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German Pages 218 Year 2019
Heidrun Friese, Marcus Nolden, Miriam Schreiter (Hg.) Alltagsrassismus
Kultur und soziale Praxis
Heidrun Friese (Prof. Dr.) ist Professorin für Interkulturelle Kommunikation an der TU Chemnitz. Ihre Forschungsinteressen umfassen Migration/Mobilität, Gastfreundschaft, Sozial- und Kulturtheorie. Marcus Nolden (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Chemnitz. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Extremismus, Rassismus, Erinnerungskulturen und Religion. Miriam Schreiter (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Chemnitz. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen digitale interkulturelle Kommunikation, digitale Spiele und Welten, digitale transnationale Alltagspraktiken besonders mit Blick auf Tod und Körperlichkeit.
Heidrun Friese, Marcus Nolden, Miriam Schreiter (Hg.)
Alltagsrassismus Theoretische und empirische Perspektiven nach Chemnitz
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Inhalt
Chemnitz im Herbst Heidrun Friese, Marcus Nolden, Miriam Schreiter ........................................................... 7
I. Alltagsrassismen Wir sind das Volk Zur Verwobenheit von race und state Shadi Kooroshy, Paul Mecheril .................................................................................. 17
Der Fremde als Feind Mikrorassismus Online Heidrun Friese ...................................................................................................... 31
Anti-Rassismus zwischen Identitäts- und Alteritätspolitik Ein praxislogischer Annäherungsversuch Felix Hoffmann...................................................................................................... 61
Antisemitismus heute – alte Bilder, neue Herausforderungen Juliane Wetzel ...................................................................................................... 79
II. Chemnitz und darüber hinaus Rechte Radikalisierung Besorgte Bürger_innen, rechte Subkultur und gesellschaftliche Rahmenbedingungen: Hintergründe der Ereignisse von Chemnitz Susanne Rippl ...................................................................................................... 101
Dem Mainstream auf der Spur Ideologische Muster, strategische Ziele und Aktionsformen der Identitären Bewegung Thomas Pfeiffer ................................................................................................... 119
Politiken des Todes: ProChemnitz’ Online-Mobilisierungsstrategien Miriam Schreiter.................................................................................................. 139
Hate Speech in Sozialen Medien: Motor der Eskalation? Liriam Sponholz ................................................................................................... 157
Diskriminierungserfahrungen und ihre Folgen für die Betroffenen Eine Befragung unter Chemnitzer Studierenden nach den Ausschreitungen in Chemnitz 2018 Frank Asbrock, Vera Kaiser, Claas Pollmanns, Daniel Corlett .......................................... 179
Das laute Schweigen in Chemnitz Zwischen Skandalisierung und Tabuisierung Marcus Nolden .....................................................................................................195
Autorinnen und Autoren ................................................................................213
Chemnitz im Herbst Heidrun Friese, Marcus Nolden, Miriam Schreiter Chemnitz. Am Samstag, dem 26. August 2018 wird am Rande des Stadtfestes ein 35-Jähriger bei einer Auseinandersetzung in der Innenstadt getötet. Als Verdächtige werden zwei Männer irakischer und syrischer Staatsangehörigkeit verhaftet. Es folgen rassistische Ausschreitungen, der Angriff auf das Restaurant Shalom und hitzige politische Debatten. Rechtsextreme und rechtspopulistische Gruppierungen nutzen die Gunst der Stunde zum öffentlichen Schulterschluss, die Polizei ist überfordert. Zu Ruhe und Besonnenheit Mahnende gehen im Geschrei unter. Am Montagvormittag ist der Tatort bereits zur ›Gedenkstätte‹ geworden. Sportliche Männer in Szenekleidung stehen neben älteren Männern und Frauen. Das getrocknete Blut auf dem Boden wird zum Pilgerort, zum Treffpunkt, an dem sich Bündnisse zwischen Bürgerinnen und Bürgern1 und bekennenden Rechtsextremen herstellen, an dem Rassismus wochenlang und meist unwidersprochen zur Schau getragen werden kann. Am 1. September folgt der sogenannte ›Trauermarsch‹ mit ca. 10.000 Demonstrantinnen und Demonstranten, der AfD, ProChemnitz, Pegida und die gewaltbereiten, rechtsextremen Szenen zusammenbringt. Auf den Videomitschnitten der Demonstrationen sind Rufe wie »Wir sind das Volk!«, und »Ausländer raus!« zu hören, man sieht den Hitlergruß. Chemnitz im Herbst, eine Stadt in Aufruhr – ein Ort, um etwas über den gesellschaftlichen Umgang mit Antisemitismus und Rassismus zu lernen? Chemnitz bestimmte seit dem Herbst 2018 über Monate hinweg immer wieder die nationale und internationale Berichterstattung (vgl. Boysen 2018 oder Bennhold 2018). Was in Chemnitz sichtbar geworden ist, beschäftigt auch uns. Wir lehren Kritische Interkulturelle Kommunikation an der Technischen Universität Chemnitz. Wir leben und arbeiten in Chemnitz. Wir setzen uns alltäglich mit Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und Menschenfeindlichkeit auseinander, die uns auf den Straßen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, beim Einkaufen oder in sozialen Netzwerken begegnen. Ausgrenzungspraktiken sind ein Bestandteil der Alltagskultur und Alltagsrassismus findet seinen »Ausdruck in scheinbar harmlosen alltäglichen Gesten«, 1 Im Weiteren haben wir gendergerechte Schreibweisen nicht vereinheitlicht, sind mit Unterstrich oder Sternchen doch jeweils unterschiedliche theoretische Konzeptionalisierungen verbunden.
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»auf dem Umweg über ein Nichts, eine scheinbar unbewusste Bemerkung, einen Scherz, eine Anspielung oder Andeutung, einen Lapsus, einen Witz, eine Konnotation und, das sei nicht verschwiegen, eine gewollte Boshaftigkeit, eine üble Absicht, einen absichtlichen Tritt oder Schlag, einen obskuren Wunsch, zu stigmatisieren und vor allem Gewalt anzuwenden, zu verletzen und zu erniedrigen und jene zu beschmutzen, die in unseren Augen nicht zu uns gehören« (Mbembe 2017: 108–109). Manchmal sind wir sprachlos. Manchmal fällt die spontane Reaktion schwer. Es werden Übersehen oder Überhören auch zu einer Überlebensstrategie. Chemnitz ist ein Ort, an dem hervortritt, was mit der Chiffre von den ›Ereignissen‹ sogleich negiert wird: alltäglicher Rassismus, der nicht nur eine macht- und gewaltvolle gesellschaftliche Bewertung und Platzierung von Menschen durch »Stereotypisierung« fixiert (Hall 2004: 143–144), sondern über die Herstellung der Differenz zwischen einem ›Wir‹ und einem ›Nicht-Wir‹ die Welt strukturiert. Alltagsrassismus wird gerne geleugnet, unter den Teppich gekehrt, unsichtbar gemacht. Verdrängung soll Tatsachen aus der Welt schaffen. Die Medien, so heißt es dann, hätten »alles aufgebauscht«, man müsse »Rücksicht auf das Image der Stadt, der Universität nehmen«, die mediale Konzentration auf Rechtsradikale verkenne das Engagement vieler Chemnitzerinnen und Chemnitzer für Weltoffenheit und Diversität. Die positive Vorstellung des ›Eigenen‹ wird empfindlich durch die alltäglichen Erfahrungen der ›Anderen‹ mit Rassismus gestört. Die Thematisierung der Tatsachen und nicht die Tatsachen selbst werden zu einem Angriff auf die Ordnung der städtischen Gesellschaft, kurz: die Negation von Rassismus wird zum Teil rassistischen Alltags. Wenig verwunderlich, neigen auch Studierende zur Verdrängung von Alltagsrassismus. Ausgestattet mit toleranter colorblindness und interkultureller Kompetenz, sollen individuelle Tugend und guter Wille dann institutionellen Rassismus, rassistische Strukturen und weißes Privileg vergessen machen. Alltagsrassismus ist durchaus kein Randphänomen. Die Frage ist auch, wie wir seinen Artikulationen begegnen können und welche Ressourcen dem Denken und Handeln zur Verfügung stehen. Wir möchten mit diesem Band einen interdisziplinären Beitrag zur Auseinandersetzung leisten und zugleich Erfahrungen aus Chemnitz einbringen. Der erste Abschnitt wird offene, versteckte und negierte Alltagsrassismen in den Blick nehmen. Rassistische Praktiken sind an historische Dynamiken, nationalstaatliche Strukturierungen, postkoloniale Konfigurationen und derzeitige Identitätspolitiken gebunden, die Subjektivitäten schaffen, strukturieren und auch neue Formen des Antisemitismus hervorbringen, mit denen sich auch antirassistische Praktiken auseinanderzusetzen haben. Vor diesem Hintergrund werden im zweiten Abschnitt die sogenannten ›Ereignisse‹ von Chemnitz und darüber hinaus und deren gesellschaftliche Bearbeitung diskutiert. Identitäre Mobilisierungsstrategien zeigen sich nicht
Chemnitz im Herbst
nur in Hate Speech, sondern auch in popkulturellen Elementen oder Trauerriten, die digital verbreitet werden. Zugleich ist Rassismus einerseits tragendes Element von Mobilisierung, andererseits wird Rassismus beständig verschoben: Er wird negiert, verdrängt, der Medienaufmerksamkeit zugeschrieben, er wird externalisiert. Die nur auf den ersten Blick paradoxen Modi – rassistische Mobilisierung und Verdrängung von Rassismus – halten die von Rassismus alltäglich Betroffenen dann in einem double bind. Mit diesen Strategien kommen aber auch nicht zufällig diejenigen aus dem Blick, die alltäglich Rassismus erfahren und deren Alltag die Folgen von Rassismen zu tragen hat. Shadi Kooroshy und Paul Mecheril verorten die jüngsten Chemnitzer ›Ereignisse‹ in einer Reihe rassistischer Ausschreitungen in der Bundesrepublik. Wie deutlich wird, sind derzeitige Entwicklungen einmal an die Krise nationalstaatlicher Ordnung und deren herkömmliche Bindung an Herkunft-Volk-Territorium, kurz: an die »westphälische Grammatik« (Benhabib 2004) gebunden. In diesem Kontext, vor diesem Hintergrund wird die vorgeschlagene »Rassismuskritik« zu einem analytischen Tool, das es erlaubt, Herrschaftsstrukturen kenntlich zu machen. »Rassismuskritik« in diesem Sinne besteht aus zwei Momenten, dem Primat des »natio‐ethno-kulturell kodierten Wir« und dem »territorialen Anspruch« eines dermaßen kodierten ›Wir‹, den bereits die klassischen politischen Vertragstheorien von Hobbes und Locke legitimiert haben und die zugleich die Verbindung von race und state hervorbringen und stärken. Dieser »Rassismuskritik« geht es nicht um normative Imperative oder moralischen Appell, vielmehr »um die Aufklärung der […] race-Kategorien und Einsichten in die Bedingungen der Möglichkeit, diese Wirksamkeit zu mindern« (S. 19 in diesem Band) und diesen Abstand für politische und pädagogische Praxis nutzbar zu machen. Heidrun Friese nimmt Elemente dieser Argumentationsstränge auf, wenn sie am Beispiel der Kommentare im Leserforum von Zeit Online zu Migration und Seenotrettung im Mittelmeer deutlich macht, wie derzeitige Migrationsdebatten identitär‐rassistisch gerahmt sind und die koloniale Imagination weiterführen. Dieser Mikrorassismus entwickelt ein doppeltes Register: Er tritt zum einen als Kulturrassismus zutage, der ›Kultur‹ und vermeintliche kulturelle Distanz zum Marker von Differenz, Ausschluss und verweigerter Teilhabe macht. Um Privilegien zu verteidigen und ›Kontamination‹ zu verhindern, negieren die alltäglichen Signifikationsprozesse nicht nur die Rechte mobiler Menschen, sondern erklären sie zu Feinden, die es jenseits der Grenzen zu halten gilt. Dieser Mikrorassismus fordert Überwachung und Grenzbefestigungen, seine Identitätspolitik klammert sich an den Nationalstaat und fordert nationalstaatliche Souveränität, die tatsächlich jedoch bereits obsolet geworden ist. Zugleich nährt er sich an subjektiver Anschauung, einer Subjektivität, die nationalstaatliche Souveränität anweist, sich durch Spaltung in ›Freund‹ und ›Feind‹ konstituiert, sich im permanenten Krieg sieht und den Tod der in diesen Politiken zu ›Anderen‹ gemachten in Kauf nimmt.
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Auch Felix Hoffmann adressiert derzeitige Identitätspolitiken. Er zeichnet die praktischen Logiken von Gewalt und Identifizierung nach und beschäftigt sich mit Debatten, die sich zwischen rassistischen und antirassistischen Politikformen bewegen. Die Verbindungen zwischen identitärer Politik und Nationalstaat machen die Fallstricke deutlich, in die antirassistische Perspektiven eingebunden sind. Denn strukturelle Konkurrenzdynamiken und unterschiedliche Privilegierungen lassen kaum Raum für breite Solidarisierung. Gegen identitäre Logiken fordert er eine Alteritätspolitik, die auf identitäre Zuschreibungen verzichtet und an wechselseitige Entgrenzung appelliert, ohne diese jedoch einfordern zu können. Auf die Wirkmächtigkeit von ›alten‹ Bildern und etablierten Narrativen des Antisemitismus weist Juliane Wetzel hin, wenn sie anhand aktueller Studien und Beispiele aus den Medien antisemitische Haltungen und Ressentiments in Deutschland kenntlich macht. Antisemitismus liegen einerseits die immer gleichen, an gegenwärtige Kontexte angepassten Stereotypenmuster zugrunde, die auch vom israelfeindlichen Aktivismus aufgenommen werden. Andererseits zeigt er sich als dynamisch, wird rechtsextremer Antisemitismus doch kaum noch thematisiert, während derzeit besonders antisemitische Haltungen unter Muslimen in den Fokus der Debatten gerückt sind. So projiziert die Mehrheitsgesellschaft in ihrem Bestreben, sich nicht mit den eigenen antisemitischen Ressentiments auseinandersetzen zu müssen, Antisemitismus auf eine ohnehin schon diskreditierte Gruppe – wodurch sich wiederum ein antimuslimischer Rassismus Bahn zu brechen vermag. Vor diesem Hintergrund nimmt der zweite Abschnitt – Chemnitz und darüber hinaus – die sogenannten ›Ereignisse‹ in den Fokus. Die durchaus absehbare Eskalation rassistischer Mobilisierung ist in gesellschaftliche Entwicklungen einzutragen. Diese Prozesse und die Verdrängung von Alltagsrassismus werden hier ebenso deutlich wie Akteure, etwa die Identitäre Bewegung, ProChemnitz oder Kaotic Chemnitz und ihre jeweiligen Mobilisierungsstrategien adressiert werden. Zugleich werden die Auswirkungen dieser Mobilisierung auf diejenigen deutlich, die davon alltäglich betroffen sind. Susanne Rippl sieht unterschiedliche Faktoren, die zur Eskalation in Chemnitz beigetragen haben. Zunächst führen die Sozialen Medien zur Mobilisierung. Zugleich haben zeitgeschichtliche Einflüsse, also Modernisierung, Globalisierung und neoliberale Politik zur Revitalisierung rechtspopulistischer und rechtsextremer Einstellungen in der sächsischen Bevölkerung beigetragen. Daneben kommen auch Spezifika Ostdeutschlands zum Tragen: Abwanderung, die Erfahrungen der Wendezeit und ein Demokratieverständnis, das durch autoritäre Strukturen und Staatsautoritarismus geprägt ist. Sachsen zeigt zudem eine Besonderheit, wurden rechtsradikale Umtriebe doch institutionell geduldet, während politische Bildung kaum auf der politischen Agenda stand. Chemnitz ist Teil dieser komplexen Gemengelage politischer und gesellschaftlicher Strukturen, in der ›besorgte‹ Bür-
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gerinnen und Bürger menschenfeindliche Einstellungen, Überfremdungsängste, autoritäre und antidemokratische Haltungen pflegen. Thomas Pfeiffer greift diese Aspekte auf, wenn er den Blick auf die auch bei Demonstrationen von Chemnitz aktive Identitäre Bewegung richtet. Die Entwicklungen, Strukturen, die Anhängerschaft und ideologischen Muster machen deutlich, dass die Identitäre Bewegung ein Polit-Marketing entwickelt, das die Konzepte der Neuen Rechten nochmals modernisiert. Deren strategischen Ziele und Konzepte richten sich darauf, den Brückenschlag in nicht eindeutig rechtsextreme Kreise der Gesellschaft zu ermöglichen. Über popkulturelle Anleihen sollen gezielt Jugendliche und junge Erwachsene angesprochen werden, es wird eine ›Erlebniswelt Rechtsextremismus‹ geboten, die, ohne herkömmliche rechtsextreme Symbole zu verwenden, zur Mobilisierung beiträgt. Auch Miriam Schreiter nimmt translokale Mobilisierungsstrategien in den Blick, wenn sie der ›Bürgerbewegung‹ ProChemnitz Aufmerksamkeit widmet. Anhand des Facebook-Auftritts dieser Gruppe wird deutlich, wie rassistisches und rechtsextremes Gedankengut strategisch verbreitet und legitimiert werden. Die FacebookSeite von ProChemnitz zeigt die Instrumentalisierung des Todes von Daniel H. – initiierendes Moment der Ausschreitungen in Chemnitz im August 2018 – zu Zwecken politischer Mobilisierung. Der Tod wird hier gezielt als ›Schockereignis‹ inszeniert, um ein Aufbruchsmoment zu schaffen. Das Gedenken an den Toten wird zum symbolischen Kapital politischer Mobilisierung, ebenso wie polarisierende Feind- und Angstbilder politisch wirksam werden sollen. Um ähnliche Mechanismen geht es auch Liriam Sponholz, die sich mit der Rolle von Hate Speech in Sozialen Medien befasst und danach fragt, welchen Beitrag die öffentliche Herabwürdigung und Diskriminierung von Menschen für die Mobilisierung leistet. Eine erweiterte Definition von Hate Speech, die über die übliche sprachlich‐inhaltliche Analyseebene hinausreicht, erlaubt es, diese als eine Kommunikationsform zu sehen, die Produzentinnen und Produzenten, Leserinnen und Leser sowie die technisch‐strukturellen Abläufe der Online-Plattformen mit einbezieht. Die Architektur Sozialer Medien gestaltet diese Kommunikation maßgeblich mit und Hate Speech wird zu einem Digital Object, das den Anlass zur Vernetzung von Inhalten und sozialen Akteuren liefert. Diese kommunikativen Möglichkeiten wirken sich auch auf die Mobilisierung aus. Ausgehend vom Konzept der Connective Action zeigt Sponholz am Beispiel der Facebook-Seite von Kaotic Chemnitz, wie wichtig das von den Userinnen und Usern gesponnene Kommunikationsnetzwerk für die Mobilisierung ist: Die Interaktion durch User‐generated Content führt zur Entstehung von Issue-Netzwerken. Über diese Issue-Netzwerke zirkulieren Inhalte, die zu Connective Action – etwa gegen Asylsuchende – beitragen. In den Sozialen Medien werden also gezielt ›Sorgen‹ zusammengetragen, verbreitet und dazu genutzt, um Menschen anzugreifen.
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Heidrun Friese, Marcus Nolden, Miriam Schreiter
Frank Asbrock, Vera Kaiser, Claas Pollmanns und Daniel Corlett wechseln die Perspektive. Sie machen die Auswirkungen dieser Mobilisierungen auf diejenigen deutlich, gegen die sie sich Herabwürdigung und Diskriminierung richtet. Sie zeigen Folgen, die Rassismus auf die Gesundheit von Betroffenen und auf deren Protestbereitschaft hat. Wie zahlreiche sozialpsychologische Studien zeigen, wirken sich Diskriminierungserfahrungen auf die physische und psychische Gesundheit aus und führen zu Coping-Strategien, zu einer stärkeren Identifikation mit der eigenen Gruppe und/oder zu Protest gegen Herabsetzung und Diskriminierung. Die im September 2018 unter allen Studierenden der Technischen Universität Chemnitz durchgeführte Befragung macht eindrucksvoll Ausgrenzungserfahrungen, Bedrohung und Furcht deutlich, die von rechtsradikaler Mobilisierung in der Stadt ausgehen. Eine Identifikation mit der Stadt Chemnitz – die institutionell gefördert werden soll – wird damit unmöglich. Nun gab es sicherlich Versuche, die Identifikation mit der Stadt zu fördern, das Geschehen zu bearbeiten und die Chemnitzer Stadtgesellschaft in die Diskussion von lokalen Issues einzubeziehen. ›Sorgen‹ der Bürger und Bürgerinnen sollten öffentlich angesprochen und bearbeitet werden. Marcus Nolden zeigt am Beispiel der Chemnitzer Bürgerdialoge jedoch, wie diskursive Ausschlusspraktiken rassistische Erfahrungen und die Perspektive der von Rassismus betroffenen Menschen aus städtischen Dialogangeboten verdrängen. Es wird deutlich, dass die Abwesenheit migrantischer Perspektiven in den Dialogangeboten zur Aufarbeitung der ›Ereignisse‹ einerseits eine gesellschaftliche Bearbeitung des Rassismus konterkariert. Andererseits werden im Rahmen dieser Veranstaltungen rassistische Ressentiments und ausschließende Mikro-Narrative reproduziert, die eigene – bewusste und unbewusste – Verstrickung in Praktiken des alltäglichen Rassismus verdrängt und auf extreme Gruppen projiziert. Rassismus, seine Mikro- und Makrostrukturen, seine ›Normalisierung‹ nachzeichnen, kritisch reflektieren und seinen alltäglichen Praktiken widersprechen: Den Autorinnen und Autoren danken wir für ihre engagierten Beiträge zu dieser Auseinandersetzung ebenso, wie André Claren, Stefan Günther und Annelie Neumann für ihre Unterstützung.
Literatur Benhabib, Seyla (2004). The Rights of Others: Aliens, Residents and Citizens. Cambridge: Cambridge University Press. Bennhold, Katrin (2018). Chemnitz Protests Show New Strength of Germany’s Far Right. The New York Times 30.08.2018 (https://www.nytimes.com/2018/08/30/ world/europe/germany‐neo-nazi‐protests-chemnitz.html?module=inline, 27.04.19).
Chemnitz im Herbst
Boysen, Jacqueline (2018). Racist Rioting in Chemnitz has Reopened Germany’s East-West Split. The Guardian 19.09.2018 (https://www.theguardian.com/ commentisfree/2018/sep/19/racist‐rioting-chemnitz‐germany-east‐west-afd, 27.04.19). Hall, Stuart (2004). Das Spektakel der »Anderen«. In: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften, Band 4. Hamburg: Argument Verlag, 108–166. Mbembe, Achille (2017). Politik der Feindschaft. Berlin: Suhrkamp.
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I. Alltagsrassismen
Wir sind das Volk Zur Verwobenheit von race und state Shadi Kooroshy, Paul Mecheril
Während in Georg Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod (1835) von Robespierre die Idee des Volkes zur Zerschlagung feudaler Verhältnisse eingesetzt wird, wendet sich der Slogan, mit dem ein Volk behauptet wird, während der Montagsdemonstrationen in der DDR 1989/90 gegen die Einschränkung politischer Artikulation und Gestaltung sowie gegen die Einschränkung der Freiheit auf grenzüberschreitende Bewegung durch die SED-Herrschaft. Die performative Selbstsetzung »Wir sind das Volk« wird dabei zunehmend zu »Wir sind ein Volk«. Die ›Wiedervereinigung‹ glückt, und kurze Zeit später brennt es in Deutschland: »Im September 1991 werden in Hoyerswerda Asylsuchende und Vertragsarbeiter nach mehrtägigen Ausschreitungen unter dem Beifall von Anwohnern aus ihren Unterkünften vertrieben und mit Brandflaschen und Steinen beworfen. An den Übergriffen sind bis zu 500 Menschen beteiligt. Neonazis feiern ›Deutschlands erste ausländerfreie Stadt‹ seit 1945« (Bundeszentrale für politische Bildung 2018). Mit Hoyerswerda beginnt eine Flut rassistischer Gewalt und die Orte ›RostockLichtenhagen‹, ›Mölln‹ und ›Solingen‹ werden zu Chiffren rechtsextremer Übergriffe. Es herrscht ein Klima der Bedrohung und Angst, das insbesondere das Leben der nicht‐weißen Bevölkerung Deutschlands kennzeichnet. Während die migrantische Sorge kaum öffentliche Sichtbarkeit, Aufmerksamkeit und Beachtung erhält, beschließt im Dezember 1992 die schwarz‐gelbe Regierung mithilfe der Stimmen der SPD, das Asylrecht einzuschränken. Es kommt zum sogenannten »Asylkompromiss«, das Grundgesetz wird geändert, der Artikel 16a eingeführt: Wer über einen »Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft oder aus einem anderen Drittstaat« in die Bundesrepublik Deutschland einreist, hat keinen Anspruch auf Asyl und kann sofort abgeschoben werden.1 Auch die aktuelle Vokabel des »sicheren Herkunftsstaates« wird erst durch die Einführung des Artikel 16a Absatz 3 Grundgesetz (GG) ermöglicht und legitimiert: 1 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art 16a (https://www.gesetze‐iminternet.de/gg/art_16a.html, 28.04.2019).
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Shadi Kooroshy, Paul Mecheril
»Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können Staaten bestimmt werden, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Es wird vermutet, dass ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, dass er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird«.2 Navid Kermani spricht in seiner Rede zum 65. Geburtstag der Verfassung über die »Verstümmelung des Grundgesetzes«: »Der Satz ›Politisch Verfolgte genießen Asylrecht‹« sei »1993 zu einer ›monströsen Verordnung aus 275 Wörtern‹ geworden, ›wüst aufeinander gestapelt und fest ineinander verschachtelt‹, nur um zu verbergen, ›dass Deutschland das Asyl als ein Grundrecht praktisch abgeschafft hat‹«.3 Seit 2014 erfährt der Ruf »Wir sind das Volk« eine erneute, gefährliche Konjunktur. Diesmal ertönt er aus den Mündern der Pegida-Anhänger und wendet sich explizit gegen diejenigen, die Chiffren des (imaginären) Nicht-Volks sind ›Muslime‹, ›Migranten‹, ›Asylanten‹: im Namen des Volkes gegen die migrationsgesellschaftlich als Andere Geltenden. Das Nationale ist eine verräumlichte Imagination mit territorialer Referenz. Eric J. Hobsbawm (1991: 20–21) beschreibt dies in seinem klassisch zu nennenden Werk Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780 so: »Wie die meisten ernsthaften Forscher betrachte ich die ›Nation‹ nicht als eine ursprüngliche oder unveränderliche soziale Einheit. Sie gehört ausschließlich einer bestimmten und historisch jungen Epoche an. Sie ist eine gesellschaftliche Einheit nur insofern, als sie sich auf eine bestimmte Form des modernen Territorialstaates bezieht, auf den ›Nationalstaat‹, und es ist sinnlos, von Nation und Nationalität zu sprechen, wenn diese Beziehung nicht mitgemeint ist«. Die Konstruktion des Nationalstaates, die konstitutiv auf einem bestimmten Typ der Konstruktion von Raum als Territorium sowie von Menschen, die in einem Verweisungszusammenhang stehen, als natio‐ethno-kulturell kodiertes Wir, steht unter gegenwärtigen Bedingungen praktisch‐funktional wie legitimatorisch in einer tiefen und grundlegenden Krise. Hobsbawm schreibt in dem Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe von 2004 seiner 1990 erstmals erschienen Abhandlung zu Nationen und Nationalismus: »Jener Prozess, der aus Bauern Franzosen und aus Einwanderern amerikanische Staatsbürger hat machen lassen, kehrt sich gegenwärtig um« (2004: XII), und er schließt das Vorwort mit der Frage: »Was wird im 2 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art 16a (https://www.gesetze‐iminternet.de/gg/art_16a.html, 28.04.2019). 3 Deutscher Bundestag, »Leiser Stolz auf eine solche Bundesrepublik« (https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2014//280972, 27.04.2018).
Wir sind das Volk
21. Jahrhundert an die Stelle des allgemeinen Modells der Beziehung zwischen Staat und Volk treten?« Seine Antwort ist: »Wir wissen es nicht« (2004: XIII). Dieses Nicht-Wissen scheint uns ein zentraler Bezugspunkt politischer Bildung (in der Migrationsgesellschaft) zu sein, derart, dass der gute Sinn der Offenheit, des Brüchig-Werdens von Kollektivimaginationen wie Volk und der ›Beziehung zwischen Staat und Volk‹ auszuweisen und das Nicht-Festgelegtsein dieser Beziehung als Bildungschance zu ergreifen wäre. Wir kommen darauf zurück. Anders als vorherrschende Krisensemantiken es nahelegen, haben wir es gegenwärtig weniger mit einer Migrations- oder Flüchtlingskrise zu tun, sondern mit der Krise der Legitimität und Funktionalität der nationalstaatlichen Ordnung, einer Krise, die nicht allein, aber auch durch transnationale Migrationen intensiviert wird. In diesem Beitrag möchten wir herausstellen, dass diese praktisch‐funktionale wie legitimatorische Krise eine Chance der Veränderung der Verhältnisse in Richtung normativ wünschenswerter Verhältnisse darstellt, und zwar deshalb, weil dem Nationalstaatskonzept eine symbolische und faktische Gewalt gegen natio‐ethno-kulturell kodierte Andere inhärent ist. Diese tritt insbesondere unter migrationsgesellschaftlichen Bedingungen der Pluralisierung und der zunehmenden Entkopplung von Herkunft und (räumlicher, kultureller, politischer) Gegenwart in ihrem konstitutiven Legitimationsdefiziten deutlich in Erscheinung. Im Anschluss an die Rassismuskritik (Mecheril 2004) stellt race ein analytisches Werkzeug dar, mit dem es möglich wird, Herrschaftsstrukturen zu analysieren, die andernfalls unsichtbar blieben. Die Ambition der Rassismuskritik ist es hierbei nicht, den Rassisten oder die Rassistin, den rassistischen Sprechakt oder die rassistische Handlung zu identifizieren und ein Urteil über sie zu sprechen. Rassismuskritik als wissenschaftliche Kritik ist nicht moralisches Urteil, sondern vielmehr eine Praxis, die das Wirken von Dominanz- und Herrschaftsverhältnissen, die Bedingungen ihres Wirksam-Werdens, ihre interaktiven, institutionellen und subjektivierenden Konsequenzen analysiert und auf den Begriff bringt. Rassismuskritik geht es um die Aufklärung der (in Zeiten des programmatischen Post-Rassismus zumeist hinter dem Rücken der Akteur_innen wirkenden) race-Kategorien und Einsichten in die Bedingungen der Möglichkeit, deren Wirksamkeit zu mindern. Mit der rassismuskritischen Perspektive wird es möglich, die im Anschluss an den Westfälischen Frieden (1648) mit der Geburt des Europäischen Staatensystems einhergehende Implementierung und bis heute Wirksamkeit entfaltenden, jedoch zumeist im Verborgenen der Selbstverständlichkeit des Geltenden wirkenden Macht- und Herrschaftsstrukturen in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken.4 Historisch, so unsere Annahme, befinden wir uns in einer Situation, in 4 Postfundamentalistische Sozialtheorien (Marchart 2013) gehen in Anlehnung und kritischer Weiterentwicklung des Foucaultschen Diskursbegriffs davon aus, dass es keinen außer‐diskursiven Referenzpunkt als Fundament des Sozialen gibt. Das, was als das natürlich Gegebene,
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Shadi Kooroshy, Paul Mecheril
der die rassismuskritische Aufklärung des Nationalstaates und jene allgemein natio‐ethno-kulturell kodierter Kollektive mit Anspruch auf ein Territorium von besonderer Bedeutung ist, da sich dieser imaginäre Vergesellschaftungsmodus in einer Krise befindet. Die Grenzen des »westfälischen Staates«, des Modells der westlichen Moderne, das auf der Territorialisierung des Raumes beruhend territoriale Integrität mit einheitlicher Gerichtsbarkeit verbindet (Benhabib 2016: 167) und das sich in der Welt nicht zuletzt mithilfe des kolonialen Imperialismus durchgesetzt hat, sind, so Benhabib (ebd.: 171), durchlässig geworden. Rassismuskritik ist nun auch als ein Einsatz zu verstehen, den empirisch wie ethisch guten Sinn dieser Durchlässigkeit zu verdeutlichen. Der Prozess der Verstaatlichung (›Verstaatifizierung‹) kann rassismuskritisch als Prozess beschrieben werden, der aus zwei konstitutiven, analytisch trennbaren Momenten besteht. Diese sollen im Folgenden skizziert werden.
Der Vorrang des natio-ethno-kulturell kodierten Wir Es ist oft herausgestellt worden, dass die Vorstellung der Staatswerdung einer Nation eine Selbstmythologisierung des Nationalstaates bezeichnet. Nicht vor der Staatswerdung bereits existierende Nationen drängen in ihre Staatlichkeit. »In Wirklichkeit«, schreibt Georg Kneer (1997: 95), »verhält es sich umgekehrt: Staaten ›bringen‹ Nationen und Ethnien hervor, dies geschieht eben dadurch, dass der Prozess der Herausbildung von Staaten als Werk von (imaginierten) nationalen Gemeinschaften beschrieben wird«. Nation ist nach Benedict Anderson eine vorgestellte politische Gemeinschaft, eine »imagined community« (1998), weil »die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert« (1998: 14–15). Nationen ermöglichen Beziehungen und Verbundenheiten zu Unbekannten im Modus von Face‐to-faceKontakten. Die nationalstaatliche Ordnung ist darauf angewiesen, dass bestimmte Fragen bestimmt beantwortet werden können und Gewissheit produziert wird, zum Beispiel und vor allem im Hinblick auf die moderne Frage, wer Bürger_in des Landes ist und wer nicht. In dem Augenblick, in dem der moderne Staat seit als selbstverständlich und fraglos gegeben scheint, was als neutraler Null- und Ausgangspunkt gilt, als das von allen Besonderheiten gereinigte Allgemeine oder als das Universelle, ist diesen Theorieansätzen folgend – in Anlehnung an Antonio Gramscis Hegemonietheorie (Gramsci 1991–2002) – das Ergebnis von gesellschaftlichen Kämpfen, die bestimmte Imaginationen als objektiv, wahr, unveränderlich erscheinen lassen bzw. so selbstverständlich werden lassen, dass sie in der Geschichte ihres Entstehens und Gewordenseins, zuweilen nicht einmal als Sachverhalt sichtbar und wahrnehmbar sind, obwohl oder gerade, weil sie in ihrer Selbstverständlichkeit omnipräsent sind.
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dem 19. Jahrhundert über diese Gewissheit verfügen will, schreibt Rudolf Stichweh (1995: 180), »gewinnen Techniken physischer Identifikation mittels Lichtbild, Hinweis auf körperliche Besonderheiten (Narben, Haar-, Augenfarbe) an Bedeutung [...]«. Diese Techniken werden gegenwärtig mit allen Möglichkeiten biotechnologischer Kontrolle und Identifikation intensiviert (vgl. Heinemann/Weiß 2016). Folgen wir der Perspektive poststrukturalistischer Theorieansätze, so ist die Konstitution des individuellen oder kollektiven Subjekts ohne Bezug auf einen als Anderen erkannten, erdachten, phantasierten Anderen unmöglich. Der Andere ist konstitutiv immer schon Teil des Selbst und das Subjekt mithin grundlegend de‐zentriert (Lacan 1973). Postkoloniale Theoretiker_innen haben in kritischer Aufnahme der poststrukturalistischen Kritik am Cartesianischen, voluntaristisch und selbst‐identisch gedachten Subjekts der Aufklärung und europäischen Moderne darauf hingewiesen, dass dieser Andere immer auch ein spezifischer Anderer ist und nicht allein eine abstrakte, ahistorische und apolitische Figur. Denn Subjektwerdung/-bildung vollzieht sich immer in konkreten Macht- und Herrschaftsverhältnissen und das hat reale Konsequenzen für die jeweiligen konkreten Subjekte. Das heißt, dass Subjektbildung sich nicht nur immer in Beziehung zum Anderen vollzieht, sondern dass diese Beziehung auch immer in historisch‐spezifischen Kontexten beziehungsweise Macht- und Herrschaftsverhältnissen verortet ist (Bhabha 2000). Das Wir des europäischen Nationalstaates ist ein Wir, das sich nur durch Abgrenzung konstituieren kann und diese Abgrenzung ist strukturell mit der Abwertung der imaginierten Anderen verbunden, da erst die Abwertung der Anderen die Höherwertigkeit des Wir garantiert und damit den Sinn ausweist, warum je ich mich diesem Wir verpflichte. Ich verpflichte mich, also bin ich höherwertig. Race und Nation sind nicht identisch. Es existiert jedoch eine strukturelle Verwandtschaft zwischen den Vereindeutigungspraktiken des Rassismus und der Logik des Nationalstaates, aufgrund derer beide in einer engen Wechselbeziehung stehen. So ist die von allen Nationalstaaten getragene Absicht der weitgehenden Verhinderung von Mehrstaatlichkeit und der Vereindeutigung von Zugehörigkeitsverhältnissen kennzeichnend und konstitutiv für die Zugehörigkeitspraxis nationalstaatlicher Ordnungssysteme. Neben dieser strukturellen Ähnlichkeit der Erzeugung von eindeutiger Differenz neigt die Praxis der Nation dann zu einem Rückgriff auf das Rasse-Denken, wenn die Legitimität des Vorrangs des Wir gegenüber (imaginierten) Ansprüchen Anderer in Frage steht und mithin begründet, beteuert und verteidigt werden muss. Die Verteidigung dessen, dass das natio‐ethnokulturell kodierte Wir einen raumspezifischen, territorialen (siehe unten) Vorrang besitzt, variiert hierbei einen anderen Typus von Vorrang: den universellen Vorrang des Wir, der etwa den Rassismus des europäischen Kolonialismus kennzeichnete. Das europäische Wir etablierte sich maßgeblich auch aus der fabulierten (Mbembe 2017: 28–30) Vorstellung eines nicht europäischen Anderen im Kontext von europäischer Expansion, Kolonialismus und Imperialismus. Said mit Aus-
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führungen zu »Orientalismus« (1981) und Hall mit der Analyse des konstitutiven Wechselverhältnisses von »Der Westen und der Rest« (1994) haben gezeigt, wie die europäische Identität mithilfe diskursiver Repräsentationstechniken, die das Andere und die Anderen Europas erzeugen, seit Beginn der Moderne etabliert und reproduziert wird. Die poststrukturalistische These der Bedeutungskonstitution und Subjektbildung durch Differenz aufgreifend erläutert Stuart Hall (1994), wie vor allem seit der sogenannten Entdeckung Amerikas ein Repräsentationssystem etabliert wurde, welches auf Rasse-Konstruktionen basiert und das imaginäre Subjekt Europas (westlich/europäisch = zivilisiert, rational, fortschrittlich; vgl. McCarthy 2015) unter anderem mithilfe von wissenschaftlichen Abhandlungen, Romanen, Reiseberichten in Komplementarität und ergänzender Abgrenzung vom radikal Anderen Nicht-Europas, dem »Rest« (nicht‐europäisch/nicht‐westlich = barbarisch, unzivilisiert, unterentwickelt) konstruiert (Hall 1994: 139). Das ›vernünftige‹ Subjekt der europäischen Aufklärung greift auf die Abgrenzung zu seinem ›un‐vernünftigen‹ Anderen zurück, um an sich selbst und den eigenen universellen Vorrang glauben zu können. Je intensiver der Vorrang des national kodierten Wir etwa durch die leibliche Präsenz von Menschen aus anderen Weltgebieten, die nicht nur von Not künden, sondern auch die Realität, um eine Formulierung von Joseph Carens (1987; dt. 2012) aufzugreifen, globaler Feudalität anzeigen, in Frage steht und die Bereitschaft, die Legitimität und Angemessenheit des privilegierten Zugangs des natio‐ethnokulturell phantasierten Wir zu materiellen und immateriellen Ressourcen in Frage zu stellen nicht besteht, desto eher greift die Sicherung des Wir-Vorrangs auf Rasse-Kategorien und damit auf die Dämonisierung der Anderen (Castro Varela/Mecheril 2016) zurück. Renata Salecl folgend kann die Nation als etwas begriffen werden, »das uns definiert, aber zugleich undefinierbar bleibt« (1994: 14). Wir haben es hier mit einer symbolischen Lücke zu tun, die unter bestimmten Bedingungen zum Problem werden kann. Spätestens dann stellen Rassekonzepte probate Mittel dar, die symbolische Lücke zu schließen. Je bedeutsamer die Schwierigkeit der Bestimmung der Grenze wird, desto attraktiver wird die phantasmatische Absicherung und Iteration des Wir. Dies gilt auch und mehr noch für umständlichere natio‐ethno-kulturell kodierte Konstruktionen mit territorialer Referenz wie »Europa« oder »der Westen«. Die Affektinszenierungen, die wir etwa in den diskursiven Bearbeitungen der Kölner Silvesternacht beobachten konnten (Hark/Villa 2017; Castor Varela/Mecheril 2016), die Intensität, mit der die Bedrohung durch die migrationsgesellschaftlichen Anderen empfunden wird, kann verstanden werden, wenn wir uns klarmachen, dass es hierbei um territoriale und Superioritäts-Ansprüche eines Wir geht und dass zur Durchsetzung dieses Anspruchs Rassekonstruktionen aufrufende Bilder und Imaginationen der Anderen dominanzkulturell sinnvoll sind und Bedro-
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hungen vergemeinschaften.5 Die grundlegende Krisenhaftigkeit und die konkreten Krisen eines natio‐ethno-kulturell kodierten Wir werden durch das In-SzeneSetzen der Bedrohung durch ein Außen, durch ein von außen Kommendes gemindert. Die Konstruktion eines sexuell oder terroristisch »gefährdenden Anderen« geht Hand in Hand mit der des »gefährdeten Wir« (vgl. etwa Bauman 2016; Foroutan 2016). Nicht die Zahl der ›Anderen‹ – dies sollte an diesem kurzen Bezug auf die Kölner Silvesternacht und den kollektiven Schrecken und die imaginär vergemeinschaftende Furcht angesprochen werden – steigert Rassismus. Das Insistieren auf der Rechtmäßigkeit der weitgehenden Undurchlässigkeit der natio‐ethno-kulturell kodierten Grenzen für die als radikal Andere fabulierten Anderen mobilisiert Rassismus. Es sind Grenzpraktiken der ab etwa Mitte des 20. Jahrhunderts formell und programmatisch anti‐rassistischen Nationalstaaten und natio‐ethno-kulturell kodierten Suprakontexte wie Europa, die rassistische Praktiken zur Folge haben. In diesem Sinne ist auch der Hinweis von Alana Lentin und Ronit Lentin (2006: 7) zu verstehen, die schreiben: »The discourse and practice of western states are both racist and anti‐racist«.
Der territoriale Anspruch des natio-ethno-kulturell kodierten Wir Das zweite Moment, auf das wir hier verweisen wollen, ist die Verknüpfung des Wir als Volk mit einem Territorium und dem Anspruch auf dieses. Die Assoziation von einem durch Grenzen markierten Staats-Territorium mit einem bestimmten Volk und dem als fraglos legitim erachteten Anrecht des Volkes auf das Territorium bedarf der rassismuskritischen Kommentierung, sowohl im Hinblick auf die Genealogie dieses Denkens als auch im Hinblick auf seine Gegenwart. Der moderne Staat produziert seit seiner Geburtsstunde bis in die Gegenwart race (Goldberg 2002). Dieser Herstellungsprozess beginnt maßgeblich mit dem Aufkommen der neuzeitlichen europäischen Staatstheorien Mitte des 17. Jahrhunderts. Vor dem historischen Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges und des englischen Bürgerkrieges, den damit einhergehenden Erfahrungen von Instabilität und Umbrüchen einerseits und andererseits den hegemonial werdenden Erkenntnissen und Verfahren der sogenannten Naturwissenschaft, der Entdeckung der subjektkonstitutiven Vernunft (cogito, ergo sum) bei gleichzeitiger 5 »Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird. Wir solidarisieren uns mit denjenigen, die friedlich dafür demonstrieren, dass die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird«, heißt es in der unter anderem von Henryk M. Broder und Thilo Sarrazin verfassten »Gemeinsamen Erklärung zur Verteidigung der territorialen und kulturellen Grenzen Deutschlands«, (https://www.erklaerung2018.de/index.html#letter_link, 28.04.2018).
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Zunahme imperialer Interessen und Aktivitäten der außereuropäischen Eroberung und Vernichtung ist die zunächst literarische Konstituierung des modernen Staates zu verstehen. Das drei Jahre nach dem Westfälischen Frieden, im Jahre 1651, erschienene Werk Leviathan von Thomas Hobbes kann als Startpunkt für die Tradition des methodologischen Individualismus und eine auf diesem aufbauende erste zentrale Legitimierungsschrift für den modernen Staat gelesen werden. Grundlegend für die Entfaltung der Argumentation im »Leviathan« ist die koloniale Eroberung des amerikanischen Kontinents. Hobbes bezeichnet den Zustand, in dem die Menschen ohne einen Staat leben, als »Naturzustand«, in dem jeder gegen jeden kämpft. In dieser Situation ist der Mensch des Menschen Wolf (Hobbes 1994[1658]: 59). Die Möglichkeit für dauerhafte stabile Sicherheit und Ruhe ist nicht gegeben. Im Leviathan stellt der Naturzustand den Zustand dar, in dem der Mensch in absoluter Freiheit lebt, jedoch auch in absoluter Unsicherheit. Die Menschen entscheiden sich nach Hobbes dafür, auf ihre absolute Freiheit zu verzichten und sich dem Staat zu unterwerfen, um dafür Schutz zu erhalten und ein ruhiges und weitgehend sicheres Leben führen zu können. Es ist das Moment der Unterscheidung zwischen Naturzustand und Staat, in dem race mit der Konzeption des modernen Staates verknüpft und so hervorgebracht wird. Hobbes projiziert den Zustand der Staatslosigkeit, den als einen Kriegszustand, dem »Krieg aller gegen alle« (Hobbes 1994 [1658/1647]: 83) definierten Naturzustand auf die »Neue Welt«, also auf das durch die weißen europäischen Seefahrer ›entdeckte‹ Amerika: »[D]ie Wilden Völker verschiedener Gebiete Amerikas besitzen überhaupt keine Regierung, ausgenommen die Regierung über kleine Familien, deren Eintracht von der natürlichen Lust abhängt und die bis zum heutigen Tag auf jene tierische Weise leben« (Hobbes 1966 [1651]: 97). Die durch die europäischen Seefahrer ›vorgefundene‹ Bevölkerung Amerikas wird als im Naturzustand lebend fabuliert und beschrieben (ebd.), während die europäische Bevölkerung in Abgrenzung hierzu imaginiert wird als eine, die diesen Zustand entweder verlassen hat, oder nie in diesem Naturzustand gelebt hat und nur hypothetisch als in diesem Zustand lebend gedacht werden kann (ebd.). Die im Naturzustand Lebenden werden als »Wilde« (ebd.: 66, 72, 97, 256, 508, 522) bezeichnet und dargestellt und bilden so die Kontrastfolie für die Konstruktion des zivilisierten, fortschrittlichen Europäers, der zu Wissenschaft, Architektur und Kunst in der Lage ist. Die als ›primitiv‹ vorgestellte Bevölkerung Amerikas wird dabei nicht als souveräne politische Einheit betrachtet und respektiert. Stattdessen wird Amerika ›vor den Europäern‹ als chaotischer, regelloser, anarchischer Ort inszeniert und fabuliert, der aufgrund dieses ontologischen Status den zivilisierten Staaten zur Eroberung zur Verfügung steht und um den die sich auf Augenhöhe begegnenden und dem Grundsatz nach und in dieser Frage respektierenden, mo-
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dernen europäischen Staaten des westfälischen Systems wetteifern können. Die ›Neue Welt‹, Amerika, wird ›vor den Europäern‹ als das radikal Andere konstruiert, als Natur und Naturzustand, der ein Zustand der Staatenlosigkeit ist. Diese durch Abgrenzung von fabulierten Anderen scheinbar ausgewiesene Überlegenheit der europäischen Staaten ist nun der strategische Zug, der es ermöglicht, die Kolonialherrschaft als legitime Herrschaft erscheinen zu lassen. Die Erfindung des »Naturzustandes« lieferte somit die epistemische Grundlage für die Legitimation des Kolonialismus und verfestigte und legitimierte so asymmetrische Herrschaftsverhältnisse (die in veränderter Form bis heute fortdauern, vgl. Moloney 2011). Auch John Locke unterscheidet wie Hobbes in Zwei Abhandlungen über die Regierung (1967 [1689]) zwischen einem Naturzustand und einem Staat und projiziert dabei den Naturzustand auf die sogenannte »Neue Welt«. Hierbei baut Locke im Rekurs auf die biblische Schöpfungsgeschichte eine Argumentationsfigur auf, der zufolge der Ursprung des Privateigentums im »Fleiß« und der »Arbeit« liegt. Nach Locke ist im Naturzustand aufgrund der göttlichen Vollmacht (1967: 217) an die Menschheit, sich die Welt zu eigen zu machen, alles zunächst »Gemeingut«, das jedem6 zur Verfügung steht. Erst durch die Arbeit des Menschen entsteht aus Gemeingut Eigentum. Das Pflücken eines Apfels wäre, dem Lockeschen Postulat folgend, die »Arbeit«, bei welcher der Apfel – der nach Locke, in einem seiner Beispiele (1967: 218–19), das »Gemeingut« wäre – durch die Tätigkeit des Pflückens (»Arbeit«) zum Eigentum der Person wird, die den Apfel gepflückt hat. Nach Locke darf der Mensch freilich nicht unendlich viel Eigentum anhäufen, denn: »[s]o viel, wie jemand zu irgendeinem Vorteil seines Lebens gebrauchen kann, bevor es verdirbt, darf er sich durch seine Arbeit zum Eigentum machen« (1967: 220). Wenn also der Mensch so viel anhäuft, dass er es verderben lässt, dann ist das nicht im Sinne Gottes, denn der Gebrauch beziehungsweise das Verwenden-Können (nicht verderben lassen), bildet das Maß für die Größe des Eigentums: »So viel Land ein Mensch gepflügt, bepflanzt, bebaut, kultiviert und so viel er von dem Ertrag verwenden kann, so viel ist sein Eigentum« (1967: 221). Die Anhäufung von Eigentum ist nach Locke also begrenzt. Durch die Einführung von Geld – so Locke – verändert sich nun dieses Maß, die Begrenzung wird aufgelöst. Nun können die Menschen ihr Eigentum – zum Beispiel Äpfel – in Geld transferieren, wodurch das Eigentum unabhängig von den Eigenschaften und der Vergänglichkeit der sozusagen vorsymbolischen Objekte erhalten bleiben kann. Denn Geld »verdirbt« nicht: »So kam der Gebrauch des Geldes auf, einer beständigen Sache, welche die Menschen, ohne daß sie verdarb, aufheben und nach gegenseitiger Übereinkunft gegen wirklich 6 Anzumerken ist hierbei, dass in den Staatstheorien Lockes und Hobbes Frauen nur »vermittels ihrer Zugehörigkeit zu Familien durch ihre Männer (oder ihre Väter) an die Gesellschaft gebunden« waren – sie stellten jedoch »keine gleichrangigen Gesellschaftsmitglieder« dar (Rudolph 2015: 44).
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nützlichem, aber verderblichen Lebensmittel eintauschen konnten« (1967: 231). Die Beschränkung des Eigentums auf die Produkte der eigenen Arbeit ist damit überwunden. Das durch Geld legitim angehäufte Eigentum bedarf nach Locke nunmehr des Schutzes durch einen souveränen (Territorial-) Staat, der mithilfe von Gesetzen Eigentumsverhältnisse regelt. Die Dinge und Ressourcen werden damit aus dem Zustand des »Gemeinguts« in den Zustand des »Besitzes« eines Staates und dessen Bürger überführt. »Arbeit« und »Gemeingut« sind hierbei auch für das Verständnis der Verwobenheit von race und state zentral (Arneil 1996).7 Denn in der Argumentation von Locke ist der Zugriff der Engländer auf die Ressourcen der konsistenter Weise auch »Neue Welt« genannten Welt legitim, da sich diese noch im »Naturzustand«, im Zustand von Gemeingut, einem Zustand der statelessness (Lentin 2008: 25) befindet. Der Hinweis auf das Fehlen staatlicher Strukturen (Locke 1967: 230) diente Locke somit dazu, die »Neue Welt« zum »Gemeingut« zu erklären. Den Bewohnern dieser Welt werden Eigentumsrechte auf die Ressourcen der »Neuen Welt« abgesprochen, die diese vor dem Zugriff durch die Europäer geschützt hätten, wodurch es möglich wird, Ausbeutung und Unterdrückung nunmehr rational begründet und legitimiert stattfinden zu lassen. Gerade weil in den Selbststilisierungen des Nationalstaates als Institution des Friedens und der Gerechtigkeit etliche historische wie systematische Aussparungen vorhanden sind, kann die Etablierung des modernen Staates nicht unabhängig von den Bestrebungen verstanden werden, Kolonialismus, also die Annektierung von Land als Nicht-Territorium, die Anhäufung von Reichtum und die Ausbeutung von Menschen, die als spezifisch Andere adressiert werden, zu legitimieren. Die Verknüpfung von einem durch Grenzen markierten Staats-Territorium mit der Großimagination Volk sowie der Glaube an ein legitimes Anrecht des Wir-Volkes auf das Territorium sind konstitutiv für den Nationalstaat. Um die Legitimität dieser Konstruktion durchzusetzen und an die Legitimität dieser Phantasie, mit anderen Worten an nationale Identität mit territorialer Referenz auch heute zu glauben, ist insbesondere in Zeiten der Krise der Ordnung die rassistische Kodierung der Anderen ein probates Mittel der Krisenbewältigung. Diese Kodierung wirkt, indem ein Rasse-Unterschied (im »Sprachversteck« – ein Ausdruck von Rudolf Leiprecht 2001) – der Kultur, der Ethnizität, und seit einiger Zeit erneut: der Religion – eingeführt und den Anderen eine Differenz unterstellt wird, die entweder universell (kolonialer, universeller Rassismus) oder kontextrelativ (differentialistischer oder kultureller Rassismus) den Vorrang oder die Superiorität des Wir ausweist. 7 Arneil bezieht sich in ihrem Essay zwar nicht explizit auf die Verwobenheit von race und state, sondern auf die Verwobenheit der Lockeschen »Eigentumstheorie« mit Kolonialismus – ihr Essay stellt jedoch eine gute Grundlage für weiterführende Überlegungen zur Verwobenheit von race und state dar.
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Schlussbemerkung Bildung und Politische Bildung in Zeiten der multiplen Krise8 bedarf theoretisch ausgewiesen und entschiedener als wir dies in der deutschsprachigen Tradition der Thematisierung von Bildung kennen, einen kritischen Bezug auf implizite und explizite Rasse-Kategorien, in und mit denen die Ungleichheit des Menschen durchgesetzt und legitimiert wird. Mit der Wirksamkeit des race-Denkens verbindet sich auch das, was Zygmunt Bauman (2016) »Adiaphorisierung« nennt: eine moralische Neutralisierung und die Alltagskultur einer buchhalterisch‐administrativen Gleichgültigkeit, die die Anteilnahme an dem Schicksal und Leid Anderer verhindert und damit auch jene politische Einbildungskraft hemmt, die erforderlich ist, um Menschheit politisch wie pädagogisch nicht partikular (»Wir sind das Volk«), sondern allgemein zu denken. Wenn wir Rassismuskritik als die Kunst verstehen können, nicht dermaßen auf rassistische Handlungs-, Erfahrungs- und Denkformen angewiesen zu sein (Mecheril/Melter 2009), dann heißt dies auch, dass rassistische Formen alle Gesellschaftsmitglieder, gleichwohl in sehr unterschiedlicher Weise, beeinflussen, führen, leiten und regieren. Rassismus betrifft alle, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Das Konzept Rassismuskritik beinhaltet macht- und selbstreflexive Betrachtungsperspektiven auf Handlungen, Institutionen, Diskurse und Strukturen. Wir gehen davon aus, dass es aufgrund der Verzweigtheit, der anschmiegsamen Wandelbarkeit und Sedimentierung der Denken, Fühlen und Handeln beeinflussenden race-Logik nicht möglich ist, durch singuläre Praxen, gewissermaßen ›auf einen Streich‹ von dieser Abstand zu nehmen. Politische Bildung sollte aber durchgängig als Beitrag konzipiert werden, diesen Abstand systematisch zu vergrößern. Der vorliegende Beitrag ist zuerst erschienen In: Hafeneger, Benno/Unkelbach, Katharina/Widmaier, Benedikt (Hg.) (2019). Rassismuskritische politische Bildung. Frankfurt am Main: Wochenschau Verlag, 78–91. 8 »Die Welt befindet sich in einer tiefgreifenden und multiplen Krise. Täglich erreichen uns neue Meldungen über Entlassungen, Betriebsschließungen und sich widersprechende Prognosen über die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung. Hinzu kommen weitere Einsichten in die Dramatik des Klimawandels, die Erosion biologischer Vielfalt, die sich erschöpfenden fossilen Energieträger, den wachsenden Hunger in vielen Regionen und über zunehmende Migration, weil immer mehr Menschen in ihrer Heimat nicht mehr (über-) leben können. Wir erleben zudem eine Krise gesellschaftlicher Integration durch soziale Spaltungen sowie eine Krise der Repräsentation und Willensbildung, da immer mehr Menschen dem politischen System nicht mehr zutrauen, die relevanten Probleme auch wirklich zu bearbeiten und sich mit ihren Anliegen kaum mehr vertreten sehen« (Brand 2009: 1).
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Der Fremde als Feind Mikrorassismus Online Heidrun Friese
(Screenshot, Post Zeit Online, 20.06.2017)
The ideal subject of totalitarian rule is not the convinced Nazi or the convinced Communist, but people for whom the distinction between fact and fiction (i.e., the reality of experience) and the distinction between true and false (i.e., the standards of thought) no longer exist. (Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism)
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Heidrun Friese
»Die geringe Bereitschaft [zur Integration von Migranten, H. F.], dürfte wohl auch an der kulturellen Prägung der Einwanderer liegen«, so der Kommentar eines Users auf dem Leserforum von Zeit Online (ZON) zu einem Artikel über die europäischen Zustimmungswerte zur Einwanderung, ein Post, der immerhin 198 Likes erhalten hat.1 Am 18. Mai 2015 habe ich mich unter anderem Namen in diesem Forum angemeldet und den ersten von 505 Kommentaren gepostet.2 Digitale Räume sind ein Erscheinungsort der Gegenwart und ich wollte nachvollziehen, wie im gesellschaftlichen Kontext des Erstarkens von rechtsnationalen, rechtsradikalen Bewegungen – nicht nur in Chemnitz – Fragen von Migration, Asyl und Seenotrettung verhandelt werden. Insbesondere die Befindlichkeiten derjenigen, die (sich) zur bürgerlichen Mitte zählten, schienen aufschlussreich, um die derzeitigen politischen Veränderungen, wenn schon nicht zu verstehen, so doch wenigstens ermessen zu können. »In einer entwickelten Volkswirtschaft kann ein Anstieg der Migranten in der erwachsenen Bevölkerung das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf um zwei Prozent erhöhen. Die Betonung liegt auf dem Wort ›kann‹. Grundvoraussetzung ist eine ordentliche Integration. Kulturelle Anpassung und Sprache sind entscheidend« (#6, 118 Likes). 1 Kommentar #3 zum Artikel »Einwanderung erhält in vielen Staaten wenig Zustimmung«, 10.12.2018, ZON, 353 Kommentare, (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-12/ migration‐einwanderung-ablehnung‐pew-institut‐umfrage?cid=23198049#cid-23198049, 13.03.2019). Ist die Anzahl der Likes nicht angegeben, wurde der jeweilige Post nicht positiv bewertet. 2 ZON schien mir geeignet für einen solchen Versuch. Die Zeit, eine liberale Wochenzeitung, deren Herausgeber Marion Gräfin Dönhoff und Helmut Schmidt hießen und die, so die Vermutung, von denen gelesen wird, die nicht unbedingt bei Pegida-Demonstrationen »Absaufen, Absaufen!«‹ schreien. Eine Leserschaft, die mit Bourdieu gesprochen, einen ähnlichen Habitus zeigt, etwas, das mir eigentlich bekannt sein müsste. Leser mit Abitur, Hochschulbildung, das liberale Bildungsbürgertum – eher kosmopolitisch denn nationalistisch, eher liberal‐progressiv denn konservativ. Zudem bietet das Leserforum einigermaßen durchsichtige Bedingungen, so zeigt die Moderation bspw. an, dass Beiträge gelöscht wurden. Bis zum Abbruch des Selbstversuchs am 30.12.2018 und bevor die Datenmenge für interpretative Verfahren unübersichtlich wurde, habe ich 505 posts, hauptsächlich zur ›Migrationsdebatte‹ und zu Fragen von Search and Rescue (SAR) im Mittelmeer verfasst, einem Feld, in dem ich mir zumindest etwas Expertise zutraue (vgl. Friese 2014, 2017a). Natürlich erschwert die Moderation auf ZON eine umfassende Analyse von Rassismus im Leserforum und wirft methodische Probleme auf (vgl. Hughey/Daniels 2013). Mir geht es jedoch gerade um den ›unsichtbaren‹, ›versteckten‹, Rassismus zwischen den Zeilen. Damit kommen auch konfligierende Interpretationen in den Blick, die mit unterschiedlichen Normen und Werten einhergehen. Einem eher liberalen Framing von Migration durch Journalisten steht dann ein identitätsorientiertes Framing einer im Forum aktiven Leserschaft gegenüber, die Migration als Gefahr und Bedrohung sieht, Grenzen und Souveränität fordert. Im Folgenden werden keine Usernamen angegeben. Die unkorrigierten Originalkommentare und alle Antworten auf meine Kommentare wurden dokumentiert, indexiert und gesichert.
Der Fremde als Feind
Auf meine Nachfragen: »Was genau soll nun mit dem Begriff ›Kultur‹ bezeichnet werden? An welche ›Kultur‹ soll sich wer ›anpassen‹? Wer ist denn nun ›integriert‹, gar ›ordentlich‹?« (#6.6, 3 Likes), folgte wiederum die Entgegnung eines anderen Users ad hominem: »Wenn Sie mit dem Begriff ›Kultur‹ nichts anfangen können, empfiehlt es sich andere Länder zu besuchen. Dort werden Sie vielleicht feststellen, worüber hier geredet wird« (Antwort auf #6.6.).3 Erstaunlich ist weniger die Herablassung (»Wenn Sie damit nichts anfangen können, empfiehlt sich« – dann dürfen Sie hier vielleicht mitreden…), erstaunlich ist vor allem die Sicherheit, mit der ein vollkommen ungeklärter Kulturbegriff als evident erklärt wird, mit dem durch den Hinweis auf Reisen »in andere« Länder kulturelle Differenz verräumlicht, naturalisiert und damit jeglicher Befragbarkeit entzogen ist. Grundlage dieser unbefragbaren Sicherheit, dieser Gewissheit ist dann die eigene Anschauung. Die von ZON moderierten Beiträge verzichten auf Hate Speech,4 Posts auf ZON pflegen den alltäglichen Mikrorassismus. Dieser Mikrorassismus breitet sich zwischen den Zeilen aus, er ist geschmeidig und allusiv, Anspielung wird zu Übereinkunft, die Hass und Ressentiment teilt.5 Auch zeigt sich, dass subjektives Gefühl, mit dem auch sprachlich ein narzisstisches ›Ich‹ in den Mittelpunkt gerückt ist,6 subjektive Anschauung und Erfahrung zur einzigen Richtschnur für Vernunft und zur gültigen Urteils- und Argumentationsinstanz werden. In dieser Subjektivierung, der ausschließlichen Gültigkeit der Souveränität des Ego wird eigentlich jegliche Diskussion sogleich ausgeschlossen und abgeschlossen, kann subjektive Anschauung doch kaum je einem kritischen Urteil unterworfen werden. »Tut mir leid, daß ich mißtrauisch bin. Ich halte dies Narrativ von den ›Sklavenlagern‹ für ein Märchen, daß sich die Asyl-NGOs ausgedacht haben. In dieser ganzan ›Flüchtlings‹-Geschichte wurde schon so viek gelogen, daß ich es einfach nicht glaube« (#9, 118 Likes, Hervorheb. H.F.).7 3 Kommentare zum Artikel von Tim Kröplin »Migrationspakt: Warum Geflüchtete kaum eine Gesundheitsgefahr für Zielländer sind. Schleppen Geflüchtete viele Infektionskrankheiten ein?«, ZON 06.12.2018 (https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2018-12/migrationspakt‐zuwanderung-gesundheit‐risiko-un‐kommission?cid=23146533#cid-23146533, 13.03.2018). Der Fremde als derjenige, der Krankheit über eine Gemeinschaft bringt, ist ein alter Topos der Ausgrenzung. 4 Zu Hate Speech in Sozialen Medien, vgl. Shepherd/Harvey/Jordan et al. 2015. Zu Rassismus im digitalen Zeitalter, Daniels (2012, 2018). 5 Achille Mbembe (2017: 107–120) spricht von »Nanorassismus«. 6 Bereits Richard Sennet (2008) hat auf das Verschwinden des Unterschieds zwischen privat und öffentlich hingewiesen und auf die »narzisstische Tyrannei« bezogen, die nur noch gelten lässt, was sie als authentisch Eigenes begreift. 7 Schlichte Information wird dann gar nicht wahrgenommen – das Verhältnis der Likes (118/2) macht dies deutlich, im Zentrum stehen ›Meinung‹ und Position. Mein Post: »United Nations. Security Council/ Letter dated 1 June 2017 from the Panel of Experts on Libya established pursuant to resolution 1973 (2011) addressed to the President of the Security Council‘ 104. Abu-
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Auf diese Verfahren und die damit verbundene Kulturalisierung von Interessen, Konflikten und die alltäglichen, mikrorassistischen Framings wird gleich zurückzukommen sein. Grob sortiert stecken die im Forum vorgebrachten Meinungen – tatsächlich handelt es sich ja um Meinungen – den folgenden Rahmen ab: •
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Die Politik habe versagt, oder besser: Die Politiker haben versagt. Besonders Bundeskanzlerin Merkel, da sie 2015 Migranten »eingeladen« und zudem rechtswidrig gehandelt haben soll. Die Migranten/Asylsuchenden sollen bereits in den Herkunftsländern (oftmals als ›Heimat‹ bezeichnet) aufgehalten werden. Dazu ist praktisch jedes Mittel recht. Auf dem Mittelmeer gerettete Menschen sollen sofort wieder zurückgeschickt werden, damit sich abschreckende Wirkung entfaltet. Den ›kriminellen Schleusern‹ müsse das Handwerk gelegt werden, damit Menschen nicht mehr im Mittelmeer ertrinken. Die Grenzen – herausragendes Zeichen staatlicher Souveränität – seien gegen die »Invasion« der Ungewollten zu verteidigen. Migration gefährde den Sozialstaat, damit Wohlstand und inneren Frieden. Migranten aus »fremden Kulturkreisen« ließen sich nicht ›integrieren‹ und unterhöhlten deutsche ›Identität‹ (Friese 2018b: 58).
Die Beiträge zeigen zugleich die Verschränkungen derzeitiger Politiken des ›Migrationsmanagements‹, deren ›humanitäre‹ Legitimation und populärer, utilitaristischer Kosten-Nutzen-Rechnungen,8 sie verteidigen weißes Privileg durch Ausses against migrants were widely reported, including executions, torture and deprivation of food, water and access to sanitation. The International Organization for Migration (IOM) also reported enslavement of sub-Saharan migrants.35 Smugglers, as well as the Department to Counter Illegal Migration and the coastguard, are directly involved in such grave human rights violations (see also para. 245). 105. Abd al-Rahman Milad (alias Bija), and other coastguard members, are directly involved in the sinking of migrant boats using firearms. In Zawiyah, Mohammad Koshlaf opened a rudimentary detention centre for migrants in the Zawiyah refinery. The Panel collected information on abuses against migrants by several individuals (see annex 30). In addition, the Panel collected reports of poor conditions in migrant detention centres in Khums, Misratah and Tripoli (see para. 93 and annex 31)« (#9.2, 2 Likes). Kommentare zum Artikel »Es gibt dort keine Menschlichkeit«, Interview: Andrea Backhaus, 02.08.2018, ZON, 640 Kommentare (https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-08/ libyen‐migranten-eu‐human-rights‐watch-interview?cid=21622745#cid-21622745, 21.03.2019). 8 Es ist erstaunlich, wie sich die offizielle Lesart, das politische Framing ›humanitärer‹ Legitimation von Grenzsicherung, Militär- und Polizeiaktion, die Legitimation des Einsatzes erheblicher Mittel zur Externalisierung europäischer Grenzen und der Grenzsicherung durch diktatorische Regimes, durchgesetzt hat. Diesen Diskurs und die Bindung von Rassismus und postkoloniale Situation habe ich ausführlicher an anderer Stelle dargestellt (Friese 2017a: 32–45).
Der Fremde als Feind
schluss und Forderungen nach geschlossenen Grenzen und machen ein rassistisches, kulturrassistisches Framing deutlich. In dem Forum werden Fremde nicht vergast, ins Meer geworfen oder zu Untermenschen, die es schlicht auszurotten gilt. Vielmehr findet sich mehr oder minder elegant und eloquent verpackt, was wir mittlerweile als kulturellen Rassismus bezeichnen, der mit Emphase kulturelle Differenz und fremde ›Kulturkreise‹ beschwört, um eigene nationalkulturelle Identität zu affirmieren und damit zugleich an das verdrängte koloniale Erbe anzuknüpfen. Vermutlich würden die User den ›versteckten‹ Rassismus negieren und entrüstet von sich weisen (vgl. Lentin 2018), gelten offen rassistische Bemerkungen doch – noch – als moralischer Makel (DiAngelo 2018) und nicht als als Marker gesellschaftlicher Ordnung und Modus der Sicherung von Hierarchie, Exklusivität und Privileg. »Ich bin kein Rassist, aber…«, ist wohl der gängige Ausdruck bürgerlicher Entgrenzung und dieser Ordnung, die zugleich Ethik und Moral gegen subjektive Erfahrung stellt und ausruft: »Das wird man wohl noch sagen dürfen!« Es ist und bleibt ja auch erstaunlich, mit welch konservativer Vehemenz man sich allenthalben anschickt, ›Negerküsse‹, ›Mohrenstraßen‹ oder ›Indianer‹-Verkleidungen als angestammtes, genuines Kulturgut zu verteidigen und mit kolonialem Erbe deutsche Identität und Integrität ausschließlich deutscher Kultur gegen Andere, drohende Kontaminierung und Veränderung retten zu wollen. Nun sind gerade die zunehmende Verachtung und Beschädigung von Ethik und Moral, von Normen und Werten natürlich bereits wieder Teil rassistischer Diskurse und der derzeitigen Verschiebung der Grenzen des Sagbaren. Diese Verschiebung wird auch unter dem Mantel des Befreiungskampfes gegen die Zwänge von Moral, verweichlichter ›Gutmenschen‹, von Political Correctness, ›Sprechverbot‹ und – philosophisch verbrämt – unter dem Stichwort ›Hypermoral‹ geführt. Nun bleibt uns diese Position meist die Antwort auf die Frage schuldig, wie ziviles Zusammenleben ohne den Bezug auf Ethik und Moral möglich sein sollte, ohne im Kampf aller gegen alle oder der Tyrannei des Stärksten und seiner untergebenen Gefolgschaft zu enden. Tatsächlich sind ›Sprechverbote‹ wohl universell, stets gesellschaftlich ausgehandelt und Teil der Orientierung an jeweils gültigen Normen und Werten; öffentliche Beleidigung, Herabsetzung und Erniedrigung, Demütigung und Schmähung nicht unbedingt Zeichen gesitteten Zusammenlebens oder Mittel zu dessen Förderung.9 Auch gehört die Kritik an Vorurteil und Intoleranz 9 Zugleich wurden mit der Schmährede, die auf Herkunft und Stand, sexuelle Orientierung, Laster zielte – kurz: die Nichteinhaltung von Tugend, Norm und Wert geißelte – Norm und Wert doch zugleich affirmiert und damit sowohl Bindung, sozialer Konformismus als auch – das zeigen ritualisierte Schmähreden gegen die Obrigkeit nicht nur im Karneval – Handlungsmacht der Ohnmächtigen erzeugt. Vgl. die Arbeiten des Sonderforschungsbereichs »Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung.« (SFB TU Dresden https://tu‐dresden.de/gsw/sfb1285, 17.03.2019).
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wohl zum Teil der europäischen Aufklärung, ein vermischtes Erbe, auf das man sich – gegen Andere – dann doch so gerne beruft. Derzeit wird man zum ungläubigen Zeugen grotesker diskursiver Verschiebungen. Ausgerechnet die liberale Verteidigung der Rechte von Minderheiten in liberalen Demokratien, die sich gerade dem Schutz des Individuums, dem Schutz von Minderheiten, Checks und Balances zur Verhinderung der Tyrannei einer Mehrheit, des vermeintlich ›gesunden‹ Menschenverstandes verschreiben, soll nunmehr Identitätspolitiken und den autoritär‐populistischen Zeitgeist verantworten.10 Den Betroffenen von dominanten Identitätspolitiken wird damit die Schuld an ihrer Position als Minderheit aufgedrängt. Anders ausgedrückt: Hätten sich Minderheiten um die berechtigten Interessen der Mehrheit, also etwa die ökonomische Entwicklung und die soziale Frage gekümmert, wären sie gar keine Minderheit, über die die populistische Welle der sozial ›Abgehängten‹, der gesellschaftlich an den Rand gedrängten ›Mehrheit‹ hinwegzurollen droht. Hätten sie nicht Anerkennung und Rechte eingeklagt, die Einrichtung gesellschaftlicher Normalitätsvorstellungen nicht herausgefordert, so wäre die liberale Ordnung nicht gefährdet. Der Formulierung von Forderungen nach Rechten von Minderheiten soll damit der legitimatorische Boden entzogen werden. Neben diesen Verfahren werden die bekannten und alten Figuren der sozialen Imagination und des humanitären oder populistischen Diskurses iteriert, die Migranten, die Fremde als Opfer oder Feinde sehen (Friese 2017a, 2018b, c), an rassistische Topoi binden und Alltagshandeln und Diskurse damit rahmen. Diese zeigen dann auch die unsichtbaren, verschobenen kolonialen Grundlagen und deren Einschreibungen und machen deutlich, dass Europa sich über den externalisierten Anderen konstituiert (vgl. Stoler 1995: 5). Mittlerweile hat der Begriff Kultur den der Rasse ersetzt und wird – spätestens seit 9/11 – auch durch den ausgrenzenden Marker ›Religion‹ ergänzt. Es lohnt, sich an dieser Stelle Étienne Balibars Fassung des herrschenden »Rassismus ohne Rassen« zu vergegenwärtigen: »Der neue Rassismus ist ein Rassismus der Epoche der ›Entkolonialisierung‹, in der sich die Bewegungsrichtung der Bevölkerung zwischen den alten Kolonien und den alten ›Mutterländern‹ umkehrt und sich zugleich die Aufspaltung der Menschheit innerhalb eines einzigen politischen Raumes vollzieht. Ideologisch gehört der gegenwärtige Rassismus, der sich bei uns um den Komplex der Immigration herum ausgebildet hat, in den Zusammenhang eines ›Rassismus ohne Rassen‹, wie er sich außerhalb Frankreichs, vor allem in den angelsächsischen Ländern, schon recht weit entwickelt hat: eines Rassismus, dessen vorherrschendes Thema 10 Der postmoderne Diskurs, so diese Rede, habe eindeutige Wahrheiten erschüttert, Beliebigkeit erlaubt und damit Fake News und populistische Bewegungen erst möglich gemacht. Gegen diese Anwürfe hat letzthin Poppenberg (2019) sehr besonnen argumentiert.
Der Fremde als Feind
nicht mehr die biologische Vererbung, sondern die Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen ist; eines Rassismus, der – jedenfalls auf den ersten Blick – nicht mehr die Überlegenheit bestimmter Gruppen oder Völker über andere postuliert, sondern sich darauf ›beschränkt‹, die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Traditionen zu behaupten. Diese Art von Rassismus ist zu Recht als ein differentialistischer Rassismus bezeichnet worden« (Balibar 1992: 28). In diesem Sinne kann also von »differenzialistischem« Rassismus oder von Kulturrassismus gesprochen werden, mit dem Differenz markiert und kodiert wird. Es geht also um die Signifikationsprozesse der sozialen Imagination, das Framing von Differenz in seinem jeweiligen politischen Kontext, der diese auch im Alltag wirkungsmächtig macht. Auch beruhen rassistische Signifikationsprozesse, Markierungen und Ausgrenzung nicht ›schlicht und einfach‹ auf Vorurteil und Diskriminierung, die durch guten Willen und ›colorblindness‹, durch wohlwollende Maßnahmen und Appell an Toleranz, durch interkulturelle Pädagogik, Aufklärung, Vernunft und Einsicht zu überwinden wären. Wie Perspektiven der CriticalWhiteness-Studien deutlich machen, sind sie Teil von alltäglich hergestellten Teilungen, machtvollen Beziehungen, der Verteidigung der Normalität weißen Privilegs, struktureller Ungleichheit und kultureller Hegemonie, die persönliche Toleranz und individuelles Wohlwollen immer schon übersteigen (Friese 2019). Nun entwickeln sich diese alltäglichen Signifikationsprozesse auch und gerade in digitalen Räumen, die sich von jenen der ›klassischen‹ Öffentlichkeit nicht nur durch Reichweite, Anonymität und technische Anordnungen unterscheiden. Mit großen Hoffnungen auf demokratische Willensbildung und Partizipation, der Aussicht auf die spielerische und grenzüberschreitende Auflösung von herrschenden diskursiven Hierarchien begleitet, wurden die Entwicklungen des Netzes 2.0 einst begrüßt. Dagegen standen Positionen, die vor Zensur, bislang ungeahnter Überwachung (Morozov 2011) und vor der Etablierung von algorithmisch organisierten digitalen Räumen warnten,11 die politischen Auseinandersetzungen nunmehr ausrichten, kompakt formieren und Foren zu Konformismusmaschinen machen. In diesem Kontext hat sich ein Diskussionsstrang entwickelt, der nicht nur die Formen von öffentlichen Auseinandersetzungen und deren Folgen für ziviles Zusam-
11 Zur Politik digitaler Plattformen und algorithmischen Kulturen, vgl. hier nur Gillespie 2010, 2013; Seyfert/Rohberge 2016.
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menleben, Deliberation und Demokratie in den Blick nimmt,12 sondern auch den im Netz sich ausbreitenden Rassismus thematisiert.13 Die folgenden Bemerkungen bewegen sich an diesen Schnittstellen. Im Weiteren soll deutlich werden, wie derzeitige Auseinandersetzungen um Migration alltäglich mikrorassistisch gerahmt sind, einen Raum des Sagbaren schaffen und die öffentliche (digitale) Auseinandersetzung bestimmen. Dieses Argument werde ich in zwei Schritten verfolgen. In einem ersten Schritt sollen zunächst die Verbindungen zwischen ›Rasse‹ und ›Kultur‹ angesprochen werden. Vor diesem Hintergrund wird in einem zweiten Schritt gezeigt, welche Bilder und Topoi der Differenz den Anderen, den Fremden als Feind schaffen, wie diese kulturrassistischen Diskursen und postkolonialen Konstellationen eingeschrieben sind und die Auseinandersetzungen um Mobilität rahmen.
Kultur und rassistisches Framing »Aus humanitären Gründen die eigene Kultur zu zerstören ist nicht hilfreich & zielführend« (#3.5, 57 Likes).14 »Weitestgehende Kulturelle/ethnische/religiöse Homogenität verspricht halt Stabilität, das hat sich in den letzten Jahrhunderten immer wieder als Fakt herausgestellt. Die Multikulti-Ideologen sollten vielleicht mal ab und zu in ein Geschichtsbuch schauen. Die massenweise Einwanderung von kulturfremden hat fast immer zum Niedergang und zur Unterdrückung der Aufnahmegesellschaft geführt« (#4.16, 52 Likes). 12 Die folgenden Bemerkungen verstehen sich auch als Beitrag zur Debatte um civility, politeness und zivilen Umgangsformen in öffentlichen/online geführten politischen Debatten und deren Bedeutung für Demokratien, vgl. hier nur Coe/Kenski/Rains 2014; Papacharissi 2004; Sobieraj/Berry 2011. Das ZON-Forum bietet Schlagabtausch und personalisierter Konfrontation einen Raum. Es geht dann einmal um öffentliche Performanz eigenen Gefühls und der Möglichkeit der Selbstdarstellung, aber auch um die Demonstration von numerischer Stärke und Gefolgschaft (diese wird auch durch die Anzeige von Empfehlungen gefördert und ist zugleich ein Mittel der Kundenbindung und Teil von Unternehmensstrategien). 13 Für einen kritischen Überblick zu Studien über Rassismus im Netz und zu Studien über Rassismus in Internetstudien, vgl. hier nur Daniels 2012, 2018; Hughey/Daniels 2013; Kanjere 2018. 14 Mein Kommentar dazu: »Wer ›zerstört‹ die ›eigene Kultur‹, was genau ist denn mit ›eigener‹ Kultur gemeint und was heisst ›zielführend‹? Humanität gehört offenbar nicht zur ›eigenen Kultur‹? Nun soll Europa sich doch genau in Humanität und Humanismus gründen. Oder wird Europa genau dann zerstört, wenn es inhuman ist?« (#3.20). Beide Kommentare zum Artikel Ferdinand Otto/Marlies Uken/Ulrich Ladurner, »Kann Horst Seehofer auf Italien verzichten?« 29.06.2018, ZON, 577 Kommentare (https://www.zeit.de/politik/deutschland/201806/eu‐beschluesse-migration‐angela-merkel‐csu-asylstreit?cid=20922095#cid-20922095, 19.03.2019).
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An diesen Kommentaren, an diesen vier Sätzen ist nichts harmlos.15 ›Fremde‹ sind hier nicht einfach ›Fremde‹ (Friese 2018d). Was sie auszeichnet, ist ein Mehr an Fremdheit, nämlich Kulturfremdheit. Eine Fremdheit, die den Einzelnen immer schon übersteigt und sogleich in eine – homogen gedachte – und abgegrenzte Einheit einreiht. Nun ist ein solches Verständnis von Kultur sicherlich das Ergebnis von spezifischen Kulturbegriffen der Moderne, die nicht zufällig an die Entwicklung und Konsolidierung von Nationalstaaten und an die Trinität Nation-Staat-Territorium gebunden sind. Sie ist auch das Resultat von (anthropologischen) Kulturtheorien, die Aufstieg und Niedergang von Kulturen theoretisiert haben. Besonders der Begriff ›Kulturkreis‹ ist in populäre und populistische Vorstellungswelten und Diskurse eingegangen und hat eine erstaunliche Wirksamkeit entfaltet. Dieser Begriff wurde durch den deutschen Ethnologen Leo Frobenius (1873–1938) geprägt, einem Vertreter der wilhelminischen Völkerkunde, der geographisch‐kulturelle Einheiten mit ähnlichen Einzelelementen (materielle Kultur, Sozialordnungen, Religion etc.) an anthropomorph‐organizistische Kulturstadien band, die von Ergriffenheit, der Jugend einer Kultur über Ausdruck, Reife einer Kultur bis zur Anwendung, dem Alter einer Kultur zeugen und einem innerem Entwicklungsgesetz (paideuma) unterliegen sollten (Frobenius 1921). Nicht nur Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes (1999 [1918]), auch Samuel Huntingtons The Clash of Civilisations (1996) haben solcherart romantischen, holistisch, essentialisierenden und/oder organizistischen Kulturbegriff entwickelt, der, vielfach umgeschrieben, von Johann Gottfried Herders ›Volksgeist‹ über Adolf Bastians ›Elementargedanken‹ bis hin zur Wiener Völkerkunde um Pater Wilhelm Schmidt (›Urkulturkreis‹) reicht und der Legitimation der vermeintlichen kulturellen Einheit und einer homogenen Volksgemeinschaft dienen sollte.16 In diesem Kontext ist der An15 Mein Kommentar und nicht beantwortete Fragen: »Was genau soll denn nun unter ›kultureller/ethnischer/religiöser Homogenität‹ verstanden werden? Eine homogene deutsche Kultur? Ethnisch homogener Nationalstaat? Was genau ist denn nun die ›deutsche‹ Kultur? Wie genau unterscheidet die sich von der der Rumänen, Polen, Bulgaren, Italienern, Kroaten? Hier gerne nochmal die Herkunftsländer der Einwanderer in die BRD im Jahre 2017: Rumänien 219.989 / Polen 152.522 / Bulgarien 78.247 / Italien 63.495, Kroatien 53.050 / Syrien 50.551 / Türkei 47.750 / Ungarn 46.141 / USA 32.927 / Griechenland 30.586 (https://de.statista.com/s...)« (#4.50, 2 Likes). Kommentare zum Artikel »Einwanderung erhält in vielen Staaten wenig Zustimmung«, 10.12.2018, ZON, dpa, 353 Kommentare (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/201812/migration‐einwanderung-ablehnung‐pew-institut‐umfrage?cid=23198167#cid-23198167, 16.03.2019). 16 Die deutsche Völkerkunde war nicht nur in die kolonialen Anstrengungen einbezogen, sie hatte auch Anteil am NS-System und der Imagination von Herrenmenschen. Die Kollaboration des Faches mit dem nationalsozialistischen System wurde relativ spät systematisch in den Blick genommen (vgl. Hauschild 1995; Rössler 2007; Steinmetz 2010; Mosen 1991).
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schluss an Vorstellungen, die Aufstieg und Niedergang von Kulturen postulieren, nicht verwunderlich. Die Wiederauflage eines unhaltbaren Kulturbegriffs aus dem 19./20. Jahrhundert – dem Zeitalter des europäischen Imperialismus und Kolonialismus – ist nur ein Baustein der derzeitigen Kulturalisierung von Interessen und Konflikten und der angeschlossenen alltagsrassistischen Identitätspolitiken. Die Moderne hat unterschiedliche Ordnungsversuche der Beziehungen zu denjenigen hervorgebracht, die zu Fremden gemacht werden. Während das liberale Projekt Unterschiede zwischen Menschen anerkennt, diese an Bildung, lokale Umstände und soziale Verhältnisse bindet, die Veränderung zugänglich sind, dieser Universalismus also zugleich Veränderbarkeit gegen Kontingenz und Fatum der Geburt einschließt, behauptet das nationalistisch‐rassistische Projekt, das mittlerweile eben kulturalisiert ist, dass das Fatum Rasse-Kultur einer Veränderbarkeit prinzipiell unzugänglich ist. Diese Version erklärt, dass »certain people will never converted into something other than they are. They are, so to speak, beyond repair. One cannot rid them of their faults; one can only get rid of them«, so Zymunt Bauman (1995: 2–3). Assimilation, Akkulturation, Integration oder Geburt und Schicksal: »Under the pressure of the modern order‐building urge, the strangers lived […] in a state of suspended extinction. The strangers were, by definition, an anomaly to be rectified« (ebd.: 3; Friese 2017a: 55).17 Was hier auch zentral wird, ist die Furcht vor Massen (›Masseneinwanderung‹), überwältigender Fremdheit, der das vermeintlich homogen‐abgrenzbare ›Eigene‹ nichts entgegenzusetzen hat. Sie wird in rechtsradikal‐identitären Kreisen unter dem Stichwort ›Umvolkung‹, ›der große Austausch‹,18 gefasst und dient weißen Suprematisten zur Begründung und Rechtfertigung von Terror. Als Migranten kehren die people of color zurück, die man als menschlichen Rohstoff, als Arbeitssklaven 17 Zentral ist, dass man aus einer politischen Gemeinschaft qua Wechsel der Staatsbürgerschaft austreten kann, aus der vermeintlich ›angeborenen‹ Kultur jedoch nicht, die als Makel und Marker von Differenz immer am Einzelnen haftet und den Zweifel nach unbedingter Loyalität nährt. Daher auch die Verachtung für die ›Passdeutschen‹, die ja niemals zuzugehören und niemals ›richtig‹ Deutsch werden können. Analog zu den Nationalstaatsmythologien des 19. Jahrhunderts werden vermeintliche Kollektividentitäten zum einen als feststehend, immer schon unveränderlich gegeben angenommen, zum anderen wird eine Abstammungsgemeinschaft – die ehedem als ›primitiv‹ gekennzeichnet wurde – herbeigesehnt und affirmiert. Gesellschaften sind nun aber keine exklusiven Gemeinschaften, sie sind immer schon heterogen. 18 Ranaud Camus (2010) – das Buch wird in Deutschland von Götz Kubitschek verlegt, einem Freund von AfD-Rechtsaußen Björn Höcke. Cantoni et al. (2019) haben jüngst gezeigt, dass Regionen, in denen einer hoher Anteil an NSDAP-Wähler zu verzeichnen war, heute auch die AfD stark ist. Es wäre sicherlich lohnend, eine solche longue durée (Fernand Braudel) politischer ›Traditionen‹ in Verbindung mit Religionszugehörigkeit und regionalen religiösen Traditionen (Pietisten, heutige Evangelikale) herauszuarbeiten. Die Imperial Durabilities in Our Times hat Stoler (2016) nachgezeichnet und u. a. im Denken der französischen Rechten dargestellt.
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nicht hatte ausrotten können.19 Mit den Migranten kehrt auch das Verdrängte, das gespenstische koloniale Erbe zurück und wird im Alltag sichtbar. Zugleich werden koloniale Beziehungen umgeschrieben, verkehrt sich die Perspektive und etabliert sich eine neue Opfererzählung: »Die massenweise Einwanderung von kulturfremden hat fast immer zum Niedergang und zur Unterdrückung der Aufnahmegesellschaft geführt«, so das Credo dieser Zerstörungs- und Untergangsnarration. Auch soll kulturell‐ethnische Homogenität Stabilität versprechen, eine Sichtweise, die ethnischen Säuberungen, Genozid und den Phantasien von (rassischer) Reinheit immer schon zugrunde lag (und sich aus diesem Grunde auch immer zwanghaft mit Reproduktion und dem Frauenkörper beschäftigen muss). Im Kontext von Biopolitiken wird auf diese Topoi zurückzukommen sein. Nun werden hier nicht nur intrakulturelle Differenzen (Klassen, Schichten, Geschlecht, Praktiken etc.) ausgeblendet und einem einheitlich gedachten Volk und seinem Volkskörper einverleibt. Dezidiert ausgeschlossen werden in diesem völkischen Den19 Hannah Arendt verortet die Entstehung des modernen Rassewahns nicht zufällig in den europäischen Kolonien Afrikas, den kolonialen Massakern, die, wenn auch nicht bürokratisch organisiert, ein Vorläufer dafür waren, was dann auch im Inneren Europas möglich wurde: »Entscheidend für den Rassebegriff des 20. Jahrhunderts sind die Erfahrungen, welche die europäische Menschheit in Afrika machte und die erst durch den ›scramble for Africa‹ und die Expansionspolitik in das allgemeine Bewußtsein Europas eindrangen. Der in Afrika beheimatete Rassebegriff war der Notbehelf, mit dem Europäer auf menschliche Stämme reagierten, die sie nicht nur nicht verstehen konnten, sondern die als Menschen, als ihresgleichen anzuerkennen sie nicht bereit waren« (Arendt 2017: 406–7, Hervorheb. im Original). Die Kolonisten Afrikas waren »die überflüssigen Menschen«, wie Arendt sie nennt, die aus der bürgerlichen Gesellschaft und den Produktionsprozessen »[H]erausgeschleuderten«: »Sie hatten sich nicht aus eigener Initiative herausbegeben, weil diese ihnen zu eng war, sondern waren von ihr ausgespien worden. Sie waren im wahrsten Sinne des Wortes der Auswurf der Gesellschaft. Es war nicht ihre Unternehmenslust, die sie über alle erlaubten Grenzen lockte, sondern die Überflüssigkeit ihrer Existenz« (Arendt 2017: 413). »Kein Gebiet der Erde«, so schreibt sie weiter über die südafrikanische Kolonie, »hätte der Entstehung der modernen Mobmentalität und dem ihr so gemäßen Rassewahn günstiger sein können als die Kapkolonie« (ebd.: 417–8). Zygmunt Bauman nimmt Arendt auf, wenn er feststellt: »The breathtakingly vast expanses of the ›virgin land‹ that the imperialist invading/conquering drive had laid open for colonization could be used as a dumping ground for those unwanted, and act as a promised land for those who fell by, or were thrown over the board as the vehicle of progress picked up speed and gained ground« (Bauman 2002: 289). Bauman bezeichnet einen Teil der Menschheit, die in neoliberaler Wirtschaft überflüssig Gewordenen, die in den Slums der Megametropolen um das schiere Überleben kämpfen oder in Europa ein Auskommen suchen, als »human waste« (Bauman 2007: 28). Kaum zufällig werden bei Bauman die Privilegierten zu denjenigen, welche die Überflüssigen, die Migranten am meisten fürchten, erinnert ihre schiere Existenz doch daran, dass sie selbst überflüssig, selbst zu den aus den Produktionsprozessen Ausgestoßenen werden könnten: »The vagabond is the tourist’s nightmare; the tourist’s ›inner demon‹ which needs to be exorcized, and daily. The sight of the vagabond makes the tourist tremble – not because of what the vagabond is but because of what the tourist might become […]. A world without vagabonds is the utopia of the society of tourists« (1988: 97).
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ken die faktisch existierenden heterogenen Gesellschaften, deren Anerkennung als ›Multikulti-Ideologien‹ verunglimpft werden – erstaunlich ist in diesen Diskursen die Verwendung des Begriffs ›Ideologie‹, der als Invektiv stets der gegnerischen Argumentation unterstellt wird, keinesfalls aber für die eigene ideologisch gesättigte Meinung gelten darf. Der Mikrorassismus wird in diesen alltäglichen diskursiven Praktiken, den Bildern, die sie evozieren, wiederholt und weitertragen. Er entwickelt sich in der sozialen Imagination, ihren Signifikationsprozessen und diskursiven Rahmungen.20
Mobilität – Der Fremde als Feind »[…] Kaum einer ist dagegen, dass die Flüchtlinge ›anderswo‹ anlanden anstatt zu ertrinken. Europa kann diese Leute nicht alle gebrauchen. Und die meisten davon sind den Berichterstattungen der letzten Zeit nach eher Wirtschaftsflüchtlinge. Also zurück nach Afrika mit denen!« (#18, 21 Likes). »Wohin würden Sie diese Menschen denn gerne schicken? Zurück in die Folterlager? Wie allseits bekannt sein sollte, ist dies nach intern. Recht nicht möglich. Gottlob« (#18.1). 20 Die unterschiedlichen und theoretisch durchaus inkonsistenten Fassungen von Framing (Entman 1993; D’Angelo 2002) sind u.a. eingebunden in Fragen der Medienwissenschaft im Hinblick auf Effekte von Medien auf audiences, Einstellungsänderungen, kognitive Effekte und die Konstruktion von Wirklichkeit. Scheufele (1999: 104–106) hat diese Entwicklungen ab den 1930er Jahren nachgezeichnet. Diese Debatten beinhalten auch Fragen nach den Beziehungen zwischen individuellem und medialem Framing und deren jeweiligen Variablen (Wahrnehmung, Auswahl, Einordnung von Ereignissen, tägliche Routinen von Medienarbeitern, Themenauswahl, agenda setting, priming etc.). Für einen Überblick über die Diskussionen der letzten Dekade, vgl. auch Borah (2011). Für eine Kritik der Arbeiten zu Framing, die sich an den Effekten orientieren, ohne soziale und politische Kontexte einzubeziehen, vgl. Carragee/Roefs 2004. Zur Beziehung zwischen öffentlicher Meinung und Framing, vgl. Chong/Druckman (2007), zwischen Politik und Framing, Wehling (2017) und zwischen Framing und sozialen Bewegungen, Benford/Snow (2000). Soziologische Studien, denen auch (kognitions-) psychologischen Arbeiten zur Seite stehen, haben sich u.a. mit den Rahmungen von Kommunikation beschäftigt, mit »words, images, phrases, and presentation styles […] that are used to construct news stories and the processes that shape this construction« (Druckman, zit n. Borah 2011: 247). Zentral war in diesem Kontext sicherlich die Arbeit von Erving Goffman (1974). Mit Bezug zu Gregory Bateson geht es in der Frame Analysis um die Art und Weise, wie Erfahrung strukturiert und (neue) Erfahrungen durch vorangegangene Bedeutungen und Bedeutungsrahmen eingeordnet, sinnhaft und intelligibel werden. Er versucht, »to isolate some of the basic frameworks of understanding available in our society for making sense out of events and to analyze the special vulnerabilities to which these frames of reference are subject« (ebd.: 10). Kurz: Die Frames – oder Schemata – der Interpretation rahmen so zugleich die interpretierten Aktivitäten, Ereignisse etc.
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Meine Nachfrage wurde nicht beantwortet.21 ›Afrikaner‹ – fast unaussprechlich geworden im »diese Leute« – werden zur wirtschaftlich nicht verwertbaren Ressource, zum nutzlosen Objekt einer Gemeinschaft, die gerade dann erst entsteht, wenn sie sich von Nutzlosen reinigt, Unproduktive ohne langes Zögern oder gar rechtliche Bedenken zurückschaffen soll und darf – oft in eine phantasmatische ›Heimat‹, vor der, aus der man doch flieht. Diejenigen, die man an Europas Grenzen sterben lässt, werden zur Waffe im Abwehrkrieg. »Die einzig funktionierende Aufklärung ist meines Erachtens die sofortige Abschiebung aller ohne Asyl- oder Flüchtlingsstatus. Nur wenn sich herumspricht, daß das Geld für die Schlepper zum Fenster hinausgeworfen wurde und die, die nicht zurückgekommen sind, in der Sahara verdurstet oder im Mittelmeer ertrunken sind, werden sich die Leute überlegen, ob sie sich nicht lieber Zuhause engagieren wollen« (#59.1, 3 Likes).22 »Im Zeitalter eines schamlosen Nanorassismus, in dem nur noch von den Unsrigen die Rede ist, will niemand mehr von den anderen hören. Sollen sie doch zu Hause bleiben, heißt es« (Mbembe 2017: 109). Zwar ist der schwarze Körper für Europas Bewohner und Interessen wirtschaftlich unproduktiv, dennoch ist er zugleich gefährlich produktiv – produziert er doch weitere, überflüssige, unnütze schwarze Körper, eben »diese Leute«. »Die arabische und afrikanische Bevölkerung wächst über jedes nachhaltige Maß hinaus. Europa kann – und darf – diese Menschen nicht aufnehmen. Die jungen Männer sind in ihre jeweiligen Herkunftsländer zurückzuführen« (#45, 49 Likes), so die bürokratische Order.23 Biologistischer Rassismus entfaltet sich hier in einer Form demographischer Panik, einer besonderen Form des horror vacui. Er wird zum einen in Phantasien von der Enteignung, der 21 Mein Kommentar wurde von einem anderen Foristen wie folgt kommentiert: »Dann soll doch die UM in Lybien intervenieren und für Oordnung sorgen. Und internationales RECHT ist doch nur eine Farce. Wenn das überall durchgesetzt würde gäbe es keine Flüchtlinge. Also nur die EU soll dafür zu ständig sein und alle machen sich einen schlanken Fuss?« (#18.2, 4 Likes) Kommentare zum Artikel, »UN fordern Lösung für Rettungsschiffe auf dem Mittelmeer«, 28.06.2018, ZON, dpa, ces, 326 Kommentare (https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-06/lifeline‐unhcriom‐kritik-eu‐asyl-rettungsschiffe?cid=20879901#cid-20879901, 18.03.2019). 22 Kommentar zum Artikel Sascha Lübbe »Manche denken, das Mittelmeer sei ein Fluss«, 14.07.2018, ZON, 477 Kommentare (https://www.zeit.de/politik/2018-07/seenotrettung‐afrikamittelmeer‐florence-kim?cid=21235184#cid-21235184, 19.03.2019). 23 Meine Entgegnung: »›Europa kann – und darf – diese Menschen nicht aufnehmen. Die jungen Männer sind in ihre jeweiligen Herkunftsländer zurückzuführen. Begründung? Warum sperrt man Menschen in einem Land ein?« (#45.1), Kommentare zum Artikel »77 Flüchtlinge wollen nicht in Libyen an Land gehen«, 15.11.2018, ZON, KNA, hgö, 273 Kommentare, (https:// www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-11/seenotrettung‐fluechtlinge-lybien‐folterasylpolitik?cid=22934576#cid-22934576, 21.03.2018).
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Auslöschung eigener Kultur, vom Aussterben der weißen Rasse oder gar deren ›Genozid‹ durch Migration virulent, zum anderen zeigt er sich in der zwanghaften Beschäftigung mit Geburtenraten in den (afrikanischen) Ländern, aus denen Migranten nach Europa kommen. Es ist ein Horror davor, dass die beständige Säuberung der Gesellschaft von fremden Elementen sich als unerfüllbar, als nutzlos erweist. Es wird immer einen Anderen geben, der die Grenzen zu überschreiten droht.24 Rassistische Demarkationen verteilen Körper im Raum, sie schaffen räumliche Abgrenzung, sie rufen einhellig nach Grenzen und fordern: zurück in die ›Heimat‹. Dieser Wille entwickelt Eifer und erstaunliche Kreativität zur Drangsalierung von Anderen. Der ›besorgte‹ Bürger denkt mit und macht Optimierungsvorschläge: »[…] Ein weiterer Vorschlag meinerseits: Warum können abgelehnte Asylsuchende z.B. aus Afghanistan nicht bei Flügen mitfliegen, die für die Bundeswehr sowieso dorthin gehen? Das dürfte deutlich billiger sein als extra Chartermaschinen und Flugbedingungen, die unseren Soldaten, die Europas Sicherheit verteidigen zuzumuten sind, sollten auch abzuschiebenden Asylsuchenden zuzumuten sein« (#1, 111 Likes).25 24 An und durch Grenzen sterben Menschen, lässt man Menschen sterben und Grenzen markieren neokoloniale »Necropolitics« (Mbembé 2003). Souveränität, die »westphälische Grammatik« (Benhabib 2004) wird an diesen Orten ausbuchstabiert. Souveränität übersetzt ihre brutale Materialität in Grenzbefestigungen, Sperranlagen und Mauern, die Territorien zerfurchen, abgrenzen, machtvolle Praktiken, Akteure kennzeichnen – bereits Hannah Arendt spricht von »polizeilich organisierte[r] Gesetzlosigkeit« (Arendt 2017: 599). Die neuen Grenzen und Sperranlagen richten sich, wie auch Wendy Brown in ihrem brillanten Buch Mauern (2018) feststellt, nicht länger »gegen Invasionsarmeen« oder militärische Angriffsszenarien, vielmehr richten sie sich »gegen nichtstaatliche transnationale Akteure wie Individuen, Gruppen, Bewegungen, Organisationen wie Wirtschaftszweige« (Brown 2018: 41). Souveräne Nationalstaaten in einer post‐westfälischen Welt beherrschen, so im kritischen Durchgang durch klassische Souveränitätstheorien, das grundlegende Argument, »das Feld der globalen politischen Beziehungen nicht mehr exklusiv« und sie haben auch »kein Monopol auf viele der es strukturierenden Mächte mehr« (ebd.: 46). Statt »Ausdruck einer wiederauflebenden Souveränität des Nationalstaats sind die neuen Mauern Ikonen seines Untergangs« (ebd.). Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität, so der Untertitel des Bandes, macht deutlich, wie die neuen Mauern nicht nur nationalstaatliche Souveränität und Identität, sondern auch die des Subjekts inszenieren und (symbolisch) sichern sollen. 25 Meine Replik: »Eilfertige Mitbürger überbieten sich in Vorschlägen, wie man Menschen in Lagern noch weiter drangsalieren kann...« (#1.3, 21 Likes). Kommentare zum Artikel »Innenministerium plant neue Regeln für abgelehnte Asylbewerber«. 18.11.2018, ZON, AFP, mp 301 Kommentare (https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-11/migration‐neueregeln‐fuer-abgelehnte‐aslybewerber?cid=22955327#cid-22955327, 21.03.2019).
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Diese doppelte Besorgnis schließt an eine Form der Macht an, die Michel Foucault (2001a) Biopolitik genannt hat.26 Sie richtet sich auf die Bevölkerung als »biologische[s] und politische[s] Problem« (ebd.: 289) und zielt nicht nur auf Geburten- und Sterberaten, Sexualität, Hygiene, sondern auch auf die Optimierung und Regulierung der Bevölkerung. Sie tritt zutage als eine »Regulierungsmacht«, die »darin besteht, leben zu machen und sterben zu lassen« (ebd.: 291) und den Rassismus zum »grundlegenden Mechanismus der Macht« (ebd.: 301) werden lässt, der den »politischen Diskurs in biologischen Termini umschreibt« (ebd.: 303) und einer neuen Form des Krieges einschreibt. »Die Besonderheit des modernen Rassismus, seine Spezifik«, so Foucault weiter, »ist nicht an Mentalitäten, Ideologien und Lügen der Macht gebunden. Sie ist an die Technik der Macht, an die Technologie der Macht gebunden« (ebd.: 305).27 Die rassistische Allusion, die zum einen (potente) junge Männer und Geburtenraten verknüpft, verkehrt zum anderen die koloniale Situation. Denn was die Gesellschaft der Bürger nicht zuließ und verdrängte, erlaubte die Entgrenzung: die 26 Zum Zusammenhang von Biopolitik und Rassismus, vgl. Stingelin (2003); Lemke (2007). Foucault erläutert die Entstehung des Rassismus im Kontext des Verhältnisses von Politik und Krieg: »Der Krieg, der sich […] unterhalb der Ordnung und Frieden abspielt, der Krieg, der unsere Gesellschaft durchzieht und zweiteilt, ist im Grunde ein Krieg der Rassen. Sehr bald begegnet man diesen grundlegenden Elementen zur Ermöglichung und Aufrechterhaltung, zur Fortsetzung und Entfaltung des Krieges: ethnische Differenzen, Sprachdifferenzen; Unterschiede an Stärke, Kraft, Energie und Gewaltsamkeit, Wildheit und Barbarei; Eroberung und Unterwerfung einer Rasse durch eine andere. Der Gesellschaftskörper artikuliert sich im Grunde über zwei Rassen« (Foucault 2001:79). Foucault erkennt zwei Umschriften der Vorstellungen vom Gesellschaftskrieg: die »biologische Umschrift« (2001b: 79), die dann auch die europäische Kolonialpolitik umfasst (ebd.: 80) und den Klassenkampf. Der »Diskurs des Rassekampfes« wird mit dem 17. Jahrhundert virulent und schreibt um: »Es wird nicht mehr heißen: ›Wir müssen uns gegen die Gesellschaft verteidigen‹, sondern: ›Wir müssen die Gesellschaft gegen alle biologischen Gefahren dieser anderen Rasse, dieser Unter-Rasse, dieser Gegen-Rasse verteidigen, die wir – wider Willen – immer wieder hervorbringen‹« (ebd.: 81). Dieser Diskurs führt in einen »Staatsrassismus«, »und zwar in einen Rassismus, den die Gesellschaft gegen sich selber, gegen ihre eigenen Elemente, ihre eigenen Produkte kehrt; ein innerer Rassismus permanenter Reinigung, der zu einer grundlegenden Dimension gesellschaftlicher Normalisierung wird« (ebd.: 81). Achille Mbembe nimmt Foucault auf, wenn er feststellt: »The perception of the existence of the Other as an attempt on my life, as a mortal threat or absolute danger whose biophysical elimination would strengthen my potential to life and security – this, I suggest, is one of the many imaginaries of sovereignty characteristic of both early and late modernity itself« (2003: 18). 27 Auch Falguni Shet versteht Rassifizierungen als Technologien, die einerseits an Logiken der Exklusion gebunden sind, und zum anderen die souveräne Macht, die »Gesetzeskraft« (Derrida) deutlich machen, welche rassische Differenz und »vulnerable populations« hervorbringt (2009: 41–64).
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»Kolonien bildeten Projektionsflächen für vielfältige Sehnsüchte und Ängste. Für europäische Männer schien hier eine Überschreitung bürgerlicher Grenzen möglich – sei es bei der außerehelichen Sexualität, der Ausübung autoritärer Gewalt und dem übermäßigen Alkoholkonsum, sei es bei gewinnbringenden Geschäften, die im eigenen Land gegen die kaufmännische Ehre verstoßen hätten. Obgleich nur wenige Kolonialisten derartiges auslebten, speisten deren Berichte doch die öffentliche Imagination über die fernen Kolonialreiche« (Bösch 2009: 225).28 Zentral ist in diesen Diskursen auch die Rahmung des fremden Mannes als Bedrohung, mit der die alte Figur des Fremden als Feind hergestellt wird (Friese 2014). Es gilt, den Feind zunächst durch behördlich‐bürokratische Verfahren, Verhöre, Zertifikate und Amtspapiere zu fixieren und mit einer eindeutigen Identität auszustatten. Zur festgestellten ›Krise‹ – eigentlich zum schwelenden Rassekrieg – gehört dann auch die Schaffung von Eindeutigkeit. »Die Krise dauert und bereits 3 Jahre und hat Europa sehr verändert. Zügig wird nun also gar nichts umgesetzt, die Regierung unter Merkel spielt auf Zeit und versucht darüber Fakten zu schaffen. In 2015 sind Menschen ohne identitätsfeststellung eingereist, wer angab Syrer zu sein brauchte nur einen Fragebogen ausfüllen, keine Prüfung, keine Befragung, nichts. Nach 3 Jahren werden die Bescheid überprüft und es gibt immer noch keine Mitwirkung Verpflichtung. Der Bewerber muss noch nicht mal zur Befragung kommen. Es wird dann eben wieder nach dem Fragebogen beurteilt. Es muss uns doch zu denken geben das immer wieder Fälle hochkommen wo man bei schwerer Straftaten feststellt das der Täter entweder gleich mehrere Identitäten hat oder eben die Identität falsch ist« (#5.7, 52 Likes). »Welche ›Krise‹? Geflüchtete und Migranten haben Europa verändert? Das war doch wohl eher eine Minderheit, die offene und liberale Demokratien ablehnt und autoritäre Einstellungen pflegt« (#5.8, 7 Likes). Meiner Frage, der Entgegnung folgt sogleich die persönliche Ansprache, ein Hinweis, der offene Grenzen mit Terror kurzschließt, erneut die Figur des unheimlichen Fremden, des Migranten als Feind aufnimmt und in ein kriegerisches Szenarium einbaut: »Wo waren Sie die letzten paar Jahre? Wir hatten seitdem mehrere islamistische Terroranschläge in Deutschland und das ausgeübt ausschließlich von Migranten, die währen der Grenzöffnung nach D eingewandert sind. Die meisten von denen hatten sich mehrere Identitäten zugelegt. Ich sehe das schon als Krise an« (#5.10, 32 Likes). 28 Die »Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus« hat Kundrus (2003) nachgezeichnet. Ann Laura Stoler (1995) setzt die koloniale Ordnung in Bezug zu Foucaults Geschichte der Sexualität und stellt das intime, »fleischliche Wissen« (carnal knowledge) kolonialer Macht dar (2002).
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›Ich‹ und ›Sie‹: Ohne Personalisierung, ohne Rekurs auf universalisierte, eigene Erfahrung kann nicht kommuniziert werden und narzisstische Beschau liefert den öffentlichen und politischen Raum der Privatisierung aus. »Geflüchtete und Migranten haben Europa verändert? Es mag ja sein, dass in Ihrer persönlichen Lebenssituation alles prima geblieben ist. Vielleicht hat die Massenmigration Ihre Komfortzone noch nicht angekratzt. Aber Sie sollten Menschen, die den massenhaften, ungeregelten Zuzug von Menschen nicht positiv bewerten, nicht versuchen in die Ecke zu stellen. Vielleicht haben andere mehr negative Berührungspunkte als Sie. Deshalb lehnt auch nicht jeder gleich die Demokratie ab. Offensichtlich haben SIE große Freude an einer autoritären Haltung, wer nicht IHRER Ansicht ist, der ist....?!« (#5.12, 18 Likes). Die Inflation von Ausrufezeichen und Großbuchstaben macht auch vor dem ZONForum nicht Halt, begleitet die Erregung der Gemüter und die Rufe aus dem digitalen Raum. »Augen auf Wenn man so blauäugig durch Leben tapst, fliegt einem die Realität irgendwann um die Ohren Ich möchte nicht so ein böses Erwachen haben wie die Demokraten nach US-Wahl« (#5.13, 4 Likes),29 so der abschließende Kommentar, der dem Gegner naive Realitätsferne bescheinigt, wenn er die als allgemeingültig erachtete subjektive Erfahrung nicht zu teilen vermag und Gefolgschaft im Kampf gegen den gemeinsamen Feind verweigert: »Es ist geradeso, als würde die Verweigerung eines Feindes als tiefe narzisstische Kränkung erlebt« (Mbembe 2017: 92–93). Persönlicher Angriff ist die beste Verteidigung in diesem diskursiven Stellungskrieg, der nur Freund oder Feind kennt: »Outrage discourse involves efforts to provoke a visceral response from the audience, usually in the form of anger, fear, or moral righteousness through the use of overgeneralizations, sensationalism, misleading or patently inaccurate information, ad hominem attacks, and partial truths about opponents« (Sobieraj/Berry 2011: 19). Gefühl und Subjektivierung – die das Ego absolut setzen und deshalb auch ständig auf gegnerischen Angriff eingestellt sind – zeitigen auch Folgen für das Verständnis von privatem und politischem Raum. Die politische Sphäre umfasst herkömmlicherweise die Deliberation über das, was gemeinsam ist.30 Mit Aristoteles 29 Kommentare zum Artikel »Innenministerium plant neue Regeln für abgelehnte Asylbewerber«. 18.11.2018, ZON, AFP, 301 Kommentare (https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-11/ migration‐neue-regeln‐fuer-abgelehnte‐aslybewerber?cid=22955396#cid-22955396, 13.03.2019). 30 Hier ist nicht der Ort, das moderne (normative) Verständnis von Politik und Souveränität zu diskutieren, das auf Vernunft, Autonomie, Repräsentation und der Konstitution einer spezifischen Form von Subjektivität beruht.
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beruht der politische Raum klassischerweise auf der Trennung von oikos und polis, der Ordnung des Hauses, der Hauswirtschaft und der des politischen und öffentlichen Raumes, des Privaten und des Öffentlichen. Nicht nur werden in Debatten über Migration diese Sphären vermischt, sondern sie stimmen überein. Tatsächlich kann man davon ausgehen, dass der digitale Raum – in dem das bislang im Privaten gehütete intime Geheimnis veröffentlicht und dem öffentlichen Urteil preisgegeben wird –, den politischen Raum und das klassische Verständnis von Öffentlichkeit revolutioniert hat. Was hier aber auch besonders deutlich wird, ist, dass Beurteilungskriterien sich aus dem subjektiven, eigenen Erleben, Besorgnissen, Befindlichkeiten und der Ordnung des Hauses, der unmittelbaren Umgebung speisen (über die man noch ungefähren Überblick und Herrschaft hat). Nicht das Allgemeine ist hier relevant, vielmehr zählt das verallgemeinerte Partikulare. Es ist gleichsam vorpolitisch, speist sich aus dem unmittelbaren Besorgen, dem, was Martin Heidegger das »Man« genannt hat (1984: 126–130, § 27).31 Aus dieser Ordnung erwächst auch ein eingeschränktes, abgestecktes Verständnis des politischen Raumes, das an dieser Analogie ausgerichtet ist. Keinesfalls ist dieses Verständnis kosmopolitisch, kann es auch gar nicht sein, wenn die Welt nach dem Vorbild des eigenen Heims, der Hausordnung, seinen Regeln und Grenzen eingerichtet ist: »Haben Sie bei Ihrer Wohnung/Ihrem Haus eine Haustüre, welche Sie verschließen? Haben Sie vielleicht sogar einen Türspion oder eine Gegensprechanlage, um sich davon zu überzeugen, wer in Ihre Wohnung möchte?« (#11.2, 0 Likes).32 Wenn die Vorstellung von politischer Gemeinschaft an Tür, Tor und Gegensprechanlage ausgerichtet sind und der Hauswirtschaft entsprechen, können Einwände nicht gelten: »Hier geht es um einzelne Menschen und nicht um Zahlen, ›Lasten‹ oder sog. Pull-Faktoren. Menschen fliehen aus ganz unterschiedlichen und individuellen Gründen. Das reiche Europa nimmt im weltweiten Vergleich lächerlich wenig Menschen auf« (#41, 1 Like). Ein solches Verständnis kennt dann auch keine von allen zu tragenden Gemeinschaftsaufgaben, denn aus »einzelnen Menschen werden sehr schnell große Zahlen, Pull-Faktoren und somit Lasten. 2015 waren es z.B. knapp 1 Millionen einzelne Menschen. Wer hindert Sie daran, sich um einzelne Menschen zu kümmern/für sie zu bürgen? Welchen Anteil ihres ›Reichtums‹ wären Sie bereit abzugeben? 5% oder gar 10? Auch 20% würden 31 Das alltägliche Dasein, das »Man« ist u. a. durch »Abständigkeit«, »Durchschnittlichkeit« und »Einebnung« gekennzeichnet (Heidegger 1984: 126, 127). Das so gefasste Man entlastet, es verfehlt sich aber auch ständig. Ich bin nicht Ich, »im Sinne des eigenen Selbst, sondern die Anderen in der Weise des Man« (Heidegger 1984: 129). 32 Antwort auf#11, Kommentar zum Artikel »Österreich startet befristete Grenzkontrollen«, 09.07.2018, ZON, dpa, 132 Kommentare (https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/ einreise‐oesterreich-gernzkontrollen‐brenner?cid=21108896#cid-21108896, 15.03.2019).
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nicht reichen, wenn wir weiterhin alle aufnehmen würden, die gerne hier leben wollen« (#41.1, 6 Likes). Die Verquickung von Recht, Ethik und persönlich‐puritanischer Lebensführung – ein protestantisch‐pietistisches Erbe und Imperativ gottgefällig‐frommer Lebensführung und frommer Pflicht – wird ebenso deutlich, wie das Beharren auf Recht und Rechtsnormen als ›Moralisieren‹ gefasst wird. Recht und Ethik werden in diesem Diskurs zur vernachlässigenden Variable, nicht zum Grundsatz, an dem politisches Handeln sich selbstverständlich auszurichten hat. »Wenn es um die persönlichen Standards geht, wird das Moralisieren schnell ein Verstummen« (#41.2, 2 Likes).33 »Lassen Sie Menschen, die sie nicht kennen und über deren Ansichten, Absichten etc. Sie nichts wissen, in Ihre Wohnung oder ihr Haus? Und alimentieren Sie diese, bis sie ihr Leben selbst bestreiten können? Wenn diese Ihr Mobiliar zerstören, Ihre Frau betatschen oder dergleichen – lassen Sie sie immer noch bei Ihnen wohnen und geben Ihnen weiterhin von ihrem Einkommen? Falls nicht, sind Sie ein Rassist?« (#4.4, 104 Likes).34 In beinahe ›klassischer‹ Weise wird hier expliziert, was auch die Ambivalenz der Gastfreundschaft ausmacht, die den Anderen als potentiellen Feind sieht (Friese 2014, 2017a). Zugleich zeigt sich ein Demokratieverständnis, das repräsentative Demokratie als Ausdruck des Mehrheitswillens verkürzt, sich somit eher der Tyrannis denn einem liberalen Verständnis verschreibt und tatsächlich die Entdemokratisierung, die »Kannibalisierung« liberaler Demokratie betreibt (Brown 2006: 691). Im Kontext der (realen) Zerstreuung, der Deplacierung von Macht und der Kräfteverhältnisse in globalen Zeiten, geht es hier um die Einheit der Macht, die Einheit des Volkes, die Zentrierung von Macht und Souveränität. Die heftigen Diskussionen im ZON-Forum über den Global Compact for Safe, Orderly and Regular Migration (GCM), 33 Kommentar zum Artikel »Deutschland, Österreich und Italien vertagen Asylstreit«, 12.07.2018, ZON, 337 Kommentare (https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/eu‐innenministertreffen‐deutschland-italien‐oesterreich?cid=21181544#cid-21181544, 15.03.2019). 34 Kommentare zum Artikel »Einwanderung erhält in vielen Staaten wenig Zustimmung«, 10.12.2018, ZON, dpa, 353 Kommentare (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/201812/migration‐einwanderung-ablehnung‐pew-institut‐umfrage?cid=23198 167#cid-23198167, 16.03.2019). Ein anderer Kommentar des Users: »Sie verstehen Sachsen offensichtlich nicht. Die überwältigende Mehrheit ist stark konservativ geprägt und lehnt die unkontrollierte Zuwanderung in den deutschen Sozialstaat und insbesondere nach Sachsen strikt ab. Solche multikulturellen Probleme wie in den alten Bundesländern + Berlin will hier niemand haben […]« (Antwort auf #6, Kommentare zum Artikel »Einwanderung erhält in vielen Staaten wenig Zustimmung«, 10.12.2018, ZON, dpa, 353 Kommentare (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-12/migration‐einwanderungablehnung‐pew-institut‐umfrage?cid=23198167#cid-23198167, 16.03.2019).
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dessen Wortlaut offenbar nur wenige Foristen kannten und der oft auch mit dem Global Compact on Refugees (2018) verwechselt wurde, machen dies deutlich – nicht ohne das Verhältnis von öffentlich und privat zu verkehren: »Sind die Nichtunterzeichner weniger informiert über Inhalte und Verbindlichkeiten dieses Paktes? Ist schon erstaunlich wie unsere Regierung in Sachen Flüchtlinge agiert. Als wäre dieses Land ihr privates Grundstück. Die schon länger hier Lebenden werden zu solchen Entscheidungen völlig ignoriert und ich frage mich: Mit welchem Recht?« (#5, 173 Likes). 35 Kolonialer Gestus fordert in militarisierter Sprache schlicht und einfach die Aufhebung des Rechts, internationaler Konventionen und Abkommen, er fordert die robuste Tat und den Ausnahmezustand: »Wer mit Moral und Ethik argumentiert hat in der Regel keine Argumente. Salvini geht es um Italien und da hat er alles erreicht. Für Spanien ist er nicht zuständig. Unter Minniti kamen kamen immer noch tausende. Unter Salvini 0. Bis zum Antritt Salvinis hieß es, man könne das Mittelmeer nicht abriegeln. Nun zeigt sich, dass das super funktioniert. Nichts lässt sich mit den heutigen technischen Mitteln leichter blockieren und Überwachen als Meeresgebiete. Was Tunesien betrifft, braucht man kein Rücknahmeabkommen. Sie gehen von der irrigen Annahme aus, dass man mit 3. Weltländern debattieren muss. Wirtschaftliches Totalembargo und Seeblockade wirken in solchen Fällen Wunder. Dass das funktioniert hat man daran gesehen, dass Tunesien einknickte und die Schiffe aufnahm, die Italien blockiert hat. Trump zeigt, wie man erfolgreich mit solchen Ländern verhandelt. Merkels Gekrieche vor Erdogan hat nichts erreicht. Trump hat die Türkei gnadenlos platt gemacht, sanktioniert und ohne jede Form von Wertschätzung behandelt. Erdogan ist eingeknickt, weil aufgrund immer heftigerer US Attacken große Teile der Bevölkerung untet massiver Inflation litten. Wenn Sie glauben man könne mit robusten Methoden nicht innerhqlb kürzester Zeit jedes Abkommen mit Tunesien erzielen, dass man will, sind sie reichlich naiv. Die Zeit des Multilateralismus geht zu Ende, gewöhnen Sie sich dran« (#15.8, 10 Likes, Hervorheb. H.F.). Hinweise auf »Rechte, internationales Recht und internationale Abkommen« (#15.18, 2 Likes) können im neuen Kolonialkrieg dann auch negiert werden, dem empfindenen ›Ich‹ steht eine erfrischend neue Zeit (anderen als Drohung) bevor, die Gewöhnung, die Normalisierung des Ausnahmezustandes anweist und 35 Kommentare zum Artikel »Führende CDU-Politiker stellen sich gegen Vorstoß von Jens Spahn«, 19.11.2018, ZON, AFP, Reuters, dpa, 1.289 Kommentare (https://www.zeit.de/politik/ deutschland/2018-11/cdu‐uno-migrationspakt‐jens-spahn‐norbert-roettgen‐kritik?cid=229651 32#cid-22965132, 16.03.2019).
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die Abstufung von Macht und Souveränität empfiehlt: mit ›denen‹, mit ›sowas‹ verhandelt man nicht. »[…] Trump nennt sowas wie Tunesien Shithole Countries. Mit sowas verhandelt man nicht. Denen macht man eine Ansage und setzt um. Und bitte nicht wieder die alte Leier von internationalen Abkommen. Multilateralismus ist am Ende. Internationales Recht und Abkommen hat nie funktioniert. Und es ist erfreulich, dass dieser Schwachsinn jetzt abgewickelt wird. In dem Sinne empfinde ich es als erfrischend, dass Trump die Richter von Den Haag auf Sanktionslisten setzen lassen will, sollten sie gegen USA oder Verbündete Ermittlungen ansetzen. Might makes right. Sollten Sie sich schon mal dran gewöhnen« (#15.19, 3 Likes, Hervorheb. H.F.).36 Besonders deutlich werden diese Zusammenhänge in Debatten um die Search and Rescue Missions (SAR) im Mittelmeer und die Rolle der NGOs, geht es hier doch unmittelbar um Menschenleben – solche, die wertvoll sind und betrauert werden und solche, denen dies nicht zukommt. Hier hat sich die offizielle Version des herrschenden politischen Diskurses durchgesetzt, nach der das kriminelle ›Schlepperwesen‹ damit bekämpft werden soll, dass man Menschen zur Abschreckung ertrinken lässt. Geflüchtete, so die herrschende Todespolitik und die herrschende Doxa, die Forderung der vox populi, sollen umgehend zurückgebracht werden – auch wenn das ›hässliche Bilder‹ erzeugt. Migranten, gerne als ›Wirtschaftsflüchtlinge‹ und ›Schmarotzer am Volkskörper‹ und seinen ökonomischen Ressourcen gebrandmarkt, sollen, so die beliebte Forderung, auf heimischer Scholle bleiben 36 #15.19, 3 Likes, Kommentare zum Artikel »Migranten aus Riace müssen in Flüchtlingsheime umziehen«, 14.10.2018, ZON, AFP, spo 343 Kommentare, (https://www.zeit.de/politik/ausland/ 2018-10/italien‐riace-dorf‐fluechtlinge-buergermeister‐umzug?cid=22588094#cid-22588094, 21.3.2019). Tatsächlich haben die rechtlich mehr als zweifelhaften Maßnahmen des Innenministers Salvini – wie die seines Vorgängers Minniti – die Anlandungen verringert, allerdings nicht zum Stillstand gebracht. Im Jahr 2018 haben zwischen 1.1. und 21.3. 4.910 Menschen europäisches Ufer erreicht, 2019 waren dies in dem gleichen Zeitraum 10.308 Menschen (auf den zentralen Mittelmeerroute waren dies 2018 6.296 und 2019 471 Menschen). Von Januar bis zum 21.3.2019 sind auf der zentralen Mittelmeerroute mindestens 160 Menschen ertrunken. Die absolute Zahl der Ertrunkenen ist damit auf dem Niveau von 2016, zugleich hat sich die Todesrate pro (versuchter) Überfahrt erheblich erhöht. Sie lag 2018 bei 3.4 Prozent und 2019 bei 12,1 Prozent (https://missingmigrants. iom.int/region/mediterranean?migrant_routeProzent5B%5D=1376, 21.3.2019). Es ist also mitnichten so, dass die Abschreckung durch Todespolitiken tatsächlich Tote verhindert, wie die offizielle politische Propaganda behauptet. Zugleich werden die Toten auf den Routen durch die Wüste und in den libyschen Lagern nicht gezählt. Zwischen dem 1.1. und 23.3.2017 gab es 19.589 Anlandungen (sbarchi), 2018 wurden 6.161 und 2019 bislang 398 gezählt (Ministero dell’Interno, Dip. Della Pubblica Sicurezza, Dipartimento per le Libertà civili e l’Immigrazione (http://www.interno.gov.it/sites/default/files/cruscotto_statistico_ giornaliero_21-03-2019.pdf, 21.03.2019).
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und haben sich dem Aufbau der Heimat zu widmen. Diese populären Diskurse – die sich oft auf die in der Migrationstheorie beliebten Push- und Pull-Faktoren berufen – zeugen einmal mehr von erschreckender Unkenntnis der rechtlichen Bestimmungen, von internationalen Abkommen und Konventionen. Tatsächlich ist ein Gutteil meiner Kommentare auf ZON dieser Frage gewidmet, sie versuchen klarzustellen, dass ein sicherer Hafen (POS) nun nicht ein sicherer Hafen deshalb ist, weil gerade kein schlechtes Wetter herrscht oder ein Hafen als sicher gilt, weil dort Kreuzfahrtschiffe anlegen, »[e]s gibt immer noch den Hafen Tunis. Wo die Aida anlegt, kann man wohl auch von einem sicheren, in der Nähe liegenden Hafen sprechen!« (#13.1, 34 Likes),37 man letzthin in Marokko Urlaub gemacht hat und dem braven Touristen dort nichts Unsicheres aufgefallen ist: »[…] Selbstverständlich müssen gerade ›Flüchtlinge‹ aus Marokko und Tunesien ohne Wenn und Aber von ihren Staaten zurückgenommen werden. Ich habe dieses Jahr Urlaub in Marokko gemacht und konnte dort keinen Krieg beobachten« (#12.12, 2 Likes).38 Diese Perspektiven sind ebenfalls rassistisch gerahmt, richten sich Abscheu und Abwehr doch auf Körper, deren herausragender Makel es ist, nicht weiß zu sein, die als ›Wirtschaftsflüchtlinge‹, als Parasiten und Schädlinge abzuwehren sind: »ab mit denen nach Afrika!«. In diesem Kampf gegen die rassistisch markierten Körper und die Massen der Eindringlinge führt nur unerbittliche Rücksichtslo37 So der Kommentar auf meinen Post: »Die libysche Küstenwache ist korrupt, arbeitet eng mit den Milizen zusammen. Interessiert sind die Leute der sog. ›Küstenwache‹ an den Außenbordern der Schlauchboote, nicht an der Rettung von Menschenleben. Zudem lächerlich ausgerüstet – vier (!) alte Schnellbooten, die von der Guardia di Finanza ausgemustert worden waren. Der IMO wurde erst am 27.6.2018 (!) die Ausweisung einer libyschen SAR-Zone (RCCLibya) mitgeteilt und diese in die database (GISIS) eingetragen. RCC Libya hat sein operativen Zentrum am Flughafen Tripolis und man kann sich die Ausstattung dieses seit 2 Wochen bestehenden Ladens vorstellen. Grandiose Vorstellung, dass jetzt diese rudimentäre ›Küstenwache‹ in einer gerade eben eingerichteten SAR-Zone alle Schiffbrüchigen retten soll. Für Boote ausserhalb der SAR-Zone sind weiterhin Italien und Malta zuständig. Wenn Zugang zu sicheren Hafen verweigert wird, verletzt dies Art. 2 und 3 der Europ. Menschrechtskonvention, die Sammelabschiebungen verbietet. In der Rechtssache Hirsi/ Jamaa gegen Italien (27765/09), hat der EGMR 2012 festgestellt, dass die Zurückweisung von Flüchtlingen auf hoher See mehrere der in der EMRK garantierten Rechte verletzt. Verstoß gegen Art. 3, Risiko unmenschlicher und entwürdigender Behandlung in Libyen; Art. 3 ER Risiko willkürlicher Abschiebung aus Libyen; Art. 13 i. V. m. Art. 3 EMRK und Art. 4 des IV. Zusatzprotokolls. Es gab 15.000 E Schadensersatz. Es wird höchste Zeit, dass der EGMR sich erneut damit beschäftigt« (#13 10 Likes). Kommentare zum Artikel »Flüchtlinge dürfen die ›Diciotti‹ doch verlassen«, 13.07.2018, ZON, AFP, mp 97 Kommentare (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/ 2018-07/italien‐fluechtlinge-kuestenwache‐diciotti?cid=21195420#cid-21195420, 21.03.2019). 38 Tatsächlich wird SAR u.a. nach Unclos 1982, Art. 98; Solas (Safety of life at Sea) 1974, der Hamburger Konvention, SAR 1979 (von Italien 1994 umgesetzt) geregelt; sie folgt der IMO, der Resolution MAC 167-78 und den Richtlinien, die den Place of Safety festlegen (SOP 009/15, Sept. 2015).
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sigkeit weiter, die humane, moralische ethische Einwände zu überwinden hat und auch keine ›unschönen Bilder‹ scheuen darf:39 »Das ist doch Unfug. Wenn man will lässt sich jede Grenze dauerhaft schützen. Die Gesetze müssen passen und ›unschöne‹ Bilder muss man in Kauf nehmen Dann braucht man keine Erpresser aus anderen Staaten fürchten« (#1.6, 120 Likes), die »unschönen Bilder kommen ohnehin. Entweder an der Grenze oder im Inland« (#1.13, 68 Likes).40 Nicht nur in den Debatten um Seenotrettung entwickelt sich eine Form der Arendtschen »Banalität des Bösen«, die rational zu begründen versucht, warum Andere von eigenem, qua Geburt zustehendem Privileg auszuschließen sind und warum man – vor welchen Umständen auch immer – fliehende Menschen in Wüsten verdursten, in fernen Lagern einsperren, auf dem Meer ertrinken lassen oder in unseren Städten und Lagern drangsalieren und vom Recht abschneiden darf. Dieser Alltagsrassismus rekurriert auf ein Naturrecht des Stärkeren, des vermeintlich Identitären, seiner neuheiligen Sitten und Bräuche, das die Welt jenseits des heimischen Kreises und des ›Man‹ – manchmal tatsächlich jenseits des Zauns des schmucken Eigenheims – als bedrohliches Feindesland sieht, was den Hausherren dazu berechtigt, seine an der Hauswirtschaft orientierte Ordnung durchzusetzen, die Deplacierung der beständigen Ordnung zurückzuweisen und damit letztlich nichts anderes als die Abhängigkeit vom vermeintlich sicheren Alltag und seiner gewissenhaft‐gewissenlosen Einrichtung zu bezeugen. Dieser heimische, quasi bürokratisierte Mikrorassismus, der die Sicherheitsbefehle ebenso freundlich exekutiert, wie er sie fordert und hervorbringt, übernimmt keine Verantwortung, er entzieht sich der Verantwortung und wäscht seine Hände in Unschuld. Tote werden in dieser nur scheinbar moralfreien Zone billigend in Kauf genommen, die Moral der Todespolitik wird durch den Realismus des Stärkeren abgesichert, erfüllt das alltägliche Zusammenleben und bezeugt eine Form von Verwahrlosung des öffentlichen Lebens. Dieser Rassismus entwickelt sich hinter vorgehaltener Hand nur insofern, als dass er sich im Schutze der Anonymität bewegen darf. Doch mit der habituellen Negation, der entschiedenen Zurückweisung, der Leugnung von Rassismus wird Rassismus in den diskursiven Mikroraum geholt. 39 Diese Rhetorik erinnert nun in der Tat an die militarisierte Sprache des Nationalsozialismus, im Krieg der Rassen gilt es männliche Härte zu beweisen und sich nicht durch weibische, humane Gefühlsduselei verweichlichen zu lassen. Militarisierte Sprache, die »Fanatismus« fordert, stets Schlachten zu schlagen hat und Fronten sieht (»Geburtenschlacht«, »Arbeitsschlacht« und »Arbeitsfront«) zeigt ein nicht immer offensichtliches Erbe des Nationalsozialismus. Siehe hier nur Schlosser (2013). 40 Kommentare zum Artikel von Ulrich Ladurner »Die Grenzen gewinnen. Seit Jahren streitet die Europäische Union um die Flüchtlingspolitik«, 13.06.2018, ZON 891 Kommentare (https:// www.zeit.de/politik/2018-06/eu‐asylpolitik-aufnahme‐fluechtlinge-grenzschutz‐visegradstaaten?cid=20556927#cid-20556927, 20.03.2019).
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Totalisierendes Denken lässt Widerspruch nicht zu und wird beständig von der ständig hergestellten Bestätigung der Widerspruchslosigkeit seines Denkens, Fühlens, Erfahrens, des Hörensagens überwältigt. Der Andere ist gefährlich und auf der Suche nach Bestätigung wird diese Gefahr beständig bestätigt. Solcherart deduzierendes Handeln ist letztlich tautologisch. Es weiß bereits, was es zu wissen glaubt und beständig zu bestätigen trachtet. Der Hauptsatz lautet: es liegt in der Kultur-Rasse des anderen, dass der Andere anders ist. Es geht diesem Rassismus um die Negation. Es geht diesem Rassismus um das ›Zer-Teilen‹. Nicht nur um das Zerteilen von Privileg, Ressourcen und Einkommen, das Zerteilen von Rechten, das Zerteilen von Körpern, das Zerteilen von Raum. Es geht um das Zerteilen des gemeinsamen Menschseins.41 Nun hatte bereits Hannah Arendt darauf hingewiesen, dass, wer Andere vom »Recht, Rechte zu haben«, also von der politischen Gemeinschaft, die diese garantieren kann, ausschließt, nicht nur Anderen das Menschsein verweigert, sondern letztlich auch sich selbst. Für Kommentare danke ich herzlich Frau Dr. Melanie Hühn, Frau Katrin Linde M.A., Herrn Dr. Marcus Nolden und Frau Dr. Madeleine Sauer.
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Anti-Rassismus zwischen Identitäts- und Alteritätspolitik Ein praxislogischer Annäherungsversuch Felix Hoffmann
Ich möchte in diesem Beitrag das praxislogische Verhältnis von identitär‐rassistischer und antirassistischer Politik fokussieren und dabei grundlegend zwischen einem identitären und einem alteritären Identitätsbegriff unterscheiden. Damit möchte ich zu den laufenden akademischen wie öffentlichen Debatten um anti‐rassistische Praxis beitragen, die sich zwischen identitätspolitischen Kämpfen von Schwarzen Menschen und People of Colour und einer naiven, mehrheitsgesellschaftlich-weißen1 »Farbenblindheit« (Eggers et al. 2009: 7) bewegen, die identitätspolitische Macht- und Gewaltdifferentiale ignoriert.2 Es ist nicht meine Absicht, für irgendjemanden zu sprechen, sondern den Versuch zu unternehmen, Praxislogiken als relevante Kategorie in anti‐rassistischen Kämpfen herauszuarbeiten – auch in Hinblick auf alle anderen emanzipativen Kämpfe.3 Ich gehe mit Stuart Hall davon aus, dass Diskurse und damit auch rassistische Diskurse ganz allgemein als dasjenige zu begreifen sind, »was menschlichen Praktiken und Institutionen Bedeutung verleiht« (Hall 2018: 55). Praktiktische Logiken (vgl. Certeau 1988; Bourdieu 1993), so meine These, besitzen eine vordiskursive Eigendynamik: Sie wirken zunächst einmal unabhängig von Bedeutungen. Identifikationen von Menschen erfüllen beispielsweise einen praktischen Ordnungswert, wenn es etwa darum geht, Arbeitsprozesse effizient und effektiv zu organisieren. Der gleiche Ordnungswert wird hingegen problematisch, wenn er 1 Ich verwende ›Schwarze Menschen‹ und ›People of Colour‹ großgeschrieben und demgegenüber ›weißsein‹ klein und kursiv, um damit symbolisch die ersteren Kategorien zu normalisieren und die meist unhinterfragte Norm letzterer zu problematisieren (vgl. Eggers et al. 2009: 12–13). 2 Innerhalb akademischer Debatten möchte ich den Fokus wieder mehr auf Gewalt anstatt auf Macht lenken, denn Gewalt ist immer noch das eigentliche Problem in Machtverhältnissen, gerade wenn es um psychosoziale Subjektivierungsprozesse geht. Der Fokus auf Machtverhältnisse tendiert bisweilen dazu, Gewalt zu normalisieren. 3 Dabei werde ich eine ganze Reihe theoretischer Debatten, Binnendifferenzierungen und eigentlich relevante Literaturen beiseitelassen, um in der gebotenen Kürze zu möglichst pointierten Aussagen zu gelangen.
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Menschen diskursiv in entsprechenden Identitäten fixiert, damit gewaltförmig ist und der Herrschaftssicherung dient. Der Verweis auf die praktische Logik der Übersichtlichkeit oder der vermeintlich fixen jeweiligen Befähigung erlangt dann eine scheinbare Selbstevidenz, die identitäre Denkweisen so verführerisch ›natürlich‹ erscheinen lässt. Dies gilt insbesondere für ein vermeintliches ›Recht des Stärkeren‹, das in kolonialrassistischen Kontexten entsprechende Überlegenheitsund Unterlegenheitsfantasien informiert, letztlich jedoch auf der scheinbaren, da eindimensionalen Selbstevidenz allein gewaltförmig‐erzwungener Dominanz beruht (vgl. Mbembe 2001: 1–65).
Gewaltlogiken und Identifizierung Praxis kann als die »kleineste Einheit des Sozialen« (Reckwitz 2003: 290) betrachtet werden, da jedem menschlichen Handeln eine bestimmte Form der Praxis zugrunde liegt, sei sie nun sprachlich, gestisch, symbolisch, handwerklich oder politisch. Praktiken wiederum unterliegen jeweils bestimmten praktischen Logiken (vgl. Certeau 1988; Bourdieu 1993), ohne die sie keine Wirksamkeit entfalten könnten. Praktische Logiken ergeben sich aus der Sache selbst und sind damit in ihren einfachsten Formen intuitiv: Es ergibt Sinn, einen Hammer mit der flachen Seite zu benutzen, um die Trefferwahrscheinlichkeit zu erhöhen. Praktische Gewaltlogiken zielen im weitesten Sinne darauf ab, den eigenen Willen gegen den Widerstand anderer durchzusetzen und sind damit instrumentell: Sie wirken gegen den Willen derjenigen, die ihren Wirkungen unterliegen, auf einem Spektrum zwischen direkter physischer Gewalt und subtiler psycho‐sozialer Manipulation in Worten, Gesten und Taten sowie in gewaltförmigen Strukturen, die etwa einschließen, ausschließen oder regulieren. Gewalt ist oft unausweichlich, wenn etwa die Unterwerfung unter bestimmte Strukturen und Prozesse erst effizientes und effektives kollektives Handeln ermöglicht. So kann etwas, was im oben genannten Sinne prinzipiell gewaltförmig ist, trotzdem als richtig und nötig anerkannt werden. Die Frage allerdings, wie viel Gewalt, wie, wann, wo, in welchem Maße und vor allem: gegen wen nötig ist, ist politisch höchst umstritten. Gewalt kann genauso zelebriert wie verdammt wie normalisiert werden (vgl. Evans/Lennard 2018; Arendt 1972). Diese Zusammenhänge gelten noch für das einzelne Individuum im sozialen Raum. Im Sinne kollektiver Gewalt kommt hingegen die praktische Logik kollektiver Identifizierung ins Spiel, wie sie in den zeitlos‐praktischen4 Logiken der 4 Vergleicht man etwa Clausewitz’ »Vom Kriege« mit der Kriegstheorie des Sunzi, zeigen sich dieselben praxislogischen Grundmuster trotz 2000 Jahren Zeitdifferenz (vgl. Eisenhofer 2013: 17–76; Clausewitz 1976: 75–566).
Anti-Rassismus zwischen Identitäts- und Alteritätspolitik
Kriegskunst überall zu finden ist: In unmittelbaren Gewaltsituationen sind etwa klar identifizierbare Hierarchien oftmals praktisch sinnvoll. Entscheidungen können zwar nicht unbedingt richtig, aber schnell getroffen werden, weshalb strategische wie taktische Befehlsgewalt praxislogisch an diejenigen zu delegieren ist, die über die größten Kompetenzen und die meiste Erfahrung verfügen (vgl. Clausewitz 1976: 100–112, 120). Auch Identifizierbarkeit im Sinne von Homogenität in Bezug auf Ränge und gleiche Kompetenzen und damit eine funktionale Differenzierung von Kampfeinheiten, ebenso wie entsprechende aufgabenspezifische Disziplin (vgl. Clausewitz 1976: 119–121) mag praxislogisch ebenso sinnvoll sein: um Menschen schnell und effizient genau so einsetzen zu können, wie es am strategisch effizientesten und taktisch effektivsten ist (vgl. Clausewitz 1976: 279–253). In Kampfsituationen gilt all dies in strategischer Voraussicht und taktischer Anpassung an die antizipierten Strategien und Taktiken der jeweiligen Gegnerschaft. Gewaltverhältnisse als Kampfverhältnisse betrachtet sind damit wechselseitig aufeinander bezogene und damit relationale Beziehungen zwischen Menschengruppen,5 die im Groben durch Angriff und Verteidigung, Tricks und Finten, Manipulation und Tarnung, Subversion (vgl. Certeau 1988: 77–100) und ganz entscheidend: Intransparenz gekennzeichnet sind (vgl. Clausewitz 1976: 117–121). Auf kollektiver Ebene kommt damit in unmittelbaren Gewaltsituationen Freund-Feind-Identifizierungen6 eine zentrale Bedeutung zu. Sie sind, bildlich gesprochen, in Menschenmengen oftmals uneindeutig, solange sich potentielle Feinde nicht unmittelbar als solche identifizieren oder identifizierbar sind oder entsprechend handeln. Solche Unterscheidungen in unmittelbaren Gewaltsituationen sind praxislogisch präventiv: Als Feinde müssen – noch vor jeder Reflexionsmöglichkeit, jedem möglichen Dialog – all diejenigen betrachtet werden, die Feinde sein könnten. Praxislogisch betrachtet denke ich, dass dieser Umstand eine zentrale Facette dessen ausmacht, was Rassismus so scheinbar selbstevident ›natürlich‹ erscheinen lässt: Historisch als anders 5 Eine genauere Differenzierung zwischen strategischen und taktischen Handlungspotentialen und ihre ungleiche Verteilung und damit sozialen Stratifizierungen habe ich an anderer Stelle vorgenommen (Hoffmann 2017, 2019). 6 Praxislogisch ergeben Freund-Feind-Unterscheidungen dann Sinn, wenn mehr oder weniger polar entgegengesetzte Ziele zwischen Konfliktparteien vorhanden sind: Wenn die Ziele der einen diejenigen der anderen unweigerlich zunichtemachen oder anderen Gewalt antun würden und Verhandlungen einseitig oder allseitig verweigert werden. In Machtverhältnissen, so könnte man mit Clausewitz sagen, verstetigen sich solche Polaritäten, ohne in direkte physische Gewalt übertragen zu werden (vgl. Clausewitz 1976: 83–89, 216–219). Die politischen Positionen, speziell des frühen Nationalisten Clausewitz und später des Nazi-Ideologen Carl Schmitt, müssen im Kontext der Theoretisierung von Gewalt als identitär gelesen werden, da sie Feindschaft von ›Nationen‹ unhinterfragt und prinzipiell voraussetzen, auch wenn sie praxislogisch konsistent argumentieren (vgl. Münkler 2002: 105–115).
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und potentiell feindlich konstruierte Andere erscheinen als Andere auch noch eindeutig identifizierbar. Kurz: Praktische Logiken der Gewalt, in ihrer sublimierten und ausdifferenzierten Form der Kriegskunst, sind instrumentelle Sozialtechnologien, die Körper identifizieren, polarisieren, differenzieren, disziplinieren, hierarchisieren und stratifizieren (mehr oder weniger entbehrlich machen), damit gleichsam selbst zu ›Instrumenten‹ machen und schließlich auch opfern (vgl. Münkler 2002: 91–99). All dies ergibt in unmittelbaren, gewaltförmigen Konflikten, die sich dadurch auszeichnen, dass ihnen nicht aus dem Weg gegangen werden kann, ohne auf die eine oder andere Art zu verlieren, praktischen Sinn.7 Im Folgenden möchte ich diese grundlegenden Gewaltlogiken auf identitäre Politik übertragen.
Gewalt und identitäre Identität Trotz einer immer schon heterogenen und transnationalen Realität dient die Annahme der sozio‐kulturellen wie politischen Notwendigkeit einer ›nationalen‹8 Identität, nach wie vor der ideologischen Legitimierung, eine kohärente und konsistente kulturelle und damit konzeptuell ethnisch ›reine‹ Identität zu erzwingen (vgl. Anderson 2016; Hall 2018). Das mittlerweile geläufige Ideologem »identitär« (vgl. Jörke/Nachtwey 2017; Virchow/Langebach/Häusler 2016) markiert dabei ein aktuell politisch wieder zunehmend sichtbares Denken ›nationaler‹ Identität als »stable substance and timeless essence« (Friese 2006: 307). Identitäres Denken ist insofern strukturell gewaltförmig, als es die ›eigene‹ sozio‐kulturelle Heterogenität in immer schon pluralen Nationalstaaten dabei genauso hinwegfantasiert, wie die der ›anderen‹ und beide einer polarisierenden Homogenisierung unterwirft. Kurz: Identitär gedachten Identitäten ›mangelt‹ es permanent an Identität (Nealon 1998: 1–15, 170–171) – ein leidvoller Zustand, der ständig nach vermeintlicher Wiederherstellung einer noch nie vorhandenen Homogenität verlangt und damit ständig nach Bereinigung und vermeintlicher Wiederaneignung verlangen muss. In Bezug auf die affektive Dimension emotionaler Anbindung ist dies »grausamer Optimismus« (Berlant 2011) – die Sehnsucht, sich nicht nur nach etwas Unerfüllbarem zu sehnen, sondern auch eine toxische Sehnsucht, die ultimativ nur durch faschistische Gewaltverhältnisse aufrechtzuerhalten wäre. Es ist eine aggressive 7 Die Möglichkeit, auf Gewalt gewaltlos zu reagieren funktioniert immer nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen und ist meist mit hohen Opfern, also der Inkaufnahme von Gewalt gegen die eigenen Leute verbunden (vgl. Arendt 1972: 152). 8 Mit einfachen Anführungszeichen markiere ich entweder eigene Übersetzungen oder Begriffe, deren Konstruktcharakter hervorgehoben werden soll.
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Sehnsucht, die Differenz, Diversität und internen Konflikt als Schwächung, als Zersetzung von Einheit begreift, was die Nazis ›Wehrkraftzersetzung‹ nannten. In den letzten Jahren hat auch der Begriff »Kulturkampf« (Kellershohn/Kastrup 2016) an öffentlicher Aufmerksamkeit gewonnen. Es wird hier über ›nationale‹ Identitätszuschreibungen hinaus suggeriert, dass statisch, essenziell und mehr oder weniger homogen gedachte ›Kulturen‹ oder gar ›Kulturräume‹ in Flucht_Migrationskontexten9 kontrafaktisch unvereinbar gegeneinander stünden. Interessanterweise entsprechen die konstruierten Feindbilder dabei spiegelbildlich oftmals in vielerlei Hinsicht den eigenen identitären Positionen: Julia Ebner (2018) hat pointiert herausgearbeitet, wie letztlich minoritäre identitäre Selbstbilder (›Rechtsextremisten‹), vor allem auch in Bezug auf regressive und autoritäre Gesellschafts-, Familien und Geschlechterordnungen, auf struktureller Ebene analog den minoritären politischen Positionen auf der Gegenseite (›Islamisten‹) entsprechen. Homogenisierende Freund/Feind-Unterscheidungen werden also in identitärer Ideologie ohne unmittelbare praxislogische Notwendigkeit kultiviert. Dies erklärt, warum identitäre Politiken immer wieder Krisen schüren, Feinde identifizieren oder erst konstruieren muss (vgl. Moffitt 2016): Die Logik des Vorurteils muss aufrechterhalten werden, welches die Freund/Feind-Unterscheidung jenseits unmittelbarer Notwendigkeiten verallgemeinert, verstetigt und verfestigt und damit die dahinter liegende praktische Logik diskursiviert: Jede Gewalttat durch ›Ausländer‹ etwa bestätigt dann die präventive Logik, eine gegnerische Gruppe erst einmal generell als feindlich zu betrachten. Ein Teil wird mit der ganzen Gruppe identifiziert – die einzelne Person wird zur Repräsentantin der ganzen Gruppe gemacht. Letztlich ergeben damit Begriffe wie Einheit und Identität nur vor dem Hintergrund von Kampf- und Konkurrenzszenarien überhaupt praktisch Sinn. Kultiviert und verstetigt in Machtverhältnissen,10 die in ihnen lebende privilegierte Menschen als ganz ›normal‹ empfinden,11 dienen Identitäten der langfristigen Herrschaftssicherung und werden damit, wie ich sagen würde, identitär. Identität wird zum Selbstzweck, statt, wie ich später weiter ausführen werde, praxislogisch‐zeitweiliges Mittel zum Zweck zu sein. Identitäre Identitäten 9 In Anlehnung an Laura Ottos laufende Dissertation (Bremen) verwende ich die Schreibweise Flucht_Migration, um das empirische Kontinuum zwischen Fluchtursachen und Migrationsgründen zu verdeutlichen. 10 Zur Unterscheidung von Macht- und Kampfverhältnissen, vgl. Foucault 2005: 269–294. 11 Popitz liefert eine praxislogisch konzise Elaboration von Privilegien, insbesondere indem er darlegt, dass Privilegierte bei Infragestellung von Privilegien zunächst nur etwas zu verlieren haben und sich dementsprechend weit eher kollektiv solidarisieren als Deprivilegierte, deren kollektiver Kampf aufgrund der entsprechenden Machtdifferentiale nur einen möglichen Erfolg verspricht (»spekulative Solidarität«) aber auch genauso gut in noch größerer Repression enden könnte (vgl. Popitz 1968: 12).
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dienen dann letztlich der kollektiven und wiederum gewaltlogischen Disziplinierung, Hierarchisierung und Stratifizierung von Individuen, die als solche vielleicht ganz anderes im Sinn gehabt hätten. Gerade das Konzept der Loyalität ergibt überhaupt erst Sinn, wenn Einheit trotz internen Dissenses bestehen bleiben soll. In Bezug auf die eigentliche »Flüchtlingsschutzkrise« (Cyrus 2017: 114) von 2015 bestätigte sich innerhalb identitären Denkens das Bedrohungsszenario einer verstetigten Freund/Feind-Unterscheidung und bestätigte damit rassistisch informierte Angst, Misstrauen und schließlich Hass, wie er sich 2018 in Chemnitz entladen und damit ein weiteres Mal zur Normalisierung von Gewalt in Deutschland beigetragen hat (vgl. Rippl 2018). Das Clausewitzsche Diktum wird im identitären Denken vollends umgekehrt: »Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln« (Foucault 1983: 93). Ich betrachte an diesem Punkt identitäre Identitätspolitik jedoch zunächst einmal als konzeptuell unabhängig von Rassismus, da identitäre Politik keine rassistische Komponente aufweisen muss, wie Gayatri Spivak (2008) vielfach in Bezug auf anti‐koloniale Befreiungskämpfe dargelegt hat. In Deutschland ist dies jedoch offensichtlich nicht der Fall.
Konventionelle Identitätspolitik In ›liberalen‹ und ›pluralen‹ Nationalstaaten wie Deutschland betreffen Praktiken der homogenisierenden Identifikation vor allem flucht_migrantische Kollektive, speziell People of Colour und Schwarze Menschen, während weiße kaum als Flucht_Migrant_innen wahrgenommen werden, was eine zentrale Facette des alltagsrassistischen Blicks ausmacht. Dieser Blick beruht jedoch nicht allein auf mehr oder weniger subtilen und persistenten rassistischen Denkweisen (vgl. Kilomba 2010), sondern wird durch die grundlegenden Praktiken staatlicher Flucht_Migrationspolitik permanent bestätigt: Staatliche Flucht_Migrationspolitik produziert zunächst ein strategisches Überblickswissen, in dem zuallererst zwischen Bürger_innen und Nicht_Bürger_innen unterschieden wird, um dann entsprechend nach Herkunft und Aufenthaltsstatus differenzierte, damit vermeintlich eindeutig identifizierbare und damit wiederum auf taktischer Ebene kontrollierbare Kollektive zu produzieren – und dabei unweigerlich die vielfältigen kollektiven wie individuellen Differenzierungen zwischen den aggregierten Subjekten zu homogenisieren. Derartige Kollektivsubjekte zu schaffen ist Grundprinzip des nationalstaatlichen Blicks, wie ihn James Scott in Seeing Like a State herausarbeitet hat: In der Logik repräsentativer Demokratie benötigt der ›Nationalstaat‹ klar abgrenzbare Ansprechpartner auf politischer Ebene (Scott 1998). Möglichst klare Identifizierbarkeit, die Produktion von repräsentierenden (und meist eben nicht repräsentativen) Kollektivsubjekten und damit die Regierbarkeit
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sowohl ökonomischer, sozio‐kultureller und schließlich politischer Konkurrenzverhältnisse muss nach dem Nazi-Ideologen Carl Schmitt historisch und durchaus gewaltlogisch als »Hegung« (Münkler 2002: 116–148) von Konflikten gefasst werden. Es ist veine Befriedung von Kampf- und Gewaltverhältnissen in möglichst normalisierte Machtverhältnisse – ein Management von konfligierenden Interessen, dies jedoch immer vor dem Hintergrund, die Privilegien der ›nationalen‹ Mehrheitswählerschaft zu schützen. Der ›Nationalstaat‹ soll moderieren und notfalls eingreifen. Dementsprechend ist instrumentelle Politik auf allen Ebenen politischer, kultureller, sozialer und gerade auch ökonomischer Strukturen und Prozesse wiederzufinden: Die Allgegenwart, völlige Akzeptanz und Normalität instrumenteller Politik im Sinne politischer ›Instrumente‹ verdeutlicht dies. Was sogenannte Integrationsfragen in Deutschland betrifft, womit nach wie vor in erster Linie eine utilitaristische Logik einseitiger und damit prinzipiell gewaltförmiger Assimilation gemeint ist (vgl. Hetfleisch 2013), erscheinen die gegenwärtigen Konflikte und Kontroversen widersprüchlich im Vergleich zu früheren Zeiten. Mafaalani hat in »Das Integrationsparadox« (2018) herausgearbeitet, dass gerade sozio-ökonomische und sozio‐politische Integrationsprozesse in den letzten Dekaden verhältnismäßig erfolgreich verlaufen sind. Insgesamt lässt sich sagen, dass Flucht_Migrant_innen eine immer aktivere und vor allem sichtbarere Rolle im öffentlichen und auch im offiziell‐politischen Leben spielen. Doch dies, so Mafaalanis pointierte These, führt gleichsam kontraintuitiv nicht automatisch zu sozialer Harmonie – im Gegenteil: Wenn marginalisierte Kollektive (mit Mafaalani weitergedacht) praxislogisch betrachtet strategische Handlungsmacht erlangen, bleiben die nationalstaatlich gewollten, identitätsbezogenen Grenzen und Abgrenzungen zunächst einmal bestehen und werden genutzt. Genauer betrachtet treten sie umso deutlicher hervor, können organisatorisch institutionalisiert und entsprechend auf taktischer Ebene mehr oder weniger schlagkräftig‐repräsentierend als sichtbare Einheiten in Erscheinung treten. Gleichzeitig multiplizieren sie sich, da diejenigen, denen bisher kaum Repräsentanz möglich war, ebenfalls beginnen, in Erscheinung zu treten. Kurz: Zuvor asymmetrisch erzwungene Befriedung wendet sich in zunehmend machtvolle, identitätspolitisch kodierte Konflikte. Normalisierte Machtverhältnisse werden zunehmend in sichtbare Kampfverhältnisse überführt. Dies ist eine nationalstaatlich gewollte, eine ermöglichende, zu fördernde Entwicklung, ganz im Sinne der pluralen Demokratie. Gleichzeitig aber zeigen sich hier die Fallstricke einer solchen ›multikulturellen‹ Gesellschaft, die auf demokratisch zu erkämpfenden Anerkennungslogiken differenter Identifizierungen basiert: Sie basiert letztlich auf sozio‐kulturell ›verkennender Anerkennung‹ (vgl. Bedorf 2010), da die multiplen Identitäten letztlich nebeneinander bestehen und nebeneinander bestehen müssen, wollen sie als möglichst geschlossene und damit strategisch wie taktisch schlagkräftige Kollektive ihre jeweils eigenen Interessen durchsetzen. Zugleich unterliegen diese bei weitem nicht immer emanzipativen,
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sondern bisweilen selbst identitären Kämpfe (etwa in nationalistischen oder fundamentalistischen Kontexten) (vgl. Spivak 2008) einer strukturellen Konkurrenzlogik untereinander: Gerade emanzipative identitätspolitische Kämpfe, die intersektional sensibilisiert geführt werden und identitäre Schließungen in Hinblick auf ihre immenenten Gewaltlogiken überwinden wollen, mögen durchaus auch solidarisch füreinander eintreten wollen, doch spätestens, wenn es um Fördergelder und mediale Aufmerksamkeit geht, greift immer wieder die letztlich marktförmige Konkurrenzlogik wettbewerbsorientierter Demokratie (vgl. Yuval-Davis 2013), deren schlimmster Feind eine breite Solidarisierung über identitäre Grenzen hinweg zu sein scheint. Der praxislogische Effekt ist eine strukturelle Entsolidarisierung. Fern jeder Verschwörungsphantasie erscheint dieser identitätspolitische Konkurrenzkampf als eine jener foucaultschen »großen anonymen Strategien« des ›Teile und Herrsche‹ , die mehr oder weniger emanzipative sektorielle Kämpfe bedingt, und »deren ›Erfinder‹ oder Verantwortliche oft ohne Heuchelei auskommen« (Foucault 1983: 95), da sie die scheinbar ›natürlichste‹ Verfasstheit des Politischen ausmachen – Identitätspolitik.
Defensive Identitätspolitik und Alltagsrassismus Kampftheoretisch betrachtet sind minoritäre und/oder deprivilegierte Identitätspolitiken defensiv (vgl. Clausewitz 1976: 357–370), solange keine Gleichberechtigung herrscht. Sie stehen aktuell zunehmend im Kreuzfeuer: Einerseits von rechtspopulistischen Parteien, identitären Bewegungen, Protofaschist_innen, aber auch zunehmend von Mitte-Links-Parteien und Wählerschaften, die gerade emanzipative Widerstände und damit für viele psycho‐sozial überlebenswichtig‐abgrenzende Identitätspolitik, zur Bestätigung ihrer identitären Bedrohungsfantasien umdeuten: Innerhalb der verfassungsrechtlich garantierten Pluralität Deutschlands erkennen sie anderen das Recht auf Selbstverteidigung ab und positionieren sich damit selbst in der Defensive gegen einen externalisierten ›Feind‹. Sie stehen andererseits aber auch unter Beschuss von vermeintlich wohlmeinenden mehrheitsgesellschaftlich‐deutschen weißen, die nicht verstehen wollen, warum Rassismus nicht einfach symbolpolitisch ausgeblendet werden kann – ohne dass damit die eigenen Privilegien reflektiert oder gar zur Disposition gestellt werden müssten. Eine verführerisch einfache, aus einer privilegierten, unmarkiert-weißen Position heraus schlichtweg farbenblinde Sichtweise, die, wie ich sagen würde, in erster Linie praktische Gewaltlogiken ignoriert: Die allgegenwärtige Notwendigkeit, in einer von herrschenden, kämpfenden und konkurrierenden Identifizierungen geprägten Gesellschaft selbst zu kämpfen und zu konkurrieren. Kurz: Defensive und emanzipative Identitätspolitik ist im Gegensatz zu identitärer Politik praxislogisch unmittelbar notwendig.
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Naiv‐apologetisch könnte hier gefragt werden: Wer nicht ständig mit dem Rücken zur Wand steht und sich erklären muss, wer sich nicht ständig im Alltag gestisch wie diskursiv übergriffigen Infantilisierungen, Primitivierungen, Dezivilisierungen, Animalisierungen und Erotisierungen ausgesetzt sieht,12 wer nie nach einer von Kolonialismus und Rassismus verschütteten bis vernichteten Vergangenheit suchen musste, sondern vielmehr die eigene zu verdrängen versucht – wie sollte so jemand den sowohl gewaltlogischen, als auch den entsprechenden affektiven und emotionalen Rückhalt identitätspolitischer Kämpfe verstehen? Praxislogische Ignoranz rechtfertigt jedoch erst einmal gar nichts, denn auf eigentlich nachvollziehbare anti‐rassistische Reaktionen wird dann immer wieder empört reagiert – mit sich selbst wiederum emporhebenden Reaktionen begegnet. Solche vorreflexiven Empörungen werden ohne jede unmittelbare Notwendigkeit der Verteidigung geäußert, wohingegen oft keine Vorstellung davon herrscht, dass die andere Person gerade aus einer tatsächlichen Verletzung heraus agiert. Die entsprechenden Debatten um das Selbstdefinitionsrecht von Gewalt, auch in anderen, insbesondere anti‐sexistischen Kontexten, legen dabei peinlicherweise lediglich eine weitere Gewaltform frei: Die Arroganz aus der Position des Aggressors heraus zu definieren, was überhaupt als Gewalt gelten darf. Empörung als ein vorreflexiv eingeschliffenes politisches Verhalten (viel mehr als ein reflektiertes Handeln) kennzeichnet dabei die gewaltlogische Durchdrungenheit einer identitätsfixierten Gesellschaft, die den Selbstschutz, das Verteidigen der eigenen Position zulasten anderer (gerade auch im wirtschaftlichen Sinne), auf allen Ebenen kultiviert. Eine pauschale Kritik an antirassistisch‐identitätspolitischen Kämpfen bleibt genau damit rassistisch, da sie anderen aberkennt, was Mensch sich selbst die ganze Zeit zuerkennt – vor allem wohl verkennend, dass es ein eminent weißes Privileg ist, nicht beständig kämpfen zu müssen. Dabei kommt eine dezidierte und konsequente Kritik an identitären Schließungen in minoritären Kämpfen und im Hinblick auf die strukturelle Konkurrenzproblematik identitätspolitischer Kämpfe in anti‐rassistischen Kontexten in erster Linie von People of Colour und Schwarzen Menschen (vgl. Haritaworn 2009; Mecheril 2009: 43–53). Es ist eben gerade nicht die deutsche Demokratie, die unter einer Vervielfältigung der Konfliktlinien leidet – im Gegenteil, dies war und ist die repräsentations- und identitätsbasierte Agenda. Es sind diejenigen, die sich gerne breit gegen alle von identitären Denkweisen gekennzeichneten Diskriminierungsformen stellen und miteinander solidarisieren würden.
12 Diese grundlegenden Praxislogiken des Alltagsrassismus beschreibt Grada Kilomba in »Plantation Memories: Episodes of Everyday Racism« (2010: 44).
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Alteritätspolitik Im Folgenden geht es mir nicht darum, eine ideale Zukunftspolitik zu entwerfen. Es geht mir zunächst einmal darum, praxislogische Alternativen zur notwendigen bis identitären Gewaltförmigkeit des Identitätsprinzips herauszuarbeiten und entlang dessen folgende praxislogischen Widersprüche in Bezug auf anti‐rassistische Identitätspolitik zu problematisieren: Wie für etwas kämpfen, das eigentlich ganz friedlicher Natur ist? Wie etwas erkämpfen, das auf Einsicht, auf emotionaler, affektiver und kognitiver Entgrenzung beruht? Praxislogisch kann immer nur gegen etwas gekämpft werden – etwa gegen Nazis. Doch Anti-Rassismus in Bezug auf die Überwindung von Alltagsrassismen beruht gerade auch auf der Überzeugung derjenigen, die ihn wohlmeinend dennoch betreiben – gerade diejenigen, die offen sind und lernen wollen. Dies ist letztlich etwas, was jedoch gerade nicht erzwungen werden kann. Ein bisher wenig beachtetes Gegenkonzept zum identitätspolitischen Paradigma heißt Alteritätspolitik (vgl. Nealon 1998). Alteritätspolitische Praktiken finden sich implizit in allen möglichen identitätskritischen Theorien friedlicher Konfliktbewältigung. Vielmehr sind konsequente Theorien friedlicherer Politikformen prinzipiell identitätskritisch (vgl. Mecheril 2009), wie aus meinen vorangehenden Ausführungen deutlich geworden sein sollte. Ich möchte dennoch hier auf diesem Konzept beharren, weil sich an ihm die polare Gegensätzlichkeit entsprechender Praxislogiken im relationalen Verhältnis zu identitärer Politik herausarbeiten lässt. Alteritätspolitik kehrt die Logik identitätspolitischer Abgrenzung um: Identität wird durch Entgrenzung, durch Identifikation mit anderen konstruiert, wird aber prinzipiell offengehalten. Identität bleibt eine zeitweilige, das Identitätsprinzip auf seine praktischen Funktionen reduzierende Organisationsstruktur, die gerade auch Hierarchien auf ihren praxislogischen Nutzen in Hinblick auf diverse und wechselnde Kompetenzen reduziert, ohne sie zu verstetigen und immer wieder mit Hinblick auf ihren konkreten Nutzen in Frage zu stellen. Konzeptuell ist Alteritätspolitik damit realistisch: Identifizierungen und Hierarchien können sich (je nach Privilegierung) schließlich auch in ›nationalen‹ Kontexten ständig ändern. Alteritätspolitik findet dementsprechend überall ganz alltäglich statt. Es sind meist mikropolitische Praktiken, die stattfinden, wo Menschen sich begegnen und Gruppen sich treffen, über alltägliche Probleme und wechselseitige Unterstützung beraten. Im besten Fall werden identitätspolitische Grenzen überwunden, Menschen, Gruppen und Kollektive verschmelzen – kategorische Trennungen werden im besten Wortsinne egal – weil die Ungerechtigkeiten, die mit ihnen einhergehen, zumindest teilweise oder zumindest für den Moment überwunden werden. Alteritäre Identitäten, so möchte ich sagen, sind damit prinzipiell keine Mangelkonstruktionen, sondern werden als beständiger Prozess mit neuen, gerade auch
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transnationalen Möglichkeiten, Verbindungen und Assoziationen gleichsam gefüllt, während das Denken in identitären Kategorien aufgrund einer diskursiven Verknappung von Identitäten operiert.13 Identität muss sich nicht ständig auf Kohärenz und Konsistenz berufen, sie darf in Anlehnung an Mecheril lediglich der Realität entsprechend prinzipiell ›unrein‹ sein (was den gewaltförmigen Charakter des Reinheitsprinzips an sich unterstreicht) (vgl. Mecheril 2009: 35–42, 55–89). Im Gegensatz zu einem minimal‐konsensuellen Fokus auf Gemeinsamkeiten statt auf Unterschiede bezeichnet Alteritätspolitik einen produktiven Prozess soziokultureller Hybridisierung, der letztlich allein dem immer schon hybriden Charakter des Kulturellen Rechnung trägt (vgl. Bhabha 2010: 28–56). Alteritäre Identitäten müssen auch nicht euphemistisch ›gestiftet‹ werden – sie ergeben sich. Alteritätspolitik affirmiert das Verhältnis zu letztlich jedem anderen (vgl. Lévinas 2007), statt es zu negieren. Der Begriff des anderen (alter) verliert seine negative Konnotation (vgl. Friese 2006: 307). Der Bezug auf das Andere ist vielmehr die grundlegende Anerkennung, dass Alterität »selbst in den intimsten Verhältnissen besteht« (Course 2017: 13) – im scharfen Kontrast zu den kategorischen oder gar formalisierten Logiken konventioneller Identitätspolitik. Soziale Stabilität wird gerade nicht durch feste und damit immanent gewaltförmige Strukturen und asymmetrische Machtverhältnisse letztlich erzwungen, sondern durch beständige alltägliche Konfliktlösungsprozesse wird immer wieder Verteilungsgerechtigkeit affirmiert – entgegen der lediglich befriedenden, aber keineswegs konfliktlösenden Logik wechselseitiger Souveränität. Es geht gerade nicht um Autonomie, sondern um Interdependenz: um die positive Anerkennung wechselseitiger Abhängigkeit.14 Alteritätspolitik bedarf in keiner Weise einer kritiklosen Akzeptanz alles Differenten: Alteritätspolitisch orientierte Initiativen und Vereine etwa, wie sie im Zuge der Flüchtlingsschutzkrise auflebten oder entstanden, grenzen sich ganz einfach klar von allen möglichen Formen identitärer Gewalt und Gewaltkulturen ab. Alteritätspolitik bedarf vielmehr einer Akzeptanz von Differenz und Differenzen als solchen (vgl. Mecheril 2009: 55–89). Sie bedarf einer positiven Bezugnahme auf Konflikte, statt der gewaltsamen Konfliktvermeidung durch Grenzziehungen, zum Scheinwohl eines exklusiven und in sich noch gewaltförmigen Harmonieideals. 13 Hierbei zeigt sich in liberalen Nationalstaaten zunehmend eine Ausdifferenzierung von Identitäten, gerade auf der mikropolitischen Ebene, die allerdings weit eher zu einer Partikularisierung des Gesellschaftlichen beiträgt. Damit wird zwar einerseits ein breiteres Spektrum an ›singulären‹ Identifizierungen geboten, dies resultiert jedoch keineswegs automatisch in einer Überwindung gesellschaftlicher Stratifizierungen, genauso wie ›nationale‹ Ein- bzw. Ausschlüsse bestehen bleiben (vgl. Reckwitz 2018). 14 Zu einer Kritik des Konzepts der »Autonomie der Migration« und damit am Autonomiegedanken als problematisch‐identitätspolitische Selbstzweck-Konstruktion, vgl. Hoffmann/Otto 2019.
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Im diametralen Gegensatz zu identitären Kampf- und Konkurrenzlogiken basiert Alteritätspolitik damit auf möglichst weitgehender Gewaltfreiheit und kann damit gerade nicht einseitig‐instrumentell erzwungen werden, sondern bedarf von vorneherein wechselseitiger Offenheit und wechselseitigen Interesses. Alteritätspolitik ist damit ethisch voraussetzungsvoll und kompliziert. Vermeintlich repräsentative, dabei jedoch prinzipiell nur unter Zeitdruck strategisch und taktisch notwendige Simplifizierungen (vgl. Clausewitz 1976: 227–229) sind demgegenüber wesentliches Prinzip identitären Denkens. Alteritätspolitik braucht Zeit und damit eine Gesellschaftsform, die Zeit zur alltäglichen politischen Arbeit lässt. Sie setzt ferner symbolisch ausgedrückt Fragezeichen gegen die Ausrufezeichen identitärer Politik: Während Identitäre Politik im quasi wechselseitigen Monolog funktioniert, durch mediale Scheinrepräsentation und manipulative Propaganda, also auf Kampfformen, die Gegner_innen genauso wie Auszugrenzende prinzipiell auf Abstand halten, bedarf Alteritätspolitik der möglichst unmittelbaren Begegnung (Nealon 1998; Lévinas 2007) und damit eines Dialogs, der diesen Namen verdient – in dem Macht- und Gewaltverhältnisse nicht nur benannt, sondern tatsächlich Schritt für Schritt aus dem Weg geräumt werden. Strategische Agenden und taktisches Kalkül, Kampflogiken, die erst aufgrund ihrer wechselseitigen Intransparenz wirksam werden, müssen transparent reflektiert und damit unschädlich gemacht werden. Eine dialogische Konsensfindung ist zum Scheitern verurteilt, wenn ein_e Teilnehmer_in bereits ein klares Ziel vor Augen hat, das es durchzusetzen gilt und das aufgrund von Machtdifferenzialen letztlich auch durchgesetzt werden kann. Die praktische Logik des Dialogs gebietet Gleichberechtigung und Gleichermächtigung im Gegensatz zu identitär-›interkulturellen‹ Scheindialogen und ist damit äußerst prekär und kaum herstellbar, ohne zumindest konkreten Verzicht auf Deutungshoheit der privilegierten Seite. Ist dies nicht gegeben, kann immer nur höchstens ein scheinbarer Konsens, ein erzwungener Kompromiss erzielt werden. Alteritätspolitik bedarf außerdem eines pluralen »rich dialogue of voices rather than a fight for recognition and domination« (Nealon 1998: 33). Repräsentationslogiken hingegen reduzieren diese vielstimmige Komplexität auf Identitäten. Verantwortung im alteritätspolitischen Sinne bedeutet eben nicht eine Hierarchie, die Verantwortung als einseitige Verantwortungsübernahme betrachtet und anderen gegenüber letztlich monologisch eigene ›Antworten‹ und entsprechende Maßnahmen aufzwingt, sondern ein offenes, engagiertes und aktives Zuhören, gerade von privilegierter Seite, um die Positionen und Perspektiven anderer verstehen und auf sie tatsächlich Antwort geben zu können – sich im eigentlichen Sinne verantwortlich und überhaupt ›antwort‐fähig‹ zu zeigen (Nealon 1998: 166–172). Idealerweise sind Resultate dann keine Kompromisse, sondern etwas Neues, Gemeinsames – jenseits der Logik von Gewinn und Verlust, Sieg und Niederlage, Aufstieg und Fall. Teilen in jeder Hinsicht und Austausch von Wissen und Fähigkeiten, gemeinsame Erfahrung und Zusammenarbeit gehören ganz grundlegend dazu: Hier lassen sich alteritäts-
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politische Praxislogiken durchaus utilitaristisch betrachten: Selbstverständlich ist insbesondere das Teilen von Wissen weit effizienter und effektiver als neoliberale Konkurrenzlogiken, wo quasi das Rad tausendfach neu erfunden und innovative Entwicklungen aus marktstrategischen Gründen unterdrückt werden (vgl. Weber 2017). All dies und noch viel mehr sind zeitlose, omnipräsente, aber von identitätspolitischen Gewaltlogiken ständig unterbrochene, durchkreuzte Praktiken, die Alteritätspolitiken beständig marginalisieren und schnell naiv erscheinen lassen. Dabei bietet die Aussicht auf positive assoziative Identifizierungen gerade auf affektiver und emotionaler Ebene genau jenen Rückhalt, den identitäre genauso wie konventionelle nationalstaatliche Mangelidentitäten prinzipiell nicht bieten können: individuelle Würde statt schnell toxischem Stolz und fragwürdiger Ehre, die Mensch sich immer erst auf die ein oder andere Weise verdienen muss – oder sich in Ermangelung dessen loyal auf die ›Nation‹ beruft (Schopenhauer 2017: 64). All dies erfordert Vertrauen und Zuversicht (vgl. Hetzel 2010) in diametralem Gegensatz zu den auf prinzipieller Unkenntnis Anderer beruhendem Misstrauen und Ressentiment auf der Basis von pseudopräventiven Zuschreibungen. Alteritätspolitik erfordert demgegenüber ein aktives Sich-Verletztlich-Machen, wo auch dem Aushalten von Wut und Frustration im Falle von Verletzungen nicht in den Kategorien von Vergeltung, Schuld und Sühne begegnet werden muss (vgl. Lévinas 2007: 173–176), sondern in der wechselseitigen Anerkennung, dass Menschen sich oft auch unabsichtlich verletzen und ganz allgemein Fehler machen: Verletzlichkeit wird dann nicht negativ als moralistisches Verbot, dem anderen nicht zu schaden, betrachtet, sondern positiv als ethische Bedingung und Notwendigkeit der wechselseitigen Kontaktaufnahme und der Möglichkeit des Lernens begriffen, wie sie unter anderem in aktueller Care- und Awareness-Ethik artikuliert wird (Conradi und Vosman 2016). Alteritätspolitik schafft im besten Fall solide, weil beständig aktualisierte Solidarität statt kritikfeindlicher Loyalität.
Zwischen Identitäts- und Alteritätspolitik Lande ich mit diesen Ausführungen im Kontext omnipräsenter Gewaltlogiken, die es sich in den Normalitäten sedimentierter Machtverhältnisse bequem gemacht haben, nicht genau in jener naiven weiß-privilegierten Verklärung einer möglichen bruchlosen Aufhebung von Rassismus? Ja und nein. Ich möchte quasi dazwischen ein paar praxislogische Gedanken mit Blick auf Alltagsrassismen formulieren. An diesem Punkt wäre in Bezug auf anti‐rassistische Politik, aber auch im Hinblick auf alle anderen intersektional‐emanzipativen Kämpfe viel gewonnen, wenn Folgendes grundlegend gerade in mehrheitsgesellschaftliche Debatten einfließen würde: Erstens, dass Gewaltlogiken und Identitätsprinzipien einander bedingen beziehungsweise praxislogisch einander erst Sinn geben.
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Zweitens müsste thematisiert werden, dass das Identitätsprinzip in Bezug auf das, was das Politische als speziellen Bereich menschlichen Handelns ausmacht, eine im foucaultschen Sinne epistemische Gewalt ausübt: ein allein identitätspolitisches Denken des Politischen erscheint heute als weitestgehend ›alternativlos‹ in Theorie und Praxis – als anders ganz undenkbar?15 Drittens, dass Identitätspolitik gerade in einer Gesellschaft künstlich produzierten Mangels ein Nullsummenspiel ist: was des einen Gewinn, ist des anderen Verlust, oder wird aus privilegierter Warte zumindest so empfunden und empört moniert. Es können im identitätspolitischen Paradigma meist nur instabile Kompromisse des kleinsten gemeinsamen Nenners erzielt werden, der jederzeit wieder in Frage gestellt werden kann. Der populist backlash hat in diesem Sinne schmerzhaft‐deutlich gezeigt, dass Menschen, die ihre Privilegien reflektieren oder gar teilen und damit aufgeben sollen, dies noch lange nicht wollen. Hier muss jedoch viertens ein kategorischer Unterschied zwischen aggressivem Identitarismus und defensiver Identitätspolitik gemacht werden: Gewaltlogiken, insbesondere Herrschaft, werden in identitären Denkweisen zum politischen Selbstzweck erklärt. Insbesondere in emanzipativen Identitätspolitiken sind Kampf und Konkurrenz in einer identitätspolitisch kodierten Welt hingegen notwendiges Mittel zum Zweck. ›»Unteilbar« ist eigentlich ein schönes Motto für eine antirassistische Demonstration, ist in Deutschland und anderswo aber auch das ungemein weiße Privileg, einer unteilbaren Norm anzugehören. In einer ganzen Reihe intersektional und emanzipativ orientierter, jedoch notwendig identitätspolitisch kodierter Kämpfe (vgl. Haritaworn 2009) sind alteritätspolitische Praktiken überall zu finden, was sie grundlegend von identitärer Politik unterscheidet. Daraus ergibt sich fünftens, dass alles außerhalb alteritätspolitischer Praxislogiken von privilegierter Seite prinzipiell die entsprechenden Privilegien erhält – und dies gilt für alle emanzipativen Kämpfe. Alteritätspolitische Praktiken sind somit vor allem Aufgabe jeweils Privilegierter, die letztlich wiederum nur hinzugewinnen können – und zwar an selbstverständlicher, zwischenmenschlicher Sensibilität. An diesem Punkt gilt es, anzuerkennen, dass es bereits ein Privileg ist, weiße Privilegien zu reflektieren. Ein solcher solidarischer Balanceakt zwischen der Akzeptanz notwendiger Identitäts- und möglicher Alteritätspolitik ist alles andere als eine naive Utopie, sondern er begegnet mir in meinem Erfahrungshorizont seit vielen Jahren in antirassistischen, antisexistischen und antiklassistischen Kontexten als gelebte Praxis. Es ist immer eine Gratwanderung, die vor allem ein Verlernen identitärer Denkweisen der jeweils privilegierten Seite erfordert. Es gibt sie überall, diese 15 Vgl. hierzu insbesondere Oliver Marchart (2011: 35–42), der zumindest für die europäisch dominierten Strömungen zwischen einer dissoziativen und einer assoziativen Traditionslinie in Theorien des Politischen unterscheidet.
Anti-Rassismus zwischen Identitäts- und Alteritätspolitik
einzelnen, verstreuten, immer wieder aus den allgemeinen Gewaltlogiken heraus identitätspolitisch gebundenen und durch sie getrennten, alteritären Bewegungen in identitären Zeiten.
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Es scheint beinahe normal, aktuelle antisemitische Übergriffe mit jenen der Jahre nach 1933 gleichzusetzen – so zumindest vermitteln es manche Medien und aufgebrachte Wortführer_innen. 2018, zum 80. Jahrestag des Novemberpogroms 1938, begegnete man solchen aufgeregten Stimmen wieder gehäuft. Ähnliches war 2002/2003 während der antisemitischen Welle zu beobachten, die nach einer Radikalisierung des Nahost-Konflikts in vielen europäischen Ländern zu einem Anstieg antisemitischer Übergriffe geführt hatte. Die sogenannten Gaza-Kriege (2008/09; 2012; 2014) und die mediale Aufmerksamkeit, die diese auslösten, boten für manche ein weiteres Mal die Gelegenheit, 1933 als Referenzrahmen heranzuziehen. Jene, die dies tun, sind sich der Ausmaße der Gewalt und der antijüdischen Verfolgung während der NS-Zeit nicht wirklich bewusst und argumentieren ahistorisch. Selbst wenn es sich um gewalttätige Übergriffe auf Institutionen und Personen handelt, ist dies nicht im Geringsten mit dem Rassenantisemitismus der frühen 1930er Jahre vergleichbar. Wir leben heute in einem demokratischen Staat mit einer funktionierenden Justiz, kritischen Medien und einer Zivilgesellschaft, die sich – wenn auch nicht immer ausreichend – aktiv gegen Antisemitismus, Extremismus und Rechtspopulismus einsetzt. Und auch die Politik ist nicht tatenlos geblieben: 2009 hat der Deutsche Bundestag einen ersten Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus aus Wissenschaftler_innen und Praktiker_innen eingesetzt, der 2011 seinen Bericht über den Stand des Antisemitismus in Deutschland vorgelegt hat (Unabhängiger Expertenkreis 2011). Bedauerlicherweise wurden daraus allerdings kaum politische Konsequenzen gezogen. Einzig das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) reagierte: Das 2014 neu aufgelegte Bundesprogramm »Demokratie leben!« fördert seit 2015 Projekte mit einer verlängerten Laufzeit von fünf statt drei Jahren und mit einem kontinuierlich ansteigenden finanziellen Umfang (zuletzt 2017: 100 Mio. Euro). Das Programm leistet wohl den wichtigsten Beitrag zur pädagogisch‐präventiven Antisemitismusbekämpfung jenseits der Regelstrukturen (Unabhängiger Expertenkreis 2017: 220). Die Gaza-Demonstrationen 2014 und die dort lauthals gebrüllten antisemitischen Parolen hatten einmal mehr gezeigt, dass Antisemitismus in Deutschland
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keineswegs ein Thema der Vergangenheit ist. Die Politik sah sich in der Pflicht, zu reagieren. Der Bundestag berief 2014 einen zweiten Unabhängigen Expertenkreis, der 2017 seinen über 300-seitigen Bericht mit Handlungsempfehlungen vorlegte (Unabhängiger Expertenkreis 2017). Im Mai 2018 wurde eine der Hauptforderungen realisiert: Die Bundesregierung setzte mit Felix Klein einen eigenen Beauftragten für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus ein. Inzwischen wurden ähnliche Ämter in verschiedenen Bundesländern (Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen-Anhalt, Thüringen) und in einigen Generalstaatsanwaltschaften etabliert. Der Einsatz der Beauftragten ist ein erster Schritt hin zu einer koordinierten Bekämpfung antisemitischer Haltungen und Manifestationen, insbesondere im Bildungsbereich, aber auch auf der Ebene der statistischen Erhebung antisemitischer Übergriffe, nicht nur von Straftaten, sondern auch hinsichtlich der Fälle, die unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegen. Mit dem Einsatz von partiell staatlich unterstützten Nichtregierungsorganisationen, etwa der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS), die antisemitische Fälle registrieren und verfolgen, soll das vermutete Dunkelfeld aufgehellt werden.1 Es besteht aber auch die Gefahr, dass die erhobenen und veröffentlichten Zahlen ein Bild zeichnen, das eine permanente Zunahme antisemitischer Vorfälle suggeriert. Die Möglichkeit, antisemitische Übergriffe einer Nichtregierungsorganisation und nicht der Polizei zu melden, erleichtert das Meldeverhalten und führt so automatisch zu einem Anstieg der Werte. Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, bestätigte dies in seinem Interview mit den Nürnberger Nachrichten am 20. April 2019: »Man muss diese Zahlen differenziert sehen. Wenn ich beginne, solche Fälle systematisch zu erfassen und Menschen motiviere, auch antisemitische Vorfälle unter der Strafbarkeitsgrenze zu melden – wie wir es ja seit 1. April mit RIAS Bayern auch hier im Freistaat haben –, dann ist klar, dass die Anzahl der erfassten Vorgänge mehr wird. Denn bei RIAS müssen die Betroffenen nicht eine so hohe Hemmschwelle überwinden, wie wenn sie zur Polizei gehen und dort Anzeige erstatten. Der daraus resultierende Anstieg würde keine qualitative Veränderung bedeuten« (Kalb 2019). Unter den 2018 von RIAS registrierten 1.083 (14 Prozent mehr als im Vorjahr) antisemitischen Vorfällen in Berlin waren 46 Angriffe, 43 gezielte Sachbeschädigungen, 46 Bedrohungen, 831 Fälle verletzenden Verhaltens (darunter 48 Versammlungen) 1 RIAS existiert bisher nur in Berlin und seit kurzem auch in Bayern. Geplant ist eine bundesweite Ausdehnung, dazu wurde imOktober 2018 ein Verein zur bundesweiten Koordinierung von Meldestellen judenfeindlicher Vorfälle gegründet (https://www.report‐antisemitism.de/#/de/ about, 30.04.2019).
Antisemitismus heute – alte Bilder, neue Herausforderungen
sowie 117 antisemitische Massenzuschriften. Bei 52 Prozent handelte es sich um sekundären Antisemitismus. Stereotype des israelbezogenen Antisemitismus traten bei der Hälfte aller Vorfälle auf; sie ereigneten sich insbesondere im Mai 2018 (61 Prozent). Die mediale Aufmerksamkeit, die in diesem Zeitraum der 70. Jahrestag der Gründung Israels, die Erinnerungen an den israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948/49 und auf palästinensischer Seite das Gedenken an 70 Jahre Nakba sowie die Grenzeskalationen im Frühjahr 2018 zwischen Gaza und Israel erhielten, blieb nicht ohne Folgen. Die meisten antisemitischen Manifestationen waren in dieser Phase dem Milieu des israelfeindlichen Aktivismus zuzurechnen (11 Prozent), je etwa 8 Prozent der Vorfälle hatten einen rechtsextremen Hintergrund oder waren der politischen Mitte zuzuordnen. Die Vorfälle rund um den 1. Mai 2018 sind vor allem der maoistischen Kleinstgruppe Jugendwiderstand und ihrem Umfeld zuzuschreiben (RIAS 2019: 45). Dem islamistischen Spektrum rechnet RIAS Berlin mit 19 Vorfällen – 2 Prozent der Vorfälle 2018 – insgesamt am wenigsten antisemitische Vorfälle zu. Die meisten Fälle hatten einen rechtsextremen Hintergrund (193 Vorfälle), wobei der politische Hintergrund von 49 Prozent (531 Fälle) der gesamten antisemitischen Vorkommnisse nicht geklärt werden konnte (RIAS 2019: 13). Auch wenn Schuster in seinem Interview im April 2019 den RIAS-Ergebnissen zu Recht keine Veränderung entnimmt, mahnt er, man müsse den Anstieg trotzdem ernst nehmen, denn er würde die Lage besser widerspiegeln als die bisherigen Statistiken (vgl. Kalb 2019). Schusters letzter Satz macht die Problematik der Erhebung antisemitischer Übergriffe deutlich. Die ›Statistiken‹ sind jene der »Politisch Motivierten Kriminalität« (PMK), bei der es sich ausschließlich um Straf- und Gewalttaten und eben nicht um Fälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze handelt. Die Beachtung, die mögliche antisemitische Äußerungen in jüngster Zeit erfahren, ist für die Betroffenen ein wichtiges Zeichen, aber kann auch dazu führen, dass der Vorwurf »Antisemitismus« zu einer inflationär verwendeten Anschuldigung verkommt und nicht mehr mit dem nötigen Ernst behandelt wird. Ein jüngstes Beispiel gab die Band Rammstein. Am 28. März 2019 veröffentlichte die Gruppe ihre Single »Deutschland« –, zuvor allerdings war bereits ein Trailer im Umlauf, der die Bandmitglieder in KZ-Häftlingskleidung mit gelbem Stern bzw. rosa Winkel an einem Galgen hängend zeigte. Das Musikvideo ist bietet einen Parforceritt durch die deutsche Geschichte von den Germanicus-Feldzügen bis heute. Die unterlegten Texte sind eine deutliche Absage an alle Deutschtümelei. Trotz großer Inszenierung und martialischer Bilder wird doch eine kritische Auseinandersetzung mit den einzelnen Epochen deutscher Geschichte deutlich, nicht zuletzt auch durch den raffinierten Einsatz einer Afrodeutschen, die die Figur der Germania verkörpert. Rammstein stand nicht zum ersten Mal in der Kritik wegen NSReminiszenzen, etwa an Leni Riefenstahls Film über die Olympischen Spiele 1936. Durch den Teaser wollte die Band genau das erreichen, was durch die vorschnelle
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negative Reaktion erfolgte, nämlich Aufmerksamkeit erzeugen und Verkaufszahlen steigern. In der üblichen, vorschnellen Hetze titelte die Bild-Zeitung: »Rammstein schockt mit KZ-Video« (Bild 28.03.2019). Nach der reflexartigen Zuschreibung mancher Politiker_innen und Vertreter_innen von Verbänden, die Bilder seien von einer »widerlichen Geschmacklosigkeit«, würden Grenzen bzw. rote Linien überschreiten und den Holocaust verharmlosen, erfolgte nach Erscheinen des Gesamtvideos keine öffentliche Zurücknahme des Verdikts. In der Presse allerdings, die von Bild über Welt‐online, Hamburger Abendblatt, Tagesspiegel bis hin zur Süddeutschen Zeitung Ende März über die vermeintlichen Provokationen berichtet hatte,2 wurde manches vorschnelle Urteil zurückgenommen.3 Daniel Killy kritisierte treffend in den Kieler Nachrichten Anfang April 2019 unter dem Titel »Rammstein. Oder der Fluch des vorschnellen Denkens« die überzogenen Äußerungen: »Die Band behandelt in ihrer allegorischen Reise durch die deutsche Geschichte das Thema Nazizeit und Massenmord mit dem ästhetisch wie sprachlich größtmöglichen Abscheu. […] Wer der Band unterstellt, sie arbeite mit rechten Chiffren, ist wirklich ahnungslos. Rammstein entlarvt diese – in Wort und Bild. […] Die ›Deutschland‹-Inszenierung ist eine wirklich meisterhafte Metapher auf alles, was so seit der Varus-Schlacht für deutsch gehalten wird und wurde«.4 Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung hatte der Deutschen PresseAgentur gegenüber bereits Ende März geäußert, dass man abwarten müsse, was die Band in ihrem neuen Album aufgenommen habe: »Sollten es Lieder gegen den Judenhass sein, wäre ich positiv überrascht«.5 2 U.a. Bild, 29.03.2019; Daniel Hornuff, »Kann dich lieben, will dich hassen«, ZON, 28.03.2019 (https://www.zeit.de/kultur/musik/2019-03/rammstein‐video-deutschland‐holocaust, 25.04.2019); Der Tagesspiegel, 29.03.2019 (https://www.tagesspiegel.de/berlin/musiker‐als-kz‐haeftlinge‐empoerung-ueber‐rammstein-werbevideo/24153854.html, 28.03.2019); Hamburger Abendblatt, 29.03.2019 (https://www.abendblatt.de/vermischtes/article216774533/Kommentar‐zu-Rammstein-Warum‐die-Botschaft‐der-Band‐missgluecktist.html, 25.04.2019); Süddeutsche Zeitung, 28.03.2019 (https://www.sueddeutsche.de/news/ kultur/musik---berlin‐rammstein-provoziert‐mit-video‐mit-kz‐anspielungen-dpa.urn‐newsmldpa‐com-20090101-190328-99-580738, 25.04.2019). 3 Siehe etwa Philipp Luther, »Wer Rammstein Antisemitismus unterstellt, hat das neue Video nicht verstanden«, Focus‐online, 01.04.2019 (https://www.focus.de/kultur/musik/neue‐single-skandal‐video-deutschland‐rammstein-steigen‐hinab-in‐die-deutsche-seele_ id_10521514.html, 25.04.2019). 4 Daniel Killy, »Rammstein oder der Fluch des vorschnellen Denkens«, Kieler Nachrichten, 02.04.2019 (http://www.kn‐online.de/Nachrichten/Kultur/Rammstein‐oder-Der-Fluch‐desvorschnellen-Denkens, 25.04.2019); siehe auch Leipziger Volkszeitung, 01.04.2019. 5 ZON, 28.03.2019 (https://www.zeit.de/news/2019-03/28/kz‐anspielungen-in‐video-empoerung‐ueber-rammstein-190328-99-582875, 30.04.2019).
Antisemitismus heute – alte Bilder, neue Herausforderungen
Es lässt sich sicherlich darüber streiten, ob solche Provokationen, wie sie der Teaser zum Video der Band in den Vordergrund stellte, unter die Kategorie ›Kunstfreiheit‹ zu subsumieren sind oder ob das Spiel mit Bildern, die Erinnerungen an den Holocaust wachrufen, Grenzen überschreitet. Die reflexartige Reaktion, die die Band in die Nähe von antisemitischen Mustern rückte, gehört dennoch in das Repertoire eines inflationären Gebrauchs des Begriffs Antisemitismus, der in jüngster Zeit häufiger zu beobachten ist. Der Zuschreibung, eine antisemitische Institution zu sein, sah sich auch die Bank für Sozialwirtschaft ausgesetzt, weil sie das Konto der Organisation Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost führt, die die Bewegung Boycott, Divestment, Sanction (BDS; Boykott, Abzug von Investitionen und Sanktionen) unterstützt. Debatten über die Frage, ob BDS antisemitisch ist und die Grenzen einer legitimen Kritik an der israelischen Politik überschreitet, werden hitzig geführt.6 Viele sehen in der BDS-Kampagne, die israelische Waren, aber auch die Beteiligung von israelischen Wissenschaftler_innen und Kulturschaffenden boykottiert, eine antisemitische Aktion. Der Aufruf zum Beispiel, keine israelischen Waren zu kaufen, erinnert stark an die ›Aktionen‹ der Nationalsozialisten mit der Parole »Kauft nicht beim Juden«. Insofern sollte sich eine solche Initiative hier in Deutschland ihrer besonderen Verantwortung bewusst sein und das Vorgehen überdenken, zumal auch eine Reihe von palästinensischen Intellektuellen und arabischen Israelis die Kampagne als nicht hilfreich für ihre Sache empfindet. Der Gastprofessor am Zentrum für Israel-Studien an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der arabische Israeli Mohammad Darawshe findet, die Forderung eines vollständigen Boykotts Israels durch einen Teil der BDS-Anhänger_innen »kollidiert mit unseren Interessen als israelische Staatsbürger. Wir Araber in Israel bemühen uns darum, mehr palästinensische Studenten und Professoren an israelische Hochschulen zu bringen. Unsere Strategie besteht in der Integration, nicht in der Desintegration. Wer israelische Hochschulen boykottiert, schadet also auch uns«.7 Bei aller gerechtfertigten Kritik an der BDS-Kampagne und damit auch an der Jüdischen Stimme stellt sich doch die Frage, wie es sein kann, dass eine Bank dafür, dass sie das Konto einer umstrittenen Organisation unterhält, vom Simon Wiesenthal Center in Los Angeles auf Position sieben der »2018 Top Ten Worst Global An6 Micha Brumlik, »Das Prinzip Kontaktschuld«, Die tageszeitung, 25.02.2019 (Kommentar Göttinger Friedenspreis) (http://www.taz.de/!5575309/, 30.04.2019). 7 Interview mit Sonja Zekri, »Immer irgendetwas mit ›Israel‹«, Süddeutsche Zeitung, 15.01.2019 (https://www.sueddeutsche.de/kultur/konfliktforscher‐immer-irgendetwas‐mit-israel-1. 4288602, 30.04.2019).
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ti‐Semitic/Anti‐Israel Incidents« platziert wurde.8 Die Führung des Kontos einer Organisation, über deren inhaltliche Ausrichtung zwar höchst divergierende Meinungen existieren, die sich aber von Gewalt distanziert und das Existenzrecht Israels anerkennt (Website Jüdische Stimme), wird damit als antisemitischer Akt qualifiziert.
Steigt der Antisemitismus? Die Ereignisse der vergangenen Jahre – insbesondere in Berlin – haben Antisemitismus im öffentlichen Diskurs und in der medialen Aufmerksamkeit erneut zu einem brisanten Thema werden lassen. Für uns, die sich seit Jahrzehnten wissenschaftlich mit dem Phänomen beschäftigen, sind dies keine neuen Erkenntnisse. Wir haben immer wieder darauf verwiesen, dass Ressentiments, Vorurteile bis hin zu Hass gegenüber Juden bis heute einen hohen Aktualitätswert besitzen und antisemitische Stereotype jederzeit in neuen Kontexten wiederaufleben können. Im Mittelpunkt der Berichterstattung standen vor allem Schulen, in denen es zu antisemitischen Pöbeleien bis hin zu körperlichen Angriffen gegen jüdische Mitschüler_innen gekommen war. Als ›Täter‹ standen Jugendliche/Kinder mit Migrationshintergrund im Fokus. Zuletzt allerdings erwies sich diese einseitige Zuschreibung als zu kurz gedacht, als bekannt wurde, dass ein jüdischer Schüler an der renommierten John-F.-Kennedy-Oberschule in Berlins Villenviertel Zehlendorf massivem Mobbing und anti‐jüdischen Angriffen seiner Mitschüler_innen ausgesetzt war, auf die die übliche Zuschreibung nicht passte. Die Reaktion von Schulleitung und Lehrer_innen war lange defensiv und abwiegelnd. Erst das breite Medienecho veränderte die Haltung. Solche Manifestationen werden zum Medienereignis und heizen Debatten an, die schließlich dazu führen, dass die Betroffenen in den Vorfällen eine neue Qualität sehen und sich einem höheren Bedrohungspotential ausgesetzt fühlen. Gründe sind nicht nur die im medialen Fokus stehenden antisemitischen verbalen und tätlichen Übergriffe, sondern insbesondere auch der über Soziale Medien verbreitete Hass. Die Äußerung antisemitischer Stereotype und Vorurteile scheint – zumindest in den sozialen Netzwerken – kein Tabubruch mehr zu sein. Inhalte, wie sie noch vor nicht allzu langer Zeit in Briefen an den Zentralrat der Juden in Deutschland oder an die Israelische Botschaft in Berlin formuliert wurden, und damit nur einem kleinen Leserkreis zugänglich waren, werden heute im Internet unverblümt gepostet und generieren durch die breite Streuung einen großen Leserkreis, der – 8 Philipp Peyman Engel, »Liste mit Antisemiten veröffentlicht«, Jüdische Allgemeine, 26.01.2018 (https://www.juedische‐allgemeine.de/politik/liste‐mit-antisemiten‐veroeffentlicht-2/, 30.04.2019).
Antisemitismus heute – alte Bilder, neue Herausforderungen
sofern es sich um Jugendliche bzw. junge Menschen handelt – selten über ausreichende Kompetenzen verfügt, die Messages adäquat einordnen zu können. Antisemitische Inhalte sind in den sozialen Netzwerken präsenter denn je und dies nicht nur als Reaktion auf bestimmte Ereignisse, sondern immer mehr auch in proaktiven Formen. Eine zentrale Rolle spielt der Nahostkonflikt als Plattform für Äußerungen, die – so glauben viele – keinerlei antisemitische Konnotationen hätten, weil sie sich gegen Israel oder die Israelis richten und nicht gegen ›die Juden‹. Vor allem die Beschneidungsdebatte 2012 hat gezeigt, wie nicht nur in den Sozialen Medien, sondern auch in den Online-Kommentarspalten seriöser Tageszeitungen Inhalte verbreitet werden, die vordergründig Argumente der Menschenund Kinderrechte nutzen, tatsächlich aber durchaus antisemitische Konnotationen aufweisen können. So hat etwa die Wochenzeitung Die Zeit mehr als 30 Prozent der Postings in der Kommentarspalte zu einem seriösen Artikel wegen problematischer Inhalte gelöscht (Wetzel 2012). Die mediale Aufmerksamkeit, die solche Ereignisse nach sich ziehen, geht einher mit der Behauptung, der Antisemitismus würde steigen, was linear gesehen nicht der Fall ist. Antisemitische Straf- und Gewalttaten erreichen zwar ein höheres Niveau als in den 1990er Jahren, bewegen sich aber etwa gegenüber dem Jahr 2006, als im Zuge des sogenannten zweiten Libanonkrieges zwischen Israel und der Hisbollah die Zahl auf mehr als 1.800 anstieg, auf einem Stand von 1.300 bis 1.500 Taten, wobei ein Großteil unter die Rubrik ›Propagandadelikte und Volksverhetzung‹ fällt (BMI). Zu beobachten ist eine Wellenbewegung, die auf TriggerEreignisse reagiert und immer dann einen Anstieg verzeichnet, wenn es zu einer Radikalisierung im Nahostkonflikt kommt (2001: Folgen des Beginns der zweiten Intifada; 2002: antisemitische Welle in ganz Europa; 2008/09: israelische Operation ›Gegossenes Blei‹: 1.731 Straf- und Gewalttaten). 2014 führten die Demonstrationen infolge des Gaza-Krieges erneut zu einem Anstieg antisemitischer Übergriffe (1.631), blieben aber unter dem Niveau der Jahre 2006 und 2009. 2015 (1.366) sank das Niveau, 2016 (1.502) und 2017 (1.541) allerdings kam es erstmals zu einem Anstieg gegenüber dem jeweiligen Vorjahr ohne ein signifikantes Trigger-Ereignis – und dies, obwohl die Zahlen der Hasskriminalität insgesamt zurückgingen. Antisemitismus ist ein wandelbares Phänomen, das sich den jeweiligen Zeitläufen anpasst. Verwendung finden die immergleichen, über Generationen tradierten Stereotypenmuster, die auf aktuelle Ereignisse reagieren und sich entsprechend variiert vor allem gegen Juden als imaginiertes Kollektiv richten (Verschwörungsdenken). Antisemitismus begegnet uns in allen gesellschaftlichen Schichten, in allen religiösen Spektren und sozialen Milieus. Judenfeindschaft ist im rechtsextremen Lager ebenso wie im radikalen Islamismus wichtiger Träger und konstitutiver Bestandteil der Ideologie. Auch das linke bis linksextreme Spektrum ist nicht frei von antisemitisch konnotierten Konstrukten, allerdings ohne eine elementa-
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re Komponente linker Denkstrukturen zu sein. Diskurse allerdings, die den Nahostkonflikt bzw. antizionistische Imperialismus-Zuschreibungen, oder die Finanzund Zinspolitik entsprechend linker Denkschemata thematisieren, können antisemitische Inhalte transportieren oder als solche verstanden werden. Klassische rassenideologische Formen des Antisemitismus finden sich im Wesentlichen heute nur noch in einigen randständigen rechtsextremen Gruppierungen, im Neonaziumfeld und im subkulturellen Spektrum. Im Allgemeinen vermeidet die Szene Analogien zum nationalsozialistischen Rassenantisemitismus, weil sie durchaus erkannt hat, dass sie damit jegliche Optionen, anschlussfähig an die Mehrheitsgesellschaft zu sein, verwirken würde. Im rechtsextremen Spektrum dominiert ebenso wie in der Mehrheitsgesellschaft neben dem sekundären Antisemitismus, der sich aus Schuld- und Schamgefühlen und einer Verdrängung der Verantwortung für den Genozid an den europäischen Juden speist (bzw. Juden Schuld zuschreibt, sie würden sich durch die Erinnerung an den Holocaust Vorteile verschaffen), der Antizionismus, verstanden als israelbezogener Antisemitismus. Straf- und Gewalttaten mit antisemitischem Hintergrund, die nach wie vor zu 90 Prozent von Personen aus dem rechtsextremen Umfeld verübt werden, basieren überwiegend auf Formen des sekundären Antisemitismus.9 Der Antisemitismus ›wegen Auschwitz‹ ist eng mit dem Holocaust und der Erinnerung daran verknüpft und gipfelt in einer Schuldprojektion auf ›die Juden‹, die die Deutschen angeblich ständig an die NS-Verbrechen erinnerten und damit ›Normalität‹ verhindern würden. Diese Form des Antisemitismus wird in aktuellen Debatten häufig auf Israel übertragen und ist inzwischen in vielen europäischen Ländern aktuell, etwa wenn ein jüdischer Opferstatus abgelehnt und daraus folgend das Existenzrecht des Staates Israel bestritten wird. Die Holocaust-Leugnung ist die extremste Form des sekundären Antisemitismus. Auch sie wird heute gegen Israel verwendet, indem der Holocaust in Abrede gestellt oder als ›Mythos‹ bezeichnet wird. Dieses sekundären Antisemitismus bedient sich auch das radikale islamistische Spektrum (wie etwa der Holocaust-Karikaturenwettbewerb des Iran 2006 und 2016), um die anti‐israelische Propaganda mit Schuldprojektionen aufzuladen, die unterstellt, die Staatsgründung Israels basiere auf der Lüge des Holocaust. Auch im linken Spektrum lassen sich Versatzstücke eines sekundären Antisemitismus konstatieren, wenn bis heute Begriffe analog zur NS-Terminologie Verwendung finden, um Israel zu diskreditieren. Umfragen zeigen, dass solche 9 Von den z. B. 662 geklärten Fällen im Jahr 2016 (von insgesamt 1.468 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund) konnten 614 einem rechtsextremen Spektrum, 2 dem linken und 29 der Kategorie »Ausländer« (gemeint ist hier ausländische Ideologie und Religion, nicht Staatsbürgerschaft) zugeordnet werden. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Volker Beck (Bündnis 90/Die Grünen), 14.02.2018, Bundestagsdrucksache 18/11152, S. 50 (http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/111/1811152.pdf, 30.04.2019).
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Zuschreibungen in einem breiteren gesellschaftlichen Spektrum auf Zustimmung stoßen, allerdings mit abnehmender Tendenz. 2004 stimmten der Vorstellung, Israel führe einen ›Vernichtungskrieg‹ gegen die Palästinenser_innen 68,3 Prozent der Befragten zu, 2011 sank der Wert auf 47,7 Prozent und fiel 2014 auf 40 Prozent. Es ist sicherlich nicht davon auszugehen, dass alle, die diesem Item zustimmen, generell eine antisemitische Haltung haben. Es bleibt dennoch zu bedenken, dass der Begriff im deutschen Kontext eine eindeutige Konnotation hat. Zweifellos als antisemitisch einzustufen ist allerdings die Gleichsetzung des nationalsozialistischen Genozids an den Juden mit der israelischen Politik gegen die Palästinenser, denn damit wird der Holocaust bestenfalls verharmlost und trivialisiert. 2016 stimmten 24,6 Prozent der Befragten bei einer Umfrage dieser Aussage eher bis voll und ganz zu. Dies bestätigt sich auch in der Mitte-Umfrage von 2018 (Zick et al. 2019: 113). 2004 lag der Wert noch bei 51,2 Prozent, also lässt sich eine abnehmende Tendenz feststellen.
Zur Abgrenzung von Kritik an der Politik Israels und Antisemitismus Hartnäckig hält sich der Vorwurf, jegliche Kritik an Israel sei sanktioniert oder gar verboten, ausgedrückt in dem so oder ähnlich geäußerten Satz: »Wenn man Israel kritisiert, wird man gleich als Antisemit beschimpft«. Der Zentralrat der Juden und viele andere weisen immer wieder darauf hin, dass eine Kritik an Israel nicht per se antisemitisch sei. Sie ist jedoch dann antisemitisch, wenn sie mit antisemitischen Stereotypen aufgeladen ist, Vergleiche zum Nationalsozialismus herstellt, in denen sich die für den Antisemitismus so typische Umkehr von Tätern und Opfern spiegelt und das Existenzrecht Israels infrage gestellt wird. Die hohe Emotionalität, die die vorgebrachte Kritik an Israel häufig begleitet, ist auffällig, und ebenso der offenbar weitverbreitete Drang, gerade Israel harsch und oft zu kritisieren, was sich nicht zuletzt schon in der Selbstverständlichkeit des Begriffs ›Israelkritik‹ offenbart, der in dieser Kombination einzig mit Bezug auf das Land Israel überhaupt vorhanden ist. Das Problem bei Äußerungen zu Israel liegt meist erst im zweiten oder dritten Satz. Da kritisiert jemand im ersten Satz die Politik von Netanjahu, dazu gibt es ja reichlich Anlass. Im zweiten Satz aber setzt er oder sie das, was im Gazastreifen passiert mit dem Holocaust gleich. Oder es kommt ein Satz wie: Na, das ist ja typisch für Juden. Beides ist eindeutig antisemitisch.
Grauzone zwischen legitimer Israelkritik und Antisemitismus Die Besonderheit der Form des israelbezogenen Antisemitismus zeigt sich darin, dass zum Teil nur schwer zwischen kritischen und antisemitischen Äußerun-
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gen unterschieden werden kann. Der Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus des Deutschen Bundestages hat die Schwierigkeiten der eindeutigen Zuordnung mit dem Begriff der »Grauzonen« umschrieben. Der Fokus sollte weniger auf der Frage liegen, ob eine Äußerung antisemitisch gemeint war oder nicht – dies lässt sich in vielen Fällen nicht eindeutig klären. Stattdessen sollte das Bewusstsein im Zentrum stehen, dass kritische Äußerungen zu Israel unter Umständen sowohl als kritische Positionierung, als auch als Antisemitismus verstanden werden können. Es kommt daher darauf an, wer, was, wann sagt und ob die Kritik ohne Zuschreibungen an ein unterstelltes jüdisches Kollektiv erfolgt oder ob im Sinne einer Umwegkommunikation Israel nur an die Stelle ›der Juden‹ gleichsam als Legitimierung antisemitischer Einstellungen tritt. Der Sprecher/die Sprecherin sollte immer im Blick haben, dass Äußerungen zumindest ambivalent verstanden werden können, in jedem Fall aber israelbezogene Äußerungen dann als antisemitisch zu bezeichnen sind, wenn bekannte Stereotype benutzt, das Vorgehen der israelischen Politik oder des israelischen Militärs mit der nationalsozialistischen Verfolgung der Juden gleichgesetzt oder Morde an Juden gerechtfertigt werden.
Einseitige Zuschreibungen Antisemitische Vorurteile, Ressentiments und Vorfälle stehen im Fokus der medialen Aufmerksamkeit und lassen die Diskriminierung anderer Gruppen in den Hintergrund treten. Viele Muslime etwa fühlen sich demzufolge in ihren Diskriminierungserfahrungen nicht ernstgenommen und projizieren ihre negativen Erfahrungen auf eine andere Minderheit, die jüdische Bevölkerung, die sie in eins setzen mit den jüdischen Israelis. Sie nehmen den territorialen Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis einseitig wahr und solidarisieren sich mit denjenigen, die in ihren Augen die einzigen Opfer der Auseinandersetzungen sind. In der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte zum Thema Antisemitismus stand jahrelang – zu Recht – der Rechtsextremismus im Fokus. Zumindest in der Öffentlichkeit hat sich dieses Bild völlig verändert. Anders als ihr Rassismus und ihre Fremdenfeindlichkeit wird der Antisemitismus der Rechtsextremen kaum noch thematisiert. Die öffentliche Wahrnehmung hat sich gänzlich verschoben. Heute stehen im Fokus der Debatten über Antisemitismus nahezu ausschließlich noch ›die Muslime‹. Seit der Ankunft Hunderttausender Flüchtlinge haben solche Zuschreibungen weiter zugenommen. Für die Mehrheitsgesellschaft dient diese einseitige Projektion als willkommener Vorwand, sich nicht mit dem eigenen Antisemitismus auseinandersetzen zu müssen und zudem noch eine Gruppe als die vermeintlichen Täter_innen zu identifizieren, die im Zuge eines zunehmenden antimuslimischen Rassismus in der Mehrheitsbevölkerung negativ konnotiert ist.
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Verlässliche empirische Daten zur Verbreitung antisemitischer Haltungen unter Muslimen liegen bisher nicht vor. Zwei Jugendstudien aus dem Jahr 2010 haben ein durchaus differenziertes Bild ergeben und etwa einen höheren Grad antisemitischer Einstellungen bei russlanddeutschen Jugendlichen deutlich gemacht, aber auch gezeigt, dass junge Menschen mit arabischem oder türkischem Hintergrund bei einzelnen Items höhere Werte erreichen als autochthone deutsche Jugendliche (Mansel/Spaiser 2010; Follert/Stender 2010). Die Werte liegen aber nicht deutlich über den Ergebnissen der repräsentativen Umfragen unter der erwachsenen Bevölkerung Deutschlands. Es handelt sich hier jedoch allenfalls um Annäherungswerte, die zeigen, dass wir ohne fundierte empirische Studien, die nach wie vor ausstehen, keinerlei dezidierte Aussagen treffen können. Dies gilt umso mehr für die Verbreitung des Antisemitismus unter Flüchtlingen. Hier gibt es bisher zwei kleine Pilotstudien, die auf qualitativen Interviews mit insgesamt etwa 100 Flüchtlingen basieren (Jikeli 2017; Arnold/König 2016, 2017; Feldman 2018). Antisemitische Äußerungen traten bei den Interviewpartnern aus Syrien, dem Irak und Afghanistan fragmentarisch auf und sind häufig von Widersprüchen gekennzeichnet. Auffällig ist, dass in der Studie die afghanischen Gesprächspartner geringere antisemitische und antiisraelische Einstellungen aufweisen als die syrischen und irakischen. Die befragten afghanischen Männer vertreten sogar eine auffällig pro‐israelische Sichtweise. Eine Studie der Anti-Defamation League (ADL) aus dem Jahr 2015 hat die Ergebnisse von Befragungen von Muslimen in Europa mit jenen für die Herkunftsländer verglichen und kam zu dem Ergebnis, dass erstere den antisemitischen Items durchgängig weniger häufig zustimmen, teils mit nur geringem, teils aber auch sehr deutlichem Abstand. Für Deutschland ergab die Studie, dass antisemitische Haltungen verbreiteter unter Muslimen sind, als in der Gesamtgesellschaft. Wichtig ist aber auch die Feststellung, dass antisemitische Haltungen nicht generell charakteristisch für Muslime in Deutschland sind und nur bei einer Minderheit auftreten. 49 Prozent der befragten türkisch‐stämmigen Muslime äußerten eine positive Haltung gegenüber Juden, 21 Prozent hingegen waren negativ eingestellt und 30 Prozent haben sich weder für die eine noch für die andere Seite entschieden. Eine Studie des Jahres 2013 ergab, dass Jugendliche mit einem muslimischen Hintergrund eine höhere Zustimmung zu israelbezogenem Antisemitismus zeigten als sie in der deutschen Bevölkerung verbreitet ist. Unter Jugendlichem mit arabischem Hintergrund lagen die Werte bei 42 Prozent und bei der übrigen Bevölkerung bei 25 Prozent (Feldman 2018: 22; ADL 2015). Eine von der Hanns-Seidel-Stiftung in Auftrag gegebene Studie über Asylsuchende in Bayern (Haug et al. 2017) hat auch antisemitische Einstellungen abgefragt, allerdings mit nur einem Item, was die Aussagekraft extrem einschränkt: »52 Prozent der syrischen und 54 Prozent der irakischen Befragten stimmten der Aussage ›Juden haben auf der Welt zu viel Einfluss‹ zu« (ebd.: 68–69). In der deutschen Be-
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völkerung schwanken die Zustimmungsraten zu dieser oder ähnlichen Aussagen in den letzten Jahren zwischen 25 und 33 Prozent. Antisemitische Einstellungen seien auch in der quantitativen Befragung offensichtlich geworden, so die Forscher. Mehr als die Hälfte der muslimischen Asylsuchenden zeige deutliche Tendenzen zu antisemitischen Einstellungsmustern, wohingegen Personen aus Eritrea kein ausgeprägtes Meinungsbild gegenüber Juden hätten. Im Gegensatz zu den Studien, die in Berlin zu Flüchtlingen durchgeführt wurden und die ergaben, dass antisemitische Einstellungen nicht so sehr von religiöser Zugehörigkeit abhingen, sondern vom Herkunftsland, zeigte sich für Bayern die Religionszugehörigkeit als der entscheidende Faktor, der antisemitische Meinungen erklärt. Antisemitismus ist in allen Altersgruppen und Bildungsschichten der muslimischen Asylsuchenden verankert. Begründet wird dies in Interviews mit der Erziehung in den Herkunftsländern. Die sehr unterschiedlichen und auf nur wenigen Daten basierenden Ergebnisse zeigen, dass unsere Kenntnisse über den Antisemitismus unter Muslimen von einzelnen Ereignissen bestimmt sind und keinerlei verlässliche Daten vorliegen, die verbindliche Aussagen zuließen. Dass auch die Politik sich zu sehr von der Vorstellung, Antisemitismus unter Muslimen sei unser zentrales Problem, beeinflussen lässt, machte etwa die Debatte am 19. Januar 2018 im Deutschen Bundestag über einen Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Grüne und der FDP unter dem Titel »Antisemitismus entschlossen bekämpfen« deutlich. Der Antrag rezipiert eine Vorstellung, die jeglicher empirischer Grundlagen entbehrt: »Neu tritt durch Zuwanderung ein verstärkter Antisemitismus aus den Ländern Nordafrikas, dem Nahen und Mittleren Osten hinzu, in denen Antisemitismus und Israelfeindlichkeit einen besonderen Nährboden haben«. Zumindest wird einschränkend hinzugefügt: »Allerdings findet sich Antisemitismus in allen politischen Lagern und er nimmt mit dem Antizionismus und der Israelfeindlichkeit auch neue Formen an« (Bundestagsdrucksache 19/444, 2018: 1). Dem Argument, die Geflüchteten seien in ihren Herkunftsländern von antizionistischen Ideen beeinflusst worden und deshalb sei es kein Wunder, wenn sie den Antisemitismus nach Deutschland tragen würden, könnte man entgegenhalten, dass antizionistische Inhalte auch für die Bürger_innen der DDR prägend und Staatsdoktrin waren. Auch sie haben ihre latent stärker oder weniger stark vorhandene Haltung nach der Wende nicht in manifeste Übergriffe kanalisiert. Was allerdings ihre Haltung betrifft, tendierten sie nach anfänglich niedrigeren Werten als im Westen, später zu ähnlichen oder auch zu einer höheren Zustimmung. 1996 etwa antworteten in Ostdeutschland 15 Prozent auf das Item »Juden haben auf der Welt zu viel Einfluss« zustimmend, im Westen mit 28 Prozent hingegen nahezu doppelt so viele. 1998 glichen sich die Werte allmählich an (19 Prozent zu 22 Prozent), um dann in den folgenden Jahren unterschiedlich zu steigen oder zu
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fallen (Bergmann 2004: 67–69). Wie sich immer wieder zeigt, verlaufen die Kurven einer ablehnenden Haltung gegenüber Juden diskontinuierlich und sind durchaus abhängig von der Präsenz des Themas in öffentlichen Diskursen und der medialen Aufmerksamkeit etwa in Bezug auf den Nahostkonflikt, aber auch aufgrund der Ereignisse in Deutschland. Die Mitte-Studie 2019 liefert ein differenziertes Bild über die aktuelle Situation. Der klassische Antisemitismus liegt in den neuen Bundesländern (5,6 Prozent) leicht höher als in den alten Bundesländern (4,9 Prozent). Mit dem israelbezogenen Antisemitismus verhält es sich allerdings entgegengesetzt (West: 24,1 Prozent; Ost: 22,0 Prozent) (Zick et al. 2019: 86). An der Spitze medialer Antisemitismuszuschreibungen an Muslime steht die Bild-Zeitung. Im April 2019 titelte das Blatt: »Verfassungsschutz warnt: Antisemitismus von radikalen Muslimen immer schlimmer!«10 In der Broschüre des Bundesamts für Verfassungsschutz, auf das die Bild-Zeitung Bezug nimmt, sind allerdings solche Aussagen nicht zu finden. Sachlich werden die einzelnen Strömungen des Islamismus und etwaige antisemitische Tendenzen in der Szene in ihren verschiedenen Facetten beschrieben. Neu ist dies alles nicht, bereits der erste Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus war in seinem Bericht 2011 ausführlich auf die Fragen im Themenfeld »Migrationshintergrund und Antisemitismus« eingegangen (Unabhängiger Expertenkreis 2011: 78–83, 92, 109–126). In Bezug auf antisemitische Tendenzen unter den Geflüchteten, die in Ländern sozialisiert wurden, in denen Antizionismus Staatsdoktrin ist, schränken die Autoren der Broschüre mit Bedacht ein: »Aus dieser Tatsache darf jedoch nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass jeder muslimische Flüchtling ein bewusster Antisemit ist« (Bundesamt für Verfassungsschutz 2019: 7). Sicherlich zu Recht weist der Verfassungsschutz in seiner Broschüre zu Islamismus und Antisemitismus darauf hin, dass es immer wieder zu verbalen, aber auch körperlichen Übergriffen auf Juden und jüdische Einrichtungen von Seiten radikalisierter Personen aus dem islamistischen Spektrum kommt. Es wird die Befürchtung geäußert, dass »antisemitisches Gedankengut zunehmend auch in muslimischen Gesellschaftsgruppen außerhalb islamistischer Organisationen anzutreffen ist«. Im Gegensatz zu manchen polarisierenden Stimmen urteilen die Autoren der Verfassungsschutz-Broschüre differenziert. »Ob es sich hierbei um eine dauerhafte Erscheinung – möglicherweise sogar einen anhaltenden Trend – handelt, bleibt abzuwarten« (Bundesamt für Verfassungsschutz 2019: 39). Der Alarmismus der Bild-Zeitung passt in die Stimmung, die uns in den vergangenen zwei bis drei Jahren von der Boulevardpresse, aber auch von manchen 10 Bild, 16.04.2019 (https://www.bild.de/politik/inland/politik‐inland/verfassungsschutz‐antisemitismus‐radikaler‐muslime‐immer‐schlimmer-61266812.bild.html, 16.04.2019).
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seriösen Medien vermittelt wurde. Der Fokus liegt einzig und allein auf der Unterstellung, in unserem Land seien die Muslime das größte Problem im Hinblick auf Antisemitismus. Kaum öffentlich thematisiert hingegen wird die Verbreitung des Antisemitismus in der Mehrheitsgesellschaft, und auch der Rechtsextremismus mit seinem integralen ideologischen Bestandteil Antisemitismus scheint in weiter Ferne (Decker/Brähler 2018: 190). Die Bild-Zeitung hatte ihren Beitrag mit dem inzwischen fast schon zur Ikone gewordenen Foto einer Gruppe junger Leute illustriert, die auf der Demonstration gegen die Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem im Dezember 2017 ein selbst‐gemaltes Banner, das der israelischen Fahne glich, verbrannten. Einiges deutet darauf hin, dass es sich um Jugendliche handelte, die von Maoisten der Revolutionären Kommunisten in den letzten Jahren rekrutiert wurden und sich zum antizionistischen, Verschwörungstheorien verbreitenden, gewaltbereiten Jugendwiderstand Berlin zusammengefunden hatten. Zumindest die führenden Mitglieder dieser nur wenige Personen umfassenden Gruppe haben keinen Migrationshintergrund. Also spielt eine mögliche Zugehörigkeit der abgebildeten Personen zur Gruppe der Muslime gar keine oder zumindest keine wesentliche Rolle. Das heißt natürlich nicht, dass das Verhalten auch nur geduldet werden darf, aber die Zuschreibungen müssen überdacht werden. Die Bildsprache, die mit einer solchen Illustration transportiert wird, suggeriert eine eindeutige Erklärung, die Muslime als Verantwortliche ausmacht. Die Erkenntnisse des Verfassungsschutzes bestätigen die Zweifel an dieser Eindeutigkeit. »Besondere Beachtung verdient dabei die Tatsache, dass die Ausschreitungen von Personen ausgingen, die bis dato in keiner erkennbaren Beziehung zu einer islamistischen Organisation standen« (Bundesamt für Verfassungsschutz 2019: 7). Dies bedeutet aber nicht, dass sich der Jugendwiderstand bei Demonstrationen und Kundgebungen fernhält von Anhänger_innen der Hamas oder der Hisbollah (Verfassungsschutzbericht 2018: 193) – im Gegenteil, auf der Website wird etwa auch die Volksfront zur Befreiung Palästinas gefeiert (Website Jugendwiderstand). Andererseits besteht aber durchaus auch ein Potential, das sich mit rechtsextremen Ideen solidarisiert. Die vom Verfassungsschutz herausgegebene Broschüre zum Antisemitismus im Islamismus verweist darauf, dass Islamist_innen besonders häufig auf die angebliche jüdische Macht im Finanz- und Wirtschaftssektor Bezug nähmen, und dass dies mit der Vorstellung der ›geldgierigen Juden‹, einem jahrhundertealten zentralen Moment des europäischen Antisemitismus einhergehe (Bundesamt für Verfassungsschutz 2019: 20). Die klassische Zuschreibung, Juden seien geldgierig, zeigt bis heute in unterschiedlichsten politischen und sozialen Zusammenhängen immer wieder Wirkung. Ein offensichtlich angetrunkener Mann beschimpfte den Besitzer eines israelischen Speiselokals in Berlin-Schöneberg im Dezember 2017 nicht nur unflätig, sondern diskreditierte ihn als Fremden, als jemanden, der keine Heimat und
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in Deutschland nichts verloren habe und damit nicht genug, er drohte ihm gar: »Du kriegst Deine Rechnung… In zehn Jahren lebst Du nicht mehr«. »Es geht nur ums Geld bei Euch«, warf der Pöbler, der sich in Rage geredet hatte, seinem Gegenüber vor.11 Es ist sicherlich nicht falsch, zu behaupten, dass dieser autochthone Deutsche in der Mitte der bundesdeutschen Bevölkerung anzusiedeln ist.
Tief verankerte Stereotypisierungen Die jahrhundertealte Stereotypisierung von Juden als geldgierig sowie die unterstellte jüdische Dominanz an den Finanzmärkten und den Börsen bilden ein Konglomerat, das, verschwörungstheoretisch unterlegt, einem Muster folgt, das Juden zu willkommenen Sündenböcken für weltweite Finanzkrisen stilisiert. Komplexe, schwer durchschaubare Finanztransaktionen, vermeintlich jüdische Bankhäuser, Hedgefonds-Manager oder Börsenmakler wie etwa der verurteilte US-Amerikaner Bernard L. Madoff, den eine deutsche Zeitung auf dem Höhepunkt der Affäre explizit als »Juden« kennzeichnete,12 werden rasch verschwörungstheoretisch unterlegt, um einer vermeintlich existierenden, klar definierten Gruppe die Schuld für die Finanzmisere zuzuschreiben. Der in den USA lebende ungarisch‐jüdische Philanthrop und Hedgefonds-Manager George Soros ist die neue Projektionsfigur nicht nur in Orbáns Ungarn, sondern vor allem von Rechtspopulisten und im Internet. Um ihn ranken sich Verschwörungstheorien, die das Gerücht verbreiten, er würde die Flüchtlingsströme nach Europa steuern, um den nationalen Zusammenhalt zu zerstören. Hier lässt sich nur allzu leicht auf über Generationen tradierte Muster zurückgreifen, die Juden stets als Kollektiv wahrnehmen, das im Geheimen agiert und deren unterstellter gemeinsamer Charakter negativ besetzt ist sowie als nicht revidierbar festgeschrieben wird. Es handelt sich um ein Konstrukt, das gleich, ob einzelne Facetten einen realen Hintergrund haben oder nicht, auf verschwörungstheoretischen Legenden basiert und simple Erklärungen für individuelle, gesellschaftsrelevante, nationale oder weltweite Unbill liefert. 2016 lag die Zustimmungsrate zu klassischem Antisemitismus, der in verschwörungstheoretischer Manier Juden »zu viel Einfluss« unterstellt, nur noch bei 11 Zum Beispiel B.Z., »Judenhass in Schöneberg: Auch ein Polizist kann den Antisemiten nicht stoppen«, 21.01.2017 (https://www.bz‐berlin.de/berlin/tempelhof‐schoeneberg/judenhass‐inschoeneberg‐auch-ein‐polizist-kann‐den-antisemiten‐nicht-stoppen, 29.04.2019). 12 Jan W. Brügelmann, »Madoff verurteilt. Der Broker mit den zwei Gesichtern«, Kölner Stadtanzeiger, 29.06.2009 (http://www.ksta.de/wirtschaft/madoff‐verurteilt-der‐brokermit‐den-zwei‐gesichtern,15187248,12601268.html, 29.04.2019): »Zutiefst verstört nahmen seine jüdischen Investoren in Manhattan oder dem feinen Palm Beach Country Club in Florida zur Kenntnis, dass der Jude Madoff seine ›eigenen Leute‹ betrogen hat, wie es einer seiner Opfer ausdrückte«.
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rund 5 Prozent, 2002 waren dies noch etwa 9 Prozent (Unabhängiger Expertenkreis 2017: 60). Fragt man allerdings nach der Parteienpräferenz, zeigt sich, welche Gruppierungen noch immer solchen jahrhundertealten Stereotypen anhängen: AfD-Anhänger_innen stimmten 2016 auffällig hoch allen antisemitischen Facetten zu, darunter zu 19,4 Prozent klassischen antisemitischen Stereotypen und zu 47 Prozent Formen des israelbezogenen Antisemitismus. Die AfD-Anhänger_innen lagen damit im Vergleich zu Anhänger_innen von CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und der Partei Die Linke weitaus am höchsten (Unabhängiger Expertenkreis 2017: 73). Insofern sind die Aussagen der Anhänger_innen von Pegida und AfD, sie seien die Verfechter eines ›christlich‐jüdischen Abendlandes‹ mit gemeinsamer ›Leitkultur‹, als vorgeschobene Argumente zu werten. Sie dienen allein der Unterstützung eines antimuslimischen Rassismus in den eigenen Reihen. Die Autoren der 2018 erschienenen Leipziger Autoritarismusstudie konstatieren eine deutliche Korelation zwischen antisemitischen und antimuslimischen Einstellungen: »Der deutliche Zusammenhang zur Muslimfeindschaft offenbart, dass das häufig gerade von Muslimfeinden vorgebrachte Argument, ihr Ressentiment diene dem Schutz von Jüdinnen und Juden, falsch ist« (Decker/Brähler 2018: 190). Nach der Leipziger Mitte-Studie von 2018 sind 10 Prozent der Deutschen manifest der Ansicht, dass der »Einfluss der Juden« »heute noch« zu groß ist, fast 21 Prozent sind es latent, dies am meisten in den neuen Bundesländern (Decker/Brähler 2018: 78). 8 Prozent der Deutschen seien der Ansicht, Juden würden mit »üblen Tricks« arbeiten, sie seien »besonders« und »eigentümlich« (9 Prozent) und würden deshalb in einem kulturalistisch‐rassistischen Sinne »nicht zu uns passen«. Die Werte in den neuen Bundesländern liegen dabei höher als im westlichen Teil. Die klassischen antisemitischen Vorurteile, so die Studie, seien bei mindestens jedem zehnten Befragten manifest, während die latenten Ressentiments in der Bevölkerung noch größere Verbreitung hätten: »In den neuen Bundesländern entschlossen sich nahezu 30 Prozent zu ›teils/teils‹-Antworten, in den alten Bundesländern nahezu 20 Prozent« (Decker/Brähler 2018: 74, 78). Das Antwortverhalten, das sich in »teils/teils« ausdrückt, kann auf eine zustimmende Antwort hindeuten, weil zu vermuten ist, dass eine Reihe der Befragten sich nicht offen zu einem Tabu-Thema wie antisemitischen Stereotypen bekennt. Die Mitte-Studie 2019 bestätigt die Resultate der Leipziger Forscher_innen, was den klassischen Antisemitismus betrifft. Rund ein Viertel der Befragten hätten wie 2016 vor allem dem israelbezogenen Antisemitismus zugestimmt (Zick et al. 2019: 67, 80). Insgesamt stagniere sowohl der klassische als auch der israelbezogene Antisemitismus, im längeren Trend würde beides in der breiten Bevölkerung eher abnehmen, so die Forscher_innen. Dies gelte auch für den sekundären Antisemitismus (ebd.: 108). Im besten Fall herrscht Uneinigkeit und auch Unwissen darüber, was wir heute unter Antisemitismus verstehen. Zu viele, auch in der Bevölkerung, sehen darin
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immer noch ausschließlich den rassistischen, nationalsozialistisch geprägten Judenhass, der zum Holocaust geführt hat – nicht aber die subtileren Formen und nicht jene Äußerungen, die unter die Rubrik des israelbezogenen Antisemitismus fallen.
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II. Chemnitz und darüber hinaus
Rechte Radikalisierung Besorgte Bürger_innen, rechte Subkultur und gesellschaftliche Rahmenbedingungen: Hintergründe der Ereignisse von Chemnitz Susanne Rippl
»Man sollte ein paar Viehanhänger zusammenstellen, dort alles rein, die Merkel auch.« / »Letztlich sei Zschäpe ohne Beweise nur eingesperrt worden, damit sie die Fresse hält.« /»sie [Claudia Roth] sollte nur in Strapsen ins Flüchtlingsheim geschickt werden, irgendein ›Notgeiler‹ werde sich schon finden.« / »Da gibt es nur eine Sprache, die sie [Ausländer_innen] wirklich verstehen: / Auf’s Maul, auf’s Maul, auf’s Maul.« »Diejenigen, die das sagten, waren keine Glatzköpfe in Springerstiefeln und sie trugen auch keine Thor-Steinar-Klamotten. Es waren äußerlich besehen ganz normale sächsische Bürger« (Lamprecht 2018). Zuggespräche ›besorgter Bürger_innen‹ auf der Strecke Chemnitz-Dresden nach einer Demonstration Ende August in Chemnitz. Eindrücke einer Zugfahrt aufgezeichnet unter dem Titel »Zivilisationsabbruch« von Dr. Harald Lamprecht, Beauftragter für Weltanschauungsfragen der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen. Im Sachsen-Monitor (2018), einer repräsentativen Befragung der erwachsenen Bevölkerung in Sachsen, die kurz vor den Ereignissen von Chemnitz im August und September 2018 abgeschlossen wurde, blickten 76 Prozent der Chemnitzer Befragten optimistisch in die Zukunft, 79 Prozent bewerteten die wirtschaftliche Lage in Sachsen als »eher gut bis sehr gut« und 81 Prozent der Chemnitzer Befragten beurteilten ihre persönliche wirtschaftliche Situation ebenso. Betrachtet man objektive Zahlen zu den Rahmenbedingungen – wie die Arbeitslosenquote, das Wirtschaftswachstum oder die Verfügbarkeit und Preise von Wohnraum – geht es den Chemnitzer_innen nicht schlecht. Der Ausländeranteil an der Bevölkerung liegt mit 8,2 Prozent unter dem Bundesdurchschnitt. Die Ereignisse von Chemnitz sind aus einer konkreten Problemlage nicht zu erklären. Hierzu passen aktuelle Forschungsbefunde, die zeigen, dass objektive Faktoren, wie die wirtschaftliche Deprivation, nicht die primären Triebfedern für eine Hinwendung zu Rechtspopulismus sind
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(Rippl et al. 2016; Rippl/Seipel 2018; Schröder 2018). Trotzdem scheint es, als habe nur ein Tropfen gefehlt, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Dass die Empfänglichkeit für rechtspopulistische Haltungen mit fließendem Übergang zum Rechtsextremismus in der sächsischen Bevölkerung besonders hoch ist, haben Wahlergebnisse, die im Bundesvergleich hohen Zahlen fremdenfeindlicher Übergriffe und Umfrageergebnisse bereits im Vorfeld gezeigt (Rippl 2018; Verfassungsschutzbericht 2017). Pegida entstand nicht zufällig in Sachsen und das bereits im Herbst 2014, schon vor den Flüchtlingsbewegungen von 2015. Pegida hat zeitweise fast 30.000 Menschen mobilisiert, trotz der menschenfeindlichen Rhetorik. Die AfD wurde in Sachsen bei der jüngsten Bundestagswahl 2017 mit 27 Prozent zur stärksten Kraft. Die NPD war von 2004 bis 2014 im Sächsischen Landtag vertreten. Trotzdem konnte die besondere Dynamik der Ereignisse in Chemnitz sicher nicht vorhergesehen werden und muss im Kontext medialer Beschleunigungsund Verstärkungsprozesse analysiert werden – der Nährboden war allerdings bereitet. Die rasante Eskalation kam in einem Zusammenspiel medialer Berichterstattung und rechter Mobilisierung über ein inzwischen gut verbundenes Netzwerk der Neuen Rechten in Gang. Der teils pogromartigen Stimmung vom Sonntag dem 26. August 2018 folgte ein Schulterschluss von AfD, Pegida, Identitärer Bewegung, von rechten Hooligans und ›besorgten Bürger_innen‹. Alarmierend waren in diesem Kontext die offensichtlich geringen Berührungsängste, die ›besorgte‹ Bürger_innen gegenüber offen demokratiefeindlichen und menschenverachtenden Gruppierungen zeigten. Das offene Zeigen des Hitlergrußes auf den ersten Demonstrationen rief offenbar keinerlei Distanzbedürfnisse für die nachfolgenden Demonstrationen hervor.
Überlegungen zu den Ursachen rechtspopulistischer Erfolge in Sachsen Konkrete Ursachen für die Eskalation in Chemnitz müssen in der Dynamik der Ereignisse gesucht werden, die Rolle von Medien und sozialen Netzwerken ist als Quelle von Fake News und Hass und deren Verbreitung ein wichtiger Faktor. Unter dem Titel »Angstmaschine Facebook« zeigt eine Analyse der Huffington Post (Klöckner 2018), wie sogenannte alternative Medien in der Gesellschaft an Bedeutung gewinnen. Ihre Reichweite nimmt deutlich zu und sie konkurrieren bei bestimmten Themen, wie etwa Migration, mit renommierten Medien. Insbesondere emotional aufgeladene Beiträge über Kriminalität und Flüchtlinge, sogenannte ›Angstposts‹, verbreiten sich viral. Es zeigt sich, dass Hassmeldungen im Allgemeinen in den sozialen Netzwerken immer stärkere Verbreitung finden. Diese ›Netzrealität‹ trifft in ostdeutschen Städten auf einen guten Nährboden und hat in Chemnitz den Weg auf die Straße gefunden. In Chemnitz hatte die Bild-Zeitung im Netz zuerst die
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falsche Nachricht verbreitet, dass die Opfer des Angriffs deutsche Frauen hätten schützen wollen. Der Landesverband Sachsen der AfD und von ProChemnitz riefen am Tag nach der Tat auf ihren Facebook-Profilen zu einer Kundgebung auf, zudem mobilisierten Chemnitzer Hooligans ebenfalls in den sozialen Netzwerken mit der Aussage: »Lasst uns zeigen, wer in der Stadt das Sagen hat«, bundesweit in der rechten Szene. Die Polizei sah – obwohl sie rechtzeitig über diese Aktivitäten informiert war – keinen Anlass, die Einsatzkräfte zu verstärken. Der daraus entstandene rechtsfreie Raum ermöglichte pogromartige Szenen in der Chemnitzer Innenstadt. Die rechte Szene sah sich bestärkt – ihre Aktivitäten trafen auf keinen wirklichen Widerstand. Bei der Demonstration am Tag darauf erwies sich die Polizei wiederum als völlig unterbesetzt, der Hitlergruß wurde mehrfach ohne Sanktion vor den Augen der Polizei gezeigt, die Gegendemonstration konnte nicht hinreichend geschützt werden – wieder ein Erfolgserlebnis für die rechte Szene. Die zahlreichen gewalttätigen Übergriffe am selben Abend auf Gegendemonstrant_innen, auf ein jüdisches Restaurant und Menschen mit erkennbarem Migrationshintergrund belegen, dass die rechte Szene die Situation als Momentum erlebte. Der sogenannte ›Trauermarsch‹, die Demonstration eine Woche später, bei der das gesamte Spektrum der rechten Szene gemeinsam auf die Straße ging, ist ebenfalls Ausdruck der vermeintlich gewonnenen Stärke in dem Moment, in dem man sich traut, die enge Verbindung der AfD zu rechtsextremen Gruppierungen öffentlich zu demonstrieren. Will man die tiefergehenden Ursachen genauer verstehen, ist es notwendig, längerfristige Prozesse auf verschiedenen Ebenen zu unterscheiden. Als grundlegender Erklärungshintergrund sind Prozesse zu benennen, die weltweit zu einer Revitalisierung einer rechtspopulistischen Politikagenda beigetragen haben. Die rasanten Modernisierungs- und Globalisierungsschübe der letzten Jahre, flankiert durch eine neoliberale Politik, haben erhebliche Verunsicherung in größeren Teilen der Bevölkerung ausgelöst, begleitet von einem Abbau von Schutzmechanismen (z. B. des Sozialstaates) und einem Rückzug des Staates. Auf sozialer, ökonomischer und kultureller Ebene führte das zu enormen Verunsicherungen und Ängsten. Einschlägige Studien zeigen, dass insbesondere der rasche kulturelle Wandel Abwehr und Ängste erzeugt (Ingelhart/Norris 2016; Heitmeyer 2018; Rippl/Seipel 2018). In dieser Situation bieten rechtspopulistische Ideologien einfache Erklärungsangebote, die Ordnung und Sicherheit versprechen. Sehr plakativ zeigt sich dies beispielsweise in der Aussage von Bundesinnenminister Horst Seehofer als Reaktion auf die Ereignisse in Chemnitz, die Migration sei die »Mutter aller Probleme«.
Ostdeutschland als Sonderfall Man kann die spezifische Situation in Ostdeutschland bei der Erklärung der Ereignisse von Chemnitz nicht ausklammern, indem man auf die Tatsache verweist,
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dass es sich um ein europaweites Problem handelt. Auch in Europa gibt es Unterschiede, deutlich schärfere Ausprägungen von Fremdenfeindlichkeit und autoritären Bewegungen finden sich in den Transformationsgesellschaften Osteuropas. Die Situation in Ostdeutschland weist Ähnlichkeiten zu diesen Entwicklungen auf. Zudem spielen die besonderen Erfahrungen der Wiedervereinigung eine weitere, wichtige Rolle. In Ostdeutschland treffen die rapiden Wandlungsprozesse, die im Kontext der Globalisierung aufzufinden sind, somit auf eine andere Situation als im Westen Deutschlands. Durch die Abwanderungsprozesse der letzten Jahrzehnte (1991–2015 verließen 345.000 Menschen Sachsen)1 findet sich in Ostdeutschland eine Bevölkerungsstruktur, die in höherem Maße als im Westen durch wenig mobile und sozial benachteiligte Personengruppen gekennzeichnet ist. Dazu gehören viele ältere Menschen, Menschen in ›abgehängten‹ ländlichen Räumen und Menschen, die von der Wende enttäuscht sind und sich in die Ordnung der DDR zurücksehnen. Diesen Personengruppen fällt die Anpassung an Veränderungen und Modernisierungsschübe besonders schwer. Die Einstellung zur Demokratie ist bis heute zum einen aufgrund primärer und sekundärer Sozialisationseffekte der DDR-Diktatur, zum anderen aufgrund der Nachwendeerfahrungen in Teilen der Bevölkerung wenig gefestigt (Best et al. 2014; Göschel 1999). Die Enttäuschung über die nicht eingetretenen Wohlstandsversprechungen (»blühende Landschaften«) begünstigt eine zum Teil mangelnde Identifikation mit der demokratischen Gesellschaftsordnung. In einer aktuellen Allensbach-Umfrage hielten nur 42 Prozent der Ostdeutschen (77 Prozent der Westdeutschen) die Demokratie für die beste Staatsform.2 In einigen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung findet sich weiterhin eine mangelnde Identifikation mit wichtigen Grundprinzipien der Demokratie, wie dem Pluralismus oder der Gewaltenteilung, Prinzipien, die konträr zu Visionen einer direkten völkischen Demokratie stehen. Es findet sich eine stärkere Hinwendung zur Idee des starken Staates und eine stärkere Verbreitung des Wunsches nach autoritären Lösungen für komplexe Probleme. Dies spiegelt sich etwa in aktuellen Befunden des Sachsen-Monitors, demzufolge sich 56 Prozent der Sachsen nach einer ›starken Hand‹ sehnen.3 13,1 Prozent der Ostdeutschen halten eine Diktatur unter Umständen für nötig, in Westdeutschland sind es nur 6,5 Prozent (Decker et al. 2018). Kritik an der Flüchtlingspolitik wird im Osten Deutschlands deutlich häufiger mit einer allgemeinen Systemkritik 1 Freistaat Sachsen/Statistisches Landesamt, 2. Sächsische Wanderungsanalyse Ergebnisbericht (https://www.statistik.sachsen.de/download/080_SchsWanderungsanalyse/2.SWA_ Ergebnisbericht_k.pdf, 13.04.2019). 2 »Ostdeutsche vertrauen der Demokratie weniger als Westdeutsche«, ZON 23.01.2019 (www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-01/allensbach‐umfrage‐ostdeutsche‐vertrauendemokratie-marktwirtschaft?, 13.04.2019). 3 Staatsregierung Sachsen, Sachsen-Monitor 2018.
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verbunden, als dies in Westdeutschland der Fall ist. Die politische Führung und die Eliten werden in stärkerem Maße alleine für die Lösung komplexer Probleme verantwortlich gemacht. Dementsprechend sind sie eher Ziel einer pauschalen Kritik und Verdrossenheit, wenn Erwartungen nicht erfüllt werden. Auch hier spiegeln sich Reaktionsmuster, die auf Erfahrungen mit politischer Führung im autoritären System der DDR verweisen. In der DDR führte der »verordnete Antifaschismus« zudem zu einer mangelnden Auseinandersetzung mit der nach dem Krieg vorhandenen völkisch‐rassistischen Gefühlswelt in der Bevölkerung. Eine offene Auseinandersetzung mit dem Thema fand nie statt (Poutrus et al. 2000). Die DDR war eine ethnisch homogene Gesellschaft, die Wirkung dieser Erfahrungswelt zeigt sich bis heute in einem höheren Maß an Nationalismus und völkischem Denken (Kahane 2018). Zudem haben Ostdeutsche weiterhin deutlich weniger Kontakterfahrungen mit Migrant_innen und Fremden, als dies in Westdeutschland der Fall ist. Diese ›Überbleibsel der DDR‹ werden verstärkt durch die teilweise traumatischen Wendeerfahrungen mit der Entwertung ganzer Lebensentwürfe (Kollmorgen 2010). Neben der individuellen Erfahrung spielt der Verweis auf ›kollektive Demütigungen‹, die Menschen in Ostdeutschland erlebt haben und erleben, als Ursache von Frustration und Wut abseits realer Deprivation eine zentrale Rolle. Bis heute bestehen ungleiche Lebensbedingungen zwischen Ost- und Westdeutschland fort.4
Sächsische Besonderheiten In Sachsen wurde eine Mentalität der ›Führung‹ nach der Wende weiter kultiviert. Hierfür steht sinnbildlich die Bezeichnung des langjährigen Ministerpräsidenten Biedenkopf als ›König Kurt‹. Biedenkopfs Ausspruch, die Sachsen seien immun gegen Rechtsextremismus, steht für eine in der DDR bereits vorhandene Verleugnung rechtsextremer Strukturen. Dabei war Sachsen schon lange eine Hochburg des Rechtsextremismus in Deutschland. Bereits 1991 gab es gewalttätige Übergriffe in Hoyerswerda. 2004 zog die NPD mit 9,2 Prozent in den Landtag ein. Rechtsextreme Gewalttaten liegen seit Jahren auf überdurchschnittlichem Niveau (vgl. Verfassungsschutzberichte; Quent 2016). Es gibt lange etablierte Strukturen der rechten Szene, auch unterhalb der Sichtbarkeit von Wahlergebnissen, besonders stark in der sächsischen Schweiz/Ost-Erzgebirge, dort erreichte die AfD 2017 37,4 Prozent der Erststimmen. Deutlich sichtbar wurde die Ausbreitung rechter Subkulturen alljährlich bei den Demonstrationen zum ›Gedenken‹ an die Zerstörung Dresdens, die bis zu 6.000 rechte Demonstrant_innen, darunter viele Neonazis, anlockte. Die Verharmlosung von Rechtsextremismus in Sachsen ermunter4 Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2018, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi).
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te rechtsextreme Netzwerke und Subkulturen geradezu, sich auszubreiten. Dass das Netzwerk des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in Sachsen Unterschlupf suchte, ist kein Zufall. Hier fand man hinreichend Unterstützung und einen geringen Fahndungsdruck (Kulturbüro Sachsen 2017). Zum einen wurde das Problem Rechtsextremismus verharmlost, zum anderen das Engagement gegen Rechtsextremismus nicht gefördert und oftmals pauschal dem Linksextremismus zugeordnet. Diese Zuschreibungen prägen bis heute den zivilgesellschaftlichen ›Kampf gegen Rechts‹. Die Reaktionen auf die Ereignisse in Chemnitz und die pauschale Einordnung und Abgrenzung der Gegendemonstrant_innen vonseiten der sächsischen CDU und in den sächsischen Medien (z. B. in der Freien Presse Chemnitz) als ›links‹ oder ›Antifa‹, spiegelt diese Situation. Das Ergebnis ist eine Zivilgesellschaft, deren Mitte keine Stellung beziehen möchte. Parallel hierzu wurde der Bereich politischer Bildungs- und Jugendarbeit kleingespart. Ein vergleichender Blick, etwa hinsichtlich des Stellenwertes politischer Bildung in den Lehrplänen der Schulen, zeigt Sachsen als Schlusslicht. Gökbudak und Hedtke (2017) sprechen von einer »Kultur der Missachtung der politischen Bildung«. Ein weiterer Faktor sind die staatlichen Institutionen und die politische Kultur. Im Rechts- und Sicherheitsbereich finden sich gehäuft Sympathien für rechtspopulistische Positionen bis hin zu direkten personalen Überlappungen in den rechtspopulistischen/-extremen Bereich – dafür gibt es zahllose Beispiele aus dem Bereich der Polizei, des Verfassungsschutzes und der Justiz.5 Die Politik wird seit der Wende in Sachsen durch die politische Agenda der CDU dominiert. Diese lange Zeitspanne einer konservativen Regierungsmehrheit lässt auf eine Mehrheit schließen, die auf entsprechende Werte setzt und ebenso durch diese geprägt wurde (Pickel 2016). Auf der Diskursebene wurden rechtspopulistische Themen in der sächsischen CDU immer wieder aufgegriffen. Exemplarisch dafür steht die Berufung des Politikwissenschaftlers Werner Patzelt in die Programmkommission der CDU Sachsen für die Landtagswahl 2019. Patzelt ist bekannt geworden durch seine Sympathien für den migrationsfeindlichen Kurs von Pegida, zudem wurden ihm Beratungstätigkeiten für die AfD nachgewiesen (Meisner 2019). Der Landesverband der CDU Sachsen gilt deutschlandweit als rechts außenstehend. Nach dem Ergebnis der 5 Prominent ist der Fall des Dresdner Richters Jens Maier, der bereits mehrfach durch rassistische Äußerungen aufgefallen ist und für den rechten Flügel der AfD im Bundestag sitzt. Aktuell zu nennen ist etwa die Einschränkung der Pressefreiheit durch die sächsische Polizei im Falle des inzwischen berühmten ›Hutbürgers‹, der sich als Mitarbeiter des LKA entpuppte und Journalisten am Filmen einer Demonstration hindern wollte, oder von Polizisten, die in Verdacht geraten, Interna an Beschuldigte der »Gruppe Freital« weitergegeben zu haben, weiterhin ein Justizbeamter aus Dresden, der den Haftbefehl gegen einen Tatverdächtigen von Chemnitz an einschlägige Kreise weitergab oder Versäumnisse der sächsischen Behörden bei den Ermittlungen über das Netzwerk des NSU.
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Bundestagswahl 2017 forderte der damals noch sächsische Ministerpräsident Tillich einen Kursschwenk der CDU nach rechts und eine schärfere Asyl- und Einwanderungspolitik.6 Anstatt sich abzugrenzen, verfolgt die CDU in Sachsen klar den Kurs, AfD-nahe politische Positionen zu übernehmen und Rechtsextremismus zu verharmlosen. Exemplarisch hierfür sind die Reaktionen nach den Ereignissen von Chemnitz. In seiner Regierungserklärung gut eine Woche nach den Ereignissen erklärte der sächsische Ministerpräsident Kretschmer zwar den Rechtsextremismus zur größten Gefahr der Demokratie, relativierte aber in der gleichen Rede die Ereignisse von Chemnitz, indem er betonte, es habe keine Hetzjagd und keinen Mob in den Straßen von Chemnitz gegeben, und er lobte zugleich die Arbeit der Polizei. Anstelle eines klaren Signals mit einer für Bürger_innen sichtbaren Grenzziehung, folgte Verharmlosung. Wie stark die Rechtsverschiebung der politischen Diskurse bereits in die Gesellschaft gedrungen ist, lässt sich an der Diskussion der Ursachen der Ereignisse von Chemnitz beobachten – insbesondere in Kreisen der CDU/CSU wurde nicht das Problem des Rechtsextremismus als primär benannt, sondern die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel rückt immer wieder als vermeintliche Hauptursache in den Vordergrund. Stephan Meyer, CDU-Fraktionsvize, forderte am 6. September 2018 im Sächsischen Landtag einen Kurswechsel als Lehre der Ereignisse, und zwar in der Asylpolitik. Ordnung und Recht in der Asylfrage, wie sie vor dem Jahr 2015 herrschten, sollten wiederhergestellt werden. Diese Schlussfolgerung aus den Ereignissen spricht eher dafür, dass die CDU Sachsen bis heute nicht wirklich das Problem des Rechtsextremismus in Sachsen anerkennt.
Chemnitzer Verhältnisse Chemnitz ist ein Teil dieser sächsischen Realität. Die AfD wäre bei den Bundestagswahlen 2017 fast zur stärksten Kraft geworden – sie erreichte 24,3 Prozent der Zweitstimmen – nur ganz knapp hinter der CDU (24,9 Prozent). Mit ProChemnitz sitzt eine rechtsextreme Partei mit drei Abgeordneten im Stadtrat.7 ProChemnitz ist seit Jahren maßgeblich an der Mobilisierung rechter Strukturen beteiligt. Ihr Vorsitzender, Martin Kohlmann, hat die rechte Terrorgruppe von Freital strafrechtlich verteidigt, ebenso gehören Reichsbürger_innen und Holocaustleugner_innen zu seinen Mandant_innen. Er ist wiederholt mit Äußerungen aufgefallen, die ihn als Gegner der demokratischen Grundordnung zeigen. Zum Beispiel äußert er im Rahmen seines Plädoyers im Freitaler-Prozess, »er halte sein Plädoyer nur«, damit es »nach einem Systemwechsel« in einem Verfahren gegen den Senat »straf6 »Stanislaw Tillich fordert Kursschwenk der CDU nach rechts«, ZON, 30.09.2017 (https:// www.zeit.de/politik/deutschland/2017-09/sachsens‐ministerpraesident-stanislaw‐tillichfordert‐kurschwenk-der‐cdu-nach‐rechts, 13.04.2019). 7 Die AfD trat bei der Wahl 2014 noch nicht an.
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schärfend berücksichtigt werde«.8 Als Sprecher bei der von ihm mitorganisierten rechten Demonstration vom Montag nach den Ereignissen forderte er eine »richtige Wende« ein. Kohlmann verfügt über zahlreiche Kontakte in die rechtsextreme Szene.9 Zwar konnte sich in Chemnitz keine Pegida-ähnliche Bewegung dauerhaft etablieren, dennoch gab es ab 2015 deutliche flüchtlingsfeindliche Aktivitäten, 2016 etwa einen Brandanschlag auf das Asylbewerberheim in Chemnitz-Einsiedel. Auch im Einzugsgebiet Erzgebirge gab es zahlreiche Übergriffe, auch dort existiert eine aktive rechtsextreme Szene. In Chemnitz selbst findet sich ebenfalls eine beachtliche rechtsextreme Subkultur mit langer Tradition (vgl. Peters/Eluek 2018), heute sehr aktiv im Stadtteil Sonnenberg, den sie zur ›national befreiten Zone‹ machen will. Es gibt weiterhin eine starke rechte Hooligan- und Ultra-Szene im Umfeld des Chemnitzer Fußballvereins CFC (vgl. Peters/Eluek 2018). Diese Szene wird maßgeblich für die Mobilisierung am 26. August 2018 verantwortlich gemacht. Sie entstammt der Hooliganvereinigung HooNaRa (Hooligans, Nazis, Rassisten), die in der deutschen Szene als stark politisiert galt, für ihre Brutalität berüchtigt war und 2007 verboten wurde. Ihre Nachfolger, Kaotic Chemnitz und NS-Boys (New SocietyBoys), mobilisierten Ende August maßgeblich in Chemnitz. Es gab zeitweise sieben aktive rechtsextreme Kameradschaften (u. a. NSC – Nationale Sozialisten Chemnitz, 2014 verboten, 2016 Kopfsteinpflaster). Die Blaue Narzisse, eine Online-Zeitung der neuen Rechten, entstand in Chemnitz und wird noch immer hier herausgegeben. PC-Records ist ein überregional bedeutsamer Musikverlag mit Sitz in Chemnitz. Der Verfassungsschutz schätzt die rechtsextreme Szene in Chemnitz auf etwa 150–200 Personen, sie liegt damit sachsenweit in einem mittleren Bereich (Sächsischer Verfassungsschutzbericht 2017). Der NSU war zeitweise in Chemnitz untergetaucht – auch dies ist ein weiteres klares Indiz für ein gut ausgebautes Unterstützungsnetzwerk (Kulturbüro Sachsen e.V. 2017). Die Bevölkerung ist sozialstrukturell traditionell eher proletarisch und kleinbürgerlich geprägt, mit einem überdurchschnittlichen Anteil älterer Menschen. Von 1991 bis 2016 hat die Stadt Chemnitz 20 Prozent ihrer Einwohner_innen verloren. Die Chemnitzer Pegida-Studie (Rippl et al. 2016) hat gezeigt, dass ca. 20 Prozent der erwachsenen Chemnitzer_innen Pegida sympathisch finden und 50 Pro8 »Gruppe Freital«-Verteidiger Kohlmann droht Ärger mit der Anwaltskammer (https:// www.mdr.de/sachsen/chemnitz/chemnitz‐stollberg/verfahren‐gegen-kohlmann-100.html, 15.04.2019). 9 Vgl. »C hef von Pro C hemnitz wird vom Verfassungsschutz beobachtet«, ZON 25.09.2018 (www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-09/martin‐kohlmann-chemnitz‐sachsenrechtsextremismus‐verfassungsschutz/ 13.04.2019) oder Antifaschistische Recherche C hemnitz. Informationen über die Chemnitzer Naziszene (https://chemnitz.noblogs.org/post/ 2019/02/22/aktuelle‐entwicklung-um‐das-sogenannte‐buerger-und‐begegnungszentrumvon‐pro-chemnitz‐im-februar-2019/?fbclid=IwAR2L5Y8t5ln9kqyKm_8nEDqxxs5HgsfArqMWptyn8HIjzkT2L4zxPVqp7k, 13.04.2019).
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zent deren Themen – zumindest teilweise – wichtig finden. Es gibt einen substantiellen Anteil von Bürger_innen mit fremdenfeindlichen Ressentiments. Laut Sachsen-Monitor 2018 fühlen sich 69 Prozent der Chemnitzer_innen von Menschen aus dem Ausland gefährlich überfremdet, das liegt deutlich über dem sächsischen Durchschnitt (56 Prozent) – bei einem Ausländeranteil von 8,2 Prozent in der Stadt. Dies ist ein Bild, das auf viele ostdeutsche Städte zutrifft. In Sachsen lässt sich somit eine Gemengelage von Katalysatoren beobachten, die den weltweit vorhandenen Aufwind rechtspopulistischer Haltungen beschleunigen: verschiedene Problemlagen treffen aufeinander und kulminieren (vgl. Abbildung 1). Ereignisse wie in Chemnitz können unter diesen Rahmenbedingungen mit medialer Unterstützung zu einer gefährlichen Eskalationsspirale führen. Abbildung 1: Kontexte rechtspopulistischer Mobilisierung in Sachsen
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»Wir sind doch keine Nazis« – Besorgte Bürger_innen in Sachsen Welche Rolle spielen die ›besorgten Bürger_innen‹ in diesem Szenario und wer sind sie eigentlich? Betrachtet man die Demonstrant_innen von Chemnitz, zeigt sich eine Mischung von Gruppen der rechtspopulistischen und rechtsextremen Szene. Neben rechten Schlägern, Hooligans und offen erkennbaren Nazis, die menschenund verfassungsfeindliche Parolen brüllen, laufen dort auch die sogenannten ›besorgten Bürger_innen‹ mit. Der Begriff hat sich in der Alltagspraxis etabliert. Er umschreibt eine unscharf umrissene Personengruppe im Kontext des Rechtspopulismus. Das Label der ›Besorgnis‹ entstammt der Selbstcharakterisierung von Menschen, die bei Pegida demonstrieren, die AfD wählen oder mit diesen Gruppierungen sympathisieren, die aber nicht als »Nazis« oder Rechtsextreme eingeordnet werden wollen. Die Besorgnisse beziehen sich auf den Kontext der Zuwanderung von Flüchtlingen und sind mit einer negativen Positionierung gegenüber dieser Zuwanderungsbewegung verbunden. Im Folgenden wird ein Blick auf die Situation in Sachsen geworfen. Datengrundlage der folgenden Analysen ist der Sachsen-Monitor von 2018.10 Zur Zuordnung zur Gruppe der ›besorgten Bürger_innen‹ wurde die Zustimmung zu dem Item »Deutschland ist durch Ausländer gefährlich überfremdet« verwendet, da das Thema Migration das zentrale Mobilisierungsfeld der ›besorgten Bürger_innen‹ ist. Hinsichtlich der demographischen Merkmale der Gruppe zeigt die Analyse des Sachsen-Monitors 2018 ein ähnliches Bild, wie die Befunde bundesweiter Studien (Rippl/Seipel 2018; Lux 2018). Bildungsniveau und Einkommen der ›Besorgten‹ sind signifikant niedriger als in der Referenzgruppe. Sie sind weniger zufrieden mit ihrer wirtschaftlichen Situation und wohnen häufiger in Orten mit kleinerer Einwohnerzahl als die Referenzgruppe. Die Personen sind älter als der Bevölkerungsdurchschnitt und es finden sich unter ihnen häufiger Frauen (vgl. Tabelle 1). Der höhere Frauenanteil könnte seine Ursache in der Erfassung der besorgten Bürger_innen über eine Variable, die Besorgnisse anspricht, haben und nicht, wie in anderen Studien, über die »Wahlabsicht«. 10 Es handelt sich dabei um eine Bevölkerungsumfrage sächsischer Bürger_innen, beauftragt von der Sächsischen Staatsregierung. Die vorliegenden Daten wurden vom 28.07.2018 bis zum 23.08.2018 erhoben. Befragt wurden 1.011 Personen ab 18 Jahren mittels eines standardisierten Fragebogens im Rahmen von computergestützten, persönlichen Interviews (Computer Assisted Personal Interview, CAPI). Die Befragten wurden nach dem Zufallsprinzip mittels des Random-Auswahlverfahrens (ADM-Design) ausgewählt. Es handelt sich um eine mehrfach geschichtete, mehrstufige Zufallsstichprobe. Detaillierte Informationen dazu finden sich im Sachsen-Monitor-Ergebnisbericht 2018 (https://www.staatsregierung.sachsen.de/ download/ergebnisbericht‐sachsen-monitor-2018.pdf, 13.04.2018).
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Tabelle 1: Demographische Merkmale der ›besorgten Bürger_innen‹ (Sachsen-Monitor 2018) Besorgte
Referenzgruppe
Frauenanteil (in Prozent)
52,9
48,6
Alter (Mittelwert, Jahre)
52,7
48,8
Haushaltseinkommen11 (Mittelwert, Wertebereich 1–5)
2,63
3,03
Finanzielle Zufriedenheit (Zufriedene in Prozent)
57,8
77,4
Bildungsniveau (Mittelwert, Wertebereich 1–5)
3,05
3,63
Ortsgröße Wohnort (Mittelwert, Wertebereich 1–7)
4,10
5,42
*gewichtet nach Alter und Geschlecht, alle Unterschiede sind signifikant p