Verhältnis von medialer Entterritorialisierung und räumlich-geographischer Reetablierung von Herrschaft durch Medien muss neu justiert werden. An die Stelle des Konzepts des Territoriums tritt die Idee der Territorialität als regulative Funktion, die medientechnologisch reinstalliert, reetabliert wird. Ein entscheidender Unterschied zwischen der herkömmlichen Grenzabsicherung der DDR und den praktizierten Grenzsicherungsmaßnahmen an der EU-Außengrenze liegt in der Auffassung von Territorialität. In der DDR war die Integrität des Territoriums in der Einheit von Staatsgebiet, Staatsmacht und (Staats-)Volk noch der beherrschende Grundgedanke. Die Schaffung des modernen Nationalstaats, hier wäre die französische Revolution von 1789 als ein Ausgangsdatum zu nennen, hängt zentral mit der Schaffung eines Staatsgebietes und der Kontrolle desselben zusammen. Das Setzen von territorialen Staatsgrenzen und die Kontrolle derselben und damit verbunden des Staatsgebiets ist über nunmehr zwei Jahrhunderte wichtigstes staatliches Politikmittel gewesen, da es Menschen-, Kapital-, Waren- und Datenströme regulierte. Die Wichtigkeit der territorialen Beherrschung ist für die Phase des klassischen Staates nicht genug zu betonen. Das Territorium, gedacht als staatliche Beherrschung des Raums, war das Wichtigste im Container des Nationalstaats, der in seinem Container – Behältnis, Territorium, Politik und Gesellschaft einschloss. Der Wan-
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del des Nationalstaates unter Bedingungen der Globalisierung wird gemeinhin als eine Schwächung des einzelnen Nationalstaats durch grenzüberschreitende Transaktionen, die nicht mehr von staatlichen Akteuren ausgehen oder von ihm kontrollierbar sind, vorgestellt. Manche postulieren schon das Ende des Nationalstaats oder rufen zumindest das Ende der nationalstaatlichen Territorialität aus, viele sehen den klassischen Nationalstaat in einer Krise. »In der Globalisierungsdebatte stehen Thesen zum allgemeinen Kontrollverlust des Staates und zur Bedeutungsabschwächung von Grenzen im Hinblick auf die Bewegung von Personen den Thesen einer anhaltend großen Rolle nationalstaatlicher Grenzen gegenüber.« (Mau 2007: 5) Der transnationale Liberalismus führe zur Auflösung der nationalstaatlichen Jurisdiktionsräume, administrativer Regulierung und fiskalischer Steuerung, und angesichts moderner Kommunikationstechnologien wird nun von einem virtual state gesprochen (Everad 2001). Doch weder verschwindet die Materialität des Raums, wie der spatial turn deutlich gezeigt hat, noch verschwindet der Staat. Es geht um eine angemessene Erfassung der Transformation. FRONTEX geht nur noch von einer Idee von Territorialität aus. Mit der (supra-) nationalstaatlichen Grenze kommt die Medialisierung des Territoriums in den Blick. Wenn allenthalben der Entterritorialisierungseffekt von weltumspannender Kommunikation und globaler Medienkultur auf großräumlichpolitische Gebilde wie Staaten und Staatenverbünde betont wird, so wandelt sich das anachronistische Relikt der national-staatlichen Grenze aus dem Zeitalter des Analogen in Zeiten des Digitalen in ein geo-mediales Informationssystem. Neben dem Aspekt der digitalen, hoch medientechnologischen Aufrüstung der EU-Außengrenze und der Tatsache, dass auch die Kartographie sich unter den technischen Möglichkeiten der satellitengestützten Erdvermessung neu konfigurierte, kann ebenso eine mediale Transformation von Landschaften und Territorien festgestellt werden. Mich interessiert der medientechnologische Impact der EU-Außengrenzsicherung, nicht um diesen in eine militärisch informierte Mediengeschichte zu stellen (vgl. hierzu Kaufmann 1996 u. 2006), sondern um ihn medienkulturell zu interpretieren. So sind die GPS-gestützten Ortungsverfahren von FRONTEX in einen Zusammenhang zu bringen mit kulturellen Ordnungsverfahren, um so den unauflöslichen Nexus von Ortung und geographisch-räumlicher Ordnung erkenntlich zu machen. Die kulturelle Lesart von Wärmebildkameraaufnahmen an der Grenze (wie z.B. im Schaffen der Expe-
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rimentalkünstlerin Akerman) steht im Spannungsfeld von anthropomorphen Gestalten und technologischer Bildinformation, anthropomorphem und technologischem Bild. Nur mittels einer medientechnologisch hoch gerüsteten Grenze, die »die Neuordnung der besonderen Räumlichkeit des Nationalstaats als Konsequenz der Verschränkung der neuen Raum- und Zeitstrukturen« (Sassen 2000: 175) zum Ausdruck bringt, setzt sich Territorialität als Geltungsprinzip wieder in Kraft und erhält Geo-Politik wie Geographie als Grundstrukturierungsgröße und somit auch das supranationale Europa am Leben. Die Grenze ist nun aber Prinzip und Ort der Verschränkung von Globalem mit dem Nationalen. An der Grenze zeigt sich exemplarisch, dass Medientechnologie reterritorialisierend wirkt, wobei das Territorium sich unter dem Medialen neu konfiguriert.
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Strategiespiele und Diskurse geopolitischer Ordnung R OLF F. N OHR
Computerspiele wie Dune II (Westwood Studios1992), Command & Conquer: Generals (Westwood Studios 2003) oder Age of Empires (Ensemble Studios 1997) sind nicht nur narrative Handlungszusammenhänge, die die Komplexität der Welt und ihre Geschichte reduktiv und spielerisch in Form von überschaubaren und konsequenzenfreien Formaten nachvollziehbar machen. Sie sind ebenso sehr Formen ausgehandelter Wissensformationen, die nicht offensichtlich aufscheinen. Computerspiele – und im speziellen Strategiespiele – sind in hohem Maße durchzogen von verborgenen Agenden und naturalisierten Wissensformen. In ihnen ruht weitaus mehr als ›nur‹ ein verborgenes Curriculum des taktischen und strategischen Wissens. Daher muss die Analyse eines Computerspiels – zumal unter der Perspektive der kritischen Diskursanalyse1 – ihr Augenmerk auf eine große Zahl unterschiedlichster Artikulationen, Bedeutungskomplexe oder Narrationen richten, die durch die unterschiedlichen Ebenen nicht nur des Spiels sondern der Gesellschaft als Ganzes fließen. Dieser Text wird einige Gedanken über die Formen und Funktionen dieser spezifischen Wissensformen herausarbeiten, die in Computerspielen auffindbar sind – beziehungsweise die durch sie ›hindurch gleiten‹. Speziell sollen dabei vor allem Diskurse des geopolitischen Denkens untersucht werden, wie sie in populären Computerspielen
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Für eine detaillierte Darlegung der kritischen Diskursanalyse im Bezug auf Computerspiele vgl. Nohr 2010.
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auffindbar sind und wie sie durch diese Spiele permanent reproduziert und instantiiert werden. Dabei soll gezeigt werden, wie aktuelle Computerspiele spezifische Formen eines geographischen und politischen Wissens aufrufen, spielfunktional machen und reproduzieren, die (zunächst) mit Ideen eines spezialisierten, extrem nationalen und politisch-ideologisch konnotierten Denkens aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts verbunden sind – die aber dadurch auch eine Perspektive eröffnen, aktuelle Formationen globaler Ordnung, Politik und Konfliktführung durch die ›Augen‹ eines Strategiespiels zu deuten. Die grundsätzliche Perspektive unseres Projekts2 wie auch dieses Textes ist es also Strategiespiele nicht nur als Simulationen oder ludische Handlung zu verstehen, sondern als diskursive Materialisationen, die subjektorientierte Regierungstechnologien stabilisieren und in Umlauf bringen. Am Beispiel möchte ich Momente von geopolitischen Repräsentationen und Aussagen aufzeigen, die Strategiespiele als politischoperative und ideologisch imprägnierte Aussagesysteme integrieren, naturalisieren und in populäre Diskurse einspeisen. Dabei geht es mir ausdrücklich nicht darum, nachzuweisen, dass Computerspiele eine historisch obsolete und ideologisch hochfragwürdige Pseudowissenschaft im Sinne einer gefährlichen Propaganda in Umlauf bringen. Vielmehr geht es mir darum aufzuzeigen, wie Strategiespiele (neben einer Unzahl anderer Akteure) an der latenten Stabilisierung eines diffusen Wissenstypus mitarbeiten, der nur in einer oberflächlichen Betrachtung als historisch, wissenschaftlich und politisch überwunden angenommen werden kann. Dabei möchte ich in drei Schritten vorgehen: Erstens möchte ich die enge Koppelung von Strategiespielen und Raumkonzepten per se herausstellen, zweitens Argumente der klassischen Geopolitik der 1920er bis 1960er Jahre in aktuellen Strategiespielen nachweisen und drittens kurz auf aktuelle Konjunkturen und Renaissancen eines solchen geopolitischen Diskurses verweisen. Die methodische Idee ist dabei, Spiele als Interdiskurse3 zu verstehen, eine Konzeptualisierung, die darauf abzielt, Prozesse der unsicht-
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Forschungsprojekt »Strategie Spielen: Steuerungstechniken und strategisches Handeln in populären Computerspielen (am Beispiel von Wirtschafts-, Militär- und Aufbausimulationen)«; vgl. www.strategiespielen.de.
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»Die wichtigste Funktion solcher kultureller Interdiskurse ist die Produktion und Bereitstellung von diskursverbindenden Elementen und mit deren Applikation die Produktion und Reproduktion kollektiver und individueller
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baren Übersetzung verständlich zu machen, bei denen populäre Texte wie beispielsweise Computerspiele auf existierendes soziales Wissen zugreifen und dieses Wissen in sich integrieren und überlagern. Dieses Wissen erscheint dann als eine Art Angebot an den Spielenden, ein spezifisches Wissen subjektiv anzueignen, das er zunächst nur dem Spiel zurechnet. Bei genauerer Betrachtung ist dieses Wissen jedoch kein genuin spielinternes, narratives oder ludisches Wissen sondern rekurriert auf Bestände spezialdiskursiven Wissens, also Wissensformationen aus ausgegliederten, ›spezialisierten‹ und ›teilexkludierten‹ Wissensformationen, die durch die ›Maschine‹ des Spiels über das Subjekt in ein gesellschaftliches Breitenwissen (den common sense) überführt werden.4 Das Anliegen dieses Textes ist es darüber zu reflektieren, welche Wissensformationen in Strategiespielen ›medialisiert‹ werden und was die verborgenen und latent unsichtbaren Agenden im Bezug auf Ordnungspolitiken, Ökonomie, Militär oder Urbanität sind, die hier ausgehandelt werden. Kurz gesagt – es geht darum, wie in Strategiespielen Politik als Raumhandlung codiert wird und wie die ›Lebensraum‹-Politik des Nationalsozialismus über Age of Empires mit Samuel Huntingtons Clash of Civilizations verbunden wird.
Subjektivität, die in hochgradig arbeitsteiligen und ausdifferenzierten Gesellschaften leben können, ohne ständig in verschiedenste Spezialisierungen und Professionalisierungen auseinander gerissen zu werden.« (Parr/ Thiele 2004, S. 265). 4
Spezialdiskurse entstehen in durch funktionale Ausdifferenzierung charakterisierten Gesellschaften, d.h. durch die Entwicklung abgrenzbarer und spezieller Handlungs- und Wissensbereiche, die ihre jeweilig eigenen Aussagestrukturen in Form spezifischer Wissensdiskurse ausgebildet haben. In diesen Orten dominieren spezialisierte Sprachformen, die subjektive und intersubjektive Wissenszirkulation, so genannte Spezialdiskurse. Den Abgrenzungsverfahren der Spezialdiskurse (untereinander wie auch den Diskursen der ›populär-kulturellen‹ Orte) stehen dann Integrations- und Reintegrationsverfahren zur Seite, die quasi ›kompensatorisch‹ diese distinkten Bereiche aneinander ankoppeln.
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Strategiespiele dürfen nicht einfach nur als Simulationen oder ludische Handlungen verstanden werden. Vielmehr ist es entscheidend, sie als diskursive Materialisierungen zu begreifen, die subjektorientierte gouvernementale Technologien distribuieren und stabilisieren. Strategiespiele sind also nicht die Artikulationen eines Autors oder einer spezifischen Instanz von Personen, sondern die unspezifische Artikulation von Wissen und Bedeutung, welche durch eine Gesellschaft ›fließen‹. Gleichzeitig gehören Strategiespiele aber auch zu einer stabilen und konventionalisierten Artikulationspraxis. Computer-Strategiespiele gehören zu den ältesten und erfolgreichsten Computerspielen und beziehen sich gleichzeitig auf eine Vorgeschichte des Spiels, die weit in die Vergangenheit der Kulturtechnik Spiel zurück reicht.5 Wenn ich also im Folgenden zunächst auf die enge Bindung des Strategiespiels an
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Die Geschichte des Strategiespiels ist so alt wie die Geschichte des Spiels selbst. Es scheint relativ einleuchtend, dass Spiele wie bspw. Schach oder Go als abstrakte Formen des Strategiespiels gelten müssen. Eine ›Geschichte des Strategiespiels‹ ist daher (nicht nur wegen des problematischen Genrebegriffs) eher sinnlos – zu viele einzelne Varianten und Modelle sind in der Frühgeschichte des Spiels nicht mehr auffindbar, zu unstabil und unklar ist die definitorische Eingrenzung dessen, was zu dieser Geschichte gehören müsste. Ein willkürlicher aber ggf. inspirativer Einstieg in die jüngere Geschichte des Strategiespiels ist möglicherweise Tactics von Charles S. Roberts (Avalon Game Company 1954). Dieses Brettspiel stellt erstmalig einige Spielmechaniken vor, die in einer Verbindung mit den späteren Computerstrategiespielen stehen: »Tactics introduced a totally new method of play which had no parallel in games designed to that point [...]. It was revolutionary to say that you could move up to all of your pieces on a turn, that movement up to certain limits was at the player’s option and that the resolution of combat was at the throw of a die compared to a table of varying results. As simple as this sounds now, the new player had to push aside his chess-and-checkers mindset and learn to walk again« (Roberts 1983). Der Weg von Tactics zu Chris Crawford’s Tanktics – Computer game of Armored Combat on the Eastern Front (Avalon Hill 1981) ist möglicherweise einer der signifikanten medial-apparativen Kipppunkte (vgl. hierzu bspw. Deterding 2008).
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den Raum eingehe, dann geschieht dies im Rückgriff auf diese über die Zeit hinweg relativ stabile diskursive Artikulationsform. Das Raumparadigma des Strategiespiels heutiger Form scheint sich hauptsächlich aus den militärstrategischen Spielen und Simulationen seiner Vorgeschichte abzuleiten (vgl. bspw. Dunnigan 2000). Abbildung 1: Rekonstruktion des Braunschweiger Kriegsbrettspiels von Johann Christian Ludwig Hellwig (1780)
Quelle: Foto des Verfassers
Abbildung 1 zeigt ein klassisches Beispiel. Es ist das 1780 von Johann Christian Ludwig Hellwig entworfene Kriegsspiel, welches er unter dem Titel »Versuch eines aufs Schachspiel gebaueten taktischen Spiels von zwey und mehreren Personen zu spielen« als Buch veröffentlichte und das in Braunschweig rekonstruiert und analysiert wurde.6 Es kann als Beispiel für die diversen Vorläufer einer strategischen Spieltradition verstanden werden. Der beabsichtigte Simulationscharakter dieses Kriegsspiels zeigt sich wiederholt in Hellwigs Diskussion der »Natürlichkeit« und »Sinn6
Das Spiel wurde als reines Regelbuch publiziert. Eine Analyse des Regelwerks und eine Rekonstruktion des Spiels haben in den letzten Jahren in Braunschweig statt gefunden. Für weitere Darlegungen vgl. Nohr/Böhme 2009.
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lichkeit« seiner Modellbildung. Diese Modellbildung ist in der damaligen Literatur zu Kriegsspielen ein immer wieder betonter Vorteil gegenüber dem abstrakten Lernen durch Schaubilder o.ä.7 Ein solcher Modellcharakter wird bei Hellwig selbst deutlich, wenn er von »Wahrheiten« der taktischen und strategischen Kriegsführung spricht, die ihre Bestätigung im Spiel selbst finden. An anderer Stelle heißt es paradigmatisch: »Der Endzweck eines taktischen Spiels ist, das Wesentliche der wichtigsten Auftritte des Krieges sinnlich zu machen. Je genauer die Natur dieses Gegenstandes nachgeahmt wird, desto mehr wird sich das Spiel seiner Vollkommenheit nähern« (Hellwig 1780: xi). Hier konzeptualisiert Hellwig die Idee einer symbolischen Probehandlung. Innerhalb dieser Handlungsform naturalisiert der Spielende unsichtbare ideologische Bedeutungsfelder. Wobei ›Ideologie‹ hier zunächst nur meint, das die Handlung ein Spiel zu spielen als eine Hybridisierung spezialdiskursiven Wissens (also bspw. militärischer Taktik und Strategie) mit einem Alltagshandeln (also beispielsweise ein abstraktes Brettspiel zu spielen) verknüpft wird. Die Effektivität einer solchen ›didaktischen‹ Geste wird durch die Simulation von Erfahrung durch das Spiel sicher gestellt (ich gewinne dadurch, dass ich meine Figuren auf eine spezifische Weise ziehe, die durch einen Plan bestimmt ist, der sich auf prognostizierte zukünftige Entwicklungen auf dem Spielbrett bezieht). Diese Simulation gewinnt ihren Erfolg vor allem durch die Identifikation des Spielenden mit der Position der Handlung – das Resultat ist die Erfahrung einer Selbstwirksamkeit. Inwieweit Hellwigs strategisches Wissen eine ›typische‹ Wiedergabe des kriegsstrategischen Wissens seiner Zeit ist, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Das von Hellwig angestrebte Wissen weist starke Ähnlichkeiten zu Clausewitz’ (1993) Ausführungen zur Kriegskunst auf. Deutlich wird dies beispielsweise wenn Hellwig das strategische Spiel mit dem ›Politischen‹ ins Verhältnis setzt: »Der natürlichste Weg, den Krieg auch wider des Feindes willen zu endigen, ist vielmehr der, wenn man ihn derjenigen Mittel beraubt, ohne welche er
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Es ist möglich, Parallelen zwischen den Argumenten Hellwigs und der jungen Schule der philanthropischen Didaktik aufzuzeigen. Dort sind analoge Argumentationen im Bezug auf Versinnlichung und Naturalisierung als ein immersives Modell des Lernens bspw. in den Arbeiten Joachim Heinrich Campes oder Johann Bernhard Basedows aufzufinden (vgl. Sandkühler 2009).
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den Krieg nicht fortsetzen kann. […] Die Eroberung des feindlichen Landes muß also dem Krieg ein natürliches Ende machen.« (Hellwig 1803: §8) Dies geschieht ganz im Sinne des bekannten Diktums Clausewitz’, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei. Nicht der brutalste und rücksichtsloseste Kämpfer gewinnt den Krieg (bzw. das Kriegsspiel), sondern der am politischsten (oder besser: rationalsten) Handelnde. Nach Clausewitz konnte Krieg nicht mehr länger als Naturzustand angenommen werden – Krieg wurde zum Teil des Kultur-Systems von Rationalität, Politik, Ökonomie und Wissenschaft. Die gesamte Philosophie des Hellwig-Spiels nötigt seine Spieler, den Gegner strategisch und taktisch auszukontern. Es geht dabei weniger um das Schlagen von Figuren, als um die geschickte Raumbeherrschung und auf überlegene Bedrohungssituationen hin zu planen, die den Gegner zum Zurückweichen zwingen. Wie auch im Schach gewinnt der Spielende, der in der Lage ist, vorausschauend, antizipierend und in Raumkategorien zu denken und weitest mögliche Prognosen über mögliche Entwicklungen auf dem Brett zu treffen. Kurz gesagt, wer im Hellwigschen Spiel besser räumlich vorausplant und vorausschaut, der wird auch gewinnen. Damit treffen im Braunschweiger Kriegsspiel zwei Funktionen aufeinander, die zwar auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun zu haben scheinen, die aber dennoch über die Jahrhunderte oft zueinander gefunden haben und sich bis heute in Strategiespielen manifestieren: die Idee, den Raum selbst zur dominanten Handlungsebene zu machen – und die Idee einer spezifischen Didaktik, die darauf setzt, im Sinne einer aufklärerischen Pädagogik abstrakte Ideen durch das Angebot des spielerischen Nachvollzugs sinnlich auszuhandeln Darüber hinaus gibt es jedoch in Strategiespielen auch eine abstraktere Funktion des Raumes, eine Funktion, die in mehrfachem Sinne als Raumfetischismus bezeichnet werden kann. Einerseits verweist die spezifische Räumlichkeit des Braunschweiger Kriegsspiels (wie auch anderer computerbasierter Strategiespiele) auf etwas Fehlendes: eine tatsächliche räumliche Verortung oder Positionierung. Massenmedien (wie eben auch Spiele) tendieren zu einer Aufgabe einer konkreten Verankerung im Raum, die zu kompensatorischen Praktiken führt.8 Medien-Spiele nehmen keinen Platz, keinen Ort ein, ihre Objekte sind nicht materielle sondern arbiträre symbolische Formen. Die
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Vgl. zur Produktion von Positionierung in Medien auch Nohr 2002.
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Visualität des Spielraumes ist das Resultat einer symbolischen Konventionalisierung des Mediums. Im Falle computerbasierter Spiele bedeutet dies beispielsweise aus anderen Medien (wie dem Kino oder der Kartographie) diese Codierungen zu entlehnen. Rechnerbasierte Spiele enthalten aber gleichzeitig ein Übermaß an Räumen, Orten, Plätzen, Wegen, Netzen oder begrenzten Flächen. Sie entwickeln eine Art von ›obsessiver‹ Präsenz topografischer Elemente. Das Resultat dieser beiden Phänomene ist ein Spielraum, der im doppelten Sinne als Fetisch beschrieben werden kann. Ein Fetisch ist – in der sich auf Freud beziehenden psychoanalytischen Schule – ein Begriff für die Attraktion von unbelebten sexuellen Ersatzobjekten. Nach Freud ist der Fetisch charakterisiert als unbelebtes und ungeeignetes Ersatzobjekt des sexuellen Begehrens, der allerdings erst dann pathologisch wird, wenn dieses Streben über durchaus regelmäßige »Überschätzungen des Sexualobjekts« (beispielsweise im Falle der jungen Liebe) hinausgeht und sich fixierend an die Stelle des »normalen« Sexualtriebes setzt (Freud 1978: 252ff.). Sich in einem dreidimensionalen Environment wie GTA – Liberty City Stories (Rockstar North 2005) aufzuhalten, mag noch kein solcher Fetischismus sein. Aber die permanente Aufrufung der (vorgeblichen) Möglichkeiten und Versprechen solcher offener Welten und sandboxgames in unterschiedlichsten Diskurszusammenhängen könnte teilweise als eine solche pathologische Fetischisierung im Sinne Freuds verstanden werden. In der marxistischen Terminologie bezeichnet demgegenüber der Fetischcharakter den Glauben daran, dass bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse dauerhaft seien, dass sie ewige und unveränderliche Mächte darstellen, die uns beherrschen: Nation, Staat, Familie, Ware, Geld, Kapital usw. Speziell die Ware wird in der Marxschen Ökonomie mit diesem Fetischcharakter in Verbindung gebracht: Die Ware wird mit den Attributen der Austauschbarkeit und dem Antrieb zum Tausch verbunden – und mit dem naturalisierten, vorgeblich objektiven und internalisierten Wissen, dass die Warenlogik unveränderlich und außerhalb der Kontrolle des Subjekts sei (vgl. Marx, Kapital I: 86). Aus dieser Perspektive könnte auch der Spielraum als ein solcher unveränderlich angenommener Fetisch gelten. Dies wäre eine Perspektive, innerhalb derer den Räumen des Spiels (als einem dieser Attribute) eine Funktionalität zugeschrieben wird, die der strukturellen Logik der Medien zuzuordnen ist. Die Räume des Spiels sind in einer solchen Betrachtungsweise dann ›nur‹ codierte und
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errechnete, fiktionale, nicht-performative, entreferentialisierte und immaterielle Raumanmutungen ohne jede Verbindung zur Welt. Sie wären insofern als Fetisch zu betrachten, als ihnen eine grundsätzliche ›Nur-Medialität‹ zugeschrieben würde, die dann entweder von einer Wirkungslosigkeit dieser Räume (da Medien der Interaktion mit der realen Handlungswelt per se ohnmächtig seien) oder aber von einer Wirkung als narrativem Text ausginge (da Medien wirkmächtige Angebote zur Übernahme von Werten darstellen). Spielende konzeptualisieren den Spielraum nicht nur als Ort einer (Probe-)Handlung, sondern ebenso als einen Ort für immaterielle Kompensationen der Medialisierungen des Spiels als unveränderliche, stabile Konstruktionen ohne Performativität. Dem Spieler erscheint der Spielraum des Mediums hermetisch gegen die Welt abgeschottet.9 In einer solchen Betrachtungsweise gerät die Oberfläche, also das sichtbare ›Bild‹ des Spielraums, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Es ist ein Bild, das als Konsequenz des Raumfetischismus von der Welt geschieden zu sein scheint, ein Bild oder ein Raum eines konsequenzenfreien Probehandelns – kein Fenster zur Welt, sondern zum Spiel. Diese Oberfläche ist es aber, welche die Koppelung des Spiels an ein Medium (nämlich den Computer) analytisch zunächst in den Mittelpunkt rückt. Sowohl Spiel als auch das Medium Computer drücken sich gleichermaßen in der grafischen Benutzerschnittstelle (grafic user interface = GUI) aus. Wenn das Spiel als ein Medienimplement gelesen wird, ist hier das entscheidende Argument für eine medienbezogene Analyse der Spielräume aufgerufen: Das Spiel und der Computer teilen sich die visuelle Repräsentation, und beide zielen auf ihrer Interface-Ebene auf eine idealisierte Darstellung ab. Vierfarbig abgehobene Kreise markieren bei »Mensch-ärgere-dich-nicht« die Sicherheit des eigenen Heimes und ein kleines Eimerchen mit einem Grüne-PunktLogo markiert im Betriebssystem Windows XP das reversible Löschen von Dateien. Im Sinne der hier vorgestellten These möchte ich mich im Folgenden verstärkt auf die Funktion von Karten als grafische Benutzerschnittstelle und Herstellungsort des Spielraums konzentrieren. Die Interfacekarte soll als Ort des Vollzugs von symbolischen Handlungen
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Es wäre darüber zu spekulieren, inwieweit dieses Konzept der (vorgeblichen, fetischistischen) Abgeschlossenheit mit dem Konzept Huizingas zum (ebenso der Welt gegenüber abgeschlossenen) Zauberkreis steht.
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verstanden werden, die dabei gleichzeitig auch Repräsentation, also eine symbolische Form mit intersubjektiver symbolischer Gültigkeit ist. Als Konsequenz daraus wären Spieltopografien daraufhin zu befragen, welches soziale und diskursive Wissen in strategischen Spielräumen eingeschrieben ist. Und umgekehrt muss man auch fragen, wie sich dieses Wissen in Raumkonzeptionen alltagsweltlicher Handlung und Denkungsweise zurück schreibt. Mit dieser Konzeptualisierung der Räumlichkeit des Spiels im Sinn soll nun ein zeitlicher Sprung gemacht werden. Im Folgenden sollen nun konkret die Funktionen und Bedeutungsstrukturen der Spielkarten in aktuellen GUIs reflektiert und die daraus resultierenden Raumanmutungen untersucht werden. Kerngedanken dieser Untersuchung ist es, dass die Karten in Computerspielen der primäre Ort sind, an dem symbolische Handlungen und Funktionen im Sinne einer intersubjektiven Repräsentationsebene ihre Sinnstiftung entfalten. Dabei liegt der Schwerpunkt der Reflexion im Folgenden auf der Frage, welches soziale und diskursive Wissen sich in diese Spiel-Topografien und strategischen Räume einschreibt. Wie inskribiert sich dieses Wissen in die Raum-Konzeptualisierung in den Alltagshandlungen des Spiels?
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Einen ersten aber wichtigen Fingerzeig für die Sinnhaftigkeit einer solchen Frage liefert aber nicht nur der enge geschichtliche Zusammenhang von aktuellen Computerstrategiespielen und den historischen Vorläufern der Kriegsbrettspiele oder auch den militärischen Simulationsprogrammen. Ebenso eindeutig ist eine solche Frage dadurch motiviert, als das Strategiespiel den Konflikt zum zentralen Motiv erklärt. Egal ob es sich dabei um tactical shooters, Zivilisationsspiele oder Aufbaukampfsimulationen handelt – das master narrative ist die bewaffnete Auseinandersetzung. Und ebenso generieren sich auch die Wirtschafts- und Stadtaufbausimulationen als ökonomisch kontinuierte Konfliktmodelle. In Age of Empires lasse ich meine Armee gegen eine andere Armee um ein Territorium kämpfen – in SimCity (Maxis 1999) erobere ich den unbebauten Raum gegen den ›Gegner‹ knapper Ressourcen oder zeitkritischer Beschränkungen. Beide Formen des Spiels sind in dem Sinne politisch, als es gilt, Raum zu erobern, Ressourcen zu verwalten und Gegner zu vertreiben. Politik ist hier als Handlung
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im Raum kodiert. Meine These ist es nun, dass die in Strategiespielen vertretene Koppelung von Raum an Politik aber nicht beliebig, sondern im Sinne einer politischen Kunstlehre – nämlich der Geopolitik – statt findet. Im Gegensatz zur Anthropogeographie, der géographie humaine oder der politischen Geographie ist die Geopolitik keine deskriptive sondern eine operative Theorie. Es ist wichtig hier zu unterscheiden zwischen den operativen Formen von Geopolitik als Politik und den kognitiven Interessen einer politischen Geographie oder der Schule der kritischen Geopolitik.10 Geopolitik ist eine Idee einer materialistischphysikalisch begründbaren Politik.11 In der Geopolitik entsteht Politik nicht aus dem Sozialen, dem Demographischen, dem Vertrag oder dem Ökonomischen sondern aus dem Physischen. Die Begründung von Politik ebenso wie die Ziele von Politik sind territorial definiert. Topologie, räumliche Ordnungen und Differenzfelder deklinieren das politische Handeln und Analysieren. Das Territorium, die Grenze und die Raumordnung sind die primären Bezugsgrößen der Geopolitik. Das materialistische Modell der Geopolitik wird auf der sekundären Ebene begleitet vom Gedanken, Kultur als einem biologistischen Verbund homogener Subjekte zu verstehen, die sich als ein Körperliches im Raum befinden. Seinen Anfang findet ein solches Konzept mit den Überlegungen des Biogeographen Karl August Möbius, der in seiner Schrift »Die Auster und die Austernwirtschaft« erstmalig den Begriff der »Lebensgemeinschaft« eingeführt hat (vgl. Andreas 2008). Ziel seiner Überlegungen war es, die Tierpopulation nicht als jeweils isolierte Arten zu betrachten, sondern Beziehungen zwischen der jeweiligen Art zu anderen Tieren, Pflanzen und Umweltfaktoren, vor allem aber die topografische Ordnung dieser Ensembles zu untersuchen (vgl. Bühler 2006). Mit seiner Schrift hatte Möbius einen zentralen Begriff der Ökologie geprägt, den der »Lebensgemeinschaft«. Hier entsteht aber eben auch eine Denkrichtung, die sich im Folgenden in der geopolitischen Argu-
10 Für letztere siehe beispielsweise Lacoste 1990; Gregory 1978; Ó Tuathail 1996; Schöller 1957. 11 Geopolitik bezeichnet »… ein intellektuelles Vorgehen […], eine Sichtweise, in der räumliche geographische Konfigurationen der verschiedenen Typen von Phänomenen Vorrang genießen, welche in die Kategorie des Politischen fallen« (Lacoste 1990, 29).
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mentation durchsetzen sollte – der Gedanke, dass eine Kultur als solche »Lebensgemeinschaft« im Raum als homogene Entität zu betrachten sei – als ein »Volkskörper«. Die deutsche Geopolitik und namentlich Friedrich Ratzel12 übersetzt den Gedanken des vernetzten Denkens aus dem biologischen in einen sozialen Kontext und reduziert ihn zur Legitimation einer räumlich bestimmten Politikform.13 Von den 1920er Jahren bis 1945 wird diese Koppelung von biologistischem Kulturbegriff und territorial motivierter Politik als ›Lehre von Blut und Boden‹ oder als vorgebliches Wissen vom ›Großraum‹ nachhallen. Hans Grimms populärer Roman »Volk ohne Raum« (1926) wird in Deutschland als Legitimation für die ›natur-rechtliche‹ Expansion Deutschlands in den ihm angestammten ›Großraum‹, ›Kulturboden‹ und ›Lebensraum‹ gelesen. Geopolitiker wie Friedrich Ratzel, Karl Haushofer14 und Rudolf Kjellén15 arbeiten an der Postulation eines
12 Der deutsche Geograph Friedrich Ratzel (1844-1904) zählt zu den frühesten Autoren der ›ersten Welle‹ der Geopolitik. Seine Publikation »Politische Geographie« (1897) zählt zu den einflussreichsten Schriften dieses Diskurses (vgl. Kost 1988). 13 Ein analoger Prozess ist übrigens auch im Bezug auf die zeitgleich etablierte Evolutionstheorie zu beobachten. Die Transformation der anthropologischen und biologischen Komponenten der Darwinschen Evolutionstheorie zu einer operativen und vor allem normativen politischen Sozialtheorie ist für den deutschsprachigen Raum zutiefst mit Ernst Haeckel verbunden (vgl. Desmond/Moore 1994). 14 Karl Ernst Haushofer (1869-1946) zählt vielleicht zu den wichtigsten Figuren für das Verständnis einer faschistischen Geopolitik. Der deutsche General und Geograph entwickelte das Konzept (und die Terminologie) der Geopolitik aus einer weit gestreuten Vielzahl von Quellen und Einflussfaktoren, so bspw. den Schriften von Oswald Spengler, Alexander Humboldt, Karl Ritter, Friedrich Ratzel, Rudolf Kjellén und Halford J. Mackinder. 1923 gründete er die »Zeitschrift für Geopolitik«. Hauptkonzept Haushofers Theorie (die ihren Weg in die Nationalsozialistische Propaganda und Politik über dessen engen Freund Rudolf Hess fand) war die Idee des Staatskörpers und das »Lebensraum«-Konzept, die Land-See-Dichotomie, die Betonung des Autarkiestatus’ der Nation und die Idee der »PanRegionalität« (»Panideen«). Dieses Konzept zielt darauf, die Welt als angetrieben von einem Kampf einiger weniger multinationaler Sphären zu begreifen (vgl. Kost 1988).
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Staatskonzepts als geographischen Organismus oder Erscheinung im Raum.16 Und genau hier, am Übertritt der Grenze zwischen politischer Geographie und Geopolitik ist die Grenze zwischen wissenschaftlicher Forschung und praktisch-propagandistischer Anwendung anzusetzen. Allerdings muss auch deutlich gemacht werden, dass diese geopolitischen Paradigmen während der Zeit des Nationalsozialismus zwar eine wissenschaftliche Dominanz entfalteten, aber keineswegs zum Kern der faschistischen Ideologie, zum alleinigen Beweggrund deutscher Politik oder zum common sense wurden (vgl. Dijkink 1996: 29). Genauso wenig wie sich die nationalsozialistische Expansionspolitik allein aus der geopolitischen Motivation erklären lässt, kann die Geopolitik Haushoferschen Zuschnitts mit dem Ende des Nationalsozialismus als beendet verstanden werden. Heutzutage scheint uns zunächst nicht nur das Denken in politischen Handlungskategorien, das sich nur aus topologischen oder geographischen Parametern speist, grob reduktiv. Aktuell würden wir Politik – nicht nur im Zeichen des spatial turns – als Abstraktum an den Raum koppeln, aber nicht als operationale und normativ-pragmatische Handlungsbegründung. Das Strategiespiel tut dies aber. Betrachten wir kurz einige der spezifischen Motive, mit denen uns Strategiespiele konventionalisiert und wiederkehrend konfrontieren. 17 Strategiespiele definieren die Befreiung besetzten Raumes als Bedingung für den (politischen) Sieg. Es ist nicht primär die strategische oder taktische Unterwerfung des Gegners, die das Spiel entscheidet, sondern die Befreiung des gegnerischen Raums auch vom letzten Anzeichen des Gegners. Ist der Raum konsequent befreit, wird er dem eigenen Territorium eingegliedert. Dies mag zunächst die offensichtlichste Form von geopolitischen Positionen im Spiel sein. Dazu kommt die Position, dass Strategiespiele den Krieg primär als Spiel der über-
15 Rudolf Kjellén (1864-1922), ein schwedischer Politikwissenschaftler, scheint der erste gewesen zu sein, der den Begriff ›Geopolitik‹ benutzte. Er wurde stark von Ratzel beeinflusst (vgl. Kost 1988). 16 Dies ist vielleicht der Hauptpunkt der Arbeiten von Friedrich Ratzel: eine enge Relation von Nationalkultur, Volk und territorialem Raum zu einem Konzept des Staates zu verschmelzen (vgl. Schöller 1957; Kost 1988). 17 Ich beschreibe diese Motive nun konsequent aus der Perspektive und teilweise auch mit der Nomenklatur der klassischen Geopolitik der 1920er bis 1950er Jahre.
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mächtigen im Raum befindlichen Ressourcen inszenieren. Vor den Konflikt stellt das Strategiespiel den Aufbau eines Ressourcenmanagements, einer Produktionsökonomie und die Sicherstellung genügenden Produktionskapitals. Wer über Ressourcenvorteile verfügt, gewinnt. Aus diesen beiden Punkten folgt eine Konzeption des Raumes als ›Lebensraum‹ – die Notwendigkeit von Konfliktpolitik ist die Erweiterung des eigenen Territoriums, Macht zielt auf die Aneignung von Raum. Zugewonnener Raum erhält seinen Wert aus den in ihm enthaltenen Ressourcen. Expansion zielt nicht nur auf den Raum als einzigem Moment der Politik ab, Expansion kann auch nur aus dem Raum heraus finanziert werden. Dieses materialistische Prinzip der Politik als Raumform schlägt sich auch an anderer Stelle nieder. Das Strategiespiel dekliniert den Staat beispielsweise als Organismus, als linear vernetztes Gebilde von Organen. In einem typischen Multiplayer-Spiel eines klassischen Strategiespiels wie beispielsweise Age of Empires III (Ensemble Studios 2005) wird sich zu einem bestimmten Moment in der frühen Phase des Spiels (in der klassischerweise zunächst der Aufbau von Streitkräften und die Technologieweiterentwicklung betrieben wird) eine typische Konstellation einstellen. Alle Spielenden werden mit dem gleichen Problem konfrontiert sein: ihre Ressourcen an Gold, Holz und Nahrung werden knapp werden. Die Lösung dieses Engpasses bietet eine Expansion in den Raum hinein, um weitere, bis dato noch nicht entdeckte oder kontrollierte, Ressourcen zu erlangen. Um mehr Raum zu kontrollieren, müssen komplexe Produktionsketten in Gang gesetzt werden: Einheiten, Waffen und Verteidigungsanlagen müssen produziert werden, um die Expansion abzusichern. Diese Einheiten werden in spezialisierten Gebäuden produziert – die zu errichten wiederum Platz benötigt. Diese komplexe Interrelation von Produktionsketten, Ressourcenmanagement, militärischen Operationen und weitsichtiger Planung lässt sich auch als Dynamik eines vernetzten, homogen veranschlagten, politischen Körpers beschreiben. Das Wachstum dieses Staatskörpers benötigt Raum; das Ziel des Staatskörpers ist es, Raum möglichst exklusiv auszufüllen. Strategiespiele scheinen das Konzept der ›Lebensgemeinschaft‹ einer engen biologisch-geographischen Einheit von Raum und Staat(svolk) zu erfüllen: »Lebensraum gibt es nur für ein Volk« (Flohr 1942: 394). Daraus resultiert ein im Strategiespiel ebenso häufig anzutreffendes Zentrums-Peripherie-Denken. Dies zielt auf die geopolitische
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›Theorie zentraler Orte‹. Wir können die aus der oben beschriebenen Spieldynamik entstehenden Infrastrukturen und militärische Agglomerationen oft als solche Zentrums-Peripherie-Konstellationen beschreiben. Einem Zentrum (Marktplatz, Zentralbasis, Heimathafen etc.) sind unterschiedlichste Aufbauzonen, Vororte, Vorposten, Handelsstationen oder Siedlungen zugeordnet. Dieses Phänomen wurde (deskriptiv wie operativ) in den Arbeiten Walter Christallers dargelegt.18 Die dort vertretene These besagt, dass es eine natürliche Raumordnung gibt, die sich aus der Logik von Ökonomie, Transport oder Regierung in eine hierarchische Ordnung von Räumen, Städten und räumlichen Strukturen ergießt. Abbildung 2: Hierarchische räumliche Ordnungen in Civilization IV
Quelle: (Sid Meier’s) Civilization IV (2005) © Firaxis Games19
Vergleicht man dieses Konzept mit denen sich aus der Spiellogik und -mechanik ergebenden Städten und Gebäuden beispielsweise in einer typischen Partie von Civilization IV (Firaxis 2005), so sieht man leicht, dass es eine innere Logik des Spiels zu geben scheint, die dazu anhält, 18 Walter Christaller (1933): Eine ökonomisch-geographische Untersuchung über die Gesetzmäßigkeiten der Verbreitung und Entwicklung der Siedlungen mit städtischer Funktion. Jena (zit. nach Rössler 1987, 183ff.). 19 Entnommen
aus:
http://www.sekritforum.com/storybook/main/?p=176
(letzter Abruf 17.12.2010).
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sich im Ordnungsraster von Zentrum und Peripherie zu bewegen (vgl. Abb. 2 und 3). Abbildung 3: Hierarchische räumliche Ordnungen in Anno 1701
Quelle: Anno 1701 (2006) © Related / Sunflowers20
Resultat solcher Raumpolitiken ist dann aber auch eine konsequente Konstitution von topografischen Differenzfeldern in Strategiespielen. Per definitionem ist das Strategiespiel ein (Wettbewerbs-)Spiel,21 d.h. es konstituiert sich über die Bedingung, dass mindestens zwei Parteien gegeneinander antreten. Damit ist ein bestimmter binaristischer Blick auf die Welt dem Spiel (und seiner Konflikt-Erzählung) inhärent. Es gibt hier immer eine Latenz von ›die gegen mich/uns‹, die einen spezifischen Blick auf ein (konstruiertes) Anderes etabliert. Eine solche Anordnung kulminiert in einer (tatsächlichen oder imaginierten) Grenzideologie, die das Nicht-Eigene zum Anderen überformt. Die
20 Entnommen aus: http://annowelt.eu/SSC_2008/Einzelseiten_2008/ Februar _2008/ Eine_reale_Stadt_anno_1701.html (letzter Abruf 17.12.2010). 21 Computerstrategiespiele müssen in der Spiel-Taxionomie nach Callois (1966) vorrangig als Wettkampf-Spiel gewertet werden. Callois unterscheidet in agon (Wettkampf), alea (Zufall), illinx (Rausch) und mimikry (Maskierung).
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Konstruktion einer Grenze ist immer auch die Konstruktion einer Segregation oppositioneller Kräfte, die dann zumeist mit differenten Weltsichten, Ideologien, Lebensweisen oder Rassen konnotiert wird.22 Diese Differenzpolitik materialisiert sich in unterschiedlichsten Repräsentationsformen innerhalb von Strategiespielen. Hier finden wir viele der auf dieser Differenzpolitik beruhenden, anhängigen geopolitischen Ordnungsraster, wie beispielsweise den Land-Meer-Antagonismus (z.B. in Anno 1701 [Sunflower Interactive 2007]),23 das ›Naturrecht‹ der Kolonisation, die Überlegenheit bestimmter Rassen aufgrund ihrer spezifischen Lebensräume (alles bspw. Civilization IV [Firaxis 2005]) oder die Konstruktion eines Diskurses der ›Natürlichkeit‹ von Grenzen – manchmal aber auch ›nur‹ die Glorifikation des ländlich-agrarischen Lebens (z.B. Die Siedler [Blue Byte 2007]). Strategiespiele narrativieren also eine spezifische Formation politischen Wissens. In Strategiespielen treffen wir auf zwei Ebenen eines solchen Wissens: Einmal eine konkrete Umsetzung geopolitischer Paradigmen in den Narrationen und Handlungsfeldern von Strategiespielen – zum anderen eine abstraktere Formation der Produktion eines spezifischen, spezialdiskursiven Wissens über den Raum. Der Raum des Strategiespiels wird per se zu einem Raum des politischen Handelns. Strategiespiele überformen eine spezielle Repräsentationsform von Raum (die Karte) konsequent zu einem Konfliktraum und zu einem Raum der Sichtbarkeit, der Aneigenbarkeit und der Beherrschbarkeit. Das Wissen des Strategiespiels über den Raum ist per se ein geopolitisches Wissen; ein Strategiespiel eine wiederholte Erzählung eines ›Clash of Civilizations‹.
22 Dies stellt den ideologischen wie operativen Kern einer normativen Geopolitik dar. Die Legitimation durch einen (vorgeblich) Anderen: »Die deutsch-russische Grenze ist nicht die Grenze zwischen zwei Staaten, sondern zwischen zwei Welten« – Friedrich Ratzel (1898): Deutschland. Eine Einführung in die Heimatkunde; zit n. Dijkink 1996, S. 17. 23 Der Land-See-Antagonismus ist einer der Hauptthesen der geopolitischen Theorie. Halford J. MacKinder etablierte seine »Heartland-Theory«1904. Hier geht es um die Annahme der Möglichkeit einer starken landbasierten Sphäre, die im Kontrast zu einem meerbasierten Empire des Kolonialen steht. Karl Haushofer reformulierte diese These in seinen eigenen Arbeiten als normatives Argument gegen Großbritannien und seiner ›Weltherrschaft‹ (vgl. Kost 1988).
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C LASH OF C IVILISATION Mit dem auf Samuel Huntington (1996) verweisenden Begriff des ›Clash of Civilizations‹ ist nun aber auch eine weitere Deutungsebene für diesen analytischen Befund genannt. Denn es geht mir keinesfalls darum, die Behauptung aufzustellen, dass Strategiespiele ein ideologisches Paradigma stabilisieren, welches im engeren Sinne nur nationalsozialistische Legitimationsrhetorik ist. Die geopolitischen Artikulationen Ratzels, Haushofers und anderer stehen nicht singulär in der Geschichte der Geographie und der Weltpolitik.24 Folgt man der Argumentation des französischen Geographen Yves Lacoste (1990), so ›stirbt‹ die Geopolitik nicht mit dem Ende des Nationalsozialismus sondern entfaltet sich unter dem Eindruck des globalen Konflikts des Zweiten Weltkriegs erst zur vollen Wirkungsmacht. In Deutschland entsteht um Peter Schöller herum ein Kreis kritischer Geographen, die Geopolitik-Forschung betreiben, um die deutsche Geschichte aufzuarbeiten. In den USA setzt ein vornehmlich an globalpolitischen Paradigmen orientiertes strategisches Instrumentalisieren der Geopolitik ein, das sich maßgeblich mit der Analyse der ›kommunistischen Bedrohung‹ in der Erarbeitung von außenpolitischen Positionen von der Südostasienpolitik über die Mittelamerikapolitik bis hin zum Kalten Krieg durchzieht25 – und seine vielleicht prominenteste (und späte)
24 So hat beispielsweise der deutsche Geographietheoretiker Peter Schöller (1958) schon in den 1950er Jahren darauf hingewiesen, dass geopolitische Argumentationen keineswegs partial nur für die 1920er bis 1940er Jahre anzunehmen sind. Jenseits ihrer Diskreditierung durch den Missbrauch im Kontext nationaler und nationalsozialistischer Ideologien ist die Geopolitik in ihren verschiedenen Facetten und ihrer Geschichte weit mehr als eine nur historisch punktuelle funktionale politische ›Kunstlehre‹. Schöller und andere können zeigen, dass bereits kurze Zeit nach Ende des Nationalsozialismus der Begriff ›Geopolitik‹ verbannt wurde, während die zentralen Paradigmen jedoch weiter diskutiert wurden: »…from 1951 onward it [geopolitics] has with new problems and in a more prominent way entered once more the field of academic discussion« (Schöller 1957: 1). 25 Natürlich war der kalte Krieg nicht nur ein rein symbolisches System geopolitischer Politik (wie z.B. die ›Domino-Theorie‹). Die Konzepte der thermonuklearen Abschreckung und Balance oder das Wettrüsten waren offenkundig nicht von einer Metapher der Räumlichkeit befeuert.
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Variante im schon erwähnten Konzept vom ›Kulturkampf‹ Huntingtons findet. Gleichzeitig zum Wiedererstehen dieser operativen Geopolitik im angloamerikanischen Raum entstand aber auch eine kritische Geographie im Kontext der critical studies und der politischen Geographie. Angeregt durch die Arbeiten Edward Saids (1981) analysieren Geographen wie Derek Gregory (1978) oder Gearoid Ó Tuathail (1996) diese Diskurse von Sprache, Zeichen und kartographischen Repräsentationen als Kategorien des Alltagslebens und der sozialen Bedeutungsproduktion. In Frankreich findet sich die Geopolitik demgegenüber vor allem im Umfeld der Geographie- und Kartographiezeitschrift Hérodote wieder. Hier werden unter der Perspektive eines marxistischen Materialismus auch eher operativ denn analytisch zu wertende Konzepte über globale Raumpolitiken diskutiert (Vgl. Lacoste 1990: 9; Dijkink 1996: 4).26 Die bekannten Arbeiten Vidal de la Blanches und der Annales-Schule kombinieren Geographie, Historiographie, Milieu- und Mentalitäts-Studien mit dieser Perspektive.27 Geopolitik ist also nicht nur eine exklusiv nationalsozialistische Pseudodisziplin zur Legitimation von Expansion und Eroberung. Sie ist ebenso gut ein Gemenge diskursiver Formen und Kontexte, die sich am Beginn dieses ersten ›globalen‹ Jahrhunderts materialisiert. Ein dezidiertes Revival der Geopolitik der 1920er Jahre aber ist sicherlich das Denken um den ›Clash of Civilizations‹. Huntingtons Argumentation ist ein Regress in die frühen Argumente der Geopolitik. In einer Suche nach Beschreibungsformen der Gegenwart und Zukunft der Welt konzentriert sich Huntington auf die Reflexion der Dreieinigkeit von Kultur, Identität und Ideologie. Radikal verkürzt stellt sich eine Welt nach dem Kalten Krieg für Huntington als eine von kulturellen Konflikten geprägte dar. Um einen Kernstaat, als Mittelpunkt einer Zivilisation (im Sinne eines Kulturkreises), herum gruppieren sich in
26 Zugegebenermaßen eine bizarre Parallele – die sich aber aus dem beiden Konzepten zugrunde liegenden Materialismus ergibt. 27 Die Annales-Schule (benannt nach deren Zeitschrift »Annales d’histoire économique et sociale«) wurde um das Ende der 1920er Jahre von französischen Historikern gegründet, die daran interessiert waren, sozialwissenschaftliche Methoden zu nutzen und dabei bevorzugt soziale und weniger politische Topoi bearbeiteten. Marc Bloch, Lucien Febvre, Fernand Braudel oder Philippe Ariès waren einige der bekannteren Mitglieder dieser Schule.
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konzentrischer Staffelung schwächere Staaten. An den Berührungslinien oder ›Bruchlinien‹ kommt es zu Konflikten zwischen den so definierten Kultursystemen. Trotz gewisser Aversionen rücken die Länder um die Kernstaaten zusammen. Die erstarkenden Kernstaaten treten an die Stelle der alten Supermächte. Es gibt allerdings keine globalen Sicherheitsinteressen mehr: Die Welt wird aufgrund ihrer Kulturkreise geordnet oder aber, so Huntington, keine Ordnung erfahren. Die potentielle Fähigkeit eines Kernstaates, seine Ordnungsfunktion zu wahren, hängt dabei aber davon ab, ob andere Staaten diese Rolle anerkennen, ihn also als kulturell anverwandt anerkennen. Die ›finale‹ Aushandlung ist dann in letzter Konsequenz eben die Frage nach dem globalen Kernstaat. Huntingtons Reflexionen verdichten sich letztlich in der Frage, wie der Westen seinen kernstaatlichen Führungsanspruch gegen die asiatischen oder islamischen Kulturkreise durchzusetzen in der Lage sei. Man könnte Huntington (neben vielem anderen28) den normativen Charakter seiner Überlegungen, die sich hinter dem Schein der Deskription verbergen, vorwerfen. Es soll an dieser Stelle aber keine ausführliche Kritik an Huntingtons Ausführungen unternommen werden.29 Vielmehr geht es darum darauf hinzuweisen, dass ein Buch wie
28 Allein die Ersterscheinung seiner Thesen in Form eines Artikels in Foreign Affairs ist signifikant: Hier skizzierte 1947 George Kennan, damals einer der wichtigsten Mitarbeiter des US-Außenministeriums, die zukünftige Ost-West-Konfrontation und lieferte gleichzeitig die theoretische Grundlage für die ›Containment-Politik‹ der US-Regierung. In diesem Kontext wird klar, dass der »Kampf der Kulturen« nicht eine populistische soziopolitische Studie, sondern, aufgrund seines Umfeldes, relevant für die pragmatische US-amerikanische Außenpolitik ist. Nicht zuletzt dieser Umstand deutet auf den normativen Anspruch von Huntingtons Thesen. Ausführlichste Auseinandersetzungen mit Huntingtons Thesen liefert bspw. Bassam Tibi (1995). 29 Letztlich kommt Huntington in seiner Argumentation um die formende Kraft der Kulturen in Konflikt mit einer Differenzierung zwischen Kultur, Identität und Ideologie. Die Selbstbeschreibung eines Menschen definiert sich aus der Zugehörigkeit zu mehreren Klassifizierungskategorien und nicht nur aus seiner kulturellen Zugehörigkeit. Legt man als relevant für eine globalpolitische Beschreibung nur solche Parameter fest, die Gruppenzugehörigkeiten beschreiben, so muss doch zumindest zwischen Kultur
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Clash of Civilizations unzertrennlich verbunden ist mit beispielsweise der Civilization-Serie (oder den Age of Empires-Serien, der Anno-Serie oder der Siedler-Serie). Beide, Buch wie Strategiespiel, konstruieren eine interdiskursive Narration der Raumpolitik, die hochgradig normativ und reduktiv ist. Ebenso wie die geopolitischen Aspekte der unterschiedlichen Spiele, die im Lauf der Argumentation herangezogen wurden, konstruiert auch Huntington eine Welt, die von ZentrumsPeripherie-Konstellationen, Land-See-Antagonismen, geodeterminierten Konflikten und Bruchlinien zwischen Kulturen durchzogen ist – und von einer kompletten Negation der Idee, dass Kultur und Nation Konzepte sein können, die sich nur schwer als homogene Körper, Volkskörper oder Organismen beschreiben lassen. ›Kultur‹ und ›Nation‹ in eins zu setzen, ist nicht nur ein unzulässiger Reduktionismus, sondern auch die aktive Ausblendung eines sozialgeographischen Paradigmas, welches ›Kultur‹ als definitorisches Problem darstellt und – im weitesten Sinne – als Konglomerat von Mikro- und Sub-Kulturen erfasst (Crang 1998: 21).
und Ideologie differenziert werden. Ideologie ist in diesem Kontext nicht mehr als bestimmendes Paradigma des Kalten Krieges zu verstehen, sondern als ethisch-moralisches Wertesystem jenseits des Individuums. In dieser Anschauung aber ist es durchaus denkbar, Religionen, die bei Huntington unter dem Kulturbegriff abgehandelt werden, als Ideologie zu klassifizieren, die möglicherweise der kulturellen Prägung von Individuen oder Systemen kontradiktorisch gegenüberstehen.
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S CHLUSS Politik ist eine Konfiguration von territorialen Strukturen durch Diskurse und Ideologien. Raum kann eine politisch konstituierte Formation sein. Strategiespiele definieren Politik gewöhnlich als Konflikt und räumliche Konfiguration. Armeen und andere Einheiten müssen ausgebildet und produziert und im Raum positioniert werden, Wissen (als Möglichkeit zur Weiterentwicklung) muss erworben werden und Raum muss erst erkundet und dann erobert oder angeeignet werden. Strategiespiele etablieren den Raum als zentrale Formation ihrer Funktionalität. Diese Spiele handeln nicht nur im Raum und finden ihre Visualisierung in kartographischen Topologien und virtuellen Räumen, sie machen außerdem die Aneignung des Raumes zu ihrem primären Ziel. Dieser Artikel hat versucht zu zeigen, dass Strategiespiele primär geopolitisches strategisches Wissen aufrufen und zirkulieren, und dass Strategiespiele in zwei Ebenen geschieden werden können, die für eine solche Einspeisung und Verhandlung zuständig sind. Einerseits ist dies die ganz konkrete Implementierung geopolitischer Paradigmen in das Feld von Strategie- und Action-Erzählungen. Auf der anderen Seite ist es die Produktion einer eher abstrakten Form von Wissen über per se politisierte Räume und Territorien. Strategiespiele reformulieren eine spezifische Form der räumlichen Repräsentation – die Karte – als Konfliktraum, zu einem Raum der Sichtbarkeit, Aneigenbarkeit und Kontrollierbarkeit. Das Territorium des Politischen zeigt sich im Strategiespiel typischerweise als abstrakter, kartographischer zweidimensionaler Raum. Einheiten agieren in der Masse, die Natur definiert die Möglichkeiten des politischen Konflikts. Ressourcen und Raumbeherrschung sind die Kern-Motivationen der Politik. So ließe sich verkürzt der common sense des Strategiespiels zusammen fassen. Der common sense ist aber eine Formation, die unserer erhöhten Aufmerksamkeit bedarf: »Der common sense präsentiert die Dinge so, als läge das, was sie sind, einfach in der Natur der Dinge. Ein Hauch von ›wie denn sonst‹, eine Nuance von ›versteht sich‹ wird den Dingen beigelegt – aber hier nur ausgewählten, besonders herausgestrichenen Dingen.« (Geertz 1977: 277) Strategiespiele erklären hier etwas für ›natürlich‹, was artifiziell ist, behaupten einen Nachvollzug der Geschichte, wo ›nur‹ operationalisierte Politik ist. In Computerspielen liegt der Kernpunkt zum Verständnis der Produktion einer Naturalisierung einer solchen Wissensebene in der Unmittelbarkeit der Erfahrung. Das Konzept
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der Versinnlichung von abstraktem regulatorischen Wissen und Handlungsrationalität (wie wir sie anhand des Braunschweiger Kriegsspiels diskutiert haben) ist produktiv, um die Produktion einer solchen Unmittelbarkeit zu verstehen. Versinnlichung fungiert hierbei als die Veranschlagung der Naturalisierung von Arbitrarität, ideologischem oder produziertem und manufakturiertem, spezialdiskursivem Wissen. Das Ergebnis einer solchen Unmittelbarkeit ist eine Form des Wissens, das zumeist unsichtbar und unerkannt durch den Spielenden, durch die Versinnlichung und Applikationskraft der Diskurse ›hindurch gleitet‹ und zum Interdiskurs wird. Das Nachdenken darüber, wie und mit welchen Konsequenzen etwas Künstliches, Gemachtes in Computerspielen naturalisiert wird, scheint ein produktiver Weg zu sein, um zu verstehen, wie Computerspiele funktionieren, wie sie ihre ›Wirkungen‹ entfalten. Wie hier diskutiert wurde, erklären eben beispielsweise Strategiespiele etwas als ›natürlich‹, was in sich künstlich ist, eine statische Reproduktion von Geschichte, die nur operationalisierte Politik ist.30 Dies berührt auch die Frage, wie Computerspiele ihre Gemachtheit im Bezug auf ihre apparativ-technische Genese verschleiern. Es ist dies der Verweis auf eine der großen Fragen der Modernität und Industrialisierung: Wie wird die Manufakturierung unserer (Um-)Welt zu einem natürlichen, selbst-evidenten und unhinterfragbaren Prozess (vgl. dazu Nohr 2008)? Damit scheint nun die Frage nach den verborgenen Agenden und naturalisierten Formen des Wissens, die diesen Text eingeleitet haben, ein wenig klarer. Das geteilte Objekt Raum – geteilt zwischen der Funktionalität des Spiels und einer spezifischen Formation des Wissens – ist der Punkt, an dem sich ein diskursiv niedergelegtes spezialdiskursives Wissen aus einer abstrakten diskursiven Konstellation in kommonsensuales und interdiskursives Wissen umformt. Klar muss aber sein, dass dieser Prozess der diskursiven Koppelung nicht eine
30 Wie sehr wir hier einem common sense aufsitzen, vermag der Blick über die Genregrenze anzudeuten. Schon der tactical shooter (beispielsweise Call of Duty [Infinity Ward 2003]) transportiert gänzlich andere Politikmodelle. Konfliktpolitik ist hier immer dezentral, subjektiv, schwarmorientiert, nicht-national. Hier gibt es kaum objektivierten und kartographischen Global-Raum, sondern vielmehr subjektive Landschaftserfahrung. Der tactical shooter hat kein besseres oder ein weniger ideologisch-konventionalisiertes Raum-Politikverständnis. Er hat nur ein ganz anderes.
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unsichtbare Didaktik darstellt. Die Funktionalität des Prozesses ist garantiert durch die Natürlichkeit zweier Komponenten: Menschen spielen Spiele in dem Sinne, als sie sie als natürlichen Teil ihrer Natur annehmen. Ebenso kann Geopolitik (in einem sehr problematischen Sinne) ›natürlich‹ erscheinen. Abstrakte, ideologisch und diskursiv herausgebildete Formen des Wissens werden hier, in einem Umfeld der unreflektierten Internalisierung reproduziert. Diese Prozessierung (von Normen und Werten) stellt ihre Funktionalität dadurch sicher, dass sie die fundamentale Form intersubjektiver Validierung verschleiert. Weil Computerspiele spielerisch an die Geopolitik heranführen, halten wir also vielleicht auch den clash of civilizations für natürlich.
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II
Wissensräume – Raummedien
Inklusion durch Exklusion Die Kunstkammer als Wissensraum kolonialer Topographien D OMINIK C OLLET
Als ›Welt-Theater‹, ›Microcosmos‹ oder ›Kleine Welt‹ wurden die ersten europäischen Museen von ihren Sammlern bezeichnet. Mit diesen Begriffen sollten Besucher darauf hingewiesen werden, dass ihr Anspruch über den physischen Sammlungsort hinaus auf einen umfassenderen Wissensraum zielte. Das Museum sollte »durch das Kleine was Grosses andeuten« (Olearius 1674: Vorrede). Bereits die Begründung der Museen oder ›Kunstkammern‹ im 16. Jahrhundert stand in engem Zusammenhang mit dem Ausgreifen der Europäer nach Übersee. Die Einfuhr unbekannter asiatischer, afrikanischer und amerikanischer Objekte nach Europa beflügelte ihre Entwicklung. Ähnlich wie Landkarten und Reiseberichte eröffneten Museen einen Wissensraum, in dem die koloniale Expansion nachvollzogen und eingeordnet werden konnte. Die Begriffsschöpfungen der Sammler und der hohe ikonographische Aufwand, mit dem dieser Anspruch unterfüttert wurde (Abb. 1), verweisen bereits darauf, dass ein solcher ›Wissensraum‹ als gemacht begriffen werden muss. Die konkrete physische Anordnung vor Ort und das angestrebte Raumbild standen dabei in einem ständigen Spannungsverhältnis. Ähnlich wie der Bezug zwischen Landkarte und Territorium musste auch die Verknüpfung zwischen Museum und Topographie, zwischen exotischem Objekt und kolonialer Welt erst hergestellt, inszeniert und kommuniziert werden. »Raum ist daher immer auch sozialer Raum« (Füssel/Rüther 2004: 12).
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Abbildung 1: Illustration der Sammlung Vincent in Amsterdam, mit Allegorien auf das Sammeln im Vordergrund und Personifikationen Afrikas und Amerikas über korrespondierenden Sammlungsschränken im Hintergrund
Quelle: Vincent, 1706: Frontispiz
Der Blick auf die Praxis der Akteure zeigt, dass spatiale Aushandlungsprozesse nicht selten konflikthaft verliefen. Die kulturellen Topographien des Museums ordneten Alte und Neue Welt nicht nur geographisch sondern auch in Zentrum und Peripherie, in Oben und Unten, in Innen und Außen. Sammler, Händler, ›Experten‹ und Besucher waren daher stets darum bemüht, sich in einem solchen Machtdispositiv möglichst günstig zu positionieren. Wie die folgende Untersuchung zeigt, wurde gerade die neue, koloniale Welt dabei zum Spielball. Viele Akteure nutzten die Ab-
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grenzung gegen die fernen Fremden um eine Öffnung nach Innen durchzusetzen. Ihre Praxis illustriert, wie sehr gerade frühneuzeitliche Räume über Grenzziehungen definiert werden und welch konstitutive Rolle die Performanz von Inklusion und Exklusion spielt. Die Inszenierung der Fremde illustriert zudem, dass Museen dabei auch selbst strukturierend auf das dargestellte Wissen einwirken. Das Raummedium Kunstkammer half, essentialistische Stereotypen langfristig zu etablieren und deren kulturelle Konstruktion mit ihren exotischen Objekten zu naturalisieren. Sie verweist damit darauf, dass historische Wissensordnungen sowohl geprägt werden, als auch selbst Wissen prägten.
›W ISSENSRÄUME ‹
DER
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Kunst- und Wunderkammern entstanden in enger Korrespondenz mit zahlreichen verwandten ›Systemräumen‹.1 In ihnen sollte das explodierende Faktenwissen des 16. Jahrhunderts geordnet und erschlossen werden. Eine zentrale Inspirationsquelle bestand in dem Konzept des ›Gedächtnistheaters‹. Anhänger der Mnemotechnik wie Giordano Bruno oder Robert Fludd schlugen vor, die sich rasch verändernden Wissensbestände dadurch zu erschließen, dass man sie in zentrale ›Loci‹ einteilte. Diese Orte konnten dann entlang populärer Taxonomien der Renaissance wie den vier Elementen, den Temperamenten oder den Planeten in einem mentalen Raum angeordnet werden. Visualisiert wurden solche Ordnungssysteme häufig in Form eines halbrunden, mehrstufigen ›Theaters‹. Auf diese Weise sollten Wissensbestände einfach zu memorieren sein und gleichzeitig flexibel genug bleiben, um neue Assoziationen und Verknüpfungen zu ermöglichen. Einige Protagonisten der Gedächtniskunst wie Guilio Camillo beließen es nicht bei rein konzeptuellen oder graphischen Darstellungen, sondern ließen solche Gedächtnistheater tatsächlich bauen und die bloß theoretischen ›Loci‹ durch echte Gemälde ersetzen (Abb. 2). Der Schritt vom Wissenstheater zum Museum war so kurz, dass er sich in der Namensgebung, in Taxonomien sowie der musealen Bildtradition niederschlug. In beiden Fällen sollten kondensierte Wissensräume auf
1
Zu den Konzepten ›Erfahrungsraum‹ vs. ›Systemraum‹ vgl. Schramm 2004.
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einen weit größeren Weltenraum verweisen, ihn dem menschlichen Zugriff erschließen und verfügbar machen (Yates 1991: 123-161; Kahle 2005). Abbildung 2: Rekonstruktion von Guilio Camillos ›Gedächtnistheater‹
Quelle: Kahle, 2005: Abb. 4
Ein zweites verwandtes Konzept war das des Mikrokosmos. Inspiriert durch die Wiederentdeckung antiker hermetischer Texte, vermuteten seine Befürworter, dass es im Kosmos auf verschiedenen Stufen wiederkehrende strukturelle Ähnlichkeiten gebe, die Analogieschlüsse von einem Teil auf das andere erlaubten. Solche ›Sympathien‹ lokalisierte man beispielsweise zwischen den Planeten und den Körperteilen des Menschen oder zwischen Naturereignissen wie Kometen und politischen Umwälzungen. Vertreter der paracelsischen Medizin oder der Alchemie behaupteten, dass Eingeweihte auf diese Weise durch gezielte Manipulationen auf der einen Ebene weitreichende Veränderungen auf anderen Ebenen auslösen konnten – ein Gedanke der Initiierten enorme Handlungsmacht versprach. Auch dieses Konzept gewann seine Popularität nicht zuletzt aus eindrucksvollen Illustrationen, in denen die verborgenen Korrespondenzen zwischen Einzelobjekten und einem größeren Wirkungsraum eindrucksvoll visualisiert wurde (Yates 2001). Viele Kunst- und Wunderkammern griffen diese Vorstellungen zumindest begrifflich auf. Die Gottorfer Kunstkammer wurde damit beworben, dass darin »gleichwie in einem Mikrokosmos dasjenige versammelt ist, was es im Makrokosmos Merkwürdiges zu besehen gibt, sowohl ungewöhnliches von feiner Kunst des Menschen als auch, was die Natur an Gaben ihrer drei Reiche gibt«. Der französische Sammler Paul Contant verkündete: »meine Sammlung verschiedenster Dinge, enthüllt das Innerste dieses großen Universums«, Levinus Vin-
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cent aus Amsterdam schwärmte »hier tut sich in der kleinen die große Welt auf« und Ludovico Moscardi bewarb seine Veroneser Sammlung mit den Worten: »Das gewaltige Ausmaß der ganzen Welt ist auf diesen Microcosmos reduziert worden.«2 Das Kernkonzept mikrokosmischen Denkens – die Annahme, dass Analogieschlüsse Manipulationen erlaubten – spielte in diesen Fällen aber keine theorieleitende Rolle mehr. Stattdessen bezogen sich die Sammler meist auf eine die Sammelleidenschaft weit weniger einschränkende Vorstellung von der Versammlung der ganzen ›Welt in der Stube‹. So heißt es in Jacob Leupolds »Kurtze[m] doch deutliche[n] Unterricht von Kunst=Kammern« ganz pragmatisch: »Weil Gott viel Geschöpffe und wunderbare Creaturen erschaffen, daraus Seine unendliche Weißheit und Allmacht zu erkennen, die meisten und curiosesten Geschöpfe aber vielen 1000 menschen wegen ihrer seltenheit und Entfernung nicht zu Gesichte bekommen, so ist es löblich und nützlich, daß man dergleichen an einem orthe beysamen finde [...]. Der Nutzen den der Fürst und Possesor selbsten davon hat ist: [...] als in einem Schauplatz alles dasjenige beysamenzufinden, was Gott wunder- und sonderbar erschaffen [...] Ja er findet alles, was sonst in der gantzen Welt zerstreüet und aus vielen ländern mit 3
großer Mühe und Kosten muß zusammen gesuchet werden, auf einer Stelle.«
Andere Sammler beschrieben ihre Sammlungen daher mit den Motti: »Hier ist, was überall ist«, oder »Betrachte das Unglaubliche: Abertausende Dinge in Einem!« oder stellten Bezüge zwischen dem Verweissystem des Museums und dem der Landkarte her: »da auch ein Punct eine Stadt / eine Linie breit einen Strom/ und ein Platz eines Daumens
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»in eâ veluti microcosmo quodam versans, omnia, quae Macrocosmus rara miranda, insolita tam ab Arte ingeniosissimorum hominum, quam Naturâ in tribus Elementis producta dedit datq« (Drees 1997: 15); »Qui façonne par moy de recueils tous divers / Descouvrez les threfors de ce gran vniuers« (Contant 1609: 21); »Hoer doot zich krachtig op, in t’kleen de grote wereld« (Gelder 1992: 32); »Anzi la vastità del Mondo tutto [...] in novo Microcosmo hà gia ridotto« (Moscardi 1656: Vorwort).
3
Thüringisches Staatsarchiv Gotha, Kammer Gotha, Immediate Nr. 1378 Bl. 4, 24-26.
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breitt eine gantze breitte See abbilden muss.«4 Dieses geographisch gewendete Verständnis des ›Mikrokosmos‹ war gegenüber der hermetischen Idee des »was unten ist, ist so wie das, was oben ist«5 in der Aussage allerdings deutlich reduziert. Motiviert wurde diese Bedeutungsreduktion nicht zuletzt dadurch, dass sie es den Sammlern ermöglichte, die tief empfundene Andersartigkeit der exotischen Stücke zu inszenieren anstatt sie über Analogien in die eigene Welt einzuschreiben. Besonderer Beliebtheit erfreute sich daher auch die Erdteil-Allegorie. So zeigt das Titelkupfer der Vincentschen Sammlung Porträts einer allegorischen Figur der ›Afrika‹ und der ›Amerika‹ in den Raumecken über Schränken mit entsprechendem Material (Abb. 1). Die Figuren erweitern die demonstrativ leere Fläche im Zentrum der Illustration so zu einem weltumspannenden Sammlungsraum.6 Über ihre allegorischen Attribute wie Federschmuck, Pfeil und Bogen, Papagei und Elfenbein, charakterisierten sie die ferne Welt zugleich als faszinierend fremd und als primitiv. Während die Vorstellung des Mikrokosmos Übereinstimmungen, Wechselwirkungen und (Stufen-)Gleichheit proklamierte, erlaubte die Allegorie Gegensätze, Distanz und Hierarchien zu inszenieren (Poeschel 1985). Dort wo die Sammler Alterität statt Analogie ausdrücken wollten, zogen sie Allegorien dem Konzept des Mikrokosmos vor. Gemeinsam war diesen Vorstellungen aber, dass der lokale Ort – die Allegorie, der Mikrokosmos, die Sammlung – als ›pars pro toto‹ für ein größeres Ganzes verstanden wurde. Die Objekte mussten daher nicht die gesamte Wirklichkeit abdecken. Sie erschlossen zeichenhaft umfassendere Sinnkonstellationen und konstituierten so Wissensräume, die über ihren physischen Ort hinausreichten.7
4
»Ibi est quidquid ubique est« (Contant 1628: 1); »Adspice prodigium de mille in millibus unum« (Vincent 1706: Vorrede) sowie Olearius 1674: Vorrede. Ein ähnliches Motto »Natura athque artis tot rerum millia in una« hatte auch die Gigante-Sammlung in Bologna (Bräunlein 1992: 363f.).
5
Vgl. Herklotz 1994: 134 zu diesem ersten Satz der TABULA SMARAGDINA,
6
Für eine ausführliche Interpretation dieses Frontispizes, vgl. Mason 1998:
einem hermetischen Schlüsseltext. 95-98. 7
Vgl. das an Hayden White angelehnte Konzept der »ethnographischen Synekdoche«, in: Thornton 1993: 250f.
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Ein drittes eng mit den Sammlungen verknüpftes Feld stellte das der Wissensutopie dar. Kunstkammern finden sich im Zentrum zahlreicher utopischer Staatsgebilde und idealer Gelehrtenrepubliken. So propagierten Gottfried Wilhelm Leibniz und Johann Joachim Becher ein umfassendes ›Theatrum naturae et artis‹ bzw. ein allgemeines ›Kunst- undt Werckhauß‹ (Bredekamp 2000; Smith 1994: 15f.). Beide flankierten umfangreiche Sammlungen mit Laboren, Werkstätten, Bibliotheken und Manufakturen. Diese zugleich spielerisch und pragmatisch konzipierten Synthesen verstanden sie als Keimzelle einer fruchtbaren und ökonomisch profitablen Gelehrtenrepublik. Sowohl Leibniz als auch Becher konnten ihre Pläne zwar nicht umsetzen, waren aber in den Aufbau verschiedener Sammlungen eingebunden. Ihre Vorhaben scheiterten nicht an konzeptueller Distanz zwischen Utopie und Sammlung, sondern am Fehlen eines finanzkräftigen Patrons. Mehr Erfolg hatte Johann Valentin Andreae, der ein ›Theatrum Physicum‹ ins Zentrum seines Idealstaates Christianopolis setzte. Seine Ideen beeinflussten unter anderem den Bau des herzoglichen Schlosses in Gotha mit seiner Kunstkammer (Collet 2007: 33-37). Vergleichbare Entwürfe zentraler, kunstkammerartiger Sammlungen finden sich auch in Francis Bacons Wissensutopie eines ›Haus Solomos‹ oder in Samuel Hartlibs fiktivem ›Königreich Macaria‹ (Jacob 1977: 17ff.). Auch sie inspirierten eine konkrete, wenn auch im Anspruch deutlich reduzierte Sammlung: das Repository der Royal Society in London. Die Utopien eröffneten den Kunstkammern ebenfalls Wissensräume, die deutlich über ihre lokalen Objekte hinausreichten. Sie brachten Museen in Kontakt mit ambitionierten Gesellschaftsentwürfen, Frömmigkeitskonzepten sowie mit ökonomischen und gelehrten Strategien. All diese Systemräume griffen die Gründer der neuen Kunst- und Wunderkammern begierig auf. Die Raumordnungen der Gedächtnistheater, des Mikrokosmos, der Erdteil-Allegorien oder der Wissensutopie verknüpften die musealen Orte mit umfassenden Sinnkonstellationen. Die Assoziation des Museums mit Theater, Kosmologie und Utopie ermöglichte es den Sammlern, Einzelexponate und Welt als kontingent zu präsentieren. Unterstützt wurde diese Korrespondenzbeziehung durch die demonstrative Fülle des Sammlungsraumes mit seinen zahllosen Exponaten. Hinzu trat die universelle Auswahl der Objekte, die von Mineralien, Pflanzen und Tieren bis zum Menschen und all seinen Produkten reichte. Mit Monstren und Exotika, Antikem und
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Modernem schloss sie demonstrativ auch die geographischen, historischen und taxonomischen Randgebiete des Kosmos ein. In den Aneignungen benachbarter Konzepte durch die Sammler spiegelt sich die aufwendige Konstruktionsarbeit am neuartigen ›Wissensraum‹ Kunstkammer. Die bloße Anhäufung von Objekten konstituierte zunächst lediglich einen ›Ort‹: An einem Ort »gilt das Gesetz des Eigenen: die einen Elemente werden neben den anderen gesehen, jedes befindet sich in einem ›eigenen‹ und abgetrennten Bereich, den es definiert.« Zu einem ›Raum‹ werden diese Objekte erst durch Verknüpfung und Erzählung: »Der Raum ist ein Ort, mit dem man etwas macht«. Er ist bedingt durch eine »Bewegung [...] die ihn mit einer Geschichte verbindet«. Erst diese Handlungen erweitern die ›Karte‹ zum ›Weg‹, den Topos zur Topographie (Certeau 1980: 217f., 236). In den Kunstkammern geschah dies durch Raumarrangements, die Korrespondenzen und Verweise inszenierten, durch allegorische Illustrationen wie Levinus Vincents ›Amerika‹ oder durch die Aneignung utopischer Erzählungen.8 Sie erweiterten die statischen Orte zu relationalen Räumen. Dies wird besonders dann deutlich, wenn man neben den bisher angeführten Traktaten und Katalogen auch die Praxis der Sammler untersucht. Der Blick auf die Handlungen der Akteure verdeutlicht zugleich auch drei Bereiche latenter Spannungen, die in museologischen Traktaten nur zu erahnen sind: Die umstrittene Position der kolonialen Welt im Sammlungsraum, die Brüche zwischen Analogie und Empirie sowie die umkämpfte Rolle des ›Experten‹.
V OM O RT
ZUM R AUM – DIE KOLONIALE W ELT
E XPERTEN
INSZENIEREN
Neben Sammlern, Besuchern und Händlern spielten ›Experten‹ als Vermittler, Agenten und Augenzeugen eine zentrale Rolle in frühneuzeitlichen Museen. Anders als der fürstliche Besitzer, der durchreisen-
8
Michel Foucault spricht aufgrund dieses engen Zusammenhangs von Utopie und Sammlungsraum auch von Museen als ›Heterotopien‹, »die sich endloser Akkumulation hingeben« und so einen anderen Raum schaffen, »der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist« (Foucault 2006: 325f.).
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de Gast oder der Kaufmann, machten sie die Sammlungen zu ihrem Beruf. Über ihre Beziehungen zur europaweiten Sammlerrepublik, ihrer Kenntnis zahlreicher Museen sowie der einschlägigen Literatur setzten sie Standards, formulierten einen Kanon des Sammelnswerten und vermittelten Präsentationstechniken. Mit ihren Kontakten organisierten sie die Beziehungen zwischen den Objekten, Handlungen und Menschen (Schmid 2007: 10), die den Sammlungs- in einen Denkraum überführten. Ein Einfallstor für die Spezialisten bot das Spannungsverhältnis zwischen dem erhofften Wissensraum und dem tatsächlich existierenden Museum. Selbsternannte Experten verfassten zahlreiche Berichte, in denen sie vermögende Sammler auf Missstände in der Auswahl, Anordnung und Präsentation von Kunstkammern aufmerksam machten und sogleich anboten, die gewünschten Verknüpfungen zwischen Sammlung und Welt wiederherzustellen. Je nach Adressat hoben ihr UNTERRICHT VON KUNST=KAMMERN, ihre UNVORGREIFFLICHE(N) BEDENKEN VON KUNST- UND NATURALIENKAMMERN INSGEMEIN oder ihre INSCRIPTIONES VEL TITULI THEATRI AMPLISSIMI entweder die Magnifizienz des Fürsten, die weltumspannenden Beziehungen des Sammlers oder dessen enge Verbindungen zur internationalen Gelehrtenrepublik heraus (Major 1714; Leupold 1718; Quicceberg 1565). Die ›Missstände‹, die Experten als Türöffner dienten, waren vielfältig. Johann Daniel Major beklagte, dass den gelehrten Taxonomien oftmals rein ästhetische Ordnungsprinzipien vorgezogen wurden und Exponate »wie die Orgelpfeiffen stehen«, worüber er sich »nicht viel minder offendirt befinde/ als wenn jemand ein glüend Messer in meinen Augen herum spazieren liesse.« Jacob Leupold forderte, dass »nicht allzuviel Pretiosa die sonst keinen Nutzen haben ausgestelltet werden« sollten, sondern Naturalien aus allen Teilen der Welt. Er regte an, die Kunstkammer statt als Salon als Ausbildungsraum für den adeligen Nachwuchs zu nutzen. Dieser sollte »mittelst einer solchen Kunstkammer von Kindheit auf, statt der Spiel und RecreationsStunden« über die Beschaffenheit der Welt unterrichtet werden, da die Prinzen auf diese Weise »in der Kindheit mehr sehen und lernen, als wenn sie viele Jahre in der Welt mit großen Kosten herum reisen.« Leonard Christoph Sturm wiederum beklagte die unzureichende Inszenierung der Exponate: »Unter dem Schrank wird man einen Crocodillen-Kopf kaum zu sehen bekommen.« Er wollte die kostbaren Exotika statt in verschlossenen Schränken lieber an »Statuen in Lebens-
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größe mit Kleidern von allerhand Nationen« präsentiert sehen und erdachte mit reinen Brustbildern für »Kopf= und Halß=Zierden« auch eine sittsame Lösung für diejenigen Völker »so meistens nackend gehen«.9 Gemeinsam war diesen Projektskizzen der Verweis darauf, dass die Korrespondenzen der Objekte mit dem Weltwissen, mit Gelehrsamkeit oder exotischen Räumen erst aufwendig hergestellt werden mussten – am besten durch die Anstellung eines kundigen Vermittlers. Gerade bei den außereuropäischen Objekten waren solche Hilfestellungen nötig. Die Exotika erreichten die Sammlung zumeist ohne jede kontextuellen Informationen. Von den Händlern oder Tauschpartnern war oft nur ihr vermeintlicher Name und ihre ›indische‹ Herkunft zu erfahren. Selbst spezialisierte Kaufleute wussten nach dem Transfer der Objekte durch die Hände von indianischen Herstellern, europäischen Seeleuten, Agenten und Zwischenhändlern kaum etwas über ihre Ware, das über ihre exotische Herkunft und ihr meist ungewöhnliches Äußeres hinausging.10 Diese Situation eröffnete ›Augenzeugen‹ große Aufstiegschancen. Zuweilen konnten sie bloß ihre Souvenirs gewinnbringend veräußern. In vielen Fällen begründete ihr Expertenstatus auch eine dauerhafte Anstellung und Rangerhöhung: Adam Olearius wurde nach seiner Persienreise Aufseher der Gottorfer Kunstkammer, Georg Meister betreute nach seiner Rückkehr aus Ostindien die Sammlung exotischer Pflanzen in Dresden, Bernhard Paludanus brachten seine Reisen durch den Orient Aufträge mehrerer sammelnder Fürsten ein (Olearius 1674; Michel 1986; Gelder 1998). In Gotha stellte der Herzog 1653 den Weltreisenden Caspar Schmalkalden an, um seine außereuropäischen Kuriositäten zum Sprechen zu bringen. Wie ein Beobachter notierte, pflegte Schmalkalden am Hof häufig »von gedachten seinen Reisen eins und anders zu er-
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Major 1714: 17; Quicceberg 1565; Leupold 1718: 15a, 26, 27; Sturm 1705: 23, 61. Die Texte richteten sich implizit oder explizit an die sammelnden Herzöge von Holstein-Gottorf, Sachsen-Gotha sowie Braunschweig-Wolfenbüttel, führten aber in keinem Fall zu einer dauerhaften Anstellung.
10 Vgl. bspw. die typisch knappen Beschreibungen eines Frankfurter Exotikahändlers, in: Thüringisches Staatsarchiv Gotha, Kammerrechungen 1658/1659 fol. 170.
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zehlen, auch die herrliche Landes=Arth, die vielerley Nationen, kostbahre Wahren und Schätze Indiens zu rühmen und heraus zu streichen« (Vogel 1716: Vorrede). Viele dieser Geschichten sind in drei Manuskripten aus Schmalkaldens Hand überliefert. Ein Vergleich dieser Texte mit den Rechnungen und Inventaren der Sammlung sowie den Äußerungen von Besuchern zeigt, wie sehr die Berichte des Weltreisenden die Wahrnehmung der Exotika prägten (Collet 2007: 97101, 115f.). Mit seinen Erzählungen, Illustrationen und mit Neuankäufen rekontextualisierte der Experte die vorhandenen Exotika und ordnete sie in ein räumliches Beziehungsgefüge ein. Dabei ging der ehemalige einfache Soldat sehr umsichtig vor, um den Erwartungen der Daheimgebliebenen gerecht zu werden. Seinen Aufzeichnungen gab er zwar die Form eines Augenzeugenberichts in Tagebuchform. Tatsächlich hatte er die Informationen aber sorgfältig aus etablierten Druckwerken kompiliert. Seine eigenhändigen Zeichnungen stellten ebenfalls Kopien berühmter Vor-Bilder dar – selbst dort, wo er die Objekte persönlich aus der Ferne mitgebracht hatte. Auch in der Auswahl neuer exotischer Exponate griff er nicht auf eigene Erfahrungen zurück sondern auf die Vorgaben bekannter Sammlungen und den Kanon, den andere Experten vor ihm bereits etabliert hatten.11 Die ferne Welt, die Schmalkalden durch Auswahl, Inszenierung und Erzählungen zeichnete, orientierte sich eng an populären Narrativen. So dienten die Bastkörbe der Sammlung angeblich Kannibalinnen dazu, menschliches Fleisch zu transportieren. Die »indianischen Pfeile und Bögen« in der Sammlung illustrierten sowohl die Gewaltbereitschaft der »Wilden« als auch ihre technologische Unterlegenheit (Abb. 3). Auch vermeintlich harmlose Exponate wie die brasilianische Cashew-Nuss wurden entsprechend kontextualisiert: So werde der aus der Frucht gewonnene berauschende Trank während der wilden Tänze der Indianer exzessiv konsumiert. Die Indianer machten sich »lustig und frölich, sie tantzen, singen und springen mit ihren bunden federn gezieret nacht und tag, so lang als etwas davon vorhanden ist [...] und welche das meiste sauffen, sich übergeben und wieder darauf sauffen können die werden für wackere Kerls geachtet« (Schmalkalden o.J.: fol. 14f.).
11 Für eine detaillierte Analyse von Schmalkaldens Text- und Bildquellen, vgl. Collet 2007: 117-128.
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Abbildung 3: Caspar Schmalkalden, »Tapoyarisch Weib« und »Tapoyar«
Quelle: Schmalkalden o.J., fol. 20r, 18r.
Dass Schmalkalden diese Darstellung nicht bloß aus seinen Quellen übernahm, sondern sich durchaus zu eigen machte, zeigen die von ihm selbstständig verfassten Sinnsprüche zu den Abbildungen. So lautet der des brasilianischen ›Tapoyars‹: »Wir gehen nackendt her, und wißen nichts vom gelde, Mit Pfeil und Bogen nur marschieren wir zu felde, Uns schmeckt das Menschenfleisch, es sey arm oder bein, so muss es baldt gekocht und aufgrefreßen sein.« (Abb. 3) Schmalkaldens Geschichten projizierten so Fragmente des imaginären Archivs der Europäer in die entlegene Welt: Den ›danse sauvage‹, den ›Wilden Mann‹ oder die gewaltbereite ›Amazone‹ mitsamt den begleitenden Geschlechterkonstruktionen. Seine Darstellung zielte auf die Konstruktion von Alteritäten und Gegensätzen. Der mentale Raum, in dem er die fernen Fremden situierte, stellte eine ›Gegenwelt‹ dar, der umgekehrt ein einheitliches und zivilisiertes Europa gegenüberstand. Die Grenze zwischen beiden Welten markierte er nicht geographisch sondern religiös, indem er den ›Christen‹ auf der einen Seite ›Heiden‹ auf der anderen gegenüberstellte. In der Sammlung wurden diese Vorgaben umgesetzt. In den Beschreibungen der Inventare wurde die Vielfalt der kolonialen Völker ebenso auf einheitliche ›Wilde‹ reduziert wie durch die primitivisierende Auswahl der Objekte. Exponate, welche diese vermeintliche Gleichförmigkeit illustrierten, wurden daher bevorzugt. Objekte aus dem Palmbaum oder Pfeil und Bogen, die in vielen Teilen der außer-
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europäischen Welt vorkamen, waren daher besonders zahlreich. Dagegen wurden koloniale Exponate, in denen europäische Einflüsse sichtbar waren, nicht in die Sammlung aufgenommen. Zudem präsentierte man die Exotika, entgegen der sonst geltenden Materialordnung, getrennt auf einem separaten Tisch. Dabei wurden außereuropäische Naturalien und Ethnographica vermischt, um den naturhaften Charakter der Fremden noch zu unterstreichen (Collet 2007: 102-113). Das Resultat war die Inszenierung der entlegenen Welt als primitive, weitgehend homogene und statische Heimat von Heiden, die sich grundsätzlich vom christlichen ›Europa‹ unterschied. Schmalkaldens Dienstherr, der Gothaer Herzog Ernst I., fand an dieser alteritären Interpretation großen Gefallen. Sie stimmte nicht nur damit überein, was in berühmten Vorbildsammlungen zu sehen und in Reiseberichten zu lesen war. Schmalkaldens Bild der indianischen Heiden bot ihm auch Anknüpfungspunkte für seinen Feldzug gegen die Unmoral seiner eigenen saufenden, ungezügelten Untertanen, der Ernst den Beinamen ›der Fromme‹ eingetragen hat (Albrecht-Birkner 2002). In den mentalen Grenzziehungen des Sammlungsraumes spiegelten sich so die Abgrenzung von gottloser Volkskultur und tugendhaftem Herrscher wider. Wie Jacob Leupold betonte, konnte eine Kunstkammer daher auch hervorragend dazu dienen, sich »vor anderen niedrigen Personen höher [zu] distinguiren« (Leupold 1718: 26). Aber nicht nur ›Indianer‹ und Bauern sahen sich in der ständischen Gesellschaft von Ausgrenzung bedroht, sondern auch die Experten selbst. Wie das Schicksal eines weniger erfolgreichen Gothaer Vermittlers illustriert, war ihre Position keineswegs so gefestigt, wie es Schmalkaldens Erfolg glauben machen könnte. Die zentrale Rolle von Experten bei der Abgrenzung des Sammlungsraumes, sicherte sie nicht davor, selbst Opfer sozialer Grenzziehungen zu werden. Johann Michael Wansleben, auch er einst ein einfacher Soldat, brach 1663 im Auftrag des Gothaer Herzogs nach Äthiopien auf. Ernst dem Frommen war berichtet worden, dass der Herrscher dieses Landes ein Nachfahre des legendären Priesterkönigs Johannes und somit christlichen Glaubens sei. Für ihn folgte daraus unmittelbar, dass er auch ein Feind der Türken sein müsse. Der Herzog trug seinem ›Botschafter‹ Wansleben daher an, Äthiopien als Bündnispartner gegen die muslimischen Osmanen zu gewinnen und mit seiner Reise zugleich die Kunstkammer um exotische Raritäten zu bereichern.
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Wansleben bewegte sich anders als Schmalkalden außerhalb des kolonialen Schutzraumes. Er war daher gezwungen, sich mit den Herausforderungen der fremden Welt direkt auseinander zu setzen. Als er 1664 Alexandria erreichte und erstmals auf äthiopische Mönche stieß, erkannte er daher unmittelbar, dass die Vorstellungen des Herzogs an der Realität vorbeigingen. Die europäischen Grenzziehungen zwischen Christen und Heiden verloren vor Ort rasch an Trennschärfe. Die christlichen Äthiopier sahen die Europäer keineswegs als natürlichen Bündnispartner und umgekehrt die Muslime als ihre Erzfeinde an. Stattdessen stieß Wansleben auf vielfältige Formen von Kooperation, Vermischung und Koexistenz. Als er nach Europa zurückkehrte, beschrieb er dem Herzog in Gotha daher in einem Bericht, dass sich die Äthiopier nicht in die erwarteten Frontstellungen einfügen ließen und es sich bei ihnen vielmehr um eine eigenständige, dritte Gruppe handele. Die Reaktion des Herzogs folgte umgehend: Wansleben wurde entlassen, vom Hof verbannt und als Lebemann diffamiert. Anschließend versuchten die Gothaer noch jahrelang ohne Erfolg das gewünschte Bündnis zu verwirklichen, ohne die eigenen Prämissen je anhand der detailreichen Schilderungen des Augenzeugen zu prüfen. Wansleben hingegen lernte rascher. Er verlegte sich – ähnlich wie Caspar Schmalkalden – darauf, die rigiden Vorannahmen seiner Auftraggeber nicht zu hinterfragen, sondern zu bestätigen. Bald begann er damit, genau solche gegenweltlichen Kunstkammerstücke an europäische Sammler zu schicken, welche diese im Orient erwarteten – Mumien, Götzen, Monstren – und begründete so eine zweite Karriere als Agent verschiedener Fürsten und Sammler (Stein 2002; Collet 2007: 132-165). Wanslebens Schicksal verweist darauf, dass Experten wie Caspar Schmalkalden es wohl ganz bewusst vorzogen, eine statische Gegenwelt zu zeichnen und die tatsächlich sehr dynamischen Kolonialgesellschaften auszusparen. Die sich rasch verändernden, hybriden Mestizenkulturen, die Schmalkalden in Batavia und an der brasilianischen Küste erlebte, hätten etablierte Grenzziehungen wohl ebenso in Frage gestellt wie die eigensinnigen orientalischen Christen Afrikas. Die Grenzverschiebungen der Experten bewegten sich also ebenfalls in engen Grenzen. Einerseits erzeugten erst ihre Handlungen aus den Objekten einen Raum, indem sie diese mit einer Geschichte verbanden
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(Certeau 1980: 219). Ihre Erzählungen, ihre Auswahl und ihre Taxonomien verknüpften den Sammler über seine Exponate mit der gelehrten Welt, inszenierten seinen distinguierten Stand und visualisierten seinen weitreichenden Bedeutungsraum, der von Gotha bis nach Brasilien und Äthiopien reichen konnte. In der Universalität der Sammlung spiegelte sich damit auch die umfassende Souveränität des Fürsten. Andererseits zeigt ihr Handeln, dass Räume nicht allein durch Wissen sondern ebenso durch Macht definiert werden. Anders als der Ort war der Raum nicht eindeutig definiert, sondern instabil. Er musste daher zwischen den Beteiligten mit unterschiedlichem Status ausgehandelt werden – ein Prozess der nicht selten zu Konflikten führte. Die Vermittler im Umfeld der Sammlungen reagierten auf ihren eigenen unsicheren Stand mit der demonstrativen Ausgrenzung der ›Fremden‹. Ihre kolonialen Topographien inszenierten Außereuropa als primitive, heidnische Gegenwelt. Im Gegenzug markierten sie sich damit selbst als Teil eines gelehrten, christlichen ›Europa‹. Der relationale Raum, den sie errichteten, diente ihnen zugleich als Folie für ihr ›self-fashioning‹. Die Exklusion der ›Anderen‹ sicherte damit auch ihre eigene Inklusion.12
D IE K UNSTKAMMER
ALS
R AUM -M EDIUM
In diesem Prozess der Aushandlung von Rang und Zugehörigkeit bot das vormoderne Museum nicht nur den neutralen Rahmen. Es übte als Medium auch selbst den Raum konstituierende Funktionen aus. Ähnlich wie Landkarten bildete die Sammlung die Welt nicht einfach ab, sondern stellte sie unter den spezifischen Bedingungen ihrer Medialität selbst her. So sind Museen gezwungen Komplexität zu reduzieren, um die Welt im Sammlungsraum unterzubringen. Umgekehrt stehen ihre Exponate nicht für sich selbst, sondern verweisen zeichenhaft auf größere Zusammenhänge. Mit dem Eintritt in die museale Sphäre wandelt sich das kontingente Einzelstück in eine ›Semiophore‹, einen Vermittler zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem (Pomian 1988: 46-54).
12 Zu frühen Museen als vergleichsweise offenem sozialen Raum, der überregional und überkonfessionell zu sonst ungewohnten Begegnungen führte, vgl. auch Siemer 2004.
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Der museale Raum tendiert daher zum Essentialismus. Er reduziert vielschichtige Verhältnisse auf eindrucksvolle ›master-pieces‹. Dabei vermeidet er hybride Objekte zugunsten von eindeutigen ›Typen‹. In der Präsentation der außereuropäischen Welt äußert sich diese Vereindeutigung im bis heute populären Prinzip des ›one tribe – one style‹ oder in der Exklusion vermeintlich unauthentischer, europäischer Einflüsse.13 Unterstützt wird diese Reduktion durch die Dekontextualisierung der Exponate auf ihrem Weg ins Museum. Ihr Transfer über viele Stationen zerschneidet essentielle Referenzketten, welche die ›Aktanten‹ mit ihrem Ursprungsort verbinden (Latour 1999: 24-79). Ihr komplizierter Weg erschwert Rückfragen und gewährt den Experten so Freiheiten bei ihrer Rekontextualisierung. Zudem geht mit der Konzentration auf Objekte im Museumsraum der fast völlige Ausschluss der Repräsentierten einher. Der Fremde selbst, der ehemalige Produzent und Benutzer ferner Exponate, bleibt stumm. Im Museum liegt die Handlungsmacht stattdessen beim Sammler, bei den Experten und mit zunehmender Öffentlichkeit auch beim Besucher. Schließlich ist das Medium Museum durch seine Trägheit gekennzeichnet. Die Präsentation anhand von physischen Objekten beschränkt den Wandel. Einmal gewählte Anordnungen und Inszenierungen sind nur unter großem Aufwand umzugruppieren. Die Beharrungskraft der wachsenden Masse von Exponaten begrenzt Veränderungen ebenso wie die Systemlogik einmal gesetzter Sammlungsschwerpunkte. Gemeinsam führten diese Eigenschaften dazu, dass sich das Medium Kunstkammer rasch verselbstständigte. Die Logik des Essentialismus reduzierte spannungsvolle Ambivalenzen. Der weitgehende Ausschluss der Repräsentierten verstärkte diese Tendenz zur Vereindeutigung. Schließlich führte die Beharrungskraft des Museums dazu, dass die einmal gewählte gegenweltliche Präsentation der kolonialen Welt verstetigt wurde. Während die koloniale Welt sich rasch veränderte,
13 Ivanov 2001: 356-362. Zur Maskierung dieser Reduktion durch die demonstrative Überfülle des physischen Sammlungsraums vgl. Felfe 2007: 201.
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etablierte das Museum einen stabilen Kanon an immergleichen exotischen ›Raritäten‹ und alteritären Inszenierungen.14 Ein großer Teil der Akteure befürwortete diese Entwicklung. Den Sammlern erleichterte es die Kanonbildung berühmte Sammlungen zu kopieren, Experten konnten über die notwendige Vermittlertätigkeit ihre soziale Teilhabe demonstrieren und Besucher fanden ihre Erwartungshaltung aus früheren Sammlungsbesichtigungen wohltuend bestätigt. Alle gemeinsam konnten sich über den Ausschluss der Fremden als Teil einer exklusiven Sammlerrepublik imaginieren (Abb. 4). Abbildung 4: Der Sammlungsraum als sozialer Raum. Darstellung der Sammlung Levinus Vincents hinter einem Theatervorhang mit Exponaten aus den niederländischen Kolonien Amerikas an der Wand oben links
Quelle: Vincent: 1706
Das Modell ›Kunstkammer‹ war bald so wirkmächtig, dass Versuche, die entlegene Welt vielfältiger darzustellen und andere Sammlungsschwerpunkte zu setzen, regelmäßig scheiterten. So plante die Londoner Royal Society in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, dem etablierten Fokus auf »Divertisment, and Wonder, and Gazing« (Waller 1705: 338) eine Forschungssammlung entgegenzusetzen, um den ko14 Ausführliche Verzeichnisse sammelnswerter Exponate, wie sie sich in allen größeren Sammlungen fanden, führen bspw. Sturm 1705: 73-171, Sturm 1714 oder Leupold 1718: Bl. 7-11 an.
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lonialen Raum auf diese Weise für einen empirischen Zugriff zu öffnen. Um an Material zu gelangen, wandte man sich in einer aufwendigen Kampagne statt an Kuriositätenhändler an Reisende, Gelehrte und Kolonisten. Die gegenweltliche Sammlungstradition war aber so stark, dass auch die aus aller Welt eingesandten Objekte ganz dem etablierten Kanon entsprachen. Sie zeichneten eine primitive Gegenwelt und erreichten ihr Ziel ohne nähere Informationen zu ihrem ursprünglichem Kontext. Londons Touristen nahmen die entstandene Sammlung jedoch so begeistert auf, dass eine Auflösung nicht in Frage kam. Während die ursprünglichen Pläne, den kolonialen Raum anhand von Objekten neu zu vermessen, aufgegeben werden mussten, entwickelte sich das Museum der Fellows zum geselligen Salon (Hunter 1989: 123-155; Collet 2007: 269-314). Vergleichbare Entwicklungen lassen sich auch in anderen Sammlungen beobachten. In Gotha verzichtete man darauf, die Kunstkammer wie geplant für den Schulunterricht mit ›Realien‹ zu nutzen. In Dresden ging der angestrebte Fokus auf Handwerkliches verloren und in München trat die geplante Inszenierung der Herrscherpersönlichkeit zunehmend in den Hintergrund (Watanabe-O’Kelly 2002: 90-99; Roth 2000: 67ff.). Die Eigenlogik des Raummediums Kunstkammer überstieg in vielen Fällen die Handlungsmacht individueller Akteure. Bezeichnend für diese museale Beharrungskraft ist, dass viele Kunstkammern noch bis ins 19. Jahrhundert bestand hatten und viele ihrer Inszenierungspraktiken in modernen Museen weiterleben – nicht zuletzt die rigide Trennung in ›eigene‹ und ›fremde‹ Exponate, die heute sogar zur Separation von Museen für europäisches und außereuropäisches Material geführt hat.
I NKLUSION DURCH E XKLUSION Frühneuzeitliche Museen konstituierten einen zentralen Wissensraum der kolonialen Expansion Europas. Zahlreiche exotische Artefakte erschlossen den Betrachtern die außereuropäische Welt und machten sie verfügbar. Zugleich wurden die Neuen Welten im Sammlungsraum nicht nur präsentiert, sondern über symbolische Ordnungen und inszenatorische Praktiken als Stellvertreter entlegener Räume konstruiert. Zeitgleich zur Europäischen Expansion entstand dabei mit der ›Kunst-
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und Wunderkammer‹ ein Medium, das die Verräumlichung kolonialen Wissens zugleich ermöglichte und strukturierte. Wie die verwandten ›Systemräume‹ des Gedächtnistheaters, des Mikrokosmos oder der frühneuzeitlichen Wissensutopie gliederte das Museum die Welt nicht bloß geographisch, sondern setzte auch religiöse und ständische Ordnungen in räumliche Arrangements um. Die Sammlung markierte daher nicht nur einen Wissens- sondern auch einen sozialen Raum. Der Blick auf die Praktiken der Akteure zeigt ihr – nicht immer erfolgreiches – Bemühen, sich in diesem Machtdispositiv günstig zu positionieren. Anhand der ›Experten‹ im Umfeld der Sammlung lässt sich beobachten, wie der eigene unsichere Status durch die Ausgrenzung der ›Fremden‹ gefestigt und stabilisiert werden sollte. Der Wissensraum Kunstkammer muss daher als gemacht verstanden werden. Erst die Handlungen der Akteure, ihre verknüpfenden Geschichten und Verweise erweitern den stabilen ›Ort‹ zum relationalen ›Raum‹ und den Topos zur Topographie. Über das Spiel mit Alteritäten inszenierten Vermittler, Agenten, Sammler und Besucher die außereuropäische Welt als statische und primitive Gegenwelt eines dynamischen und zivilisierten Europas. Die Abgrenzung gegenüber dem Fremden ermöglichte es den Akteuren, sich umgekehrt als ›Gelehrte‹ und als ›Europäer‹ zu imaginieren. Ihr handeln illustriert damit die Bedeutung von Grenzziehungen für die Konstruktion frühneuzeitlicher Denkräume. Mit der Kunstkammer entstand so ein eigenständiges Medium, dass Räume nicht nur abbildete, sondern auch strukturierte. Das Prinzip der Reduktion, die Schwerfälligkeit der Objekte und der Ausschluss der Repräsentierten konservierten das einmal etablierte Bild der Fremde(n). Während sich die koloniale Welt rasch veränderte und hybridisierte, pflegte die Kunstkammer einen zunehmend anachronistischen Sammlungskanon gegenweltlicher Exotika. Einzelne Versuche, die Kunstkammer für die direkte Autopsie der Neuen Welten zu öffnen, scheiterten an der essentialistischen Logik und den Traditionen des Sammlungsraums. Diesen Defiziten steht der soziale Erfolg der Kunstkammer gegenüber. Sammler, Experten und ein breites Spektrum von Besuchern trafen hier aufeinander. Die dort praktizierte Inklusion durch Exklusion etablierte das Museum dauerhaft als Raum für neue Formen von Soziabilität.
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Antarktis als medialer Wissensraum Shackletons Expeditionen D ORIT M ÜLLER
W ISSENSRAUM ANTARKTIS In meinem Beitrag möchte ich den komplexen Vorgang der Wissenskonstitution am Beispiel der Antarktisforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts untersuchen. Mein Interesse richtet sich vor allem auf die Frage, welchen Anteil Medientechniken – und die mit ihnen stets verbundenen technisch-apparativen Momente, symbolischen Ordnungen, sozialen Praktiken und institutionellen Kontexte – an der Konstruktion, räumlichen Organisation und Präsentation von Wissenselementen hatten. Ich gehe dabei von einem Modell des »Wissensraumes« aus,1 das die Ordnungsbeziehungen zwischen möglichen Wissenselementen als räumliche Dimension fasst und diese nach ihren technischen, symbolischen und sozialen Ermöglichungsbedingungen befragt. Aus-
1
Im Zuge des spatial turn gewinnt der Begriff des »Wissensraumes« neuerdings an Bedeutung. Seine Verwendung changiert zwischen metaphorischer Beschreibungskategorie und theoretischem Erklärungsmodell. Vgl. den Systematisierungsversuch von Busche (2010); weiterhin die Verwendungsweisen bei Rheinbeger/Hagner/Wahrig-Schmidt 1997; Doignon/ Falmagne 1999; Maar/Burda 2006. Konzeptualisierungen der Kategorie »Wissensraum» aus kulturwissenschaftlicher und historischer Perspektive bieten u.a. die Projekte des Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrums Trier, die »Wissensraum« anhand der Leitbegriffe »Ort«, »Ordnung« und »Oszillation« modellieren, um das komplexe Verhältnis von Wissen und Raum zu fassen. Vgl. www.hfk.uni-trier.
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gangspunkt ist der relationale Raumbegriff von Gottfried Wilhelm Leibniz, der Raum als eine »stetige Ordnung der koexistierenden Phänomene« bestimmte.2 In den gegenwärtigen raumtheoretischen Debatten avancierte dieser Leibniz’sche Raumbegriff zum Bezugspunkt eines Raumdenkens, welches die Lageverhältnisse und netzartigen Verknüpfungen zwischen Entitäten und ihre räumlichen Dimensionen in den Blick nimmt, wobei der Fokus vor allem auf die jeweiligen Bedingungen ihrer Hervorbringung gerichtet ist (Löw 2001; Dünne/Güntzel 2006; Döring/Thielmann 2008). Ausgehend von einem solchen Raumverständnis lässt sich ein »Wissensraum« Antarktis als Menge möglicher und wirklicher Relationen zwischen Entitäten aus unterschiedlichen Wissensbereichen fassen. Dabei kann es sich um metrische, meteorologische oder geologische Größen handeln, um soziale Phänomene des Interagierens von Akteuren oder etwa um codeabhängige rhetorische Formatierungen wie Modi des Erhabenen, Heroischen oder Romantischen. Das relationale Wissensgefüge »antarktischer Raum« steht und fällt mit den in unterschiedlichen historischen Konstellationen gegebenen konkreten Bedingungen: beispielsweise der technischen Verfasstheit von Beobachtungs- und Aufschreibesystemen oder der Dominanz bestimmter theoretischer Konzepte und Vorannahmen, mit den jeweils ausgeprägten sozialen und ästhetischen Konventionen. So war die Vorstellung der Antarktis bis weit in das 17. Jahrhundert entscheidend durch den Kartentyp der pictorial map geprägt, der die Gebiete des »Südpols« mit mythischen Symbolen versah und in farbigen Bildern einen paradiesischen Lebensraum imaginierte (Dreyer-Eimbcke 1996: 174-180). Erst die Entwicklung moderner Schifffahrt und präziser Beobachtungsinstrumente, das Anwachsen wirtschaftlicher Interessen an Walund Robbenfang sowie die Herausbildung wissenschaftlicher Verfahren zur Kartierung unbekannter Regionen führten zur allmählichen »Entzauberung« und »Vermessung« antarktischer Gebiete. Das Aufkommen neuer wissenschaftlicher Aufzeichnungs- und Darstellungsverfahren um 1900, wie Fotografie und Film, und die Praktiken ihrer Nutzung zur Auswertung und Verbreitung von Wissensbeständen führten nicht nur zu einer Neuorganisation räumlicher Daten, sondern
2
In diesem Kontext spricht Leibniz vom Raum als »ordo coexistentium phaenomenorum, ut tempus successivorum«; Brief an Samuel Clarke vom 15. 5. 1716 (Leibniz 1879, orig. 1712: 450).
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ALS MEDIALER
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erzeugten auch veränderte räumliche Vorstellungen durch eine Synopsis ursprünglich unterschiedlicher Erscheinungen. Da sich im Expeditionsfilm alte und neue Medien (Schriftsprache, Zeichnungen, Tabellen, Karten, Fotografien) mit je eigenen semiotischen Eigenschaften, Darstellungstraditionen und Ausdrucksmöglichkeiten überlagerten, konnten hier räumlich-geographische mit nichtgeographischen Wissensbeständen verknüpft, politische und kulturelle Diskurse integriert und eingeführte ästhetische Konzepte aktualisiert werden. Durch das Zusammenwirken dieser unterschiedlichen Aspekte wurde und wird der Möglichkeitsraum des Polaren jeweils neu aufgespannt, aktualisiert und erweitert. Mediale Präsentationstechniken haben am Konstitutionsprozess polarer Räume als Wissensräume wesentlichen Anteil, weil sie nicht nur Mittel der Aufzeichnung und Verbreitung räumlicher Zusammenhänge sind, sondern die Zusammenführung und Anordnung unterschiedlicher Entitäten und damit die Konstruktion und Imagination des Wissensraumes überhaupt erst ermöglichen.3 Im Zentrum des Beitrags steht folglich die Frage, wie Beobachtungs- und Aufzeichnungsverfahren antarktische Räume konstituieren, indem sie Relationen zwischen geographischen, politischen, sozialen und ästhetischen Phänomenen herstellen, diese akzentuieren und funktionalisieren. Untersuchungsgegenstand sind Reisebeschreibungen, Karten, Fotografien und filmische Aufnahmen der Antarktisreisen Ernest Shackletons.
P RAKTIKEN
DER E RHEBUNG UND RAUMBEZOGENER D ATEN
D ARSTELLUNG
Am 9. Januar 1909 hisste der britische Arzt und Polarforscher Ernest Shackleton nur etwa 180 Kilometer vom Südpol entfernt den Union Jack (Shackleton 1909: [vol. 1] 348). Es war ihm gelungen, den Fuß auf den südlichsten jemals von Menschen betretenen Teil der Erde zu setzen. Diesen Vorsprung konnte er jedoch nur knapp drei Jahre halten. Bereits im Dezember 1911 erreichte der Norweger Roald Amund-
3
Vgl. zur Konzeption von Medialität als Mittel und Ermöglichung aus technikphilosophischer Perspektive Hubig 2006: 143-191.
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sen als erster den Südpol, wenige Wochen vor dem Briten Robert Falcon Scott, der auf der Rücktour 1912 ums Leben kam.4 Seinen ehrgeizigen Plan, den Südpol zu betreten, hatte Shackleton also nicht erfüllen können – aufgrund mangelnder Ausrüstung, fehlenden Proviants und Entkräftung. Und dies, obwohl er exzellente Vorbereitungen getroffen hatte. Er hatte eigens ein Schiff (die Nimrod) gekauft und überholen lassen, damit es extremen Eispressungen standhalten konnte. Er hatte eine winterfeste Hütte entwerfen und bauen lassen, die während des Polarwinters auf dem Kontinent Schutz vor Kälte und Schneestürmen bieten sollte. Für die Expeditionsteilnehmer waren speziell angefertigte Bekleidungsstücke beschafft und eine nach neuesten medizinischen Kenntnissen entwickelte Nahrungsmittelliste erstellt worden, um sicher zu gehen, dass niemand auf der Reise an Skorbut erkrankte. Shackleton hatte sämtliche ihm von der Royal Geographic Society leihweise zur Verfügung gestellten Karten genauestens studiert und sich alle neuen und notwendigen Raumdatenmessinstrumente und eine Fotoausrüstung beschafft (Shackleton 1909: [vol. 1] 5-26). Während der Reise verfügte er über Teleskope, Kompasse, Tiefseemessungsmaschinen, Theodoliten, Beobachtungssextanten, Chronometer und »nine cameras by various makers, plant for the darkroom, and a large stock of plates, films and chemicals« (ebd.: [vol. 1] 24-26.). Er nahm sogar als einer der ersten Antarktisforscher eine ›cinematograph machine‹ mit, »in order that we might place on record the curious movements and habits of the seals and penguins, and give the people at home a graphic idea of what it means to haul sledges over the ice and snow« (ebd.: [vol. 1] 26). Diese Aufzählung belegt erstens, dass die Organisation einer Antarktisexpedition um 1900 eine beachtliche logistische Leistung darstellte, von deren Details letztlich das Gelingen der Reise und meist sogar das Leben der Teilnehmer abhing. Sie manifestiert zweitens die flächendeckende Ausnutzung von Medientechniken für die Beobachtung, Aufzeichnung und Vermittlung der angestrebten Forschungsergebnisse. Die wachsende Bedeutung der neuen Aufnahme- und Reproduktionstechniken für die Erkundung der Pole fällt mit dem soge-
4
Die Südpolentdeckung ist aufgrund ihres spektakulären Charakters eine der besterforschten historischen Ereignisse. Stellvertretend genannt seien die Darstellungen von Huntford (1980), Jones (2003), Crane (2005) und Barczewski (2007).
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nannten »heroischen Zeitalter« der Entdeckerfahrten zusammen, das vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die frühen 1920er Jahre reichte. Es war gekennzeichnet durch eine international betriebene Intensivierung der Polarforschung. Bis 1922 bewegten sich sechzehn Expeditionen Richtung Südpol: Belgier, Briten, Deutsche, Schweden, Franzosen, Norweger, Japaner und Australier waren auf der Suche nach neuen Erkenntnissen oder strebten dem ›Pol‹ als Trophäe entgegen. Bezeichnend für diese Etappe der Entdeckungsgeschichte ist nicht nur ein signifikanter Anstieg nationaler und wirtschaftlicher Interessen an den noch unbekannten Regionen, sondern auch der Beginn einer international vernetzten wissenschaftlichen Erkundung der topographischen, geologischen, biologischen, meteorologischen und ozeanologischen Beschaffenheit des südlichen Kontinents. Im Ergebnis dieser Forschungsaktivitäten kartierte man einen beachtlichen Teil der Küstenlinie der Antarktis und erhob unzählige Daten im Landesinneren, die in der Folge und über Jahrzehnte hinweg ausgewertet wurden.5 Die Expedition unter Leitung von Ernest Shackleton hatte sich vorgenommen, von einer Basis im McMurdo-Sund aus die Beardmore-Gletscher-Route zum Südpol erstmals zu begehen. Noch im Herbst 1908 bestieg eine Gruppe der Expedition den Mount Erebus und nahm Vermessungen seiner Krater vor. Weiterhin wurden drei Schlittenexpeditionen nach Süden geschickt, um unterschiedliche Aufträge zu erfüllen: die erste sollte den magnetischen Südpol erreichen, die zweite erhob Daten auf Höhenzügen westlich des McMurdo-Sund. Die dritte Gruppe, der Ernest Shackleton sowie Jameson Adams, Eric Marshall und Frank Wild angehörten, wollte den geographischen Südpol erreichen. Auf ihrem Weg entdeckten sie »that a great chain of mountains extends from the 82nd parallel, south of McMurdo Sound, to the 86th parallel«, und stellten fest »between them flows one of the largest glaciers in the world, leading to an inland plateau, the height of
5
So wurden die Expeditionsergebnisse der Ersten deutschen Südpolarexpedition unter der Leitung von Erich von Drygalski in einem zwanzig Bände und zwei Atlanten umfassenden Werk namens Deutsche Südpolar-Expedition 1901-1903 bis 1931 veröffentlicht; die Resultate der von Robert Falcon Scott 1910-13 organisierten Terra-Nova-Expedition erschien in 25 Bänden seit 1925. Beide Ausgaben setzten neben Zeichnungen zahlreiche Fotografien zur Veranschaulichung wissenschaftlicher Erscheinungen ein.
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which, at latitude 88° South, is over 11,000 ft. above sea-level.« (Shackleton 1909: [vol. 1] VIIf.) Ausgangspunkt dieser Raumerkundungen war das Studium bereits existierender Reiseberichte inclusive ihrer Datentabellen, Skizzen, Zeichnungen und Karten. Auf dieser Grundlage wurde der geographische Ort des Basislagers bestimmt, von dem aus die Schlittenreisen ins Unbekannte unternommen werden sollten. Die Karten und Daten bildeten die Voraussetzung für die Berechnung der Marschrouten zum Pol und für die Auswahl der einzelnen Stationen, auf denen Überleben sichernde Depots für die Rücktour zum Sammellager angelegt wurden. Auf den Aufzeichnungen beruhten auch die Vorannahmen hinsichtlich der zu überwindenden geographischen Distanzen, der Wetterbedingungen und geologischen Beschaffenheit der Landschaft – Informationen, von denen die Nahrungsmittelplanung für die Schlittentour abhing sowie die Art der Ausrüstung mit Transportmitteln, Mess- und Beobachtungsinstrumenten. Shackleton hatte sich vor allem auf die Ergebnisse der von Scott 1901-1904 geleiteten Discovery-Expedition gestützt, an der er selbst als dritter Offizier teilgenommen hatte, bevor ihn Scott wegen einer Skorbuterkrankung vorfristig in die Heimat zurückschickte.6 Obwohl er somit bereits Erfahrungen auf dem Gebiet der Vermessung und Kartierung unter klimatischen Extrembedingungen gesammelt hatte und die Daten der damaligen Erkundung bis zum 82. Breitengrad zugrunde legen konnte, scheiterte sein Unternehmen. Die berechnete Route erwies sich als weitaus beschwerlicher zu begehen als gedacht, die klimatischen Bedingungen waren viel härter als angenommen und viele der auf der Scott-Reise gesammelten Beobachtungen entsprachen nicht dem auf der Reise Vorgefundenen. Es fehlten zuverlässige Daten über die klimatischen Verhältnisse sowie über die Höhe und Ausdehnung der Gebirgsformationen in unmittelbarer Nähe des Südpols.7 Außerdem unterschätzte Shackleton aufgrund von »miscalculations« der Daten die benötigte Menge an Proviant.
6
In der Forschung ist diese offizielle Variante der Rückkehr Shackletons umstritten. Es wird angenommen, dass Streitigkeiten zwischen den charakterlich ungleichen Offizieren die Entscheidung Scotts auslösten. Vgl. Riffenburgh 2006: 126.
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Die Genauigkeit der meteorologischen Daten, die nach Beendigung der Discovery-Expedition veröffentlicht wurden, war unter Wissenschaftlern (zu denen auch der Präsident der Physical Society of London gehörte) um-
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Darüber hinaus erschwerten die extreme Gleichförmigkeit der schneeverwehten Landschaft, tagelang anhaltender Nebel oder Schneestürme die Messarbeiten. Shackletons Mannschaft erfasste zwar eine Vielzahl von Raumdaten, nahm Winkelmessungen von Gebirgsvorsprüngen vor, maß Höhen und Längen von Gebirgsketten und bestimmte Bergformen. Ein genauer Blick auf Shackletons Aufzeichnungen offenbart jedoch seine Zweifel daran, dass die Messungen grundsätzlich ein faktisches Wissen über den geografischen Raum bereit stellten. Wiederholt fragte er sich, ob Instrumente wie etwa die Hypsometer zur Höhenmessung bei Schneefall und extremer Kälte überhaupt präzise arbeiten können (Shackleton 1909a: [vol. 1] 300f.) und sprach von den »somewhat rough methods necessarily employed in making the survey.« (ebd.: [vol. 1] VIII). Er experimentierte mit widersprüchlichen Beobachtungsdaten und beschrieb die Ergebnisse der Expedition mit Wendungen, die eine auffällige Vagheit und Vorläufigkeit manifestieren. So resümierte er:»The mystery of the Great Ice Barrier has not been solved […] There certainly appears to be a high snow-covered land on the 163rd meridian, where we saw slopes and peaks, entirely snow-covered, rising to a height of 800 ft., but we did not see any bare rocks, and did not have an opportunity to take soundings at this spot. We could not arrive at any definite conclusion on the point..« (ebd.: [vol. 1] VIII). In einigen Fällen (z.B. den Emerald-, Nimrod- und Dougherty-Inseln) plädierte Shackleton, frühere Eintragungen geographischer Erscheinungen in Karten trotz augenscheinlich neuer Entdeckungen nicht zu entfernen (»I would not advise their removal from the chart without further investigation«), sondern diese so lange bestehen zu lassen, »until their non-existence has been proved absolutely « (ebd.: [vol. 1] IX). Solche Äußerungen verdeutlichen nicht nur eine immense Unsicherheit bezüglich der ›Objektivität‹ von Forschungsergebnissen, sondern markieren auch den Bedingungsrahmen des Raumerkundungsprozesses. Er unterlag zwar nicht zuletzt dem Stand der Vermessungstechnik und ihrer Brauchbarkeit unter klimatischen Extremverhältnissen, wurde aber vor allem konditioniert durch Vorannahmen, die auf einer Auswertung und Deutung vorhandener Daten beruhten und basierte so auf bereits gewonnenen (oder eben noch nicht gemachten) Erfahrungen personaler Akteure: er wurde
stritten (Huntford 1985a: 229–230). Scott selbst gestand ein, dass die Aufzeichnungen des Meteorologen extrem unpräzise seien (Crane 2005: 392).
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also bestimmt durch Praktiken der Handhabung unterschiedlicher Aufzeichnungsmedien. Abbildung 1: Tabelle (Ausschnitt) der täglich zurückgelegten Meilen der Shackleton-Expedition zum Südpol
Quelle: Shackleton 1909, [vol. 2]: 403
Für die Strukturierung, Relationierung und Vermittlung von Wissensbeständen spielte die Wahl des jeweiligen Präsentationsmediums eine entscheidende Rolle. So wurden während der Schlittenfahrten Notizbücher geführt, in welchen meteorologische Daten verzeichnet, geologische und glaziologische Beobachtungen gedeutet, Lageskizzen entworfen und die täglich zurückgelegten Meilen notiert wurden. Eingebettet waren die Angaben in Erzählungen über die außergewöhnlichen Umstände der Forschungspraxis, die wie schon erwähnt aufgrund ex-
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tremer Kälte, stürmischer und nebliger Wetterverhältnisse eine gesicherte Erhebung und Interpretation von Daten in Frage stellte. Im Prozess der Umwandlung dieser Notizen in tabellenartig angeordnete Zahlenkolonnen spielten die technischen Defekte und Ungenauigkeiten der Beobachtungen dann jedoch keine Rolle mehr (Abb. 1). Die Eigenlogik des Aufzeichnungsmediums bedingte die Transformation der diskursiv verhandelten Datenbestände in Messreihen. Der Eintrag der Werte in die Tabelle (geordnet nach Spalten für Datum, geographische Meilen, geographische Breite am Mittag und Umrechnungen in andere Längeneinheiten) isolierte die gemessenen Daten aus ihrem Entstehungskontext, brachte sie in bestimmte Relation zu einander und fixierte sie in einer Weise, die jeden Zweifel an ihrer ›Objektivität‹ beseitigte. Aus den problematisierten Messergebnissen wurden Fakten. Eine weitere Transformation des epistemischen Status’ der Daten bedeutete der Übertrag der Messwerte von der Tabelle in die Karte (Abb. 2). Sie zeigt den über 1755 Meilen langen Marsch Shackletons bis zum 88. Breitengrad als kontinuierliche, fast schon geradlinige Strecke. Dabei unterschlägt sie nicht nur die Unterbrechungen der Schlittentour und die Abweichungen vom Kurs, die aufgrund von Stürmen, unwegsamem Gelände und dichtem Nebel notwendig wurden. Vielmehr legt die Karte eine fortschreitende Bewegung Richtung Süd nahe und gewinnt dadurch eine narrative Komponente. Denn sie erzählt nicht nur die Erfolgsgeschichte wissenschaftlicher Raumerkundung, sondern auch die Geschichte einer heroischen Landnahme im Zeichen bestimmter nationaler Interessen. Davon zeugen die zahlreichen Benennungen, welche den geographisch erfassten Raum nationalen Territorien und ihren politischen Repräsentanten oder aber den Entdeckern sowie den Geldgebern der Expeditionen zuweisen.
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Abbildung 2: Karte der Shackleton-Expedition (1907-1909)
Quelle: Shackleton 1909, [Vol. 2]: o.S. (»In pocket of binding-case«)
Die Karte erzeugt somit einen Imaginationsraum, in dem geographische Daten mit historischen, politischen und kulturellen Wissensbeständen verknüpft, in Narrative eingebunden und nach spezifisch kartographischen Zeichen geordnet werden. Messwerte und Beobachtungen lassen sich in Linien, kontrastiv markierte Flächen oder Namen übersetzen und in ein relationales Verhältnis bringen, das neue Raumaspekte zur Geltung bringt. So gewinnt die Karte (Abb. 2) ihre Suggestion zunächst einmal durch die Verortung des Südpols an einem zentralen Punkt, welcher sich im oberen Bereich der Karte befindet, so dass die Bewegung zu ihm hin als eine Art ›Aufstieg‹ gedeutet werden kann. Außerdem schreiben die Benennungen dem Raum personenzentrierte nationale Geschichten ein: Die Karte erzählt zum einen eine selektive Geschichte der Polarforschung – durch Verweise auf ausgewählte Entdecker und ihre südlichsten Vorstöße, wobei insbesondere britische Seefahrer und Polarforscher wie James Cook, James Weddell und James Clark Ross, aber auch Scott und schließlich Shackleton Berücksichtigung finden. Letzterer trägt sich mit dem Akt der Benennung selbst in die Entdeckergeschichte ein. Zum anderen sucht die Karte
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Anschluss an bestimmte Herrschergeschichten, indem sie geographische Orte nach nationalen Größen (wie etwa Queen Victoria und King Edward VII. von England, Kaiser Wilhelm II. oder Alexander I. von Russland) benennt. Diese symbolisieren die territorialen Ansprüche der jeweiligen Staaten, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert Forscher in die Polarregionen entsandten und vielfach auch die Finanzierung der Reisen bestritten. Kartographische Darstellungen, entworfen für die zahlreichen populären Nacherzählungen der Expedition, imitierten diese Aufzeichnungspraxis, vereinfachten sie noch weiter und arbeiteten so einer weiteren Entproblematisierung des Wissenserhebungsprozesses zu. Beispielhaft dafür ist die Karte in Abb. 3 aus einem 2002 publizierten Sachbuch über die Shackleton-Expeditionen. Abbildung 3: Antarktis-Expeditionen mit markierter Route (durchgängige Linie) der Shackleton-Expedition von 1907-1909
Quelle: Alexander 2002: o.S.
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F OTOGRAFISCHES UND F ILMISCHES R AUM W ISSEN Die Verknüpfung von wissenschaftsbeglaubigender und mythenbildender Funktion sowie eine enge Verbindung geographischer Wissensbestände mit politischen und kulturellen Diskursen bestimmte insbesondere auch jene Medienform, die explizit popularisierenden Strategien folgte: der Schrift und Fotografie kombinierende populäre Reisebericht. Noch im Jahr seiner Rückkehr erschien von Shackleton die Geschichte seiner Reise »The heart of the Antarctic« im Londoner Verlag Heinemann. Wenig später lag die deutsche Übersetzung mit dem reißerischen, das Expeditions-Ergebnis verfälschenden Titel »21 Meilen vom Südpol« bei Wilhelm Süsserot in Berlin vor. Beide Bände waren mit colorierten Zeichnungen und etlichen Fotografien versehen, welche veranschaulichende und erläuternde Funktionen besaßen, vor allem aber den Forschungsprozess dokumentieren sollten. Sie korrespondierten einer Fortschritts- und Heldenrhetorik, die sich sowohl im Inhaltsverzeichnis (»The Conquest of Mount Erebus«, »Steady Progress: The Sighting of New Land«) als auch im Text niederschlug. Darüber hinaus eröffnet die Art und Weise, wie die ›Landnahme‹ des ›südlichsten Punktes‹ beschrieben wird, wesentliche Einsichten in die wissenschaftliche und symbolische Praxis der Polarforscher: »At 4 a.m. started south, with the Queen’s Union Jack, a brass cylinder containing stamps and documents to place at the furthest south point, camera, glasses and compass. At 9 a.m. we were in 88° 23’ South, half running and half walking over a surface much hardened by the recent blizzard. It was strange for us to go along without the nightmare of a sledge dragging behind us. We hoisted her (sic!) Majesty’s flag and the other Union Jack afterwards, and took possession of the plateau in the name of his Majesty. While the Union Jack blew out stiffly in the icy gale that cut us to the bone, we looked south with our powerful glasses, but could see nothing but the dead white snow plain. There was no break in the plateau as it extended towards the Pole, and we feel sure that the goal we have failed to reach lies on this plain.« (Shackleton 1909: [vol. 1] 348)
Zunächst einmal manifestiert die keineswegs beliebige Auswahl der mitgeführten Gegenstände die enorme Bedeutung, welche der Dokumentation und Beglaubigung der Landbesetzung zugeschrieben wurde. Unter den Bedingungen extremer Entkräftung werden neben Instru-
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menten zur Orientierung wie Fernglas und Kompass mehrere Fahnen, ein Metallbehälter zur Aufbewahrung von Dokumenten, sowie eine Kamera mitgeschleppt. An die Stelle von Vermessungsarbeiten und Datenerhebung tritt die symbolische Markierung einer mit Schnee bedeckten, völlig objektleeren Erdoberfläche. Sie wird erst zu einer räumlichen Größe durch die relationale Einbettung in unterschiedliche Wissensordnungen: Durch die Integration in ein wissenschaftlich konventionalisiertes, durch Höhen und Breiten strukturiertes Gitternetzsystem wird sie geographisch fassbar. Die Markierung mit der britischen Fahne setzt sie in einen politisch-nationalen Kontext. Die postulierte Besitznahme im Namen der Königin rekurriert auf Praktiken der Kriegsführung und bindet sie in einen territorialen Diskurs ein. Die schriftliche und fototechnische Dokumentation mit ihren je eigenen Darstellungspraktiken schreibt sie schließlich in eine ästhetische Tradition ein. So aktualisieren die verwendeten sprachlichen Bilder – »we took possession of the plateau in the name of his Majesty«, »icy gale that cut us to the bone« oder »the dead white snow plain« – die gängigen, in der Populärkultur verbreiteten Ideologeme des heroischen Kampfes gegen die Natur und deren Eroberung im Zeichen männlicher Abenteuerlust und martialisch gefärbten Okkupationsstrebens. Verstärkt wird diese semantische Aufladung durch eine dem Bericht beigefügte fotografische Aufnahme, die laut Bildunterschrift Shackleton und zwei seiner Reisebegleiter am südlichsten Punkt der Expedition zeigt (Abb. 4). Obwohl die drei vermummten Gestalten neben der britischen Fahne in einer undefinierbaren Landschaft stehen, die irgendwo in der Welt sein könnte und nichts auf die geographische Verortung nahe des Südpols verweist, diente gerade dieses Bild als Beweis für den Erfolg der Expedition. Es begründete ihren Ruhm, den südlichsten, jemals betretenen Ort der Welt erreicht zu haben. Diese Funktion gewinnt die Fotografie, weil sie erstens durch das Medium der Schrift kommentiert wird und zweitens, weil sie sich auf eine Bildtradition beruft, die ganz spezifische Rezeptionsmuster aktiviert. Denn seit den 1870er Jahren gehörte die Fotoausrüstung zur Ausstattung von Polarforschern und seitdem galten fotografisch fixierte Gestalten mit Fahne im Schnee als Erkennungszeichen territorialer Raumbesetzung.
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Abbildung 4: Bildunterschrift »Farthest South«: Shackleton und zwei Mitglieder der Nimrod-Expedition wenige Meilen vor dem Südpol 8
Quelle: Shackleton 1909: [vol. 1] 348
Fotografie und Text treten hier unübersehbar in ein wechselseitiges Verhältnis: Mittels martialischer Metaphorik und expliziter Bezugnahme auf Eroberungs- und Okkupationspraktiken bindet der Text das Bild in gängige Narrative der Vorkriegsgesellschaft ein. Die Fotografie wiederum dient zur Beglaubigung dieser Textaussagen, denn sie galt als Garant objektiver Wiedergabe vermeintlicher Realität (vgl. Daston/Galison 2002: 26-99). Aufgrund ihrer Eigenschaft, Gegenstände mimetisch wiederzugeben, d.h. einen hohen Grad an perzeptueller Ähnlichkeit zwischen dargestelltem Gegenstand und Zeichen zu erreichen, konnten Fotografien zur Veranschaulichung und Konkretisierung von schwer zugänglichen Objekten der polaren Welt eingesetzt werden. Ihre Konzentration auf die äußere Erscheinung von Objekten sowie die Generierung exakter und detailgetreuer Momentaufnahmen ließ die Fotografie nicht nur zu einer wichtigen Ergänzung kartographischer Darstellungen und Zeichnungen in der Polarforschung, sondern auch zur Dokumentation und Glaubhaftmachung von Forschungsleistungen werden. Dies manifestieren die Praktiken des Einsatzes fotografischer Abbildungen in 8
Aufnahme durch Eric Stewart Marshall, Arzt und Kartograph der NimrodExpedition, der auch die meisten Fotografien anfertigte. Vgl. Riffenburgh 2006: Bildteil nach S. 212 sowie Shackleton 1909: [vol. 2] 21.
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wissenschaftlichen Expeditionsberichten seit Ende der 1880er Jahre. Meist waren die Fotos mit Aufnahmedatum und Urhebernamen versehen, die den wissenschaftlichen Status betonten. Die Fotografien wurden von wissenschaftlichen Mitarbeitern des Expeditionsteams gemacht. Ihr selbsternanntes Ziel war die flächendeckende Fixierung und Beglaubigung von Beobachtungen, die später für wissenschaftliche Zwecke wieder abgerufen und bearbeitet werden sollten. Ästhetische Aspekte traten erst ab etwa 1910 in den Vordergrund, als Expeditionsleiter ausgebildete Fotografen einkauften, um die Wirkung der Reiseberichte und ihre Nachfrage zu steigern.9 Gerade an Shackletons Expeditionen lässt sich dieser Übergang der Fotopraxis von einer eher wissenschaftlichen Dokumentation zur künstlerischen Gestaltung polarräumlicher Gegebenheiten aufzeigen. Foto-»Dokumentation« der Nimrod-Expedition Shackletons Nimrod-Reise kommt noch ohne Berufs-Fotografen aus. Der Anspruch, Forschungsobjekte »naturgetreu« wiederzugeben, dominierte. Beobachtungen wurden fotografisch dokumentiert und später mit genauen Ortsangaben versehen, um so als Zeugnis der Existenz bisher unberührter Gegenden oder unbekannter Erscheinungen zu fungieren oder als Vorlage für die nachträgliche Anfertigung von Skizzen und Aquarellen zu dienen.10 Die Bildunterschriften geben über die Bandbreite der fixierten Beobachtungen Auskunft. Die Aufnahmen des zweiten Bandes der Reiseaufzeichnungen konzentrieren sich auf Gebirgs- und Gletscherformationen (Shackleton 1909: [vol. 2] 70), auf Wettererscheinungen (ebd.: 80) oder die Beschaffenheit des Eises (ebd.: 342). Letztere Abbildung veranschaulicht die Formenbildung
9
So konnte Shackleton für seine nächste Expedition (1914-1917) den australischen Fotografen Frank Hurley gewinnen (vgl. Hurley 1925). Robert Falcon Scott verpflichtete bereits 1910 den künstlerisch ambitionierten Fotografen Herbert Ponting für seine tragisch endende Südpolreise und sorgte dadurch für Breitenwirksamkeit und Nachruhm (vgl. Ponting 1921).
10 In Shackleton Reisebericht finden sich eine Reihe von Skizzen, die sich auf fotografische Aufnahmen beziehen, etwa solche zur Wolkenbildung sowie zur colorierten Darstellung von Tieren (vgl. Shackleton 1909: [vol. 2] 391-395; 258).
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und Größenverhältnisse von Eiskristallen mittels eines in die Aufnahme implementierten Kompasses in Originalgröße (Abb. 5). Abbildung 5: Fotografie von Eiskristallen, Bildunterschrift: »Ice Crystals (The Reproduction of the Compass on the upper picture is of natural size)«
Quelle: Shackleton 1909: [vol. 2] 342
Abbildung 6: »Marine Organisms from Raised Beach S.E. of Mount Larsen, Victoria Land (Magnification 1½)«
Quelle: Shackleton1909: [vol. 2] 320
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Der Wissensraum ›Antarktis‹ wird somit im Medium der Fotografie als wissenschaftliche Tatsache didaktisch aufbereitet, durch Selektion und Kombination spezifischer Aufnahmeobjekte und Akzentuierung einzelner Eigenschaften für eine wissenschaftliche Weiterverarbeitung zugerichtet sowie durch Arrangement ästhetisch inszeniert. Diese Inszenierung manifestiert sich etwa in der Zusammenführung von Kompass und Eiskristall, welche die formalen Analogien zwischen beiden Objekten betont (die strahlenförmige Ausbreitung von einem Zentrum aus), oder in der geometrischen Anordnung und Beschriftung von Meeresorganismen (Abb. 6), welche nicht nur die Klassifikationsverfahren der empirischen Wissenschaften zitiert, sondern auch spezifische Rezeptionsmuster aktiviert. Darüber hinaus fungiert die Fotografie als Instrument der Sichtbarmachung, indem es die für das Auge kaum wahrnehmbaren Strukturen der Organismen vergrößert. Die an exponierter Stelle des Reiseberichts (vor Kapitel 1) und in der Bildunterschrift zu Abb. 6 untergebrachte Notiz, dass »in the photographs the microscopic animals are magnified about 200 diameters«, belegt einmal mehr, welche enorme Rolle die vermeintliche »Naturtreue« der fotografischen Abbildungen für den Einsatz der Fotografie als wissenschaftliches Präsentationsmittel spielte. Neben Dokumentations- und Beglaubigungsfunktionen besitzt die Kontextualisierung und Personalisierung des Raumerkundungsprozesses durch die Fotografie entscheidende Bedeutung. Denn die Mehrzahl der Bilder zeigt nicht die reine Eislandschaft, sondern führt vor, wie der Mensch Natur durch Beschreiten und Vermessen in Besitz nimmt und deutet. Abb. 7 mit der Bildunterschrift »Taking possession of Cape Bernacchi, Victoria Land« betont die Landnahme eines Gebietes, welches bereits auf Scotts Discovery-Expedition entdeckt und nach dem damals beteiligten Physiker Louis Charles Bernacchi benannt wurde. Die nochmalige doppelte ›Besetzung‹ mittels Markierung mit Fahne und fotografischer Fixierung erweitert die wissenschaftliche Dimension um eine symbolische. Letztere wird nicht nur durch die Anordnung der Objekte (zwei Menschen mit Fahne im einsamen Schneegebirge), durch spezifische Kameraperspektive (leichte Untersicht) und Lichteffekte (kontrastreich von der Landschaft abgehobene Forscher) gesteuert, sondern überhaupt erst durch die Kommentierung der Aufnahme in der Bildunterschrift erzeugt. Der polare Raum erscheint hier als zugängliches, berechenbares Naturphänomen, welches mittels Namengebung territorial verortet werden kann, dabei
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jedoch zugleich durch Andeutungen romantischer Motive (Unendlichkeit, Erhabenheit der Natur) und sachlich-realistischer Darstellungsweise in unterschiedliche ästhetische Konventionen eingebunden wird. Abbildung 7: Die Markierung des Cape Bernacchi auf Victoria Land am 17. Oktober 1908 durch Edgeworth David, Douglas Mawson und Alistair Mackay und auf dem Weg zum magnetischen Südpol
Quelle: Shackleton 1909: [vol. 2] 96
Frank Hurleys Foto-Ästhetik: Die EnduranceExpedition Im Vergleich zu Fotografien der zweiten Expedition Shackletons von 1914-17 wirkt die Aufnahme jedoch geradezu ambitionslos. Grund dafür war nicht nur die Tatsache, dass für die Endurance-Expedition der australische Fotograf Frank Hurley engagiert wurde. Shackleton hatte weitere Maßnahmen getroffen, damit die Präsentation der ReiseErgebnisse größtmöglichen finanziellen Gewinn einbringen konnten. So vergab er vorab die Exklusivrechte an den Expeditionsberichten der einflussreichen britischen Zeitung Daily Chronicle und gründete das Imperial Trans-Antarctic Film Syndicate, das alle Filmrechte verwerten sollte (vgl. Alexander 2002: 20). Das geplante Reiseunternehmen,
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bei dem die Mannschaft den antarktischen Kontinent durchqueren wollte, sollte jedoch noch weniger Erfolg haben als die NimrodExpedition. Das Schiff Endurance blieb im Packeis stecken und zerbrach, noch bevor eine Landung an der Küste des südlichsten Kontinents möglich wurde. Die Expeditionsteilnehmer bewegten sich monatelang auf einer Eisscholle mit der Drift und konnten sich schließlich mit Beibooten auf eine Insel retten, wo sie bis 1916 auf Hilfe von einem chilenischen Schiff aus Südgeorgien warten mussten. Berühmt wurde die Expedition vor allem durch die fotografischen und filmischen Aufnahmen Hurleys, der bereits 1911 an der AntarktisExpedition von Douglas Mawson teilgenommen und durch seinen Film HOME OF THE BLIZZARD (1913)11 Aufsehen erregt hatte. Hurley galt als extrem widerstandsfähig und unerschrocken. Einer der Expeditionsteilnehmer bezeichnete ihn als »Krieger« mit »Kamera«,12 der alles riskierte, um ein Foto zu machen. Als das Schiff vom Packeis zerstört wurde und unterging, balancierte er unter Lebensgefahr zwischen den Trümmern, um Aufnahmen zu machen: »The foretop and t’gallant-mast came down with a run and hung in wreckage on the fore-mast, with the fore-yard vertical. The main-mast followed immediately, snapping off about 10 ft. above the main deck. The crow’s-nest fell within 10 ft. of where Hurley stood turning the handle of his camera, but he did not stop the machine, and so secured a unique, though sad, picture.« (Shackleton 1920: 80)
Die Foto- und Filmarbeiten Hurleys manifestieren seine künstlerische Besessenheit durch extreme Kamera-Standorte, ausgewählte Beleuchtungseffekte und gezielt eingesetzte Einstellungsgrößen, die weit über den dokumentarischen Anspruch der vorher besprochenen Fotoarbeiten hinausgehen. Beispielhaft führen die Nachtaufnahmen des Expeditionsschiffes im Packeis vor, wie sehr technische Anstrengungen und
11 Frank Hurley war zugleich Kameramann, Regisseur und Produzent des zunächst unter dem Titel LIFE IN THE ANTARCTIC gezeigten Films. Eine 67 Minuten-Fassung wurde durch das National Film and Sound Archiv Australiens rekonstruiert. 12 Lionel Greenstreet über Hurley in einem Brief an seinen Vater (zit. nach Alexander 2002: 222).
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ästhetische Überlegungen die fotografische Inszenierung des antarktischen Raumes steuerten. (Abb. 8) Abbildung 8: Die ›Endurance‹ bei Nacht, Aufnahme durch Frank Hurley am 27. 8. 1915
Quelle: Alexander (2002): 90
Für die Aufnahme des vom Eis bedrohten Schiffes bei Nacht verwendete Hurley nicht weniger als 30 Blitzlichter, die, wie er in seinem Tagebuch vermerkte, »hinter jeder Aufgipfelung des Packeises« und »um das Schiff« aufgestellt wurden (zit. nach Alexander 2002: 90). Dieses Foto legt nicht bloß Zeugnis von der menschlichen Durchdringung eines zugleich bedrohlichen und faszinierenden Raumes ab. Vielmehr erzeugt es zuallererst diesen Raum und fächert ihn in seine vielschichtigen Dimensionen auf: als einen extremen Naturraum der Kälte und Einsamkeit, als Untersuchungsgegenstand einer Forschergemeinschaft, als Sehnsuchtsort für Abenteurer, die das Unbekannte suchen, als Kampfplatz, an dem sich die Macht menschlich hervorgebrachter Technik und das zerstörerische Potential der Natur kräftemessend gegenüber stehen und zugleich als Aufführungsort fototechnischer Errungenschaften. Das auf diese Weise präsentierte, heterogene Raumwissen, welches geographische, technische, imaginationsgeschichtli-
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che und ästhetische Wissensbestände akzentuiert und zueinander in Beziehung setzt, ist somit vielfach konditioniert: Es ist zunächst einmal geprägt durch Einstellungen, ästhetische Präferenzen und Fertigkeiten des Fotografen, der quasi seine Vorstellungen der Antarktis in die fotografische Präsentation einschreibt, indem er spezifische filmische Verfahren auswählt, die sein Verhältnis zur südpolaren Landschaft ausdrücken. So arbeitet Hurley mit extremer Untersicht, die Eisberge und Schiff gigantisch in die Dunkelheit ragen lassen und Faszination durch ihr ambivalentes Verhältnis erzeugen. Die Einstellungsgröße ist so gewählt, dass das Schiff einerseits Präsenz ausstrahlt, indem es fast die gesamte Bildfläche ausfüllt. Andererseits betonen sowohl seine durch Lichteffekte hervorgehobene Grazilität als auch die Positionierung des Schiffes hinter den mächtigen, durch Nahaufnahme und Kontrastierung gewaltig wirkenden Eisschollen das Fragile und Bedrohliche der Situation. Antarktischer Raum wird so in ein Szenario eingebunden, welches den Zugriff des Menschen auf das Extreme, Unendliche und Geheimnisvolle problematisiert und zugleich das Changieren zwischen Beherrschung der Natur und Ausgeliefertsein thematisiert. Eine weitere Bedingung der Konstitution fotografischen Raumwissens betrifft die fototechnische Ausrüstung und ihren Einsatz. Shackleton hatte Hurley die Zusammenstellung der Fotomaterialien vollständig überlassen und die angeforderten Apparate durch die KodakNiederlassung in Sydney komplett ab Lager anliefern lassen. Die Wirkung der Fotografien beruhen zum großen Teil auf der jeweils fachkundigen Auswahl und Handhabung von Kameras, Platten, Filmen und Objektiven mit unterschiedlichen Brennweiten und Blenden. 13 So unterscheiden sich die Aufnahmen der Platten-Kameras beträchtlich von jenen, die Hurley nach dem Verlust des Schiffs mit der einfachen Taschenkodak machte – sowohl hinsichtlich ihrer Sujets als auch ihrer
13 Für die Schiffsexpedition nutzte Hurley Graflex Kameras und eine Plattenkamera, für welche Austral-Standard-Platten zur Verfügung standen, so dass Dispositive vor Ort gemacht werden konnten. Unter den Objektiven befanden sich u.a. ein 12 Zoll F/3.5 Porträtobjektiv sowie eine 17 Zoll Ross F/5.4 Telecentric. Nach dem Verlust des Schiffes musste Hurley seine schwere Ausrüstung zurücklassen und verwendete nur noch kleinere Kodak-Kameras und eine Taschenkamera. Artikel in der Australian PhotoReview vom 22. August 1914 (Angaben lt. Alexander 2002: 221).
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künstlerischen Gestaltung. Bis zum Scheitern der Schiffsreise dominierten großformatige Porträtaufnahmen der Mannschaftsmitglieder, faszinierende Perspektiven auf das Schiff und ästhetisch ausgefeilte Landschaftsaufnahmen. Nach der Flucht auf die karge Insel Elephant Island war Hurley gezwungen, sich mit einer einfachen Kamera und drei Filmrollen auf wenige Momente zu konzentrieren, die für die spätere Dokumentation der Expedition als bedeutend eingestuft wurden: auf die Landung der 28-köpfigen Mannschaft am Strand von Elephant Island, auf die schwierigen dort herrschenden Lebensumstände und schließlich die Rettung nach vier Monaten durch ein von Shackleton organisiertes chilenisches Schiff. So dokumentiert etwa Abbildung 9 den Erfindungsgeist der Männer, die sich mit ihrer selbstgezimmerten Behausung aus Bootsresten, Zeltstangen und Planen gegen Wind und Kälte zu schützen suchten. Das heroische und erhabene Element der Nachtaufnahme fehlt hier völlig. Abbildung 9: Fotografie Frank Hurleys, Bildunterschrift: »The Hut of Elephant Island«
Quelle: Alexander 2002: 180
Doch bereits unter den Bedingungen der Schiffsreise zum antarktischen Kontinent stellte die nötige Handhabung der Fotomaterialien eine Herausforderung dar. Die Geräte mussten regelmäßig mit Petroleum eingeölt werden, da sich unter den extremen Temperaturen Kondensationsschleier über die Linsen legten. Um temperaturbedingte Störungen zu kompensieren, arbeitete Hurley meist mit zwei Kameras, so
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dass er im Zweifelsfall auf eine Ersatzaufnahme zurückgreifen konnte. Auch die Entwicklung der Filme war ein kompliziertes Unterfangen, denn die Temperatur der Dunkelkammer über dem Maschinenraum des Schiffes stieg nur selten über den Gefrierpunkt; das für die Filmentwicklung notwendige Wasser wurde aus Schnee geschmolzen und musste auf eine gleichbleibende Temperatur erwärmt werden. Hurley klagte über brüchige Nägel und rissige Hände, die durch das Arbeiten im eisigen Wasser entstanden (Alexander 2002: 76). Dennoch gelang es ihm bis zum Untergang der Endurance etliche Glasplatten-Negative herzustellen und Fotos zu entwickeln, für deren Erhalt er seine Gesundheit aufs Spiel setzte. Nach dem Sinken des Schiffes konnte er durch Tauchgänge im eiskalten Wasser mehr als die Hälfte der Platten und ein Fotoalbum retten: »Ich hackte den ganzen Tag hindurch auf die dicken Wände der Kühlkammer, in der die Negative lagerten, ein [...]. Ich machte sie etwa einen Meter unter weichem Schneematsch und Wasser ausfindig und entkleidete mich bis zur Taille und tauchte unter und holte sie herauf. Glücklicherweise waren sie in Blechkanistern eingelötet, so daß ich hoffen konnte, daß sie durch das Wasser nicht gelitten hatten.« (Ebd.: 109)
Shackleton waren diese Bergungsarbeiten sowie die Überlieferung der Foto-Dokumente ausgesprochen wichtig, denn er erlaubte Hurley, 120 der 520 schweren Negativ-Platten (20 Paget-Farb- und 100 Halb- und Vollglasplatten) auf die gefährliche Überfahrt nach Elephant Island mitzunehmen, obwohl die Reise mit drei kleinen Beibooten jeden überflüssigen Ballast verbot. Shackleton war auch an der Auswahl der Negative beteiligt, von der letztlich abhing, welches ›Bild‹ von der Antarktis durch die Forschungsreisenden tradiert werden würde (ebd.). Letzteres berührt einen dritten wesentlichen Punkt der Konditionierung des »Wissensraumes« Antarktis – die sozialen Aushandlungen, welche der Verbreitung und Popularisierung fotografischer Präsentationen zugrunde lagen. Da die Fotos gemeinsam mit den sie integrierenden Reiseberichten und Vortragsreihen als kostendeckende Einnahmequelle dienten, ja einen großen Teil der immensen Kosten der Expedition ausgleichen sollten, unterlag ihre Reproduktion und Veröffentlichung publikumswirksamen Vorerwägungen. Die Wahl der letztlich in Reiseberichten veröffentlichten Fotografien wurde oft erst nach langwierigen Verhandlungen zwischen Forschern, Fotografen
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und Redakteuren getroffen. Darüber hinaus wurden die ursprünglichen Fotoarbeiten im Nachhinein erweitert oder verändert. Dies geschah durch nachträgliche Aufnahmen, wie sie Hurley nach seiner Rückkehr in South Georgia machte, um Reiseabschnitte zu veranschaulichen, bei denen eine Fotokamera gefehlt hatte. Auch finden sich Kompositionen aus Fotografie und Zeichnung – vor allem um bestimmte Details hervorzuheben oder Effekte zu verstärken (siehe South 1920: 181). Hurley wandte außerdem eine Art Mischtechnik für jene Bilder an, die er für Shackletons spätere Vortragsreisen erstellte. Zum Beispiel legte er Tierbilder über weite leere Landschaftsaufnahmen oder stattete letztere mit einem neuen, spektakulär beleuchteten Hintergrund aus (Alexander 2002: 201). Nicht zuletzt veränderte Hurley den Inhalt seiner Fotos durch Auslöschen bestimmter Objekte und ›manipulierte‹ die Legenden seiner Fotos, um sie an den jeweiligen Begleittext anzupassen (ebd.: 212). Diese Veränderungen waren in epistemischer und raumkonstituierender Hinsicht relevant, denn sie ›verfälschten‹ nicht nur die Forschungsergebnisse, sondern schufen auch neue Szenarien, welche sich in die wissenschaftlichen und populären Narrationen über den antarktischen Raum einschrieben. Antarktis als filmisch generierter Raum Wie oben bereits erwähnt, war Hurley nicht nur Fotograf sondern auch Kameramann und Filmemacher. Mit einer 35mm Handkurbelkamera, 1908 durch den Franzosen André Debrie entwickelt, machte er bis zur Zerstörung der Endurance zahlreiche Filmaufnahmen. Eine Filmrolle mit etwa 731 Metern Filmmaterial konnte gerettet und nach der Heimreise im November 1916 Ernest Perris, dem Korrespondenten des Daily Chronicle, überreicht werden. Im Frühjahr 1917 kehrte Hurley jedoch noch einmal nach South Georgia zurück und machte weitere Tier- und Landschaftsaufnahmen, um die Dokumentation der Expedition zu vervollständigen (vgl. Alexander 2002: 199). Der aus Originalaufnahmen, nachträglichen Filmaufzeichnungen, Fotografien, gemalten Bildern und Wortbeiträgen kompilierte Film kam 1919 unter dem Titel In the Grip of the Polar Pack in die Kinos14. Sein Erfolg beim
14 Ich beziehe mich im Folgenden auf die vom National Film and Television Archive London restaurierte und viragierte 80 minütige Fassung. Sie er-
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Publikum trug in hohem Maße dazu bei, Shackleton von den Schulden der Expedition zu entlasten.15 Ganz abgesehen von der historischen und kulturellen Bedeutung, die dem Filmdokument als einem der ersten abendfüllenden Filme über die Erkundung polaren Raumes zukommt, lässt sich seine intendierte Massentauglichkeit nicht verleugnen. Die Dramaturgie des Films folgt gängigen und erfolgversprechenden Strategien der zeitgenössischen Publikumsunterhaltung. Sie stützt sich auf eine ausgewogene Mischung unterschiedlicher Bildmedien (Realfimaufnahmen, Fotografien und künstlerische Bilder), perspektiviert diese durch eingängige Kommentare in den Zwischentiteln und rahmt die – vordergründig dokumentierende und chronologisch aufgebaute Filmhandlung durch einen heroisch-pathetischen Diskurs: Zu Beginn des Films werden die Führer der Expedition in Uniform gezeigt und unter Nennung ihrer militärischen Grade als »tapfere» und »aufopferungsvolle« Männer eingeführt. Am Ende des Films wird diese Semantik noch ausgebaut, ja in den letzten Zwischentiteln plakativ zugespitzt: »Thus ends the story of the Shackleton Expedition to the Antarctic – a story of British heroism, valour and self-sacrifice in the name and cause of a country’s honour«. Neben solchen ideologisch überformten Identifikationsangeboten werden die Zuschauer durch etablierte Darstellungspraktiken des Illusionskinos à la George Méliès zufrieden gestellt. Elemente des an die Theatertradition angelehnten Kurzfilmkinos wie die Verwendung von Kulissen und die figürliche Einrahmung der Zwischentitel bedienen eingeübte Rezeptionsgewohnheiten und helfen, den vorgebrachten Stoff leichter zu verdauen. Solche intermedialen Verfahren erzeugen ein mehrfach gestaffeltes Raumbild. (Abb. 10) So haben wir es auf der Ebene der Schrift mit einer Überbietungsrhetorik zu tun, die das Narrativ der männlich-mutigen Eroberung des nie betretenen Landes pro-
schien 2007 auf DVD unter dem Titel South in der ARTE-Edition bei absolut Medien, Berlin. 15 Der 1919 veröffentlichte Reisebericht South, den Shackleton bereits in Neuseeland dem Journalisten Edward Saunders diktiert hatte, wurde zwar auch zum Verkaufsschlager, doch musste Shackleton auf alle Tantiemen verzichten, um die Testamentvollstrecker eines seiner Sponsoren zufrieden zu stellen. Shackleton war trotz des öffentlichen Erfolges praktisch pleite (vgl. Alexander 2002: 201).
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klamiert. Auf der bildlichen Ebene konstituieren ein vereistes Expeditionsschiff unter sich auftürmenden Schneelandschaften, verstreute Pinguine und drohende Eiszapfen am oberen Bildrand eine Anordnung von Elementen, die sowohl inhaltlich als auch formal durch ihr spezifisches räumliches Setting die Raumsemantik des Zwischentitels aufgreifen und in konkrete Vorstellungsbilder übersetzen. Zugleich bildet die Statik dieser Filmsequenz ein extremes Kontrastbild zur Dynamik der nachfolgenden Filmaufnahmen. Abbildung 10: Erster Zwischentitel des Films South von Frank Hurley
Quelle: South (1919) / Arte Edition © 2007 absolut Medien, Berlin
Denn die Originalaufnahmen Hurleys bedienen eine andere Raumsprache. Sie weisen eine avancierte Kameratechnik auf, setzen gezielt Licht- und Schatteneffekte ein, wählen ausgefallene Aufnahmewinkel und bevorzugen kontrast- und bewegungsreiche Szenen. Abb. 11 zeigt nicht einfach – wie es der Zwischentitel möglicherweise erwarten ließe – ein Schiff mit couragierten Männern im dichten Packeis der Antarktis. Vielmehr wird hier die Erkundung und Eroberung des antarktischen Raumes als ästhetisches Gesamtkunstwerk gefeiert. Wie in seinen Fotos erzeugt Hurley einen faszinierenden Einblick in die ambivalenten Dimensionen des extremen Naturraumes, der einerseits sowohl Kälte, Abgeschiedenheit und Unwirtlichkeit ausstrahlt als auch zum Inbegriff von Sehnsucht und Abenteuerlust werden kann. Andererseits
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erscheint er als Raum, der mittels menschlicher Technik erobert und entzaubert und dennoch gerade aufgrund seiner Unberührtheit verherrlicht und ästhetisiert wird. Abbildung 11: Durchbruch der Endurance durch das Packeis
Quelle: South (1919) / Arte Edition © 2007 absolut Medien, Berlin
Hurley nutzt hier vor allem Belichtung und Kameraperspektive, um ein suggestives räumliches Setting zu erzeugen. Die extreme Aufsicht ermöglicht es, den kontinuierlichen Durchbruch durch das anderthalb Meter dicke Packeis als technische Hochleistung und menschlichen Eingriff in die natürliche Umwelt zu inszenieren, die Unterlegenheit der Natur festzuschreiben und das vorgefundene Gebiet ästhetisch umzugestalten. Die Antarktis wird zur Bühne eines durchdachten Arrangements von Objekten, Naturelementen und Menschen, welche durch Lichteffekte, Farben und Kamerabewegung in symbolische Ordnungen eingebunden werden. So kann die Virage des Filmmaterials in blau als Anspielung auf zentrale Motive der Romantik – die Sehnsucht und das Streben nach Unendlichkeit – gelesen werden. Die Schattenspiele des Schiffes auf der Eisoberfläche hingegen unterstreichen die Vereinnahmung des widerspenstigen Raumes durch Mensch und Technik. Diese Symbolik wird verstärkt durch die filmische Reproduktion der dynamischen Bewegung, mittels welcher das Schiff durch den Eispanzer bricht.
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Bewegung spielt generell eine zentrale Bedeutung für die filmische Konstitution von Raumwissen. Dies gilt zum einen für die einzelnen Realfilmaufnahmen, welche Vorgänge der Raumaneignung in Echtzeit wiedergeben und diese mittels Kamerafahrten, Kameraschwenks oder Einstellungswechsel so modifizieren können, dass neue Sichtweisen auf den Raum entstehen. So werden heterogene Wissenselemente mittels Kameraschwenks zusammengeführt oder einzelne Objekte durch Groß- und Detailaufnahmen aus dem räumlichen Kontext isoliert und akzentuiert. Zum anderen wird räumliches Wissen durch die Art der Verknüpfung von Einstellungen mittels Schnitt hervorgebracht. Dieser »filmisch-relationale Raum«, der durch die »Lagebeziehungen der Einstellungen zueinander« bestimmt wird, ergänzt die Genese von Räumlichkeit durch Objektbewegung und Dynamik der Kamera (Ries 2007: 301). Hurleys Film nutzt ein für die frühe Entstehungszeit beeindruckendes Spektrum möglicher Kamera- und Schnitttechniken, intermedialer Verknüpfungen und dramaturgischer Verfahren. Mit ihrer Hilfe wird der Wissensraum Antarktis auf mehrfache Weise hervorgebracht: Erstens wird Raum auf der Ebene der Objektauswahl und -anordnung in nichtfilmischen Medien wie Schrift, Bild und Fotografie konzipiert: Mittels spezifischer Verfahren des jeweils verwendeten Mediums werden einzelne Entitäten gestaltet, in räumliche Beziehung zu anderen Elementen gesetzt, dadurch kontextualisiert und perspektiviert. In Abb. 10 geschieht dies durch Anordnung von Bildelementen (Eisberge und Pinguine als Erkennungszeichen antarktischer Landschaft, das Schiff als Symbol menschlicher Invasion in den unberührten Naturraum) zu einem Rahmen, welcher den Vorstellungsbereich Antarktis absteckt und zugleich den Kontext für die im Zwischentitel rhetorisch formatierten Raumzusammenhänge abgibt. Die sprachlich hervorgebrachte Raumsemantik konkretisiert und perspektiviert wiederum die bildliche Präsentation, etwa indem sie diese in ein Narrativ nationaler Stärke einbindet. Zweitens werden in den Realfilmaufnahmen räumliche Beziehungen durch die Bewegung der Objekte, die Eigenbewegung einer auf Schiff oder Hundeschlitten montierten Kamera, durch Einstellungsgrößen, gewählte Perspektiven und Belichtung geschaffen (vgl. Abb. 11).
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Drittens basiert die Raumkonstitution auf der Verbindung der einzelnen Sequenzen, welche einer chronologischen Ordnung und dramaturgischen Prinzipien folgt und dabei durch den Wechsel unterschiedlicher Medien geprägt ist. Eine Plotstruktur verknüpft Akteure, Orte und Ereignisse analog dem populären Genre des Abenteuerfilms; die dominierenden Konzepte Kampf, Eroberung und männliche Prüfung knüpfen den Zugang zum Raum an tradierte Vorstellungsmuster und schaffen so Identifikationsangebote für die Zuschauer. Nicht zuletzt bedingt die spezifische Hybridität des Films die Wissensgenese. Denn aufgrund ihrer intermedialen Grundstruktur nehmen Filme bild- und textrhetorische Verfahren auf, erweitern durch intermediale Bezugnahmen das semantische Feld und führen so neue Wissens-Verknüpfungen herbei. Fazit: Wissensmedien und Raumkonstitution in der Polarforschung Eine raum- und wissenstheoretisch fundierte Mediengeschichte der Polarforschung, wie sie hier am Beispiel der Expeditionen Ernest Shackletons rekonstruiert wurde, kann auf vielfältige Weise Einblick in die Konstitutionsbedingungen antarktischen Raumes geben. Sie zeigt, dass die unterschiedlichen medialen Techniken und Praktiken, welche die Erkundung des bereisten Raumes konditionierten und ermöglichten, nicht nur der Aufzeichnung, Speicherung und Verbreitung eines vorgefundenen Raumes dienten, sondern diesen überhaupt erst hervorbrachten. Antarktischer Raum – verstanden als relationales Wissensgefüge, welches sich aus Beziehungen zwischen Entitäten unterschiedlicher Wissensbereiche zusammensetzt – ist Produkt eines vielschichtigen Prozesses. Die herausragende Rolle, welche Medien und mediale Bedingungen in diesem Prozess der Raum- und Wissensgenerierung spielen, ließ sich in mehrfacher Hinsicht aufzeigen: Erstens mit Blick auf die Funktionalisierung von Medien als Beobachtungs- und Aufzeichnungsmittel, welche in der Erhebung, Fixierung, Auswertung und Weiterverarbeitung raumbezogener Daten Wissenselemente zusammenführen, in Beziehung setzen, umordnen und neue Relationen zwischen ihnen schaffen. Zweitens treten Medien als intermediale Verbünde wie Reisebericht oder Film auf, kombinieren einzelne Aufzeichnungsmedien mit
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ihren je spezifischen Darstellungslogiken und bedingen dadurch intermediale Übersetzungsvorgänge, bei denen Daten »geglättet« und transformiert, Objekte kontextualisiert, in narrative Strukturen eingebunden und dadurch neue Symbolordnungen geschaffen werden. Drittens sind Medien mit sozialen Aushandlungsprozessen verbunden, welche u.a. darüber entscheiden, welche Raumdaten und Raumvorstellungen auf welche Weise finanziell gefördert, vermittelt, möglichst erfolgreich vermarktet oder auch unterdrückt werden. Viertens bestimmt der jeweilige Stand der Medientechnik die Formen der Erfassung des Raumes, seiner Gestaltung und Verbreitung. Fünftens schließlich schreiben sich theoretische Vorannahmen, ästhetische Vorlieben und technische Fertigkeiten der Mediennutzer (Produzenten gleichermaßen wie Konsumenten) in die Herstellung räumlicher Zusammenhänge ein. Es steht außer Frage, daß sich die präsentierte Liste der einzelnen Aspekte medialer und medientechnischer Konditionierung des Raumbildungs- und Wissensprozesses um ein Vielfaches erweitern ließe. Diese Arbeit muss weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben, welche das Wechselverhältnis von medialen Ermöglichungsbedingungen, räumlichen Zusammenhängen und Wissensgenese in den Blick nehmen und damit neue Einsichten in die kulturelle Produktion von Wissensordnungen bieten.
A NTARKTIS
ALS MEDIALER
W ISSENSRAUM
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Das transplane Bild Medium des Raumwissens J ENS S CHRÖTER »Immerzu versuche ich, wenigstens vom Raum mir eine zuverlässige Vorstellung zu verschaffen.« W.G. Sebald, Schwindel. Gefühle.
Die Geschichte sowohl der optischen Medien, als auch die damit eng verbundene, aber keineswegs identische Geschichte des Sehens bzw. der visuellen Medien sind schon eine gewisse Zeit in aller Munde, spätestens seit der pictorial oder iconic turn ausgerufen worden war. Dennoch ist die bisherige Diskussion in mindestens zwei Punkten erweiterbar: Die erste These ist, dass es in den bisherigen historischen Darstellungen der Geschichte optischer bzw. visueller Medien einen blinden Fleck gibt – nämlich die mangelnde Berücksichtigung dessen, was ich die Geschichte der technisch-transplanen Bilder nenne. Diese verschiedenen Bildtypen (Stereoskopie, integrale Fotografie, Fotoskulptur, lentikulare Bilder, Holographie, Volumetrie, interaktiv-transplanes Bild) haben gemeinsam, mehr Informationen über den Raum bzw. die räumliche Struktur der Objekte zu liefern als die (auf verschiedene Weise letztlich noch immer) linearperspektivisch projizierten Bilder der (analogen wie digitalen) Fotografie. Sie liefern aber auch mehr oder auf andere Weise Informationen über den Raum oder die räumliche Struktur der Objekte als die serialisierten Bilder des Films, des Videos und des Fernsehens. Der populärer Name dieser Bilder ist: 3DBilder.
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Dabei wird als zweite These ein alternativer medienhistoriographischer Zugang vorgeschlagen – in Absetzung von Jonathan Crarys breit rezipierter Studie Techniques of the Observer (Crary 1990). Crarys Studie ist deswegen ein naheliegender Ausgangspunkt, da er sich als einer der wenigen intensiv mit dem ältesten ›dreidimensionalen Bild‹, der Stereoskopie, auseinandersetzt. Genauer: Er versucht sie in eine Geschichte verschiedener ›Optiken‹ einzuordnen. Er ist der Einzige, der das bislang versucht hat – ja, er ist der einzige, der die Geschichte optischer Medien überhaupt entlang der Optik zu strukturieren versucht hat (merkwürdigerweise). Daran schließe ich an. Nicht jedoch folge ich seinem Konzept, eine sukzessive und exklusive Abfolge von Optiken anzunehmen. Crarys zentrale These in Techniques of the Observer ist in aller Kürze an einer Stelle ausgedrückt. Er spricht von einer »passage from geometrical optics of the seventeenth and eighteenth centuries to physiological optics, which dominated both scientific and philosophical discussion of vision in the nineteenth century.« (Crary 1990: 16)1 In der physiologischen Optik geht es nicht mehr um die geometrisch beschreibbaren Eigenschaften des Lichts, sondern um die körperlichen Bedingungen des Sehens. Grundsätzlich scheint mir richtig, dass im 19. Jahrhundert zur geometrischen Optik noch die physiologische Optik dazukommt, ich halte es aber für falsch, dass die eine die andere abgelöst (›passage from‹) habe. Aber zunächst: Was ist eigentlich die ›geometrische Optik‹? Geometrische Optik ist das Wissen um die beobachtbaren Regelhaftigkeiten des Lichts vor allem im makroskopischen Bereich. Es ist das Wissensfeld, welches Crary, manchmal unter dem Namen ›classical optics‹, mit Perspektive und Camera obscura assoziiert und das auch tatsächlich damit exakt zusammenhängt. Carter schreibt im Oxford Companion of Art 1970 bündig: »Scientific Perspective, known variously as central projection, central perspective, or picture plane or Renaissance or linear or geometrical perspective, may be regarded as the scientific norm of pictorial representation. The story of its development belongs as much to the history of geometry as that of painting. It is the perspective of the pin-hole camera (and with certain reservations as regards lens distortion) of the camera obscura and the photographic camera. It
1
Die in diesem Aufsatz skizzierte Argumentation ist sehr viel ausführlicher entfaltet in Schröter 2009.
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derives from geometrical optics and shares with that science its basis in physics: the rectilinear propagation of light rays.« (Carter 1970: 840)
Geometrische Optik ist also ein Wissen, in dem das Licht als Lichtstrahlen beschrieben wird, Reflexion und Brechung sind so gut erklärbar. Dieses Modell des Lichts liegt den gesamten Traktaten der deswegen so genannten Linearperspektive zugrunde (gelegentlich überlagert mit dem älteren Modell der ›Sehstrahlen‹, vgl. Simon 1992: 2966). In jedem Handbuch zur Optik findet sich dazu ein Kapitel (Hecht 1994: 135-256). Warum ist das so? Weil geometrische Optik relativ einfach und zur Berechnung optischer Geräte wie z.B. Camerae obscurae oder Fotoapparaten gut geeignet ist – daher ist es durchaus plausibel, wenn Crary die geometrische Optik mit dem Paradigma der Camera obscura engführt. Übrigens geht auch das heute in der Computergrafik zentrale Verfahren des ›ray tracing‹ – wie der Name schon sagt – direkt auf die geometrische Optik zurück (Watt 2002: 154-156; 383-412). Crary (1990: 1) erwähnt das ›ray tracing‹ ganz zu Beginn des Buches, ohne sich die Sprengkraft für sein Modell klarzumachen – denn wie kann, wenn es eine ›passage‹ von der geometrischen Optik weg gegeben hat, diese Grundlage zentraler Verfahren der heutigen Computergrafik sein? Man ahnt, dass Crary mit seiner These, die geometrische Optik sei durch die physiologische Optik abgelöst worden, nicht richtig liegen kann. Der Sinn und Zweck der auf der geometrischen Optik basierenden Verfahren – zu denen, wie gesagt, die perspektivische Projektion, die Camera obscura, in ihrer Folge auch die Fotografie gehören – ist eben, die Projektion eines dreidimensionalen Objekts bzw. von Objekten in einem Raum auf eine zweidimensionale Fläche zu bewerkstelligen. Alberti beschrieb in dem Traktat De pictura von 1435, welcher immer wieder als die zentrale Gründungsurkunde des perspektivischen Paradigmas angesprochen wird, das Licht als »gleichsam gespannte und überaus feine Fäden« und definierte das Bild, das »Gemälde [als] Schnittfläche einer Sehpyramide […]: ein Schnitt also, der auf einer gegebenen Fläche mit Linien und Farben kunstgerecht dargestellt ist.« (Alberti 2000: 201; 215-217) Das Bild sollte zum Fenster werden, durch das man eine konsistent verkürzte Szenerie sieht. Natürlich muss man sich, wenn man malt, nicht an die linearperspektivischen Regeln halten und nur wenige Maler haben das wirklich konsequent getan bzw. die Regeln um der künstlerischen Komposition willen abgeändert
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(Elkins 1994). Aber wenn man Fotoapparate nutzt, kann man nicht anders. Die systematische und konsistente Projektion, die die Fotografie unter geregelten Bedingungen bietet, macht sie für das Vermessungswesen oder die Naturwissenschaften unverzichtbar. Doch geriet die perspektivische Projektion in der Moderne mit bestimmten Anforderungen in Konflikt. Denn perspektivische Projektionen sind nicht isomorph, d.h. sie bewahren nicht alle Informationen über die räumliche Gestalt. Ernst Gombrich schreibt: »Während wir zwar voraussagen können, wie die Projektion eines gegebenen dreidimensionalen Objekts auf einer gegebenen Ebene aussehen wird, gibt uns die Projektion selbst über das betreffende Objekt keine ausreichende Information, da nicht nur seine Konfiguration, sondern eine unendliche Anzahl in bestimmter Weise verwandter Konfigurationen dasselbe Bild ergeben würden […].« (Gombrich 1984: 188)
Diese Limitation macht sie für eine Vielfalt von Aufgaben zu beschränkt. So werden in der Architekturzeichnung bzw. im ArchitekturEntwurf schon längere Zeit verschiedene Arten der Parallelprojektion bevorzugt, da diese die relativen Maße besser erhalten (Evans 1989). Fotografische Medien können, da sie der geometrischen Optik des Lichts folgen, derartige alternative Typen der Projektion nicht bieten (mit der Ausnahme der so genannten ›Orthofotografie‹, die aber wiederum den Umweg über die Stereoskopie voraussetzt). Die zwangsläufige Orientierung fotografischer Medien an perspektivischen Projektionen ist unter kontrollierten Bedingungen z.B. im Vermessungswesen so einsetzbar, dass sich die Limitationen nicht bemerkbar machen. Doch speziell in unerfreulichen Notsituationen, wo die Bedingungen nicht gut kontrollierbar sind, tauchen Probleme auf – so z.B. im Krieg: Fotografien aus großer Höhe ›plätten‹ das ganze Terrain auf die zweidimensionale Fläche: Es ist nicht mehr möglich, zu entscheiden, was hoch, was flach, was Berge, was Täler sind. Schon Helmholtz wusste in seinem Handbuch der physiologischen Optik: »Eine perspectivische Zeichnung eines Hauses oder eines physikalischen Apparates verstehen wir ohne Schwierigkeit, selbst wenn sie recht verwickelte Verhältnisse darstellt. Ist sie gut schattirt, so wird der Überblick noch leichter. Aber die vollkommenste Zeichnung oder selbst Photographie eines Meteorsteins, eines Eisklumpens, mancher anatomischen Präparate und ähnlicher un-
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regelmäßiger Gegenstände giebt kaum ein Bild von ihrer körperlichen Form. Namentlich Photographien von Landschaften, Felsen, Gletschern bieten dem Auge oft nichts als ein halbverständliches Gewirr grauer Flecken, während dieselben Photographien bei passender stereoskopischer Combination die allerschlagendste Naturwahrheit wiedergeben.« (Helmholtz 1896: 769-770)
Durch stereoskopische Aufnahmen, also die Verdoppelung der selbst noch perspektivischen Fläche und unter Ausnutzung des Wissens über das binokulare Sehen, lassen sich Rauminformationen aus den Bildern wieder rekonstruieren. Das stereoskopische Bild wurde aus der Erforschung der Wahrnehmung geboren, wir befinden uns hier also im Feld der physiologischen Optik, bei der es nicht um die Eigenschaften des Lichts, sondern um die Eigenschaften unserer Wahrnehmung geht, Crary (1990: 6796) stellt das relativ ausführlich dar. Doch verschwindet das stereoskopische Bild entgegen dem, was Crary behauptet (ebd.: 127; 132), am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nicht – weil es eben ein gesteigertes Wissen über den Raum zu liefern vermag, welches dessen verbesserte Kontrolle ermöglicht – dies war z.B. im ersten Weltkrieg (Goussot 1923: 35-36; Seiling 1935) und ist noch für die Erstellung von Karten (Vermessungswesen) von essentieller Bedeutung. Ebenso war sie in der naturwissenschaftlichen Visualisierung – etwa in Blasenkammern der Teilchenphysik unverzichtbar.2 Damit komme ich noch einmal zu Jonathan Crary zurück. Er verwickelt sich bei dem Versuch das Verhältnis von stereoskopischer und monokularer Fotografie3 am Ende des 19. Jahrhunderts zu bestimmen, in erhebliche Probleme: 1. Er behauptet, dass das Stereoskop geradezu Inbegriff des im 19. Jahrhundert angeblich dominant werdenden physiologisch-optisch modernisierten Sehens sei – und kämpft dann mit seiner eigenen (und
2
Vgl. zum letzten Beispiel Bassi u.a. (1957).
3
Ich habe oben oft einfach nur von ›Stereoskopie‹ gesprochen, wenn eigentlich ›stereoskopische Fotografie‹ gemeint war – man kann stereoskopische Bilder auch zeichnen. Jedoch ist das sehr schwierig, weswegen sich die ›stereoskopische Fotografie‹ letztlich als ›die Stereoskopie‹ etabliert hat. Im Folgenden meine ich mit ›Stereoskopie‹ daher immer ›stereoskopische Fotografie‹.
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wie man schon jetzt weiß, falschen) Behauptung, dass das Stereoskop am Ende des 19. Jahrhunderts verschwindet. 2. Der/die mit Crary vertraute LeserIn wird schon bemerkt haben, dass ich bei meiner Erläuterung der geometrischen Optik die Camera obscura und die Fotografie in einem Atemzug genannt habe – Crary hingegen zieht mindestens an 6 Stellen von Techniques of the Observer eine scharfe Demarkationslinie dazwischen (Crary 1990: 13, 27, 31, 32, 36, 57, 118). 3. Ergibt sich aus diesen beiden Prämissen Crarys – Verschwinden des Stereoskops und radikale Differenz von Camera obscura und monokularer Fotografie – sein schwerstes Problem. Er kann überhaupt nicht die Fotografie, näherhin die Tatsache der Durchsetzung der monokularen Fotografie am Ende des 19. Jahrhunderts einordnen. Geoffrey Batchen (1993: 86) spricht in Bezug auf dieses Problem zu Recht von einer »troubling contradiction«. Crary schreibt: »Photography defeated the stereoscope as a mode of visual consumption as well because it recreated and perpetuated the fiction that the ›free‹ subject of the camera obscura was still viable.« (Crary 1990: 133) Crary behauptet also, dass sich die Fotografie deswegen gegenüber dem Stereoskop durchgesetzt habe, weil sie von der Fiktion begleitet wurde, das ›freie Subjekt der Camera obscura‹ sei doch noch (oder wieder) möglich. Bedeutet dies, das Paradigma der Camera obscura – also die geometrische Optik – sei mit der Fotografie wieder auferstanden (recreated) oder werde – was mitnichten das Gleiche ist – fortgesetzt (perpetuated), kurz nachdem es so spektakulär und vollständig am Beginn des 19. Jahrhunderts kollabiert sein soll? Und wie und warum aufersteht dieses ausgerechnet in der monokularen Fotografie, die Crary mindestens an sechs Stellen in Techniques of the Observer ostentativ von der Camera obscura absetzt? Crary ringt offenbar damit, dass die ›geometrical optics‹ und die ›physiological optics‹ nebeneinander bestehen, er dies mit seinem sukzessionistischen Modell aber nicht vereinbaren kann. Und das ist das grundlegende Problem bei Crary: Er behauptet – in expliziter methodischer Anlehnung an den Foucault von Les Mots et les Choses, der in diesem Buch ja verschiedene epochale Episteme durch Rupturen trennt – die geometrische Optik werde in einer Art Ruptur zu Beginn des 19. Jahrhunderts von der physiologischen Optik abgelöst. Schon Linda Williams (2003: 237) hat bemerkt: »Crary ist der Ansicht […] das in der Camera obscura symbolisierte Repräsentationssystem […] sei vollständig ver-
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schwunden und damit geht er möglicherweise zu weit. Die Annahme, daß das ältere Modell als konkurrierendes System weiterbesteht, scheint weitaus einleuchtender.« Genauso ist es: Die geometrische Optik besteht neben der physiologischen Optik bis heute weiter, beide verschieben sich, aber es löst nicht eine die andere ab. Wenn man das so beschreibt, lösen sich alle Probleme Crarys in Luft auf. Die Fotografie ist keine wundersame Auferstehung der Camera obscura, kurz nachdem das Paradigma der Camera obscura, die geometrische Optik, kollabiert sein soll, sondern sie ist die verschobene Fortsetzung der Camera obscura – näherhin: geometrische Optik + fotochemische Emulsion. Die Stereoskopie verschwindet auch nicht, sondern die Effekte bestimmter Aspekte der physiologischen Optik werden weiter in Wissenschaft und Militär genutzt. Also: Nicht ein Regime wird durch ein anderes ersetzt, sondern ein neues tritt zu einem alten dazu (was durchaus wechselseitige Modifikation erlaubt). Man könnte das mit einem anderen Foucault, nämlich dem von L’archéologie du savoir, als die parallele Koexistenz verschiedener Serien optischen Wissens beschreiben. Und wie viele von solchen Serien gibt es? Zwei wurden schon genannt: (1) Die Serie der geometrischen Optik und (2) die der physiologischen Optik. Meines Erachtens gibt es bis heute noch zwei: (3) Die Serie der Wellenoptik und (4) diejenige der virtuellen Optik.4 In der Moderne erscheinen aus eben jenen Serien des optischen Wissens, die nicht geometrischoptisch, also nicht oder nicht allein auf der Linearperspektive basieren, eine Reihe von Bildtypen, die die Projektion auf die Fläche – Linearperspektive – überschreiten, neben der Stereoskopie sind das Fotoskulptur, die integrale Fotografie, lentikulare Bilder, die verschiedenen Formen der Holographie, die verschiedenen Formen der Volumetrie und das interaktiv-transplane Bild des virtuellen Raums.5 Ich nenne
4
Da ich hier nicht mehr darauf eingehe, sei kurz erläutert, was unter ›virtueller Optik‹ zu verstehen ist. Virtuelle Optik bedeutet, dass alles, was an den anderen drei Serien mathematisch formalisiert werden kann, im Prinzip mit Rechnern berechnet werden kann. Virtuelle Optik ist also – wenn man so will – ein anderer Name für Computergrafik.
5
In den meisten konkreten Technologien sind verschiedene Serien verbunden: Betrachten wir etwa einen Film wie Avatar im Kino in 3D, so sind die einzelnen Bilder auf der Leinwand geometrisch-optisch projiziert, dass es immer zwei sind, um stereoskopisch gesehen werden zu können, ist phy-
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diese Bilder, weil sie zwar noch mit Flächen operieren, die linearperspektivische Projektion-auf-die-Fläche aber überschreiten, transplan.6 Doch: Die transplanen Bilder kommen praktisch in keiner bildwissenschaftlichen Arbeit und keiner Geschichte der optischen Medien vor – was an einem unzulässig eingeengten, nämlich planozentrisch um die Fläche orientierten Bildbegriff liegen mag. So schreibt Martin Seel (2003: 288): »Das Bild ist ein Flächenphänomen, das nicht in (reale oder imaginäre) Raumverhältnisse überführt werden kann. Wo der Raum zum Bild wird oder das Bild zum Raum, haben wir es nicht länger mit Bildlichkeit, sondern mit einem visuellen Phänomen sui generis zu tun.« Ganz zu schweigen davon, dass mir einfach schleierhaft ist, was es heißen soll, dass das ›Flächenphänomen‹ nicht in ›imaginäre Raumverhältnisse‹ überführt werden kann (was ist denn sonst der Zweck der Linearperspektive?), schließt eine solche restriktive Definition einfach zu viele Phänomene aus. Also: Wenn die transplanen Bilder überhaupt erwähnt werden, dann als unwichtige und randständige ›Kuriosität‹ – den Begriff habe ich aus einem Kommentar von 2002 zu einem frühen Essay zur Fotoskulptur (Rohwaldt 2002: 61). Man muss dem allerdings entgegenhalten, dass grundlegende Verfahren der Fotoskulptur noch heute im Rapid Prototyping, einer wichtigen industriellen Technik, allgegenwärtig sind. Und das gilt für alle der anderen vernachlässigten transplanen Bilder auch. Sie mögen keine Massenmedien geworden sein und keine Rolle in der Kunst spielen, doch das bedeutet keineswegs, dass sie bedeutungslos sind. In diesem Sinne möchte ich abschließend noch auf ein bestimmtes transplanes Bild kurz eingehen, das auch in keiner Geschichte der optischen Medien, ganz zu schweigen in der bildwissenschaftlichen Diskussion auftaucht: Die Holographie.7 Sie ist – abgesehen von der hochinteressanten LippmannPhotographie, die ich hier nicht weiter erläutern kann – das einzige Bildmedium, das weder auf der geometrischen noch auf der physiologischen, sondern allein auf der dritten Serie – der Serie der Wellenop-
siologisch-optisch und die Technik, die Bilder zu trennen, nutzt die Polarisation des Lichts, also wellenoptisches Wissen. 6
Bilder, die selbst räumlich sind, wie z.B. Skulpturen seien hingegen als Raumbilder bezeichnet, vgl. Winter/Schröter/Barck 2009.
7
Vgl. neuerdings aber Rieger/Schröter 2009.
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tik beruht. Entscheidend ist, dass die Physik im frühen 19. Jahrhundert begreift, dass Licht als Bündel als Lichtstrahlen nicht gut beschrieben ist, da es Phänomene wie die Beugung und die Interferenz gibt, die sich damit nicht erklären lassen. Wohlgemerkt: Das hat – anders als Crary es irrtümlich in Techniques of the Observer zu konstruieren versucht – überhaupt nichts damit zu tun, dass auch die Eigenleistung der Wahrnehmung in der physiologischen Optik entdeckt wird. Crary ist zu radikal und zu wenig radikal zugleich. Zu radikal ist er mit der frühen Foucaultschen (übrigens von Foucault in L’archéologie du savoir selbst zurückgewiesenen8) These, ein Regime optischen Wissens verdränge ein anderes (es geht hier nur um die ›Verdrängung‹; von optischem Wissen spricht Foucault natürlich nicht); zu wenig radikal ist er darin, die Wellenoptik nicht als eigene Serie anzuerkennen, die neben geometrischer und physiologischer Optik im frühen 19. Jahrhundert als dritte Serie entsteht. In der Wellenoptik, die eine lange und komplizierte Geschichte neben der geometrischen Optik schon mindestens seit dem 17. Jahrhundert hatte, wird Licht nicht als Bündel von Strahlen, sondern als Wellenfront – vergleichbar zu Wellen im Wasser – begriffen (Buchwald 1989). Spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist dies bis heute die anerkannte Theorie, wie man Licht beschreiben muss. Das steht nicht in Widerspruch dazu, dass die geometrische Optik dennoch bis heute eine ebenfalls anerkannte Beschreibung ist. Sie ist eine vereinfachte mathematische Darstellung, die für makroskopische Optiken – wie Linsensysteme oder Linearperspektive im makroskopischen bzw. menschlichen Maßstab gültig bleibt.9 Das Wissen um die wellenoptischen Eigenschaften des Lichts – in der Serie der Wellenoptik – eröffnet wiederum einen Typ von transplanem Bild, welcher die Limitationen der geometrischen Optik – also von Linearperspektive, Camera obscura, Fotografie – überschreitet. Und das ist eben die Holographie. Ihre Geschichte ist im Einzelnen sehr kompliziert – dafür verweise ich nur auf die großartige Studie Ho-
8
Vgl. zu seiner methodischen Selbstkritik: Foucault 1995: 29.
9
Noch mehr verkompliziert wird die Lage dadurch, dass seit Einsteins 1921 nobelpreisgekröntem Aufsatz Über einen die Erzeugung und Verwandlung des Lichtes betreffenden heuristischen Gesichtspunkt von 1905 Licht sowohl als Welle als auch als Strom von Partikeln verstanden wird, da es Phänomene wie den fotoelektrischen Effekt gibt, die wiederum mit der Wellentheorie nicht erklärt werden können (Fox 2006).
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lographic Visions. A History of New Science des Glasgower Wissenschaftshistorikers Sean Johnston (2006). Ich möchte mich hier nur auf das Wesentliche beschränken. In der klassischen Fotografie wird das Licht, welches ein Gegenstand reflektiert durch seine Brechungen in einem Linsensystem auf einen lichtempfindlichen Sensor fokussiert. Da diese Brechungen eben geometrisch-optisch verlaufen, bekommen wir ein linearperspektivisches Bild. In der Holographie wird das Licht, welches der Gegenstand reflektiert, mit demselben Licht, was zur Belichtung eben dieses Gegenstandes benutzt wurde, auf dem lichtempfindlichen Sensor überlagert. Der Sensor, ob nun eine fotochemische Emulsion oder ein CCD, zeichnet das wellenoptische Interferenzmuster dieser Überlagerung auf. Wichtig ist dabei die Kohärenz des Lichtes, weshalb Holographien üblicherweise mit Laserlicht aufgenommen werden müssen. Leitet man durch diese Aufzeichnung des Interferenzmusters wieder Licht wird die ursprüngliche Form der Welle rekonstruiert – d.h. der Gegenstand erscheint in seiner vollen Plastizität. Ein solches Bild ist nicht linearperspektivisch, überhaupt fällt es aus allen Kategorien heraus, die wir im Westen im Allgemeinen für Bilder reserviert haben. Z.B. zeigt jeder Splitter eines Hologramms immer noch das ganze Bild (natürlich nur die Teile, die der jeweilige Splitter ›sehen‹ konnte), wenn auch mit reduzierter Auflösung. Zunächst sei betont, dass das ach so fremdartige Bild der Holographie gar nicht so fremdartig ist. Jeder Leser dieses Aufsatzes hat eine oder mehrere Holographien bei sich. Nämlich auf Geldscheinen und/oder Kreditkarten. Bilder, die mit wellenoptischen Verfahren erzeugt worden sind, können nämlich mit geometrisch-optischen Verfahren, wie sie z.B. in Fotokopieren verwendet werden, nicht reproduziert werden. Daher hat die Holographie, mag sie als künstlerisches Medium gescheitert und als massenmediales Medium unbrauchbar sein, sich bald eine zentrale Rolle erobert. Wir dürfen nicht Crarys Fehler wiederholen, der die Stereoskopie als Massenmedium verschwinden, aber nicht ihren Einsatz als wissenschaftliche Visualisierung sah. Die Holographie erzeugt Bilder, die neben anderen Verfahren benötigt werden für die Reproduktion von Geld- und Bürokratie-zentrierten Gesellschaften, eben weil sie unreproduzierbar sind. Walter Benjamins bekannte Diagnose, wir seien im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, stimmt nur halb. Mit der technischen Reproduzierbarkeit wurde auch die technische Nicht-Reproduzierbarkeit gesteigert (vgl.
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Schröter u.a. 2010a/b). Denn Geld und staatliche Dokumente soll nicht jede/r reproduzieren können. Aber auch hinsichtlich der Wissensproduktion über den Raum hat die Holographie als transplanes Bild Einiges beizusteuern. Auch sie kam in Blasenkammern der Teilchenphysiker zum Einsatz (Herve u.a. 1982). Und in der Materialprüfung. So etablierte sich zunehmend das Verfahren der ›Real time holographic interferometry‹. Das bedeutet, dass zunächst ein Hologramm eines Objektes aufgenommen wird. Nach der Entwicklung wird das Hologramm genau an die Stelle zurückgebracht, an der es aufgenommen wurde. Dort wird es erneut mit dem Objektstrahl, also dem vom Objekt reflektierten, kohärenten Laserlicht beleuchtet. Das Objekt wird dabei Veränderungen ausgesetzt – z.B. einer veränderten Temperatur oder gewissen Drücken. Die Differenzen – es reichen winzige – zwischen dem aktuellen Objektstrahl, also der aktuellen, vom Objekt dem Licht aufgeprägten Form der Wellenfront und der gespeicherten Form der Wellenfront, also dem Hologramm des Objekts vor den Veränderungen, führen wieder zu Interferenzmustern. Da das Objekt in Echtzeit verändert werden und jede dieser Veränderungen direkt mit dem Referenz-Hologramm abgeglichen werden kann, spricht man von ›Real time holographic interferometry‹. Abb. 1 zeigt ein frühes industrielles Beispiel für den Einsatz dieses Verfahrens vom Beginn der 1970er Jahre, nämlich den GC Optronics Holographic Tire Analyzer im schematischen Aufriss. Abb. 2 zeigt ein Beispiel für ein solches Holo-Interferogramm eines Reifens. Die Pfeile in der Abbildung zeigen auf Stellen, an denen auffällige Interferenzringe (interference fringes) zu sehen sind. Diese deuten auf innere Spannungen des Reifens hin, z.B. weil Verklebungen der Schichten nicht perfekt sind und der Reifen sich unter dem angelegten Druck ungleichmäßig verformt. Das Raumwissen des transplanen holographischen Bildes bezieht sich also auch auf den inneren Raum von Objekten, die Spannungszustände, in denen sie sich befinden. Man könnte sagen: Die Holo-Interferometrie macht Zustände sichtbar, die für jedes ›normale‹ fotografische Medium prinzipiell unsichtbar bleiben: das innere Off der Objekte im prozessualen Vollzug – letzteres unterscheidet Interferometrie auch von Röntgenstrahlen.10 Denn die veränderten Zustände des Reifens könnten diese nicht zeigen.
10 Müsste nicht auch das Röntgenbild eigens thematisiert werden, insofern die Röntgenstrahlung doch den Körper (oder andere Objekte) durchleuch-
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Abbildung 1: GC Optronics Holographic Tire Analyzer
Quelle: Klein (1970)
ten und insofern mehr Rauminformation erzeugen kann? Doch: Die bloße Durchleuchtung ist nicht der Punkt. Denn wenn man ein Objekt durchleuchtet und geometrisch-optisch (und sei es als ›Schatten‹) auf eine Fläche projiziert, kommen ja alle Ebenen des Objekts auf einer Bildebene zu liegen, was genau jene Probleme der Verständlichkeit der Rauminformation erzeugt, gegen die transplane Bilder eingesetzt werden – so auch schon ab 1896 die Stereoskopie, um Röntgenbilder verständlicher zu machen (Thomson 1896). Ebenso wurden Holographien auf der Basis von Röntgenstrahlen schon vielfach eingesetzt (Jacobsen 1989). Röntgenstrahlen sind elektromagnetische Wellen genau wie das sichtbare Licht nur mit einer viel kleineren Wellenlänge (10-8 bis 10-12 m). Je nachdem, ob die mit ihnen erzeugten Röntgenbilder geometrisch-optisch projiziert, unter Ausnutzung des binokularen Sehens stereoskopisch angeordnet (physiologische Optik) oder unter Rückgriff auf ihre Welleneigenschaften holographisch aufgezeichnet werden (Wellenoptik), sind sie Resultate einer der hier genannten optischen Serien. D.h. die Röntgenstrahlen und -bilder bilden nicht etwa so etwas wie eine eigene ›optische Serie‹.
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Abbildung 2: Holo-Interferogramm eines Reifens
Quelle: Klein (1970)
Ganz kurzes Fazit: Es gibt vier optische Serien – geometrische, physiologische, Wellen- und virtuelle Optik. Die Bilder, die aus den anderen Serien neben der geometrischen Optik hervorgehen sind nicht an die Linearperspektive gebunden. Damit auch nicht an deren Limitationen. Sie kommen im 19-21. Jahrhundert massiv zum Einsatz in Praktiken, wo mehr Rauminformation benötigt wird: Militär, Naturwissenschaft, Medizin, industrielle Entwicklung und Fertigung. Wenn man Medium – mit Friedrich Kittler – definiert als Technologie zur Speicherung, Übertragung, Verarbeitung und Präsentation von Information, dann sind transplane Bilder, da sie mehr räumliche Information speichern, übertragen, verarbeiten und präsentieren können als linearperspektivische Bilder, in einem eminenten Sinne Medien des Raumwissens.
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Zum absoluten Präsens medialer Wissensräume T IM R AUPACH
Die Technisierung kultureller Gedächtnisspeicher folgt in den sich ausbreitenden Formen virtueller Netzwerke und digitaler Archive dem enzyklopädischen Ideal einer universellen Wissensbildung, die im Hinblick auf das Wissen von der Vergangenheit eine Parallele zur Kommunikation der Massenmedien aufweist. Mit den modernen Massenmedien ist ihnen gemeinsam, dass digitale Speichermedien Vergangenes, da dieses nur ›on line‹ und sonst unzugänglich oder unsichtbar ist, einzig in der paradoxen Gestalt aktueller Wahrnehmung präsentieren. Was ist, ist nur noch jetzt, denn Medien scheinen gegenwartsversessen und gegenwartsvergessen zugleich (vgl. Hagen 2004, 201f.). Sie stellen ihre Vergangenheit in den Schatten einer evolutionistischen Legende des Jetzt und stellen sich gegenüber Zukunft blind. Das von den Medien selbst erzeugte absolute Präsens operiert in einer besonderen Zeitstruktur und egalisiert auch alle räumlichen Verhältnisse. Das ist ihr erstes Paradox: Massenmedien bilden – literarisch, journalistisch, auditiv und filmisch – räumliche Verhältnisse und Begebenheiten ab unter dem einen, ausschließlichen Gesichtspunkt der Zeit. In der Nomenklatur der Massenmedien trägt diese Zeitstruktur den Namen ›Aktualität‹. Alles, was gezeigt, bebildert oder berichtet wird, schnurrt darin auf eine Gegenwart zusammen, die ein selbstähnliches Muster zeigt. Die massenmedial erzeugte Gegenwart war gestern eine andere als heute und wird morgen wieder eine andere sein, und zwar ganz genau – dieselbe. Aktualität, ein Begriff, der erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts zeitgleich mit der aufkommenden Massen-
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presse geläufig wird, zieht Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eine neue, aktuale Dimension zusammen.
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DER S CHWIERIGKEIT DAS ZU DENKEN
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Die notwendige Sukzession innerhalb dieser drei zeitlichen Dimensionen (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft), welche die Differenz unserer Vorstellung von Ewigkeit gegenüber der fließenden Zeit ausmacht, bestimmt die Differenz ihrer Dauer. Diese kann sich wie die Wahrnehmung selbst nur in der Gegenwart vollziehen, deren Grund dadurch bestimmt ist, dass sie zur Vergangenheit wird, also in ein Nichts übergeht, gleich wie die Zukunft, die noch ein Nichts ist. In der Konsequenz dieser Überlegung zerfällt die imaginäre Struktur der Zeitlichkeit, und es müsste nunmehr von einer zeitlichen Objektivität als omnipräsenter Dauer gesprochen werden, die sich je nach Wahlweise der Bewusstseinsbeziehung innerhalb der drei zeitlichen Dimensionen, als Gegenwart des Vergangenen, Gegenwart des Zukünftigen und Gegenwart des Gegenwärtigen realisiert. Mit der Isolation der Präsenszeit auf eine scheinbar unendliche Reihe von Jetzt-Momenten kann die Wahrnehmung der Dauer allerdings nicht verstanden werden (vgl. Husserl 1980). Denn was ist das als Jetzt-Erscheinende auf der zeitlichen Vorstellung einer unendlichen Reihe betrachtet? Nur das im Jetzt erscheinende kann Dauer besitzen. Doch lässt sich die Dauer in ihrer Ausdehnung wieder in die drei zeitlichen Dimensionen zerteilen, so dass von der Dauer der Gegenwart nur die Grenze einer unendlichen Aufspaltung erhalten bleibt, wie ein Punkt ohne Ausdehnung. Als Dimension der Zeit konstituiert die Gegenwart (bzw. Aktualität) eine Dauer. Dieses Sein der Gegenwart ist allerdings ein Sein ohne die Dauer ihres Seins.
D IE Z EITKONTRAKTION
DER
M ASSENMEDIEN
Für die Gegenwart gilt, was Gilles Deleuze im Anschluss an Henri Bergson festhält: Vergangenheit und Zukunft bezeichnen keine Augenblicke, die von einem der Annahme nach gegenwärtigen Augenblick geschieden wären, sondern die Dimensionen der Gegenwart
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selbst, sofern sie die Augenblicke kontrahiert (vgl. Hagen 2003, 7ff.). Die Zeitkontraktion der von der Aktualität der Massenmedien erzeugten Gegenwart unterläuft gleichermaßen jeden anzunehmenden Augenblickspunkt, von dem aus man die Chance hätte, einen vergangenen Augenblick zu identifizieren, so wie er ›gewesen war‹. Das ist unmöglich. Kein Kinofilm kann das und auch kein Fernsehbericht, von einem Radiofeature ganz zu schweigen. Im Licht der gegenwärtigen Aktualität erscheint uns jede vergangene inaktuell. Das und nur das ist die Vergangenheit eines vergangenen Augenblicks. Er hat, ontologisch gesehen, ein Sein, und hat es – das sind die Paradoxa Bergsons – zugleich nicht. Es sei denn, man aktualisierte ihn wieder. Dann aber hat sie, die Vergangenheit, Gegenwart: »Diese Synthese zieht die unabhängigen sukzessiven Augenblicke jeweils ineinander zusammen. Sie bildet damit die gelebte Gegenwart, die lebendige Gegenwart. Und diese Gegenwart ist es, in der sich die Zeit entfaltet. Sie ist es, der Vergangenheit und Zukunft zukommen: die Vergangenheit in dem Maße, wie die vorangehenden Augenblicke in der Kontraktion festgehalten werden; die Zukunft, weil die Erwartung Antizipation in ebendieser Kontraktion ist.« (Deleuze 1992, 100)
Darin liegt zweifellos ein spezifisches Moment von Freiheit, wie Bergson und vor allem Deleuze es für ihren Begriff der lebendigen Gegenwart zu Recht reklamieren. Das gilt, so gesehen, auch für die Gegenwart der Massenmedien. Das Freiheitsmoment ihrer selbst erzeugten Gegenwart liegt darin, dass sie alles Vergangene zur Gegenwart kontrahiert und damit allein schon vom Druck falscher Traditionsbehauptungen befreit. Die massenmediale Gegenwartskonstitution amnestiert von allen Zwängen der Vergangenheit oder bindenden Erwartungen an die Zukunft. Allerdings, um einen Ausdruck von Deleuze zu variieren, es handelt sich bei dieser Gegenwartsbildung um eine rein passive Freiheit. Die Medien nehmen, aktualisieren und kontrahieren sozusagen, was sie kriegen können. Passiv heißt hier: Sie lassen es nicht. Sie tun es permanent und nur das. Eine massenmedial erzeugte Gegenwart kontrahiert und passiviert die temporalen Formen. Sie ist alles andere als lebendig, sondern technisch (analog oder digital) programmiert. In einer Programmierung von Technik Lebendigkeit zu erkennen, wäre eine allotechnische Illusion. Massenmedien haben, abgesehen von
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ihren technischen Reichweiten, keine physischen Grenzen. Seit es Satelliten gibt, sind sie schlicht weltumspannend. Sie ermüden nicht. Deleuze hat gleichwohl in bezwingenden Analysen gezeigt, wie beispielsweise das Kino in der Lage ist, über die gegebene Passivität der Massenmedien hinaus aktive und geistvolle Strukturen der Wiederholung und Differenz zu kreieren, »in der das aktuelle Bild und sein eigenes virtuelles Bild vorlieg[en], dergestalt, daß es keine Verkettung des Realen mit dem Imaginären mehr gibt, sondern – in einem fortdauernden Austausch – eine Ununterscheidbarkeit beider. [...] Es ist nicht mehr angemessen, von einer realen oder möglichen Fortsetzung zu sprechen, die imstande wäre, eine äußere Welt zu konstituieren: wir haben den Glauben daran längst verloren; das Bild ist von der Außenwelt abgeschnitten« (Deleuze 1997, 350, 355). Verlassen wir aber das Kino, seine abgeschirmte Welt und gehen auf die Straße, dann fallen wir in die Indifferenz der massenmedialen Gegenwart zurück. Oder, um es mit Luhmann und seinem Diktum zum Film zu sagen: »Man weiß zwar, daß es sich um Kommunikation handelt, aber man sieht es nicht« (Luhmann, 1997, 307).
M EDIALE R ÄUME
UND IHRE BLINDEN
F LECKEN
Die selbst erzeugte Gegenwart der Massenmedien schließt – anders als jede denkbare vor ihr – ihre eigene, räumliche Gegenwart aus. Das ist ihr zweites Paradox. Sie kann nicht verzeitlichen, was an ihr fundamental räumlich bleibt und ist, nämlich Apparatur oder Maschine oder heute: Bildschirm, Lautsprecher, (Online-)Zeitung oder Tuner, kurz gesagt, das technische ›human interface‹. Folgt man Harold Adams Innis, dann hatten Medien der Kommunikation im Abendland immer schon dieses Zwischengesicht, also ein doppeltes. Jedes Medium enthält stets ein anderes in sich, von der griechischen Schrift angefangen, die den homerischen Gesang enthält. Dabei sind in der Regel (anders als heute noch im Fall des Korans) keine Priesterschaften nötig, die dekretieren müssten, wie der Gesang in der Schrift auszulegen sei. Abendländische Medien bilden, phänomenologisch gesehen, eine doppelgesichtige Einheit der Differenz von Inhalt und Botschaft.
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M ASSENMEDIEN UND DES V ERGESSENS
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DIE
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K ULTIVIERUNG
Die Massenmedien radikalisieren die zeitliche Dimension dieser Differenz. Sie erzeugen eine Gegenwart, in der sie vergessen machen, dass sie allein durch sie selbst erzeugt ist. Unsichtbar wird die Gegenwart durch die iterative Kontraktion, d.h. durch die Aktualisierung einer je neuen Gegenwart. Die digitalen Automatismen des Bewahrens lassen das forcierte Ideal umfassender Archivierung somit zunehmend in das Problem umschlagen, mit einem absoluten Präsens gesellschaftlicher Wissensbildung konfrontiert zu sein. Diese stellt insofern eine Herausforderung an eine Kultur des Vergessens dar, wie die Fähigkeit zu selektiven Entscheidungen im Umgang mit den kumulierenden Datenmengen als Kulturtechnik erworben werden, die der Realitätsproduktion der Massenmedien immer schon immanent zu sein scheint. Massenmedien obliegt es, ihre thematischen Relevanzstrukturen zu temporalisieren, d.h. Bekanntsein zu erzeugen und von Moment zu Moment zu variieren. Damit treten sie nach Niklas Luhmann an die Stelle eines unmöglich gewordenen zentralen Gedächtnisses moderner Gesellschaften. Denn in der zentrumslos funktional differenzierten Gesellschaft namens »Weltgesellschaft« bleibe der Ort des Gedächtnisses unbesetzt (Luhmann 1997, 591). Konnte dieser noch zu Zeiten adeliger Hochkulturen als Geschichtsschreibung im Zentrum der Macht verortet werden, bleibe die gesamtgesellschaftliche Realitätskonstruktion unbestimmt. Sie ist im Lauf der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften auf das Funktionssystem der Massenmedien übertragen worden. Als solches leisten die Massenmedien nach Luhmann Ersatz für die fehlende Mitte der Gesellschaft, für das fehlende Zentrum, das es nicht mehr gebe (vgl. Luhmann 1995, 74).
D AS M EDIUM
DER
M ASSENMEDIEN
Der Begriff des Gedächtnisses, so wie ihn Luhmann in seiner Theorie der autopoietischen Systeme mit der Kommunikation der Massenmedien funktional verknüpft, meint nicht eine neue Art von digitalem Speicher oder virtuellem Archiv, in dem bestimmte ›Themen-Objekte‹ verbindlich aufbewahrt werden. Auch die Massenmedien sind nach Luhmann wie alle autopoietischen Funktionssysteme Systeme, die nie
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in ihrer Vergangenheit oder Zukunft, sondern je nur in ihrer Gegenwart operieren. Dennoch nehmen die Massenmedien innerhalb der autopoietischen Systeme eine Sonderstellung ein. Das wird daran auffällig, dass gerade die Massenmedien mit ihrer gesellschaftlichen Gedächtnisfunktion paradoxerweise ohne eigenes Medium auszukommen scheinen. Schaut man auf andere Funktionssysteme, z.B. das der Wirtschaft, so finden sich Geld und Eigentum als deren eigene Medien. So hat bekanntlich die Ausdifferenzierung des Geldes von Silbermünzen für deren Hausgebrauch hin zum Papiergeld des 18. und 19. Jahrhunderts das Funktionssystem der Wirtschaft und der Finanzen überhaupt erst geschaffen. Wiederum ist das Medium der Gesetze und judikatorischen Urteile des Rechtssystems wenn auch keine hinreichende, so doch notwendige Voraussetzung für die gesellschaftliche Sicherheit und die Entscheidung von Konflikten. Der Glaube ist das Medium der Religion. Das Medium der Moral das der Ethik. Wie ist jedoch das Medium zu benennen, aus dem das Funktionssystem der Massenmedien hervorgeht? Luhmann widmet sich im Rahmen definitorischer Klarstellungen des Begriffs der Massenmedien selbst der Klärung dieser Frage. Er schreibt: »Der Grundgedanke ist, daß erst die maschinelle Herstellung eines Produktes als Träger der Kommunikation – aber nicht schon Schrift als solche – zur Ausdifferenzierung eines besonderen Systems der Massenmedien geführt hat. Die Verbreitungstechnologie vertritt hier gleichsam das, was für die Ausdifferenzierung der Wirtschaft durch das Medium Geld geleistet wird: Sie konstituiert selber nur ein Medium, das Formbildungen ermöglicht, die dann, anders als das Medium selbst, die kommunikativen Operationen bilden, die die Ausdifferenzierungen und die operative Schließung des Systems ermöglichen.« (Luhmann 1995, 11)
Obgleich Luhmann die massenmedialen Verbreitungstechnologien für die Konstitution des Mediums der Massenmedien-Kommunikation verantwortlich sieht, beschreibt er dessen Spezifizierung relativ vage und es scheint so schwer nachvollziehbar, wie Technologien der Wandlung, Speicherung und Übertragung von Information, also technische Medien, auf eine wunderlich-unerklärliche Weise »Formenbildungen« ermöglichen sollen, die dann auch noch von ihrem Träger jeweils unabhängig agieren. Luhmann kommt in dieser Frage zu einer recht dunklen Formulierung und gibt quasi ex negativo zu verstehen,
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dass die Massenmedien als Funktionssysteme nicht auf den systeminternen Komponenten basieren, auf die sich alle anderen Funktionssysteme stützen (vgl. Hagen 2004, 198ff.). Auffällig wird dies für ihn im Vergleich zum Letztelement oder der spezifischen Operation sozialer Systeme, der Kommunikation: »Man sieht zwar im Fernsehen die Leute reden, ja selbst die Zuschauer treten in das Medium wieder ein, und sei es als dieses lächerliche Gelächter im Hintergrund, das sie darüber belehrt, daß etwas zu lachen gewesen wäre. Aber das Gesamtarrangement entzieht sich denjenigen Kontrollen, die in Jahrtausenden auf der Basis einer Unterscheidbarkeit von Mitteilung und Information entwickelt worden sind. Deshalb versagt ja auch die Ja/Nein-Codierung der sprachlichen Kommunikation.« (Luhmann 1997, 307)
Die entscheidende Stelle der angeführten Passage liegt in Luhmanns Hinweis, dass die Kommunikation der Massenmedien sich gegenüber ihrer Systemumwelt unabhängig von der »Basis einer Unterscheidbarkeit von Mitteilung und Information« ereigne, dieses Differenzierungsschema jedoch konstitutiv für die Möglichkeit von sprachlicher Kommunikation zu sein scheint.
S UBKOMMUNIKATIVE K OMMUNIKATION Wenn nun aber nach Luhmann das Fehlen dieser Unterscheidungsmöglichkeit das Funktionssystem der Massenmedien gegenüber seiner Systemumwelt, d.h. all den übrigen gesellschaftlichen Funktionssystemen charakterisiert, ist es dann wie diese funktional aufgrund einer spezifischen Codierung von Kommunikation? Um dieser Frage nachzugehen, verfasst der späte Luhmann 1995 die kleine Monographie Die Realität der Massenmedien. Die in ihr dargelegte Argumentation zum Funktionssystem der Massenmedien liegt in gewisser Weise quer zu seinen übrigen theoretischen Schriften und könnte möglicherweise als Bruchstelle zu dessen Erweiterung oder Ergänzung gelesen werden. Denn in den Massenmedien – und nur in diesen – sei nicht der Begriff der Kommunikation codiert, sondern der der Information, d.h. der binäre Schematismus, auf den die Massenmedien als Funktionssysteme gründen, sei der von »Information« und »Nicht-Information« (Luhmann 1995, 36).
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Die Bedeutung des Begriffs der Nicht-Information erklärt Luhmann aus dem Verhältnis der Codierung Information versus NichtInformation zur Zeit. So gelte im System der Massenmedien für das binäre Segment der Information, dass es sich nicht wiederholen lasse. Denn sobald die Information zum massenmedialen Ereignis geworden ist, sei sie gleichzeitig zur Nichtinformation geronnen: »Eine Nachricht, die ein zweites Mal gebracht wird, behält zwar ihren Sinn, verliert aber ihren Informationswert. Wenn Information als Codewert benutzt wird, heißt dies also, daß die Operationen des Systems ständig und zwangsläufig Information in Nicht-Information verwandeln. Das Kreuzen der Grenze vom Wert zum Gegenwert geschieht automatisch mit der bloßen Autopoiesis des Systems. Das System führt ständig den eigenen Output, nämlich Bekanntheit von Sachverhalten, in das System wieder ein, und zwar auf der Negativseite des Codes, als Nichtinformation; und es zwingt sich dadurch selbst, ständig für neue Informationen zu sorgen.« (Luhmann 1995, 41)
Wenn auch zu der binären Codierung aus Information und NichtInformation noch Kategorisierungen in Form von Programmen hinzutreten, die das, was als Information erwartet werden kann bzw. ohne Informationswert bleibt, aufgliedern in Selektionsbereiche wie Sport, Politik, Unfälle oder Katastrophen, so bleibt die zeitlich determinierte Codierung von Information in den Augen Luhmanns doch der grundlegende Code, der die Massenmedien als Systeme funktionieren lässt. Es scheint nahe liegend, von diesem auch als vom ›Code der Aktualität‹ zu sprechen. Dieser Code der Aktualität würde dann besagen, dass etwas im Augenblick wichtig und neu ist, und wichtig, weil neu. Die Codierung Information/Nicht-Information müsste daher, um deutlicher zu werden, folglich heißen: Jetzt-Information und Jetzt-keine-Information. Nachrichten und Werbung funktionieren nach dieser Codierung. Deren Automatik schließt natürlich die Möglichkeit der Wiederholung nicht aus. So wird vor allem in der Werbung von ihr Gebrauch gemacht und eine offenkundige Nichtinformation als Information hingestellt, um so etwa als Indikator von Wichtigkeit und Erinnerungswürdigkeit im Hinblick auf den Wert des angebotenen Produktes zu fungieren (vgl. Luhmann 1995, 42ff.). Zusammenfassend lässt sich sagen, die Massenmedien haben eine subtextuelle, allgemeiner gesprochen, eine ›subkommunikative‹ Kommunikationsfunktion. Es ist nicht möglich, an ihre Kommunikation
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mit Ja oder Nein, mit Annahme oder Ablehnung wiederum kommunikativ anzuschließen, denn das im System der Massenmedien Gesagte, Gezeigte oder Geschilderte bildet gar keinen vollständigen Kommunikationsakt im skizzierten systemtheoretischen Definitionsrahmen von Kommunikation. Die sie konstituierende Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen scheint vielmehr auseinander gerissen und zerbrochen. An ihrer Stelle codiert die Realität der Massenmedien eine neue Struktur der Wahrnehmung. Sie generiert selbstreferentielle Programme, die nach dem binären Code der Aktualität (Jetzt-Information/ Jetzt-Nichtinformation) ausdifferenziert sind. Auf diese Weise erfüllen die Massenmedien nach systemtheoretischer Betrachtung eine doppelte Funktion. Da das System der Massenmedien potentiell alle Themen des umfassenden Sozialsystems Gesellschaft anspricht, kann es sich – was sonst kein Funktionssystem so direkt kann – an die Gesellschaft als Ganzes wenden. Zudem können sie durch ihre auf ihren Aktualitätscode bezogenen Informationen und Nichtinformationen auf der Rezipientenseite ein Höchstmaß kognitiver Reize auslösen und umgekehrt genauso auf den geringsten Reiz ihrer systemischen Umwelt wieder reagieren. Nach Luhmann kann man die Realität der Massenmedien deshalb nicht begreifen, wenn man ihre Aufgabe in der Bereitstellung zutreffender Informationen über die Welt sieht und dann ihr Versagen, ihre Realitätsverzerrung, ihre – in der Kritik der Kulturindustrie noch vorkommende – ›Meinungsmanipulation‹ misst (vgl. Luhmann 1995, 174f.). Dagegen müsse die Präferenz der Massenmedien für Information, die durch Publikation ihren Überraschungs- und damit auch Aktualitätswert verliere und so ständig in Nichtinformation verwandelt werde, deutlich machen, dass die Funktion der Massenmedien in der ständigen Erzeugung und Distribution kognitiver Reize bestehe. Von einer Medienwirkung im Sinne einer Vermehrung von Erkenntnis oder einer Sozialisation oder Erziehung in Richtung der Konformität mit Normen ist im Kalkül der Systemtheorie Luhmanns nicht zu sprechen. Auf der Empfängerseite wird lediglich alles durch die demoskopisch messbare Beteiligung bzw. Nichtbeteiligung des Publikums quittiert. Mehr ist nach Luhmann für das System der Massenmedien nicht messbar (vgl. Luhmann 1995, 34ff.). Auf diese Weise werden die Massenmedien allerdings zum gesamtgesellschaftlichen Vermittlungssystem, zur einzigen Instanz, welche die gesamte Gesellschaft beobachtet. Alle übrigen Funktionssysteme profitieren davon, da sich über die Massenmedien Informationen
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ausgetauscht finden, deren sie sonst nicht habhaft werden können. Weil es sich jedoch dabei nicht um Informationen in einem kommunikativen, sondern in einem ›subkommunikativen‹ Sinn handelt, sind sie nicht direkt zu gebrauchen. Durch ihre Codierung auf Effekt und Übertreibung müssen sie von den Kommunikatoren in anderen Funktionssystemen der Wirtschaft oder des Rechts wieder dekodiert werden, um weiter behandelt werden zu können. Dazu kommt, dass die Massenmedien als Vermittlungssysteme gezwungen sind, ständig zu vergessen, um neue Kapazitäten für die Jetzt-Information freizumachen. Auf diese Weise wird die »temporale Zentralachse, die die Massenmedien besetzen, immer wieder frei: das Jetzt.« (Hagen 2004, 201)
K ULTURELLES G EDÄCHTNIS DIGITALES E RINNERN
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Dies steht in keinem Widerspruch zur ständigen Expansion digitaler Archive. Technisch ist, sofern keine Fehler auftauchen, das digitale Archiv beliebig erweiterbar und jederzeit zugänglich. Es erscheint ›on line‹. Im Unterschied zu allen früheren nutzt sich das digitalisierte Bildarchiv durch Gebrauch nicht ab. Vielmehr erweitert jeder Gebrauch des Archivs seinen Bestand. Einprägsam verkürzt, lässt sich die Eigenheit des digitalen Archivs im Unterschied zur selektiven Informationsverarbeitung der Massenmedien so kennzeichnen: Der Computer ist erinnerungsunfähig und vergessensphobisch. Er verfügt nicht über spezifische Gedächtnismerkmale und über kein Lernen, dessen Weltbezug Erfahrungen oder die Willkürlichkeit der Assoziation enthielte. Der Computer ist eine Maschine der Standardisierung und Ritualisierung. Der Computer registriert wie selbstverständlich. Alles, jederzeit, dauerhaft, ohne Zu- oder Abneigung.
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Oft wird das digitale Universum der Internettechnologie als endlich errungene Garantie der Konservierung aller menschlichen Kenntnisse propagiert. Genau besehen ist aber solch eine vermeintlich nur technisch ermöglichte Vision nichts anderes als die Beschwörung einer tradierten kulturellen Fiktion, die ganz andere Energiequellen hat als die unbestreitbaren technischen Neuerungen des WWW. Das Netz ist nicht nur eine Technologie, sondern auch die materialisierte Utopie einer freien Verfügbarkeit über alles existierende Wissen. Diese tendiert zur Auflösung von Geschichte in einer Weltsynchrongesellschaft. Der neue, telematische Raum der Öffentlichkeit fällt zusammen mit der optimalen Zugänglichkeit von Informationen und der möglichen, schnellen Erreichbarkeit ihrer Konsumenten. Über die Frage der Zugriffsrechte und -möglichkeiten wird im kommenden Jahrhundert wohl ebenso leidenschaftlich diskutiert werden wie über die Eigentumsrechte während der gesamten Neuzeit. Dies umso mehr, als »Zugang« ein umfassendes Phänomen ist. Hatte Eigentum mit der engeren materiellen Frage von Mein und Dein zu tun, so geht es beim sich gegenwärtig vollziehenden Wandel von einem Regime des Besitzens, das auf der Vorstellung von weit gestreutem Eigentum basiert, zu einem des Zugangs, um die Kontrolle der gesamten gelebten Erfahrung. Der Bedeutungszuwachs von »Zugang« als einem Schlüsselbegriff heutiger Netzwerkgesellschaften läutet damit eine Wertverschiebung ein, die das gesamte kulturelle Leben betrifft. Denn elektronische Netze reißen nicht nur Grenzen und Mauern nieder, sie lagern ebenso Bewusstseinsfähigkeiten aus. Netzwerke und Speichermedien verschieben gesellschaftliche auf technische Kompetenz. Postmoderne Wissenschaftler und Sozialkritiker sprechen gerne von der »Dot-Com-Generation« – eine Anspielung auf das Format der Webadressen. Es ist die erste Generation, die in einer simulierten kommerziellen Welt aufwächst. Doch wie sehr unterscheiden sich heutige Jugendliche von den Bürgerkindern des späten neunzehnten und frühen 20. Jahrhunderts? Trotz vieler Ähnlichkeiten gibt es grundlegende Unterschiede. Das legt die Vermutung nahe, das ein neuer Mensch im Entstehen ist – Individuen, deren Selbstwahrnehmung weniger dadurch geprägt wird, wie viel sie produzieren oder wie viele Dinge sie akkumulieren, als dadurch, auf wie viele lebendige Erfahrungen und Beziehungen sie zugreifen können. Wer erfolgreich durch
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die Netzwerke und Speicher medialisierter Gesellschaften navigieren kann, verfügt deshalb über einen entscheidenden gesellschaftlichen Vorsprung. Auf diese Weise sind virtuelle Netze und digitale Archive auch Machtfelder, in denen Informationsmengen durch digitale Kontrolle zu politischen Territorien werden (vgl. Rifkin 2002, 12ff.). Mit den modernen Massenmedien wiederum ist ihnen gemeinsam, dass digitale Speichermedien Vergangenes, da dieses nur ›on line‹ und sonst unzugänglich oder unsichtbar ist, einzig in der paradoxen Gestalt aktueller Wahrnehmung präsentieren. Das kollektive Gedächtnis nimmt die Form der Gleichzeitigkeit bei Reduktion räumlicher Distanzen an. In einem solchen Vorgang des Präsentischen löst sich das bisherige anthropologisch bedeutsame Spannungsverhältnis von Fernsinnen und Nahsinnen auf: was ist, ist nur noch jetzt. Diese Magie umfassender Archivierung schlägt jedoch zunehmend in das Problem um, mit den kumulierenden Datenmengen nicht mehr selektiv umgehen zu können. Die Technisierung der Gedächtnisspeicher – vorgestellt als Vollendung eines enzyklopädischen Ideals, in dem der Fortschritt des Wissens als Vollendung der Geschichte wie als Emanzipation des Menschengeschlechts sich erfüllt – hat Automatismen des Bewahrens erzwungen, die Herausforderungen an eine Kultur des Vergessens stellen, welche die Fähigkeit zu selektiven Entscheidungen besitzen muss. Im Reich der digitalen Archive und virtuellen Netzwerke herrscht eine sich ihrer selbst unbewusste Kultur des Vergessens nur als simples Abwesendsein oder dysfunktionales Löschen von Information. Im Unterschied zum digitalen Universum, welches das Vergessen vergisst, wäre einer Kultur des Vergessens dieses Wissen um das Vergessen eingeschrieben. Dies scheint genau die entscheidende Differenz zwischen dem Funktionssystem der Massenmedien, das die Realitätskonstruktion von Gesellschaft ermöglicht und ihrer Kultur, die als traditionsreiches Kondensat aus verschiedenen Medien zusammengesetzt ist und so immer schon eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber digitalen Erinnerungsmaschinen besitzt, deren Antriebslogik einem evolutionären Anhäufungsdrang zu entspringen scheint, den sie selbst unbewusst bekämpfen müssen. So erklärt Luhmann die Vergessensleistung und Gegenwartsbezogenheit der Massenmedien als zwangsläufige Folge der Entwicklungslogik sozialer Systeme. Zwar können sich die Massenmedien als gesellschaftliches Gedächtnis an Vergangenes erinnern, vollständiges Erinnern vergangener Themen würde jedoch ihre Informationskapazitäten in kürzester Zeit erschöpfen und so zur
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Blockierung ihrer Systemoperationen führen (vgl. Luhmann 1995, 45f.). So nimmt beispielsweise im World Wide Web die Masse des veröffentlichten Materials mit beschleunigtem Tempo immer größere Ausmaße an und auch das Auffinden treffender Stellen scheint paradoxerweise leichter denn je geworden, jedoch besitzen solche Informationstechnologien, die Wissensräume monopolisieren, keine Antworten mehr auf die Frage, was morgen kommt, außer dass es ein System sein wird, das wiederum auf Gegenwartsfixierung setzt. Das Theorem der Gegenwartsvergessenheit der Massenmedien ist hierbei weder dualistisch noch monistisch zu denken. Es behauptet weder, dass jede Wahrnehmung von Gegenwart der Selbstvergessenheit unterliegt, noch dass Gegenwart nur noch als aufgespaltene denkbar sein kann. Zwar insistiert das Theorem der Gegenwartsvergessenheit darauf, dass zumindest durch eine, nämlich die massenmedial erzeugte Gegenwart ein Riss geht; dass sie ihre unauflösbar räumliche und materielle Dimension prozedural vergessen macht und unwiderruflich amnestiert. Dieses ›Phänomen‹ ist jedoch keines, sondern beschreibt nur eine negative Horizontbestimmung von Wahrnehmung und Zeitlichkeit der Gegenwart und ist darin völlig unpoetologisch. Das heißt, es hat keine eigene und direkte Darstellungsform. Der Preis dafür ist seine völlige Unbildlichkeit und Intransparenz, die auch durch keinen transzendentalen ›Trick‹ gerettet werden kann.
D IE G EGENWARTSVERGESSENHEIT DER M ASSENMEDIEN ALS R ESULTAT EINES › EPISTEMOLOGISCHEN W ILLKÜR -S CHISMAS ‹ Gegenwartsvergessenheit heißt, mitten im Schisma des Wissens der modernen Welt zu stehen. Konkret wird sie darin, dass tagtäglich die privilegiertesten Beobachter der Gegenwart, nämlich die Massenmedien, ihren eigenen Ort invisibilisieren. Sie bauen vor ihren eigenen Ort eine Schranke der Unsichtbarkeit und Deterritorialisierung auf. Diese These nimmt den Begriff der Grenze wieder auf, den John von Neumann in der Phänomenologie der Quantenmechanik, d.h. in ihrem Messprozess, identifiziert hatte. Er gab ihr zwei Qualitäten. Die Grenze ist erstens willkürlich, und das heißt genauer: Sie ist jenseits aller nomothetischen Kraft. Denn sie ist durch kein bekanntes Gesetz ›gesetzt‹ und setzt auch ihrerseits kein Gesetz in Kraft. Damit steht ihre
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Willkürlichkeit jenseits des Nomos, also jenseits dessen, wo nach Carl Schmitt der Begriff des Gesetzes erst entsteht (vgl. Mittelstaedt 2000, 65ff.). Die quantenmechanische Grenze zwischen Beobachter und beobachteter Welt setzt sich selbst in gesetzloser Willkürlichkeit. Und wenn sie zusammenbricht, diese Grenze, und in der Gegenwartsvergessenheit technischer Massenmedien sich selbst amnestiert, unsichtbar wird und in Vergessenheit gerät, nimmt sie Anteil an der Schuld ihrer eigenen Gesetzlosigkeit. Die Physik hat bislang kein Gesetz für sie anzubieten, und verweist ausschließlich auf den funktionalen Erfolg (vgl. ebd.: 66ff.). Nicht anders tun es die konstruktivistischen, kommunikationssoziologischen und empirischen Theorien in Bezug auf die Wirklichkeit der Medien (vgl. Rösler 2004, 17ff.). Die Physik belässt es dabei, im strikten Operationalismus ihres Weltbildes, den Siegeszug jener maßlos erfolgreichen Technologien der Quanten- und der Festkörperphysik zu feiern, die sich der von Neumann’schen Grundlegung ihrer Wissenschaft verdanken. Erfolg allein aber widerspricht Gesetzlosigkeit nicht, sondern amnestiert sie nur. Die Gegenwartsvergessenheit der Massenmedien, voll ausgebildet erst im 20. Jahrhundert, gründet epistemologisch im Willkür-Schisma des quantenphysikalischen Natur-, Weltund Beobachtungsbegriffs und gibt ihm die Darstellung einer kultischen Poetologie von Gegenwartsbildern. Das ist ein Paradox, das nur auflösbar ist im selbstbezüglichen Maßstab der Aktualität. So bildet sich, Glied um Glied verschränkt, die Kette der Gegenwartsvergessenheit der Massenmedien von innen her immer wieder neu. Aus diesem Grund machen Medien den sozioökonomischen und epistemologischen Wissensraum, den sie fortgesetzt re-instanziieren, zugleich epistemologisch indifferent. Dies gilt für den Inhalt und die Struktur der Medien wie für Medientheorien gleichermaßen. Letztere können, auf sich selbst beschränkt, nicht weitsichtiger sein als ihr Gegenstand. Wenn allerdings der Umgang mit Medien als spezifische Verkettung von technischen Artefakten, menschlichen Handlungen und diskursiven Strukturen aufgefasst wird, so ist dies immer auch eine Medien-, Technik- und Kulturgeschichte. Medienwissenschaft mit ihren kulturwissenschaftlichen Bereichen, ihrer Reflexion von Technik und Kommunikation, bildet einen Bezugspunkt für die Analyse von historisch veränderlichen Apparaten, von Soft- und Hardware, von unterschiedlichen Aufschreibepraktiken sowie von Strukturen, Instanzen und Funktionsweisen der Wahrnehmung oder der Öffentlichkeiten. Somit trägt
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die Medienwissenschaft zur Analyse der Möglichkeitsbedingungen dessen bei, was eine Gesellschaft jeweils als Wissen definiert und wie sie dieses Wissen sowohl zwischen den verschiedenen Öffentlichkeiten und Spezialdiskursen kommuniziert.
Z UR METHODISCHEN K ONVERGENZ VON M EDIEN - UND G ESCHICHTSWISSENSCHAFTEN Dies alles bildet das Feld, in dem sich die Frage nach der Referenz zwischen Medien- und Geschichtswissenschaft aushandeln lässt und sich Möglichkeiten zu einer interdisziplinären Ergänzung auftun. So beschäftigt sich beispielsweise die Wissenschaftsgeschichte mit den Medien der (Natur-)Wissenschaften – etwa dem Einsatz bildgebender Verfahren in der Medizin, optischer und anderer Instrumente bei der Herausbildung naturwissenschaftlichen Wissens sowie mit der medialen Verfasstheit von Wissenschaft und Schrift, Bild und digitalen Kommunikationsstrukturen. Dass dabei auch eine historische und theoretische Auseinandersetzung mit der Frage der Referenz in Bezug auf unterschiedliche Praktiken und Medien stattfindet, liegt auf der Hand. Der medienwissenschaftliche Diskurs bietet hier ausreichend Schnittstellen, um diese historiografische Arbeit methodisch zu ergänzen (vgl. AG Medienwissenschaft und Wissenschaftsforschung 2009, 52ff.). Vergleichsweise breit wurden solche Schnittpunkte zwischen Geschichts- und Medienwissenschaft bisher in der Erforschung der Fotografie diskutiert. Sie wurde immer auch als Technik wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion und hinsichtlich der Veränderung historischer Kommunikations- und Wahrnehmungsweisen – etwa durch die Plausibilisierung neuer Objektivitätskriterien – in den Blick genommen. Eine vergleichbare Frage stellt sich in der historischen Wissenschaftsforschung erst seit kurzer Zeit. Denn solange man mit den im Labor produzierten Visualisierungen pragmatisch arbeiten kann, lässt sich die Frage nach der Referenz aufschieben, weil ihre Existenz oder Stabilität vorausgesetzt werden kann: »Wenn das ›Bild funktioniert‹, wenn es in selbstaufgestellten Codes aussagekräftig ist, in einer Kette von Handlungen wie ein Werkzeug eingesetzt werden kann, dann lässt sich von einer Problematisierung von Referenzialität zunächst absehen. Wenn das ›Bild‹ dreidimensional-fotorealistisch erscheint (und wie
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das der endoskopischen Kamera auch noch live), wenn es gar Teil des Dargestellten ist (wie im Präparat), oder wenn sein Herstellungsprozess besondere Nähe zum Objekt verspricht, (wenn etwa atomare Teilchen im Beschleuniger ›selbst‹ Spuren auf einer Platte hinterlassen), dann kann man sich auf seine Referenzialität verlassen – let nature speak for itself.« (AG Medienwissenschaft und Wissenschaftsforschung 2009, 53)
So kann man gleichzeitig das ›natürlich Gegebene‹, d.h. die zu messenden Eigenschaften der Materie noch einmal stark machen, auf eine Unhintergehbarkeit des Abgebildeten setzen, und die Herstellung dieser Abbildungen in all ihrer technischen Konstruiertheit betrachten. Medienwissenschaftlich interessant sind diese Verfahren, da sie eine Projektions- und Vergleichsfolie für Fragen nach Authentizitätszuschreibungen für bestimmte Bildformate anbieten; Materialität und Herstellungsprozess als Bewertungskriterien für Realismus geraten historisch differenziert in den Blick. Die mechanisch-optische Apparatur an der Basis der Bilder liefert zwar Bilder, die durch bestimmte Kausalitäten entstehen, die in ihrer Entstehung wirksam sind. Diese sind allerdings nicht als die Manifestation eines feststehenden und wahrhaften Naturgesetzes besonders wahrheitsfähig, sondern als das Produkt kultureller Leistungen wie z.B. die Entdeckung (oder Erfindung) der zentralperspektivischen Organisation des Bildraumes zu verstehen, denen in einem zweiten Schritt eine besondere Wahrheitsfähigkeit erst zugeschrieben wurde. Aus einer historischen Perspektive wird deutlich, dass das Realitätsversprechen bildgebender Verfahren wie Fotografie und Film somit nicht an deren technische Bildentstehung geknüpft ist, sondern schon in den Bildlegenden und den literarisch konstruierten medialen Konstellationen seit der Spätantike präsent ist und es gerade die diskursive Aufwertung bestimmter bildgebender Techniken sind, welche diese besonders wahrheitsfähig oder mit dem Prädikat der dokumentarischen Referenz erscheinen lassen (vgl. Richter 2008, 183ff.): »Die Verknüpfung von authentischem Bild und Technik erscheint uns allerdings heute so vertraut, dass wir meinen, sie nur medienontologisch fassen zu können. Dabei ist diese Verknüpfung weitgehend arbiträr […] und damit historisch zu beschreiben als eine Folge kultureller Erfahrungen, ohne die eine entsprechende Zuschreibung nicht denkbar gewesen wäre.« (Wortmann 2003, 155)
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Dass der Weltbezug bildlicher Darstellung keinesfalls wesensmäßig an ein bestimmtes Herstellungs- oder Speicherverfahren visueller Information geknüpft ist, sondern sich sowohl fotografische als auch digitale Bildmaschinen in ihrer Technizität als hochgradig historisch und kulturell codiert erweisen, ist ein diskursives Resultat, das die methodische Konvergenz der Medien- und der Geschichtswissenschaft einmal mehr belegen mag. In der exemplarischen Erforschung solcher Schnittpunkte – wie am Beispiel des Referenzproblems bildlicher Darstellung angedeutet – lässt sich sowohl das Verständnis der Medienund Kommunikationsgeschichte erweitern, genauso aber kann betont werden, wie zentral die Probleme der Mediengeschichte für die Geschichtswissenschaft sind.
M EDIENGESCHICHTE – G ESCHICHTE
DER
M EDIEN
Die Erforschung der Geschichte der Kommunikation ist ein historisch junges Phänomen. Bis ins späte 19. Jahrhundert wurde Kommunikation nicht als eigenständiger, vom Transport, der Öffentlichkeit, der Zirkulation, der Sprache oder dem Sprechen abgekoppelter Bereich verstanden. Die Vorstellung, dass es so etwas wie Kommunikation gebe und dass sie eine Geschichte haben könnte, tauchte in der Geschichts- und Wirtschaftswissenschaft des 19. Jahrhunderts mit Figuren wie Tocqueville und Guizot in Frankreich, Mill in England sowie Knies und Schäffle in Deutschland auf. Um 1930 gewann die Mediengeschichte mit Denkern wie Lewis Mumford, John Dewey, Edward Sapir, Walter Benjamin und dessen Mitstreitern der Frankfurter Schule an Gestalt. Die Schlüsselfigur allerdings bildet wohl der kanadische Wirtschaftshistoriker Harold Adam Innis, welcher der Mediengeschichte in seinen letzten Lebensjahren eine Serie von Essays, Büchern und ein unvollendetes Konvolut an Manuskripten widmete. Innis’ Karriere begann mit der Untersuchung des Umlaufes von Gütern und endete mit der Erforschung von Medien, wobei die Rolle von Netzwerken und die Materialitäten des Austausches seine Arbeit dauerhaft prägten. Damit trug er dazu bei, die symbolischen Aspekte des Konzepts der Kommunikation hervortreten zu lassen. Innis’ Idee, die Medien der Kommunikation auf die gleiche Stufe wie die traditionellen Antriebskräfte der Weltgeschichte (Politik, Ökonomie, Krieg, Demographie etc.) zu stellen, mögen gelegentlich etwas monomanisch wir-
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ken. Kleinlich gelesen, erscheint seine Erkenntnis, dass die orale Tradition, Steintafeln, Papyrus, Pergament und Papier je unterschiedliche soziale und politische Welten und Arten der Aufzeichnung produzieren, durchaus banal. Liest man ihn hingegen großzügig, wird deutlich, dass Innis dem Repertoire des Historikers nicht einfach ein weiteres Motiv hinzugefügt hat. Denn als die Kommunikation einmal in die Geschichtswissenschaft eingeführt war, versprach sie, deren Unternehmen zu revolutionieren. 1949 schrieb Innis: »Our knowledge of other civilizations insofar as it is capable of being preserved or of being made accessible by discovery « (Innes 1949, 33). Unser Wissen von der Vergangenheit ist eine Frage der Medien. Innis hat nicht nur die Mediengeschichte erfunden, sondern auch die Medien der Geschichte entdeckt. Für Innis ist Geschichte ein Problem der Kommunikation über Raum und Zeit, und jedes Medium hat seine eigene Selektivität der Übertragung, Speicherung und Verfügbarmachung. Die Antike und die Moderne haben beispielsweise nicht nur eine andere Kunst, sondern auch eine je andere Wahrnehmung. Diese verändert sich mit den Medien, die technisch verfügbar sind und kulturell in Gebrauch stehen. Jedes Medium der Geschichte – Dokumente, Ruinen, Haushaltsgegenstände, Knochen, DNA oder was auch immer die Reise von der Vergangenheit in die Zukunft überstanden hat – leistet einen eigenständigen bias. Das englische Wort bias meint eine sich im Ergebnis reproduzierende Voreingenommenheit; einen Hang, der erst in dem, dem er nachhängt, sich bildet; einen vorgeprägten Drang und eine unentrinnbare Neigung, die sich medientheoretisch so ausdrücken lässt, dass Gedanken und Ideen nicht einfach nur symbolisch vermittelt, sondern ständig in Zeichen, Worte und Symbole übersetzt und dabei auch technisch wie kulturell laufend recodiert (ein Bühnenstück als Film, der Film im Fernsehen, ein Roman als Kinohit, das Bild im digitalen Kontext etc.) werden. Gedanken und Ideen sind abhängig von Symbolisierungsverfahren, Codes, Datenträgern und Aufzeichnungstechniken. Ein Gedanke materialisiert sich etwa in einem Text, weil es Schrift und Drucktechnik gibt und das Distributionsnetz des Buchhandels, die Autorenschaft und die Leser, Buchläden und Bibliotheken – ein System, welches als Ganzes erst für die Funktion seiner einzelnen Elemente sorgt (vgl. Hartmann 2008, 95ff.). Vergangenheit zu interpretieren würde hier nicht bedeuten, lediglich Bücher, d.h. die Inhalte historischer Schriftquellen zu studieren, sondern ebenso die Konstitution dieser Quellen selbst. Medienwissenschaftler haben
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schon lange die Bedeutung der Historiografie sondiert. Beide Felder, die Medienwissenschaft wie die Geschichte, sind mit dem methodischen Problem konfrontiert, wie sich unter den Bedingungen der Entfernung und Entfremdung überhaupt interpretieren lässt. Sie teilen ein auffallend ähnliches Vokabular der Quellen, Dokumente und Überlieferungen. Auch wenn die Medienwissenschaft sich typischerweise auf die Verteilung im Raum konzentriert hat, erlauben Medien ebenso die Ausbreitung über die Zeit. Übertragung und Speicherung, die Überwindung von Zeit und Raum sind zentrale Themen beider Felder. Speicherung ist ein Vorgang der Einschreibung von etwas in dauerhafter Form; Übertragung ist der Vorgang des Sendens von etwas Gespeichertem über eine Distanz, ob Zeit oder Raum; und Interpretation ist der Vollzug des Empfangens einer übertragenen Speicherung sowie ihrer Verarbeitung in der Gegenwart. Historische Forschung ist immer mit der Triangulation von Speichern, Übertragen und Interpretieren beschäftigt. In dem Sinne, dass sie Texte und Artefakte hinsichtlich ihrer Prozesse der Produktion und Distribution lesen, sind alle Historiker auch Medienwissenschaftler: »Historiker haben […] eine besondere Empfänglichkeit für Fragen der Medialität. Ihr Geschäft besteht darin, Dokumente in Bezug auf ihre Zeit, ihre Herkunft, ihren Autor, ihre Authentizität, ihre Tradition und so weiter auszuwerten. Die erste Frage eines Historikers an eine Quelle lautet nicht Was sagt sie? Sondern Wie ist sie entstanden? Oder sogar darüber hinaus Wie sind sie hierhin gekommen? Die Tatsache, dass die Quelle überhaupt existiert, ist vielleicht die aufschlussreichste Tatsache.« (Peters 2009, 83, Herv. i.O.)
Historiker sind – mit Luhmann gesprochen – hochsensibel für die Bedingungen des Codierens und Decodierens. Der Kulturhistoriker Carlo Ginzburg spricht von einer Semiotik der Spuren und der Philosoph Paul Ricœur von einer Hermeneutik der Zeugenschaft (ebd.: 83). Beide Weisen der Interpretation konzentrieren sich auf einen forensischen Gestus, der Indizienbeweise und Symptome schätzt. Ein Historiker wird sich bei einem ersten Blick auf ein Dokument nicht gleich den Inhalten zuwenden, er oder sie wird sich der Herkunft, dem Bündel, der Ordnung der Bestandteile, der Falten annehmen. Historiker, die sich mit dem Druck beschäftigen, werden die Bindung eines Buches interessanter finden als seinen Text, ebenso wie Medizinhistoriker, die sich mit der Ausarbeitung der Cholera in Europa beschäftigen, viel-
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leicht eher ihre Nase in die Dokumente stecken werden, um herauszufinden, ob sie nach Essig riechen (das als Desinfektionsmittel gegen die Krankheit genutzt wurde), statt sie im herkömmlichen Sinn zu lesen. Das Medium ist auch in der Geschichtswissenschaft die Botschaft (vgl. Peters 2009, 83ff.).
L ITERATUR AG Medienwissenschaft und Wissenschaftsforschung (2009): »Hot Stuff: Referenzialität in der Wissenschaftsforschung« in: Harro Segeberg (Hg.), Referenzen. Zur Theorie und Geschichte des Realen in den Medien, Marburg, S. 52-81. Deleuze, Gilles (1992): Differenz und Wiederholung, München: Fink. — (1997): Kino. Band 2, Das Zeit-Bild, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1995): Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westfälischer Verlag — (1997) Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2. Band, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Merten, Klaus (1994): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen: Westdeutscher Verlag. Mittelstaedt, Peter (2000): »Universell und inkonsistent? Quantenmechanik am Ende des 20. Jahrhunderts.«, in: Physikalische Blätter, 56, Nr. 12, Wiley-VCH, S. 65-68. Hagen, Wolfgang (2003): Gegenwartsvergessenheit: Lazarsfeld – Adorno – Innis – Luhmann, Berlin: Merve. — (2004): »Niklas Luhmann (1927-1998). ›Luhmanns Medien – Luhmanns Matrix‹« in: Martin Ludwig Hofmann/Tobias F. Korta/Sibylle Niekisch (Hg.), Culture Club. Klassiker der Kulturtheorie, Frankfurt a.M. S. 187-203. Hartmann, Frank (2008): Medien und Kommunikation, Wien: Facultas. Husserl, Edmund (1980): Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, hg. von Martin Heidegger. 2. Auflage, Tübingen: Max Niemeyer. Innis, Harold Adam (1949): The bias of Communication. Toronto: University of Toronto Press.
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Peters, John Durham (2009): »Geschichte als Kommunikationsproblem«, in: ZfM. Zeitschrift für Medienwissenschaft I, S. 81-92. Richter, Sebastian (2008): Digitaler Realismus. Zwischen Computeranimation und Live-Action. Die neue Bildästhetik in Spielfilmen. Bielefeld: transcript. Rifkin, Jeremy (2002): Access. Das Verschwinden des Eigentums. Frankfurt a.M.: Fischer. Rösler, Carsten (2004): Medien-Wirkungen, Münster: Westfälisches Dampfboot. Wortmann, Volker (2003): Authentisches Bild und authentisierende Form. Köln: von Halem.
III Medientopologien und das Wissen der Medien
Bilder/Räume denken Zum diagrammatischen Bild D ANIELA W ENTZ
I
D IAGRAMMATIC
TURN ?
Immer wieder wird ein ganz unterschiedliches Phänomen, ein Gegenstand oder ein Begriff wie Treibgut auf einer Welle an den Strand der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit gespült. An diesem Strand sitzen die Entdeckerinnen, die Sammler und die Schaulustigen, die sie aufheben, bestaunen, untersuchen, verarbeiten, weitergeben – oder wieder wegwerfen. Die meisten von diesen Phänomenen, Gegenständen und Begriffen erwartet dann nur das Schicksal, von der nächsten, der neuen Welle fortgespült zu werden und – in die dunkleren Ecken der Bibliotheken verbannt – bis zur Neuentdeckung ein karges Dasein zu fristen. Einige wenige dagegen werden geschliffen und poliert und landen in den Schaukästen; ihr Auftauchen löst weitere, ganz andere Wellen aus, die später etwa die Bezeichnung Turn oder Paradigmenwechsel bekommen werden. Taucher und Schnorchler machen sich auf die Suche nach weiteren ihrer Art, die Handwerkerinnen nach immer ausgefeilteren Methoden ihrer Verarbeitung. Über das zukünftige Schicksal des hier bereits im Titel genannten Begriffs des Diagramms, der mich im Folgenden beschäftigen wird, kann zum derzeitigen Zeitpunkt noch keine Aussage getroffen werden. Ob er einmal als vom Ozean des Wissenschaftsbetriebs rundgelutschtes Glas klassifiziert und in dessen Wellen wieder der Vergessenheit anheim gegeben wird, oder aber als Bernstein oder sogar als Perle erkannt, einen »diagrammatic turn« (Bogen/Thürlemann 2003: 4) auslö-
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sen wird,1 – was einige Wissenschaftler bereits jetzt glauben vermelden zu können – muss wohl dahingestellt bleiben. Dass aber auf seiner Welle derzeit viel gesurft, getaucht und geschnorchelt wird, das ist wohl unumstritten. Das Diagramm befindet sich auf dem Wellenkamm seiner Konjunktur, welche sich auf so unterschiedliche Disziplinen wie die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte, aber auch die Kunstgeschichte und Philosophie auswirkt. Beim genaueren Hinsehen bemerkt man jedoch schnell, dass das, was jeweils unter einem Diagramm verstanden und diskutiert wird, keineswegs auf einem einheitlichen Verständnis aufruht. Im Kontext z.B. einer eher aktuellen Diskussion werden mit Diagrammen vor allem graphische oder kartographische Darstellungen bezeichnet, die bestimmte Sachverhalte oder Gesetzmäßigkeiten anschaulich organisieren. Daneben spielt der Begriff des Diagramms eine zwar an prominenter Stelle auftauchende Rolle in verschiedenen Texten bei Michel Foucault und Gilles Deleuze, die jedoch in der aktuellen Auseinandersetzung um das Diagramm meist völlig unbeachtet bleiben. Wenn auf sie verwiesen wird, dann nahezu immer unter dem Hinweis, dass es sich dort um eine vor allem metaphorische Handhabung des Begriffs handelt. »Bedenkt man die Schlüsselstellung, die Diagramme im Denken Foucaults und Deleuzes für die Identifizierung sozialer Praktiken und gesellschaftlicher Ordnungen spielen, so ist es rätselhaft, warum sie sich auf die ›echten‹ Diagramme und Karten in ihrer historisch konkreten Form nicht eingelassen haben«, so etwa Joachim Krausse in seiner Geschichte der Diagramme (1999: 10). Bei der Suche nach Berührungspunkten zwischen den Ansätzen fällt auf, dass trotz unterschiedlich gelagerter Erkenntnisinteressen ein ganz essentielles Merkmal des Diagramms hervorsticht, nämlich seine spezifische epistemische Struktur. In beiden Argumentationen besetzt das Diagramm einen neuronalen Punkt, der als »Knotenpunkt der Produktion von Wissen« beschrieben werden kann (Gehring 1992: 92). Und in eben jenem Sinne scheint das Diagramm auch ein Phänomen zu sein, das sich der Untersuchung im Rahmen des hier vorliegenden Bandes empfiehlt. Handelt es sich bei Diagrammen in einem ersten und vorläufigen Sinne um Darstellungen, deren epistemischer
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Bogen/Thürlemann 2003: 4. Die Turn-Konjunktur ihrerseits möchte ich nicht weiter kommentieren, sondern damit nur festgehalten wissen, dass das Diagramm derzeit in aller möglicher Munde geführt wird.
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Charakter sich vorwiegend ihrer räumlich-topologischen Organisation verdankt, so lässt sich wohl vermuten, dass sich hier die »Wechselverhältnisse zwischen räumlichen Zusammenhängen, Wissenskonstitution und medialen Ordnungen«, wie es die Herausgeber_innen formulieren, auf besondere Weise verdichten. Um diese Wechselverhältnisse auszuloten, scheint es daher angeraten, selbst auf die Welle des Diagramms aufzuspringen. So einig man sich in der Frage nach dem epistemischen Gehalt des Diagramms ist, so unbeachtet lässt man in beiden Kontexten jedoch die Frage nach bestimmten medialen Implikationen, die das Phänomen birgt, insbesondere hinsichtlich seiner picturalen Merkmale. Wird das Diagramm im erstgenannten Diskussions-Zusammenhang in einen Grenzbereich des Bildlichen verwiesen, indem es auf Grund der ihm zugeschriebenen Eigenschaften einem Primat der Schrift untergeordnet wird, steht eine bildliche Implikation des Begriffs bei Foucault und Deleuze gar gänzlich auf dem Spiel. Als »abstrakte Maschine« (Deleuze 1992: 59f.) und »Gestalt politischer Technologie, die man von ihrer spezifischen Verwendung ablösen kann und muss« (Foucault 1994: 264), bezeichnet das Diagramm hier einen rein virtuellen Knotenpunkt des Wissens, der prä- oder nicht-pictural die Kräfteverhältnisse einer Sache, einer Gesellschaft, eines Bildes organisiert. In meinem Beitrag möchte ich jedoch zeigen, dass das epistemische Potential des Diagramms trotz seiner Zurückweisung als Bild in beiden Zusammenhängen auf einer radikal bildlichen und zugleich räumlichen Logik fußt. Auf der Grundlage dieser Auseinandersetzung soll die Zusammenführung der beiden Diskussionszusammenhänge in den Begriff des diagrammatischen Bildes münden, der den Begriff des Diagramms auch für die Analyse von Bildern produktiv machen soll, die in einem engeren Sinne des Begriffs eben keine Diagramme darstellen, gleichwohl aber ein diagrammatisches Potential besitzen.
II
V ISUELLES D ENKEN
Die wohl prominenteste Rolle spielt der Begriff des Diagramms im Rahmen eines Bemühens um »visuelles Denken«, so der Ausdruck von Dieter Mersch und Martina Heßler in ihrer Einleitung des 2009 erschienenen Sammelbandes Logik des Bildlichen. Wie erzeugen Bil-
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der Sinn, können Bilder argumentieren, und wie wäre die epistemische Struktur des Bildlichen zu beschreiben?, – das sind die Fragen, denen der Sammelband nachzugehen trachtet. Der Fokus liegt dabei dezidiert nicht auf »gewöhnlichen Bildern«, gemeint sind hier Gemälde und Fotografien, sondern auf Bildproduktionen in den Wissenschaften, insbesondere den Naturwissenschaften, unter deren mannigfaltigen Visualisierungsstrategien das Diagramm als eine spezifische Darstellungsform gefasst wird. Im Verbund mit Schemen, Graphen, Karten und Tabellen sprechen die Herausgeber_innen des Bandes diagrammatischen und graphematischen Darstellungen jedoch eine herausgehobene Position zu. Als Schrift-Bild-Hybrid, so ihre vor allem an Sybille Krämer geschulte Anlage des Begriffs, durchkreuzt das Diagramm die Differenz von Schrift und Bild, und zeigt damit deren grundsätzliche Untrennbarkeit (ebd.: 11). Das Diagramm bildet in ihren Augen ein eigenes visuelles Genre, in dem schriftliche und bildliche Elemente wechselseitig aufeinander verweisen, so dass »Diskursives als Ikonisches lesbar und Ikonisches als Diskursives sichtbar wird« (ebd.: 32). In der Schriftbildlichkeit des Diagramms konfiguriert sich ein spezifischer »Strukturraum«, der den picturalen Anteil vom Figuralen ins Operative überführt, während dem Scripturalen eine ikonische Präsenz verliehen wird, die es von der Linearität entlastet (ebd.: 32f.). In diesem Sinne betont Sybille Krämer in ihrem Beitrag zu diesem Band das Primat der räumlichen Anordnung, welche ihrer Ansicht nach am Grunde der diagrammatischen und graphematischen Sinnerzeugung liegt. Den Bildern »jenseits des Bildes« und »diesseits der Sprache« eigne eine »operative Bildlichkeit«, die beim Erwerb und bei der Begründung von Wissen eine grundlegende Rolle spiele und in diesem Sinne über ein reines Darstellungspotential hinausreiche (Krämer: 96). In Diagrammen, Karten und Graphen avanciere das Räumliche zu einem »Medium« und »Darstellungsprinzip«, mit dem auch nicht-räumliche Sachverhalte, das heißt etwa Relationen zwischen Begriffen, Theorien oder abstrakten Objekten anschaulich gemacht werden (ebd.). Krämer plädiert deshalb für eine Verschiebung von den Prinzipien der Grammatologie hin zu einer »Diagrammatologie« oder »diagrammatologischen Vernunft«. Unter dem Hinweis, dass bei Jacques Derrida lautsprachunabhängige Praktiken des Sprachgebrauchs, wie das mathematische Formalisieren, Programmiersprachen oder choreographische Systeme eine eher unbedeutende Rol-
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le spielen, kommt sie zu dem Schluss, »dass selbst Derrida sich nicht hat vollständig von der Assoziierung der Schrift mit der Sprache lösen können oder wollen« (ebd.: 97), und dass es deshalb nun an der Zeit sei, »die Schrift in ihrer ikonographischen Dimension – mithin als Schriftbildlichkeit – zum Fokus zu machen« (ebd.). Operative Bildlichkeit sei dementsprechend charakterisiert durch räumliche Ordnung und Gerichtetheit; außerdem Graphismus, d.h. das Ziehen einer Linie als Basishandlung operativer Bildlichkeit, Syntaktizität, Lesbarkeit, Referenzialität und Repräsentationalität, d.h. die Bezugnahme auf ein Außerhalb und schließlich Operativität, womit hier das Reflexionspotential und zugleich der generative Charakter der operativen Bildlichkeit gemeint ist. So einleuchtend dies erscheint, so scheint mir doch wenigstens ein Punkt problematisch zu sein, – nämlich dass die Attribute, die Krämer hier einer diagrammatologischen Vernunft oder operativen Bildlichkeit zuschreibt, vor allem an einer sprachlichen Logik gemessen werden. Diagramme beinhalten nicht nur Sprache, sie funktionieren hier nicht nur wie Sprache, sondern das Bildliche erscheint hier als Sprache. »Die ganze Schwierigkeit«, so Gilles Deleuze mit Blick auf die Metzsche Filmsemiologie, »liegt aber in der Angleichung des (hier D.W.) kinematographischen Bildes an eine Aussage« (1991: 43). Und in der Tat ließe sich gegen Krämer hier genau dasjenige Argument vorbringen, welches Deleuze gegen die Anwendung von Sprachmodellen auf Bilder vorbringt: »Man gerät so in einen merkwürdigen Zirkelschluß [sic!], insofern die Syntagmatik einerseits die faktische Angleichung des Bildes an die Aussage voraussetzt, und andererseits die Angleichung des Bildes an die Aussage von Rechts wegen erst ermöglicht. Es entsteht somit ein typisch kantischer circulus vitiousus: die Syntagmatik kommt zur Anwendung, weil das Bild eine Aussage ist; und eine Aussage ist das Bild, eben weil es der Syntagmatik unterworfen ist.« (Ebd.: 42)
Trotz der Betonung der Generativität diagrammatischer Darstellungen und des epistemischen Potentials ihrer räumlichen Organisation, reduziert Krämer das Bild auf den Status eines zu einer Aussage gehörenden Zeichens, das auf ein bereits Gegebenes, ihm zugrunde liegendes verweist, und das in ihm lediglich zum Ausdruck gebracht wird. Der von Krämer an Derrida vielleicht berechtigter Weise gerichtete Vor-
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wurf lässt sich hier also ebenso gut gegen sie selbst wenden, fußt doch ihre Logik des Bildlichen auf der Logik und den Gesetzen der Sprache. Heßler und Mersch gehen trotz ihres ähnlich gelagerten Diagrammbegriffs jedoch mit Nelson Goodman davon aus, dass sich das »Modell der Linguisten« nicht auf das Bildverständnis ausdehnen lasse, und verschieben den Begriff der bildlichen Logik auf »ein Strukturelles, das als eine Ordnung des Zeigens ausbuchstabiert wird«, welche sich vom Sagen grundlegend unterscheidet (Heßler/Mersch: 20). Stärker noch als Krämer betonen sie, dass der epistemische Charakter des Diagramms vor allem auf seiner räumlichen Organisation fuße und weisen Spatialität als Leitprinzip jeder Diagrammatik aus. »Diagrammatische Strukturräume [...] basieren auf einer Streuung von Punkten und ihren Relationen zueinander, auf Anordnungen, Häufungen, Richtungen oder metrischen Verhältnissen und dergleichen« (ebd.: 33). Spatialen Ordnungen, so Heßler und Mersch weiter, fallen in diesem Sinne eine unmittelbare epistemische Rolle zu. »Unterschiede werden dabei nicht als Differenzen zwischen Marken modelliert, sondern als Unterschiede räumlicher Strukturen, d.h. als Systeme von Unterräumen, Zuordnungen, Rasterungen und Ähnliches, so dass sich von spatialen Differenzierungen sprechen lässt, die mittels Kontrasten, Lücken, Abständen oder Auslassungen usw. arbeiten. Visuelle Argumentation weist sich in diesem Sinne im Wesentlichen als eine topologische aus.« (Ebd.)
An anderer Stelle, aber zum gleichen Thema, betont Mersch, dass solche visuellen Argumentationen ohne die Tilgung ästhetischer Mittel und Funktionen nicht auskommen, es sei ihre Strukturalität, nicht ihre Ikonizität, die Eindeutigkeit hervorbringe (2006: 103f.). Wie bei geometrischen Formen vor allem die Orte, Winkel und Proportionen, und eben nicht die je konkrete Gestalt zählten, verhalte sich die Eindeutigkeit des Wissens bei Graphen und Diagrammen umgekehrt proportional zum Grad ihrer Ikonizität, womit in diesem Zusammenhang Bildlichkeit gemeint ist. In diesem Sinne weist Mersch diagrammatischen Bildern einen sekundären Status gegenüber den ihnen zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten zu, und reduziert so aber schließlich ihren epistemischen Charakter auf den eines Abbildes, das, so Mersch weiter, der deutenden und beglaubigenden Erläuterung bedürfe, um überhaupt lesbar zu sein.
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Träfe dies zu, dann stünde somit der epistemische Wert des Diagramms aber gänzlich auf dem Spiel. Dem ließe sich jedoch entgegnen, dass vor jeglicher Bedeutungsgenerierung, also auch vor jeglicher Fremdreferenz, das Diagramm sich vor allem durch Selbstbezüglichkeit auszeichnet. Die Regeln seiner inneren Gestaltung, die Relationen seiner Elemente, die Anweisungen zu seiner Lesbarkeit müssen, denn das ist eine notwendige Bedingung seines Funktionierens als Diagramm, in ihm selbst enthalten sein (vgl. Wilharm 1992). Ob beispielsweise ein Pfeil eine zeitliche Dimension oder eine Bewegungsrichtung bezeichnet, ist nur im Kontext des Diagramms selbst zu entscheiden. Darüber hinaus bedeutet dies, dass es für ein Verständnis des Diagramms selbst zunächst auch völlig unerheblich ist, ob der dargestellte Sachverhalt erstens nachvollziehbar, und zweitens, ob das Diagramm richtig ist, das heißt einer außerhalb seiner selbst liegenden Verifikation standhält, sofern diese überhaupt möglich sein kann. Bedeutung entsteht erst im und durch das Diagramm selbst, über den ›Umweg‹ seiner eigenen Gestaltung. Das Diagramm verwandelt somit Selbstreferenz in Fremdreferenz (vgl. Bogen 2005: 158f.). Irrelevant für sein Funktionieren als Diagramm wird so aber vielleicht auch, welche Art von Zeichen ein Diagramm verwendet, und schon gar, ob es in einen erklärenden, sprachlichen Diskurs eingebettet ist. Steffen Bogen und Felix Thürlemann schlagen in ihrem programmatischen Aufsatz zu einer Theorie des Diagramms und des Diagrammatischen vor, Diagramme jenseits der Opposition von Bild und Text als eigenständige Formen mit ganz spezifischen semiotischen Eigenschaften anzuerkennen (2003). Sie plädieren für einen sehr weiten Diagrammbegriff, der sich nicht auf statische, graphische Formen beschränkt, sondern auch deren Konstruktionsphasen und den sie begleitenden Prozess der Rezeption umfasst. Ihre Verwendung des Diagramms orientiert sich dabei an der Semiotik Charles Sanders Peirce’, der das Diagramm in seiner triadischen Zeichenklassifikation unter dem Ikon verortet. Ikonisch im Peirceschen Sinne bezeichnet eine Relation basierend auf der Grundlage von Ähnlichkeiten. Für Peirce stellt das Diagramm »eine besonders brauchbare Art von Ikon [dar], weil es gewöhnlich eine Menge Details weglässt und es dadurch dem Geist gestattet, leichter an die wichtigen Eigenschaften zu denken« (Peirce 1986: 205). Das Diagramm abstrahiert so auf die relevanten, er nennt es »intellektuellen« Ähnlichkeiten zwischen Zeichen und Objekt. »Viele Diagramme ähneln im Aussehen ihren Objekten überhaupt
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nicht. Ihre Ähnlichkeit besteht nur in der Beziehung ihrer Teile.« (ebd.) In diesem Sinne betont auch Peirce den nicht mimetischen Charakter des Diagramms, der hier allerdings, – anders als bei Mersch –, keine notwendige Bedingung der Lesbarkeit darstellt. Bei Peirce spielt das Diagramm jedoch nicht nur eine gewisse Rolle in der Typologie der Zeichen, sondern erweist sich auch als zentral in seiner zeichentheoretischen Erkenntnistheorie. In den Vorlesungen über Pragmatismus heißt es: »Alles notwendige Schließen ist ausnahmslos diagrammatisch.« (1973: 108) Hiervon ausgehend entwickelt Peirce an verstreuten Stellen innerhalb seiner Schriften ein »System der Diagrammatisierung von Aussagen«, das den Verlauf des Denkens veranschaulichen soll (vgl. Bogen/Thürlemann 2003: 9). Dies bedeutet, dass Peirce den Diagrammbegriff von einer spezifischen Darstellungsform, die an sich bereits epistemischen Charakters ist, indem sie in der Lage ist, Relationen nicht nur zu veranschaulichen, sondern offen zu legen, erweitert, hin zu einer spezifischen Art des Denkens, die den Produktionsprozess ebenso wie den nachvollziehenden Rezeptionsprozess des logischen Schlüsseziehens meint. Hieraus ergibt sich ein weiteres Charakteristikum der Diagrammatik, nämlich ihre notwendige Prozessualität. Für mein Anliegen, die Entwicklung eines Begriffs des diagrammatischen Bildes oder Bewegt-Bildes, ist die Prozessualität diagrammatischen Denkens aus genau dem Grunde von elementarer Wichtigkeit, da für ein Verständnis des Diagramms so nicht nur die Relationen der Formen in der Fläche, sondern auch und vor allem die Relationen der Formen in der Zeit bedeutsam sind.2 Das Objekt des Diagramms ist dann nicht mehr ein vom Diagramm gänzlich unterschiedenes Außen, das ihm gleichwohl zu Grunde liegt, sondern zunächst ein anderes Diagramm, aus dem es hervorgeht, und auf das es verweist, um seinerseits wieder ein Diagramm hervorzubringen. Aus dieser Bewegung heraus und gleichsam generativ als Konsequenz der Relationen der Diagramme untereinander kann sich das Diagramm als ein Medium des Denkens, als ein »Knotenpunkt der Produktion von Wissen« entfalten.
2
Zu diesem Ergebnis kommt auch Sybille Krämer in ihrer Analyse einer Passage in Platons Menon: »Alle Einsichten, die erworben werden, entstehen aus der Veränderung und Betrachtung der geometrischen Figur.« (Krämer 2009: 113).
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III P ANOPTICON Dieser »Knotenpunkt der Produktion von Wissen« ist zugleich auch der Umschlagplatz, der mich zum zweiten Teil meiner Frage, was ist und was kann ein Diagramm führt. Denn diese Charakterisierung des Diagramms kann quasi als der kleinste gemeinsame Nenner der beiden anfangs genannten Diskurszusammenhänge gelten. Und in der Tat ist es auch ein Diagramm im eben genannten Sinne, welches als bildliche Erscheinung in Michel Foucaults Überwachen und Strafen (1994) einen zentralen Platz einnimmt. Zu sehen gibt es dort Grundrisse, Schemata, Stiche und Fotografien derjenigen idealtypischen Architektur, die Foucault in Anlehnung an Jeremy Bentham das Panopticon nennt (Abb. 1-3). Abbildung 1: Plan für einen Gefängnisbau
Quelle: Foucault 1994 : S. 192-193
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Abbildung 2: Plan für das Zuchthaus von Gent, 1773
Quelle: Foucault 1994: S. 192-193.
Abbildung 3: Menagerie von Versailles zur Zeit Ludwigs XIV
Quelle: Foucault, Michel (1994; orig. 1975): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, zwischen S. 192 und 193.
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Es sind jedoch nicht diese Diagramme des Panopticons, die Foucault hier umtreiben, im Gegenteil erhält das Panopticon selbst die Bezeichnung eines Diagramms: »Das Panopticon ist nicht als Traumgebäude zu verstehen, es ist das Diagramm eines auf seine ideale Form reduzierten Machtmechanismus; sein Funktionieren, das von jedem Hemmnis, von jedem Widerstand und jeder Reibung abstrahiert, kann zwar als ein rein architektonisches und optisches System vorgestellt werden: tatsächlich ist es eine Gestalt politischer Technologie, die man von ihrer spezifischen Verwendung ablösen kann und muss.« (Ebd.: 264)
Dies bedeutet zweierlei: erstens handelt es sich beim Diagramm um das charakteristische Bild, Gilles Deleuze nennt es die »Karte«, der beschreibbaren Kräfteverhältnisse, die die Macht konstituieren (Deleuze 1992: 55). Zweitens ist es möglich, vom Gefängnis als einer konkreten Verkörperung des Panoptismus zu abstrahieren und es als eine Technologie zu bestimmen, die sich nicht rein auf die Ordnung von Sichtbarkeiten, auf eine konkrete Architektur bezieht, sondern auf eine abstrakte Formel zu bringen ist, die, so Deleuze, lautet: »irgendeiner menschlichen Mannigfaltigkeit eine Verhaltensweise aufzwingen [Herv. i. O.]« (ebd.: 51f.). Das Diagramm ist also weder ein Ding, etwa eine konkrete Einrichtung, noch hat es etwas von einer transzendenten Idee oder einem Überbau, sondern es ist die »immanente, nicht zu vereinheitlichende Ursache, die dem gesamten sozialen Feld koextensiv ist« (ebd.: 56). Es handelt sich um eine »Ursache, die sich in ihrer Wirkung aktualisiert, die sich in ihrer Wirkung integriert, die sich in ihrer Wirkung differenziert« (ebd.). Dies bezeichnet zugleich den Unterschied zwischen dem Begriff des Diagramms und dem, was Foucault Dispositiv nennt. Das Diagramm beschreibt die Kräfteverhältnisse, die gleichwohl nur Möglichkeiten definieren, die virtuell, potentiell, flüchtig, molekular sind, und die sich schließlich in Dispositiven, d.h. konkreten Einrichtungen, in Inhaltsformen und Ausdrucksformen aktualisieren und differenzieren. Es besitzt jedoch auch nicht den Status einer Struktur, von der es sich durch seine grundlegende Instabilität, sein stetes Werden und seine Generativität unterscheidet. Es bildet weder ein geschlossenes System, noch ein Abbild einer präexistierenden Gegebenheit, vielmehr produziert es einen »neuen Typus von Realität, ein neues Modell von Wahrheit« (ebd.: 54). Jede Gesellschaft,
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nicht nur die hier analysierte Disziplinargesellschaft, besitzt so ihr Diagramm oder ihre Diagramme. Nimmt man dies alles, sowie die Tatsache, dass die hier gezeigten Bilder tatsächlich lediglich illustrativ verwendet werden, zur Kenntnis, so kann man – wie Petra Gehring dies tut – zu dem Schluss gelangen, dass der Begriff des Diagramms im Denken Foucaults nichts zu schaffen hat mit Sichtbar- oder Räumlichkeiten, sondern vielmehr metaphorisch gebraucht wird und einen methodischen und methodologischen Status besitzt. Und in der Tat bezeichnet das Diagramm hier einen Begriff, der das, »was die Analyse zu erfassen meint, auf die Seite des Analysevorgangs holt, und zugleich der gesuchte Gegenstand, das Ergebnis der Analyse selbst ist, wobei Gegenstand eben kein Ding, sondern ›Verhältnisse zwischen Dingen‹ meint« (Gehring 1992: 95f.). Das Panopticon ist ein Diagramm aus genau dem Grunde, weil es innerhalb der Analyse selbst als Verdichtung und gleichsam Offenlegung der in der Disziplinargesellschaft wirksam werdenden Kräftekonstellation dient. Damit besitzt es nicht den bildlichen, sondern den funktionalen, epistemischen Status eines Diagramms, es ist Knotenpunkt und Produzent von Wissen, das sich nach einer abstrakten Formel ausbuchstabieren lässt. Gleichwohl, und dies möchte ich der Position Gehrings zur Seite stellen, fußt die Foucaultsche Methode in gleich zweifacher Hinsicht auf einem räumlichen und bildlichen Denken. Zum einen, weil die in Gehrings Analyse nur »abstrakte Denkfigur« des Diagramms eine radikal räumliche Figuration darstellt (ebd.: 95). Das Spezifische am panoptischen Diagramm ist nämlich, dass es nicht nur als die Darstellung der Gesetzmäßigkeiten einer spezifischen Architektur erscheint, sondern zugleich als idealtypische Darstellung der Gesetzmäßigkeiten eines Diagramms selbst im engeren Sinne gelesen werden kann. Handelt es sich beim Panopticon, »um einen bestimmten Typ der Einpflanzung von Körpern im Raum, der Verteilung von Individuen in ihrem Verhältnis zueinander, der hierarchischen Organisation, der Anordnung von Machtzentren und -kanälen, der Definition von Instrumenten und Interventionstechniken der Macht – und diesen Typ kann man in den Spitälern, den Werkstätten, den Schulen und Gefängnissen zur Anwendung bringen« (Foucault 1994: 264), so bedeutet dies zum anderen, dass wir es bei den genannten Abbildungen in Foucaults Studie mit Diagrammen einer diagrammatisch organisierten Architektur, und damit diagrammatisch organisierten Gesellschaft zu tun haben.
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Die Analyse Foucaults beginnt und endet mit einem Raumbild, einem Diagramm, das nicht nur die unhintergehbare Ursache der in einer Gesellschaft wirksamen Kräfteverhältnisse darstellt, sondern auch sein eigenes Denken in Bewegung versetzt. Dennoch muss man in Betracht ziehen, dass Foucault nicht die Analyse von Räumen umtreibt, sondern die Analyse der Macht. Nicht nur, dass ihn die Diagramme und Bilder in seinem Buch nicht sonderlich zu interessieren scheinen, das Diagramm ist in seiner Analyse in vorderster Front ein Machtmechanismus, und erst danach – Zufall oder nicht – eine räumliche Konfiguration, wenngleich sich die Macht in der Architektur des Raumes verdichtet. Kann man unter diesen Umständen den Diagrammbegriff Foucaults für eine Analyse ästhetischer Phänomene produktiv machen, ohne sich gleich mit der Frage nach der Macht oder dem Vorwurf des illegitimen Vergleichs konfrontiert zu sehen? Deleuze jedenfalls, durch dessen Augen ich hier bereits das Diagramm bei Foucault betrachtet habe, bringt den Begriff noch in einem ganz anderen Kontext – einem ästhetischen – zur Anwendung, nämlich in seiner Studie über Francis Bacon (1995). Das Diagramm, so das Argument Deleuzes, besitze eine strategische Funktion in der Malerei Bacons, deren Hauptproblem darin bestehe, wie man von der Figuration zur Figur gelangen kann (ebd.: 62f.; vgl. auch Ruf 2003). Die Leinwand des Malers ist bereits vor dem Malakt überfüllt mit Klischees, d.h. präpikturalen Bildern, Vorstellungen, Erinnerungen, die das Entstehen der Figur, d.h. einer nicht abbildhaften Kopie dieser Klischees, verhindern. Das Diagramm bezeichnet in diesem Prozess die virtuellen Möglichkeiten der Defiguration, Deformation und nichtrepräsentationalen Zeichen, die unter bestimmten Umständen zur Figur, das heißt zum pikturalen Faktum werden können, das heißt ins Bild selbst gelangen können. Dort lösen sie die Figur vom Figurativen. Der Prozess des Malens folgt einer diagrammatischen Logik, die, gelingt er, am Ende mit unähnlichen Mitteln eine Ähnlichkeit zum Modell oder Vorgestellten etabliert. Diese Ähnlichkeit ist dann weder mimetisch, repräsentational, noch figurativ, sondern relational. Auch in Deleuzes Analyse der Malerei Francis Bacons erscheint der Begriff des Diagramms analog zum Foucaultschen demnach als Karte von variablen und instabilen Kräfteverhältnissen, die hier die Figur konstituieren, als eine abstrakte Maschine, die sich in ihrer Wirkung in Formen aktualisiert, integriert und differenziert. Zu suchen und zu finden ist das Diagramm hier in den Bildern selbst.
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IV D IAGRAMMATISCHE B ILDER Wie könnte man also nach diesen Ausführungen den Begriff Diagramm auf Bilder zur Anwendung bringen? Diagrammatische Bilder wären unter diesen Voraussetzungen Bilder, die auf Grund ihrer inneren Organisation in der Lage sind, abstrakte Sachverhalte, komplexe Prozesse, Regelwerke, Gesetzmäßigkeiten etc. ins Sichtbare zu überführen. Wird im zunächst diskutierten Zusammenhang als Bedingung ihrer eindeutigen Lesbarkeit die Tilgung ästhetischer Mittel und Funktionen, ebenso wie ihre Einbettung in einen erklärenden Diskurs betont, habe ich dagegen versucht Argumente anzuführen, die das Diagramm vom Primat der Schrift befreien. Der Hinweis auf die notwendige Selbstreferentialität und den generativen Charakter des Diagramms und die erste Erweiterung des Diagrammbegriffs unter dem Aspekt der Prozessualität sollte zeigen, warum sich bereits das im engeren Sinne verstandene Diagramm einer explizit bildlichen, und eben nicht sprachlich organisierten Logik verdankt, und sich dabei dennoch als ein »Knotenpunkt der Produktion von Wissen«, konkretisiert. Die These, mit der ich schließen möchte wäre also, dass nicht nur wie im angeführten Beispiel der Illustrationen in Überwachen und Strafen die architektonischen Schnitte und Grundrisse diagrammatisches Potential besitzen, sondern auch die dort zu sehenden Fotografien als Diagramme und wie Diagramme gelesen werden können (Abb. 4 und 5).
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Abbildung 4: Gefängnis Petite Roquette
Quelle: Foucault 1994: S. 216/217
Abbildung 5: Strafanstalt von Stateville
Quelle: Foucault 1994: S. 216/217
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Verstanden werden müssten diese Bilder dann nicht als Abbilder einer außerhalb ihrer selbst liegenden Gesetzmäßigkeit, sondern als Darstellung der für sie selbst als relevant erklärten Verhältnisse einer Sache, die sie zugleich hervorbrächten. Sinn, bzw. Wissen generieren auch diese Bilder dabei vornehmlich, aber nicht ausschließlich über die ihnen eigene, räumlich-topologische Organisation. Auch sie sind notwendig selbstbezüglich, müssen die Gesetzmäßigkeiten des Raumes, den sie zugleich determinieren, und den Prozess seiner Herstellung erkunden und herausstellen, um lesbar zu sein. Als diagrammatische Bilder dürfen sie sich jedoch nicht darin erschöpfen; als solche zeigen sie eben nicht nur sich selbst, sondern auch etwas anderes, selbst nicht direkt Sichtbares, das ihnen zugleich zu Grunde liegt, ebenso wie sie dieses hervorbringen. Ihnen zugrunde läge in diesem Beispiel, folgt man Foucault und Deleuze, ein Diagramm, in diesem Fall das Diagramm der Disziplinargesellschaft. Dieses Diagramm besetzt in der Analyse der Bilder, die es bezeichnend hervorbringen, zwei Orte zugleich, den Anfang und das Ende.
L ITERATUR Bogen, Steffen (2005): »Schattenriss und Sonnenuhr. Überlegungen zu einer kunsthistorischen Diagrammatik«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 68, H. 2, S. 153-176. Bogen, Steffen/Thürlemann, Felix (2003): »Jenseits der Opposition von Bild und Text: Überlegungen zu einer Theorie des Diagramms und des Diagrammatischen«, in: Alexander Patchovsky (Hg.), Die Bildwelt der Diagramme Joachims von Fiore, Ostfildern: Jan Thorbecke, S. 1-22. Deleuze, Gilles (1991; orig. 1985): Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (1992; orig. 1986): Foucault, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. — (1995; orig. 1981): Francis Bacon. Logik der Sensation, 2 Bde., München: Fink. Foucault, Michel (1994; orig. 1975): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gehring, Petra u.a. (1992): Diagrammatik und Philosophie, Amsterdam/Atlanta, GA: Rodopie.
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— (1992): »Paradigma einer Methode. Der Begriff des Diagramms im Strukturdenken von M. Foucault und M. Serres«, in: Gehring u.a., Diagrammatik und Philosophie, S. 89-106. Heßler, Martina/Mersch, Dieter (2009): »Einleitung: Bildlogik oder was heißt visuelles Denken?«, in: Heßler/Mersch, Logik des Bildlichen, S. 8-62. — (Hg.) (2009): Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld: transcript. Krämer, Sibylle (2009): »Operative Bildlichkeit. Von der ›Grammatologie‹ zu einer ›Diagrammatologie‹? Reflexionen über erkennendes ›Sehen‹«, in: Heßler/Mersch, Logik des Bildlichen, S. 94-122. Krausse, Joachim (1999): »Information auf einen Blick – zur Geschichte der Diagramme«, in: Form und Zweck, Nr. 16, S. 5-23. Mersch, Dieter (2006): »Visuelle Argumente. Zur Rolle der Bilder in den Naturwissenschaften«, in: Sabine Maasen/Torsten Mayerhauser/Cornelia Renggli (Hg.), Bilder als Diskurse – Bilddiskurse, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 95-116. Peirce, Charles Sanders (1973): Vorlesungen über Pragmatismus, Hamburg: Meiner. — (1986): Semiotische Schriften 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ruf, Simon (2003): Fluchlinien der Kunst. Ästhetik, Macht, Leben bei Gilles Deleuze, Würzburg: Königshausen & Neumann. Wilharm, Heiner (1992): »Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Über Begriff und Verwendung diagrammatischer Darstellungen in Philosophie und Wissenschaft«, in: Gehring u.a., Diagrammatik und Philosophie, S. 121-160.
Logiken der Transformation Zum Raumwissen des Films L AURA F RAHM
Dem Film wohnt eine spezifische Raumlogik inne; er birgt ein besonderes Raumwissen, das gleichermaßen in seiner inneren konzeptuellen Anlage begründet liegt wie es sich nach außen hin als eigenes Raumgebungsverfahren artikuliert – und dieses Wissen ist ein Wissen der Transformation. Denn der Film visualisiert und aktualisiert stets sein grundlegendes Potenzial, den Raum selbst zu transformieren. Er entwirft genuine Transformationsräume, die sich jenseits bekannter Raumkoordinaten entfalten, oder präziser: in denen die Maßgaben eines fixierbaren, vermessbaren Raums nicht mehr, oder nur noch punktuell, greifen. Der Film erschließt einen Bereich des Räumlichen, in dem das Transformative, das Bewegte und das Dynamische den Ausgangspunkt jeglichen Raumwissens bilden. Mehr noch, der Film transformiert das Raumwissen, insofern er die Raumproduktion in erster Konsequenz als Transformationsprozess begreift, in dem jeder Stillstand und jede Fixierung lediglich einen Moment innerhalb eines stetigen Prozesses markieren. Wenn der Film seine Räume bewegt, dann bewegt er damit zugleich sein eigenes Wissen um den Raum, seine eigenen Generierungsverfahren und Konstruktionsmechanismen, die sich als Logiken der Transformation und zugleich als spezifisch filmisches Raumwissen in die Raumproduktion einschreiben. Ein Transformationskonzept des filmischen Raums zu entwerfen mag zunächst als Paradox erscheinen, wurden filmische Räume doch stets als auf Film fixierte bzw. abgefilmte Räume begriffen, die sich in ein fest gefügtes Raumensemble eingliedern, das im Zuge der Projek-
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tion immer wieder aufs Neue ›in Bewegung versetzt‹ wird.1 Ein Transformationskonzept des filmischen Raums ist jedoch allein in dem Maße ein Paradox, in welchem dem Raum ein Mindestmaß an Stabilität und Materialität unterlegt wird, wie es in der Geschichte des Raumproblems, selbst in ihren progressivsten Konzepten, immer wieder versucht wurde.2 Denn filmische Räume sind Räume, die nicht mehr mit dem Verständnis eines grundsätzlich unbewegten, in sich geschlossenen Behälterraums zu vereinen sind. Sie sind vielmehr selbst in Bewegung; sie bilden genuin bewegte Räume heraus, die einer kontinuierlichen Transformation unterliegen. Dabei äußert sich die Transformation des Raums durch den Film nicht allein in einer spezifisch filmischen Bewegtheit, sondern ganz grundlegend in den Konstruktionsmechanismen eines filmischen Raums. Dieser Aspekt verweist unmittelbar auf die zweite Eigenschaft filmischer Räume: Sie sind konstruierte Räume, in denen potenziell jeder Anschluss und jede Raumfolge möglich ist und die zugleich als paradoxe Raumkonstruktionen in Erscheinung treten können. In dieser Hinsicht entziehen sich filmische Räume einer unmittelbaren Rückführung auf den materiellen Raum, oder präziser: Selbst wenn sie auf diesen zurückgeführt werden können, so geschieht dies allein im Durchgang durch eine filmische Transformation, die als solche im Film wiederum reflektiert wird, wodurch filmische Räume in ihrer dritten Eigenschaft als mediale Räume in Erscheinung treten.3
1
Erste Grundzüge einer Durchkreuzung dieser Argumentationslinie finden sich in Winkler 1992, sowie in der einflussreichen Abhandlung von Gardies 1993. Weiterhin haben sich zahlreiche Sammelbände mit den Wandlungsformen des filmischen Raums auseinander gesetzt, so etwa Beller u.a. 2000; Lange 2001 sowie Dürr/Steinlein 2002.
2
Besonders deutlich wird dies im Raummodell der klassischen Mechanik bei Isaac Newton als ›absolutem, wirklichen Seienden‹, an dem sich die Raumdiskurse weiterhin abarbeiten. Doch selbst in der Relativitätstheorie Einsteins geht es in Abgrenzung zu Leibniz’ monistischer Position um eine Rückbindung des Feldes an seine materiellen Gegebenheiten und damit um einen modifizierten Dualismus von Raum und Materie; vgl. von Weizsäcker 1994: 261ff.
3
Zur näheren Bestimmung dieser drei Eigenschaften des filmischen Raums, vgl. Frahm 2010: Kap. II.
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Die Welt des Films konnte nur so lange ›stillstehen‹, wie wir sie als eine fixierte Welt begriffen haben, deren Räume erst durch den Film – das heißt durch die Bewegungen und Überkreuzungen von Figuren und Kamera, durch die Rhythmik und Dynamik von Schnitt und Montage – gleichsam in Bewegung versetzt werden. Die Raumkategorie des Films konnte nur so lange unhinterfragt bleiben, wie wir sie als eine festgelegte, dreidimensionale Größe verstanden haben, innerhalb derer sich die einzelnen filmischen Orte – die Häuser, die Straßen, die Plätze – verorten und analysieren lassen. Wenn man diese Perspektive jedoch umkehrt, wenn man also davon ausgeht, dass die Welt des Films immer schon eine intrinsisch bewegte, sich selbst transformierende Welt ist, in welcher jeder Stillstand, jeder Moment des NichtBewegten lediglich als bewusste Arretierung, als bewusstes Stillstellen begriffen werden kann, dann muss auch die Raumtheorie des Films auf ein anderes Raumwissen umgestellt werden. Wenn Transformation bedeutet, dass sich etwas ändert, dass sich etwas umwandelt und von einem Zustand in den nächsten überführt wird, wobei die Prozesse der Transformation bzw. der Übersetzung selbst stets sichtbar und wahrnehmbar bleiben, dann lässt sich der filmische Raum als ein genuiner Transformationsraum begreifen. Denn der Film führt uns eine Raumpraktik vor, die kontinuierlich den Übergang von einem Raumzustand in einen anderen modelliert. Er zeigt uns, wie sich feste Raumkonstellationen in flüssige Räume umwandeln und wie umgekehrt die fließend-bewegten Räume des Films wiederum in einen Zustand der (momentanen) Fixierung überführt werden. Entscheidend sind hierbei die Prozesse der Übersetzung und der Transformation, die unaufhörlich die Aggregatzustände des filmischen Raums wechseln, variieren und modellieren. Vollzieht man folglich diesen Perspektivwechsel auf den filmischen Raum, setzt man also das Prozessuale und Transformative als Nullpunkt filmischen Raumwissens, so muss sich die filmische Raumtheorie auf neue Weise mit jenen Logiken der Transformation auseinandersetzen, die das Räumliche jenseits überlieferter Raumkategorien greifen. Doch nicht allein die Raumtheorie des Films, auch die allgemeine Raumdiskussion, die in den letzten Jahrzehnten mit höchster Intensität und Vehemenz geführt wurde – nicht zuletzt angefacht durch die beiden großen Raumwenden des Spatial Turn der 1980er/90er Jahre und des Topographical Turn der 2000er Jahre –, scheint mittlerweile an
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einem inneren Transformationspunkt angelangt zu sein.4 Die Diskussion entzündet sich nicht mehr am hartnäckigen Raumdualismus zwischen statischem, normativen Containerraum und dynamischer, sozialer Raumproduktion, zu dessen Überwindung die Vertreter der avancierten geografischen und sozialen Raumtheorie seit den 1980er Jahren angetreten waren.5 Auch bilden das große Gegenüber nicht mehr die politisch induzierten Gegendiskurse des Raums in den angloamerikanischen Cultural Studies, deren Freilegung sich die kulturwissenschaftliche Diskussion um historiographisch fundierte Topographien zum Ziel gesetzt hat.6 Die kritischen Raumpunkte scheinen (vorerst) überwunden, wodurch die Raumdebatte ein neues Stadium erreicht hat: Sie steht an einem Punkt, an dem es möglich wird, aus den Errungenschaften dieser Debatte die Konsequenzen für eine erneute Fundierung des Raums zu ziehen, nun jedoch unter den Bedingungen einer kulturell, sozial und medial verfassten Räumlichkeit.7 Nimmt man die theoretischen Implikationen der aktuellen Raumdebatte ernst, so kann eine Diskussion räumlicher Konzepte nicht mehr darin aufgehen, eine grundlegende Dynamisierung und Flexibilisierung der Raumkategorie in Abgrenzung zu statisch operierenden Raumvorstellungen zu postulieren. In anderen Worten: Eine dynamische und prozessuale Konzeption des Raums muss nicht mehr den Zielpunkt der theoretischen Auseinandersetzung bilden, sondern sie kann mittlerweile als Prämisse jeglicher weiteren Theoriebildung zum Raum zugrunde gelegt werden. Dieser Aspekt ist entscheidend, denn wenn wir im Zuge der wiederholten Raumwenden eine zentrale konzeptuelle Umkehrung eingeübt haben, so besteht diese darin, den Raum als ein sozial produziertes, relationales Beziehungsgefüge bzw.
4
So wird zunehmend bemängelt, die intensive Beschäftigung mit dem Raum verstelle wiederum andere zentrale Fragestellungen; vgl. Lippuner/Lossau 2004: 47-63.
5
Im Anschluss an Henri Lefèbvres The Production of Space (1974) haben sich vor allem Edward W. Soja (Postmodern Geographies, 1989; Thirdspace, 1996) und David Harvey (The Condition of Postmodernity, 1990) mit den Bedingungen des Spatial Turn auseinander gesetzt; vgl. auch Döring/Thielmann 2008.
6
Vgl. Weigel 2002: 151-165 sowie den Sammelband Böhme 2005.
7
Vgl. Günzel 2007: 13. Zur topologischen Neufassung des Kinos, vgl. insbesondere Holl 2007: 85-98.
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als komplexe Überlagerung kultureller und medialer Raumpraktiken zu denken. Sobald dieses Raumwissen jedoch zum Konsens geworden ist, kann sich gerade eine avancierte Raumtheorie nicht mehr damit begnügen, den Raum allein in seiner Produziertheit und Relationalität freizulegen. Vielmehr muss sie an einem Punkt ansetzen, welche diese konzeptuelle Umkehrung des Raums bereits verinnerlicht hat. Erst von jenem Nullpunkt aus, von jenem Punkt also, der das Transformationspotenzial des (filmischen) Raums zum Ausgangspunkt seiner Konzeption nimmt, lassen sich die Raumgebungsverfahren des Films als Logiken der Transformation begreifen. Erst von diesem Punkt aus wird die Entstehung von festen und flüssigen Räumen in ihren Zustandsübergängen und Übersetzungsprozessen konzeptuell greifbar. Der feste, unbewegte Raum bedeutet dann die (punktuelle) Stillstellung des übergreifenden filmischen Transformationsraums, während der flüssige, bewegte Raum als eine Zuspitzung und Weiterbewegung desselben gelten kann. Die Konstruiertheit, die Bewegtheit und die Medialität des filmischen Raums bilden damit den zentralen Ausgangspunkt, um den Transformationsprozess als die zentrale immanente Raumlogik des Films zu begreifen. Dabei geht es keineswegs darum, das Fließende bis ins Unendliche fortzuführen, sondern ausgehend von der Grundkonstellation des Transformativen erneut die Frage nach der Raumgenerierung zu stellen. Der Film erschließt damit einen Bereich des Räumlichen, in dem nicht mehr jene Abbildungs- bzw. Repräsentationsverhältnisse greifen, die im Kontext des Films allzu oft die entscheidende Bestimmungsgröße markieren. Vielmehr geht es in dem hier vorgeschlagenen Transformationskonzept um eine zentrale Umkehrung; es geht um den Versuch, mit dem Film die Zielpunkte der aktuellen Raumdebatte kritisch zu beleuchten und weiterzuentwickeln. Die konzeptuelle Basis hierfür wird mit der Prozessphilosophie in der Prägung Alfred North Whiteheads gelegt sowie jener Philosophie des Flüssigen, welche Michel Serres in seinen Büchern ergründet hat. Die Ausführungen werden dabei notwendigerweise noch tastend und vorläufig sein. Dennoch geht es um den Entwurf eines anderen Blickwinkels auf den filmischen Raum, bei dem sein Transformationswissen den Ausgangspunkt jeglicher Raumgenerierung markiert.
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I.
D IE W ELT
ALS
P ROZESS
Das Denken einer Welt, die allein im Prozess erfahrbar und greifbar wird, jenes Denken also, das der Konstruktion filmischer Räumlichkeit zutiefst innewohnt, lässt sich mit keiner anderen philosophischen Tradition enger kurzschließen als mit der Prozessphilosophie. Denn die Prozessphilosophie verabschiedet jenes Substanzdenken, das sich allein auf die Objekte bzw. auf die ›festen‹ Dinge in der Welt bezieht, um demgegenüber die Prozesse, Vorgänge und Ereignisse in den Blick zu nehmen. Ausgehend von der Annahme, dass die beständige Veränderlichkeit der Welt das entscheidende Moment für das Verständnis der Realität markiere, setzt sich die Prozessphilosophie weniger mit dem Sein als vielmehr mit dem Werden auseinander. Die Beschreibung von Transformationsprozessen liegt ihr weitaus näher als die reine Diagnose von Ist-Zuständen. Begründet wurde die Prozessphilosophie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und wurde seitdem immer wieder mit dem Werk Alfred North Whiteheads und seiner Schule kurzgeschlossen.8 Dennoch reichen ihre konzeptuellen Grundlagen bis in die Antike zurück, berufen sich die Prozessphilosophen neben Gottfried Wilhelm Leibniz, David Hume und John Locke vor allem auf vorsokratische Denker – und allen voran auf Heraklit, der mit seiner viel beschworenen Aussage des panta rhei (»Alles fließt«) die Basis für jegliches Prozessdenken gelegt hat. Auf diese zentrale Verbindung verweist auch Nicholas Rescher, wenn er in Process Philosophy (2000) das Programm der Prozessphilosophie umreißt: »Process is fundamental. A river is not an object, but a continuing flow; the sun is not a thing, but an enduring fire. Everything is a matter of process, of activity, of change (panta rhei). Not stable things, but fundamental forces and the varied and fluctuating activities they manifest constitute the world.« (Rescher 2000: 5)
Dennoch lässt sich die Prozessphilosophie nicht allein mit dem Rückgang auf vorsokratische und vorkantische Philosophen, wie die oben genannten, kurzschließen. Vielmehr erprobt sie ihr prozessuales Den-
8
Zum kritischen Kommentar des Kurzschließens von Whitehead und der Prozessphilosophie, vgl. Rescher 2000: 3f.
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ken zugleich intensiv im Austausch mit parallelen philosophischen Strömungen im frühen 20. Jahrhundert, etwa mit dem Pragmatismus William James’, der Semiotik Charles Sanders Peirces und der Lebensphilosophie Henri Bergsons. Dabei begreift die Prozessphilosophie die Natur als eine komplexe Matrix sich überlagernder Prozesse (ebd.: 11). Sie stellt das Wissen einer Ding-Welt auf ein Wissen um, das die Welt allein in ihrem Werden, in ihrem Entstehen begreift: »[T]emporality, activity, and change – of alteration, striving, passage, and novelty-emergence – are the cardinal factors for our understanding of the real.« (ebd.: 6) Gerade aufgrund der radikalen Zielsetzung der Prozessphilosophie, das überlieferte Substanzdenken gänzlich auf ein Prozessdenken umzustellen, ist sie jedoch bis heute, wie Rescher konstatiert, in einem anfänglichen Stadium begriffen, ist sie weniger »a developed doctrine as a projected program« (ebd.: 21), das noch weiterer Ausführung bedarf. Den wohl konsequentesten Entwurf der Prozessphilosophie hat Alfred North Whitehead mit seinem Hauptwerk Process and Reality. An Essay in Cosmology (1929) vorgelegt. Dabei zeichnet sich in seiner Entfaltung der Grundzüge prozessphilosophischen Denkens jene konzeptuelle Grundbewegung ab, in der das Transformative, das Prozessuale den Nullpunkt jeglichen (Raum-)Denkens markieren. Im Anschluss an eine Reihe dezidiert mathematischer Abhandlungen zur Logik, so etwa die gemeinsam mit Bertrand Russell verfassten Principia Mathematica (1910/25), bildet Whiteheads Process und Reality den groß angelegten Entwurf, die Realität im Zuge eines detailliert entfalteten Kategorienschemas, das alle Elementarbegriffe, Existenzformen, Erklärungssätze und kategorialen Verbindlichkeiten enthält, vollständig zu erfassen. Den Zielpunkt seiner spekulativen und organistischen Philosophie bildet folglich ein »verdichtetes Schema kosmologischer Ideen [...], in deren Rahmen alle Einzelthemen zu gegenseitigen Verbindungen finden« (Whitehead 1987; orig. 1929: 23).9 Dennoch ist Whiteheads umfassendes Kategorienschema allein auf der Grundlage einer als prozessual erfahrenen und erfahrbaren Welt zu denken. Die ›Fixierungsbewegung‹ des Schemas ist damit zuallererst
9
Wenig später umreißt Whitehead den universalen Anspruch an sein eigenes Kategorienschema wie folgt: »Am Ende sollte, vorausgesetzt das Unternehmen war erfolgreich, kein Problem von Raum und Zeit, der Erkenntnistheorie oder der Kausalität undiskutiert geblieben sein« (ebd.).
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vor dem Hintergrund seines dezidierten Bestrebens zu sehen, das Prozessuale, das sich ständig Verändernde der Welt zumindest in einem Moment festzuhalten und in ein logisches System einzugliedern. Und so setzt er auch jene Aussage als ersten Grundsatz seiner Kategorien der Erklärung, die besagt, »[d]aß die wirkliche Welt ein Prozeß und daß der Prozeß das Werden von wirklichen Einzelwesen ist« (ebd.: 64). Das Prozessuale ist der Welt untrennbar eingeschrieben, wodurch sich auch die wirklichen Einzelwesen (actual entities), die für Whitehead die »letzten realen Dinge, aus denen sich die Welt zusammensetzt« (ebd.: 57), bilden, erst in ihrem Werden aktualisieren. Die Welt gründet folglich in einem übergreifenden Prinzip des Prozesses, das jeglicher Erfahrung der Realität zugrunde liegt. Die Vorgängigkeit des Prozessdenkens durchzieht Whiteheads gesamtes Werk. Das Prinzip des Prozesses bestimmt maßgeblich seinen Zugang zur Welt, denn es »stellen sich all diese Ereignisse als Wirklichkeiten im Fluß einer zusammenhängenden Welt dar, die nach einer einheitlichen Interpretation verlangt« (ebd.: 52). Auch Whitehead beruft sich in der Entfaltung seines Prozessbegriffs auf Heraklits Aussage des panta rhei, als die »erste vage Verallgemeinerung, die die unsystematische, kaum analysierte Intuition der Menschheit hervorgebracht hat« (ebd.: 385), um daraus zu folgern: »Zweifellos ist der Fluß der Dinge, wenn wir auf diese elementare, allumfassende Erfahrung zurückgreifen, die nicht von den Verfeinerungen der Theorie verzerrt ist – diese Erfahrung, deren Aufklärung das Endziel der Philosophie darstellt –, eine höchste Verallgemeinerung, um die herum wir unser philosophisches System weben müssen.« (Ebd.)10
Das Fließende und der Fluss der Dinge sind für Whitehead folglich das Endziel der Philosophie und zugleich »die Hauptaufgabe der Metaphysik« (ebd.: 386). Und dennoch lässt sich das Fließende nicht ohne sein notwendiges Gegenstück begreifen, das heißt ohne die Vorstellung des »Bleibenden der Dinge – die feste Erde, die Berge, die ägyptischen Pyramiden, der menschliche Geist, Gott« (ebd.). In diesen beiden Denkweisen materialisiert sich laut Whitehead einerseits eine Metaphysik des ›Flusses‹ und andererseits eine Metaphysik der ›Substanz‹,
10 Vgl. hierzu auch Whiteheads Wellesley-Vorlesung zu den »Prozessformen« (Whitehead 2001; orig, 1938: 123-140).
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die sich als zwei parallele philosophische Traditionen durch die Philosophiegeschichte ziehen, wenngleich das Substanzdenken für lange Zeit die prägende Denkweise markierte. Erst im 17. und 18. Jahrhundert wird die Metaphysik des Fließenden wieder virulent, wobei Whitehead in seiner Auseinandersetzung mit der Philosophie Lockes und Humes vor allem zwei Arten des Fließens ausmacht: einerseits die Konkretisierung und andererseits den Übergang (vgl. ebd.: 388). Die Konkretisierung bezeichnet dabei eine bestimmte Art des Fließens, »das der Beschaffenheit des besonderen Seienden innewohnt« (ebd.: 389), während der Übergang als zweite Art des Fließens insofern komplexer angelegt ist, als es sich einerseits auf das »stetige Vergehen« bezieht und andererseits auf die »Entstehung der Gegenwart in Übereinstimmung mit der ›Kraft‹ der Vergangenheit« (ebd.: 388).11 Konkretisierung und Übergang bezeichnen folglich zwei Arten des Fließens, »die für die Beschreibung der fließenden Welt erforderlich sind« (ebd.: 389). Nur über diese beiden Figuren des Fließens, so Whitehead, wird die Beschreibung der Welt als Prozess denkbar. Während Whitehead eine Denkfigur einführt, die der »unheilvolle[n] Trennung von Fluß und Beständigkeit« (ebd.: 619) entgegenwirkt und in welcher der Prozess den Nullpunkt jeglichen Erfassens der Welt bildet, so steht in Michel Serres’ Abhandlungen das Flüssige als zentrale Grundkonfiguration im Mittelpunkt. Bereits in Die fünf Sinne (1985) beschreibt Serres sein übergreifendes Denkprojekt als eine kontinuierliche Hinbewegung auf das Flüssige zu, als wegweisendes und zukünftiges Denkmodell: »Die Erkenntnistheorie ist von ihren Wahlentscheidungen abhängig, das heißt von ihren Beispielen. Theorie oder Anschauung bleiben dem Gesichtssinn verhaftet; man hat sagen können, und dies in aller Strenge, dass sie im Bereich des Festen verbleiben. Ich bewege mich schon lange auf das Flüssige zu; ich bin ehedem den Turbulenzen begegnet und vor kurzem den Gemischen. Es gilt, die Fusion ohne Konfusion zu denken. Ich werde bald auf das Flüssige zurückkommen, das schwer zu denken ist; die Zukunft liegt dort; ich werde auf die vermischten Körper zu sprechen kommen.« (Serres 1998; orig. 1985: 104)
11 Hierbei wird der Begriff der ›Kraft‹ in Anschluss an John Locke als »eine Art von Relation (eine Relation auf Tätigkeit oder Veränderung)«, definiert; vgl. ebd., S. 394.
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Serres als Philosoph und Beobachter der Strömungen und Turbulenzen, der Gemenge und Gemische, sieht im Flüssigen die Chance, die Form und das Prozessuale des Fließenden zugleich zu denken, mithin diese beiden Zustände des Fließenden als eine Einheit zu begreifen, wie er an späterer Stelle ausführt: »Wasser, Wein, Blut, Essig, und wieder Wasser, alles, was sich ergießt, lässt seine Form und seinen Prozess erkennen«. (ebd.: 239) Das Flüssige wird bei Serres zu einer zentralen, durchgängigen Denkkategorie, die sich den Maßgaben des Festen konsequent entzieht. Insbesondere in Atlas (1994), seinem großen Entwurf einer neuen Weltkarte für die globale Welt, setzt sich Serres intensiv mit dem Flüssigen bzw. mit jenem ›Bereich der Fluida‹ auseinander, dem die philosophische Tradition lange Zeit kritisch gegenüberstand: »Es sieht so aus, als hätten Wissenschaft, Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftsgeschichte Angst, den festen Aggregatzustand zu verlassen«. (Serres 2005; orig. 1994: 88) Die Beharrlichkeit der Epistemologie, sich ganz im Reich der Festkörper aufzuhalten bzw. sich vorrangig mit der rationalen Mechanik zu beschäftigen, begründet sich laut Serres vor allem darin, dass in ihrer »alten hölzernen Sprache« (ebd.: 87) die Ordnung der Welt noch gewahrt zu sein scheint: »Dagegen tauchen wir nur widerwillig in Flüssiges, Wässriges oder Dunstiges ein – einen Gedanken, der uns nicht gefällt, nennen wir vage, konfus oder wirr –, also ins Reich der Fluida, in dem die Abstände ständig wechseln und verfließen, Schrift verlöscht und jedes Maß sich verliert.« (Ebd.: 68)
Das Fluide bedeutet für Serres die schwierigere, subtilere Form, deren Anfänge auf Lukrez zurückgehen (ebd.: 87).12 Zugleich wird das Fluide jedoch auch zu einer Beschreibungsfigur der gegenwärtigen Welt, die sich als »flüssig, fließend, fluktuierend und flüchtig« (ebd.: 115) darstellt. In seiner konsequenten Ergründung der Verbindungslinien und Phasenübergänge zwischen alter und neuer Welt wird das Flüssige zu einem Umschlagpunkt, zum eigentlichen Ort der Transformation, an dem sich der Übergang vom Tragen zum Übertragen, von Atlas zu Hermes, vom Festen zum Flüchtigen, von der Form zur Information vollzieht (vgl. ebd.: 117). Das Flüssige bildet bei Serres eine topologi-
12 Darüber hinaus widmete Serres der Physik bei Lukrez ein ganzes Buch; vgl. Serres 1977.
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sche Größe, die nicht allein in einer stetigen Umformung begriffen ist, sondern zugleich Transformationen hervorruft. Erst im Durchgang durch das Flüssige lässt sich jenes Zwischenreich erfassen, in dem sich die Übersetzungen, Interferenzen und Verteilungen ereignen, denen Serres bereits sein fünfteiliges Hauptwerk Hermès I-V (1969-80) widmete. Der Entwurf einer neuen Karte wird in Atlas zu einer unablässigen Suche nach einem universellen dritten Ort, nach einem materiellen Zwischenreich zwischen dem Festen und dem Flüssigen: »[Z]wischen der strengen Härte des geometrisch geordneten Kristalls und der fließenden Beschaffenheit weicher, gleitender Moleküle gibt es ein materielles Zwischenreich [...]: Mannigfaltigkeiten aller Art, [...], die weder flüssig noch fest sind, aber an beiden Aggregatzuständen teilhaben. Faltbar, zerreißbar, dehnbar ..., topologisch.« (Ebd.: 42f.)
Dieses materielle Zwischenreich bildet für Serres eine dritte Größe, die zwischen dem Selben und dem Anderen, dem Nahen und dem Fernen vermittelt. Zugleich erstreckt sich hier eine »unermessliche transparente Welt, in der Wechsel und Austausch erfolgen; ein leerer Raum, in dem die Distanz ihren Abstand durch Verknüpfung verliert und Bewegungen zur Ruhe zu kommen scheinen« (ebd.: 27).13 Das Flüssige wird bei Serres folglich zu einer Größe, die sich nicht mit ihrer (inneren) Konkretisierung und ihrem (äußeren) Übergang allein verrechnen lässt, mit jenen zwei Arten des Fließens also, die Whitehead zur Beschreibung der Welt als Prozess hervorgehoben hat. Vielmehr wird das Flüssige bei Serres selbst zum Ort der Transformation und der Übersetzung; es ist die Kraft, die das Feste auflöst und so das Zwischenreich der Übertragungen überhaupt entstehen lässt. Und im selben Zuge schreibt es sich als flüssige Grundkonstellation in die neue Karte zwischen alter und neuer Welt ein.
13 Zugleich wird dieser universelle dritte Ort mit der Musik als einer Universalsprache verknüpft, die »keine Reisen und keinen Übersetzer« (ebd., S. 34) benötigt; gegenüber der Universalsprache der Gewalt ist sie laut Serres »die andere, schwach, selten, schwierig und immer wieder neu, widmet sich ganz der kulturellen Schöpfung, die auch die Schöpfung des Selbst und der Anderen umfasst« (ebd., S. 33).
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II. F ORMATIONEN
DES
F LÜSSIGEN
Vor dem Hintergrund dieser philosophischen Einfassungen der Welt als Prozess, in der das Fließende als Gedankenstruktur in den Vordergrund rückt, um von dort aus die Phasenübergänge und Transformationsprozesse des Flüssigen zu denken, soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, auch die filmische Raumtheorie auf ein derartiges prozessuales Denken umzustellen, das jeglicher Fixierung und Stillstellung vorgängig ist. Denn der filmische Raum, so habe ich an anderer Stelle ausgeführt, konstituiert sich stets im Übergang. Er konstituiert sich in einem zweiseitigen Prozess, in dem sich bildräumliche Fixierungen einerseits und ein bewegtes, transformierendes Raumdenken andererseits überkreuzen.14 Um die filmische Raumkonstruktion als Prozess zu begreifen, muss folglich ein zentraler Perspektivwechsel vollzogen werden: Im Mittelpunkt stehen nun nicht mehr die Orte, an denen sich die Handlung vollzieht, jene Bereiche also, die sich im Topographischen verorten lassen. Vielmehr rückt eine andere, fließende Raumkonstellation in den Vordergrund, ein Raum der Relationen, den ich als topologischen Transformationsraum beschrieben habe. Beide Größen, die filmische Topographie und die filmische Topologie, schreiben gleichermaßen an der Raumkonstruktion mit; sie sind allein in ihrem Zusammenspiel denkbar. Dennoch scheint es, als hätte sich die filmische Raumtheorie bisher weitaus intensiver mit der filmischen Topographie, das heißt mit den festen, handhabbaren (Film-)Architekturen auseinander gesetzt, weniger jedoch mit jenen topologischen Räumen, die sich in ihren wandelnden, fließenden Formen als prozessuale Größe in die filmische Raumproduktion einschreiben. Zielpunkt dieses Beitrags ist eine Zusammenführung der filmischen Raumtheorie mit einem Prozessdenken, wie es die Philosophie hervorgebracht und theoretisch entfaltet hat. Um ein derartiges Prozessdenken für die filmische Raumanalyse fruchtbar zu machen, möchte ich drei Logiken der Transformation entwickeln, die allesamt auf der hier verfolgten Grundannahme der Transformation als Nullpunkt filmischen Raumwissens basieren. Ausgehend von der These, dass jeder filmische Raumentwurf unweigerlich an einer Theoriearbeit
14 Zum wechselseitigen Bezugsverhältnis zwischen filmischer Topographie und filmischer Topologie, vgl. Frahm 2010: 167-178.
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des Raums mitschreibt, möchte ich die folgenden Filmbeispiele nicht allein als Ausdruck einer bestimmten Raumidee, sondern zugleich als Produzenten eines spezifisch filmischen Raumwissens begreifen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich auf intensive Weise mit dem Flüssigen, und konkreter noch, mit dem Wasser und seinen Flüssigkeitszuständen auseinander setzen. Denn das Wasser bildet seit Beginn der Filmgeschichte ein bevorzugtes und zentrales Motiv, wenn es darum geht, die inneren Qualitäten des Fließenden, des Bewegten und des sich Verändernden des Films hervorzubringen.15 Die Bilder des Flüssigen geben uns einen Einblick in jene Raumkonfigurationen des Films, die sich nicht mehr mit der Vorstellung des filmischen Raums als einem Ensemble stabiler Architekturen verrechnen lassen. Vielmehr situieren sie das Räumliche von Beginn an in einer anderen Sphäre, in der die filmische Raumkonstruktion zu einer Frage der Formung und Umformung flüssiger Materie wird. Erst aus der Grundkonstellation des Flüssigen heraus lassen sich die (punktuellen) Raumbildungen ableiten. Erst auf der Basis des Prozessualen lassen sich Stillstand und Fixierung denken. Insbesondere in den Avantgardefilmen der späten 1920er und frühen 1930er Jahre wird das Wasser zu einer dichten Reflexionsfigur, in der die spezifische Bewegtheit des Films in den wechselnden Modi des Flüssigen durchgespielt wird. Dabei stellen die filmischen Experimente dieser Zeit nicht allein das Wasser in den Vordergrund, um es in seinen fließend-bewegten Qualitäten zu beobachten, wenngleich eben diese genaue, ergründende Beobachtung einen zentralen Aspekt der Filme dieser Zeit markiert. Vielmehr gehen die Filme zugleich dazu über, unterschiedliche filmische Aggregatzustände des Wassers – seine Konkretisierungen, seine Übergänge und seine Umformungen – zu beleuchten, um aus diesem Spektrum der Flüssigkeitszustände heraus wiederum Aussagen über die prozessuale Beschaffenheit des filmischen Raums abzuleiten.
15 Zur Geschichte des Wasserfilms in Bezug auf die Entwicklung filmischer Narratologie hat Franziska Heller eine sehr produktive Studie vorgelegt; vgl. Heller 2010.
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III. K ONKRETISIERUNGEN DES F LÜSSIGEN : L OGIK DER V ERDICHTUNG In den frühen filmischen Experimenten des amerikanischen Avantgardefilmers Ralph Steiner werden die Bilder des fließenden Wassers zum ersten Grund und zugleich zum Horizont einer filmischen Reflexion, die sich dezidiert mit dem Potenzial des Films auseinander setzt, bewegte Räume zu generieren.16 Insbesondere in H2O (1929) und SURF AND SEAWEED (1929/30) werden die vielfältigen Bewegungen des Wassers zum unmittelbaren Ausdruck der dynamischen Beweglichkeit des Films. Denn im Wasser, so führt auch Scott MacDonald aus, artikuliert sich für Steiner die Vorstellung einer an sich bewegten Welt, die der Film auf besondere Weise sichtbar und wahrnehmbar macht: »For the Steiner of H2O, the world is a motion picture, and the central responsibility of the artist is to help people enjoy this ›movie‹ as fully as possible.« (MacDonald 1995: 212) Steiner begreift die Welt als einen fortlaufenden Prozess, und mehr noch, als bewegtes Bild, das im permanenten Fließen und Strömen des Wassers seinen adäquaten Ausdruck findet. Das Flüssige materialisiert sich bei ihm im Zuge einer Verdichtung und Konkretisierung des Fließenden, in der es kein Außerhalb der einen, immerfort fließenden Bewegung zu geben scheint. Im Folgenden möchte ich meine Beobachtungen besonders auf H2O konzentrieren. Denn in diesem filmischen Experiment, das für Steiner zugleich den Auftakt des Übergangs von der Fotografie zum Film bedeutet17, verdichtet sich das Flüssige zu einem breiten Spektrum der Flüssigkeitszustände. H2O besteht ausschließlich aus Wasseraufnahmen, die alle erdenklichen Zustände flüssiger Bewegtheit durchlaufen, wobei sich vier unterschiedliche Stadien des Fließens ausmachen lassen. Der Film beginnt mit einer Reihe von Aufnahmen, welche die Einfassungen und Begrenzungen des Wassers in Rohren und Kanälen zeigen, dessen fließende Bewegungen stets gerichtet sind. Zugleich schließt sich hieran eine präzise Beobachtung des fallenden Wassers und seiner Wirbelbildungen an, die durch den Aufprall ent-
16 In seinem Artikel zu Ralph Steiners Filmen zitiert Scott MacDonald Steiners Beweggründe des Filmens von Wasser wie folgt: »[I]f you’re making a film, what you were filming should move. Revelation!« Zit. nach: Mac-Donald 1995: 205. 17 Zu Steiners Übergang von der Fotografie zum Film vgl. ebd.: 207ff.
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stehen. Stets stehen sich hier zwei unterschiedliche Zustände des Fließens gegenüber: das gerichtete Fließen des Wassers und seine ungerichteten, chaotischen Verwirbelungen im Aufprall. Während die erste Phase die unterschiedlichen Bewegungsrichtungen des Wassers untersucht, setzt sich Steiner in der zweiten Phase intensiv mit den Grenzzonen zwischen dem Festen und dem Flüssigen auseinander. So beobachtet er Pfähle und Stöcke, die aus dem Wasser herausragen, um sie im nächsten Moment in den Wellenbewegungen des Wassers zu brechen und zu verflüssigen. Die festen Objekte im Wasser sind hier nur noch bedingt als Widerlager des Fließenden zu begreifen, denn im selben Zuge verschwimmen ihre Konturen, wird die Differenz zwischen Festem und Flüssigem schrittweise aufgelöst. Es gibt nichts Festes, so scheint die Aussage des Films, das nicht durch die Bewegungen des Wassers in einen flüssigen Zustand überführt werden könnte.18 Die Vorstellung des filmischen Raums als einer beständig fließenden, innerlich bewegten Größe wird in der dritten Phase noch weiter ausgeführt, indem sich Steiner hier mit dem Potenzial der fließenden Wellenbewegungen auseinander setzt, eine Vielzahl an Mustern und Ornamenten herauszubilden. In den Bildern dieser dritten Phase, die weite Teile des Films einnehmen, wird das Flüssige zu einer zunehmend abstrakten Größe; das Spiel der Wellenlinien formiert sich hier zu einem vielgestaltigen Spektrum einzelner Figuren des Flüssigen, während Steiner präzise die wechselnden Bildformen von bewegter und unbewegter, von opaker und transparenter, von absorbierender und reflektierender Wasseroberfläche beobachtet. Zugleich wird die Bildästhetik des Wassers gänzlich an die Oberfläche verlagert. Es geht hier nicht mehr um die Verwirbelungen, die das Wasser durch seinen Aufprall in der Tiefe aufzuwühlen vermag; auch geht es nicht mehr um die Verflüssigung des Festen, das aus dem Wasser herausragt, sondern die fließend-variierenden Bewegungen werden hier zu einem Spiel der Ornamente an der Oberfläche der Bilder.
18 Intensiver noch setzt sich Steiner in SURF AND SEAWEED (1929/30) mit den Grenzzonen zwischen Festem und Flüssigem auseinander, indem er seine Beobachtungen genau dort ansiedelt, wo sich der Übergang zwischen Festem und Flüssigem vollzieht: an der Felsenküste, am Strand und im Seetang, wo sich die Bilder zu einer flüssigen Masse formen.
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In diesen Wasserreflexionen zeichnet sich bereits die vierte Phase ab, die mit den Reflexionen des Lichts im Wasser experimentiert. Durch die feinen Lichtbewegungen, durch das Schimmern und Funkeln des Lichts auf der Wasseroberfläche, wird auch der filmische Raum in einen anderen Zustand überführt. Die Wasseroberfläche, in die sich zuvor noch die Ornamente der Wellenbewegungen einzeichneten, wird hier zu einer reflektierenden Fläche, die das Licht zugleich aufnimmt und es ausstrahlt. Dabei verstärkt das Wasser die strahlende Kraft des Lichts und überführt es in eine Vielzahl schimmernder Lichtpunkte, die sich im Rhythmus des Wassers bewegen. Die innere Bewegtheit des Wassers wird hier zu einer Bewegtheit des Lichts, die den filmischen Raum zunehmend entgrenzt (Abb. 1). Abbildung 1: Phasen des Flüssigen in Ralph Steiners H2O
Quelle: Unseen Cinema: Early American Avant-Garde Film 1894-1941. Vol. 3: Light Rhythms: Music and Abstraction. © 2005 Anthology Film Archives.
In Steiners Wasserfilmen verdichten sich stets zwei unterschiedliche Reflexionsebenen. Denn einerseits findet Steiner im Wasser den unmittelbarsten Ausdruck jener fließend-bewegten Räumlichkeit, die er mit dem Film verbindet. Unablässig untersucht er in H2O alle Facetten des Wassers – seine Fließbewegungen, seine Verflüssigungen, seine Oberflächen, seine Spiegelungen –, um dadurch zugleich die flüssige
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Grundkonstellation des filmischen Raums zu ergründen. Dennoch geht es ihm nicht um eine Welt, die allein in ihren fließenden Bewegungen aufgeht. Vielmehr charakterisiert seine Filme zugleich eine intensive Auseinandersetzung mit den einzelnen Abstufungen des Flüssigen, arbeitet er das gesamte Spektrum fließender Bewegungen heraus. So entwirft er Bilder, in denen das fließende Wasser in seiner Beschaffenheit auf das Genaueste beleuchtet wird. Einer filmischen Versuchsanordnung gleich, wird die präzise Beobachtung des Beweglichen hier in die einzelnen Bildrahmungen hinein verlagert: »The frame of the image becomes simply a window through which we learn to see more carefully, and the only dynamic dimension to Steiner’s imagery is created by his frequent framing so that the surf, or a less dramatic flow of ocean water, moves in and out of the frame. The very continuity and variation of these forces [...] are what make the potentials of vision so extensive and important.« (MacDonald 1995: 213)
Auf beiden Linien zeigt sich eine Logik der Verdichtung, in der sich Wasser und Film untrennbar verschränken. Denn Steiner nimmt das Wasser zum Ausgangspunkt, um darin die Beweglichkeit des Films zu spiegeln, während im Umkehrschluss der Film zu einem Medium wird, das die innere Beschaffenheit des Wassers, sein breites Spektrum an Fließbewegungen und Flüssigkeitszuständen, überhaupt erst zu ergründen vermag. Die prozessuale Beschaffenheit des filmischen Raums und das Fließende des Wassers bilden hier einen gemeinsamen Grund, von dem aus alle Zustände des Flüssigen abgeleitet werden. Steiners Wasserfilme beschreiben damit eine Raumfigur, die sich als Erstheit des Flüssigen bezeichnen ließe, insofern sie kein Außen kennt, das nicht selbst wieder als Flüssiges in Erscheinung treten könnte. Das Feste wird in seinen Filmen dem Flüssigen einverleibt, oder präziser gefasst, es wird selbst verflüssigt und so die Ununterscheidbarkeit von fester und flüssiger Materie ausgestellt, während das konsequente Fließen und die unablässige Veränderung zum Ausgangspunkt jeglicher filmischer Raumwahrnehmung werden.
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IV. Ü BERGÄNGE DES F LÜSSIGEN : L OGIK DER V ERSCHIEBUNG Während in den Filmen Steiners das Flüssige in seinen unterschiedlichen Zuständen filmisch seziert wird, um darin nicht allein die Essenz des Fließenden, sondern zugleich das flüssige Potenzial des filmischen Raums zu enthüllen, so soll nun eine zweite Logik der Transformation im Mittelpunkt stehen, die das Flüssige als Übergang, als Grundlage jeglicher Veränderung und Verschiebung begreift. Die Filme Jean Epsteins, die ich näher untersuchen möchte, folgen insofern einer gänzlich anderen räumlichen Logik, als sie keineswegs auf die Ununterscheidbarkeit zwischen dem Festen und dem Flüssigen abzielen, sondern diese im Gegenteil als zwei unterschiedliche räumliche Sinnordnungen nebeneinander bestehen lassen. Das Feste wird hier zum Gegenüber des Flüssigen; es wird zu seinem Anderen, während sich die Filme mit der Konfiguration von Zustandsübergängen zwischen Festem und Flüssigem auseinander setzen, die eine permanente Verschiebung der Raumkategorie bewirken. Wie kaum ein anderer Filmemacher und Filmtheoretiker seiner Zeit hat sich Jean Epstein in seinen Schriften intensiv mit dem Potenzial des Films auseinander gesetzt, die Beweglichkeit der Welt aufzuzeichnen und mehr noch, diese Beweglichkeit selbst als Nullpunkt jeglicher Wahrnehmung zu setzen. Immer wieder umkreist er in seinen Abhandlungen das Potenzial des Films, seine eigene Beweglichkeit, mithin sein Photogénie, jene »reinste Ausdrucksform des Kinos« (Epstein 2008; orig. 1926: 50), zur vollen Entfaltung zu bringen. Denn, so schreibt er in Photogénie des Unwägbaren (1935), »[d]arin besteht die Hellsichtigkeit des Kinematographen: dass er die Welt in ihrer allgemeinen, ständigen Beweglichkeit darstellt.« (Epstein 2008; orig. 1935: 76) Epstein geht folglich von einer spezifischen Grundkonstellation des Kinematographen aus, deren Ziel es ist, das beständig Fließende und sich Verändernde der Welt einzufangen. Erst angesichts des Kinematographen lässt sich die Welt als Prozess begreifen; erst hier enthüllt sie sich in ihrer gewaltigen Lebendigkeit. Zugleich vermag der Kinematograph jedoch in seiner prozessualen Bewegtheit die unmittelbare Erfahrung der Welt zu übersteigen: »Allein schon durch seine Konstruktion ist es dem Kinematographen vorbehalten, das Universum als eine immerzu und allseits bewegliche Kontinuität
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darzustellen, fortlaufender, flüssiger und beweglicher, als es sich der unmittelbaren Erfahrung erschließt. Sogar für einen Heraklit wäre diese Instabilität der Dinge nicht vorstellbar gewesen; eine solche Inkonsistenz der Kategorien, die ineinanderfließen; diese Auflösung von Materie, welche sich, kaum wahrnehmbar, von Gestalt zu Gestalt wandelt.« (Epstein 2008; orig. 1946: 83f.)
Epstein begreift den Film als eine Größe, die in einer permanenten Veränderung begriffen ist und deren Kernpunkt darin liegt, kontinuierlich ihre Gestalt zu ändern, mithin ständig neue Zustandsübergänge zwischen Stillstand und Bewegung, zwischen Festem und Flüssigem zu generieren. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch, dass sich Epstein seit 1928/29 zunehmend mit dem Wasser, oder präziser, mit dem Meer an der bretonischen Küste beschäftigt. In seinem berühmten bretonischen Filmzyklus setzt er sich intensiv mit den veränderten Lebensbedingungen auseinander, die am Meer herrschen. Das Meer wird bei ihm zu einer Form der Wahrnehmung, die auf einer ganz eigenen Logik basiert, in der die Maßgaben des Festen nicht mehr greifen. Und zugleich werden die Küstenbewohner als eine andere Spezies Mensch beschrieben, die sich permanent der Härte, der Unwägbarkeit und damit auch der gewaltigen Veränderlichkeit des Meeres ausgesetzt sieht. Mit seinen plötzlichen Wetterschwankungen und Stürmen, mit seinen verborgenen Wirbeln und Strömungen wird das Meer bei Epstein zu einer dem menschlichen Leben äußerlichen, fremdartigen Größe, die zu keinem Zeitpunkt gänzlich beherrschbar erscheint. Epsteins bretonische Filme sind durchdrungen von einer Logik der Transformation, in der das Flüssige den Modus der Raumkonstruktion bestimmt. Das Meer wird zum Grund aller Dinge, während im Umkehrschluss das Land und die Inseln im bretonischen Meer allein als Ableitungen aus dem Flüssigen begriffen werden können. Diese besondere Raumform möchte ich am Beispiel von FINIS TERRÆ (1929) näher ausführen. FINIS TERRÆ markiert im Filmschaffen Epsteins einen zentralen Wendepunkt: den Übergang von fiktionalen zu stärker dokumentarisch geprägten Arbeiten bzw. zu dem, was Epstein selbst als ›Naturfilm‹ bezeichnet hat (Epstein 2008; orig. 1933: 142). Zugleich bildet er den Auftakt zu einer Trilogie, die er in den folgenden Jahren mit MOR VRAN (1931) und L’OR DES MERS (1932) fortsetzen wird. FINIS TERRÆ bedeutet für Epstein zunächst eine Annäherung an das Meer; die Reise in die Bretagne wird für ihn zu einer Reflexion über die ver-
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änderten Bedingungen des Lebens unter der Herrschaft des Meeres. Und so schreibt er in Der Kinematograph auf dem Archipel (1928): »Wer sich den Wassern überlässt, selbst sanften, der sieht das andere Gesicht der Erde. Für den Schiffer stellt das Land nur einen Abglanz der Zauber des Wassers dar. Wasser gleitet, türmt sich zu Wellen, wirft Gischt, lässt die Brandung dröhnen, wobei die ephemeren Kämme der Wellenberge wie zerfranste Klippen erscheinen. So nimmt die Erde Gestalt an, Reliefs werden gefaltet und entfaltet, Kräfte fließen und bahnen sich ihren Weg.« (Epstein 2008; orig. 1928: 57f.)
In FINIS TERRÆ durchlaufen die Bilder des Meeres das gesamte Spektrum ihrer potenziellen Bewegtheit; sie formieren sich unaufhörlich zu neuen Zuständen des Flüssigen. Während zu Beginn des Films das Meer noch weitgehend ruhig und still daliegt, als das stumme Gegenüber der Seetangfischer, welche die Sommermonate auf der Insel Bannec verbringen, so durchläuft es im weiteren Verlauf des Films unterschiedliche, immer bewegtere Zustände. Im Fiebertraum Ambroises wird das Meer zu einer bedrohlichen, wogenden Masse, die von den Scheinwerfern des Leuchtturms überstrahlt wird. Zur vollen Entfaltung kommt die gewaltige Beweglichkeit des Meeres schließlich in den letzten Sequenzen des Films, die von der gefährlichen Überfahrt durch die Passage de Fromveur berichten. Die entfesselten Kräfte des aufgewühlten, schäumenden Meeres, denen sich der Fischer Jean-Marie entgegenstellt, um den verletzten Ambroise auf seine Heimatinsel Ouessant zurückzubringen, durchdringen das gesamte Geschehen. Das Meer wird zu einer unbeherrschbaren Masse, die gegen die Fischerboote peitscht, um sich an Land, wo die verängstigte Bevölkerung Ouessants ausharrt, mit voller Wucht zu entladen. In FINIS TERRÆ wandelt das Meer kontinuierlich seine Gestalt; nichts Festes haftet ihm an. Zugleich wird die Veränderlichkeit des Meeres zum Grundprinzip der filmischen Raumwahrnehmung, schreibt sich das Fließende des Meeres untrennbar in die Bilder des Festen ein. In FINIS TERRÆ existieren zunächst drei unterschiedliche Raumordnungen, zwischen denen der Film immerfort changiert: die Insel der Tangfischer, die Insel der Dorfbewohner und das Meer, das sich zwischen beiden Inseln ausbreitet. Das Meer ist dabei das Formlose, das sich zwischen den festen Formen entfaltet. Zugleich gewinnt das Land jedoch am Flüssigen des Meeres überhaupt erst seine Form,
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durchzieht auch das Land eine beständige Bewegtheit, die sich in den unterschiedlichen Bewegungsqualitäten des filmischen Bildes artikuliert. Bereits zu Beginn des Films findet die feine Beobachtung des Bewegten und sich Verändernden in den Bildern des aufsteigenden Rauches statt, der durch die Verbrennung des Seetangs entsteht. Der Rauch umhüllt die festen Elemente – die Hütten, die Lagerstätten, die Felsenformationen – und lässt ihre Konturen verschwimmen, während am Ende des Films der aufsteigende Nebel auf den Wassern und an Land das Geschehen in opake, dichte Bildschichten versenkt. Dennoch geht es Epstein nicht darum, das Feste und das Flüssige ineinanderfließen zu lassen; es geht ihm nicht um die unmittelbare, sichtbare Verflüssigung des Festen, in der Festes und Flüssiges letztlich eins werden, wie wir es in H2O beobachten konnten. Vielmehr wird das Flüssige zum Anderen des Festen; es wird zu seinem Gegenüber, das dennoch unaufhörlich in die Bilder des Festen eindringt und diese durchsetzt. Selbst in den ausgedehnten Passagen in FINIS TERRÆ, die gänzlich an Land spielen, erscheint das Meer immer wieder in kurzen Zwischenbildern. Das Meer ist die Größe, die das Ensemble aus Festem und Flüssigem zusammenhält. Zugleich ist es die Kraft, welche die kontinuierlichen Zustandsübergänge von Festem und Flüssigem hervorruft. Aus jedem Zustand des filmischen Raums entwickeln sich dann wiederum neue Figuren, in denen das Flüssige als Grundkonstellation kontinuierlich mitschwingt (Abb.2). Abbildung 2: FINIS TERRÆ und die Zustandsübergänge des Flüssigen
Quelle: Filmarchiv der Verfasserin
In Epsteins Filmen zeigt sich eine Logik der Verschiebung, die als fortlaufende Veränderung der Raumzustände in Kraft tritt. Wie Steiner geht auch Epstein von einer grundlegenden Prozessualität der Welt aus, die sich zunächst in einer umfassenden Beweglichkeit der Bilder materialisiert. Während Steiner jedoch bestrebt ist, die besondere Beschaffenheit des flüssigen Filmraums herauszuarbeiten, mithin das
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Flüssige in einer Serie präziser Kameraeinstellungen zu fixieren, so zeugen die bretonischen Filme Epsteins vielmehr von dem stetigen Vergehen der Raumformen im Modus des Flüssigen, das selbst noch das Feste durchdringt. Die Transformationslogik lässt sich hier als eine Zweitheit des Flüssigen beschreiben, insofern jeder Raumzustand nur aufgrund des jeweils Anderen, eines Vorherigen oder eines Nächsten, seine Zuschreibung erhält. Jede Raumform markiert allein einen möglichen, momentanen Zustand innerhalb des ständigen Wandels und Übergangs der Raumformen ineinander, in denen stets die ›Kraft‹ vergangener, andersartiger Räume mitschwingt. Erst im Durchgang durch das Flüssige wird die Entstehung des Festen möglich. Und im selben Zuge wird der Film zu einem Medium, das unablässig zwischen seinen festen und flüssigen Raumzuständen changiert.
IV. U MFORMUNGEN DES F LÜSSIGEN : L OGIK DER Ü BERSETZUNG Im Flüssigen verdichtet sich ein prozessuales Raumdenken; es bezeichnet einen Ort der Transformation, an dem sich die Beweglichkeit der Welt und die Beweglichkeit des Films berühren. Sowohl Steiner als auch Epstein nehmen diese Beweglichkeit der Welt zum Ausgangspunkt, um in den Bildern des Wassers die spezifischen Bewegungsqualitäten des Films freizulegen. Dennoch zeigen sich bei ihnen zwei gänzlich verschiedene Herangehensweisen an das Flüssige. Ihren Filmen liegen zwei divergente Logiken der Transformation zugrunde, die einerseits auf die Konkretisierung des flüssigen Zustands des Filmraums und andererseits auf sein stetiges Vergehen abzielen. Im Folgenden möchte ich am Beispiel von Walter Ruttmanns Film IN DER NACHT (1931) eine dritte Logik der Transformation herausarbeiten, in der es nicht mehr primär um die Beweglichkeit des Flüssigen selbst geht, sondern um die bewegte Formwerdung der Bilder. Bereits in Ruttmanns frühem Filmschaffen, so etwa in seinen abstrakten Filmen der Serie OPUS I-IV (1921-25), bilden das Fließende und das Bewegliche des Films den zentralen Ausgangspunkt, um die einzelnen Formen – die Linien, die Kreise, die Quadrate – im Zuge einer stetigen Umformung ineinander übergehen zu lassen, mithin aus diesen drei Grundformen die gesamte Vielfalt möglicher Formzusammenhänge zu generieren. Das Experimentieren mit dem fließenden
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Übergang der Formen wird für ihn zu einer Annäherung an die Filmkunst als bewegtes Lichtspiel zwischen Malerei und Tanz. Und so schreibt er in Kunst und Kino: »[D]ie Kinematographie gehört unter das Kapitel der bildenden Künste, und ihre Gesetze sind am nächsten denen der Malerei und des Tanzes verwandt. Ihre Ausdrucksmittel sind: Formen, Flächen, Helligkeiten und Dunkelheiten mit all dem ihnen innewohnenden Stimmungsgehalt, vor allem aber die Bewegung dieser optischen Phänomene, die zeitliche Entwicklung einer Form aus der anderen. Es ist bildende Kunst mit dem Novum, dass die Wurzel des Künstlerischen nicht im abschließenden Resultat zu suchen ist, sondern in dem zeitlichen Werden [Hervorhebung d. Verf.] einer Offenbarung aus der anderen.« (Ruttmann 1987; orig. vor 1917: 73)
Der fließende Formenübergang, der sich in der Zeit entwickelt, wird bei Ruttmann zum Ausgangspunkt jeglicher Raumgenerierung. Erst hier entfaltet sich die innere Raumlogik des Films als stetiger Transformationsprozess. An die Stelle des »starre[n] Nebeneinander einzelner Punkte« tritt nun »die in stetem Werden begriffene Physiognomie einer Kurve« (Ruttmann 1987; orig. um 1919/20: 74). War diese Transformationslogik bereits in seinen frühen abstrakten Filmen angelegt, so kommt sie erneut in Ruttmanns recht wenig beachtetem Kurzfilm IN DER NACHT (1931) zum Tragen, der sich intensiv mit allen Facetten des Flüssigen beschäftigt. Dieser Film, der bereits im Vorspann als eine ›musikalische Bildphantasie‹ bezeichnet wird, ist eine Vertonung des Stücks In der Nacht aus Robert Schumanns Klavierzyklus Fantasiestücke op. 12 aus dem Jahr 1837, das anlässlich seines 75. Todestages von der Pianistin Nina Hansom dargeboten wird, wobei sich die Passagen des Klavierspiels mit den Passagen des Wassers kontinuierlich abwechseln. IN DER NACHT ist der Versuch, das neu gewonnene akustische Potenzial des Films mit seinem visuellen Ausdruck kurzzuschließen, und mehr noch, komplexe Spannungsverhältnisse zwischen Visuellem und Auditivem zu generieren. Die Möglichkeiten des Tonfilms hatte Ruttmann bereits intensiv in seinem Querschnittsfilm MELODIE DER WELT (1929/30) und dem Hörspiel WEEKEND (1930) erprobt. Erst in IN DER NACHT verbindet er jedoch die Tonqualitäten des Films erneut mit dem fließenden Formenübergang seiner abstrakten Filme, wie sich bereits im vorangestellten Zitat Robert Schumanns abzeichnet: »... un-
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bewusst hält neben dem Ohr das Auge mitten unter den Klängen und Tönen gewisse Umrisse fest, die sich zu deutlichen Gestalten verdichten ...« Die graduelle Herausbildung der Formen vollzieht sich hier im Zusammenschluss von Ohr und Auge. Ruttmann erschafft eine visuelle Musik, die ihre Dynamik aus den wechselnden Analogien und Überkreuzungen von musikalischer und visueller Ebene gewinnt. Denn, so schreibt er in Prinzipielles zum Tonfilm (1928): »Kontrapunkt, optisch-akustischer Kontrapunkt muss die Grundlage aller tonfilmischen Gestaltung sein. Der Kampf zwischen Bild und Ton, ihr Spielen miteinander, ihre zeitweise Verschmelzung, die sich wieder löst, um von neuem gegeneinander zu agieren, – das sind die Möglichkeiten.« (Ruttmann 1987; orig. 1928: 83.)
IN DER NACHT zeigt sich zunächst als ein filmisches Experiment mit der kontrapunktischen Anordnung von Bild- und Tonspur. Die Rhythmen der Musik, die einzelnen Melodielinien und Tonspektren werden in diesem Film auf die präziseste Weise mit einzelnen Bildern bzw. Bildfolgen des Flüssigen gekoppelt. Sobald die Töne eine andere Klangfarbe annehmen, verändert sich auch das Bild, wird das leichte Strömen des Wassers etwa zu einem dynamischen Sprudeln, um bei der nächsten Melodielinie wiederum eine andere Form anzunehmen. Jedem musikalischen Motiv wird hier ein visuelles Gegenstück zugewiesen, das parallel zum Ertönen der Musik erscheint. In einer fast mathematisch abgezirkelten Bildchoreographie bildet IN DER NACHT, wie auch Hans Emons ausführt, »eine präzise gefasste, in etwa dreiteilig-symmetrische Studie mit einem vermittelnden, in der Bewegung sich zunehmend verdichtendem Feld« (Emons 2005: 61), in dem sich die kontrapunktische Spannung von Bild und Ton dynamisch entfaltet. Zugleich lässt sich IN DER NACHT jedoch auch als ein Experiment mit dem kontinuierlichen Formenwandel, oder präziser noch, einer prozessualen Bildwerdung begreifen, die sich im Modus des Flüssigen vollzieht. Der flüssige Zustand des filmischen Raums, der alle Schattierungen des Fließens, Strömens, Sprudelns und Überquellens durchläuft, wird hier zu einer Reflexion über das Veränderliche in der Musik, über den musikalischen Formenfluss, der sich in der Zeit entfaltet. Im Schnittbereich zwischen dem Musikalischen und dem Flüssigen entsteht hier ein Ort der Transformation, an dem der feste und der flüssige Aggregatzustand des filmischen Raums kontinuierlich ineinander
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umschlagen. Denn einerseits basiert IN DER NACHT auf einer Raumstruktur, die einer mathematischen Logik folgt, insofern die absolute Synchronisation von Ton- und Bildspur zur zentralen Maßgabe der Bildgebung wird. Andererseits erschließt IN DER NACHT jedoch auch eine genuin flüssige Raumstruktur, in der jedes Element auf seine prozessuale Entfaltung in der Zeit hin angelegt ist. Dabei zeigt IN DER NACHT nicht allein eine prozessuale Welt, die sich als Flüssiges in die Bilder einschreibt. Vielmehr wird das Bild selbst zum Prozess, zeugen die Wasserbilder von einer prozessualen Bildwerdung, die auf dem Prinzip des zeitlichen Werdens, jenem ersten Prinzip des Films, basiert Abb. 3). Abbildung 3:Übersetzungen des Flüssigen in Ruttmanns IN DER NACHT
Quelle: Berlin, die Sinfonie der Großstadt & Melodie der Welt / Edition filmmuseum 39. © 2010 film & kunst GmbH.
IN DER NACHT entwirft eine Logik der Übersetzung, die zwischen dem festen und dem flüssigen Aggregatzustand des filmischen Raums changiert: Zwischen Ohr und Auge, zwischen Musik und Wasser entfaltet sich hier eine komplexe Raumlogik, die auf dem konstanten Umschlagen der Raumkategorie gründet. Dennoch entwirft IN DER NACHT nicht allein eine Raumkonstellation, die am Festen und Flüssigen zugleich teilhat. Vielmehr ergründet es das Zugleich von Form und Prozess des Flüssigen und damit jene komplexen, höher dimensionierten Räume, die ihren eigenen Transformationsprozess stets mitreflektieren. IN DER NACHT lässt eine Drittheit des Flüssigen entstehen, insofern die Musik hier als eine abstrakte, dritte Größe entfaltet wird, die den Transformationspunkt nicht mehr im Flüssigen selbst situiert (in seiner flüssigen Beschaffenheit, in seinem stetigen Vergehen), sondern die sich vielmehr von einem äußeren Punkt in die Raumproduktion einschreibt, um von dort aus eine Kette räumlicher Übersetzungsprozesse in Gang zu setzen: Aus dem musikalischen Raum entsteht ein flüssiger Raum, während der flüssige Raum auf die prozessuale
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Formwerdung des filmischen Raums verweist, die wiederum in der Musik das Prinzip ihres zeitlichen Werdens findet. IN DER NACHT lässt eine Vielfalt filmischer Räume entstehen, die allesamt als Aspekte des filmischen Prozessraums lesbar werden, während der kontinuierliche Formenwandel zum Indikator eines spezifisch filmischen Raumwissens wird.
V. K ONKRETISIERUNGEN , Ü BERGÄNGE , U MWANDLUNGEN : Z UR FILMISCHEN T RANSFORMATIONSLOGIK Die Bilder des Flüssigen geben uns einen Einblick in jene Raumkonstellationen des Films, in denen die räumliche Fixierung einem prozessualen Raumdenken weicht. Denn die Bilder des Flüssigen erfassen die filmische Raumkonstruktion von Beginn an als Prozess. Sie entwerfen Räume, die in einem stetigen Werden begriffen sind, und mehr noch, in denen das Veränderliche den Nullpunkt jeglicher Raumgenerierung bildet. In diesem Beitrag wurden sie als Vorzeichen einer Umstellung der filmischen Raumtheorie auf ein Prozessdenken eingeführt, das für die Konzeption filmischer Räume weit reichende Konsequenzen hat: Unter dieser Perspektive gefasst bezeichnen sie nicht mehr einen fixierbaren, adressierbaren Ort, an dem sich die filmische Dynamik entfaltet, sondern sie werden vielmehr in ihren Transformationsprozessen erfasst, die hier in einem ersten Aufwurf als Prozesse der Konkretisierung, des Übergangs und der Umwandlung entfaltet wurden. Der prozessuale, veränderliche Raum wird damit zur Grundform des filmischen Raums, während im Umkehrschluss der klar vermessbare, stabile Raum lediglich einen Sonderfall des Filmischen markiert. Im Prozessdenken begründet sich ein andersartiges Raumwissen des Films, das als filmisches Transformationswissen in Kraft tritt und dessen Kernpunkt darin besteht, die filmische Raumproduktion über ihre Prozesse, Vorgänge und Ereignisse, kurz: über ihre Logiken der Transformation, zu begreifen. Die transformative Raumlogik, die hier von drei Seiten gefasst wurde, liegt dem Film untrennbar zugrunde. Bereits die frühen filmtheoretischen Positionen der 1920er Jahre umkreisen unablässig das Potenzial des Films, die Beweglichkeit der Welt einzufangen, und mehr noch, sie in genuin bewegte Räume zu überführen. Auch die drei Filme, die im Mittelpunkt meiner Ausführungen
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standen, nehmen das Bewegliche der Welt zum Ausgangspunkt, um hierauf ihre filmischen Experimente zu gründen. Im Unterschied zu anderen Filmen der Zeit fokussieren sie das Filmisch-Bewegte jedoch nicht allein in den komplexen, sich überkreuzenden Bewegungslinien von Figuren und Kamera, sondern sie rücken vielmehr das Flüssige und Fließende des Wassers selbst ins Zentrum ihrer Filme. Und wenngleich das Bewegte und das Flüssige zunächst auf einem gemeinsamen Grundprinzip – dem Prinzip des Prozesses – zu basieren scheinen, so sind sie raumtheoretisch betrachtet dennoch etwas völlig anderes. Denn das Bewegte, so dynamisch es auch angelegt sein mag, vermag sich noch innerhalb einer fixierten Raumgröße zu entfalten. Das Flüssige hingegen erfasst den gesamten filmischen Raum und verwandelt ihn in eine alles durchdringende, sich stetig transformierende Größe. Das filmische Prozessdenken über das Flüssige herzuleiten, oder präziser, im Flüssigen den unmittelbaren Ausdruck der prozessualen Raumlogik des Films zu suchen, mag zunächst allzu offensichtlich und naheliegend erscheinen. Und in der Tat bildet das Flüssige in H2O, FINIS TERRÆ und IN DER NACHT zunächst eine schlichte, sinnfällige Grundfigur des filmisch-bewegten Raums. Im selben Zuge wird es jedoch auch zu einer komplexen Reflexionsfigur über die möglichen Formationen des Flüssigen im Film. Die drei filmischen Wasserreflexionen lassen sich damit nicht allein als filmische Experimente mit dem Flüssigen, sondern zugleich als eine intensive Theoriearbeit am filmischen Raum begreifen. Dabei scheint es nicht zufällig, dass die Filme allesamt am Übergang der 1920er und 1930er Jahre – und damit zugleich am Übergang zwischen Stumm- und Tonfilm – entstanden sind, an einem Punkt also, an dem die Grundannahmen des Films noch einmal neu zur Disposition stehen. Das Flüssige wird hier zum Zeichen eines Umbruchs des filmischen Bildes, und mehr noch, der filmischen Raumkategorie. Die Idee des filmischen Raums beginnt sich hier zusehends von der Vorstellung eines Substanzraums zu lösen; in allen Bereichen des Films ergründet man nun die Grenzpunkte des Raumdynamismus, wie sich vor allem im Stadtfilm dieser Zeit zeigt. Zeitgleich befasst sich die Prozessphilosophie mit der Auflösung des Substanzdenkens, um demgegenüber die Vorstellung einer durch und durch prozessualen Welterfahrung hervorzuheben. Und wenngleich die zeitliche Überkreuzung philosophischer und filmischer Raumideen hier dem Zufall zuzurechnen zu sein mag, so steht sie doch für eine ver-
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stärkte Auseinandersetzung mit dem Prozessualen und dem Flüssigen, die sich einer als fest erfahrenen Welt auf das Deutlichste widersetzen. Dieser Beitrag zu einer Transformationstheorie des filmischen Raums lässt sich damit einerseits als Anknüpfung an einen Moment innerhalb der Entwicklung der Raumkonzepte begreifen, in welcher die Idee des Prozessraums erstmals an Gestalt gewinnt. Zugleich, und entschiedener noch, möchte ich meine Ausführungen jedoch auch als Beitrag zur aktuellen Raumdebatte verstehen, die sich in den letzten Jahren konsequent auf das Flüssige zubewegt hat. Die zunehmende Erstarkung relationaler und topologischer Raumtheorien mag für diese Umwertung der Raumkategorie als Symptom gelten. Denn in dem Moment, in dem das Transformative, das Veränderliche und das Flüssige des Raums in den Vordergrund treten, lässt auch die Raumdebatte ihre eigene Umbruchsituation erkennen. Die erneute Verabschiedung des Substanzdenkens, die damit einhergeht, markiert einen Umschlagpunkt, dessen Implikationen für die Entwicklung der Raumtheorie kaum hoch genug eingeschätzt werden können. Was bedeutet diese intensive Auseinandersetzung mit dem Flüssigen folglich nicht allein für die Konzeption filmischen Raumwissens, sondern darüber hinaus für die aktuelle Raumdebatte? Die Antwort kann nur in einer intensivierten Theoriearbeit liegen, die nach den möglichen Folgerungen und Weiterentwicklungen des Flüssigen sucht – und dies nicht, um am Ende nur noch auf immerfort Fließendes oder gar Nicht-Räumliches zu stoßen, da dies die Raumdebatte unmittelbar an ihren logischen Endpunkt führen würde. Vielmehr geht es darum, das Fließend-Bewegte als eine konstruktive Kategorie zu begreifen, die es uns erlaubt, jene Vielfalt der Raumformen zu erfassen, die sich ergibt, wenn das Prozessuale den Nullpunkt jeglicher Raumgenerierung markiert. Die Umstellung auf ein prozessuales Raumdenken könnte damit den Grundstein legen, um auch höher dimensionierte Räume und komplexe räumliche Zusammenhänge konzeptuell zu fassen. Und im selben Zuge ließe sich das Flüssige nicht mehr als Zeichen einer Auflösung oder gar Verabschiedung der Raumkategorie begreifen, sondern vielmehr als Zeichen einer Transformation des Raumwissens, deren Ausgang vorerst noch offen bleiben muss.
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Stadt, Land, Film Raumexperimente bei Rohmer und Resnais H ERBERT S CHWAAB
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit einigen Filmen von Eric Rohmer und Alain Resnais, die sich als Raumexperimente, als soziologische Traktate über Fragen von Peripherie, Zentrum, Stadtplanung und Lebensformen begreifen lassen. Es handelt sich dabei um Rohmers L’AMI DE MON AMIE von 1988 und um zwei Filme von Alain Resnais, MURIEL OU LE TEMPS D’UN RETOUR von 1963 und MON ONCLE D’AMÉRIQUE von 1980. Die ästhetische Konstruktion ›neuer Räume‹ entsteht in diesen Filmen nicht nur in Abhängigkeit von einem Narrativ, sondern auch in Abhängigkeit von einem konkreten, physischen Ort, so dass das Wirkliche und das Symbolische, das Dokumentarische und Fiktionale in ein komplexes Wechselspiel treten. Dieser Beitrag wird deutlich machen, dass diese Filme gerade deswegen Wissen über den Raum schaffen, weil sie zugleich das Scheitern und das ›ästhetische‹ Gelingen filmischer Raum- und Stadtplanung in der Moderne vorführen und weil sie soziologische Fragen weder verleugnen noch in den Vordergrund treten lassen. Konkret geht es hier auch um Vorstellungen von Stadt- und Lebensplanungen in den 1960er und 1980er Jahren. Hier soll auch versucht werden, einer Ansicht von Gilles Deleuze zu widersprechen, der besonders Alain Resnais für einen neuen Umgang mit Raum und Zeit im modernen Kino reklamiert. Deleuze stellt ausdrücklich heraus, dass sich das Kino mit Resnais nicht mehr mit Raum und Bewegung, sondern mit Topologie und Zeit beschäftige (Deleuze 1985: 164). Deleuze reiht sich damit in eine Deutung der
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Entwicklung des Kinos ein, nach der das klassische Hollywoodkino die Bilder und die Wahrnehmung von Raum und Zeit der Handlung unterordnet, während auf der anderen Seite im modernen Kino die Erfahrung von Zeit und Raum wichtiger ist als die Handlung selbst. In der Beschreibung des Neorealismus als erster Verkörperung des modernen Kinos zeigt sich dies als eine Ohnmacht der Figuren gegenüber den Räumen, in denen sie leben: Der kleine Junge in GERMANIA, ANNO ZERO (1947/48) kann auf das, was er sieht und hört, nicht mehr reagieren (Deleuze 1985: 8f). Im Gegensatz zu den Figuren des Hollywoodkinos beherrscht er nicht den Handlungsraum, sondern ist ihm ausgesetzt und bricht unter der Last der »situations purement optiques et sonores« zusammen (ebd.). Diese Sichtweise des modernen Kinos wird sehr schnell mit einer Zerstörung des Raums und einer Desorientierung des Zuschauers und der Figuren im Film in Zusammenhang gebracht, sie führt aber selbst in die Irre. Eric Rohmer ist als Minimalist, der einem Ethos der Sparsamkeit folgt (vgl. Bonitzer/Daney 1981), ein gutes Gegenbeispiel. Rohmers Filme sind ausdrücklich auf den Raum bezogen und versuchen verbissen, ihre Zuschauer zu orientieren und zu einer Filmsprache zu finden, die es dem Zuschauer erlaubt, nachzuvollziehen, von welchen Koordinaten das Leben der Figuren bestimmt ist. Rohmer versucht, was in den meisten Erzählformen als Ellipse erscheint (das Bild eines fahrenden Zuges, um anzuzeigen, dass die Protagonistin ankommen wird), mit Inhalt zu füllen (er zeigt uns, was sie während der im Zug verbrachten Zeit macht, auch wenn sie nichts tut). Aber während Rohmer auch als randständiger Vertreter der Nouvelle Vague betrachtet werden kann und somit nicht eindeutig das moderne Kino repräsentiert, beschäftigt sich Resnais als eindeutig für das moderne Kino reklamierter Regisseur erstaunlich intensiv mit dem Raum und seine Filme überschneiden sich, wie deutlich werden soll, in vielen Motiven mit den Anliegen Rohmers. Die Eigenständigkeit des filmischen Raumes, die dem modernen Kino zugesprochen wird, relativiert sich bei genauer Betrachtung. Der Beitrag wird sich mit den genannten Filmen auf drei Ebenen auseinandersetzen. Er wird (1) die Filme als Raumexperimente vorstellen, die deutlich formulierte Fragen an den Raum und an das Leben im Raum stellen, sich mit städtischer Architektur und dem modernen Leben auseinandersetzen. Sie stellen explizit die Frage, wo leben wir oder wo sollen wir leben. (2) Der Beitrag wird zweitens auf die Gestalt und die ästhetischen Merkmale der Konstruktion dieses Raumes ein-
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gehen und er wird (3) herausstellen, dass die Filme sich als eine Annäherung an Alltäglichkeit begreifen lassen, dass ihre Stärken gerade darin liegen, den realen Raum anzuerkennen. Der mit diesem Text ermöglichte Rückblick auf die filmische Moderne erscheint deswegen wichtig, weil es ein Antidot gegen eine raumvergessene audiovisuelle Kultur darstellt. Rohmer und Resnais lassen uns mit einer Ahnung vom Abbild dieser Welt zurück, während viele Fernsehserien oder Kinofilme heute bewusst die Option ergreifen, ein Bild dieser Welt zu konstruieren und nicht zu repräsentieren.
(1) E XPERIMENTE : F RAGEN
AN DEN
R AUM
Resnais hat MURIEL OU LE TEMPS D’UN RETOUR 1963 nach seinen ersten Erfolgen mit HIROSHIMA MON ARMOUR und L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD als dritten seiner Filme gedreht. Das von dem Film entwickelt Experiment wird häufig darauf reduziert, die Gegenwart einer problematischen Vergangenheit oder die Fragmentierung der modernen Welt, die Zerstörung von Zusammenhang in modernen Lebenswelten zu zeigen. So stellt eine etwas aktuellere Lesart explizit heraus, dass der Film die Vorstellung von Raum zerstören solle: »As with Marienbad and Hiroshima, the disjuncture in the spoken dialogue destroys any sense of space (whether real or on screen)« (Chappell 2005). Peter W. Jansen verweist darauf, dass der Film Straßen und Plätze, Tag und Nacht disloziere (Jansen 1990:123). Diese Beschreibung erfasst aber nicht alle Aspekte eines Films, der zum großen Teil darauf ausgerichtet ist, eine Stadt zu kartographieren und zu erfassen und damit auch eine Architektur des Lebens der Figuren in dieser Stadt nachzuzeichnen. MURIEL OU LE TEMPS D’UN RETOUR von Alain Resnais spielt in Boulogne-sur-Mer, einer Hafenstadt in Nordfrankreich, die im Krieg sehr stark beschädigt wurde. Der Film führt dort Personen zusammen, die eine alte Liebesgeschichte verbindet oder die, in einem der ersten Filme, der den Algerienkrieg thematisiert (Solman 2000: 49), von Erinnerungen an ihn und Traumata heimgesucht werden. Hélène, die Antiquitätenhändlerin, Pierre, ihr aus Algerien heimgekehrter Stiefsohn, ihre alte Liebe Alphonse, mit dem sie aus einer Laune heraus wieder Kontakt aufgenommen hat, und dessen Nichte Françoise, die tatsächlich seine Geliebte ist, sehen sich von Erinnerungen und Trug-
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bildern verfolgt, leben in der unwirklichen Welt einer mit Antiquitäten vollgestopften Wohnung, belügen sich selbst und andere über ihre Vergangenheit und entziehen sich, sind immer auf der Flucht. Dies setzt der Film in einer montage haché um, bei der scheinbar jeder Zusammenhang verloren geht. Der Film zielt tatsächlich darauf, ein Anliegen Resnais wiederzugeben, nämlich das fragmentierte moderne Leben in einer nicht-linearen Erzählung wiederzugeben (Resnais zitiert in Jansen 1990: 123), allerdings hat diese Darstellung nicht zum Ziel, Raumvorstellungen in einer ähnlichen Weise zu irritieren wie L’ANNÉE DERNIERE À MARIENBAD. Eine Szene zu Beginn von MURIEL OU LE TEMPS D’UN RETOUR verdeutlicht das Gestaltungsprinzip dieses Films. Hélène holt Alphonse vom Bahnhof in Boulogne ab und geht mit ihm und dessen Nichte nach Hause. Diese Handlung mündet in eine der ersten von vielen effektvollen Montagesequenzen: Tag und Nacht werden zusammengeschnitten, der Film läuft rückwärts und vorwärts, so als habe man einen linear gedrehten Film durch die Mangel einer assoziativen und dekonstruierenden Montage gedreht. Damit korrespondiert die Ziellosigkeit des Films und seiner Figuren, die man ständig dabei beobachtet, wie sie, zusammen oder isoliert, vor und zurück und zu unterschiedlichen Orten laufen, durch eine Stadt, die die Orientierung durch konfusen Wiederaufbau nach dem Krieg erschwert. Robert Benayoun von der Zeitschrift Positif bezeichnet in einer zeitgenössischen Kritik das Boulogne des Films daher als eine »ville fantôme« und den Film als ein »terrain vague de l’esprit« (Benayoun 2002a: 132). Alles scheint zu gleiten, es gibt keine festen Bezugspunkte, wofür symptomatisch ein unbewohnter Hochhausneubau steht, der immer wieder in die Montagesequenzen eingebunden wird und der, wie wir von einer der Figuren erfahren, wegen eines Konstruktionsfehlers langsam den Berg auf den Strand hinab rutscht.
S TADT , L AND, F ILM
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Abbildung 1: MURIEL OU LE TEMPS D’UN RETOUR, Das gleitende Haus
Quelle: MURIEL OU LE TEMPS D’UN RETOUR
Dieses Motiv der Fragmentierung lässt sich allerdings in Frage stellen. Denn diese Stadt ist hier weitaus mehr ist als eine Phantomstadt und ihre Darstellung geht weit darüber hinaus sie als, zugegeben sehr geeigneten, Hintergrund für ein zerstörtes Leben zu aufzufassen. Dieser Film, der zu großen Teilen an Originalplätzen gedreht wurde, bietet uns eine sehr genaue Kartographie der Stadt und ihrer Bauten, auch ihrer Zerstörungen. Die Fragmentierung führt in die falsche Richtung, denn tatsächlich gibt es wenig Filme, die uns Raum auf eine ähnlich genaue Weise erfahrbar machen. Die Stadt setzt sich aus isolierten Ansichten zusammen, und gerade dadurch erschließt sich uns akkumulativ die Topographie dieses Ortes. Für das heutige Auge bietet sich der nostalgische Blick auf die wunderbare Welt des Modernismus im Städtebau der 1960er Jahre, auf das damals noch ungebrochene Versprechen auf ein besseres Leben in neuen, funktionalen Bauten. Diese aufgebrochene Montage zielt hier weniger auf Fragmentierung, sondern auf Beschwörung, auf den verbissenen Versuch, diese Stadt erfahrbar zu machen und ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie es sich in dieser Welt wohnen lässt. Hier sind das Konkrete und das Figurative aufs engste verzahnt. In diesem Sinne stellt der Film nicht nur die Leere dieser Stadt aus, sondern er schafft ein prägnantes Wissen von einer vermeintlich modernen Küstenstadt im Norden Frankreichs und ein Wissen darüber, wie Menschen in dieser Stadt leben. In einem auf das Zentrum Paris fixierten Frankreich gibt es kaum beeindruckende filmische Porträts von Städten an der Peripherie und MURIEL OU LE TEMPS
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D’UN RETOUR ist einer der wenigen Ausnahmen. In diesem Sinne ist die häufig geäußerte Ansicht der Ziellosigkeit, Fragmentierung und der Phantomhaftigkeit der Stadt weniger interessant als die Tatsache, dass der Zuschauer den Film mit einer Ahnung von ihrer Gestalt verlässt. James Monaco stellt, der Ansicht von der Intellektualität des Kinos von Resnais grundsätzlich widersprechend, diesen Aspekt heraus. Der Film analysiere auf präzise Weise ein Milieu und versuche dessen Stimmung zu rekonstruieren (Monaco 1978: 85), es handle sich um einen realistischen Film, was an der Detailversessenheit abzulesen sei, mit der Resnais ein in Boulogne gesehenes Appartement im Film rekonstruieren lasse (ebd.: 90). Das Kino Rohmers ist dagegen offensichtlich davon besessen, räumliche Bezüge möglichst genau herzustellen. Oft verstummen, so Pascal Bonitzer, seine Filme buchstäblich (Bonitzer 1990: 86), vor allem dann, wenn sich die Bilder darauf reduzieren, zu zeigen, wie jemand von einem Ort zum anderen gelangt, ein Motiv, das seine frühen Filme wie LE SIGNE DU LION oder MA NUIT CHEZ MAUDE aus den 1960er Jahren ebenso wie seine späteren Filme wie CONTE D’HIVER (1992) bestimmt. L’AMI DE MON AMIE von 1988, einer seiner Filme, die dem Zyklus »Comédie et Proverbs« zugeordnet werden, erkundet im Gewand einer harmlosen Verwechslungskomödie mit drei Frauen und zwei Männern nicht nur die Probleme, sich selbst über seine eigenen Gefühle zu täuschen oder der besten Freundin den Freund auszuspannen, sondern vor allem, wie man in Cergy, der künstlichen und konstruierten Welt einer nicht gewachsenen Stadt vor den Toren Paris, leben kann und welche Möglichkeiten dieser Raum bietet. Auch dieser Film und andere Filme von Rohmer lassen sich, ähnlich wie die Filme von Resnais, als Experimente verstehen. Beate Ochsner bezeichnet seine Filme als Zufallsexperimente, als kalkulierte Kombination unterschiedlichster Elemente und der von ihr ausgelösten Handlungen (Ochsner 2010: 31). In der Tat geht es immer auch um eine abstrakte Versuchsanordnung: Die Sprichwörter, die dem Zyklus von Filmen ihren Namen geben, führen die Handlung in eine bestimmte Richtung, allerdings sind einige der Sprichwörter schlichtweg frei erfunden, Rohmer schert sich nicht darum, den Gehalt dieser Weisheiten zu erkunden. Ochsner weist auch auf die »Einfachheit und topographische Präzision« eines frühen Kurzfilms von Rohmer hin (ebd.). Dieser genaue Umgang mit dem Raum lässt sich vor allem an L’AMI DE MON AMIE feststellen, das sich als Experiment in einem klar bestimmten und
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abgegrenzten Setting vollzieht und dennoch bei aller Abstraktion seine Verbindung mit dem ›wirklichen‹ Raum aufrecht erhält. Der Film beginnt mit einer Eingangssequenz, die uns die Hauptfiguren und deren Arbeitsstätten, allesamt in Cergy, vorführt und sie somit Figuren verortet, aber auch Ansichten der Stadt sammelt. Der Film fährt damit fort, ostentativ Raum vorzuführen, oft verbunden mit dem gestischen Verweis der Figuren auf ihren Ort und dessen Beziehung zu Paris. Wenn Blanche ihrer Freundin Léa nach einem gemeinsamen Stadtbummel ihr Apartment zeigt, führt sie uns nicht nur an jedes Fenster der Wohnung und erlaubt uns den Blick auf die noch unfertige Trabantenstadt (Abb. 2), sondern sie zeigt auch auf das am Horizont erahnbare Paris und bestimmt somit den Abstand zwischen Peripherie und Zentrum. Die Flächen der Trabantenstadt sind neu und absurd leer, noch unbepflanzt und nicht wohnlich, aber der Film versucht immer den Eindruck zu erwecken, als könne man in diesem Raum wohnen. Rohmer zeichnet geradezu ein Idealbild einer Stadt, bei der man von einer Zufallsbegegnung nahtlos in die Freizeit hinüber gleiten kann. Er reiht in Sequenzen Alltags- und Freizeithandlungen aneinander. Blanche geht mit Fabien, dem titelgebenden Freund ihrer besten Freundin, Windsurfen im nahe gelegenen künstlichen See, sie bummeln durch die Stadt, essen auf dem großen Platz bei Wind draußen im Restaurant, gehen am nächsten Tag in das Schwimmbad und spazieren dann durch einen Wald. Der reale Raum wird zu einem Topos, der alle Attribute einer modernen Idylle aufführt, als ein transgressiver Raum der Begegnungen, der Nähe, der Muse, alles eng miteinander verknüpft. Rohmer versucht, ähnlich wie Resnais, vielleicht etwas weniger beschwörend, diesen Raum erfahrbar zu machen. Er will ihn möglichst genau, mit möglichst wenigen filmischen Ellipsen, durch die Bewegung des Gehens ausmessen. Aber es handelt sich hier auch um die Konstruktion eines Idealbildes, um die Fantasie, dass sich diese Welten bewohnbar machen lassen können, dass das harmonische Zusammenfügen unterschiedlicher Lebenssphären möglich ist, und gelegentlich wird die Tristesse dieser neuen, nicht gewachsenen Orte nur sehr sporadisch überdeckt.
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Abbildung 2: L’Amie de mon ami, Die unfertige Stadt
Quelle: L’Amie de mon ami
Der 1980 gedrehte MON ONCLE D’AMÉRIQUE von Resnais ist ähnlich konstruiert wie MURIEL OU LE TEMPS D’UN RETOUR, stellt aber deutlicher seinen Experimentalcharakter heraus. Der Film wird gerahmt von den Kommentaren des Verhaltenstheoretikers Henri Laborit, der die Situationsgeographie des tierischen und menschlichen Lebens nachzeichnet. Der Film tut so, als wolle er das Setting eines Labors in das Leben versetzen und als analysiere er die Handlungen von René, Sohn eines Bauern, der sich zum Unternehmer hocharbeitet, dem ambitionierten Politiker Pierre, der einer reichen Familie aus der Bretagne entstammt, und dessen Geliebte Janine, Schauspielerin und Tochter einer kommunistischen Arbeiterfamilie aus Paris. Auch hier findet eine umfangreiche Kartographie des Lebens statt, die aus den Lebenslinien und -welten dieser drei Personen besteht. Es gibt figurative Räume, die zugleich sehr wirklich Räume sind. Wohn- und Arbeitsstätten, aber auch eine Insel, die als Raum der Kindheit einen Fluchtpunkt bietet, tauchen häufig als Bezugspunkte der Geschichte auf. Diese Insel sei, so der Drehbuchautor Jean Gruault, nach der Insel aus KING KONG (1933) modelliert worden. Sie solle im Film einen Orientierungspunkt bieten, als ein Ort, der in einer von Filmen bestimmten Vorstellung
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bereits verortet ist (in Thomas 1992: 38). Die Montage dieses Films richtet sich darauf, Objekte, Tiere, Menschen, Landschaften, aber auch Vorstellungen, die von Filmclips klassischer französischer Filme verkörpert werden, durch Montage zusammenzufügen. Verbunden mit den Bildern des Experiments und den Kommentaren des Verhaltensforschers Laborit bildet sich eine Ansicht heraus, die Labor und Welt gleichsetzt und die Impulse, von denen Menschen gesteuert werden, und die Situation, die diese Impulse steuern, akribisch erforscht, so dass sich der Film immer stärker einer Gleichsetzung von Mensch und Tier annähert, aber auch die Kongruenz von Raum und Käfig herausstellt. So sehen wir in einer Szene ein häusliches Drama zwischen dem Mann und der Frau, welche in der gemeinsamen Wohnung in einem Zimmer eingesperrt wird und dort durch die Unterbrechung des Fluchtimpulses zu der Ausweichhandlung bewegt wird, Gegenstände der Wohnungseinrichtung zu zertrümmern. Einige Momente später wird im Labor vorgeführt, wie eine Ratte auf einen unangenehmen elektrischen Reiz mit einem Fluchtreflex reagiert. Diese Angleichungen werden weiter getrieben: Die Szene wie Pierre seine Frau verlässt wird wenig später wiederholt, diesmal trägt Pierre allerdings einen Rattenkopf. (Abb. 3 und 4) In einer anderen Szene wird gezeigt, wie sich die Aggression der durch Stromschläge unter Druck gesetzten Ratten in einem Kampf äußert, worauf eine Szene folgt, in welcher der von Gerard Dépardieu verkörperte René mit seinem Konkurrenten auf dem Schreibtisch seines Büros kämpft und beide Rattenköpfe tragen. Abbildung 3: Pierre verlässt seine Frau
Quelle: Mon Oncle d’Amérique
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Abbildung 4: Wiederholung Pierre verlässt seine Frau
Quelle: Mon Oncle d’Amérique
Aber der Film besteht nicht allein aus dieser Gleichstellung von Welt und Labor. Vielmehr lässt sich durch die konsequente Parallelführung der Kommentare Laborits und der Vorführung seiner Experimente mit der Darstellung der Geschichte der Figuren das Alternieren zweier unabhängig funktionierender Raumkonfigurationen feststellen. Laborit konstituiert selbst einen Raum innerhalb des Films und kann nicht auf die Funktion einer Kommentierung reduziert werden. Was in diesem filmischen Experiment tatsächlich gezeigt wird, ist unsere Welt, sind wirkliche Räume, sind Situationen, in denen sich arbeitende und lebende Menschen wiederfinden, in denen sich aber auch Menschen in ihrer Nachbarschaft zur (und Empathie mit der) Kreatur zu begreifen vermögen. Es ist kein theoretischer Film, so Robert Benayoun, sondern ein physischer Film, über Essen, Objekte, Krankheiten, Körperfunktionen, die Meeresfauna einer Insel, über Wildschweine, Menschen mit Rattenköpfen (Benayoun 2002b: 262f) – kurzum ein realistischer Film, der genau versucht, die Welt zu erfassen und damit ein Wissen über die Welt schafft; es ist aber ein anderes Wissen als das, welches von dem Verhaltenstheoretiker vorgezeichnet wird. Der Film wird melodramatisch, indem er nicht das Gelingen des Experiments und der von ihm vermittelten Evidenz zeigt, sondern die Theatralität des Lebens – in manchen übertriebenen Akten der Figuren, aber auch in ihrem Leiden, in ihrem Kampf gegen das Schicksal der sie bestim-
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menden Handlungsimpulse und Bedingungen, denen sie hilflos ausgeliefert sind, aber denen gegenüber sie sich zu bewähren versuchen.
(2) ÄSTHETIK
DES
R AUMS
Kommen wir hier zum zweiten Punkt, der Gestalt dieser Räume oder der ästhetischen Kennzeichen seiner Konstruktion. In einem kritischen Roundtable zu dem Film MURIEL OU LE TEMPS D’UN RETOUR in den Cahiers du Cinéma, an dem unter anderem Jacques Rivette und JeanLuc Godard teilnehmen, wird betont, dass es sich um einen positiven, offenen Film handelt, der sich von den intellektuellen Experimenten Resnais in seinen beiden vorher gedrehten Filme unterscheide (Comolli u.a. 1963). Dies ist ein kleiner Hinweis darauf, dass sich MURIEL OU LE TEMPS D’UN RETOUR entgegen einer Vielzahl von Lesarten als unterhaltsamer, gar als ein komischer Film begreifen lässt. Es gibt eine Szene, die diese Komik einführt, eine von mehreren längeren Montagesequenzen, in denen vermeintlich jeder Zusammenhang verloren gegangen ist und die uns Handlungsschnipsel und Stadtansichten vorführt, unter anderem Alphonse in einer Bar, der über ein Witz lacht, junge Menschen auf Mopeds vor einer Bar, eine Marktfrau, diverse Straßenansichten, Reklamewagen, die durch die Straßen fahren, die Protagonisten auf dem Weg von einem Ort zum anderen. In einer dieser nur wenige Sekunden dauernden Einstellungen sehen wir einen uns unbekannten Mann, der eine der Passantinnen kurz angebunden und sichtlich desorientiert fragt: »Le Centre, s’il vous plaît?, worauf die Frau verwundert antwortet: »Vous y-êtes« (»Sie sind schon dort«). Diese beiläufige, aber wichtige Szene und nicht wie zuweilen behauptet die Amateuraufnahmen aus Algerien, die Bernard einem Freund zeigt, stellt das eigentliche Zentrum des Films dar. Sie zeigt das Anliegen, diesem Film eine Gestalt zu geben, als Abbild einer Stadt, die eben, wie so viele Städte dieser Welt, kein Zentrum hat und schwer zu repräsentieren ist. Diese Gestalt ist nicht unbedingt das Produkt einer Schließung, sondern auch einer Öffnung. Es ist ein offener Film, der mit jedem neuen Sehen mehr von seiner Gestalt enthüllt, mehr Ereignissen und mehr Personen, die beim ersten Sehen noch nicht zuzuordnen waren, eine Bedeutung gibt. Der Film habe, so Rivette, eine logische Struktur, wie ein Krimi (vgl. Comolli u.a.1963: 23). Das heißt, es gibt ein Ge-
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heimnis, auf das die Fragmente verweisen, die dezentrierten Bilder fügen sich tatsächlich am Ende zusammen und wir können fast jedem Bild eine Bedeutung zuschreiben, wir lernen mit jedem neuen Sehen, was Alphonse bei seinen scheinbar sinnlosen Touren durch die Stadt tatsächlich treibt, wie er versucht, sich ein Netzwerk aufzubauen und eine Arbeit zu ergattern. In diesem Sinne ist es kein fragmentierter Film, der sich auf Sinnentzug als Kommentar auf die Moderne reduziert. Es ist ein Film mit einer ästhetischen Geschlossenheit, die zugleich als Offenheit begriffen werden kann: Seine Gesamterfassung ist tatsächlich nicht das Produkt einer linearen Erzählung, die einen Handlungsraum erschließt und uns in einer Welt einsperrt, sondern sie entsteht durch eine Draufsicht auf den sich immer stärker enthüllenden Gesamtgegenstand, der am Ende auch eine Kartographie der Stadt ergibt. Allerdings ist diese Draufsicht etwas anderes als eine Topologie, sondern eher eine extreme Form von Topografie und Verortung von Elementen. Dieser Film, der so voller Anschlussfehler zu sein scheint, sucht tatsächlich immer wieder den Anschluss, versucht zu kommunizieren. Diese Offenheit akzentuiert sich auch in den Bauten selbst, in den großen Glasvitrinen der Bars und Cafés, die Nächtens so verheißungsvoll illuminiert sind. Benayoun spricht hier von der konkreten Realität, aber auch von den »vitrines aggressive« der verglasten Caféterrassen (Benayoun 2002a: 132). Es fällt leicht, diese modernistische Bauweise als leer zu begreifen oder ihr vorzuwerfen, Menschen einem Überwachungsblick von drinnen und draußen auszusetzen. Tatsächlich entfalten Glasvitrinen in diesem Film auch eine gewissen Schönheit und Sinnlichkeit, daher ist es nicht ganz gerecht, sie als aggressiv zu bezeichnen. Sie erlauben Durchsichten, sie machen den Film und die in ihnen erscheinenden Menschen verletzlich, nicht im Sinne von Überwachung, sondern im Sinne eines Wunsches nach Verbindung, Kommunikation und Sichtbarkeit für den Anderen. (Abb. 5) Bei Rohmer zeigt sich die Gestalt des Films in dem unverhohlenen Versuch der Konstruktion eines idealen Topos oder einer Idylle. Spätestens wenn wir das Paar beim Essen auf einem leeren Platz dieser neuen Stadt sehen, rätseln wir, ob Rohmer es wirklich ernst meint. (Abb. 6)
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Abbildung 5: Muriel ou le temps d’un retour, Durchsichten
Quelle: Muriel ou le temps d’un retour
Abbildung 6: L’Amie de mon ami, Essen an einem leeren Ort
Quelle: L’Amie de mon ami
In L’AMI DE MON AMIE bleibt undeutlich, ob Rohmer eine Idylle, Utopie oder die Parodie einer Idylle im Sinn hat, der Regisseur gibt jedoch zumindest für den Augenblick des Films dieser Stadt Form. Er kartographiert nicht nur diese Welt, er bestimmt nicht nur die Distanzen
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zwischen Paris und Cergy, sondern er nutzt diese Welt für eine Darstellung, in dem sich das Kernstück seiner Ästhetik – zeigen wie jemand von A nach B gelangt – gleichsam auf diesem engen Raum verdichtet und den ständigen Übertritt in andere Welten erlaubt. Diese Übertritte werden für kleine transzendentale Momente der Verklärung des Alltäglichen genutzt. »Spiritualität mit einer soziologischen Grundlage« (White 1996: 18), so bezeichnet der amerikanische Filmkritiker Armond White die romantischen Komödien Rohmers und tatsächlich pendeln diese Filme immer wieder zwischen transzendenten und alltäglichen Momenten hin und her, zeigen uns, wie die Welt aussieht, aber auch, wie wir aus ihr hinausgelangen. So wird sehr detailliert gezeigt, wie Blanche und Fabien aus der Trabantenstadt, über die wüsten und kahlen neuen Parkflächen zu einem Aussichtspunkt, von diesem zum Ufer der Oise gehen und dort eine Mauer überqueren, um zu einem geheimen Ort, einer Lichtung in einem lichtdurchfluteten Wald zu gelangen. Dort schweift der Blick der Heldin über die Baumwipfel und in den Himmel, sie wird überwältigt von dem Moment und bricht in Tränen aus. Diese kleinen Momente einer trivialen Alltagstranszendenz gibt es auch in anderen Film Rohmers, so etwa in LE RAYON VERT (1986), in dem die Heldin an einer ähnlichen offenen Stelle in der Landschaft von Gefühlen überwältigt wird. MON ONCLE D’AMÉRIQUE führt sein Gestaltwerden noch deutlicher als MURIEL OU LE TEMPS D’UN RETOUR vor. Auch hier handelt es sich um eine sehr sorgfältig entwickelte Draufsicht. Der Film lässt sich nicht nur als eine zunächst vom Laborexperiment ausgehende Kartographierung von Räumen und Situationen begreifen, die zu einer Erkundung der Wirklichkeit und des Alltags hinführt, er klärt uns am Ende auch selbst darüber auf, um was es sich bei dem Mosaik handelt, das am Anfang des Films teilweise zu sehen ist und am Ende im Ganzen gezeigt wird. (Abb. 7)
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Abbildung 7: Mon Oncle d’Amérique, Der ganze Film
Quelle: Mon Oncle d’Amérique
Nach dem Selbstmordversuch scheint René, ein frühes Opfer von Restrukturierung und neuer Ökonomie, nicht nur aus dem Koma, sondern auch aus diesem filmischen Experiment zu erwachen. In diesem Moment fährt der Film noch einmal alle seine Eigentümlichkeiten auf, er zeigt ein desorientiertes Wildschwein im Todeskampf, die sich streitenden und schlagenden Janine und Pierre, die surrealistischen und alltäglichen Objekte wie ein altes Fahrrad oder eine Kastanie, die immer wieder in den Filmmontagen vorgeführt werden, die Frau von René, die ihren überlebenden Mann liebevoll umarmt, eine Ratte, die durch ihren Käfig läuft, deren Einrichtung detailgetreu der Wohnung von Pierre und Janine nachempfunden ist, und ein letzter Kommentar des Verhaltensforschers Laborit. Im Anschluss daran werden auch wir von den zum Teil beängstigenden Visionen dieses Films erlöst, indem wir ein Bild des ganzen Films zu sehen bekommen. Auch dieses Bild erlaubt eine Draufsicht, die Möglichkeit, den Film als Ganzes zu erfassen, seine Gestalt zu erkennen und den Fragmenten, in die der Film zu zerfallen scheint, zusammenzufügen. Dies mag man diagrammatisch nennen (siehe den Beitrag von Daniela Wentz im selben Band), aber mir prägt es sich vor allem als ein Moment ein, der nicht nur ein Wissen von dieser Welt schafft, sondern uns auch den ästhetischen und befreienden Genuss einer spezifischen Objektqualität, die sich der Film erarbeitet hat, bietet.
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(3) ALLTAG
UND
R AUM
Der letzte Punkt bezieht sich auf den Aspekt der Alltäglichkeit. Bei Rohmer und L’AMI DE MON AMIE gibt es nicht nur eine ironische und rührende, durchsichtige Konstruktion einer Idylle oder Utopie, es handelt sich um eine sehr subtile Form der Verklärung des Gewöhnlichen, die einen Moment der Alltagstranszendenz einführt, der nur auf dem Terrain des Gewöhnlichen selbst möglich ist. Bei Rohmer gibt es immer wieder Momente dieser Alltagstranszendenz, die seiner Auffassung folgen, dass Film uns nicht von der Welt ablenken, sondern Bewunderung für die Welt schaffen solle (in Bonitzer u.a. 1981, S. 70f). Rohmers L’AMI DE MON AMIE und Resnais MURIEL OU LE TEMPS D’UN RETOUR verbindet auch das Interesse an einer bestimmten Form der Bewegung. Das Gehen in der Stadt, das nach de Certeau die Umwandlung eines von Macht besetzten Raumes in einen von Menschen besessenen Raum gestattet, ist der Aggregatzustand dieser Filme (vgl. de Certeau 1999). Das Gehen als ein Verfehlen des Ortes, wie es de Certeau bezeichnet (ebd.: 280), vollzieht sich als vergebliche Bewegung, ziellos, keiner räumlicher Ordnung untergeordnet, ein Gehen um des Gehens willen, das in MURIEL OU LE TEMPS D’UN RETOUR zwar auch auf die Orientierungslosigkeit der Figuren verweisen soll, aber ebenso seine eigene Schönheit besitzt, indem es uns Ansichten der Stadt liefert. In L’AMI DE MON AMIE verweist das Gehen geradezu mustergültig auf jenen Kontrast zwischen dem Raum der Sprache und den durch das Gehen hervorgebrachten Ort der Äußerung (ebd.: 274), auf die Aneignung und Flexion dieses Raumes durch die konkreten Bewegungen der Figuren, die ihm Sinn geben, indem sie äußerst akkurat vorführen, dass sie hier von A nach B kommen können. Es ist eine banale Form der Aneignung, aber gerade diese Genauigkeit verweist auf den ästhetischen Mehrwert dieser Bewegungen, denn die meisten Filme verzichten darauf, diese Bewegungen vorzuführen. Bei vielen Filmen handelt es sich immer um einen symbolischen, vom Film geschaffenen Raum, der nur lose durch Reminiszenzen an den ›wirklichen‹ Raum zurück gebunden wird. Film hat die Neigung dazu, unsere Gebundenheit an den Raum zu verleugnen, uns von der Welt abzulenken, Rohmer und Resnais führen uns zurück zu ihr. Ein anderer Aspekt verdeutlicht ein Motiv des Gewöhnlichen bei Resnais. Benayoun spricht von der Verwandtschaft zum Surrealismus in dessen Filmen, bei dem das Alltägliche selbst zur Quelle des Fantas-
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tischen wird (Benayoun 2002b: 269). Auch Susan Sontag bemerkt in ihrer Lesart von MURIEL OU LE TEMPS D’UN RETOUR die Verknüpfung des Banalen, die Collage von Objekten und Stadtansichten, mit dem Verborgenen und Unsagbaren (Sontag 1964: 263). Dies verweist auch auf den Begriff der photogénie, der das Vermögen von Film bezeichnet, allen Gegenständen des Films durch Versetzung eine Seele zu geben (Epstein 1974: 137). Der Filmphilosoph Stanley Cavell beschäftigt sich mit diesem Aspekt im Zusammenhang mit Buster Keaton, in dessen Filmen die Gleichrangigkeit von Objekten und Menschen vorgeführt werde und in denen sich Keaton geschickt und geduldig der »Wettheil der Welt« aussetzt (Cavell 2005: 101). Auch die Zusammenfügungen von Objekten in MURIEL OU LE TEMPS D’UN RETOUR und MON ONCLE D’AMÉRIQUE müssen nicht als Illustrationen einer von Konsum und Fragmentierung bestimmten Weltauffassung verstanden werden, sondern führen uns diese Gleichrangigkeit von Mensch, Welt, Objekt und Tier und damit unsere Gebundenheit an das Alltägliche vor. Comolli spricht von einem Realismus der Sättigung bei Resnais. Wir absorbieren eine mit Gegenständen angefüllte Welt, die für uns durch ihre Nähe unsichtbar geworden war, uns hier aber wieder vor Augen geführt wird (Comolli u.a. 1963: 27).
S CHLUSS : T OPOGRAPHIE
UND
T OPOLOGIE
Kehren wir noch einmal zum Ausgangspunkt der Überlegungen zurück, zu Deleuzes Beschreibung von Resnais als einem Regisseur, mit dem der Film in eine topologische Ordnung übertrete. Auch Sarah Leperchey versucht in ihrer kleinen Studie im Anschluss an Deleuze die Topologie als besondere Raumqualität im Kino von Resnais herauszustellen und besonders in MURIEL OU LES TEMPS D’UN RETOUR eine neue filmische Struktur zu erfassen, die auf einen veränderten Anspruch in der Moderne reagiert (Leperchey 2000: 9). Topologie bezeichnet hier eine Ordnung der Relationalität, der Nachbarschaft, des Kontinuums, der Liminalität, einer neuen Zeitlichkeit, eines parallelen Existierens zweier Räume und Geschichten (ebd.: 17). Es geht, um es etwas anschaulicher zu sagen, um eine nicht linear inszenierte räumliche Ordnung und Struktur, der die filmische Welt unterworfen wird. Diese Aspekte treffen tatsächlich auf die beiden hier vorgestellten Filme von Resnais zu. Seinen Filmen liegt, so François Thomas, immer eine ›dé-
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coupage‹ zugrunde, das heißt, dass ein schon vor dem Drehen des Films dargelegtes Konzept vorherbestimmt, wie die einzelnen Szenen geschnitten werden, unabhängig von den Wegen, die die Figuren gehen, oder den Zeiten, in denen sich die Handlung entfaltet und auch im Unterschied zur Montage, die mit bereits gedrehten Material assoziativ umgeht (Thomas 1992: 12). Von daher drängt sich immer eine von außen bestimmte Ordnung den Bildern des Films auf. Aber diese Ordnung bedeutet nicht, dass die Wirklichkeit verdrängt wird oder dass es keinen Realismus gibt. Deleuze selbst ist hier etwas widersprüchlich, wenn er herausstellt, dass dieses Kino von einer Kartographie dieser Welt besessen sei, allen Charakteren in der genauen Nachzeichnung einer fiktiven Biografie gleichsam ihren Ort in der Welt des Films zuweise und ihre Wege in dieser Welt genau nachzeichne (Deleuze 1985: 158). In diesem Sinne ist das Motiv der Topographie gerade bei Resnais besonders stark, handelt es sich hier um einen Regisseur, der beispielsweise versucht, die Raumkoordinaten eines vorfilmischen Raums besonders genau zu erfassen. Daher muss auch der Ansicht widersprochen werden, die Deleuze in L’image mouvement zitiert, dass das Kino von Resnais kein Instrument zur Repräsentation der Wirklichkeit darstelle, sondern ausschließlich die psychologischen Funktionen wiedergebe (ebd.: 159). Deleuze selbst betont, dass es einen besonderen Bezug zur Wirklichkeit gibt: Resnais beziehe sich immer auch auf das Reale – er bestehe darauf, dass etwas geschehen sein müsse, letztes Jahr in Marienbad (ebd.: 136). Trotzdem will Deleuze die Ansichten und Objekte, die vor allem in MURIEL OU LE TEMPS D’UN RETOUR und MON ONCLE D’AMÉRIQUE eine so wichtige Rolle spielen, nur auf ihre symbolische Funktion zur Wiedergabe der mentalen Zustände seiner Protagonisten reduzieren (ebd.: 159). Dieser Widerspruch rührt daher, dass sich die symbolische Dimension der Darstellung in diesen Filmen natürlich aufdrängt, allerdings dabei nicht der Umweg vergessen werden darf, den die Filme Resnais über das Konkrete und Sinnliche nehmen. Beide Areale bestehen parallel zu einander, die Filme werden zu Kippbildern, die einmal nur auf die Realität und ein anderes Mal nur auf das Symbolische verweisen. Resnais, so Susan Sontag, gebe sein Material in MURIEL OU LES TEMPS D’UN RETOUR in der Form eines Wechselspiels zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten wieder (Sontag 1964: 239). Natürlich handelt es sich dabei noch immer um Filme mit einer eigenwilligen und eigenständigen Raumkonfiguration. Aber diese Raumkonfiguration muss heute nicht mehr als eine Ver-
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arbeitung der Erfahrungen der Moderne herausgestellt werden, weil dadurch ein falscher Akzent ins Spiel kommt. Denn diese eigenständigen Raumkonfigurationen sind im heutigen Kino und Fernsehen allgegenwärtig. Die Struktur der Serie und des Segments im Fernsehen etabliert eine alternierende Erzählweise, die tatsächlich auch viele Übereinstimmungen mit den Erzählformen von Resnais in seinen frühen Filmen hat. Auch das Kino orientiert sich an diesen Verfahren in Multicharakter-Filmen wie etwa BABEL von Alejandro González Iñárritu (2006), der in seinen seriellen Verknüpfungen von Segmenten suggeriert, einer weltumspannenden Fama nachzuspüren. Im Vergleich mit diesem und anderen Filmen, denen tatsächlich jeder ›sense of place‹ fehlt und die Soziologie mit Pathos ersetzen, erscheinen die Filme von Resnais in ihrem Widerspiel zwischen dem Konkreten und Abstrakten als extrem verortet. Aus diesem Grund hat man nach der Sichtung dieser Filme, aus heutiger Sicht, nicht das Gefühl, dass Raum zerstört wird, sondern ein von vielen Filmen willkürlich und ohne Not verdrängter Raum wiedergefunden wird. Daher muss auch das Urteil über die raumzerstörerischen Anliegen dieser Filme revidiert werden. Aus einem ähnlichen Grund verdienen auch die Filme Rohmers eine Relektüre. Sie sind ein Antidot gegenüber Filmen oder Fernsehserien, die bewusst einen Topos rekonstruieren, was etwa in den ironisch gebrochenen Vorstadtidyllen einer Serie wie DESPERATE HOUSEWIVES oder einer Komödie wie AMERICAN BEAUTY (1999) deutlich wird – letztendlich ästhetische Konstruktionen, die sich konsequent um wenige Zentimeter an der Realität vorbei bewegen und ihre Zuschauer ohne Sinn für einen Ort zurücklassen, gleichzeitig aber so tun, als repräsentierten sie bestimmte Lebensformen, die es tatsächlich nicht gibt. Der Zuschauer wird habitualisiert für diese aufwendigen ästhetischen Konstruktionen, die ihm die Illusion einer verschobenen Wirklichkeitsrepräsentation gönnen. Rohmers Realismus mit einer soziologischen Basis, der die Bewohnbarkeit und Transzendenz dieser Welt herausstellen will, ist auch radikaler als die überaufgeregte Dokumentation eines sich im Ausnahmezustand befindlichen Alltags mit einer Wackelkamera, wie in den Dogmafilmen oder in den beeindruckenden Filmen der Dardenne-Brüder wie ROSETTA (1999) oder L’ENFANT (2005). Um Interesse für die Welt und den Wunsch, diese zu verstehen, wecken zu wollen, bedarf es auch eines Realismus, der den Alltag nicht melodramatisiert. Und während in den Filmen der Berliner Schu-
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le mit den langen Einstellungen immer etwas zu ostentativ auch eine Leere des Daseins korrespondieren muss, gibt es bei Rohmer und Resnais die Sinnlichkeit des Alltags selbst, die diese Leere etwas auszufüllen vermag. In allen genannten Filmen sehe ich, in unterschiedlichem Maße, ein Moment der Verleugnung des Alltäglichen und eine Verkennung des Raumes, in dem wir leben, die von Resnais und Rohmer vermieden wird. Diese Filme verdienen aber auch (meine) Aufmerksamkeit, weil sie mich interessieren und weil ihre Rezeption die Gewissheiten, die in der Beschreibung dieser Filme zu finden sind, hintertreiben. L’AMI DE MON AMIE ringt mir für einen kurzen Moment den Wunsch ab, in dieser Trabantenstadt leben zu wollen. MON ONCLE D’AMÉRIQUE berührt als überaus gelungenes Melodrama, das das Labor überlagert. Das Betrachten von MURIEL OU LE TEMPS D’UN RETOUR, der uns scheinbar so überdeutlich eine zerstörte Stadt und ein zerstörtes Leben vorführt, lässt mich mit dem lebendigen Bild einer Stadt zurück, die mir in ihrem sinnlichen Nachhall alles andere als derangiert erscheint. Damit ist aber auch ein eigenartiges, ein persönliches Vergnügen verbunden. Der Film wird für mein Auge zu einem dokumentarischen Film, der mir die vergangene Welt des 1960er Jahre-Modernismus meiner Kindheit vorführt, deren Reste in den 1970er Jahren noch sichtbar waren. Die offenen Vitrinen und die Permeabilität dieser Welt der Durchsichten offenbart sich auch als Erinnerung an die Versprechen eines um Vermittlung und Übergänge bemühten Projekts der Moderne, das leider gescheitert ist, aber für den Moment dieser Filme neu erstehen darf.
L ITERATUR Benayoun, Robert (2002a) : »Muriel ou les rendez-vous manqués«, in : Stephane Goudet (Hg.) : Positif, revue de cinéma. Alain Resnais, Paris : Gallimard, S. 130-142. — (2002b) »Le retour au pays natal«, in: Stephane Goudet (Hg.), Positif, revue de cinéma. Alain Resnais, Paris: Gallimard, S. 260-274. Pascal Bonitzer (1991): Eric Rohmer, Paris: Edition du Soleil/Cahiers du Cinéma.
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Räume des Denunzierens Metaperzeptive und metafilmische Verfahren im Spielfilm über den Nationalsozialismus S IGRID N IEBERLE
Denunziation ist eine spezifische, überaus unsichere Form von Wissensgenerierung und Wissensvermittlung, die zwischen Institution und Bürger/innen kommuniziert wird. Historisch variable Techniken der Denunziation werfen Fragen nach Legitimation, Plausibilität und ethischen Aspekten solchen Handelns auf. Auf dem Spiel stehen dabei Ermächtigungsstrategien (wer wen denunziert), Prozesse der Anerkennung (durch die Institution und das Individuum), des Zweifels an der Motivation (Bürgerpflicht vs. Vorteilsnahme) sowie der Plausibilität (Mutmaßungen vs. Tatsachen). Dabei entsteht eine Deutungskette, die vermeintliche Zusammenhänge zwischen Handlung, Movens und Telos für den Denunzierten, Denunzierenden und Adressierten herstellt. Solche Dispositive institutioneller Wissenserzeugung werden in und mittels Medien konstituiert, die wiederum Räume der Denunziation generieren. Sie verorten den performativen Akt des ›Anschwärzens‹ und konstituieren ihn gleichermaßen. Wie sich diese Räume des Denunzierens im Spielfilm über den Nationalsozialismus darstellen, gilt es im vorliegenden Beitrag zu untersuchen.
D AS
METAMEDIALE
D ISPOSITIV
Andreas Paul Webers Lithographie Der Denunziant (Abb. 1) diente im Februar 2010 einem Artikel Willi Winklers zu den »Freuden der De-
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nunziation« lediglich als Illustration (Winkler, SZ, 13./14.2.2010). Die Bildunterschrift führte die Leserinnen und Leser in die Irre, denn als Datierung wird das Jahr einer nachträglichen lithographischen Fassung angeführt: 1961. Tatsächlich stammt die Zeichnung, nach der 1947 und 1961 zwei verschiedene und später häufig reproduzierte Lithographien gefertigt wurden, bereits aus den Jahren 1931/32, als sich der Karikaturist und spätere erfolgreiche Illustrator bereits im künstlerischen Widerstand gegen die erstarkenden Nationalsozialisten engagierte. Was bei einer Interpretation mit einem vermeintlichen Entstehungsjahr 1961 als irritierend, ja verstörend erscheinen muss, sind die an die ikonographischen Traditionen des Golems sowie des schnüffelnden, lauschenden, spähenden Homunculus anklingenden Gestaltungszitate. Der verschlagene Mitbürger mit seinen übergroßen Sinnesorganen kann in den frühen 1930er Jahren als mutige Parodie antisemitischer nationalsozialistischer Propaganda verstanden werden; für die 1960er Jahre derart ungebrochene Darstellungstraditionen anzunehmen, erzeugt zumindest Erklärungsbedarf, vom dem wiederum Winklers Artikel profitieren dürfte, der trotz schlechter Recherche und mangelnder Historisierung damit möglicherweise die Aufmerksamkeit der Leser auf sich zieht. Abbildung 1: Andreas Paul Weber: Der Denunziant (1931/32)
Quelle: Archiv für Kunst und Geschichte (akg-images)
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Wichtig bleibt an diesem Beispiel festzuhalten, dass zwar die Bildunterschrift die geschaute Figur als »Denunzianten« betitelt, aber weder deren Handeln noch ihre räumliche Situierung zweifelsfrei der Praxis des Denunzierens zugeschrieben werden können. Zu sehen ist nicht der Akt der Anzeige bei einer öffentlichen Institution und deren Vertreter,1 sondern das, was diesem Akt vorausgehen muss: das Sammeln von Informationen, die Nachbarn, Kolleginnen oder Freunde gar nichts angehen. Es ist insbesondere dieser Missbrauch des Zugangs zur Individualsphäre – sei sie beruflich, familiär oder wie auch immer definiert –, der moralische Zweifel an der Denunziation weckt und Empörung hervorruft. Mit dem zweiten und dritten Blick auf diese Zeichnung wird jedoch deutlich, dass nicht einmal dies zu sehen gegeben wird: Die Augen starren begierig ins Leere, das Ohr lauscht am Schlüsselloch. Die Figur, die wir vermeintlich bei der Beobachtung beobachten, schaut nichts Relevantes. Deshalb ist davon auszugehen, dass für die Semantisierung zum einen die räumliche Konstellation der Figur sowie zum anderen das Verfahren der medialen Metaisierung konstitutiv sind: Der Blick auf den Blick, der aus einer spezifischen raum-zeitlichen Indizierung entsteht. Bei dieser Zeichnung steht diesbezüglich das metaperzeptive Moment im Vordergrund.2 Ein Individuum hängt mit dem Ohr an einem Schlüsselloch und notiert zugleich das Gehörte. Der Zettel, der Brief, das Gesprächsprotokoll – das sind die Medien der Denunziation, die zu diesem Dispositiv unbedingt dazugehören. An dem bereits zitierten Artikel Winklers scheint ebenso problematisch wie an dessen Illustration seine generalisierende und pauscha-
1
Ganz anders beispielsweise The Denunciation, or A Woman Swearing a Child to a Grave Citizen von William Hogarth (1792), wo sehr wohl zwischen Vertretern der Institution und den bezichtigenden Figuren unterschieden werden kann (vgl. hierzu Paulson 1991, 215ff.).
2
Zu unterscheiden ist zwischen der Metamedialität, die Gattung/Genre selbst zum Gegenstand der Erzählung und Reflexion erhebt (z.B. mit Erzählungen über Film im Film, kanonisch SUNSET BOULEVARD oder Fellinis 81/2), und der Metaperzeptivität, die Diskurs und Modus des jeweiligen Mediums ausstellt, indem audiovisuelle Wahrnehmung als Voraussetzung für filmische Rezeption zur Disposition steht – etwa das Spähen, Lauschen, Beobachten etc. (kanonisch Hitchcocks REAR WINDOW); vgl. Hauthal u.a. 2007: 5ff.; Loquai 1999; Nöth/Bishara 2007; Schäfer 1985.
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lisierende Perspektive auf das Phänomen der Denunziation zu sein, die von apodiktischen Aussagen zur Figur des Denunzianten unterstrichen wird. Der Artikel führt vor Augen, was in der illustrierenden Karikatur nicht zu sehen ist: Der Denunziant nämlich sei – so Winkler – »ein Mitbürger wie du und ich, ein Kollege, ein Freund. Er missbraucht das Vertrauen anderer, aber nicht, weil er aufs Heldentum spitzt, sondern um schlichter materieller Vorteile willen. Er ist der Mann der Stunde – glanzlos und bestimmt kein Held.« (Ebd.: 1)
Denunziation wird hingegen nicht ausschließlich von Männern begangen und ist nicht ausschließlich materiell motiviert; Geltungssucht oder Rache spielen dabei ebenfalls eine beträchtliche Rolle. Dies lehrt die Geschichte der Denunziation, die vor dem Hintergrund von brisanten Steuerdaten-CDs oder speziell eingerichteten, türkischsprachigen Hotlines des terrorfahndenden Bundesnachrichtendienstes derzeit erneut als männlich dominiertes und wirtschaftlich relevantes Betätigungsfeld besetzt werden soll. Indessen kann Denunziation als ein mittlerweile recht gut untersuchter, bis auf die römische Antike zurückreichender Akt des religiösen und säkularen bürgerlichen Anzeigewillens gelten, der sich für vielfältige Konstellationen, Praktiken, Motivationen rekonstruieren lässt und seit Ende des 18. Jahrhunderts einer fortschreitenden Pejoration unterzogen wurde (Koch 2006; Ross/Landwehr 2000). Während bisweilen die Anzeigepflicht den staatsbürgerlichen Vorteil des Denunzierens propagiert und Bringschuld am Kollektiv einklagt, steht der Verrat des Einzelnen durch den Einzelnen an Staat, Kirche und andere öffentliche Einrichtungen als ethisches Problem im Vordergrund der Bewertung. Während sich Denunziant und Denunziantin als Individuen die ihnen nötig erscheinende Anerkennung bei den Institutionen erwerben, handeln Spion und Verräter für Kollektive gegen andere Kollektive. Obgleich Judas häufig als Präfiguration des Denunzianten genannt wird, hat er doch vielmehr Verrat an Jesus und den Jüngern begangen (Horn 2007, 9ff.). Hier scharf zu trennen, ist jedoch aufgrund unterschiedlicher Betrachtungswinkel und Erkenntnisinteressen schier unmöglich. In aller Knappheit ist deshalb diesbezüglich nur vorauszuschicken, welche Auffassung von Denunziation den folgenden Filminterpretationen zugrunde liegt:
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• a) Denunziation ist ein Kommunikationsakt zwischen Individuum
und Institution, nicht zwischen zwei Kommunikatoren auf gleicher soziostruktureller Ebene. Behauptungen werden an einer autorisierten Stelle überprüft, ob sie – im Sinne der Institution – berechtigt sind. Diese Berechtigung hängt vom Status der/des Denunzierenden ab: Wird die Denunziation als berechtigt erachtet, geht damit die institutionelle Anerkennung des Sprechenden einher. Man könnte also behaupten, dass Denunziation eine invertierte Politik der Anerkennung ist. Diese trägt zur Konstitution des bürgerlichen Subjekts mit seinen ethischen Pflichten und Rechten bei (Honneth 1992; Ricœur 2006). • b) Denunziation ist ein performativer Sprechakt, der aufgrund dieser Kategorisierung nicht wahr oder falsch sein kann, sondern glückt oder missglückt. Auch wenn sich eine Denunziation als unberechtigt herausstellte – sich also als falsch im Sinne eines überprüfbaren, gesicherten Wissen erwiese –, so ist doch der Sprechakt längst geschehen (Wirth 2002). Obwohl möglicherweise weder negative Folgen für den/die Bezichtigten noch positive Auswirkungen auf die Gemeinschaft entstehen, hat der Sprechakt zumeist mit entsprechender Aktendokumentation stattgehabt. Hat die Denunziation soziale und juristische Folgen gezeigt, reicht das Spektrum vom Rufmord und der Strafverfolgung bis hin zur Todesstrafe. • c) Der Akt der Denunziation beansprucht, Wissen zu vermitteln und in politisches Handeln transformieren zu können. Nun gibt es gute Gründe zu behaupten, dass künstlerische, literarische und filmische Erzählungen von Denunziation gerade diese Aspekte anzweifeln und sich anstatt bzw. noch über der adressierten Institution als Instanz der Überprüfung installieren. Es wird eine Form des Nicht-Wissens im Sinne eines unsicheren Wissens verhandelt. Denunziation antizipiert lediglich die Handlungsgrundlage für die Sanktionierung von vermeintlichem sozialem Fehlverhalten. Gerade weil das Richtig/Falsch, Gute/Böse, Wahrheit/Lüge, Vorsicht/Verleum-dung in diesem Diskurs frappierend nah beieinander liegen, wird bereits der Verdacht des Fehlverhaltens auf den Akt der Anzeige selbst projiziert: Es könnte eben doch ›etwas dran sein‹, wenn jemand denunziert wird. Wie das Gerücht, dessen Sprechakte ebenfalls mit Macht den Betroffenen anhängen, ist Denunziation nicht leicht aus der symbolischen Welt zu schaffen.
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Auch und gerade im Spielfilm über den Nationalsozialismus spielen die Raumkonstellationen sowie die Medien der Denunziation eine größere Rolle als der Akt des Denunzierens selbst. Ja, sie ersetzen sie sogar allenthalben. Deshalb kann gelten, dass die Kommunikation zwischen Staat und Individuum, wenn es um Denunziation und Verrat geht, stets als metamediale Inszenierung gezeigt und erzählt werden kann. Was mit sexuellem Voyeurismus vermengt wird – der besagte Blick durchs Schlüsselloch –, ist im Grunde eine kulturelle Praxis des Ausblendens und gerade nicht des Fokussierens. Es ist die Situierung des Subjekts im metamedialen Dispositiv, die spezifische räumliche Wahrnehmung und spezifische Diskurse erst ermöglicht. Während das Schlüsselloch traditionell mit dem Sexualitätsdiskurs verbunden ist, haben z.B. erst die Nationalsozialisten mit einer Verordnung vom September 1939 das Belauschen der nachbarlichen Wohnungswände installiert, das die Denunziation einer politischen Straftat wie das Hören von »Feindsendern« produzierte. Ebenso verhält es sich mit dem Ausspionieren von strafrechtlich relevanter Sexualität nach den sogenannten Nürnberger Gesetzen. Der Blick durch das Schlüsselloch ermöglicht deshalb nicht bloß Einsicht in verborgene Räume, sondern generiert diese Räume zuallererst. Es handelt sich um alltägliche Beobachtungen, die überhaupt nur bemerkenswert oder sogar aufregend sind, weil sie durch ein Schlüsselloch wahrgenommen werden; dieser mediale Einsatz gehört damit zu den Räume konstituierenden Handlungen.3 Insofern lässt das Dispositiv folgenden Umkehrschluss zu: Erst über die Medien und ihre Nutzung entstehen die Räume um sie herum. Der Blick durch das Schlüsselloch produziert ein Davor und Dahinter relational zu dieser liminalen Öffnung, die sowohl ein- als auch ausschließt. Dieses Davor und Dahinter kann nun wiederum besonders effektiv in Theater und Kino als Dispositiv der Selbstbeobachtung reflektiert werden, weil diese Institutionen über jene vierte Wand aus der Schwelle zwischen intra- und extradiegetischer Welt verfügen, die für die Illusionserzeugung und für die Illusionsbrechung gleichermaßen produktiv ist (Paech 2009: 143). Kaum überraschend mag sein, dass sich das denunziatorische Dispositiv der Loyalität und Wachsamkeit sowie das Dispositiv der Se-
3
Dass Räume nicht ›sind‹ und schlicht erfunden bzw. vorgefunden, sondern durch Handeln erzeugt werden, gehört mittlerweile zu den Grundlagen kulturwissenschaftlicher Forschung (vgl. Löw 2004).
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xualität zumeist überlagern. In ihrer Mehrfachcodierung verknüpfen sie beide Macht, Begehren Lust und Wissen intrikat miteinander. Für Foucault können Lust und Wissen nicht getrennt betrachtet werden, wie er in Der Wille zum Wissen schreibt: »So als sei es wesentlich für uns, aus diesem kleinen Bruchstück unser selbst nicht nur Lust, sondern auch Wissen zu ziehen und ein subtiles Spiel, das von einen zum anderen geht: Wissen von der Lust, Lust, die Lust zu wissen, LustWissen; und als habe dieses wunderliche Tier, das wir beherbergen, seinerseits ein genügend neugieriges Ohr, genügend wachsame Augen, eine so flinke Zunge und einen so gewandten Geist, daß es viel davon weiß und auch zu sagen imstande, reizt man es nur mit ein wenig Geschick.« (Foucault 1977: 97)
D REI F ILME ÜBER D ENUNZIATION IM N ATIONALSOZIALISMUS Eine Liebe in Deutschland (Andrzej Wajda, BRD/F 1983) Basierend auf dem gleichnamigen dokumentarischen Roman Rolf Hochhuths aus dem Jahr 1978, erzählt der Spielfilm EINE LIEBE IN DEUTSCHLAND von einer Liebesbeziehung zwischen einer deutschen Soldatenehefrau und einem polnischen Kriegsgefangenen. Mit seiner Erzählkonstruktion auf zwei Zeitschienen folgt der Film ebenfalls der Romanvorlage, wonach der erwachsene Sohn der Gemüsehändlerin Pauline Kropp mit seinem Sohn in den siebziger Jahren nach Brombach im südlichen Schwarzwald fährt, um die Geschichte seiner Mutter und den 1941 durch den Strang ermordeten Stanislaw Zasada zu recherchieren. Diese Beziehung wurde überhaupt erst öffentlich, weil Paulines Nachbarin – ebenfalls Soldatenfrau – danach trachtete, deren Gemüse- und Obstladen zu übernehmen. Auf welchem Weg allerdings der Liebesbrief Paulines an Stanislaw in die Hände des SSUntersturmführers Mayer gelangte, der für die investigative Behörde handelte, bleibt ungeklärt. Zwar lässt Elsbeth Schnittgens als ehemalige Buchhalterin und Freundin Paulines noch etwa 30 Jahre später von ihrem Anwalt erklären, dass sie den Brief aushändigen musste, weil die Frauen aus dem Dorf von der Liebesgeschichte geklatscht und Pauline verraten hätten. Auch hatte sich die Nachbarin Maria Wyler ihrem
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Ehemann gegenüber dahingehend geäußert, dass sie eine Denunziation Paulines sehr geschickt und indirekt anstellen würde, also keinesfalls selbst Anzeige erstatten würde. Weil aber Elsbeth Schnittgens ebenfalls erklären lässt, dass sie keinerlei freundschaftliche, sondern rein geschäftliche Beziehungen zu Pauline gepflegt habe, ist die naive Annahme einer historischen ›Wahrheit‹, die der Film rekonstruieren könne, ohnehin kontaminiert. Denunziation folgt in dieser Erzählung aus einer erotischen Konkurrenz zwischen Pauline Kropp und Mara Wyler sowie aus deren gegenseitiger Beobachtung durch die nachbarlichen Schlafzimmerfenster. Die Filmversion legt sogar nahe – anders als Hochhuths Roman –, dass Pauline Maria mit ihrem Ehemann, der nur für ein paar Tage Fronturlaub erhalten hat, im Ehebett beobachtet und davon so erregt wird, dass sie nach dem polnischen Kriegsgefangenen läuft, der wiederum Pauline durch Türspalten und Fenster beobachtet (00:23:20-00:26:55). Gemäß der raumsemantischen Konvention der siebziger Jahre können die Innenräume mit dem ›Innenleben‹ der Figuren metaphorisch verknüpft werden (Großklaus 1995: 161ff.). Die voyeuristische Perspektive, die dann entsprechend die innersten fremden und eigenen Wünsche umfasst, provoziert erst später die Umdeutung in einen juristischen Straftatbestand, mit dem die Bewohner des Dorfes Brombach und auch der SS-Untersturmführer Mayer unterschiedlich streng umgehen. Die neuen Gesetze werden nur dann buchstabengetreu ausgelegt, wenn es dem eigenen finanziellen und sozialen Vorteil gereicht. Weil dieser und auch die anderen beiden Filmbeispiele auf historischen Tatsachen beruhen und für das Kino entsprechend fiktionalisiert und narrativiert wurden, spielen Aktenmaterial – Protokolle, Anklageund Verteidigungsschriften, Urteile, Briefe, Zettel – eine wichtige Rolle für die filmische Inszenierung. Jeder dieser Filme streicht sowohl die bürokratischen Aspekte der Denunziation heraus als auch die nötige mediale Transformation von der Beobachtung hin zur aktenrelevanten Verschriftlichung. In diesem Film ist es der Brief als metonymisches Medium, das hier den Informationsfluss garantiert: von Pauline an Stanislaw, von Elsbeth zum Unterscharführer Mayer. Die metaperzeptiven Aspekte des Beobachtens und Spähens gehören in diesem Film deutlich zum sexuell-voyeuristischen Diskurs; erst im Zuge der Umadressierung des Briefs an den falschen/richtigen Empfänger entsteht eine politisch relevante Straftat. Die Kette der Umadressierung wird im metanarrativen Modus qua Substitution realisiert, denn Els-
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beth verabschiedet Maria, damit sie dann nur in Gegenwart des Publikums den Brief Paulines laut vorliest (00:58:30-01:00:00). Auf diese Weise werden das denunziatorische und das sexuelle Dispositiv im Erzählprozess zunächst weitgehend getrennt gehalten und erst in der Briefsequenz mittels metaperzeptiver und metanarrativer Mittel reflektiert. Wie und wann genau die beiden Dispositive dann ineinander fallen, nämlich wenn der SS-Untersturmführer den Liebesbrief Paulines liest, wird konsequent aus der filmischen Diegese herausgehalten und damit dem metaphorischen ›Dunkel‹ der Geschichte überlassen. Die Denunziantin (Thomas Mitscherlich, D 1993) Ganz anders ist das nächste Filmbeispiel angelegt: DIE DENUNZIANTIN des Regisseurs Thomas Mitscherlich rekonstruiert die Biographie der aus Königsberg stammenden Helene Schwärzel, die im August 1944 den als Mitglied des 20. Juli gesuchten Dr. Carl Goerdeler denunziert. Der flüchtende ehemalige zweite Bürgermeister Königsbergs und Leipzigs wird von der den sprechenden Namen »Schwärzel« tragenden Luftwaffenhelferin in einem ostpreußischen Gasthof wiedererkannt und angezeigt, woraufhin ihn die Gestapo fasst und er noch im Februar 1945 in Berlin hingerichtet wird. Dieser Film basiert auf der Biographie Helene Schwärzels von Inge Marßolek (1993) und verweist zugleich auf die 1990 erschienenen Fallgeschichten Judasfrauen von Helga Schubert, die Denunziantinnen im Nationalsozialismus porträtieren (vgl. dazu Weigel 1992). Wie das erste Beispiel bereits gezeigt hat, ist auch für diesen Film kaum zu erwarten, dass der Akt der Denunziation, den Schwärzel begangen hat, sich wie im sprachwissenschaftlichen Modell wiederfindet, etwa einer illokutionären Aussage wie »Ich zeige an«. Vielmehr ist ein Akt der Verschriftlichung relevant – diesmal kein Brief, sondern ein Zettel –, der eine komplexe Verkettung von Medientransformationen in Gang setzt. Ohne diese medialen Transformationen wäre der Akt der Denunziation, der sich aus einer Reihe von Ersetzungen und Zitaten zusammenfügt, nicht erzählbar. Jens Schröter zufolge empfiehlt es sich, sowohl für den Film von Wajda als auch von Mitscherlich von »transformationaler Intermedialität« zu sprechen (1998: 144). Demnach taucht nicht nur ein Medium in einem anderen auf, sondern es wird von diesem repräsentiert – um darüber zu reflektieren oder es für die eigene Erzählung zu instrumentalisieren. Während Hel-
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ga Schuberts Erzählung noch ganz auf die Täterin Schwärzel und das Opfer Goerdeler setzt, verkehrt die Filmversion von Thomas Mitscherlich die Parteinahme zugunsten des Opfers Schwärzel, die als wenig gebildete Frau den falschen Idealen gefolgt sei und die Machtmechanismen des Nationalsozialismus nicht durchschaut habe. Goerdeler – quasi als primäres Opfer – erhält deshalb folgerichtig in Mitscherlichs Film überhaupt keine Konturen; er erscheint jeweils als verschwommene graue Eminenz im Bildmittelgrund oder -hintergrund (00:58:4101:04:00). Das Moment der Anagnorisis, das die Denunziation einleitet, stellt die Ähnlichkeitsrelation von Steckbriefen und Zeitungsfotos dem Wiedererkennen durch Erinnerung entgegen. Die Figuren verhandeln in einer entsprechenden Erzählsequenz das traditionsreiche Problem von Sein und Schein, obgleich nicht die Authentizität des Medialen angezweifelt werden soll, sondern umgekehrt die Frage, ob die Realität die mediale Vorgängigkeit einlösen könne. Mit anderen Worten: Der echte Goerdeler zitiert mit seiner Anwesenheit das von Behörden und Zeitungen zuvor verbreitete Bild des Politikers. Denn der Flüchtige wäre weder festgenommen noch verurteilt worden, hätte Schwärzel ihrem Vorgesetzten nachgegeben, der lediglich eine Ähnlichkeit zwischen dem Mann in der Gaststube und dem Verdächtigen auf dem Steckbrieffoto anerkennen wollte. Es konkurriert das persönliche Erinnerungsvermögen Schwärzels mit den Ablichtungsqualitäten des Zeitungsdrucks. Die Skepsis des Zahlmeisters am realen Goerdeler bleibt uneindeutig, denn sie lässt sich sowohl als Schutzmaßnahe für Goerdeler als auch als naiver Zweifel an seiner Realität interpretieren. Erst indem die Denunziantin das Gesetz zitiert und den Kollegen droht, sich strafbar zu machen, wenn der Täter auf freiem Fuß bliebe, setzt sie den Verfolgungsapparat in Gang. Ein weiteres wichtiges Element für die metamedialen Bezugnahmen führt eine Sequenz ein, die zwar historisch nicht gesichert ist, gleichwohl plausibel erzählt, wie Helene Schwärzel nach ihrer Auszeichnung mit einer Prämie von einer Million Reichsmark und einem persönlichen Empfang durch Hitler von Journalisten genötigt werden sollte, die Szene des Zettelschreibens nachzustellen und für die Zeitung abzulichten (01:11:30-01:12:28). An dieser Stelle entwickelt die filmische Erzählung explizite metafilmische Qualität, indem sie über den Einsatz von Schauspiel und mediale Fiktionalisierung sowie die damit angestrebte Authentizität reflektiert: Schwärzel weigert sich
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nämlich, ab einem gewissen Punkt bei dieser Inszenierung mitzuspielen, so dass sie selbst von einer Arbeitskollegin gespielt wird. Eine solche Sequenz zeigt noch einmal sehr deutlich, wie der eigentliche Akt der Denunziation in der Diegese nicht wiedergegeben wird, obgleich der Film dies zu tun verspricht: Der Akt des Anzeigens wurde mit der Beschreibung Goerdelers als bloß auf dem Sofa sitzender Gast ersetzt: »Auf dem Sofa sitzt Dr. Goerdeler«, lautete der Satz der Denunziantin, den sie auf den besagten Zettel notiert hatte. Die filmische Inszenierung der Denunziation und ihre metafilmische Spiegelszene der nachgestellten Denunziation verdeckt so, was im Zeichen der Erhellung stehen sollte. Sie versprechen wie die Medien und das ›Anschwärzen‹ selbst zwar Aufklärung, lösen dies aber gerade nicht ein. Denunziation ist innerhalb des Dispositivs von Loyalität und Wachsamkeit – wie auch das erste Filmbeispiel bereits zeigte – im prekären Zwischenraum zwischen Sagbarem und Nicht-Sagbarem sowie Sichtbarem und Nicht-Sichtbarem zu verorten. Das dritte Beispiel wird diese These noch weiter bestätigen. Leo & Claire (Joseph Vilsmaier, D 2001) Der Film LEO UND CLAIRE unter Regie von Joseph Vilsmaier beruht auf den Recherchen Christiane Kohls und deren Buch Der Jude und das Mädchen (1997). Die im Titel prangende Umschrift des Matthias Claudius-Zitats, wonach nicht der Tod einem Mädchen begegnet, sondern »der Jude«, verkehrt zudem die intertextuelle Substitutionslogik, denn die fiktionalisierte Biographie handelt von der jungen Frau Irene Scheffler, die dem Nürnberger Schuhgroßhändler Leo Katzenberger den Tod brachte. Auf beunruhigende Weise folgt diese Filmerzählung dem damaligen abstrusen Rechtssystem der Nationalsozialisten. Indem sie nämlich Raum für Spekulationen lässt, ob Scheffler und Katzenberger ein mehr als freundschaftliches Verhältnis zueinander gepflegt hatten, und insbesondere die Unschuldsbehauptung erst in der ProzessSequenz verhandelt, knüpft sie explizit an das Genre des Gerichtsfilms an. Dessen Impetus zielt darauf ab, dass sich das Publikum selbst ein Urteil bildet, indem es die Urteilsfindung des Gerichts und seines Publikums nachvollzieht. Jedoch gilt in diesem Fall: Selbst wenn die Angeklagten eine sexuelle Beziehung unterhalten hätten, dann würde sich die nationalsozialistische Rechtsprechung damit keinesfalls nachträglich legitimieren können: Abstrusität und Unmenschlichkeit der ›Ras-
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senschande‹ werden in diesem Film nicht deutlich genug herausgearbeitet. Die sowohl metamediale als auch metaperzeptive Inszenierung verdankt die Filmerzählung dem historischen Faktum, dass Scheffler ein Fotoatelier in gemieteten Räumen Katzenbergers geführt hatte. Als explizit metafilmische Konstruktion zeigt sich, dass hier ein Atelier im Atelier steht (wenn auch in der Mediendifferenz Fotografie/Kine-matographie) und damit die Inszenierungsebene verdoppelt wird. Der Hof hinter der Schuhgroßhandlung Katzenbergers – als Ort des Historischen im Gegensatz zum Inszenatorischen des Ateliers – verdichtet sich zu einem Mikrokosmos gegenseitiger Beobachtungsstrategien: Irene fotografiert beispielsweise den psychisch devianten Meisel 00:11:20), dessen bettlägerige Mutter auf dem Pflegebett ihrerseits einen Spiegel im Fensterrahmen montiert hat, mit dem sie die Vorgänge im Hof verfolgt. Neugierige Männer erregen sich an der nackt tanzenden Fotografin in ihrem Atelier, die zudem Selbstporträts vor dem Spiegel erprobt. Der Hinterhof als mise-en-abyme des nationalsozialistischen Deutschlands konstituiert sich primär aus Blickachsen, visuellen Grenzüberschreitungen, Kontrollabsichten und unerfülltem Begehren. Man lauscht an Türen, späht zwischen Vorhängen, installiert ein dichtes Netz sozialer Kontrolle, in das unweigerlich auch Scheffler und Katzenberger eingebunden sind. Letztlich wird Katzenberger von den Nachbarn und ehemaligen Angestellten bei der Gestapo denunziert, wie Leos Ehefrau Claire später gegenüber Irene behauptet. Zwischen dem Ausspähen und der Abholung Katzenbergers durch die Gestapo ist lediglich ein harter Umschnitt gesetzt (01:05:53). Den Akt der Anzeige selbst spart auch dieser Film vollständig aus. Der Punkt, den die Nachbarn angeblich melden, heißt »Verletzung der Ausgangssperre für Juden bei Dunkelheit«. Hatte ein Nachbarsehepaar bereits Irene wegen Lärmbelästigung bei Katzenberger denunziert, richtet sich später ihr haltloser Zorn gegen den Schuhhändler, der mittlerweile enteignet worden war. Sich über den ehemaligen und als Juden nun gedemütigten Chef zu ermächtigen, scheint das Hauptmotiv dieser Denunziation gewesen zu sein. Jedoch wird die Motivation ebenfalls nicht näher erläutert oder überhaupt plausibilisiert: Als die Nachbarn versammelt am Abendbrottisch sitzen, beobachten sie Irene Schefflers Atelier aus einem gegenüberliegenden Fenster im ersten Obergeschoss. Das angebliche Vergehen Katzenbergers, bei Dunkelheit auf die Straße zu gehen, wird mit einem »Na bitte!« kommentiert (01:02:20-01:05:50). Bei der Zeugen-
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befragung im Gericht behauptet der Wortführer Häberlein später, dass Katzenberger Irenes Atelier bei völliger Dunkelheit betreten und zwei Stunden später wieder verlassen hat. Daraus ergeben sich für die Zuschauerinnen und Zuschauer zwei simple Fragen: Was kann ein Denunziant sehen, wenn es – wie der Richter suggerieren möchte – »stockdunkel« ist? Und was eigentlich sehen Kinozuschauer bei völliger Dunkelheit des Saales? Wenn an der Häuserecke des Ateliers eine Straßenlaterne hell scheint, dient sie als Lichtquelle des Bildausschnittes, der von den Denunzianten gesehen werden kann. Es herrschte erwartungsgemäß keine völlige Dunkelheit, weder auf dem Hof noch in den Häusern. Trotz Verdunkelungspflicht ist das Zimmer der Denunzianten ganz und gar erleuchtet. Das filmische Set zeigt unmissverständlich, dass die Gebote der Verdunkelung nicht eingehalten werden – weder von Leo Katzenberger noch von den Hofbewohnern. Auch die filmische mise en scène selbst durchbricht diese Regeln, jedoch aus triftigem Grund: Licht ist immerhin die conditio sine qua non für die filmische Rezeption, denn ohne Licht keine Filmproduktion, ohne Licht keine Filmprojektion. Insofern stellt der Film selbst aus, dass er von dieser Denunziation nicht anders erzählen kann als im Modus der Voraussetzungslosigkeit und des Regelbruchs. Die filmische Inszenierung gibt den beobachtenden und wertenden Zuschauern einen Kreis von Denunzianten zu sehen, die ihrerseits beobachten und das Gesehene bewerten – zwar nach heutigen Maßstäben nach mehr als zweifelhaften Maßstäben bewerten, aber dennoch damit Anerkennung vor dem Gericht ernten können. Es liegt somit außerdem implizite und explizite Metaperzeption vor, denn zugleich wird Film als Gattung – als kinematographisches Artefakt – reflektiert und kritisiert, sind doch Vorgänge in absoluter Dunkelheit im und vom Film nicht erfassbar. Das eigentliche Problem, die angebliche Straftat der »Rassenschande« wird unter einem Vorwand angezeigt – der Verletzung des Ausgehverbots –, der wiederum auf die paradox anmutende Dunkelheit filmischer Rezeption abstellt. Womöglich handelt es sich um eine recht robuste Metapher für ›große Männer in finsteren Zeiten‹ (Lichtenberg), von denen der Film erzählen will.
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F AZIT UND ABSCHLIESSENDER AUSBLICK AUF I NGLORIOUS B ASTERDS (Q UENTIN T ARANTINO , USA/D 2009) Bei den Filmen EINE LIEBE IN DEUTSCHLAND, DIE DENUNZIANTIN und LEO UND CLAIRE handelt es sich um Spielfilme, die auf historischer Recherche basieren. Ihnen liegen autobiographisches und juristisches Material zugrunde, das bereits in einem ersten Schritt in Romanen, Erzählungen oder Biographien narrativiert und fiktionalisiert wurden. In einem zweiten Schritt wurde es von Drehbuchautoren, Regisseuren und Schauspielerinnen weiteren medienspezifischen Erzähl- und Darstellungsweisen unterworfen. Dennoch beziehen diese Filme ihre Glaubwürdigkeit und narrative ›Substanz‹ aus der Behauptung, historische Fälle zu erzählen, teils in dokumentarischer Absicht und teils mit reflektierter Kritik am dokumentarischen Modus. Dass dem Publikum vermittelt werden soll, wie es während des Nationalsozialismus ›gewesen‹ sei, ist eine zumeist nicht ganz unerwünschte Rezeptionsrichtung. Zugleich jedoch weisen diese Filme starke Momente der Distanzierung von ihrem Gegenstand auf: Zum einen markieren sie ihre historisierende Perspektive – besonders deutlich mit den doppelten chronotopischen Konstruktionen in EINE LIEBE IN DEUTSCHLAND, worin ein Sohn das Leben seiner Mutter recherchiert, oder in LEO UND CLAIRE, worin in der Rahmenhandlung sich die Tochter an das Schicksal ihres Vaters Leo Katzenberger erinnert. Zum anderen stellen sie ihre intermediale Konditionierung aus, indem sie mit metaperzeptiven und metafilmischen Mitteln arbeiten. Damit entlassen sie die Zuschauer nicht in die Illusion der naiven Geschichtskonstruktion, sondern deuten auf die Erzählweisen des Spielfilms und seine transformationale Intermedialität immer wieder hin. Die Funktionen des Metamedialen und Metaperzeptiven im Spielfilm über den Nationalsozialismus können ein breites Spektrum einnehmen, von denen nur die zwei wichtigsten genannt seien (vgl. Gymnich 2007): Zuallererst ist die Erinnerungsarbeit zu nennen, die mit diesen Filmen an die Zeit des Nationalsozialismus geleistet werden könne (Thiele 2007; Vatter 2009). Das kollektive Gedächtnis wird mit jeder neuen Version ebenso angereichert und umgeschrieben, auch ›korrigiert‹. Mittels der genannten Rahmenerzählungen wird versucht, die individuelle Erinnerung in das Kollektiv zu integrieren, womöglich beide Gedächtnisdiskurse zur Deckung zu bringen. Die Gedächtnis-
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funktion wurde bereits historisiert und für die postmoderne Produktion nach dem Erzählkino zu Recht hinterfragt, was das abschließende Filmbeispiel Tarantino verdeutlichen wird. Die Kritik an der Erinnerungsfunktion hängt insbesondere auch damit zusammen, dass sich in den Filmerzählungen behauptete Historizität und Authentizität zwar als überaus wirkmächtig, aber zugleich auch als deutlich ›konstruiert‹ gezeigt habe (Pence 2003; Reichel 2007). Als zweite wichtige Funktion von Metamedialität ist die für das Dispositiv der Denunziation bedeutsame pädagogische Intention zu nennen. Nicht zu übersehen ist, dass beispielsweise mit den bereits genannten Gerichtsszenen und juristischen Erläuterungen volksaufklärerische und ethische Bildungsziele vermitteln werden sollen. Dass Denunziation trotz legitimierender Gesetzeslage ein inhumanes Instrument des Verleumdens und der Kontrolle während des Nationalsozialismus darstellte und in Zeiten von Diktatur und Gewaltherrschaft vielmehr der Gesetzesbruch der/des Einzelnen zeitlose ethische Werte sichern hilft, kann als Kernaussage allen drei Filmen zugebilligt werden. Metamediale Metaphern wie Fensterrahmen, Türrahmen, Spiegel oder weiße Notizzettel reflektieren auf die Rahmung der Kinoleinwand und verquicken das Publikum davor mit den Figuren dahinter, an denen es sich selbst reflektiert. Mit der räumlichen Situierung des Beobachtens werden im Kino das selbstreflexive, das voyeuristische und auch das denunziatorische Dispositiv aufgerufen. Die Filme selbst denunzieren ihre Figuren als Denunzianten ›in finsteren Zeiten‹, denen nach heutigem Gesetz und Moral keinerlei Anerkennung zukäme. Dies wird besonders deutlich an der Figur Helene Schwärzels, die nach Kriegsende tatsächlich von den Alliierten steckbrieflich gesucht, ihrerseits denunziert und dann nach dem neuem geltenden Recht zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt wurde (Marßolek 1993; Koch 2007). Im Film über Schwärzel wird in der oben erwähnten Journalistensequenz beispielsweise ausdrücklich erwähnt, dass eine solche mediale Inszenierung nur »volkerzieherischen Zwecken« diene, was das Augenmerk deutlich auf die eigene filmische Inszenierung lenkt und deren Funktion zur Diskussion stellt. Dringlich stellt sich am Schluss dieses Fazits noch die Frage, welches ›Bild‹ des Nationalsozialismus und welches Wissen darüber diese Filmerzählungen vermitteln – eine Frage, die hier nur ganz kurz angerissen werden kann und im Übrigen auch auf filmische Erzählungen
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zur DDR auszudehnen wäre.4 Sauerland zitiert in seiner Untersuchung zur Denunziation in Nationalsozialismus und DDR Hitlers angeblich überraschte und deshalb unerwartet kritische Äußerung vom Mai 1933 über die hohe Zahl von Denunziationen, wonach er sich unter den Deutschen in einem »Meer von Denunziation und menschlicher Gemeinheit« wähnte.5 Ein in dieser Zeit verabschiedetes Gesetz zur Verfolgung falscher Anschuldigungen verschärft § 164 RStGB, um das Ansteigen vorsätzlicher oder leichtfertiger Verdächtigungen und Anschuldigungen strenger kontrollieren zu können (Rüping 1997). Nahezu jeder Film zum Nationalsozialismus stellt Denunziation als tragische Alltagserfahrung dar, deren statisches Aufkommen jedoch nicht mit der womöglich weit überstrapazierten Präsenz in Literatur und Kino zu vergleichen ist. Indem Denunziation als kommunikationskulturelles Paradigma für Diktaturen gelten kann, folgt man immer wieder dieser vielzitierten Aussage Hitlers, dessen staatskundliche und rechtshistorische Kompetenz aber freilich mehr als bezweifelt werden darf. Was wusste Hitler über die regulär zu erwartende Quote? Was wissen wir heute über solche Quoten des Anschwärzens? Wie viele Fälle nehmen wir an? Von welchen wissen wir Genaueres? Und was sagt das über Geschichte, was über die Gegenwart aus? Inglorious Basterds (Quentin Tarantino, USA/D 2009) Der abschließende Ausblick gilt dem Spielfilm INGLORIOUS BASTERDS von Quentin Tarantino. Neben Soderbergh und Lynch gilt Tarantino spätestens seit seiner Pulp Fiction (USA 1994) als Klassiker des metafilmischen Films. Tarantinos Film vermag es, sowohl die Authentizitäts-, Historizitäts- als auch die zugehörigen Funktionsdebatten intensiv anzuregen, weil er zum einen von der Unmöglichkeit erzählt, Geschichte ›korrigieren‹ zu können, und zugleich offen legt, dass das historisch narrative Kino stets nichts anderes tut. Für die Geschichte vom
4
Vgl. u.a. DAS LEBEN DER ANDEREN (Florian Henckel von Donnersmarck, D 2006), auch die TV-Miniserie WEISSENSEE (ARD, Friedemann Fromm, D 2010), worin Denunziation und Verrat hauptsächliche Handlungsmomente liefern und Diskurse wie Liebe, Loyalität, Freiheit, Kreativität dominieren.
5
Hitler in einem Gespräch mit dem Reichsjustizminister Gürtner im Mai 1933 (zit. nach Sauerland 2000: 17).
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doppelten und zudem geglückten Attentat auf Hitler und seine gesamte Führungselite gibt es jedoch in der Tat keine historische Referenz. Der Zweite Weltkrieg wird demzufolge vermutlich im Juni 1944 beendet, weil die Führungsriege des Nationalsozialismus in einer Kinovorstellung von »Stolz der Nation« umgekommen sei. Dies war das parallel verfolgte Ziel – sowohl eine »Operation Kino« des US-amerikanischen Geheimdienstes6 als auch einen Racheakt des ehemals verfolgten und traumatisierten jüdischen Mädchens Shoshanna Dreyfus. Die metamediale Aussage des Films lässt sich grob zusammenfassen wie folgt: Was die historischen Fakten nicht liefern, kann das Kino generieren. Auf diese Weise wird das an possible worlds geschulte Auge Geschichte entziffern, auch ›korrigieren‹, selbst wenn es dazu führt, dass das Kino sich nicht überlebt und am Ende in einem gut ausgeleuchteten Inferno aufgeht. Davon wiederum erzählt dem Publikum das Kino, was theoretisch in eine unendliche Verschachtelung selbstreflexiver Rahmungen mündet. Diese narzisstische Bespiegelung des Mediums, das den Narziss nur mehr braucht, damit das Bild nicht leer und damit vermeintlich bedeutungslos bliebe, generiert Figuren des Beobachtens und beobachtet Werdens. Die Figuren des Films sind metamedial doppelt codiert, wenn sie Filmfiguren und schauspieler in einem darstellen; auch erscheinen sie alles andere als ›authentisch‹ und leben unter falschem Namen ihre Doppelidentitäten.7 Der Erfolg dieser Filmproduktion beweist, dass historische Referenz und Authentizität jedoch mitnichten die relevanten Maßstäbe des Publikums waren. Obgleich darin Geschichte nicht als eine teleologisch organisierte Abfolge kontingenter Ereignisse organisiert zu sein scheint, schreibt der Film mit den Codes der Populärkultur dennoch an einer Geschichtskonstruktion des Nationalsozialismus mit. Er benutzt hierfür interfilmische Zeichen und Narrateme, die vor allem auf die Filmgeschichte referieren. Bereits der Titel winkt mit dem Zaunpfahl und ruft den heute vergessenen italienischen Spielfilm QUEL MALEDETTO TRENO BLINDATO auf
6
Dass »Operation Kino« und die historische »Operation Walküre« des 20. Juli hier aufeinander abgebildet werden, ist alles andere als Zufall (vgl. Jahraus 2010).
7
Beispiele sind Fredrick Zoller als Filmfigur in STOLZ DER NATION und als Schauspieler, die UFA-Schauspielerin Bridget von Hammersmarck als Doppelspionin und Mata Hari-Persiflage, Shoshanna/Emmanuelle, die mit ihrem Showdown-Kostüm die Figur Veronika Voss zitiert.
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(Enzo G. Castellari, I 1978), der in den USA 1981 unter dem Titel INGLORIOUS BASTARDS (sic!) in den Kinos anlief: Die Geschichte von den gewalttätigen, unkonventionellen und fern der Befehlsgewalt agierenden Soldatenschar im Zweiten Weltkrieg wurde also bereits erzählt, und die a/e-Differenz im Wort »Basta/erds« ist dekonstruktives Programm: Zeichen werden trotz ihres aufgeschobenen Bedeutungspotentials verwendet und finden sich in neu kombinierten Kontexten wieder. Mit den zahlreichen Genre-Zitaten, die eine Zuordnung unmöglich machen, wird der Film selbst zum widerständigen und »glorreichen Bastard« zwischen den Genres (vgl. Jahraus 2010). Die Lust am Film erhöht sich mit dem Wissen aus der Filmgeschichte und der Fähigkeit, Anspielungen und Zitate zu erkennen und in ihrer elaboriert eingesetzten Ambiguität zu wertschätzen. Folglich kommt es zu einer intensiven Verdichtung metaperzeptiver und metafilmischer Codierungen. Damit einher geht, dass auf traditionelle Distanzierungs- und Reflexionsverfahren wie narrative Rahmung oder mehrfache Zeitebenen verzichtet wird: Es geht noch in der pre-title-sequence in medias res, was expositorisch jedoch auf Ereignisse vor dem Einsatz des Films verweist. Diese Handlung vor der Handlung muss eine Denunziation gewesen sein, denn als der sogenannte »Judenjäger«, SS-Offizier Landa, das Bauernhaus der Familie LaPadite aufsucht, hat zuvor jemand diesen Bauern, der die flüchtige jüdische Familie Dreyfus versteckt, an die deutschen Besatzer verraten. Landa inszeniert eine zunächst harmlose Szene der Gastlichkeit, lässt sich mit frischer Milch bewirten und stellt einige angeblich rein formale Fragen zur gesuchten Familie. Tarantinos Film treibt sowohl die metafilmischen und metaperzeptiven Verfahren auf die Spitze als auch die bereits in den vorigen Filmbeispielen beobachtete Mythisierung der Denunziation. Es wird weder gesagt noch gezeigt, wie Landa darauf kommt, dass die gesuchte Familie sich unter den Fußbodendielen des Bauernhauses verstecken muss. Es gibt keine Erklärung für dieses Wissen, das Landa seinem Handeln zugrundelegt. Jedoch übernimmt die Kameraführung anstelle des SS-Mannes die suchende Bewegung im Raum, ja fängt sogar Blicke anonymer Augenpaare, die durch die Bodendielen in den Raum der erpresserischen Befragung spähen, so dass sich die Frage stellt, wer hier wen belauscht und beobachtet. Die Anspannung während dieser Beobachtungssequenz wird noch gesteigert, denn plötzlich – als der Name Shoshannas zum ersten Mal fällt – setzt eine Kamerafahrt ein, die insofern deutlich als metafilmisches Verfahren markiert ist, als
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nun eine weitere Ansicht des unter dem Fußboden liegenden Raumes im Aufriss gezeigt wird (00:10:20-00:11:00). Die metaleptische Kamerafahrt durchbricht den narrativen Raum der Befragung und signalisiert zum einen, dass auf der Handlungsebene die Furcht von LaPadite durchaus begründet ist, zum anderen aber, dass es sich bei diesem Haus um eine Filmbaute handeln muss. Wird also die Illusion der nervenzehrenden Atmosphäre einerseits gesteigert, so wird sie andererseits gründlich zerstört. Der filmische Erzähler weiß in diesem Moment mehr als seine Aktanten und weiht das Publikum in sein Wissen ein. Durch diesen Informationsvorsprung entsteht ein Spannungsbogen, der erst gelöst wird, wenn der unterschiedliche Wissensstand zwischen Erzähler, Figuren und Publikum wieder angeglichen ist. Im Plot löst sich die Anspannung zeitgleich und entlädt sich in wörtlich zu nehmender ›blinder Gewalt‹, wenn die herbeigerufenen SS-Leute ihre anonymen und unsichtbaren Opfer mit zahllosen Maschinengewehrsalven durch die Bodendielen hindurch hinrichten. Nur der ältesten Tochter Shoshanna gelingt es, aus diesem Inferno zu fliehen. Die Verbindung zur später in Paris ein Kino betreibenden Emmanuelle Mimieux, als die Shoshanna ihr Leben nach der Greueltat führt, signalisiert eine parallel angelegte Kamerafahrt aus dieser ersten Sequenz (00:35:06): Die Kinofassade wird in gleicher Weise von oben nach unten abgefahren, wie das Haus LaPadites im metaleptischen Aufriss, wo Shoshannas Familie umkommen musste. Rache nimmt Shoshanna/Emmanuelle mithilfe ihrer Filmsammlung, die aus dem äußerst brennbaren Material Nitrofilm besteht, um damit ihr gesamtes Kino mit den darin befindlichen Nazi-Größen in Brand zu setzen und das gesamte Publikum dieser deutschen Landserfilm-Premiere zu töten. Shoshanna dreht mit ihrem Geliebten eine Einstellung aus Fritz Langs Metropolis nach – einem von Hitlers bevorzugten Filmen –, in der sie die Rache des jüdischen Volks am deutschen ankündigt. Dieser letzte Film, den die Nazis vor dem großen Brand zu sehen bekommen, steht – metafilmisch stets mehrfach codiert – für das Ende der Geschichtserzählung im Kino. Zugleich entsteht mit dieser Brandstiftung tatsächlich ein »Loch in der Leinwand« (Paech 2009) auf der Leinwand, das die metafilmische Durchlässigkeit zwischen intra- und extradiegetischen Räumen, das Davor und Dahinter, markiert und stets aufs Neue zur Diskussion stellt. Wenn sich das Kino mitsamt seinem Publikum am Ende selbst zerstört, nachdem es die Geschichte des Nationalsozialismus (um)ge-
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schrieben hat und in der Folge immer nur von den katastrophalen Enden und wie es dazu kommen konnte, erzählen muss, dann bleibt es im Dispositiv des Denunzierens als eine Voraussetzung für seinen Plot gefangen. Was zunächst als fröhliche und gedankenlose Verulkung des Nationalsozialismus daherkommt – als solche wurde der Film Tarantinos auch missverstanden –, ist letztlich eine filmästhetisch und historiographisch zutiefst pessimistische Vision des Nicht-Sagbaren und Nicht-Sichtbaren. Denn solche apokalyptischen Illusionen der Geschichte können wiederum nur mittels der metafilmischen Selbstreferenz realisiert werden. Zwar erkennt das Publikum seine historischen Helden (wie Goebbels seinen Zoller), und doch weiß es genau, dass es nur eine geglückte Produktion der UFA zur Kriegsgeschichte ist; dass der Kinobesuch die Zuschauer das Leben kosten wird, wissen sie noch nicht. Das wiederum weiß nur das Publikum des Tarantino-Films, das in Hitler und Goebbels historische Figuren wiedererkennt. Auch wenn Geschichtsdekonstruktion zum Nationalsozialismus seit jeher nichts Neues im Kino darstellt,8 wurde sie – samt ihrer romantischen Ironie – von Tarantino jedoch vorläufig auf die Spitze der metafilmischen und zugleich metaperzeptiven Spirale getrieben. In der Negation des kollektiven Gedächtnisses und der didaktischen Funktion unterscheidet sich Tarantinos Verfahren kategorial von den oben behandelten Filmen der achtziger und neunziger Jahre. Wen wundert’s also, wenn der letzte Satz des Films, den der Basterd Aldo Raine spricht, nachdem er Landa sehr grausam mit einem Messer das Hakenkreuz tief in die Stirn ›geschrieben‹ hat, lautet: »I think this just might be my masterpiece.«
8
Eine diesbezügliche Untersuchung käme doch nicht ohne Ernst Lubitsch‘ TO BE OR NOT TO BE (USA 1942) und Roberto Benignis L A VITA È BELLA (I 1997) aus.
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Z ITIERTE F ILME DIE DENUNZIANTIN. Regie: Thomas Mitscherlich, Drehbuch: Detlef Michel (nach der gleichnamigen Biographie von Inge Marßolek), Darsteller: Katharina Thalbach, Dieter Schaad, Burghart Klaußner, Hanns Zischler u.a., D 1993. INGLORIOUS BASTERDS. Regie: Quentin Tarantino, Drehbuch: Quentin Tarantino, Darsteller: Brad Pitt, Mélanie Laurent, Christoph Waltz, Diane Kruger u.a., USA/D 2009. LEO & CLAIRE. Regie: Joseph Vilsmaier, Drehbuch: Joseph Vilsmaier, Stefan Cantz u.a. (basierend auf Der Jude und das Mädchen von Christiane Kohl), Darsteller: Michael Degen, Suzanne von Borsody, Franziska Petri, Axel Milberg u.a., D 2001. EINE LIEBE IN DEUTSCHLAND. Regie: Andrzej Wajda, Drehbuch: Beleslaw Michalek, Angieszka Holland, Andrzej Wajda (nach dem gleichnamigen Roman von Rolf Hochhuth), Darsteller: Hanna Schygulla, Piotr Lysak, Armin Mueller-Stahl, Otto Sander, Ben Becker u.a., BRD/F 1983.
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Filmstill-Stillleben Über und in DER MENSCH IM DING von Tom Tykwer M ARTIN S CHLESINGER »Blue transcends the solemn geography of human limits.« aus: BLUE (Derek Jarman, 1993)
K APITEL
KINEMATOGRAPHISCHEN
K APITALS
Pünktlich zur Finanzkrise veröffentlichte Alexander Kluge unter dem Titel Nachrichten aus der ideologischen Antike zeitgemäße Datenträger als Übertragung einer filmischen Archäologie unter gegenwärtigen audiovisuellen Mitteln. Auf und über drei DVDs durchleuchtet Kluge mit einer Zusammenstellung von Interviews und unterschiedlichen Hommagen zwischen Fakten und Fiktion bruchstückhaft Schichten und Geschichten eines wuchernden Filmkonzepts, dessen offene Fülle mittels der Möglichkeiten des Mediums aufgefächert wird und dabei Montageeffekte mit verschiedenartigen Ober- und Untertönen erzeugt. Es geht um das letzte, unvollendete Projekt Sergej Eisensteins: die Verfilmung von Das Kapital von Karl Marx. Eine Gesamtbetrachtung dieser Kollektion und deren vielleicht neuartige mediale Montage soll hier jedoch nicht unternommen werden. Unter den Fremdbeiträgen befindet sich auf DVD II: Alle Dinge sind verzauberte Menschen ein Kurzfilm Tom Tykwers: Der Mensch im Ding – dessen Zauber wird hier für sich betrachtet. Tykwers Beitrag endet im Sinne der Sache und im Bewusstsein über seine Platzierung programmatisch, wenn er sich letztendlich durch ein Marxzitat erklären zu wollen scheint, oder anders, wenn der
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Film auf dieses Zitat zuläuft und er offensichtlich diese Worte verfilmt hat: »Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding zu sein. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeiten und theologischer Mucken.« (Marx 1968: 85)
Nimmt man dieses Zitat nicht nur als einen Zusatz, um das Auftauchen des Films auf dieser DVD zu rechtfertigen, sondern als einen gewichtigen Hauptsatz, durch welchen der Film dem Zuschauer einen Hinweis gibt, wie er verstanden werden möchte, dann stellen sich Fragen: Was hat die Ware mit Tykwers Film zu tun? Welche trivialen, vertrackten Warendinge sind gemeint? Wie verhalten sich Filmtitel, der Film und das Zitat zueinander? Welche Menschen bewohnen welche Dinge, die vermutlich zugleich Waren sind? Von welcher Analyse ist hier die Rede und wie kommt diese zu der Behauptung und zum Wissen, dass diese Dinge voller jenseitiger Probleme stecken?
V ORFILM – H AUPTFILM – N ACHFILM Die Beantwortung dieser Fragen ist im Rahmen dieses Bandes natürlich mit der übergreifenden Erforschung der Wechselverhältnisse von medienspezifischen Räumlichkeiten und möglichen Verfahren medialer Wissenskonstitution verbunden. Grundlegende Annahme ist demzufolge, dass Tykwers Film etwas zu den Relationen von Raum – Wissen – Medien zu sagen hat und zudem insbesonders über diese begriffen werden kann. Diese Behauptung funktioniert selbstverständlich nur unter der Prämisse, dass der filmische Raum im Allgemeinen als ein medialer Raum betrachtet wird, der zu Reflektionsleistungen und zu einer eigenen Wissensproduktion fähig ist. Mit Lorenz Engell soll folglich gelten, dass Filme »ihre ›eigenen‹ Grenzen in Raum und Zeit ›haben‹. Sie können ihre Grenzen produzieren, indem sie sie aufweisen, indem sie sie ausweisen, auf sie hinweisen. Sie können auf ihre Grenzen reflektieren und sie sich so zur Verfügung stellen, sich über diese Grenzen begreifen. Sie entwickeln dann Konzepte der Begrenzung, der Eigendefinition.« (Engell 2005: 13)
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Um solche selbstreflexiven Begrenzungen des Films soll es hier gehen, und so lassen sich in Bezug auf die formulierten Fragen weitere Erwartungen anführen: Die Ware hat hier etwas mit dem Film selbst zu tun.1 Es geht nicht schlicht um selbstverständliche Waren und Dinge, sondern um Filmdinge und Filmwaren. Ohne Zweifel meint der Film am Ende sich selbst, wenn er von einer Analyse spricht, die Spitzfindigkeiten und Mucken aufzeigt; und in dieser Filmforschung macht DER MENSCH IM DING ein Wissen von Mensch, Ding und Film im Film beobachtbar – zumindest soll behauptet werden, dass dieser Film das behauptet; und unter dieser Annahme müssen nicht nur Menschen in Dingen, sondern vor allem die Bewegungen zwischen diesen in den räumlichen Bildumständen beschrieben werden. Diese Bedingungen der filmischen Wissensgenerierung gestalten sich in der Kürze des Films vielschichtig, wobei erst eine bestimmte räumliche Komplexität das spezifische Wissen ermöglicht. Denn, so die These dieses Films, für die Entstehung filmischen Wissens reichen die Möglichkeiten eines und eines filmischen Raums nicht aus. Erst in der sichtbaren Konfrontation und in einer erfahrbaren Bewegung zwischen und innerhalb verschiedenartiger medialer Räume wird filmisches Wissen denkbar; und folgt man dem Film, dann sind das drei Stufen, die hier in eine wechselseitige Beziehung treten, die zugleich den Rahmen des Films sprengen und gewissermaßen das Medium vom Jenseits seiner Ränder her denken. Gemeinsam mit dem Film kann also die Haupthese dieses Textes lauten, dass DER MENSCH IM DING aus drei Dimensionen besteht: erstens, eine vorfilmische oder prämediale; zweitens, eine filmische oder mediale; und drittens, eine nachfilmische oder postmediale Dimension.2 Der Raum dieses Films ist demzufolge als ein transfilmischer und transmedialer zu verstehen, als eine Konstellation, die nicht nur den filmischen Raum, sondern auch zwei weitere mediale Räume einschließt, die den Film umgeben und deren Andersartigkeit durch deutliche Übergänge und Markierungen begreifbar gemacht wird. Ich möchte nur kurz auf die sorgfältige Sezierung und Neuanordnung raumtheoretischer Diskurse Laura Frahms hinweisen, die
1
Zu umfassenderen Verhältnissen von Kino und Ware zu Wahrnehmungveränderungen in unterschiedlichen Warenwelten siehe Brauns 2007: 253303, Elsaesser/Hagener 2007: 47f., oder Engell 1992: 9-39.
2
Für die Inspiration zu dieser Dreiteilung bin ich Oliver Fahle sehr dankbar.
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demonstriert, wie der Film Jenseits des Raums (2010) eine medienspezifische Logik, ein eigenes Denken wahrnehmbar macht. Auf die präzisen, maßgebenden Unterscheidungen Frahms wie z.B. zwischen filmischem Ort / filmischem Raum bis hin zu den Überlagerungen von Topographie und Topologie (vgl. ebd.: 167ff.), sowie auf ihre detaillierten Definitionen einzelner urbaner Topologien kann hier nicht eingegangen werden. Im Sinne von Frahms Analysen soll schlicht behauptet werden, dass der Aufbau der drei Bereiche in Tykwers Film als eine raumübergreifende Anordnung, als eine theoretische mediale Topologie aufgefasst werden kann, welche den einen, scheinbar banalen Ort dieses Films übersteigt. Diese Topologie funktioniert durch das Aufeinanderfolgen der drei medialen Räume, die durch ihre jeweils eigenen Gegebenheiten Möglichkeiten visueller und akustischer Wissensproduktion aufzeigen und dabei verdeutlichen inwiefern ihre Differenzen, ihre Verknüpfungen und auch das Wissen von ihren Eigenschaften selbst erst in der zusammenhängenden und kontinuierlichen Gegenüberstellung sichtbar und denkbar werden. In einer genauen Beschreibung dieser Dreiheit sollen nun aber nicht explizit raumtheoretische, sondern filmkonzeptionelle Perspektiven verfolgt werden, an welche DER MENSCH IM DING anschließt, welche er in diesem speziellen Arrangement inszeniert und erforscht. Somit soll es vom Film ausgehend um räumliche Transformationen und die daraus entstehenden Konsequenzen für einzelne filmtheoretische Konzepte gehen, die ebenfalls als ein Problemfeld mit drei Schichten erfaßt werden können: Das wäre, erstens, mit Siegfried Kracauer (1985) die Frage nach den medienspezifischen Charakteristiken und nach Affinitäten des Films in der Darstellung und Enthüllung einer (un)gestellten Realität; zweitens, die Frage nach der Beschaffenheit von filmischen Stillleben, welche von Gilles Deleuze (1991) zu Harun Farockis STILLEBEN (1997) und Jean-Luc Godards PASSION (1982) führt; und drittens, die Frage nach den Verhältnissen von Waren oder allgemeiner von Dingen zum Menschen, die im Film als Beziehungen von unterschiedlichen Bildebenen in Erscheinung tritt, die Farocki ebenfalls in STILLEBEN interessierten. Unter all diesen Aspekten kann in der Erforschung verschiedener Bildräume das Wissen des Films als Produkt von Kameraund Bildbewegung beschrieben werden, welche um, zwischen und innerhalb der Filmbilder Menschen- und Ding-Bilder in ›Ein-Stellung‹ bringen. Tykwers Film ist im Anschluss an diese Konzeptionen als ein
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filmisches Labor zu sehen, in welchem die spezifischen Möglichkeiten filmischer Theoriebildung untersucht werden. Wobei sich letztlich auch ohne Film und Bild die Frage aufdrängt, inwieweit nicht jedes mediale – und somit jedes – Wissen als ein prozessuales Justieren und eine transmediale Konfrontation unterschiedicher Formen und Formate verstanden werden muss; eine Unbestimmtheit, die hier nicht weiter erörtert werden soll, aber für deren Beantwortung man von der prominenten These Marshall McLuhans ausgehen kann, nach welcher »der Inhalt jedes Mediums immer ein anderes Medium« (McLuhan 1992: 18) ist. Folglich besteht jeder mediale Raum immer schon aus anderen Medien und deren Räumen. Um nun aber zu definieren welche medialen Formen in DER MENSCH IM DING als vorfilmisch, filmisch und nachfilmisch bezeichnet werden können, muss vorstellbar gemacht werden, wie diese beschaffen sind. Beginnen wir daher mit Tykwers methodisch schlichter Frage, die er nicht gleich am Anfang, aber kurz darauf aus dem Off stellt: Was sehen wir?
Abbildung 1: Blau
Quelle: DER MENSCH IM DING (Tom Tykwer in Kluge, 2008)
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DIE
S TIMMEN
SEHEN
Blau. Vielleicht nur ein Teil einer blauen Fläche, ein Bildschirm oder ein Pixel. ›Blau-Sehen‹ und ›Blau-Hören‹ fallen sogleich auseinander: Tom Tykwers Stimme, nahezu die eines Lehrfilms, verrät uns, dass wir einen Himmel sehen, der sich nicht sicher als Himmel bezeichnen lässt. Ein Bild, gänzlich frei von spezifischen Objekten, zumindest sind diese nicht sichtbar, da sie entweder zu weit entfernt oder mikroskopisch klein sind; oder, das könnte man hinzufügen, da sie zu groß sind und zu nah vor uns liegen. Wir wissen nicht, ob wir in eine endlos weite Unendlichkeit blicken oder auf eine abgeschlossene, nahe, begrenzte Fläche. Wir wissen, dass es sich um einen Film handelt, denn das sagt uns der Film selbst gleich zu Beginn durch seinen Titel auf schwarzem Grund. Eine fotografische Aufnahme, so Tykwer. Es soll Tag sein und das, was wir sehen, ein wolkenloser Himmel, der sich geografisch überall befinden könnte. Wir können auch nicht sagen, ob die Kamera still steht oder in Bewegung ist, sei es seitlich, nach vorne, oben, unten oder zurück. Erst durch einen Schwenk nach unten wird aus der blauen Einstellung ein establishing shot, der mehr verrät. Die Fassade eines Wohnhauses tritt ins Bild. Dachstuhl. Vier Stockwerke. Eingangstür. In der Mitte die Fenster eines Treppenhauses. Während die Kamera über die Hausfront wandert, spiegelt sich in einigen Fenstern das Himmelsblau, wodurch Fragmente eines möglichen Himmels im Rücken der Kamera erlaubt werden. Andere Fenster sind jedoch schwarz und spiegeln nicht; nicht, weil man durch sie in dunkle Innenräume blickt, sondern weil sie offensichtlich rein schwarz sind. Schwarze Flächen anstelle von spiegelndem oder transparentem Glas. Im Erdgeschoss dann auch ein Fenster, in welchem sich undeutlich eine gegenüberliegende Hausfront und gleich auch eine Frau spiegeln, die noch das Bild betreten und folglich hier beschrieben wird. Eine Stadt und ein Ort wie jeder andere, meint Tykwer. Wir sehen einen Straßenausschnitt. Die Kamera kommt zum stehen. Hausnummer 81. Von rechts oben hängen leicht wiegende Äste ins Bild. Ein Gehsteig. Ein absolutes Halteverbotsschild mit Pfeil nach rechts. Sogleich mit dem Stillstand der Kamera kommt von links die erwähnte Frau ins Bild gelaufen. Zeitlupe. Sie ist angeblich in Eile. Als sie sich auf Höhe des Hauseingangs befindet, beginnt sie ihr Tempo zu beschleunigen. Sie rennt in Zeitlupe langsam los. »Moment, bitte! Augenblick!«, befiehlt Tykwer. Die Frau wird abgebremst, eingefroren und im Laufen
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in der Luft auf dem Absatz ihres linken Stiefels auf dem Gehsteig im Halteverbot geparkt. »Was sehen wir? Eine Ordnung, eine Anordnung von Dingen, Materialien und Stoffen. Dazwischen ein Mensch. Zu dem Mensch gehört eine Geschichte, die wir hier nicht erzählen werden können. Hinter den Mauern wahrscheinlich noch mehr Menschen. Und hinter den Dingen, hinter jedem einzelnen von ihnen, noch mehr Menschen, noch mehr Geschichte.«
Darauf folgt eine Art blinder Schnitt, eine Überblendung in die gleiche Einstellung. Die Kamera fliegt auf die Frau zu, bis das Blumenmuster ihres Rocks das gesamte Bild ausfüllt. Während die Kamera nun nach vorne, von oben, zurück und seitlich um Dinge kreist, die wir größtenteils bereits aus der Ferne in der stillstehenden Einstellung wahrnehmen konnten, und diese nun frei schwebend bis zu sehr nahen Detailaufnahmen ins Bild rückt, beginnt Tykwer uns über diese Dinge zu informieren. Wir bekommen Auskünfte, die wir vielleicht schon wissen, aber größtenteils nicht sehen – größtenteils, weil einige der Informationen visuell sind und im Bild gelesen werden können. Ansonsten folgt ein Wissen, das als Wikipedia-Wissen bezeichnet werden kann: Die Geschichte der Textilindustrie … Gegensprechanlage … Gitterrost … Gas- und Wasserversorgung … Gehwegdesign … Kaugummi … Kippe. Die Kamera schwebt in die Ausgangsposition zurück. »Wo waren wir stehen geblieben?« Erneut fliegt die Kamera los … Rohrschellen … Verkehrsschild … Graffiti … bis das Bild wieder in der bekannten ruhenden Einstellung landet, die stillgestellte Frau in Zeitlupe weiterläuft und die Kamera über die Fassade zurück in das Blau des Himmels schwenkt. Dann auf diesem Blau das Marxzitat. Anschließend die Quelle und die Credits in einer stillen Tafel. Während des Aufklärungsfluges verdoppelt sich die Stimme Tykwers, so dass neben der Hauptstimme gleichzeitig viele Nebenstimmen unverständlich leise mitrauschen. Es bleibt unklar, ob diese Stimmen weitere Details zu Gesehenem geben, Gesagtes wiederholen oder weitere Dinge ansprechen. Der simultane akustische Teppich macht hörbar, dass es sich bei den Geschichten um eine aktuelle Selektion handelt, und neben der Vielstimmigkeit wird erkennbar, dass der Kameraflug auch nur einer von vielen möglichen ist. In der KameraChoreographie wird deutlich, dass es nicht schlicht um eine Anordnung und deren unsichtbare Geschichten geht. Es kommt nicht nur da-
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rauf an, was man sieht und hört, sondern wie es wahrnehmbar wird; doch diese vielleicht triviale, über-auktoriale Ebene wird von Regisseur und Stimme nicht angesprochen, wenngleich sie denkbar ist. So könnten auch die Geschichten des Films erwähnt werden, z.B. der Institutionen, Techniken, Praktiken. Tykwer könnte sich auch selbst ins Gespräch bringen, durch Auskünfte über sich und den Film selbst, also die ›Film-mit-Kommentar-des-Regisseurs-Variante‹, die mittlerweile auf DVDs sehr gängig ist. All das sind Geschichten, die wie die Geschichte der Frau keinen Raum finden – aber lassen wir diese Erzählungen beiseite.
D RAUSSEN
VOR DEM
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Das blaue Bild an Anfang und Ende bildet mit den Schwenks einen symmetrischen Rahmen. Neben dem Marxzitat ist dieses Blau schon ein visuelles Zitat, möglicherweise als Referenz an Filme Tykwers. So endet HEAVEN (2002) mit einem Himmelsbild, in welchem das Protagonistenpaar in einem Helikopter, der im senkrechten Emporsteigen immer kleiner wird, verschwindet. Oder es ist eine Referenz an anderer Regisseure wie z.B. Derek Jarman, der mit seinem letzten Film BLUE (1993) kunstgeschichtliche und medientechnische blaue Flächen von Yves Klein über das PAL-Bild bis zum blue screen aufrief (siehe Blümle 2005). Bekanntere blaue Bilder lassen sich jedoch bei JeanLuc Godard finden: das Ende von LE MEPRIS (1963), das Blau von Himmel und Meer, gegenstandslose Flächen, auf welchen das Wort »Silencio« erscheint. Ein Wort, dass nicht von Geschichten, sondern von ihrem Verstummen erzählt bzw. auf das schweigende Außen des Mediums verweist.3 Eine Sphäre ohne Wörter, Menschen und Dinge; und mit dieser beginnt auch Godards Film PASSION, dessen erstes Bild das Blau aufnimmt und einen Himmel zeigt. In diesen blauen Anfängen und Enden wird klar, dass es nicht einfach um ein Himmelsbild geht, sondern um die Tatsache, dass dieses Bild keine Grenzen, keinen Ort und keine räumlichen Referenzpunkte hat. Wobei dies in Tykwers wolkenlosem Anfang noch deutlicher ist. Dem Blau fehlt ein Rahmen. Das grenzenlose Bild, das zugleich leer wie voll, flach wie tief, zweidimensional wie dreidimensional ist, kann als Nullstufe, als reine Qua-
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Zum Außen als Konzept der Moderne siehe Fahle 2009.
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lität und mit George Spencer Braun als »unmarked space« begriffen werden, der ein Außen der Anordnung von Menschen, Dingen und sogar des Films denkbar werden lässt (vgl. Elsaesser/Hagener 2007: 51f.). Ein Außen vor dem Film, vor einer Vermittlung und einem spezifischen Medium. Wenn der Film also insgesamt graduell drei Dimensionen durchläuft, dann wäre diese Unbestimmtheit die erste, die vorfilmische, prämediale Dimension von welcher die anderen erschlossen werden und zu welcher sie auch wieder hinführen.
D RAUSSEN
IM
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Wichtig ist, dass nach diesem Nullpunkt eine Unterscheidung erfolgt. Durch den Kameraschwenk wird in einem Übergang zwischen einem leeren Raum des Nicht-Sichtbaren (die Objekte sind zu klein oder zu weit entfernt) und des Nicht-Wissens und einem vollen Raum des Sichtbaren und des Wissens unterschieden; und ebenso erfolgt am Ende wieder ein Schwenk von einem Raum in den anderen, ein Übergang, der das Bild entleert. Dieser ummarkierte Raum scheint zum einen notwendiger Hintergrund oder Abgrund bei der Definition dieses Wissensraums, zum anderen taucht das Zugleich von Leere und Fülle aber auch innerhalb der Transition auf: in den bereits erwähnten Fenstern, die ohne Spiegelung nur schwarze Flächen zeigen. Zu den Konzepten Fenster und Rahmen und ihren Geschichten wurde in der Filmtheorie viel geschrieben (vgl. ebd.: 23-48). Ohne ideologische, metaphysische, theologische oder sonstige normierende Absichten einzelner Autoren, geht es hier jedoch schlicht um die Setzung dieser grundlegenden Felder, wie Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit, Cache/Cadre, Champ/Hors Champ oder Innen/Außen, die für eine Theorie des Films unentbehrlich sind, und welche in diesem Schwenk über die Fassade explizit reflektiert werden.4 Mit dem Auftritt der Frau wird deutlich, dass allein die Kamerabewegung und die Rahmungen nicht ausreichen, um eine zeitliche Einordnung zu ermöglichen. Sie bewegt sich verzögert und somit befinden wir uns in einer Welt, die langsamer als unsere normale Zeit-
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Für eine weitere Untersuchung des filmischen Außen und der wesentlichen Felder des Films siehe Adachi-Rabe 2005.
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wahrnehmung abläuft. Es sind also nicht wir, die hier etwas sehen, sondern das, was unsere Augen wahrnehmen, wird nur sichtbar, da es vom Film-Auge gesehen wird. Der Film unterscheidet, rahmt, verlangsamt und erlaubt uns durch unmenschliche Blickwinkel Einblicke in eine Welt der Menschen und Dinge; wobei das, was man als Zeit bezeichnen kann, sich hier aufteilt, in eine Zeit oder Dauer, die durch die Kamera produziert wird und eine Zeit, die wir an der weiblichen Person ablesen können. Aber die Frau ist nicht das einzige Element, das sich bewegt und das durch diesen Befehl zum Stillstand kommt. Da wären noch die Blätter, die ins Bild hängen; das Objekt, das Henri de Parville bereits 1895 als besonders filmisch erachtet hat: das »Zittern der im Winde sich regenden Blätter« (zit. in. Kracauer 1985: 58), das ist der Film; also die Möglichkeit des Festhaltens einer bewegten Dauer, die nicht menschliche Zeit ist, sondern eine Eigenbewegung von Materie und sich selbst bewegenden Dingen; und diese Eigenbewegung, die in ihrer Gemächlichkeit zunächst ohne das Auftreten der Frau nicht als unnatürlich bezeichnet, sondern als Folge eines sanften Windhauchs gesehen werden kann, fällt zusammen mit der unmenschlich langsamen Bewegung – womit die zweite Dimension, vielleicht eine gewöhnliche, die filmische erzählt wäre. Doch was heißt das? Abbildung 2: Geschichtslose Anordnung mit Blättern
Quelle: DER MENSCH IM DING (Tom Tykwer in Kluge, 2008)
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Neben den Rändern und Rahmungen weist der Film durch die beschriebene Darstellung auf wesentliche Merkmale hin, die weiter erläutert werden müssen. Es geht um die Frage, welche Formen der Darstellungen und welches spezifische Wissen der Film ermöglicht. Eine erste Adresse bei der Erforschung dieser Frage ist allein vom Titel her André Bazins Was ist Film? – mit einem Vorwort von Tom Tykwer. Eine für ihn offenbar wichtige Lektüre. Bei Bazin finden wir folgende Stelle: »Und das Spezifische des Kinos, einmal im Reinzustand beobachtet, liegt im Gegenteil schlicht darin, daß die Kamera die Einheit des Ortes respektiert.« (Bazin 2004: 81)
Das ist bei Tykwer der Fall. Insgesamt wird DER MENSCH IM DING durch den blauen Rahmen und durch die symmetrischen Schwenks abgeschlossen. Die Kamera bewegt sich dabei respektvoll kontinuierlich fort, d.h. es erfolgt während des gesamten Films kein Schnitt. Die Straße und ihre nahen Ansichten werden nicht durch Einzelansichten zusammenmontiert, sondern in einem Kontinuum gezeigt, wodurch die Grundlage – »Schneiden verboten!« (ebd.: 75), so der Befehl Bazins – für das Erkennen von Spezifika des Films gegeben scheint. Zufälligerweise befindet sich Bazins Zitat auf Seite 81 – die Hausnummer des Gebäudes; doch vielleicht kein Zufall, wenn man bedenkt, dass gerade der Zufall in Tykwers Filmen – und vor allem in LOLA RENNT (1998), wo unbeabsichtigte Begegnungen über Misslingen und happy ending der sich wiederholenden Situation entscheiden – nahezu immer eine folgenschwere Rolle spielt und Geschichten in Richtungen lenkt. Daher ist es sicherlich auch nicht beliebig, dass bei einer weiteren Adresse ebenfalls die 81 umkreist wird, wenn es im Zusammenhang mit Sergej Eisenstein um Besonderheiten des Films geht: Siegfried Kracauers Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit (1985). Hier trifft diese Zahl nicht genau auf ein Zitat, aber da diese Marke im Film umflogen wird, ist es naheliegend, dass dies auch im Buch geschieht. Kracauer, dem es ausdrücklich darum geht, das Wesen des Films zu erfassen, bietet eine gute Begleitlektüre zu Tykwers Film (siehe ebd.: 71-112), zumal er u.a. der Meinung ist, dass der Film eine Affini-
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tät zum Zufälligen besitzt. Eine nachvollziehbare Nähe zu DER MENSCH IM DING lässt sich auch in seinen Bemerkungen zu den gewöhnlich unsichtbaren Dingen entdecken: »Die zahlreichen materiellen Phänomene, die sich der Beobachtung unter normalen Bedingungen entziehen, lassen sich in drei Gruppen aufteilen. Zur ersten gehören sowohl Gegenstände, die zu klein sind, um vom bloßen Auge ohne weiteres bemerkt oder auch nur wahrgenommen zu werden, wie auch solche, die so groß sind, daß wir sie nicht ganz umfassen und uns einverleiben können.« (Ebd.: 77)
Wie Tykwer interessiert sich Kracauer für die Gegenüberstellung von kleinen und großen Dingen, wenn er sich über die enthüllende Funktion des Films in der Darstellung der physischen Realität Gedanken macht. Nicht nur durch die Großaufnahme, sondern auch durch andere Techniken und Tricks sei es dem Film möglich, die Realität einer anderen Dimension zu erschaffen, welche unseren Sehgewohnheiten unbekannt ist, ihnen zuwiderläuft und uns Aspekte der Welt zeigt, die wir nur durch den Film vermittelt wahrnehmen können. Der Film kann das flüchtig Vorübergleitende einfangen, normalerweise verdeckte Komplexe aufdecken oder Gegenstände wahrnehmbar machen, die zu alltäglich sind als dass wir sie noch bewusst sehen würden, wie Abfälle, Kanalgitter, Rinnsteine. Dies wäre also eine weitere Gruppe von Dingen, die nach Karacauer unter unserer Wahrnehmungsschwelle liegen: gewohnte Dinge oder solche, die von Vorurteilen belastet sind (ebd.: 86ff.). Ein besonderer Ort, an welchem diese auftauchen können, ist nach Kracauer die Straße, auf welcher der »Fluß des Lebens«. seine Zufälligkeit und Endlosigkeit filmisch erfasst werden kann: »Die Straße im erweiterten Sinne des Wortes ist nicht nur der Schauplatz flüchtiger Eindrücke und zufälliger Begegnungen, sondern auch der Ort, an dem der Fluß des Lebens sich geltend machen muss. Dabei wird man vornehmlich wieder an die Großstadt mit ihren ständig sich bewegenden, anonymen Massen zu denken haben […] lose zusammenhängende Mengen skizzenhafter, völlig unbestimmter Figuren. Jede hat ihre persönliche Geschichte, aber die Geschichte wird nicht mitgeteilt. Statt dessen entfaltet sich ein unaufhörlicher Strom von Möglichkeiten und nahezu ungreifbaren Bedeutungen.« (Ebd.: 110)
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Auf Straßen kann der Film auch die nächste Gruppe von Dingen herausfiltern, die sich normalerweise unserer Beobachtung entziehen: die flüchtigen, rasch vergänglichen Phänomene (ebd. 85). Das Festhalten und somit Wahrnehmbarmachen dieser anderen Dimension der Realität ist auch durch Tricks möglich, wie die Zeitraffung und die Zeitlupe. In Zeitlupe verändern z.B. »dahinjagende Beine« nicht nur ihr Aussehen, sondern vollführen »seltsame, der uns vertrauten Realität entrückte Evolutionen« (ebd.). In der Darstellung der flüchtigen Ereignisse weist der Film eine Affinität zur Endlosigkeit des Lebens auf, d.h. er tendiert nach Kracauer dazu, die ewigen Transformationen des Lebens zu bannen. Diese Ansicht einer Straße soll demnach als ein besonders filmspezifisches Schaufenster beschildert werden, in welchem der Film seine Waren und Wesenheiten ausstellt. Doch kurz nach dem Stillstand der Frau ändern sich Straße und Film. Was sehen wir jetzt? Abbildung 3: Gesichtslose Anordnung ohne Blätter
Quelle: DER MENSCH IM DING (Tom Tykwer in Kluge, 2008)
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Erstaunlicherweise verschwindet in diesem Übergang zum Kameraflug und den Großaufnahmen der Dinge scheinbar selbstverständlich genau das, was soeben mit Henri de Parville am frühen Film als das besonders Filmische erkannt wurde: die Blätter. Während der Wechsel nahezu unsichtbar erfolgt, sind die Blätter und der gesamte Baum plötz-
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lich weg und sie tauchen genauso plötzlich erst wieder am Ende der Exkursion auf, wenn die Ausgangsposition erreicht und die Frau von ihrer Starre befreit ist. Ebenso ist die Spiegelung der Frau im Fenster nun nicht mehr zu sehen. Dieses schlagartige Verschwinden soll in seiner Deutlichkeit als visuelle Aussagen des Films verstanden werden: das, was man nun sieht, hat nichts mit menschlichen und dinglichen Eigenbewegungen zu tun, und folgt man Parville, dann ist das, was man nun sieht, überhaupt nicht mehr filmisch. Ein Hinweis, den uns der Film selbst gibt, ist ein Schild über der Gegensprechanlage: »Dieses Haus wird videoüberwacht.« Im Booklet der DVDs erfahren wir, dass der auf 35mm gedrehte Film für diesen Flug »in einem aufwendigen neuen Verfahren in 3D animiert« (Kluge 2008: 34) wurde; ein Vorgehen, das eine allseitige Überwachung gestattet, die aber nicht mehr, wie der Film suggeriert, videografisch ist, sondern Film und Video übersteigt. Erst dadurch ist das Eindringen in das Bild möglich. Doch auch dieser Übergang lässt sich mit Kracauers filmspezifischen Eigenheiten deuten, denn das für die Enthüllung der Realität notwendige Kontinuum der Darstellung kann, da es tendeziell endlos ist, immer nur als Ausschnitt wiedergegeben werden und muss deshalb durch Unterbrechungen wie durch verschiedene Formen von Blenden als Fragment markiert werden. Dem Regisseur, der die physische Realität durchmisst und die Vorstellung eines Kontinuums herstellen möchte, stehen, so Kracauer, fünf »Wanderrouten« (ebd.: 100) zur Verfügung, um den endlosen Zusammenhängen physischer und psychischer Phänomene Schritt für Schritt nachzuspüren. Unter diesen Wegen kann der Filmemacher auf Route III ein einzelnes Objekt »umschmeicheln, um seine unbegrenzten Aspekte zu suggerieren« (ebd.: 102); eine umfahrende Bewegung, die nicht auf dramatische Handlungen abzielt, sondern auf kausale und räumliche Endlosigkeit, um einem Gegenstand »eine Fülle zweidimensionaler Formenmuster« (ebd.: 103) abzugewinnen. Route IV eröffnet eine Strecke, die in einem winzigen Augenblick auf die endlose Fülle der Erfahrungen aufmerksam macht; und hier folgt Kracauer einer Vorstellung Sergej Eisensteins, welchem die Möglichkeit vorschwebte, durch eine Zäsur den Fluss der dramatischen Handlung anzuhalten, um mittels eines »monologue intérieur [Herv. i.O.]« (ebd.) die Story aufzubrechen. Diese Idee trägt in Kracauers Wahrnehmung ein befreiendes Potential, wenn er beschreibt, dass durch den inneren Monolog Geschehnisse stillgestellt
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und praktisch zur Nebensache werden, um in einer nahzu bedeutungslosen Sequenz jenseits der Story Sinnesdaten zu sammeln, ohne, dass diese etwas zum weiteren Verlauf der Handlung beitragen müssten: »Das wahre Material ist demnach nicht bloß Leben in der Dimension artikulierter Bedeutung, sondern Leben unterhalb der Bewusstseinsschwelle – ein Geflecht von Eindrücken und Ausdrücken, das tief in physische Existenz hinabreicht.« (Ebd.: 104)
Dieses Intervall kann natürlich so montiert werden, dass es von einer Handlung in die Tiefen eines Bewusstseins einer Person abdriftet. Im Falle von DER MENSCH IM DING ist der Monolog im Stillstand der Bewegung der Frau und in der fortgesetzten kontinuierlichen Kamerabewegung jedoch vielmehr ein Monolog innerhalb des Bewegungsbildes und zugleich zwischen den Bildern, in welchem nicht mehr von einem menschlichen Inneren, sondern von einem Bewusstsein der Kamera ausgegangen werden muss. Die Tiefen, die hierbei jenseits von Handlung registriert werden, sind die des Filmbildes, dessen Fülle erkundet wird. Während uns Tykwer als auktorialer Geschichtenerzähler mit einem lexikalischen Wissen den Eindruck eines gewohnten filmischen Raums vermittelt, fällt auf, dass sich die räumlichen Verhältnisse nicht alltäglich gestalten. Die Straßenansicht wird durch den Kameraflug dreidimensional erfahrbar. Die Frau und die Dinge, die umschmeichelt werden, sind dabei trotz 3D-Animation keine dreidimensionalen Objekte, wie das der Fall sein könnte. Die Anordnung ist dreidimensional, aber sie besteht insgesamt im Sinne Kracauers aus flächigen Formenmustern, und selbst die Frau ist zweidimensional, so dass die Kamera nicht um sie herumfahren, sondern sie nur von vorne und leicht seitlich betrachten kann; und vor allem beim Heranfahren an die Gegenstände, dann wenn nur noch Farben, Strukturen und Texturen sichtbar sind, wird deutlich, dass dieser Raum im Kleinen aus Flächen besteht, die wie das Blau des Himmels zum einen endlos und zugleich abschließend sind. Dieser flächige, dreidimensionale Raum ist einerseits mit Mensch und Dingen gefüllt, aber in deren Flächigkeit wird dieser Bildraum als undurchlässig abgeschlossen erfahrbar. Hausfassade, Gehweg, Straße und die betrachteten Dinge bilden auf eigenartige Weise ein Behältnis, dass zugleich als tief, dreidimensional und voll wie flach, zweidimensional und leer gesehen werden kann. Es ist ein
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statischer Ort, aber ein stets bewegter Raum, der den Eindruck von Abgeschlossenheit erweckt, aber zugleich ist er nur ein räumliches Fragment, ein Zwischenraum, der Raum einer Einstellung einer größeren Bewegung eines nie stillstehenden Films. Dieser muss jedoch nicht mehr als filmischer, sondern aufgrund seiner andersartigen räumlichen Verfassung als nachfilmischer und postmedialer definiert, und zudem als ein Rahmen eines Bilddenkens verstanden werden, das an bestehende Konzepte eines filmischen Wissenschaffens anschließt.
F ILMSTILL -S TILLLEBEN Es ist naheliegend, die stillgestellte und mit Mensch und Dingen gedeckte Straße – bildlich mit dem Bordstein als Tischkante – die durch den fliegenartigen Flug der Kamera aufgedeckt wird, als ein verräumlichtes Stillleben zu betrachten; und nach allem was bisher gesagt wurde genauer: als ein Filmstill-Stillleben.5 Auch Gilles Deleuze erkennt ein theoretisches Potential des Films, wenn er in seinem zweiten Kinobuch vom italienischen Neorealismus ausgehend über rein optische und akustische Situationen und im Zusammenhang mit den Filmen Yasujiro Ozus über filmische Stillleben schreibt (1991: 26-40). Das Unterbrechen von sensomotorischen Zusammenhängen des Aktionsbildes führe in alltäglichen Situationen in rein optischen und akustischen Bildern dazu, dass Klischees aufgebrochen werden. Jenseits von wirtschaftlichen, ideologischen oder psychologischen Interessen würden durch Bewegungslosigkeit verschiedenartige Dinge und deren Beziehungen enthüllt, die sich »im Innern eines unklaren Bildes verbergen« (ebd.: 35ff.). Das Bewegungs-Bild verschwindet dabei nicht, aber die Bewegung vollzieht sich nun innerhalb der Bilder, die unaufhörlich in ihren Dimensionen wachsen. Die innere Bewegung der Kamera jenseits der Bewegung wird von Deleuze als »Kamera-Bewußtsein« (ebd.: 38) verstanden. »Dieses KameraBewusstsein stellt Fragen, formuliert Antworten, führt zu Einwänden
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Nebenbei: Nach Roland Barthes zeigt die erste Fotografie ein Stillleben, Der gedeckte Tisch von Nicéphore Nièpce um 1822, vgl. Barthes 1989: 98. Als andersartiges filmisches Stillleben unter digitalen Bedingungen vor Tykwer können die »bullet-time«-Szenen in The Matrix (1999) genannt werden, siehe Bordwell/Thompson 2008: 31f.
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und Provokationen, bildet Theoreme, Hypothesen und Experimente« (ebd.). Die Kamera analysiert und begreift in den Rekadrierungen des Bildfeldes die wahrnehmbare Welt, um die Wahrheiten des Kinos zu erforschen: »›Die Kamera wird ein Mittel des Abhebens und ein Beweis der Irrealität der Bewegung‹; das Kino wird zum Medium des Erkennens, nicht mehr des Wiedererkennens, zur ›Wissenschaft der visuellen Eindrücke, die uns zwingen, unsere Logik und unsere Sehgewohnheiten zu vergessen‹.« (J.-M. G. Le Clézio: »L’extra-terrestre«, in: L’ARC: FELLINI, Nr. 45, S. 28; zitiert in: Ebd.: 33)
Im Stillleben, das sich für Deleuze »durch die Anwesenheit und die Zusammenstellung von Gegenständen definiert, die sich in sich selbst hüllen oder zu ihrem eigenen Behältnis werden« (ebd.: 30), fällt dieses Kameradenken mit einer besonderen Zeitwahrnehmung zusammen. In der Unveränderlichkeit der Gegenstände wird ein direktes Bild der Zeit sichtbar: »Das Stillleben ist die Zeit, denn alles, was sich verändert, ist in der Zeit, nur sie selbst verändert sich nicht; sie selbst könnte sich nur in einer anderen Zeit verändern – und so fort, bis ins Unendliche. In dem Augenblick, in dem das kinematographische Bild dem Photo am nächsten kommt, unterscheidet es sich zugleich am radikalsten von ihm.« (Ebd.: 31)
In der unwandelbaren Dauer unbewegter Dinge werden Zeit und Denken visuell und auch akustisch wahrnehmbar, und nicht nur das Stillleben, sondern die Dinge selbst werden nach Deleuze zu direkten Bildern der Zeit (ebd.). Doch was passiert mit den Menschen? Während diese bei Deleuze zu handlungsunfähigen Zuschauern werden (vgl. ebd.: 13), geschieht bei Tykwer etwas anderes. Der Mensch schaut nicht einfach zu und er verschwindet auch nicht. Die bewegungslose Frau wird hier selbst zum unveränderlichen Bild und als Ding-Bild neben anderen ebenfalls zu einem direkten Zeit-Bild. Diese Anwesenheit und die Gleichstellung des Menschen neben den Waren ist im Stillleben ungewöhnlich, wenn man filmischen Vorgängern folgt, die sich speziell mit unterschiedlichen medialen Bilddimensionen dieser Bildart auseinandergesetzt haben.
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B EWEGUNGSLOSE B ILD -B EGIERDE In welcher Weise sich das theoretische Denken per Kamerafahrten weiter ausformen kann, dass wird an zwei filmischen Referenzen deutlich, beziehungsweise an deren aufeinanderfolgenden Beschreibungen durch Volker Pantenburg (2006: 107-142): Zum einen STILLEBEN von Harun Farocki, zum anderen PASSION von Jean-Luc Godard. Erschien zuvor die zufällige Verknüpfung über die Hausnummer 81 kabbalistisch, so drängt sich diese bei Pantenburg buchstäblich auf. DER MENSCH IM DING endet mit einem Zitat von Karl Marx – und genau dieses Zitat ist dem Text von Pantenburg über Farockis STILLEBEN vorangestellt (ebd.: 107). In STILLEBEN ist unverkennbar, welche Waren gemeint sind und auch die Frage, inwieweit diese Dinge metaphysisch oder magisch sind – eine Ungewißheit, die sowohl Naturwissenschaft wie Kunstwissenschaft betrifft – wird bei Pantenburg ausführlich erläutert (ebd.: 112ff.). Es geht um die Konfrontation von Stillleben aus dem 16. und 17. Jahrhundert mit zeitgenössischer Werbefotografie, deren Herstellungsprozess Farocki anhand der Arbeit von vier Fotografen beobachtet. Die Gemälde dokumentieren zum einen die Warenwelt historischer Epochen, zum anderen zeigen sie über viele Bilder hinweg eine Transformation in der Darstellung, die sich schließlich im Übergang zur Werbefotografie zuspitzt: die Verdrängung des Menschen durch die Waren. Diese Abwesenheit des Menschen ist für Bernhard Siegert die erste Definition eines Stilllebens: »Ein Stillleben ist ein Bild auf dem keine Menschen zu sehen sind.« (Siegert 2009: 00:06:45) Bei Farocki führt dieses Abhandenkommen zu zwei gegensätzlichen Interpretationen (Pantenburg 2006: 115): Zum einen wäre vom Stillleben bis zur Werbefotografie mit dem Verschwinden von menschlichen, religiösen, symbolischen Kontexten und somit mit der Verunmöglichung einer Erzählung, eine Profanisierung der Ware zu beobachten. Zum anderen wird die Ware in der Religion des Konsums vergöttlicht und zum Fetisch erhoben bzw. als rituelles, fotografisches Objekt des dominanten Fetischs Kapital inszeniert (ebd.: 123). Hierbei ordnet Farocki Bilder von Gegenständen und Bilder als Gegenstände, um deren bildinterne Theorie zu ermitteln. Diese Theoriearbeit funktioniert einerseits wie bei Tykwer über einen begleitenden Kommentar, der den Blick des Zuschauers über die Bilder und Gegenstände führt, andererseits über die Montageanordnung, die, so Pantenburg, im Gegenüberstellen von
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Malerei und Fotografie einen theoretischen Wert erhält (ebd. 113). Ein theoretischer Gehalt entsteht also durch die Konfrontation von unterschiedlichen Medien. In STILLEBEN die Malerei und die Fotografie, in Godards PASSION die Malerei und die Fernseh- bzw. Videobilder – doch was hat das mit Tykwer zu tun, bei dem weder die Waren in ähnlicher Fülle präsent und kunstgeschichtlich aufgeladen sind, noch ein Medienwechsel zwischen Malerei und Film oder Video deutlich gekennzeichnet wird? Die entscheidenden Denkbewegungen scheinen sich nicht nur in einer offensichtlich evidenten medialen Gegenüberstellung abzuspielen, sondern in den Formen unterschiedlicher medialer Bildorganisationen, die sowohl Farocki im Blick hat, wie auch Godard, der in einem Fernsehstudio bedeutende Gemälde wie Rembrandts Nachtwache (1642) oder El Grecos Die Himmelfahrt Mariä (1577) mit Menschen und Dingen nachstellt. Es ist die Staffelung unterschiedlicher Bildräume und deren Aufspalten, das die Bilder zu theoretischen Objekten werden lässt (vgl. ebd.: 116f., 125ff.). Das Studio wird bei Godard zum Labor, in welchem er tableaux vivants aufstellt, um die bewegten Bilder des Films einzufrieren und um diese mit der Kamera zu untersuchen. Die zweidimensionalen Gemälde werden dreidimensional verräumlicht und mit diesem Eindringen der Kamera ist die Vorstellung eines Bilddenkens verbunden: »Tatsächlich ›im Bild sein‹. Von jeher – unterbrochen lediglich von der Phase, in der er sich vom Kino verabschiedete und sich dem Video zuwandte – gibt es bei Godard die Utopie, ›in das Bild einzudringen‹ und einen Ort ›innerhalb des Bildes‹ zu finden, von dem aus die Gedanken ›über das Bild‹ artikuliert werden könnten.« (Ebd.: 135)
Diese Fahrten innerhalb der Bilder, mit welchen ein Schwenk von der erzählten, erzählbaren zur gesehenen, sichtbaren Kunstgeschichte verbunden ist (ebd.: 132), kommt in PASSION einer Penetration gleich, deren Sprengkraft von Pantenburg mit Eisensteins Begriff des »Ekstatischen« beschrieben wird, mit welchem dieser ein kinematisches Potential in den Gemälden El Grecos benennt (ebd.: 141f.). Räume einzelner Bilder werden im bewegten Gemälde und zugleich unbewegten Film an ihre Grenzen getrieben, entrahmt und die Intervalle und Zwischenräume von Malerei, Film- und Videobildern freigelegt. In diesem ekstatischen Dazwischen, in diesen Bildräumen innerhalb der Bilder, verschwindet bei Godard der Mensch nicht, sondern die an der
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Bildproduktion beteiligten und zu Bildern werdenden Menschen werden wie die Dinge penetriert (ebd.: 131f.), wodurch nach Godard etwas Drittes erscheint, das als Effekt der medialen Friktion und als ein Wissen des Films bezeichnet werden kann. Spannend ist, dass auch Kracauer vor Deleuze, Farocki und Godard im Verknüpfen von kleinen und großen Einstellungen das theoretische Potential des Films als ein Denken in Bildebenen erkannt und ihn mit den Naturwissenschaften verglichen hat, welche die Natur ebenso in winzige Partikel und Bewegungsphasen zerlegt (Kracauer 1985: 82). Im immerzu neuen Aufstellen von Hypothesen und dem beständigen Ausarbeiten von Theorien sieht Kracauer in der wissenschaftlichen Arbeit die gleiche Bewegung, wie in Montage-Sequenzen, in welchen durch Totalaufnahme – Nahaufnahme – Totalaufnahme der Versuch unternommen wird, »große Zusammenhänge und letztlich die Natur selbst zu begreifen.« (ebd.: 84)6 Für ihn besteht jedoch kein Zwang die Realität durch diesen Wechsel von Einstellungsgrößen zu ergründen. Zur Herstellung des Kontinuums ist auch eine Plansequenz legitim: »All diesen Verpflichtungen ließe sich vielleicht durch eine einzige Fahraufnahme genügen, die nacheinander das Ganze und seine verschiedenen Elemente zeigt. (…) Worauf es ankommt, ist, daß der Zuschauer in eine Bewegung einbezogen wird, die es ihm ermöglicht, die Straßendemonstration, oder was sonst ihn durch riesige Proportionen zu überwältigen droht, wirklich zu erfassen.« (Ebd.: 84)
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Dieses Denken in Einstellungsgrößen, durch welche große und kleine Dinge scharf gestellt werden und das damit verbundene theoretische Potential wird auch von anderen Autoren bekräftigt, z.B. von Michel Frizot (1998: 284) für die Fotografie und den neuen Wissenschafts-Fotografen, der bei seiner Forschungsarbeit abwechselnd in Mikroskop und Fernrohr schauen soll oder von Lorenz Engell (2006/07), der in der Arbeit des Fotografen in Blow Up (1966) von Michelangelo Antonioni das theoretische Vorgehen der Induktion, Abduktion und Deduktion als eine filmische Erkenntnispraxis und Denkbewegung erläutert.
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Abbildung 4: Kunst der Straße, Graffiti-Writing
Quelle: DER MENSCH IM DING (Tom Tykwer in Kluge, 2008)
W AHRNEHMUNGS -W ISSEN Malerei und kunstgeschichtlich bedeutende Bilder spielen in DER MENSCH IM DING keine Rolle, aber auch hier geht es um ein Denken, das zwischen bewegten und aktionslosen Bildern und durch ein Eindringen in die Ebenen des Filmbildes entsteht. In der Bewegung Himmel – Straße – Stillleben – Straße – Himmel durchläuft der Film mittels fade-in und fade-out Dimensionen, die für seine Konstitution als theoretisches Gebilde wesentlich sind. Einerseits kann diese Gegenüberstellung als Darstellung verschiedenartiger visueller Wissensräume verstanden werden, zugleich interpretieren sich diese Räume gegenseitig und bilden einen theoretischen Gesamtraum, durchdringen sich und erzeugen in den Übergängen einen Mehrwert. In ihrer Abfolge wird durch die kontinuierlich durchfahrenen Einstellungsgrößen eine erfahrbare Anordnung erkennbar. Diese folgt einer Übergangslogik und einem Differenzdenken, das auf das Dazwischen und die Simultanität scheinbar gegensätzlicher Elemente in den Schichten der Bilder aufmerksam macht. In diesen wird sichtbar, dass das, was wir im Film als alltäglich, flüchtig oder zufällig beobachten können, ein Zusammenspiel verschiedenartiger medialer Bedingungen ist. Diese Denkbewegung des Films ist einerseits eine Wanderung zwischen weiten und nahen Einstellungen, zum anderen topologisch ein Flug zwi-
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schen Dimensionen, die sich vor oder außerhalb, nach oder innerhalb des Films befinden. Insgesamt ist dieses Arrangement als Konzept einer filmischen Laborbedingung zu verstehen, in welcher von einem vorfilmischen Raum über den filmischen Raum im Filmstill-Stillleben eine Art visuelles Vakuum erzeugt wird, um ein spezifisches Wissen von Waren und Mensch jenseits der Mucken des bewegten Filmbildes zu untersuchen. Diese nachfilmische Dimension entsteht unter den von Kracauer beschriebenen Charakteristiken und Affinitäten. In einer Verräumlichung des Zufälligen und Flüchtigen werden gewohnte Dinge umschmeichelt. Das Filmstill-Stillleben erlaubt durch eine neuartige räumliche Ästhetik eine äußere Darstellung der Verhältnisse von profanen Waren und Menschen, die für die menschliche und die vertraute filmische Wahrnehmung undenkbar ist, und es ermöglicht unter Anwesenheit des Menschen ein anderes Kameradenken als bei Deleuze, Farocki oder Godard. In Tykwers ›Raumlupe‹ wird dabei erkennbar, dass der Mensch im Stillstand eines Bewegungsmoments verdinglicht und gleichermaßen zu einem flächigen Bild-Ding wird. Die allgegenwärtigen zweidimensionalen Waren um die Frau herum schließen das Stillleben hermetisch ab. Diese Welt ist ein Warenhaus. Das abgeschlossene Raumfragment erweckt den Eindruck, dass jenseits des Films unter stabilen Koordinaten der Raum und die darin enthaltenen Elemente vollständig vermessen werden könnten. Die Form der geschichts- und gesichtslosen Frau verdeutlicht jedoch, dass es sich bei diesem Wissensraum um die Perspektive einer einzelnen Einstellung handelt, die es nicht gestattet, hinter die äußeren Erscheinungen der Dinge zu blicken. Er ist kein zentrumsloses, digitales Panorama, sondern das Kamera-Bewusstsein bleibt dem Ausgangspunkt, dem Filmbild verhaftet. Der Mensch im Film-Ding wirkt gefangen, er ist zweidimensional und einseitig, besteht selbst nur aus Waren und deren Formenmustern. Seine Geschichte kann in dieser Ausschnitthaftigkeit nicht erzählt werden, denn im beliebigen Moment des Stillstands lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob er nicht zum nächsten Zeitpunkt im filmischen Raum, in der nächsten Rahmung seine Richtung ändert oder wie die zitternden Blätter gänzlich aus der Warenwelt, von der Straße und von dieser medialen Bildfläche verschwindet.
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DVD Kluge, Alexander (2008): NACHRICHTEN AUS DER IDEOLOGISCHEN ANTIKE. MARX – EISENSTEIN – DAS KAPITAL, Frankfurt a.M.: Filmedition Suhrkamp.
F ILME BLOW UP (Michelangelo Antonioni, 1966) BLUE (Derek Jarman,1993) DER MENSCH IM DING (Tom Tykwer, 2008) HEAVEN (Tom Tykwer, 2002) LE MEPRIS (Jean-Luc Godard, 1963) LOLA RENNT (Tom Tykwer, 1998) PASSION (Jean-Luc Godard, 1982) STILLEBEN (Harun Farocki, 1997) THE MATRIX (Andy und Larry Wachowski, 1999)
L ITERATUR Adachi-Rabe, Kayo (2005): Abwesenheit im Film. Zur Theorie und Geschichte des hors-champ, Münster: Nodus Publikationen. Barthes, Roland (1989, orig. 1980): Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bazin, André (2004): Was ist Film?, Berlin: Alexander Verlag. Blümle, Claudia (2005): »Blue-Box. Künstlerische Reflexionen einer Studiotechnik«, in: Engell, Lorenz/Fahle, Oliver (Hg.): Philosophie des Fernsehens, München: Fink Verlag, S. 41-54. Bordwell, David/Thompson, Kristin (2008): Film Art: An Introduction, New York: McGraw-Hill. Brauns, Jörg (2007): Schauplätze. Zur Architektur visueller Medien, Berlin: Kadmos. Deleuze, Gilles (1991): Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte (2007): Filmtheorie zur Einführung. Hamburg: Junius.
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Engell, Lorenz (2005): Bilder der Endlichkeit (= Serie moderner Film, Bd. 5), Weimar: VDG. — (1992): Sinn und Industrie. Einführung in die Filmgeschichte, Frankfurt a.M.: Campus Verlag. — (2006/07): »Filmtheorie. 1. Vorlesung: Zur Einführung – Film als theoretisches Objekt«, Vorlesung im Wintersemester 2006/07, Bauhaus-Universität Weimar, 01.12.2010, http://www.uniweimar.de/medien/philosophie/lehre/ws0607/Vorlesung%201.pdf Fahle, Oliver (2009): »Das Außen. Ein mediales Konzept der Moderne«, in: Naguschewski, Dirk/Schrader, Sabine (Hg.): Kontakte, Konvergenzen, Konkurrenzen. Film und Literatur in Frankreich und frankophonen Ländern. Marburg: Schüren, S. 49-60. Frahm, Laura (2010): Jenseits des Raums. Zur Topologie des Urbanen, Bielefeld: transcript. Frizot, Michel (1998): »Das absolute Auge. Die Formen des Unsichtbaren«, in: Ders. (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie, Köln: Könemann, S. 273-284. Kracauer, Siegfried (1985): Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, 1. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. McLuhan, Marshall (1992): Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf u.a.: Econ Verlag,. Marx, Karl (1968, orig. 1867): »Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis«, in: Ders./Engels, Friedrich: Das Kapital, Bd. I, MEW Bd. 23, Ostberlin: Dietz, S. 85-98. Pantenburg, Volker (2006): Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard, Bielefeld: transcript. Siegert, Bernhard (2009): »Zwitterobjekte. Eine Mediengenealogie des niederländischen Stillebens. Teil I: Trompe-l’œil-Geschmeiß. Jan van Kessels seltsame Räume«, Vortrag gehalten am 14.02.2009 auf der Tagung Kulturtechniken des Barock, 01.12.2010, Audiomitschnitt unter: http://www.ikkm-weimar.de/personen/siegert
Autorinnen und Autoren
Dominik Collet ist seit 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für die Geschichte der Frühen Neuzeit der Georg-AugustUniversität Göttingen. Promotion 2006 an der Universität Hamburg, Stipendiat am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen, dem Warburg Institute in London, dem Forschungszentrum Gotha und dem Zentrum für Interdisziplinäre Forschung Bielefeld. 2010 übernahm er die wissenschaftliche Koordination des Graduiertenkollegs »Interdisziplinäre Umweltgeschichte«. Seine Dissertation »Die Welt in der Stube« untersuchte frühneuzeitliche Kunstkammer als Archive historischer Wissenskulturen und Räume interkultureller Begegnung. Zur Zeit arbeitet er an einer Untersuchung der großen europäischen Hungersnot von 1771. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Museums, Kulturgeschichte des Wissens und Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit. Jüngste Veröffentlichung: Die Welt in der Stube. Außereuropa in Kunstkammern der Frühen Neuzeit, Göttingen 2007. Daniela Fleiß ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Siegen. Neben industriekulturellen und regionalgeschichtlichen Fragestellungen beschäftigt sie sich in ihrer Forschung vor allen Dingen mit sozialen Raumkonstruktionen im historischen Kontext, mit der Mentalitätsgeschichte des Bürgertums und mit Aspekten der Tourismusgeschichte. Jüngste Veröffentlichungen: Auf dem Weg zum ›starken Stück Deutschland‹. Image und Identität im Ruhrgebiet in Zeiten von Kohle- und Stahlkrise, Duisburg 2010 und Industrietourismus: Entdeckung und Konstruktion der Fabrik als touristischer Raum im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Karlheinz Wöhler/Andreas Pott/Vera Denzer (Hrsg.):
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Tourismusräume. Zur soziokulturellen Konstruktion eines globalen Phänomens, Bielefeld 2010, S. 207-224. Laura Frahm ist seit April 2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie. Von Januar 2005 bis Dezember 2007 Promotionsstipendium im Rahmen des Transatlantischen Graduiertenkollegs Berlin New York »Geschichte und Kultur der Metropolen im 20. Jahrhundert« mit einer raum- und filmtheoretischen Dissertation zum Thema »Metropolen in Transformation. Filmische Topologien der Metropole im 20. Jahrhundert«. Im Herbst 2006 und Frühjahr 2007 Forschungsaufenthalte als Visiting Scholar an der NYU und der Columbia University, New York. Promotion 2008 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Medientheorie und -geschichte mit Schwerpunkt Film, Raumtheorien, Topologie und filmische Räume, Metropolenforschung, medienkulturelle Perspektiven der Stadtforschung sowie Videoclips, Kurzfilm und Medienkunst. Jüngste Publikation: Jenseits des Raums. Zur filmischen Topologie des Urbanen. Bielefeld 2010. Nils Robert Güttler ist Promotionsstipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes, Visiting predoctoral research fellow am MaxPlanck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin; Abteilung: Prof. Dr. Lorraine Daston und assoziertes Mitglied der Nachwuchsgruppe »Schriftbildlichkeit« an der Freien Universität Berlin. Sein Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit dem Thema Botanische Weltbilder. Kartographisches Denken und frühe Ökologie. Dorit Müller ist Postdoc-Stipendiatin am Historisch-Kulturwissenschaftlichen Forschungszentrum der Universität Trier »Räume des Wissens«, zuvor am Graduiertenkolleg »Topologie der Technik« an der TU Darmstadt. Habilitationsprojekt zum Thema »Die Konstitution polarer Räume in Literatur und Bildmedien«. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. Promotion mit einer Arbeit zu Autofahrten in Literatur und Film um 1900 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Wissensgeschichte der Literatur, Theorie literarischer und bildlicher Präsentationsformen von Wissen, Verhältnis von Raum, Literatur und Medien. Zu den jüngsten Publikationen zählen: Populäres Wissen im medialen Wandel (Mithg., Berlin 2009) und
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Räume der Literatur. Exemplarische Zugänge zu Kafkas Erzählung Der Bau (Mithg., ersch. Berlin 2013). Sigrid Nieberle ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg. Studium der Neueren deutschen Literatur, Musik- und Theaterwissenschaften in München und Wien; Stipendiatin der Graduiertenkollegs »Geschlechterdifferenz und Literatur« (LMU München) sowie »Technisierung und Gesellschaft« (TU Darmstadt). Gastdozenturen in Debrecen, Brno und Oxford. Promotion zu FrauenMusikLiteratur des 19. Jh.s (München 1997); Habilitation zur literarhistorischen Filmbiographie (Greifswald 2006). Publikationen und Forschungsschwerpunkte: Intermedialität, Film und Gender Studies, Autorschaftskonzepte, Erzählforschung, Biographik. Rolf F. Nohr ist Professor für Medienästhetik und Medienkultur im Studiengang Medienwissenschaften der HBK Braunschweig. Er ist Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Medienwissenschaften sowie Herausgeber der Schriftenreihe MedienWelten (Münster: Lit). Arbeitsschwerpunkte sind mediale Evidenzverfahren, Game Studies und instantane Bilder. Er leitet das Forschungsprojekt »Strategie Spielen«. Letzte Buchveröffentlichungen: mit Serjoscha Wiemer (Hrsg.) Strategie Spielen. Medialität, Geschichte und Politik des Strategiespiels (Münster 2008). Als Monografie: Die Natürlichen des Spielens. Vom Verschwinden des Gemachten im Computerspiel (Münster 2008). Tim Raupach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater und Medien der Universität Hildesheim sowie Lehrbeauftragter der Hochschule für Musik und Theater, Leipzig. Jüngste Veröffentlichungen: Zum Konzept der Information im Internet. Untersuchungen zur jüngsten Geschichte der Medientheorie. (Diplomarbeit, Universitätsbibliothek der Universität Hildesheim, Hildesheim 2003). Die autopoietische Kulturindustrie – moderne Massenmedien zwischen Selbsterzeugung und Warenlogik. (Dissertation, Max Stein Verlag, Weimar 2009). Ramón Reichert ist seit 2009 Gastprofessor für Film- und Medienwissenschaft am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Zuvor Assistent am Institut für Medientheorie
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der Universität Linz. Dort 2008 Habilitation mit der Arbeit »Im Kino der Humanwissenschaften. Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens« (Bielefeld 2007). Studium der Philosophie, Kultur- und Medienwissenschaft in Berlin, London und Wien. Promotion 2001 zum Thema »Das Modell der Epidemie. Selbst- und Sozialtechniken im neuzeitlichen Krankheitsdiskurs«. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medientheorie, Neue und Visuelle Medien. Zu seinen jüngsten Publikationen zählen die Monographien Das Wissen der Börse. Medien und Praktiken des Finanzmarktes (Bielefeld 2009) sowie Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0 (Bielefeld 2008). Martin Schlesinger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, zuvor wissenschaftliche Hilfskraft am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie Weimar. Er studierte Medienkultur an der Bauhaus-Universität Weimar und Comunicação Social an der Universidade Federal de Minas Gerais, Belo Horizonte, Brasilien. Jüngste Publikation: Brasilien der Bilder (Weimar 2008). Sebastian Scholz ist Dozent am Media Studies Department der Universiteit van Amsterdam. Er war Stipendiat des DFG-Graduiertenkollegs »Topologie der Technik« an der Technischen Universität Darmstadt, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienwissenschaft in Bochum und Lehrbeauftragter u.a. am Institut für Medienforschung der HBK Braunschweig. Zu seinen Forschungsinteressen zählen die medialen Voraussetzungen von Sichtbarkeits- und Wissensproduktionen, Wissen(schaft)sgeschichte und/als Mediengeschichte sowie Räume des Televisuellen. Jüngste Publikation als Herausgeber (zusammen mit Julika Griem): Tatort Stadt. Mediale Topographien eines Fernsehklassikers (Frankfurt am Main/New York 2010). Jens Schröter ist seit 2008 Professor für »Theorie und Praxis multimedialer Systeme« an der Universität Siegen und Leiter der Graduiertenschule »Locating Media«, daneben Projektleiter (zusammen mit Lorenz Engell, Bauhaus-Universität Weimar) des DFG-Forschungsprojekts »Die Fernsehserie als Projektion und Reflexion des Wandels«. Von 1999 bis 2002 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter, Stiftungsprofessur Theorie und Geschichte der Fotografie Universität Es-
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sen, danach wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt »Virtualisierung von Skulptur. Rekonstruktion, Präsentation, Installation« im Siegener Forschungskolleg Medienumbrüche. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte digitaler Medien und der Fotografie, Dreidimensionale Bilder, Intermedialität, Medientheorie in Diskussion mit der Wertkritik, Auditive Medienkultur. Jüngste Publikationen: Das holographische Wissen (Mithg., Berlin 2009); 3D. Geschichte, Theorie und Medienästhetik des technisch-transplanen Bildes (Mithg., München 2009), Kulturen des Kopierschutzes I+II, (Mithg., Siegen 2010). Herbert Schwaab ist Akademischer Rat am Lehrstuhl für Medienwissenschaft der Universität Regensburg. Lehrt, forscht und veröffentlicht zur Filmphilosophie, zur Populärkultur, zu (non-quality) Fernsehserien (im Besonderen zur Sitcom KING OF QUEENS), zum philosophischen Konzept des Alltags und Gewöhnlichen, zum populären Kino, zur Kunst von Menschen mit Autismus und zu den Anime von Hayao Miyazaki. Assoziiertes Mitglied im Teilprojekt »Die Fernsehserie als Projektion und Reflexion des medialen Wandels« des SPP Mediatisierte Welten der DFG. Jüngste Veröffentlichungen: Erfahrung des Gewöhnlichen. Stanley Cavells Filmphilosophie als Theorie der Populärkultur, Münster 2010 und »Zwischen Kansas und Oz. Tatorte und Fluchtpunkte der Unterhaltung« (in: Tatort Stadt, 2010). Hedwig Wagner ist Juniorprofessorin für Europäische Medienkultur an der Bauhaus-Universität Weimar. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin im LOEWE-Schwerpunkt »Kulturtechniken und ihre Medialisierung« am Zentrum für Medien und Interaktivität Universität Gießen, Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichte und Ästhetik der Medien, Friedrich-Schiller-Universität Jena und Postdoktorandin/ wissenschaftl. Koordinatorin am Graduiertenkolleg Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz an der Universität Erlangen. Forschungsschwerpunkte: Medientheorie, Europawissenschaft: Interkulturelle Hermeneutik/Interkulturalität; Kulturwissenschaft: Gender Studies/Raumwissenschaft, Schnittstelle von Geschlechtertheorie und Medienwissenschaft. Jüngste Veröffentlichungen: Wie der Film den Körper schuf – Ein Reader zu Gender und Medien (Weimar 2006), Kulturhermeneutik. Interdisziplinäre Beiträge zum Umgang mit kultureller Differenz (Mithg, München 2008).
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Daniela Wentz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar im DFG-Forschungsprojekt »Die Fernsehserie als Reflexion und Projektion des Wandels«. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Theorie und Philosophie des Fernsehens, des Raums und des Bildes und das Verhältnis von Gender und Medien. Letzte Publikationen: Die Medien und das Neue (Mithg., 2009), »Stadt im Fluss. Liquidierung des Tatorts in zwei Episoden« (in: Tatort Stadt, 2010).
Kultur- und Medientheorie Sabine Fabo, Melanie Kurz (Hg.) Vielen Dank für Ihren Einkauf Konsumkultur aus Sicht von Design, Kunst und Medien November 2012, ca. 180 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2170-9
Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Februar 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
Sandro Gaycken (Hg.) Jenseits von 1984 Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung November 2012, ca. 170 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2003-0
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Kultur- und Medientheorie Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung Dezember 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1755-9
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Ramón Reichert Die Macht der Vielen Über den neuen Kult der digitalen Vernetzung Dezember 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2127-3
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Kultur- und Medientheorie Thomas Brandstetter, Thomas Hübel, Anton Tantner (Hg.) Vor Google Eine Mediengeschichte der Suchmaschine im analogen Zeitalter November 2012, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1875-4
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Özkan Ezli, Andreas Langenohl, Valentin Rauer, Claudia M. Voigtmann (Hg.) Die Integrationsdebatte zwischen Assimilation und Diversität Grenzziehungen in Theorie, Kunst und Gesellschaft Dezember 2012, ca. 260 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1888-4
Urs Hangartner, Felix Keller, Dorothea Oechslin (Hg.) Wissen durch Bilder Sachcomics als Medien von Bildung und Information Dezember 2012, ca. 260 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1983-6
Markus Leibenath, Stefan Heiland, Heiderose Kilper, Sabine Tzschaschel (Hg.) Wie werden Landschaften gemacht? Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Konstituierung von Kulturlandschaften Februar 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1994-2
Claudia Mareis, Matthias Held, Gesche Joost (Hg.) Wer gestaltet die Gestaltung? Praxis, Theorie und Geschichte des partizipatorischen Designs Dezember 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2038-2
Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Politiken des Ereignisses Mediale Formierungen von Vergangenheit und Zukunft Dezember 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1993-5
Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien Dezember 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012
Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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