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German Pages 408 Year 2016
Aram Ziai (Hg.) Postkoloniale Politikwissenschaft
Edition Politik | Band 27
Aram Ziai (Hg.)
Postkoloniale Politikwissenschaft Theoretische und empirische Zugänge
Die Publikation wurde gefördert mit Mitteln der DFG.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Danksagung | 9 Einleitung: Unsere Farm in Zhengistan Zur Notwendigkeit postkolonialer Perspektiven in der Politikwissenschaft
Aram Ziai | 11
Postkoloniale Studien und Politikwissenschaft Komplementäre Defizite und ein Forschungsprogramm
Aram Ziai | 25
E UROPA PROVINZIALISIEREN: P OLITISCHE THEORIE Geist, Körper und Mut Elemente eines postkolonialen Menschenrechtsdiskurses
Siba NʼZatioula Grovogui | 49
Frantz Fanon in der Politikwissenschaft Potentiale einer Rezeption
Ina Kerner | 71
Gewalt weiter denken in der Kolonialität des Wissens
Claudia Brunner | 91
DOPPELT IM SCHATTEN: G ESCHLECHTERVERHÄLTNISSE IN DER P OLITIK FrauenUnrechte richten Zur Bedeutung postkolonial-feministischer Interventionen für eine kritische Analyse von Menschenrechtspolitiken
Christine M. Klapeer | 111
Geschlechtergerechtigkeit unter postkolonialen und Post-Konflikt-Bedingungen? Das Beispiel Ruanda
Rirhandu Mageza-Barthel | 131
Landpolitiken, Eigentum und Geschlechterverhältnisse im postkolonialen Indien Kontexte, Kontroversen, Komplexitäten
Christine Löw | 151
DIE ANDEREN IM I NNEREN: P OLITIK DER BRD „Billig und willig“ Arbeitsmigrations- und Integrationspolitik aus postkolonialer Perspekive
Kien Nghi Ha | 173
Orientalismus und demokratische Kritik Erkenntnisse und Grenzen postkolonialer Ansätze in der Debatte um antimuslimischen Rassismus
Floris Biskamp | 191
Silencing the Present Eine Postkoloniale Kritik der Aufarbeitung des NSU-Komplexes
Bilgin Ayata | 211
BEFRIEDEN UND E NTWICKELN: INTERNATIONALE P OLITIK Von Wissenproduktion, Weltordnung und ,worldism‘ Postkoloniale Kritiken und dekoloniale Forschungsstrategien in den Internationalen Beziehungen
Franziska Müller | 235
Postkoloniale Zugänge in der Friedens- und Konfliktforschung
Bettina Engels | 255
Mit dem postkolonialen Pflug über entwicklungspolitische Felder Die Beispiele Tourismus- und reproduktive Gesundheitspolitik
Chandra-Milena Danielzik und Daniel Bendix | 273
DEMOKRATIE UND W IDERSTAND IN EINER P OSTKOLONIALEN W ELT : P OLITISCHE SYSTEME Der „listige“ Staat, Privatisierung öffentlicher Güter und Rechtspluralismus in Indien
Shalini Randeria | 295
Demokratie(n) im Plural denken Visionen und Praktiken jenseits des liberalen Paradigmas: Ein postkolonialer Blick auf und aus Bolivien
Tanja Ernst | 317
Jenseits funktionaler Äquivalente Die Kolonialität der Macht und indigene politische Autoritäten im politischen System Ghanas
Joshua Kwesi Aikins | 337
Dekoloniale Perspektiven auf Demokratieaufbau in Afghanistan Basispolitische Kämpfe für „real democracy“ statt „the old games of colonization“
Mechthild Exo | 357
Den Leviathan zähmen Indigener Widerstand und koloniale Wissensproduktion in den nördlichen Anden
María do Mar Castro Varela und Carolina Tamayo-Rojas | 377 Autorinnen und Autoren | 397
Danksagung
Ich möchte an dieser Stelle allen danken, die die Entstehung des Fachgebiets Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien möglich gemacht haben: insbesondere Christoph Scherrer, der Universität Kassel und der DFG, aber auch Uta Ruppert, Cord Jakobeit und Christoph Scherrer für die Empfehlungsschreiben, Paul Heuermann für die stets ermutigende Betreuung und Florian Buch für die freundliche Kooperation. Danken möchte ich auch den MitarbeiterInnen des Fachgebiets, die mit kritischem Geist und unermüdlicher Arbeit (und wie üblich fast alle auf schlecht bezahlten und befristeten Stellen) die Etablierung des Fachgebiets vorangetrieben haben: allen voran Daniel Bendix und Joshua Kwesi Aikins, aber auch Josephine Brämer, Eric Otieno, Franziska Dübgen, Liza Mattutat, Kawther Karoui und Petra Klein sowie den AktivistInnen von kassel-postkolonial. Ebenfalls danken möchte ich denen, die für die Etablierung der Postkolonialen Studien in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften Pionierarbeit geleistet haben: Nikita Dhawan, María do Mar Castro Varela, Sebastian Conrad, Shalini Randeria, Encarnación Gutiérrez Rodríguez, Julia Reuter, Ina Kerner, Kien Nghi Ha, Kum’a Ndumbe, May Ayim, Peggy Piesche, Grada Kilomba, Susan Arndt, Paul Mecheril, Maisha Eggers, Henning Melber, Gerhard Hauck und vielen anderen – die Liste ist nicht vollständig. Ina Kerner möchte ich danken für die anfänglich gemeinsame Planung des Bandes. Franziska Müller danke ich für die Übersetzung des anspruchsvollen Textes von Siba Grovogui. Für die Unterstützung bei der Fertigstellung des Manuskripts danke ich Jennifer Niediek vom transcript Verlag sowie Josephine Brämer. Wie immer danke ich Silke Kukies für Unterstützung im reproduktiven Bereich, Jaron und Jonna für die ständige Unterminierung meines akademischen Workaholismus und Franziska für stets anregende Gespräche zu postkolonialen Studien und allen anderen möglichen und unmöglichen Themen.
Einleitung: Unsere Farm in Zhengistan Zur Notwendigkeit postkolonialer Perspektiven in der Politikwissenschaft A RAM Z IAI Alle Tiere sind gleich. Aber einige Tiere sind gleicher als Andere. GEORGE ORWELL, FARM DER TIERE
Ich möchte mit einer historischen Fiktion beginnen: Nehmen wir an, der chinesische Seefahrer Zheng He, der durch mehrjährige Expeditionen Anfang des 15. Jahrhunderts bekannt wurde, hätte den asiatischen Kontinent gegen den Uhrzeigersinn umrundet anstatt im Uhrzeigersinn. Nehmen wir weiterhin an, er wäre auf den Gedanken verfallen, der Westzipfel dieses Kontinents wäre eigentlich ein eigener Kontinent, und dieser wäre nach ihm benannt worden. Nehmen wir drittens an, Zhen He wäre dem Irrtum erlegen, die von ihm „entdeckte“ Region sei eigentlich Hinter-Äthiopien und die dort lebende Bevölkerung würde infolge dieses Irrtums fortan entsprechend bezeichnet – wir lebten heute als ÄthiopierInnen in Zhengistan. Zugegeben, die Geschichte erscheint doch sehr weit hergeholt, aber sie ist es natürlich nicht – jedenfalls im Hinblick auf Amerika, Amerigo Vespucci, Kolumbus und die als „IndianerInnen“ bezeichneten indigenen Völker. Sie verdeutlicht, dass 500 Jahre Kolonialismus Spuren hinterlassen haben: Spuren einer Ära, in der die Europäer 85 Prozent der Erdoberfläche unterwarfen, im festen Bewusstsein, dass sie von Gott oder durch ihre Zugehörigkeit zur „weißen Rasse“ ausersehen waren, über andere Völker zu herrschen. Das fängt schon bei den Landkarten an: Europa wird in der Regel weit größer dargestellt, als es tatsächlich ist. Etwa so groß wie Lateinamerika beispielsweise, während es in Wirklichkeit nur wenig mehr als halb so groß ist (9,7 im Vergleich zu 17,9 Mio. km2). Dass Europa auf diesen Karten in der Mitte der Welt und „oben“
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liegt, passt dazu. Unsere „Weltsicht“, d.h. die der meisten EuropäerInnen, ist auch heute noch in manchen Teilen von der Ära des Kolonialismus geprägt. Diese Prägung beeinflusst, was wir wissen und was wir nicht wissen. Wir wissen, dass die Alliierten im Zweiten Weltkrieg die Nazis besiegt haben. Was die wenigsten von uns wissen, ist, dass dabei auch Millionen von indischen und afrikanischen Soldaten beteiligt waren. Als nach der Befreiung von Paris allerdings die Bevölkerung der alliierten Truppen zujubelte, hatte de Gaulle vorher die Entfernung der nicht-weißen Soldaten angeordnet, das sog. „Blanchissement“ („Weißmachen“) – man wollte die Stimmung nicht dadurch verderben, dass man die Weißen damit konfrontiert, unter anderem von Schwarzen befreit worden zu sein (Rheinisches JournalistInnenbüro 2005: 110). Wir wissen auch, dass Aufklärung und Menschenrechte in der Neuzeit durch die Französische Revolution von 1789 erkämpft wurden. Unter der Parole „Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit“ wurden Feudalismus und Gottesgnadentum zugunsten von Vernunft und gleichen Rechten für Alle abserviert. Was die wenigsten von uns wissen, ist, dass die französische Regierung 1791 ihre Truppen in die Kolonie Saint Domingue schickte, als dort die versklavten Schwarzen ebenfalls gleiche Rechte einforderten – und in einer blutigen Auseinandersetzung auch erkämpften, bis 1804 die Republik Haiti ihre Unabhängigkeit verkündete. Die Französische Revolution erkämpfte gleiche Rechte nur für weiße Männer mit Besitz, die Haitianische erkämpfte gleiche Rechte für alle Männer. Dass wir über die eine viel mehr in der Schule gelernt haben als über die andere, ist kein Zufall, sondern auch ein koloniales Muster (Trouillot 2002). Auschwitz, Wannsee-Konferenz, Vernichtungskrieg im Osten, Nürnberger Rassegesetze – das alles sind Begriffe, die wir aus dem Geschichtsunterricht kennen. Aber dass auf der Berliner Afrika-Konferenz 1884 Bismarck und andere Europäer den ganzen Kontinent unter sich aufteilten – wer weiß das schon? Dass die deutschen Kolonien – als „Schutzgebiete“ verharmlost – sechsmal größer waren als das Deutsche Reich? Dass es in ihnen – lange vor den Nazis – bereits Konzentrationslager gab, in denen Tausende (nahezu jeder Zweite!) durch Zwangsarbeit zu Tode geschunden wurde? Wer von uns hat in der Schule die Rede von Generalleutnant von Trotha gelesen, in der er 1904 den Völkermord im damaligen Deutsch-Südwestafrika ankündigte („Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen“), den die deutschen Truppen gehorsam ausführten (Zimmerer/Zeller 2004)? Die Herero warten bis heute auf eine Entschuldigung des deutschen Staates, ebenso wie auf Entschädigungszahlungen. Und bis vor einigen Jahren mussten sie sogar auf die Rückgabe geraubter Schädel ihrer Vorfahren warten.
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Sicher, der Kolonialismus ist lange vorbei, die meisten ehemals kolonisierten Ländern sind seit Jahrzehnten unabhängig. Aber auch heute noch sind in Namibia (dem früheren Deutsch-Südwestafrika) 70 Prozent der fruchtbaren Böden im Besitz der Nachfahren ausländischer Kolonialherren (Kuß 2004: 28). Und auch in der heutigen Weltwirtschaft sind Freihandelsimperialismus und Neokolonialismus keine Hirngespinste: Der IWF diktiert Dutzenden von Regierungen seine Vorstellungen von „gesunder“, d.h. neoliberaler, Wirtschaftspolitik (Stiglitz 2002), mittlerweile auch in Europa, zusammen mit EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank – siehe Griechenland. Dort wurde 2015 kürzlich sogar eine demokratische Volksabstimmung nach Kräften ignoriert – unter tatkräftiger Mithilfe der Bundesregierung. Gerechtfertigt wurde das mit denselben Stereotypen, die im Kolonialismus auf die „Eingeborenen“ angewandt wurden: Die „Pleite-Griechen“ sind unreif, faul und können nicht vernünftig mit Geld umgehen. Im Spiegel wurde die griechische Regierung explizit mit pubertierenden Jugendlichen verglichen (Fleischhauer 2015). 1 Die Kennzeichnung kolonisierter Völker als noch nicht in der Lage, unter den schwierigen Bedingungen der modernen Welt auf eigenen Füßen zu stehen im Versailler Vertrag knapp 100 Jahre früher (Rist 2014: 60) diente dem selben politischen Zweck: ihre Entmündigung durch vermeintlich erwachsenere und rationalere Akteure zu rechtfertigen. Hier sind wir beim Kern des kolonialen Denkens: Es geht um die Verweigerung gleicher Rechte mit der Begründung, die Anderen seien einfach nicht so rational wie wir, sondern rückständig, unterentwickelt oder unzivilisiert. Mit anderen Worten: Koloniales Denken erlaubt es, in der nachkolonialen Ära einerseits gleiche Rechte für Alle zu propagieren, andererseits aber gute Gründe zu finden, warum einige Menschen doch gleicher sind als andere und letztere doch nicht die gleichen Rechte bekommen sollten. Dieses Denken finden wir auch heute bei manchen, die sich für aufgeklärt halten und dennoch meinen, „die da unten“ seien nicht in der Lage, sich vernünftig selbst zu regieren, im Extremfall sich angesichts vielfältiger Probleme im globalen Süden sogar nach der zivilisierenden Herrschaft der Europäer sehnen. Sie vergessen dabei Details wie die Befehle des Generalleutnant von Trotha oder dass unter dieser Herrschaft 70 der 80 Millionen EinwohnerInnen Amerikas der europäischen Invasion zum Opfer fielen (Todorov 1999: 133).
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Diesen Hinweis verdanke ich Anna Brüggemann und Christian Huth.
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G LEICHER ALS ANDERE : 2 Ü BER DOPPELTE S TANDARDS
UND
Z IVILISATIONSBRÜCHE
Die Befreiung vom Nationalsozialismus führte nicht nur zur Vertreibung von vielen Millionen Menschen aus den vermeintlich befreiten Gebieten, sondern auch zu Gräueltaten rachsüchtiger Mobs: verbrannte Kinder und schwangere Frauen, denen die Babys aus dem Bauch gehackt worden waren. Es gibt glaubhafte Berichte von alliierten Soldaten, die Säuglinge am Spieß geröstet haben. Die russischen Soldaten verwandelten sich in Horden, die gründlich vergessen hatten, dass sie Menschen waren. Nur ZynikerInnen, die kein Mitleid kennen, können das Ende des Nationalsozialismus daher als Befreiung bezeichnen. In allen anderen erwächst der verzweifelte Wunsch, dass die stabile Herrschaft des Nationalsozialismus zurückkehren möge. Könnte es sein, dass die große Geschichtserzählung, die wir alle eingetrichtert bekommen haben, nach der der Nationalsozialismus von Anfang bis Ende nichts als ein Übel war, falsch ist? Die Befreiung vom Nationalsozialismus war – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – eine Katastrophe. Wer im Deutschland des Jahres 2016 einen solchen Text wie den letzten Absatz veröffentlichen würde, müsste mit großer Wahrscheinlichkeit mit einer Anzeige wegen Volksverhetzung rechnen. Tatsächlich sind diese bzw. sehr ähnliche Sätze Ende letzten Jahres ohne größeres Medienecho in der Tageszeitung „Die Welt“ veröffentlicht worden – mit einem entscheidenden Unterschied: Statt von der Befreiung vom Nationalsozialismus schrieb der Autor Hannes Stein vom Ende des Kolonialismus – v.a. in Indien, aber seine These beanspruchte auch Geltung für „viele andere ehemalige Kolonialländer“ (Stein 2015). Natürlich, Nationalsozialismus und Kolonialismus weisen bestimmte Unterschiede auf – aber immerhin geht es in beiden Fällen um rassistisch begründete, gewaltsam aufrecht erhaltene und kriegerisch ausgeweitete Herrschaft über Andere, die selbst vor Völkermord nicht zurück schreckt. Warum der Versuch der Rehabilitierung einer solchen Herrschaft im Fall der „deutschen Herrenmenschen“ nur ein Fall für in der Öffentlichkeit weitestgehend geächtete Nazis, im Fall der europäischen Kolonialherren jedoch in einer angesehenen Tageszeitung publizierbar ist, erscheint erklärungsbedürftig.
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Der Text bezieht sich nicht auf die mit diesem Titel verbundene preisgekrönte (und in der politischen Theorie weit unterschätzte) Grundlegung der freien Kooperation von Christoph Spehr, der zufolge einige Menschen tatsächlich freier und gleicher als Andere sind, weil sie in freiwilligen und verhandlungsbasierten Zusammenschlüssen und Beziehungen leben (Spehr 2003).
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Ebenso erklärungsbedürftig wie die unterschiedliche Darstellung von Kolonialismus und Nationalsozialismus in Schulbüchern. In einer entsprechenden Untersuchung mit meiner Kollegin Elina Marmer (Marmer/Ziai 2015) ist deutlich geworden, dass auch heute noch Darstellungen vorherrschen, die positive wie negative Seiten des Kolonialismus gegenüberstellen und seine gewaltförmigen Aspekte herunterspielen. Ein „Pro-und-Kontra Nationalsozialismus“ hingegen ist in deutschen Schulbüchern undenkbar. Es würde als eine Beleidigung der Opfer empfunden, so als ob die Autobahnen und der Wirtschaftsaufschwung möglicherweise die Konzentrationslager aufwiegen würden. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: das ist auch gut so, der Ausschluss solcher Abwägungen aus dem Bereich des Sagbaren in der deutschen Öffentlichkeit ist ein Zeichen von Menschlichkeit. Auffällig ist allerdings schon, dass diese Sensibilität sich nicht auf die Opfer kolonialer Völkermorde und Massaker erstreckt, wie der Artikel aus der Welt illustriert. In ihm darf ungeniert von der Herrschaft der Weißen über die barbarischen Nichtweißen geschwärmt werden, da Letztere ja offensichtlich nicht in der Lage sind, ohne Mord, Totschlag und verbrannte Kinder sich selbst zu regieren. Wird hier nicht, wie im Volksverhetzungsparagrafen ausgeführt, „eine Gruppe […] beschimpft, böswillig verächtlich gemacht und verleumdet“? Und werden hier nicht stillschweigend die ungezählten Massaker, Folterungen und Völkermorde im Kolonialismus übergangen und verharmlost? Der antikoloniale Theoretiker Aimé Cesaire hat schon 1950 über den europäischen „ach so distinguierten, ach so humanen, ach so christlichen Bürger des zwanzigsten Jahrhunderts“ behauptet: „[…] daß im Grunde das, was er Hitler nicht verzeiht, nicht das Verbrechen an sich, das Verbrechen am Menschen, daß es nicht die Erniedrigung des Menschen an sich, sondern daß es das Verbrechen gegen den weißen Menschen ist, daß es die Demütigung des Weißen ist und die Anwendung kolonisatorischer Praktiken auf Europa, denen bisher nur die Araber Algeriens, die Kulis in Indien und die Neger Afrikas ausgesetzt waren.“ (Césaire 1968: 12, Herv.i.O.)
Andernfalls hätten die EuropäerInnen auch kaum die zahllosen Verbrechen und die Erniedrigung Nichtweißer im Kolonialismus hingenommen. Tatsächlich hat die Ausrottung bestimmter Gruppen von Menschen erst dann zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte geführt, als es sich um weiße EuropäerInnen gehandelt hat. Und auch heute noch scheint die Verklärung rassistischer weißer Vorherrschaft kein Fall für die Staatsanwaltschaft zu sein, sofern es nicht um den Nationalsozialismus geht. Césaire weist darauf hin, dass in der hier impliziten politischen Theorie des Westens unterschiedliche Standards angelegt werden, je nachdem, ob die Opfer eines Verbrechens weiße EuropäerInnen oder andere
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Menschen sind. Auch lange nachdem die Französische Revolution Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verkündet hat 3 sind zwar vermeintlich alle Menschen gleich, aber einige eben gleicher als Andere. Diese Anwendung unterschiedlicher ethischer Standards für unterschiedliche Menschengruppen bei gleichzeitiger Propagierung gleicher Rechte für Alle kann als koloniale Heuchelei bezeichnet werden, und diese bietet eine Erklärung für die unterschiedlichen Standards, die – in dem Artikel der Welt ebenso wie in den Schulbüchern – an die Verbrechen des Kolonialismus und die des Nationalsozialismus angelegt werden. 4 Diese unterschiedlichen Standards finden sich nicht nur bei konservativen Tageszeitungen, sondern durchaus auch und gerade in der politischen Linken. In der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat die Tradition der kritischen Theorie die Shoah oder als pars pro toto Auschwitz als „Zivilisationsbruch“ bezeichnet (Diner 1996) – zuletzt auch Samuel Salzborn (2015) in seiner Geschichte politischer Ideen. 5 Dies setzt unweigerlich das Vorhandensein einer ungebrochenen, intakten Zivilisation vor Auschwitz oder zumindest vor der Naziherrschaft seit 1933 voraus. Selbst wer den Zivilisationsbegriff ungeachtet seiner zentralen Rolle für die Legitimation kolonialer Herrschaft nicht problematisieren will, muss sich dennoch die Frage gefallen lassen, was für eine Gesellschaft angesichts von über vier Jahrhunderten europäischer Eroberung und Unterjochung anderer Weltregionen, angesichts von religiös-fundamentalistisch und rassistisch gerechtfertigter Gewaltherrschaft, angesichts von Massakern und Völkermorden von der beinahe vollständigen Ausrottung der Indigenen Nordund auch Südamerikas bis zum Genozid an den Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika (Chalk/Jonassohn 1990, Zimmerer/Zeller 2004, Moses 2008) da als intakte Zivilisation bzw. als zivilisiert bezeichnet werden soll. 3
Dies galt – dem universalistischen Selbstverständnis zum Trotz – weder für Nichtweiße, noch für Frauen oder Besitzlose.
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Die Diskussion über die Singularität des Holocaust kann hier nur angerissen werden. Über die Singularität jedes historischen Ereignisses hinaus ist aus der Perspektive einer vergleichenden Genozidforschung festzuhalten, dass der Holocaust hinsichtlich der Bürokratisierung und Industrialisierung des Massenmordes tatsächlich historisch einzigartig ist (Chalk/Jonassohn 1990). Hinsichtlich der Brutalität seiner Praktiken kann dies erschreckenderweise nicht behauptet werden. Auch die (vom Verfasser früher selbst vertretene) These, dass die Vernichtung der Juden durch die Nazis im Unterschied zu anderen Genoziden nicht Mittel zum Zweck, sondern Zweck an sich war, muss angesichts der Forschungen zum mit Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung verbundenen Raub (z.B. Aly 2005) als umstritten gelten.
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Dies obwohl er sich lobenswerterweise auch mit antikolonialen TheoretikerInnen wie Fanon oder Nkrumah auseinandersetzt.
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Selbst in einer zurückhaltenden Formulierung ist der europäische Kolonialismus eine zutiefst undemokratische Herrschaft über als minderwertig definierte Menschen gewesen. Die ausschnittartige Schilderung der in ihm begangenen Gräueltaten bei Plumelle-Uribe (2004) verursacht Übelkeit und Fassungslosigkeit. Wer vor diesem Hintergrund erst in Auschwitz einen Zivilisationsbruch sieht, kann dies nur mithilfe der kolonialen Heuchelei tun: Einige Opfer sind gleicher als andere. Und die Forderung, Auschwitz in den Mittelpunkt einer linken Theoriebildung zu stellen, kann nach einem Vergleich der zeitlichen und räumlichen Dimensionen von Nationalsozialismus und Kolonialismus bestenfalls als eurozentrisch bezeichnet werden. Die noch so gründliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus führt ohne ebenso gründliche Aufarbeitung des Kolonialismus nur zu einer Reproduktion dieser doppelten Standards. Diese doppelten Standards haben sich nach den sexualisierten Übergriffen heterosexueller und überwiegend migrantischer Männer in Köln Silvester 2015 erneut gezeigt. Die jährlich wiederkehrenden sexualisierten Übergriffe (und Vergewaltigungen) überwiegend weißer deutscher Männer beim Oktoberfest oder im Karneval haben nicht annähernd ein solches Medienecho erfahren. Patriarchale Gewalt wird auf diese Weise ethnisiert und als Import dargestellt (Lohaus/Wizorek 2016). Auch einige Täter sind gleicher als andere.
P OSTKOLONIALE P OLITIKWISSENSCHAFT Diese doppelten Standards aufzuzeigen und als Folge unreflektierter kolonialer Denkmuster zu deuten, stellt ein zentrales Anliegen postkolonialer Studien dar. Nachdem die Debatte um postkoloniale Studien im deutschsprachigen Raum zunächst in den Geschichts- und Kulturwissenschaften (Conrad/Randeria 2002) und wenig später in der Soziologie (Reuter/Villa 2010) rezipiert wurde, ist nun mit leichter Verspätung auch die Politikwissenschaft an der Reihe. Dabei ist anzumerken, dass sich auch PolitikwissenschaftlerInnen mit wichtigen Publikationen um die Auseinandersetzung mit postkolonialen Studien in Deutschland verdient gemacht haben (Castro Varela/Dhawan 2005, Kerner 2012, siehe auch Steyerl/Gutiérrez Rodríguez 2003 und Randeria/Eckert 2009 für einzelne politikwissenschaftliche Beiträge), allerdings verstanden sie diese als inter- oder sogar antidisziplinäres Unterfangen. Warum jetzt also ein dezidiert disziplinär ausgerichteter Band zu postkolonialer Politikwissenschaft? Weil, so meine These, die Anwendung postkolonialer Konzepte und Fragestellungen auf Gegenstandsbereiche der Politikwissenschaft neue Erkenntnisse zutage fördert, die ohne sie verborgen bleiben – etwas weniger positivistisch formuliert: Weil ihre Perspektiven einen bisher so nicht gekannten Blick auf diese Gegenstandsberei-
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che erlauben, der durch den Fokus auf koloniale Kontinuitäten und die erwähnten doppelten Standards erhellend wirkt. Und weil sich gerade die Politikwissenschaft bisher als weitestgehend unbeirrt gegenüber dem Einfluss postkolonialer Studien und die damit einhergehende Problematisierung herkömmlicher Kategorien und Perspektiven gezeigt hat. 6 Allenfalls die Wirtschaftswissenschaften weisen innerhalb der Sozialwissenschaften noch größere Beharrungskräfte auf, die die Vorstellung einer universalistischen und objektiven Wissenschaft verteidigen und eine historische Prägung durch die Epoche des Kolonialismus weit von sich weisen. Der erste Beitrag des Bandes erkundet das Verhältnis von postkolonialen Studien und Politikwissenschaft und konstatiert für weite Teile der Literatur komplementäre Defizite zwischen den beiden: Während politikwissenschaftliche Arbeit sich oft durch die gründliche empirische Darstellung politischer Prozesse, Institutionen und Akteure auszeichnen, lassen sich in Teilen Argumentationsmuster auffinden, die in deutlicher Kontinuität zum Kolonialismus stehen. Andererseits weisen einige für diese Kontinuitäten sensible postkoloniale Arbeiten Schwächen in der gründlichen Behandlung politikwissenschaftlicher Gegenstandsbereiche auf. Der Teil zur Politischen Theorie mit dem programmatischen Titel „Europa provinzialisieren“ (Chakrabarty 2002) wird eröffnet durch einen Aufsatz von Siba Grovogui (übersetzt von Franziska Müller). In einer Auseinandersetzung mit politisch-philosophischen Arbeiten zu universellen Menschenrechten und ihrem vermeintlich westlichen Charakter arbeitet er anhand einer Analyse der Haitianischen Revolution von 1791 zunächst einmal heraus, dass es selbstverständlich auch in nicht-westlichen Kulturen Vorstellungen von universellen Rechten und Normen gab, die durchaus vergleichbar sind mit dem, was heute als Menschenrechte kodifiziert ist. Darüber hinaus zeigt er jedoch auf, dass die Haitianische Revolution (im Unterschied zur Amerikanischen und zur Französischen) auf eine tatsächliche Verwirklichung universeller Menschenrechte und die Abschaffung der Sklaverei abzielte sowie die in der liberalen politischen Theorie nachrangig behandelten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ausdrücklich umfasste – auf der Grundlage der Erfahrungen ihrer früheren Versklavung betonten die HaitianerInnen das Wohlergehen von Geist, Körper und Seele sowie die Freiheit von Unterdrückung, Ausbeutung und psychischem Leiden gleichermaßen. Ina Kerners Aufsatz über Frantz Fanon demonstriert, dass dessen vorherrschende Lesart als Theoretiker der revolutionären Gewalt zentrale Aspekte seines Werks außen vor lässt. Dies belegt sie in ihrer Interpretation Fanons als postkolonialem Theoretiker durch Herausarbeitung seiner Analyse von Geschlechterver6
Ausnahmen bestätigen die Regel (siehe v.a. Chowdhry/Nair 2004, Gruffydd Jones 2006, Chandra 2013).
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hältnissen und ihrer Instrumentalisierung im Kontext des Kolonialismus, seiner Theorie rassistischer Subjektivierung und seiner explizit nicht identitätspolitischen antirassistischen Strategien, sowie seiner Konzeptionalisierung postkolonialer Gesellschaften und ihrer politischen und ökonomischen Systeme nach der Unabhängigkeit, einschließlich einer schonungslosen Kritik der nationalen Bourgeoisien. In allen drei Bereichen erreichten seine Beiträge zur Politischen Theorie ein Niveau an Differenzierung und Komplexität, das zur damaligen Zeit seinesgleichen suchte. Gewalt ist ebenfalls der Ausgangspunkt von Claudia Brunners Beitrag. Ihre Erkundung des Gewaltbegriffs in der Politikwissenschaft beginnt mit der Einsicht, dass von den vielfältigen Gewaltformen nur ein kleiner Teil wahrgenommen wird und die mit dem privilegierten Referenzpunkt des modernen europäischen Nationalstaats verknüpften Gewaltverhältnisse systematisch unsichtbar gemacht werden. Demgegenüber wäre es die Aufgabe kritischer, postkolonialer Theorie mit einem weiter gefassten Gewaltbegriff auch und gerade epistemische Gewalt zu untersuchen, also den Beitrag von Wissen zur Legitimierung und Reproduktion kolonialer und gewaltförmiger gesellschaftlicher Verhältnisse. Der zweite Teil des Bandes ist der Analyse von Geschlechterverhältnissen in der Politik gewidmet und überschrieben mit „Doppelt im Schatten“. Mit dieser Formulierung umschrieb Spivak (2008) die Stellung der indischer Frauen als gleichzeitig von Patriarchat und Kolonialismus unterdrückt. Christine M. Klapeer stellt in diesem Zusammenhang nicht nur die Verbindungslinien von Rassismus und Sexismus heraus, sondern problematisiert die Kategorie der Frau an sich, weil sie ohne Praktiken der kolonialen Rassifizierung nicht zu denken sei. Diese Verbindungslinien führen dann zur Kulturalisierung von Gewalt gegen Frauen und zur Rechtfertigung imperialer Politiken mit dem Argument der Frauenrechte, was die Autorin als zivilisatorisches Rettungsnarrativ bezeichnet. Anstatt jedoch westliche Menschenrechtspolitiken ausschließlich als epistemische Gewalt zu deuten, interpretiert die Autorin sie mit Spivak als „befähigende Verletzung“, über deren Legitimität in einer Forschung jenseits von Gewissheiten nur situativ bzw. kontextspezifisch geurteilt werden kann. Rirhandu Mageza-Barthel behandelt Geschlechtergerechtigkeit in Ruanda nach dem Völkermord. Sie illustriert das komplexe Verhältnis von nationalen und internationalen Rechtsnormen in der gerichtlichen Aufarbeitung der Verbrechen und stellt v.a. die Rolle von Frauenbewegungen heraus. Diesen gelang es, in der Umsetzung der westlich geprägten Genozidrechtsnorm auf nationaler Ebene durch ihre politischen Interventionen ergänzende Straftatbestände zu verankern, die eine Ahndung sexualisierter Gewalt und somit wichtige Gerichtsurteile auf dieser Grundlage ermöglichten.
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Dass Geschlechtergerechtigkeit nicht immer mit der Förderung von Frauen identisch sein muss, illustriert Christine Löw. In ihrer Untersuchung der Auswirkungen des indischen Forest Rights Act auf Adivasifrauen arbeitet sie heraus, dass die staatliche Gleichstellungspolitik mit dem Fokus auf individuelle Besitztitel für Frauen letztlich die Situation dieser Gruppe und ihren Zugang zu Land verschlechtert hat, weil gleichzeitig mit der Bewilligung der individuellen Rechte die gemeinschaftlichen Landrechte der Indigenen massiv geschwächt wurden. Hier erweist sich der Nutzen einer postkolonial-feministischen Perspektive, die die Fallstricke eines westlich-liberalen Feminismus aufzeigt. Im nächsten Teil mit dem Titel „Die Anderen im Inneren“ wird postkoloniale Kritik auf innerpolitische und -gesellschaftliche Phänomene angewandt, auf die Konstruktion von Gruppen innerhalb Deutschlands als anders, die ihre Ungleichbehandlung legitimiert – unabhängig von derStaatsangehörigkeit der betreffenden Personen. Kien Nghi Ha untersucht in diesem Kontext die Arbeitsmigrationspolitik der BRD und die Behandlung nicht-deutscher Zuwandernder. Im historischen Vergleich mit der selten thematisierten Migrationspolitik des wilhelminischen Kolonialkaiserreiches arbeitet er heraus, dass zentrale Prinzipien der heutigen Migrationsgesetzgebung wie Inländerprimat (Deutsche haben Vorrechte auf dem Arbeitsmarkt) und Legitimationszwang (Aufenthalt wird nur für die Dauer der Beschäftigung gestattet) bis weit vor die Gründung der BRD zurückreichen. Arbeitsmarktpolitik erscheint vor diesem Hintergrund als Inversion kolonialer Expansionsformen, getragen von ähnlich anmutenden „nationalen Interessen“ gegenüber den Anderen. Zwar sind letztere im Rahmen der europäischen Integration nicht mehr z.B. polnische und griechische Einwandernde, doch solche aus postkolonialen Staaten – und gerade aus muslimischen Ländern – sehen sich mit zunehmenden Kontrollen und Zwängen konfrontiert. Floris Biskamp analysiert das in diesem Zusammenhang sehr relevante öffentliche Sprechen über Andere im Hinblick auf die Debatten um den Islam in Deutschland und den Beitrag, den postkoloniale Kritik hier zu leisten vermag. Er arbeitet heraus, dass dieser über Habermasʼ Theorie der Öffentlichkeit und die Vorurteilsforschung hinausgehende Beitrag darin besteht, Rassismus als (auch diskursiv hergestelltes) soziales Verhältnis zu thematisieren und Sprechakte nicht allein aufgrund ihrer korrekten oder falschen Darstellung zu beurteilen. Allerdings warnt er gleichermaßen vor einem Umschlag berechtigter Rassismuskritik in eine Verdachtshermeneutik, die jedes Sprechen über den Islam per se als rassistisch qualifiziert und entwirft Kriterien, wie diese Kritik sinnvolle Unterscheidungskriterien der Kritischen Theorie aufnehmen könnte. Mit einer postkolonialen Perspektive auf die Aufarbeitung der NSU-Affäre in Deutschland befasst sich der Beitrag von Bilgin Ayata. Gestützt auf die Ana-
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lyseinstrumente von Michel-Rolph Trouillot untersucht sie, wie in der polizeilichen Ermittlung und ihrer medialen Darstellung, aber auch in den politischen Untersuchungsausschüssen ein hegemoniales Narrativ der NSU-Affäre aufrechterhalten wird. Dies kann jedoch nur geschehen, indem den Elementen dieses Narrativs – der Fall NSU ist abgeschlossen, die Haupttäter haben Selbstmord begangen, die polizeiliche Ermittlung war von Pannen geprägt – entgegen stehende Fakten systematisch ausgeschlossen werden. Im nächsten Teil mit dem Titel „Befrieden und Entwickeln“ illustrieren die Artikel das Potenzial postkolonialer Ansätze zur Analyse internationaler Politik. Franziska Müller gibt einen Überblick über postkoloniale Ansätze in den Internationalen Beziehungen. Sie arbeitet heraus, dass die Kategorien und Konzepte in dieser politikwissenschaftlichen Subdisziplin eurozentrisch geprägt sind. Nichtwestliche politische Gemeinschaften tauchen dabei nicht als Akteure auf und postkoloniale Formen von Staatlichkeit werden allenfalls als im Hinblick auf die europäisch-nordamerikanische Norm defizitär dargestellt. Als dekoloniale Forschungsstrategie lotet sie unter anderem die Möglichkeiten einer Dezentrierung des Souveränitätsbegriffs und – in Anlehnung an Ling – eines Modells multipler Weltordnungsentwürfe aus. Bettina Engels skizziert postkoloniale Ansätze in der Friedens- und Konfliktforschung. Sie unterscheidet dabei zwischen Arbeiten, die „postkolonial“ lediglich als räumlich-historische Kategorie verstehen, Beiträgen, die in der Auseinandersetzung mit Krieg und Sicherheit auf postkoloniale Theorien Bezug nehmen, und am Beispiel des Konflikts in Côte d’Ivoire zeigt sie auf, wie in gängigen medialen Darstellungen koloniale Stereotype des rückständigen Anderen als Erklärungsmodelle eine Analyse politökonomischer Kriegsursachen ersetzen. Chandra-Milena Danielzik und Daniel Bendix gehen in ihrem Beitrag „mit dem postkolonialen Pflug“ über zwei entwicklungspolitische Felder, namentlich Tourismus- und reproduktive Gesundheitspolitik. Sie illustrieren mit Mitteln der Archäologie und Genealogie das Ineinandergreifen von Rassialisierungsprozessen und ökonomischen Rationalitäten: im Tourismus durch die Konstruktion von vormoderner Authentizität, die durch ihre Inwertsetzung Wirtschaftswachstum und Modernisierung schaffen soll, in der reproduktiven Gesundheitspolitik durch die Konstruktion rückständiger Subjekte, denen durch Projekte der Entwicklungszusammenarbeit Verhütungswünsche anzuerziehen sind, die sich mit den Interessen der deutschen Pharmaindustrie decken. Im letzten Teil geht es um „Demokratie und Widerstand in einer postkolonialen Welt“ bzw. um die Analyse politischer Systeme aus einer postkolonialen Perspektive. Shalini Randeria befasst sich am Beispiel Indiens mit der Handlungsfähigkeit subalterner Staaten und zivilgesellschaftlicher Akteure in einer durch
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Rechtspluralismus und sich überlagernde Souveränitäten gekennzeichneten Architektur der Global Governance. Ihre These ist, dass Indien den paradigmatischen Fall eines „listigen“ Staates darstellt, der der eigenen Bevölkerung Ohnmacht gegenüber Prozessen und Institutionen der Globalisierung vorgaukelt, um die Verantwortung für ihre negativen Seiten abzuwälzen, sich aber gegen sie durchaus zur Wehr zu setzen weiß, wenn national-kapitalistische Interessen bedroht sind. Dies stellt oppositionelle zivilgesellschaftliche Akteure vor neue Herausforderungen. Tanja Ernst analysiert den Prozess der Demokratisierung und Dekolonisierung des politischen Systems in Bolivien. In ihrer Auseinandersetzung mit den Verfassungsreformen und dem dadurch ermöglichten Autonomieprozess verdeutlicht sie die basisdemokratischen Alternativen zum westlichen Demokratiemodell ebenso wie die damit verbundene Wiederaneignung und Neukonstruktion indigener Traditionen, die nur aus einer essentialisierenden Perspektive als „nicht authentisch“ kritisiert werden können. Allerdings zeigt sie auch die beträchtlichen Hindernisse auf, mit denen sich der Autonomieprozess konfrontiert sieht. Kwesi Aikins untersucht die Rolle indigener politischer Autoritäten im politischen System Ghanas. Dabei arbeitet er nicht nur heraus, dass sich diese nicht auf funktionale Äquivalente westlicher Systeme reduzieren lassen, sondern auch, wie das gerade im Hinblick auf Geschlechterrollen und Kontrollmechanismen differenzierte System im Kolonialismus patriarchal verkürzt wurde. Im Verfassungsreformprozess zeigt sich, dass viele GhanaerInnen in diesen indigenen Institutionen (nicht unbedingt in den AmtsträgerInnen selbst) ein wichtiges Korrektiv gegenüber dem System der Parteienkonkurrenz sehen, ihre Unterstützung also keineswegs traditionell-konservativ begründet ist, sondern Schwächen des westlichen politischen Modells identifiziert. In ihrem Beitrag zu Afghanistan befasst sich Mechthild Exo mit Organisationen des zivilgesellschaftlichen Widerstands gegen neokoloniale Militärinterventionen und vom Westen autorisierte Scheindemokratie einerseits, gegen Warlords und Islamisten andererseits. Eine Wahrnehmung dieser Kämpfe und dieser Stimmen bedingt jedoch auch eine Hinterfragung der bestehenden Strukturen der Wissensproduktion, die diese marginalisiert. María do Mar Castro Varela und Carolina Tamayo Rojas beschreiben die widerständigen politischen und ökonomischen Praktiken indigener Gemeinschaften im Nordandenraum vor dem Hintergrund staatstheoretischer Überlegungen und speziell Scotts These, dass eine Staatsflucht in der heutigen Welt wenig Zukunftsperspektive habe. Ohne diese Praktiken wie im kolonialen Diskurs einerseits als rückständige Relikte zu deuten oder andererseits romantisierend zu verklären, fragen sie, was wir von diesen alternativen Denk- und Lebensweisen in der Auseinandersetzung mit dem neoliberalen Kapitalismus lernen können.
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Die vielfältigen hier versammelten Aufsätze eint das Ziel, bestehende politische Konzepte, Akteure und Prozesse auf ihren kolonialen Gehalt, auf ihre Nähe zu kolonialen Denkmustern und Strukturen zu befragen – auf dass uns diese Muster und Strukturen zukünftig ebenso absurd erscheinen, wie das Argument, hier bei uns in Zhengistan seien zwar alle Menschen gleich, aber manche eben gleicher als Andere.
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Postkoloniale Studien und Politikwissenschaft Komplementäre Defizite und ein Forschungsprogramm 1 A RAM Z IAI
Dieser Beitrag befasst sich mit dem Verhältnis von Postkolonialen Studien und Politikwissenschaft und plädiert für einen verstärkten Dialog zwischen beiden Forschungstraditionen. In ihm möchte ich anhand von Beispielen die These illustrieren, dass Postkoloniale Studien und Politikwissenschaft von komplementären Defiziten geprägt sind: Politikwissenschaftliche Arbeiten weisen oft wenig Sensibilität für postkoloniale Fragestellungen auf, während die Auseinandersetzung mit politischen Institutionen und Prozessen in postkolonialen Arbeiten oft eher oberflächlich und unsystematisch ist (Abschnitt 1). Daran anschließend möchte ich ein Forschungsprogramm skizzieren, das auf der Operationalisierung zentraler postkolonialer Konzepte beruht, die auf unterschiedliche Bereiche der Politikwissenschaft angewandt werden können (Abschnitt 2).
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Ich vertrete die These, dass die Verknüpfung von postkolonialen Studien und Politikwissenschaft vielversprechend ist, da in den allermeisten Arbeiten der beiden Bereiche Defizite zu finden sind, die in dem jeweils anderen nicht vorliegen, ihre Stärken und Schwächen daher komplementär sind. Während die Stärke politikwissenschaftlicher Arbeiten im Bereich der Nord-Süd Beziehungen in der systematischen und gründlichen Durchdringung ihrer empirischen Gegenstand1
Der Beitrag ist eine stark gekürzte und überarbeitete Version eines in der Politischen Vierteljahresschrift erschienenen Artikels (Ziai 2012).
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bereiche liegt, ist eine Schwäche in der mangelnden Sensibilität für die Relevanz des Kolonialismus und den Einfluss kolonialer Denkmuster auch lange nach der formalen Dekolonisierung auszumachen. Umgekehrt ist die theoretisch fundierte Untersuchung kolonialer Kontinuitäten die zentrale Stärke postkolonialer Arbeiten, die jedoch bei der Untersuchung politischer Institutionen und Prozesse oftmals unsystematisch und oberflächlich vorgehen. Selbstverständlich gibt es in beiden Bereichen Ausnahmen (siehe Ziai 2012). Da diese Ausnahmen im Bereich der Postkolonialen Studien häufiger anzutreffen sind als in der Politikwissenschaft, ist die Diagnose eines komplementären Defizits leicht asymmetrisch: Defizite sind in beiden Bereichen vorhanden, erscheinen im zweiten jedoch gravierender als im ersten. Als grundlegende These wird diese Behauptung in diesem Abschnitt exemplarisch durch einige Arbeiten aus den Bereichen illustriert. Für die Politikwissenschaft untersuche ich daher einige Texte von Herfried Münkler und Ulrich Menzel, für die postkolonialen Studien von Nikita Dhawan, Cheryl McEwan und Teivo Teivainen. Es sei in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass die Kritikpunkte nicht allein die hier behandelten AutorInnen betreffen, diese sind lediglich ausgewählt worden, um die Tendenzen der von ihnen hier repräsentierten wissenschaftlichen Bereiche an einigen ihrer prominenten und verdienstvollen VertreterInnen aufzuzeigen. Es geht daher an dieser Stelle nicht um Kritik an ihren vermeintlichen Versäumnissen, sondern um die Frage, welche Schwächen in der Politikwissenschaft und in den Postkolonialen Studien generell auffindbar sind, und wie ihre Stärken (die sich gerade auch in den Arbeiten der zitierten AutorInnen manifestieren) besser zur Geltung gebracht werden können. Neue Kriege und alte Dichotomien Herfried Münkler ist sicher einer der bekanntesten deutschen Politikwissenschaftler und Professor für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität Berlin. Sein Buch Die neuen Kriege von 2002 war nicht nur im Buchhandel ein Bestseller, sondern wird auch von der Bundeszentrale für politische Bildung vertrieben und kann als ein einflussreiches und weit verbreitetes Standardwerk in der deutschsprachigen Debatte zu Frieden und Konflikten gelten, das auch in vielen Lehrveranstaltungen Erwähnung findet. Grundlegend ist in diesem Buch die Gegenüberstellung vom „klassischen Staatenkrieg“ (2002: 7) und den „neuen Kriegen“ (9), die „gegen den klassischen Staatenkrieg abgegrenzt“ werden müssen. Die „Besonderheiten der neuen Kriege“ sieht Münkler demnach in der „Entstaatlichung bzw. Privatisierung kriegerischer Gewalt“, der „Asymmetrisierung kriegerischer Gewalt“ und der „Autonomisierung vordem militärisch eingebundener Gewaltformen“ (10-11).
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Im weiteren Verlauf der Argumentation wird deutlich, dass die Beschreibung der hier gegenübergestellten Gewaltformen nicht nur verschiedenen Epochen, sondern auch geographischen Regionen bzw. sogar Kulturen zugeordnet wird. Ursächlich verantwortlich für die neuen Kriege seien „der Mangel an integren und korruptionsresistenten Eliten“ (16) und der „Tribalismus sozial wie kulturell unzureichend integrierter Gesellschaften“ (19), die zu gescheiterten Staatsbildungsprozessen geführt haben. Die Diagnose legt nahe, dass die Menschen in den entsprechenden Ländern anscheinend nicht in der Lage sind, sich auf eine verantwortungsvolle und demokratische Weise selbst zu regieren – was, dies sei bereits an dieser Stelle angemerkt, die zentrale Legitimation kolonialer Herrschaft war (vgl. Doty 1996). Münkler beschreibt einen „Gegensatz“ hinsichtlich ihrer Begrenztheit und v.a. Regelhaftigkeit zwischen den europäischen Kriegen der frühen Neuzeit und den außereuropäischen neuen Kriegen auf der einen und „den Staatenkriegen, wie sie in Europa von der Mitte des 17. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts geführt wurden“ (24) auf der anderen Seite. Gerade die hier etablierte Unterscheidung zwischen Soldaten und Zivilbevölkerung werde in den neuen Kriegen jedoch missachtet: Letztere werde „durch exzessive Gewalt eingeschüchtert“ (29), zentrales Mittel des Krieges sei „nicht länger die Entscheidungsschlacht, sondern das Massaker“ (29), an der Tagesordnung seien nicht nur Raub und Plünderung, sondern „beinahe alltäglich gewordene Vergewaltigungsorgien“, „Verstümmelungen der Opfer“ und die „Trophäisierung menschlicher Körperteile“ (30). Münkler unterscheidet nicht nur zwischen zwei verschiedenen Arten der Kriegsführung, die er einerseits mit Westeuropa und Nordamerika und andererseits mit der Peripherie assoziiert, sondern er beschreibt die eine Form als gekennzeichnet durch Regeln und Begrenzungen der Gewalt – man könnte sagen als „zivilisiert“ – und die andere als entgrenzt, irrational und unmenschlich – als „barbarisch“. Auch wenn er die Begriffe nicht benutzt, seine Beschreibungen legen diese Bezeichnungen unweigerlich nahe. Die diese Zweiteilung widerlegenden Praktiken im Zweiten und Ersten Weltkrieg werden von Münkler zwar an einer Stelle beiläufig erwähnt, jedoch spricht er weiterhin von „unserer Vorstellung“ des Krieges (24), wobei er sich offenbar auf eine westeuropäischnordamerikanische Kultur bezieht, da in den neuen Kriegen in der Peripherie die Gewalt laut Münkler in den Händen von Akteuren liegt, denen diese Vorstellungen fremd sind (11). Münklers Thesen zu den neuen Kriegen sind in der politikwissenschaftlichen Debatte zwar oft und durchaus fundiert kritisiert worden (vgl. Schlichte 2002, 2006, Chojnacki 2004, Kahl/Teusch 2004, Daase 2003), aber erst aus einer post-
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kolonialen Perspektive, die nach der Kontinuität kolonialer Denkmuster fragt, wird die gesamte Tragweite der argumentativen Verkürzungen und blinden Flecken deutlich: Mit keiner Silbe geht Münkler in diesem Kontext auf die verbrecherische Kriegsführung und die exzessive Gewalt gegen die Zivilbevölkerung bis hin zum Völkermord ein, die von Seiten der europäischen Staaten im Rahmen des Kolonialismus ausgeübt wurde (vgl. Moses/Stone 2006; Plumelle-Uribe 2004). Stattdessen wird das Bild gezeichnet, dass die europäischen Staaten nach den grausamen Staatsbildungskriegen des 17. Jahrhunderts einen Zivilisierungsprozess durchgemacht haben, der in die Haager Landkriegsordnung und die Genfer Konvention mündete, während in anderen Ländern v.a. aufgrund ihrer defizitären politischen Kultur dieser Zivilisierungsprozess nicht stattfand bzw. scheiterte. Deshalb sei dort heute eine „barbarische“ Form der Kriegführung anzutreffen ist, die mit der „zivilisierten“ Kriegführung Europas nichts mehr gemein hat. Die Ausblendung der Massaker im Kolonialismus ermöglicht die Gegenüberstellung einer „zivilisierten“ europäischen Kriegführung und einer „unzivilisierten“ nichteuropäischen. Hier wird somit auf Konstruktionen und Argumentationsmuster der kolonialen Ära (das zivilisierte Selbst vs. das barbarische Andere) zurückgegriffen. Eine Auseinandersetzung mit postkolonialen Studien hätte in diesem Kontext eine Vermeidung dieser Muster und somit eine Fokussierung der Analyse auf die tatsächlich relevanten Erklärungsfaktoren ermöglicht. Entwicklung und Treuhandschaft Das zweite Beispiel betrifft den Bereich der Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik, und hier die Schriften von Ulrich Menzel, Professor für Internationale Beziehungen an der TU Braunschweig neben Franz Nuscheler der wohl profilierteste Politikwissenschaftler in diesem Politikfeld. Seine auch heute noch als Referenz dienenden und vielzitierten Arbeiten aus den 1990er Jahren (1992, 1993) sowie sein kürzlich erschienener Beitrag in einem Lehrbuch (2010) können hier als typisch für eine breite Strömung politikwissenschaftlicher Entwicklungstheorie gelten. Auch hier sind, so die hier vertretene These, Argumentationsmuster zu finden, die eine unverkennbare Nähe zu aus der Ära des Kolonialismus bekannten, gedanklichen Konstruktionen aufweisen. Menzel definiert die Unterdisziplin der Entwicklungstheorie wie folgt: „Ich verstehe unter Entwicklungstheorie Aussagen, mit deren Hilfe […] begründet wird, warum es in den Industriegesellschaften Westeuropas, Nordamerikas und Ostasiens zu Wirtschaftswachstum, Industrialisierung, sozialer Differenzierung und Mobilisierung, mentalem Wandel, Demokratisierung und Umverteilung gekommen ist (diese Prozesse nennt man Entwicklung) bzw. warum in übrigen Teilen der Welt diese Prozesse ausblei-
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ben, nur unvollständig realisiert werden oder lediglich eine Karikatur dieser Prozesse zu beobachten ist.“ (1993: 132)
Wir haben es in diesem Zitat einerseits mit einem gedanklichen Konstrukt, andererseits mit einer normativen Setzung zu tun. Das gedankliche Konstrukt identifiziert einen universellen Prozess sozialen Wandels nach dem Vorbild Westeuropas und Nordamerikas und somit eine universelle Entwicklungsskala, an deren Spitze die industrialisierten Gesellschaften stehen. Dies ist zutreffend als das „Colonizerʼs model of the world“ (Blaut 1993) und von zahlreichen Arbeiten aus dem Bereich der postkolonialen Studien (z.B. Chakrabarty 2000) und des Post-Development (z.B. Sachs 1993) als eurozentrisch kritisiert worden. Das Konstrukt negiert die Kontingenz und Heterogenität historischer Prozesse sozialen Wandels. In ihm finden sich Elemente des evolutionistischen Denkens der europäischen Sozialwissenschaften v.a. des 19. Jahrhunderts: Die Anderen sind so, wie wir früher waren, und sie werden (wenn sie sich dem Fortschritt öffnen) später so werden, wie wir jetzt sind – dies manifestiert sich bei Hegel, Marx, Spencer und Comte in ganz ähnlicher Weise (vgl. Ziai 2004). Nandy bezeichnet dies als eine „transformation of geocultural differences into historical stages“ (1992: 146), Melber spricht hier von einer „Verzeitlichung des räumlichen Nebeneinander“ (1992: 20). Menzels Darstellung sozialen Wandels ist von genau dieser eurozentrischen Sichtweise geprägt. Dieser Befund wird verstärkt, wenn wir die normative Dimension einbeziehen. Der Autor geht (wie auch nahezu die gesamte Disziplin der Entwicklungstheorie) von einer positiven normativen Konnotation von „Entwicklung“ aus. Die „weniger entwickelten“ Gesellschaften erscheinen so nicht nur als historisch rückständig, sondern als defizitär, als minderwertige Abweichung von der idealen Norm, die die eigene Gesellschaft darstellt. Damit wird aber die „gute Gesellschaft“ kurzerhand mit der „westlichen“ bzw. mit der industrialisierten, kapitalistischen, modernen, demokratischen und sozialstaatlich abgesicherten Massenkonsumgesellschaft gleichgegesetzt – ohne zu berücksichtigen, dass es möglicherweise andere Vorstellungen einer guten, lebenswerten Gesellschaft geben könnte. Oligarchischer Konsum, eine imperiale Produktionsweise (die auf der Aneignung von Rohstoffen und Arbeitskraft in anderen Weltregionen beruht) und die entmündigenden Aspekte der Formulierung universeller gesellschaftlicher Zielvorstellungen (das „Sprechen für Andere“) bleiben ganz außen vor. Diese normative Setzung der eigenen Gesellschaft als positive Norm, gegenüber der die defizitären Gesellschaften des Südens (durch „Entwicklungspolitik“) angeglichen werden müssen, verdeutlicht, dass das Projekt der „Entwicklung der
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Unterentwickelten“ eine modifizierte Weiterführung der Mission der „Zivilisierung der Unzivilisierten“ war, die sich nach dem Holocaust und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte jedoch vom kolonialen Rassismus und der damit verbundenen Behauptung der Unfähigkeit bestimmter Völker, sich selbst zu regieren, zunehmend gelöst hat. Allerdings wird diese Ablösung auch in der Entwicklungspolitik bisweilen wieder in Frage gestellt, u.a. in den Schriften Menzels. In seinen „Vorschlägen zu einer grundlegenden Neuorientierung der Nord-Süd-Politik“ (1992: 202-213) spricht er sich für „Interventionen in den Krisengebieten der Welt vonseiten der führenden Industrieländer des Westens“ aus (209). Dabei sollen „besonders bedrohte Krisenregionen […] bis auf weiteres der Treuhandschaft der Länder des Nordens“ unterstellt werden (211), verbunden mit einer entsprechenden „partiellen und zeitweisen Einschränkung der Souveränität der einheimischen Behörden“ (ebd.). Die demokratische Legitimation von entsprechenden Interventionen und Treuhandschaftsmodellen soll explizit nicht durch die UN, sondern durch „die hiesigen Parlamente“ (des Nordens) geschehen (211). Den Regierungen des Nordens wird implizit der Wille und die Fähigkeit zur selbstlosen Verwirklichung des Allgemeinwohls zugesprochen, während den Regierungen des Südens diese Eigenschaften ebenso pauschal aberkannt werden. Begründet wird dies nur mit Hinweisen auf die „korrupten Eliten“ (205) bzw. „despotischen […] Traditionen“ (220) im Süden. Dies ist jedoch ein historisch allzu bekanntes Argumentationsmuster. Auch hier hätte ein Mindestmaß an Sensibilität für postkoloniale (oder PostDevelopment-)Ansätze dazu geführt, dass sich die Diskussion auf die in dem Beitrag angesprochenen tatsächlich relevanten politischen und politikwissenschaftlichen Fragen des Verhältnisses von Menschenrechten und Souveränität, einer „Responsibility to protect“ der internationalen Gemeinschaft oder einer grundlegenden Transformation (oder gar Abschaffung) der Entwicklungszusammenarbeit fokussiert, anstatt implizit koloniale Stereotypen zu reproduzieren. Leider vergibt Menzel diese Möglichkeit durch die Abwertung dieser und ähnlicher Ansätze zu „Modethemen“ (1992: 130f, 2010: 148). Die in beiden hier behandelten Beispielen sichtbare mangelnde Sensibilität gegenüber postkolonialen Fragestellungen und Konzepten ist in der Politikwissenschaft verbreitet. Andererseits ist in den postkolonialen Studien ein komplementäres Defizit festzustellen: Diejenigen unter ihnen, die sich überhaupt mit im engeren Sinne empirischen Gegenstandsbereichen der Politikwissenschaft beschäftigen, weisen oftmals eine unsystematische oder oberflächliche Auseinan-
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dersetzung mit politischen Institutionen und Prozessen auf. Auch diese These möchte ich im Folgenden an einigen Beispielen illustrieren. Dekolonisierung des Entwicklungsdiskurses Nikita Dhawan kann als eine bekanntesten VertreterInnen der Postkolonialen Studien im deutschsprachigen Raum gelten. Sie hat das Frankfurt Research Centre for Postcolonial Studies (FRCPS) begründet und hat (zusammen mit María do Mar Castro Varela) das erste deutschsprachige Einführungsbuch in die postkolonialen Theorien verfasst (Castro Varela/Dhawan 2005), in der die verschiedenen theoretischen Ansätze wie auch die gegenüber ihnen geäußerten Kritikpunkte ebenso kompetent wie verständlich vorgestellt werden. Für eine Untersuchung der postkolonialen Studien hierzulande erscheint sie somit kaum verzichtbar. In dem ebenfalls von den beiden Autorinnen herausgegebenen Schwerpunktheft der femina politica zu feministischer postkolonialer Theorie ist auch Dhawan mit einem Beitrag zu „Dekolonisierung und Demokratisierung“ vertreten, in dem sie „eine postkolonial-feministische Analyseperspektive“ einnimmt: „um die Machtverhältnisse aufzuzeigen, die gegenwärtige Diskurse von globaler Entwicklungszusammenarbeit begleiten. Der Fokus soll hierbei auf der Frage liegen, inwiefern Entwicklungsarbeitende und die internationale Zivilgesellschaft in hegemoniale Diskurse verstrickt bleiben, während sie vorgeben, für marginale Gruppen einzutreten“ (Dhawan 2009: 54).
Diese Fragestellung wird dann in dem Beitrag über eine Auseinandersetzung mit Martha Nussbaum, Ulrich Beck, Nancy Fraser und Sheila Benhabib verfolgt, v.a. aber unter Berufung auf Gayatri Spivak, die insgesamt 33 Mal zitiert wird und deren Schriften mehr als ein Drittel des Literaturverzeichnisses ausmachen. Dhawans Argumentation ist an einigen Stellen durchaus schlüssig und erhellend, aber der zentrale Punkt ist, dass ihre Analyse des Entwicklungsdiskurses weder auf die einschlägige sozialwissenschaftliche Literatur zum Thema eingeht (z.B. Moore/Schmitz 1995, Crush 1995, Escobar 1995, Cowen/Shenton 1996, Cooper/Packard 1997, Mosse/Lewis 2005, Ziai 2006) noch in irgendeiner Form empirisch auf Dokumente der Entwicklungszusammenarbeit eingeht. Die Auseinandersetzung mit dieser Literatur und v.a. den entsprechenden Primärquellen würde ihre – oftmals durchaus nicht unberechtigte – Kritik deutlich fundierter und präziser werden lassen. So wartet die LeserIn nach der These „Die ‚Politik des Helfens‘ verdeckt ökonomische und geopolitische Interessen, wobei ‚Geschlecht und Entwicklung‘ dem globalen Norden als Alibi dient, im globalen
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Süden erneut zu intervenieren“ (Dhawan 2009: 55) vergeblich auf die empirischen Belege. Auch ihre Auseinandersetzung mit Demokratisierungsprozessen in Ländern des Südens beruht nur auf einer schmalen empirischen Basis – sie zitiert einen Artikel über die nicaraguanischen Wahlen 1990. Wiederum ist die vertretene These, dass nämlich „der Wahlprozess im globalen Süden durch die Vernachlässigung der Frage neokolonialer Abhängigkeit die Subalternität in jenem Moment reproduziert, in welchem den Subalternen scheinbar ermöglicht wird, zu sprechen“ (57), durchaus interessant und im Hinblick auf ihr Beispiel nicht unplausibel. Allerdings versäumt es die Autorin, durch die Berücksichtigung der politikwissenschaftlichen Literatur und den entsprechenden empirischen Beispielen (z.B. Gills et al. 1993, Hippler 1994, Schubert/Tetzlaff 1998, Abrahamsen 2000) ihre These zu untermauern und in der wissenschaftlichen Debatte zu verorten. Durch die wenig ausgeprägte empirische Fundierung ihrer Argumentation bestätigt Dhawan in diesem Text den altbekannten Vorwurf gegenüber den Postkolonialen Studien, sich nicht hinreichend mit materiellen Strukturen auseinanderzusetzen. Den folgenden beiden Texten ist dieser Vorwurf auf den ersten Blick kaum zu machen. Postkolonialismus und „Entwicklung“ Cheryl McEwan hat sich ebenfalls als Autorin eines Einführungsbuchs einen Namen gemacht und mit Postcolonialism and Development (2009) einen – größtenteils überaus gelungenen – Versuch vorgelegt, das Feld der Entwicklungspolitik aus einer postkolonialen Perspektive zu betrachten. Die große Beachtung, die das Buch in der wissenschaftlichen Debatte gefunden hat, die vielen positiven Rezensionen und seine zunehmende Verwendung als Lehrbuch rechtfertigen seine eingehendere Untersuchung an dieser Stelle. McEwan befasst sich in diesem an zahlreichen Stellen mit den Institutionen und Prozessen der Entwicklungspolitik und könnte daher potenziell die hier vertretene These einer mangelhaften Auseinandersetzung postkolonialer Arbeiten mit politikwissenschaftlichen Gegenstandsbereichen widerlegen. Dies ist jedoch nur zum Teil der Fall, denn die Behandlung der politischen Institutionen und Prozesse geschieht nicht immer auf eine gänzlich souveräne und überzeugende Art und Weise. Zum Teil sind gewisse Ungenauigkeiten in dieser Auseinandersetzung festzustellen: Die WTO gehört nicht wie behauptet zu den Bretton-Woods-Institutionen (129), da die auf der Bretton-WoodsKonferenz 1944 anvisierte International Trade Organisation am Veto des USCongress scheiterte – die WTO wurde erst 1995 als Resultat der Uruguay-Runde
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des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) gegründet. Die Millennium Development Goals gehen keinesfalls auf die Weltbank zurück (168), sondern auf ein Strategiepaper des Development Aid Committee der OECD von 1996. Die Proteste gegen die WTO in Seattle fanden nicht 2000 (196), sondern bereits ein Jahr früher statt. Das Weltsozialforum findet nicht ausschließlich in Porto Alegre statt (ebd.), sondern fand z.B. 2004 in Mumbai, 2007 in Nairobi, 2009 in Belém und war 2006 und 2008 dezentral organisiert. Der Human Development Index des United Nations Development Program (UNDP) misst Kaufkraft (nicht Einkommen), Schulbildung, Alphabetisierung und Lebenserwartung, aber nicht die menschliche Freiheit (91). Diese Ungenauigkeiten mögen im Einzelfall nicht allzu bedeutsam erscheinen, in ihrer Summe belegen sie jedoch einen Mangel an Sorgfalt in der Auseinandersetzung mit politischen Institutionen und Prozessen, der m.E. symptomatisch für einige postkoloniale Studien ist. Zum anderen wirft auch McEwans Argumentation im Hinblick auf diese politischen Prozesse und Institutionen bisweilen Fragen auf: wenn die „AntiGlobalisierungsproteste“ mit der postkolonialen Kritik an „Entwicklung“ in einen Topf geworfen werden (196), so werden beide recht pauschal behandelt, v.a. in der (m.E. verfehlten, siehe Ziai 2010) Gleichsetzung von Neoliberalismus und „Entwicklung“. Wenn Weltbank, IWF und WTO als „Treuhänder des modernen Zeitalters“ beschrieben werden, die die Verteilung von Ressourcen im Süden kontrollieren (81), dann unterschlägt dies die zentrale Rolle nationaler Eliten, die mit der Dekolonisierung das Mandat der Treuhandschaft übernommen haben und oftmals viel direkter an der Ausübung von Gewalt im Namen von „Entwicklung“ (auf die McEwan auch aufmerksam macht, 193) beteiligt waren. Wenn unterstellt wird, Entwicklungsinstitutionen würden sich nicht dafür interessieren, wie die Armen selbst die Armut sehen (92), dann ist es nicht ganz redlich, an dieser Stelle die diesbezügliche Befragung von 60.000 „Armen“ durch die Weltbank und die darauf aufbauende Studie „Voices of the Poor“ unerwähnt zu lassen. Auch wenn McEwans Arbeit zurecht als Meilenstein für die Darstellung und Verbreitung postkolonialer Sichtweisen in der Entwicklungsforschung gelten kann, führen die hier angeführten Kritikpunkte doch wieder zu einer Untermauerung der These des politikwissenschaftlichen Defizits vieler Postkolonialer Studien. Neokoloniale Institutionen der Weltwirtschaft Als drittes und letztes Beispiel soll eine Studie von Teivo Teivainen dienen, die in dem Sammelband Vom Imperialismus zum Empire (Randeria/Eckert 2009)
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erschienen ist. Der Band verknüpft postkoloniale Fragestellungen mit Analysen von Globalisierungsprozessen und erschließt (als Suhrkamp-Taschenbuch) ein breites Spektrum an LeserInnen für die Thematik. Teivainens Studie in diesem Band untersucht die Rolle des Internationalen Währungsfonds (IWF) in den Nord-Süd Beziehungen und befasst sich somit explizit mit einem politikwissenschaftlichen Thema, weshalb er an dieser Stelle nähere Betrachtung erfährt. Auch hier sind Teile der Argumentation durchaus spannend und überzeugend: Teivainen argumentiert, dass die Aufrechterhaltung des undemokratischen, nach Kapitalanteilen gewichteten Stimmrechtsystems des IWF durch zweierlei ermöglicht wird: einerseits durch die „Doktrin der ökonomischen Neutralität“ (2009: 107), die neoliberale wirtschaftspolitische Auflagen als unpolitische ExpertInnenratschläge konzipiert, und andererseits durch die Vorstellung vom Nationalstaat als der maßgeblichen politischen Ebene (und entsprechend von der internationalen Politik als einer Ebene, in der andere Maßstäbe gelten). Sein wichtigstes Argument jedoch betrifft die Rolle des IWF in einer globalisierten Welt, in der Machtstrukturen zunehmend auf die internationale Ebene verlagert, Mitbestimmungsmöglichkeiten jedoch nationalstaatlich begrenzt bleiben: „Diese Globalisierung der Machtstrukturen schafft, so meine These, ein globales System der Governance mit einer Anzahl von hierarchischen und autoritären Entscheidungsprozessen, die über staatliche Grenzen hinausgreifen.“ (2009: 128f) Der IWF sei in diesem Kontext aufgrund der neoliberalen Ausrichtung seiner Konditionalität ein Instrument der „Normierung und Disziplinierung der kreditnehmenden Regierungen“ (132): „Die Beziehung zwischen dem IWF und einer kreditnehmenden Regierung eines Landes der Dritten Welt ist nicht die Begegnung zweier Subjekte, die auf einem privaten Markt frei agieren können, sondern eher eine politische Knechtschaft, in der die kreditnehmende Regierung nur sehr begrenzte Handlungsfreiheit hat.“ (Ebd.)
Mithin wird hier die These einer neokolonialen Weltordnung (Ziai 2012b) oder zumindest kolonialer Kontinuitäten im Hinblick auf die Rolle des IWF vertreten. Aber auch hier sind die empirischen Belege, trotz eines interessanten Vergleichs der Situation lateinamerikanischer Schuldnerstaaten in den 1920er und 1930er Jahren mit ihrer Situation im Rahmen der Schuldenkrise seit 1982, nicht gänzlich überzeugend, und zwar aus drei Gründen: Erstens wird nicht darauf eingegangen, dass gerade im Hinblick auf das Verhältnis der großen lateinamerikanischen Schwellenländer zum IWF weitreichende Veränderungen seit den 1980er Jahren zu konstatieren sind. Argentinien und Brasilien z.B. haben ihre Kredite
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vorzeitig zurückgezahlt und unterliegen seit einigen Jahren keinerlei Auflagen des IWF. Zweitens versäumt es die Analyse, detaillierter auf die Handlungsspielräume der kreditnehmenden Regierungen einzugehen, indem von ihrer Machtlosigkeit und einer vollständigen Erfüllung der IWF-Auflagen ausgegangen wird. Empirische Studien oder der Rückgriff auf die Fachliteratur wären hier hilfreich gewesen. So hat einerseits George (1988) die massiven Drohungen seitens der Geberländer gegenüber Regierungen aufgezeigt, die eine unilaterale Begrenzung des Schuldendienstes erwogen haben. Andererseits haben Mosley et al. (1991) in einer umfassenden Studie darauf hingewiesen, dass zumindest im Hinblick auf Kredite der Weltbank Nehmerregierungen oftmals Auflagen nur teilweise oder gar nicht erfüllt haben, ohne negative Konsequenzen zu erleiden. Hier jedoch bleibt es beim altbekannten Bild des dominanten IWF, das stärker belegt werden müsste. Drittens bleiben die Transformations- oder institutionellen Lernprozesse innerhalb des IWF unberücksichtigt. Hier wäre zum einen auf die Reform der Strukturanpassungsprogramme im Rahmen der neuen Poverty Reduction and Growth Facility und ihre formelle (!) Ausrichtung auf Armutsbekämpfung, Partizipation und „ownership“ einzugehen, andererseits aber auf den Vorschlag der damaligen IWF-Vizepräsidentin Anne Krueger eines Sovereign Debt Restructuring Mechanism (SDRM), eines Staateninsolvenzverfahrens. Ein solches Verfahren ist seit langem von KritikerInnen des IWF gefordert worden, und auch wenn der SDRM-Vorschlag eine sehr viel weniger weitreichende Umstrukturierung des herrschenden Schuldenregimes und der damit verbundenen Machtverhältnisse bedeutet hätte als das von NGOs vorgeschlagene Schiedsverfahren FTAP (Fair and Transparent Arbitration Procedure), so passt diese Initiative nicht ohne weiteres in das Bild des neokolonialen IWF. Interessant ist jedoch, dass der SDRM-Vorschlag im Exekutivdirektorium nicht nur am Veto der USA, sondern auch der lateinamerikanischen Schwellenländer selbst (denen ein solches Verfahren zugute kommen sollte) scheiterte. Sie befürchteten nämlich durch dessen Einführung eine negative Reaktion der internationalen Finanzmärkte in Form eines verschärften Risikoaufschlags auf die ihnen abverlangten Zinssätze (Ziai 2012c). Offenbar ist die internationale politische Ökonomie zwar durchaus von asymmetrischen Machtverhältnissen gekennzeichnet, diese sind jedoch komplexer als das Bild der politischen Knechtschaft der Schuldnerstaaten gegenüber dem IWF. Dementsprechend kann auch in diesem Fall konstatiert werden, dass die aus einer postkolonialen Perspektive vorgenommene Analyse politischer Institutio-
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nen und Prozesse durch stärkeren Bezug auf die politikwissenschaftliche Literatur und v.a. auf systematische empirische Studien ihren Gegenstandsbereich sehr viel genauer hätte erfassen können. Die These komplementärer Defizite in der Politikwissenschaft (mangelnde Sensibilität für postkoloniale Konzepte und Fragestellungen) und den Postkolonialen Studien (unsystematische und oberflächliche Auseinandersetzung mit politischen Institutionen und Prozessen) lässt sich durch die hier angeführten Beispiele bestätigen.
ANWENDUNG POSTKOLONIALER K ONZEPTE UND F RAGESTELLUNGEN AUF EMPIRISCHE B EREICHE DER P OLITIKWISSENSCHAFT Anknüpfend an die hier dargestellten komplementären Defizite erscheint es sinnvoll, die Ansätze der Postkolonialen Studien mit der empirischen Erforschung klassischer Gegenstandsbereiche der Politikwissenschaft zu verknüpfen. Zentraler Mechanismus dieser Verknüpfung ist die systematische Anwendung postkolonialer Konzepte und Fragestellungen auf die jeweiligen Gegenstandsbereiche. Daher ist es zunächst notwendig, diese Konzepte und Fragestellungen darzustellen, bevor anschließend auf die zu untersuchenden Gegenstandsbereiche eingegangen wird. Die zentrale Fragestellung postkolonialer Ansätze ergibt sich bereits aus der Definition: Inwieweit sind Repräsentationen und Identitäten sowie damit verbundene materielle Praktiken auch nach der formellen Dekolonisierung noch durch den Prozess der Kolonialisierung geprägt? Hier handelt es sich mithin um die allgemeine Frage nach den Manifestationen von Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen kolonialer und nachkolonialer Periode. Politikwissenschaftlich relevant wird diese Frage v.a. durch ihre Anwendung auf politische Institutionen (polity), politische Prozesse (politics) und konkrete Politikinhalte (policies). Weitere, präzisere Fragestellungen ergeben sich aus den Konzepten postkolonialer Theorien, auf die genauer einzugehen sein wird. Als wichtigste Konzepte der postkolonialen Theorien können m.E. die folgenden identifiziert werden: Orientalismus und Othering, Subalternität und Repräsentation, Hybridität, Provinzialisierung Europas. Die vier vorgestellten Konzepte sind in der postkolonialen Debatte mit einer Reihe von Kritikpunkten konfrontiert worden (für das Konzept des Orientalismus siehe z.B. Porter 1983; Ahmad 1992; Bhabha 1994:
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101-108; Loomba 1998: 43-51; Young 2001: 383-394; Frank 2004; Castro Varela/ Dhawan 2005: 29-54). Diese werden im vorliegenden Forschungsprogramm jedoch v.a. dann relevant, wenn sie sich auch in der empirischen Anwendung der Konzepte wiederfinden. Einige dieser Kritikpunkte können bereits durch Dialog und Interaktion zwischen den verschiedenen Konzepten angegangen werden. Beispielsweise wurde dem Konzept des Orientalismus seine binäre Logik vorgeworfen, die unterschiedliche Unterdrückungsverhältnisse jenseits des Kolonialismus nicht zu erfassen imstande scheint. Durch die gleichzeitige Anwendung des Subalternitätskonzepts wird jedoch ein Bewusstsein über die Mehrdimensionalität von Unterdrückungsverhältnissen gewährleistet, durch das Konzept der Hybridität eines über die Grenzen herrschender Diskurse und die Handlungsfähigkeit der Kolonisierten. Orientalismus und Othering Wenn wir von Saids konkretem Beispiel (Darstellung des Orients v.a. in der britischen und französischen Literatur) abstrahieren, können wir das Konzept des Orientalismus als die Wissensproduktion über die kulturell Anderen definieren (die ontologische Unterscheidung manifestiert sich nach der Diskreditierung des Rassendenkens überwiegend kulturell), die der Definition des eigenen Selbst dient und – dies ist v.a. für die Politikwissenschaft relevant – politische Ansprüche oder Ausschlüsse ermöglicht. Allgemein wird dies in den Kulturwissenschaften als „Othering“ bezeichnet – die Konstruktion eines Fremden, das als negative Projektionsfläche zur (Re-)Produktion einer positiven eigenen Identität dient. Reuter (2002) übersetzt Othering treffend mit „VerAnderung“. Diese Art der Wissensproduktion ist im Kolonialismus quasi omnipräsent gewesen und begegnet uns auch heute noch vielerorts. Stuart Hall hat im Anschluss an Said und Todorov (1999) herausgearbeitet, dass auch in der kolonialen Expansion Europas jenseits des Orients die Einordnung des Nicht-Westens in ein dichotomes, hierarchisches Repräsentationssystem zur Konstruktion der Identität des Westens als zivilisiert, rational, diszipliniert, überlegen, usw. gedient hat (Hall 1994, siehe auch Melber 1992 und Nandy 2008). Von feministischer Seite ist zurecht darauf hingewiesen worden, dass diese dichotomen Zuschreibungen eng verbunden mit den Binäroppositionen maskulin-feminin und Kultur-Natur sind (z.B. Peterson 2003: 36). Da es beim Orientalismus und dem abstrakteren, übergeordneten Othering um die Frage der Darstellung des Fremden und die damit verbundene Autorität geht und die Stimme der „VerAnderten“ nicht gehört und ihre mögliche Selbst-
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darstellung negiert wird, sind die Konzepte eng verknüpft mit den Fragen nach Subalternität und Repräsentation. Subalternität und Repräsentation Um die Konzepte Spivaks für Analysen politischer Strukturen und Phänomene produktiv anzuwenden, müssen wir uns folgendes vergegenwärtigen: Subalternität ist positional sowie mehrdimensional und verknüpft mit der unzureichenden Möglichkeit und Fähigkeit zur Selbstrepräsentation sowohl im symbolischen als auch im politischen Sinn. Die Konzepte anzuwenden hieße also zum einen nach der Positionierung eines Akteurs entlang der Unterdrückungslinien von Rasse, Klasse und Geschlecht zu fragen, nach seiner Subalternität in unterschiedlichen Kontexten. Zum anderen hieße es aber auch, die Frage nach der Handlungsfähigkeit der Subalternen zu stellen, wobei hier die Bedingungen, Praktiken und Hindernisse ihrer politischen Artikulation und Repräsentation zu analysieren sind, ohne einerseits auf die Autonomie authentischer Subjekte oder andererseits auf die Allmacht manipulativer Diskurse zu rekurrieren. Es geht demnach erstens darum, wer in welcher Hinsicht als subaltern bezeichnet werden kann und zweitens nicht nur darum, ob die Subalternen sprechen, sondern auch darum, wie (unter dem Einfluss welcher Diskurse) sie es tun, ob und wie (gefiltert durch welche Wahrnehmungsmuster und Strukturen der Öffentlichkeit) sie gehört werden, und ob und wie (abhängig von gesellschaftlichen Kräftekonstellationen) ihre Artikulationen politisch wirksam werden – oder eben nicht. Wenn die Frage nach der Handlungsfähigkeit der Subalternen gestellt wird, so ist dies bereits eine gewisse Abkehr von der Vorstellung, die Kolonialisierung sei ein Prozess gewesen, in dem die Kolonisierenden aktiv und die Kolonisierten gänzlich passiv waren. Diese Abkehr stellt die Grundlage von Bhabhas Konzept der Hybridität dar. Hybridität Bhabha verdeutlicht mit seinem Konzept, dass der Prozess der Kolonialisierung sowohl das kolonisierende Selbst als auch das kolonisierte Andere transformiert und binäre Zuschreibungen, welche die aktive Rolle in diesem Prozess nur der einen Seite zuweisen, verfehlt sind. Wenn das Konzept der Hybridität nun produktiv angewendet werden soll, ist es allgemeiner und abstrakter zu fassen als eine Strategie der Detotalisierung von Herrschaft. Diese lässt sich in dreierlei Fragestellungen fassen: die Frage nach den Grenzen und Instabilitäten von Herrschaft, die Frage nach den nicht-intendierten Effekten von Machtausübung, und die Frage nach der subversiven Aneignung und Verfremdung von herrschenden
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Diskursen. In dieser Hinsicht stellt es eine notwendige und sinnvolle Ergänzung der Konzepte von Orientalismus und Othering dar: während diese die Konstruktion des Anderen im Diskurs und die damit einhergehende Prägung von Identitäten untersuchen, vertritt das Konzept der Hybridität die These, dass solche Konstruktionen und Prägungen keineswegs einheitlich und total sind, dass es durch die Übertragung in verschiedene lokale Kontexte stets zu Bedeutungsverschiebungen und Aneignungsprozessen kommt, dass Widerstand auch in der Form einer bestimmten Art der Unterwerfung vorkommen kann, und dass Herrschaft nie so bruchlos und stabil ist, wie sie vorgibt. Provinzialisierung Europas Wenn es um eine Anwendung von Chakrabartys Konzept der Provinzialisierung Europas (2002) geht, so lässt sich der Imperativ formulieren, den Eurozentrismus bestehender Kategorien der Sozialwissenschaften, bzw. allgemeiner formuliert die Kontingenz, Perspektivität und Partikularität vermeintlich universeller Begriffe herauszuarbeiten, um Raum für alternative Konstruktionen und Praktiken zu schaffen. Dabei darf es jedoch gerade nicht um einen Antimodernismus oder eine pauschale Zurückweisung der westlichen Kultur unter Bezug auf konstruierte und essentialisierte eigene Traditionen oder Kulturen gehen. Zumindest implizit wird mit dem Konzept der Provinzialisierung Europas ein Kernanliegen der meisten postkolonialen Arbeiten formuliert: darauf aufmerksam zu machen, dass die in den Sozialwissenschaften vorherrschenden Sichtweisen i.d.R. nicht einfach neutral, wissenschaftlich und kulturunabhängig sind, mithin nach ihrer westlichen Prägung und der Möglichkeit alternativer, nicht eurozentrischer Wissensformen zu fragen. Wie sind diese Fragestellungen nun konkret auf politikwissenschaftliche Gegenstandsbereiche anzuwenden? Für eine ausführliche Darstellung entsprechender Forschungspraxis fehlt hier der Raum. Einige allgemeine Anmerkungen sind jedoch an dieser Stelle möglich: Hinsichtlich der Methoden der postkolonialen Politikforschung sind eingedenk der oben formulierten Konzepte zwei Schwerpunkte zu setzen. Ein methodischer Schwerpunkt liegt hierbei auf der Analyse der wechselseitigen Konstituierung von Identitäten, Repräsentationssystemen und politischen Praktiken und Institutionen (vgl. Peterson 2003). Ein anderer Schwerpunkt besteht in der unverzichtbaren Berücksichtigung der Artikulationen der Betroffenen, ohne sie dabei jedoch als authentische Stimme zu verklären. Aus postkolonialer Perspektive ist eine dialogische Forschung anzustreben, in der Subjekte im Süden nicht Objekte, sondern KoproduzentInnen des Wissens sind. Dies impliziert zum einen eine Forschungspraxis, die nicht nur die Rolle
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der Forschenden reflektiert, sondern auch Raum lässt für die Intervention der anderen beteiligten Personen in die Forschungssituation (vgl. Smith 2012, Ploder 2009). Zum anderen impliziert es, die Ergebnisse der Forschung den an ihrer Generierung beteiligten Gruppen zu präsentieren und mit ihnen zu diskutieren. Davon abgesehen bedient sich die postkoloniale Politikforschung des üblichen Methodenrepertoires primär der qualitativen Sozialforschung (v.a. Interviews, teilnehmende Beobachtung, oral history für die Datenerhebung, v.a. hermeneutische Inhalts- und Diskursanalyse für die Datenanalyse). Quantitative Methoden können jedoch auch eingesetzt werden, z.B. im Rahmen der Analyse größerer Textcorpora oder im Hinblick auf ökonomische Fragen. Vier Gegenstandsbereiche der Politikwissenschaft lassen sich als für eine postkoloniale Analyse naheliegend identifizieren, da sie mit nachkolonialen Gesellschaften oder mit Nord-Süd Beziehungen befasst sind. Folgende Forschungsfragen skizzieren mögliche Konturen einer postkolonialen Politikforschung in diesem Bereich: Entwicklungszusammenarbeit und Entwicklungspolitik Hier wäre zu fragen, inwiefern die Wahrnehmung von Menschen im Süden durch Akteure der EZ immer noch von kolonialen Stereotypen geprägt ist bzw. inwiefern sich diese Wahrnehmung durch die Prinzipien der Pariser Deklaration (wie z.B. ownership) verändert. Wo werden Hierarchien gegenüber „zu Entwickelnden“ mit der vermeintlichen Überlegenheit technischen Wissens und eines „fortschrittlicheren“ Gesellschaftsmodells gerechtfertigt, und inwieweit sind hier auch Subjekte aus dem Süden die Akteure? Sind Good Governance Auflagen in der EZ menschenrechtlich geboten oder „neokoloniale“ Eingriffe in die Souveränität ehemaliger Kolonien? Warum wird das eurozentrische Konstrukt der „Entwicklung“ weiter reproduziert und wie sähen Alternativen dazu aus? Lässt sich im Anschluss an eine entsprechende konzeptionelle „Provinzialisierung Europas“ eine neue universelle Norm positiver Gesellschaftsveränderung finden oder müssen solche Normen lokal sein? Wie manifestiert sich der Ethnozentrismus neuer Geberländer wie China? Internationale politische Ökonomie und global economic governance Wie verändern sich Wahrnehmungsmuster des Südens durch Diskontinuitäten in der internationalen Arbeitsteilung, Finanzkrisen oder den Aufstieg der Chinesischen Volkswirtschaft? Wird die ungleiche Stimmenverteilung in den BrettonWoods-Institutionen unter Rückgriff auf Konstruktionen des Anderen gerecht-
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fertigt? Hat sich die Praxis von Weltbank und IWF gegenüber Subalternen durch den gestiegenen Anteil ihres Personals aus ehemaligen Kolonien oder durch die partizipative Umgestaltung der Strukturanpassungsprogramme verändert? Wo dienen altbewährte Stereotype zur Erklärung von ökonomischer Ungleichheit im Weltmaßstab? Inwiefern sind die WTO-Regeln vergleichbar mit dem „Freihandelsimperialismus“ des Britischen Empire? Und im Gegenzug: Inwiefern dienen Vorwürfe des „Neokolonialismus“ nationalistischen Regierungen im Süden als Legitimationsressource oder Ausweichmanöver gegenüber Forderungen nach Sozialstandards? Friedens- und Konfliktforschung und Sicherheitspolitik Lassen sich in den Begründungen für „humanitäre Interventionen“ und „neuen Protektorate“ erneut koloniale Argumentationsmuster auffinden? Der von Spivak (2008) als Standardbegründung identifizierte Satz „white men saving brown women from brown men“ war z.B. durchaus relevant in den Debatten um den Afghanistan-Krieg. Inwiefern spielen z.B. Stereotypen der „orientalischen Despotie“ in Fragen der Weiterverbreitung von Atomwaffen hinein? Wie ist der Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen Gefährlichkeit von Sprengköpfen und der Kultur ihrer Besitzer? Haben politische Entscheidungen der Kolonialherrschaft und damit verknüpfte Identitätsprägungen auch heute noch Auswirkungen auf interne Konflikte in nachkolonialen Gesellschaften? Wie ermöglicht die Konstruktion der „gefährlichen Anderen“ die Herausbildung einer militanten christlich-europäischen Identität bei bestimmten politischen Gruppen? Migration und Migrationspolitik Prozesse des Othering gegenüber MigrantInnen sind in ihrer Dynamik zu untersuchen, beispielsweise wenn neuerdings im Rahmen der Einbürgerung Bekenntnisse zur Akzeptanz von Homosexualtät verlangt werden. Welche Arten von Migration und welche MigrantInnen werden als Bedrohung wahrgenommen, welche als wirtschaftliche Notwendigkeit für „uns“? Lässt sich Arbeitsmarktpolitik gegenüber MigrantInnen als „Inversion kolonialer Expansionsformen“ (Ha) interpretieren und ermöglicht Othering intensivierte Aneignung von Produktivkraft? Inwiefern repräsentieren migrantische Organisationen die Subalternen? Wo werden Konstruktionen des migrantischen Anderen von Betroffenen angeeignet und umgedeutet (z.B. „Kanak Attak“)? Inwiefern werden Praktiken der Migrationssteuerung durch migrantische Akteure unterlaufen („Autonomie der Migration“)?
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Dies sind nur wenige Beispiele für Forschungsfragen, die sich aus der Anwendung postkolonialer Ansätze auf politikwissenschaftliche Gegenstandsbereiche ergeben können. Auch sie untermauern m.E. folgendes Fazit: Die innovativen theoretischen Ansätze der Postkolonialen Studien würden von einer stärkeren Verknüpfung mit systematischer empirischer Politikforschung ebenso profitieren wie die erwähnten Teilbereiche der Politikwissenschaft. Die skizzierte Vorgehensweise einer Anwendung postkolonialer Analysestrategien auf diese Gegenstandsbereiche stellt somit, so die hier vertretene These, ein produktives und innovatives Forschungsprogramm dar.
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Europa provinzialisieren: Politische Theorie
Geist, Körper und Mut Elemente eines postkolonialen Menschenrechtsdiskurses 1 S IBA N’Z ATIOULA G ROVOGUI
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GIBT KEINE GENETISCHE
Ü BERLEGENHEIT
Der Menschenrechtsdiskurs ist für politische Aktivist_innen wie Politiker_innen immer attraktiver geworden, da diese ihn als Instrument gegen die Ausbreitung politischer Gewalt betrachten. Doch dem Anspruch, universal gültige Standards zu setzen, steht auch Skepsis hinsichtlich der Gültigkeit des Menschenrechtskonzeptes selbst gegenüber. Selbst als die Akteure der Französischen Revolution die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ausriefen, verwarf Jeremy Bentham die ihr zugrunde liegenden naturrechtlichen Vorstellung als „simple […] rhetorical nonsense, nonsense built upon stilts“ (zit. nach Sen 2004: 316). Heute entspringt die Skepsis hinsichtlich des Menschenrechtskonzeptes zwei spezifischen, aber argumentativ eng verwandten Quellen: einerseits einem Kulturrelativismus, der sich zum Schützer der Autonomie oder Authentizität erklärt, und andererseits einer historisch-philosophisch begründeten Zurückweisung einer inhärenten und exklusiven Allgemeingültigkeit westlicher Menschenrechtskonzeptionen. Aus der zweiten Perspektive 2 heraus argumentiert Amartya Sen, dass Vertreter_innen des Universalitätsanspruchs fälschlicherweise auf der Vorrangigkeit
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Der Beitrag erschien im Original in einer Aufsatzsammlung zu „Decolonizing Interna-
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Obwohl die Debatte über „Universalismus versus Relativismus“ die Aufmerksamkeit
tional Relations“ (Gruffydd Jones 2006) und wurde von Franziska Müller übersetzt. von Institutionalist_innen und anderen Theoretiker_innen auf sich gezogen hat, vertrete ich die Position, dass diese Debatte sich von sinnvollen Überlegungen hinsichtlich
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„spezifischer Rechtsgattungen“ (insbesondere mit Bezug auf bürgerliche und politische Rechte) gegenüber den „ökonomischen, kulturellen und sozialen Rechten“ bestehen. Diese Unterscheidung schließt – ohne dass dies für das Argument erforderlich wäre – einige grundlegende Menschenrechtskonzeptionen aus dem Feld wünschenswerter und durchsetzungsfähiger Menschenrechte aus. Zudem verknüpfen Fürsprecher der Menschenrechte häufig die Möglichkeit und Zulässigkeit von Menschenrechten mit den politischen Systemen, sozialen Einrichtungen und Verfassungsordnungen des Westens (Sen 2004: 316). In ähnlicher Weise bedienen einige Vorkämpfer der Menschenrechte den Mythos, dass die meisten Normen europäische Wurzeln hätten. So argumentiert Anthony Pagden beispielsweise, dass das Konzept der Menschenrechte „a development of the older emotion of natural rights“ sei, welches seine gegenwärtige Form in Folge des „European struggle to legitimate its overseas empire“ erhalten habe. Die in der Französischen Revolution und beim Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg getroffene Entscheidung, menschenrechtlichen Konzepten Verfassungsrang zu verleihen, habe geholfen, dieses Ziel zu erreichen (Pagden 2003: 171). Pagden schlussfolgert daher, dass die Menschenrechte in ihrer institutionellen Verfasstheit nicht vom „particular kind of political system“ (d.h. der liberalen Demokratie) und auch nicht von den damit verbundenen politischen Ideologien (bspw. christliche Theologie, Menschenrechtskonzepte der Aufklärung und Rationalismus), welche die „Greek and Roman idea of a common law for all humanity“ weiterführten, getrennt werden könnten (Pagden 2003: 171). Pagden appelliert des weiteren an Fürsprecher der Menschenrechte, ein „essentially Western European understanding of the human“ als Basis für eine internationale moralische Praxis zu nehmen (Pagden 2003: 171). Dieser Aufruf und die ihm zugrundeliegende Mystik haben zu zweifelhaften ethischen Prämissen und politischer Hybris geführt. Daher entwirft Michael Ignatieff folgerichtig ein (westliches) Recht auf westliche Intervention in den früheren europäischen Territorien als eine Form der Diffusion westlicher Freiheiten in der Welt (Ignatieff 2001). Ignatieffs Argument basiert auf einer angeblich pragmatischen Zielsetzung: auf der Fähigkeit der Individuen, sich einem Unrechtsregime zu widersetzen. Dieser Pragmatismus findet breite Zustimmung seitens Menschenrechtler_innen und Politiker_innen insofern, als er mit einer bestimmten politischen Agenda konform geht und eine Legitimationsgrundlage
Zweckmäßigkeit, Instrumentalisierung und Attraktivität der Idee globaler Governancestandards zwischen Regionen, politischen und kulturellen Systemen entfernt hat.
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für westliche Interventionen an jeglichem Ort bietet. 3 Argument und pragmatische Rahmung lehnen die Möglichkeit gültiger regionaler Wertesysteme, sowie Formen der Gesellschaftsorganisation und politischer Verfasstheit, die jenseits westlicher Vorstellungen menschlicher Subjektivität existieren, ab. Dementsprechend geißelt Ignatieff Menschenrechtsaktivist_innen überambitioniert und kontraproduktiv zu sein, wenn sie nicht der Idee folgen, den Rahmen der Menschenrechte auf diejenigen vertretbaren individuellen Menschenrechte zu beschränken, welche direkt mit politischem Handeln verknüpft sind und damit die Balance zwischen den Rechten der Staaten und den Rechten der Bürger_innen wirksam wiederherstellen (Ignatieff 2001). Ähnlich wie Pagden ist Ignatieffs Position insoweit glaubwürdig, als er feststellt, dass „when individuals have defensible rights, they are less likely to be abused.“ Doch das Bedürfnis, die Menschenrechte auf die individuellen bürgerlichen und politischen Rechte zu beschränken und gleichzeitig andere Rechtsgattungen nachrangig zu behandeln, stellt Ignatieffs Bekenntnis zu internationaler Moral und Gerechtigkeit in Frage. Dieser Beitrag bestreitet nicht, dass westliche Institutionen der primäre Referenzpunkt für Menschenrechtstheoretiker_innen und -aktivist_innen sind. Genauso wenig entwertet er Perspektiven auf die Menschenrechte, die die historischen Konstellationen identifizieren, an denen „Naturrechte“ die Form von „Völkerrecht“ und später „Menschenrechten“ erlangen. Dieser Beitrag sieht es hingegen als selbstverständlich an, dass die Revolutionen in Frankreich und Nordamerika sich auch auf historische Vorstellungen politischer Subjekte, auf individuelle Grundfreiheiten und politische Freiheit bezogen haben. Die entsprechenden Rechtsquellen – die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, die Bill of Rights und die Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte – haben dazu beigetragen, die Möglichkeit einer Universalisierung der Menschenrechte überhaupt denken zu können. Diese Möglichkeit wurde durch die 1948 verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bestätigt. Angesichts dieser Errungenschaften möchte ich auch nicht die Strahlkraft bestimmter menschenrechtlicher Normen innerhalb politischer Konflikte herabwürdigen, so etwa in Osteuropa vor und nach dem Ende des Kommunismus (vgl. Thomas 2001; Cohen 1996; Watson 1992; Finnemore 1996; Callaghy et al. 2001; Ignatieff 2001, 2004) oder in Lateinamerika nach dem Zusammenbruch des Autoritarismus (Kolodziej 2003, Keck/Sikkink 1998). Allerdings bestreite ich drei zentrale Prämissen, die Pagdens und Ignatieffs Argumentationen durchziehen. Die erste besteht darin, dass eine gültige Theorie 3
Siehe auch Michael Ignatieff, „American Empire: The Burden“, New York Times Magazine, 05.01.2003.
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der Menschenrechte notwendigerweise den westlichen Ursprung dieses Konzeptes und die ontologische Vorrangigkeit entsprechender westlicher Institutionen anerkennen müsse. Der zweite strittige Punkt besteht darin, dass die Möglichkeit einer Universalisierung der Menschenrechte auf der Annahme beruht, dass die Rechtsgattungen, die in der Französischen Revolution und im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg bzw. genereller in liberalen Demokratien erlassen wurden, ausreichend seien. Drittens schließlich die Vorstellung, dass Kultur, Tradition und politische Praxis westlichen Staaten und ihren Bürgerschaften die Legitimität und Autorität verleihen, das Ausmaß an Menschenrechtsverletzungen zu bemessen und entsprechend festzulegen, welche Form von Intervention zu ihrer Wiederherstellung erforderlich sei. Die damit verknüpften Argumente sind gleichermaßen theoretischer, pragmatischer und ethischer Natur. Ich werde mich an dieser Stelle auf ethische Argumente begrenzen, obwohl auch diese implizit bleiben. Meine Ausführungen beginnen mit der Vorstellung, dass es problematisch ist, westliche Mächte von vornherein als legitime Vorkämpfer für die Menschenrechte zu betrachten. Die instrumentalisierte Nutzung einer Menschenrechtsrhetorik für vielfältige und widersprüchliche Ziele seitens „Europa“ seit dem Zeitalter des Imperialismus, wie sie auch durch Pagden vertreten wird, suggeriert, dass keine historisch kohärenten westlichen Traditionen, kulturellen Praxen und Institutionen bestünden (Pagden 2003: 171-172). Diese Abwesenheit von Kohärenz wirkt sich auf die Fähigkeit des Westens aus, sich glaubwürdig als legitimer Vorkämpfer der Menschenrechte zu präsentieren. Fehlende Konsistenz und Homogenität auf seiten westlicher Staaten hat in großem Maße dazu beigetragen, die Akzeptanz von jeglicher westlicher Menschenrechtsrhetorik im einst kolonisierten Teil der Welt zum Versiegen zu bringen. Dies ist einer der Gründe für den Widerstand gegenüber der Universalität der Menschenrechtskategorien, die in Krisensituationen stets aufs Neue betont wird. Schließlich ist es im pragmatischen Sinne nicht zu weitreichend gedacht, anzunehmen, dass die kulturellen, ökonomischen und sozialen Rechte der Individuen weniger häufig verletzt würden, wenn das Recht, sie zu verteidigen, verfassungsmäßig in der außenpolitischen Doktrin hegemonialer Staaten enthalten wäre. Die hiermit verbundenen Überlegungen würden allerdings den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. In Abgrenzung von den oben benannten Vorstellungen vertrete ich die Position, dass die Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen durch autoritative ethische Kategorien auch anderen Regionen und ihren kulturellen Praxen nicht fern steht – selbst wenn die jeweiligen Kategorien nicht auf Englisch formuliert sind und nicht in das philosophische und juridische Format der Menschenrechte
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gebracht werden. Ich argumentiere, dass auch Nicht-Europäer_innen sich in historischer Regelmäßigkeit auf höhere moralische Ordnungen berufen haben, die über den sozialpolitischen Status quo weit hinausreichten. Diese Appelle begründeten sich auf breiten Kategorien moralischer Codes und vielfältigen Entwürfe einer Ethik, die anstrebten, die menschliche Existenz durch die Einführung moralischer Ordnungen, die dem Konzept der Menschenrechte ähneln, zu verbessern. Diese moralischen Codes und ihre ethischen Ausdrucksformen stellen alternative Ordnungen von dem dar, was man als Vorläufer der Menschenrechte und ihrer Institutionen bezeichnen könnte. Sie könnten die Basis einer Theorie über postkoloniale Perspektiven auf Menschenrechte bilden. Zu diesem Zweck – und in Übereinstimmung mit Sens Wunsch nach einer Theorie alternativer Menschenrechtskonzeptionen (Sen 2004) stelle ich nun kursorisch die Entwicklung von Verfassungsentwürfen im Laufe der Haitianischen Revolution vor. Meine Hauptthese ist dabei, dass die Entwicklungen auf Haiti nicht nur „die Reichweite der Menschenrechte“ auf die Sklav_innen ausdehnten, sondern dass sie auch tatsächlich einklagbare Menschenrechte einführten. Diese Rechtsformen mögen vielleicht außerhalb des Interesses und der politischen Agenda vieler Menschenrechtstheoretiker_innen und -aktivist_innen liegen, doch sind sie westlichen Praxen und Institutionen gleichwertig. Die Haitianische Revolution ist in ihrem Charakter und in ihrer historischen Relevanz kein einzigartiges Phänomen. In vielerlei Hinsicht ist sie ein integraler Bestandteil einer Genealogie der Moderne. Diese simple Erkenntnis ist jedoch von ideengeschichtlichen Autor_innen weithin ignoriert worden. Die Gründe für eine solche Vernachlässigung sind offenkundig. Jegliches Nachdenken über geschichtliche Dynamiken ist notwendigerweise stärker durch Uniformität und Homogenität geprägt, als die Prozesse, die es zu erklären sucht. Ohne größere Vertrautheit mit den Symboliken der Befreiung im revolutionären Haiti und mit dem diskursiven Kampf gegen die Sklaverei, ist es fast unmöglich den Beitrag, den die nun freien Sklav_innen zur Weiterentwicklung der Menschenrechte geleistet haben, zur Gänze verstehen zu können. Bei tiefergehender Betrachtung muss man freilich akzeptieren, dass die haitianischen Revolutionäre wohl glaubten, dass allen Menschen Fähigkeiten innewohnen, die eines verfassungsmäßigen Schutzes bedürfen. Auch sie prüften Haltungen und Absichten, aus denen sich bestimmte moralische Grundsätze als Institutionen der Menschenrechte ableiten ließen, die im Kontext ihrer Kämpfe für Bürgerrechte, Freiheit und politische Gerechtigkeit standen. Bei der Untersuchung der Ereignisse im revolutionären Haiti kann man insofern durchaus eine universalistische Position konstatieren, wenngleich man die Kontextspezifizität von Menschenrechtsinstitutionen
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nicht unterschätzen sollte. Doch selbst wenn diese als universal betrachtet werden, gründen die Kontexte und Prozesse solcher Institutionalisierung doch auf regionalen und kulturellen Kontexten, die ganz spezifische Dimensionen menschlicher Fähigkeiten betonen. Aus meiner Perspektive muss eine Verwirklichung allgemein vertretbarer Menschenrechtsinstitutionen notwendigerweise divergierende Positionen einbeziehen, welche ideologischen, kulturellen oder politischen Kontroversen entspringen. Dies ist die einzige Absicherung gegenüber den Maskierungsstrategien, die in universalistischen oder relativistischen Positionen enthalten sind: neo-imperialistische Argumente, die maskiert als moralische Besorgnis auftreten, und Widerstand gegenüber Transparenz und Rechenschaftspflichtigkeit, die im Deckmantel der Selbstbestimmung auftreten.
K ULTUREN DES M ENSCHENRECHTSSCHUTZES Dieser Aufsatz begann mit der Annahme, dass das menschliche Streben, grundlegende ethische Prinzipien zur Verbesserung menschlicher Existenzbedingungen zu institutionalisieren, ein weltweit konvergent verlaufendes Vorhaben sei. Im Englischen lassen sich solche Grundprinzipien als Institute bezeichnen. Ich beziehe mich daher auf den Begriff der „Menschenrechtsinstitutionen“ (human rights institutes) im Sinne einer Ansammlung von Regeln Grundsätzen oder Prinzipien, nicht im Sinne einer Institution als einer Anstalt, einer Einrichtung oder eines Organs (human rights institution) (Oxford English Dictionary 1971: 1452), unabhängig von deren Ursprüngen oder Anwendungsbereichen. So nehme ich beispielsweise an, dass die Vorstellung, dass menschliche Fähigkeiten auf bestimmte „inhärente biologische Potentiale“, „Geisteskräfte“ und „natürliche Veranlagungen“ (Oxford English Dictionary 1971: 948) zurückzuführen sind, in allen Regionen, Religionen, Kulturen, Ideologien oder politischen Ordnungen existiert hat. Diese Erkenntnis muss zu einer Vielzahl grundsätzlicher Vorstellungen über die Ausprägung menschlicher Fähigkeiten geführt haben. Ich bezeichne jene Grundsätze vorläufig und nur zum Zweck des besseren Verständnisses als Menschenrechtsinstitutionen. Sie entstanden in allen Gesellschaften, die bestimmte Vorstellungen hinsichtlich der Entwicklung und Ausprägung menschlicher Fähigkeiten entwickelten. Solche Grundsätze waren geprägt durch die Lebenserfahrungen oder Lebensbedingungen der jeweils beteiligten gesellschaftlichen Einheiten, und ihre Anrufung entsprach lokalen Standards, intellektuellen und moralischen Erwägungen. Wie Pagden gezeigt hat, wurden in Europa solche Prinzipien als Naturrechte betrachtet (Pagden 2003). Entsprechende Entwicklungen sind typisch für den
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europäischen Entwicklungspfad und stellen letztendlich ein einzigartiges Phänomen dar. Auch die Einrichtungen der Menschenrechte, die heute von europäischer Seite verteidigt werden, sind Ausdruck davon – auch wenn ihre gegenwärtige Bedeutung von ihrer globalen Reichweite und Anwendung herrührt. Gemäß dem Oxford English Dictionary bezeichnen institutions signifikante soziale Praxen die eng mit einem Gegenstand oder einem Grundsatz oder institute verknüpft sind. Institutions sind die Folge historischer Prozesse, die entweder bereits existierende Grundsätze als Handlungspraxen durch spezifische Instrumente oder bestimmte von außen eingeführte Praxen etablierten, um ein institutionelles Vakuum zu füllen (Oxford English Dictionary 1971: 1452). In jedem Falle ist der Prozess der Institutionalisierung der Menschenrechte ein Prozess, entlang dem der Bedeutungsgehalt der zugrundeliegenden Grundsätze innerhalb spezifischer sozialer und politischer Kontexte politisch und ideologisch festgeschrieben wird. Tatsächlich werden im Verlauf des Institutionalisierungsprozesses die Leidenschaften der Mächtigen, hegemoniale ideologische Vorurteile und auf scheinbar objektiver Basis die Interessen einer bestimmten Bevölkerungsklasse in die generalisierten menschenrechtlichen Grundsätze eingespeist. Menschenrechtliche Institutionen bzw. Organe sind von daher ein Produkt der spezifischen Ökonomien des Willens, der Werte und Interessen, welche wiederum die Ungleichheiten zwischen politischen Subjekten wiederspiegeln. Basierend auf diesen Aspekten lässt sich konstatieren, dass die europäischen Institutionen hinsichtlich ihrer kulturellen und historischen Bedeutung einmalig sind. Doch gleichzeitig lässt sich nicht behaupten, dass diese Prozesse und Praxen keine historischen oder ethischen Äquivalente hätten. In Frankreich begründeten die Philosophen der Aufklärung ihr eigenes Verständnis der Naturrechte, basierend auf der Annahme, dass ähnliche Vorstellungen auch überall anders auf der Welt existierten. Dementsprechend ging Dennis Diderot davon aus, dass Nicht-Europäer oder „Native“ das Konzept der Naturrechte nachvollziehen könnten und dass es fast niemanden gäbe, „who would not be convinced inside himself that the thing is obviously known to him“ (Diderot/Alembert 1755: 115f). Die Philosophen der Aufklärung vertraten die Auffassung, dass auch Nicht-Europäer eine Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen anstrebten und dass sie sich aus diesem Grund auch positiv auf die französischen Institutionen beziehen würden. Obwohl nicht immer in der philosophischen Figur von „Menschenrechten“ formuliert, können nicht-europäische Vorstellungen von Gesellschaft, Handeln und Ethik als gültige Begründung für menschenrechtliche Grundsätze und Institutionen verstanden werden.
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Obwohl menschenrechtliche Institutionen mit Menschenrechtsorganen eng verbunden sind, sind ihre Verlaufsbahnen nicht identisch. Ein sinnvoller und überzeugender Zugang zu Menschenrechten muss zwischen zwei voneinander getrennten Sphären und Entwicklungspfaden im Menschenrechtsdiskurs unterscheiden. Menschenrechtliche Grundsätze (institutes) entstanden in unterschiedlichen Regionen und Kulturen als Produkt lokalisierter Vorstellungen über elementare Bedürfnisse und Fähigkeiten, lange Zeit bevor sie als Folge politischer oder ideologischer Prozesse in Rechtsordnungen inkorporiert wurden. Sie umfassen die Ideen und/oder Prinzipien, die die Hoffnungen geradezu heroischer gemeinschaftlicher und individueller Kämpfe um Gerechtigkeit, Gleichheit und Würde widerspiegeln, die nun in freilich unvollkommener Weise eine sprachliche Repräsentation finden mussten. Diese Hoffnungen wurden dann im Zuge ihres Institutionalisierungsprozesses zum Bestandteil der politischen und ideologischen Agenda. Daraus folgt, dass moralische Haltungen und ethische Codes, die sich als „Menschenrechte“ bezeichnen lassen, weder notwendigerweise westlichen Ursprungs, noch vollkommen relativ sind. Hingegen sind menschenrechtliche Organe (institutions) notwendigerweise an eine spezifische politische und ideologische Agenda gebunden oder sind Bestandteil einer bestimmten politischen Ordnung. Das bedeutet freilich nicht, dass sie deswegen keine universale Anwendung finden könnten. Wie Studien zur Französischen und Amerikanischen Revolution zeigen, können lokale Ereignisse durchaus an generelle Vorstellungen über menschliche Lebensqualität anknüpfen. Diese Ereignisse brachten beispielweise die amerikanische Bill of Rights und die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte hervor (Henkins 1990). Uneinigkeiten entstehen nur, wenn Theoretiker_innen und Verfechter_innen die geschichtlichen Unwägbarkeiten der jeweiligen Menschenrechtsinstitutionen unberücksichtigt lassen und damit Zweifel schaffen, ob denn andere vergleichbare Kämpfe um Menschlichkeit in gleicher Weise durch umfassendere moralische Konzepte oder politische Bedenken geprägt waren. Ähnlich wie revolutionäre Ereignisse in Frankreich und den Vereinigten Staaten strebte die Haitianische Revolution an, Menschen aus politischer Knechtschaft zu befreien. Wie Michael-Rolph Trouillot gezeigt hat, betrachteten die französischen, amerikanischen und haitianischen Revolutionäre im ausgehenden 18. Jahrhundert Sklaverei übereinstimmend als Metapher für menschliche Würdelosigkeit und entschlossen sich daher, sie mit geeigneten Maßnahmen zu beenden. Diese übereinstimmende Haltung lässt sich so interpretieren, dass sich moderne politische Kämpfe auf einen gemeinsamen moralischen Standpunkt bezogen: das Bedürfnis, diejenigen Fähigkeiten und Potentiale des Men-
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schen zu schützen, die dem Geiste der Sklaverei entgegengesetzt sind. Eine solche Schlussfolgerung wäre jedoch voreilig. Moralische Differenzen manifestierten sich von Anfang an, da die politischen und kulturellen Kontexte der drei Standorte so stark divergieren. In Europa und Nordamerika war der Begriff der Sklaverei „accessible to a large public“, und „stood for a number of evils“ oder auch für „whatever was wrong with European rule in Europe and elsewhere.“ (Trouillot 1995: 85ff.) Allerdings maßen die meisten französischen und amerikanischen Revolutionäre dem real existierenden Sklavereiregime (oder der Versklavung von Afrikaner_innen in der Neuen Welt) unterschiedlichen Bedeutungsgehalt zu; selbst wenn sie die Abwesenheit von Freiheit mit Versklavung gleichsetzten. Die Tatsache, dass viele der westlichen Revolutionäre auch am Sklavereiregime partizipierten, kann ihre ambivalente Haltung zum Teil erklären. Doch es bleibt dabei, dass sie juridisch-politische Regime und politische Systeme entwickelten, die Sklaverei aufrechterhielten. Zudem setzten sie die Praxen des Imperialismus und Kolonialismus weiter fort und verleugneten damit die Freiheit der anderen (Trouillot 1995). Speziell die amerikanischen und französischen Revolutionäre formulierten Verfassungsartikel, die – selbst wenn sie auf überzeugenden moralischen Prämissen beruhten – institutionell doch den Begriff der Sklaverei so auslegten, dass damit in erster Linie Einschränkungen der individuellen Grundfreiheiten bezeichnet wurden, wohingegen dies die tatsächlich versklavten Menschen ausschloss. Insoweit als man die Grenzen zwischen der Theoriesprache und Sprachtheorie aufrechterhalten sollte, sind die vorangegangenen Kommentare nicht als Anklage gegenüber politischer Theorie zu verstehen. Sie sollen jedoch nahelegen, dass eine Theorie der Menschenrechte die politisierten Debatten revolutionärer Bewegungen von der Gedankenwelt einer politischen Theorie über die Menschenrechte abgrenzen muss. Die Bedeutung solcher Ideen und Konzepte für den politischen Diskurs muss anhand ihrer konkreten Anwendung im historischen und kulturellen Kontext gemessen werden. Solche Anwendungen sind selbst teilweise Produkt eines Aushandlungsprozesses: Die Intentionen und Handlungen revolutionärer Bewegungen bringen im Diskurs bestimmte Benennungspraxen, eigene Begriffe und sogar Sprachspiele hervor. Im Rahmen solcher Sprachspiele entstehen neue Kasten und Klassen, denen spezifische Rollen zugeschrieben werden und die mit bestimmten Handlungsmöglichkeiten ausgestattet sind. Im selben Moment aber wird anderen durch solche Sprachspiele die Definitionsmacht über ihre eigene Existenzweise entrissen (Trouillot 1995: 23f.). Es erscheint daher nicht übertrieben, festzustellen, dass die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte nicht die Menschheit oder menschliche Individuen
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als ihr zentrales Subjekt betrachtete. Genauso wenig waren die persönlichen physischen und geistigen Fähigkeiten das Subjekt der Bill of Rights. So wie volle Bürgerrechte nur den normalen Mitgliedern der drei Stände und niemandem sonst garantiert wurden, war auch der mit Rechten ausgestattete amerikanische Individualbürger nicht einfach irgendeine natürliche Person, sondern vielmehr eine bereits in den Kategorien von Klasse und Ethnie verortete Person, die es anstrebte, andere dominieren zu können. Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die Vorkämpfer für die unveräußerlichen Rechte des Individuums ihr politisches Vorhaben problemlos mit der metaphorischen und tatsächlichen Versklavung anderer Menschen versöhnen konnten. Wie Michel-Rolph Trouillot ausführt, entwickelten sich während der französischen und amerikanischen Revolutionen spezifische Sprachmuster und befremdliche Konstrukte rund um das Konzept des Menschen und der Vernunft. 4 Ihr Geschichtsbewusstsein und ihr Handeln waren dabei geprägt durch Selbstbezogenheit und durch die Unterdrückung des anderen. Tatsächlich erschien die geistige Auseinandersetzung mit Sklaverei und den damit verknüpften Diskursen um Freiheit und individuelle Grundfreiheiten in hohem Maße selbstreferentiell. Nur wenige Autoren versuchten die ethischen Prämissen, die in den Narrativen der Emanzipation angelegt waren, auch auf die Sklav_innen, die Kolonisierten und vertriebene Indigene auszudehnen. Die Diskursstrategien der westlichen Revolutionäre und die ihnen zugrundeliegende Moral oder Vernunft „exacerbated the fundamental ambiguity that dominated the encounter between ontological discourse and colonial practice.“ (Trouillot 1995: 78) Die Revolutionäre sprachen von Menschheit und Vernunft obwohl „men (Europeans) were conquering, killing, dominating, and enslaving other beings thought to be equally human, if only by some“ (Trouillot 1995: 75). Diese Vorkommnisse kann man nicht einfach als ethische Verfehlungen betrachten. Sie spiegeln vielmehr den moralischen Charakter der französischen und amerikanischen Revolutionen wider.
D AS E NDE
DER
S KLAVEREI
Die Haitianische Revolution ereignete sich nur wenige Jahre nach der französischen Revolution und spielte sich in einer Entfernung von nur 200 Meilen vor der nordamerikanischen Küste ab. Sie ist damit ganz eindeutig Teil der Ideengeschichte moderner Entwürfe von konstitutioneller Gewaltenteilung, Volkssouveränität und bürgerlichen Rechten. Die Haitianische Revolution zielte zunächst 4
Vgl. Trouillot 1995, sowie Fischer 2004.
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darauf ab, den politischen Absolutismus und die damit verbundene Form der Souveränität zu beenden. Die weitgehend von Thomas Jefferson verfasste amerikanische Unabhängigkeitserklärung entthronte den abwesenden Monarchen, König George den Dritten. Toussaint L’Ouverture, Dessalines und Henry Christophe vollbrachten ähnliches, indem sie während der französischen Revolution die Gelegenheit nutzten, die früheren Herrscher, seien es Könige, Revolutionäre oder Konterrevolutionäre, in ihre Schranken zu weisen. Jenseits der Entthronung des Königs enthaupteten die Revolutionäre auch die amerikanischen Herrscher (einschließlich König Philipps), genau wie die Franzosen dies mit Ludwig XVI. und Marie Antoinette getan hatten, um sich mit einem radikalen Schnitt von der Vergangenheit zu trennen. Die haitianischen Revolutionäre verfielen nicht in derlei „Barbarei“, sondern benannten die barbarischen Aspekte der Sklaverei durch sprachliche Praxen. Boisrond Tonerre, ein Mulatte, der eine Schullaufbahn absolviert hatte, markierte den Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart, indem er feststellte, dass die Erringung der Unabhängigkeit des „skin of a white men for parchment, his skull for a desk, his blood for ink, and a bayonet for a pen“ bedürfe (Fischer 2004: 201). Diese Aussage hatte einen tieferliegenden Symbolgehalt als die damit verbundene figürliche Gewalt. Haitianische Revolutionäre hofften damit, politisches Handeln zu entrassifizieren (indem die „weiße Haut“ abgezogen wurde), sich von der post-aufklärerischen Ontologie zu verabschieden (indem der „Schädel“, der sie enthielt, flachgepresst wurde), die eigene Geschichte neu zu schreiben und sie aus dem rassistischen Diskriminierungskontext zu lösen (falls erforderlich, auch verbunden mit dem Vergießen „weißen Blutes“), und schließlich die Gewalt der Moderne, die durch das Bajonett repräsentiert wurde, durch gewaltfreie Praxen zu ersetzen (indem das Bajonett in einen Stift verwandelt wurde). Des Weiteren unterstreicht die nachrevolutionäre haitianische Verfassung 5 die Religionsfreiheit (Artikel 50-52) sowie gleiche Eigentumsrechte (Artikel 6). Ferner versichert sie, dass „the house of every citizen is an inviolable sanctuary“, welches nur „in the case of fire, a flood or a plea“ betreten werden darf (Allgemeine Bestimmungen, Artikel 6-7). Sie bekräftigt auch das Recht auf Eheschließung und Ehescheidung (Allgemeine Bestimmungen, Artikel 14-15). 6 In dieser Hinsicht war auch die Haitianische Revolution Spiegelbild der modernen politi5
Anmerkung der Übersetzerin: Gemeint ist hier und im Folgenden die „Imperial Constitution“ von 1805; zugänglich unter folgender URL: http://faculty.webster.edu/cor betre/haiti/history/earlyhaiti/1805-const.htm [4.1.2016]
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Für den vollständigen Text und für Kommentare zur haitianischen Verfassung vgl. Fischer 2004, Anhang A, S. 227-281.
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schen Debatten über die moralischen Qualitäten der Existenz und der Notwendigkeit, öffentliche und private Lebensbereiche zu trennen. Ähnlich wie im Falle der anderen Revolutionen grenzte auch die Revolution der Sklav_innen den rechtmäßigen Kompetenzbereich der Gouverneure gegenüber den Entscheidungskompetenzen der Regierten ab. Auch die haitianischen Sklav_innen erkannten die Zweckmäßigkeit bindender Normen, die die menschlichen Fähigkeiten unter besonderen Schutz stellten. Indem sie sich selbst als Menschen mit gleichen Rechten betrachteten, forderten die haitianischen Sklav_innen die existierenden Vorstellungen von Humanität und Vernunft heraus. Gleichwohl war die Haitianische Revolution in mancher Hinsicht ein besonderes Vorhaben. So kann man sie als direkte Antwort auf Ereignisse in Frankreich und den USA verstehen. Wie Sidney W. Mintz schreibt war sie „above all, the only revolution of those first three – American, French and Haitian – that freed the slaves“ (Mintz 1995: 77). So tilgte die haitianische Verfassung nicht nur alle Bezüge auf Abstufungen der Hautpigmentierung (Artikel 14), sie beseitigte auch „titles, advantages and privileges other than those necessarily resulting from the regard and compensation for services rendered for liberty and independence“ (Artikel 3). Die Haitianische Verfassung garantierte auch unehelichen Kindern dieselben Rechte (Allgemeine Bestimmungen, Artikel 16) und schuf Rechtsnormen zur Eheschließung und -scheidung, die Frauen begünstigen, und garantierte den anciens libres (den bereits freien Bürger_innen) wie den nouveaux libres (den befreiten Sklav_innen) gleiche Eigentumsrechte. Des Weiteren – als Ausdruck allgemeinen Wohlwollens – brachte die Haitianische Revolution „homage to the friends of liberty, to the philanthropists of countries, as a sign of proof of divine goodness…which provided us with the opportunity to break our chains and to consitute ourselves as free, civilized, and independent people“ (Allgemeine Bestimmungen). Als selbsternannte schwarze Bürger_innen anerkannten die ehemaligen Sklav_innen die allgemeine und unteilbare Würde von „all mortals“, einschließlich „white women who have naturalized“, „their present and future children“, sowie „Germans and Poles who have been naturalized by the Government“ (Artikel 13). Die philosophische Tiefe der Ideen aus jener Ära ist durch viele Kommentare in Frage gestellt worden. Damit einhergehende Vorurteile entspringen teilweise der Tatsache, dass nur wenige der haitianischen Revolutionäre eine Schulbildung genossen hatten und dass „none could appeal directly to friends, college chums, or political allies in Europe.“ (Mintz 1995: 78) Gleichwohl gehörten diese Revolutionäre zu den ersten, die die Verbindungen zwischen politischer Gewalt und den politischen Ideologien und politischen Systemen der Moderne erkannten.
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Ihre Auflehnung richtete sich gegen „being someone else’s property […] being flogged […] being denied a family or the right to testify in court […] being raped, tortured, murdered, or sold.“ (Mintz 1995: 77-78) Mintz ist zweifellos einer der Autoren, die besonders große Sympathie für die Haitianische Revolution und ihre Motive zum Ausdruck bringen. Man fühlt sich jedoch gezwungen, ihm insofern zu widersprechen, als er zum Schluss kommt, dass die zentralen politischen Ziele der Haitianer_innen „less stirring issues“ gewesen seien, als jene, die bei der Französischen und Amerikanischen Revolution im Mittelpunkt standen (Mintz 1995: 78). Wie ich später noch ausführen werde, konzipierten die versklavten Haitianer_innen Institutionen, die die späteren Konventionen über die Abschaffung der Folter, die Flüchtlingskonvention und das Recht auf Familienzusammenführung antizipierten. Sie führten auch Schutzrechte für (verheiratete wie ledige) Frauen und für (eheliche wie uneheliche) Kinder ein. Insgesamt griffen diese Konzepte den aktuellen internationalen Debatten zu diesen Thematiken weit voraus. Gleichwohl entbehren die Haitianische Revolution und die haitianische Verfassung nicht einiger Kontroversen. Zwar durchzieht das Streben nach Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Würde die Verfassungsartikel, allerdings wurden sie von Akteuren entwickelt, die sich in ganz unterschiedlicher Weise auf Staat, Gesellschaft und Wirtschaft bezogen. Von daher variiert ihr Verständnis von Freiheit. Entsprechend blieben soziale Konflikte auch nach der Revolution virulent. Die sichtbarsten Konfliktlinien verliefen zwischen ehemaligen Sklav_innen afrikanischer Abstammung „who felt liberty meant securing racial equality“ und Plantagenbesitzern (grand blancs), sowie gens de couleur und affranchis 7 „who identified liberty with having a lot of land for themselves“ (Fischer 2004: 37). Beide Gruppen versuchten, gebührenden Abstand zu staatlichen Institutionen zu halten, aber verstanden darunter durchaus unterschiedliche Ziele. Während die affranchis und Plantagenbesitzer einen Staat favorisierten, der die grundlegenden Prinzipien der Religions- und Meinungsfreiheit und der Besitzrechte nicht einschränkte, strebten die ehemaligen Sklav_innen (unter Führung von Christophe) danach, die souveräne staatliche Macht dahingehend zu begrenzen, dass die Würde und Integrität der Person bezogen auf Körper, Geist und Seele geschützt sein sollte. Aus dieser Motivation entspringt die Ächtung der Folter und anderer Formen der Gewalt, der Schutz des Familie, und der Schutz davor, verkauft oder als Eigentum betrachtet zu werden. 7
Anmerkung der Übersetzerin: affranchis bezieht sich auf bereits vor der Haitianischen Revolution befreite Sklav_innen, die eingeschränkten Zugang zu politischen und sozialen Rechten hatten.
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Es ist inzwischen weitgehend anerkannt, dass der Kampf gegen die Sklaverei und die Gründung Haitis als zwei eigenständige historische Ereignisse betrachtet werden müssen. Das politische System des haitianischen Staates hat im Laufe der Zeit ernstliche Rückschläge erlitten, einerseits aufgrund interner Unstimmigkeiten, andererseits aufgrund externer Interventionen, die zumeist von den USA ausgingen. Diese Rückschläge waren in erster Linie Ausdruck innenpolitischer Widerstände gegen die Umsetzung der wirtschaftspolitischen Verfassungsklauseln. In erster Linie bekräftigte die Haitianische Revolution ein Verständnis menschlicher Bedürfnisse und menschlicher Fähigkeiten, das allen Individuen menschlichen Personenstatus zusichern wollte – auch und gerade ehemaligen Sklav_innen, Personen ohne klaren Status, freien Bürger_innen, oder Bürger_innen, deren politischer Status noch auf der vorrevolutionären Situation gründete (Trouillot 1995, Geggus 2001, Kadish 2000). Ähnliche Argumentation betrafen auch die Plantagen, die als zentrale Produktionsstätten firmierten, aber auch einen wichtigen Ort für Zusammenschlüsse zwischen den Arbeiter_innen (zumeist früheren Sklav_innen) und den Pflanzer_innen (aus den früher privilegierten Schichten) darstellten. Indem sie die Plantage primär als Produktionsstätte betrachteten, entwickelten die Sklav_innen ein System solidarischer Berufsbezeichnungen, das die Pflanzer_innen und Arbeiter_innen einander näherbrachte, indem es hierarchische Titel und Anreden abschaffte: „No white person […] shall set foot on this territory as a master“ (Fischer 2004: 267). Das Ziel dieser Praxis bestand nicht darin, das Wirtschaftssystem zu zerstören, sondern den früheren Sklav_innen gleichen Zugang zum Produktionsprozess und zur Wertschöpfung zu ermöglichen: „The colony being essentially agricultural, it can not suffer the smallest disruption in the operation of its plantations“ (Titel VI, Artikel 14). Die Verfasung ermutigte die Haitianer_innen darin, ihr ganzes Leben tätig zu sein, um ihrem moralischen Status als „good father […] good son […] good husband […] and good soldier“ Genüge zu tun. Dementsprechend gebot die Verfassung eine vernünftige Leitung der Plantagen und drohte bei Insolvenz oder Betriebsaufgabe mit dem Verlust der bürgerlichen Rechte (Artikel 8 und 9). Diese Verfassungsprinzipien gestatteten allen denselben Zugang zu den lebensnotwendigen landwirtschaftlichen Ressourcen. Die entsprechenden Arrangements entledigten sich aller politischen und ökonomischen Vereinbarungen, die den ehemaligen Sklav_innen die Möglichkeit verwehrt hatten, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Gleichzeitig schafften sie die Titel und Privilegien der affranchis (d.h. freie people of color) und weißer Franzosen ab – jedoch nicht die der französischen Frauen, denen dieselben Bürgerrechte garantiert worden waren, und auch nicht diejenigen von Polen und Deutschen jeglichen Geschlechts.
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Die Reaktionen der ehemals Privilegierten sind auch heute in Haiti noch sichtbar (Mintz 1995: 38). Dies ist das Kernproblem für die Krise des haitianischen Staates – ein Thema, das im vorliegenden Aufsatz jedoch nicht behandelt werden kann. Es reicht an dieser Stelle aus, zu ergänzen, dass die US-Interventionen die bereits vorhandenen Spannungen zwischen den früheren Sklaven afrikanischer Abstammung (welche die Speerspitze der Revolution ausmachten) und den affranchis (deren Interessen durch den Kampf der Sklaven um volle Gleichstellung tangiert wurden) weiter verschärften. Im Laufe der Jahrzehnte hatten sich allmählich Allianzen der affranchis herausgebildet, die sich mit den Interventionen des amerikanischen Kapitals und des Staates assoziierten und von ihnen profitieren konnten. Diese Interventionen trugen zu lokalen Konflikten bei (Trouillot 1995). Letztendlich führten sie zur Unterhöhlung des revolutionären Projektes, welches darin bestanden hatte, individuelle Grundfreiheiten als Ausdruck der Befreiung von der Sklaverei und Gleichheit im Sinne eines Schutzes vor rassistischer und wirtschaftlicher Diskriminierung zu garantieren (Fischer 2004: 267f.).
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Theoretiker_innen haben immer noch gewisse Probleme mit der Vorstellung dass „schwarze, des Lesens unkundige Sklaven“ Rechte mit universalem Charakter formulieren konnten. Wie Mintz ausführt, sind bis heute viele Autoren nicht willens oder in der Lage, die haitianischen Revolutionäre auf eine Stufe mit „intellektuellen Lichtgestalten“ wie William Jefferson oder Abbé de Sieyès zu stellen (Mintz 1995). Daher wird normalerweise angenommen, dass die amerikanische bzw. die französische Revolution nur spezifische historische Subjekte mit den Rechten und Fähigkeiten ausstattete, die für gute Regierungsführung und ein menschenwürdiges Leben als notwendig galten. Zudem ist bekannt, dass die Revolutionäre in Europa und Nordamerika „Rechte“ als Instrumente betrachteten, um solche Möglichkeiten und Fähigkeiten garantieren zu können. Speziell für die Französische Revolution gilt, dass die Citoyens als eigene gesellschaftliche Kraft mit eigenen Kapazitäten angesehen wurden, und daher Grundrechte genießen sollten. Auch wird im Allgemeinen angenommen, dass die amerikanischen Kolonisatoren vom Konzept eines unabhängigen Individuums ausgingen, welches in einer antagonistischen Beziehung zum Souverän steht. Die Verfassung bestätigt dies, indem sie individuelle souveräne Rechte verleiht (egal ob sie nun gottgegeben oder naturrechtlichen Ursprungs seien), die in jedem Fall unverletzlich durch den Staat und durch andere Bürger_innen sind.
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So betont beispielsweise Hannah Arendt die zentrale Bedeutung, die der Amerikanischen Revolution dadurch zukommt, dass sie eine Trennung zwischen politischen und sozialen Fragen als Grundlage für die Freiheit betrachtet (Arendt 1963). Die damit verknüpften Argumente beziehen sich auf die Französische Revolution, deren Abgleiten in die Gewalt Arendt zufolge darauf zurückzuführen ist, dass die politische Sphäre mehr und mehr durch moralische Überzeugungen und ökonomische Interessen besetzt wurde. Sie schreibt den Erfolg der Amerikanischen Revolution dementsprechend der Tatsache zu, dass diese in weiser Voraussicht soziale Fragen in spezifischen Sphären des Rechts verhandelt. Sibylle Fischer deutet Arendts Argumente richtigerweise so, dass Arendt die Sklaverei primär als soziale Frage ansieht, wohingegen die Kolonisatoren selbst die Sklaverei als politische Frage betrachteten (Fischer 2004: 7-9). Bezeichnenderweise bleibt Arendts Sichtweise mehrdeutig, wenn es darum geht, die Weigerung der Kolonisatoren, die Sklav_innen in die Freiheit zu entlassen, zu bewerten. Dies überrascht, da Arendt in früheren Werken das „Recht, Rechte zu haben“, bzw. das „Recht, Teil einer Gemeinschaft zu sein“ allen anderen Rechten voranstellte (Arendt 1968, Kapitel 9). Von daher – so Seyla Benhabib – verortet Arendt die Ursprünge des Totalitarismus im europäischen Kampf um Hegemonie auf dem afrikanischen Kontinent, insbesondere in den flankierenden „racial extermination policies“ (Benhabib 2004: 52). Dementsprechend lässt sich argumentieren, dass Totalitarismus das „Herz der Finsternis“ darstellt, welches seinen Ursprung im Europa der Aufklärung und der Sklaverei hatte. Arendt vertritt in der Art und Weise, wie sie sich auf die Rechte der Anderen – und insbesondere all jener, die durch Europa erobert und unterworfen wurden – bezieht, keine isolierte Position. So stellt auch Isaiah Berlin fest, dass sich absolute Freiheit am ehesten ex negativo definieren lässt, nämlich als „the area within which a man can act unobstructed by others“ (Berlin 1969: Kapitel 3). Berlin versteht diese Form der Freiheit als einen Handlungsraum, der das Selbst, Körper und Seele umfasst, „when the individual is sovereign“ (Berlin 1969: Kapitel 3). Berlin stellt der negativen Freiheit die positive Freiheit gegenüber, und versteht diese als das Recht, „sein eigener Herr zu sein“ und selbstbestimmt Lebensziele wählen und verwirklichen zu können. So verstanden stellt positive Freiheit nicht einfach nur einen absoluten Schutz dar, sondern verlangt auch Handlungsvermögen und stellt Bedingungen, wie etwa diejenige, dass Individuen nicht nur per se „frei“ sein sollen, sondern dass ihnen auch Bildungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen müssen. Ganze Generationen von Wissenschaftlern und Politikern haben Sklaverei und Kolonialismus auf der Grundlage dieser Unterscheidung gerechtfertigt, indem sie annahmen, dass Sklav_innen und Ko-
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lonisierten sowohl die Handlungsfähigkeit (Vernunft) als auch die Möglichkeiten (Wissenschaft) fehlten, um frei zu sein (Jackson 1990: 26-31). Tatsächlich begründete sich die moderne Sklaverei auf einer bestimmten politischen Rationalität und auf der Rationalisierung von Produktionsprozessen. Sklaverei und die Plantagenwirtschaft resultieren in einer „radical rationalization of labor processes, an utter disregard for traditions, and a degree of instrumentalization of human life“, welches zuvor weder in den Kolonien noch an den Herkunftsorten der Sklav_innen in ähnlichen Ausmaßen bekannt war (Fischer 2004: 12). Für die Sklav_innen resultierten die Erfahrungen aus Sklaverei und Plantagenwirtschaft in gleichermaßen politischen, sozialen und moralischen Fragen. Sie beantworteten sie in revolutionärem Sinne und zogen Konsequenzen auf der Grundlage ihres ganz persönlichen Erlebens. Beim Lesen der haitianischen Verfassung stellt man fest, dass die haitianischen Revolutionäre durch die Erfahrungen der ersten beiden Revolutionen geprägt waren: Zum einen müsse den Bürger_innen Selbstbestimmung gewährt werden, zum anderen dürften individuelle Rechte nicht durch den Staat beschnitten werden. Bemerkenswert ist dabei ihre Zurückweisung der moralischen Begründungsfiguren für die entsprechenden Rechte und Pflichten, wie sie durch die amerikanischen und französischen Revolutionäre ausgedrückt worden waren. So lehnten die haitianischen Revolutionäre beispielsweise die Idee ab, dass bürgerrechtliche Privilegien auch – zumal auf der Basis unklarer Definitionen – den fleißigen und hart arbeitenden Mitgliedern der Gesellschaft erteilt werden sollten. Zudem beeindrucken die tiefe Humanität und das Einfühlungsvermögen der haitianischen Revolutionäre, und spezifisch ihr Verständnis von Unfreiheit, Unterdrückung und menschlichem Leid. Die ehemaligen Sklav_innen verstanden besser, was es tatsächlich bedeutete, Personenstatus erlangt zu haben, zumal sie diese Errungenschaft nicht lediglich aufgrund scharfer Kritik am politischen System erkämpft hatten. Jenseits des mit Pflichten beladenen Bürgers und des mit Rechten ausgestatteten Individuums war als allererstes der Personenstatus von Relevanz, da dieser als existentielle Vorbedingung verstanden wurde, ohne die das Leben selbst bedeutungslos blieb. Während die amerikanische Revolution sich Leben, Freiheit und das Streben nach Glück als Teleologie gesetzt hatte und die Französische Revolution Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in den Mittelpunkt stellte, strebten die ehemals Versklavten an, die grundlegendsten Sicherheiten zu institutionalisieren. Dies lässt sich einerseits im positiven Sinne verstehen als ein Recht auf die Integrität des Körpers, (inklusive des Bauches) 8, des Verstandes und der Seele, ande8
Anmerkung der Übersetzerin: Grovogui spricht hier von ,the gut‘ und betreibt ein nicht direkt ins Deutsche übersetzbares Wortspiel. Während ,gut‘ im wörtlichen Sinne
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rerseits aber auch im negativen Sinne als Freiheit von Unterdrückung, Ausbeutung und Leiden. Wenn man die Erfahrungen und die fragmentarischen Fakten der Haitianischen Revolution zusammenfügt und als Theorie der Menschenrechte ausformuliert, wird klar, dass die sogenannten wirtschaftlichen und sozialen Rechte nicht einfach, wie es die derzeit gängige Annahme ist, eine zweite Generation der Menschenrechte darstellen. Vielmehr kann man sie aus der Haitianischen Revolution und den antikolonialen Kämpfen gegen politische Regime und Wirtschaftssysteme, die Menschen ihrer Existenzmöglichkeiten beraubt hatten, ableiten. Damals wie heute war das Erleben entbehrungsreicher Zustände an sich augenscheinlich nicht der Auslöser einer Revolution. Vielmehr bezogen sich Menschenrechtspolitiken auf politische und ökonomische Systeme, die die Menschen direkt daran hinderten, ihre Menschlichkeit zu verwirklichen. Für die Sklav_innen bedeutete die Plantagenwirtschaft als Produktionsweise Entbehrungen, die Körper, Geist und Seele betrafen. Die Plantagenwirtschaft legitimierte nicht nur körperliche Gewalt, Hunger und Folter, sie zerstörte auch Familienstrukturen und ermöglichte es, mit Menschen zu handeln, als seien sie Gegenstände. Das wirtschaftliche System war damit genauso ablehnungswürdig wie das politische System, weil es im selben Maße zur Entmenschlichung beitrug (Sen 2004: 316).
F AZIT Die Ereignisse und Beweggründe, die das westliche Modell der Menschenrechte hervorgebracht haben, haben sich in ganz ähnlicher Form auch an anderen Orten der Welt zugetragen. Menschenrechtliche Konzepte – in Form von Rechtsordnungen und in Form von Institutionen – finden sich weitverstreut auf der ganzen Welt (zuletzt in den kolonisierten Gebieten) und in vielerlei Ausdrucksformen (einschließlich der der antikolonialen Rhetorik). Diese Vorschriften und Ausdrucksformen behalten ihre Bedeutung im Bewusstsein und in den Erinnerungen unzähliger Menschen und verdeutlichen, wie wichtig es ist, konkrete menschliBauch oder Darm bedeutet, meint ,guts‘ im Plural auch Mut und Entschlossenheit. Wenn die Rede von ,mind, body and gut‘ ist, spielt Grovogui damit einerseits auf die Entschlossenheit der haitianischen Revolutionäre an, andererseits aber auch auf die besondere Verletzlichkeit des Körpers und dessen Schutzbedürftigkeit. Zusätzlich mag dies an Vorstellungen anknüpfen, wonach der Sitz des Mutes sich im Bauch, in der Körpermitte, befindet.
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che Grundbedürfnisse zu schützen, wenn von Menschenwürde und dem Recht auf Leben die Rede ist. Diese Aspekte geraten im etablierten Menschenrechtsdiskurs oft in Vergessenheit. Politische Gründe für diese Ausblendungspraxis liegen in einem spezifischen Realismus oder Pragmatismus, der seit dem Ende des Kalten Krieges die Menschenrechte für eine bestimmte politische und ideologische Agenda instrumentalisiert. Wenn der Zweck einer Theorie darin besteht, menschenrechtliche Normen zu entwickeln, die sich tatsächlich auch „verteidigen“ lassen, um dies als Basis für westliche Interventionen gegenüber unangepassten Staaten zu nehmen, dann erwächst hieraus die Notwendigkeit, nur die bestehende westliche Gesetzgebung und die westlichen Menschenrechtsinstitutionen als zielführend zu betrachten und ihnen entsprechenden Bedeutungsgehalt zu verleihen (Ignatieff 2001). Dies ist allerdings nicht so zu verstehen, dass die bestehenden Menschenrechtsinstitutionen und ihre entsprechenden politischen Instrumente keine eigenständige Bedeutung hätten. Vielmehr verweist dies darauf, dass eine rein rechtlich und politisch verankerte Argumentationspraxis zur Verteidigung von Interventionen keinen guten argumentativen Ersatz für eine tiefgehende Reflexion über die menschliche Existenz an sich darstellt. Dies erfordert spezifische Aufmerksamkeit für die Lebensbedingungen von Menschen anderswo auf der Erde, sowie eine Reflexion der unterschiedlichen Verständnisse politischer Subjektivität und Rationalität. Wenn man die Ausführungen Pagdens und Ignatieffs liest, verblüfft einen die Diskrepanz zwischen ihren elaborierten Überlegungen zum westlichen Rechtssystem und ihrem Schweigen, was jegliche anderweitige Beiträge zum moralischen Fortschritt der Menschheit anbetrifft. So beabsichtigt Ignatieff beispielsweise, das staatliche außenpolitische Monopol zu brechen und dementsprechend zwischen den Rechten des Staates und den Rechten der Bürger zu unterscheiden und abzuwägen (Igniatieff 2001). Dieser Impuls ist lobenswert angesichts der Ausbreitung politischer Gewalt von Seiten der Staaten gegenüber ihren Bürger_innen. Antikoloniale Theoretiker_innen nehmen eine vergleichbare Unterscheidung zwischen der Fähigkeit, politisch zu intervenieren, und der Rechtmäßigkeit solcher Interventionen vor. Ähnlich wie ihr westlicher Gegenpart halten antikoloniale und postkolonialer Theoriker_innen bis heute an der Position fest, dass nicht nur postkoloniale Staaten all ihre souveränen Privilegien verlieren, wenn sie sich als unfähig oder unwillig erweisen, ihre eigenen Büger_innen zu schützen, sondern dass auch hegemoniale Staaten ihre moralische Autorität – und damit auch das Recht, anderswo auf der Welt zu intervenieren – verloren haben, dadurch dass sie regelmäßig und systematisch politische und wirtschaftli-
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che Regime unterstützen, die Millionen Menschen die grundsätzlichsten Existenzmöglichkeiten verweigern. Ignatieff zufolge verlieren auch westliche Staaten, die die Umsetzung und Überwachung der Menschenrechte in heuchlerischer Weise betreiben, das Recht auf Selbstverteidigung nicht (Ignatieff 2001); dann aber erscheint auch in gleicher Weise das folgende Postulat moralisch vertretbar: Staaten der „Dritten Welt“, die sich bei der Umsetzung westlicher Menschenrechtsnormen heuchlerisch verhalten, verlieren ebenfalls nicht ihr Recht, Gewalt zur Aufrechterhaltung der Ordnung einzusetzen, soweit es darum geht, alternative Menschenrechtskonzeptionen zu vertreten. Dies ist freilich keine Position, die ich unterschreiben würde. Jedoch stelle ich diese Schlussfolgerung auf, um die verstörenden Logiken zu brandmarken, die durch eine merkwürdige Form der Moralität und durch methodologische Instrumentalisierung vorangetrieben werden. Diese gewähren notwendigerweise einigen Staaten und Gesellschaften das Vorrecht, zu definieren, worin der qualitative Gehalt von Menschenrechten besteht; verbunden mit dem Vorrecht, eine Anzahl von Institutionen inklusive deren erklärter und nichterklärter Ziele (einschließlich dem des Imperialismus) zu fördern. Diese Praxis der Instrumentalisierung unterstützt nicht nur die abwegige Annahme, dass der „gerechte Souverän“ im Westen beheimatet sei, sondern auch, dass Staaten der „Dritten Welt“, die sich nicht den westlichen Menschenrechtskonzeptionen anschließen, in moralischer Hinsicht rückständig seien und daher der institutionellen Reform bedürften, inklusive der Beschränkung ihrer Souveränität. Im Gegensatz hierzu ist es möglich, die Lücken zwischen der „Vorgabe“ (d.h. der scheinbaren Realität der Menschenrechte) und der „politischen Realität“ (d.h. der Heterogenität und der produktiven Mehrdeutigkeiten, die menschenrechtliche Diskurse und Praxen durchziehen) zu schließen, ohne einer Erwartung Vorschub zu leisten, dass eine einzige Institution menschenrechtliche Anliegen monopolisieren oder dass eine bestimmte Methodologie die Komplexität menschenrechtlicher Ordnungen und Institutionen verringern könne. Doch wenn man die Schauplätze moderner Revolutionen und antikolonialer Kämpfe betritt, ist es möglich, Einsicht in ganz unterschiedliche Menschenrechtskulturen zu erlangen. Dabei ist es beeindruckend, dass in Zeiten politischer Krisen menschenrechtliche Ordnungen aus pluralen Quellen – Ideen, Fakten und Praxen – heraus entstehen, indem sie im Verlauf politischen Experimentierens instrumentell neugeordnet werden, und dabei mit den vorhandenen Ängsten, Visionen, Wünschen und Phantasien korrespondieren (Fischer 2004: 20). Indem man das moralische und intellektuelle Terrain unterschiedlicher Ideen, Fakten und Praxen durchschreitet, kann ein umfassenderes Verständnis der Bedeutung, Reichweite
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und Gestalt unterschiedlicher menschenrechtlicher Konzepte erworben werden (Fischer 2004: 2). Aus dieser Perspektive betrachtet hängt der moralische Status unterschiedlicher Menschenrechtsgenerationen nicht von ihrem jeweiligen Ursprung ab. Daher rechtfertigt der nicht-westliche Ursprung der Idee, dass Menschenrechte notwendigerweise auch ökonomische, soziale und kulturelle Bedürfnisse umfassen müssen, sicherlich keine moralische Deklassifizierung. Genauso wenig drückt sich darin eine geringere Sorge nicht-westlicher Gemeinschaften um das Gemeinwohl, oder ein weniger ausgeprägtes Bewusstsein für die gemeinsame menschliche Vergangenheit aus. Tatsächlich lässt sich feststellen, dass die Haitianer_innen ihre ethischen Ordnungen ebenfalls aus dem überall auftretenden Bestreben, eine bessere moralische Ordnung zu schaffen, ableiteten. Sie projizierten diese Ordnungen als unveränderliche Gebote, die Zeit und Raum überwanden. Somit identifizierten die haitianischen Revolutionäre und auch antikoloniale Kämpfer_innen andernorts essentielle menschliche Bedürfnisse und Fähigkeiten und trafen infolgedessen die moralische Entscheidung, diese zu schützen. Ähnlich wie die französischen und amerikanischen Revolutionäre entwarfen auch die Haitianer_innen ihre moralischen oder ethischen Grundsätze mit der Absicht, auch zur Verbesserung der Situation von Individuen und Kollektiven an anderen Orten beizutragen. Ihre einzigartigen Grundsätze und menschenrechtlichen Ordnungen waren Antworten auf den Zustand der Menschheit an sich, und sind damit in gleichwertiger Weise Teil des gemeinsamen Erbes der Menschheit.
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Frantz Fanon in der Politikwissenschaft Potentiale einer Rezeption I NA K ERNER
Frantz Fanon war kein Politologe, sondern Psychiater, Freiheitskämpfer und Publizist. Dennoch sind seine Texte – vor allem das ursprünglich als Dissertation verfasste Buch Schwarze Haut, weiße Masken (Fanon 1980), die Aufsatzsammlung Aspekte der Algerischen Revolution (Fanon 1969), die als Hauptwerk geltende Schrift Die Verdammten dieser Erde (Fanon 1981) und der posthum erschienene Band Für eine Afrikanische Revolution (Fanon 1972) – in der Disziplin rezipiert worden; vor allem in der Politischen Theorie (vgl. u.a. Tibi 1971; 1979; Münkler 1981; Sander 1990; Reese-Schäfer/Mönter 2013: 110-123). Interpretiert wurde Fanon dort bis dato allerdings weniger als postkolonialer Theoretiker, sondern als Theoretiker der Gewalt und der Revolution. 1 Eine solche Lesart lag zumindest anfangs in gewissem Sinne in der Luft. Bereits Jean-Paul Sartre (1981) hatte sein Vorwort zu Die Verdammten dieser Erde in erster Linie dem Thema der revolutionären, im antikolonialen Kampf zur Blüte kommenden Gewalt gewidmet – obwohl es im eigentlichen Text von Fanon bloß eines von fünf Kapiteln dominiert. Militante Bewegungen einschließlich der Roten Armee Fraktion bezogen sich affirmativ auf Fanon (vgl. hierzu Kebir 2008). Hannah Arendt reihte ihn in die Liste jener Autoren ein, welche „die Gewalt um ihrer selbst willen verherrlicht haben“ (Arendt 1970:
1
Eine längere Fassung dieses Beitrages ist erschienen in: Reese-Schäfer, Walter/ Salzborn, Samuel (Hg.) (2015): „Die Stimme des Intellekts ist leise“. Klassiker/innen des politischen Denkens abseits des Mainstreams. Baden-Baden: Nomos. Autorin und Herausgeber danken dem Nomos-Verlag für die freundliche Genehmigung zum Wiederabdruck.
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66). 2 Das Wochenmagazin Der Spiegel schließlich untertitelte ein Foto des Autors, das eine Rezension seines Buches Die Verdammten dieser Erde illustrierte, mit den Worten: „Revolutionsdenker Fanon: Glühende Kugeln, blutige Messer“ (Der Spiegel Nr. 32/1966: 68). Und so stellte auch Herfried Münkler in einem 1981 in der Kölner Zeitschrift für Soziologie erschienenen Fanon-Aufsatz dessen „Philosophie der Gewalt in der Revolutionstheorie“ in den Mittelpunkt der Betrachtung (Münkler 1981). Münkler las Fanon durch eine dezidiert ideengeschichtliche Brille, genauer gesagt vor dem Hintergrund von Hegels Herr/Knecht-Dialektik. Vor diesem Hintergrund unterstellte er Fanon „den Anspruch einer globalen Emanzipationsperspektive“, bei der die Gewalt jenen systematischen Stellenwert einnimmt, der bei Hegel der Arbeit zukommt: Die Einleitung eines Prozesses, „in dessen Verlauf sich die ursprüngliche Herr-Knecht-Beziehung in ihr Gegenteil verkehrt“ (ebd.: 455). Mit Hilfe dieses Analyserahmens, der klar auf eine Einordnung Fanons in die Geschichte des westlichen politischen Denkens ausgerichtet war, den materialen Kontext seiner Reflexionen (den algerischen Befreiungskampf und die Dekolonisationsprozesse in weiteren afrikanischen Ländern) mit Blick auf Fanons theoretischen Anspruch bewusst dethematisierte (ebd.) und Fanons eigene, eher empirisch gehaltene Ausführungen über diesen Kontext fast vollständig ausblendete, konnte Münkler Fanon dann mit relativ wenig Mühe ein weitgehendes theoretisches Scheitern bescheinigen: Abgesehen von der schwerlich zu unterschätzenden emanzipatorischen Funktion der dekolonialen Gewalt, d.h. ihrer Funktion für die Wiederherstellung der Menschenwürde in einem kolonialen Kontext, ähnele seine „Theorie von der therapeutischen Funktion der Gewalt“ auf bedenkliche Weise nationalistischen Ideologien der „Reinigung des Volkes“ (ebd.: 458), „die integrierende Funktion, die Fanon der Gewalt zuschreibt“ sei problematisch und höchstens partiell überzeugend (ebd.: 458ff.), und auch die „von Fanon der Gewalt zugeschriebene aufklärerische Funktion“ (ebd.: 460) sei letztlich ein theoretischer Fehlgriff. Lektüren wie jene von Münkler sind in der Fanon-Forschung der letzten Dekaden nicht unumstritten geblieben. Fanons langjährige Weggefährtin und spätere Biographin Alice Cherki etwa hat eine deutlich andere Interpretation des Gewaltkapitels aus Die Verdammten dieser Erde vorgelegt – und zwar sowohl hinsichtlich seiner Ansprüche, als auch – damit freilich verknüpft – seiner Potentiale. Cherki zufolge stellt das Kapitel keine allgemeine Emanzipationstheorie dar, 2
Interessanterweise nimmt Arendt diese Einschätzung in einer Fußnote zumindest partiell zurück, wenn sie betont, dass „Fanon selbst der Gewalt gegenüber sehr viel mehr Vorbehalte“ gehabt habe „als seine Bewunderer“ (Arendt 1970: 18).
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sondern eher den Versuch einer Antwort auf zwei kontextgebundene, sehr konkrete Fragen: „Welches sind die notwendigen Bedingungen, damit die Dekolonisation zu Ende geführt werden kann? Wann kann man sagen, daß die Situation für eine nationale Befreiungsbewegung reif ist, und welche Kräfte müssen deren Avantgarde bilden?“ (Cherki 2002: 242). 3 Vor diesem Hintergrund habe Fanon die Gewalt nicht gerechtfertigt, sondern vielmehr analysiert, und sie dabei „nicht als Selbstzweck, sondern als notwendige Phase betrachtet“ (ebd.: 255): nämlich als Motor der Befreiung aus einer Konstellation der systematischen und ihrerseits gewaltgestützten wie gewaltsamen Entmenschlichung, einer Situation der Verhinderung des Menschseins, aus der es einen gewaltlosen, etwa der Lehre Gandhis folgenden Ausweg nicht zu geben schien. In dieser spezifischen Konstellation stellte der gewaltsame Widerstand für Fanon dann in der Tat eine notwendige Phase der „Dekolonisation des Menschen“ dar (ebd.: 258). 4 Zu der Einschätzung, dass Fanon alles andere als ein Generalapologet der Gewalt war, trägt überdies auch das fünfte und letzte Kapitel aus Die Verdammten dieser Erde bei, das Kapitel über Kolonialkrieg und psychische Störungen, das in der politiktheoretischen Rezeption bislang kaum Erwähnung gefunden hat; vielleicht aus disziplinären Gründen, da es größtenteils aus einer Sammlung von Krankheitsfällen besteht. Interessanterweise nun beansprucht dieses Kapitel nichts weniger, als „das Problem der psychischen Störungen, die aus dem nationalen Befreiungskrieg des algerischen Volkes entstanden sind“, zu verhandeln (Fanon 1981: 210). Nicht nur der Kolonialismus selber, sondern auch der bewaffnete antikoloniale Kampf wird an dieser Stelle als eine Situation beschrieben, die weniger die vielbeschworenen „neuen Menschen“ (ebd.: 30) als vielmehr psychisch kranke Menschen erzeugt – und zwar auf beiden Seiten, auf jener der Algerier wie auf jener der Europäer. Neben Münkler hat sich im Umfeld der Politischen Theorie im deutschsprachigen Raum Bassam Tibi recht früh mit Fanon befasst. Tibi hat das Kapitel über die psychischen Störungen zwar ebenfalls nicht in seine eigene Interpretation von „Frantz Fanons Gewalttheorie“ integriert, sondern diese, wie später Münkler, in erster Linie „im Zusammenhang mit seiner Hegel-Rezeption“ verhandelt – aber immerhin hat er sich dort von der These distanziert, Fanon verherrliche die Gewalt, und auch die schon bei Arendt, später dann wieder bei Münkler bemühten Sorel-Vergleiche zurückgewiesen (Tibi 1979: 156f.). Tibis 3
Vgl. hierzu auch Fanon (1981: 49).
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Zum Verhältnis von Fanon und Gandhi vgl. u.a. Presby (1996) und Singh (2007). Für eine Lesart der Hegelinterpretation Fanons, die nicht auf Gewalt, sondern auf Repräsentation fokussiert, vgl. Purtschert (2008).
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Fanon ist eher ein Dekolonisations- als ein Gewalttheoretiker, und mehr noch: eher ein gewichtiger Dekolonisations- als ein scheiternder Gewalttheoretiker. 5 Doch auch bei Tibi erscheint Fanons Theorie letztlich als vor-postkolonial, d.h. als eine Theorie, die in erster Linie koloniale Konstellationen und Gegenstrategien thematisiert. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, lässt sich Fanon jedoch auch – beziehungsweise: auf besonders produktive Weise vor allem – als postkolonialer Politiktheoretiker lesen. Zu diesem Zweck werde ich mich auf drei Aspekte seines Werks konzentrieren: erstens auf seine Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Geschlecht als kolonialem Differenzmarker, zweitens auf seine Reflexionen über Rassismus, und drittens auf seine Beobachtungen postkolonialer politischer Transformationen. Ich werde einen Fanon erscheinen lassen, der es als Rassismus- und als Transformationstheoretiker vermocht hat, seine dezidierte Ablehnung kolonialer Strukturen mit einer dichotomiekritischen und selbstreflexiven Haltung zu verbinden; und der als Geschlechtertheoretiker Beobachtungen niedergeschrieben hat, die noch heute aktuell sind. Damit rückt Fanon Themen auf die politiktheoretische Forschungsagenda, die zumindest in den traditionelleren Varianten dieser Subdisziplin kaum beachtet und bearbeitet werden; und er liefert ein richtungsweisendes methodologisches Beispiel für eine äußerst pointierte, dabei jedoch explizit reflexiv und undogmatisch vorgehende Gesellschaftskritik.
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UND KOLONIALE
D IFFERENZ
Fanon hat an verschiedenen Stellen deutlich gemacht, dass und inwieweit der Kolonialismus auf einer strikten Zweiteilung beruhte, auf einer Differenzziehung zwischen EuropäerInnen und Kolonisierten, der bis zur Entmenschlichung bzw. Animalisierung letzterer reichen konnte (Fanon 1981: 31ff.). Geschlecht bzw. unterschiedlichen Ausprägungen und Auffassungen angemessener Geschlechterverhältnisse kam dabei eine besondere Bedeutung zu: die Bedeutung der Markierung kultureller Differenz. Diesem Thema hat sich Fanon in seinem Aufsatz Algerien legt den Schleier ab gewidmet, einem wichtigen Kapitel seines Buches über Aspekte der Algerischen Revolution. Fanon beschreibt in diesem Aufsatz, wie und auf welche Weise die französische Kolonialmacht die Situation der algerischen Frauen „zum Leitmotiv der Aktion“ erhob und welche Konsequenzen sich daraus für den antikolonialen Widerstand ergaben (Fanon 1969: 22). Rich5
Vgl. hierzu auch Tibi (1987).
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tungsweisend ist seine diesbezügliche Analyse nicht zuletzt deshalb, weil das algerische Beispiel alles andere als ein Einzelfall war. In jenen kolonialen Konstellationen, die mit einer Zivilisierungsmission einhergingen, lief das geschlechterpolitische Programm europäischer Kolonialmächte häufig darauf hinaus, vorkolonialen Gesellschaften Sexismus zuzuschreiben und die koloniale Ordnung mit dem Willen zur Durchsetzung von Geschlechtergerechtigkeit zu assoziieren. 6 Gayatri Chakravorty Spivak (Spivak 2008: 78) hat für solche Strategien des Othering von Sexismus und des imperialen Antisexismus die griffige Wendung „Weiße Männer retten braune Frauen vor braunen Männern“ geprägt. „Das Image des Imperialismus als Begründer der guten Gesellschaft“, so schreibt sie, „trägt die Markierung des Eintretens [espousal] für die Frau als Objekt des Schutzes vor ihrer eigenen Art“ (ebd.: 84). Im algerischen Fall waren es Fanon zufolge die Funktionäre der französischen Verwaltung, die sich der Aufgabe annahmen, „die Zerstörung der Eigenart des Volkes“ zu bewirken und zu diesem Zweck die Algerierinnen zum Ablegen des Schleiers, vor allem aber zur Kollaboration zu bewegen – und zwar nach der Devise: „Wenn wir die Frauen gewonnen haben, dann haben wir den Kampf gewonnen“ (Fanon 1969: 21). Ansatzpunkt dieser Version kolonialer Kulturund Geschlechterpolitik war die Diagnose einer paternalistischen Gesellschaftsstruktur, gegen die man die Algerierinnen mobilisieren wollte. Fanon führt aus: „Die Besatzungsmacht möchte die gedemütigte, beiseite gedrängte, eingeschlossene Frau verteidigen. Man beschreibt die unermeßlichen Möglichkeiten der Frau, die leider vom algerischen Mann in ein träges, entwürdigtes, das heißt entmenschlichtes Objekt verwandelt worden ist. Das Verhalten des Algeriers wird als mittelalterlich und barbarisch denunziert. […] Der Okkupant will das Familienleben des Algeriers entschleiern; er häuft Verdächtigung auf Verdächtigung, vervielfacht die Anekdoten und erbaulichen Exempel und versucht so, die Traditionen und Bräuche aufzubrechen.“ (Ebd.: 22)
Vor dem normativen Horizont des liberalen Feminismus ließe sich nun konstatieren, dass die Geschlechterverhältnisse im kolonialen Algerien – wie übrigens in Frankreich auch – in jener Zeit, d.h. ab den mittleren 1930er Jahren, tatsächlich nicht von Egalitarismus geprägt waren. Und Fanon ließe sich vorwerfen, dass er in seiner Analyse die Instrumentalisierung der Geschlechterfrage für kolonialpolitische Zwecke insofern reproduziert, als er an einer komplexen femi6
Eine solche Zivilisierungsmission charakterisierte insbesondere den französischen, teilweise auch den britischen Kolonialismus – den deutschen hingegen kaum. Vgl. zu diesen Unterschieden Berman (2003).
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nistischen Interpretation der französischen Geschlechterpolitik im kolonialen Algerien tatsächlich wenig Interesse zeigte, obwohl u.a. mit Simone de Beauvoirs 1949 erschienener Studie Das andere Geschlecht (Beauvoir 1949; 1992) das theoretische Rüstzeug für ein solches Unterfangen zur Verfügung gestanden hätte. Zudem schildert er in einem anderen Text, dem Essay Die algerische Familie, durchaus die massiven individuellen Einschränkungen, die das traditionelle algerische Familienmodell für Mädchen und Frauen mit sich brachte, und bezieht die emanzipativen Effekte des antikolonialen Kampfes explizit auch auf Geschlechterverhältnisse, genauer „die Befreiung der Frau“ (Fanon 1969: 75). 7 In Algerien legt den Schleier ab qualifizierte er jene Frauen, die das Kopftuch in Reaktion auf die entsprechenden Kampagnen der französischen Besatzer abgelegt hatten, hingegen pauschal als „Musterfrauen“ ab, die „mit nacktem Gesicht und freiem Körper als Münzgeld der europäischen Gesellschaft“ herumliefen (ebd.: 26). Doch trotz dieser Einschränkung sind Fanons Ausführungen zur kolonialen Geschlechterpolitik äußerst erhellend. Denn sie richten das Augenmerk auf die Bedeutungskämpfe und -verschiebungen, welche die koloniale Geschlechterpolitik bewirkte – insbesondere hinsichtlich des Schleiers. Dessen große Bedeutung war seiner Analyse nach nämlich alles andere als vorpolitisch – beispielsweise schlicht religiös –, sondern vielmehr ein Effekt just jener Kolonialpolitik, die ihn in ihr Zentrum stellte. Allerdings unterschied sich die Bedeutung des Schleiers in inhaltlicher Hinsicht bald sehr deutlich von jener, die ihm die Franzosen zugewiesen hatten. Fanon schreibt: „Der kolonialistischen Offensive gegen den Schleier setzt der Kolonisierte den Kult des Schleiers entgegen. Was ein Element unter vielen in einem homogenen Ganzen war, gewinnt jetzt einen Tabucharakter; die Einstellung der Algerierin zum Schleier wird fortan in Verbindung gebracht mit ihrer allgemeinen Einstellung zur Besatzungsmacht. Der Kolonisierte reagiert auf die Hervorkehrung eines Bestandteils seiner Tradition durch den Kolonialisten sehr heftig. Das Interesse, diesen Bestandteil zu verändern, die vom Eroberer in seiner pädagogischen Arbeit gezeigte Hingabe, seine Bitten, seine Drohungen weben um das bevorzugte Objekt ein Netz der Widerstände. Gegen den Okkupanten gerade in dieser Sache standzuhalten bedeutet, ihm eine spektakuläre Niederlage beizubringen.“ (Ebd.: 31)
Fanons Analyse zufolge zählt also zu den Effekten jener kolonialpolitischen Maßnahmen, die den Schleier zum Symbol hierarchischer Geschlechterbezie7
Für die feministische Fanon-Interpretation vgl. u.a. Sharpley-Whiting (1998), Dubey (1998) und Chow (1999).
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hungen stilisieren, die Umdeutung des Schleiers in ein Symbol des Antagonismus zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten durch Letztere. Die Bedeutung des Schleiers wandelte sich also; und neben die bereits skizzierten Bedeutungsverschiebungen traten Fanon zufolge sogar noch weitere, und zwar aufgrund des strategischen Einsatzes des Schleiers durch Aktivistinnen des antikolonialen Widerstands. 8 Geschlechterverhältnisse sowie die Kleidung, insbesondere die Kopfbedeckung muslimischer Frauen sind noch heute zentraler Gegenstand der politischen wie auch der politiktheoretischen Reflexion und Auseinandersetzung über Fragen der Menschenrechte und der globalen Gerechtigkeit, aber auch des Lebens bzw. des Zusammenlebens in heterogenen Gesellschaften. 9 Dabei fällt auf, dass auch in aktuellen, d.h. postkolonialen Konstellationen der Diskurs oftmals darauf hinausläuft, Sexismus – und in jüngerer Zeit zunehmend auch Heterosexismus bzw. die Verletzung von LGBTQI-Rechten, also der Rechte von lesbisch, gay, bisexuell, transgender, queer oder intersexuell identifizierten Personen – zu othern, zu externalisieren, den Anderen zuzuschreiben – einem anderen Staat, einer anderen Kultur, einer anderen Religion, einem anderen wie auch immer konstitutierten Kollektiv. Und auch hier läuft die politische Rhetorik häufig darauf hinaus, dass es die Pflicht westlicher, liberaler Staaten sei, die Lage der Frauen und sexuellen Minderheiten dieser anderen Kontexte zu verbessern – und sie damit, um noch einmal Spivaks, aber auch Fanons Terminologie zu bemühen, zu retten. 10 Frantz Fanon verdanken wir, dass er bereits sehr früh die Kolonialgeschichte dieser komplexen Diskurs- und Politikformation aufgezeigt hat; einer Formation, in der nicht immer unterscheidbar ist, ob man es mit ernsthaftem liberalem Feminismus und ehrlicher Menschenrechtspolitik zu tun hat oder aber mit deren Instrumentalisierung zu machtpolitischen Zwecken.
8
Zur Thematisierung des Schleiers im zeitgenössischen postkolonialen Feminismus
9
Vgl. hierzu aus einer Vielzahl von Publikationen u.a. Cohen/Howard/Nussbaum
vgl. Lewis/Mills (2003: 489-609). (1999), Bielefeld (2007), Benhabib (2008) und nicht zuletzt das Cover von Heins (2013). 10 Zum Othering des Heterosexismus vgl. u.a. Puar (2007); zur aktuellen Debatte um diese Fragen in der deutschsprachigen feministischen Politikwissenschaft auch Kerner (2014b).
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ANTIRASSISMUS
Geschlechterfragen waren für Fanon eher ein Randthema, wenngleich sie seine Schriften querschnitthaft durchziehen. Anders verhält es sich mit seinen kritischen Ausführungen über Rassismus und Antirassismus, denen er sein gesamtes erstes Buch, Schwarze Haut, weiße Masken, sowie – direkt wie indirekt – weite Teile seiner Schrift Die Verdammten dieser Erde gewidmet hat. Fanons Rassismusanalyse sticht dadurch heraus, dass sie dezidiert breit angelegt ist und Rassismus nicht auf einzelne Faktoren wie etwa Vorurteile oder die Legitimierungsfunktion für ökonomische Ausbeutung beschränkt. Fanon thematisiert Rassismus vielmehr als multidimensionales Alltagsphänomen, das institutionelle, epistemische und personale Aspekte umfasst und koloniale, metropolitane wie postkoloniale Konstellationen affiziert. 11 Institutionell zeigt er auf, inwiefern der Kolonialismus auf einer strikten, räumlichen wie funktionalen Zweiteilung (Europäer hier, Kolonisierte dort) beruhte, die das gesellschaftliche Leben ebenso betraf wie die Sphären der Arbeit und der Politik, und die gewaltsam, d.h. durch Polizei und Militär, abgesichert wurde (Fanon 1981: 31ff.). Epistemisch ermöglicht und gestützt wurde diese Zweiteilung durch rassistische Denkformen – in deren Extremvariante den Kolonisierten jedes menschliche Attribut abgestritten wurde (ebd. 210). Hinsichtlich der epistemischen Dimension thematisiert Fanon ferner die große Bedeutung von Sprach-, Kultur-, und Bildungspolitik für die Etablierung und Durchsetzung weißer, kolonialer Suprematie und die Entstehung kollektiver Unterlegenheitskomplexe auf Seiten der Kolonisierten (Fanon 1980: 13ff., 120). Den Rassismus in den Metropolen hat Fanon vornehmlich in seinem ersten Buch, Schwarze Haut, weiße Masken behandelt – hier überwiegt eine Analyse auf der personalen Ebene, denn der Fokus liegt auf interpersonalen Alltagserfahrungen und deren Auswirkungen für das Selbstverhältnis rassistisch diskriminierter Menschen. Fanon diagnostiziert in diesem Zusammenhang vor allem Phänomene der Entfremdung (ebd.: 10 u. 22), hervorgerufen durch die Erfahrung bzw. Wahrnehmung, auf die eigene Hautfarbe und die mir ihr assoziierten Attribute reduziert zu werden. Dies gilt seiner Analyse nach übrigens auch für Weiße: „Der Weiße ist in seine Weißheit eingesperrt. Der Schwarze in seine Schwarzheit“ (ebd.: 9) erklärt er. Bei Letzterem sind in jedem Falle die psychischen Effekte eindeutig negativ. Eindrücklich schreibt Fanon von einer „Verinnerlichung oder besser Epidermisierung“ von Minderwertigkeit (ebd.: 10); und 11 Für ein ausführliches Plädoyer für eine solche mehrdimensionale Herangehensweise vgl. Kerner (2009).
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ähnlich wie knapp 50 Jahre vor ihm der US-Amerikaner W.E.B. Du Bois spricht er von einer „Spaltung“, einem Bruch des Bewusstseins, der sich darin äußere, dass ein Schwarzer „in jedem Augenblick gegen sein Bild“ kämpfe (ebd.: 122). 12 Gestützt nicht zuletzt auf eigene Erfahrungen spricht Fanon in diesem Zusammenhang auch von der Selbstkonstituierung als Objekt, dem Gefühl der Schutzlosigkeit und der Frustration, dem Eindruck, seziert und fixiert zu werden, eingemauert und verabscheut; außerdem von der Empfindung von Scham und Selbstverachtung (ebd.: 73ff.). Die Identitätsbildung beschreibt Fanon auf diese Weise als schmerzvollen, eindeutig sozial vermittelten Prozess – mit foucaultianischem Vokabular könnte man sagen: als Prozess rassistischer Subjektivierung. Es versteht sich von selbst, dass Fanon damit ein Gegenmodell zu allen rassistischen Charakterzuschreibungen vorlegte, einschließlich derer, mit denen er selbst konfrontiert war. Denn derartige Zuschreibungen verfolgen gerade nicht individuelle Identitätsbildungsprozesse nach, sondern identifizieren einzelne mit den vermeintlich typischen Eigenschaften einer „rassisch“ definierten Gruppe, mit der sie zugleich assoziiert werden. Bemerkenswert ist aber nicht nur Fanons Rassismusanalyse. Auch seine antirassistischen Überlegungen sind richtungsweisend – und insofern radikal, als dass er sich nicht mit den im Feld der Diversitätspolitik verbreiteten identitätspolitischen Vorschlägen einer aufwertenden Anerkennung des vormals Abgewerteten oder gar Verworfenen begnügt, sondern perspektivisch „rassische“ Differenzziehungen selbst zu überwinden trachtet. 13 Bereits in Schwarze Haut, weiße Masken zeigt sich Fanon skeptisch gegenüber dem Versuch, „aus der Vergangenheit der Völker meiner Hautfarbe meine ursprüngliche Berufung“ herzuleiten (ebd.: 144). Aufheben könnten Schwarze wie Weiße ihre Entfremdung vielmehr dann, wenn sie sich weigern, „sich in den substantialisierten Turm der Vergangenheit sperren zu lassen“ (ebd.). Sich entgegen fixierenden gesellschaftlichen Zuschreibungen selbst erschaffen könne man, indem man in der Welt voranschreitet – es sei die Bestimmung des Menschen, „losgelassen zu werden“ (ebd.: 147). Damit geht Fanon, merklich beeinflusst von existenzialistischem Gedankengut, einen anderen Weg als jenen der Négritude und ihrer späteren Aktualisierungen, also Strategien der Affirmationen einer schwarze Kultur bzw.
12 Du Bois hat diesen Gedanken vor allem in seinem berühmt gewordenen Buch The Souls of Black Folk (Du Bois 1996) ausbuchstabiert. Für eine Diskussion der Unterschiede zwischen Du Bois und Fanon vgl. Gaines (1996). 13 Vgl. hierzu u.a. Gilroy (Gilroy 2000; 2011) und Mbembe (Mbembe 2009; 2012; 2014).
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Identität in antirassistischer Absicht. 14 Seine Position unterscheidet sich ferner von weiteren kulturalistischen Antworten auf Probleme heterogener Gesellschaften, wie jene des Kommunitarismus oder der kommunitaristischen Varianten des Multikulturalismus (z.B. Taylor 2009); von Konzepten und Maßnahmen des Diversity Managements, die Differenz ebenfalls affirmieren, ganz zu schweigen. Fanon problematisiert in Schwarze Haut, weiße Masken die epistemische Gewalt, die vom europäischen Kolonialismus ausging, weniger als Phänomen der Missachtung autochthoner Kulturen, denn als Phänomen der rassistischen Klassifikation und Hierarchisierung von Menschen; abstrakt als Phänomen der Missachtung humanistischer Grundannahmen einer gemeinsamen Menschheit und der gleichen Würde, konkret jedoch vor allem als Phänomen der Missachtung von Individuen. Es ist der je individuelle Mensch, der im Zentrum seiner Reflexionen steht, nicht die kulturelle Vielfalt. Auf der phänomenalen Ebene beschreibt Fanon Rassismus als mehrdimensional und umfassend; dessen Problematik zeigt sich für ihn jedoch vor allem auf der Ebene der Verhinderung, Einschränkung und sonstigen negativen Beeinflussung individueller Lebensentwürfe und -vollzüge. Aber es ist nicht nur Fanons Existenzialismus, der ihn Abstand von allein kulturalistischen Antworten suchen ließ, sondern auch sein Materialismus, der Umstand, dass er Rassismus eben nicht allein als diskursiv-epistemisches Phänomen verstand, sondern auch als institutionelles bzw. institutionalisiertes. Praktisch lief sein Antirassismus nämlich auf antikolonialen Widerstand und damit auf eine grundlegende gesellschaftliche Transformation hinaus. Bereits in Schwarze Haut, weiße Masken hatte er betont, dass die Entfremdung der Schwarzen neben der bereits erwähnten Verinnerlichung von Minderwertigkeit eine weitere Ursache habe, nämlich eine ökonomische. Eine Beseitigung der Entfremdung erfordere daher nicht nur subjektive, sondern auch objektive, materielle Anstrengungen (Fanon 1980: 10). Nötig sei nichts weniger als die „Umstrukturierung der Welt“, eine „Veränderung der sozialen Strukturen“ (ebd.: 55 14 Im fünften Kapitel von Schwarze Haut, weiße Masken, Die erlebte Erfahrung des Schwarzen, beschreibt Fanon die Ideen der Négritude zumindest im französischen Kontext als letztlich aussichtslos (vgl. Fanon 1980: 80ff.). Eine explizite Auseinandersetzung mit den Grundideen und Strategien der Négritude hat Fanon auch im Kapitel Über die nationale Kultur in seinem Buch Die Verdammten dieser Erde vorgelegt (vgl. Fanon 1981: 182ff.). Dort argumentiert er allerdings nicht mehr existentialistisch, sondern eher politikstrategisch, wenn er betont, dass die Négritude-Bewegung nationalkulturelle Differenzen überblende und mit ihrem bewusst inklusiven Rekurs auf alle Schwarzen überkommene „rassische“ Differenzierungen reproduziere.
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u. 66). Wie wir wissen, schloss sich Fanon wenige Jahre nach Erscheinen dieser Zeilen dem antikolonialen Widerstand im französisch besetzten Algerien an; aber auch in seinen Texten befasste er sich nach seinem ersten Buch zunehmend mit strukturellen Aspekten kolonialer und postkolonialer Konstellationen.
P OSTKOLONIALE T RANSFORMATIONEN Fanons Buch Die Verdammten dieser Erde ist von der Einsicht getragen, dass eine tatsächliche Dekolonisation die Überwindung kolonialer Differenzierungen in allen ihren Ausprägungen, die vollständige Zerstörung des kolonialen Manichäismus erfordere – ein „Programm absoluter Umwälzung“ mit weitreichenden institutionellen Auswirkungen. Für genauso wichtig, und zwar als Antwort auf die entmenschlichenden Aspekte des Kolonialrassismus, hielt er in diesem Zusammenhang die „Schöpfung neuer Menschen“ (Fanon 1981: 29f.). Deutlich geht Fanon in Die Verdammten dieser Erde mit nationalen Bourgeoisien ins Gericht, die nach der Unabhängigkeit in erster Linie die Positionen der ehemaligen Kolonialherren zu besetzen trachten und damit zwar versprechen, koloniale Machtverhältnisse potentiell umzukehren, die überkommenen Ordnungsmuster selbst jedoch intakt halten (ebd.: 133). Darüber hinaus hinterfragt er das Potential jener politischen Projekte und Strategien, die sich positiv vor allem auf vorkoloniale Traditionen berufen, anstatt in zukunftsgerichteter Weise die Wiederherstellung nationaler Souveränität mit der Etablierung eines neuen Humanismus zu verbinden. Es gelingt ihm auf beeindruckende Weise, eine scharfe Kolonialismuskritik mit einer kritischen Haltung gegenüber dem eigenen politischen Lager zu verbinden – jede Form der Romantisierung von Verdammten, Unterworfenen, Aufständischen oder anderen Leidtragenden und Gegner_innen des Falschen ist Fanon fremd. Hinsichtlich postkolonialer Transformationen sind drei Aspekte seiner Überlegungen besonders richtungsweisend: seine Kolonialismusanalyse, seine Ausführungen zu kolonialen Spät- und Langzeitfolgen und seine postkolonialen Visionen und Forderungen. Mit seinem Buch Die Verdammten dieser Erde und den Essays in Aspekte der Algerischen Revolution hat Fanon eine umfassende Analyse der weitreichenden Effekte der kolonialen Herrschaft vorgelegt, der er dort nichts weniger als die Zerstörung vorkolonialer Gesellschaftsformen (ebd.: 33) bescheinigt. Damit schreibt er nicht zuletzt gegen jene eurozentrischen Vorstellungen an, denen zufolge die europäischen Kolonialgebiete vor ihrer Kolonisierung terrae nullius waren, oder die in den Einwohner_innen dieser Gebiete allenfalls traditionale Völker, in keinem Falle jedoch komplexe Gesellschaften sahen. Zu den unter-
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schiedlichen Momenten der genannten Zerstörung zählt Fanon die empfindliche Transformation vorkolonialer Regierungssysteme im Zuge ihrer Indienstnahme im Rahmen indirekter Herrschaft, also der Übertragung lokaler Regierungsmacht an tribale Autoritäten (ebd.: 77); die Einführung behördlicher Willkür und Rechtlosigkeit (ebd.: 37); aber auch die Erzeugung einer politischen Kultur der zugleich an ihrem Ausbruch gehinderten Wut (ebd.: 44ff.). Es liegt auf der Hand, dass all dies für junge Postkolonien nicht gerade einen Startvorteil darstellte. Und so warnte Fanon bereits früh vor anhaltendem Autoritarismus und der Korruption postkolonialer Regierungen (Fanon 1981: 132f.). Zu den Langzeitfolgen des Kolonialismus zählte er außerdem weite Bevölkerungskreise betreffende negative Effekte der erlittenen Gewalt (ebd.: 259). Fanon zufolge war die Kolonisation „eine große Lieferantin für psychiatrische Kliniken“ (ebd.: 210); als „menschliche Hinterlassenschaft Frankreichs in Algerien“ beschreibt er ferner „eine ganze Generation von Algeriern […], die vom willkürlichen und kollektiven Totschlag mit allen seinen psychoaffektiven Nachwirkungen geprägt ist“ (ebd.: 259). Von posttraumatischen Belastungsstörungen war 1961, als sein Buch erschien, noch nicht die Rede. Fanon hatte den Weitblick, die Problematik der (kollektiven) Traumata auf den europäischen Kolonialismus und die Kolonialkriege anzuwenden – Jahrzehnte bevor dies zu einem etablierten Forschungsthema wurde. Neben politischen und psychoaffektiven Langzeitfolgen des europäischen Kolonialismus machte Fanon ferner dessen ökonomische Nachwirkungen zum Thema – und problematisierte die auf billigen Rohstoffexport konzentrierte Wirtschaftsstruktur vieler Postkolonien, die sich von jener der Kolonialzeit kaum unterschied (ebd.: 130ff.). In der Verantwortung dafür sah er vor allem das Bürgertum der jungen Staaten, das er scharf dafür kritisierte, in erster Linie die eigenen Konsuminteressen zu maximieren, anstatt der nationalen Wirtschaftsentwicklung zu dienen: „Bei der nationalen Bourgeoisie der Kolonialländer dominiert der Genießertyp, weil sie sich psychologisch mit der westlichen Bourgeoisie identifiziert, deren Lehren sie aufgesogen hat“, schrieb er (ebd.: 131). Und nicht nur mit Blick auf die Tourismusindustrie monierte er, dass die nationale Bourgeoisie, „abgeschnitten vom Volk, geschwächt durch ihre angeborene Unfähigkeit, den Problemzusammenhang unter dem Aspekt der gesamten Nation zu durchdenken […] die Rolle eine Geschäftsführers in Unternehmen des Westens“ übernehme und auf diese Weise „ihr Land zu einem Bordell Europas“ mache (ebd.: 131). Ähnlich negativ fiel sein Urteil über den landwirtschaftlichen Sektor aus. Den „nationalen Grundbesitzern“ beschied Fanon ein ähnliches eigeninte-
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ressengeleitetes, am Luxuskonsum ausgerichtetes ökonomisches Handeln wie dem städtischen Bürgertum und kritisierte ihr risikoscheues, auf staatliche Subventionen setzendes Agieren – vor allem aber beanstandete er das Ausbleiben einer landwirtschaftlichen Modernisierung und eine verschärfte Ausbeutung der Landarbeiter, die pikanterweise im Namen des nationalen Aufbaus erfolge (ebd.: 132). Vor diesem Hintergrund nimmt es kaum Wunder, dass zu Fanons Zukunftsvisionen die Neugestaltung der Wirtschaft einschließlich der außenwirtschaftlichen Beziehungen zählte – eine Forderung, deren Realisierung auf globaler Ebene eine nachhaltige Restrukturierung der Weltwirtschaftsordnung nach sich gezogen hätte. Fanon sprach deutlich aus, dass den Postkolonien ökonomisch betrachtet eine Herkulesaufgabe bevorstand – und dass diese ohne europäische Reparationszahlungen und Aufbauhilfen kaum gelingen könne (ebd.: 82ff.). Aufgrund seines vorzeitigen Todes kann man bloß spekulieren, wie Fanon vor diesem Hintergrund die europäische Entwicklungspolitik mit ihren unterschiedlichen Sparten der finanziellen, technischen und personellen Zusammenarbeit eingeschätzt hätte – vermutlich nicht besonders positiv. Interessant ist in jedem Falle, dass er die Konditionalisierung der (wirtschaftlichen) Zusammenarbeit anhand von Kriterien der guten Regierungsführung problematisierte – und zwar aus kolonialhistorischen Gründen. „Die westlichen Finanzgruppen“ schrieb Fanon über den privatwirtschaftlichen Sektor und dessen zögerliches Investitionsverhalten, forderten „politische Stabilität und ein ruhiges soziales Klima“ – dies allerdings seien „Bedingungen, die angesichts des Elends der Bevölkerung, unmittelbar nachdem die Unabhängigkeit erreicht ist, unmöglich zu erfüllen sind“ (ebd. 84). Fanon prangerte also den Umstand an, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen europäischen Ländern und ihren Postkolonien unter extrem ungleichen Bedingungen begann – und begegnete den prognostizierbaren negativen Auswirkungen dieser ungleichen Konstellation mit der Warnung vor Neokolonialismus und einem deutlichen Appell an Europa, unterstützend aktiv zu werden (ebd.: 153 u. 85f.). Allerdings hätte es Fanon fern gelegen, seine wirtschaftspolitischen Visionen und Forderungen auf den Ruf nach Reparationen und europäischen Hilfeleistungen zu beschränken. Seine binnenökonomischen Vorschläge waren ebenfalls weitreichend. Er empfahl nichts weniger als die Nationalisierung des tertiären Sektors, und zwar im Sinne der Schaffung dezentraler, demokratisch strukturierter Ein- und Verkaufsgenossenschaften (ebd.: 153f.). Ferner sprach er sich für eine Landreform aus, von der er sich nicht zuletzt die Möglichkeit der Umstel-
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lung der bis dato weitgehend exportorientierten Agrarproduktion auf lokale Ernährungs- und Konsumbedarfe versprach (ebd.: 163f.). Und auch seine politischen Visionen liefen auf Maßnahmen der Demokratisierung und Dezentralisierung hinaus. Grundsätzlich gesehen ging es ihm zunächst darum, das während der Revolutionsphase ausgeprägte nationale Bewusstsein möglichst rasch hinter sich zu lassen und ein politisches und soziales Bewusstsein auszubilden (ebd.: 173). Mit Verve plädierte er in diesem Sinne für eine Politisierung des Volkes, das heißt für dessen Erziehung zu mündigen Bürger_innen (ebd.: 154 u. 168). Er insistierte auf die Etablierung von Mehrparteiensystemen mit wahrhaftigen Volksparteien, Meinungsfreiheit und einem regen öffentlichen Diskurs (ebd.: 155ff.); Einheitsparteien hingegen bezeichnete er als „moderne Form der bürgerlichen Diktatur“ (ebd.: 141). 15 Um den kolonialen Zentralismus nicht zu perpetuieren, empfahl Fanon eine bewusste Verlagerung der politischen Aktivitäten von den städtischen Zentren in die ruralen Zonen – das Hinterland müsse man privilegieren, die Hauptstadt hingegen entsakralisieren (ebd.: 159). Auch hier schwebten ihm basisdemokratische Organisationsmodelle vor; er sprach von lokalen Zellen und Komitees und von Entscheidungsstrukturen, die eher von unten nach oben als von oben nach unten verlaufen (ebd.: 166). 16 Dass die historische Entwicklung vieler Postkolonien eine andere war als die von Fanon erhoffte, wissen wir nicht erst seit heute. Er selbst verurteilte „die dramatischen Lösungen der ersten Periode der Unabhängigkeit, die Mißgeschicke der nationalen Einheit, den Verfall der Sitten, die Versuchung des Landes durch Korruption, die wirtschaftliche Regression und, binnen kurzer Zeit, das antidemokratische Regime, das auf Gewalt und Einschüchterung beruht“ (ebd.: 151). Er problematisierte jeden Übergang vom Nationalismus „zum UltraNationalismus, zum Chauvinismus, zum Rassismus“ (ebd.: 133) anstelle der von ihm selbst als so wichtig, jedoch keinesfalls als automatisch angesehenen Transformation des Nationalismus zu demokratischen und sozialen Denkmustern, Prozessen und Institutionen; schließlich warnte er vor neuen religiösen Konflikten (ebd.: 136). Es ist nicht zuletzt diese Weitsicht, die Fanons Ausführungen 15 Für eine ganz andere (postkoloniale) Interpretation der Einparteienherrschaft im südlichen Afrika vgl. das Kapitel Demokratie gestalten in Comaroff/Comaroff (2012: 153182). 16 Zu Fanons Visionen zählte ferner die politische Jugendarbeit, genauer eine Ausbildung der Jugendlichen zu bewussten Menschen (Fanon 1981: 166ff.), die Geschlechtergleichstellung (ebd.: 172) und die Politisierung bzw. Nationalisierung der Armee – explizit sprach er sich gegen das Berufssoldatentum aus (ebd.: 171f.).
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über postkoloniale Transformationen auszeichnet – neben dem Umstand, dass ihn seine Weitsicht nicht zu afropessimistischen Prognosen verleitete, sondern zu radikaldemokratischen Visionen inspirierte.
F AZIT Ich habe hoffentlich zeigen können, dass in Fanons Texten nicht nur weit mehr, sondern vor allem auch etwas deutlich anderes zu finden ist als eine politische Theorie der Gewalt: eine nach wie vor aktuelle Analyse der geopolitischen Instrumentalisierung von Feminismus und Geschlechterverhältnissen, eine mehrdimensionale Theorie von Rassismus und Antirassismus, und ein weitsichtiger Blick auf postkoloniale Transformationen mit ihren vielfältigen Facetten. Vor diesem Hintergrund ist es gewiss kein Zufall, dass Fanon in der aktuellen postkolonialen Rezeption kaum mehr mit glühenden Kugeln und blutigen Messern assoziiert wird, wie das in den 1960er Jahren Der Spiegel vormachte und wie es in den Folgejahren auch in der politiktheoretischen Rezeption immer wieder aufschien. 17 Er wird auch nicht mehr in erster Linie als scharfer Kritiker des letztlich verlogenen europäischen Humanismus interpretiert, wie das etwa noch Sartre tat (Sartre 1981: 22). Stattdessen wird Fanon seit einigen Jahren vermehrt als Theoretiker eines neuen, erneuerten Humanismus gelesen. Eines Humanismus mit Humanisierungseffekt, aber ohne vorgängige Subjekte (Alessandrini 2009), eines Humanismus, der aus der expliziten Transzendierung rassistischer Differenzlinien erwächst (Mbembe 2012), eines reparativen Humanismus, der sich aus der Überwindung jeder kolonialen Ordnung und ihrer Relikte speist (Gilroy 2011), oder als ein postkolonialer, die Verheerungen des Kolonialismus offen adressierenden Kosmopolitismus (Go 2012). 18 In allen diesen Varianten ist der Humanismus tatsächlich inklusiv gedacht. Er erstreckt sich auf ausnahmslos alle Menschen, inkludiert also auch die vormals Exkludierten. Ferner ist er von Versuchen einer Überwindung rassistischer Denk- und Gesellschaftsmuster ge17 Bei der bereits eingangs zitierten Bildunterschrift handelt es sich um ein Zitat: „Die nackte Dekolonisation läßt durch alle Poren glühende Kugeln und blutige Messer ahnen“, schreibt Fanon gleich auf der zweiten Seite des Gewalt-Kapitels von Die Verdammten dieser Erde (Fanon 1981: 30). Es ist allerdings kein Zitat, auf das sich die Kernaussagen dieses vielschichtigen Buches sinnvoll reduzieren ließen. 18 Vgl. hierzu ferner Bernasconi (1996) und das Kapitel A new humanism? in Nayar (2013: 117-131); zum neuen Humanismus bei Gilroy und Mbembe auch Kerner (2014a).
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prägt und um Möglichkeiten einer Wiedergutmachung jenes Leids bemüht, das den enthumanisierenden Diskursen und Praktiken des europäischen Kolonialismus entsprang. Er ist weniger ein Denkmodell denn eine Praxis, die zumindest auf absehbare Zeit als kaum abschließbar verstanden werden kann. Der Gewalttheoretiker Fanon, die dominante Figur der politiktheoretischen Fanon-Rezeption vor allem der 1970er und 1980er Jahre, klagte das alte Europa an und wandte sich weitgehend von ihm ab. Der postkoloniale Theoretiker, der in der aktuellen Rezeption aufscheint, nimmt das alte Europa in die Pflicht. Vielleicht erweist sich der postkoloniale Fanon als der letztlich radikalere. Mehr Stoff für die Politikwissenschaft bietet er in jedem Falle.
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Gewalt weiter denken in der Kolonialität des Wissens C LAUDIA B RUNNER
G EWALTDEFINITIONEN
IM ENGEN K LEID EINER STAATSTRAGENDEN D ISZIPLIN Gewaltverhältnisse sind der Ausgangspunkt für zahlreiche Forschungsfragen und Gegenstände der Politikwissenschaft – doch sie werden selten so genannt. In politikwissenschaftlichen Einführungswerken ist Gewalt als eigenständiges Thema so gut wie abwesend. Als solches findet sie in Subfeldern wie Entwicklungs-, Friedens- und Konfliktforschung, in den Internationalen Beziehungen oder in feministischer Politikwissenschaft Eingang. Im Kern des Fachs wird Politik je nach Perspektive als Verteilungs-, Macht- oder Ordnungsfrage verstanden. Daraus resultiert zwar die zentrale Beschäftigung mit Staatsgewalt und Gewaltenteilung, also mit zu Normen geronnenen Gewaltverhältnissen. Diese selbst gelten jedoch nicht als gewaltförmig, sondern vielmehr als Ergebnis der Überwindung von Gewalt qua Politik. Politik und Gewalt scheinen einander auszuschließende Sphären zu sein. Dass den mit der Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols verbundenen politischen Prozessen im historischen Rückblick unterschiedlichste Formen von Gewalt zugrunde liegen, findet in den zentralen Begriffen und Kategorien der Disziplin wenig Niederschlag. Jene Gewalt hingegen, die Gewaltmonopol, Staatsgewalt und Gewaltenteilung herausfordert, gilt der Disziplin als Abweichung und Sonderfall, nicht als Normalität politischer Ordnung und ihrer Aushandlungs- und Verwerfungsprozesse. Das liegt erstens an der Ambivalenz des Begriffs Gewalt selbst, der im Deutschen nicht zwischen Ordnungsbegründung (lateinisch: potestas, mit Rechtmäßigkeit konnotiert) und Ordnungszerstörung (lateinisch: violentia, mit Unrechtmäßigkeit konnotiert) unterscheidet (Imbusch 2002: 27ff). Das ihm zugrundeliegende indogermanische Wort giwaltan bezeichnet genau jene Gleichzeitigkeit
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und Ununterscheidbarkeit von Verfügungsgewalt und Gewaltanwendung, die bis heute politische ebenso wie wissenschaftliche Differenzierungen erschwert. Zugleich sind es diese beiden Dimensionen, zwischen denen sich Gegenstände der Politikwissenschaft notwendigerweise bewegen. Doch auch eine vermeintlich trennscharfe begriffliche Unterscheidung kann nicht darüber hinweg täuschen, dass etwa auch mit power oder violence jeweils vielschichtige gewaltförmige Prozesse und deren Ergebnisse benannt werden. Inzwischen besteht zwar weitgehend Konsens darüber, dass der Normalfall von Gewalt die Uneindeutigkeit und Vielschichtigkeit ihrer Phänomene ist, und dass auch strikte Definitionsversuche dieses Problem nicht lösen können (Heitmeyer/Soeffner 2004: 11). Dennoch widerspricht kanonisiertes politikwissenschaftliches Wissen einem relationalen und offenen Verständnis von Gewalt, wenn es um die Analyse konkreter Phänomene politischer Gewalt geht, wie etwa das Handbuch Politische Gewalt (Enzmann 2013) illustriert. Eine positive Ausnahme ist das Lexikon der Politikwissenschaft (Nohlen/Schultze 2010), das – abgesehen von postkolonialer Theorie, die dort noch keine Berücksichtigung findet – eine Palette von auch weiter gefassten Gewalttheorien anführt (ebd.: 324ff). Deren Bandbreite findet jedoch in den unterschiedlichen Teilbereichen des Fachs wenig Resonanz. Auch die politikwissenschaftliche Theoriebildung hält bis heute an einem engen Gewaltbegriff fest (Koloma Beck/Schlichte 2014). In überwiegendem Ausmaß fokussiert Politikwissenschaft auf Begriffe, die Gewalt inklusive Schädigungsabsicht und politischer Verortung vorrangig als direkte und physische verstehen, um dann grob zwischen individueller und kollektiver Gewalt zu unterscheiden. Der lange Weg dorthin, der von ineinander verwobenen und höchst unterschiedlichen Gewaltformen gesäumt ist – von struktureller über symbolische, diskursive und normative bis hin zu epistemischer Gewalt –, ist in der Politikwissenschaft noch weitgehend unvermessen. Zweitens macht der in politikwissenschaftlichen Gewaltdebatten privilegierte Referenzpunkt des modernen europäischen Nationalstaats westlicher Prägung juristische Definitionen euro- und androzentrischer Herkunft zur stillen Norm des begrifflichen Instrumentariums. Das staatliche Gewaltmonopol der westlichen Nation als Errungenschaft moderner Zivilisation und die damit in engem Zusammenhang stehende Frage der Gewaltenteilung zwischen unterschiedlichen Institutionen und Akteur_innen im Innen- wie im Außenverhältnis von Staatlichkeit stellen dementsprechend das Herzstück von Politik und Politikwissenschaft dar. Dies spiegelt sich auch im Gewaltverständnis der Disziplin, deren Anfänge in der Staatswissenschaft liegen. Als exemplarisch für diese Genese kann die aus postkolonialer Perspektive frappierende Struktur einer Einführung in die Staatslehre (Kriele 1994) angeführt werden, deren Kapitelüberschriften
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wie folgt lauten: „I. Teil Friede: Der Staat, II. Teil Freiheit: Der Verfassungsstaat, III. Teil Gerechtigkeit: Der demokratische Verfassungsstaat“. Dass damit ein normativer demokratischer und kapitalistischer, jedenfalls im Globalen Norden/Westen konzipierter und von seinem kolonialen Erbe isolierter Staat gedacht wird, bleibt in diesem Selbstverständnis unerwähnt. Die Erkenntnis postkolonialer Perspektiven, dass die Einhegung von Gewalt nach innen der gewaltförmigen Konstitution der Moderne sowie kolonialer Kriegsführung europäischer Staaten samt der damit in Zusammenhang stehenden Wissensproduktion zu verdanken ist (Kurtenbach/Wehr 2014: 96), steht diesem Zugang diametral gegenüber. Ausgespart bleibt dementsprechend die Frage danach, in welchem Verhältnis die universalisierte eurozentrische Trilogie – Staat, Freiheit, Demokratie – zur außereuropäischen Welt steht, historisch und gegenwärtig, in Theorie und Praxis. Selbst kritische Staatstheorie führt diesen blinden Fleck weiter im Repertoire und geht zumeist von einem eurozentrischen Staatsbegriff nach dem Modell von OECD-Staaten aus, wie Helmut Krieger kritisiert (Krieger 2015: 29ff, 277ff). Aus postkolonialer Sicht liegt Gewalt im engen wie im weiten Sinne in den eurozentrischen Paradigmen der Moderne selbst begründet, welche nach Ordnung und Klassifikation strebt, um unterwerfen und regieren zu können (NunnerWinkler 2004: 22) – auch als Staat. Dies bringt entsprechenden Praktiken ebenso wie die Werkzeuge zu deren Legitimierung hervor: „humanitäre Intervention“, „demokratischer Frieden“ oder „Schutzverantwortung“ sind aktuelle politologische Euphemismen für mitunter durchaus gewaltvolle Interessenspolitiken. Die Behauptung einer umfassenden Gewalteinhegung der Moderne durch das staatliche Gewaltmonopol kann also gleichermaßen als Grundlage für das dominante Gewaltverständnis der Politikwissenschaft wie auch als Mythos zur Aufrechterhaltung des politischen Status quo verstanden werden. Vom Gewaltmonopol des modernen Staates auf eine prinzipielle Gewaltfreiheit moderner Gesellschaften zu schließen, wie dies die oben genannte Kapiteleinteilung bei Kreile nahelegt, ist ein Fehlschluss, der keinerlei historischer Realität entspricht (Löffler 2012: 208). Flankiert von einem „symbolischen Gewaltmonopol“ (ebd.: 215), das die Bedingungen der Legitimität von Gewalt in der Gesellschaft und von Gewaltanwendung durch staatliche Akteur_innen festlegt (ebd.), lässt sich diese Behauptung jedoch gut aufrechterhalten. Diese Konzeption von Staat wird drittens zur Grundlage für politikwissenschaftliche Theoriebildung schlechthin. Während nicht-westliche Gesellschaften in der Herausbildung europäischer Sozialtheorie lediglich als Vorstufen gesellschaftlicher Entwicklung betrachtet und deren Politikmodelle dementsprechend ignoriert wurden, avancierten die Staaten Europas und Nordamerikas ungeachtet ihres kolonialen Erbes zum klassischen Modell für Theorieentwicklung (Ziai
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2011: 25ff). Dies spiegelt sich in der allgemeinen Dominanz englischsprachiger Politikwissenschaft ebenso wie in diversen Theoretisierungen von Gewalt wider. Vom „epistemischen Territorium der Moderne“ (Vázquez 2011: 27) aus betrachtet, die ihrerseits für Fortschritt, Rationalität, Demokratie und nicht zuletzt auch Gewaltlosigkeit steht, wird Gewalt dementsprechend zumeist in Distanz und Devianz verortet. Das heißt, Gewalt sucht und findet man vor allem im ‚Globalen Süden‘, in einer räumlich dislozierten spezifischen ‚Konfliktregion‘, in einem durch Klassengrenzen abgeschotteten ‚Konfliktmilieu‘, oder aber, auf einer zeitlichen Achse, in einer spezifisch gewaltförmigen Vergangenheit, die lediglich als temporäre Abweichung von der Norm ansonsten rational-friedlichdemokratisch-aufgeklärter Vergesellschaftung westlichen Zuschnitts verstanden wird. Diese Logik hat es etwa auch lange Zeit ermöglicht, die Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen und anderer zuvor stigmatisierter Bevölkerungsgruppen als ‚Zivilisationsbruch‘ zu verstehen sowie kognitive und materielle Ermöglichungsbedingungen dieser Vernichtung in den vorangegangenen kolonialen Kriegen Europas auszublenden (Kurtenbach/Wehr 2014: 106). Gewalt ist für die Politikwissenschaft zumeist anderswo, anderswer und anderswas. Daraus folgt im binären Denken der Moderne, dass im Hier und Selbst Gewaltlosigkeit herrscht – oder zumindest die vermutete Fähigkeit zu deren Erreichung. Dieses Verständnis erlaubt vom Skandalon der Gewalt selbst analytischen Abstand zu nehmen, ebenso wie gegenüber jenen, die als irreguläre, irrationale, jedenfalls aber illegitime Gewaltakteur_innen – vom ‚Amokläufer‘ bis zum ‚Schurkenstaat‘ – für politikwissenschaftliche Fragestellungen nach wie vor eine starke Anziehungskraft ausüben und eine ideale Gegenfolie für die angenommene eigene Aufgeklärtheit und Gewaltfreiheit darstellen. In einer „kognitiven Diffusität über das Gewaltverständnis“ (Heitmeyer 2008: 421) werden mit einem zumeist engen Begriff von Gewalt in der Politikwissenschaft also unterschiedlichste Dinge (nicht) bezeichnet, über die angesichts der enormen Spannbreite der Phänomene selbst sowie aufgrund einer enormen begrifflichen Ambivalenz weder analytischer noch politischer Konsens hergestellt werden kann. Das ist nicht zuletzt deshalb der Fall, weil damit viertens im Feld des Politischen immer auch Fragen der (Il-)Legitimität vor allem von direkter physischer Gewalt verknüpft sind. Diese wiederum wird kaum explizit verhandelt, ragt jedoch weit in Debatten über die angemessene Enge oder Weite des Gewaltbegriffs selbst hinein. Eindrücklich sichtbar ist dies z.B. an der zunehmenden Einengung von Debatten über politische Gewalt in Richtung eines sich verselbständigenden Terrorismuswissens (Brunner 2011). Ein permanenter Reflexionsbedarf der Disziplin liegt angesichts dieser heiklen Konstellation rund um Gewalt und (Il-)Legitimität auf der Hand. Doch epistemologische Fragen,
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die immer auch politische sind, stoßen nur an den Rändern des Fachs auf Interesse, geht es doch in seinem Kern um sogenannte Fakten, die vermessen, gewichtet und auch politikberatend verwertet werden sollen, gerade wenn Gewalt in ihrer direkten physischen Form zur politikwissenschaftlichen Diskussion steht. Diese wiederum geht oft mit einem Impetus praktischer Dringlichkeit und moralischer Aufgeladenheit einher, der einer angemessenen Analyse im Kontext vielschichtiger Formen und Begriffe von Gewalt entgegensteht und die Theoretisierung von Gewalt gern anderen Disziplinen überlässt. Dass und wie etwa psychologisch, soziologisch oder kriminologisch grundierte enge Gewaltverständnisse unreflektiert in die Politikwissenschaft zurückwirken, ist ein weiteres Problem für analytische und für epistemologische Fragen des Fachs (Brunner 2011).
W EITE G EWALTBEGRIFFE ALS H ERAUSFORDERUNG FÜR
DIE
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Theorien, Konzepte und Begriffe etwa zu symbolischer, diskursiver, sprachlicher, visueller, normativer, ethischer oder kultureller Gewalt aus benachbarten Disziplinen, denen ein systemisches, relationales und prozesshaftes, also weites Verständnis von Gewaltverhältnissen zugrunde liegt, finden ebenso wie postkoloniale Perspektiven nur langsam Eingang in die Kanonisierungen der Disziplin. Kritischen Stimmen an den Rändern der Politikwissenschaft ist zu verdanken, dass sich etwa Johan Galtungs Begriff „strukturelle Gewalt“ (Galtung 1975) dennoch einen Weg in die politikwissenschaftliche Debatte gebahnt hat. Dort wurde er vor allem in Bezug auf das Verhältnis von Staatlichkeit, Gewalt und Geschlecht (Sauer 2009) und in Richtung eines intersektionellen Gewaltbegriffs (Sauer 2011) weiter entwickelt. Letzterer grenzt sich vor allem gegenüber einer Kulturalisierung und Naturalisierung bestimmter Gewaltformen ab, die strukturelle Gewalt im globalen Verhältnis entnennt, sei es in innergesellschaftlichen (Stichwort: Migrationsdebatte) oder in geopolitischen (Stichwort: Krieg gegen den Terrorismus) Zusammenhängen. Auch in der Friedens- und Konfliktforschung bzw. der Entwicklungsforschung hat ein an strukturelle Gewalt angelehntes Verständnis teilweise Eingang gefunden. Im Umfeld dieses Ringens um ein weites Gewaltverständnis für politikwissenschaftliche Fragestellungen finden auch das aus der Soziologie stammende Konzept „symbolische Gewalt“ (Bourdieu/Passeron 1973) sowie Ansätze zur diskursiven (Foucault 1993) und normativen Dimension (Butler 2010) von Gewalt Verwendung. Bemerkenswerterweise hat die inzwischen jahrzehntelange politikwissenschaftliche Rezeption und Weiterentwicklung des Werks von Michel Foucault, das sich detail- und umfang-
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reich mit dem Verhältnis von Macht und Wissen in der Herausbildung des modernen Nationalstaats einschließlich dessen Gewaltförmigkeit auseinandersetzt, in den Definitionen der Grundbegriffe der Disziplin bislang wenig Niederschlag gefunden. Zugleich ist sein Werk transdisziplinäre Inspiration für eine Vielzahl weiter Gewaltkonzepte einerseits und postkolonialer Analysen andererseits, wenngleich Foucault selbst im Fokus auf Europa die Kolonialität dieses Wissens nicht als konstitutiv für die Gewaltförmigkeit der Moderne verstanden hat. Doch Foucault überwindet die normative Unterscheidung zwischen potestas und violentia, da es in seinem weiten Gewaltverständnis keine Manifestation von Macht gibt, die gewaltfrei ist (Dhawan 2007: 251). Solche, zumeist in sich selbst bereits inter- und transdisziplinär angelegten, weiten Gewaltdefinitionen sind aus anderen Fächern und aus dem historischen Kontext sozialer und politischer Bewegungen heraus in das Fach gelangt, werden von dessen ‚gate-keepers‘ jedoch immer wieder mit dem Argument mangelnder Operationalisierbarkeit an die Ränder verwiesen. Weite Gewaltbegriffe stellen für die Politikwissenschaft eine Herausforderung dar, weil sie auf je spezifische Art und Weise auch den Status quo einer Disziplin in Frage stellen, deren Nähe zu Staat, Macht und Gewaltverhältnissen in der globalen „Geopolitik des Wissens“ (Mignolo 2002) als Dimension einer anhaltenden „Kolonialität der Macht“ (Quijano 2000; Quintero/Garbe 2013) von ihr selbst kaum reflektiert wird. Der in der postkolonialen kulturwissenschaftlichen Debatte bereits geläufige Begriff der epistemischen Gewalt (Spivak 1988) bietet sich dazu an, dieses Desiderat zu bearbeiten. Daher plädiere ich im vierten Abschnitt dieses Texts für einen postkolonial erweiterten Gewaltbegriff der Politikwissenschaft, der auch die Dimension von Wissen(schaft) und deren Verwobenheit mit unterschiedlichen Dimensionen von Gewalt berücksichtigt. Denn ungeachtet der Erweiterungen an ihren Rändern wird Gewalt von der Politikwissenschaft in erster Linie als zu analysierendes Ereignis oder als zu lösendes Problem verstanden, nicht als Struktur und Prozess. In den meisten Teilgebieten des Fachs geht es um Gewalt nicht als wissenschaftlich-sozialtheoretisches, sondern als gesellschaftlich-normatives Problem (Koloma Beck/Schlichte 2014: 29). Dementsprechend werden auch Dimensionen von Wissen nicht als konstitutives Element von Gewaltförmigkeit betrachtet. Genau dieser Aspekt stellt einen zentralen Ausgangspunkt für post- und dekoloniale Perspektiven dar, die zu Fragen des Politischen ebenso wie für eine politikwissenschaftliche Analyse bzw. Theoretisierung von Gewalt einen innovativen Beitrag leisten können.
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G EWALT ( VERSTÄNDNISSE ) UND DIE K OLONIALITÄT DES W ISSENS Postkoloniale Theoriebildung wurde erst nach und mit den im 20. Jahrhundert beinahe weltweit geführten antikolonialen Kämpfen gegen europäische Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse möglich (Chandra 2013: 480). Das größte Potenzial postkolonialer Perspektiven ist daher die Verbindung einer materialistischen Analyse von Ausbeutungsverhältnissen mit einer Kritik der wissensbasierten Normalisierung kolonialer Dominanz (Franzki/Aikins 2010: 25). Die koloniale Eroberung der Welt, die von Europa ihren Ausgang nahm und deren Auswirkungen bis heute relevant sind, war nämlich nicht nur eine militärische und politische Frage, sondern eingebettet in ein umfassendes Projekt kultureller Kontrolle (Cohn 1996). Koloniales Wissen hat diesen Prozess ebenso vorbereitet und ermöglicht wie es auch selbst daraus hervorgegangen ist. Übersetzt für eine Debatte über Gewaltbegriffe heißt dies, dass eine isolierte Betrachtung direkter physischer politischer Gewalt nicht ausreicht. Vielmehr müssen deren jeweilige Erscheinungsformen in einen Zusammenhang mit oft weniger deutlich sichtbaren Aspekten wie jener der Wissensproduktion über sie gestellt werden. Beide – Gewaltereignisse und Wissensproduktion – sind als eingebettet in eine anhaltende Kolonialität von Macht und Wissen zu verstehen, einen Zustand, der weit über die politische Ära des Kolonialismus hinausreicht (Quintero/Garbe 2013). Die oben skizzierten weiten Gewaltbegriffe bieten sich für eine solche Betrachtung bereits an, doch auch sie müssen aus einer post- bzw. dekolonialen Perspektive modifiziert werden, was bislang noch nicht systematisch erfolgt ist. 1 Viel investiert wurde hingegen bereits in ein Verständnis des Zusammenhangs von Wissen und Gewalt im (post)kolonialen Kontext. Die Kritik an und Dekonstruktion von wichtigen Begriffen der politischen Theorie wie etwa Moderne, Menschenrechte, Fortschritt oder Aufklärung stellt für post- und dekoloniale Ansätze dementsprechend einen Ausgangspunkt zur langfristigen Herbeiführung eines epistemischen Bruchs bzw. einer Dezentrierung von Wissen dar. Nur dann kann über eine Dekolonisierung des Wissens eine substanzielle und nachhaltige Transformation von Ungleichheitsverhältnissen in Gang kommen, die, so das
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Zu Abgrenzungsdebatten zwischen post- und dekolonialen Zugängen siehe Castro Varela/Dhawan (2015: 318ff). Von verschiedenen politischen und theoretischen Grundlagen ausgehend, verfolgen sie (wissens)politisch durchaus ähnliche Ziele. Dass die Wege zu einer „globalen kritischen Theorie“ (Kerner 2012: 164) bisweilen unterschiedlich aussehen, tut ihrem Wert und Nutzen keinen Abbruch.
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durchaus normative Anliegen, auch mit einer Reduktion direkter und indirekter Formen von Gewalt einher geht. Dieser Paradigmenwechsel erfordert nicht nur eine umfassende „Provinzialisierung Europas“ (Chakrabarty 2002), sondern auch eine „Globalisierung der Peripherie“ (Coronil 2004), und damit ein dialektisches Denken auch in Widersprüchen und Ungleichzeitigkeiten. Dies kann nicht abgetrennt von Fragen der wissenschaftlichen Wissensproduktion selbst geschehen. Denn Forschung, die auf das zentrale erkenntnistheoretische und politische Element von Wissenschafts- als Herrschaftskritik verzichtet, wäre mit dem Etikett postkolonial unzutreffend bezeichnet (Engels 2014: 132). Postkoloniale Perspektiven identifizieren daher die zunehmende Arbeitsteilung zwischen den Disziplinen, die sich historisch parallel zur Phase von Kolonial- und Weltkriegen vollzogen hat (Kurtenbach/Wehr 2014: 97), als konstitutiv für die Errichtung und Aufrechterhaltung globaler Ungleichheits- und Gewaltverhältnisse. Deren Ursprung wird in der kolonialen Expansion Europas verortet, die mit der vermeintlichen ,Entdeckung Amerikas‘ ihren Ausgang nahm und sich 200 Jahre später über den ganzen Globus ausdehnte. Die sich im 19. Jahrhundert etablierenden wissenschaftlichen Disziplinen der Ökonomie, Politikwissenschaft und Soziologie haben sich mit den jeweils für sie zentralen Sphären moderner westlicher Gesellschaften – Markt, Staat, Gesellschaft – befasst bzw. diese als gewaltfrei vorgestellten Hort der Moderne mit hervorgebracht und dabei eine partikulare Perspektive universalisiert. Die Analyse des ‚von Gewalt betroffenen‘ „Rest[s]“ der Welt (Hall 1992) wurde dabei der Ethnologie bzw. Anthropologie und den Regionalstudien überlassen (Boatcă/Costa 2010: 69), die ihrerseits ebenso von Euro- und Androzentrismus imprägniert sind. Diese internationale Arbeitsteilung, die wiederum nicht nur kultureller und epistemischer, sondern auch ökonomischer und politischer Art ist (Boatcă 2013: 384), blendet aus, dass die als aufgeklärt, modern und fortschrittlich verstandenen staats- und gesellschaftspolitischen Entwicklungen innerhalb der kolonisierenden Gesellschaften selbst wesentlich von den mehrfach gewaltförmigen kolonialen Begegnungen geprägt wurden (Franzki/Aikins 2010: 10). Die Kolonien sowohl der früheren Expansion im 15. und 16. Jahrhundert in die beiden Amerikas (auf die dekoloniale Theorie fokussiert) als auch der späteren im 18. und 19. Jahrhundert nach Asien und Afrika (die den Ausgangspunkt postkolonialer Theorie bildet) waren nicht nur Empfängerinnen bereits vollendeter kolonialer Programme. Vielmehr fungierten sie auch als Experimentierfelder für Verwaltungspraktiken und Sozialtechniken, deren Ergebnisse wiederum in Europa selbst zur Anwendung gelangten (Boatcă 2013: 381). Wenn man die doppelte Verwobenheit von epistemischen mit materiellen Gewaltverhältnissen einerseits
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sowie von Entwicklungen in den (ehemaligen) Kolonien mit jenen in den (ehemaligen) Kolonialländern andererseits thematisiert, lässt sich also fragen: Auf welche Weisen tragen spezifische Wissensformationen zur (Re)Produktion von asymmetrischen Dominanzverhältnissen und zur damit verbundenen internationalen Arbeits- und Ressourcenverteilung bei (Lorey 2012: 175)? Und in welchem Zusammenhang steht dies mit welchen Formen von Gewalt? Nun kann eingewendet werden, dass der Prozess der politischen Dekolonisierung bis auf wenige Ausnahmen (Young 2006: 3f.) ja abgeschlossen und das Problem nur mehr eines für die Geschichtswissenschaften sei. Doch im Prozess der gewaltvollen Ausdehnung Europas und der Kolonisierung beinahe der gesamten Erdoberfläche wurden im erwähnten Zusammenspiel von Politik und Wissenschaft zutiefst eurozentrische wissenschaftliche Kategorien geschaffen, die das Ende der formalen politischen Kolonisierung überdauern und bis heute auch in den Gesellschaften des Globalen Nordens wirksam sind (Castro Varela/Dhawan 2009: 9). Die Weltordnung, die der Globale Norden/Westen dem Globalen Süden/Osten aufgezwungen hat, ist dementsprechend von einer spezifischen epistemologischen Grundierung gekennzeichnet (Santos et al. 2007: xix), die ihrerseits wiederum eben diese Weltordnung – etwa mit der Einteilung in Ost/West und Nord/Süd – aufrechterhält. Während die politische Dimension des historischen Kolonialismus und dessen direkte Gewaltförmigkeit in der Politikwissenschaft durchaus kritisiert werden, lebt die mit ihm verbundene „epistemische Monokultur“ (ebd.: xxxiii) in den Wissenschaften also weiter. Sie gilt als Ausweis für Aufgeklärtheit und Rationalität, Entwicklung und Fortschrittlichkeit, Modernität und Nüchternheit (ebd.) – und im Zuge dessen auch für deren angenommene Gewaltfreiheit. Das ist mit dem Begriff der „Kolonialität des Wissens“ gemeint, die Teil einer „Kolonialität der Macht“ (Quijano 2000; Quintero/Garbe 2013) ist. Für die Politikwissenschaft und ihre Staatszentriertheit lässt sich diese anhaltende Kolonialität mit aktuellen Arbeitsbegriffen wie jenen der ‚Schurkenstaaten/rogue states‘ oder der ‚gescheiterten Staaten/failed states‘ illustrieren. Mit ihnen werden manche Länder des Globalen Südens ebenso selbstverständlich wie leichtfertig bezeichnet, weil die Analyse der ‚dortigen‘ Gewaltphänomene von der Politik und Wissensproduktion westlicher Staaten vollständig abgetrennt bleibt (Chojnacki/Namberger 2014). Auch ‚hier‘ konstatierte Gewaltphänomene – insbesondere jene, die sich als Fragen der Geschlechterordnung rahmen lassen, z.B. Zwangsehe, Genitalbeschneidung, sogenannte Ehrenmorde – werden derzeit gern auf eine kulturalisierte Spezifik der ‚Andersheit‘ reduziert und von anderen Erklärungsfaktoren abgetrennt (Dietze/Brunner/Wenzel 2009). Demgegenüber plädiert eine postkoloniale Perspektive auf die vielfältige „Verwoben-
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heit“ zwischen ‚dort‘ und ‚hier‘, zwischen ‚einst‘ und ‚jetzt‘ (Randeria 1999). Ohne deren Berücksichtigung bleibt jegliche Wissensproduktion und Politik notwendigerweise eurozentrisch, universalistisch und damit aus postkolonialer Perspektive problematisch. Es sollte also auch für die Politikwissenschaft nicht lediglich um einen prestigeträchtigen ‚postcolonial turn‘ im Aufwind eines innovativen akademischen Trends gehen, sondern um die Anerkennung und Analyse der zutiefst in ihre Gegenstände, Theorien, Methoden und Praxisformen eingelassene Kolonialität von Macht und Wissen. Im Anschluss an Manuela Boatcă und Sergio Costa (2010: 71), die dies für die Soziologie fordern, muss es zuallererst um ein Zurückverfolgen des ‚colonial turn‘ gehen, der die Disziplin erst zu der gemacht hat, die sie heute ist.
E PISTEMISCHE G EWALT ALS S CHNITTSTELLE ZWISCHEN F ORMEN UND B EGRIFFEN VON G EWALT Der aus der postkolonialen Debatte hervorgegangene Begriff der epistemischen Gewalt stellt dafür einen vielversprechenden Ausgangspunkt dar. Mit ihm lässt sich der Weg zwischen Wissen und Gewalt vermessen, der zum anhaltenden Zustand der Kolonialität geführt hat. Auch jener, den wir zu einer Dekolonisierung des Wissens beschreiten können, zeichnet sich dabei ab. Die systematische Inklusion von epistemischer Gewalt in unser begriffliches Instrumentarium lässt uns sowohl unterschiedliche Gewaltphänomene als auch ebensolche Gewaltbegriffe in ihrer Verwobenheit mit Aspekten von Kolonialität besser verstehen. Auch ihre wechselseitige Bezogenheit kann damit besser thematisiert werden. Die immer wieder als Problem konstatierte Tatsache, dass im deutschen Begriff Gewalt Elemente der Begründung von Ordnung mit solchen ihrer Zerstörung ineinander fallen, stellt für eine Auseinandersetzung mit epistemischer Gewalt also durchaus einen Vorteil dar. Genau diese Ambivalenz kann als produktives Element eines Konzepts verstanden werden, bei dem es nicht um optimale Operationalisierbarkeit geht. Ganz im Gegenteil kann damit die begriffliche und konzeptionelle Fragmentierung von Gewaltbegriffen, die analytisch durchaus Sinn machen kann, in einen dialektischen Zusammenhang eingebettet werden. In diesem werden zwei für Gewaltfragen wesentliche und untrennbar miteinander verwobene Elemente betont: die immer auch diskursive Herstellung von Gewalt und die spezifischen Konjunkturen von Gewaltbegriffen einerseits und die damit immer mit verhandelte (Il-)Legitimität von Gewalt und von Gewaltbegriffen andererseits.
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Noch verfügen wir über keine umfassende Theoretisierung epistemischer Gewalt. Doch Hinweise, was darunter und damit verstanden werden kann, finden sich verstreut in den Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften. Die früheste und am weitesten verbreitete Beschreibung stammt von einer der bekanntesten Begründer_innen postkolonialer Theorie, Gayatri Chakravorty Spivak: „One clearly available example of epistemic violence is the remotely orchestrated, farflung, and heterogeneous project to constitute the colonial subject as Other. This project is also the asymmetrical obliteration of the trace of that Other in its precarious Subject-ivity. It is well known that Foucault locates epistemic violence, a complete overhaul of the episteme, in the redefinition of sanity at the end of the European eighteenth century. But what if that particular redefinition was only a part of the narrative of history in Europe as well as in the colonies? What if the two projects of epistemic overhaul worked as dislocated and unacknowledged parts of a vast two-handed engine?“ (Spivak 1988: 280f)
In ihrem berühmten Aufsatz „Can the Subaltern Speak?“ hat Spivak den Zusammenhang zwischen politischer, vermeintlich kultureller, also nicht politischer, und epistemischer Gewalt dargelegt und als Teil eines größeren Ganzen problematisiert. Im Text lässt sich nachvollziehen, wie Prozesse wissensbasierten ,otherings‘ zu Formen von ‚worlding‘ gerinnen (Appeltshauser 2013), also Welt und Wissen in beiderlei Kolonialität erschaffen werden. Damit werden manifeste (eigene) Gewaltpraktiken von Kolonialherrschaft normalisiert, während diese selbst sich etwa mit dem Verbot der sogenannten Witwenverbrennung zugleich den Anstrich von Gewaltüberwindung, Aufgeklärtheit und damit auch von Legitimität gibt. Die diskursiven Prozesse der „VerAnderung“ (Reuter 2002), die koloniales Regieren mit all seinen direkten und indirekten Gewaltformen erst ermöglichen und damit Selbst-Verständlichkeit herstellen, benennt Spivak mit dem starken Begriff epistemic violence. Ganz im Gegensatz zu Michel Foucault, von dem sie ihn entlehnt, macht sie das asymmetrische globale Setting der miteinander verwobenen Gewaltpraktiken europäischer Kolonialherrschaft und lokaler Gewaltpraktiken explizit zum Thema. Darüber hinaus legt sie dar, wie die Kolonialität des Wissens auch weit über das politische Ende des Kolonialismus selbst hinauswirkt. Diese Perspektive ist wegweisend für postkoloniale Denker_innen nach und mit ihr. Sie verdeutlicht, welche Leerstellen und Komplizenschaften auch kritische Wissenschaft mitunter durchziehen. Sie zeigt, dass auch diese potenziell in jene globalen Ungleichheitsverhältnisse involviert ist, die sie selbst problematisiert. Ein solches Verständnis von Gewalt widerspricht der analytischen Isolation bestimmter Gewaltphänomene voneinander ebenso wie deren Dislozierung in den Globalen Süden oder in sogenannte Parallelgesellschaften im Globalen Norden. Diese Isolation schreibt sich bis heute tief
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in unsere Wissensbestände über Gewalt ein und schmückt den Ort des Eigenen, des Normalisierten und Universalisierten mit quasi-natürlicher Gewaltfreiheit – oder aber mit Argumenten zur Rechtfertigung ganz bestimmter Formen von Gewalt. Dies gelingt nur, solange weite Gewaltbegriffe marginalisiert werden, die Kolonialität von Macht und Wissen ignoriert wird und epistemische Gewalt kein Thema ist. Die Naturwissenschaftlerin Vandana Shiva, die heute vor allem als Umweltaktivistin bekannt ist, betont eine von Spivak nicht benannte weitere Dimension epistemischer Gewalt (Shiva 1990). Ihr zufolge handelt es sich beim von ihr problematisierten (natur-)wissenschaftlichen Reduktionismus nicht um kognitive Kurzsichtigkeit als Basis für epistemische Gewalt. Vielmehr liege das Problem in der spezifischen Form ökonomischer Organisation begründet, in der globalen Durchsetzung der kapitalistischen Vergesellschaftungsform. Die Wurzeln der gegenwärtigen Ausbeutung, Profitmaximierung und Kapitalakkumulation und der daraus resultierenden Gewaltformen seien in der kolonialen Expansion zu suchen (ebd.: 238). Moderne Wissenschaften und ein profitorientiertes Wirtschaftssystem auf historischer Basis kolonialer Ausbeutung sicherten einander ab, wohingegen alternative Wissensformen und Problemlösungen, die nicht auf finanziellen Profit, sondern auf das Gemeinwohl abzielten, von genau diesem ökonomisierten Wissenschaftssystem diskreditiert würden (ebd.: 232). Daraus resultiere ein Wissensmonopol, das in vierfacher Weise Gewalt hervorbringe: „[…] violence against the subject of knowledge, the object of knowledge, the beneficiary of knowledge, and against knowledge itself.“ (Shiva 1990: 15f.) Als dritte und rezentere Inspiration für ein systematisches Weiterdenken zu epistemischer Gewalt schlage ich die Definition von Enrique Galván-Álvarez (2010) vor. Implizit führt der Kulturwissenschaftler Spivaks und Shivas Verständnis von epistemischer Gewalt zusammen. Er verbindet beide Aspekte – Repräsentation im Kontext der Kolonialität des Wissens und Ökonomisierung im Kontext der Geopolitik des Wissens – mit der Frage nach Dominanz durch Legitimierung auf der Basis bestimmter epistemischer Rahmungen: „Epistemic violence, that is, violence exerted against or through knowledge, is probably one of the key elements in any process of domination. It is not only through the construction of exploitative economic links or the control of the politico-military apparatuses that domination is accomplished, but also and, I would argue, most importantly through the construction of epistemic frameworks that legitimise and enshrine those practices of domination.“ (Galván-Álvarez 2010: 12)
Im Anschluss an diese und andere postkoloniale Autor_innen (Castro-Gómez 2002; Garbe 2013; Vázquez 2011) sowie in kritischer Abgrenzung und Weiter-
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entwicklung von eurozentrischen friedenswissenschaftlichen Definitionsversuchen, auf die ich an anderer Stelle detaillierter eingehe (Brunner 2017), nähere ich mich der Begriffsarbeit zu epistemischer Gewalt vorerst mit einer offenen Definition. Ich verstehe unter epistemischer Gewalt jenen Beitrag zu unterschiedlichen gewaltförmigen gesellschaftlichen Verhältnissen, der im Wissen selbst, in seiner Genese, seinen Ausformungen und Organisationsweisen sowie in seiner Wirkmächtigkeit angelegt ist (Brunner 2013: 228f). Wissenschaftlichem Wissen kommt dabei eine besondere Funktion zu. Der schillernde Begriff epistemische Gewalt umfasst also epistemologische, theoretische und konzeptionelle Aspekte ebenso wie politische, wissenssoziologische, institutionelle und ökonomische. Auch wenn es auf der Hand liegt, dass nicht all diese Ebenen gleichzeitig im Detail erfassbar sind, dürfen sie beim Nachdenken über Phänomene und Konzepte von (nicht nur) epistemischer Gewalt nicht außer acht gelassen werden. Das bedeutet, dass bei der Suche nach einer plausiblen Definition epistemischer Gewalt nicht nur Begriffs- und Theoriearbeit zu leisten ist, sondern dass auch der Wissenschaftsbetrieb selbst, also auch die Strukturen und Praktiken der Politikwissenschaft sowie ihre enge Verzahnung mit Politik und Ökonomie mitgedacht werden müssen – und das in einer globalen, verwobenen Dimension.
F AZIT Aram Ziais Feststellung komplementärer Defizite zwischen Politikwissenschaft und Postkolonialen Studien (Ziai 2012: 292) gilt auch für den jeweiligen Umgang mit Phänomenen und Konzepten von Gewalt. Post- und dekoloniale Perspektiven setzen sich intensiv mit Macht-Wissens-Komplexen in der anhaltenden Kolonialität der Moderne auseinander, sind dabei jedoch kaum mit sozialwissenschaftlichen Debatten über politische Gewalt verbunden. Zugleich pflegt die Politikwissenschaft, deren zentrale Gegenstandsbereiche in Bezug auf ein eurozentrisch-universalistisches staatliches Gewaltmonopol und die damit verbundene Gewaltenteilung verhandelt werden, einen wenig diskutierten engen Gewaltbegriff und beschäftigt sich nur am Rande mit damit in Zusammenhang stehenden epistemologischen Fragen. Auch eine kritische Einschätzung der (geo)politischen Dimension ihrer eigenen Zunft jenseits von Politikberatung erscheint der Disziplin oft nicht als opportun. Die Dimension der Kolonialität des Wissens ist zumindest im deutschsprachigen Kontext bislang so gut wie kein Thema politikwissenschaftlichen Interesses. Post- und dekoloniale Perspektiven rücken diese ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
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Ein noch weiter auszuarbeitendes Konzept epistemischer Gewalt kann dazu beitragen, die eurozentrische Schieflage politikwissenschaftlicher Gewaltforschung in ein angemessenes Lot zu bringen. Angesichts der dann sichtbar werdenden Allgegenwart von epistemischer Gewalt dürfen wir uns aber auch nicht lähmen lassen. Santiago Castro-Gómez weist darauf hin, dass die größte Herausforderung in Bezug auf die Analyse und Überwindung epistemischer Gewalt darin besteht zu lernen, wie tatsächlich existierende Totalität in ihrem (post-) kolonialen Antlitz benannt werden kann, ohne dabei dem Essentialismus und Universalismus eines Metanarrativs anheim zu fallen (Castro-Gómez 2002: 282). Epistemische Gewalt mag also aus post- und dekolonialer Perspektive zunehmend benennbar werden, aber das erspart uns weder die genaue Begriffsarbeit noch die kontextspezifische Analyse und eine daraus folgende Bewertung. Es bedarf also weiterhin einer Vielzahl enger und weiter Gewaltbegriffe, um die von post- und dekolonialer Theorie eingeforderte Berücksichtigung der Verwobenheit bewerkstelligen zu können. Diese Begriffe müssen jedoch erstens in Hinblick auf die anhaltende Kolonialität des Wissens selbst einer kritischen Betrachtung unterzogen und zweitens vor dem Hintergrund epistemischer Gewalt, die gewissermaßen als Schnittstelle zwischen unterschiedlichen Formen, Begriffen, Diskursen und Praktiken fungiert, in der Kolonialität des Wissens analysiert und bewertet werden. Dies stellt einen ebenso herausfordernden wie vielversprechenden nächsten Schritt in Richtung eines postkolonialen politikwissenschaftlichen Gewaltverständnisses und eines dekolonialen Bemühens um Gewaltreduktion dar. Gewalt weiter denken – der Titel dieses Texts – bedeutet in diesem Sinne zweierlei. Erstens: Sich nicht mit existierenden Gewaltverständnissen zufrieden geben und immer wieder neue Wege der Analyse und Theoretisierung von Gewalt beschreiten. Zweitens: Dabei verstärkt auf weite Gewaltbegriffe setzen und insbesondere zur Frage nach epistemischer Gewalt von post- und dekolonialen Perspektiven lernen“. 2, 3
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Für kritische Kommentare zu früheren Versionen dieses Aufsatzes danke ich Helmut Krieger, Bettina Engels und Aram Ziai.
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Dieser Text entstand im Rahmen des vom Österreichischen Fonds zur Förderung wissenschaftlicher Forschung (FWF) geförderten Forschungsprojekts „Theorizing Epistemic Violence“ (V 368-G15).
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Doppelt im Schatten: Geschlechterverhältnisse in der Politik
FrauenUnrechte richten Zur Bedeutung postkolonial-feministischer Interventionen für eine kritische Analyse von Menschenrechtspolitiken C HRISTINE M. K LAPEER Of course one prefers rights talk because of the general inscription of the globe within the culture of European Enlightenment. GAYATRI CHAKRAVORTY SPIVAK The search for universal solutions to women’s concerns continues to ignore both the significance of the colonial encounter for the situation and understanding of women in the postcolonial world, and also how their struggles for rights are tethered to the legacy of that encounter in the contemporary moment. RATNA KAPUR
E INLEITUNG : D OING MY / OUR H OMEWORK In einem Interview erzählte die bekannte postkoloniale, feministische Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak die Geschichte von einem US-amerikanischen, männlichen, weißen gut situierten Studenten, der sich aufgrund seiner privilegierten Position weigert, die Situation in der ‚Dritten Welt‘ zu kritisieren (Spivak 1990: 62f.). Diese Weigerung ließ Spivak jedoch nicht gelten und forderte ihn im Gegenteil dazu auf, seine „Hausaufgaben zu machen“ und sich durch eine historische Beschäftigung mit Kritiken an seiner eigenen dominanten Position als weißer, männlicher Forscher, „the right to criticize“ zu erwerben (ebd., eige-
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ne Übers.). Diese Art der herrschaftskritischen Situierung von Prozessen und Bedingungen der Erkenntnisproduktion konzeptualisierte Spivak auch als eine wissenschaftspolitische Praxis der Verantwortung, der sich insbesondere weiße und/oder durch andere soziale Kategorien privilegierte Forscher*innen stellen müssten, um sich überhaupt das Recht zu erwerben, kritisch über die Welt, insbesondere den Globalen Süden zu sprechen. Gleichzeitig bleibt jedoch jede Form der Theorieproduktion und des wissenschaftlichen Sprechens ‚über Andere‘, so Spivak, immer ein risikoreiches und problematisches Unterfangen. Doch solange eine fortwährende Beschäftigung mit dieser Problematik stattfindet und die eigene Involviertheit, die permanente ‚Kontaminierung‘ durch und Kompliz*innenschaft 1 mit Herrschaftssystemen ebenso Gegenstand der Auseinandersetzung sei, gäbe es „some hope“ (ebd.: 63; vgl. Castro Varela/Dhawan 2015: 217f.). Spivaks Aufforderung, ‚die eigenen Hausaufgaben zu machen‘, umschreibt nicht nur meine eigene Rezeption, Motivation und Zugang zu postkolonialen Theorien, ich verstehe diese Aufforderung auch als grundlegendes Kernstück einer feministisch-postkolonialen Beschäftigung mit politikwissenschaftlichen Methodologien und Denktraditionen. Postkoloniale und postkolonial-feministische Theorien lese ich daher weniger als mögliche ‚Ausrichtung‘ oder ‚produktive Chance‘ für politikwissenschaftliche Forschungen, sondern als politisierte, politisierende und somit notwendigerweise „de-kanonisierte“ (Mann 1995: 70) und „anti-disziplinäre Intervention“ (Castro Varela/Dhawan 2009: 9) in dieses Fach, geht es doch um eine grundlegende kolonialismus-, rassismus-, geschlechter- und somit auch herrschaftskritische Befragung von politikwissenschaftlichen Grundprämissen sowie den (neo-)kolonialen, imperialistischen und heteronormativ-androzentrischen Wissenschaftstraditionen dieser Disziplin selbst. Insofern ist für mich der Zusatz ‚postkolonial‘ auch keine mögliche ‚Option‘ oder ‚Erweiterung‘ politikwissenschaftlicher (Gender-)Forschung, sondern eine „notwendige Spezifizierung“ (Hornscheidt 2012: 217). Da jedoch weder geschlechterkritische, kolonialhistorische noch rassismuskritische Perspektiven bisher zum selbstverständlichen Repertoire politikwissenschaftlicher Zugänge 2 gezählt werden, stehen postkolonial-feministische Ansätze 1
Aufgrund meiner wissenschaftstheoretischen und politischen Verortung im Bereich der Queer Studies verwende das sogenannte Sternchen (*) als ein sprachliches Hilfsmittel, um einerseits die Konstruiertheit von Geschlecht(ern) entsprechend zu kennzeichnen als auch einen Raum für komplexe und vielgestaltige Identifizierungen jenseits einer heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit zu eröffnen.
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Eine nicht-repräsentative Untersuchung der Handapparate an der Politikwissenschaft der Universität Wien hat gezeigt, dass postkoloniale Theorien ebenso wie postkolo-
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in mehrerer Hinsicht quer zum Mainstream der Politikwissenschaft, nehmen sie doch die komplexen Interdependenzen von Rassismen, Misogynie, Heteronormativität, ungleichen Klassenverhältnissen sowie das Fortwirken kolonialer Episteme vor dem Hintergrund globaler und transnationaler Ungleichheitsstrukturen in den Blick. Diese historisierende, interdependente und notwendigerweise auch transnationale Perspektive entfaltet besonders mit Bezug auf aktuelle und historische Entwicklungen hinsichtlich von Frauen- und Menschenrechtspolitiken eine außerordentliche Relevanz, erscheinen diese doch auf der Basis postkolonial-feministischer Auseinandersetzung deutlich ambivalenter und vieldeutiger als dies Darstellungen in politikwissenschaftlichen und geschlechterkritischen Werken häufig suggerieren. Der folgende Beitrag skizziert demnach in einem ersten Teil einige grundlegende theoretische Implikationen und analytische Konsequenzen einer postkolonial-feministischen (Forschungs-)Perspektive (nicht nur) für politikwissenschaftliche Zugänge und Fragestellungen besonders in Hinblick auf den Einsatz der (Struktur-)Kategorie ‚Geschlecht‘. In einem zweiten Teil wird dann anhand ausgewählter postkolonialer und postkolonial-feministischer Auseinandersetzungen mit Frauen-/Menschenrechtkonzeptionen und -politiken die Bedeutung dieser Forschungsperspektiven für aktuelle (politikwissenschaftliche) Debatten diskutiert. Geleitet wird dieser Beitrag maßgeblich von der Aufforderung der postkolonial-feministischen Menschenrechtstheoretikerin Ratna Kapur „einen Spaziergang auf der Schattenseite“ des Menschenrechtsprojektes zu unternehmen und sich seinen problematischen Subtexten aus einer transnationalen und kolonialismuskritischen Perspektive zu nähern, um überhaupt transformative Menschenrechtspolitiken und -konzepte formulieren zu können (Kapur 2006a: 685, eigene Übers.).
G ESCHLECHT DEKOLONIALISIEREN : E INIGE K ERNELEMENTE EINER POSTKOLONIAL FEMINISTISCHEN K RITIK Aufgrund der großen Bandbreite und Heterogenität an Positionen und Zugängen ist es stets ein problematisches Unterfangen, postkolonial-feministische Ansätze zu umreißen. Insofern sind die folgenden Ausführungen maßgeblich durch meine eigene Forschungs-, Lese- und Lehrpraxis sowie meine (selbst-)kritischen nial-feministische Theorien nicht nur so gut wie nicht vorkommen, sondern auch anscheinend als nicht relevant für das Fach Politikwissenschaft gelten. Ich danke Christoph Osztovics für diese Recherche!
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Auseinandersetzungen mit postkolonial-feministischen Theorien inspiriert. Als zentrale Kernelemente einer postkolonial-feministischen Kritik würde ich demnach die De-Chiffrierung und Aufdeckung des komplexen Zusammen- und Nachwirkens der „entangled histories“ (Randeria 1999) zwischen (neo-)kolonialen Machtverhältnissen, Rassismen, (Hetero-)Sexismen und der internationalen kapitalistischen Arbeitsteilung sowie der Bedeutung dieser Verflechtungen für die historische und fortwährende Konstituierung von Geschlecht/erverhältnissen und umgekehrt identifizieren (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005; Castro/Varela 2009; Castro Varela/Dhawan 2015; Lewis/Mills 2003; Rajan/Park 2005; Suleri 1992; Hornscheidt 2012). Daraus folgt auch eine herrschaftskritische Verkomplizierung sowie dekolonialisierende De-Zentrierung der politischen, feministischen und analytischen Kategorie ‚Frau‘/‚Geschlecht‘ sowie von darauf aufbauenden Analysen und (Repräsentations-)Politiken, welche weit über eine intersektionale Methodologie und Herangehensweise hinausgeht (vgl. Castro Varela/Dhawan 2010). Postkoloniale-feministische Theorien und Ansätze fordern daher auf mehreren Ebenen politikwissenschaftliche Annahmen heraus, wenn sie insbesondere in Hinblick auf Geschlechterverhältnisse deutlich machen, dass „eine Geschichte des Westens ohne die Geschichte der kolonisierten Länder“ nicht zu schreiben ist „und vice versa“ (Castro Varela/Dhawan 2015: 16). Trotz – oder vielleicht auch gerade aufgrund – poststrukturalistischer und postmoderner Destabilisierungen der Kategorie ‚Frau‘ sowie der Anerkennung von (intersektionalen) ‚Differenzen‘ und der multidimensionalen Positionierung von Frauen/Männern wird Geschlecht in weiten Teilen der politikwissenschaftlichen Forschung als nicht-rassifizierte (Analyse-)Kategorie geframed. Das heißt auch wenn die Kategorie ‚Geschlecht‘ und Fragen der ‚Differenz‘ mittlerweile partiell Eingang in die politikwissenschaftliche Forschung gefunden hat, ist es immer noch möglich ‚Gender‘‚ Geschlechterverhältnisse‘ oder Manifestationen (vergeschlechtlichter) sozialer oder politischer/staatsbürgerlicher Ungleichheit – auch in geschlechterkritischen Lehrwerken – gleichsam isoliert oder unabhängig von (neo-)kolonialen Genealogien und Praktiken der Rassifizierung oder Ethnifizierung zu analysieren. Die komplexen Interdependenzen von ‚Rasse‘/Rassismus und ‚Geschlecht‘/Sexismus sowie die kolonialen und kapitalistischen Genealogien dieser Verschränkungen werden daher oftmals nur dann zum Gegenstand kritischer Auseinandersetzung, wenn es um eine explizite Beschäftigung mit ‚intersektional Betroffenen‘ oder diskriminierten Subjekten und Minderheiten‘ 3 3
Aufgrund der politischen und erkenntnistheoretischen Nähe werden daher auch intersektionale, diasporische, migrantische und Schwarze feministische Theorien oftmals als ‚postkolonial-feministisch‘ rezipiert – eine Lesart, die für den deutschsprachigen Kon-
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(wie z.B. ‚Migrantinnen‘) oder den Globalen Süden selbst geht. „Wenn Rassismus thematisiert wird“, so etwa die Kritik von Gutiérrez Rodríguez, „dann weil von Schwarzen Frauen oder Migrantinnen die Rede ist“ (Gutiérrez Rodríguez 1999: o.S.). Fragen von kolonialen Interdependenzen, dem Verhältnis von Imperialismus, Rassismus und der Genese moderner (National-)Staatlichkeit werden derart also auch zum Partikulären oder zum Thema von/für jeweils Betroffene erklärt (vgl. Löw 2009). Postkolonial-feministische Theoretiker*innen haben aber gerade gezeigt, dass Geschlecht bereits an sich als rassifiziertes, sexualisiertes und klassifiziertes Konstrukt betrachtet werden muss, das sich im Kontext kolonialer, imperialer, rassistischer und somit auch transnationale Praktiken des othering und der ökonomischen Ausbeutung (u.a. Sklaverei und der Plantagenökonomie) konstituiert(e) und somit auch die Herstellung von weißen Geschlechtsidentitäten und Weiblichkeits- wie Sexualitätsnormen maßgeblich von diesen rassifizierenden Praktiken abhängen (vgl. Loomba 1998; McClintock 1995; Stoler 2002; Frankenberg 1993; Suleri 1992). Oder in den Worten Anne McClintocks (1995): „Gender here, then, is not simply a question of sexuality but also a question of subdued labor and imperial plunder; race is not simply a question of skin color but also a question of labor power, cross-hatched by gender.“ (McClintock 1995: 5)
Anne McClintock zeigt in ihrem Werk Imperial Leather auf, dass Geschlechterrepräsentationen gerade im Prozess der Kolonisierung eine zentrale Rolle spielten, da eine imaginäre Feminisierung der neu ‚entdeckten‘ „virgin lands“ nicht nur deren Inbesitznahme und ökonomische/sexuelle Ausbeutung legitimierte, sondern die dort anzutreffenden ‚devianten‘, ‚promiskuitiven‘ Weiblichkeiten und ‚barbarischen‘ Geschlechterverhältnisse auch koloniale Gewalt und Zivilisierung als ‚notwendig‘ erscheinen ließen (ebd.: 21ff.). Umgekehrt macht Ann Laura Stoler in ihrer feministischen Untersuchung niederländischer Kolonialtext eine zentrale Relevanz entfaltet, da hier bereits in den 1980er Jahren von Schwarzen/afro-deutschen Feministinnen eine Auseinandersetzung mit der Kolonialvergangenheit Deutschlands vorgelegt und eine Kritik an rassistischen Wissenschaftsstrukturen artikuliert wurde (Oguntoye et al. 1992 [1986]). Umgekehrt problematisieren andere postkoloniale Theoretiker*innen jedoch auch eine zunehmende Metropolitanisierung von postkolonialen Theorien, da derart die globale Arbeitsteilung sowie die materiellen Bedingungen (von Frauen) in der sogenannten ‚Dritten Welt‘ immer häufiger zugunsten von metropolitanen Räumen und Subjekten im Globalen Norden vernachlässigt werde (Castro Varela/Dhawan 2010).
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politiken deutlich, dass Vorstellungen von einer ‚bürgerlichen‘ Weiblichkeit und ‚richtiger‘ (Hetero-)Sexualität ebenfalls nicht jenseits einer Berücksichtigung kolonial-rassistischer Praktiken gedacht und analysiert werden können, da Ideen von ‚Rassezugehörigkeit‘ in Wechselwirkung mit bestimmen (binär-hierarchischen) Geschlechterbildern und Weiblichkeitsnormen standen (Stoler 2010; vgl. für Deutschland Dietrich 2007). „Rassialisierte, klasseninformierte Genderordnungen“ erwiesen sich demnach als „Kernstücke kolonialer Diskurse“ (Castro Varela/Dhawan 2009a: 13). Umgekehrt bedeutet diese Perspektive aber freilich auch, dass Geschlecht damit keineswegs mehr als die zentrale feministische Analysekategorie gelten kann, sondern umgekehrt dieser Fokus auch selbst bereits eine problematische Universalisierung beinhaltet (vgl. Mohanty 1982). Aus einer postkolonial-feministischen Perspektive reicht es demnach nicht aus, Differenzen und Ungleichheiten zwischen Frauen* bzw. intersektionale oder multidimensionale Positionierungen von Subjekten miteinzubeziehen, sondern es geht um eine grundlegende Problematisierung und De-Zentrierung der Kategorie Geschlecht selbst. Sie „muss daraufhin befragt werden, ob und wie mit dieser Bezugnahme Universalisierungen aufgemacht werden, die bestimmte, in der Regel weiße Vorstellungen zu einer allgemeinen, pauschalen, universalisierenden Norm erklären“ (Hornscheidt 2012: 218; vgl. Mohanty 1982; Spivak 1988). Neben dieser Verkomplizierung der Kategorie ‚Frau‘ durch eine (de-)koloniale, imperialismus- und rassismuskritische Re-Perspektivierung von globalen und historischen Interdependenzen, verfolgen postkolonial-feministische Arbeiten aber auch eine radikale De-Zentrierung des androzentrischen Blicks herkömmlicher postkolonialer Theorien (vgl. Castro Varela/Dhawan 2009b). Folglich geht es um eine „feministische Konzeptualisierung des kolonialen und postkolonialen Momentes“ (Gutiérrez Rodríguez 2008: 269) sowie eine kritische Analyse von „verflochtene[n] Patriarchate[n]“ und den komplexen Wechselwirkungen und Brüchen von unterschiedlichen Gender-Regimen in diesen jeweiligen historischen und geopolitischen Momenten (Castro Varela/Dhawan 2009a: 11). Feministisch-postkoloniale Theorien beschäftigen sich folglich auch mit der zentralen Bedeutung von Geschlecht bzw. (‚konservativen‘) Weiblichkeitskonstruktionen in anti-kolonialen Befreiungskämpfen und Nationenbildungsprozessen sowie für aktuelle anti-imperialistische/anti-westliche oder auch islamistische Artikulationen im Globalen Süden/Osten (vgl. Spivak 2009 [1993]; Chanda 2005). Insofern erscheint eine postkoloniale feministische Intervention gerade auch dann angebracht, wenn die, in einer politikwissenschaftlichen Logik als ‚fragil‘ bezeichneten, Staaten des Globalen Südens gerade auch als Inbegriff eines
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‚patriarchalen‘, ‚frauenfeindlichen‘ oder ‚homophoben‘ Staates gelten, während die EU oder die USA (wiederum) zum Modell für ‚(Geschlechter-)Gleichheit‘, ‚Modernität‘ und ‚Toleranz‘ erklärt werden. Erst durch eine sorgfältige Analyse der Bedeutung von Geschlechter- und Sexualitätskonstruktionen für postkoloniale Nationenbildungsprozesse werden daher auch die „triangulären“ Wechselwirkungen zwischen hegemonialen Formationen und Interventionen (z.B. im Namen der Menschenrechte) und misogynen, homophoben Politiken sowie damit verbundene ‚anti-westlichen‘ Rhetoriken (z.B. die Zurückweisung von sexueller Selbstbestimmung als ‚westlich‘) in ihrer Komplexität deutlich (Rahman 2014). Ein zentrales Thema aktueller postkolonialer-feministischer Diskussion ist demnach auch die Frage, wie die (rechtliche) ‚Situation von Frauen‘ einerseits in einer liberaldemokratischen Modernisierungslogik zu einem neuen Marker für ‚Fortschritt‘, ‚Modernität‘ oder ‚Entwicklung‘ stilisiert wird, während gleichzeitig neoliberale Austeritäts- und Privatisierungspolitiken zu einer permanenten Verschlechterung der Lebensbedingungen (nicht nur) von Frauen* im Globalen Süden führen, während auf der anderen Seite aber auch Artikulationen und Widerstände gegen neue (neokoloniale) Hegemonien mit der Etablierung von misogynen oder homophoben Gender-Regimen einhergehen (vgl. Kapur 2006b).
F RAUEN * ALS DAS P ARADIGMA DER ANDEREN : Z IVILISATORISCHE R ETTUNGSNARRATIVE ALS EPISTEMISCHE G EWALT Nicht zuletzt haben die militärischen Interventionen in Afghanistan und Syrien sowie die in diesem Kontext zirkulierenden ‚War on Terror‘-Diskurse gezeigt, dass Geschlecht nach wie vor als ein zentrales Kampffeld internationaler Politik gelten kann und sich auf seiner Basis immer wieder neue Zivilisierungsmissionen artikulieren können (vgl. Chowdhry/Nair 2002a; Ayotte/Husain 2005; Brunner 2015). Auf der Basis einer postkolonial-feministischen Perspektive rücken somit auch kulturell-diskursive Repräsentationen von ‚Dritte Welt-Frauen‘ auf eine neue Art in das Zentrum der Analyse. Im Rahmen einer solchen Herangehensweise werden daher nicht nur ‚unmittelbare‘ politische Prozesse und ‚klassische‘ Politikbereiche untersucht, sondern es wird ebenso gefragt, wie und wodurch weibliche* Körper bzw. die rechtliche Stellung von Frauen* als privilegierte ‚Zeichen‘ von ‚Zivilisation‘, ‚Entwicklung‘, oder ‚Modernität‘ fungieren und so gleichsam zu Kampffeldern okzidentialistischer Selbstvergewisserungspraxen werden können (Brunner 2015: 154f.). In Abgrenzung und Weiterent-
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wicklung etablierter politikwissenschaftlicher Gewaltbegriffe, rücken derart auch Formen der „epistemische Gewalt“ sowie koloniale Genealogien und Dis-/ kontinuitäten in das Blickfeld (Spivak 1988: 281; vgl. Brunner in diesem Band). Christine Löw spricht in Anlehnung an Gayatri Spivak demnach auch von der anhaltenden Konstruktion von (Dritte-Welt-)Frauen als dem „Paradigma der Anderen“ entlang dessen sich Menschenrechtspolitiken wiederum auf der Basis einer geopolitisch-temporalen Spaltung der Welt entfalten können (Löw 2009 31). Aktuell lässt sich etwa beobachten, wie sich in und durch transnationale Menschen- und Frauenrechtspolitiken eine Hierarchisierung von Gesellschaften und geopolitischen Räumen reproduziert, wenn der Globale Norden als ‚entwickelte‘ und ‚fortschrittliche Zivilisation‘ gilt, als selbstverständlicher Verteidiger und ‚Spender‘ von Rechten (dispenser of rights) der ‚weniger entwickelten‘ Gesellschaften Menschen- und Frauenrechte ‚(bei-)bringen‘ oder ein Menschenrechtsbewusstsein ‚lehren‘ müsse. Spivak kritisiert an aktuellen Menschenrechtspolitiken daher nicht primär – wie fälschlicherweise oft angenommen wird – die eurozentristische Genealogie von Menschenrechten, sondern die damit einhergehende Aktualisierung einer (kolonialen) Zivilisierungsmission, durch welche der als ‚fortschrittlich‘ konstruierte Globale Norden wiederum als privilegierter Richter, Überwacher und überlegenen Beseitiger von Unrecht erscheinen kann (Spivak 2004). Menschenrechtspolitiken würden demnach auf Basis kolonialer Genealogien und bestehender globaler Ungleichheiten eine asymmetrische Spaltung „between those who right wrongs and those who are wronged“ (re-)produzieren (Spivak 2004: 563; vgl. Castro Varela/Dhawan 206ff.). Im Rahmen dieser (Klassen-)Spaltung wird folglich jenen Gesellschaften, Nationen, Organisationen, Aktivist*innen, die fähig sind, in (Menschen-) Rechten ‚zu denken‘ und ‚zu handeln‘ eine ‚überlegene‘ und ‚richtende‘ Stellung im Weltsystem zuerkannt. Damit kann sich das kolonial-rassistische Rettungsnarrativ eines white man’s burden transformieren und re-legitimieren, da die Durchsetzung von Menschen- und Frauenrechten nun als ein burden of the fittest erscheinen kann (Spivak 2004: 54): „‚Human Rights‘ is not only about having or claiming a right or a set of rights; it is also about righting wrongs, about being the dispenser of these rights. The idea of human rights, in other words, may carry within itself the agenda of a kind of social Darwinism – the fittest must shoulder the burden of righting the wrongs of the unfit […].“ (Spivak 2004: 523f.)
In Rekurs auf postkolonial-feministische Kritiken rücken in diesem Kontext insbesondere die vergeschlechtlichten und rassifizierten/ethnifizierten Implika-
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tionen internationaler Menschenrechtsdiskurse und -politiken in das Zentrum der Analyse – eine Perspektive, die bisher nur bedingt Eingang in politikwissenschaftliche Diskussionen gefunden hat. Im Rahmen aktueller (menschrechtsbasierter) Zivilisierungsnarrative fungieren demnach wiederum ‚(Dritte-Welt-) Frauen‘ als privilegierte Zeichen eines ‚Menschenrechtsbarbarismus‘ (‚der Anderen‘) und werden so zu „Opfern von Menschenunrechten“ par exellence stilisiert (Ehrmann 2009: 90; vgl. Mutua 2001). Während in der Vergangenheit als ‚unweiblich‘ eingestufte Verhaltensweisen (wie z.B. ‚sexuelle Promiskuität‘ oder politische Aktivitäten von Frauen*) als Zeichen ‚unzivilisierter‘ Gesellschaften galten, sind es aktuell nun gerade ‚Frauenrechte‘ (bzw. zunehmend auch LGBTIQ-Rechte), welche eine ‚fortschrittliche Kultur‘ ausmachen (vgl. Towns 2009; McClintock 1995). Chandra Talpade Mohanty kritisierte bereits in den 1980er Jahren, dass ‚Dritte-Welt-Frauen‘ (auch innerhalb feministischer Kontexte) daher gerade als konstituierende ‚Gegenstücke‘ zur ‚befreiten‘ und über Rechte verfügenden Frau* im Globalen Norden konstruiert wurde. Die „average third world woman“ wird folglich, so Mohanty, vorrangig als „sexually constrained“, „ignorant, poor, uneducated, tradition-bound, domestic, familyoriented“ , also als passives und unterdrücktes ‚Opfer‘ ihrer Kultur porträtiert – ein Urteil, das auch durch zahlreiche aktuelle Arbeiten u.a. hinsichtlich der Repräsentation von Frauen in der Entwicklungspolitik oder in Diskursen um einen ‚War on Terror‘ nichts an Aktualität verloren hat (Mohanty 1982: 337; AbuLughod 2002). Als „abject victim object[s]“ (Kapur 2005: 98) bedürfen diese folglich auch der ‚Hilfe‘, ‚Rettung‘ und ‚Befreiung‘ und können so permanent zu „EmpfängerInnen einer advokatorisch betriebenen Menschenrechtspolitik […] objektiviert“ werden (Ehrmann 2009: 90f.; vgl. Kapur 2005: 9). Der „verletzte Körper der Dritte Welt Frau“ wird somit, wie es Malathi de Alwis ausdrückt, zu einem Schauplatz eines „Opfer Spektakels“, auf dem sich dann die geopolitische Spaltung der Welt erneut manifestieren kann (Alvis zit.n. Dhawan 2011: 16). In Rekurs auf Spivaks bekannten (und höchst umstrittenen) Aufsatz „Can the Subaltern speak?“ wird folglich deutlich, dass wir es aktuell immer wieder mit unterschiedlichen Spielarten und Variationen 4 eines „White men are saving brown women from brown men“ zu tun haben (Spivak 1988: 280; Spivak 1999: 287ff.). Gleichzeitig betont Spivak jedoch auch, dass nun auch Aktivist*innen im und aus dem Globalen Süden Teil dieses spalterischen Menschenrechtssystems werden und paradoxerweise gerade als „native informants“, als „authentic 4
Zum Beispiel „white women saving (brown) women from brown/muslim men“ oder „white queers are saving (brown) queers from brown/muslim men“ (vgl. Brunner 2015, Puar 2007).
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inhabitants of the margin[s]“ dieses wiederum bestätigen können (Spivak 2009 [1993]: 65; vgl. Spivak 2004). Trotz der ermächtigenden Implikationen von (Menschen-)Rechten problematisiert Spivak daher die Fortschreibung einer globalen (ökonomisch-materiellen) Klassenspaltung durch Menschenrechtspolitiken. Denn während postkoloniale Eliten unter der Bedingung einer „epistemischen Kontinuität“ an diesem Menschenrechtssystem teilnehmen könnten, blieben Subalterne weiterhin ohne Stimme bzw. würden durch die Dominanz einen Rechtsdiskurses auf eine neue Weise subalternisiert (Spivak 2004; Spivak 2009 [1993]).
T RADITION VERSUS M ENSCHENRECHTSKULTUREN : D IE K ULTURALISIERUNG VON G EWALT GEGEN F RAUEN * Die im vorhergehenden Abschnitt diskutierten Viktimisierungs- und Rettungsnarrative implizieren jedoch noch einen weiteren, höchst problematischen Aspekt: Frauen- und Menschenrechtsverletzungen bzw. konkret Gewalt gegen Frauen* werden, wie unter anderem Ratna Kapur anhand internationaler Diskussionen und Aktionen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen* (im Globalen Süden) gezeigt hat, in einer spezifischen Weise ‚kulturalisiert‘, oder wie es Claudia Brunner nennt „religionisiert“ und damit letztlich wiederum ‚entpolitisiert‘ (Kapur 2005; Brunner 2015). Sogenannte ‚traditionelle Praktiken‘ oder ‚traditionsbedingte Gewalt‘ werden dann, wie auch der postkoloniale Menschenrechtstheoretiker Makau Mutua betont, zu Kennzeichen von „‚savage‘ cultures and peoples […] lying outside the human rights orbit“ und folglich auch zu ethnisierenden Markern einer fundamentalen Differenz zwischen „human rights cultures“ und „non-liberal, non-European cultures“ erklärt (Mutua 2001: 205). Misogynie und Gewalt gegen Frauen* (oder auch LGBTIQs) bzw. eine generelle die Neigung zur Gewalt/tätigkeit und/oder ‚Menschenrechtsbarbarei‘ werden damit unweigerlich zu einem zentralen Kennzeichen einer ‚rückständigen‘ Kultur erklärt und – wie auch aktuelle politikwissenschaftliche Debatten um ‚fragile‘ Staatlichkeit oder ‚Bürgerkrieg‘ zeigen – vorwiegend im Globalen Süden verortet, während jegliche Form der Gewalt und Diskriminierung im Globalen Norden selbst jedenfalls nicht als Ausdruck oder inhärenter Bestandteil der jeweiligen ‚Kultur‘ (oder christlichen Religion) gelesen wird. Politikwissenschaftlich interessant und relevant ist hier auch, dass nur bestimmten Gesellschaften oder Subjekten die Fähigkeit zugesprochen wird, ‚autonom‘, aus eigenem ‚Antrieb‘ heraus und ohne internationalen Druck (z.B. in
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Form von Aid Cuts), ‚tolerant‘ bzw. ‚menschenrechtlich‘ handeln zu können (vgl. Brown 2006). Insofern geht es im Zusammenhang mit internationalen Diskussionen um die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen* auch um die zentrale politikwissenschaftliche Frage, was jeweils als politische Handlungsfähigkeit (agency), als ‚Kultur‘ oder auch als ‚Gewalt‘ konzeptionalisiert wird, welche vergeschlechtlichten und rassifizierten Subtexte dominanten Konzepten zugrunde liegen und inwieweit Vorstellungen und Analysen des ‚Politischen‘ daher auch epistemische (Gewalt-)Ordnungen reflektieren bzw. inkludieren.
IMPLIKATIONEN EINES MODERNISIERUNGSPARADIGMAS : MENSCHENRECHTSVERLETZUNGEN ALS RÜCKSTÄNDIGKEIT Postkolonial-feministische Kritiken machen deutlich, dass aktuelle Menschenrechtspolitiken nicht nur Gefahr laufen, kulturalisierende Konstruktionen eines (gewalttätigen, patriarchalen) ‚Anderen‘ zu (re-)produzieren, sondern auch als (neues) zentrales Bestätigungsmoment eines universalen, teleologisch ausgerichteten und fortschrittsorientierten „truth claims of modernity“ (Kapur 2014: 27) fungieren. Im Rahmen einer solchen modernisierungstheoretischen Fortschrittserzählung können ‚menschen- und frauenrechtsverletzende‘ Gesellschaften/Staaten demnach stets nur als ‚unterentwickelte‘ Versionen der Gegenwart des Globalen Nordens, als ‚rückständige‘ ‚fragile‘ Staaten, als ‚unfertige Demokratien‘ interpretiert werden. Eine Verletzung von Frauen- und Menschenrechten ist daher gleichsam ein Ausdruck und eine Manifestation einer im Globalen Norden schon ‚überwundenen Vergangenheit‘ in der Gegenwart der Moderne. Nicht selten werden Menschen- und Frauenrechtsverletzungen daher auch mit Begriffen wie ‚rückständig‘, ‚steinzeitlich‘ oder ‚barbarisch‘ betitelt. Diese Art der Temporalisierung von globaler Ungleichheit führt Anne McClintock explizit auf eine koloniale Konstruktion eines „panoptischen“ Zeitverständnisses zurück (McClintock 1995): Die Fortschrittlichkeit des Empires konstituiert sich auf der Basis eines vermeintlich, retrospektiv-panoptischen Blicks auf die Kolonien als „anachronistische“ Räume, deren ‚Entwicklungsund Zivilisationsstand‘ auf einer linear konstruierten Zeitlinie gleichsam objektiv beobachtet, verortet und bewertet werden kann: „[T]ime became a geography of social power, a map from which to read a global allegory of […] social differences. [P]rogress […] is figured as a journey backward in time to an anachronistic moment of prehistory. Geographical difference across space is figured as a historical difference across time.“ (McClintock 1995: 37ff.).
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Auch im Rahmen dominanter Menschenrechtsnarrative werden Länder des Globalen Südens als eine Art „anachronistic space“ (McClintock 1995: 40f.) imaginiert, als ein Raum, deren Bewohner*innen sich hinsichtlich menschen- und frauenrechtlicher Normen und Praktiken auf einer Zeit- bzw. Entwicklungsstufe befinden, die im Globalen Norden/Westen historisch bereits ‚überwunden‘ wurde. Sie werden folglich, wie es Dipesh Chakrabarty ausdrückt, „in the imaginary waiting room of history“ verbannt (Chakrabarty 2007: 8). In dieser Fortschrittserzählung wird ein Denken in (Menschen-)Rechten selbst zum Zeichen von ‚menschlicher Entwicklung‘ erhoben – „it reflects the metamorphosis of civilisation from the primitive into a modern and evolved form and this progress has emanated from the heart of Europe“ (Kapur 2006a: 668; vgl. Ehrmann 2009). Im Rahmen eines solchen modernisierungs- und fortschrittstheoretischen Paradigmas können jegliche Forderungen und Manifestationen einer politischen Veränderung – etwa in Bezug auf eine Transformation von Geschlechterverhältnissen – dann ausschließlich als ‚Entwicklung‘ von einem ‚rückständigen‘ hin zu einem ‚zivilisiert(er)en‘ Menschenrechtszeitalter, also der ‚Moderne‘, artikuliert und gelesen werden (vgl. Kapur 2014). Auch in politikwissenschaftlichen Debatten wird nicht selten davon ausgegangen, dass je besser die Menschen- oder Frauenrechtspolitik eines Staates ‚bewertet‘ wird, desto eher handle es sich dabei um einen ‚demokratischen‘ bzw. ‚liberalen‘ statt eines ‚fragilen‘ Staates und umgekehrt (vgl. Castro Varela/Dhawan 2015: 207; Mutua 2001).
J ENSEITS VON E INDEUTIGKEIT : M ENSCHENRECHTE ALS ERMÄCHTIGENDE V ERLETZUNGEN Trotz der Kritik, die von Seiten postkolonialer Theoretiker*innen an Menschenrechtspolitiken und -konzeptionen geäußert wird, weisen diese den Kampf um Menschen-/Frauenrechte jedoch keineswegs vollständig zurück. Im Gegenteil, werden derartige Spaziergänge „on the dark side of human rights“ (Kapur 2006a) gerade als Voraussetzung und Bedingung einer kritischen Re-Formulierung und subversiven Aneignung von Menschenrechtspolitiken konzeptionalisiert. Insofern betont auch Spivak, dass die ermächtigende und normative Kraft von Menschenrechten gerade aufgrund seiner globalen Dominanz genutzt werden müsse: „One cannot write off the righting of wrongs“, so Spivak, „[t]he enablement must be used even as the violation is renegotiated“ (Spivak 2004: 544). Sie spricht sich demnach für eine „affirmative Sabotage“ von Prinzipien der Auf-
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klärung, u.a. auch der Menschenrechte, aus, damit sie auch gegen ihre ‚ursprüngliche‘ Intention verwendet und re-konstruiert werden können (Spivak 2007; vgl. Dhawan 2014a). Nicht zuletzt können gerade die Menschenrechtsforderungen von jenen Menschen und politischen Bewegungen (z.B. Frauen, LGBTIQs, PoCs), welche historisch gerade nicht als ‚eigentliche‘ Subjekte der Menschenrechte anerkannt wurden, als eine Art der affirmativen Sabotage von Menschenrechtspolitiken verstanden. Denn letztlich transformieren sich dadurch die politischen Implikationen und strukturellen Rahmenbedingungen von Menschenrechten selbst. Menschenrechtspolitiken sind daher, so Spivak, immer eine „enabling violation“ (Spivak 2004: 544) – sie sind zwar entlang globaler Herrschaftsverhältnisse gewaltvoll und zwangsläufig verletzend, aber können dennoch befähigende Effekte freisetzen, wenn ehemals kolonialisierte und/oder exkludierte Subjekte ihre ‚Universalität‘ tatsächlich beanspruchen. Nicht zuletzt ruft Nikita Dhawan daher zu einer permanenten Auseinandersetzung mit der niemals eindeutig, sondern immer nur situativ und kontextuell zu beantwortenden Frage, „inwiefern die Befähigung mit einem Minimum an Verletzung gestärkt werden kann“ auf (Dhawan 2009: 56). Politikwissenschaftlich bedeutet dies aber auch, dass diese Uneindeutigkeit und Ambivalenz von Menschenrechtspolitiken als Rahmung und Ausgangspunkt jeder Analyse in den Blick zu nehmen ist. Darüber hinaus rücken so auch Fragen nach (Begrenzungen von) konkreten Orten, Räumen und Akteur*innen von Menschenrechtspolitiken, nach Möglichkeiten der Partizipation und ‚Sprechbarkeit‘ von Menschenrechten aufgrund und trotz epistemischer Gewaltverhältnisse auf eine neue Art in das Zentrum der Aufmerksamkeit. In einer solchen Lesart gibt es dann auch keine ‚reinen‘ oder ‚unschuldigen‘ Menschenrechte mehr, die von ihrer ‚Instrumentalisierung‘ befreit werden müssen, sondern Menschenrechte erscheinen stets als ambivalentes, vieldeutiges und stets politisches Konstrukt.
DE -ZENTRIEREN, PROVINZIALISIEREN, DEKOLONIALISIEREN, ODER: F ORSCHEN OHNE G ARANTIEN Gerade weil sich (eine vage und unspezifische Deutung von) ‚Menschenrechte(n)‘ mittlerweile als „dominanter Topos“ (Löw 2009: 256) in Bezug auf die globale Verhandlung von Gerechtigkeit und beinahe als einziges Imaginationsschema für (frauen)politische Kämpfe gegen Ungleichheit, Gewalt und Diskriminierung etablieren konnten, erscheint eine postkolonial-feministische Diskussion von (problematischen) ‚Subtexten‘ und Implikationen dieses normativen
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Rasters als besonders wichtiger Impuls für politikwissenschaftliche Auseinandersetzungen (vgl. Dhawan 2014; Kapur 2005; Kapur 2006a; Kapur 2014; Spivak 2004; Dipesh 2007). Denn im Rahmen internationaler Menschen- und Frauenrechtsdebatten lassen sich geopolitische Grenzziehungs- und otheringProzesse sowie die komplexen Nachwirkungen kolonialer und imperialer Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse ebenso wie Praktiken der dekolonialen Interventionen und vielschichtigen Kämpfe entlang von ‚Geschlecht‘, ‚Rasse‘, ‚Klasse‘, Sexualität‘ oder auch ‚Körper‘ oder ‚Kaste‘ untersuchen. Postkoloniale und feministische Ansätze vergegenwärtigen demnach auch, dass historische und aktuelle Kämpfe um Menschen-, Frauen- und Bürgerrechte eine andere Genealogie entfalten, werden sie aus einer zentrismuskritischen Perspektive bzw. auf der Basis der Geschichte(n) kolonialisierter Subjekte, der Subalternen, also aus der Sicht von „failed subjects“ (Kapur 2014) ‚erzählt‘. Insofern gilt es, dominante Menschenrechtserzählungen folglich auch konsequent zu provinzialisieren, geopolitisch zu situieren und somit auch epistemologisch zu de-zentrieren. Nach Spivak wäre demnach auch jedes intellektuelle und forscherische Suchen nach ‚unterdrückten‘ bzw. ‚subalternen‘ Stimmen, nach authentischen „native informants“ ein höchst problematisches Unterfangen, weil es innerhalb der etablierten epistemischen Grenzen einer identifizierbaren ‚kulturellen Differenz‘ verbleibe. Wird etwa die Genese und die Konstruktion eines modernen politischen Subjekts unter postkolonial-feministischen Vorzeichen gelesen, erscheinen die Bedingungen für einen Eintritt in das Feld politischer Intelligibilität bei weitem komplexer und vieldeutiger als dies beispielsweise aktuelle Syllabi und Lehrwerke für das Fach Politische Theorie und Ideengeschichte suggerieren. Denn derart können die rassialisierten, vergeschlechtlichten, klassistischen und heteronormativen Implikationen von Konstruktionen ‚legitimer‘ (Menschen-)Rechtssubjekte nicht mehr als historisch zu erklärende und korrigierbare ‚Fehler‘ abgetan werden, sondern die Konstruktion des ‚Anderen‘, des Nicht-Bürgers, des Abjektes, 5 des Nicht-Rationalen, des ‚Weibischen‘ bzw. insgesamt koloniale, 5
Ich verwende den Abjektbegriff hier in Anlehnung an Julia Kristeva und Judith Butler (Kristeva 1982; Butler 1995). Kristeva erklärte den Begriff des Abjekts anhand des ‚monströsen‘, mütterlich-weiblichen Körpers (Kristeva 1982: 4). Das Abjekt als das ‚Verworfene‘, das Ekel und Ablehnung hervorruft, ist bei Kristeva ebenso wie in der Verwendung durch Judith Butler nicht nur etwas „what disturbs identity, system, order“, es ist auch die ‚verworfene‘ Kehrseite des Subjekts selbst, gleichsam seine Konstitutionsbedingung, da es eine Unterscheidung zwischen dem ‚Selbst‘ und dem als ‚kontaminierend‘ empfundenen ‚Anderen‘ erst ermöglicht (Kristeva 1982: 4; vgl. Butler 1995: 23ff.).
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kapitalistische und patriarchale Herrschaftsverhältnisse rücken als Konstitutionsbedingungen eines modernen politischen (Menschenrechts-)Subjekts selbst in das Zentrum der Aufmerksamkeit (vgl. Anghie 2006; Makau 2001; Makau 2002; Suárez-Krabbe 2014; Douzinas 2012; Ehrmann 2009). Insofern ist auch zentral, wo und an welchen (geo-)politischen Angelpunkten eine politikwissenschaftliche Beschäftigung und Genealogisierung von Bürgerund Menschenrechten (aber auch Frauenrechten) ansetzt: Werden die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Französische Revolution als singuläre historische Initiationsmomente ‚erzählt‘ oder werden die komplexen „entanglements“ zwischen dem Kampf um männliche, weiße (Bürger-)Rechte auf der einen und der Versklavung und Ermordung von kolonialen Subjekten als ‚UnterMenschen‘, als Nicht-Bürgern, sowie der Ausschluss von Frauen als konstitutive Elemente der Geschichte von Menschenrechten thematisiert? Inkludiert eine philosophisch-historische Verortung von Menschenrechten die Diskussion zwischen Ginés de Sepúlveda und Bartolomé de Las Casas über das ‚Mensch-sein‘ der indigenen Bevölkerung in den Amerikas im 16. Jahrhundert, 6 die Bedeutung der Haitianischen Revolution für eine Untersuchung der Gleichzeitigkeit von Rassismen, Sklaverei und der Genese der modernen Menschenrechtsidee 7, oder eben auch die Geschichte des sogenannten „Women’s War“ (Igbo: Ogu Ndem bzw. Ogu Umunwaanyi) von 1929, eines feministisch-antikolonialen Aufstands von tausenden Igbo und Ibibio Frauen gegen die britische Kolonialmacht in Nigeria und ‚lokale‘ männliche Autoritäten? Insofern bedeutet postkoloniale Politikwissenschaft eine Beschäftigung mit dem Fortwirken und der konstitutiven Bedeutung von Misogynie und kolonialer Gewalt für die Disziplin und ihres (hegemonialen) Kanons, als auch ein Beschäftigung mit Konzeptionalisierungen des Politischen jenseits dieses dominanten Kanons. Gerade in Bezug auf das, diesem Sammelband zugrundeliegende, Plädoyer, (feministisch-)postkoloniale Ansätze stärker in die politikwissenschaftliche Forschung und Lehre zu inkludieren, stellt sich damit freilich die alte Frage nach den (Umsetzung-)Möglichkeiten von (herrschafts-)kritischer Theoriebildung und Wissenschaft innerhalb bestehender institutioneller Strukturen. Für eine ernsthafte ‚postkoloniale Politikwissenschaft‘ erscheint mir daher eine bloße ‚Integration‘ von postkolonialen/feministischen Epistemologien in bestehende universitäre Strukturen ohne eine umfassende Transformation und Dekoloniali6
Zur Diskussion zwischen Ginés de Sepúlveda und Bartolomé de Las Casas und dessen Bedeutung für eine postkolonial-feministische Kritik von Menschenrechten siehe Julia Suárez-Krabbe (2014).
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Vgl. dazu u.a. die kritische Analyse von Sibylle Fischer (2004).
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sierung der (strukturellen) Bedingungen (globaler) Wissensproduktion selbst daher weder ausreichend noch möglich. Wie bereits in der Einleitung betont wurde, kann für mich ein solches Projekt daher nur bedeuten, sich auch selbstkritisch und (wissenschafts-)politisch den Prinzipien einer Dekolonisierung und Provinzialisierung von Wissenschaft ernsthaft und nachhaltig zu verpflichten. Dies impliziert auch eine Abkehr von gewohnten disziplinären Selbstverständlichkeiten und Arbeitsweisen, eine selbstkritische und affirmative Offenheit gegenüber Methodologien, Methoden, Denkansätzen und Interventionen, welche die Disziplin und (etablierte) Positionen selbst in Frage stellen. Dieses Arbeiten nennt Spivak nicht zuletzt auch ein Arbeiten „ohne Garantien“ (Spivak 1990: 144; eigene Übers.).
L ITERATUR Anghie, Anthony (2006): „The Evolution of International Law. Colonial and postcolonial Realities“, in: Third World Quaterly 27 (5), 739-753. Ayotte, Kevin J./Husain, Mary E. (2005): „Securing Afghan Women. Neocolonialism, Epistemic Violence, and the Rhetoric of the Veil“, in: NWSA Journal 17, 112-133. Brunner, Claudia (2015): „Ausweitung der Geschlechterkampfzone. Warum humanitäre Interventionen nicht ohne Sex auskommen“, in: Max Lakitsch/ Anna Steiner (Hg.), Gewalt für den Frieden? Vom Umgang mit der Rechtfertigung militärischer Intervention, Wien: LIT Verlag, 153-179. Butler, Judith (1995): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a/M.: Suhrkamp. Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita (2005): „Spiel mit dem ‚Feuer‘– Post/Kolonialismus und Heteronormativität“, in: femina politica 14 (1), 4759. Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita (2009a): „Feministische Postkoloniale Theorie. Gender und (De-)Kolonisierungsprozesse. Europa provinzialisieren? Ja, bitte! Aber wie?“, in: femina politica. Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft 18 (2), 9-18. Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita (2009b): „Gendering Post/Kolonialismus, Decolonising Gender – Feministisch-Postkoloniale Perspektiven“, in: Ingrid Kurz-Scherf/Julia Lepperhoff/Alexandra Scheele (Hg.), Feminismus. Kritik und Intervention, Münster: Westfälisches Dampfboot, 64-81. Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita (2010): „Mission Impossible. Postkoloniale Theorie im deutschsprachigen Raum“, in: Julia Reuter/Paule-
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Geschlechtergerechtigkeit unter postkolonialen und Post-Konflikt-Bedingungen? Das Beispiel Ruanda R IRHANDU M AGEZA -B ARTHEL 1
E INLEITUNG Geschlechtsspezifische Gewalt, die ein integraler Bestandteil kriegerischer Konflikte ist, wird seit den 1990er Jahre zunehmend in internationalen Kreisen als Kriegsverbrechen anerkannt. Sowohl in der Praxis als auch in der Wissenschaft wird das Thema sexuelle und sexualisierte Gewalt in Kriegszeiten – in Anbetracht der Frage wie solche Verbrechen geahndet werden sollen – ausgiebig verhandelt. Im Falle des ruandischen Genozids von 1994 wurden die Auswirkungen dieser Kriegsführung auf die Zivilbevölkerung besonders deutlich. Dennoch konnte, wie die weitere Besprechung zeigen wird, Frauen und Mädchen, denen im Zuge des dortigen Völkermords Unrecht geschehen war, nicht garantiert werden, dass sie Gerechtigkeit in der Nachkriegszeit erfahren würden. Stattdessen mussten sie aktiv neue Meilensteine in der internationalen Rechtsprechung und der lokalen Gesetzgebung setzen, um ihren Erfahrungen adäquate Aufmerksamkeit zu sichern. Nachdem sie wegen der existierenden Geschlechterbeziehungen in Ruanda gerade als Frauen und Mädchen in den Genozid involviert wurden, riskierten sie im post-konflikt Kontext des zentralafrikanischen Staates wiederum aufgrund ihres Geschlechts, an die Grenzen der neuen (Rechts-)Ordnung zu stoßen. Eine maßgebliche Ursache dafür, warum sich die Kategorie Geschlecht in diesem
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Mein besonderer Dank gilt Aram Ziai sowie David Barthel, Elisabeth Fink und Mirjam Tutzer für ihre Kommentare zu diesem Beitrag.
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Zusammenhang so unterschiedlich auswirken konnte, ist in den Unzulänglichkeiten des internationalen Systems zu verorten. Das koloniale Vermächtnis im vermeintlich geschlechtsneutralen Völkerrecht und der internationalen Politik bewirkt eine Einseitigkeit in der Etablierung internationaler und nationaler transitional justice Prozesse, die sich im Zuge ungleicher Nord-Süd-Verhältnisse fortsetzen. Die tiefgreifende Verwurzelung Ruandas in der internationalen Gemeinschaft zeigt daher einen unzureichenden Universalismus existierender Normen auf. Tatsächlich galt es, als die internationale Gemeinschaft vor über 20 Jahren ihren völkerrechtlichen Verpflichtung nicht angemessen nachgekommen war, für alle Betroffenen des ruandischen Genozids eine umfassende‚ Wiedergutmachung zu erlangen. Trotz einer anfänglichen Marginalisierung der Konflikterfahrungen von Frauen und Mädchen bildeten ihre Forderungen nach Anerkennung beim Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) und in der Ausgestaltung des Genozidstrafgesetzes 2 die Grundlagen für spätere zentrale geschlechterpolitische Interventionen. Sowohl der ICTR und andere Tribunale nach ihm, wie der Internationale Strafgerichtshof (IStGH), sind Instrumente der transitional justice. Unter transitional justice wird die Institutionalisierung des Umgangs mit einer gewaltvollen Vergangenheit verstanden. Dieses Konzept sieht die Implementierung von Instrumenten wie u.a. Wahrheitskommissionen, Reparationszahlungen oder Strafverfahren vor, die zur Verarbeitung vergangener Gewalttaten und deren sozio-politischer Folgen beitragen sollen. Sie sollen zudem einen politischen Wandel von einem ungerechten zu einem gerechteren System kennzeichnen. Hierbei spielen die internationale Politik und geltende internationale Regeln eine entscheidende Rolle (Buckley-Zistel 2013: 36-37). Vor diesem Hintergrund stellt sich am Beispiel der transitional justice in Ruanda die Frage, ob und wie Geschlechtergerechtigkeit unter postkolonialen und post-konflikt Bedingungen erlangt werden kann. Der vorliegende Beitrag knüpft an das Argument an, dass Rechtsreformen, die Geschlechtergleichheit und -gerechtigkeit anstreben, ebenso wichtig sind wie gängige transitional justice Instrumente (Mageza-Barthel 2012). Ausgehend hiervon wird im Folgenden verdeutlicht, dass erst eine Aufarbeitung vergangenen Unrechts mit Blick auf das koloniale Vermächtnis und die Anerkennung geschlechtsspezifischer Gewalt während bewaffneter Konflikte einen entscheidenden Schritt in Richtung Geschlechtergerechtigkeit bedeutet. Aus feministisch-postkolonialer Perspektive wird deutlich, dass ruandische Frauen, die vom Genozid betroffen waren, an 2
Als „Gesetz zur Strafverfolgung von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die nach dem 1. Oktober 1990 begangen worden sind“ bekannt.
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(inter-)nationalen Normen und Strukturen rütteln mussten, um das Thema sexueller und sexualisierter Gewalt während des Konflikts angemessen repräsentiert zu sehen. In diesem Beitrag wird zunächst der Genozid im Rahmen einer Geschlechteranalyse skizziert, mit dem Ziel die Relevanz von transitional justice für Frauen hervorzuheben. Danach werden die Möglichkeiten und Grenzen der transitional justice aus feministischer und postkolonialer Perspektive besprochen. Schließlich wird am Beispiel Ruandas aufgezeigt, wie geschlechterpolitische Interventionen dort vollzogen wurden und diskutiert, ob hierdurch mehr Gerechtigkeit für Frauen vor Ort erreicht werden konnte.
G ENOZID IN R UANDA: E IN GESCHLECHTERPOLITISCHER H INTERGRUND Nachdem der ruandische Genozid binnen drei Monaten, zwischen April und Juli 1994, eine Zäsur in der politischen Geschichte des Landes, der Region und der Welt verursacht hatte, musste eine Perspektive für einen politischen Neuanfang und wirtschaftlichen Wiederaufbau gefunden werden. Nicht nur sind zwischen 500.000 und 1 Million RuanderInnen in dieser kurzen Zeit gestorben, sondern dreiviertel der Tutsi-Bevölkerung, die im Land lebte, waren planmäßig verfolgt und dezimiert worden (Straus 2006: 41). Unzählige Frauen waren nach diesem Konflikt verwitwet, viele waren während des Konflikts sexueller Gewalt ausgeliefert und/oder vertrieben worden. Frauen auf beiden Seiten der Konfliktlinie litten besonders unter den herrschenden Bedingungen: Diejenigen, die im Inland lebten, hatten bereits seit Ende der 1980er Jahre eine verheerende Dürre und eine wirtschaftliche Krise durchstanden. Die Wirtschaftskrise wurde im Zeitraum von 1990 bis 1993 durch Strukturanpassungsprogramme der Gebergemeinschaft, die bis dahin Ruanda als Empfängerland von Entwicklungsmitteln stark favorisiert hatte, verschärft. Zeitgleich hatten sie zwischen Oktober 1990 und August 1993 einen Bürgerkrieg erfahren. Diejenigen, die im Ausland gelebt hatten, waren im Wesentlichen Teil einer Tutsi-Gemeinschaft, die seit der formellen Dekolonisierung des Landes in verschiedenen Wellen staatlich geduldeter Gewalt aus dem Land vertrieben worden war. Sie hatten sich in Opposition gegen die Regierung von Präsident Juvenal Habyarimana (MNRDD) 3 und seinem Vorgänger Gregoire Kayibanda 3
Präsident Habyarimana, seit Juli 1973 an der Staatsspitze, lenkte mehr als 20 Jahre die Geschicke des Landes. Er gründete die Mouvement Révolutionnaire National pour le Développement et la Démocratie (MRNDD).
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(MDR) 4 um die Rwandan Patriotic Front (RPF) gruppiert. Ihr Widerstand fiel mit dem einer wachsenden Demokratisierungsbewegung im Inland zusammen, die den Versuchen Habyarimanas, an der Macht zu bleiben und Reformen zu verhindern, nahezu machtlos gegenüber stand. Mit dem Bürgerkrieg und der Verwicklung in den Genozid hatte die RPF das Rückkehrrecht der ExilruanderInnen militärisch erstritten und wartete mit einer politischen Agenda auf, die die Habyarimana-Regierung auf das Äußerste diskreditierte, indem sie ihr schlechte Regierungsführung vorwarf und ihre alternativen politischen Prinzipien hervorhob. Während der politischen und wirtschaftlichen Krise, die sich seit der Staatsgründung 1962 bis zu einem Bürgerkrieg und dem anschließenden Genozid zugespitzt hatten, sah die internationale Gemeinschaft fast tatenlos zu. 5 Mit dem Genozid wurde beinahe zeitgleich zum Bosnienkrieg Ethnizität als identitäre Kategorie in Ruanda polarisiert und politisch instrumentalisiert. RegierungsgegnerInnen wurden generell als RPF-AnhängerInnen oder Tutsi verleumdet. Die gleiche Regierung, die 1975 die Völkermordkonvention 6 ratifiziert hatte, hatte gegen eben diese verstoßen. Als die Pressefreiheit zu Anfang der politischen Liberalisierung (1990-1993) eingeführt wurde, begünstigte sie die Verbreitung von Hetzblättern und Hassmedien, in denen auch die Geschlechterrollen von Hutu und Tutsi-Frauen öffentlich thematisiert und im Dienste der jeweiligen Nation ausbuchstabiert wurden. Dort wurde vor allem ihre Sexualität, die bislang unter der moralischen Kontrolle der katholischen Kirche überwacht wurde, entlang kolonialer Muster der Begehrlichkeit in der Öffentlichkeit zur Schau gestellt (Jefrevomas 1991; Taylor 1999). Ihnen wurden die soziale und kulturelle Reproduktion der Hutu- bzw. Tutsi-Nationen zugeschrieben, wodurch sie letzten Endes zum Ziel sexualisierter und politisierter Angriffe während des Genozids wurden. Sie erfuhren den bewaffneten Konflikt aufgrund ihres Geschlechts anders als Männer, die physische Gewalt an ihnen wurde auf andere Art und Weise als an Männern verübt. 4
Die Parti du Mouvement et de l’Emancipation Hutu (MDR-Paramehutu) regierte unter Parteichef Kayibanda bis 1973 Ruanda. Er war ein Mitverfasser des Hutu Manifests, in dem Widerstand gegen die belgische Kolonialmacht und eine Tutsi-Elite artikuliert wurde.
5
Laut Völkermordkonvention wären Vertragsstaaten dazu verpflichtet, entscheidend in den Konflikt einzugreifen. Stattdessen kamen die meisten ihrer internationalen Verpflichtung nicht nach (Melvern 2000; Barnett 2002; Dallaire 2003).
6
Die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes wurde 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) verabschiedet.
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Obwohl nur wenige ruandische Frauen während der Kayibanda- und Habyarimana-Ära politisch in Erscheinung traten, konnten sie mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts zur Staatsgründung wählen und politische Ämter bekleiden. Unter ihnen waren Frauen, wie die Premierministerin Agathe Uwilingiyimana (MDR) oder die Familienministerin Pauline Nyiramasuhuko (MNRDD), die zu den wenigen Ministerinnen im Kabinett Habyarimanas gehörten. Um die Präsidentengattin Agathe Kanziga hatte sich ein einflussreicher Kreis hochrangiger ExtremistInnen gebildet, die die Etablierung einer reinen Hutu-Nation anstrebten (siehe Brandstetter 2001). In der RPF beteiligten sich Frauen, wie Rose Kabuye, am bewaffneten Widerstand und trugen, wie Aloysia Inyumba als Schatzmeisterin der Partei, Verantwortung im zivilen Bereich. Die Frauenbewegung verstand sich mit ihren Friedens-, Entwicklungs- und Menschenrechtsprogrammen als Teil der Demokratisierungsbewegung. Angesichts dieser diversen Rollen und den restriktiven Geschlechterverhältnissen hatten Frauen ein eigenes Interesse an einer Lösung des politischen Konflikts. Nach dem Genozid rekonstitutierte sich eine aufkommende Frauenbewegung, deren Dynamik durch den Konflikt entschieden unterbrochen worden war, unter den schwierigsten Bedingungen. Frauen forderten durch ihren Beitrag zum Wiederaufbau ihrer Gesellschaft und des Landes erneut tradierte Geschlechterrollen heraus (Mageza-Barthel 2008). Folgt man der Darstellung von Meredeth Turshen und Clotilde Twagiramariya (1998), galten ruandische Frauen 1994 als Kriegsbeute: sexuelle Gewalt erwies sich dabei als ein Mittel zur Unterwerfung von Frauen oder wurde von ihnen ertragen, um während bzw. unmittelbar nach dem offiziellen Ende des Genozids das Überleben zu sichern. Durch den Genozid wurden das soziale Fundament und die politischen Institutionen im Land zerstört. Nationale Normen, die früher das Miteinander geregelt hatten, verloren ihre Gültigkeit. Hatten die Normen durch die Verstärkung der sozio-politischen Stratifizierung doch die Massenbeteiligung am Genozid ermöglicht (Fujii 2004). Einzig der ruandische Staat, der aufgrund seiner Omnipräsenz schon als ‚Leviathan‘ (Straus 2006: 201-23) bezeichnet wurde, blieb bestehen. Wie viele andere ehemalige Freiheitsbewegungen auf dem Kontinent hatte die RPF – auch wenn sie sich als Gegenentwurf zu den beiden früheren Regierungsparteien betrachtete und anti-imperiale Züge zeigte – die Grundfesten des Staats nicht aufgehoben (Chakrabarty 2013: 152-155; siehe Ziai 2012: 314). Sie änderte deutlich den normativen Rahmen, in dem politisches Leben geführt wurden durfte: Sie befasste sich langfristig mit einer neuen Rechtsordnung. Im Zuge dieser wichtigen Neuausrichtung behielt sie das Vermögen der vorigen Regierungen bei, die ruandische Bevölkerung an sich zu binden und den Rah-
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men des sozialen Lebens zu bestimmen. Die RPF reklamierte für sich die Deutungshoheit über die Auslegung des Genozids und seiner Auswirkungen (Burnet 2012). Sie protestierte aber heftig gegen internationale Kritik, wenn diese an ihr geäußert wurde (Pottier 2002: 157-164). Dennoch folgte sie den Bestimmungen des Völkerrechts, um ihre Mitgliedschaft der internationalen (Werte-)Gemeinschaft zu demonstrieren. Aus geschlechterpolitischer Perspektive änderte sich der ruandische Staat nach dem Genozid entscheidend dadurch, dass er nach konzertiertem Einsatz der Frauenbewegung auf Gerechtigkeitsforderungen einging wie das später diskutierte Beispiel zeigen wird.
F EMINISTISCHE
UND P OSTKOLONIALE AN TRANSITIONAL JUSTICE
K RITIKEN
Vor dem Hintergrund der Forschung um transitional justice und Geschlecht (z.B. Buckley-Zistel/Stanley 2012) und aktuellen postkolonialen Debatten zu transitional justice stellt sich die Frage, wie die frauenpolitischen Interventionen in Ruanda gewertet werden sollen. Feministische AutorInnen argumentieren, dass die Praxis der Vergangenheitsbewältigung im Rahmen von transitional justice bislang größtenteils Verzerrungen mit sich brachte, die Frauen und/oder Opfer sexualisierter Gewalt in Konflikten benachteiligten. Zu oft, ob etwa in Wahrheitskommissionen (Meintjes 2009) oder in internationalen ad-hoc Tribunalen (Nowrojee 2008), erscheint Geschlecht nicht auf der politischen oder juristischen Tagesordnung. Oder es wird erst nachträglich und damit meist nachrangig problematisiert. 7 Ausgangspunkt für feministisch-postkoloniale Perspektiven auf transitional justice ist die Erwartung, dass durch das Zusammenwirken von Transition und Gerechtigkeit eine politische und gesellschaftliche Transformation erfolgen soll. Beispielsweise betonen Sarah Maddison und Laura Shepherd (2014) die Zentralität kolonialer Verbrechen für neuere Konflikte. Sie gehen dabei von einer Kontinuität kolonialer und kriegerischer Gewalt aus. Eine Perspektive, die außerhalb 7
Frauen und Mädchen werden aufgrund ihres Geschlechts in verschiedenen Bereichen benachteiligt: Dazu zählen in Friedenszeiten die Diskriminierung in nationalen Rechtsvorschriften und Gesetzen, wie dem Ehe- oder Strafrecht. Die Ausübung geschlechtsspezifischer Gewalt in Konflikten durch z.B. Vergewaltigung oder sexuelle Peinigung und das tradierte Schweigen über sexualisierte Gewalt im Humanitären Völkerrecht gelten als Ausdruck der ungleichen und ungerechten Machtverhältnisse in postkonflikt Kontexten (Charlesworth/Chinkin 2000; Chinkin/Charlesworth 2006).
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der Postkolonialen Studien bislang nicht in die Politikwissenschaft eingegangen ist (Ziai 2012: 297-8). Des Weiteren unterscheiden sie zwischen oberflächlichen und substantiellen Transitionsprozessen, die in Gerechtigkeit münden sollen. Am Beispiel des Sondergerichtshofs für Sierra Leone erhebt Kiran Grewal (2016) den Anspruch, dass mit der Verrechtlichung von Kriegsverbrechen eine Transformation internationaler Gerichtsbarkeit einhergehen müsse. Denn internationale Institutionen und das Völkerrecht würden in diesem Zusammenhang wirtschaftliche, kulturelle und politische Ungleichheiten reproduzieren. Sie würden in Anlehnung an Spivak (1988) entweder die Subalterne ausschließen oder nur das Erwartbare von ihr wahrnehmen. Dadurch würde das subalterne Subjekt in solchen Tribunalen noch weiter marginalisiert werden, als dies bereits im Rahmen des Nord-Süd-Verhältnisses der Fall ist. Euro- und androzentrische Gerechtigkeitstheorien, die sich auf westliche (hetero-)normative Ordnungen stützen, würden sich im Bereich der transitional justice fortsetzen (Dhawan 2012: 264265). Konkret bemängeln sie die definitorische Macht kolonialer Beziehungen, die immer noch vorgeben, welches Unrecht bzw. Verbrechen verfolgt und/oder wie es geahndet werden soll. Feministisch-postkoloniale Kritiken an transitional justice basieren auf Analysen, die die kontinuierliche Verknüpfung der „Ersten Welt“ und der „Dritten Welt“ untermauern und damit die impliziten Dichotomien postkolonialer Perspektiven hinterfragen (z.B. Shohat 1992). Ausdrücklich auf die Grenzen von Straftribunalen bezogen, unterstreicht Grewal (2016) die Ohnmacht der Subalternen, sich in diesem Rahmen Gehör zu verschaffen. Denjenigen Aktivistinnen, denen strategischer Zugang zum Gericht gewährt wird, werde die Rolle der (offiziellen) Expertin und (authentischen) Repräsentantin aller Frauen in dem jeweiligen Krieg aufgezwungen. Andererseits haben (Freiheits-)Bewegungen die Zurückeroberung „ihrer“ Frauen zur Parole ihrer Anstrengungen gemacht. Fest steht damit, dass – wie die Geschlechteranalyse des ruandischen Genozids zeigte – Frauen im globalen Süden zum ideologischen Schlachtfeld wurden, auf deren Körpern koloniale und lokale Patriarchate um Einfluss ringen. Denn allzu oft gilt die Befreiung der „Dritten-Welt-Frau“ aus ihrer gesellschaftlichen Stellung bereits als Rechtfertigung für westliche Dominanz und politische Interventionen (Mohanty 2006). Mit welchen Bemühungen ruandische Frauen dagegen anfochten, wird nach der Identifizierung eines Handlungsspielraums im internationalen System besprochen.
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G LOBALE S PANNUNGSVERHÄLTNISSE AUFLÖSEN : P OSTKOLONIALE UND F EMINISTISCHE I NTERVENTIONEN Die oben angeführten Kritiken an transitional justice könnten sich als so massiv erweisen, dass sie die Anwendung dieser Ansätze in post-konflikt Kontexten in Frage stellen würden. Doch anstatt wegen dieser Kritiken die Institutionen und Instrumente der Vergangenheitsbewältigung zurückzuweisen, müssen deren Hindernisse überwunden werden. Wenn im internationalen System die Spannungsverhältnisse globaler/universeller und nationaler/lokaler Verhältnisse verortet sind, ist dort auch die Auflösung eben dieser Spannungen zu suchen. Eine Möglichkeit zur Transformation des internationalen Systems besteht in der Aufdeckung ungleicher Machtverhältnisse oder dem Beleuchten von Fraueninteressen in vermeintlich geschlechtsneutralen Feldern internationaler Politik. Der Historiker Dipesh Chakrabarty (2000) geht der Frage nach, von welchen Werten globale Beziehungen gestützt werden. Er sieht die Ausbreitung der Moderne als eng verknüpft mit dem europäischen Einfluss und argumentiert, dass Europa provinzialisiert werden müsse. Das heißt, dass Europas definitorische Macht, die Weltgeschichte zu bestimmen, ausgehebelt werden sollte. Eine Dezentrierung Europas hat zur Folge, dass die Strukturen und Institutionen, wie der Nationalstaat, die durch die Moderne geprägt wurden, kritisch beleuchtet werden müssen (siehe Castro Varela/Dhawan 2009). Hierunter fällt auch das Völkerrecht, welches Anthony Anghie (2004) in koloniale Ideen eingelassen sieht. Es stellt sich als besonders kontrovers heraus, weil es genutzt wurde, um globale Machtasymmetrien zu legitimieren (siehe Dhawan 2012: 267-269). Anghie und Chakrabarty plädieren dennoch dafür, das internationale System – mit all seinen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten – als einen Ort zur Aushandlung von emanzipatorischen Bestrebungen zu begreifen. Eben dieses Bewusstsein spiegelt sich in der feministischen Praxis wider. Eine transnationale Frauenbewegung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auf die globale Mobilisierung für Geschlechtergerechtigkeit und -gleichheit fokussiert. Heftige Auseinandersetzungen um Repräsentationspolitiken wurden aufgrund der personellen und ideellen Verbindung zwischen dem europäischen Imperialismusprojekt und der Verbreitung westlicher Werte innerhalb der Frauenbewegung ausgetragen. Süd-Feministinnen stellten eine globale Schwesternschaft, die von westlichen Feministen postuliert wurde, grundsätzlich in Frage (Mohanty 2006; Fink/Ruppert 2009). Der als weiße, westliche Mittelklassenpolitik konnotierte „Feminismus“ wurde von ihnen herausgefordert. Obwohl sie an einer weltweiten Frauenbewegung teilnahmen, führten bestehende Machtunter-
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IN
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schiede, komplexe Identitätspolitiken und unterschiedliche Prioritäten dazu, dass sich Süd-Feministinnen doch eher mit national(istisch)en Projekten identifizierten, die versprachen, Armuts- und Unterdrückungsverhältnisse aufzuheben. Um dieser Aushandlungsgeschichte Rechnung zu tragen, stellt Uta Ruppert (1998) in Abgrenzung zur internationalen Frauenbewegung die Idee einer transnationalen Frauenbewegung heraus, welche den Forderungen von Südfeministinnen in der Mitgestaltung von globaler Geschlechterpolitik nachkommt (siehe auch Ruppert 2002; Antrobus 2004). Als Voraussetzungen gelten die Verhandlung von Nord-Süd-Differenzen und ihre Verortung in einer Mehrebenenpolitik, die den Aktivismus der lokalen, nationalen und internationalen Ebene verbindet (siehe auch Basu 1995). Es bedarf diverser Strategien – darunter das Angehen mehrerer Politikbereiche und die innerstaatliche Umsetzung internationaler frauenpolitischer Erfolge – um die Chancen dieser Bemühungen wahrzunehmen (Cağlar/Prügl/Zwingel 2013). Ihre Methoden erstrecken sich einerseits auf die Umdeutung gängiger Konzepte und Ansätze im Bereich der Geschlechterpolitik; andererseits schreiben sie die Bedeutung einer Geschlechterperspektive in solche Politikbereiche, wie die der post-konflikt Transformation, hinein, in denen diese bislang fehlten. Dadurch wird den Erfahrungen von Frauen und Mädchen Rechnung getragen bzw. systematische Verzerrung über Geschlechterbeziehungen entfernt, um eine umfassendere, ausgewogenere politische Realität zu produzieren. Zusammen betrachtet repräsentieren die Erkenntnisse, Strategien und Inhalte der transnationalen Frauenbewegung eine Intervention in die als (hetero-) normativ benannte Ordnung, deren euro- und androzentrische Politik angefochten wird. Wie sich diese Spannungsverhältnisse in der juristischen und politischen Institutionalisierung der Vergangenheitsaufarbeitung in Ruanda auswirkten, soll nunmehr besprochen werden. Obwohl eine enorme Bandbreite an transitional justice-Instrumenten eingesetzt wurde, zeigte sich die geschlechterpolitische Intervention im Bereich des Rechts als sichtbarster Einwand der ruandischen Frauenbewegung in der post-genozid Ära, um sexuelle und sexualisierte Gewalt während des Genozids auf die politische Agenda zu setzen. Besonders in diesem Fall, wo semi-traditionelle 8 transitional justice-Institutionen geschaffen wurden, wäre es denkbar, auf kulturelle Partikularismen auszuweichen oder „nichtwestliche“ Gerechtigkeitsformen in Betracht zu ziehen (siehe Chakrabarty 2013: 8
2001 wurden die semi-traditionellen gacaca Tribunale aufgrund des enormen Überhangs an Beschuldigten in ruandischen Gefängnissen gegründet. Ariel Meyerstein (2007) und Jennie Burnet (2012: 194-212) unternehmen beispielsweise kritische Besprechungen der gacaca Tribunale.
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155). Meine Analyse fokussiert sich stattdessen auf die Maßnahmen, die einen Großteil der politischen Transition ausfüllten und gleichzeitig eine Beteiligung der internationalen Gemeinschaft voraussetzten. Darin besteht gleichzeitig die Möglichkeit, die Handlungsfähigkeit der Akteurinnen aufzuspüren und deren Sich-Einschreiben in „Europa“, d.h. in von ihm geprägte Institutionen, kenntlich zu machen (Mageza-Barthel 2012; Dhawan 2012).
R UANDAS T RANSITION DEZENTRIEREN : G ESCHLECHTERPOLITIK UND T RANSITIONAL J USTICE Nach dem globalen Überblick soll im nächsten Abschnitt wieder auf den spezifischen Fall Ruandas eingegangen werden. Hier wird gezeigt, dass sich nach dem Genozid eine ruandische Frauenbewegung re-konstituierte, die das Fundament der transitional justice ins Wanken brachte (Mageza-Barthel 2012; MagezaBarthel 2015: 56-64). Im Völkerrecht und der nationalen Rechtsordnung marginalisiert, und dazu noch von der Politik effektiv ausgeschlossen, musste sie sich Gehör verschaffen, damit ihre Ansprüche auf mehr Recht und Gerechtigkeit durchgesetzt werden konnten. In diesem ersten Schritt wurden alternative Entwürfe einer Geschlechterpolitik sichtbar, die sich weder mit dem androzentrischen Völkerrecht noch mit nationalen Normen zufrieden gaben. Eines der sichtbarsten Projekte, die die neue Regierung nach dem Genozid in Angriff nahm, war die Neuausrichtung nationaler Normen. Sie suchte ihre Beziehungen zur internationalen Gemeinschaft zu stärken und vor allem über die UN, die während des Genozids versagt hatte, Unterstützung zu generieren. Hauptbestandteile dieser neuen Rechtsordnung waren die Übergangsverfassung, das sog. Fundamental Law (1995) und eine Deklaration der RPF, die im postgenozid Kontext jegliche Zusammenarbeit mit Parteien und Organisationen verweigerte, die im Genozid eine leitende Rolle gespielt hatten. Die RPF entschied sich für eine Zusammenarbeit mit den restlichen Parteien; sie erwartete von anderen politischen Akteuren, auch im geschlechterpolitischen Bereich, eine ähnliche Haltung. Auch wenn sich die neue Regierung um internationale Anerkennung und Unterstützung bemühte, war das Misstrauen gegenüber der internationalen Gemeinschaft groß. Die neue Regierung – die den Genozid einseitig militärisch beendet hatte – hatte wegen der fraglichen Rolle der internationalen Gemeinschaft eine ungewöhnliche Autonomie in der Wahl, welche internationalen Normen sie in welcher Reihenfolge oder in welchem Maß umsetzen würde (Mageza-Barthel 2015: 65-69).
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Als die Auseinandersetzungen um mögliche Instrumente der Vergangenheitsbewältigung in Ruanda stattfanden, fiel die Wahl vorrangig auf die Bestrafung von Verbrechen, die von einem internationalen Tribunal und der nationalen Gerichtsbarkeit vollzogen werden sollte. 9 Die nationale Justiz stand vor der Herausforderung, dass die Völkermordkonvention, die die Taten eines solchen Ausmaßes regelte, noch nicht in das ruandische Strafrecht inkorporiert war. Zudem fehlten der Justiz nach der physischen Zerstörung durch den Genozid die Ressourcen und das Personal, um zügig die unzähligen Fälle zu verhandeln. Entsprechend war der Wiederaufbau der Justiz für eine erfolgreiche Transition eine Priorität der neuen Regierung ebenso wie der internationalen Gemeinschaft. Die internationale Gemeinschaft favorisierte das Tribunal, welches die leitenden Figuren des Genozids in Arusha (Tansania) vor Gericht stellen würde. Allerdings vertrat sie Positionen, die nicht mit den Ideen der RPF-Regierung deckungsgleich waren. Die Regierung wollte ihre eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit durchsetzen. Dazu gehörte, dass sich der Untersuchungszeitraum des Gerichts auch auf den Bürgerkrieg (1990-1993) erstrecken und dass die Todesstrafe gelten sollte. Realiter sollten ferner nur die MNRDD-Regierung und ihre Verbündeten vor Gericht gestellt werden, doch die internationale Gemeinschaft war in diesen Punkten anderer Meinung. Die jeweiligen Interessen gingen soweit auseinander, dass ein offener Konflikt zwischen den beiden Seiten entbrannte – die Regierung in Kigali konzentrierte sich fortan auf die inländischen Prozesse und schränkte ihre Kooperation mit dem ICTR ein (Mageza-Barthel 2015: 73-75). Der normative Rahmen, in dem die Strafverfolgung angeklagter Tatverdächtiger aus und in Ruanda eingebettet war, zeigte sich in mehrfacher Hinsicht als defizitär. Formelle Voraussetzung für die frauenpolitische Mobilisierung um den transitional justice-Rahmen in Ruanda war die erste demokratische Verfassung von 1991, in der der Gleichheitsgrundsatz (auch der Geschlechter) festgelegt wurde, und das Parteiprogramm der RPF von 1992. Darin stellte die RPF die allgemeine Diskriminierung ruandischer Frauen fest, und wollte sich für sie in einem zukünftigen partizipativen Entwicklungsstaat einsetzen – zumal sie die Vorgängerregierung rügte, ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht erfüllt zu haben, und die internationale Gemeinschaft in die Umsetzung ihres wichtigsten Projekts, der Rückkehr der ExilruanderInnen, einbinden wollte. Tatsächlich hatte die Habyarimana-Regierung weder die Völkermordkonvention ins nationale Strafrecht integriert noch die Frage geklärt, welche Rechte Frauen genießen und welche Maßnahmen zur Gleichstellung ergriffen werden würden. Ange9
Diese strafrechtlichen Maßnahmen wurden seit 1999 von einem politischen Programm, der National Unity and Reconciliation Commission begleitet.
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sichts der Frauenrechtskonvention (CEDAW), die sowohl soziale als auch formelle Gleichheit forderte, stellten die Normen am Anfang der Transition keinen eindeutigen geschlechterpolitischen Fortschritt dar. Es war schnell abzusehen, dass die Völkermordkonvention zur Bestätigung des Systemübergangs in die ruandische Rechtsordnung aufgenommen werden müsste. Weitere Schritte mussten daher bewusst unternommen werden, um Frauen mehr Rechte in einem „modernen“ Ruanda zu sichern. Das Genozidstrafgesetz, welches 1996 in Kraft trat, galt als Umsetzung der Völkermordkonvention. Allerdings wiesen die Konvention und das Humanitäre Völkerrecht zwei grundlegende Probleme auf: Obwohl der Genozid-Tatbestand deutlich definiert wurde, waren die Verfolgung politischer Gruppen (Feierstein 2006) sowie sexuelle Gewalt (Gericke/Mühlhäuser 2011) darin nicht benannt. Im Humanitären Völkerrecht, welches Schutz in Kriegszeiten bieten soll, wird sexuelle und sexualisierte Gewalt vorrangig als Verletzung der Ehre und weniger als internationales Verbrechen erachtet (Gardam/Charlesworth 2000). Entsprechend konnten weder Geschlecht noch politische Zugehörigkeit im Sinne der Genozid-Definition als Gruppenmerkmale angeführt werden. Weder das Völkerrecht im Allgemeinen, das Tribunal in Arusha, noch die nationale Justiz, sollte sie die Konvention umsetzen, würden die Konflikterfahrungen ruandischer Frauen ausreichend anerkennen oder deren Verfolgung ahnden. In diesem Zusammenhang beteiligten sich ruandische Frauen, die den Konflikt in ihrem Land erfahren hatten, an der UN-Weltfrauenkonferenz in Peking, China und stellten ihr Friedensprogramm „Campaign Action for Peace“ dort vor. Damit knüpften sie an die zivilgesellschaftliche Teilnahme an der Vorgängerkonferenz in Nairobi, Kenia an. Felicité Layika vertrat Pro-Femmes, den Dachverband ruandischer Frauenorganisationen, und legte eine Zeugenaussage vor einer Sondersitzung der Konferenz ab (Layika 1996). Die neue Regierung ergriff auch die Gelegenheit, an der Konferenz teilzunehmen: Diese bot ihr unmittelbar nach dem Genozid eine Plattform, sich als Gegenpol zur Vorgängerregierung zu präsentieren. Sie nutzte die Chance, sich mit anderen Ländern auszutauschen und sich als Teil der internationalen Gemeinschaft zu zeigen. Auf dieser Konferenz wurde schließlich, unter Beteiligung der ruandischen Delegation, ein Passus über „Frauen und bewaffnete Konflikte“ in der Pekinger Aktionsplattform verankert. Darin werden physische und strukturelle Gewalt verknüpft und gesellschaftliche mit globalen Beziehungen verbunden. Im einzelnen wurden systematische sexuelle und sexualisierte Gewalt als Menschenrechtsverletzungen in Konfliktsituationen bekräftigt, die Teilhabe von Frauen an der Friedenskonsolidierung anerkannt und ihre erhöhte Repräsentation in der Konfliktbeilegung
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gefordert. Seitdem dient die Aktionsplattform als Eckpfeiler der transnationalen Frauen(friedens)bewegung. Gleichzeitig erweiterte die ruandische Frauenbewegung ihre Strategie, indem sie neben der politischen Arena auch die juristische ansteuerte. Im ICTR-Prozess gegen Jean-Paul Akayesu, dem ersten Prozess vor einem internationalen Straftribunal überhaupt, in der eine Person des Völkermordes nach der Völkermordkonvention angeklagt wurde, unterschrieb Layika als Pro-Femmes-Vertreterin ein Sachverständigengutachten (Gericke/Mühlhäuser 2011: 95). Als Teil eines transnationalen Frauenrechtsnetzwerks unterstrich sie das Fehlen einer Anklage wegen sexueller Gewalt in diesem Fall. Die Anklage gegen Akayesu wurde schlussendlich um die neuen Tatbestände der Vergewaltigung und sexuellen Gewalt ergänzt. Layika bzw. Pro-Femmes vermieden es, vor dem ICTR eine Zeugenaussage zu machen und umgingen dabei das von Grewal thematisierte Problem der Repräsentation. Vielmehr überbrückten sie die verschiedenen Ebenen der ruandischen Geschlechterpolitik: Der Akayesu-Fall versprach auch deswegen eine Grundsatzentscheidung zu liefern, weil Akayesu der ehemalige Bürgermeister von Taba, nahe Gitarama, gewesen ist. Genau in dieser Gemeinde war auch SEVOTA, eine Selbsthilfegruppe und Mitgliedsorganisation von ProFemmes, ansässig. Auch in der Innenpolitik drohte die Marginalisierung von Geschlechterbeziehungen sich im Genozidstrafgesetz zu wiederholen. Vor dessen Entwurf hatte eine Beratung stattgefunden, an der einige Menschenrechtsorganisationen und einzelne Frauenrechtsaktivistinnen sowie internationale Akteure in Ruanda beteiligt waren. Dennoch wurde im Gesetzesentwurf die Zentralität sexueller Gewalt in der Kriegsführung des Genozids nicht gebührend reflektiert. Der Dachverband Pro-Femmes und wichtige Frauenrechtsorganisationen fehlten in diesen Beratungen, obwohl das Frauenministerium prominent vertreten war. In der Gesetzesvorlage wurde sexuelle Gewalt als tätlicher Angriff gewertet oder einem Eigentumsdelikt gleichsetzt. Augenscheinlich hatten sich die GesetzgeberInnen am Humanitären Völkerrecht und der Völkermordkonvention orientiert, in denen die Ehrverletzung im Vordergrund stand bzw. sexuelle Gewalt unerwähnt blieb. Entsprechend mussten Mitglieder von SEVOTA Pro-Femmes auf diese Lücke hinweisen und gemeinsam aktiv die Unterstützung der weiblichen Abgeordneten im Übergangsparlament suchen. Vor ihren eigenen Vertreterinnen bezeugten sie die folgenschwere Last der geschlechtsspezifischen Verbrechen, damit diese nicht weiterhin als marginale Erfahrungen betrachtet werden würden. In ihrer Lobby-Arbeit beriefen sie sich auf die Verantwortung des Staates, ihnen Gerechtigkeit zu garantieren und sprachen implizit die Verpflichtung der neuen RPF-
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Regierung an, Frauen als Interessengruppe zu vertreten. Am Ende stufte das Gesetz sexuelle und sexualisierte Gewalt als Folterformen ein. Damit erfuhren SEVOTA-Mitglieder, die in Taba direkt sexuelle Gewalt erlebt und sich entschieden in die Agenda-Setting-Aktivitäten der ruandischen Frauenbewegung auf nationaler Ebene eingebracht hatten, nominelle Gerechtigkeit. Schlussendlich hatten sie es geschafft, über ihre innovative Mobilisierung das Genozidstrafgesetz so zu beeinflussen, dass sexuelle und sexualisierte Gewalt nicht mehr als Vergehen mit zivilrechtlichen Folgen erachtet wurden. Fortan galten sie als Verbrechen mit strafrechtlichen Folgen (Mageza-Barthel 2012: 174-8; MagezaBarthel 2015: 78-89). Auch wenn die restliche Bilanz des ICTR eher verhalten blieb, wurde im Akayesu-Fall eine Präzedenz gesetzt: Der ehemalige Lokalpolitiker wurde in 9 der 15 Anklagepunkte, die Völkermord, Anstiftung zum Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des ruandischen Genozids umfassten, schuldig gesprochen. Der Akayesu-Fall war geschlechterpolitisch von besonderer Bedeutung, weil ruandische Frauen zum ersten Mal einen solchen juristischen Erfolg erzielt hatten. Darüber hinaus zeigte sich in diesem spezifischen Fall der fortdauernde koloniale Einfluss wieder: Als Ausläufer der belgischen Verwaltungsstrukturen gehörten die „Burgomaster“ – die Position, die Akayesu damals innehatte – zu den mächtigsten lokalen Amtsinhabern der Habyarimana-Ära. Das Ausmaß der Gewalt wäre ohne sie kaum vorstellbar gewesen, denn sie waren dafür zuständig, die Ordnung und politische Ideologie des ruandischen „Leviathans“ auf der lokalen Politikebene durchzusetzen (siehe Straus 2006: 65-94). Das ICTR-Urteil und die geschlechterpolitische Dynamik, die sich in dem politischen Prozess darum entfaltet hatte, hoben wieder einmal hervor, dass es für eine effektive Intervention zu Gunsten von Frauen und unter Beteiligung von Frauen einer Mobilisierung auf allen Politikebenen bedarf. Weder die internationalen Normen, die den lokalen Kräften eine Orientierung boten, noch die zuständigen PolitikerInnen und JuristInnen, die für Gerechtigkeit sorgen sollten, hätten die Verbrechen ähnlich priorisiert. Zu diesem Zeitpunkt hatten Frauen in der ruandischen Politik (zahlenmäßig) nicht annähernd die gleiche Stimme wie heute. Ohne die Beteiligung der Frauen, die vom Konflikt betroffen waren und ohne die Strategie der transnationalen Frauenbewegung, hätten sexuelle und sexualisierte Gewalt während des Genozids nicht die gleiche Aufmerksamkeit erreicht. Für die erzielten Ergebnisse auf den verschiedenen politischen Ebenen war eine transnationale Geschlechterpolitik unabdingbar. Dennoch führten auch die Erfolge nicht zu einer unkritischen globalen Schwesternschaft, sondern eher zu einem solidarischen Bündnis mit globalen Auswirkungen.
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AUSBLICK Binnen zwei Jahren nach dem Genozid hat die ruandische Frauenbewegung etwas Außergewöhnliches erreicht: Sie hat mit der Pekinger Aktionsplattform eine weitreichende Geschlechternorm beeinflusst. Parallel dazu hat sie Fraueninteressen in die wichtigsten Projekte der post-genozid Transition, der Institutionalisierung des Umgangs mit einer gewaltvollen Vergangenheit, auf nationaler und internationaler Ebene eingebracht. Durch die Dezentrierung „Europas“ konnte sich die Subalterne in Ruanda Gehör verschaffen. Dazu musste sie zum einen die erlebte geschlechtsspezifische Gewalt während des Genozids offenlegen; zum anderen musste sie die einseitige Ausrichtung des Völkerrechts und der nationalen Rechtsordnung sowie deren diskriminierende Auswirkung auf die (inter-) nationalen transitional justice-Institutionen aufdecken. Spivaks Frage, ob die Subalterne sprechen kann, bezog sich schließlich nicht nur auf die Möglichkeit der Subalternen sich zu äußern, sondern vorwiegend darauf, wie (wenn sie sprach) sich ihr Sprechen politisch auswirken würde (siehe Ziai 2012: 310-2). Im ruandischen Beispiel musste die Subalterne, um in die Tagespolitik eingreifen zu können, die Beschaffenheit des internationalen Systems hinterfragen und in die gültige Ordnung intervenieren. Ihre geschlechtsspezifische Erfahrung im Genozid war die Grundlage, auf der sie die Mammutaufgabe des Kampfs für mehr Rechte, die bereits vor dem Genozid begonnen hatte, fortführen konnte. Wie sich an den UN-Resolutionen zu „Frauen, Frieden und Sicherheit“ zeigt, ändert sich die globale politische Norm um diesen Themenkomplex seitdem stetig. Sexuelle und sexualisierte Gewalt während Konflikten wird auch wegen der in Ruanda gesetzten Meilensteine international geächtet; ein sicheres Zeichen dafür, dass Geschlechterfragen in Frieden- und Sicherheitsthemen Eingang gefunden haben. Die gestiegene Wahrscheinlichkeit, dass die Anwendung dieser Norm in politischen Transitionen nach Konflikten Berücksichtigung finden wird, bedeutet für transitional justice-Prozesse ferner, dass mehr Geschlechtergerechtigkeit anvisiert werden kann. Gleichwohl muss angemerkt werden, dass das (Straf-)Recht nicht mit postkolonial-feministischen Vorstellungen von Gerechtigkeit gleichgesetzt werden kann. Denn substantielle Gerechtigkeit aus feministisch-postkolonialer Sicht erfordert zusätzlich Anerkennung und Umverteilung (Dhawan 2012: 280; Maddison/Shepherd 2014: 257-260). Das Strafrecht stellt auch nicht das einzige Instrument der transitional justice dar. Doch konnten Frauen und deren Anliegen mit der Veränderung des Strafrechts und der Pekinger Aktionsplattform in den politischen Prozessen Ruandas nicht mehr ignoriert werden. Weitere Änderun-
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gen waren danach notwendig, um einen Wandel der Geschlechterbeziehungen und der ruandischen Geschlechterpolitik zu vollbringen (siehe Burnet 2008). Der Kampf um Repräsentation und Partizipation als Dimensionen, die für eine feministisch-postkoloniale Gerechtigkeitsperspektive zentral sind, wurde mit der Intervention in die transitional-justice-Prozesse Ruandas eröffnet.
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Landpolitiken, Eigentum und Geschlechterverhältnisse im postkolonialen Indien Kontexte, Kontroversen, Komplexitäten C HRISTINE L ÖW
E INLEITUNG Postkolonialer Feminismus hat von Beginn seiner Entstehung an gefordert, Entwicklung und internationale Politik von den am meisten benachteiligten Frauen aus zu theoretisieren, um ein avanciertes Verständnis von Globalisierungsprozessen zu erhalten. Ausgehend von dieser Annahme untersuche ich in dem folgenden Beitrag feministische Diskussionen um Landrechte für Frauen. Meine These ist dabei, dass liberal ausgerichtete Forderungen nach individuellen Eigentumstiteln für Frauen im globalen Süden selten berücksichtigen, dass derartige Ansprüche in Entwicklungsprogrammen lediglich instrumentell einbezogen werden. D.h. Landrechte für Frauen werden nicht vorrangig eingeführt bzw. durchgesetzt, um die Gleichberechtigung von Frauen als eigenständiges politisches Ziel voranzutreiben, sondern mit Armutsbekämpfung oder Ernährungssouveränität verbunden und diesen Anliegen als Mittel zum Zweck untergeordnet. Zugleich blenden liberal-individualistische Modelle die komplexen Überlappungen von Geschlecht mit anderen Machtachsen wie Kaste, Klasse, Einkommen sowie Bildung aus und können deshalb die spezifische Unterdrückung von indigenen Adivasifrauen in Indien nur unzureichend erfassen. 1 In der Folge 1
Adivasi heißt auf Hindi ursprüngliche Bewohner eines gegebenen Ortes und ist eine Selbstbezeichnung, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von gebildeten und politisch aktiven Angehörigen der Stammesbevölkerungen im nordöstlichen Zentralindien
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wird von liberal feministischen Ansätzen auch kaum gesehen, dass individuelle Eigentumstitel oftmals nicht ausreichen, um die überwiegend gemeinschaftlich organisierten Lebens- und Arbeitsweisen indigener Gruppen – und speziell von Frauen – sicherzustellen. Eine postkolonial-feministische Betrachtung ist deshalb hilfreich, um die bisherigen geschlechtsspezifischen Debatten zu Landrechten hinsichtlich der Machtachsen von Kaste, Klasse sowie Ethnizität/Indigenität zu erweitern und auch innerhalb der Diskussionen des globalen Südens die spezifischen Lebensbedingungen, Subjektivitäten und politischen Kämpfe subalterner Frauen systematisch in die Theorieentwicklung aufzunehmen. Im ersten Abschnitt werde ich eine Auffassung von postkolonialem Feminismus vorstellen, die dezidiert Kritik am herrschenden Entwicklungsdiskurs zu Frauen und Geschlecht äußert. Danach zeichne ich am Beispiel Indiens nach, welche Bedeutungen Land, Landwirtschaft und Eigentumsrechte an Boden für subalterne Frauen als wirtschaftliche Grundlage haben und wie sich Diskussionen um Landrechte für Frauen von der Unabhängigkeit bis heute gewandelt haben. Im dritten Teil stelle ich zwei weitere wichtige Belange im feministischen Diskurs zu Landrechten für Frauen vor, Identität und Gruppenrechte sowie Rechtspluralismus. Dadurch soll deutlich werden, dass postkolonial-feministische Untersuchungen auch ideologische und juristische Bereiche mit ökonomiekritischen Überlegungen zusammen denken. Im vierten Abschnitt zeige ich am Beispiel der Umsetzung des Forest Rights Act in Indien, der ausdrücklich die Förderung von Landrechten für ländliche Adivasifrauen beinhaltet, wie sich wirtschaftliche, rechtliche und ideologische Momente in der Diskussion um Landrechte für arme Frauen verknüpfen. Dabei argumentiere ich, dass die vorrangige Einbeziehung individueller Rechte – auch wenn sie im Namen von indigenen Frauen erfolgt – vom indischen Staat eher instrumentell für die Zurückdrängung gemeinschaftlicher Rechte an Wald und Land genutzt wird und zumindest partiell gegen deren Interessen wirkt. Aus der Position von Adivasifrauen muss die Forderung nach Landrechten daher modifiziert werden: Nur wenn der Staat auch die spezifischen Nutzungsrechte an gemeinschaftlichen Ressourcen anerkennt, sind die Existenzgrundlagen indigener Kollektive zukünftig gesichert. Damit wird in einer postkolonial-feministischen Betrachtung deutlich, (Jahrkhand) geprägt wurde. Die heutzutage mehr als 100 Millionen Adivasis leben v.a. in der Mitte und im Nordosten Indiens. Die Frauen der indigenen Gemeinschaften (offiziell scheduled tribes genannt) stellen sowohl in der säkularen (Einkommen, Bildung, Vermögen) als auch in der religiösen Hierarchie (außerhalb des Kastensystems) die gesellschaftlich am niedrigsten angesiedelte Gruppe dar (Munshi 2012; World Bank 2011).
L ANDPOLITIKEN , E IGENTUM
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dass liberale Forderungen nach Landrechten für Frauen im Kontext der schwindenden Bedeutung von Landwirtschaft und der Aneignung großer Landflächen durch den indischen Staat sowie multinationale Konzerne kein alleiniges Instrument für Geschlechtergerechtigkeit darstellen.
P OSTKOLONIALER F EMINISMUS Postkolonialer Feminismus ist weder ein ausdifferenziertes Forschungsgebiet noch eine Subdisziplin in der Politikwissenschaft. Vielmehr handelt es sich dabei um eine kritische Perspektive, mit der Auswirkungen sowie Nachwirkungen von Kolonialismus auf Lebensunterhalt, Rechte, Wissensformen und ideologische Konstruktionen in Relation zu Geschlechterverhältnissen bis in die Gegenwart analysiert werden können (Spivak 1988; Lewis/Mills 1999; Löw 2009). Zentral für meine Herangehensweise sind postkoloniale Feminismen, die von der Dritten Welt aus denken und sich vor allem mit Kolonialismus, dem postkolonialen Nationalstaat und ‚Entwicklung‘ beschäftigen. So haben insbesondere feministische Kritiken an der Entwicklungsideologie und ihrer Praxis in den ‚Entwicklungsländern‘ herausgearbeitet, dass arme ländliche Frauen in der Dritten Welt im Kontext neoliberaler Restrukturierungen eine entscheidende Rolle spielen: Sie sind zugleich Zielgruppe, Betroffene und eigensinnige, handlungsfähige politische Subjekte (Elson 1987; Kabeer 1994). Generell bestehen innerhalb internationaler feministischer Diskurse erhebliche Zweifel, ob der Mainstream entwicklungspolitischer Strategien überhaupt einen Rahmen für transformative Perspektiven auf postkolonial-patriarchale Unterdrückung von Frauen bieten kann (Spivak 1996). Systematisch hat Claudia von Braunmühl aufgezeigt, dass die Women in Development (WID)- und Gender and Development (GAD)-Ansätze der Weltbank und weiterer Entwicklungsagenturen aus folgenden Gründen nicht zu mehr Geschlechtergerechtigkeit führen können: 1. Die Annahme, dass Frauen eine ungenutzte Ressource sind, sieht nicht, dass sie schon über Reproduktions- und Fürsorgearbeit sowie informelle Beschäftigung in den Arbeitsprozess integriert sind; 2. die Einkommen schaffenden Maßnahmen entwicklungspolitischer Programme bringen Frauen daher zusätzliche Belastungen gegen geringe Entlohnung und 3. entwicklungspolitische Maßnahmen definieren Frauen im Sinne einer einheitlichen sozialen Identität als Zielgruppe, wobei durch die Art der Implementierung Frausein vielfach essentialisiert wird und eine Übernahme sowie Reproduktion herkömmlicher Geschlechterkonstruktionen stattfindet (von Braunmühl 2002: 57ff).
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Die Orientierung an den genannten Einwänden gegenüber dem Gender Mainstreaming in der Entwicklungspolitik macht es für eine kritische postkolonial-feministische Analyse möglich, zwischen Konzepten, Vorhaben und Programmen zu differenzieren, in denen Frauen bzw. die Kategorie Geschlecht lediglich unverbunden hinzugefügt wird und solchen, die eine emanzipatorische Transformation von Geschlechterverhältnissen, sprich eine Umverteilung von Arbeit, Ressourcen, Rechten und Macht zwischen Frauen und Männern, anstreben (von Braunmühl 2001, 2002). Ähnlich argumentiert Carolin Moser in ihrer Untersuchung von Politiken zu Entwicklung und Geschlecht, in der sie eine Unterscheidung zwischen praktischen und strategischen Genderbedürfnissen einführt (Moser 1989). Ich werde mich im Folgenden stärker auf diese Konzeption beziehen, da Mosers Betrachtung genauer als Braunmühls Überlegungen zwischen zwei entwicklungspolitischen Planungsansätzen für ‚Frauen in der Dritten Welt‘ differenziert: zum einen solchen, die an Effizienzdenken angelehnt sind und zum anderen, jenen, die tatsächlich weibliches Empowerment fördern. Strategische Genderbedürfnissen werden ausgehend von einer „Analyse der Unterdrückung von Frauen gegenüber Männern formuliert und zielen auf eine alternative gleichberechtigte Organisation von Gesellschaft“ (Moser 1989: 1803). Zu ihnen zählen i.d.R. Forderungen nach Abschaffung der geschlechtlichen Arbeitsteilung, Erleichterung bei der Last häuslicher Arbeit und Kinderbetreuung, Abbau institutioneller Diskriminierung (u.a. durch das Recht auf Land und Eigentum), für politische Gleichheit sowie für Maßnahmen gegen männliche Gewalt und Kontrolle von Frauen. 2 Ebenso werden strategische Interessen häufig als ‚feministisch‘ bezeichnet, da sie ein Bewusstsein über gesellschaftliche Prozesse und Strukturen erfordern, um für feministische Anliegen effektiv zu kämpfen. In Abgrenzung dazu ergeben sich praktische Genderbedürfnisse aus den konkreten Bedingungen weiblicher Erfahrung, d.h. der „vergeschlechtlichten Position von Frauen innerhalb der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung“ (Moser 1989: 1803). Praktische Bedürfnisse sind daher gewöhnlich eine Antwort auf eine unmittelbare Notwendigkeit, die von Frauen in ihrer dreifachen Zuständigkeit für produktive, reproduktive und Gemeinschaftsarbeit wahrgenommen wird. Moser zufolge ist es wichtig, anzuerkennen, dass praktische Genderinteressen nur feministisch werden können, wenn sie in strategische Genderbedürfnisse überführt werden. Diese inhaltliche Differenzierung ist für eine kritische postkolonial-feministische Analyse wichtig, weil ein Großteil der Entwicklungspro2
An dieser Stelle bezieht sich Moser auf den Text von Maxine Molyneux, der eine Aufteilung zwischen Fraueninteressen, praktischen und strategischen Genderinteressen vornimmt (Molyneux 1985).
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gramme und -projekte, die sich Geschlechtergerechtigkeit verschrieben haben und/oder Frauen als Zielgruppe angeben, sich fast ausschließlich mit Frauen in ihrer vergeschlechtlichten Rolle innerhalb einer patriarchalen Arbeitsteilung beschäftigen: Sie betrachten Frauen vor allem als Ehefrauen und Mütter und konzentrieren sich überwiegend darauf, ihre praktischen Genderbedürfnisse zu befriedigen (Moser 1989: 1804). Ausgehend von einer postkolonial-feministischen Perspektive, die entwicklungspolitische Ansätze hinterfragt, in denen Frauen lediglich unverbunden eingefügt werden, ohne Geschlechterverhältnisse als struktur- und gesellschaftsbildend anzuerkennen, werde ich nun untersuchen, in welchem Verhältnis sich in den Diskussionen um Landrechte für Frauen in Indien strategische und praktische Genderinteressen durchsetzen lassen.
L ANDWIRTSCHAFT , B ODEN UND G ESCHLECHTERVERHÄLTNISSE IN I NDIEN Landwirtschaft ist die Hauptquelle von Einkommen für den Großteil der indischen Bevölkerung in ländlichen Gegenden, die weiterhin fast 70 Prozent der Gesamtbevölkerung des Subkontinents ausmacht. 3 Insbesondere Frauen auf dem Land übernehmen zu einem großen Teil Tätigkeiten im Agrarbereich: Sie arbeiten meistens als Tagelöhnerinnen und landwirtschaftliche Arbeiterinnen, jedoch fast nie als Bäuerinnen auf eigenem Boden. Insgesamt sind in Indien 75,83 Prozent der weiblichen Arbeitsbevölkerung in der Landwirtschaft aktiv (vor allem auf Teeplantagen, im Baumwollanbau, der Aufzucht von Ölsaaten sowie der Anpflanzung von Gemüse). Viele Frauen arbeiten als unbezahlte Familienangehörige und verrichten zusätzlich zu landwirtschaftlicher Beschäftigung noch die Tätigkeiten im Haushalt, wie Essensvorbereitung, Kochen, Kindererziehung und Altenpflege. Zeitbudget-Studien zeigen, dass Frauen in Indien oft bis zu 16 Stunden/Tag bezahlte und unbezahlte Arbeit verrichten (Saxena/UN 2012: 7). Zudem existiert in der Landwirtschaft eine geschlechtsspezifische Bezahlung: Frauen auf dem Land verdienen im Durchschnitt nur 68% des Lohnes von Männern (Singh/Sengupta 2009: 7). Die Verteilung von Land als der wichtigsten pro3
Gemäß dem letzten Bericht des Landwirtschaftsministeriums zu landwirtschaftlichen Daten und Statistiken von 2014, der mit dem Jahr 2011 endet, gehören 833,7 Millionen Menschen zur ländlichen Bevölkerung, das sind 68.9 Prozent der Gesamtbevölkerung Indiens. 263 Millionen sind landwirtschaftliche Arbeiter_innen (agricultural workers), davon gelten 45,1 Prozent als Landwirt_innen (cultivators) und 54,9 Prozent als landwirtschaftliche Hilfskräfte (agricultural labourers) (GoI/MoA 2015: 15).
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duktiven Ressource im Agrarsektor ist ebenfalls geschlechtsspezifisch ungleich. Frauen in Indien verfügen nur selten über Eigentumsrechte an Boden in ihrem eigenen Namen. Und sogar wenn Frauen als Besitzerinnen eingetragen sind, haben sie nicht immer tatsächlich Kontrolle über ihr Land. Die Entscheidungen über u.a. Anbaumethoden, Darlehen, Landverkauf oder den Einsatz von Produktionsmitteln verbleiben innerhalb von Haushalten häufig in den Händen von Männern (Chowdhry 2009: 9). Mit ungleichen Landrechten für Frauen ist oft auch ein ungleicher Zugang zu Krediten, Technologie und Informationen verbunden. Vor diesem Hintergrund hat eine der bekanntesten indischen Feministinnen, Bina Agarwal, in ihrer bis heute wegweisenden Studie A Field of One’s Own: Gender and Land Rights in South Asia individuelle Landrechte für Frauen als Grundlage für Wohlstand, Macht, politische Beteiligung und Empowerment gefordert (Agarwal 1994). Diese These möchte ich im weiteren Verlauf meines Beitrags kritisch hinterfragen. Denn ausgehend von einem postkolonial-feministischen Verständnis können Forderungen nach Landrechten zwar einerseits als strategische Genderbedürfnisse verstanden werden, die auf eine grundlegende gesellschaftliche Umstrukturierung hin zu mehr Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern zielen. Anderseits berücksichtigt ein solcher Anspruch nicht die Verflechtungen zwischen Geschlecht und anderen Achsen sozialer Ungleichheit wie Klasse, Ethnizität/Indigenität, Kaste und ist somit nicht imstande zu sehen, dass sich die strategischen Genderbedürfnisse aller Frauen nicht auf eine isolierte rechtebasierte Eigentumsforderung an Boden reduzieren lassen. Um den nationalen Rahmen Indiens hinsichtlich der Kontrolle über Land im Verhältnis zu Geschlecht verstehen zu können, werden hier kurz die entscheidenden Bedingungen der Wirtschafts- und Agrarpolitik beschrieben. Im ersten Fünfjahresplan (1951-1956) wurde die Relevanz von Land als Indikator für soziale Gerechtigkeit und Umverteilung explizit genannt. Der unabhängige indische Staat, der sich der Idee von Sozialismus durch geplante Entwicklung verpflichtet sah, sprach sich für eine Landreform aus, da ungleiche Eigentumsverhältnisse an Boden als primäre Formen ökonomischer und sozialer Ungleichheit galten. Bis zum fünften Fünfjahresplan (1974-1978) blieb die Betonung von Landreformen und der Unterstützung für Kleinbauern erhalten, jedoch ohne Frauen separat zu erwähnen. Der sechste Fünfjahresplan (1980-1985) empfahl, den gesamten Boden, der unter dem Gesetz für Landreformen verteilt werden sollte, auf den Namen der beiden Eheleute zu registrieren (GoI 1980). Wie Nitya Rao herausstellt, ist dieses nationale Dokument das erste, das die Bedeutung von Land für Frauen anerkannte (Rao 2006: 185; 2011). In dem achten Fünfjahresplan (1992-1997) wurde erstmalig gefordert, die Kontrolle von Frauen über öko-
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nomische Ressourcen auszuweiten, da sie eine zentrale Rolle in der landwirtschaftlichen Produktion innehaben. Für verheirate Frauen galten gemeinschaftliche Eigentumstitel an Produktivvermögen, Häusern und Grundstücken als wünschenswert. Der zehnte Fünfjahresplan 2002-2007 enthielt schließlich ein Programm der indischen Regierung für eine neue Landwirtschaftspolitik. Darin wurden erstmals explizit die Veränderungen innerhalb des Primärsektors in Indien thematisiert und sowohl eine ‚Feminisierung der Landwirtschaft‘ als auch allgemein eine Abnahme landwirtschaftlicher Beschäftigung, vor allem bei Männern, festgestellt (GoI 2002: Abschnitt 4.1.60). Ausgehend von dieser Analyse galt es als notwendig, die Lebensbedingungen von Bäuerinnen und landwirtschaftlich tätigen Frauen zu stärken. Die neue Landwirtschaftspolitik wiederholte auch die Forderung nach gemeinsamen Landtiteln von Ehemännern und Ehefrauen, um die Ernährungssicherheit auf der Haushaltsebene zu sichern: „Strengthening the conditions of female farmers and female labourers would also help improve the food security at the household level. This is because generally women spend most of their income on household expenditure unlike men and this would help improve the nutrition of the children.“ (GoI 2002: 39)
Betrachten wir die Entwicklungen der nationalen Wirtschafts- und Agrarpolitik Indiens aus einer postkolonial-feministischen Perspektive näher, ergibt sich ein ambivalentes Bild. Obwohl die Thematisierung von Landrechten für Frauen seit dem sechsten Fünfjahresplan allgemein als positiv bezeichnet werden kann, fällt doch auf, dass der Grund für die Gewährung von Besitztiteln nicht an das Ziel Geschlechtergerechtigkeit, sondern an Ernährungssicherheit (explizit im 10. Fünfjahresplan) gekoppelt ist. Basierend auf Mosers Unterscheidung wird somit ein strategisches Genderinteresse (auf gleichberechtigtes Eigentum an Boden) mit einem praktischen Genderinteresse (Ernährungssicherheit für Kinder bzw. Haushalte zu gewährleisten) verquickt. Dies lässt sich mit Moser als Einbeziehung von Frauen in Entwicklung unter dem Effizienzmodell mit Elementen von Empowerment fassen: Bäuerlichen Frauen werden mehr Landrechte gewährt, dies ist jedoch mit häuslichen Verpflichtungen (Erledigung des Haushalts, Sicherstellung von Ernährung, Versorgung der Kinder) verbunden. Die Vergabe von Landrechten an Frauen führt somit nicht linear – wie in einem Großteil liberal-feministischer Überlegungen angenommen – zu deren Gleichberechtigung. Denn trotz der Ermächtigung von Frauen im Hinblick auf Bodenbesitz, ist diese Stärkung ihrer Position und Verhandlungsmacht an eine Verfestigung ihrer Zuständigkeit für Ernährung und Kinderversorgung geknüpft. Im Ergebnis wird das
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Moment des Empowerment durch die Fixierung von geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und konventionellen Geschlechterkonstruktionen unterlaufen. Somit stellt sich die Frage, ob oder in welchem Maße die Vergabe von Landrechten an bäuerliche Frauen (als ein eigentlich strategisches Genderbedürfnis) angesichts des überwiegend an Effizienz orientierten Entwicklungsmodells Indiens tatsächliche positive Effekte hin zu mehr Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern entfalten kann.
KONTEXTUALISIERUNGEN VON GESCHLECHTSSPEZIFISCHEN L ANDRECHTEN : G RUPPENRECHTE, I DENTITÄTEN UND RECHTSPLURALISMUS Im vorherigen Abschnitt wurde – entgegen Agarwals Annahme – deutlich, dass Eigentumstitel an Boden für Frauen nicht zwangsläufig zu mehr Geschlechtergerechtigkeit beitragen. Neben den materiellen Aspekten von Existenzgrundlagen sind in den feministischen Diskussionen um Landrechte für Frauen auch deren Verflechtungen mit ideologischen und rechtlichen Domänen reflektiert worden. Deshalb stelle ich, angelehnt an Raos Ausführungen, nachfolgend zwei weitere zentrale Diskurse im Hinblick auf Eigentumstitel an Boden für Frauen vor, nämlich erstens Konstruktionen von Identität und Gemeinschaft sowie zweitens Anerkennung bzw. Legitimation verschiedener Rechtstypen (Rao n.d.: 3). In der feministischen Entwicklungsforschung ist allgemein akzeptiert, dass Eigentumsverhältnisse gesellschaftliche Beziehungen darstellen, die eingebettet sind in Hierarchien von Macht und Wissen, die sich aus der Mitgliedschaft in einer Gruppe ergeben sowie geschlechtsspezifischen Rechten und Pflichten (Berry 1993). Frauen und Männer bestimmter Gesellschaften verfügen demnach über unterschiedliche Fähigkeiten, im Hinblick auf Land zu handeln. Allerdings wurden in Indien neben Geschlecht auch andere Identitäten wie Klasse, Kaste und Ethnizität/Indigenität mobilisiert, um die Verteilung und Nutzung von Land festzulegen. Während soziale Bewegungen sich auf Diskurse zu Ungleichheit, Ausschluss und historischer Unterordnung beziehen, konstruieren sie auch eine kollektive Identität und ein Moment der Zugehörigkeit in ihren Kämpfen. Die Forderung von Frauen nach Grundeigentum wird von vielen dieser Gruppen als störend für die Bemühungen, eine gemeinsame Identität zu etablieren und kollektive Rechte durchzusetzen, betrachtet. Zur Illustration stelle ich kurz Raos Überlegungen zu dem sozialen Charakter von Land und Geschlecht im Rahmen der Befreiungsbewegung ‚Jharkhand
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Mukti Morcha‘ für einen unabhängigen Staat Jahrkhand vor. 4 In Kontrast zu den liberal-individualistischen Forderungen Agarwals erschien es den Adivasifrauen strategisch sinnvoll, ihre Rechtsansprüche innerhalb der Ehe und der Gemeinschaft zu verhandeln und nicht auf individuelle Landrechte für Frauen zu pochen. Wie Rao ausführt (n.d.: 6), waren sich diese Frauen bewusst, dass der Mainstream-Diskurs der Jharkhand-Bewegung oft genutzt wurde, um den Interessen von Frauen entgegen zu wirken: Adivasifrauen galten in diesem Diskurs als potenziell bedroht von Nicht-Adivasi-Männern, weil letztere deren eigenständige Landrechte ausbeuten (könnten). Zugleich erkannten Adivasifrauen jedoch auch, dass diese politische Bewegung das Potential hatte, materielle Verbesserungen für die gesamte Gruppe durchzusetzen. Sie entschieden sich dafür, die Bewegung und ihren Diskurs zu unterstützen und zugleich moralischen Druck auf die Dorfleitung auszuüben, die Ansprüche von Frauen zu stärken. Das Netzwerk lokaler Adivasifrauen sprach sich u.a. dafür aus, die Rechte von Ehefrauen an dem gemeinsamen Landeigentum entsprechend denen der Ehemänner schriftlich in das Grundbuch einzutragen. Dadurch soll erreicht werden, dass ein Adivasimann bei der Scheidung einen Teil des Landes an seine Ehefrau übereignen muss – der Boden verbleibt jedoch weiterhin innerhalb der Adivasigruppe. Es gelang den Adivasifrauen diese Änderung durchzusetzen, indem sie die Dorfältesten auf die Befürwortung der weiblichen Anliegen verpflichteten, um deren eigene Glaubwürdigkeit als Wächter der gemeinschaftlichen Rechte zu stützen. Da der Schutz gemeinschaftlicher Rechte die normative Basis der Bewegung war, wurde eine solche Demonstration wichtig für die Anführer der Adivasis (sowohl Männer als auch Frauen), als der Staat begann, sich mit einem vermeintlich progressiven Rahmen für die Gleichstellung von Frauen und Männern stark zu machen. Mögliche Opposition von den Führern gegen die Forderungen von Frauen nach Land wurden in diesem Prozess neutralisiert – aufgrund der ProFrauen Haltung der indischen Regierung konnten die Adivasivertreter sich nicht 4
Es handelt sich dabei um eine der größten politischen Organisationen von Adivasis, die in Bihar für einen eigenständigen Staat von indigenen Gruppen kämpften. Im Jahr 2000 wurde Jharkhand als neuer Bundesstaat Indiens aus den südlichen Bezirken Bihars gegründet. Dort leben vor allem Adivasis, die sich von der Unabhängigkeit eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation versprachen, die durch enorme Armut geprägt war (60 Prozent lebten unterhalb der Armutsgrenze von 1$/Tag; bei Frauen bestand eine Analphabetisierungsrate von 91 Prozent). Bis heute gehören beide Bundesstaaten zu den ärmsten Regionen Indiens, obwohl sie sehr reich an Mineralien sind. So wird Jharkhand als das Ruhrgebiet Indiens bezeichnet und stellt beispielsweise 40 Prozent des nationalen Kohlebedarfs bereit.
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länger gegen Landrechte für Frauen innerhalb ihres gewohnheitsrechtlichen Kontextes aussprechen, da sie ansonsten als patriarchal gegolten hätten. Ebenso relevant wie ideologische Mobilisierungen entlang von Zugehörigkeit, ist bei Diskussionen über Geschlechterverhältnisse und Land das Thema des juristischen Pluralismus. Laut Franz von Benda-Beckmann handelt es sich bei legalem Pluralismus um die Existenz von mehr als einer Rechtsordnung innerhalb eines Nationalstaates, die sich auf unterschiedliche Quellen letztgültiger Validität beruft und von Organisationsformen jenseits des Staates aufrechterhalten wird (Benda-Beckmann 2001: 48). Kontrovers diskutiert wird dabei von feministischen Autorinnen, ob eher Gewohnheitsrecht oder kodifiziertes Recht die politischen Ziele von Frauen unterstützen. In dem von Rao genannten Beispiel bevorzugten die Adivasifrauen Aushandlungen mit (Ehe-)Männern auf der lokalen Ebene gegenüber abstrakten Forderungen nach gleichen Landrechten für Frauen und Männer im indischen Familienrecht. In der Praxis gibt es allerdings oft eine Durchdringung zwischen staatlicher Jurisdiktion und Gewohnheitsrecht sowie eine komplexe Relation zwischen Ethnizität/Indigenität, Identitätskämpfen und pluralen Rechtssystemen, deren Grenzen häufig verwischt werden. Dadurch entstehen hybride Systeme der Rechtsprechung und Rechtsetzung, die teilweise Geschlechterverhältnisse gleichberechtigter ausgestalten, teilweise jedoch auch Asymmetrien vertiefen (Randeria 2007; Santos 1995).
D ER INDISCHE F OREST R IGHTS ACT UND SEINE U MSETZUNG : E IGENTUMSTITEL AUF L AND FÜR ADIVASIFRAUEN Ausgehend von den miteinander verwobenen materiellen, rechtlichen und ideologischen Aspekten innerhalb der Diskussionen um Landrechte für Frauen analysiere ich im Folgenden die Umsetzung des Forest Rights Act von 2006 im Bundesstaat Andhra Pradesh. Mein postkolonial-feministischer Fokus liegt dabei auf der Frage, wie Eigentumsrechte für Boden an Adivasifrauen vergeben wurden und ob dies zu einer Veränderung von Geschlechterverhältnissen beigetragen hat. Bei dem Forest Rights Act 5 (im Folgenden FRA) handelt es sich um eines der bisher ambitioniertesten politischen Projekte für benachteiligte ländliche Bevölkerungsteile in Indien. Der Großteil der ländlichen Armen gehört zu der mehr als 100 Millionen zählenden Gemeinschaft der Adivasis (offiziell: 5
Vollständig heißt das Gesetz „The Scheduled Tribes and Other Traditional Forest Dwellers (Recognition of Forest Rights) Act, 2006“.
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Scheduled Tribes) und lebt in bewaldeten Gebieten. Da speziell im Hinblick auf Waldboden eine lange Geschichte von Annektierungen sowie Enteignungen durch den Staat existiert, zielt das Gesetz explizit auf eine Wiedergutmachung der Nichtanerkennung von Rechten an überliefertem Land (Präambel FRA). 6 Zudem beabsichtigt FRA auch, im Besonderen Geschlechtergerechtigkeit und Umweltgerechtigkeit zu stärken (Sarin/Springate-Baginski 2010). Der Anwendungsbereich des Gesetzes richtet sich hauptsächlich auf Adivasis und weitere vom Wald abhängige Gemeinschaften, deren Lebensgrundlagen (Ernährung, Energie, Wohnen, rituelle/kulturelle Bedürfnisse) vornehmlich an ihre Umgebung gebunden sind. Der Forest Rights Act bezieht sich in seinen Ausführungen zentral auf Waldland: im ersten Abschnitt werden Waldrechte als grundlegende Rechtsansprüche auf Landbesitz und Leben genannt (§II 31 (a)). Ebenso führt der nächste Unterpunkt gemeinschaftliche Rechte wie nistar (gewohnheitsrechtlicher Nießbrauch von lokalen Ressourcen) auf, die ebenso wie individuelle Rechtstitel Gültigkeit beanspruchen. Des Weiteren sind Eigentumsrechte an, Zugang zu und Besitz von Waldprodukten jenseits von Holz (wie z.B. Beeren, Wurzeln, Kräuter, Knollen, Blätter) aufgeführt, die oftmals außerhalb der Dorfgrenzen gesammelt werden. Zudem sind neben kollektiven Rechten an Grund u.a. auch Weiderechte, Rechte an traditionellen Wasservorkommen und Biodiversität anerkannt. Da die gewohnheitsrechtlichen Ansprüche von Adivasis und weiteren waldabhängigen Gruppen an Waldland nicht schriftlich beurkundet sind, sieht das Gesetz vor, dass landabhängige Familien einen Antrag auf Eintragung an die lokalen Forest Right Committees (FRC) richten. Die FRC werden von den gram panchayats (Exekutivorgane der gewählten Mitglieder einer Dorfversammlung) 7 ausgewählt 6
Während der kolonialen Zeitspanne konkurrierten im heutigen Andhra Pradesh die britische East India Company und der Prinzenstaat Nizam um die natürlichen Ressourcen der Wälder. Nach der Unabhängigkeit Indiens 1948 setzte die Regierung die hauptsächlich ökonomisch motivierte Nutzung und Ausbeutung von Bäumen für Holzlieferungen weiter fort. Insbesondere die von dem jeweiligen Bundesstaat eingesetzten Forstbehörden (forest departments) sehen sich als ,Beschützer‘ der Bäume, die es vor dem Zugang und der Nutzung von Waldbewohner_innen (die als ,Eindringlinge‘ bezeichnet werden) zu bewahren gilt (Munshi 2012).
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In Indien hat die dezentrale Regierungsform dörflicher Selbstverwaltung durch gewählte Räte (panchayati raj) seit 1992 Verfassungsstatus und zeichnet sich durch ein viergliedriges System aus: Auf der lokalen Ebene eines Dorfes gehören alle Einwohner_innen zu gram sabhas (Dorfversammlungen), sie wählen die gram panchayats (Rat der Fünf), ein dörfliches Exekutivorgan, das u.a. über Fragen zu Entwicklung, sozialer Gerechtigkeit, Gleichberechtigung entscheidet, darüber sind die Kreisparla-
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und eingesetzt. Die tatsächliche Umsetzung dieses Rechtsanspruches begann in Andhra Pradesh 2008 erst auf Druck von sozialen Bewegungen im ganzen Land. Wie bereits erwähnt, zeichnet sich der FRA dadurch aus, dass gemeinschaftliche Rechte ausdrücklich benannt werden und gefördert werden sollen. In der Umsetzung des Gesetzes zeigt sich jedoch eine gegenläufige Tendenz: Die Regierung von Andhra Pradesh und die ausführenden Behörden (die Integrated Tribal Development Agency, die Steuer- und Forstämter) konzentrieren sich auf individuelle Eigentumstitel und schweigen sich über kollektive Rechte aus. In Andhra Pradesh erhielten gram sabhas (Dorfversammlungen) bis zum 30. Juni 2009 insgesamt 329.233 Ansprüche, davon 323.272 individuelle Forderungen (98 Prozent) und 5.961 gemeinschaftliche. Von diesen Individualansprüchen wurden 65 Prozent genehmigt und zudem an übergeordnete Kreiskomitees geschickt. Auch davon wurden wieder 65 Prozent zu dem höchsten Komitee auf der Bezirksebene gesendet (DLC); dieses war befugt, letztgültige bindende Entscheidungen zu treffen. Das DLC, bestehend aus jeweils einem Vertreter des Steuerund Forstamtes, des Tribal Welfare Department und drei Mitgliedern von Institutionen der kommunalen Selbstverwaltung, bejahte 133.619 Ansprüche (41 Prozent der gesamten Anträge), die an gram sabhas gestellt worden waren. Die Zahlen zu den gemeinschaftlichen Anträgen sind auf der öffentlichen Seite des Staates Andhra Pradesh nicht ausgewiesen. Auf den ersten Blick scheint die bloße Größe der positiv beschiedenen Anträge ein substantieller Erfolg für Adivasigemeinschaften und insbesondere deren Frauen zu sein. Denn fast alle individuellen Ansprüche wurden im Namen von Frauen eingereicht. Dennoch offenbart sich bei näherem Hinsehen, dass die immense Anzahl trügerisch ist und die Analyse von disaggregierten Daten auf der Ebene einzelner Dörfer eine andere Geschichte erzählt. Anhand der genauen Daten von Parvathipuram, Vizianagaram Distrikt, wird deutlich, dass von den individuellen Ansprüchen in diesem Bezirk 26 Prozent abgelehnt wurden, von gemeinschaftlichen Forderungen hingegen 90 Prozent (Ramdas 2009: 67). Auch die beiden höheren Komitees akzeptierten nur einen geringen Teil der Kollektivforderungen: insgesamt waren es 0,2 Prozent der ursprünglichen Anträge. Hieran ist augenfällig, dass der Staat insbesondere die kollektiven Rechte der Adivasis und anderer waldabhängiger Gemeinschaften nicht anerkennt. Darüber hinaus wird bei einer Analyse zur Umsetzung des FRA auf dem Niveau von Dörfern und Weilern noch ein weiterer Aspekt deutlich: Die in den Anträgen den Frauen zugestandene Größe der Landtitel erstreckt sich nur auf mente (block level panchayats) und auf der höchsten Ebene die Bezirksparlamente (district level panchayats oder Zilla Parishad) angesiedelt.
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einen geringen Anteil der bisher bewirtschafteten und beantragten Bodengröße. So weist Sagari Ramdas am panchayat Akkarapally (Srikakulam District), der aus den Mitgliedern von 5 Dörfern besteht, nach, dass 179 Adivasis individuelle Titel für insgesamt 978 Hektar Land einreichten (Ramdas 2009: 67f.). Der Boden wurde von ihnen seit Jahrhunderten bewirtschaftet und die Durchschnittsgröße des bebauten Grunds betrug 5,4 Hektar pro Person. Jedes Dorf reichte zusätzlich Antrag B für Gemeinschaftsrechte ein. Darin listeten sie detailliert die gewohnheitsrechtlichen Grenzen für die verschiedenen bzw. saisonalen Nutzungsweisen. Ein Teil des beanspruchten Landes war zuvor im Rahmen des Joint Forest Management-Projektes von den Forstbehörden angeeignet worden. Bereits dadurch waren Adivasis von ihrem Land vertrieben worden und stellten nun Rechtsansprüche für das Land ihrer Ahnen. Im Juni 2009 gestand die Regierung allen 179 Antragstellerinnen, deren Formular im Namen von Frauen eingereicht worden war, individuelle Rechtstitel zu. Der Umfang der genehmigten Ansprüche belief sich auf 106,25 Hektar. Das bedeutet, im Endeffekt wurde den Adivasis 1/10 ihres geforderten Landes zugesprochen, so dass jede Antragstellerin ungefähr 1/2 Hektar Boden erhielt. Diese Größe entsprach den Vorgaben von FRA, der die maximal zustehende Landgröße auf 4 Hektar pro Familie festlegt. Keines der Dörfer wurde hingegen über den Stand der Forderung nach Kollektivrechten informiert. Diese Tendenz zeigte sich in fast allen Dörfern von Andhra Pradesh: Adivasis, die seit mehr als 100 Jahren Land zwischen 3-5 Hektar pro Familie bebauten, erhielten für ihre im Namen von Frauen gestellten Anträge lediglich einen Bruchteil ihres beanspruchten Bodens als Individualtitel. An diesen Aktivitäten der Behörden wird deutlich, dass sich die Bemühungen zur Durchführung des Gesetzes als äußerst zweischneidig bezüglich der Ziele des FRA – und speziell im Hinblick auf Geschlechtergerechtigkeit – darstellen. Die zutiefst patriarchale Ausrichtung des postkolonialen Staates zeigt sich zum einen an dessen impliziten Vorstellungen von Adivasifrauen als gefügig, unterwürfig und passiv, die in diesem Vorhaben erneut konstruiert werden (Löw 2014). Trotz der Rhetorik der Staates, sich für gleichberechtigte Landrechte aktiv einzusetzen, deutet die Implementierung des Gesetzes darauf hin, dass indigene Frauen weiterhin primär als geduldige Almosenempfängerinnen denn als mit Rechten ausgestattete Staatsbürgerinnen betrachtet werden. Billigte die indische Regierung Ansprüchen auf Landtitel von indigenen Frauen tatsächlich einen bedeutenden Stellenwert zu, hätte sie ihnen den Boden in vollem Umfang übereignen müssen. Zum anderen nutzt der Staat die Gewährung von Eigentumstiteln an Grund für weibliche Adivasis, um sie in das neoliberale Projekt der effizienten marktorientierten Bodennutzung (wie es u.a. die Weltbank weiterhin
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propagiert) einzubinden (World Bank 2012). Da es indigenen Frauen aufgrund der geringen Landfläche nicht möglich ist, genügend Nahrungsmittel für das Überleben anzubauen, sind sie zunehmend genötigt, für ein geringes Einkommen Beschäftigungen als Vertragsarbeiterinnen auf Plantagen anzunehmen (Ramdas 2009). Darüber hinaus gefährdet die Ablehnung der kollektiven Landrechte eine Säule der basalen Existenzgrundlagen von Adivasifrauen. Besitzen sie keine rechtlich verbrieften Titel an gemeinschaftlichen Ressourcen, sind sie auch weiterhin dem Risiko ausgesetzt, von Forstbeamten, Parkwächtern sowie weiteren Regierungsbeamten von dem Gebrauch von Weideflächen, Wäldern, Flüssen, Tempeln und Friedhöfen ausgeschlossen zu werden (Reddy et al. 2011: 79). Zugleich macht die Benachteiligung von gemeinschaftlichen Rechten sichtbar, dass deren geschlechtsspezifische Auswirkungen nicht begriffen wurden. Sind angesichts der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung eher Frauen für Aufgaben zuständig, die den kollektiven Gebrauch von Grund voraussetzen (wie die Beschaffung von Nahrung und Feuerholz sowie die Kleintierhaltung), erzeugt eine Einschränkung gemeinschaftlicher Rechte negative Konsequenzen. Wie Madhu Sarin anhand der Einzäunung von Wäldern zum Umweltschutz demonstriert hat, erhöht sich dadurch die Arbeitslast der indigenen Frauen, weil sie weitere Strecken laufen müssen, um Nahrung, Brennmaterial und Wasser zu besorgen (Sarin 1997). Ebenso nutzen vor allem Adivasifrauen Land als ein Kontinuum von privatem und öffentlichem Eigentum: Die unterschiedlichen Rechtsformen ergänzen sich im Rahmen von lokalen Existenzgrundlagen. Das heißt, obwohl Adivasifrauen nicht über Eigentumsrechte an Land verfügen (i.S. individueller Kontrolle), wird ihnen Zugang zu Grund und Boden, Wäldern sowie Früchten und Gemüse gewährt. Schließlich haben indigene Frauen aufgrund ihrer teilweisen Kontrolle über gemeinschaftliche Ressourcen im Vergleich zu Frauen der hinduistischen Mehrheitsgesellschaft Verfügung über das Familienbudget sowie einen relativ hohen Status in ihrer Gemeinschaft (Fernandes 2009). Infolge der Zurückdrängung kollektiver Rechte innerhalb der Umsetzung von FRA durch den indischen Staat werden die Einfluss- und Entscheidungsmöglichkeiten von Adivasifrauen vermindert. Darüber hinaus sind individuelle Eigentumsrechte eine günstige Voraussetzung für die Enteignung von Land durch den Staat. Die in Indien seit dem Kolonialismus existierende ‚eminent domain‘-Regelung gesteht der Regierung das Recht zu, sich privates Land für das ‚Gemeinwohl‘ anzueignen und betroffene Eigentümer_innen unterhalb des Marktwertes zu entschädigen (Ramanathan 2009). Alle durch den FRA vergebenen Rechte stehen unter dem Vorbehalt dieser Doktrin und garantieren deshalb keine absoluten unveräußerlichen Rechtsansprüche.
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L ANDRECHTE , G ESCHLECHTERGERECHTIGKEIT UND DIE K RITIK AN N EOLIBERALER E NTWICKLUNGSPOLITIK In meinem Beitrag habe ich gezeigt, dass eine postkolonial-feministische Untersuchung von Diskussionen um Landrechte für Frauen sichtbar macht, dass diese Ansprüche nicht notwendigerweise strategischen Genderinteressen dienen und mehr Geschlechtergerechtigkeit befördern. Vielmehr ist deutlich geworden, dass landrechtliche Maßnahmen zur Frauengleichstellung innerhalb der dominanten entwicklungspolitischen Ansätze meistens unter Berufung auf Ziele wie Armutsbekämpfung oder Ernährungssouveränität erfolgen: Mit Rekurs auf Mosers Unterscheidung lässt sich demonstrieren, dass praktische Genderbedürfnisse nur durch eine Ausweitung der unbezahlten Arbeitskraft subalterner Frauen erreicht werden können, und damit letztendlich weder Zeit noch Energie bleibt, um für strategische Genderbedürfnisse zu kämpfen. Zugespitzt kann formuliert werden, dass eine an Effizienz orientierte neoliberale Entwicklungspolitik für Frauen im globalen Süden systematisch gegen das Erreichen von strategischen Genderinteressen konzipiert ist. Zugleich gilt es für postkolonialen Feminismus zu betonen, dass Forderungen nach Eigentumstiteln für Frauen als ökonomische Grundlagen verbunden sind mit zwei anderen wichtigen Diskursen der rechtlichen sowie ideologischen Sphäre. Dabei handelt es sich einerseits um die Konstruktion von Gruppen bzw. ‚Gemeinschaften‘, Identität, Zugehörigkeit sowie andererseits die Bedeutung verschiedener Rechtsformen (Individual- vs. Gemeinschaftsrechte, Eigentums- vs. Nutzungsrechte, traditionelle vs. positivierte Rechte). Hier hat meine postkolonial-feministische Analyse offengelegt, dass historische Benachteiligungen und strukturelle Einschränkungen durch den Staat in Bezug auf Ländereien indigener Gruppen als wesentlich anerkannt werden müssen. In meinen Ausführungen wurde ebenfalls deutlich, dass die indische Regierung in der Umsetzung des FRA die Ansprüche auf Eigentum an Boden für Frauen aufgreift. Dies findet in einem spezifischen Kontext, nämlich den Forderungen der Adivasi-Minderheit, ihre Lebensgrundlagen zu erhalten, statt. Zugleich werden jedoch in der Umsetzung der Gesetzesvorlage die politischen Absichten entschärft, die an den FRA gekoppelt sind: Die Bodengröße der individuellen Titel für indigene Frauen ist kleiner als gefordert und ungenügend, um Einkommen, Nahrung bzw. die gesamte Existenz sicherzustellen. Die Kollektivrechte werden völlig nachrangig behandelt – obwohl gerade sie das Überleben, Ansehen und die politische Handlungsfähigkeit von Adivasifrauen gewährleisten. Die liberalen feministischen Forderungen, die sich überwiegend auf Individualtitel konzentrierenden, sind somit nur bedingt geeignet, um die Lebensumstände von Adivasifrauen zu
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verbessern. Insgesamt müssen die Diskussionen um Landrechte für Frauen – unter Berücksichtigung anderer Identitäts- und Ungleichheitsachsen wie Klasse, Kaste, Ethnizität/Indigenität – somit stärker ausdifferenziert und kontextualisiert werden. Zugleich gilt es zu berücksichtigen, dass die Absicht des indischen Staates, die Stärkung der Gleichberechtigung von armen Adivasifrauen durch die Zuteilung von individuellen Landrechten zu fördern, als Lippenbekenntnis bzw. Manöver gewertet werden kann: Die Verdrängung von Kollektivansprüchen an Boden sowie die Reduzierung der Größe des Landes offenbaren, dass die indische Regierung weiterhin indigene Frauen an den Rand drängt, indem sie die Existenzgrundlagen von Adivasigemeinschaften negiert. Darüber hinaus hat meine Analyse zu rechtlichem Pluralismus herausgearbeitet, dass der indische Staat keine verschiedenen Gesetze heranzieht, um die Forderungen der Adivasis zu neutralisieren, sondern in der Implementierung die inhaltlichen Vorgaben des FRA, die explizit Kollektivrechte anerkennen, unterläuft. Dies kann als bloß unzureichende Umsetzung einer grundlegenden Neuordnung von Land- und Waldrechten zur Existenzsicherung von Adivasis begriffen werden (Reddy et al. 2011). Aus einer machtkritischen postkolonial-feministischen Perspektive erscheint es weiterführend, davon auszugehen, dass es sich hier um eine widersprüchliche Integration und Marginalisierung der Interessens- und Problemformulierungen von Adivasis im Rahmen politischer Aushandlungsprozesse handelt. Hinsichtlich der verschiedenen Typen von Landrechten macht das Beispiel deutlich, dass die Frage der Landrechte für Frauen innerhalb der Adivasigemeinschaft keinen besonderen Stellenwert erhielt. Vielmehr wurden alle individuellen Anträge strategisch im Namen von Frauen ausgefüllt, ohne dass es innerhalb der Adivasigemeinschaft zu Auseinandersetzungen um den Vorrang einzelner Rechte für Frauen kam. Hingegen ist sichtbar geworden, dass Zugang zu Land und dessen Nutzung bei gemeinschaftlichen Rechten getrennt ist von individuellen Eigentumsrechten. Die Sicherung von Nutzungsrechten an Land, Weideflächen und Wald, die für Adivasifrauen zentral sind, ist daher nicht notwendigerweise identisch mit den Forderungen nach individuellen Besitztiteln für Boden. Ansprüche auf Landrechte für Frauen im Sinne verbriefter Eigentumstitel einzelner, die andere von dem Gebrauch ausschließen, zeigen sich somit aus einer postkolonial-feministischen Analyse als höchst ambivalent: Sie können zu mehr Geschlechtergerechtigkeit beitragen, erfüllen dieses Kriterium jedoch nicht zwangsweise. Wie Cecile Jackson zu Recht hervorhebt, sind Landrechte nicht das Allheilmittel und auch keine ‚Wunderwaffe‘ für ländliche Frauen, um postkolonial-patriarchale Verhältnisse hin zu mehr Geschlechtergerechtigkeit zu verändern (Jackson 2003). Vielmehr sind weitere Untersuchungen
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nötig, die die Kämpfe von subalternen Frauen im globalen Süden um Grund und Boden in ihren spezifischen historischen, nationalen und intersektionalen Kontexten untersuchen und ihre Handlungsspielräume ebenso wie -begrenzungen genauer beleuchten. Angesichts von land grabbing, steigenden Nahrungsmittelpreisen und einer Krise der industriellen Landwirtschaft stellt dies eine der größten Herausforderungen für postkolonial-feministische Ansätze in der Gegenwart dar.
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Die Anderen im Inneren: Politik der BRD
„Billig und willig“ Arbeitsmigrations- und Integrationspolitik aus postkolonialer Perspektive 1 K IEN N GHI H A
Die gegenwärtige Diskussion über die befürchteten wie erhofften Effekte der Einwanderung von benötigten Arbeitskräften nach Deutschland findet ohne jede geschichtliche Reflexion in einem scheinbaren Vakuum statt. Dabei sind Forderungen nach einer begrenzten und einträglichen Zuwanderung, die zudem die gesellschaftlichen Verhältnisse und kulturelle Hegemonie der deutschen ,Leitkultur ‘ nicht gefährden sollen, nicht neu. Um präziser zu sein: Solche Forderungen sind seit dem Wilhelminischen Kolonialkaiserreich ein wiederkehrendes Strukturelement dieser Debatte. Dessen ungeachtet stellt die Enthistorisierung die dominante Form der gesellschaftlichen Beschäftigung mit diesem Themenbereich dar. Selbst in der sozialwissenschaftlichen Literatur wird der Abschluss des Anwerbeabkommens mit Italien im Jahre 1955 gemeinhin als Anfangsdatum deutscher Arbeitsmigrationspolitik begriffen. Eine Folge der geschichtspolitischen Verdrängung ist, dass die tatsächlichen Wurzeln dieser Politik aus dem Blickfeld geraten und überhaupt nicht diskutiert werden, da sie weder in der politischen Debatte noch im öffentlichen Bewusstsein präsent sind. Dabei könnte
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Dieser Text basiert auf meinen Ausführungen in „Die kolonialen Muster deutscher Arbeitsmigrationspolitik“ (2003) in: Encarnación Gutiérrez Rodríguez & Hito Steyerl (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch? Postkoloniale Kritik und Migration. Münster: Unrast, S. 56-107 und „Deutsche Integrationspolitik als koloniale Praxis“ (2007) in: Kien Nghi Ha/Nicola Lauré al-Samarai/Sheila Mysorekar (Hg.): re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Münster: Unrast, S. 113-128.
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die historische Aufarbeitung nicht nur unser geschichtliches Wissen erweitern. Durch die Verknüpfung mit aktuellen Problemstellungen wäre es auch möglich, eine Perspektive zu gewinnen, in der nach den Zusammenhängen zwischen Rassismus, Arbeitsmigrationspolitik und innerer Kolonialisierung gefragt werden kann.
ARBEITSMIGRATION ALS P OLITIK DER INNEREN K OLONIALISIERUNG Bisher ist es kaum der Rede wert, dass die Genese der deutschen Arbeitsmigrationspolitik nicht nur zeitgleich zur Durchsetzung nationalstaatlicher Kolonialpolitik, sondern auch unter der Ägide einer verwandten Machtlogik erfolgte. Während die ,verspätete‘ Kolonialnation im „Wettlauf um Afrika“ (vgl. Pakenham 1990) nach Jahrzehnten der ideologischen Vorbereitung Mitte der 1880er Jahre ihre ersten ,Schutzgebiete‘ in Besitz nahm (Fröhlich 1994: 17-40), wurde von deutscher Seite aufgrund der ,Leutenot‘ in der ostpreußischen Agrarwirtschaft eine zunächst grenznahe Arbeitsmigration initiiert. Diese wurde zu Beginn der 1890er Jahre mit gezielt anti-polnischen Bestimmungen auf das übrige Preußen ausgedehnt. In den Anfangsjahren trat die deutsche Arbeitsmigrationspolitik als Rekrutierung von möglichst ,billigen und willigen‘ (vgl. Bade 1993: 311) Arbeiter/-innen in den so genannten ,freien Jagdgebieten‘ Osteuropas in Erscheinung. Die betrügerischen und oftmals auch brutalen Anwerbemethoden der beauftragten Agenten und Kolonnenführer brachten Missstände hervor, die von der damaligen Sozialkritik mit dem Sklavenhandel verglichen wurden (Herbert 2003: 38). Institutionell war zunächst die halbamtliche Preußische Feldarbeiter-Zentralstelle zuständig, die organisatorisch an die Centralstelle zur Beschaffung Deutscher Ansiedler und Feldarbeiter anknüpfte. Diese Arbeitsvermittlungsstelle wurde ursprünglich vom Ostmarkenverein und Alldeutschen Verband zur Förderung der kolonialen Siedlungspolitik 1903 gegründet (Herbert 2003: 32-37; Elsner/Lehmann 1988: 43-44). Das bis vor kurzem noch gültige Prinzip, wonach Deutschland kein Einwanderungsland sei, wurde rigoros durch ein bis 1907 voll entwickeltes „System der restriktiven Ausländerkontrolle mit dem ,Legitimationszwang‘ und dem ,Rückkehrzwang‘“ (Bade 1993: 314) umgesetzt. Bis zum Ersten Weltkrieg rückte das Deutsche Reich durch den Ausbau seines zunehmend polizeirechtlich und zentral organisierten Systems des temporären „Arbeiterimports“ zum – nach den USA – „zweitgrößten Arbeitseinfuhrland der Erde“ auf – wie es der zeitgenössische Historiker Imre Ferenczi ausdrückte
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(zit. nach Bade 1993: 316). 1910 waren 1,26 Millionen ausländische Arbeiter/-innen im Deutschen Reich beschäftigt, wobei knapp zwei Drittel der Beschäftigten hauptsächlich aus den polnischen Gebieten Österreich-Ungarns und Russlands kamen. Während des Ersten Weltkrieges mussten viele Migrant/-innen de facto Zwangsarbeit leisten, da die zuvor jährlich erzwungene Ausreise durch ein Ausreiseverbot ersetzt wurde. Die Struktur wie die Zielsetzung der deutschen Arbeitsmigrationspolitik wurde grundlegend durch ihren gesellschaftlichen Entstehungskontext im Zeitalter des Imperialismus geformt. In einer Gesellschaft, deren Eliten sich besonders stark mit völkisch-nationalen, antisemitischen, rassistischen, sozialdarwinistischen, kolonialistischen und militaristischen Ideologien identifizierten, bestimmten diese biopolitischen Ideologien auch maßgeblich die Konzeption und Gestaltung der Zuwanderungspolitik. So wie die koloniale Expansion nicht zuletzt als Mittel zur Aneignung von äußeren Ressourcen angelegt war, wurde die Arbeitsmigrationspolitik als ein nationalstaatliches Instrument eingesetzt, um sich benötigte ,Humanressourcen‘ in temporären Rotationszyklen für das volkswirtschaftliche Wachstum einzuverleiben. Diese Denkweise fasste Friedrich Syrup, der als Präsident die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung zunächst in der Weimarer Republik und dann auch in der NS-Zeit führte, 1918 wie folgt zusammen: „Es ist fraglos, daß die deutsche Volkswirtschaft aus der Arbeitskraft der im besten Alter stehenden Ausländer einen hohen Gewinn zieht, wobei das Auswanderungsland die Aufzuchtkosten bis zur Erwerbstätigkeit der Arbeiter übernommen hat. Von noch größerer Bedeutung ist jedoch das Abstoßen oder die verminderte Anwerbung der Ausländer in Zeiten wirtschaftlichen Niederganges.“ (Zit. nach Treibel 1990: 90)
Diskriminatorische Arbeitsmigrationspolitik kann im deutschen Entstehungskontext als Inversion kolonialer Expansionsformen begriffen werden. Letztlich zielten beide Politikansätze mit unterschiedlichen Mitteln darauf ab, Deutschlands Stellung im globalen Wettkampf der westlichen Industrienationen durch äußere und innere Kolonialisierung zu stärken. Ihre Konvergenz zeigte sich besonders eindrücklich in den offiziellen Kriegszielen des Imperial Germany für Osteuropa. Während diese Expansionspläne 1918 durch die Niederlage des Deutschen Reiches abgewendet werden konnten, spielten kolonialrassistische Überzeugungen bei der lebensweltlichen Umsetzung der Arbeitsmigrationspolitik im inneren Ausland eine bedeutsame Rolle. Schon bevor der Nationalsozialismus ,slawische Untermenschen‘ als ,Arbeitsvölker‘ der arischen ,Herrenrasse‘ proklamierte, waren ähnliche Vorstellungen in den politischen Diskursen der Wilhelminischen
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Kolonialgesellschaft geläufig. Im Unterschied zur NS-Ideologie beruhten sie auf rassistischen Ressentiments, die aber keine rassenpolitische Herrschaftsstruktur für die systematische Neuordnung Europas forderten. Die Idee untergebener ,Arbeitsvölker‘ verband jedoch ,rassisch‘ begründete Unterlegenheits- und Überlegenheitsvorstellungen mit Modellen der ethnischen Arbeitsteilung.
R ASSIFIZIERTE ARBEITSTEILUNGEN UND SOZIALIMPERIALISTISCHE G ESELLSCHAFTSSTRUKTUR In den rassentheoretischen Diskursen der Kaiserzeit wurden polnische Arbeitsmigrantinnen und -migranten üblicherweise als kulturell „niedrig stehende Slawen“ stigmatisiert, als „dumme Polacken“ mit einer „kriecherischen“ und „unterwürfigen“ Haltung verobjektiviert, die für schwere Arbeiten auf dem Feld und unter Tage prädestiniert erschienen. Indem aufoktroyierte soziale Verhältnisse verkörperlicht und als ,Rasseneigenschaften‘ naturalisiert wurden, konnten diese Menschen wie selbstverständlich als „geborene Erdarbeiter“ und „Wulacker“ (Wühler) erniedrigt werden (vgl. Bade 1993: 322). Durch die Konstruktion negativer Stereotypen wurde ihre Abwertung rationalisiert, so dass Ablehnung, Ausgrenzung und Entrechtung natürlich und legitim erschienen. In diesem Sinne arbeitete die deutsche Arbeitsmigrationspolitik seit ihrer Einführung effektiv mit rassistischen Zuschreibungen und ausbeuterischen Praktiken, die eine hierarchische Gesellschaftsstruktur auf kolonialrassistischer Grundlage zur Folge hatten. Aufgrund von gesetzlichen Verordnungen wurden den zugewanderten Arbeiter/innen grundlegende Rechte wie Vertrags- und Bewegungsfreiheit verweigert (vgl. Herbert 2003: 37). Als de facto Leibeigene auf Zeit waren sie der Willkür ihrer deutschen Vorgesetzten und Gutsherren nahezu schutzlos ausgeliefert, so dass Lohnbetrug, gewalttätige Übergriffe und polizeiliche Kriminalisierung der flüchtigen ,Vertragsbrüchigen‘ die Regel waren. Durch die Aufoktroyierung von halbfeudalen Arbeitsbedingungen, die die gewerkschaftliche und sozialdemokratische Kritik als ,Dasein rechtloser Lohnsklaven‘ (ebd.) bezeichnete, wurden Lebensformen und eine ethnisierende Segmentierung der Gesellschaft geschaffen, die an die rassistische Struktur überseeischer Kolonien erinnerte. Zeitgenössische Kommentatoren verglichen oftmals mit Befriedigung die Funktionen der „Arbeiterschicht zweiten Grades“ mit denen von unterdrückten Gruppen in klassischen Kolonialgesellschaften. So nahmen osteuropäische Migrant/-innen in Deutschland nach Beobachtung des Agrarhistorikers Sartorius von Waltershausen Positionen ein, die denen „der Neger in den nordamerikanischen Oststaaten,
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der Chinesen in Kalifornien, der ostindischen Kulis in Britisch-Westindien“ (zitiert nach Bade 1993: 319) entsprachen. Die innere Kolonialisierung wurde durch eine gezielte Politik der Unterschichtung von migrantischen Arbeiter/-innen forciert, in der die Migrationspolitik neben nationalökonomischen auch sozialimperialistischen Intentionen folgte, um soziale und politische Konflikte im Inneren zu entspannen. Friedrich Syrup beschrieb 1918 diese sozialimperialistische Praxis wie folgt: „Ist es unvermeidlich, ausländische Arbeiter heranzuziehen, so erscheint es auch sozialpolitisch angezeigt, sie gerade mit den niedrigsten, keine Vorbildung erfordernden und am geringsten entlohnten Arbeiten zu beschäftigen, denn dadurch besteht für die einheimische Arbeiterschaft gleichzeitig der beachtenswerte Vorteil, dass ihr der Aufstieg von der gewöhnlich niedrig entlohnten Tagelöhnerarbeit zu der qualifizierten und gut entlohnten Facharbeit wesentlich erleichtert wird.“ (Zitiert nach Treibel 1990: 90)
Wie zahlreiche Quellen belegen, wurden rassistische und sozialimperialistische Praktiken in den Amtsstuben und Wirtschaftsbetrieben als „strenger Grundsatz“ gehandhabt (vgl. Bade 1980: 288-289).
T RADIERUNGEN UND ANALOGIEN
IN DER
BRD
Wie die ,Gastarbeiter‘ in der BRD wurden auch ihre osteuropäischen Vorgänger nicht nur im Alltagsrassismus als faul, dumm, übel riechend, ungebildet, gewalttätig, kriminell, gefährlich, kulturell unterwickelt, separatistisch, politisch radikalisiert etc. vorgestellt. Entsprechend wurden sie einem engmaschigen Netz der staatlichen Überwachung unterstellt, die auf vielfältigen polizeilichen und geheimdienstlichen Kontrollen beruhte (vgl. Bade 1993: 314-315). Wie überzogen diese Ängste waren, zeigte sich etwa am Fall des nationalliberalen Soziologen Max Weber. Im Jahr 1892 warnte er in seiner damals viel beachteten Studie Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland eindringlich vor der angeblich drohenden „Polonisierung des Ostens“ (zit. nach Herbert 2003: 2631). Diese Überfremdungsthese war als ideologisches Phantasma empirisch nicht haltbar und vermutete in ihrem paranoiden Eifer in praktisch allen Gesellschaftsbereichen Formen der volkswirtschaftlichen, bevölkerungspolitischen, kulturnationalen und ,rassischen‘ Verdrängung des angestammten Deutschen. Gerade die Verwissenschaftlichung des Rassismus gibt Auskunft über die gesellschaftliche Akzeptanz von hierarchischen Ungleichheitsverhältnissen. Die Kodifizierung des rassistischen Wissens und ihre Umsetzung durch staatliche Institutionen
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weisen darauf hin, dass die historische Verfasstheit dieser Gesellschaft strukturell durch diskriminierende Politikansätze geprägt ist. In modifizierter und partiell abgeschwächter Form finden sich rassifizierte Hierarchieverhältnisse auch im Umgang der bundesrepublikanischen Gesellschaft mit den angeworbenen ,Gastarbeitern‘ wieder: In der Funktion als billige ,industrielle Reservearmee‘, im ,Inländerprimat‘ des Arbeitsförderungsgesetzes, in der dauerhaften Struktur der gesellschaftlichen Unterschichtung, in der Verweigerung staatsbürgerlicher Rechte und in der auf Diskriminierung beruhenden Ausländerpolitik werden historische und koloniale Muster deutlich sichtbar. Der in der Weimarer Republik offiziell eingeführte verwaltungstechnische Begriff ,Inländerprimat‘ bezeichnet das Prinzip, wonach Deutsche (und später ihnen gleichgestellte Arbeiter/-innen aus den Mitgliedsstaaten der EU) auf dem Beschäftigungsmarkt durch Vorzugsbehandlung und andere Privilegien gegenüber postkolonialen Migrant/-innen besser gestellt werden sollten. Ein anderes Anschauungsbeispiel für institutionelle Tradierung ist etwa die Geschichte der so genannten ,Legitimationskarte‘ für Arbeitsmigrant/-innen. Sie wurde in der Kolonialzeit ab 1912 von der Deutschen Arbeiterzentrale, in der Weimarer Republik seit 1927 von der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung und in der Nachkriegszeit schließlich von der Bundesanstalt für Arbeit ausgestellt (Bade 1983: 48), um die Arbeitsmigration und ihre Subjekte zu steuern und zu kontrollieren. Die preußische Legitimationskarte, die die ,Inlandslegitimation‘ dokumentierte, war ursprünglich Bestandteil eines arbeitsrechtlichen Verhältnisses, das Elemente einer zeitlich befristeten Leibeigenschaft beinhaltete. Entsprechend wurden den Zugewanderten fundamentale Arbeitnehmerrechte wie Vertragsfreiheit und Freizügigkeit de facto vorenthalten. Stattdessen wurden sie bei der Einreise von der Zentralstelle einem ihnen unbekannten Arbeitgeber für die Dauer ihres Aufenthaltes in Preußen unkündbar zugewiesen. Dieser Verwaltungsakt der Inbesitznahme wurde auf der Legitimationskarte amtlich vermerkt, wobei eine Zweitanfertigung an das polizeiliche Zentralregister erging (vgl. Bade 1993: 315). Dass die ,Gastarbeiter‘ in der BRD im ersten Jahr nicht das Recht hatten, ihren Arbeitgeber zu wechseln und zudem systematisch im Ausländerzentralregister polizeilich erfasst wurden, ist kaum als historischer Zufall oder Betriebsunfall anzusehen. Obwohl das Ausländerzentralregister in der BRD aufgrund einer als selbstverständlich erachteten institutionellen Überwachungs- und Zugriffspolitik bereits seit 1953 in modernisierter Form fortgeführt wird, ist die eigentlich unabdingbare gesetzliche Grundlage erst 1994 nach der Kritik der
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Datenschutzbeauftragten nachträglich eingeführt worden. 2 Dabei ist die Grundidee, aber auch die Ausgestaltung des Ausländerzentralregisters höchst problematisch. Unbelastet von deutschen Rechtsbräuchen kommt das unabhängige Gutachten des Generalanwalts des Europäischen Gerichtshofs Luis Poiares Maduro im April 2008 zum Ergebnis, dass die ausufernde Erfassung, Speicherung und vernetzte Benutzung personenbezogener Daten in der heutigen Form nicht mit EU-Recht und EU-Datenschutzstandards vereinbar sei. Auch käme die Ungleichbehandlung von nicht-deutschen Staatsbürger/-innen mit dem Verbot der Diskriminierung auf Grundlage der Nationalität in Konflikt. 3 Solche Analogien und Tradierungen zeigen, wie stark das Gastarbeiterrecht auf historische Vorläufer rekurriert, durch die kolonialrassistische Ideologien mittels staatlicher Politik umgesetzt wurden. Auch das 1965 wieder eingeführte Ausländergesetz beruht im Kern auf der Ausländerpolizeiverordnung von 1938, der Verordnung über ausländische Arbeitnehmer von 1933 sowie der Kriegsverordnung für die Behandlung von Ausländern von 1939 (vgl. Dohse 1983: 105-111 und Herbert 2003: 205). Dass kolonial anmutende Gesellschaftsverhältnisse sich keineswegs historisiert haben, zeigt sich auch am Beispiel der andauernden ethnischen Unterschichtung der ,Gastarbeiter‘. Nach Schätzungen des Migrationsforschers Friedrich Heckmann konnten während der 1960er und 1970er Jahre etwa 2,7 Millionen Deutsche in der BRD durch eine gezielte Politik der Unterschichtung und arbeitsmarktpolitischen Benachteiligung der Migrant/-innen sozial aufsteigen (vgl. Herbert 1986: 201 und Heckmann 1992: 82-95). Wie der letzte Armutsbericht der Bundesregierung von 2013, 4 aber auch die PISA-Studien belegen, hat sich die Politik der verweigerten Chancengleichheit und Gleichberechtigung zu einer Struktur der gesellschaftlichen Deklassierung verfestigt, die an die nachfolgenden Generationen sozial ,vererbt‘ wird. Die breit angelegten PISA-Studien belegen übereinstimmend, dass insbesondere das deutsche Bildungssystem auch im internationalen Vergleich gerade SchülerInnen strukturell benachteiligt, die aus sozial marginalisierten Familien kommen über migrantische Hintergründe 2
Vgl. Artikel „Ausländerzentralregister“ https://de.wikipedia.org/wiki/Ausländer-zentral register (12.03.2016) und das „Gesetz über das Ausländerzentralregister (AZRG)“ vom 2. September 1994.
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Vgl. „Datenschutz: EuGH-Generalanwalt hält Ausländerzentralregister für rechtswidrig“, DER SPIEGEL vom 03.04.2008. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/daten schutz-eugh-generalanwalt-haelt-auslaenderzentralregister-fuer-rechtswidrig-a-545248. html
4
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.): Lebenslagen in Deutschland – Vierter Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung. 07.03.2013.
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verfügen (vgl. etwa Baur 2010). Angesichts der relativen Starrheit der rassifizierten Segregation und sozialen Schließung könnte man tatsächlich auf die disputierliche Idee kommen zu fragen, inwieweit solche Gesellschaftsstrukturen Ähnlichkeiten zur Apartheid in kolonialrassistischen Staaten aufweisen.
I NTEGRATION ALS NATIONALPÄDAGOGISCHE F REMDBESTIMMUNG VON M USLIMEN UND P EOPLE OF C OLOR Mit den Integrationskursen steht ein nationalpädagogisches Disziplinierungsinstrument zur Verfügung, mit dem Immigrierte der deutschen Kultur- und Werteordnung überantwortet werden. Wie das rot-grüne Zuwanderungsgesetz wurde die Integrationskursverordnung (IntV) zum 1. Januar 2005 eingeführt und trug die politische Handschrift des mehrfachen Big Brother Award Gewinners Otto Schily. Im Kern schreibt diese Verordnung weniger das Recht als die nach §44a des neuen Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) auferlegte Pflicht zur Teilnahme an einem penibel überprüften Sprach- und Orientierungskurs vor. Die nun bis zu 930 Unterrichtsstunden umfassenden Kurse sind als eine zweite Sozialisationsinstanz konzipiert, um nach erfolgreicher Prüfung das vom Goethe-Institut entwickelte Sprachdiplom Zertifikat Deutsch zu erwerben und die politisch-kulturelle Orientierung der Prüflinge zu evaluieren sowie ,weiterzuentwickeln‘ . Bis Ende 2006 sind rund 250.000 Menschen durch 16.850 Kurse der Integrationsindustrie geleitet worden. Sie wurden dabei von einem entsprechend großen Apparat aus etwa 12.000 Lehrenden und 1.800 zugelassenen Trägern betreut (Nationaler Integrationsplan 2007: 3), die wiederum der Kontrolle des neugeschaffenen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) unterstehen. Diese Institution ist 2002 aus dem früheren Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hervorgegangen. 5 Aufgrund zahlreicher Fehlentscheidungen sowie
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Die Umbenennung zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge trat gemeinsam mit dem „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern“ – das sogenannte Zuwanderungsgesetz (ZuwG) – zum 1. Juli 2002 in Kraft. Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Dezember 2002 wurde das Zuwanderungsgesetz aufgrund formeller Mängel und damit auch die Umbenennung außer Kraft gesetzt. Erst mit der Einführung des Aufenthaltsgesetzes in 2005 wurde die Umbenennung der Behörde dauerhaft vollzogen.
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menschenrechtlich bedenklicher Verfügungen stand sie im Mittelpunkt der Kritik von Amnesty International und Pro Asyl. 6 Mit den im Nationalen Integrationsplan (NIP) vom Juli 2007 angekündigten Maßnahmen, die nicht zuletzt auf mehr ,Controlling‘, ,Erfolgskontrollen‘, Ausbau elektronischer Datenbanken und Überwachungsnetzwerke zur Identifizierung ,integrationsbedürftiger‘ MigrantInnen setzen, zeichnet sich eine weitere Verschärfung des deutschen Integrationsregimes ab (Ha 2007a). Laut Integrationskursverordnung plante die Bundesregierung in den ersten fünf Jahren Pflichtkurse für 280.000 bis 336.000 bereits in Deutschland lebende Migrantinnen und Migranten als ,nachholende Integration‘ durchzuführen. Tatsächlich wurden von 2005 bis 2013 jährlich zwischen 56.600 und 64.600 Kursteilnehmende zwangsverpflichtet, so dass ihr Anteil an der Gesamtzahl aller Kursbesuchenden meist bei etwa 40 Prozent lag. 2014 stieg die Zahl der Teilnahmeverpflichteten auf fast 80.000 an und erreichte im ersten Halbjahr 2015 mit 56.250 einen neuen Höchstwert (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2015: 3). Mit der verstärkten Aufnahme von Geflüchteten in 2015 hat sich jetzt auch ein anderer Finanzierungsbedarf ergeben: Wurden 2014 noch 244 Millionen Euro für die Integrationskurse ausgegeben, so sind im Bundeshaushalt für 2016 nun 559 Millionen Euro vorgesehen (Bollmann, Nienhaus und Schipper 2016: 28). Auch die für diese Aufgabe veranschlagte Summe von 380 bis 456 Millionen Euro verdeutlicht die gesellschaftspolitische Relevanz und Dimension dieses sozialtechnologischen Megaprojektes. Deutsche ,Leitkultur‘ + Diskriminierungen = Integration? Wie die ernüchternden Ergebnisse der PISA-Studie, aber auch die unterprivilegierten Abschlüsse migrantischer SchülerInnen zeigen, haben viele Eingewanderte und ihre Nachkommen die selektiven Mechanismen des deutschen Bildungssystems eher als Instrument der sozialen Ausgrenzung erfahren. Dass ausgerechnet der Zwang zur sekundären Sozialisation durch verpflichtende Integrationskurse nun als favorisiertes Mittel ihrer gesellschaftlichen Integration präsentiert wird, ist gerade angesichts der strukturellen Diskriminierungen im deut6
Beispielsweise skandalisierte Pro Asyl im Juni 2004 die Arbeitsweise der Bundesbehörde in mehreren Presseerklärungen: „Skandal beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge“, http://www.proasyl.de/de/presse/presse-archiv/pressedetail/news/skandal_beim_bundesamt_fur_die_anerkennung_auslandischer_fluchtlinge/ (06.06.2004) und „Schlamperei beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge“ http://www.proasyl.de/de/presse/presse-archiv/presse-detail/news/schlam perei_beim_bundesamt_fur_die_anerkennung_auslandischer_fluchtlinge/ (03.06.2004).
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schen Bildungssystem (vgl. Gomolla/Radtke 2002) zunächst wenig einleuchtend. Vielmehr verfestigt sich der Eindruck, dass die Integration in ihrer imperativen Form mit dem Anspruch auf kulturelle und politische Vormachtstellung zugunsten der deutschen ,Leitkultur‘ verbunden ist. Wie es in der Verordnung heißt, sollen die Integrationskurse neben dem „Erwerb ausreichender Kenntnisse der deutschen Sprache“ auch „Kenntnisse der Rechtsordnung, der Kultur und der Geschichte in Deutschland, insbesondere auch der Werte des demokratischen Staatswesens der Bundesrepublik Deutschland und der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Toleranz und Religionsfreiheit“ (§3 IntV) vermitteln. Im offiziellen Politikverständnis der BRD fungiert die verordnete Integration somit als ein nationalpädagogisches Mittel, das sich der Durchsetzung und Pflege der als überlegen angesehenen deutschen Kultur- und Werteordnung widmet. Da die amtliche Integrationspolitik – wie im Nationalen Integrationsplan deutlich wird – sich wie selbstverständlich nicht mit institutionalisiertem Rassismus und struktureller Diskriminierung befasst, wird die unterprivilegierte Lebenslage der Eingewanderten ganz nebenbei als Resultat eines selbstverschuldeten sprachlichen Defizits stilisiert. Daher sollen die deutschen Institutionen zukünftig nicht nur den ,Integrationsbedarf‘ der Betroffenen ermitteln und die entsprechende ,Therapie‘ festlegen. Auch die MigrantInnen selbst müssen in den Kursen nun ihre ,Integrationsfähigkeit‘ beweisen, oder sie riskieren entsprechende Sanktionen. Als Disziplinierungsinstrument wird Integration durch legale Drohungen und Bestrafungen staatlich institutionalisiert, die von der Verweigerung der Staatsbürgerschaft (§11 Abs. 1 Staatsangehörigkeitsgesetz) über die Kürzung der sozialen Grundsicherung (§44a Abs. 3 AufenthG) bis zu aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen wie etwa der Ausweisung reichen (§8 Abs. 3 AufenthG). Auf diese Weise wird ,Integrationsbedürftigkeit‘ zu einer juristischen Kategorie des Strafrechts, während die Verpflichtung zum Besuch von Integrationskursen einer 930-stündigen Untersuchungs- und Besserungshaft gleicht. Zeitgleich mit der Integrationskursverordnung wurde nach §55 AufenthG eine Ermessungsabschiebung eingeführt, die aufgrund einer „tatsachengestützten Gefahrenprognose“ (§58a AufenthG) gegen Verdächtigte erlassen werden kann. Der Rechtsschutz wird außerdem auf eine gerichtliche Instanz beschränkt. Auch „geistige Brandstifter“ (§55 Abs. 2 Nr. 8 AufenthG), Angehörige verbotener Vereine (§54 Nr. 7 AufenthG), „Schleuser“ (§53 Nr. 3 AufenthG) und so genannte Unterstützer terroristischer Organisationen (§54 Nr. 5 AufenthG) sind von der Regelfall- oder Ermessensausweisung betroffen. Zusätzlich gilt, dass eine Regelanfrage über
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verfassungsfeindliche Einstellungen vor der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis oder einer Einbürgerung durchgeführt wird. Die jüngste juristisch-administrative Verschärfung der deutschen Integrationspraxis gibt erneut Anlass, in eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Thematik einzusteigen. Gerade vor dem Hintergrund der entstehenden Integrationsindustrie ist es wichtig, die mit dem Begriff der Integration einhergehenden Vorstellungen und Praktiken aus einer postkolonialen Perspektive zu hinterfragen. Anstelle von Angeboten auf freiwilliger Basis wird mit der staatlichen Anordnung erstmals im Aufenthaltsrecht (ehemals Ausländergesetz) der Grundsatz des Integrationszwangs als nationalpädagogisches Machtinstrument für die kulturelle (Re-)Sozialisierung und politische Umerziehung ausschließlich für migrantische Subjekte mit außereuropäischen Herkünften institutionalisiert. Auf der dominanten Seite sind sowohl die etwa vier Millionen Analphabet/-innen, aber auch das latent rechtsextreme Bevölkerungsviertel (vgl. Decker/Kiess/Brähler 2012) durch ihre deutsche Staatsbürgerschaft vor der Weiterbildungspflicht und den drohenden Entrechtungen durch die Integrationspolitik geschützt. Eine weitere Benachteiligung für Eingewanderte ergibt sich aus den seit 2008 bundesweit durchgeführten Einbürgerungstests, die eine weitere Hürde zur Gleichberechtigung darstellen und anfänglich sogar fehlerhaft waren. Ebenso wie die Integrationskurse setzen sie symbolpolitische Grenzmarkierungen der kulturellen NichtZugehörigkeit voraus und stellen einseitige wie diskriminatorische Bedingungen für die politische Assimilation. Zuvor wurden in Hessen und Baden-Württemberg Einbürgerungstests konzipiert, die ausschließlich an Muslime gerichtet waren und als „Gesinnungstests“ in der öffentlichen Kritik standen. 7
P OSTKOLONIALE M IGRANT /- INNEN , M USLIME UND P EOPLE OF C OLOR ALS Z IELGRUPPEN Die Integrationskurse sind ausschließlich für Migrierte aus Nicht-EU-Ländern zwingend. In der BRD lebende EU-Bürgerinnen und -Bürger verfügen dagegen über ein auf Freiwilligkeit basierendes Recht auf Kursteilnahme. Während EUMitgliedern das Privileg sozialer, ökonomischer und politischer Teilhabe gewährt wird, müssen sich alle anderen Eingewanderten bereits den Anspruch auf Aufenthalt durch einen aktiven Nachweis ihrer ,Integrationsfähigkeit ‘ erarbeiten. Ebenso wenig müssen EU-Angehörige bei als mangelhaft bewerteten Integra7
Vgl. Artikel „Einbürgerungstest“ https://de.wikipedia.org/wiki/Einbürgerungstest (12.03.2016)
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tionsleistungen negative Sanktionen fürchten. Von den repressiven Auswirkungen sind vornehmlich People of Color (vgl. Ha 2007b) aus den postkolonialen Staaten in Asien, Lateinamerika und Afrika, insbesondere muslimische Communities mit türkischen und arabischen Hintergründen betroffen, da sie in Deutschland die große Mehrheit der migrantischen Communities aus Nicht-EU-Staaten repräsentieren. Im Unterschied zu Arbeitsmigrant/-innen aus westlichen Staaten wird das kulturelle Kapital muslimischer Communities und postkolonialer Migrant/-innen in Deutschland immer wieder angefeindet und abgewertet, werden ihre Bildungs- und Berufsabschlüsse häufig nur unzureichend anerkannt, so dass sie daher in der Regel nicht als Hochqualifizierte von den Ausnahmeregelungen der „Willkommenskultur“ profitieren können. Erschwerend kommt hinzu, dass sich sowohl in der Praxis der Ausländerbehörden – etwa in Berlin, Hamburg und Frankfurt am Main (Ludwig 2013) – als auch im deutschen Ausländerrecht Ansätze eines Zweiklassenrechts in den letzten Jahren ausprägen: So sind mit der Einführung von Deutsch-Sprachnachweisen beim Ehegattennachzug im Jahre 2007 (§30 AufenthG) Ausnahmeregelungen bei Sprachnachweisen für Migrationswillige aus westlichen Partnerstaaten wie etwa den USA, Australien, Kanada, Israel, Japan und Südkorea vorgesehen. Nach jahrelangem Rechtsstreit mussten aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 10.07.2014 türkische Staatsbürger/-innen ebenfalls von der Erbringung eines Sprachnachweises befreit werden, da diese Verpflichtung gegen bestehende Staatsverträge mit der Türkei verstoßen (Fernau 2014). Solche Regelungen zeigen, dass neben ökonomischen und politischen Erwägungen de facto auch kulturell-religiöse und ethnisierende Gesichtspunkte bei der Gestaltung von Integrationsregelungen und Einwanderungsbegrenzungen eine wichtige Rolle spielen. Durch die unterschiedliche Vergabe von Rechten und Pflichten – etwa im Aufenthaltsrecht und im Arbeitsförderungsgesetz (AFG) – wird die euro- und ethno-zentrierte Hierarchie unter Eingewanderten weiter verfestigt. Nach Festlegungen im AFG (§19), in der Arbeitserlaubnisverordnung und im Sozialgesetzbuch (SGB III, §285) dürfen Nicht-EU-Angehörige nur dann einen Job annehmen, wenn weder Deutsche noch gleichgestellte EU-Bürger diese Arbeit zu den angebotenen Bedingungen akzeptieren können. Diese diskriminatorischen Gesetze tragen maßgeblich zu einer systematischen gesellschaftlichen Unterschichtung von außereuropäischen People of Color bei, die dadurch gezwungen werden, stigmatisierte, körperlich belastende und schlecht bezahlte Tätigkeiten in der untersten Betriebshierarchie anzunehmen. Die sozialimperialistischen Effekte dieser rassistischen Arbeitsteilung erinnern an die koloniale ,Kuli-Ökonomie ‘ aus vorangegangenen Jahrhunderten (vgl. Look Lai 2004 und Northrup 1995). Dadurch wer-
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den Analogien zu den Anfängen der nationalstaatlich organisierten Arbeitsmigrationspolitik im Wilhelminischen Kaiserreich wachgerufen, die kolonialen Mustern folgen. Da die Umerziehungsmaßnahmen in spezifischer Weise postkoloniale MigrantInnen betreffen, sind koloniale Kontexte, Analogien und Konfigurationen im Konzept der Integrationskursverordnung bei der Analyse zu berücksichtigen. Sowohl People of Color als auch postkoloniale MigrantInnen stehen mit ehemals kolonialisierten geografischen Regionen in Verbindung und sind mit tradierten kolonialrassistischen bzw. orientalistisch-islamophoben Zuschreibungen und Integrationsimperativen konfrontiert. Integration als Akt politischer Kontrolle, kultureller Überprüfung und juristischer Zertifizierung wirft vor diesem Hintergrund besonders in seiner hoheitsamtlichen Form und massenwirksamen Funktion weit reichende Fragen auf. Sie betreffen sowohl die identitätspolitischen Selbstvergewisserungsstrategien der deutschen Dominanzgesellschaft als auch jenes post-/koloniale Machtverhältnis, das sich in der selektiven Migrations- und Integrationspolitik artikuliert. Diese strukturellen Asymmetrien legen eine Untersuchung ihrer kolonialisierenden Effekte nahe. Von hier wäre es dann auch möglich, nach dem Zusammenhang von Migration, Integration und Nationalstaat im Kontext seiner historischen Genese und post-/kolonialen Einbettung zu fragen. Im offiziellen Integrationsdiskurs scheinen soziale Realitäten wie struktureller Rassismus, institutionelle Diskriminierungen und sozio-kulturelle Ausgrenzungen durch die deutsche Gesellschaft wenig relevant. Indem die rassistischen Einschreibungen dieser Gesellschaft unsichtbar gemacht werden, entfallen wichtige Ausgangspunkte für ein machtkritisches Verständnis von Migration, Rassismus und Integration. Stattdessen werden die migrantischen Anderen in hegemonialen Diskursen analog zum kolonialen Anderen per Definition als defizitär vorgeführt. Auch stellt die erzwungene Integration in die Nation nicht nur die proklamierten Integrationsziele, also die angestrebte Verwirklichung der republikanischen Verfasstheit und die Freiheitsrechte in Frage. Darüber hinaus negiert sie in eklatanter Weise das kulturelle und politische Selbstbestimmungsrecht von migrantischen Subjekten. Stattdessen herrscht ein Blick vor, der sie somit als gefügige Verwaltungs- und Zugriffsobjekte nationalstaatlicher Agenturen unterordnet. Denn was ist in der vorherrschenden Diskussion mit dem scheinbar so einbeziehenden Integrationsbegriff tatsächlich gemeint? „In der politischen Diskussion wird er [der Begriff der Integration] meist als Assimilation verstanden, das heißt, als Aufgabe der eigenen kulturellen und sprachlichen Herkünfte und im Sinne einer totalen Anpassung an die deutsche Gesellschaft.“ (Meier-Braun 2002: 25f)
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P OSTKOLONIALE M IGRANT / INNEN UNTER G ENERALVERDACHT Die aktuelle Integrationskursverordnung zeigt in ihren grundsätzlichen Annahmen, dass migrantische und Schwarze Subjekte als defizitäre und deviante Objekte definiert werden. Dabei treten augenfällige Parallelen und Analogien zwischen der tradierten Praxis der deutschen Ausländerpolitik und kolonialen Kategorisierungen des Anderen auf. Sowohl das aktuelle Integrationskonzept als auch die historischen Strategien der Zivilisierung und Missionierung beruhen auf einer manichäischen Differenzkonstruktion (Fanon 1981: 31-34). Darin werden die Anderen erst durch die koloniale Erziehung wie ,Wir‘ und würden dadurch nicht mehr als mangelhafte Wesen mit unterentwickelten kulturellen Werten gelten. Die Imaginierung des Anderen als gänzlich anders, findet in der Herstellung des Dualismus zwischen innen und außen, Subjekt und Objekt, rational und irrational, gut und böse ihre grundlegendste Voraussetzung. Dazu werden die postkolonialen Anderen in einem ersten Schritt ungeachtet ihrer inneren Komplexität und Heterogenität entindividualisiert, vereinheitlicht und negativ konnotiert. Anschließend werden diese zugeschriebenen Kollektivmerkmale in einem Gegensatzverhältnis zu den in der BRD gültigen Normen und Werten ,des Westens ‘ fixiert. Auf diese Weise wird eine Fremdwahrnehmung reproduziert, die auch den Umgang der Übersee-Administration mit ihren kolonialisierten Untertanen im deutschen Kaiserreich prägte. Diese erscheinen nicht als Träger unveräußerlicher Individualrechte oder als politische Subjekte mit einem Recht auf Selbstbestimmung. Vielmehr setzt die Erziehung des Kolonialisierten seine Verkindlichung und Entmündigung voraus. In dem Maße, wie die dominante Macht ihn pädagogisch, politisch und kulturell sozialisiert, wird auch seine gesellschaftliche Existenz und Subjektwerdung autorisiert. Die Integrationskursverordnung geht davon aus, dass People of Color im Gegensatz zu den anscheinend aufgeklärten und zivilgesellschaftlich vollentwickelten Deutschen die Prinzipien der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Toleranz und Religionsfreiheit nicht oder nur unzureichend verinnerlicht hätten. Indem mit solchen kollektiven Negativeigenschaften operiert wird, werden vor allem Muslime allgemein autoritärer, sexistischer wie fundamentalistischer Grundhaltungen und Verhaltensweisen verdächtigt. Offensichtlich arbeitet diese Politik mit Fremd- und Feindbildern, wodurch tradierte rassistische und orientalistisch-islamophobe Stereotype staatliche Anerkennung finden. Auf diese Weise werden diese Menschen doppelt entwertet: Zum einen werden ihre kulturellen Kompetenzen negativ konnotiert; zum anderen werden der grassierende
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politische Extremismusvorwurf und der religiöse Fundamentalismusverdacht als Grundlage staatlichen Handelns legitimiert und verallgemeinert. Dieser Generalverdacht äußert sich auch in den Plänen für die , nachholende Integration‘ von alteingesessenen MigrantInnen, die in einem Vorentwurf noch als ,Bestandsausländer ‘ tituliert wurden (Prantl 2004: 8). Der Begriff des , Bestandsausländers‘ signalisiert eine kaufmännische Perspektive im Geschäft mit der Ware , menschliche Arbeitskraft ‘, wodurch die Betroffenen zu Objekten eines nationalen Inventars verwandelt werden. Sie sollen als abhängige Verfügungsmasse dem politischen Gestaltungswillen beliebig unterstehen. Statt die Priorität auf den Abbau von strukturellen Diskriminierungsdynamiken und die nachhaltige Herstellung von gleichen Rechten zu legen, fördert die politische Rahmensetzung der rigiden Integration rassistische Praktiken.
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Seit dem aufklärerischen Zeitalter der europäischen ,Entdeckungen‘ und Expansionen wird aus der manichäischen Differenzkonstruktion zwischen ,dem Westen‘ und ,seinem Anderen‘ ein Anspruch auf politische und kulturelle Überlegenheit abgeleitet. Historisch standen die gewalttätige Missionierung, Zivilisierung und (Unter-)Entwicklung des Anderen im Zentrum kolonial-pädagogischer Praktiken (vgl. Kelly/Altbach 1984 und Adick 1993). Auch im hiesigen Integrationsdiskurs wird erst durch die dominante Perspektive das Paradigma der Defizitkompensation und des ,Kulturkonflikts‘ erschaffen, das die demokratische und kulturelle Werterziehung des postkolonialen Anderen als vordringliches Ziel der politischen Agenda vorschreibt. Die diskursive und soziale Konstruktion fundamentaler Differenzen und Antagonismen im Verhältnis zwischen ,Deutschen‘ und ,Ausländern‘ birgt entscheidende Vorteile für die Dominanzgesellschaft. Mittels ihrer letztlich staatlich durchsetzbaren Definitionsmacht kann sie auf allen relevanten Ebenen ein Unterordnungsverhältnis zwischen deutscher Leitkultur und den als bedrohlich oder defizitär konstruierten migrantischen Kulturpraktiken etablieren. Die angenommenen Abweichungen muslimischer Provenienz werden oftmals kriminalisiert, fanatisiert und pathologisiert (vgl. Foroutan 2012). Erst so ist es möglich, migrantische Subjekte auch gegen ihren Willen der als notwendig erachteten administrativen Behandlung zuzuführen. Integration wird so zu einer gesellschaftlichen Unterwerfungs- und kulturellen Unterordnungstechnik. Obwohl die Mittel sich unterscheiden, werden Einwanderungswillige – strukturell vergleichbar – wie die Insassen von kolonialen Strafinstitutionen und
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Besserungsanstalten sowohl zum Schutze der deutschen Gesellschaft als auch im wohlverstandenen Eigeninteresse der Betroffenen überprüft, korrigiert und ausgesondert. Sie werden als infantile Schüler behandelt, die – abgesehen von streng definierten Ausnahmen etwa für Hochqualifizierte (§4 Abs. 2 IntV) – der westlichen Aufklärung sowie der deutschen Kultur- und Spracherziehung bedürfen. Entsprechend basiert eine Integrationspraxis, die als intern agierende ,Entwicklungshilfe‘ angelegt ist, auf einem linearen Konzept von Zivilisation und Kulturentwicklung. Dabei werden die nationalen Kulturwerte universalisiert und ,das Deutsche‘ an die Spitze einer nationalkulturell orientierten Entwicklungspyramide gesetzt. Wie in der kolonialen Pädagogik, die den indigenen Untertanen die Zivilisierung durch die ,harte, aber gute Hand des Kolonialherrn‘ aufdrückte, sollen vornehmlich postkoloniale People of Color durch Integrationszwang und Selbstverpflichtungen ,gefördert‘ werden.
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Orientalismus und demokratische Kritik Erkenntnisse und Grenzen postkolonialer Ansätze in der Debatte um antimuslimischen Rassismus F LORIS B ISKAMP
E INLEITUNG 1 Die Islamdebatten der letzten Jahre stellen herrschaftskritische Positionen in Wissenschaft und politischer Öffentlichkeit vor ein Dilemma – vor ein Dilemma, das immer wieder die Form handfester Auseinandersetzungen annimmt. So auch im Sommer 2014, als in Reaktion auf eine erneute Eskalation der Gewalt zwischen Israel und Hamas eine Welle antiisraelischer Demonstrationen (nicht nur) durch deutsche Städten schwappte. Der antisemitische Charakter vieler dieser Demonstrationen lag offen zutage. Parolen wie „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein!“ oder „Hamas, Hamas, Juden ins Gas!“ lassen nur wenig Interpretationsspielraum; hinzu kamen Angriffe auf Synagogen sowie auf als jüdisch identifizierte Einrichtungen oder Personen, die sich zur selben Zeit häuften. 2 Bemerkenswert ist dabei, dass der Antisemitismus von vielen Akteurinnen 3 explizit islamisch artikuliert wurde. 4 Paradigmatisch dafür waren das
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Im vorliegenden Beitrag reformuliere ich Kernthesen meiner Dissertation, der einige
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Eine Auflistung antisemitischer Vorfälle bietet die Amadeu Antonio Stiftung (2014).
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Der Einfachheit halber verwende ich das generische Femininum. Wenn es der Kontext
kürzere Passagen entnommen sind.
nicht anders impliziert, schließen weibliche Formen alle ein, unabhängig davon, ob sie sich als weiblich identifizieren. Männer sind immer mitgemeint. 4
Mein Verständnis von ‚islamisch‘ und ‚muslimisch‘ orientiert sich an Talal Asad (1986) und somit insbesondere an der Selbstzuschreibung der jeweiligen Akteurinnen
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abwechselnde Rufen von antisemitischen und islamisch-religiösen Parolen sowie die drohende Bezugnahme auf gegen Jüdinnen gerichtete Gewalt in der islamischen Frühzeit. 5 Dieser in überproportionalem Maße von jungen Musliminnen geäußerte und explizit islamisch artikulierte Antisemitismus führte wiederum zu Reaktionen, die selbst als antidemokratisch, antiegalitär und antiemanzipatorisch zu bezeichnen sind. Besonders prominent ist hier ein Kommentar von Nicolaus Fest in der Bild am Sonntag. Unter der Überschrift Islam als Integrationshindernis macht der damalige stellvertretende Chefredakteur des auflagenstarken Boulevardblattes den Islam insgesamt und ohne jede Differenzierung oder Einschränkung für Antisemitismus, patriarchalische Praktiken und Jugendkriminalität verantwortlich und hält fest: „der Islam stört mich immer mehr“ (Fest 2014). Am Ende seines Kommentars stehen Sätze, die kaum anders denn als Aufforderung zur staatlichen Diskriminierung gegen Musliminnen zu verstehen sind: „Ist Religion ein Integrationshindernis? Mein Eindruck: nicht immer. Aber beim Islam wohl ja. Das sollte man bei Asyl und Zuwanderung ausdrücklich berücksichtigen! Ich brauche keinen importierten Rassismus, und wofür der Islam sonst noch steht, brauche ich auch nicht“ (Fest 2014).
Dieser Kommentar war der prominenteste, aber nicht der einzige Fall, in dem eine vermeintliche Kritik an islamischem Antisemitismus in offene Ablehnung gegen Musliminnen umschlug. Auch diese Diskurse wurden durch offene Gewalt, insbesondere gegen Moscheen, begleitet (Ergin 2014). Auf den ersten Blick scheint der Fall relativ einfach: Sowohl der offene Antisemitismus auf den Demonstrationen als auch die offenen Diskriminierungsforderungen in der Bild am Sonntag sind aus einer demokratischen Perspektive klar als Probleme zu erkennen und zu kritisieren – dies gilt umso mehr für die gewalttätigen Formen. Und tatsächlich positionierten sich zahlreiche politische Größen der Bundespolitik recht eindeutig gegen den Antisemitismus, indem sie an einer vom Zentralrat der Juden organisierten Demonstration in Berlin teilnahmen. Auch die großen Islamverbände distanzierten sich vom offenen Antisemitismus auf den Straßen (Spiegel Online 2014). Nicolaus Fest auf der anderen Seite erhielt nach seinem Kommentar starken Gegenwind und verlor wenige sowie an ihrer Bezugnahme auf die diskursive Tradition des Islam (s. auch Biskamp 2015). 5
Diese Parolen und ihr gemeinsames Auftreten sind gut dokumentiert (s. z.B. Schmidt 2014; Amadeu Antonio Stiftung 2014).
O RIENTALISMUS UND
DEMOKRATISCHE
K RITIK
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Monate später seinen Posten, wenn auch offiziell auf eigenen Wunsch und nicht wegen des Textes (Der Tagesspiegel 2014). Die Positionierung gegenüber dieser doppelten Herausforderung ist jedoch nur scheinbar unproblematisch. Der Schein von Einfachheit löst sich auf, sobald man sich nicht mehr auf die klarsten Beispiele beschränkt: Denn ebenso wie der in Nicolaus Fests Kommentar offen zutage liegende antimuslimische Rassismus sich in weniger eindeutiger Form auch im gesellschaftlichen Mainstream und quer durch alle politischen Lager findet, existiert der bei den Demonstrationen militant auftretende islamisch artikulierte Antisemitismus in weniger offener Form auch im islamischen Mainstream. 6 Wie Julia Edthofer (2015) darlegt, wird der Umgang mit diesem Dilemma dadurch weiter erschwert, dass Rassismuskritik und Antisemitismuskritik sowohl vergangenheitspolitisch als auch theoretisch als auch in Bezug auf internationale Konflikte immer wieder gegensätzliche Positionen einnehmen, so dass der allgemein-gesellschaftliche Gegensatz innerhalb der sich als kritisch verstehenden Forschung noch einmal verdoppelt wird – entsprechend scharf fallen die wechselseitigen Polemiken aus. Analoges gilt für andere Reizthemen der öffentlichen Debatte, etwa religiös gerechtfertigte patriarchalische Geschlechter- oder Sexualnormen, die entsprechenden Praktiken sowie Islamismus, Salafismus und Djihadismus. Freilich handelt es sich bei Antisemitismus, Patriarchat, Homophobie usw. keinesfalls um rein islamische Phänomene, sondern um allgemeine gesellschaftliche Probleme. Jedoch können diese allgemeinen Probleme nur in ihren spezifischen Artikulationsformen kritisiert werden – seien sie säkular oder religiös, links oder rechts, nationalistisch oder antinational. Wenn islamische Artikulationsformen ein sozial relevantes Ausmaß haben, sind sie auch als solche zu thematisieren. Somit stehen in all diesen Fällen auf der einen Seite autoritäre Verhältnisse, Praktiken und Gesinnungen, die von den Akteurinnen selbst unter Bezugnahme auf die islamische Tradition begründet werden und die ein ernstzunehmendes gesellschaftliches Problem darstellen, auf der anderen Seite ein rassistisches Sprechen über diese Probleme. Das Dilemma lässt sich in der Frage zusammenfassen, wann ein öffentliches Sprechen über die genannten Phänomene als aus demokratischer Perspektive legitime Thematisierung eines gesellschaftlichen Problems in seiner spezifischen Artikulationsform und wann als Beitrag zur Marginalisierung einer sozialen Minderheit zu verstehen ist. 6
Die Distanzierungen einiger islamischer Organisationen wurden nicht für glaubwürdig oder entschieden genug gehalten (Voigts 2014). Für einen Überblick über die Forschung zu Antisemitismus unter Musliminnen s. Hößl (2013).
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In diesem Beitrag geht es darum, inwieweit postkoloniale Ansätze helfen können, einen angemessenen Umgang mit dem Dilemma zu finden. Dabei verwende ich den Begriff postkolonial nicht inhaltlich bestimmt, sondern als Eigenname einer bestimmten Theorie- und Forschungs-Tradition, die im Anschluss an Edward Saids Orientalism (2003 [1978]) die diskursive Repräsentation kultureller Anderer analysiert und kritisiert. Ansätze, die von dieser postkolonialen Kritik weitgehend unbeeinflusst sind, bezeichne ich dagegen als präpostkolonial. Meine Argumentation ist in vier Abschnitte gegliedert. In den ersten beiden skizziere ich je einen präpostkolonialen Ansatz zum Umgang mit der Debatte um Islam und antimuslimischen Rassismus: Jürgen Habermas’ Überlegungen über kulturelle und religiöse Differenz im demokratischen Verfassungsstaat sowie die Islamophobiedebatte in der Vorurteilsforschung. Nachdem ich die Stärken und Schwächen dieser beiden Ansätze herausgezeichnet habe, lege ich im dritten Abschnitt dar, inwieweit die postkolonial inspirierte Rassismuskritik geeignet ist, diese Probleme zu überwinden. Dabei komme ich zu dem Schluss, dass die Stärken und Schwächen dieses Ansatzes zu denen der ersten beiden komplementär sind. Abschließend skizziere ich, wie sich die Erkenntnisse der verschiedenen Ansätze kombinieren lassen.
P RÄPOSTKOLONIALE S TUDIEN I: J ÜRGEN H ABERMAS UND DIE AUSHANDLUNG KULTURELLER D IFFERENZ IM DEMOKRATISCHEN V ERFASSUNGSSTAAT Sucht man einen politisch-theoretischen Hintergrund, vor dem das Sprechen über Islam und Musliminnen reflektiert werden kann, sind die Kommunitarismus- und Multikulturalismusdebatten der 1980er und 1990er eine naheliegende Wahl, ging es dabei doch just um das Verhältnis von kultureller Identität bzw. Differenz und demokratischer Gesellschaft. Ich beschränke mich an dieser Stelle auf Jürgen Habermas’ diskursethischen bzw. deliberativ-demokratie-theoretischen Beitrag zur Debatte, weil dieser Ansatz in der deutschsprachigen Politikwissenschaft besonders einflussreich ist. An dieser Stelle ist es nicht möglich, detailliert nachzuzeichnen, wie Habermas (1999) sich zwischen Liberalismus und Kommunitarismus positioniert. Es genügt jedoch, die Implikationen zu benennen, die seine Überlegungen in Bezug auf das öffentliche Sprechen über Kultur und kulturelle Differenz haben. In erster Linie ist festzuhalten, dass es aus seiner deliberativ-demokratietheoretischen Perspektive ausgesprochen wünschenswert und geradezu notwen-
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dig erscheint, dass öffentlich über Kultur und kulturelle Differenz gestritten wird. In öffentlichen Aushandlungen diskutiert werden sollen Fragen der Gerechtigkeit, Fragen des guten Lebens und Fragen der Gelungenheit bestimmter Formen der Lebensführung – seien sie säkular oder religiös, majoritär oder minoritär, ‚autochthon‘ oder ‚migrantisch‘. Dieser öffentliche Streit soll dabei gleich mehrere positive Folgen haben: Erstens könne dadurch eine etwaige einseitige kulturelle Imprägnierung der politischen Ordnung, die eine kulturelle Gruppe anderen gegenüber privilegiert, sichtbar gemacht und überwunden werden, was Habermas zufolge eine Bedingung von Demokratie ist. Zweitens könne nur durch konkrete öffentliche Aushandlungen entschieden werden, ob umstrittene kulturell legitimierte Praktiken, die zur Lebensführung einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe zählen – sei es das Rauchen in Gaststätten, seien es körperliche Strafen in der Kindererziehung oder sei es die Beschneidung von Knaben – als Verstoß gegen Gerechtigkeitsnormen gelten müssen. Wenn dies der Fall sei, müssten sie gesetzlich verboten und durch staatlichen Zwang unterbunden werden; wenn sie in keinem klaren Konflikt mit Gerechtigkeitsnormen stehen, seien sie dagegen als Teil einer Lebensform zu tolerieren oder zu respektieren. Drittens schließlich ist mit den Aushandlungen um Kultur und kulturelle Differenz die Hoffnung verbunden, dass sich die verschiedenen kulturellen Traditionen durch die öffentliche Debatte selbst verändern, dass sie offener und die entsprechenden Lebensformen freier werden und sich die Lebenswelt damit in einem emphatischen Sinne rationalisiert (Habermas 1999: 11-64, 135-160, 172175, 252-271, 283-305, 312-333; 2012: 19-76). Mit der Wünschbarkeit des öffentlichen Streitens über Kultur und kulturelle Differenz ist die Wünschbarkeit kritischer Darstellungen auch von Minderheitskulturen und -religionen in der Öffentlichkeit notwendig impliziert – denn ohne solche Darstellungen sind die genannten Debatten nicht denkbar. Vor dem Hintergrund dieser Thesen könnte man die deutsche Öffentlichkeit für besonders demokratisch halten, weil sie so viel über den Islam bzw. über islamisch legitimierten Praktiken und Normen diskutiert. Dass die Lage so unproblematisch nicht ist, ist Habermas freilich bewusst, es spielt in seinen Texten aber keine relevante Rolle. In seinem 2012 veröffentlichten Aufsatzband Nachmetaphysisches Denken II, in dem er seine politisch-theoretischen Thesen über Religion und Demokratie aktualisiert, merkt er lediglich am Ende der Einleitung lakonisch an, dass er „die ausgeflippten Reaktionen auf Ausbrüche der religiösen Gewalt und auf die Schwierigkeiten, die unsere postkolonialen Einwanderungsgesellschaften damit haben, fremde Religionsgemeinschaften zu integrieren“ für „befremdlich[…]“ (Habermas 2012: 18) hält. Jedoch folgt diesem Ausdruck von
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Befremden auf den weiteren 300 Seiten des Buches keine Auseinandersetzung mit der Frage, was in den Aushandlungen falsch läuft – obwohl die „ausgeflippten“ Islamdebatten zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung schon seit mehr als einem Jahrzehnt toben. Damit setzt sich dieser Ansatz einem Ideologieverdacht aus: Indem er das öffentliche Sprechen über Minderheitenkulturen als wichtigen Teil des demokratischen Prozesses versteht, ohne die diesem Sprechen innewohnenden antidemokratischen Potenziale zu berücksichtigen, läuft er Gefahr, stigmatisierenden und marginalisierenden Debatten den Anschein demokratischer Legitimität zu verleihen.
P RÄPOSTKOLONIALE S TUDIEN II: D IE V ORURTEILSFORSCHUNG Sucht man nach sozialwissenschaftlichen Ansätzen, die diese von Habermas an den Rand seiner Auseinandersetzungen verbannten Probleme zum Gegenstand kritischer Analysen machen, ist die Vorurteilsforschung die nächstliegende Wahl. Hier wird zaghaft seit den 1990ern, vermehrt seit der Jahrtausendwende ein Gegenstand beforscht, den die entsprechenden Autorinnen zuerst als Islamphobie oder Islamophobie bezeichneten, später dann in Islamfeindlichkeit oder Islamfeindschaft umbenannten (s. z.B. Leibold/Kühnel 2003; 2008; Decker et al. 2012). Die Erforschung ablehnender Einstellungen gegen Islam und Musliminnen erntete von Anfang an ungewöhnlich harsche Kritik – sowohl in der politischen Öffentlichkeit als auch in der akademischen Debatte. Die geäußerten Kritikpunkte zielen zum Teil auf die Methodik (Asbrock/Wagner/Christ 2004; Kahlweiß/Salzborn 2013: 196-204), zum Teil auf die politischen Effekte der Islamophobie-Forschung. Hier ist letztere Kritik entscheidend. Eberhard Seidel (2003) sowie Luzie Kahlweiß und Samuel Salzborn (2013: 204-205) zufolge führt die Beforschung von Islamophobie als Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit dazu, dass notwendige Kritik am Islamismus und an anderen autoritären Strömungen innerhalb des Islam sowie Religionskritik im Allgemeinen als Vorurteile abqualifiziert und delegitimiert würden. Dies behindere demokratische Debatten und spiele letztlich Islamistinnen und konservativen Akteurinnen innerhalb des Islam in die Hände. Als Reaktion auf diese teils sehr polemisch vorgetragenen Vorwürfe erhielt die Forschung eine neue Dimension. Seit Mitte der 2000er richten zahlreiche
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Autorinnen das Augenmerk darauf, eine vorher nur angedeutete Linie zwischen einer – implizit oder explizit als demokratisch legitim gesetzten – Islamkritik einerseits sowie einer illegitimen, vorurteilsbasierten Islamophobie oder Islamfeindlichkeit andererseits zu ziehen und den Unterschied messbar zu machen (s. z.B. Leibold/Kühnel 2008; Decker et al. 2012). Jedoch zeigt sich in diesen Versuchen der Grenzziehung ein theoretisches Problem, das innerhalb des Vorurteils-Paradigmas und der Einstellungs-Forschung nicht zu überwinden ist. Der Vorurteilsbegriff bleibt notwendig einem bewusstseinsphilosophischen Denken verhaftet: Er geht davon aus, dass individuelle Subjekte unter den jeweiligen sozialen Bedingungen ein Bewusstsein von der Welt entwickeln, das den Maßstäben kritischen Denkens genügt oder eben nicht. Ein Bewusstsein, das den Gegenstand möglichst korrekt und differenziert erfasst und keine unbegründete Abwertung anderer Menschen vornimmt, gilt als kritisch und legitim; ein Bewusstsein, das diesen Kriterien nicht genügt, gilt als vorurteilsbeladen und gruppenbezogen-menschenfeindlich. Die dabei vorgelegten Kriterien erscheinen als Lackmustests, mit denen eindeutig entscheiden werden kann, ob bestimmte Aussagen oder Einstellungen der einen oder anderen Seite zuzuschlagen sind. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um Operationalisierungen für quantitative Studien handelt (Leibold/Kühnel 2008; Decker et al. 2012), aber auch bei programmatischen Texten (Deutsche Islam Konferenz 2011; Schneiders 2009). Dieser Fokus auf die Bewusstseins-Ebene erweist sich als beschränkt: Auch wenn die Annahme, dass von der Komplexität der Realität unbeeindruckte, ablehnende Pauschalurteile in ihrer Konsequenz problematischer sind als sachgemäße, differenzierte und offene Darstellungen, versteht es sich keineswegs von selbst, dass hier die Grenze zwischen einem rassistischen Sprechen und demokratischer Kritik verläuft. Im Gegenteil ist es, wie ich im Folgenden vor dem Hintergrund der postkolonial inspirierten Rassismuskritik erläutere, sehr gut möglich, dass auch ein differenziertes, nicht allgemein-ablehnendes Sprechen über den Islam zur Stigmatisierung und Marginalisierung von Musliminnen beiträgt, die dann die Form eines über die Anderen gut informierten, liberalen Rassismus annimmt. Dies kann man jedoch nur erkennen, wenn man das Problem nicht als eine Abgrenzung zwischen einem angemessenen und einem unangemessenen Bewusstsein von der Welt versteht, sondern das Sprechen über Islam und Musliminnen im sozialen Kontext, als soziale Handlung mit sozialen Konsequenzen betrachtet.
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INSPIRIERTE
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Der Ansatz, der am ehesten verspricht, diese Verkürzungen der Vorurteilsforschung zu überwinden, ist die postkolonial inspirierte Rassismuskritik. Relevant sind hier insbesondere die Texte von Iman Attia (2009), Ilka Eickhof (2010), Yasemin Shooman (2014), Fanny Müller-Uri (2014) und Inva Kuhn (2015). Es wäre nicht ganz richtig, die theoretische Genealogie dieser Kritik auf die postkoloniale ‚Trinität‘ Said-Bhabha-Spivak zu reduzieren – ebenso wichtig sind rassismustheoretische Werke von Stuart Hall, Robert Miles, Étienne Balibar, Mark Terkessidis, Birgit Rommelspacher und anderen. Gerade bei der Kritik von antimuslimischem Rassismus spielt der Rückgriff auf die genannten postkolonialen Theoretikerinnen aber eine entscheidende Rolle. Einsichten der postkolonial inspirierten Rassismuskritik Die genannten Autorinnen positionieren sich in expliziter Abgrenzung gegen die Vorurteilsforschung, der sie vorwerfen, das Problem zu psychologisieren oder zu individualisieren, anstatt es als ein gesellschaftliches Problem zu verstehen (Attia 2009: 7-9, 48-51, 95-96; Eickhof 2010: 13-22, 41-45; Müller-Uri 2014: 5761, 99-110; Kuhn 2015: 21-23). Damit geht auch eine terminologische Abgrenzung einher: Anstatt von Islamophobie oder Islamfeindlichkeit sprechen die rassismuskritische Autorinnen von antimuslimischem Rassismus. Damit wird das Problem nicht nur anders genannt, sondern auch grundsätzlich anders konzeptualisiert, wobei fünf postkoloniale Theoreme zentral sind. (1) Die entscheidende postkoloniale Referenz innerhalb der rassismuskritischen Literatur sind Edward Saids Thesen über den kolonialen Diskurs im Allgemeinen und den Orientalismus bzw. orientalistischen Diskurs im Besonderen. Saids (2003: 9-15, 25, 39-41, 79-88) Kernthese ist, dass die Darstellung ‚orientalischer‘ Länder, Kulturen und Menschen im kolonialen Diskurs ein entscheidender Bestandteil der Kolonialherrschaft gewesen sei, diese überhaupt erst ermöglicht habe. Nur durch die Darstellung der orientalischen Anderen als irrationale, zur Selbstbestimmung unfähige, der Zivilisierung bedürftige Wesen habe die westliche Kolonialherrschaft als legitim erscheinen können. Die rassismuskritische Literatur argumentiert analog: Im gegenwärtigen antimuslimischen Rassismus in Europa würden muslimische Andere als irrational und rückständig dargestellt, was wiederum ein Dominanzverhältnis begründe, in dem die nichtmuslimische ‚deutsche‘ Mehrheitsbevölkerung privilegiert, die muslimischen Anderen marginalisiert würden. Freilich ist dieses Dominanzverhältnis von anderer Beschaffenheit als die koloniale Herrschaft. In der Ras-
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sismuskritik geht es weniger um die politische Beherrschung anderer Gesellschaften 7 als um den ungleichen Zugang zu symbolischen und materiellen Ressourcen – zu Arbeitsplätzen, Wohnungen, sozialen Beziehungen usw. Dabei sehen die rassismuskritischen Autorinnen in diesen antimuslimischen Diskursen nicht nur eine Analogie zum von Said beobachteten orientalistischen Diskurs, sondern auch seine direkte historische Fortschreibung. Insgesamt betont die Rassismuskritik somit, dass Rassismus nicht einfach als Vorurteil, sondern als soziales Verhältnis zu verstehen ist (Attia 2009: 48-51, 92-94; Eickhof 2010: 25-45; Müller-Uri 2014: 61-79, 123-127; Shooman 2014: 24-27, 59-63, 73-76, 184-190; Kuhn 2015: 23-25, 37-44). (2) Auch wenn Said den Orientalismus wiederholt als herrschaftslegitimierende Ideologie beschreibt, betont er auch, dass er nicht darauf reduziert werden dürfe. Zugleich bedinge der Orientalismus die koloniale Herrschaft auf noch grundlegendere Weise, denn die Trennung in Okzident und Orient, in Herrscherinnen und Beherrschte sei kein prädiskursiv Gegebenes, habe keine „ontological stability“ (Said 2003: xii). Vielmehr werde die Grenze und würden damit die beiden Seiten erst durch den orientalistischen Diskurs konstruiert (Said 2003: xvii, 1-15, 61-73, 201-208). Analog hierzu betonen die rassismuskritischen Autorinnen, dass auch die Grenze muslimisch-nichtmuslimisch nicht fraglos gegeben sei, sondern erst durch den rassifizierenden Diskurs gezogen und mit Bedeutung aufgeladen werde. Diese These ist wiederum mit einer scharfen Kritik an der Vorurteilsforschung verbunden, der vorgeworfen wird, Islamophobie als eine problematische Reaktion auf eine reale Differenz zwischen westlicher und islamischer Kultur zu missdeuten. Die Rassismuskritik dagegen sieht bereits den Prozess, in dem die Unterscheidung muslimisch-nichtmuslimisch zu einer zentralen sozialen Differenz wird, als elementaren Bestandteil des antimuslimischen Rassismus – anstatt diesen Prozess zu problematisieren, trage die Vorurteilsforschung aktiv zu seiner Reproduktion bei. Die rassismuskritischen Autorinnen betonen, dass es erst seit relativ kurzem zu dem gekommen sei, was sie in Anlehnung an Nina Clara Tiesler (2006: 124) als „Islamisierung der Debatten“ bezeichnen. Zwar habe es auch zuvor Musliminnen und Nichtmusliminnen gegeben, jedoch sei diese Differenz in der gesellschaftlichen Debatte kaum relevant gewesen. Vielmehr seien die heute als Musliminnen adressierten Gruppen in der Vergangenheit zuerst als Gastarbeiterinnen und später als Ausländerinnen angesprochen worden. Diese Verschiebung führe zugleich zu einer Muslimisierung von Musliminnen, die 7
Zwar werden Bezüge zur internationalen Politik der Gegenwart immer wieder hergestellt (s. z.B. Kuhn 2015: 48-50, 74-75), diese sind hier jedoch nicht zentral.
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ständig auf ‚ihre muslimische Identität‘ zurückgeworfen würden (Attia 2009: 79, 48-51, 68-81, 92-94; Müller-Uri 2014: 13-33, 62-70, 107-123; Shooman 2014: 26-27, 54-73, 126-127; Eickhof 2010: 16-35, 43-45; Kuhn 2015: 25-28, 40-47). (3) Die Konstruktion eines okzidentalischen Selbst und orientalisierter Anderer hat Said zufolge nicht nur die Funktion, ein Herrschaftsverhältnis zu begründen und zu legitimieren. Darüber hinaus sei diese Konstruktion auch von zentraler Bedeutung für die Konstituierung und Stabilisierung des aufgeklärten westlichen Subjekts. Diesem gelinge es nur dadurch, sich selbst als normal, rational, dynamisch, fortschrittlich und männlich zu konstituieren, dass es die orientalischen Anderen als anders, irrational, statisch, zurückgeblieben und verweiblicht darstelle (Said 2003: 3, 40, 71-72, 332). Die Kritikerinnen des antimuslimischen Rassismus sehen in heutigen Islamdebatten ein ähnliches Muster am Wirken. Auch hier werde ein dezidiert als nichtmuslimisch verstandenes deutsches Selbst durch die Abgrenzung von einem Gegenbild der muslimischen Anderen konstituiert. Auch hier sehen die Autorinnen im gegenwärtigen Islamdiskurs nicht nur eine Analogie zum kolonialen Orientalismus, sondern auch eine Fortschreibung. Jedoch stelle sich gerade die geschlechterpolitische Dimension heute deutlich anders dar, als Said es in Bezug auf den kolonialen Diskurs darlegt. Vorherrschend sei gerade nicht das in Orientalism beschriebene Sujet verweiblichter Orientalen, gegenüber denen sich ein männliches westliches Selbst konstituiere. Vielmehr werde der Islam heute als besonders rückschrittlich, patriarchalisch und homophob dargestellt, um das eigene nichtmuslimisch-westlich-deutsche Selbst als besonders fortschrittlich erscheinen zu lassen (Attia 2009: 48-51, 90-94; Müller-Uri 2014: 108-124; Shooman 2014: 26-27, 35-53 59-63; Eickhof 2010: 47-58, 81-87; Kuhn 2015: 28-37). (4) Ein Gedanke, dessen postkoloniale Entsprechung sich weniger bei Said als bei Bhabha findet, ist die Thematisierung der alltäglichen Praktiken, mit denen der antimuslimische Rassismus immer wieder neu produziert, die Grenze muslimisch-nichtmuslimisch immer wieder neu gezogen wird. Bhabha (2004: 103-111) zeigt besonderes Interesse an der Nervosität, mit der Kolonisatorinnen die stereotypen Darstellungen der Kolonisierten immer und immer wieder aufs Neue wiederholten. Diesen Zwang zur ständigen Reiteration von Stereotypen führt Bhabha auf die Unsicherheit der KolonisatorInnen zurück, die geahnt hätten, dass die herrschaftslegitimierenden Diskurse zutiefst ambivalent und instabil waren und deshalb einer stetigen Neueinschreibung bedurften. Ähnliches thematisiert die Rassismuskritik heute unter dem Begriff Alltagsrassismus in Bezug auf antimuslimischen Rassismus. Auch die Muslimisierung
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von Musliminnen bedürfe einer stetigen Wiederholung, die sich in alltäglichen Praktiken der Ansprache und Zuschreibung ausdrücke (Eickhof 2010: 36-40, 4345, 65-66; Shooman 2014: 25-26, 67-70 184-190). (5) Von entscheidender Bedeutung ist schließlich ein Theorem aus Gayatri Spivaks (1988) klassischem Text Can the Subaltern Speak? Hier diskutiert Spivak die Diskurse um das von der britischen Kolonialmacht durchgesetzte Verbot der (Selbst-)Verbrennung von Witwen in Indien. Auch wenn sie wiederholt betont, dass die Witwenverbrennung ein Ausdruck patriarchalischer Strukturen und ein soziales Problem gewesen sei, deren Verbot man nur begrüßen könne, kritisiert sie das von der Kolonialmacht erlassene Gesetz und den es legitimierenden Diskurs doch als Teil einer ebenfalls abzulehnenden kolonialen Herrschaftsstrategie. Wirklich begrüßenswert könne das Verbot einer patriarchalischen Praxis nur sein, wenn es die betreffenden Frauen, als (potenziell) handlungsmächtige Personen anspreche und einbeziehe. Im britischen Diskurs seien die indischen Frauen aber nur als Objekte kolonialen Wohlwollens erschienen, was darauf schließen lasse, dass es nicht wirklich um sie, sondern um die Legitimation der Kolonialherrschaft gegangen sei (Spivak 1988: 294-307). Diesen paternalistischen Diskurs über die ‚Rettung‘ der Frauen der Anderen verdichtet Spivak zu dem Satz „White men saving brown women from brown men“ (Spivak 1988: 296). Diese Argumentation wird in der Literatur über antimuslimischen Rassismus immer wieder aufgegriffen. Insbesondere werden Debatten über patriarchalische Normen, Strukturen und Praktiken innerhalb des Islam und unter Musliminnen als Teil eines paternalistischen ‚Rettungsdiskurses‘ gelesen; in Bezug auf Diskussionen über islamische Homophobie oder islamischen Antisemitismus finden sich analoge Argumente. Letztlich gehe es in diesen gesellschaftlichen Debatten nicht wirklich um eine Kritik von Patriarchat, Homophobie und Antisemitismus. Vielmehr würden diese Phänomene im Islam problematisiert, um die Marginalisierung des Islam zu rechtfertigen und das nichtmuslimische Selbst von jedem Verdacht freizusprechen. Patriarchat, Homophobie und Antisemitismus würden durch ihre Verschiebung in eine Minderheit projektiv ‚entsorgt‘ (Attia 2009: 3536, 62-71, 80-94; Müller-Uri 2014: 110-123; Eickhof 2010: 52-54, 81-87; Shooman 2014: 76-79, 83-123; Kuhn 2015: 57-69). Durch diese fünf postkolonial inspirierten Theoreme gelingt es den rassismuskritischen Autorinnen, eine theoretisch weitaus besser fundierte Analyse des Phänomens vorzulegen, als es der eingeschränkte Blickwinkel der vorurteilstheoretischen Ansätze erlaubt. Damit verschiebt sich die Ebene, auf der die Frage von antimuslimischem Rassismus und demokratischer Kritik zu stellen ist: Es
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ist jetzt nicht mehr einfach zu fragen, ob ein bestimmtes Bewusstsein von oder bestimmte Aussagen über Islam und Musliminnen zu negativ, zu ablehnend, zu wenig differenziert oder zu verallgemeinernd sind; vielmehr ist zu fragen, ob bestimmte Sprechakte dazu geeignet sind, das gesellschaftliche Verhältnis antimuslimischer Rassismus zu reproduzieren. So betrachtet ist auch keineswegs mehr ohne weiteres klar, dass Aussagen, die ihren Gegenstand hinreichend genau und differenziert beschreiben, nicht rassistisch sein können. Vielmehr ist aus rassismuskritischer Sicht damit zu rechnen, dass auch differenzierte und in der Sache begründete Aussagen über den Islam zur Islamisierung der Debatten sowie zur Aufladung der Grenze muslimisch-nichtmuslimisch beitragen und somit Teil eines rassistischen Diskurses sein können. Zu den entscheidenden Kriterien für das Sprechen über den Islam werden nunmehr der diskursive und soziale Kontext sowie die zu erwartenden Effekte von Sprechakten. Grenzen und Aporien postkolonial inspirierter Rassismuskritik Die Stärke der postkolonial inspirierten Rassismuskritik besteht also darin, dass ihre Erweiterung des Blickwinkels eine besser fundierte Analyse des antimuslimischen Rassismus als soziales Verhältnis ermöglicht. Damit gehen aber auch Probleme einher. Das größte rührt daher, dass die rassismuskritischen Ansätze kaum darüber reflektieren, ob es Probleme innerhalb des Islam gibt, die Gegenstand öffentlicher Kritik werden sollten und zu denen sich auch die Rassismuskritik verhalten muss. Dies ist insofern überraschend, als damit eine zentrale Erkenntnis aus Spivaks Can the Subaltern Speak? ignoriert wird, obwohl dieser Text für Kritik des antimuslimischen Rassismus wie dargelegt eine wichtige Rolle spielt. Jedoch ist die Rezeption ausgesprochen einseitig. Es wird fast ausschließlich Spivaks Gedanke übernommen, dem zufolge das ostentativ dargestellte Engagement für die Rettung der Frauen der Anderen Teil einer Herrschaftsstrategie und eines marginalisierenden Diskurses sein kann, in dem die Frauen nur als Objekte des Wohlwollens, nicht aber als potenziell handlungsmächtige Akteurinnen auftauchen. Kaum eine Rolle spielt dagegen, dass Spivak wiederholt betont, dass die von den Kolonialherren verbotene Praxis der (Selbst-)Verbrennung von Witwen tatsächlich ein realer Bestandteil abschaffungswürdiger patriarchalischer Strukturen war. Nicht weniger scharf als den kolonialen ‚Rettungs‘-Diskurs kritisiert sie daher den antikolonialen Diskurs, in dem die indischen Frauen zu Heldinnen stilisiert worden seien, die freiwillig den Tod suchen. Auch hier würden die Frauen nur zu Objekten einer Aushandlung um Macht, so dass auch bei der Solidarität mit antikolonialer Kritik eine Komplizinnenschaft mit der Unterdrückung
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der Frauen drohe (Spivak 1988: 297, 299-306). Ein vergleichbarer Blick für die Gefahr einer potenziellen Komplizinnenschaft fehlt in der Diskussion um antimuslimischen Rassismus allzu oft. Tatsächlich lassen sich in den rassismuskritischen Texten regelrechte Mechanismen der Ausblendung oder gar Verdrängung finden, die eher wie das Wegschieben eines theoretischen und politischen Problems als wie eine plausibel begründeten Einschränkung des Blickwinkels wirken. Der Ausgangspunkt 8 dieser Ausblendung ist die oben beschriebene Einsicht, dass das Problem des antimuslimischen Rassismus seine Ursache nicht in einer realen Differenz zwischen Islam und Nicht-Islam oder in realen ‚islamischen‘ Problemen habe, sondern in gesellschaftlichen Machtverhältnissen und bei denjenigen, die sich rassistisch verhalten. Daraus folgern die Autorinnen, dass man über den Islam und das reale Verhalten von Musliminnen nicht sprechen müsse oder gar dürfe, wenn es um antimuslimischen Rassismus gehe (Attia 2009: 8, 16, 39, 77, 104-114, 147-156; Müller-Uri 2014: 129; Eickhof 2010: 10-11). Doch handelt es sich hier um einen Trugschluss. Auch wenn Probleme im Islam nicht die Ursache des antimuslimischen Rassismus sind, kann man letzteren nicht sinnvoll diskutieren, ohne auch auf erstere einzugehen. Denn nicht jedes öffentliche Sprechen über Islam und Musliminnen kann ohne weiteres auf die Aufrechterhaltung eines Herrschaftsverhältnisses oder die Konstruktion eines Gegenbildes reduziert werden. Die Frage, inwieweit bestimmte Formen des Sprechens dazu geeignet sind, antimuslimischen Rassismus zu reproduzieren, ist eine wichtige Perspektive. Wenn man das Sprechen über den Islam jedoch ausschließlich unter diesem Gesichtspunkt analysiert, bleibt die Analyse einseitig und verkürzt. Wenn es beispielsweise wie im Sommer 2014 zu einer massiven Welle von Antisemitismus kommt, in der islamisch artikulierte Formen eine wichtige Rolle spielen, ist es geradezu bizarr, das Sprechen darüber einzig daraufhin zu befragen, ob dabei ein islamisches Anderes als Gegenbild konstruiert wird. Es ist zugleich zu fragen, inwiefern dieses Sprechen andere, insbesondere islamisch artikulierte Gewalt- oder Herrschaftsverhältnisse problematisiert und destabilisiert. Es ist davon auszugehen, dass sich die öffentliche Debatte aus verschiedenen Quellen speist und verschiedene Effekte zeitigt. Unter den Quellen können heuristisch auf der einen Seite rassistische Bedürfnisse nach Dominanzlegitimation und Identitätsbildung durch Gegenbildkonstruktion sowie auf der anderen Seite emanzipatorische Bestrebungen zur Kritik sozialer Missstände unterschieden 8
Dies ist nur das erste Glied einer Kette von Verdrängungs- und Verschiebungsmechanismen, die hier nicht im Detail nachgezeichnet werden können.
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werden, unter den Effekten dementsprechend die Stabilisierung eines kulturrassistischen Dominanzverhältnisses sowie die Destabilisierung von islamisch artikulierten Dominanzverhältnissen. In welchem Ausmaß sich eine Debatte oder eine einzelne Darstellung aus diesen beiden und anderen Quellen speist, diese beiden oder andere Effekte zeitigt, kann nur im konkreten Fall entschieden werden. Ob aber in einer einzelnen Darstellung oder einer gesellschaftlichen Debatte, die dem Wortlaut nach Probleme im Islam zum Gegenstand hat, wirklich relevante, islamisch artikulierte gesellschaftliche Problemlagen effektiv thematisiert werden, lässt sich wohl nur entscheiden, wenn man sowohl nach dem Kontext und der Positionalität der Sprecherinnen fragt als auch danach, inwieweit reale Probleme im Islam angemessen und verhältnismäßig benannt werden. Letzteres wiederum ist ohne einen Blick auf die scheinbar oder real thematisierten Phänomene selbst kaum zu bewerten. Anders formuliert: Man kann über die potenziellen rassistischen und anderen Effekte der Sprechhandlungen nur dann Aussagen treffen, wenn man über eine Einschätzung der sozialen Verhältnisse verfügt, auf die die Sprechhandlungen stabilisierende oder destabilisierende Effekte haben könnten. Das Problem der Referenzialität von Sprache verschwindet nicht. Weil die Rassismuskritik diese Fragen wegschiebt, droht ihre kritische Praxis immer wieder in eine subsumptionslogische und reduktionistische Verdachtshermeneutik umzuschlagen: Der theoretischen Eigenlogik nach müsste die Rassismuskritik Sprechakte danach bewerten, ob sie im sozialen Effekt zur Reproduktion des antimuslimischen Rassismus als sozialem Herrschaftsverhältnis beitragen. Jedoch ist es kaum möglich, diese Effekte direkt zu beobachten, weshalb die Argumentation eine indirekte Form annimmt. Um dem Problem einer direkten Beobachtung der Effekte zu entgehen, führt Rassismuskritik drei Ebenen eng: erstens den zu erwartenden Effekt der Sprechakte (Reproduktion des antimuslimischen Rassismus), zweitens die vermutete Motivation beziehungsweise Ursache hinter den Sprechakten (Machtasymmetrie, Herrschaftslegitimation, Identitätskonstitution) und drittens den Inhalt der Aussagen (die Behauptung von Problemen im Islam). Um eine Engführung handelt es sich deshalb, weil vom Inhalt unmittelbar auf die Motivationen und Ursachen ‚dahinter‘ sowie dann weiter die zu erwartende Effekte geschlossen wird. Wenn dies geschieht, steht am Ende eine zugespitzte Verdachtshermeneutik, in der jede Darstellung, jede Äußerung und jede Debatte, die sich dem Wortsinn nach problematisierend auf Phänomene im Islam bezieht, als rassistisch motivierte Projektion gelesen wird, die zu einer Stigmatisierung und Marginalisierung von Musliminnen führe. Dies geschieht immer wieder, ohne dass evaluiert würde, ob die Darstellungen in
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der Sache haltbar, verzerrend, essenzialisierend, kulturalisierend oder einseitig sind. 9 Diese Form der antirassistischen Kritik ist subsumptionslogisch, weil sie die so identifizierten Sprechakte unterschiedslos dem rassistischen Diskurs beiordnet, sie ist reduktionistisch, weil sie Sprechakte darauf reduziert, Teil eines antimuslimisch-rassistischen Diskurses zu sein. Mögliche andere Effekte oder Dimensionen werden nicht diskutiert. Diese Einseitigkeit der Perspektive führt zunächst zu schwerwiegenden methodischen Problemen. Weil die subsumptionslogischen Urteile notwendig binär sind und ihre Gegenstände immer nur ganz oder gar nicht dem antimuslimischen Rassismus zuordnen können, wird es unmöglich, eine seriöse Einschätzung darüber vorzunehmen, in welchem Ausmaß der antimuslimische Rassismus bestimmte Aussagen, Darstellungen, Debatten oder die Öffentlichkeit prägt (Shooman 2014: 16). Wichtiger noch ist, dass diese kritische Praxis politisch riskant ist. Sie blendet aus, dass es viele verschiedene soziale Strukturen sowie (Herrschafts)Verhältnisse gibt und dass einzelne Sprechakte sich in aller Regel zugleich zu mehreren von ihnen verhalten. Weil der rassismuskritische Reduktionismus aber einzig darauf schaut, ob einzelne Sprechakte einen kulturrassistischen Diskurs reproduzieren, bleibt die Frage außen vor, ob und inwieweit dieselben Sprechakte geeignet sind, andere, insbesondere islamisch artikulierte Formen von Herrschaft, Autoritarismus, Marginalisierung und Exklusion zu destabilisieren. In dieser reduktionistischen Weise vorgetragen sind die antirassistischen Sprechakte selbst problematisch und können effektiv zur Immunisierung und Stabilisierung bestimmter sozialer Verhältnisse beitragen. So droht die Gefahr einer Komplizinnenschaft, vor der aus ganz unterschiedlichen Perspektiven sowohl die bereits zitierten Kahlweiß, Salzborn und Seidel als auch Spivak warnen. Unter den genannten Autorinnen zeigen einzig Eickhof (2010: 84-87) und Shooman (2014: 76-79, 122) Bewusstsein für dieses Problem. So verweist Eickhof in ihrer Diskussion von kulturrassistischen Diskursen über patriarchalische Geschlechter- und Sexualnormen im Islam explizit darauf, dass antirassistische Kritik Gefahr läuft, eine „[m]ögliche Unterwerfung unter religiöse und/oder 9
Diese Verdachtshermeneutik findet sich schon bei Said, etwa in seinen Kritiken an Marx (Said 2003: 154-156) und Schlegel (Said 2003: 77-79, 98-99, 227-228). Ein Beispiel in der gegenwärtigen Debatte ist etwa die Leichtigkeit, mit der Attia (2009: 157) Matthias Küntzels (2003) Buch über den Ideologie-Import des Antisemitismus in die arabische Welt dem rassistischen Diskurs subsumiert. Kuhn (2015: 66-69; 75) geht sogar so weit, die bloße problematisierende Bezugnahme auf den Antisemitismus des Regimes in Teheran als rassistische Zuschreibung zu delegitimieren.
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männlicher Autorität, häusliche Sittsamkeit oder starke Frömmigkeit“ auszublenden oder gar als „Befreiungselemente an sich im Widerstand gegen ‚westliche‘ Laster wie Konsumkultur oder Sexismus“ (Eickhof 2010: 85) umzudeuten. Jedoch verfolgt sie dieses Problem nicht weiter. Weder sie noch Shooman reflektieren ausführlich, wie sich die Kritik des antimuslimischen Rassismus – oder die Kritik von islamisch artikuliertem Patriarchat, Antisemitismus usw. – sinnvollerweise zu diesem Dilemma verhalten sollte.
F AZIT : M IT
DER POSTKOLONIALEN R ASSISMUSKRITIK ÜBER DIE POSTKOLONIALE R ASSISMUSKRITIK HINAUS
Es hat sich somit erwiesen, dass keiner der drei genannten Ansätze für sich allein genommen eine befriedigende Reflexion des Dilemmas im öffentlichen Sprechen über den Islam erlaubt. Zugleich deutet aber vieles darauf hin, dass die Stärken und Schwächen der Ansätze komplementär zueinander sind und sich wechselseitig ergänzen können: Während Habermas fast ausschließlich auf die wünschenswerten Effekte des Sprechens über Kultur eingeht und die Rassismuskritik fast ausschließlich das kulturrassistische Sprechen über Kultur thematisiert, arbeitet die Vorurteilsforschung zwar an der Grenzziehung zwischen Kritik und Rassismus, bleibt dabei aber theoretisch unterkomplex. Daher liegt es nahe, die Ansätze zusammenzudenken. Die fünf Schritte, in denen dies möglich ist, können hier nur angedeutet werden. Erstens braucht man einen Begriff von kulturellen Traditionen im Allgemeinen und von der islamischen Tradition im Besonderen, der weder essenzialistisch und statisch ist noch Kultur gänzlich verflüchtigt als eine bloße Summe spontaner individueller Performanzen versteht. Ein vielversprechender Ansatz hierfür ist Talal Asads (1986) Verständnis vom Islam als diskursiver Tradition, in der über die Jahrhunderte ausgehandelt wird, was islamisch ist. Dieser Begriff von Islam erlaubt es, Transformationen, Brüche und Binnendifferenzen zu sehen, ohne die Kohärenzen und Kontinuitäten, das Gewicht und die Eigengesetzlichkeit der Tradition aus dem Blick zu verlieren. Zweitens bedürfte es eines Verständnisses von gesellschaftlichen Aushandlungen kultureller Differenz in demokratischen Gesellschaften. Hier liegen die Stärken von Habermas’ Ansatz. Dieser erlaubt es, Aushandlungen kultureller Differenz jenseits essenzialistischer und bewusstseinsphilosophischer Abwege als ein gesellschaftliches Sprechen mit sozialen Konsequenzen zu verstehen, das notwendiger Bestandteil demokratischer Gesellschaften ist.
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Drittens ist es nötig, systematisch mitzudenken, was Habermas an den Rand drängt: die Möglichkeit, dass, und die Arten, auf die gesellschaftliche Aushandlungen in die Stigmatisierung und Marginalisierung einer Minderheit umschlagen können. Hier liegen wie gezeigt die Stärken der postkolonial inspirierten Rassismuskritik, anhand derer deutlich wird, dass das bei Habermas zumeist als harmlos verstandene Sprechen über Kultur auch zur Reproduktion eines kulturrassistischen Herrschaftsverhältnisses beitragen kann. Viertens müssen die beiden Ansätze theoretisch miteinander vermittelt werden, denn einer einfachen Addition von Habermas’ Rationalismus und der postkolonialen Vernunftkritik stehen erhebliche Widerstände im Weg. Dafür ist es nötig, ‚Frankfurt‘ zu provinzialisieren und eine postkoloniale Supplementierung von Habermas’ Theorie vorzunehmen. In Bezug auf antimuslimischen Rassismus bietet es sich an, die rassismuskritischen Theoreme in Habermas’ Konzept der systematisch verzerrten Kommunikation zu übersetzen, das in den letzten Jahren insbesondere David Strecker (2012: 242-304) weiter elaboriert hat: Dann ist es möglich, das soziale Verhältnis antimuslimischer Rassismus als eine systematische Verzerrung der öffentlichen Debatten zu lesen, was dem vermeintlich harmlosen Sprechen über die Kultur der Anderen den Anschein von Unschuld nimmt. Schließlich ist fünftens eine Operationalisierung vorzunehmen, die es ermöglicht darzulegen, in welchem Maße öffentliche Debatten kulturrassistisch verzerrt sind. Hier können die vorurteilstheoretischen Überlegungen zur Grenzziehung zwischen Islamfeindlichkeit und Islamkritik aufgenommen werden, wenn diese dabei auch von der Bewusstseinsebene auf die Kommunikationsebene transformiert werden müssen. Sie können nicht länger die Form eines Lackmustests annehmen, der einzelne Aussagen oder Sprechakte säuberlich als Vorurteil oder legitime Kritik kategorisiert. Vielmehr sind die Sprechakte unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes und der Sprecherinnenpositionen sowohl daraufhin zu befragen, ob sie die antimuslimische Verzerrung der Kommunikation reproduzieren oder destabilisieren, als auch daraufhin, wie sie sich zu anderen, insbesondere islamisch artikulierten Formen von Herrschaft und Gewalt – Antisemitismus, Patriarchat usw. – verhalten. Der eine Effekt schließt den anderen nicht aus, aber es sind doch Formen des Sprechens denkbar, die sich sowohl zum antimuslimischen Rassismus als auch zu islamisch artikulierten Herrschaftsformen kritisch und destabilisierend verhalten.
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Silencing the Present Eine Postkoloniale Kritik der Aufarbeitung des NSU-Komplexes B ILGIN A YATA „We imagine the lives under the mortar, but how do we recognize the end of a bottomless silence?“ MICHEL-ROLPH TROUILLOT (1995: 30)
Ganz objektiv können wir Folgendes feststellen. Kaum ein Land hat so breit und systematisch seine Vergangenheit aufgearbeitet wie die Bundesrepublik Deutschland. Mal widerwillig, mal spektakulär, verlief dieser Prozess selten linear, doch hat sich die Aufarbeitung der Vergangenheit – gemeint ist damit die NSVergangenheit – seit den 1970er Jahren zu einer Norm, ja sogar zu einem Imperativ entwickelt, dem viele Wissenschaftler mit wichtigen Untersuchungen zu den Naziverbrechen und insbesondere zum Holocaust nachgekommen sind. Auch in Film, Literatur, Kunst und Politik, in Medien, Schulen, Museen, Kirchen, Gewerkschaften, Geschichtswerkstätten, Sportvereinen und anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen wurde das Handeln der Institutionen und Akteure im Nationalsozialismus vielfach beleuchtet. Dabei gewann die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit immer mehr an Bedeutung; sie gilt nach wie vor als Ausdruck eines gesunden und erfolgreich rehabilitierten demokratischen Bewusstseins, ohne das die Re-Integration der Bundesrepublik in die Nachkriegswelt nicht möglich gewesen wäre. Nicht nur die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahre 1990, sondern auch der erste nachkriegsdeutsche Militäreinsatz im Kosovo (1999), der offiziell mit der Verantwortung gegenüber der eigenen Vergangenheit legitimiert wurde, stehen exemplarisch für diese gelungene Re-Integration. Vor 70 Jahren zerbombt, geächtet und ökonomisch ruiniert, genießt Deutschland heute weltweit nicht nur seine wiederge-
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wonnene wirtschaftliche, sondern auch eine neue politisch-moralische Überlegenheit als demokratischer Rechtsstaat mit starken Institutionen und einer aktiven Zivilgesellschaft. Während zu Zeiten der Wiedervereinigung auf internationaler Ebene noch Skepsis gegenüber einem Wiedererstarkens Deutschlands geäußert wurde (Olick 1998), ergeben Umfragen aus dem Ausland seit einigen Jahren für Deutschland ein positives, ja sympathisches Image. 1 In Anbetracht dieser Entwicklungen könnte man etwas überspitzt sagen, Deutschland ist Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung. Ein kleines Lächeln huscht beim Schreiben des letzten Satzes übers Gesicht des objektiven Politikwissenschaftlers – so viel Leidenschaft darf sein. Ansonsten gilt für den Satzbau Subjekt – Prädikat – Objekt und für die Wissenschaftlichkeit erkennbare Distanz zum Forschungsgegenstand, da sonst die Objektivität nicht gewährleistet ist. Besonders gefährdet wird die Objektivität durch die sogenannte Betroffenheitsperspektive; wenn diese in einer Fragestellung mitschwingt, dann betreibt man Betroffenheitssoziologie statt Politikwissenschaft. Oder anders formuliert, dann betreibt man Aktivismus. Beides zieht geradezu automatisch einen akademischen Platzverweis nach sich, da das Einnehmen einer Betroffenen- bzw. Opferperspektive im Widerspruch zur Wissenschaftlichkeit steht. Betroffenheit zeigt man auf Gedenkfeiern, in Gedenkstätten und bei Schweigeminuten, aber in der Wissenschaft hat Betroffenheit nichts zu suchen. Die objektiven Wissenschaftler haben Neutralität verinnerlicht, und können daher gestern wie heute mit Sachverstand, Distanz und Präzision Forschung über die ganze Welt betreiben. Ob empirische Rassenforschung an Schädeln der von deutschen Kolonialtruppen ermordeten Herero und Nama, oder Konfliktforschung in Subsahara Afrika – es ist der objektive Blick des Wissenschaftlers, der seine Qualität ausmacht. Daher erzeugen in ihm Ansätze wie postmoderne, poststrukturalistische, feministische Theorien, die positivistische Wissenschaft als (männlichen) Machtanspruch kritisieren, erst einmal grundsätzlich Ablehnung. Postkoloniale Theorien aber, die Kolonialismus und Wissensproduktion in den Mittelpunkt rückend eine europäische Wissensherrschaft kritisieren, sind besonders schwer in das Bestehende zu integrieren. In England und Frankreich, den Ländern mit einer „richtigen“ kolonialen Vergangenheit, mag das vielleicht hier und da angebracht sein, aber was bitteschön soll man denn z.B. mit einer postkolonialen Politikwissenschaft in Deutschland anfangen? 1
Sowohl in den jährlichen Nation Branding Index als auch globalen Umfragen schneidet Deutschland seit Jahren sehr positiv ab (http://www.bbc.com/news/world-europe22624104).
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D IE AUFARBEITUNG DEUTSCHER G ESCHICHTE UND G EGENWART AUS POSTKOLONIALER P ERSPEKTIVE Wie würde eine postkoloniale Politikwissenschaft das oben skizzierte Narrativ über die Bundesrepublik und dessen Aufarbeitung der Vergangenheit verändern? Was bedeutet eine postkoloniale Perspektive für die Lesart der Gegenwart? Vom Gründungsmythos des Neubeginns („Stunde Null“) bis zu den Eckpfeilern der Vergangenheitsaufarbeitung brechen die verfestigten Narrative Nachkriegsdeutschlands wie ein Kartenhaus zusammen, wenn der deutsche Kolonialismus und seine Folgen in die Analyse miteinbezogen werden. Trotz umfassender Debatten um deutsche Geschichte, Identität und Erinnerung besteht in Deutschland eine persistente Leugnung, Relativierung oder Minimierung der eigenen kolonialen Vergangenheit (Melber 2005). Zwar haben in den letzten zwei Jahrzehnten erinnerungspolitische Interventionen Schwarzer Intellektueller und AktivistInnen in Deutschland auf gesellschaftlicher Ebene wichtige Entwicklungen in Bewegung gesetzt, die auch zunehmend Widerhall in wissenschaftlichen Arbeiten finden, doch ist auf bundesweiter Ebene in Politik und Gesellschaft eine Anerkennung der kolonialen Vergangenheit weitgehend nicht vorhanden (El-Tayeb 2011; Arndt et al. 2009; Aikins 2008). Dieser widersprüchliche Umgang mit den Kolonialverbrechen im Vergleich mit dem der NS-Verbrechen 2 steht beispielhaft für eine europäische Kolonialgeschichte, in der Aufklärung und Ausbeutung, Menschenrechte und Menschenhandel, Vernunft und Verachtung, Recht und Rassismus, nationale Selbstbestimmung und koloniale Expansion ungestört gemeinsam existieren können, ohne als Widerspruch von seinen Akteuren und ProfiteurInnen wahrgenommen zu werden. Insofern ist die Koexistenz von Leugnung und Auseinandersetzung eine koloniale Kontinuität, die bis heute in den historischen und politischen Narrativen über ideologische, religiöse, ökonomische, ideologische Grenzen hinweg in der Gesellschaft fest verankert ist. Sonst würde dem Umstand, dass jemand wie Konrad Adenauer – Vizepräsident der Deutschen Kolonialgesellschaft und überzeugter Verfechter der Rückgewinnung ehemaliger deutscher Kolonien (Baer/Schröter 2001: 150ff) – als Leitfigur der deutschen Nachkriegsdemokratie und Vorreiter eines friedlich vereinten Europa verehrt wird oder dem Umstand, dass bis heute die Bundesregierung den von deutschen Kolonialtruppen verübten Ge-
2
In seinem Buch „Multidirectional Memory“ (2009) verbindet Michael Rothberg in eindrucksvoller Weise die Holocaust Studien mit Postkolonialer Theorie und kann aufzeigen, wie produktiv die Zusammenführung dieser zwei Forschungsfelder ist.
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nozid an den Herero und Nama in Namibia offiziell leugnet und dass in deutschen Schulbüchern wenig über den deutschen Kolonialismus und noch weniger über den kolonialen Genozid steht (Kerber 2005), sehr viel mehr Bedeutung beigemessen, als es heute in aller Regel der Fall ist. Der stabile nationale Konsens in Gesellschaft und Politik basiert auf einer prominent zur Schau gestellten Vergangenheitspolitik, in der gleichzeitig die Auseinandersetzung mit dem NaziRegime geführt und der deutsche Kolonialismus geleugnet werden kann. Genau an dieser Stelle wird die Bedeutung einer postkolonialen Analyse, die Kolonialismus und Rassismus in den Mittelpunkt setzt, deutlich: Sie kann diesen nationalen Konsens sichtbar machen und ihn somit destabilisieren. An der Figur Konrad Adenauers lässt sich dieser nationale Konsens beispielhaft illustrieren: Nach 1945 galt Adenauer als nicht vorbelastet, weil er sich der NSDAP verweigert hatte und von der Partei seines Amtes als Kölner Bürgermeister enthoben worden war. Die US-Besatzungsmacht setzte ihn dann nach dem 2. Weltkrieg wieder als Bürgermeister von Köln ein, bis er 1949 der erste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland wurde. Seine aktive Befürwortung des Rückerwerbs der ehemaligen Kolonien in den 30er Jahren spielte dabei keine negative Rolle, sondern machte ihn zu einem geeigneten Kooperationspartner Frankreichs, Italiens, Belgiens und der Niederlanden, um über eine europäische Integration die Machtansprüche auf ihre eigenen (ehemaligen) Kolonien gegenüber den USA geltend zu machen (Hansen/Jonsson 2014). Aus postkolonialer Perspektive beginnt daher die europäische Integration nicht 1957 in Rom, sondern am 15. November 1884 in Berlin mit der Eröffnung der Afrika-Konferenz. Aus postkolonialer Perspektive lassen sich weitaus mehr Kontinuitäten als Brüche in der deutschen Geschichte aufzeigen. So werden zwar die Verbrechen von Wissenschaftlern wie Josef Mengele, die in NS-Konzentrationslagern Menschen zu Forschungszwecken missbrauchten und ermordeten, als wirkungsvolle Mahnung in Geschichtsbüchern und Bildungsmaterialen verurteilt. Forscher wie Robert Koch und andere, die in den ehemaligen deutschen Kolonien die Bevölkerung für ihre Versuche missbrauchten, werden allerdings bis heute als wissenschaftliche Entdecker und Pioniere gewürdigt (Bauche 2006). Ein weiteres Beispiel ist die bis heute andauernde Ehrung von Kolonialverbrechern bei der Benennung von Straßen und öffentlichen Plätzen was schlichtweg undenkbar für die Verbrecher des Naziregimes ist (Aikins/Hoppe 2011). Die Liste der Beispiele für diese Ungleichbehandlung der Kolonialverbrechen könnte lange weitergeführt werden. Wie es bereits am Beispiel Adenauers deutlich sichtbar wird, stellt Kolonialismus in der öffentlichen Diskussion kein ernstzunehmendes Verbrechen dar, das einer umfassenden Aufarbeitung bedarf. Dies erklärt zum einen, weshalb
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in Deutschland trotz jahrzehntelanger Vergangenheitsbewältigung der real existierende Rassismus ein gesellschaftspolitisches Tabuthema bleibt, der nur in beschönigender Relativierung (z.B. „Xenophobie“, „Ausländerfeindlichkeit“, „Fremdenfeindlichkeit“) zur Sprache gebracht werden kann. Zum anderen zeigt sich in dieser zweischneidigen Vergangenheitspolitik, in der Aufklärung und Leugnung parallel existieren, ein Mechanismus der Rehabilitation staatlicher Verantwortung, der auch in der politischen Aufarbeitung der NSU-Affäre zu erkennen ist.
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DES
NSU
Bundesregierung und Bundestag riefen sofort nach Aufklärung, als sich im November 2011 eine Organisation mit dem Namen Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) zu einer der gewaltsamsten rassistischen Mord- und Anschlagsserien der deutschen Nachkriegszeit bekannte, die zwischen 2000 und 2006 neun kurdisch-, türkisch- und griechischstämmige Kleinunternehmern das Leben kostete. Nachdem die Medien über die Morde an diesen Menschen jahrelang ausschließlich aus der Sicht der Ermittlungsbehörden berichtet hatten, ohne deren alleinige Fokussierung auf „organisierte Kriminalität“ (früher: „Ausländerkriminalität“) in Frage zu stellen, löste die Nachricht öffentlich viel Überraschung und Unglauben aus. Noch im Februar 2011 hatte der Spiegel von türkischen Terrornetzwerken (Ergenekon) berichtet und gemutmaßt, dass hinter der Mordserie an Migranten der lange Arm des türkischen tiefen Staates stecke (Spiegel Online, 21.02.2011). Nach dem Bekenntnis des NSU zu den Morden jedoch mussten die Medien und die Politik letztendlich einräumen, dass die Täter keine ‚importierten‘ Gewalttäter, sondern einheimische Rassisten waren. Die täglich neuen Enthüllungen machten einen Skandal sichtbar, der immer weitere Kreise zog und eine immer komplexere, verworrenere und unübersichtlichere Gestalt annahm, je mehr in den Medien berichtet wurde. Wie konnte in Deutschland 13 Jahre lang eine Organisation unentdeckt aus dem Untergrund heraus so viele Verbrechen begehen? Warum wurden jahrelang allein die Familien und Menschen aus dem Umfeld der Ermordeten beschuldigt? Wieso konnte die Polizei die Mordserie nicht verhindern, obwohl der Verfassungsschutz so viele V-Männer in der rechten Szene hat? Wie passte die Ermordung der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn in die rassistische Mordserie? Und weshalb wurden gleich nach Bekanntwerden des NSU-Bekenntnisses einige Akten in den Sicherheitsbehörden vernichtet (SZ, 3.8.2015)? Allzu unglaublich, ja unfassbar war diese Geschichte.
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Nur zwei Wochen nach Bekanntwerden des NSU und der „Aufdeckung“ der Mordserie hielt das deutsche Parlament nach einer emphatischen Rede des Bundestagspräsidenten eine Schweigeminute für die Opfer ab. Im Januar 2012 beschloss der Bundestag einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzusetzen, der die vielen offenen Fragen klären sollte. Beim Staatsakt zum Gedenken an die Opfer im Februar 2012 bat die Kanzlerin bei den Angehörigen um Verzeihung und versprach ihnen „bedingungslose Aufklärung“. Mit der Aufdeckung der Mordserie wurde nun ein Aufklärungsprozess in Gang gesetzt, wie es ihn in diesem Ausmaß auf parlamentarischer Ebene noch nicht gegeben hat (Funke 2015). Seit 2012 wurden bisher zehn Untersuchungsausschüsse (zwei im Bundestag, acht in Landesparlamenten) eingesetzt, um über das „Terrornetzwerk NSU“ und die Rolle der Sicherheitsbehörden aufzuklären. Im Zuge der Arbeit dieser Ausschüsse wurde bekannt, dass in mehreren Verfassungsschutzbehörden relevante Akten vernichtet worden waren, was dazu führte, dass die LeiterInnen von vier Landesverfassungsschutzbehörden und der Präsident des Bundesverfassungsschutzes zurücktraten. Noch im November 2011 wurden zudem neue strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet, auf deren Grundlage die Bundesanwaltschaft ein Jahr später gegen fünf mutmaßliche Mitglieder und UnterstützerInnen des NSU Anklage erhob. Seit Mai 2013 findet der Gerichtsprozess in München statt. Im Folgenden wird dieser auf politischer, juristischer und medialer Ebene ablaufende Aufklärungsprozess aus postkolonialer Perspektive kritisch beleuchtet. In Anlehnung an das Buch Silencing the Past, in welchem der Anthropologe Michel-Rolph Trouillot die Produktion von Geschichte durch Prozesse des Verschweigens analysiert, bezeichne ich die Aufarbeitung des NSU als ein Silencing the Present. 3 Denn trotz der Detailflut an Informationen, Aufdeckungen und Skandalen, die bisher im Zusammenhang mit der Mordserie ans Tageslicht ge3
Das Material, das seit November 2011 zum NSU angesammelt worden ist, ist in seiner schieren Masse erdrückend: Die bisher veröffentlichten Berichte der Untersuchungsschüsse auf Landes- und Bundesebene umfassen zusammen mehrere tausend Seiten. Die Arbeit der Ausschüsse und der Münchner Gerichtsprozess, von dem einige Medien regelmäßig berichten, werden von verschiedenen Webseiten akribisch dokumentiert (z.B von NSU Watch). Angehörige der Ermordeten haben ihre Memoiren veröffentlicht. Investigative JournalistInnen haben über verschiedene Aspekte des NSU-Komplexes Bücher geschrieben. Und zunehmend, wenn auch noch in geringem Maße, wenden sich auch WissenschaftlerInnen dem Thema zu. Grundlage meiner Analyse sind vorrangig der NSU-Bundestagsausschuss, an dem ich selber von April 2012 bis Juli 2013 regelmäßig als Beobachterin teilgenommen habe, und die damit verbundenen politischen und öffentlichen Debatten um den NSU.
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langt sind, gibt es nur ein sich gebetsmühlenartig wiederholendes Narrativ. Dieses Narrativ fokussiert sich auf die drei mutmaßliche Täter und ihre Organisation, was den Staat und die Gesellschaft aus ihrer Verantwortung weitgehend entlässt. Auf die weiße Mehrheit der Bürger mag dieses Narrativ beruhigend wirken, insofern sie kritische Fragen zum demokratischen Rechtsstaat obsolet erscheinen lassen. Für die rassismuserfahrene, politisch und/oder gesellschaftlich ausgegrenzte Bevölkerung hingegen, die nicht nur dem alltäglichen und institutionellen Rassismus sondern auch der Doppelzüngigkeit liberaler Demokratien ausgesetzt ist, zeigt sich hingegen wieder einmal, dass ihre Einsichten, ihre Erfahrungen und Perspektiven keinen nachhaltigen Eingang in die politische Auseinandersetzung erhalten – auch nach der Aufdeckung der rassistischen Mordserie.
P OSTKOLONIALE ANALYSE VON M ACHT UND G ESCHICHTE : T ROUILLOTS S ILENCING THE P AST In dem Buch Silencing the Past. Power and the Production of History (1995) zeigt Michel-Rolph Trouillot auf, wie die Haitianische Revolution (1791-1804) – der erste erfolgreiche Sklavenaufstand der Welt – von der europäischen und internationalen Geschichtsschreibung konsequent verschwiegen und damit übergangen wurde. So wird das 18. Jahrhundert oft als das Zeitalter der Revolutionen beschrieben, doch die Haitianische Revolution wird selbst von kritischen HistorikerInnen wie z.B. Eric Hobsbaum kaum erwähnt (Trouillot 1995: 99), und das obwohl sie in vielfacher Hinsicht ihrer Zeit voraus war: Sie richtete sich gegen Kolonialismus, Rassismus und Sklaverei zu einem Zeitpunkt, in der Sklaven oder allgemein Schwarzen Menschen jegliche politische Handlungsfähigkeit abgesprochen wurde. Trouillot stellt die Frage, wie solch eine außerordentliche Episode in der Weltgeschichte – in der die einheimische Bevölkerung sich nicht nur aus ihrer Versklavung befreite, sondern zudem die französischen Kolonialherren aus Santo Domingo vertrieb und die unabhängige Republik Haiti ausrief – einfach aus der Geschichte ausradiert oder im besten Falle bagatellisiert wurde. Die Antwort, die er hierzu in seinem Buch liefert, ist von tragender Bedeutung auch für Analysen der Gegenwart. Er argumentiert, dass diese Revolution eine „undenkbare Geschichte“ ist. Sie ist undenkbar, weil die Vorstellung, dass rechtlose Sklaven weiße Kolonialherren bekämpfen und besiegen, jenseits der epistemologischen Vorstellungskraft der europäisch-westlichen Geschichtsschreibung lag. Sie war nicht nur für die Zeitgenossen undenkbar, sondern ist es ebenso für die moderne Geschichtsschreibung, die von einem Menschenbild geprägt
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ist, das seit der Renaissance die ontologische Struktur des Westens darstellt. Diese ontologische Struktur sieht unterschiedliche Grade von Menschen, z.B. den der „citoyens“, denen Bürgerrechte zuteil werden können und für die die Leitsätze der Französischen Revolution wie Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit gelten, und den derer, die nur „Menschen“ sind und deren Bestreben nach Selbstbestimmung in Haiti zeitgleich von den französischen Kolonialtruppen (erfolglos) bekämpft wurden. Mit „undenkbar“ meint also Trouillot, dass der eurozentrische und rassistische Blick so fest verankert ist, dass selbst wenn alle Fakten und Hinweise für einen Sklavenaufstand sprachen, die europäischen Zeitgenossen partout keinen erkennen wollten. Der Aufstand begann 1791 und mündete 1804 in der Unabhängigkeit Haitis. In diesen 13 Jahren gibt es Berichte der Plantagenbesitzer, Debatten in der Französischen Versammlung und Chroniken der Zeitgenossen, die allesamt die Möglichkeit eines Sklavenaufstandes oder sogar einer Revolution ausschließen, oder erst gar nicht in Betracht ziehen, weil – so die Erklärung von Trouillot – diese Möglichkeit außerhalb der ontologischen Ordnung des westlichen Menschenbildes der Renaissance lag. Die HistorikerInnen, die später über die Revolution schreiben, bewegen sich auch nicht außerhalb dieser Ordnung, wie Trouillot feststellt: „Wann immer die Wirklichkeit sich nicht mit tief verankerten Überzeugungen deckt, neigen die Menschen dazu, die Wirklichkeit durch ihre Deutungen in den Rahmen ihrer Überzeugung zu zwingen. Sie denken sich Formulierungen aus, die das Undenkbare unterdrücken“ (72, alle Zitate: Übers.d.A.).
Die Haitianische Revolution war undenkbar, weil sie mit dem Fundament der westlichen Ordnung, die sich auf Kolonialismus, Rassismus und Sklaverei stützte, nicht vereinbar war. Später wurden der Kolonialismus und die Sklaverei zwar abgeschafft, aber die moderne Geschichtsschreibung erhielt eurozentrische und westliche Narrative durch sich wiederholende Akte des silencing, des Verschweigens, über Jahrhunderte am Leben. Trouillot interessiert sich für diese vielschichtigen Prozesse des Verschweigens, die den hegemonialen Machterhalt der Narrative der westlichen Ordnung ermöglichen. Mit Verschweigen meint er einen „aktiven und transitiven Prozess“, es sind also immer Handlungen, es betätigt sich jemand in den Praktiken des Verschweigens.
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M OMENTE DES V ERSCHWEIGENS : D AS E RZEUGEN Q UELLEN , ARCHIVEN UND N ARRATIVEN
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VON
Um die Geschichtsproduktion zu rekonstruieren und eine neue Lesart des Geschehenen zu ermöglichen, entwickelt Trouillot einen Analyserahmen basierend auf vier Kernmomenten, um die Akte des Verschweigens sichtbar zu machen. Dies sind 1. 2. 3. 4.
der Moment der Faktenerzeugung, in dem die Quellen hergestellt werden, der Moment der Faktenzusammentragung, in dem Archive hergestellt werden, der Moment der Faktenabrufung, in dem die Narrative konstruiert werden und der Moment der retrospektiven Signifikanz, in der Geschichte in letzter Instanz produziert wird (26).
Während diese Auflistung nahelegt, dass die Produktion von geschichtlichen Narrativen in einem linearen Prozess erfolgt, müssen die vier Momente jedoch keineswegs chronologisch aufeinander folgen. Vielmehr sind diese vier Momente für Trouillot heuristische Mittel, die es ermöglichen, Prozesse des Verschweigens und der Manipulation nachzuverfolgen. In der Wirklichkeit sind diese Momente oft miteinander verwoben und stehen in Wechselwirkung. Dass Geschichtsschreibung ausgrenzt, verschweigt, unterdrückt und manipuliert, ist keine Einsicht, die erst von postkolonialen TheoretikerInnen gewonnen wurde. So bezieht sich Trouillot sich auch immer wieder auf z.B. auf Foucault. Im Gegensatz zu ihm aber betont Trouillot die hegemoniale Macht westlicher Narrative mit einem eurozentristischen Weltbild, und er zeigt auf, wie auch nach dem Ende des Kolonialismus diese Narrative durch Akte des Verschweigens aufrecht erhalten werden. Daraus ergibt sich für ihn die Notwendigkeit, die Mechanismen des Verschweigens herauszuarbeiten, damit überhaupt erst erkennbar wird, was verschwiegen wird. Nur so kann das Ausradierte, das Begrabene, das ZumVerschwinden-Gebrachte wieder ans Tageslicht gelangen. Für Trouillot sind es dabei nicht die Ereignisse selbst, sondern die Prozesse der Erstellung und Generierung von Fakten, von Quellen und Archiven, die durch Narrativbildungen diese hegemoniale Macht reproduzieren.
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S ILENCING THE P RESENT – E INE ANALYSE DES NSU K OMPLEXES
NACH
T ROUILLOT
Trouillots Studie widmet sich dem Verschweigen der Vergangenheit, aber sein Analyserahmen zur Rekonstruktion der Mechanismen des Verschweigens eignet sich ebenso für eine Analyse der Gegenwart, da es auch in ihr um die Bildung von Narrativen geht. Für Trouillot ist die kategorische Unterscheidung von Vergangenheit und Gegenwart ohnehin fragwürdig, denn oft verdeckt die Darstellung einer Vergangenheit als abgeschlossene Geschichte ihr Fortwirken in die Gegenwart (15). Genau dies ist auch der Fall bei der Aufarbeitung des NSU, die bisher auf der Prämisse aufbaut, dass der NSU der Vergangenheit angehört. Daher beginnt dessen Geschichte mit dem als Ende suggerierten Datum, nämlich dem 4. November 2011. Die offizielle Darstellung, die in den Medien meist kritiklos übernommen wird, beruft sich auf folgendes Leitnarrativ: Der NSU ist ein terroristisches Netzwerk, das aus drei Kernmitgliedern bestand, die 1998 in den Untergrund abtauchten. Er ist verantwortlich für zehn Morde, zwei Bombenattentate und eine Reihe Banküberfälle. Der letzte Mord fand im Jahr 2007 statt, danach war der NSU lange nicht aktiv, doch am 4. November 2011 verübten die zwei mutmaßlichen Haupttäter einen Bankraub, der ihnen zum Verhängnis wurde. Als die Polizei ihnen bei dem Bankraub auf die Spur kam, begingen die beiden Selbstmord. Das dritte Mitglied des „Trios“ setzte kurz daraufhin das Haus, in dem die drei zusammen gewohnt hatten, in Brand und stellte sich vier Tage später der Polizei. Da die beiden mutmaßlichen Haupttäter tot sind und ihre Mittäterin seither in Untersuchungshaft ist, gehört gemäß dieser Darstellung der NSU der Vergangenheit an – einst gefährlich, aber nun überwunden. Zu diesem Leitnarrativ gehört auch die Begründung dafür, weshalb die Ermittlungsbehörden die Mordserie und den NSU in einem Zeitraum von über zehn Jahren nicht selbst aufgedeckt haben und stattdessen lediglich unter MigrantInnen nach den Tätern gesucht haben. Trotz mannigfacher Hinweise auf die dubiose Rolle des Verfassungsschutzes verweist die offizielle Begründung lediglich auf einen Mangel an Koordination und Informationsaustausch innerhalb der Sicherheitsbehörden. 4 Das offizielle Kernnarrativ fußt also damit auf den Annahmen a) der Abgeschlossenheit (der NSU existiert nicht mehr), b) des Selbstmords der mutmaßlichen Haupttäter und c) den zahlreichen Ermittlungspannen
4
Dementsprechend wurden die Kompetenzen des Verfassungsschutzes nicht eingedämmt, sondern weiter ausgebaut.
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und Koordinationsmängeln in den Behörden. Das ganz und gar Erstaunliche an der Aufarbeitung des NSU-Komplexes ist nun, dass zwar viele der im Laufe des „Aufklärungsprozesses“ gewonnenen Erkenntnisse und Hinweise diesem Narrativ widersprechen, dieses sich aber trotzdem auch nach vier Jahren Aufarbeitung stabil hält. Im Folgenden soll anhand Trouillots Analyserahmen und anhand kurzer Beispiele gezeigt werden, wie dieses Narrativ mittels silencing immer wieder neu erzeugt und konsolidiert wird. Dabei ermöglicht der Analyserahmen Trouillots, den Blick von dem Geschehenen (bzw. den Tathergängen, auf die sich die Aufklärung fokussiert) auf die ontologische Ordnung der Gesellschaft zu erweitern und damit einer Reduzierung des NSU-Komplexes auf rechtsextreme Gewalt entgegenzuwirken, die den gesellschaftlich fest verankerten Rassismus innerhalb und außerhalb der Behörden verschweigt. 1. Das Moment der Faktenerzeugung: Die Polizei erstellt die Quellen Eines der hartnäckigsten Narrative im Zusammenhang der NSU-Mordserie war deren langjährige Rahmung als ein Fall von „Ausländerkriminalität“ sowohl in der Ermittlungsarbeit als auch in der medialen Berichterstattung bis 2011. Immer wieder verlautbarte die Polizei bei den verschiedenen Morden „der Täter stammt aus den eigenen Reihen“. Vom mutmaßlich ersten Sprengstoffanschlag am 21. Dezember 2000 in Köln auf eine deutsch-iranische Familie bis zum 4. November 2011 wurde sowohl bei den Morden als auch bei den Bombenanschlägen durchweg ausgeschlossen, dass deutsche Rassisten hinter den Gewaltakten stecken könnten. Selbst bei dem Bombenattentat in der Kölner Keupstraße, einer überwiegend von MigrantInnen bewohnten Straße, bei dem eine Nagelbombe offenbar mit dem Ziel gezündet wurde, möglichst viele Menschen zu verletzten, wurde die Möglichkeit eines rassistischen und rechtsextremen Tatmotivs von Polizei, Staatsanwaltschaft und Innenministerium sofort ausgeschlossen. In allen Fällen wurden allein MigrantInnen als Täter vermutet: Schutzgelderpressung von politischen Organisationen aus der Türkei oder Drogenbanden, eifersüchtige Familienangehörige der Opfer, Streitigkeiten mit AnwohnerInnen und Bekannten – die Ermittler setzten ihrer interkulturellen Phantasie keine Grenzen, um die Konstruktion der Täter „aus den eigenen Reihen“ plausibel zu machen (Ayata 2015). 5 Nur das Nächstliegendste wurde nicht in Betracht gezogen – dass nämlich deut5
In ihrem Buch „Schmerzliche Heimat“ (2013), legt Semiya Şimşek, die Tochter des ersten Mordopfers Enver Şimşek eindrucksvoll dar mit welchen Mitteln die Polizei versuchte, ihren ermordeten Vater im Nachhinein als Kriminellen darzustellen und welche traumatischen Folgen es für ihre Familie hatte.
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sche Rassisten die Taten begangen haben könnten. Naheliegend ist dieser Umstand nicht nur angesichts der seit Jahren dokumentierten hohen Zahl von gewaltsamen rassistischen Übergriffen in Deutschland und der Erstarkung der rechten Szene, sondern auch, weil es eine deutsche Geschichte rassistischer Gewalt gibt, die über verschiedenste Schauplätze und Akteure hinweg von Solingen bis Hoyerswerda, weiter bis nach Auschwitz und noch weiter bis zu den Konzentrationslagern in den ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika reicht. Zwar haben Organisationen von MigrantInnen und People of Color immer wieder kritisiert, dass rassistische Gewalttaten weder von der Polizei noch von Gerichten effektiv geahndet werden 6, doch nie zuvor wurde das Ausmaß des institutionellen Rassismus so deutlich, wie bei den über 10 Jahre in fünf verschiedenen Bundesländern durchgeführten Ermittlungen zur NSU-Mordserie. So wurde in den Landeskriminalämtern von Bayern bis Hamburg MigrantInnen immer nur als potenzielle Kriminelle gesehen, selbst wenn sie bereits ermordet worden waren. Dabei ist wichtig zu unterstreichen, dass dies kein statischer Zustand in den Behörden ist, sondern ein durch aktive Bemühungen der Beamten immer wieder aufrecht erhaltener Prozess. So haben die Sicherheitsbeamten gezielt Anstrengungen unternommen, die Quellen derart zu erstellen, dass das Narrativ „die Täter stammen aus den eigenen Reihen“ einen Sinn ergibt. Nicht nur wurden die Hinweise und Vermutungen der Angehörigen der Ermordeten, dass es sich bei den Tätern um deutsche Nazis handeln könnte, konsequent ignoriert oder bagatellisiert, sondern auch Hinweise von anderen Zeugen, die auf blonde, hochgewachsene Deutsche abzielten, beiseite gelegt oder manipuliert. Als illustratives Beispiel für einen Akt des Verschweigens im Moment der Faktenerzeugung kann eine Episode herangezogen werden, in welcher die erstmalig im Jahr 2006 aufgeworfene These das die Morde von einem „Türkenhasser“ begangen worden sein könnten, zum Schweigen gebracht wurde (ebd.). Auch wenn die Polizei durch jahrelange Verhöre und Ermittlungen keine Beweise für kriminelle Aktivitäten der Opfer finden konnte, scheute sie keine Mühe, um weitere Quellen zu erzeugen. Mal fuhren sie bis in die Dörfer der 6
Eine Übersicht über die verschiedenen Erfahrungen und Forderungen der Selbstorganisationen, die Menschen mit Rassismuserfahrung vertreten, liefert der Parallelbericht zum 19.-22. Staatenbericht Deutschlands an den UN-Antirassismusausschuss (CERD), online verfügbar unter http://rassismusbericht.de/hintergrundpapiere-2/. Das Hintergrundpapier von Katie Lang bietet eine konzise Zusammenfassung über die Defizite in der Verfolgung rassistischer Straftaten (http://rassismusbericht.de/wp-content/uploads/ Hintergrundpapier-Dr-Kati-Lang.pdf). Das von mir verfasste Hintergrundpapier zur NSU dient als Grundlage für den vorliegenden Abschnitt (Ayata 2015).
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Mordopfer in die Türkei, mal konsultierten sie WahrsagerInnen, die Kontakt mit den ermordeten Opfern aufnehmen sollten. Der leitende LKA-Beamte aus Hamburg sagte dazu in seiner Vernehmung vor dem Bundestagsausschuss, dass die Ermittler „nichts unversucht lassen wollten“ (PUA 2013: 593). Was diese Aussage aber wirklich bedeutet, ist, dass die Ermittler nichts unversucht ließen, ihren Generalverdacht gegenüber MigrantInnen bestätigt zu sehen, während sie Hinweise auf rechtsextreme oder rassistisch motivierte Täter konsequent missachteten oder abwerteten. Dies zeigt besonders der Umgang mit den operativen Fallanalysen (OFA), deren Ziel es war, ein Täterprofil und ein mögliches Tatmotiv zu erstellen. So stellte eine OFA des bayerischen LKA von 2006 (nachdem bereits der neunte Mord geschehen war) erstmalig die Hypothese auf, dass es sich um Einzeltäter mit einer „ablehnenden Haltung gegenüber Türken“ handeln könnte (ebd.: 560ff). Auch wurden erstmalig mögliche Bezüge des Täters zur rechtsextremen Szene in Erwägung gezogen. Diese Einzeltäterthese aber löste großen Widerstand innerhalb der Behörden aus, da nun zum ersten Mal die Annahme „organisierte Kriminalität“ in Frage gestellt wurde. Die Fallanalyse von Bayern wurde von einigen Landeskriminalämtern stark kritisiert, zum Beispiel vom Leiter des Hamburger LKA, der die OFA aus Bayern als nicht wissenschaftlich ablehnte, aber es sich nicht nehmen ließ, zwei Jahre später den oben bereits erwähnten Wahrsager zu konsultieren um weitere Hinweise für die Mordserie zu erhalten. Dieser „Metaphysiker“ (so die Bezeichnung in den Akten) wurde hierfür extra aus dem Iran eingeflogen (ebd.: 593). Die OFA des bayerischen LKA wurde auch vom Bundeskriminalamt stark in Zweifel gezogen, weshalb es noch am selben Tag, an dem sie vorgestellt wurde, eine weitere, ‚neutrale‘ Fallanalyse in Auftrag gab. Diese neue, „neutrale“ OFA wurde in Baden-Württemberg erstellt und ihre Ergebnisse wurden ein Jahr später präsentiert. Das Gutachten (erstellt von sieben Kriminalbeamten, davon zwei Psychologen) bewertete alle neun Morde erneut und bekräftigte die Grundannahme, dass die Täter Migranten sein müssen. So resümierte der von rassistischen Denkmustern durchzogene Bericht: „[…] vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist.“ (Ebd.: 878)
Das Gutachten zeugt von tief verankerten rassistischen Überzeugungen und zeichnet folgendes Täterprofil: „Aufgrund der Tatsache, dass man neun türkischsprachige Opfer hat, ist nicht auszuschließen, dass die Täter über die türkische Sprache den Bezug zu den Opfern hergestellt
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Es ist nicht allein die offen rassistische Logik, die diese Analyse bemerkenswert macht. Auch verdeutlicht diese Stelle in beispielhafter Form, was Trouillot mit dem Moment des Verschweigens in der Faktenerzeugung meint: Der Umstand, dass das siebte Opfer, Theodoros Boulgarides, nicht türkisch-, sondern griechischsprachig war, wurde einfach unter den Teppich gekehrt, um ein Argument über die türkische Sprache zu ermöglichen. Der Hingabe zum Detail bei der geographischen Verortung des Täters außerhalb des Westens steht eine eklatante Indifferenz den Opfern gegenüber: 7 In einem kriminologischen Gutachten, das Aufschluss über die Täter von neun Menschen geben soll, wird schlichtweg ein griechischstämmiges Opfer in ein türkischstämmiges verwandelt. 8 Dass das Gutachten kein isolierter Einzelfall ist, sondern solche rassistische Deutungsmuster in den Ermittlungsbehörden abgestützt sind und bei Infragestellung verteidigt werden, zeigt die Reaktion auf das Gutachten eines vom bayerischen LKA zu Rate gezogenen amerikanischen FBI-Profilers, in dem es hieß: „The offender is a disciplined, mature individual who is shooting the victims because they are of Turkish ethnic origin or appear to be Turkish. … The offender has a personal, deep rooted animosity towards people of Turkish origin.“
Der knappe Kommentar des zuständigen Abteilungsleiters im Bundeskriminalamt zu dieser Analyse lautete „wenig hilfreich!“ (ebd.: 578). Also wurde weiterhin an der These organisierter Kriminalität festgehalten. 7
Diese Hingabe zum Detail bei der Rassifizierung von Tätergruppen wurde zuletzt auch im Anschluss auf die sexualisierten Übergriffe in der Kölner Silvesternacht 2015 deutlich, als die Polizei und die Medien eine neue Tätergruppe der „arabisch oder nordafrikanisch aussehende“ Männer konstruierten (http://www.zeit.de/gesellschaft/ zeitgeschehen/2016-01/uebergriffe-koeln-frauen-silvester-henriette-reker). Die augenscheinliche Differenzierung in der geographisch-kulturellen Verortung der Täter überdeckt lediglich den rassistischen Akt, eine Tätergruppe basierend auf geographisch-kultureller Zugehörigkeit zu erstellen.
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An dieser Stelle sollte an den Begriff „Dönermorde“ erinnert werden, der ab 2006 in den Medien häufig verwendet wurde um die Mordserie zu bezeichnen. Im Jahr 2012 wurde es als Unwort des Jahres gewählt (http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/ doener-mord-wie-das-unwort-des-jahres-entstand-a-841734.html).
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Sei es bei den Fallanalysen oder den Aussagen von Opfern – wenn Äußerungen dem Generalverdacht gegen Migranten widersprachen, wurden vielfältigste Methoden eingesetzt, um die Mordserie im Kontext der organisierten Kriminalität zu verorten. Doch nicht immer war die Erzeugung von Fakten und Quellen erfolgreich. So richtete die „BAO Bosporus“ (Sondereinheit zur Ermittlung der Mordfälle) in Nürnberg und München im Jahr 2005 eigens zwei Dönerimbisse zu Ermittlungszwecken ein und betrieb sie über ein Jahr lang mit der Absicht, Schutzgelderpressungen zu provozieren und Erkenntnisse „in die ethnisch bedingten Geschäftspraktiken türkischer Gewerbetreibender“ zu erhalten (ebd.: 530). Das bedeutet konkret, dass die Polizei ein kriminelles Verhalten von MigrantInnen erzeugen wollte, um einen Bezug zur organisierten Kriminalität herzustellen. Besonders ironisch ist dabei der Umstand, dass der verdeckte Betreiber der Dönerbude in München zwar keine Bedrohung oder kriminelle Handlungen von MigrantInnen berichten konnte, sondern als besonderen Vorfall lediglich einem verbalen rassistischen Angriff einer „deutschen oder österreichischen Person“ meldete. Diese Person zeigte unter Beschimpfungen auf das Fahndungsposter der Mordserie, das die Polizei an der Dönerbude aufgehängt hatte und sagte laut Abschlussbericht zu ihm „wenn man Türken nicht so vertreiben könne, dann würden sie halt so heimgeschickt“ (ebd.: 531). Danach wurden die Dönerimbisse als nicht ergiebig geschlossen. Diese Beispiele zeigen auf, welche Anstrengungen unternommen wurden, um jene Quellen erzeugen, die den Deutungsmustern der Beamten entsprachen. Ein rassistisches Tatmotiv wurde systematisch ausgeschlossen, obwohl die Angehörigen der Mordopfer und die Opfer des Kölner Bombenanschlags gegenüber den Ermittlern eben diesen Verdacht äußerten (ebd.: 691). Selbst als 2006 nach der Ermordung von Halil Yozgat MigrantInnenvereine zwei Demonstrationen in Dortmund und Kassel mit dem Slogan „Kein zehntes Opfer!“ organisierten, an der mehr als 2.000 Protestierende überwiegend aus der migrantischen Community teilnahmen, und dort die Familien der Opfer sehr deutlich Rassismus als Tatmotiv benannten, ignorierten die Behörden und auch die Medien ihre Stimmen. Die Demonstrationen brachten sichtbar zum Ausdruck, dass sich MigrantInnen von dieser Mordserie bedroht fühlten, doch weder ihr Protest noch ihre akkurate Einschätzung fand Einzug in die Quellen. Vergleichbar mit dem historischen Beispiel von Trouillot, wie 13 Jahre lang im Verlauf der Haitianischen Revolution in Frankreich entgegen aller Hinweise partout die Möglichkeit eines Sklavenaufstands negiert wurde, weil es eine festgefahrene, rassistische Vorstellung der Versklavten und Kolonialisierten gab, so orientierten sich die Ermittlungsarbeit und die Medienberichte hartnäckig an dem Konstrukt „Ausländerkrimina-
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lität“ bzw. „organisierte Kriminalität“. Die wiederholte Verortung des Verbrechens in den „eigenen Reihen der Opfer“ und außerhalb des „hiesigen Normenund Wertesystems“ zeigt die Beständigkeit derjenigen westlichen ontologischen Ordnung, die Trouillot beschreibt. Diese Feststellung geht über die Frage, ob es Drahtzieher im Sicherheitsapparat gab oder gibt, die diese Manipulationen angeordnet und gesteuert haben, hinaus. Die Analyse der Faktenerzeugung bestärkt Trouillots Argument, dass „effective silencing does not require a conspiracy, not even a political consensus. Its roots are structural“ (Trouillot 1995: 106). 2. Das Moment der Faktenzusammentragung: Die NSU-Untersuchungsausschüsse erstellen die Archive Als zweites Moment des silencing in der Geschichtsproduktion nennt Trouillot die Erstellung von Archiven. Mit Archiven meint Trouillot diejenigen Institutionen, die Fakten und Quellen organisieren und sie für die historische Bearbeitung verfügbar bzw. lesbar machen (52). Dazu gehören Bibliotheken, Museen, aber auch weniger sichtbare Institutionen wie z.B. Tourismusführer, oder Kunstauktionen. Hinsichtlich der politischen Aufarbeitung des NSU-Komplexes stellen dabei die verschiedenen Untersuchungsausschüsse die zentralen Archive dar. Über einen Zeitraum von vier Jahren wurde und wird in zehn Untersuchungsausschüssen durch Zeugenbefragungen und Materialsichtungen (Akten, Protokolle, Berichte) ein umfangreiches Archiv zum Komplex NSU, einschließlich der ihm zugerechneten Straftaten, erstellt. Allein der Untersuchungsausschuss des Bundestages hat 10.000 Akten gesichtet und in einem Abschlussbericht einen Teil dieser Materialien öffentlich zugänglich gemacht. Die Tätigkeit der Ausschüsse eröffnete einen Einblick in die Arbeit der Sicherheitsorgane, insbesondere des Verfassungsschutzes und der Landeskriminalämter, den die interessierte Öffentlichkeit unter normalen Umständen nicht erhalten hätte. So bezog sich auch der vorhergehende Abschnitt überwiegend auf den Abschlussbericht des NSU Bundestagsausschusses und wäre ohne deren Arbeit nicht möglich gewesen. Doch war die Erstellung der Archive von Anfang an von verschiedenen Akten des silencing durchzogen. Trouillot zählt vier selektive Operationen auf, in denen Akte des Verschweigens bei der Erstellung der Archive stattfinden können: in der Auswahl der Materialien, der Prozeduren, der Themen und der Produzenten des Archivs (Trouillot: 53). Exemplarisch soll im Folgenden nur auf die Auswahl der Themen und der Materialien im NSU Bundestagsuntersuchungsausschuss eingegangen werden. Von Anbeginn war ihr Mandat so begrenzt, dass es genau dem offiziellen Narrativ entsprach (Abgeschlossenheit, Selbstmord, Ermittlungspannen), und so u.a. den angeblichen Selbstmord der beiden Haupttäter
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als Gegenstand der Untersuchung ausschloss. 9 Damit wurden deren Todesumstände von den Aufklärungsbemühungen ausgenommen, obwohl es von Anbeginn Zweifel an der Selbstmordthese gab (Förster 2014). Falls es aber kein Selbstmord war, würde das offizielle Narrativ zusammenbrechen: Entweder gibt es weitere Mitglieder des NSU, die unentdeckt sind und somit weitere Taten begehen können, oder es gibt Drahtzieher, die bisher unerkannt sind – womöglich auch in staatlichen Institutionen. Damit wäre der NSU-Komplex keine Angelegenheit der Vergangenheit, sondern eine der Gegenwart, die erfolgreich verschwiegen wird. Indem die Todesumstände der mutmaßlichen Haupttäter vom Aufklärungsprozess ausgeschlossen werden, verbleibt dieser in dem vom offiziellen Narrativ vorgegebenen Rahmen und trägt notwendigerweise zu dessen weiterer Konsolidierung bei. Das erklärt, weshalb in den Ausschüssen einerseits jene Massen von detailliertesten Informationen über die dem NSU zur Last gelegte Gewaltserie akkumuliert wurden, die daran zweifeln lassen, dass Mundlos und Böhnhardt tatsächlich für alle Morde verantwortlich sind (Förster 2013), gleichzeitig aber das Grundnarrativ unverändert bleibt: Der NSU in Gestalt des „Terror-Trios“ ist ein fait accompli. Gravierende Verschweigungshandlungen gab es auch bei der Selektion der Materialien. Nach dem 4. November 2011 wurden über 300 Akten in Sicherheitsbehörden vernichtet, und zwar auch noch nach dem am 8. November vom Bundesinnenministerium angeordneten Aktenvernichtungsstopp. Zwar mögen 300 Akten angesichts der 10.000 gesichteten Akten als nicht viel erscheinen, aber allein die gezielte Vernichtung einer einzigen Akte genügt, um wichtige 9
Der Bundestag verabschiedete am 26. Januar 2012 die Einrichtung eines Bundestagsausschusses mit dem Mandat 1) ein Gesamtbild über die NSU, 2) Fehler und Versäumnisse der Sicherheitsbehörden und 3) Schlussfolgerungen für zukünftige Ermittlungen und Kampf gegen Rechtsextremismus zu erstellen (NSU Bericht 2013). Mit dem Ende der Legislaturperiode im September 2013 beendete der Ausschuss seine Arbeit und legte seine Ergebnisse vor. Seit November 2015 gibt es nun einen neuen Untersuchungsausschuss im Bundestag, der sich den offen gebliebenen Fragen des NSU-Komplexes widmen soll, und dieses Mal die Todesumstände der beiden Haupttäter mit einschließen wird. Dieser zweite Bundestagsausschuss zur NSU ist nicht Teil der vorliegenden Analyse, jedoch sei kurz angemerkt, dass auch hier die Grenzen der Aufklärung frühzeitig gesetzt wurden. In seiner Ansprache im Ausschuss mahnte der Bundestagspräsidenten Norbert Lammert die Mitglieder, in Bezug auf den §353b StGBP sich an die Regeln der Geheimhaltung zu erinnern, um staatliche Interessen nicht zu gefährden (http://www.jenapolis.de/2015/11/25/nsu-ausschuss-mit-dem-namenterrorgruppe-nsu-ii-hat-sich-konstituiert/).
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Erkenntnisse, z.B. zur Rolle des Staates im NSU-Komplex, im Sinne des Trouillot’schen silencing zu tilgen. Besonders augenfällig ist dabei, dass die Mitglieder des Ausschusses, obwohl sie die Vernichtung und die Zurückhaltung von Akten in den Medien lautstark kritisierten, keine Konsequenzen für ihre finales Resüme zogen. So lautete das Fazit des Ausschusses, dass es keinerlei Hinweise auf eine gezielte Verdeckung der NSU seitens der staatlichen Behörden gegeben habe – als hätte es die Aktenvernichtung nicht gegeben (Zeit, 22.8.2013). Dabei wäre der mögliche Sinn und Zweck einer gezielten Aktenvernichtung, genau solche Hinweise zu verhindern. Auch dieses Beispiel zeigt, wie im Prozess der Faktenzusammentragung Momente des silencing wirksam werden, die eine Aufarbeitung ermöglichen, in der Aufklärung und Verklärung nebeneinanderstehen können, ohne dass das Archiv oder die Leitnarrative in Frage gestellt werden. 3. Das Moment der Faktenabrufung: Die Narrative werden gebildet Beim dritten Moment des silencing, dem der Faktenabrufung, unterstreicht Trouillot, dass Geschichtsproduktion Bedingungen impliziert, die bestimmte Gruppen von vorne herein aus dem Prozess der Narrativbildung und -rezeption ausschließen. So schreibt er für die Haitianische Revolution: „The writing and reading of Haitian historiography implies literacy and formal access to a Western – primarily French – language and culture, two prerequisites that already exclude the majority of Haitians from direct participation in its production.“ (Trouillot 1995: 55)
Für die Bildung der Narrative trifft dieser Ausschluss von der Quellenerzeugung bis zur Faktenabrufung zu. So fanden weder die Demonstrationen in Kassel oder Dortmund, noch die Zeugenaussagen der Angehörigen einen wirksamen Eingang in die Quellenerzeugung. Auch in der Bildung der Archive fanden die Angehörigen oder die Perspektiven von rassismuserfahrenen Gruppen kaum Eingang. In den bisher insgesamt 10 Untersuchungsausschüssen waren von 110 Obmännern und Obfrauen insgesamt 3 türkischstämmige und ein griechischstämmiger Abgeordnete vertreten. Das spiegelt die deutliche Unterrepräsentanz von MigrantInnen im Bundestag wider, deren Anteil gegenwärtig 5,6 Prozent beträgt, während der Anteil der Einwanderer in Deutschland etwa 19 Prozent ist (Softic 2015). Auch wurden im Bundestagsausschuss als Sachverständige keine Vertreter von migrantischen Gruppen eingeladen, sondern lediglich Barbara John als Ombudsfrau für die Familien der Angehörigen. Während bei der Erstellung der Archive die MigrantInnen außen vor gelassen wurden, wurde der Abschlussbericht später ins Türkische übersetzt und online auf der Webseite des Bundestags zur Verfügung gestellt. Dies ist aber keine Geste, die sich an die türkischspra-
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chige Community in Deutschland richtet, sondern offenbar eine Reaktion auf den Wunsch der türkischen Behörden (PUA 2013: 66), deren Forderungen und Erwartungen im Gegensatz zu denen der Angehörigen oder Migrationsverbänden in Deutschland im Abschlussbericht des Ausschusses recht breit Raum gegeben wird – als ob die Interessenvertretung der Ermordeten der türkische Staat sei. Die Mitglieder des Ausschusses hatten mehrfach Besprechungen mit türkischen Abgeordneten und Ministern über den Stand der Aufklärung. Dabei scheint die primäre Mission dieser Treffen gewesen zu sein, die türkischen Abgeordneten davon zu überzeugen, dass der Ausschuss keine Hinweise auf einen tiefen Staat, bzw. die absichtsvolle Deckung der Mordserie seitens deutscher Behörden gefunden hat (PUA: 61ff). Insoweit hat die Narrativbildung des Aufklärungsprozesses damit auch eine transnationale Komponente, in der die Ausschussmitglieder mit ihren Reisen in die Türkei den Versuch unternommen haben, die offiziellen Narrative des Behördenversagens in die Türkei zu exportieren und damit auch über Umwege Einfluss auf die türkischstämmmige Community in Deutschland auszuüben. Was in der nachfolgenden Narrativbildung durch die Mitglieder des Ausschusses immer wieder betont wird, dass keine Hinweise auf eine staatliche Manipulation der Ermittlungen gefunden wurden, drückt nicht nur die Grenzen der Aufklärungsarbeit aus, sondern demonstriert auch den Umstand, das auch nach der Aufdeckung des NSU die Stimme der Opferangehörigen immer noch nicht gehört wird. So wiederholt der Vater des Mordopfers Halil Yozgat, der in dem von seiner Familie betriebenen Internetcafés ermordet wurde, immer wieder öffentlich, dass er den Verfassungsschützer, der sich angeblich zufällig am Tatort befand, aber nichts gehört oder gesehen haben wollte, für verantwortlich oder mitverantwortlich hält (Spiegel 15.4.2014). Zuletzt bei der Befragung des Verfassungsschützers – der in seinem Heimatort den Spitznamen „Klein-Adolf“ trug – im Münchener Gerichtsprozess sprach der Vater Ismail Yozgat unmissverständlich aus, dass er den Aussagen des Verfassungsschützers nicht glaubt und fragte in den Gerichtssaal „Warum wollen wir die Wahrheit nicht sehen?“ (Zeit, 30.6. 2015) Seine Frage, ebenso wie die anderer Angehöriger 10 nach der staatlichen Verantwortung wird in der Narrativbildung entweder 10 Die Schwester des in Hamburg ermordeten Süleyman Tasköprü schrieb einen öffentlichen Brief an Bundespräsident Gauck, in dem sie erklärte, weshalb sie seine Einladung zu einem Empfang der Opferangehörigen ablehnte. Darin listet sie die Kernfragen die sich in vielen Aussagen der Opferangehörigen widerspiegeln: „Alles was ich noch möchte, sind Antworten. Wer sind die Leute hinter der NSU? Warum ausgerechnet mein Bruder? Was hatte der deutsche Staat damit zu tun? Wer hat die Akten vernichtet und warum?“ Dieser Brief wird in dem Sondervotum der Linken Partei im
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überhört oder als Verschwörungstheorie bagatellisiert. Wie die Ausschussmitglieder sogar bis in die Türkei kundgetan haben: Es ließen sich nun mal keine Hinweise für eine staatliche Verantwortung finden. Die Faktenabrufung, in der die Narrative gebildet werden, unterliegt denjenigen Akteuren, die auch die Fakten zusammengetragen haben. Ausblick: Retrospektive Signifikanz – Geschichtsproduktion in letzter Instanz Als vierter Moment der Geschichtsproduktion, in der Akte des Verschweigens aufgezeigt werden können, nennt Trouillot den Moment der „Retrospektiven Signifikanz“. Im Gegensatz zu den vorherigen Momenten bezieht sich der vierte Moment auf die Phase, in der es bereits viele Interpretationen, Narrative und Quellen gibt, also das Geschehen üblicherweise (aber nicht unbedingt) etwas länger zurückliegt. In diesem Moment treten Prozesse des Verschweigens weniger durch eine „absence of facts of interpretations as through conflicting appropriations“ auf (Trouillot 1995: 28). Für die Analyse der Aufarbeitung desr NSU erscheint dieser vierte Moment noch zeitlich verfrüht, insbesondere da der Gerichtsprozess, die Ermittlungen und Ausschüsse andauern. Als Ausblick jedoch kann erwartet werden, dass die Phase der Retrospektiven Signifikanz noch spannend wird. Nachdem die Öffentlichkeit mit vielen Detailinformationen aus den Ausschüssen, Ermittlungen und Gerichtsprozess so sehr überschwemmt und überfordert wurde, das kaum jemand einen Durchblick hatte, zeichnet sich eine neue Phase der Narrativproduktion ab, in der vermehrt Fernsehproduktionen, Filme, und Bücher versuchen, eine übergreifende Erzählung zum NSU anzubieten. Wenn auch mit Verzögerung, ist diese Erweiterung der Akteure in der Narrativproduktion für die weitere Analyse der Aufarbeitung interessant. Als kurzes Beispiel sei der Krimi von Wolfgang Schorlau „Die schützende Hand“ (2015) erwähnt, der gleich eine Woche nach seiner Veröffentlichung zum Bestseller wurde und bereits mehrmals neu aufgelegt wurde. Diese positive Rezeption des PUA Bericht ebenfalls ausführlich zitiert (PUA 2013: 985), allerdings ohne die zweite Frage, die sich an die progressiven Teile der Gesellschaft richtet: „ Und noch eins zum Schluss: die Menschen, die sich jetzt mit einem Bild von meinem Bruder zeigen, die behaupten uns zu kennen und in unserem Namen zu sprechen: wo wart ihr 2001? Meine Nichte ist nicht erst seit 2011 Halbwaise, mein Bruder ist nicht durch seine Ermordung zu einem anderen Menschen geworden. Für uns klingt das wie Hohn. Damals hat niemand um meinen Bruder getrauert. Heute ist er Euch auf einmal so wichtig“ (http://www.abendblatt.de/politik/article113679608/Der-Brief-der-Schwesterdes-Hamburger-NSU-Opfers.html).
NSU-K OMPLEX
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Buches ist insofern bemerkenswert, als dass dieser Krimi die offiziellen Narrative radikal hinterfragt: Ein Privatdetektiv erhält den Auftrag, die Mörder der beiden mutmaßlichen Haupttäter der NSU zu finden. Damit rückt das Buch den Blick genau auf das Thema, das im Aufklärungsprozess bisher verschwiegen wurde. Basierend auf den Dokumenten und Protokollen der Ausschüsse und Ermittlungen widerlegt der Autor in diesem Krimi die Selbstmordthese, in dem er Fiktion und Fakt gekonnt verbindet. Ohne vorgehaltene Hand wird hier von einer Deckung und Steuerung des NSU seitens der Geheimdienste gesprochen, was bisher in der Narrativbildung über den NSU-Komplex als Verschwörungstheorie bagatellisiert wurde. In einem Moment, in dem die Wahrheitsfindung angesichts des unbefriedigenden Aufklärungsprozesses zur Fiktion geworden ist, bietet der Krimi als Fiktion eine Annäherung an das „Undenkbare“.
L ITERATUR Aikins, Joshua Kwesi/Hoppe, Rosa (2011): „Straβennamen“, in: Arndt, Susan et al. (Hg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein Kritisches Nachschlagewerk, Münster: Unrast-Verlag, 521-537. Aikins, Joshua Kwesi (2008): Die alltägliche Gegenwart der kolonialen Vergangenheit – Entinnerung, Erinnerung und Verantwortung in der Kolonialmetropole Berlin, in Afrika: Europas verkannter Nachbar, Vol. 2: Frankfurt, Lang Verlag, 47-68. Arndt, Susan/Eggers, Maureen M./Kilomba, Grada/Piesche, Peggy (2009 [2005]): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weissseinsforschung in Deutschland, Münster: Unrast-Verlag. Ayata, Bilgin (2015): Zur rassistischen Mordserie des NSU und der Rolle des Staates. Hintergrundpapier zum Parallelbericht an den UN-Antirassismusausschuss zum 19.-22. Bericht der Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 9 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung, http://rassismusbericht.de/wp-content/uploads/ Dr.-Bilgin-Ayata_HintergrundberichtNSU.pdf (18.04.2016). Baer, Martin/Schröter, Olaf (2001): Eine Kopfjagd. Deutsche in Ostafrika: Spuren kolonialer Herrschaft, Frankfurt a. M.: Büchergilde Gutenberg. Bauche, Manuela (2006): Robert Koch, die Schlafkrankheit und Menschenexperimente im kolonialen Ostafrika, veröffentlicht in www.freiburg-postkolo nial.de
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Befrieden und Entwickeln: Internationale Politik
Von Wissenproduktion, Weltordnung und ,worldism‘ Postkoloniale Kritiken und dekoloniale Forschungsstrategien in den Internationalen Beziehungen F RANZISKA M ÜLLER „It would be […] ridiculous to construct a theory of international politics based on Malaysia and Costa Rica“ (WALTZ 1979: 72).
Die Ideengeschichte der Internationalen Beziehungen verzeichnet viele „turns“. Seit den „großen Debatten“ sind auch kritische Ansätze 1 Teil des Theoriekanons geworden, wie etwa Kritische IB-Theorie, Critical Security Studies, feministische Ansätze, poststrukturalistische Ansätze oder neogramscianische Internationale Politische Ökonomie (Schieder/Spindler 2015; Dunne/Kurki/Smith 2013; Sterling-Folker 2013), nicht jedoch postkoloniale Ansätze (als Ausnahme vgl. Dunne/Kurki/Smith 2013). Offenbar – so Anna Agathangelou und L.H.M. Ling – ist das „House of IR“ (2004) hierarchisch organisiert und nicht alle IB-Theorien finden gleichermaßen Raum: So führen im „House of IR“ Vater Realismus und Mutter Liberalismus den Haushalt, unterstützt durch die loyalen Töchter Neoliberalismus, liberaler Feminismus und Standpunktfeminismus, welche weitgehend den epistemologischen Vorstellungen ihrer Eltern Folge leisten und ihnen 1
Kritisch meint hier „im Sinne der Kritischen Theorie“, d.h. mit Bezug auf die Horkheimer’sche Epistemologiekritik und die Unterscheidung in „traditionelle und kritische Theorie“ (Horkheimer 1948). Im engeren Sinne ist insbesondere die postpositivistische Kritik in den IB gemeint.
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in Theoriebildung und empirischer Wissensproduktion ähneln. Auf dem Dachboden halten sich rebellischere Familienangehörige auf: Neogramscianismus, Poststrukturalismus und Konstruktivismus grenzen sich von ihren Eltern ab; Eurozentrismen sind aber auch ihnen inhärent. Im Keller schließlich verrichten die Area Studies emsige, aber wenig wertgeschätzte Fleißarbeit. Keinen Platz im Haus haben postkoloniale Ansätze. Das „House of IR“ ist freilich recht dynamisch und die Umbauarbeiten scheinen für die Postkolonialen Studien neue Räume zu öffnen. 2 Trotzdem ist im Vergleich zur Soziologie die postkoloniale Debatte für die Politikwissenschaft noch Neuland und damit gleichermaßen geprägt von wildwuchernden Diskussionen, methodologischen und empirischen Innovationen, aber auch noch vielen Forschungsdesideraten. Umso wichtiger erscheint es, zum einen zu erläutern, worin Stoßrichtungen und Potentiale postkolonialer Kritik an den Theorieparadigmen der Internationalen Beziehungen bestehen (1), aber auch, welche dekolonialen Forschungsstrategien sich daraus ableiten lassen (2). Für die Weiterentwicklung einer postkolonialen Forschungsagenda ist zudem der Blick auf Forschungsdesiderate in einigen Feldern der Internationalen Beziehungen wesentlich (3).
ANSATZPUNKTE
POSTKOLONIALER
K RITIK
Sowohl konventionelle als auch heterodoxe (dissidente, ‚kritische‘ oder ‚post-‘) Theorieparadigmen der Internationalen Beziehungen bieten Anknüpfungspunkte für eine postkoloniale Kritik. Genannt seien typische Grundorientierungen der Internationalen Beziehungen, wie der Bezug auf das westfälische Verständnis von Staatlichkeit, Territorium und Souveränität, oder Vorstellungen eines Normen-Universalismus im (v.a. frühen) Konstruktivismus, aber auch programmatische Vorhaben wie das einer „Global Governance“. (vgl. Bliesemann 2016 zu Mythen der IB). Genannt seien des Weiteren zunächst neutral erscheinende Analysekategorien der IB: „Akteursbegriff und Akteurshandeln“, „Staatsform“, „Grenze und Territorium“, „Souveränität“, „Innen- vs. Außenpolitik“, „Freiheitsbegriff“, „Sicherheitsbegriff“. Um einen systematischen Überblick über die von großer Dynamik geprägte Debatte zu leisten, soll zunächst zwischen unterschiedlichen Anknüpfungspunkten und Artikulationen postkolonialer Kritik unterschieden werden: 2
Einen Einblick bieten z.B. Jones (1998), Shilliam (2011), Tickner/Waever (2009), Tickner/Blaney (2013), Chowdhry/Nair (2003) sowie Seth (2013).
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• •
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Historisch-kritische bzw. eurozentrismuskritische Auseinandersetzung mit Normativität, Ideengeschichte und Strukturkategorien der IB (1.1), Kritik an Forschungsstrategien und empirischen Forschungspraxen (1.2).
IB als eurozentrisches Projekt? Das Feld der Internationalen Beziehungen hat sich seit den 1990er Jahren stark diversifiziert. Im Zuge der dritten und insbesondere vierten Debatte 3 haben neben verschiedenen konstruktivistischen Strömungen poststrukturalistische und feministische Ansätze an Bedeutung gewonnen. Mit der post-positivistischen Kritik an Erkenntnisanspruch, Gegenständen und Forschungsstrategien/Methodologie der IB wurde im Zuge des ‚reflexive turn‘ viel Liebgewonnenes in Frage gestellt, wie bspw. die Figur des ‚Experten‘ oder ein traditionelles Verständnis von ‚Sicherheit‘ als primär militärischer Sicherheit. Gleichwohl bleiben Geschichte und Strukturkategorien der IB von inhärenten Eurozentrismen durchsetzt: Ideengeschichtlich lässt sich fragen, in welcher Form die Theoriebildung der IB mit kolonialpolitischen Ansprüchen verquickt ist und welche eurozentrischen Setzungen in ihrer Kategorienbildung und Erkenntnistheorie fortwirken. So untersucht John Hobson in seiner Arbeit The Eurocentric Conception of World Politics (2012; i.f. 15-20) die Ideengeschichte der IB und arbeitet an sechs zentralen Denkfiguren heraus, wie entlang einzelner historischer Epochen internationaler Politik (beginnend mit Aufklärung und Imperialismus) Eurozentrismus und wissenschaftlicher Rassismus 4 als Strukturprinzipien in die Theoriebildung der IB eingeschrieben wurden und in die Proklamation des Westens und seiner Werte als universalem Referenzrahmen für Weltordnungspolitik münden: 5
3
Die dritte Debatte der IB bezeichnet die Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Theorieparadigmen seit den späten 1970er Jahren; namentlich zwischen Neoliberalismus und Neorealismus; sowie mit neomarxistischen und den aufkeimenden konstruktivistischen Ansätzen. Als vierte Debatte wird die v.a. in den 1990ern geführte epistemologische Auseinandersetzung zwischen rationalen (positivistischen) und reflexiven (post-positivistischen) Ansätzen verstanden.
4
Gemeint sind rassistische Projektionen, die sich – im Unterschied zu bspw. religiös begründeten Rassismus – auf ,wissenschaftliches Wissen‘ zu stützen glauben, etwa die Evolutionstheorie, oder die Vererbungslehre.
5
Das Weblog „The Disorder of Things“ widmet Hobsons Arbeit eine Reihe von Blogeinträgen: http://thedisorderofthings.com/2012/09/17/re-visioning-eurocentrism-a-sym posium/ (2.10.2015).
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(1) Die Annahme, dass die IB als Disziplin über einen höchst idealistischen Gründungsmythos verfüge und daher mit ausschließlich ehrenhaften Zielsetzungen ausgestattet sei, denn, so Hobson, „the discipline had been conceived on the blood-stained battle-fields of Europe, with the infant child of IR having been delivered in 1919 after a grueling 48-month gestation period […]with the noblest of moral purposes, for in order to overcome the traumatic experience of his birth he became determined to find ways of exorcizing the spectre of warfare from the world body-politic.“ (Hobson 2012: 15)
Der Bezug auf einen scheinbar eindeutigen Gründungsmythos und die damit erzeugte Bruchlinie gegenüber der Zeit vor 1914 verschleiert die unrühmliche Rolle, die IB-Theoretiker bspw. während des britischen Imperialismus und Kolonialismus gespielt haben. 6 Meta-Narrative, die eine Überlegenheit des Westens beschwören und in einer zivilisierenden Kolonisierung schwacher Nationen (der „kranke Mann am Bosporus“) normativ gehaltvolle Lösungen sahen, bleiben damit unsichtbar (Hobson 2012: 133f.). (2) Die Annahme, dass Theorien der IB einem wertneutralen, rationalen und objektiven – insgesamt also positivistischen – Erkenntnisinteresse folgten. Dem lässt sich entgegnen, dass gerade positivistische IB-Theorien einem normativen Bias anheimfallen, wenn sie spezifisch westliche Werte zu universalisieren anstreben und damit hinter eigene positivistische Prämissen zurückfallen. Die Entwicklung von Begründungsfiguren, Legitimationsnarrativen und militärischen Strategien für Formen demokratischer Kriegsführung gegenüber NichtDemokratien (asymmetrisch, normengeleitet und mit zivilisatorischer, demokratisierender bzw. humanitärer Absicht, z.T. im Sinne eines ‚Regime Change‘) kann dies illustrieren (vgl. Geis et al. 2010). (3) Die Annahme, dass sich die Theorielandschaft der IB entlang ‚großer Debatten‘, oder der intellektuellen Gründung von ‚Denkschulen‘ konstituiert habe und mithin Ausdruck einer hochdifferenzierten Diskussionskultur sei. Aus postkolonialer Sicht bedeutet dies eine Verengung auf nur wenige Gründungsmomente, wie z.B. die Schaffung des ersten Forschungsinstitutes in Aberystwyth 1919 und eine Debattenkultur, die andere Orte, Arenen, Thematiken und Intentionen des Sprechens über internationale Beziehungen ausblendet. Ähnlich fra6
Hobson nennt hier bspw. Norman Angell und dessen Engagement für den britischen Imperialismus und Kolonialismus, den dieser als friedfertig und wohlwollend betrachtet („England is doing a real and useful work for the world at large in policing India“ zit. nach Hobson 2012: 44).
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gen auch Barry Buzan und Amitav Acharya (2007): „Why is there no nonWestern international theory?“, und erinnern damit an die Zentriertheit von IBTheorien, die die Diversität und Historizität gerade von außereuropäischer Staatlichkeit übersehen und Rezeptionssperren gegenüber alternativen Konzeptionen einer Weltordnung, so etwa gegenüber einem sinozentrischen oder polyzentrischen Modell, zum Opfer fallen. (4) Die Annahme, dass das Kernthema der IB die Beziehungen zwischen souveränen Staaten innerhalb einer als anarchisch konzeptualisierten Staatenwelt seien. Dem ist entgegenzusetzen, dass das Verständnis von Souveränität häufig qualifiziert wird, indem unterschiedlichen Staatsformen unterschiedliche Grade an Souveränität zugestanden werden. Souveränität kann sich somit in einer epistemologischen Privilegierung bestimmter Staatsformen als universalem Vergleichsmaßstab niederschlagen und in der Errichtung von Dichotomien resultieren, bei der Formen postkolonialer Staatlichkeit bspw. aufgrund eines fluideren Verständnisses von ‚Grenze‘, ‚Staatsvolk‘, ‚Institutionen‘ oder ‚staatlicher Aufgaben‘ als defizitär, vulnerabel und fragil (Pourmokthari 2013) und somit als schutzbedürftig gelten (vgl. Chandler 2010 zur Figur des wohlmeinenden, postliberalen Statebuilding). (5) Die Annahme, dass Globalisierungs- und Internationalisierungsprozesse ein westliches Unterfangen seien. Vernachlässigt werden damit Prozesse einer Verbreitung von Wissen und Technologien, politische Kooperationen oder Entwürfe einer alternativen Weltwirtschaftsordnung durch Süd-Süd-Kooperation, die Aktivitäten der G77, chinesische oder brasilianische Technologietransfers im Energiesektor, Bildungspolitiken als Teil indischer und chinesischer Entwicklungszusammenarbeit oder Formen der Umwelt- und Klimadiplomatie aus Südperspektive (Prashad 2013; de la Fontaine 2013; Müller et al. 2014). (6) Die Annahme, dass klassische IB-Theorien ein Produkt lang zurückreichender geistesgeschichtlicher Traditionen seien, deren Kontinuitäten sich in den aktuellen Denkschulen der IB offenbarten (so etwa, wenn im Realismus/ Neorealismus eine Linie von Thukydides über Hobbes und Macchiavelli bis hin zu Carr, Morgenthau und schließlich Waltz oder Mearsheimer gezogen wird). Eine solche Form der Genealogie verschleiert die Brüche und polymorphen Denkfiguren zugunsten von Kontinuität, Letztgültigkeit und Selbst-Ähnlichkeit. Eine postkoloniale Kritik betont demgegenüber die Pluralität von Denktraditionen und betreibt Veruneindeutigung. Beim Bezug auf die antiken Elemente, die ein so klassisches Fundament für Theorietraditionen bilden sollen, könnten hier z.B. die (wenngleich selbst kontrovers diskutierten) Studien von Cheikh Anta
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Diop zum ägyptischen und sub-saharischen Einfluss auf die ,klassische Antike‘ inspirierend sein. 7 Hobsons Entzauberung universaler und wertneutraler IB-Theorien findet eine konkrete Fortsetzung einerseits in Robert Vitalis‘ Arbeit White World Order, Black Power Politics, die speziell für die amerikanischen Internationalen Beziehungen die Verstrickung der Disziplin in die Auseinandersetzungen um weiße Vorherrschaft offenlegt (Vitalis 2015). Andererseits dokumentiert Peo Hansens und Stefan Jonssons empirische Studie zur Idee, Fiktion und Vision eines ‚Eurafrika‘, welche bis heute die EU-AKP-Beziehungen prägt, die v.a in den Jahren zwischen 1880 und 1930 populären Machtkonzeptionen, die eine Balance zwischen europäischen Kolonialmächten und ihren Kolonien anstrebten und ein nach außen hin friedfertiges Hegemonialstreben des europäischen Kontinents, gestützt durch die Ressourcenströme aus den wohlwollend-paternalistisch verwalteten Kolonien anvisierten (Hansen/Jonsson 2014). Postkoloniale Kritik an Forschungsstrategien und -praxen Eine postkoloniale Kritik an Forschungsstrategien und empirischen Forschungspraxen betrachtet, wie die IB Forschungsthemen identifizieren, Forschungsdesigns entwickeln und im empirischen Feld Daten erheben. Hier stellt sich mit Bezug auf die akademische Wissensproduktion zunächst die Frage nach dem „right to research“ (Appadurai 2006): Wer darf in wessen Namen forschen und nimmt – im Dienste eines objektiven und universalen Erkenntnisinteresses – die Privilegien des Forschers und des Experten für sich in Anspruch? Wer profitiert von der Wissensproduktion, wer ist von einer Teilhabe weitgehend ausgeschlossen? Welche Forschungsgegenstände sind überhaupt relevant? Eine solche Kritik setzt einerseits geschichtsphilosophisch am Projekt der europäischen Aufklärung an, in welchem denkende und handelnde nicht-westliche Subjekte nicht vorgesehen waren, da die Moderne exklusiv in Europa verortet wurde. In ihrer politischen Form richtet sich eine solche Kritik auf die Dominanz westlicher Universitätssysteme in der Forschungslandschaft und auf die Hierarchien, die durch Studienprogramme, Zugangsbeschränkungen zu Fachzeitschriften, oder Vergabepraxen von Forschungsgeldern (re)produziert werden. Am Beispiel der Weltbank 7
Das Werk des senegalesischen Kulturtheoretikers und Ägyptologen Cheikh Anta Diop bewegt sich im Kontext afrozentrischer Wissenschaftskritik. Diop befasste sich bereits in den 1960er und 1970er Jahren mit den kulturgeschichtlichen Grundlagen einer eigenständigen afrikanischen Identitätsbildung und untersuchte, inwieweit die ‚klassische Antike‘ durch Austausch mit afrikanischen Königreichen beeinflusst wurde (Diop 1978, 1996).
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erläutern Jazeel/Farlane (2009), wie die Weltbank sich als „Knowledge Bank“ inszeniert, und entlang einer Hell-Dunkel-Metaphorik über die Segnungen von Wissen und Bildung spricht, mittels derer Licht in die Dunkelheit von Armut und Ignoranz gebracht wird. Wissenstransfer ist demnach ein lineares Projekt, lokales Wissen und gegenseitiges Lernen sind nicht vorgesehen. Dieser Blickwinkel führt zur Abwertung von Erfahrungswissen und oral history und spricht nicht-westlichen Rechts- oder Wissenssystemen Rationalität und Validität ab. Auf der empirischen Ebene befasst sich postkoloniale Kritik mit den Einund Ausblendungen, die mit der Identifikation von Forschungsgegenständen und der Gestaltung von Forschungsdesigns einhergehen: So war der Gruppe der Blockfreien Staaten nur eine Leerstelle in einem Forschungsparadigma des internationalen Systems beschieden, das durch die Blockkonfrontation zwischen Westen und Warschauer Pakt determiniert war. Dass sich das Konzept der Blockfreiheit nicht im Nichtdazugehörenwollen erschöpfte, und im Rahmen der Bandung-Konferenz (die für viele TeilnehmerInnen als allererste Begegnung mit tausende Kilometer entfernten GenossInnen ein vor dem heutigen Gipfelspektakel nur noch schwer nachvollziehbares Transzendenzereignis darstellte; vgl. Wright 1956) Ideen für eine alternative Weltordnung entwickelt wurden, ist in den IB fast gar nicht beachtet worden. Die 1955 versammelten Delegierten stellten im Geiste früherer ähnlicher Zusammenkünfte (z.B. panafrikanische Kongresse wie der Universal Race Congress 1911 in London und die Gründung der League against Imperialism 1927 in Brüssel) die Vision eines internationalistischen Staatensystems, auf Basis selbstgewählter Normen – Dekolonisierung, Souveränität, Nicht-Intervention, Solidarität und wechselseitige Kooperation, Zurückweisung rassistischer Diskriminierung – in den Mittelpunkt (vgl. Prashad 2007: 46f.). Walter Mignolo interpretiert Bandung damit als Projekt einer Entkopplung von westlicher Ideengeschichte und Wirtschaftsordnung (Mignolo 2011: 275); in ähnlicher Weise argumentiert Pasha, wenn er Bandung als Kritik an einer (paternalistischen, und nur bei hinreichender „Reife“ und Zivilisiertheit zu gewährenden) Integration postkolonialer Staaten in die westfälische Ordnung begreift (Pasha 2011: 158f.). Des Weiteren – und besonders relevant innerhalb konstruktivistischer Theorien der IB – sorgen normative Annahmen und normativer Bias in den IB für eine selektive Wahrnehmung. Im Falle der IB betrifft dies bspw. die Art und Weise, wie über Menschenrechte und Menschenrechtsschutz geforscht wird (vgl. den Beitrag von Siba Grovogui). Welche problematischen Implikationen ein normativer Eurozentrismus zur Folge haben kann, zeigt auch Geeta Chowdhry am Beispiel der internationalen Debatte um Kinderarbeit, bei der das Ziel der
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International Labour Organisation, Kinderarbeit vollständig abzuschaffen, auf den Widerstand von arbeitenden Kindern und Jugendlichen und eigenen Kinderarbeitsgewerkschaften stieß (Chowdhry 2004). In abstrakter Form artikuliert sich dies als Kritik an Formen und Praxen der Normenverbreitung: Viele der bisherigen Konzepte suggerieren einerseits Freiwilligkeit, indem sie bspw. von Normtransfer oder -diffusion sprechen; andererseits konzeptualisieren sie Normverbreitung als linearen und einseitigen Prozess, der auf Seiten des „Empfängers“ auf ein normfreies Terrain trifft (Ehrmann 2009; Engelkamp et al. 2012; Müller 2015).
IB DEZENTRIEREN : B AUSTEINE EINER DEKOLONIALEN F ORSCHUNGSSTRATEGIE „Dekoloniale Forschungsstrategien“ unterscheiden sich in ihrem Erkenntnisinteresse von postkolonialer Kritik: Sie zielen darauf ab, aktiv alternative, gegenhegemoniale Formen der Theoriebildung, Analyse und empirischen Praxis zu entwickeln. Wünschenswert ist dabei die Überwindung einer Polarisierung zwischen Westen und Nicht-Westen, um Scheuklappen eines binären Blickes ablegen zu können. Dies ist ein Anliegen postkolonialer AutorInnen, die mit dem Verweis auf ‚Hybridität‘ anstreben, klare Grenzziehungen zu überwinden, um die wechselseitigen, widersprüchlichen und stets fluiden Prozesse kulturellen Lernens, Einschreibens und Austauschens abzubilden. Im Bezug auf „non-western thought“ (Shilliam 2011) und der Affirmation von „non core perspectives“ (Tickner 2003) oder aber der Suche nach einer „post-western IR“ (Acharya 2011, Acharya/Buzan 2007, Vasilaki 2012), die „beyond the West“ (Tickner/Blaney 2013) blickt, drückt sich dieses Interesse aus. Die nachfolgenden Forschungsstrategien beschreiben zunächst (2.1) in generalisierter Form Strategien des Dekolonisierens und Dezentrierens der IB, bzw. widmen sich (2.2) alternativen Forschungspraxen mit Blick auf analytische Kategorisierungen (2.2.1) und Weltordnungsmodelle (2.2.2). Dezentrieren und Dekolonisieren internationaler Beziehungen Der Begriff des Dezentrierens beschreibt eine Praxis, mit der kognitive und konzeptionelle Eurozentrismen überwunden werden sollen, indem ‚Europa‘ oder ‚der Westen‘ aus dem Zentrum gerückt werden. Dies bedeutet zu prüfen, wie es historisch, politisch und forschungsprogrammatisch zu einer solchen Zentrierung gekommen ist, um dann in Form alternativer Kategorisierungen einen Perspektivwechsel vorzunehmen. In Decentering International Relations widmen sich
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Meghana Nayak und Erik Selbin dem „interrogating, disturbing, engaging, reframing, challenging, mocking, or even undoing mainstream, privileged ways of viewing the world.“ (Nayak/Selbin 2010: 8). Als „Zentrierung“ gelten dabei vier charakteristische Tendenzen der IB – der westliche Gegenstandsbezug, die Privilegierung bestimmter politischer Vorhaben wie bspw. die Verbreitung liberaler Normen und Ordnungsvorstellungen, die Legitimierung und Privilegierung bestimmter politischer Institutionen, deren Entscheidungen und deren Wissensproduktion, sowie Theoriebildung. Die Autoren beziehen sich auf vier Konzepte, die für das Projekt einer Dezentrierung produktiv sein können: Indigenität, Menschenrechte, Globalisierung sowie Frieden und Sicherheit. Für jedes dieser Konzepte lässt sich mit Blick auf die Theoriegeschichte unserer Disziplin überlegen, in welcher Weise es eine Dezentrierung voranzutreiben vermag: sei es, dass der Bezug auf Indigenität oder Menschenrechte es ermöglicht, pluralere und lokalisierte Rechtsordnungen zu entwickeln, oder dass Globalisierungsprozesse aus einer nicht-westlichen Perspektive bzw. aus der Sicht global vernetzter sozialer Bewegungen analysiert werden. Dementsprechend verschiebt sich die „Topografie der IB“ (Nayak/Selbin 2010: 157). Internationale Beziehungen ‚dekolonisieren‘ zu wollen, verweist demgegenüber auf die Absicht, ein alternatives Erkenntnisinteresse für Theorien Internationaler Beziehungen zu formulieren. Meera Sabaratnam spricht von dekolonisierenden Strategien als „a set of distinct but connected intellectual strategies that provide a productive platform for identifying specific problems in our research into world politics“ (Sabaratnam 2011: 782). Im Einzelnen geht es dabei um: •
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Die Dekonstruktion des Westens als einer epistemologisch privilegierten und zentrierten Sprechposition. Dies zielt auf die Herstellung von Beziehungen zwischen Forschungssubjekt und Forschungsobjekt durch Kategorien wie failed state/failing states oder die scheinbar sympathische Rede von ‚jungen Demokratien‘). Eine Strategie, gegen derlei Praxen einer Objektivierung vorzugehen, besteht zunächst in Bewusstseinsbildung hinsichtlich dichotomer und orientalistischer Denk- und Sprechweisen. Dies ermöglicht es, Formen eines dialogorientierten, reflexiven Forschens zu entwickeln, bei denen ‚der Süden‘ nicht mit aus anderen Kontexten entliehenen Kategorien gemessen, klassifiziert und objektiviert wird, und bei denen Raum für produktive Irritation besteht (Ploder 2009). Die Kritik eines eurozentrischen Exzeptionalismus, der den Westen als Ausgangspunkt der Moderne ansieht. Dies betrifft die Dezentrierung von Grün-
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dungsmythen, die Europa eine privilegierte Position zuschreiben, etwa was Erfindergeist, wirtschaftlichen Fortschritt, oder das Modell einer westfälischen Weltordnung anbetrifft. Hier bietet ein dialogischer Blick die Möglichkeit, das Projekt der Moderne als plurales, multiperspektivisches Vorhaben zu betrachten, bzw. die Partikularität und Fragmentierung eines westzentrierten Blickes zu überwinden (vgl. Randeria 2004). Eine Pluralisierung der Forschungsperspektiven, die speziell subalterne Blickwinkel und Positionalitäten rekonstruiert, ist eine weitere Strategie, die die obigen Überlegungen fortführt. Dies würde bedeuten, Gegenstände der Internationalen Beziehungen gezielt durch eine subalterne Perspektive sichtbar zu machen. Eine alternative Geschichtsschreibung, wie sie Vijay Prashad für die Rolle der blockfreien Staaten und sozialer Bewegungen im ‚globalen Süden‘ betreibt (Prashad 2007, 2013), wäre ein solches Beispiel. Die Suche nach alternativen politischen Subjekten der Internationalen Beziehungen verfolgt ein ähnliches Ziel, allerdings mit Fokus auf die personale Rolle. Die Forschung bspw. zum ‚Black Pacific‘ 8 (Shilliam 2015) ist Ausdruck einer solchen Motivation; ähnlich auch die Studien zur Haitianischen Revolution (Grovogui 2002). Auch die Frage nach den sozialpsychologischen Prämissen, die die IB in ihren Charakterisierungen politischer Subjekte – d.h. in der Konzeption des Akteurs und seiner Handlungsmotivationen, der Bedeutung von Emotionen und Bindungen – anlegt, lässt sich dekolonisierend beantworten. Dies bedeutet, der kognitiv-rationalistischen Akteursvorstellung vom Akteur als eines individuell denkenden und handelnden Subjektes Konzeptionen gegenüberzustellen, die die gesellschaftliche Situiertheit von Subjekten betonen, und anstelle einer Trennung von Körper und Geist vielmehr auf Leiblichkeit und Emotionalität abheben. 9 Eine postkoloniale/dekolonisierende Perspektive betont die Hybridität eines jeden Akteurs und kritisiert die Trennung zwischen Ratio und Emotion als eine weitere Form abwertender Dichotomisierung.
Die Rede vom ‚Black Pacific‘ bezeichnet (als Gegenbild zum ‚Black Atlantic‘) die unzureichend erforschte Geschichte der Verknüpfung von schwarzen und indigenen Widerstandbewegungen (z.B. in Form der Maori-Proteste oder der Rastafari-Bewegung) im Südpazifik.
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Sichtbar in einer Kontroverse zwischen Richard Ned Lebow und Robbie Shilliam zur Bedeutung des Affektes in den IB: Shilliam 2009; Lebow 2008.
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Alternative Forschungspraxen Diese Strategien des Dekolonisierens und Dezentrierens laden ein, postkoloniale IB-Forschung anders zu gestalten. Dies betrifft die Entwicklung analytischer Kategorien, Begriffe und Positionierungen. Darüber hinaus weitet dies den Blick für alternative Formen der Theoriebildung und der Konzeption des Weltsystems. Positionierungen, Kategorien und Begriffe Für die Entwicklung alternativer Positionierungen, Kategorisierungen und Begriffe ist die Wahl eines anderen Standpunktes maßgeblich; dies bedeutet, die Rolle als ForscherIn in den IB und die wechselseitig konstituierte Beziehung zum Forschungsfeld zu reflektieren. Autoethnographische Ansätze ermöglichen „to describe and systematically analyze (graphy) personal experience (auto) in order to understand cultural experience (ethno)“ (Ellis et al. 2011 Hervorhebung im Original). Dieser Prozess kann als praktische Form kritischer Standpunktepistemologie sichtbar machen, mit welchen Vorstellungen, Mythen und unbewusst reproduzierten kategorialen Annahmen man als IB-ForscherIn arbeitet und welchen Ausblendungen man sich unterwirft, und kann andererseits Ausgangspunkt sein, diese Identität zu reflektieren und zu repolitisieren (vgl. Inayatullah 2011, Brigg/Bleiker 2010). Gerade für die Arbeit mit postkolonialen Zugängen bietet dies einen Reflexionsraum, um sich eigener kolonialer Projektionen und Privilegien bewusst zu werden und deren Auswirkungen für das eigene Forschen einschätzen zu können. Bei der Konzeption alternativer Kategoriensysteme oder Begriffe sind dekolonisierende und dezentrierende Strategien insofern ergiebig, als sie zu einer nicht-eurozentrischen, pluralen Rekonstruktion einladen. Für einige klassische IB-Begriffe bieten dekoloniale/dezentrierende Strategien wirkungsvolle Erweiterungen an: Gut sichtbar ist dies bspw., wenn es um die prekäre Position Afrikas in den Internationalen Beziehungen geht (Harman/Brown 2013). Politikwissenschaftliche Afrikaforschung hat wenig Raum in den Internationalen Beziehungen und wird gemeinhin in das Reich der Area Studies verwiesen; umso mehr als afrikanischen Staaten international geringe Relevanz zugeschrieben wird und sie im Vergleich mit westlichen Konzeptionen als „the antithesis of Western subjectivity and institutional order“ (Cornelissen et al. 2012: 1) klassifiziert werden. Trotzdem ist ‚Afrika‘ in den IB präsent: aus sicherheitspolitischer Perspektive, in der Global Health Governance, in internationaler Entwicklungsforschung. Das daraus resultierende Paradox eines Schreibens über Afrika, ohne genuine Kategorien zu entwickeln, führt dazu, ‚Afrika‘ als Nicht-Ort zu konzeptualisieren: als Raum, dessen Formen von Staatlichkeit und dessen eigenständige inter-/transna-
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tionale Beziehungen nicht als solche anerkannt werden, und dessen vorkoloniale Geschichte, eigenständige Politikformen und Traditionen politischer Philosophie ausgeblendet werden. Eine dekoloniale und dezentrierende Forschungsperspektive versucht dies zu überwinden, und Begriffe wie den der „Souveränität“ und flankierende normative Leitbilder wie das des „liberalen Kosmopolitismus“ zu reformulieren. So stellt Siba Grovogui für den Souveränitätsbegriff fest, dass die Existenz afrikanischer Staaten und deren Abweichen von den Prämissen der westfälischen Ordnung nicht als Kritik am „Westphalian commonsense“ (Grovogui 2002: 316) verstanden wird, sondern als Beleg für ‚schwache‘ oder ‚fragile‘ Staatlichkeit firmiert. Souveränität erlangt demzufolge eher eine Bedeutung als politischer Kampfbegriff, der im afrikanischen Falle wie im System der Françafrique die Installation von ‚schwachen‘ politischen Regimes legitimierte. Souveränität erscheint gleichzeitig als Geschenk der ehemaligen Kolonialmächte, mit dem die neuen Staaten ausgestattet worden seien, ohne typische Staatsaufgaben wie Wohlfahrt und Sicherheit selbst erfüllen zu können. Das Leiden der Zivilgesellschaft unter dem frühen Geschenk und seinen despotischen Manifestationen rechtfertige daher politische Interventionen auf moralischer und ethischer Grundlage (Jackson 1992). Neben einer grundsätzlichen Kritik an derlei Interventionsstrategien belegt Grovogui (2002), dass das Absprechen von Souveränität erst ein Ergebnis des ‚scramble for Africa‘ war, während zu Zeiten der Renaissance reguläre politische Beziehungen zwischen arabischen und europäischen Königreichen und afrikanischen Reichen bestanden, die auf wechselseitiger Anerkennung beruhten (vgl. Speitkamp 2007). Ein Dezentrieren des Souveränitätsbegriffes bedeutet dann, alternative Konzeptionen von Souveränität (hier auf der Basis afrikanischer Geschichte und afrikanischer internationaler/intergesellschaftlicher Beziehungen) zu entwickeln. 10 Auch die postkoloniale Kritik an der Idee eines liberalen Kosmopolitismus und den mit ihr verknüpften, moralisch legitimierten Interventionspraxen in staatliche Souveränität ist Ausgangspunkt für die Suche nach anderen Prämissen. So fragt Nederveen Pieterse, wie ein emanzipatorischer Kosmopolitismus beschaffen sein könnte, welcher „contributes to rebalancing corporate, political and social globalization and enables legitimate political institutions and social forces to act as countervailing power and re-regulate corporate globalization and thus 10 Dies könnte z.B. bedeuten, Staatsangehörigkeit und Staatsvolk pluralistisch zu definieren, eigene Formen föderalen Regierens zu entwickeln (vgl. Nigeria) und die kolonialen Wirkungen historischer Grenzziehungen zu reflektieren. Zu fragen ist hier auch nach dem Verhältnis zwischen Pan-Afrikanismus und individueller Souveränität.
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transform overall globalization.“ (Pieterse 2006: 1248) Der südafrikanische Politiloge Mvuselelo Ngcoya (2015) entwickelt mithilfe des Konzeptes ubuntu 11 Nederveen Pieterses Anliegen weiter.Ausgangsgedanke ist dabei das Verhältnis zwischen Subjekt und Mitmenschen. Umuntu umuntu ngabantu bedeutet im übertragenen Sinne „Ich bin, weil wir sind“. Gemeinschaft, Solidarität, Reziprozität und Interdependenz stehen damit im Mittelpunkt: Anders als in individualistischen Vorstellungen über Menschenrechte konzipiert ubuntu Personen als stets eingebunden in intersubjektive Prozesse. Dementsprechend geht aus dieser Eingebundenheit (und dem wechselseitig gewährten Recht darauf) auch eine Pflicht hervor, jederzeit die Qualität und Intensität sozialer Beziehungen zu erhalten, sowie Bedingungen zu schaffen, die möglichst vielen Personen Artikulation und Kooperation ermöglichen (Ngcoya 2015). Ubuntu enthält so auch eine dialogische Komponente, die in westlichen Menschenrechtskonzeptionen nicht enthalten ist und als „Sorge um die anderen“ zu ethisch wünschenswertem Handeln aufruft. Auf der Suche nach einem „emanzipatorischem Kosmopolitismus“ kann ubuntu durch seine Inklusivität und Kollektivität auch auf der Ebene internationaler Kooperation ein wirkungsvolles Konzept sein. Jenseits eurozentrischer Herangehensweisen liegt eine besondere Qualität darin, dass ein ubuntuKosmopolitismus bedingt durch seinen höheren Abstraktionsgrad keine konkreten Rechte universalisiert, sondern eher ähnlich der Arendt’schen Formulierung eines „Rechtes, Rechte zu haben“, einen abstrakten Rahmen für lokale und kollektive Rechte gibt. Alternative Weltordnungsmodelle: Auf dem Weg zur post-Western IR Was macht eine internationale Beziehung eigentlich aus? Welche Normen und Grundannahmen sind handlungsleitend? Wie werden „das Selbst“ und „das Andere“, als die beiden Ausgangs- und Endpunkte einer Beziehung, eigentlich konzeptualisiert? Welche Auswirkungen hat es auf die Theoriebildung, wenn man eine Prämisse wie die der Staatenanarchie nicht lediglich neu interpretieren, sondern gar nicht unterschreiben möchte? Solche Grundsatzfragen prägen das Vor11 Der Historiker Michael Onyebuchi Eze definiert ubuntu folgendermaßen: „‚A person is a person through other people‘ strikes an affirmation of one’s humanity through recognition of an ,other‘ in his or her uniqueness and difference. It is a demand for a creative intersubjective formation in which the ,other‘ becomes a mirror (but only a mirror) for my subjectivity. This idealism suggests to us that humanity is not embedded in my person solely as an individual; my humanity is co-substantively bestowed upon the other and me. […] The ,I am‘ is not a rigid subject, but a dynamic selfconstitution dependent on this otherness creation of relation and distance.“ (Eze 2008)
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haben einer „post-Western IR“, die die Gestalt internationaler Beziehungen, die sie durchziehenden Normen und Ideen und ihre Ordnungsvorstellungen aus nicht-westlicher Perspektive zu entwerfen sucht. Verschiedene Strategien für ein solches Vorhaben lassen sich unterscheiden (Vasilaki 2012): Einerseits plurale Strategien, die das Feld der IB-Theorien für unterschiedliche Denktraditionen öffnen wollen. Ähnlich gehen partikuläre Strategien vor, die einen lokalisierten, nicht-eurozentrischen Standpunkt suchen. Postkoloniale/dekoloniale Strategien hingegen betrachten Pluralität und die Sichtbarmachung des Lokalen noch nicht als theoretischen Mehrwert, sondern verbinden dies mit einer Hegemoniekritik und Positivismuskritik und richten ihren Fokus auf politische Kämpfe, emanzipatorische und gegenhegemoniale Prozesse. Für eine ‚post-Western‘ Theoriebildung liefern Amitav Acharya und Barry Buzan Impulse, indem sie jenseits der Frage „Why is there no non-Western IR theory?“ (2007) anstreben, Ideen für eine „Asian International Relations Theory“ zu entwerfen, die auf asiatischer politischer Philosophie und Strategielehre (genannt seien etwa die Werke von Sun Tzu oder Konfuzius) gründet, und beispielsweise den Aufstieg der Tigerstaaten mit Bezügen auf eine regionale politische Ideologie, die sich vom westlichen Liberalismus abgrenzt, zu erklären sucht (Acharya/Buzan 2007: 302). Ihr Anliegen besteht darin, nicht-westlichen Konzepten Raum zu geben, um problemadäquate Theorien zu entwickeln, die lokal angepasst sind, eigene normative Traditionen sichtbar machen und regionalwissenschaftliche Perspektiven einbeziehen (Acharya 2011). Ein Beispiel für ein solches Vorgehen ist L.H.M. Lings Werk The Dao of World Politics (2013). Ling entwickelt jenseits einer westfälischen Weltordnung – die für sie Ausdruck ‚epistemischer Gewalt‘ (siehe den Beitrag von Brunner) ist – ein Modell internationaler Beziehungen, das sie als „worldism“ bezeichnet; eine Welt, in der unterschiedliche Weltordnungsentwürfe Raum finden können. Sie beschreibt multiple Welten als „hybrid legacies produced by subalterns to serve, and thereby survive, generations of foreign occupation by colonizing powers now replaced by multinational corporations. Subalterns navigate nimbly among the Multiple Worlds of tradition and modernity, the sacred and the secular, native and foreign, not to mention several languages, on a daily basis. Yet subalterns rarely receive formal recognition for their critical role in making world politics. Theories of International Relations treat world politics as if Multiple Worlds neither existed nor mattered.“ (Ling 2013: 1)
Ihr Vorhaben strebt an, die epistemische Gewalt einer hegemonialen westfälischen Weltordnung, die sich in Form von Nichtakzeptanz und Unterwerfung multipler
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Welten äußert, abzulösen durch ein Modell, das multiplen Welten Raum gibt. Die Grundlage dafür bildet ein daoistischer, dialektischer Analyserahmen – der worldism, welcher Balance zwischen Wandel und Kontinuität, sowie Komplementarität und Widerspruch zulässt und das Hobbesianische Modell wechselseitigen Misstrauens im anarchischen internationalen System durch politischen Dialog zu überwinden sucht. Ihr Vorschlag für die Gestaltung politischen Dialoges basiert auf Relationalität (wer kommuniziert wie, warum und mit wem?), Resonanz (welche alternativen Diskurse sind vorhanden, worin liegt ihre Bedeutung und was ist ihr Ursprung?) und Intersubjektivät (wie kann ethisches, mitfühlendes Handeln gelingen?). Ling führt am Beispiel typischer Konfliktfelder – amerikanisch-chinesische Beziehungen, Taiwan-Konflikt, sowie die Hegemonieansprüche Chinas und Indiens im asiatischen Raum – aus, welche Potentiale ein dialogischer Ansatz bietet: Bspw. Transkulturalität und Hybridität als gemeinsamen chinesisch-taiwanesischen Bezugspunkt wertzuschätzen, oder politischen Dialog – selbst wenn er in einer verhärteten Situation ziellos erscheinen mag – fortzusetzen, um auf der Basis intensiver und stark personalisierter Kommunikationsbeziehungen auf den sukzessiven Aufbau von Vertrauen zu setzen. Lings Vorhaben ist damit eines der wenigen, das tatsächlich das System Internationaler Beziehungen zu dekolonisieren und andere Formen der friedlichen Kooperation zu finden versucht.
P OSTKOLONIALE IB ALS POLITISCHE W ISSENSCHAFT : F ORSCHUNGSAGENDA UND - DESIDERATE Postkoloniale Ansätze der IB sind ein durchaus politisches Vorhaben. Angesichts des laufenden Etablierungsprozess postkolonialer Studien auch im Bereich der IB wäre zu wünschen, dass diese unbequem und ‚ärgerlich‘ bleiben und sich nicht ihrer leichter konsumierbaren Bestandteile – hier ein wenig Eurozentrismuskritik, dort ein wenig Interkulturalität, da noch ein paar kosmopolitische Farbkleckse – berauben und sich als neue Theoriemode im „radical chic“ (Wolfe 1970) einhegen lassen. Im Verlauf eines solchen Prozesses wird ursprünglich radikale Kritik gezähmt, indem einzelne, eher empirie- und praxisbezogene Aspekte qua ‚Umarmungsstrategie‘ in eine ansonsten ‚mainstreamige‘ Theoriebildung integriert werden, während schwerer verdauliche epistemologische Brocken umso randständiger werden. Post- und dekolonialen Ansätzen der IB wäre zu wünschen, sich gegenüber derlei Umarmungsstrategien immunisieren zu können.
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Speziell an den Kreuzungspunkten politikwissenschaftlicher Subdisziplinen finden sich Forschungsthemen, die aus postkolonialer/dekolonialer Perspektive bisher Desiderate geblieben sind: Themen aus dem Bereich politischer Ökologie bzw. globaler Umweltgovernance sind bisher noch kaum aus postkolonialer Perspektive untersucht worden. Die global/lokalen Politikprozesse der Klimaadaption/Klimamitigation – namentlich die Auseinandersetzungen um REDD+ – würden von einer solchen Kritik profitieren; ebenso Themen globaler Energiegovernance und Energiewendepolitiken, die mit neuen transnationalen Akteurskonstellationen, und teils auch Landgrabbing in Ländern des globalen Südens einhergehen. Ein weiteres Feld wäre eine systematische (organisationsethnographische) Untersuchung internationaler Organisationen und Institutionen hinsichtlich der Gestaltung von Organisationsbeziehungen oder mit Blick auf die Rollen und Aktivitäten von Akteuren aus dem globalen Süden. Auch aus der Perspektive historischer IB erscheint dies sehr relevant, um die Organisationspraxen von Südakteuren auf der internationalen Ebene oder die Geschichte internationaler Süd-Süd-Kooperation besser zu erfassen und nicht auf aktuelle Kooperationspraxen von emerging powers wie China oder Indien zu beschränken. Drittens könnten Debatten um normative internationale politische Theorie und Normenkontestation von postkolonialen und dekolonialen Perspektiven profitieren, und Raum für die Aneignung und Redefinition von politischen Normen lassen; ein Beispiel wäre die Aneignung (aber auch Zurückweisung) der responsibility to protect durch Südakteure. Darüber hinaus ergeben sich auch eine Reihe forschungspraktische Fragen und Anforderungen an eine postkoloniale/dekolonisierende IB. Das akademische Privileg – als die Möglichkeit relativ frei zu forschen, Zugang zu Wissen zu haben, und Reisefreiheiten zu genießen – wird selten reflektiert, geschweige denn in Frage gestellt (Tickner 2003). Noch viel seltener wird überlegt, wovon eine_n das akademische Privileg trennt und wo es Erkenntnisse wirksam verhindert. In den IB als einer besonders internationalisierten Disziplin betreffen derlei Reflexionen bspw. die Gestaltung von Netzwerken und die Repräsentation in den Gremien der Forschungspolitik und -förderung. Noch markantere Punkte sind die Zugänglichkeit und Verbreitung von Wissen, welcher durch die Herausbildung von Verlagsmonopolen enge Schranken gesetzt sind. Für eine solidarische akademische Praxis wäre es wünschenswert, gerade im Feld postkolonialer Studien Initiativen für Open Access zu unterstützen, sowie Konferenzen möglichst zugänglich zu machen oder Online-Formate zu entwickeln, um politische und publizistische Grenzen zu überwinden.
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Postkoloniale Zugänge in der Friedens- und Konfliktforschung B ETTINA E NGELS
E INLEITUNG Langsam, aber ungebrochen; oft mit Ignoranz, manchmal auch mit offenen Widerständen konfrontiert, aber hartnäckig: Postkoloniale Studien haben sich ihren Platz in der deutschsprachigen geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung erstritten. Dies gilt auch für die Politikwissenschaft, wie der vorliegende Band zeigt, wenngleich postkoloniale Perspektiven in dieser Fachdisziplin vergleichsweise noch etwas weniger vertreten sind als etwa in der Soziologie, den Regionalstudien, der Geschichts- oder Kulturwissenschaft (vgl. Ziai 2012). Auch in der Friedens- und Konfliktforschung schlägt sich dieser Trend in jüngster Zeit nieder: Das Interesse an postkolonialen Theorieansätzen wächst in diesem Forschungsfeld erheblich, auch im deutschsprachigen Raum. Nicht zuletzt fordern Studierende die Berücksichtigung dieser Ansätze in den Zusammenhängen des universitären Lehrens und Lernens. Ziel dieses Kapitels ist es, anschließend an dieses wachsende Interesse Ansatzpunkte für postkolonial angeleitete Forschungen in diesem Bereich aufzuzeigen. Ich gehe dazu wie folgt vor: Im folgenden Abschnitt stelle ich zunächst kurz das Forschungsfeld der Friedens- und Konfliktforschung generell und insbesondere seine institutionelle Entwicklung in Deutschland dar. Dann skizziere ich anhand exemplarischer Arbeiten, welche postkolonial angeleiteten Studien im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung bereits vorliegen. Daran anschließend entwerfe ich erste Ansatzpunkte für Forschungsperspektiven und -fragen für eine an postkolonialer Theorie orientierte Friedens- und Konfliktforschung. Am Beispiel des innerstaatlichen Krieges in der Côte d’Ivoire in den 1990er Jahren illustriere ich, dass sich postkoloniale Kritik an Repräsentation
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und „Othering“ mit der kritischen Analyse materieller Bedingungen kriegsursächlicher Prozesse nahtlos verbindet. 1
F RIEDENS - UND K ONFLIKTFORSCHUNG ALS F ORSCHUNGSFELD Friedens- und Konfliktforschung lässt sich als ein multidisziplinäres Forschungsfeld beschreiben, dem es um die wissenschaftliche Beschäftigung mit kollektiven Konflikten, ihren Ursachen und unterschiedlichen Austragungsformen (gewaltsam und gewaltfrei) sowie ihrer gesellschaftlichen und politischen Transformation geht. Eine Besonderheit bestand von Beginn an in der relativ engen Verzahnung mit der politischen Praxis, und zwar mit der staatlichen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik auf der einen sowie der Friedensbewegung auf der anderen – und schwächeren – Seite. Wenig überraschend, war die Friedens- und Konfliktforschung in den ersten beiden Jahrzehnten vom Ost-West-Konflikt geprägt: Rüstungskontrolle, Abrüstung und Entspannungspolitik waren dominante Themen. Das änderte sich in den 1990er Jahren. Das Ende der Blockkonfrontation führte in Nordamerika und Europa gleichermaßen dazu, dass die Friedens- und Konfliktforschung ebenso wie die Forschung im Bereich der Internationalen Beziehungen ihr Themenspektrum erweiterte: Die Beschränkung auf Staaten, Regierungen, Armeen und militärische Bedrohung war nicht mehr zu halten, Akteur_innen wie nichtstaatliche bewaffnete Gruppen und Nichtregierungsorganisationen sowie Themen wie Umwelt, Migration, kulturelle Identität, Armut und Ungleichheit rückten ins Blickfeld. In der Friedens- und Konfliktforschung vergrößerte sich nicht nur das thematische Feld und differenzierte sich weiter aus, sondern auch grundsätzliche Debatten, die in den 1970er Jahren begonnen wurden, wurden neu belebt (vgl. Galtung 1985; zur deutschsprachigen Debatte die Beiträge in Jahn et al. 2005 und Schlotter/Wisotzki 2011). Gestritten wurde und wird um zentrale Begriffe wie Frieden und Gewalt: Ist Frieden mehr als die Abwesenheit von Krieg? Falls ja: Worin besteht dieses „Mehr“? Sollte sich der Gewaltbegriff auf direkte, physische Gewalt beschränken oder auch Hunger, Armut, Ungleichheit und die Zerstörung von Natur einbeziehen (strukturelle Gewalt; Galtung 1975)? Diese Fragen wurden erneut aktuell, als die Friedens- und Konfliktforschung sich in den 1990er Jahren verstärkt Umwelt- und Entwicklungsthemen zuwandte. Eine bis 1
Für hilfreiche Anmerkungen zu einer früheren Fassung dieses Kapitels danke ich Claudia Brunner und Aram Ziai.
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heute zentrale Kontroverse dreht sich um die normative Ausrichtung: Welche Rolle soll das Ziel, Gewalt zu vermeiden und Konflikte konstruktiv zu transformieren, spielen? Ist eine „wertneutrale“ Forschung möglich und sinnvoll – oder soll und muss sich Friedens- und Konfliktforschung macht- und militärkritisch in politische Debatten einmischen? Wie positionieren sich Wissenschaftler_innen gegenüber staatlichen Akteur_innen, insbesondere dem Militär? Welche Rolle spielt das Verhältnis zur (friedens-)politischen Praxis, insbesondere zur Friedensbewegung? Inwieweit versteht sich Friedens- und Konfliktforschung als wissenschaftliches Projekt, für das der Bezug zur politischen Praxis und zu sozialen Bewegungen konstitutiv ist? Die Anknüpfungspunkte für postkoloniale Perspektiven an diese Fragen sind offensichtlich – und umso auffälliger ist es, dass im Feld der Friedens- und Konfliktforschung bislang vergleichsweise wenig Arbeiten unter Rückgriff auf postkoloniale Theorie vorliegen. Eine nahe liegende Ursache hierfür besteht darin, dass die Friedens- und Konfliktforschung sich zwar aus einer Vielzahl von Fachdisziplinen speist, insgesamt jedoch theoretisch, methodisch und institutionell stark von der Politikwissenschaft geprägt ist. Und diese zeigt sich zumindest im deutschsprachigen Raum erst zögerlich aufgeschlossen gegenüber Postkolonialen Studien (Ziai 2012).
B ESTEHENDE ARBEITEN AUS P OSTKOLONIALER P ERSPEKTIVE Es lässt sich nichtsdestotrotz ein wachsendes Interesse an postkolonialer Theorie im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung feststellen. Im deutschsprachigen Raum zeigt sich dies in ersten Überblicksbeiträgen (Engels 2014) sowie einem Sonderband der „Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung“ (Simons/Dittmer i.E.), dessen Erscheinen für 2016 geplant ist. Allerdings hat sich dieses Interesse bislang wenig in der empirischen Forschung niedergeschlagen. Nur wenige Arbeiten aus postkolonialer Perspektive befassen sich mit Fragen von Konflikt, Sicherheit und Frieden. Während für andere wissenschaftliche Felder bereits allgemeine Beiträge zu ihren Schnittstellen mit postkolonialen Studien vorliegen (etwa Abrahamsen 2003 für die Afrika- und Sylvester 1999 für die Entwicklungsforschung), steht eine solche Diskussion für die Friedensund Konfliktforschung noch aus. Die Zusammenfassung dessen, was in diesem Forschungsfeld an postkolonial ausgerichteten Beiträgen vorliegt, fällt nicht allzu umfangreich aus. Zunächst lässt sich feststellen, dass in der Mehrheit der Arbeiten, die das Adjektiv „postkolonial“ im Titel tragen, der Begriff im Sinne
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einer räumlich-historischen Kategorie verwandt wird (etwa Blanton et al. 2001; Henderson/Singer 2000; Mkandawire 2002). Einen Bezug zu postkolonialen theoretischen Perspektiven stellen diese Beiträge nicht her. Es finden sich jedoch durchaus Beiträge, die in ihrer Auseinandersetzung mit Krieg oder Sicherheit explizit auf postkoloniale Theorien rekurrieren. Auffällig ist dabei, dass solche Arbeiten vor allem im Bereich der Internationalen Beziehungen (Agathangelou/Ling 2004b; Shilliam 2011) und der Kritischen Sicherheitsforschung (Barkawi 2015; Barkawi/Stanski 2013; Dexter 2007) vorliegen. Zu nennen sind etwa die Ausgabe der Zeitschrift Millennium (1/2007) mit dem Schwerpunkt „Edward W. Said and International Relations“ und der Einführungsbeitrag von Siba Grovogui (2007). Tarak Barkawi und Mark Laffey (2006) kritisieren die Sicherheitsforschung für das ihr immanente eurozentrische Geschichtsverständnis, das die wechselseitige Bedingtheit der europäischen und nicht-europäischen Welt ausblende und deshalb kein adäquates Verständnis für bewaffneten Widerstand entwickeln könne. Jörg Meyer (2008) stellt aus ähnlicher Perspektive die Legitimität militärischer Interventionen „im Namen des Friedens“ infrage. Diese gründe sich auf einem Selbstbild des Westens als „Friedensbringer“ für die „Anderen“, die nicht willens oder in der Lage seien, selbst Frieden zu schaffen. Einige Arbeiten befassen sich unter Zuhilfenahme von postkolonialen Theorieansätzen kritisch mit „Terrorismus“. Gefragt wird nach der Bedeutung des Dualismus von „westlich“ vs. „nicht-westlich“ in Diskursen über Terrorismus und für seine Erscheinungsformen in der „realen Welt“ (Boehmer/Morton 2009: 2). Claudia Brunner (2010, 2012) analysiert aus wissenschaftssoziologischer Perspektive ausgehend von postkolonial-feministischen Theorieansätzen die Wissensbestände der englischsprachigen Terrorismusforschung. Weiterhin sind der „war on terror“ und seine Legitimierung über einen Diskurs der (westlichen) „Moderne“ Gegenstand postkolonialer Analysen (Mamdani 2004). Einige kritische, insbesondere von den Arbeiten Michel Foucaults (2003) und Judith Butlers (2004) inspirierte Studien analysieren den Diskurs um den „war on terror“ ohne explizite Referenz auf postkoloniale Theorie (etwa Neal 2008). Im Mittelpunkt stehen die Frage, wie über die Diskursfigur „war on terror“ Subjekte und Subjektivitäten konstituiert werden (beispielsweise der „islamische Terrorist“), sowie die Wirkmächtigkeit dieser Diskursfigur zur Begründung und Legitimierung von Politiken (aus postkolonial-feministischer Perspektive hierzu: Agathangelou/Ling 2004a). Diese Arbeiten zeigen, wie der „war-on-terror“-Diskurs innerhalb der Gesellschaften widergespiegelt wird, und lösen damit die künstliche Trennung von Außen- und Innenpolitik auf. Infolge rücken Politikfelder ins Zentrum der Friedens- und Konfliktforschung, die zuvor eher ihre Peripherie mar-
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kierten, etwa Migrations- und Flüchtlingspolitik sowie innere Sicherheit (beispielsweise die Einschränkung bürgerlicher Rechte mit Verweis auf Sicherheit und Terrorismusbekämpfung). Mechthild Exo (2015a) stellt das Wissen über Konflikt und Frieden von vier afghanischen Basisorganisationen dem wirkmächtigen und vermeintlich universellen westlichem Wissen gegenüber. Dabei wird die untrennbare Verzahnung von spezifischen Formen der Wissensproduktion und der über dieses Wissen diskursiv geschaffenen Hegemonie liberaler Konzepte von Frieden und politischer Ordnung sichtbar. Postkolonial angeleitete empirische Analysen liegen darüber hinaus zu medialen und wissenschaftlichen Legitimationen militärischer Intervention vor, insbesondere in Bezug auf die jüngsten Kriege in Afghanistan und im Irak (Klaus/Kassel 2008; Nachtigall 2012; Strüver 2010) sowie auf den Kosovo-Krieg (Bewernitz 2010). In diesem Bereich zeigt sich eine erhebliche Schnittmenge feministischer und postkolonial angeleiteter Forschungen: Hier sind zahlreiche Arbeiten zu finden, die sich an postkolonial-feministischer Theorie orientieren, sich dabei insbesondere auf Gayatri Spivak (1988, 1995) sowie Krista Hunt (2006) beziehen und deren Gegenstände Konflikt, Frieden und Sicherheit sind. Sie weisen in der empirischen Forschung oft eine (theoretisch begründete) Präferenz für bestimmte methodische Vorgehensweisen und Themen auf. Typischerweise greifen sie auf sprachbasierte (insbesondere diskursanalytische) Verfahren zurück und dekonstruieren dominante Diskurse in der politischen Praxis (Nachtigall/Bewernitz 2011) oder Wissenschaft (Brunner 2010).
P OTENZIALE UND ANSATZPUNKTE FÜR DIE F RIEDENS - UND K ONFLIKTFORSCHUNG Was können postkoloniale Zugänge in der Friedens- und Konfliktforschung leisten? Und worin bestehen konkrete Ansatzpunkte für postkolonial angeleitete Forschungen in diesem Feld? Postkoloniale Theorieansätze können in der Friedens- und Konfliktforschung prinzipiell das Gleiche leisten wie in anderen Forschungsfeldern auch. Eine ihrer besonderen Stärken liegt in der Analyse, wie die in der Peripherie verorteten „Anderen“ (wobei die Peripherie nicht gleichbedeutend mit den Ländern des Globalen Südens ist) im Zentrum repräsentiert werden und wie die Produktion vermeintlich „objektiven“ Wissens über die „Anderen“ zu dieser spezifischen Repräsentation beiträgt. Zwar muss sich postkoloniale Theorie generell dem Vorwurf stellen, auf der Ebene der Kritik an der Wissensproduktion zu verharren, obgleich Veränderungen der materiellen Gegebenheiten wie der Institutionen internationaler Politik und der global-kapitalistischen
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Wirtschaftsordnung notwendig wären (Ahmad 1995; Dirlik 1994). Ausgehend von der Annahme der Verschränkung von Wissen, Macht und Herrschaft ist jedoch evident, dass die Produktion von (wissenschaftlichem) Wissen eine zentrale Bedeutung für die gesellschaftliche und politische Praxis hat – zumal in Forschungsfeldern wie der Friedens- und Konfliktforschung, für die der Bezug von Wissenschaft und Praxis sowie Anwendungsorientierung prägend sind. Postkoloniale Zugänge können die Friedens- und Konfliktforschung um die Kritik an Macht-Wissen-Komplexen bereichern und zur Reflexion einer möglichen eigenen, damit verbundenen Komplizenschaft anregen. Angesichts der vielfachen Verflechtungen des Forschungsfelds mit der politischen Praxis ist dies in hohem Maße relevant. Dabei gilt es etwa aufzudecken, inwiefern wissenschaftliches Wissen über den „Orient“ bzw. die „Anderen“ intendiert oder nicht-intendiert zur diskursiven Legitimierung von Gewalt (etwa militärischer Intervention) beitragen kann. Damit soll keinesfalls unterstellt werden, dass unser wissenschaftliches Wissen über Konflikt und Frieden per se dazu beiträgt, Herrschaft zu stabilisieren oder Gewalt zu legitimieren. Es kann im Gegenteil durchaus auch emanzipatives Potenzial bergen. Ich behaupte auch nicht, dass keine Reflexion über die praxeologischen Implikationen und den politischen Gebrauch unseres friedenswissenschaftlichen Wissens stattfinden würde. Postkoloniale Theorie kann jedoch in zweifacher Weise einen spezifischen Beitrag zu dieser Reflexion leisten: Sie kann zum einen ein begrifflich-konzeptionelles Instrumentarium bereitstellen (vgl. dazu Ashcroft et al. 2000; Smith 1999), das der kritischen Diskussion innerhalb der Friedens- und Konfliktforschung über ihre möglichen politischen Verstrickungen ein bisher fehlendes theoretisch-methodisches Fundament anbietet. So lassen sich ausgehend von den vorhandenen Wissensbeständen postkolonialer Studien etwa systematisch orientalistische Diskursfiguren identifizieren. Zum anderen führt uns die Auseinandersetzung mit postkolonialer Theorie zur erkenntnistheoretischen Reflexion über Forschungsfragen und -ziele. Denn zentral für postkoloniale Studien ist der Anspruch, nicht (nur) Wissen über die „Anderen“ zu produzieren, sondern dieses stets und notwendigerweise mit der Frage zu verbinden, mit welchen Konstruktionen des „Eigenen“ dieses Wissen einhergeht. Aus postkolonialer Perspektive kann und soll es keine „neutrale“ oder „wertfreie“ Forschung geben. (Wissenschaftliches) Wissen ist gebunden an die Position derjenigen, die es produzieren, und es erfüllt stets, ob gewollt oder ungewollt, einen Zweck. Auch und gerade hinsichtlich der Produktion von Wissen über Konflikt, Gewalt und Frieden ist immer zu fragen, wer mit welchen Methoden welche Fragen zu welchem Ziel erforscht. Wer spricht mit ihrer_seiner For-
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schung zu wem und zu welchem Zweck, und wer nimmt dabei wen zu repräsentieren in Anspruch (vgl. Spivak 1988; Steyerl 2003; Yildiz 1999)? Damit verbunden ist notwendigerweise die Forderung, sich der eigenen (Sprecher_innen-)Position bewusst zu werden. Hierbei geht es nicht nur darum, zu diskutieren, wie unsere Forschungsergebnisse in Diskursen und Politiken verwandt werden, wobei diese Verwendung häufig außerhalb unseres Einflussbereichs stattfindet. Im Vordergrund steht auch nicht die – wichtige und in der Friedens- und Konfliktforschung mittlerweile relativ breit diskutierte – methodische Frage, welchen Einfluss der kulturelle Kontext einer Feldforschung bzw. einer Interviewsituation, soziale Rollen, Erwartungen und Machtasymmetrien zwischen Forscher_innen und Forschungssubjekten auf durch Interviews produzierte Daten ausüben und welche forschungsethischen Probleme damit verbunden sind (vgl. dazu Buckley-Zistel 2015; Nordstrom 1995). Postkoloniale Studien gehen hierüber noch hinaus: Angestoßen unter anderem durch Linda Smith (1999) wird aus postkolonialer Perspektive gefordert, nicht nur Forschungsperspektiven, Theorien, Begriffe und Konzepte, sondern auch Methodologien, Methoden und den Prozess der Wissensproduktion selbst zu dekolonialisieren. Forschung ist ein machtgeladenes Privileg: Auch selbstreflektierte Forscher_innen befinden sich in der privilegierten Position, die Entscheidungen über ontologische Setzungen, die Wahl von Forschungsfragen und -gegenständen, ihrer Forschungssubjekte und -partner_innen treffen zu können (Decoloniality Europe 2013). Nicht-westliches Wissen wird häufig als „lokales Wissen“ gefasst, während westlich-wissenschaftliches Wissen vermeintlich abstrakt, kontextunabhängig und womöglich universell gültig sei (Hacker 2012; Smith 1999). Postkoloniale Autor_innen stellen dem das Konzept „Indigener Methodologie“ als die „selbstbestimmte Wissensproduktion der weltweit Kolonialisierten“ (Exo 2015b: 282) gegenüber, wobei „indigen“ sich nicht auf eine essentialisierende, vermeintlich „authentische“ Identität bezieht, sondern „seine Bedeutung aus der Erfahrung und der Notwendigkeit der Abwehr von Unterdrückung gewinnt“ (ebd.). Wo bestehen nun konkrete Ansatzpunkte für postkoloniale Analysen von bewaffneten Konflikten und Friedensprozessen? Ein Feld möglicher empirischer Studien bieten die Selbstzuschreibungen der an Konflikt- und Friedensprozessen beteiligten Akteur_innen: An postkolonialer Theorie orientierte Studien haben gezeigt, wie Freiwillige und Hauptamtliche in Entwicklungszusammenarbeit und Humanitärer Hilfe eigene Identitäten eines „humanitär“ und „partnerschaftlich“ helfenden Selbst konstruieren (Eriksson Baaz 1995; Kontzi 2011). Daran können Analysen zu Post-Konflikt-Kontexten anschließen und den Blick auf die Selbst-
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Bilder der militärischen und nicht-militärischen Beteiligten von Interventionen der Konfliktbearbeitung und Friedensförderung richten. Schwerpunkt postkolonialer Beiträge zu Konflikt, Sicherheit und Frieden stellen bislang Interventionen des „Westens“ im Orient bzw. im Globalen Süden dar. Viel und noch nicht ausgeschöpftes Potenzial bieten postkoloniale Studien anschließend an Dipesh Chakrabartys (2000) Konzept der Provinzialisierung Europas darüber hinaus dahingehend, theoretisch zentrale Begriffe kritisch auf ihre Provenienz in europäischen und eurozentristischen Theorietraditionen hin zu überprüfen (vgl. Ziai 2012: 314-315). Tarak Barkawi (2015) kritisiert in diesem Sinne den Dualismus von Krieg und Frieden, der Gewalt als Ausnahmeerscheinung, nicht als konstitutives Element staatlicher und imperialer Herrschaft unterstellt. Auch weitere für die Friedens- und Konfliktforschung grundlegende und vermeintlich selbstverständliche Konzepte, etwa die Leitkategorie „staatlich“ vs. „nichtstaatlich“, ließen sich als in einem westlich-kolonialen Verständnis der (Staaten-)Welt verankert entlarven. Das „Modell der ethnisch verwurzelten Nationalkultur als in sich geschlossener Einheit“ (Kerner 2010: 246) ist in der Forschung über gewaltsame Konflikte nach wie vor gängig. Shalini Randeria (1999) setzt dem das Konzept der „verwobenen Moderne“ entgegen, das sich gegen die vorherrschende modernisierungstheoretische Vorstellung wendet, der „Westen“ stelle die (moderne) Norm gesellschaftlicher Entwicklung dar und der „Rest“ repräsentiere dessen (traditionale) Vergangenheit und bewege sich im Sinne einer „nachholenden Entwicklung“ auf die „moderne“ Norm zu. Aufzudecken, dass und wie diese Idee sowohl friedenswissenschaftlich als auch in der friedenspolitischen Praxis verankert ist, könnte ein wesentlicher Beitrag an postkolonialer Theorie orientierter Friedens- und Konfliktforschung sein. Reichhaltiges Material für kritische postkoloniale Interventionen bieten bestehende Arbeiten zu „ethnischen“ und „neuen“ Kriegen: In Texten und Bildern wird implizit, manchmal auch explizit, ein „barbarisches“ Schwarzes und/oder muslimisches „Anderes“ konstruiert, das Gewalt aus Emotion oder Tradition ausübt und zum Frieden nicht willens oder fähig ist. Über ein diskursives „Othering“ wird dabei das „westliche“ Selbst mit Attributen wie „modern“ oder „zivilisiert“ ausgestattet. Jonathan Hill (1995) zeigt dies eindrücklich in seiner Kritik der „Staatszerfall“-Debatte: In dieser würden afrikanische Staaten als „Abweichungen“ einer ahistorischen, mit positiven Attributen belegten Vorstellung europäischer Staatlichkeit konstruiert. Ähnliche Dualismen lassen sich beispielsweise in der These von der „Barbarisierung“ oder „Brutalisierung“ der „neuen Kriege“ identifizieren, die geographisch in Afrika und dem Vorderen Orient verortet und den europäischen „Staatenkriegen“ gegenüber gestellt werden (etwa Kaplan 1994; Münkler 2002; zur Kritik vgl. Chojnacki/Namberger
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2014; Marchal 2000; Ziai 2012; Ziai/Schaffar 2011). Während es in Europa zu einer „Disziplinierung“ des Militärs gekommen sei, habe „in Regionen, in denen nomadisierende Hirten- und Jägervölker das Kriegswesen bestimmten […], die Gewaltanwendung, die ganz selbstverständlich zum Alltagsleben der Nomadenvölker gehörte, […] fast nahtlos in Krieg übergehen“ (Münkler 2002: 117) können. Die These von den „neuen Kriege“ schließt damit nahtlos an die Konstruktion von „ethnischen“ Kriegen und „Stammeskriegen“ an: So glichen „im größten Teil Afrikas […] die kriegführenden Einheiten Volksstämmen – tatsächlich handelt es sich um Stämme oder um das, was nach der zersetzenden Wirkung der Zivilisation noch übrig geblieben ist“ (van Creveld 1998: 288, Herv. im Orig.), wie Martin van Creveld schreibt. Essentialisierende Identitätszuschreibungen sind weit verbreitet: „Im bettelarmen Äthiopien spielen sich ähnliche Auseinandersetzungen zwischen christlichen Ethnien und islamischen Stämmen ab. Anderswo stehen sich Stammesgruppen gegenüber, die sich nach Sprache und Aussehen unterscheiden“ (Hartmann 2001: 204). Aus postkolonialer Perspektive wird die Idee von „ethnischen“ Kriegen und „Stammeskriegen“ hingegen als koloniale Erfindung enttarnt. Beispielsweise verweist Jean-Loup Amselle (1999: 40) darauf, dass Bauernaufstände und andere Bewegungen gegen die Kolonialisierung als „ethnische“ Kriege oder „Stammeskriege“ markiert worden seien, um auf diese Weise antikoloniale Widerstände diskursiv unsichtbar zu machen.
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Wird die Kritik an der Konstruktion „ethnischer“ Kriege mit der empirischen Analyse der Entstehungsprozesse dieser Konflikte verbunden, so wird deutlich, dass sich postkolonial orientierte Forschung keineswegs auf die – wichtige – Ebene der Kritik an der Wissensproduktion und diskursiv-symbolischen Repräsentation beschränkt, sondern diese im Gegenteil Hand in Hand mit der kritischen Analyse materieller Ungleichheiten und insbesondere deren Prägung und Verfestigung durch globale, kapitalistische und machtpolitische Verflechtungen geht. Dies lässt sich am Beispiel des innerstaatlichen Krieges in der Côte d’Ivoire in den 2000er Jahren illustrieren. Dieser bewaffnete Konflikt folgte einem Militärputsch im September 2002 und spaltete das Land über Jahre, politisch und physisch: Eine von französischen und internationalen Truppen militärisch gesicherte Pufferzone teilte das Land in den von den Rebellen der „Forces Nouvelles“ kontrollierten Norden und den Süden, den Präsident Laurent Gbgabo und ihm gegenüber loyale Truppen kontrollierten Süden. Sie wurde erst nach der Unterzeichnung eines Friedensabkommens im März 2007 sukzessive abgebaut.
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In den europäischen Medien und populärwissenschaftlichen Berichten wurde der Konflikt vielfach als „Religionskonflikt“ oder „ethnischer Konflikt“ dargestellt: „In diesen Gegenden [Nigeria und der Côte d’Ivoire] [wird] der Alltag immer wieder von blutigen Konflikten ethnischen oder religiösen Ursprungs überschattet“ (Burri 2013). Dieses Zitat, das einem Beitrag in der „Neuen Zürcher Zeitung“ entnommen ist, spiegelt typische Elemente des Diskurses um „ethnische Kriege“ wider: deren räumliche Verortung im Globalen Süden, die Vermischung oder Gleichsetzung von Ethnizität und Religion, die Idee, Ethnizität oder Religion seien Ursachen gewaltsamer („blutiger“) Konflikte. Unter dem Schlagwort der „Ivoirité“, übersetzt das „rein ivorisch Sein“, begann in der Côte d’Ivoire in den 1990er Jahren eine Exklusionspolitik, die insbesondere das Wahl- und das Landrecht betraf (Dozon 2001). Die Konstruktion des „echten“ ivorischen „Self“ und seine Abgrenzung gegenüber dem fremden „Other“ in der „Ivoirité“ verlief vielschichtig entlang der Kategorien Religion, Ethnizität, regionale Herkunft und Nationalität. In vielen Darstellungen des Konflikts in der Côte d’Ivoire werden diese Kategorien zur Definition vermeintlich statischer sozialer Gruppen verwandt und daraus geschlossen, der Konflikt verliefe zwischen muslimischen Dioula im Norden und christlichen Akan im Süden (vgl. Rueff 2004). Eine solche Lesart des Konflikts verkennt nicht nur die Fluidität kollektiver Identitäten, sondern auch, dass in der Côte d’Ivoire wie in vielen anderen afrikanischen Ländern das Konzept der Staatsbürgerschaft im Kontext kolonialer Herrschaft eingeführt wurde. Die Kolonialverwaltungen hatten ein Interesse daran, soziale Gruppen und Hierarchien zu fixieren, um die effiziente Beherrschung und Verwaltung der kolonialisierten Gebiete zu erleichtern (vgl. Eckert 2006). Der Erfolg der ethnopolitischen Mobilisierung in der Côte d’Ivoire der 1990er Jahre lässt sich zudem nur vor dem Hintergrund der sozioökonomischen Entwicklung des Landes in den ersten drei Jahrzehnten seiner Unabhängigkeit verstehen. Die Côte d’Ivoire galt lange als Musterbeispiel eines postkolonialen kapitalistischen Staates. Anfang der 1980er Jahren zeichnete sich ab, dass das ivorische Wirtschaftswunder auf Sand gebaut war. Es beruhte vor allem auf der stark exportabhängigen Kaffee- und Kakaoproduktion und war damit Schwankungen auf dem Weltmarkt ausgesetzt. Mitte der 1970er Jahre erlebte dieser einen regelrechten Kakao-Boom – die Preise verdreifachten sich innerhalb von drei Jahren, fielen aber ab 1979 fast ebenso schnell wieder (Losch 2000). Zwar wuchs die ivorische Volkswirtschaft, jedoch ging das „ivorische Wunder“ ging mit steigender Ungleichheit und Armut einher (Hugon 2003; Langer 2004). Dies wurde durch die Strukturanpassungsprogramme noch verschärft, welche die Bretton-Woods-Institutionen seit 1982 in der Côte d’Ivoire durchgesetzt
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hatten (Cogneau/Mesple-Somps 2003). Mit der starken Reduzierung der öffentlichen Ausgaben im Zuge der Strukturanpassung ging ein massiver Abbau von Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor einher. In Kombination mit der allgemeinen ökonomischen Krise und der durch die Programme des IWF hervor gerufenen Verlangsamung des Wirtschaftswachstums bot der private Sektor gleichfalls weniger Einkommenschancen. Folge war eine wachsende Gruppe junger gut ausgebildeter Menschen, die in den Städten keine adäquate Arbeit mehr finden konnten (Losch 2000). Viele von ihnen kehrten in ihre Heimatdörfer zurück, wo ihnen jedoch auch die Landwirtschaft kaum ein Einkommen bot. Die Rückkehr junger Menschen in die ländlichen Gebiete wurde zum Katalysator unter anderem für Landrechtskonflikte (Chaveau 2003). Die ökonomische Krise der 1980er Jahre und die sozioökonomische Ungleichheit waren das Fundament der vermeintlich „ethnischen“ Mobilisierung der 1990er Jahre, die wiederum wesentlich für die Rebellion und den anschließenden bewaffneten Konflikt waren. Die Darstellung des Konflikts als „ethnischen oder religiösen Ursprungs“ macht dessen sozioökonomische und politische Ursachen, ihre Einbettung in die Strukturen kolonialer Herrschaft und deren Fortwirken nach der Dekolonialisierung sowie die wesentliche Rolle der durch die Internationalen Finanzinstitutionen forcierten Strukturanpassung unsichtbar. Aus postkolonialer Perspektive werden diese essentialisierende Konstruktion des „rückständigen Anderen“ und ihre Wirkmächtigkeit als vermeintliche Erklärung des Konflikts sichtbar. Dies ermöglicht es im nächsten Schritt, danach zu fragen, welchen Zielen diese Konstruktion und Erklärung dienlich sind, und welche anderen Konfliktursachen dadurch verdeckt werden.
F AZIT Gegenwärtig steht die deutschsprachige Friedens- und Konfliktforschung vor der Herausforderung, sich einerseits als wissenschaftliches Feld mit entsprechenden Forschungsprojekten, Publikationen und institutionellen Verankerungen wie dem Aufbau von Forschungsschwerpunkten, Studiengängen, der Schaffung und Verstetigung von Stellen, im akademischen Betrieb weiter zu etablieren bzw. zu bewähren. Im gegenwärtigen wissenschaftskapitalistisch organisierten Forschungsbetrieb unterliegen Forscher_innen institutionellen Zwängen und inhaltlichem Anpassungsdruck. Der Spagat zwischen diesen Zwängen auf der einen und dem eigenen wissenschaftspolitischen Anspruch und Selbstverständnis auf der anderen Seite ist für kritische Friedens- und Konfliktforscher_innen enorm. Kritische Friedens- und Konfliktforschung hat den Anspruch, sich (friedens-) politisch nicht (nur) an staatliche Institutionen, sondern auch an die Zivilgesell-
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schaft, Friedensbewegung und vor allem an die Forschungssubjekte selbst zurück binden. Sie sollte sich dabei immer wieder aufs Neue selbst infrage stellen, die eigene Sprecher_innenposition sichtbar machen und die eigene Analyse, Position und Stimme zugunsten jener der Subjekte der Forschung zurückzustellen in der Lage zu sein.
Postkoloniale Studien bieten hier erhebliche Chancen, verfügen sie doch über das theoretische Instrumentarium sowie forschungspraktische Ansatzpunkte und Erfahrungen, wie ein solcher Anspruch eingelöst werden kann. Sie zeigen, dass es dabei stets zugleich um das „Was“, das „Wer“, das „Wie“ und das „Wozu“ der Forschung gehen muss. Gerade für ein Forschungsfeld, für das die Nähe zur politischen Praxis konstitutiv ist, ist dies von erheblicher Bedeutung. Für die Friedens- und Konfliktforschung lässt sich daraus folgern, dass sie sich nicht auf die Forschung zu militärischer und „ziviler Sicherheit“ reduzieren (lassen) sollte – auch nicht aufgrund (drittmittel-)strategischer Opportunitäten. Diesen Anspruch gilt es auch institutionell durch wissenschaftspolitisches Lobbying zu vertreten. Mit Blick auf bislang theoretisch und empirisch unterbeleuchtete Forschungsfragen bieten Postkoloniale Studien der Friedens- und Konfliktforschung vielversprechende Ansatzpunkte, ihre Grundbegriffe zu reflektieren und dabei an die für die Entwicklung des Forschungsfelds grundlegenden Debatten etwa über den Konflikt-, Friedens- und Gewaltbegriff anzuknüpfen, gleichzeitig aber über die hierzu bereits bestehenden und hinreichenden diskutierten Überlegungen hinaus zu gehen (wie etwa Claudia Brunner in ihrem Beitrag zu diesem Band für den Gewaltbegriff zeigt). In anderen politikwissenschaftlichen Forschungsfeldern wie den Internationalen Beziehungen und der Entwicklungsforschung, die wesentliche Schnittmengen mit der Friedens- und Konfliktforschung aufweisen, haben postkoloniale Zugänge sich in den letzten Jahren weiterentwickelt (vgl. Ziai 2012). Dabei ist deutlich geworden, dass der zentrale Beitrag Postkolonialer Studien nicht nur darin besteht, grundlegende Begriffe und Konzepte zu hinterfragen und zu dekonstruieren, sondern sie diese auch zu rekonstruieren in der Lage sind. Darüber hinaus verbinden postkoloniale Zugänge theoretisch und empirisch Fragen materieller Ungleichheits- und Gewaltverhältnisse mit deren diskursiver und symbolischer Repräsentation. Für die Friedens- und Konfliktforschung besteht angesichts dessen in den Postkolonialen Studien ein erhebliches und längst nicht ausgeschöpftes analytisches Potenzial.
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Mit dem postkolonialen Pflug über entwicklungspolitische Felder Die Beispiele Tourismus- und reproduktive Gesundheitspolitik C HANDRA -M ILENA D ANIELZIK UND D ANIEL B ENDIX
E INLEITUNG In diesem Beitrag geht es darum, was eine postkoloniale Forschungsperspektive zum Verständnis internationaler Entwicklungspolitik beitragen kann. Wir zeigen Spezifizität, Mehrwert und Stolpersteine einer postkolonialen Analyse von entwicklungspolitischen Politikfeldern auf. Postkoloniale Kritik verstehen wir als heterogene, an Machtverhältnissen interessierte Strömung, die sich insbesondere marxistischer, feministischer und poststrukturalistischer Forschungsperspektiven bedient. In den anglo-amerikanisch geprägten Development Studies hat sich seit ca. Anfang der 2000er eine Diskussion um den Zusammenhang von Kolonialismus und Entwicklungsdenken, ‚Entwicklungspolitik‘ bzw. ‚Entwicklungszusammenarbeit‘ entsponnen (Kothari 2006). Postkoloniale 1 Ansätze fordern uns auf, das Konzept von ‚Entwicklung‘ seiner vermeintlichen Natürlichkeit zu berauben und es innerhalb von Macht-Wissens-Verhältnisse zu historisieren. Das bedeutet auch, den für das Selbstverständnis der internationalen Entwicklungspolitik angenommenen zentralen Bruch zwischen Kolonialzeit und Entwicklungsära fundamental infrage zu stellen (Biccum 2002). Während allgemeine Politikausrichtungen untersucht wurden (Slater/Bell 2002), sind konkrete Analy-
1
Zwischen „dekolonialen“ und „postkolonialen“ Herangehensweisen bestehen zweifellos Differenzen (vgl. Bhambra 2014), auf die wir hier nicht näher eingehen werden. Da bzgl. unserer Analysen keine Trennschärfe zwischen den Studienfeldern besteht, sprechen wir im Folgenden verallgemeinernd von postkolonialen Ansätzen.
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sen entwicklungspolitischer Felder aus einer dezidiert postkolonialen Perspektive bis dato rar gesät. Dieser Beitrag trägt zur weiteren Schließung dieser Lücke bei. Was den spezifischen Mehrwert einer postkolonialen Erforschung von Politikfeldern ausmachen, zeigen wir exemplarisch an den entwicklungspolitischen Feldern der internationalen Tourismus 2- und reproduktiven Gesundheitspolitik 3 auf. Methodologisch ist dies möglich, indem sich das Untersuchungsmaterial rein aus der Gegenwart speist (archäologisch-diskursanalytische Analyse, siehe Beispiel der Tourismuspolitik), aber auch dadurch, dass Entwicklungspolitik empirisch mit Kolonialpolitik in Bezug gesetzt wird (historisch-genealogische Analyse, siehe Beispiel der reproduktiven Gesundheitspolitik). Eine postkoloniale, politikfeldspezifische Entwicklungsforschung kann erstens Subjektivierungs- und Objektivierungsprozesse herausarbeiten und feststellen, inwiefern Akteur*innen diskursiv zu aktiv Handelnden oder passiv Behandelten gemacht werden. Zweitens ermöglicht insbesondere das Konzept der kolonialen Differenzherstellung, das Fortwirken und die feldspezifische Veränderung von Rassialisierungsprozessen zu erkennen. Drittens vermag eine postkoloniale Analyse den Zusammenhang fortwährender kolonialer Differenzherstellung und ökonomischer Ausbeutung herauszustellen und aufzuzeigen, inwiefern sich kolonialzeitliche kulturelle und politökonomische Verhältnisse heute neuformulieren, d.h. inwiefern „Kolonialität“ (Quijano 2000) gegenwärtig ist.
P OSTKOLONIALE T HEORIE UND E NTWICKLUNGSPOLITIK ALS M ACHT -W ISSENS -K OMPLEX Postkoloniale Ansätze zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich mit Wissensproduktion, daraus resultierenden Machteffekten und einer historisch ableitbaren Konstruktion des globalen Nordens und Südens befassen und der kolonialen Prägung von Repräsentationen und Identitäten nachgehen. Epistemologisch greifen viele Ansätze entsprechend auf poststrukturalistische Theorie zurück und untersuchen Kolonialismus sowie die heutige Zeit diskurs- und machtanalytisch. Aber auch Arbeiten der dekolonialen Perspektive, wenngleich sie den Bezug auf die im europäischen Kontext entstandenen postmodernen und -strukturalistischen Perspektiven ablehnen, interessieren sich für Wissensproduktion (Quijano 2000). 2
Die entsprechende Analyse hat Chandra-Milena Danielzik 2010 durchgeführt.
3
Die Ausführungen basieren auf 2009-2011 und 2014-2015 von Daniel Bendix durchgeführten Forschungen.
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In der Analyse von entwicklungspolitischen Politikfeldern hat sich die Postdevelopment-Schule mit einer derart ausgerichteten Perspektive hervorgetan (Escobar 1995; Ferguson 1994). Deren Autor*innen kritisieren das Entwicklungsparadigma, das von der Unterscheidung zwischen ‚entwickelten‘ und ‚unterentwickelten‘ Ländern, Gesellschaften und Individuen ausgeht, grundsätzlich, indem sie Entwicklungspolitik als Foucault’schen Macht-Wissens-Komplex begreifen. Entwicklungspolitische Interventionen lassen sich damit als ein komplexes Set aus „Institutionen, Finanzierungs- und Ressourcenflüssen, philosophischen Aussagen bezüglich der Möglichkeiten und Erwünschtheit sozialen Wandels nach dem Vorbild des Westens, professionellen Entwicklungsexpert*innen, wissenschaftlichen Anstrengungen […] und Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, die sich für Entwicklung engagieren“ (Brigg 2002: 427, ÜdA)
beschreiben. Die Frage der Subjektwerdung Die Frage der Macht ist nach Foucault vor allem auch eine Frage der Subjektherstellung: Unterschiedliche Machtformen werden „im unmittelbaren Alltagsleben spürbar, welches das Individuum in Kategorien einteilt, […], ihm ein Gesetz der Wahrheit auferlegt, das es anerkennen muß und das andere in ihm anerkennen müssen“ (Foucault 1994: 246).
So werden Adressat*innen von Entwicklungspolitik diskursiv auf bestimmte Subjektivitäten festgeschrieben. Die Subjekte, von denen beispielsweise im Feld der Tourismuspolitik gesprochen wird, sind nicht vordiskursiv und objektiv, sondern werden semantisch erst hervorgebracht und mit Bezeichnungen belegt (zum Beispiel: „die lokale Gemeinschaft“, „die Armen“), die zum Ausdruck bringen, was für Handlungsspielräume diesen Subjekten zugedacht werden. In den Postkolonialen Studien hat sich vor allem Edward Said (1978) mit seinem Konzept des othering, durch welches die ‚Anderen‘ vom ‚Eigenen‘ differenziert werden, mit Objektivierung und Subjektherstellung in der ‚westlichen‘ Wissensproduktion beschäftigt (siehe auch Hall 1996). Das ‚westliche‘ Denken hat sich in bestimmten disziplinären Grenzen entwickelt und so verweisen auch entwicklungspolitische Diskurse auf verschiedene Disziplinen wie zum Beispiel Ökonomie (die z.B. nach den Logiken von Effizienz und Wachstum funktioniert), Politik (z.B. Staat, Gesellschaft) oder Geo-
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graphie (z.B. Territorium, Nord/Süd). Diese Logiken stellen eine kollektive Ordnung dar, die nicht erst begriffen werden muss, sondern als vorbewusste Art des Verstehens vorliegt (vgl. Diaz-Bone 2006: 75). Ausgehend vom Said’schen Konzept des othering geht es uns bei einer Analyse von spezifischen Politikfeldern aus einer diskursanalytischen Perspektive praktisch darum, nach den jeweiligen Objekten zu suchen, welche durch diskursive Strategien als binäre Entsprechungen innerhalb dieser Rationalitätsfelder gegenübergestellt werden. Zentral ist dabei, Leerstellen, also das, was nicht gesagt wird, „aktiv als nicht-existent produziert“ (Santos 2004: 238, ÜdA) zu verstehen. Rassialisierung und ‚Entwicklung‘ Deutschsprachige Standardwerke zu Entwicklungspolitik erwähnen Rassismus und Kolonialismus auffällig selten, verstehen diese zuweilen als „spezifisch afrikan[ische] Probleme“ (Nohlen 2002: 626) und verweisen teilweise sogar auf „die zivilisatorischen Leistungen des Kolonialismus“ (Nuscheler 2005: 211). Rassismus als koloniales Erbe und global-gesellschaftliches Phänomen, welches die Beziehungen zwischen globalem Norden und Süden im Kontext von Entwicklungspolitik beeinflussen könnte, taucht in den deutschsprachigen Überblickswerken nicht auf. Das Schweigen über Rassismus im Feld der internationalen Entwicklungspolitik ist nicht unbedingt verwunderlich, legt doch der herrschende Entwicklungsdiskurs nahe, dass diese ein technisches Unterfangen sowie von Altruismus und Wohlwollen geprägt sei (Ferguson 1994). Vielmehr sind systematische Auslassungen, wie die Ent-nennung von Kolonialismus und Rassismus, grundlegende Strukturelemente des Entwicklungsdiskurses. Auch wenn sich im entwicklungspolitischen Vokabular nicht des Begriffes ‚Rasse‘ bedient wird, bedeutet das nicht, dass Rassismus in der ‚Entwicklungspolitik‘ bzw. in Diskussionen zu ‚Entwicklung‘ keine Rolle spielt. ‚Rasse‘ wird in anderer Form verhandelt und umschrieben, u.a. mit Begriffen wie ‚Stamm‘, ‚ethnische Gruppen‘ und ‚Kultur‘, in welchen das Konzept ‚Rasse‘ Vertretung findet (White 2002). In der internationalen Entwicklungspolitik werden „durch koloniale Prozesse konstruierte rassialisierte Formationen re-präsentiert und re-artikuliert“ (Kothari 1996: 3, ÜdA). Über den Diskurs hinaus Postkoloniale Entwicklungsforschung neigt dazu, Subjektivitäten, Diskurse und Ideologien zu privilegieren und widmet materiellen Bedingungen weniger explizite Aufmerksamkeit. Postkolonialen Arbeiten mit ihrem „kulturellen Bias“ (Santos 2010: 234) wird vorgeworfen, materielle Dimensionen und die Wir-
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kungsweise des globalen Kapitalismus außer Acht zu lassen (vgl. Dirlik 1994; zur Diskussion siehe Ziai 2010). Dabei werde übersehen, dass die Verbreitung europäischer Wissenssysteme und die kulturelle Hegemonie des globalen Nordens unabdingbar verknüpft seien mit der Ausbreitung kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse: „Ohne Kapitalismus als Basis europäischer Macht und als treibende Kraft für seine Globalisierung wäre Eurozentrismus einfach ein Ethnozentrismus unter vielen gewesen“ (Dirlik 1994: 346; ÜdA).
Im Laufe der Zeit hätten sich nach Walter Rodney (1975) rassistische und wirtschaftliche Unterdrückung grundlegend miteinander verschränkt. Diese Kritiken berücksichtigend, sollte ein postkoloniales Verständnis von Machtverhältnissen diese nicht lediglich auf die Subjektwerdung und Identitätsbildung zusammenschrumpfen und dabei Ausbeutungs- und Klassenverhältnisse außen vor lassen. Hierdurch würde man Gefahr laufen, rassialisierte Subjektpositionen zu essentialisieren und dabei starre Binaritäten wie globaler Süden/globaler Norden oder Schwarz/Weiß festzuschreiben. Gleichzeitig kann die Ökonomie nicht als einzige Materialität und Determinante begriffen werden. Vielmehr ist Kapitalismus ein Gesellschafts- und kein reines ökonomisches System. Als solches setzt dieser Menschen zueinander in Beziehung und gestaltet soziale und politische Beziehungen mit. Eine wichtige Voraussetzung für den Selbsterhalt des Kapitalismus ist dabei die Schaffung und Stabilisierung gesellschaftlicher Differenzlinien (u.a. Klasse, Rassialisierung, Gender, Heteronormativität): Zum einen, um Arbeitsteilung und Ausbeutungsverhältnisse zu organisieren und die Reproduktions- und Produktionssphäre geschieden zu halten; zum anderen, um gemeinsamem Widerstand durch die Schaffung von Interessengegensätzen entgegenzuwirken. In diesem Sinne wird im Analysebeispiel Tourismus als Entwicklungspolitik methodologisch mit Hilfe der Idee von Logikfeldern von der Existenz einer ökonomischen Rationalität ausgegangen, die nicht als eigene Sphäre, sondern als mit Rassismus verwoben und Rassialisierungsprozesse gestaltend betrachtet wird. Ferner wird auch auf Elitenbildung innerhalb des globalen Südens eingegangen. In der Analyse reproduktiver Gesundheitspolitik wird ökonomische Materialität anhand der Frage, „wie Entwicklungsdiskurse mittels konkreter sozioökonomischer Praktiken artikuliert werden“ (Wainwright 2008: 9, ÜdA), zum methodologischen Bestandteil der Analyse gemacht und somit von der Existenz deutlicher Profitinteressen ausgegangen, die mit spezifischen Diskurses korrelieren.
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T OURISMUS ALS F ELD DER INTERNATIONALEN E NTWICKLUNGSPOLITIK : Ö KONOMISCHE R ATIONALITÄTEN UND R ASSIALISIERUNGSPROZESSE Im Folgenden wird explizit Ferntourismus aus dem globalen Norden in den globalen Süden untersucht – also Tourismus in jene Länder, die ehemals europäische Kolonien waren. Der Fokus liegt dabei auf der internationalen Ebene der Politikformulierung in Form von textuellen Material im Kontext der United Nations World Tourism Organization (UNWTO). 4 Die UNWTO stellt ein Forum für staatliche Aushandlungen, aufgrund der Zentralität „Öffentlich-Privater Partnerschaften“ jedoch auch für internationale NRO und vor allem Vertreter*innen aus der Privatwirtschaft dar. Was zunächst als marginales Politikfeld erscheinen mag, ist laut UNTWO (2015, ÜdA), die hierbei mit sämtlichen Akteur*innen im Bereich Tourismus als entwicklungspolitisches Feld übereinstimmt, „eine wesentliche Triebkraft für sozio-ökonomischen Fortschritt. […] Heute entspricht oder übertrifft das Geschäftsvolumen von Tourismus sogar jenes von Ölexporten. Tourismus ist zum bedeutendsten Akteur im internationalen Handelsverkehr geworden und repräsentiert dabei eine der wichtigsten Haupteinnahmequellen von Entwicklungsländern.“
Wie in diesem Zitat bereits ersichtlich, sind es ökonomische Rationalitäten, die Tourismus im Feld der internationalen Entwicklungspolitik dominieren. Nochmal expliziter wird es im folgenden Zitat: „Tourismus bringt starke Konsumentengruppen in südliche Länder, was wichtiges Marktpotential für lokale Unternehmer birgt und einen Motor für nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung darstellt.“ (UNWTO 2002: 10, ÜdA)
Entsprechend werden Menschen des globalen Südens als Produzent*innen positioniert: „Der Tourist muss zur ‚Fabrik‘ reisen, um seine Ferien konsumieren zu können. Dies bringt wohlhabendere Konsumenten in direkten Kontakt mit oftmals wesentlich ärmeren Produzenten.“ (UNWTO 2002: 22, ÜdA)
4
Neben Dokumenten der UNWTO aus den Jahren 1997-2009 wurden auch Textproduktionen alternativer Reiseunternehmen sowie NRO, die ‚entwicklungspolitische‘ Themen im Bereich Tourismus ansprechen, herangezogen.
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Durch eine rein ökonomische Logik werden globaler Norden und Süden als gleichberechtigte Marktakteure zueinander in Beziehung gesetzt. Man könnte meinen, dass eine ökonomische Rationalität, für die der ‚objektive‘ Marktwert den Maßstab bildet und die lediglich Produzent*innen und Konsument*innen kennt, mit Rassismus inkompatibel ist. Schließlich geht dieser von der grundsätzlichen, essentiellen Ungleichheit von Menschen aus. In einer postkolonialen Analyse geht es nun darum herauszuarbeiten, welche Funktion der auftretenden ökonomischen Rationalitätsstruktur im Kontext entwicklungspolitischer NordSüd-Beziehungen zukommt. Methodologisch wird dafür in archäologischer Perspektive zwischen einer diskursiven Wissensoberfläche – an der das hervortritt, was im tourismuspolitischen Diskurs als ‚Wahrheit‘ und Evidenz wahrnehmbar ist und an welcher die Subjekte des globalen Südens quasi neutral als „Produzenten“ (producers), „die Armen“ (the poor) oder als „lokale Gemeinschaft“ (local community) auftauchen – und einer semantischen, operativen Grundlogik bzw. Tiefenstruktur, welche diese Begriffe und Objekte erzeugt und organisiert, unterschieden (vgl. Diaz-Bone 2006). Eine Analyse des Diskursfeldes von Tourismus als Teil von Entwicklungspolitik zeigt, dass das Zusammenwirken einer ökonomischen Rationalität mit Rassialisierungsprozessen die Spezifizität des Diskurses ausmacht (siehe ausführlich dazu Danielzik 2010). Im Folgenden wird durch zwei Teilaspekte ein Einblick in die Analyse gegeben, die das zentrale Anliegen hat zu untersuchen, inwiefern sich koloniale Wissenssysteme und Subjektivierungsweisen in gegenwärtigen entwicklungspolitischen Nord-Süd-Beziehungen wiederfinden. So wie es ist, so soll es werden: Authentizität als paradoxes Entwicklungskapital Entwicklungspolitische Diskurse platzieren Subjekte in bestimmten Positionen, die mitentscheiden, ob sie eher als politisch mündige Entscheidungsträger*innen oder als passive Empfänger*innen von ‚Hilfe‘ angesprochen werden (siehe Abschnitt „Die Frage der Subjektwerdung“). Subjektkonstruktionen entscheiden im Kontext von globaler Ungleichheit, wem Zugang zu politischen und ökonomischen Ressourcen ermöglicht werden soll und wer in der Formulierung dieser Politiken marginalisiert bleibt. Die beiden am häufigsten verwendeten Bezeichnungen für Menschen im globalen Süden in Publikationen der Tourismuspolitik sind local community und the poor, wobei ein und dieselben Akteur*innen mit beiden Begriffen beschrieben werden. Ferner treten beide Begriffe bzw. Objektbeschreibungen an jenen Stellen auf, an welchem der globale Süden gemeint ist, so dass sie im untersuchten Diskurs zur Repräsentationsfigur des globalen Sü-
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dens werden (siehe dazu den Abschnitt „Die local community ist und bleibt lokal“). Als Kapital dieser ‚Produzent*innen‘ im Tourismussektor gilt in den untersuchten policies insbesondere „Authentizität“, welche „den Erwartungen der Konsumenten entsprechen muss“ (UNWTO 2001: 214). Das bedeutet, dass um über Tourismus zu ‚Entwicklung‘ zu gelangen, der globale Süden (oder eben ‚die Armen‘) den Erlebnis- und Wahrnehmungsbedürfnissen von Tourist*innen nachkommen und somit Projektionen von ‚authentisch‘-Sein reproduzieren müsse, um wahrhaftig und vor allem vermarktbar zu bleiben. Authentizität geht von der Annahme einer von äußeren Einflüssen unberührten Wesensessenz aus. Nun sind diese Projektionen der Authentizität des globalen Südens nicht unschuldig, sondern stellen aus postkolonialer Perspektive eine Essentialisierung dar, welche die entsprechenden Subjekte auf eine Wesensessenz reduziert, die geprägt ist von Zuschreibungen wie ursprünglich, natürlich, primitiv und unberührt von Modernität. Diese Projektionen von Authentizität dienen auch als Distanzierungsstrategie innerhalb des othering im Entwicklungsdiskurs, in welchem eine „Verweigerung der Gleichzeitigkeit“ (Frank 2006: 40) wirkt: Durch die dem dominanten Entwicklungsdiskurs innewohnenden evolutionistischen Grundgedanken (vgl. Melber 1992) wird eine eurozentrische Zeitskala angelegt. Die gegenwärtigen ‚Unterentwickelten‘ oder ‚Primitiven‘ werden als das Prähistorische dargestellt. Menschen des globalen Südens werden dadurch außerhalb der Entwicklungs- und somit der Menschheitsgeschichte geparkt und als im Ursprung dieser Geschichte verwurzelt betrachtet. Somit werden die Nähe zur Natur und die vermeintliche Stagnation im Jenseits zivilisatorischer und wirtschaftlicher Entwicklung paradoxerweise zum Motor von Entwicklung. Die local community ist und bleibt lokal Durch die Verwendung des Begriffs ‚lokal‘ als Teil des Begriffspaares local community wird der community eine Räumlichkeitskomponente hinzugefügt. Der Begriff local markiert nicht nur eine Ab-, sondern auch eine Be-grenzung: „örtlich […] begrenzt“ (Duden 2015) steht dabei in Opposition zu global als „auf die ganze Erde bezüglich; weltumspannend umfassend“ (ebd.). Die Charakterisierung als ‚lokal‘ ruft die Assoziation einer Verbindungslosigkeit der local communities zu globalen Prozessen hervor (vgl. Escobar 2001, Danielzik 2012). Wenn der local community an der semantischen Oberfläche gemäß der Annahme binärer Subjektkonstruktionen (siehe Abschnitt „Die Frage der Subjekt-
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werdung“) ein Objekt gegenüber gestellt würde, so wäre dies die global society. Diese kann aufgrund ihrer Globalität als Verkörperung universaler, ‚moderner’ Werte interpretiert werden. Dabei wird das Globale im entwicklungspolitischen Denken gleichgesetzt mit „Raum, Kapital, Geschichte und Agency“, während das Lokale mit „Örtlichkeit, Arbeitskraft, und Tradition“ assoziiert wird (Escobar 2001: 141, ÜdA). In tourismuspolitischen Publikationen tritt an der textuellen Oberfläche jedoch eine Leerstelle auf, denn anstatt von global society zu sprechen, erscheint die civil society des globalen Südens und wird den local communities/den Armen binär gegenüberstellt. Dies impliziert einen Ausschluss der Armen aus der Zivilgesellschaft. Hier schimmert die Locke’sche Formel des durch den Rationalismus inspirierten Konzepts einer liberalen Gesellschaft durch: alle Menschen minus Besitzlose/Arme = besitzende Bürger = Gesellschaft. In Dokumenten der internationalen Tourismuspolitik vereinigt die Zivilgesellschaft all jene Elemente, die mit dem ‚Westen‘ in Verbindung gebracht werden, fungiert sozusagen als ‚Proto-Westen‘ im globalen Süden und soll „den Armen dabei helfen, dass ihre Stimmen gehört werden“ (UNWTO 2002: 97; ÜdA). Diskursiv wird die Elite dadurch aus dem globalen Süden heraus dividiert und die Armen erscheinen als Inbegriff des ‚authentischen‘ globalen Südens. Verstärkt wird die Begrenzung der local community dadurch, dass – im Gegensatz zum Begriff Gesellschaft – die community als eine in sich homogene „Gruppe von Menschen mit gleichen Interessen [und] Wertvorstellungen“ (vgl. Duden 2007) begriffen und im Allgemeinen zum Begriff Gesellschaft in dialektische Relation gesetzt wird (vgl. Schubert und Klein 2011). Im untersuchten Feld wird die community immer wieder auf das sie beschreibende Präfix local beschränkt, welches diese dadurch als eine kleine, regional fixierte Einheit erscheinen lässt. Die local communities besäßen „lokales Wissen“ (UNWTO 2002: 39; ÜdA) und hätten „Wissenslücke[n]“ (ebd.: 13; ÜdA). Sie bleiben im Diskurs somit im Lokalen verhaftet. Dadurch, dass der globale Süden in den policies durch die local communities repräsentiert wird und diese gleichgesetzt werden mit ‚den Armen‘, erscheinen letztere nicht als Teil des Globalen. Die Tourismusindustrie wird im untersuchten Material „als eine großartige Schule zur Modernisierung von Werten“ (UNWTO 2001b: 68; ÜdA) beschrieben, die der local community Zugang zum Globalen ermögliche. Interessant ist, wie der ‚Westen‘ indirekt in Erscheinung tritt und durch die Repräsentation durch die Zivilgesellschaft im globalen Süden universalisiert wird.
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Des Kaisers neue Kleider: Rassialisierungsprozesse sichtbar machen Unter Zuhilfenahme einer diskursanalytischen Vorgehensweise, die eine postkoloniale Perspektive als ihren theoretischen Einfallswinkel wählt, ist es möglich, durch die textuelle Oberfläche des Analysematerials zu dringen und spezifische Rassialisierungsprozesse auf der policy-Ebene freizulegen. Dadurch kann gezeigt werden, wie sich heutige postkoloniale Macht-Wissens-Komplexe in den zwei zusammengeführten Bereichen Tourismus und ‚Entwicklungspolitik‘ artikulieren. Anfangs erschien die Omnipräsenz ökonomistischer Argumentationsweisen und Begriffe wie Produzent*innen, Konsument*innen und Arme geradezu als ein Hindernis, welches das Aufspüren von kolonialem ‚Wissen‘ bzw. kolonialer Macht verunmöglichte. Dass Hierarchisierungs- und Rassialisierungsprozesse nicht selbständig zutage treten und es zunächst so erscheint, als würden sie nicht (mehr) Teil des Diskurses sein, bedeutet jedoch nicht, dass diese nicht Teil von dessen Grundstruktur sind: Koloniale Wissensstrukturen wurden nicht aufgelöst, sondern stellen vielmehr – etwa durch die Verlagerung der dem globalen Norden zugeschriebenen Charakteristika in die ökonomischen und politischen Eliten des globalen Südens (als Zivilgesellschaft) – ihre Adaptionsfähigkeit unter Beweis. Durch die ausbleibende Markierung des globalen Nordens kann das dominante ‚Entwicklungsparadigma‘ universalisiert und als Evidenz in den globalen Süden eingeschrieben werden. Interessant ist auch, dass beispielsweise der Begriff der (local) community an der textuellen Oberfläche auf ein emanzipatives Moment hinweist, da er in bestimmten Kontexten wie bspw. „community organizing“ oder „Black community“ als Widerstandsbegriff gegen hegemoniale Gesellschafts- und Identitätskonzepte Verwendung findet. An der Oberfläche des Diskurses tritt die Hülle, der inhaltsleere Signifikant des potentiell progressiven Begriffs, in Erscheinung und erweckt den Eindruck eines Bruches im Diskurs. Durch eine postkoloniale Diskursanalyse, welche die im untersuchten Diskurs wirksamen Strategien sichtbar werden lässt, wird eine progressive Konnotation jedoch in Frage gestellt. Die Analyse zeigt, dass Rassismus keine invariable Größe und nicht zwangsläufig anhand von Signifikanten identifizierbar, sondern facettenreich und adaptionsfähig ist. Auch wenn er im Nord-Süd-Kontext unweigerlich mit dem europäischen Kolonialismus verbunden bleibt, ist er nicht auf offenkundige biologistische Rassebegrifflichkeiten angewiesen, sondern offenbart sich in Abhängigkeit von Diskurskontexten unterschiedlich. Es gilt ihn also in seiner Spezifizität zu sezieren und dadurch (an-)greifbar zu machen (vgl. Danielzik 2011: 528).
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R EPRODUKTIVE G ESUNDHEITSPOLITIK DER BRD IM G LOBALEN S ÜDEN UNTER BESONDERER B ERÜCKSICHTIGUNG T ANSANIAS Im Folgenden geht es um das spezifische Feld der reproduktiven Gesundheitsund Bevölkerungspolitik, mit einem Fokus auf deutsche Interventionen in Tansania. Deutsche Entwicklungspolitik in Tansania scheint ein besonders geeigneter Fall für eine postkoloniale Untersuchung zu sein, da Tansania von Deutschland kolonisiert worden ist und zurzeit eines der Schwerpunktländer deutscher ‚Entwicklungszusammenarbeit‘ ist. Darüber hinaus stellt reproduktive Gesundheits- und Bevölkerungspolitik einen der Schwerpunkte deutscher ‚Entwicklungszusammenarbeit‘ mit Tansania dar. Während der deutschen Kolonialzeit im damaligen ‚Deutsch-Ostafrika‘, dessen Gebiet zu einem großen Teil mit dem des gegenwärtigen Tansania korrespondiert, wurden Fragen von Bevölkerungsentwicklung, Gesundheit und Reproduktion ebenfalls diskutiert – von deutschen Politikern, Verwaltungsbeamten, Missionar*innen und Ärzten. Um einem möglichen kolonialen Inhalt gegenwärtiger Entwicklungspolitik auf die Spur zu kommen, wird die Gegenwart mit deutscher kolonialzeitlicher Politik im damaligen „Deutsch-Ostafrika“ in Verbindung gebracht und verglichen. Um Gemeinsamkeiten aber auch Brüche deutscher Interventionen in kolonialer Vergangenheit und Gegenwart herauszuarbeiten, wird eine genealogische Dispositivanalyse angewendet (Bendix 2013): Eine genealogische Perspektive erlaubt es, einen gegenwärtigen Sachverhalt zu denaturalisieren, indem dessen Entstehungsmoment in der Vergangenheit analysiert und mit der Gegenwart verglichen wird. So lässt sich beispielsweise erkennen, dass eine gegenwärtige, vermeintlich progressive Perspektive (Entwicklungspolitik) große Überschneidungsmengen mit einer historischen aufweist, die als ethisch und politisch rückständig und belastet verstanden wird (Kolonialpolitik). ‚Seid fruchtbar und mehret euch‘: „Bevölkerungsrückgang“ und die gesellschaftliche Position von Frauen in „Deutsch-Ostafrika“ Im Kontext der brutalen Niederschlagung von Befreiungsbewegungen in „Deutsch-Ostafrika“ mit hunderttausenden von Toten Anfang des 20. Jahrhunderts gab es besonders in kolonial-reformerischen Kreisen Debatten über Bevölkerungsentwicklung und Gesundheitsverhältnisse. Kolonialadministration, Ärzte und Missionare äußerten ihre Besorgnis über einen „Bevölkerungsrückgang“ in „Deutsch-Ostafrika“ und erklärten, „daß niemals ein kräftiges Eintreten für
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Schutz und Förderung der Farbigen so notwendig war wie heute“ (Deutsche Gesellschaft für Eingebornenschutz 1914: 3). Offizielle Statistiken über Geburtenhäufigkeit und Kinderzahlen beschrieben eine sehr geringe Fortpflanzung. Dafür verantwortlich gemacht wurden auf der einen Seite das unkontrollierte Vordringen „moderner“ Wirtschafts- und Lebensweisen, auf die die Kolonisierten nicht vorbereitet gewesen seien, und auf der anderen Seite „Sitten und Gebräuche“. Hier wurden insbesondere Geschlechterverhältnisse problematisiert und eine „niedere […] Stellung der Frauen im Volkskörper“ (Ittameier 1923: 25) als Erklärung für Bevölkerungsrückgang herangezogen. Das Ziel, die Bevölkerungsgröße zu erhöhen, war vor allem davon getrieben, dass die Menschen des besetzten Territoriums als ökonomische Ressource (Arbeitskräfte) betrachtet wurden. Sie sollten ausgebeutet werden, mussten dafür aber auch geschützt und erhalten werden. Gekoppelt war diese Argumentation immer an das Motiv, zivilisierungs-missionarisch auf die Kolonisierten einzuwirken. Neben „Aufklärungsarbeit“ durch bspw. Flugblätter wurden gesetzliche und polizeiliche Eingriffe, die Einrichtung biomedizinischer Gesundheitseinrichtungen, die Entsendung deutschen Gesundheitspersonals, die Ausbildung von Ostafrikaner*innen zu Hebammen und Krankenpfleger*innen, schulische Bildung und Christianisierung vorgeschlagen und implementiert. Von all diesen Maßnahmen versprachen sich die Kolonisierenden, dass die Bevölkerungsgröße steigen würde (Colwell 2001). ‚Ihr habt zu wollen‘: Bevölkerungswachstum und die Bedürfnisse von Frauen in Tansania Heute geht es in der deutschen Entwicklungspolitik darum, Bevölkerungswachstum im globalen Süden, und auch speziell in Tansania, einzudämmen, denn dieses stünde einer effektiven Armutsbekämpfung im Wege (BMZ 2012). In Interviews mit Mitarbeiter*innen deutscher entwicklungspolitischer Organisationen wurde ersichtlich, dass als problematisch angesehene Fertilitätsraten bzw. Bevölkerungswachstum stets mit einem angeblich niedrigen gesellschaftlichen Status von Frauen, Traditionalität und gesellschaftlicher Rückständigkeit in Bezug gesetzt werden. Die fehlende Kontrolle über ihr sexuelles und reproduktives Leben angesichts gesellschaftlicher Unterdrückung führe dazu, dass sie mehr Kinder bekämen, als sie gerne hätten, so die vorherrschende Meinung der EZMitarbeiter*innen. Moderne wird im Sinne des Konzepts des „demographischen Wandels“ als gekennzeichnet durch niedrige Geburtenraten verstanden. Während „freie Wahl“ der Kinderzahl im Sinne des seit der UN-Weltbevölkerungskonferenz von Kairo 1994 international anerkannten Prinzips „sexueller
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und reproduktiver Gesundheit und Rechte“ propagiert wird, wird Tansanier*innen nahegelegt, weniger Kinder haben oder „moderne“ Kontrazeptiva verwenden zu wollen: „Und dass im Gegensatz dazu [zum Bevölkerungswachstum, AdA], erstaunlicherweise das Interesse oder die Nachfrage an Kontrazeptiva, die man so erheben kann über den ‚unmet need‘ gar nicht so hoch ist. Das heißt, die Akzeptanz von Familienplanung ist noch nicht so hoch wie wir uns das wünschen würden, ne. […] In Tansania ist die Herausforderung […,] was können wir als deutsche EZ [tun, AdA], um […] diese Nachfrage zu generieren.“ (Interview mit Leiter*in der Komponente Reproduktive Gesundheit des Tanzanian-German Programme to Support Health, 02.06.2010; vgl. auch Angenendt/Popp 2014: 27)
Tatsächlich scheint nämlich das „fehlende“ Bedürfnis von Tansanier*innen, weniger Kinder zu bekommen, der Knackpunkt zu sein: Verheiratete Frauen wünschen sich durchschnittlich 5,4 und verheiratete Männer 5,9 Kinder, was gerade bei Frauen in etwa der tatsächlichen Fertilitätsrate entspricht (Leahy/Druce 2009). Solches Verhalten wird in deutschen EZ-Publikationen und von deutschen EZ-Mitarbeiter*innen u.a. mit fehlender Bildung erklärt, worauf mit EZMaßnahmen reagiert wird, um vor allem Akzeptanz, Angebot und Verwendung „moderner“ Verhütungsmittel zu erhöhen. Deutsche Entwicklungspolitik ordnet also in paternalistischer Manier die Wünsche von Tansanier*innen dem Ziel der Reduzierung des Bevölkerungswachstums unter und legitimiert Interventionen über die Rassialisierung von Tansanier*innen als „rückständig“. Bevölkerungsregulierung, Kapitalismus und deutsche Interessen Eine über die Fokussierung auf Diskurse und Repräsentation hinaus gehende Vorgehensweise muss jedoch die Verschränkung von diskursiven und materiellen Faktoren, von Ideologien und Interessen bzw. Ausbeutung, genauer in Augenschein nehmen. Während in der Kolonialzeit die ökonomischen Interessen an einer Vermehrung der Kolonialbevölkerung offen benannt wurden – „vom wirtschaftlichen Standpunkt aus ist durchgreifende Fürsorge für die Eingeborenen erforderlich“ (Feldmann 1923: 119) –, wird ein Eigeninteresse der BRD in der offiziellen Politik heute selten explizit gemacht: Aktivitäten im Bereich „reproduktiver Gesundheit“ gelten als rein menschenrechtlich und altruistisch motiviert (BMZ 2013). Bayer HealthCare ist insgesamt führend, was die Bereitstellung hormoneller Verhütungsmittel für das öffentliche Gesundheitssystem Tansanias angeht (v.a. durch das Implantat Jadelle, die Pillen Microgynon und Microlut und die Drei-
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monatsspritze Noristerat). Weiterhin sind die deutschen Firmen Fresenius und HELM involviert in den Absatz der Dreimonatsspritze Petogen-Fresenius. Bayer HealthCare (2011) selbst spricht im Kontext einer ihrer „Öffentlich-Privaten Partnerschaften“, die u.a. auf Tansania abzielt, von einem „neuen strategischen Ansatz und eine[m] innovativen Weg zur Erschließung der Märkte in Entwicklungsländern“. In Kontrazeptivamärkte des globalen Südens vorzudringen, ist lukrativ, da davon ausgegangen wird, dass sich deren Volumen bedeutend erhöhen und sich beispielsweise in Tansania innerhalb von fünf Jahren die Ausgaben für Kontrazeptiva verdoppeln. 5 Darüber hinaus trat in den Interviews mit deutschen EZ-Mitarbeiter*innen zutage, dass ein staatliches Interesse daran besteht, „Entwicklungsländer“ in den globalen Kapitalismus zu integrieren, und dass hier der Bereich der reproduktiven Gesundheits- und Bevölkerungspolitik eine wichtige Rolle spielt. Reproduktive Gesundheits- und Bevölkerungspolitik wird in den Kontext der Schaffung „funktionierender Gesellschaften“ gestellt (Interview mit BMZ-Referent, 15.01.2010). Hohes Bevölkerungswachstum wird assoziiert mit Chaos, unberechenbaren arbeitslosen jungen Männern und einer Überlastung sozialer Systeme, ökologischer Rahmenbedingungen und ökonomischer Ressourcen. Funktionierende Gesellschaften hingegen werden konzipiert als solche, die hohen Anteil am Konsum kapitalistisch produzierter Güter haben und aufgrund ihrer politischen und ökonomischen „Stabilität“ Investitionssicherheit für ausländische Unternehmen bereit stellen. Hier ist, gerade weil es selbstverständlich erscheint, wichtig zu erwähnen, dass die ökonomischen und politischen Machtverhältnisse zwischen Deutschland und Tansania solcherart sind, dass Deutschland im Rahmen von Entwicklungsund Bevölkerungspolitik zwar in die tansanische Gesellschaft eingreifen kann, ein umgekehrtes Eingreifen – beispielsweise, um die sozialökologisch verantwortungslose „imperiale Lebensweise“ (Brand/Wissen 2011) vieler Deutscher, die keine Rücksicht auf Mensch und Natur weltweit nimmt, oder womöglich sogar die Anzahl dieser Menschen einzudämmen – aber undenkbar ist. Dies hat mit der ungleichen Eingliederung in den globalen Kapitalismus zu tun. An der historischen „Unterentwicklung“ (Rodney 1975) und Ausbeutung Tansanias hatte Deutschland, nicht zuletzt durch direkte Kolonialherrschaft über „DeutschOstafrika“, durchaus einen gewissen Anteil. Deutsche Bevölkerungspolitik in Tansania heute zeichnet sich in bemerkenswerter Kontinuität zur Kolonialzeit insgesamt durch ein Zusammenspiel diskursiver Rassialisierung von Tansa5
E-Mail-Kommunikation mit einem Repräsentanten von John Snow, Inc., Tansania, 21.07.2010.
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nier*innen mit materiellen Praktiken, direkten und indirekten ökonomischen sowie politischen Interessen Deutschlands aus. Dem zugrunde liegt die historische, durch Rassismus und Kolonialismus geprägte asymmetrische Einbindung der beiden Länder in den globalen Kapitalismus, die durch rassialisierte Repräsentation und Praktiken weiter verfestigt wird.
F AZIT Eine postkoloniale Analyse entwicklungspolitischer Politikfelder ermöglicht es, zu einem veränderten Verständnis von Fragen globaler Ungleichheit bzw. von Nord-Süd-Beziehungen zu gelangen. Der in diesem Beitrag ausbuchstabierte Fokus auf die diskursive Herstellung von Problemkonstellationen wie ‚Tourismus‘ oder ‚reproduktive Gesundheit und Bevölkerung‘ vermag aufzuzeigen, wie Entwicklungspolitik bestimmte Subjekte erst in die Welt bringt. Die konstruierten Subjektpositionen sind mitbestimmend für die Gestaltung des Raums denkbarer Lösungsansätze und somit von politischen Handlungsspielräumen. In diesem Zusammenhang ist das Spezifikum einer postkolonialen Perspektive herauszustellen, wie diese Subjektpositionen rassialisiert sind. Sie kann so darauf verweisen, dass die Kategorie ‚Rasse‘ entwicklungspolitische Ideen und Praktiken strukturiert, auch wenn diese auf den ersten Blick nicht-existent erscheint. Rassismus zeigt sich hier als grundlegend für Entwicklungspolitik und nicht etwa als etwas, das (nur) in rassistischen Denkweisen einzelner Entwicklungsexpert*innen zum Tragen kommen könnte. Wie Rassismus in der Entwicklungspolitik wirkt, konnten wir auf zweierlei Weise herausstellen: einmal – im Fall von internationaler Tourismuspolitik – durch Herausarbeiten von neuen Artikulationsweisen von ‚Rasse‘ über Rationalitäten wie der Ökonomie. Und zweitens im Kontext von deutscher reproduktiver Gesundheits- und Bevölkerungspolitik – mit dem Rückgriff auf die Analyse kolonialzeitlicher Interventionen, welche den Blick für gegenwärtige Rassialisierung schärft und wodurch Entwicklungspolitik eben nicht als Bruch mit sondern Fortführung von Kolonialpolitik hervortritt. Es wird deutlich, was der Mehrwert einer de-/konstruktivistischen wie der postkolonialen im Gegensatz zu einer positivistischen Herangehensweise ist: Sie stellt den jeweils beteiligten Akteur*innen nicht direkt ersichtliche, neue Perspektiven auf Wirklichkeit zur Verfügung und vermag die politische Makroebenen (z.B. policies und ökonomische Interessen) mit der Mikroebene (z.B. Subjektbildung und Identität) zu verbinden. Dies geschieht keineswegs beliebig, sondern ist eine aus einer spezifischen „Theorieperspektive folgerichtig und va-
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lide entwickelte Konstruktion“ (Diaz-Bone 2006: 17). Positivistische Forschung erkennt nicht an, dass Wissenschaft und die untersuchten Phänomene soziopolitisch situiert und verfasst sind. Somit lässt sie außen vor, dass Forschungsinteresse, Problembeschreibungen und Fragestellungen bereits zentrale Navigatoren in der Lösungsfindung darstellen und gemäß gesellschaftlicher Machtverhältnisse Legitimation erfahren und diese dabei reproduzieren. Eine postkoloniale Analyse von Politikfeldern vermag also, durch die Entkleidung vermeintlicher Evidenzen und der Sichtbarmachung des Unsichtbaren den Raum des Denkbaren zu erweitern. In der Anwendung einer postkolonialen Perspektive besteht jedoch durchaus die Gefahr, Kapitalismus, Klassenverhältnisse sowie (sozio-)ökonomische Kategorien lediglich zu beiläufigen Referenzen verkommen zu lassen. Es ist unseres Erachtens elementar, diese Dimensionen als einen integrativen und strukturierenden Teil von Rassialisierungsprozessen und Ungleichheitsverhältnissen zu begreifen. Allerdings lassen sich Macht- und Ungleichheitsbeziehungen nicht quasi automatisch durch das Erreichen eines bestimmten ‚Wohlstandsniveaus‘, ‚faire Handelsbedingungen‘ oder solidarische Ökonomien eliminieren: Rassismus, Sexismus und andere Herrschaftsverhältnisse sind subjekt- und realitätsstrukturierende Dimensionen, die nicht lediglich über die globale Ökonomie verhandelt werden. Es muss zusätzlich zur Frage der Macht in Bezug auf ungleiche globale Handels-, Produktions- und Konsumptionsbeziehungen darum gehen zu verstehen, wie Ungleichheiten legitimiert werden, sich in den Alltag von Subjekten einschreiben und deren Handlungen strukturieren – und das oft ohne den Einsatz von direkter Gewalt.
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Demokratie und Widerstand in einer postkolonialen Welt: Politische Systeme
Der „listige“ Staat, Privatisierung öffentlicher Güter und Rechtspluralismus in Indien 1 S HALINI R ANDERIA
Wir leben in paradoxen Zeiten. Gegenwärtig geht die erfolgreiche globale Ausbreitung der formalen Demokratie Hand in Hand mit der Aushöhlung ihrer Substanz. Denn immer mehr innenpolitische Angelegenheiten werden dem Zugriff der nationalen Parlamente entzogen. Durch die Verlagerung von Entscheidungskompetenzen auf die Exekutive werden die Möglichkeiten der politischen Partizipation durch Bürger und Bürgerinnen eingeschränkt und die öffentliche Kontrolle erschwert. In den Ländern des Südens geht die zunehmende Verrechtlichung von immer mehr Lebensbereichen mit einer wachsenden Entrechtung sowie Rechtsunsicherheit einher. Suprastaatliche Herrschaft sowie die starke Vermehrung rechtlicher Akteure und Arenen haben zwar zu einer Pluralität rechtlicher Regimes geführt, aber eben nicht zu größerer Rechtssicherheit. Im Gegenteil: Bürgerrechte werden in zahlreichen Ländern immer stärker beschnitten. Überdies lässt sich beobachten, dass die Unübersichtlichkeit und Diffusion von Macht auf globaler Ebene zu einem Mangel an Transparenz bei Entscheidungsfindungen sowie zu einem eklatanten Rückgang von Rechenschaftspflicht geführt hat. Eine Rhetorik der Verantwortlichkeit wird von der wachsenden Nichtverantwortlichkeit internationaler Finanz- und Handelsorganisationen, transnationaler Konzerne sowie von Staaten und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) begleitet.
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Teile des vorliegenden Textes sind meinen Beiträgen aus dem Band Imperialismus und Empire (2009) sowie der Zeitschrift Soziale Welt (2006) erschienenen Aufsätzen entnommen. Mein Dank gilt Evangelos Karagiannis für seine Unterstützung bei der Überarbeitung der vorliegenden Fassung.
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Die neue, durch Rechtspluralismus und überlappende Souveränitäten charakterisierte Architektur der Global Governance hat die Verschiebung von Verantwortlichkeit unter diesen vier Akteuren leicht gemacht. Internationale Institutionen lehnen die Verantwortung für die Politik gewählter Regierungen mit dem Hinweis ab, sie seien machtlose Bedienstete ihrer souveränen Mitgliedsstaaten, die sich lediglich von ihnen beraten lassen. Die Staaten bestreiten ihrerseits ihre Verantwortung für unpopuläre Maßnahmen, indem sie sie externen Akteuren in die Schuhe schieben – dem Diktat des globalen Kapitals, Vorschriften von IWF und Weltbank oder den durch die Welthandelsorganisation (WTO) gesetzten rechtlichen Rahmenbedingungen. In der aktuellen Globalisierungsdiskussion zeigt sich eine merkwürdige Ambivalenz bezüglich der Rolle des Staates. Befürworter einer Verschlankung des Staates scheinen mit den Globalisierungsgegnern übereinzustimmen, dass der Nationalstaat die externe sowie interne Souveränität verloren hat und weder den Schutz seiner Grenzen noch seiner Bevölkerung gewährleisten kann. Dagegen wird hier argumentiert, dass der Staat sowohl Akteur als auch Objekt der Globalisierung ist. Das Vermögen subalterner Staaten im internationalen System, Regeln zu setzen und durchzusetzen bzw. eigene nationale politische Agenden festzulegen und zu verwirklichen, wird von außen eingeschränkt und von innen angefochten. Trotz seiner Unzulänglichkeit bleibt jedoch der Staat unverzichtbar, weil seine Gesetze und Policies eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung der neoliberalen Programme auf nationaler und lokaler Ebene spielen. 2 Wenn im Zeitalter der Globalisierung und des ökonomischen Empire, wie der Jurist Ugo Mattei (2003) behauptet, politische Gewalt durch rechtliche ersetzt worden ist, dann artikuliert sich auch der Widerstand dagegen in der Sprache des Rechtes. In ihrem viel diskutierten Buch Empire nutzen Hardt und Negri (2000) das Recht als Indikator für aktuelle Wandlungsprozesse und postulieren, dass Souveränität unter den Bedingungen der Globalisierung von der Ebene des Nationalstaates auf jene eines dezentrierten und deterritorialisierten Empire verlagert worden sei. Ihr Narrativ von einer Transformation der Souveränität von einer modernen in eine postmoderne Form beruht auf der Annahme, dass der territoriale Nationalstaat obsolet geworden sei. Meiner Ansicht nach ist es jedoch fraglich, ob souveräne Territorialität ein guter Wegweiser ist – oder jemals war –, um Machtverhältnisse in der (post-)kolonialen Welt zu analysieren (vgl. Dunn 2
Der englische Begriff „Policies“ wird hier beibehalten, da im Deutschem sowohl „politics“ wie auch „policy“ unter dem Begriff „Politik“ subsumiert werden, wogegen es mir gerade um den Unterschied von Recht („law“) und Policy einerseits und Politik („politics“) und Policy andererseits geht.
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2009). Zudem blendet eine solche Konzeption über die Verortung von Recht und Souveränität in der gegenwärtigen globalen Ordnung aber auch die weiterhin zentrale Stellung des Staates und seiner Macht aus, wie im folgenden an Fallbeispielen aus Indien veranschaulicht wird. Hardt und Negri ist allerdings in ihrer Analyse zuzustimmen, dass internationale Institutionen Teil einer neuen imperialen Konstellation sind, in welcher supranationales Recht in die nationalen Rechtssysteme eindringt und sie rekonfiguriert. TPP und TTIP legen als jüngste Beispiele für die Ubiquität von neuen Gesetzen und Policies nahe, dass wir uns in einer Welt der Re-Regulierung, nicht der Deregulierung befinden. Ferner, als Folge der Vervielfachung von Akteuren, Arenen, Methoden und Formen der Herrschaftsausübung und Konfliktlösung an unterschiedlichen Schauplätzen der ganzen Welt überschreitet das Recht heutzutage Staatsgrenzen in komplexer und signifikanter Weise. Es ist nicht länger deckungsgleich mit dem Staat und seiner Souveränität über ein klar definiertes Territorium und eine darin ansässige und zu regierende Bevölkerung. Mag der Rechtspluralismus zivilgesellschaftlichen Akteuren alternative Normen und Foren zur Infragestellung neoliberaler Entwürfe aufgezeigt haben, so geht doch die Heterogenität normativer Ordnungen auch mit Rechtsunsicherheit und Unvorhersehbarkeit der Rechtsanwendung einher. Anhand empirischen Materials aus Indien sollen in diesem Aufsatz das Potential sowie die Grenzen der neuen transnationalen Rechtsräume ausgelotet werden. Es wird dargelegt, dass die Diffusion der Macht in der neuen Architektur der Global Governance auch zu einem Verlust von Transparenz in den Entscheidungsfindungsprozessen geführt hat. Sie hat eine Verwässerung von Verantwortlichkeiten und nicht zuletzt mangelnde Rechenschaftspflicht des Staats gegenüber seinen Bürgern und Bürgerinnen zur Folge gehabt. Die hier dargestellten Fallstudien verweisen auf die Entstehung von verwobenen Herrschaftsstrukturen, überlappenden Souveränitäten und komplexen Prozessen der rechtlichen Transnationalisierung, die das Verhältnis von Recht, Staat und Territorialität umgestaltet haben. Es wird gezeigt, wie angesichts dieser Prozesse und des damit einhergehenden Rechtspluralismus die Grenze zwischen Recht und Policy an Trennschärfe verliert. Policy-making schirmt sich zunehmend von gesetzgeberischer Beratung und demokratischer Partizipation ab. Ferner werden in diesem Kapitel die Möglichkeiten und Herausforderungen politisch-rechtlichen Widerstandes in neuen transnationalen Räumen sowie in den restrukturierten nationalen Räumen analysiert und ihre Grenzen erörtert. Im ersten Teil wird das Konzept des „listigen Staates“ eingeführt, das den Eurozentrismus der binären Unterscheidung zwischen schwachen und starken Staaten zu
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überwinden sucht. Die Schwächen postkolonialer Staaten wurden meistens entweder auf endogene strukturelle und kulturelle Faktoren, wie in der Modernisierungstheorie der 1960er und 1970er Jahre, oder auf ein Zusammenspiel von internen und externen Faktoren, wie in der Dependenztheorie, zurückgeführt. Die liberale politische Theorie sprach von schwacher oder unvollständiger Staatsbildung. Alternativ wurden Staaten als schwach klassifiziert, wenn ihnen das Vermögen fehlte, die Gesellschaft zu durchdringen und die Visionen ihrer politischen Führung zu realisieren (Migdal 1988). 3 Das Konzept des „listigen“ Staates verlagert den Fokus von dem an westlichen Idealen gemessenen (Un-)Vermögen des Staates auf die Beschreibung staatlicher Strategien (Randeria 2001). Außereuropäische Staaten werden demnach nicht als „schwach“ oder als strukturell defizitär, sondern als Produkt ihrer kolonialen Vergangenheit betrachtet. Dennoch sind diese „listigen Staaten“ nicht bloße Opfer ihrer kolonialen Geschichte bzw. der gegenwärtigen Prozesse der Globalisierung. Auch wenn die Gestaltungsspielräume insbesondere der bei IWF und Weltbank verschuldeten Staaten in der Planung und Implementierung ihrer politischen Programme zweifelsohne eingeschränkt sind (vgl. Teivainen 2009), wäre es, so denke ich, ein Fehler, würde man die Selbstdarstellung dieser Staaten hinsichtlich ihrer eigenen „Schwäche“ als gegeben hinnehmen. Während schwachen Staaten die Fähigkeit fehlt, die Interessen ihrer Bürger und Bürgerinnen zu schützen, zeigen listige Staaten je nach den Interessen, die auf dem Spiel stehen, Schwäche oder Stärke. „List“ verweist weder auf ein strukturelles Merkmal noch auf das staatliche Leistungsvermögen, sondern bezeichnet die sich wandelnde Art von Beziehungen zwischen nationalen Eliten (häufig in Abstimmung mit internationalen Institutionen) und Bürgern und Bürgerinnen. Das Konzept des listigen Staates ist somit für die Beschreibung einer ganzen Bandbreite von Taktiken von Nutzen, die in unterschiedlichen Verhandlungsarenen, in denen eine Verlagerung von Verantwortlichkeiten und Souveränitäten stattfindet, angewandt werden. Anhand von Fallbeispielen aus Indien verfolgt dieser Beitrag, wie der Staat mal in Erscheinung tritt, mal aber auch verschwinden kann, wie er durch unterschiedliche Arten von Regierungspraktiken auf- und abgebaut wird. Auf diese 3
Allerdings weisen Urteile über die Staatsschwäche in den Schuldnerstaaten von IMF und Weltbank eine bemerkenswerte Ambivalenz auf. Zwar behaupten internationale Institutionen, die Schuldnerstaaten seien zu schwach, um eine national bestimmte Politik der Industrialisierung durchzuführen, die zum wirtschaftlichen Wachstum und Handelsschutz führen könnte, schätzen sie aber als stark genug, um (geistige) Eigentumsrechte durchzusetzen (Wade 2009).
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Weise möchte ich verdeutlichen, wie Globalisierung – als transnationale Strukturen und Prozesse jenseits aber auch innerhalb des Nationalstaates, als Diskurs und als soziale Realität – (re-)produziert wird. Dabei wird der Staat weder als homogene Einheit behandelt noch wird ihm eine einheitliche strategische Handlungsrationalität unterstellt. Es werden einerseits die Strategien bestimmter Ministerien oder Behörden in konkreten Fällen untersucht, die sich durchaus widersprechen können. Andererseits wird verdeutlicht, wie die Transnationalisierung des Rechts und der damit einhergehende Rechtspluralismus zu einer neuen Unübersichtlichkeit beitragen. Gleichzeitig aber ermöglichen sie es verschiedenen Akteuren – einschließlich staatlichen Akteuren –, partikulare Interessen mit Verweis auf das Gemeinwohl durchzusetzen. Vier Pfade eines transnationalen Rechtspluralismus (Randeria 2003b) werden im Folgenden unterschieden: 1. Das gleichzeitige Wirken von multiplen internationalen und supranationalen Normen, die untereinander konkurrieren, ohne in nationales Recht umgesetzt worden zu sein; 2. Der Pluralismus innerhalb des staatlichen Rechts, der infolge von Veränderungen entstand, die entweder unter dem äußeren Zwang von Kreditkonditionalitäten oder mit dem Ziel, das nationale Recht mit internationalen Regimen in Einklang zu bringen, in die nationalen Regulierungen und Policies eingeführt wurden; 3. Die von zivilgesellschaftlichen Akteuren eingeführten alternativen Normen, die eine Mischung aus traditionellen Gemeinschaftsrechten, nationalen Normen und internationalen Abkommen darstellen; 4. Das sog. Projektrecht, das aus Regeln, Verpflichtungen und Verfahren besteht, welche durch internationale Organisationen oder Geberagenturen festgelegt werden (Randeria 2007). Im Folgenden werden einerseits die Strategien des listigen Staates behandelt, der als Vermittler zwischen den ausländischen Geldgebern und der eigenen Bevölkerung fungiert und sich der Verantwortung beiden gegenüber entzieht. Andererseits wird die pragmatische Politik von sozialen Bewegungen und NGOs in ihrem Kampf gegen die Neuziehung der Grenzlinie zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten dargestellt. Die spezifische Ausprägung der aktuellen Dynamiken und Pfade der Transnationalisierung des Rechts mit ihren unterschiedlichen Auswirkungen in verschiedenen Ländern und Regionen muss vor dem Hintergrund des Imports, der Oktroyierung und der Neugestaltung des Rechts durch die Kolonialmächte in der
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nichtwestlichen Welt analysiert werden. Die Einbeziehung der Kolonialgeschichte wäre ein wichtiges Korrektiv gegenüber der Ahistorizität und dem Eurozentrismus der Analysen zur (rechtlichen) Globalisierung (Randeria/Eckert 2009). Mit ihrem Hang zur Überbetonung der Einzigartigkeit der Gegenwart postulieren Globalisierungstheorien oftmals eine radikale Diskontinuität zwischen der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit. Aus europäischer Sicht werden die Erosion der nationalstaatlichen Souveränität, die zunehmende Bedeutung des Rechtspluralismus (sowohl auf supranationaler wie auf subnationaler Ebene), die Mischform von Normen und Standards im Sog ihrer transnationalen Verbreitung und Transplantation, die herausragende Rolle privater Akteure bei der Rechtsdiffusion und das Aufkommen überlappender und konkurrierender Souveränitäten häufig als Prozesse der „Re-Feudalisierung“ dargestellt. Aber anders als im mittelalterlichen Europa mit seinen verschachtelten Hierarchien, gehen diese Entwicklungen heute mit nichtverschachtelten multiplen Souveränitäten einher (Anderson 1996). Diese sich überschneidenden Souveränitäten ermöglichen zivilgesellschaftlichen Akteuren innerhalb des Staates einen direkten Zugang zu internationalen Organisationen und der transnationalen Öffentlichkeit unter Umgehung des Nationalstaats und ohne dessen Vermittlung. Sie bergen aber auch Risiken und haben paradoxe Auswirkungen, wie weiter unten analysiert wird. Es scheint allerdings eine Ironie der Geschichte zu sein, dass entgegen der Vorhersage von Marx die Kolonien von früher heute die Zukunft Europas widerspiegeln (Randeria 2006, Comaroff/Comaroff 2014). Aus dem Blickwinkel der (Semi-)Peripherie ähneln die postsouveränen Staaten der industrialisierten Welt von heute ihren einstigen Kolonien. Viele Interpretationen der Globalisierung übersehen diese Konvergenz und nehmen Rechtspluralismus und überlappende Souveränitäten als Rückkehr zu vormodernen Formen in Europa wahr. Dies scheint dem Parochialismus einer eurozentrischen Perspektive geschuldet zu sein, die dazu tendiert, den Westen als gleichzeitig einzigartig und universal zu sehen.
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UND DER TRANSNATIONALE
R ECHTSPLURALISMUS
Die Idee des Rechtspluralismus stellt die Zentralität des staatlichen Rechts mit seinem Ausschließlichkeitsanspruch bezüglich der normativen Ordnung des sozialen Lebens in Frage. Die Rechtslandschaften (post-)kolonialer Gesellschaften waren immer schon heterogen, vielschichtig und mehr oder weniger stark von diversen Außeneinflüssen infolge von Prozessen der Zwangsübertragung, der
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Diffusion und der Entlehnung geprägt (Benton 2002). Aber der wachsende Einfluss von internationalem Recht und supranationalen Rechtsregimen, die Transnationalisierung staatlichen Rechts und die direkte Intervention von multilateralen Institutionen, internationalen Geberorganisationen und transnationalen NGOs in vielen Lebensbereichen der Bürger in den Schuldnerstaaten von IWF und Weltbank haben dem Rechtspluralismus eine neue Dimension verliehen. Die lokalen Lebenswelten von Millionen von Menschen in diesen Ländern werden von Policy-Vorschriften und Programmen, die von diesen Institutionen vertreten bzw. finanziert werden, sowie vom Rechtsregime der WTO geprägt, während sie selbst auf das Vorgehen dieser Institutionen keinerlei Einfluss haben. Deshalb genießen die Entscheidungen von WTO, IWF und Weltbank – den drei mächtigen, die rechtliche Globalisierung vorantreibenden supranationalen Organisationen – trotz ihrer formalen Legitimation unter den Bürgern und Bürgerinnen der Länder des Südens wenig soziale Legitimität. Der Wechsel von den früher in Strukturanpassungsprogrammen auferlegten Konditionalitäten hin zur neuen Disziplin der Good Governance in den 1990er Jahren – einschließlich der globalen wirtschafts- und sozialpolitischen Entwürfe – hat zu einem nie da gewesenen Ausmaß an Überwachung und Kontrolle sowie einer aufdringlichen Intervention in die Souveränität der verschuldeten Staaten geführt. Es gibt kaum einen Politikbereich, in dem die Bretton-WoodsInstitutionen keinen Einfluss auf die Regierungen der Schuldnerstaaten nehmen: Etablierung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, Rechts- und Gerichtsreform, Bildung- und Gesundheitspolitik, Umsiedlung und Umwelt, Bodenrechtsund Arbeitsrechtsreform, Handelsrecht- und Bürokratiereform, Bevölkerungspolitik und Policy im Bezug auf natürliche Ressourcen (z.B. Wasser- und Waldnutzung, Abbau von Bodenschätzen) (Randeria 2001). Mit der Liberalisierung des Handels als Schlüsselbedingung für Kredite sind die WTO, IMF und Weltbank zu neuen allmächtigen Institutionen der Transnationalisierung des Rechts avanciert. (Günther/Randeria 2001). Internationale Handelsregime dürfen sich in substanzielle Entscheidungen einmischen, die von nationalen Institutionen und Akteuren mit weit höherer demokratischer Legitimität getroffen wurden. Dies führt nicht nur zu einem Schrumpfen des Spielraumes für wirtschaftliche Entwicklung und Selbstbestimmung, sondern auch zu einem Demokratiedefizit, dessen Folgen für die sog. Entwicklungsländer noch gravierender als für die Industriestaaten sind (Howse 2002; Wade 2009; Pinzler 2015). Das Ergebnis ist eine wachsende Entpolitisierung oder eine „Demokratie ohne Wahlmöglichkeiten“, in der die Bürger zwar Parteien und Politiker wählen und abwählen können, ohne aber einen Politikwandel zu bewirken (Krastev 2002).
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Die Unterwerfung der verschuldeten Staaten wird jedoch begleitet von einer Bretton-Woods Rhetorik der local ownership, der „Partnerschaft“ und der Notwendigkeit, den Empfänger auf den „Fahrersitz“ zu setzen. Geberinterventionen werden dargestellt, als würden sie der Zustimmung der abhängigen Länder entspringen. Ugo Mattei (2003: 385) ist der Auffassung, dass das „Konstrukt der angeblichen Zustimmung“ (construct of presumed consent), das den subalternen Staaten die Verantwortung für die von den internationalen Institutionen formulierten Politik zuschiebt, Teil einer Rhetorik von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist, welche die stark asymmetrische Architektur der Global Governance zu legitimieren sucht. In diesem Zusammenhang sei die Unterscheidung zwischen imperialistischen und nicht-imperialistischen Rechtstransplantationen eher eine graduelle als eine qualitative. Die rechtliche Hegemonie der Gegenwart erweist sich somit als Mischung aus freiwilliger Übernahme von Rechtskonzepten und Prozeduren durch die Peripherie und ihrer Oktroyierung durch internationale Institutionen. Die direkte Beteiligung einer Vielzahl von nichtstaatlichen Akteuren auf nationaler und lokaler Ebene beeinflusst jedoch das Wesen der Regelungsfunktionen des Rechts selbst, transformiert die Bedingungen politischer Legitimität und gestaltet die Souveränität neu. Infolge der Setzung neuer Normen durch internationale Organisationen, Entwicklungshilfeagenturen, transnational operierende Anwaltskanzleien im Dienste multinationaler Firmen, private Schlichter und zivilgesellschaftliche Akteure wird die Trennlinie zwischen privatem und öffentlichem Recht ebenso wie die zwischen Recht und Policy neu gezogen (Günther/Randeria 2001, Randeria 2003a). Die darauf beruhende These von der Marginalisierung bzw. zunehmenden Irrelevanz des Staates und der Erosion seiner Souveränität übersieht jedoch die Bedeutung des Staates – wenngleich er ein umkämpftes Terrain in einer zunehmend pluralistischen rechtlichen Landschaft darstellt. Allerdings wird auch der Staat selbst im Zuge seiner teilweisen Transnationalisierung und Privatisierung transformiert (Sassen 2006). Überlappende Souveränitäten, transnationaler Rechtspluralismus und die damit einhergehende Fragmentierung des staatlichen Handelns sind jedoch nicht auf die Schuldnerstaaten von IWF und Weltbank beschränkt, wenngleich die ambivalenten Auswirkungen und der widersprüchliche Charakter dieser Entwicklungen in den subalternen Staaten des internationalen Systems am stärksten zu spüren sind. Diese Staaten entstanden nach 1945, d.h. erst als die Regeln und institutionellen Strukturen der Global Governance von heute bereits aufgebaut waren. Folglich sind ihre Möglichkeiten, diese zu verändern, gering. Ihre Souveränität wird von außen begrenzt und ist intern umstritten. Gleichwohl gibt es auch innerhalb die-
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ser Grenzen viel mehr Spielraum für das Entwerfen und die Umsetzung nationaler Agenden als die listigen Staaten eingestehen. Ihnen fehlt eher der politische Wille als der Handlungsspielraum für autonome Politikgestaltung. In diesem Zusammenhang dürfte es nützlich sein, zwischen schwachen und von externer Finanzhilfe abhängigen Staaten wie Benin und Bangladesh auf der einen Seite und listigen Staaten wie Indien, Mexiko oder Russland auf der anderen zu unterscheiden. Schwache Staaten sind unfähig, ihre Pflichten gegenüber der Bevölkerung zu erfüllen, weil ihnen die Macht fehlt, nichtstaatliche Akteure erfolgreich zu disziplinieren und zu kontrollieren. Listige Staaten hingegen sind in der Lage, die Bedingungen auszuhandeln, unter denen sie die Souveränität in bestimmten Politikfeldern teilen, während sie über andere die Kontrolle behalten. Sie verleugnen ihre Macht nur, um sie auszuüben und sich dennoch mit Hinweis auf die eigene Machtlosigkeit der Verantwortung zu entziehen. Sie spielen mit ihrer scheinbaren Schwäche, um bestimmte politischen Entscheidungen zugunsten einiger heimischen Interessengruppen sowohl gegenüber ihren Bürgern als auch gegenüber den internationalen Gebern zu rechtfertigen, und dabei legen sie beide herein. Wenn ihre Politik in der Bevölkerung auf Unzufriedenheit stößt, verweisen sie auf externen Druck für Reformen oder einfach auf die Anforderungen der „Globalisierung“ (d. h. auf die reale oder imaginäre Furcht vor Kapitalflucht oder vor der Notwendigkeit, ausländische Direktinvestitionen als einzigen Motor wirtschaftlicher Entwicklung anzuziehen). Vor internationalen Institutionen wiederum rechtfertigen sie die partielle und selektive Implementierung von Policies, Projekten und Programmen mit dem Hinweis auf den heimischen Druck. Wenn ein solcher politischer Widerwille als Unfähigkeit, also als mangelndes Leistungsvermögen des Staates interpretiert wird, wird dies als Indiz für dessen Schwäche gedeutet. Diese Lesart verkennt jedoch die teilweise Willfährigkeit und inadäquate Implementierung der Vorschriften supranationaler Institutionen als Strategien des Widerstands von subalternen Staaten. Inwieweit und in welchen PolicyBereichen internationale Geber und Finanzinstitutionen solche Doppelzüngigkeit dulden, variiert je nach Land und politischem Kontext. Zweifelsohne sind Schuldnerstaaten nicht in der Lage, die Politik von IWF und Weltbank oder deren weltweite Verbreitung durch Kreditvergabepraktiken zu beeinflussen. Listige Staaten unter ihnen setzen sich jedoch über Konditionalitäten hinweg, implementieren Programmvorschriften nur selektiv und unvollständig, schränken die Überwachung internationaler Geber auf ausgewählte Felder der Politik ein und verhindern in wichtigen Bereichen erfolgreich Übergriffe auf ihre Souveränität. Folglich wird es zunehmend schwieriger, „externen“ Zwang von „heimischer“
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Politik zu unterscheiden. Listige Staaten ihrerseits nutzen eine Rhetorik der Souveränität, um internationale Interventionen in bestimmten Bereichen (Menschenrechte, Rechte indigener Völker, Atompolitik) zu verhindern, sind aber bereit, die Vorschriften internationaler Institutionen in anderen Bereichen (Wirtschaftspolitik, Haushaltsdisziplin, Handelsregeln) zu folgen. Zivilgesellschaftliche Akteure dagegen, die für externe Interventionen in Menschenrechtsangelegenheiten plädieren, stehen externen Eingriffen in die nationale Wirtschafts- und Sozialpolitik äußerst kritisch gegenüber. Mit dem Konzept des listigen Staates möchte ich infrapolitische staatliche Strategien innerhalb der neuen Architektur der Global Governance untersuchen und dabei aufzeigen, wie Staaten sich ihrer Rechenschaftspflicht gegenüber internationalen Institutionen und ihren Bürgern entziehen. Die Selbstdarstellung der listigen Staaten als „schwach“ kann auch als eine Strategie der politischen Elite interpretiert werden, die öffentliche Erwartungen niedrig halten will. So wird die Verantwortung für Policy-Gestaltung und ihre selektive Implementierung an externe Akteure delegiert, gleichzeitig aber Manövrierraum für die partielle Durchsetzung internationaler Abkommen und Geberkonditionalitäten gesichert. Das kuriose Schicksal des National Biodiversity Strategy and Action Plans in Indien steht beispielhaft für die Strategien des zwischen Gebern und Zivilgesellschaft gefangenen listigen Staates. In der Absicht, die Zivilgesellschaft mit einzubeziehen, übertrug das Umweltministerium einer Umweltschutz-NGO die technische Koordination des Berichts. Diese NGO organisierte breit angelegte, basisorientierte Konsultationen, was dem Bericht zwar soziale Legitimität sicherte, aber in Empfehlungen mündete, die mit der neoliberalen Stoßrichtung anderer rezenter Gesetzgebungen kollidierten. Der nationale Bericht hob etwa die Bedeutung biologischer Vielfalt für die Sicherung des Lebensunterhalts einer großen Mehrheit der Bevölkerung hervor, statt deren Nutzung als Rohmaterial für industrielle Produktion und Profit herauszustreichen, wie es in neueren Umweltgesetzen des Landes der Fall ist. Er stellte zudem die negativen Auswirkungen des globalen Handelsregimes – insbesondere des Regimes der geistigen Eigentumsrechte, welches privates Eigentum an biogenetischen Ressourcen und entsprechendem kollektivem Wissen privilegiert – auf die Erhaltung der Biodiversität heraus. Seit 2003 verstaubt der Bericht, denn er wurde weder offiziell angenommen noch abgelehnt. Als die NGO ihre Abhandlung 2006 in einem Versuch, die Regierung zum Handeln zu zwingen, veröffentlichte, qualifizierte das Ministerium den Text als „wissenschaftlich unzulässig“ ab (Bavadam 2006). Ironischerweise reichte das Ministerium den zurückgewiesenen Bericht beim United Nations Development Programme (UNDP) ein – welches das Dokument
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finanziert hatte –, vermutlich in der Absicht, nicht nur seinen Verpflichtungen den Geldgebern gegenüber, sondern auch jenen aus der Biodiversitätskonvention nachzukommen. Das Beispiel verdeutlicht die selektive Stärke des indischen Staats wie auch seine strategische Schwäche. Die ambivalente Haltung des Staates in Fragen des geistigen Eigentums wie auch sein Versagen beim Schutz der kollektiven Rechte von Bauern liefern, wie weiter unten noch deutlich wird, ein weiteres aufschlussreiches Beispiel für die Strategien des listigen Staates. Meines Erachtens hat der indische Staat den Spielraum für eine autonome nationale Ausgestaltung der geistigen Eigentumsrechte, der auf globaler Ebene durch die Kampagnen der zivilgesellschaftlichen Kritiker dieser WTO Rechtsregimes geschaffen wurde, nicht voll ausgeschöpft. Denn die neuen Patentgesetze Indiens schützen zwar die Interessen der Reishändler oder eines Teils der heimischen Pharmaindustrie, opfern aber jene der Bauern sowie anderer Teile der Industrie.
Z IVILGESELLSCHAFTLICHER W IDERSTAND GEGEN DIE P ATENTIERUNGSNORMEN Der rechtliche und politische Kampf gegen „Biopiraterie“ (Shiva 1997, Randeria 2003b), der sich kreuz und quer durch lokale, nationale und globale Räume zog, ist exemplarisch für einige Paradoxien aktueller Prozesse neoliberaler Globalisierung. Denn er veranschaulicht sowohl die ambivalente Rolle des listigen Staates in der Dynamik der rechtlichen Transnationalisierung als auch den Widerstand zivilgesellschaftlicher Akteure gegen das Zusammenspiel von Staat und Markt bei der Privatisierung öffentlicher Güter und traditionellen Wissens durch die Inanspruchnahme von Rechtsmitteln. Das neue neoliberale Regelwerk der geistigen Eigentumsrechte zieht sowohl eine Neudefinition der Trennung zwischen den Sphären des Öffentlichen und des Privaten als auch eine Neuinterpretation unseres Verständnisses von Eigentum nach sich. Kritiker in Nord und Süd haben das Thema der Umwandlung öffentlicher Wissensbestände in privates Eigentum ebenso zur Sprache gebracht wie die Frage nach den Grenzen der Kommerzialisierung von Gemeineigentum für privaten Gewinn. Teile der Bauernbewegungen und Umweltorganisationen in Indien gehören zu den stärksten Gegnern des WTO-Abkommens zu Trade Related Intellectual Property Rights (TRIPs), welches transnationalen Konzernen im Norden erlaubt, Eigentum an natürlichen Ressourcen des Südens zu beanspruchen. Der Protest gegen TRIPs wandte sich nicht nur gegen die Gefährdung der
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Biodiversität, die daraus resultiert, dass ein kollektives Erbe in Waren verwandelt wird, die industriell und für kommerziellen Profit genutzt werden. Die Kritiker weisen zudem auf die Risiken für die Souveränität von Entwicklungsländern in Ernährungsfragen hin, und zwar dadurch, dass arme Primärproduzenten und Konsumenten von Saatgut in die Abhängigkeit von multinationalen Konzernen gezwungen werden (Shiva 1999). Sie machen darauf aufmerksam, dass das TRIPs-Regelwerk das Recht auf Lebensunterhalt und traditionelles Wissen in lokalen Gemeinschaften ebenso gefährdet wie die Nahrungssicherheit und den Zugang zu Arzneimitteln in Entwicklungsländern. Ferner stellen sie die Frage, wer die neuen Regeln festlegt und nach welchen Normen dies geschieht. Sie protestieren gegen die undurchsichtigen Prozeduren der Verhandlungen und der Konfliktschlichtung in der WTO, wo ein Gremium von nicht rechenschaftspflichtigen Experten die Berechtigung demokratisch gewählter Regierungen, die eigene nationale Politik autonom zu gestalten, erheblich einschränkt. Vor diesem Hintergrund plädieren Aktivisten für die Neuverknüpfung von Recht und Moral – eine Verknüpfung, die durch die neoliberale Politik, die das Recht im Dienst des effizienten Funktionierens des Marktes und dadurch lediglich als Teil der technischen Infrastruktur guter Regierungsführung behandelt, zunehmend aufgelöst wird. US-Unternehmen haben mit voller Unterstützung ihrer Regierung in allen internationalen Foren eine Strategie der Patentierung einer Vielzahl von Rechten über genetische Ressourcen von Nahrungspflanzen, die durch sie modifiziert worden sind, verfolgt, unabhängig davon, wie geringfügig diese Modifikationen auch sein mögen. Beispielsweise gewährte das amerikanische Patent and Trademark Office 1997 dem in Texas beheimateten Unternehmen RiceTec weitreichende Rechte an Stoffen, die sich im indischen Basmati-Reis finden, und von denen das Unternehmen behauptete, es hätte sie „erfunden“. Da die indische Regierung versäumte, gegen diese Ansprüche Einspruch zu erheben, strengte die bekannte indische Umweltaktivistin Vananda Shiva, die ebenfalls die Klage gegen die Neem-Patente 2000 vor dem europäischen Patentamt in München erfolgreich durchgesetzt hatte, erneut ein Gerichtsverfahren im öffentlichen Interesse vor dem Obersten Gerichtshof Indiens an, um den Staat zum Handeln anzutreiben. Die Politik des listigen Staates war bezeichnend. Er entschied sich, vor dem US-Gremium nur jene drei Ansprüche anzufechten, die für indische Exporteure von Basmati-Reis von Belang waren, unternahm jedoch keinen Versuch, die Rechte indischer Bauern und Züchter zu schützen, deren Interessen ebenfalls von den US-amerikanischen Patenten betroffen waren. Im Januar 2001 informierte die indische Regierung den Obersten Gerichtshof in Neu Delhi, dass sie den Fall in den USA nicht weiter verfolgen würde, weil die Interessen der
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indischen Basmati-Exporteure mit Erfolg verteidigt worden seien, nachdem RiceTec vier Ansprüche zurückgezogen habe. Dermaßen von der Regierung im Stich gelassen initiierte Shivas NGO eine höchst erfolgreiche nationale und internationale Medienkampagne gegen die Enteignung der Rechte und des Wissens von indischen Bauern. Eine transnationale Advocacy-Koalition (Keck/Sikkink 1998) beeinflusste die öffentliche Meinung weltweit und insbesondere in den USA, was zu einer Flut von Protestbriefen an das amerikanische Patent and Trademark Office führte. Im August 2001, gerade ein Jahr nachdem das NeemPatent aufgehoben worden war, annullierte die Behörde 15 von 20 Rechtsansprüchen von RiceTec und ging somit bedeutend weiter, als die indische Regierung gefordert hatte. Listige Staaten und der schrumpfende Spielraum für autonome Politikgestaltung Verfahren und Inhalt der neuesten Änderungen des Patentrechts in Indien (die Patents [Amendments] Acts von 1999, 2002, 2005) stehen in scharfem Gegensatz zu den Revisionen, die gleich nach der Unabhängigkeit vorgenommen wurden, um die koloniale Gesetzgebung, die das Land geerbt hatte, zu überarbeiten. Ein Parlamentsausschuss, der damals zu diesem Zweck eingesetzt wurde, holte interessanterweise Expertenmeinungen auch aus dem Ausland ein. Darunter war eine Expertise vom deutschen Verband der Pharmazeutischen Industrie, der sich positiv über die „exemplarische Fairness“ des Revisionsverfahrens äußerte (zitiert bei Rangnekar 2006: 410). Transnationale Beiträge zum Prozess der Normsetzung sind also nicht neu, aber die Vorzeichen, unter denen dies heute geschieht, haben sich beträchtlich verändert. Und ebenso die Ziele der Politikgestaltung. Das Patentgesetz von 1970, das sich auf ein breites und transparentes Verfahren von Expertenkonsultationen stützte, nutzte die neu gewonnene nationale Autonomie, um geistige Eigentumsrechte in den Dienst indigener technologischer Entwicklung und nationaler Selbstversorgungsziele zu stellen (Sell 1998). Die jüngsten Revisionen, welche sowohl Produktpatente einführten als auch den Schutz von Pflanzenarten und Züchterrechten regelten, wurden dagegen ohne Expertenberatungen und öffentliche Diskussion in Eile ausgearbeitet, um die indischen Gesetze mit dem TRIPS-Abkommen der WTO zum Schutz des geistigen Eigentums in Einklang zu bringen. Mit der Begründung, dass die Regierung ihre internationalen Verpflichtungen erfüllen müsse, wurde die neue Gesetzgebung zu Patenten, Biodiversität, Pflanzenarten und Bauernrechten vom indischen Parlament hastig verabschiedet. Dabei hatte sich Indien zur gleichen Zeit bei der WTO der Organisation of African Unity (OAU) angeschlossen, um
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eine Revision des Artikels 27.3 von TRIPS zu fordern. Es gab also keinen externen Zwang, das TRIPS-Abkommen in solcher Eile zu implementieren. Wade (2009) weist zurecht darauf hin, dass es zwingend erforderlich sei, dass Entwicklungsländer, statt wie bisher sich auf besseren Zugang zum Markt der Industrieländer im Rahmen der WTO-Regeln zu beschränken, auf die Ausweitung ihrer Optionen für autonome nationale Politikgestaltung Wert legen sollten. Der politische Handlungsspielraum der subalternen Staaten ist in den letzten Jahrzehnten zweifellos deutlich geschrumpft. Meine These ist jedoch, dass der politische Wille der listigen Staaten, die ihnen noch belassenen Optionen zu nutzen, ebenfalls geschwunden ist. Dies erklärt, warum das neue indische Patentgesetz nicht einmal die begrenzte Flexibilität – beispielsweise im Hinblick auf pharmazeutische Patente – nutzt, welche die Doha-Deklaration anbietet. Rangnekar (2006) zeigt überzeugend, dass die Bestimmungen des neuen indischen Patentgesetzes eher aufgrund internen Drucks denn externer Zwänge zustande gekommen sind. Der indische Staat hätte auch innerhalb des WTORahmens etwas abweichende Gesetze erlassen und die Flexibilität von TRIPS voll ausschöpfen können, um die Interessen der Kleinbauern und der Arzneimittelkonsumenten besser zu schützen. Er hat stattdessen den Interessen mächtiger Fraktionen seiner Pharmaindustrie höhere Priorität eingeräumt. Nach Rangnekar könnte die Erklärung für die ambivalente Haltung des indischen Staates in Fragen des geistigen Eigentums in den sich wandelnden Interessen einiger mächtiger indischer Arzneimittelfirmen liegen, die vom strengeren Patentschutz profitieren würden. Die Firmen sehen ihre Zukunftschancen nicht bloß in der Produktion von Generika für den Export. Sie sind auch erpicht, die Früchte ausgelagerter klinischer Forschung und die Chancen globaler Vermarktung billiger indischer Arzneimittel mit westlichen Kontrahenten zu teilen. Die Architektur des TRIPS-Abkommens spiegelt die Interessen der transnationalen Agrar-Konzerne, der pharmazeutischen und der Software-Industrie in den USA wider, die bei den GATT-Verhandlungen von der US-Regierung tatkräftig unterstützt wurden (Wade 2009). Die listige Politik des geistigen Eigentumsschutzes für Indien aber wird im Rahmen der WTO-Vorgaben in New Delhi konzipiert. Sie schützt unter Verweis auf Genf selektiv bestimmte heimische Interessen auf Kosten von anderen. Eine Vielzahl konfligierender supranationaler Rechtsregime Angesichts der Vielfalt transnationaler Rechtsregime verfolgen subalterne Staaten drei Strategien: Sie zögern die Implementierung hinaus, sie versuchen, die Widersprüche zwischen den vielen internationalen Gesetzen und Verträgen auszunutzen, und sie wählen diejenigen Foren aus, die günstigere Ergebnisse ver-
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sprechen. Beispielsweise hat Indien zusammen mit afrikanischen und fünf zentral- und lateinamerikanischen Ländern eine Überarbeitung von TRIPS und gleichzeitig einen fünfjährigen Aufschub der Implementierung für die Entwicklungsländer gefordert. Zudem hat die indische Regierung darauf hingewiesen, dass ihre Verpflichtungen aus TRIPS im Widerspruch zu denjenigen aus der Biodiversitätskonvention und dem internationalen Schutzabkommen für pflanzengenetische Ressourcen im Rahmen der FAO stünden. 4 Auch internationale Institutionen wie das United Nations Development Programme (UNDP) haben sich neuerdings den zivilgesellschaftlichen Kritikern von TRIPS angeschlossen. UNDP hat den Nutzen dieses Regelwerks für Entwicklungsländer in Frage gestellt und seine Ersetzung durch einen alternativen rechtlichen Rahmen gefordert, der den Bedürfnissen der Länder des Südens stärker entsprechen würde (UNDP 2003). Das TRIPS-Regime der WTO ist schwer auszuhebeln; aber es gibt mittlerweile eine Reihe alternativer zwischenstaatlicher Foren und Agenturen, die sich mit Fragen des intellektuellen Eigentums befassen. Da auch die WHO, die FAO und die UNO-Menschenrechtskommission über das Thema verhandeln, wird die strategische Auswahl der Foren eine weitere gangbare Strategie für Entwicklungsländer, die der Zwangsjacke des WTO-Regelwerks zu entkommen versuchen (Rangnekar 2006). Der Forenwechsel stellt nicht nur die etablierten juristischen Normen in Frage. Er sorgt ebenfalls für die Etablierung neuer Regeln und Prinzipien des Schutzes von geistigem Eigentum. NGOs als Vermittler und Initiatoren neuer Normen Neben ihrem Widerstand gegen neoliberale Globalisierung und ihrem Engagement bei der Überwachung und Durchsetzung bestehender Rechtsnormen haben zivilgesellschaftliche Akteure dank ihrer Fähigkeit, die Kluft zwischen Aktivisten und wissenschaftlichen Experten zu überbrücken, wesentliche Beiträge zur rechtlichen Glokalisierung geleistet (Günther/Randeria 2001). Ihnen verdanken wir wichtige Anregungen zu neuen Rechtsinstrumenten und -institutionen zum Schutz von indigenem Wissen und zu seiner Kompensation sowie zur Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen. NGOs haben sich aktiv als Initiatoren alternativer Policies betätigt, welche das hegemoniale Rechtsdenken in Frage stellten. Ein staatszentrierter Ansatz übersieht diese neu aufkommenden rechtlichen Möglichkeiten und ihre Zukunftsperspektiven. Die indische NGO Gene Campaign beispielsweise gehörte zu denen, die in den 1990er Jahren für eine effekti4
Letztere schließt nicht nur Patente auf Lebendigem aus. Sie erkennt auch die Rechte von Bauern an Saatgut explizit an und schützt Innovationen lokaler Bauerngemeinschaften.
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ve nationale Patentgesetzgebung agitierten, welche die durch GATT/WTO belassene begrenzte Autonomie nutzen sollte. Zudem legte die NGO als Alternative zum europäischen Modell des UPOV (Union Internationale pour la Protection des Obtention Végétales bzw. Internationaler Verband zum Schutz von Pflanzenzüchtungen) einen Entwurf vor, welcher den Bedürfnissen von Entwicklungsländern wesentlich besser entspricht. Denn in diesen Ländern findet der größte Teil der Saatgutforschung in öffentlichen Institutionen statt; und Bauern sind selbst Züchter, die individuell und kollektiv pflanzengenetische Ressourcen konservieren und Saatgut produzieren. Der indische Staat entschloss sich nur nach massivem Druck seitens zivilgesellschaftlicher Organisationen, ein effektives sog. Sui-generis-System einzurichten, obwohl dies durchaus eine WTO-konforme Option gewesen wäre. Zivilgesellschaftliche Akteure bleiben unter diesen Umständen ambivalent gegenüber dem Staat, da dieser sowohl als Gegner als auch als Verbündeter – oder wenigstens als das kleinere Übel im Vergleich zu den multinationalen Konzernen – erscheint. Postkoloniale Kontinuität Die Privatisierung von öffentlichem Wissen in Gestalt von Patenten durch den Entscheid einer europäischen oder US-amerikanischen Behörde, die biogenetisches Material und Heilpflanzenerbe in Südasien zum gemeinsamen geistigen Eigentum eines US-Konzerns und der US-Regierung verwandelt, ist sicher ein historisches Novum. Aber Konflikte über die Architektur von Gesetz und Souveränität, Rechtspluralismus und transnationale Rechtsimporte, sowie die Konkurrenz zwischen gegenseitig widersprechenden Rechtsautoritäten haben in postkolonialen Gesellschaften eine lange Geschichte (Benton 2002). Umstrukturierungen von unterschiedlichen normativen Ordnungen hatten damals wie heute eine Asymmetrie zwischen indigenem und von außen auferlegtem Recht sowie Spannungen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren und Autoritäten zur Folge. Die English East India Company, eine private Handelsgesellschaft, die eigene Streitkräfte unterhielt und territoriale Herrschaft beanspruchte, führte britisches Recht in Indien ein, bevor das Land Kronkolonie wurde. Vergessen wir nicht, dass in Europa die Beziehung zwischen dem Staat und semi-autonomen Handelsgesellschaften im 19. Jahrhundert mit Spannungen beladen war. Als mächtige private Unternehmen stützten sie sich damals – so wie heute ihre transnationalen Pendants – auf ihre jeweiligen Regierungen, um ihre Interessen im Ausland zu fördern. Sie suchten sich aber der staatlichen Kontrolle, dem Zugriff des metropolitanen Rechts und der Zahlung von Steuern in europäischen Nationalstaaten ebenfalls zu entziehen.
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F AZIT Die Dynamik der hier analysierten rechtlichen Auseinandersetzungen offenbart eine pragmatische Politik der themenbezogenen Allianzen zwischen Zivilgesellschaft und Staat. Auch wenn NGOs und soziale Bewegungen die Souveränität des Staates in unterschiedlichster Weise in Frage stellen und unterminieren, plädieren sie für einen starken Staat als Bollwerk gegen die Kräfte der Globalisierung. Diese Auseinandersetzung um die Souveränität bestreitet das Monopol des Staates im Bereich der Normsetzung wie auch seinen Ausschließlichkeitsanspruch hinsichtlich der Definition des Gemeinwohls. Mag dieser Protest seine unmittelbaren Ziele nicht immer erreicht haben, hat er doch den Kontext verändert, in dem die anderen politischen Akteure – Staaten, internationale Organisationen und transnationale Korporationen – ihre Entscheidungen fällen und legitimieren. Das hier verwendete empirische Material legt nahe, dass die gegenwärtige Transnationalisierung von Staat und Recht, die den rechtlichen und politischen Raum umstrukturiert hat, durch eine komplexe Mischung von alten und neuen Formen der Souveränität gekennzeichnet ist. Es war niemals einfach, in (post-)kolonialen Staaten, deren Souveränität immer durch andere Akteure innerhalb wie jenseits des Staates beeinträchtigt war, die Verflechtung des „Internen“ und „Externen“ zu entwirren. Aber heute ist die Unterscheidung, die in den postkolonialen Staaten vom Anfang an eine komplexe Genealogie aufwies, noch fließender geworden. Die Fallstudien zu Indien weisen eher auf eine „Entbündelung“ als auf eine Auflösung der Souveränität hin, um Andersons (1996: 148) Unterscheidung zu gebrauchen. Sie mahnen zur Vorsicht vor dekontextualisierten Verallgemeinerungen bezüglich der Natur, der Verteilung oder der Verortung von Macht; denn was für einen Aspekt staatlicher Macht gilt, muss auf einen anderen nicht notwendigerweise zutreffen. Hardt und Negri (2000) liefern uns ein eindrucksvolles Narrativ vom Aufstieg des Empire als einer neuen rechtlich-ökonomischen Formation, die den souveränen Nationalstaat ersetzt habe. Sie bestehen zu Recht darauf, dass internationale Institutionen Bestandteil einer neuen imperialen Konstellation sind, in der supranationales Recht das nationale durchdringt und umstrukturiert. Aber der Staat und seine Rechtspraktiken sind, wie Buchanan und Pahuja (2004) behaupten und mein Material nahe legt, für das Funktionieren des internationalen Rechts und der internationalen Institutionen von entscheidender Bedeutung. Eher konstituieren sich das Nationale und Internationale wechselseitig, als dass sie in Opposition zueinander stehen (Sassen 2006, Randeria/Eckert 2009). Darüber hinaus verleitet der Fokus von Hardt und Negri auf die „Vielheit“ (multitude) als
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biopolitische Kraft der Revolution und politische Kraft zur Herbeiführung von absoluter Demokratie und Gerechtigkeit jenseits des Gesetzes dazu, die Signifikanz der Tatsache zu übersehen, dass Widerstand in erster Linie den Staat zum Adressaten hat, in der nationalen Arena stattfindet und sich des nationalen Rechts und nationaler Gerichtshöfe bedient. Meine Daten zur Politik der neuen sozialen Bewegungen in Indien widersprechen auch ihren Behauptungen zum Niedergang der Zivilgesellschaft. Diese Bewegungen, die sich gegen Vertreibung, Enteignung und Kommodifizierung des Gemeineigentums zusammentun, beschäftigen sich mit Problemen der Ökologie und der kulturellen Identität von Gemeinschaften, die im indischen Kontext allesamt miteinander verflochten sind. Ihre Kämpfe, die politische Mobilisierung und rechtliche Schritte miteinander kombinieren, finden innerhalb wie außerhalb der nationalen Arena statt, da sie verschiedene Ebenen gleichzeitig einbeziehen und das Lokale und Regionale mit dem Nationalen und Globalen verweben. Mein Datenmaterial lässt erkennen, dass die nationale politische Arena und die nationalen juristischen Foren – im Gegensatz zu Hardt und Negris skeptischer Sicht auf Recht und Staat als Orte der Gerechtigkeitssuche im Empire – keineswegs von marginaler Bedeutung sind, und dass im Gegensatz zu ihrer Behauptung auch die Zivilgesellschaft nicht im Verfall begriffen ist. Die Beachtung, die spektakuläre Aktionen wie die Proteste gegen die Milleniums-Runde der WTO in Seattle in Wissenschaft und Medien gefunden haben, hat zu einer Vernachlässigung der eher profanen Welt der rechtlichen Arenen geführt, in welchen zivilgesellschaftliche Akteure und Netzwerke gegen staatliches (Nicht-)Handeln und die Policies internationaler Institutionen vorgehen. Die aufgeführten Fallstudien illustrieren das emanzipatorische Potenzial des Rechts, weisen aber gleichzeitig auf die Komplexität der strategischen Möglichkeiten und Grenzen der Nutzung des Rechts im Widerstand gegen Verarmung und Enteignung hin. Die Verwobenheit der nationalen und internationalen Ebenen sowohl im rechtlich-politischen Widerstand in Indien als auch in transnationalen Foren (wie dem Europäischen Patentamt) zeigt, dass wir von Hardt und Negris Darstellung des Internationalen als eines deterritorialisierten Empire weit entfernt sind. Die hier untersuchten Fallbeispiele zeigen einige der Ambivalenzen einer entstehenden globalen Zivilgesellschaft in einer „post-westfälischen Weltordnung“, um Richard Falks (1998) Begriff zu benutzen. Sie erweitert das Spektrum der Möglichkeiten demokratischer Partizipation, insofern nun Bürger ihre Regierungen umgehen und direkt mit Institutionen der supranationalen Governance interagieren können. Aber auf diese Weise können soziale Bewegungen und NGOs paradoxerweise undemokratischen internationalen Institutionen
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höhere Autorität und Legitimität verleihen und indirekt zu einer weiteren Schwächung der Souveränität der Staaten beitragen, die sie in die Verantwortung zu nehmen suchen. Dass der Staat in Zukunft eine einheitliche Quelle normativer Ordnung darstellen wird, ist äußerst unwahrscheinlich. In Wirklichkeit war er es in den (post) kolonialen Gesellschaften zu keinem Zeitpunkt. Die Existenz von multiplen und sich überschneidenden transnationalen Rechtsordnungen verweist auf andere Optionen als die unrealistische Hoffnung auf Wiederherstellung der nationalen Rechtsautonomie und den ebenso utopischen Traum von der allumfassenden globalen Regulierung jenseits des Staates und ohne ihn. Im Gegensatz zur binären Alternative von nationaler oder globaler Regulierung bzw. von Staatsrecht oder Gemeinschaftsrecht versucht dieser Artikel, die Konturen einer sich entwickelnden Landschaft des eklektischen Rechtspluralismus zu umreißen, welcher neue, von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren zusammengewobene Regulierungsnetzwerke wie beispielsweise transnational vernetzte Bewegungen und Advocacy-NGOs umfasst. Es handelt sich um ein Mosaik aus dominanter supranationaler Regulierung, (post-)kolonialer nationaler Gesetzgebung, von der Zivilgesellschaft aufgestellten alternativen Normen, zwiespältigem Projektrecht von bilateralen und multilateralen Gebern, einer Vielzahl von neuen internationalen Normen und Standards sowie wieder auflebenden Gemeinschaftsnormen und Gewohnheitsrechten. Die Anerkennung der Legitimität von anderen Rechtsquellen neben dem staatlichen Recht gefährdet nicht notwendigerweise die Herrschaft des Rechts, sondern nur seine Staatszentriertheit, die, wie Benton (2002) nahe legt, historisch neu und kontingent ist. Wie in Bollywood-Filmen besetzt der indische Staat in diesem Drehbuch die Doppelrolle des Helden und des Schurken, des Verbündeten und des Gegners. Listige Staaten sind Staaten, die es schaffen, immer weniger an Pflichten gegenüber ihren Bürgern zu haben. Hätten sie den politischen Willen, könnten sie das begrenzte Maß an Autonomie, das sie unter den Bedingungen der Globalisierung noch besitzen, nutzen, um die Interessen ihrer verwundbaren Bürger zu schützen. Zivilgesellschaftliche Akteure, die sich für die Rechenschaftspflicht der Regierung einsetzen, stehen vor dem Dilemma, gleichzeitig auf die Begrenzung der Macht des Staates und die Ausweitung seiner sozialen Verpflichtungen hinzuarbeiten. Das Resultat ist eine „Fuzzy Politics“, die sich jeder simplen Klassifizierung anhand ideologischer Kategorien oder der binären Opposition von „national“ und „international“ entzieht. Basisorientierte NGOs und soziale Bewegungen, einstmals scharfe Kritiker des Staates, haben den Nutzen staatlicher Souveränität wieder entdeckt. Ihre prinzipiell antistaatliche Haltung ist somit der
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Anerkennung der Notwendigkeit pragmatischer Partnerschaften mit dem Staat gewichen, auch wenn sie weiterhin seine Legitimität als alleiniger Vertreter des öffentlichen Interesses und des Gemeinwohls in Frage stellen. Listigen Staaten und nichtrechenschaftspflichtigen internationalen Institutionen gegenüberstehend, haben die Akteure der Zivilgesellschaft weder permanente Freunde noch permanente Feinde, sondern nur permanente Interessen. Für alle, die eine prinzipiengeleitete und auf ideologischen Wahlverwandtschaften beruhende Politik anstreben, stellen solche ambivalenten Allianzen gefährliche Liebschaften dar. Aber in dieser Hinsicht stehen transnationale Bürgerallianzen, internationale Institutionen und Staaten alle vor dem gleichen Dilemma. Sie alle müssen gleichzeitig mehrere Öffentlichkeiten an unterschiedlichen Orten ansprechen, konfligierende Interessen befriedigen, lokale Prioritäten mit einer Vielzahl von globalen Agenden in Einklang bringen, Themen in eine weltweit verständliche Sprache übersetzen und sich als fähig erweisen, unterschiedliche Zielgruppen in unterschiedlichen Sprachen anzureden. Daraus ergeben sich schließlich schwerwiegende Fragen hinsichtlich der Rechenschaftspflicht dieser drei Akteursgruppen mit ihrer äußerst ungleichen Macht in der neuen Architektur der Global Governance.
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Demokratie(n) im Plural denken Visionen und Praktiken jenseits des liberalen Paradigmas: Ein postkolonialer Blick auf und aus Bolivien T ANJA E RNST
Am Beispiel der konkreten Forderungen nach Dekolonisierung und Demokratisierung der indigenen Gemeinschaften Boliviens greift der vorliegende Beitrag die Kritik an liberalen Wahldemokratien auf. Während der politikwissenschaftliche Mainstream die marktwirtschaftliche, liberal-repräsentative Mehrparteiendemokratie zum globalen Maßstab für Demokratie erhebt, macht eine postkolonial gerahmte Analyse deutlich, dass Demokratie(n) im Plural gedacht werden müssen. Der institutionell-prozedural verengte Politikbegriff und die Fokussierung auf Effizienz- und Steuerungsaspekte verstellen der liberalen Demokratietheorie den Blick auf fortbestehende Ausschlüsse und strukturelle Teilhabedefizite. Neben materiellen Voraussetzungen müssen aber auch immaterielle Formen von Ungleichheit, wie kulturelle, symbolische und machtpolitische Barrieren sowie der sozio-historische Kontext demokratischer Normen und Praxen stärker reflektiert werden.
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Postkoloniale Zugänge untersuchen die nachhaltigen Auswirkungen kolonialer Eroberung und Herrschaft und zeigen Kontinuitäten imperialer und neokolonialer Herrschaftspraktiken sowie die Fortschreibung der historisch entstandenen Asymmetrien auf (Conrad/Randeria 2002: 24). Aber anders als viele der früheren imperialistischen oder dependenztheoretischen Ansätze gehen postkoloniale Perspektiven nicht länger von einer einseitigen Beherrschung und Beeinflussung durch Europa aus. Vielmehr werden die Verwobenheit der Geschichte des ,Westens‘ mit
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dem Rest der Welt hervorgehoben und Kolonialisierungs- und Entkolonialisierungsprozesse als asymmetrische, aber reziproke gesellschaftliche Prozesse gefasst. Die globale Verflechtung der Weltgeschichte hat dabei interdependente Entwicklungen und Wechselwirkungen sowohl für die Eroberten, als auch die Eroberer erzeugt (Kerner 2010: 246f.). 1 Obwohl lokale und regionale Entwicklungen vielfach unsichtbar gemacht und der dominanten europäischen Geschichtsschreibung einverleibt wurden, vermochten weder die von Europa ausgehenden christlich-zivilisatorischen Missionierungsversuche, noch der weltweite Siegeszug der kapitalistischen Produktionsweise, die Vielfalt lokal und regional existenter Realitäten und Differenzen einfach auszulöschen (Mignolo 2000). Theoretisch-konzeptionell werden in diesem Beitrag primär Erkenntnisse post- sowie dekolonialer Autor_innen aus Lateinamerika herangezogen. Anders als die überwiegend poststrukturalistisch und dekonstruktivistisch ausgerichtete angloamerikanische Debatte, die sich vielfach in bewusster Abgrenzung zu marxistischen Ansätzen entwickelt hat, sind Teile der postkolonialen Debatte in Lateinamerika dependenztheoretisch sowie weltsystemtheoretisch beeinflusst (Bortoluci/Jansen 2013: 201ff.; Ernst 2010; Rivera Cusicanqui/Barragán 1997). Der Mehrwert von Beiträgen lateinamerikanischer Autor_innen, wie Aníbal Quijano, Enrique Dussel, Silvia Rivera, Fernando Coronil, Edgardo Lander u. a. liegt aus Sicht der Autorin darin begründet, dass neben diskursiven Praxen auch materielle Verhältnisse in den Blick genommen werden. So lässt sich das Konzept der „Kolonialität der Macht“ von Quijano, einem wichtigen Vertreter der Dependenztheorie, als postkoloniale Erweiterung dependenztheoretischer Ansätze lesen. Er betont, dass sich die Formen der Machtausübung nicht auf die gewaltsamen Zwangsakte und die Unterwerfung der ehemaligen Kolonien sowie auf manifeste Formen militärischer, ökonomischer und politischer Einflussnahme beschränken, sondern viel umfassender wirken und auch die kognitive, erkenntnistheoretische und ideologische Ebene eingeschlossen haben (Quijano 1993). Dabei war die Erfindung der Rasse und die europäische Idee einer hierarchischen Klassifizierung der eroberten Bevölkerungen entlang von kulturellen und rassistischen Zuschreibungen zentral, um den gewaltsamen Akt der Kolonisierung als Zivilisierungsakt zu legitimieren und die internen Machtstrukturen sowie die asymmetrischen Beziehungen zwischen den europäischen Kolonialmächten und ihren Kolonien dauerhaft festzuschreiben. Vor diesem Hintergrund sei der Kolo1
Im Sinne des von Homi Bhabha geprägten Hybriditätskonzeptes meint das weder die vollständige Auslöschung, noch die schlichte Vermischung zweier Kulturen, sondern wechselseitige Prozesse von Aneignung, Neu- und Umdeutung, die dominiert durch den Westen beide Kulturen und ihre weitere Entwicklung beeinflusst und verändert haben (Ziai 2010: 405).
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nialismus auch nicht als temporäre Begleiterscheinung der kapitalistischen Moderne zu verstehen, sondern müsse als ein konstitutives Element zur Durchsetzung der internationalen Arbeitsteilung und als Ausdruck des umfassenden Herrschaftsanspruches Europas betrachtet werden (ebd.). Ein weiterer Autor, der marxistische und postmoderne Zugänge in seinem Denken vereint und großen Einfluss auf die post- sowie dekoloniale Debatte in Lateinamerika ausgeübt hat, ist Enrique Dussel. Die zentralen Begrifflichkeiten seiner Kritik am Eurozentrismus lauten Exteriorität und Transmoderne (Dussel 1993). Mit Exteriorität, bezeichnet Dussel die Position all derjenigen, die ‚außen stehen‘, d.h. heißt diejenigen Weltregionen, Kulturen und Subjekte, die in der Metaerzählung der europäischen Moderne vereinnahmt, unterdrückt oder zum Schweigen gebracht wurden. Dussel fordert dazu auf, sich diesen marginalisierten Stimmen zuzuwenden und die Gesamtheit gesellschaftlicher Realitäten aus diesen ausgeschlossenen Perspektiven neu zu denken. Mit dem Konzept der Transmoderne bestreitet Dussel darüber hinaus das kulturelle und erkenntnistheoretische Monopol und die angenommene Existenz der einen dominanten Moderne (ebd.). Insofern begnügt sich eine postkolonial formulierte Kritik liberaler Demokratie auch nicht mit dem Blick auf ihre historischen Ausschlüsse, sondern unternimmt einen Perspektivwechsel von multikulturellen Sonderrechten hin zu interkulturellen Anforderungen an Demokratie(n) und hinterfragt die monokulturellen Normen, Werte und Verfahren sowie das Rechtsverständnis liberaler Demokratie in diesem Fall aus der konkreten Perspektive indigener Formen der Selbstorganisation. Aus einer liberalen Perspektive ist das Verhältnis von Demokratie und Ethnizität strukturell problematisch, da Ethnizität zentrale liberale Prinzipien wie das Primat individueller Rechte und den Anspruch auf Universalität herausfordert. Ethnizität wird als vormodernes Relikt, als Entwicklungshemmnis und Hindernis für die Einheit der als homogen konzipierten modernen Nationalstaaten betrachtet. Kulturelle Vielfalt wird dabei als Ursache der inner- und zwischengesellschaftlichen Konflikte wahrgenommen, ohne den Blick auf die Vielzahl gesellschaftlicher Ausschlüsse und die (Un-)Angemessenheit liberalrepräsentativer Institutionen oder Verfahren zu richten. Eine solche Betrachtungsweise ignoriert andere Formen des Politischen und institutionalisierte Formen von Rassismus. 2 2
So löst der Begriff der Dekolonisierung in der bolivianischen Ober- sowie Teilen der Mittelschichten Angst aus. Dekolonisierung wird von diesen gesellschaftlichen Gruppen mit dem Verlust eigener Privilegien sowie einer drohenden Entzivilisierung gleichgesetzt. Aus Sicht derjenigen, die sich selbst als westlich und modern verstehen, wäre eine Politik, die sich (auch) an den Interessen der indigenen Bevölkerung orien-
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Im Folgenden wird kurz die plurinationale Staatsvision Boliviens skizziert. Da die Einführung indigener Autonomie den eigentlichen Kern des bolivianischen Dekolonisierungs- und Demokratisierungsversprechens ausmacht und die Chancen und Grenzen dieses Prozesses für die faktische Institutionalisierung demokratischer Pluralität von besonderem Interesse sind, wird im Anschluss daran auf den 2009 eingeleiteten Autonomieprozess eingegangen, um dann auf die lokal entbrannten Konflikte und exemplarisch auf das Autonomiestatut der indigenen Hochlandgemeinde Totora einzugehen. Im Fokus stehen dabei sowohl der Grad demokratischer Erneuerung, als auch die Vielschichtigkeit, Komplexität und inneren Widersprüche postkolonialer Gesellschaften, die sich im Autonomieprozess vielfach widerspiegeln.
D IE V ISION DES P LURINATIONALEN S TAATES Der plurinationale Staat erkennt an, dass Bolivien durch eine ethnisch-kulturelle Vielfalt an Lebens-, Organisations-, Produktionsweisen sowie Rechtsvorstellungen gekennzeichnet ist. 3 Diese waren dem Liberalismus bisher untergeordnet. Mit Blick auf die Institutionalisierung demokratischer Pluralität stellt das Projekt der indigenen Autonomien den Kern der anvisierten Dekolonisierung und demokratischen Erneuerung dar. Indigene Autonomie beinhaltet – territorial begrenzt – die institutionelle Gleichstellung unterschiedlicher demokratischer Normen und Praxen. Darüber hinaus sollen indigene Rechte, Werte und Normen auch national gestärkt und Staat und Gesellschaft von Grund auf transformiert und pertiert, undemokratisch, da sie ein Drittel der bolivianischen Gesellschaft fortan benachteiligen und sogar ausschließen würde. Das Messen mit zweierlei Maß und die ungebrochene Inanspruchnahme universeller Wahrheiten werden hier sehr deutlich. Während die Stärkung indigener Formen der Selbstorganisation, traditionsverbundener Rechtsvorstellungen oder kommunitärer Wirtschaftsformen Ängste und Empörung hervorruft, hat sich das ‚moderne‘ Bolivien niemals am Ausschluss der Anderen gestört oder daran, der indigenen Mehrheit im Namen des Fortschritts die eigenen Werte, Normen und Verfahren aufzunötigen. 3
Sowohl der Begriff des Volkes, als auch der der Nation haben in Lateinamerika eine andere Geschichte und entfalten in indigenen und linken Spektren nicht den negativen Beigeschmack, den kritische Perspektiven in Europa damit verbinden. Für indigene Gemeinschaften ist das jüngere Selbstverständnis als „Nation“ u. a. strategisch notwendiges Instrument, um international und national Rechte durchsetzen zu können, da „Völker“ keine Subjekte im Sinne des Völkerrechts sind (Belina/Miggelbrink 2012: 192f.).
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spektivisch interkulturell gestaltet werden. Politisch-institutionell bedeutet das, den monokulturellen Staatsapparat und das liberale Rechtssystem sprachlich, politisch-institutionell, prozedural und kulturell zu pluralisieren und über die bewusste Stärkung partizipativer, direktdemokratischer sowie kommunitärer Demokratieelemente auch auf nationaler Ebene zu demokratisieren (Ernst 2015).
I NDIGENE AUTONOMIE ( N ) Als Begründung für das Recht auf indigene Autonomie verweist Artikel 2 der 2009 verabschiedeten neuenVerfassung Boliviens auf die präkoloniale Existenz und territoriale Kontinuität der indigen-originär-bäuerlichen Nationen und Völker. Zugleich beschränkt die Verfassung die Möglichkeit, indigen-originärbäuerliche Autonomie einzuführen auf angestammte und aktuell bewohnte Territorien (Art. 290 (I), NCPE). 4 Über die Einführung indigener Autonomie kann mithin nur dort abgestimmt werden, wo die Bewohner_innen sowohl territoriale Kontinuität, als auch eine bis in die Gegenwart reichende Geschichte der kollektiven Selbstorganisation nachweisen können (Albó 2010: 356f.). Das stellt einen politischen Kompromiss dar und schließt radikal-indianistische Bestrebungen einer Rückkehr zu präkolonialen Verhältnissen aus. Zugleich aber wurden die willkürlichen und nach wie vor umkämpften Grenzziehungen des liberalen Kommunalisierungsprozesses von 1994 fortgeschrieben und ein freiwilliger Zusammenschluss auf der Basis kulturell-historisch oder geographisch gewachsener sozial-räumlicher Zusammenhänge deutlich erschwert. Gewollt oder ungewollt wurde zugleich ein essentialistischer Blick auf indigene Kulturen in der neuen Verfassung verankert. 5
4
Die Nueva Constitución Política del Estado (NCPE), die neue politische Verfassung des Staates Boliviens liegt auch in deutscher Übersetzung vor: http://www.bolivia.de/ fileadmin/Dokumente/Presse-Medien_Dt%2BSp/Interessante%20Dokumente/CPE_ale man.pdf (30.07.2015).
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So sind indigene Gemeinschaften, die sich selbst regieren möchten, quasi gezwungen sich möglichst authentisch als präkoloniale Kultur zu inszenieren, um überhaupt indigene Autonomie einführen zu können. Alternativ hätte die Verfassung auch vorsehen können einzelne räumlich-politische Einheiten oder sogar neue politisch-territoriale Zusammenschlüsse, unabhängig von der historischen Kontinuität, darüber abstimmen zu lassen, ob sie indigene oder interkulturelle Autonomie einführen wollen. Damit wäre indigene Autonomie beispielsweise auch in indigen geprägten, urbanen Teilgebieten denkbar gewesen.
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Ein weiterer Bereich, in welchem der bestehende Rechtsrahmen von einer zentralen Forderung der indigenen und indigen-gewerkschaftlichen Organisationen abweicht, ist die angestrebte Kontrolle über die Nutzung der natürlichen, erneuerbaren und nicht erneuerbaren Ressourcen innerhalb der indigenen Territorien. So schreiben die Artikel 311 (II.2) und 349 (I) der NCPE fest, dass die natürlichen Ressourcen Eigentum des bolivianischen Volkes sind und vom Staat verwaltet werden. Die indigenen Gemeinschaften verfügen innerhalb ihrer Territorien lediglich über ein Nutzungsrecht der erneuerbaren Ressourcen, gemäß der eigenen Normen und Verfahren, sowie über ein Recht auf Gewinnbeteiligung im Falle der Nutzung nicht erneuerbarer Ressourcen. Des Weiteren legt die neue Verfassung fest, dass bei allen Investitions- und Abbau- oder Förderungsplänen von Bodenschätzen sowie gesetzgeberischen oder administrativen Maßnahmen, die potentiell Auswirkungen auf das Territorium und/oder die indigenen Gemeinschaften haben, letztere vorab vom Staat konsultiert werden müssen. Einmal abgesehen davon, dass die Regierung Morales es mit dem Verfassungsrecht auf vorherige Konsultation bisher nicht allzu genau nimmt, besteht die entscheidende Einschränkung darin, dass das Ergebnis des Konsultationsprozesses rechtlich nicht bindend ist (Bascopé 2011). Auch die laut Verfassung gewährte Autonomie und Gleichstellung indigener Rechtsprechung wurde durch das Gesetz zur Regelung der Zuständigkeit und Abgrenzung der verschiedenen Rechtssysteme, der Ley de Deslinde Jurisdiccional Nr. 073 deutlich begrenzt. Es lässt sich zwar von der Einführung eines pluralen Rechtssystems sprechen, aber die verfassungsrechtlich zugesicherte Gleichstellung beider Rechtstraditionen wurde damit nicht umgesetzt. 6 Trotz der genannten Einschränkungen weisen die in der neuen Verfassung vorgesehenen Autonomierechte über liberale Modelle der Dezentralisierung zentralstaatlicher Kompetenzen sowie die Dekonzentration öffentlicher Ressourcen substanziell hinaus. Denn indigen-originär-bäuerliche Autonomie beinhaltet das Recht, die zukünftigen autonomen Regierungen auf der Basis der lokal praktizierten Werte, Normen und Verfahren zu berufen und ihren Aufbau und ihr Funktionieren kollektiv zu regeln. Aus demokratietheoretischer Perspektive bedeutet das, dass in den indigenen Autonomien zentrale liberaldemokratische
6
Das Gesetz setzt sowohl den Kompetenzen, als auch dem Zuständigkeitsbereich der indigenen Gerichtsbarkeit enge Grenzen. So soll indigenes Gewohnheitsrecht nur Anwendung finden, wenn es um zivilrechtliche Konflikte zwischen Mitglieder einer indigenen Gemeinschaft geht, die sich innerhalb des indigenen Territoriums ereignet haben. Staatliche Interessen und die Interessen Dritter dürfen davon nicht berührt werden. (Ernst 2015: 179).
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Elemente wie parteipolitische Vertretung, geheime Wahlen, Mehrheits- und Verhältniswahlrecht zukünftig außer Kraft gesetzt sein werden. Es können aber nicht nur die indigenen Autoritäten gemäß der lokalen usos y costumbres (z. B. durch Rotation und Akklamation) ernannt werden, sondern sämtliche Mitglieder der künftigen Autonomieregierungen können – sofern die Gemeinschaft dieses in ihrem lokalem Statut so festlegt – über traditionsverbundene Normen und Verfahren ausgewählt werden. Darüber hinaus können zentrale lokalpolitische Entscheidungen, wie Planungsprioritäten oder die Investition staatlich gewährter Ressourcen zukünftig kollektiv und auf der Basis eigener Normen und Verfahren getroffen werden. Auch unterliegen die Investitionsentscheidungen nicht mehr automatisch der Kosten-Nutzen-Vorgabe durch das geltende Kommunalrecht. 7 Der Pilotprozess und die lokalen Konflikte – ein Spiegel postkolonialer Komplexität Der im August 2009 von der Regierung offiziell eingeleitete Pilotprozess zur Einführung indigener Autonomien zielt auf die Stärkung kommunitärer und direktdemokratischer Entscheidungsverfahren und eine erweiterte Beteiligung, Kontrolle sowie Handlungs- und Entscheidungsmacht von unten. Die Umsetzung des Verfassungsgebotes würde bedeuten, dass die Zentralregierung perspektivisch große Teile ihrer politischen (Gestaltungs-)Macht an die subnationalen Autonomieebenen abtreten müsste. Durchaus wahrscheinlich ist zudem, dass das Zusammentreffen unterschiedlicher Autonomieeinheiten und Demokratie(n) vielgestaltige Kompetenz-, Ressourcen-, Verteilungs-, Grenz- sowie Wert- und Normkonflikte auslösen wird. Das ist sowohl zwischen, als auch innerhalb der verschiedenen autonomen Gebietseinheiten denkbar. 8 Denn dort wo indigene Autonomie eingeführt wird, bedeutet dass die Abschaffung der liberal-demokratisch gewählten Kommunalregierung sowie das Ende parteipolitischer Einflussnahme. Das führte bereits 2009 vielerorts zu handfesten Konflikten. Die Auto7
Das geltende Kommunalrecht sieht vor, dass lokale Investitionen eine Mindestanzahl an Einwohner_innen begünstigen müssen, um die Effizienz und Verhältnismäßigkeit des öffentlichen Mitteleinsatzes zu gewährleisten. Für die oft sehr abgelegenen und verstreuten Ansiedlungen im ländlichen Altiplano hat das zur Folge, dass einige Familien quasi nie von kommunalen Investitionen profitieren, da die Kosten im Verhältnis zu den begünstigten Personen stets zu hoch ausfallen (ebd.: 180).
8
Neben den indigen-originär-bäuerlichen Autonomien, die sublokal sowie lokal sowie in Ausnahmefällen auch regional eingeführt werden können, sieht die Verfassung überdies die Möglichkeit vor kommunale, regionale und departamentale Autonomien liberal-demokratischen Zuschnitts zuzulassen.
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nomiebefürworter_innen in den 12 Pilotgemeinden mussten überdies in sehr kurzer Zeit eine Vielzahl bürokratischer Hürden und liberal-demokratischer Vorgaben überwinden und hatten formal keine Handhabe, um die amtierenden Lokalregierungen zu zwingen, die Referenden bei den Regionalen Wahlgerichtshöfen zu beantragen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu den Gemeinderatssitzungen zu mobilisieren, um Druck auf die gewählten Kommunalpolitiker_innen auszuüben. Am Ende beugten sich die Kommunalregierungen in allen Pilotmunizipien dem politischen Druck. Aber der Preis für diesen Etappensieg war hoch: Die lokalpolitischen Interessengegensätze mündeten oftmals in gewaltsam ausgetragene Konflikte, welche die Gemeinden nach innen spalteten und für bleibende Spannungen sorgten. Dem kanadischen Historiker James D. Cameron zufolge illustrieren diese Konflikte, dass lokal kein von allen geteiltes Verständnis traditionsverbundener Normen und Verfahren und keine gemeinsamen Bezüge auf die eigene Geschichte existieren (Cameron 2012a; Cameron 2012b). 9 Die Homogenität indigener Gemeinschaften sei sowohl von den indigenen Aktivist_innen selbst, als auch von den begleitenden Wissenschaftler_innen überschätzt worden (Cameron 2012a: 6f.). Der Autonomieprozess aber habe offenbart, wie wenig Wissen über die eigene Geschichte vielerorts vorhanden sei und wie selektiv und uneins der interne Umgang damit sei. Am Beispiel des indigen-gewerkschaftlichen Munizips Mojocoya im Departement Chuquisaca beschreibt er, dass lokal zunächst kaum Kenntnisse über die vorkoloniale Vergangenheit vorhanden gewesen seien. Im Alltagsbewusstsein der Menschen seien vielmehr die Agrarrevolution von 1953 und der Kampf gegen die Haziendaherrschaft sowie die kurze Unterstützung von Che und seiner Guerrillatruppe präsent gewesen. Erst die Auflage des Autonomieministeriums, die präkoloniale Existenz nachweisen zu müssen, hätte in Mojocoya dazu geführt, die eigene Geschichte zu rekonstruieren. Dies geschah vorzugsweise über das Internet (ebd.: 12). In einem anderen Beispiel erläutert Cameron, dass das stark ausgeprägte Geschichtsbewusstsein in der Gemeinde Jesús de Machaca im Departement La Paz nicht das Ergebnis der oralen Tradition sei, sondern Resultat diverser anthropologischer Buchpublikationen und eines auf Aymara ausgestrahlten Radioprogramms. Schließlich hätte vielerorts nicht die Bevölkerung vor Ort eine entscheidende Rolle bei der Wiederent-
9
Ich beziehe mich im Folgenden kritisch auf James D. Cameron, der als assoziierter Wissenschaftler der bolivianischen NGO Fundación Tierra den Pilotprozess in vier der elf Munizipien über einen längeren Zeitraum hinweg begleitet hat. Viele seiner empirischen Beobachtungen decken sich mit meiner eigenen Feldforschung, dennoch interpretiere und bewerte ich einiges anders als er.
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deckung und -aneignung der lokalen Historie gespielt, sondern vor allem ihre universitär ausgebildeten residentes 10 (ebd.). Keine dieser Aussagen ist falsch, nur überrascht die Skandalisierung, die Cameron daraus ableitet. Er behauptet, dass im Vorfeld des Pilotprozesses nicht reflektiert worden sei, dass die lokale Geschichte und die traditionsverbundenen Normen und Verfahren innerhalb der indigenen Gemeinschaften umstritten seien. Das stimmt nicht. Tatsächlich zwingt die Verfassungsvorgabe zur Darstellung und Bezugnahme auf Authentizität. Allerdings wird niemandem das Wissen über die eigene Geschichte, kulturelle Besonderheiten oder lokale Werte mit in die Wiege gelegt. Es muss gelebt und als Teil des Alltagswissens, von Generation zu Generation weitergegeben werden. Geht es verloren, muss es neu entdeckt und individuell sowie kollektiv erneut angeeignet werden. Das heißt, es muss über Zeitzeugen und Interviews oder eben in Archiven, Bibliotheken, Büchern sowie dem Internet recherchiert, aufbereitet und (neu) vermittelt werden. Das Ganze stellt einen Prozess dar, der Interesse voraussetzt und nicht automatisch abläuft. Und dieser Prozess schließt unterschiedliche Perspektiven und Interpretationen vergangener Ereignisse zwangsläufig ein. Hier schützt die postkoloniale Perspektive vor dem essentialistischen Kurzschluss Kultur als naturgegeben und nicht als stets dynamische soziale Interaktion zu konzeptualisieren. Auch die zweite Kritik Camerons, dass das Geschichtsbewusstsein offensichtlich mit dem Erwerb von formaler Bildung zunimmt, ist keineswegs neu und gilt auch außerhalb von indigenen Kontexten. Bildung erhöht die Möglichkeiten, sich Wissen anzueignen und selbstständig zu erschließen, vor allem aber erleichtert Bildung den Zugang zu schriftlichen Quellen und den Umgang mit digitalen Medien. Mit anderen Worten, nur wer Kultur(en) statisch begreift, kann Homogenität und Authentizität indigener Traditionen erwarten und über das Nichtvorhandensein überrascht sein. Tatsächlich sind Cameron die eigentlichen Ursachen für die Konflikte und die unterschiedlichen Interpretationen lokaler Geschichte und Identität durchaus bekannt: „A key point is that convictions about indigenous history and culture can encounter challenging tests and generate significant angst when they also form the basis for the distribution of state-based political power and economic resources, as is the case in the construction of indigenous autonomies. In short, the definition of indigenous peoples’ own ‘norms 10 Als residentes werden jene Mitglieder einer indigenen Gemeinschaft bezeichnet, die in die Stadt migriert sind und nur noch temporär in ihrer Herkunftsgemeinde leben. Erfüllen sie oder ihre vor Ort verbliebenen Familienangehörigen aber weiter ihre kommunitären Pflichten stehen den residentes die gleichen Rechte zu, wie den dauerhaft vor Ort Lebenden.
326 | E RNST and procedures’ is far from given and rather is a deeply contentious process that calls on competing interpretations of history to justify contemporary political and economic interests.“ (Ebd.: 12)
So werden die lokalen Konflikte weniger durch unterschiedliche Interpretationen der eigenen Kultur und Historie ausgelöst, als vielmehr durch ökonomisch und politisch divergierende Interessen der Gegenwart. Extrem negativ wirkt sich zudem das ambivalente Verhalten der Regierung aus, die sich zwar offiziell für die Einführung indigener Autonomie aussprach, den Prozess aber von Anbeginn durch zahlreiche Hürden und immer neue Vorgaben blockierte 11, was zu großer Verunsicherung an der Basis führte. Darüber hinaus war lokal der Widerstand derer groß, die um den Verlust ihres kommunalpolitischen Mandats und das Ende der parteipolitischen Einflussnahme fürchteten. Dazu zählten viele Regierungsanhänger_innen bzw. lokale MAS-Mitglieder, die politisch ja gerade erst an Macht und Einfluss gewonnen hatten. Das Autonomiestatut Totoras – Demokratietheoretisch relevante Aspekte Aus liberaler Perspektive ist San Pedro de Totora ein Stadt- und Landkreis im Nordwesten des Hochlanddepartements Oruro. Aus indigener Sicht gehört Totora Marka zum suyu der aymarasprachigen Jach’a Karangas. Das Territorium der Karangas zählt zu den wenigen Gebieten, das sowohl die Herrschaft der Inkas, als auch die der kolonialen und postkolonialen Phase überdauert hat und in welchem sich noch vergleichsweise viele traditionsverbundene Elemente der poli11 Hier muss berücksichtigt werden, dass die Unterstützung der Regierung Morales für indigene Autonomie auf die erste Amtszeit und die damalige Vehemenz und Gewaltbereitschaft der Tieflandeliten zurückgeht. So versuchte die Regierung Morales 2006 und 2007 das spannungsgeladene Diskursfeld Autonomien und den wohlstandschauvinistischen Autonomiebestrebungen der Tieflandregionen durch eine positive Bezugnahme auf die langjährigen Forderungen nach indigener Selbstbestimmung zu besetzen. Doch schon damals deutete sich an, dass indigene Autonomieforderungen und die Befürworter_innen eines staatszentrierten Entwicklungsmodells in Konflikt geraten werden (Ernst 2007: 6, 17). Seit 2009 aber hat die Regierung ihre politische Macht im nationalen Maßstab spürbar konsolidiert und indianistische Positionen innerhalb der Regierung und des MAS signifikant an Einfluss verloren. Die makroökonomischen Erfolge des neo-extraktivistischen Entwicklungsmodells und die damit einhergehenden sozial-ökologischen und territorialen Konflikten machen zudem deutlich, warum das Verfassungsziel (indigene) Autonomien für die Regierung an Priorität verloren und Ambivalenz gewonnen hat.
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tisch-territorialen Selbstorganisation der Jach’a Karangas von der sublokalen bis zur regionalen Ebene erhalten haben (CEPA 2012). Neben Totora Marka zählen noch elf weitere markas (Stadt- und Landkreise) und insgesamt 166 ayllus zum suyu der Jach’a Karangas. Tabelle 1: Politisch-territoriale Ebenen der Selbstorganisation in Totora Ayllu
mehrere, oft verstreut liegende Dorfgemeinschaften (comunidades) bilden ein ayllu (sublokale Ebene)
marka
mehrere ayllus bilden die marka (lokale bzw. kommunale Ebene, die politisch-administrativ dem heutigen Stadt- und Landkreis San Pedro de Totora entspricht)
suyu
mehrere markas bilden die Region, den suyu, der indigenen Gemeinschaft der Jach’a Karangas
Quelle: eigene Darstellung
Die Erarbeitung des Statuts 12 hat in Totora neue Partizipationsräume eröffnet und kollektive Reflexionsprozesse angestoßen. Besonders hervorzuheben ist der lokale Prozess der Politisierung der Frauen. Dieser verdient besondere Beachtung, da indigene Frauen doppelt marginalisiert sind (La Cadena 1995; Spivak 2008). Zugleich kennzeichnen geschlechtsspezifische Ausschlüsse nicht nur die Geschichte der liberal-repräsentativen Demokratie, sondern auch die kommunitäre Praxis, sodass Veränderungen hier demokratietheoretisch besonders bedeutsam sind. Theoretisch impliziert das andine chachawarmi-Konzept, dass weder die Frau dem Mann, noch der Mann der Frau untergeordnet ist und indigene Ämter gemeinsam, das heißt als Paar ausgeübt werden. In der Praxis bedeutet das, dass nur verheiratete Paare vollwertige Gemeinschaftsmitglieder sind und wichtige Ämter ausüben dürfen. Faktisch sind Frauen zudem in den lokalpolitischen Räumen der Entscheidungsfindung weniger präsent, aktiv und einflussreich. Sie tragen die Mehrfachbelastung und Verantwortung für Kinder, Haushalt und Tiere meist alleine, obwohl produktive Aufgaben und die landwirtschaftliche Arbeit geteilt werden. Nichtsdestoweniger vertritt in aller Regel der Mann die Interessen der Familie nach außen. Denn kommunitäres Engagement und die Übernahme von Aufgaben und Ämtern bedeuten für alle Familien Zeitaufwand und Arbeitsausfall. Sowohl die Anreise (oft stundenlange, manchmal auch mehrtägige Fußmärsche), als auch die Teilnahme an den Versammlungen sind zeitaufwendig. Meist nimmt 12 Die finale Statutversion findet sich hier: http://www.autonomias.gob.bo/portal3/Publi caciones/carga/tabla/examples/pdf/1404_Estatuto_Auton%C3%B3mico_Originario_ de_Totora_Marka.pdf (30.07.2015).
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deshalb nur eine Person, in der Regel der Mann, diese Aufgaben wahr. Frauen nehmen meist nur an sublokalen und lokal stattfindenden Versammlungen auf der Ebene der comunidades und ayllus teil, wobei sie sich auch hier in aller Regel weniger häufig zu Wort melden und weniger gehört werden, das heißt an den Prozessen der kollektiven Willensbildung und Entscheidungsfindung nicht gleichberechtigt teilhaben (Burman 2011). In Totora lösten die lokalen Diskussionen der Entwürfe des Autonomiestatuts einen beachtlichen Prozess geschlechtsspezifischer Politisierung aus. Diese führte zu einer gesonderten Zusammenkunft der Frauen (Fundación CONSTRUIR 2011: 78). Im Rahmen des Treffens wurde das Statut aus der Perspektive der Frauen und mit Blick auf die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Rechte analysiert. In diesem Kontext formulierten die Totoreñas umfangreiche soziale, politische und ökonomische Forderungen und setzten sich zudem für den Schutz und die Förderung von Kindern, Frauen, Älteren und Gemeinschaftsmitgliedern mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen ein. Sie kritisierten die Nichteinhaltung des chachawarmi-Prinzips im politischen sowie im häuslichen Alltag. Dabei ginge es nicht um die Ablehnung des chachawarmi-Prinzips, sondern um seine Einlösung und Erweiterung. 13 So könne von einer echten Komplementarität der Geschlechter nur gesprochen werden, wenn auch die geschlechtsspezifische Rollen- und Aufgabenverteilung aufgebrochen werden. Politisch forderten die Totoreñas, dass die Meinung von Frauen und Männern künftig auf allen Ebenen der originären Regierung gleichberechtigt gehört werden müsse und auf allen Versammlungen 50 Prozent der Anwesenden weiblich sein müssen. Darüber hinaus sollen auch ledige und verwitwete Frauen und Männer originäre Ämter ausüben dürfen (ebd.). Um die Teilnahme der Frauen im Rahmen von kommunitären Versammlungen auch faktisch zu erhöhen und die Umsetzung der Geschlechterparität bei der Ämterbesetzung der originären Regierung praktikabel zu machen, schlugen die Frauen vor, dass Aufgaben wie Kinderbetreuung und Haushalt zukünftig gemeinsam vom Paar bzw. abwechselnd von Mann und Frau übernommen werden (ebd.: 79). Da als Rechtfertigung für weniger Beteiligung und politischen Einfluss oft auf die fehlende Bildung der Frauen verwiesen wird, forderten sie, dass für die Übernahme der zukünftigen Regierungsämter der Abschluss der Grundschule ausreichend sein müsse. Sie argumentierten, dass ein Schulabschluss keineswegs mit Führungskapazitäten 13 Angesichts der berechtigten Kritik des hegemonialen westlichen Diskurses feministischer Forderungen im Spivak’schen Sinne, ist diese Differenzierung wichtig, da die eigene Tradition zum Bezugspunkt emanzipatorischer Forderungen gemacht wird. Zugleich illustriert das Beispiel die inneren Interessensunterschiede von Gemeinschaften, die von außen häufig auf ihre Tradition reduziert werden.
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gleichzusetzen sei und die Befähigung zu einer guten Selbstregierung sich nicht allein an formaler Bildung bemessen lasse. Damit wendeten sie sich explizit gegen das Meritokratievotum der jüngeren Gemeinschaftsmitglieder. 14 Um ihre Chancen auf eine lokalpolitische Teilhabe zu verbessern, regten die Frauen überdies an, dass der Staat und die originäre Regierung im Kontext von Weiterbildungsmöglichkeiten für Frauen künftig Ressourcen und Räume für eine parallele Kinderbetreuung bereitstellen sollten. Darüber hinaus forderten die Totoreñas ihre Gleichstellung beim Zugang zu Land und den kommunitären Entscheidungen über die Landverteilung (ebd.). Zugleich setzten sich die Frauen für mehr ökonomische Unabhängigkeit ein und kündigten die Gründung einer eigenen produktiven Vereinigung an. Des Weiteren forderten sie ein Komitee zum Schutz von Opfern häuslicher Gewalt und auf ihre Initiative hin wurde ein explizites Verbot jeglicher Form von Missbrauch, Gewalt oder Diskriminierung im Autonomiestatut verankert (Art. 19). Dieses Verbot erschien den Frauen notwendig, da tätliche Übergriffe und gewaltsam ausgetragene Konflikte vielfach als Privatangelegenheit der Paare oder intrafamiliäre Konflikte begriffen werden. Mit dem Verbot soll innerhalb der Gemeinschaft das Bewusstsein geschärft werden, dass Gewalt zu verurteilen ist. Zugleich forderten die Frauen ihre aktive Beteiligung an der indigenen Rechtsprechung, um häusliche Gewalt konsequenter sanktionieren zu können (Fundación CONSTRUIR 2011: 80). Stärken und Schwächen des Statuts Aus demokratietheoretischer Perspektive erweitert das Autonomiestatut die Beteiligungs-, sozialen Kontroll- und politischen Einflussmöglichkeiten für alle Bewohner_innen der marka substanziell. Darüber hinaus ist die Responsabilität der Regierenden im Vergleich zur liberal-demokratischen Praxis sehr viel höher einzuschätzen, da indigene Formen der Selbstorganisation im Unterschied zum liberalen Repräsentationsprinzip und der Professionalisierung von Politik die Rotation von Führungsverantwortung, das imperative Mandat und das basisdemokratische Delegiertenprinzip stärken sowie eine territorial ausgeglichene Re14 Im Rahmen der Diskussionen zu Autonomie schlugen einige der jüngeren Gemeinschaftsmitglieder vor, wichtige Ämter nicht länger traditionell, das heißt auf der Basis von Rotation, Territorialität und geteilter Verantwortung zu vergeben, sondern über meritokratische Prinzipien und per Mehrheitsabstimmung zu besetzen. Die Diskussion über Vor- und Nachteile wurde lange und intensiv geführt. Da in diesem Punkt keine Konsensfindung gelang, stimmten die Repräsentant_innen der neun ayllus entgegen des Konsensprinzips darüber ab. Dabei sprachen sich sechs ayllus für eine Fortführung der traditionsverbundenen Vergabe von Ämtern aus (Art. 73 (II)).
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präsentation als Mechanismus zur Begrenzung und Kontrolle von personenbezogener Macht und Herrschaft nutzen (Ernst 2015). Positiv hervorzuheben ist zudem, dass die Repräsentation von Frauen, Jüngeren, Unverheirateten und Verwitweten im Statut verbessert wurde. Die Stärkung der sozialen und ökonomischen Rechte der Frauen sowie die verbesserten Chancen auf politische Teilhabe aller stellen weitere Stärken des Autonomiestatuts dar (Art. 16, 18, 19, 22, 36). Neben der Stärkung der Rechte bisher Benachteiligter und den positiven und demokratisierenden Impulsen des Prozesses bedeuten die Neuerungen rechtlich verankerte Fortschritte auf dem Weg zu mehr lokaler Demokratie und aktiver Teilhabe. Die Forderung nach Meritokratie als Zugangsvoraussetzung zu einem politischen Amt offenbart wie unterschiedlich sich einzelne Verfahrensentscheidungen auf zwei bisher benachteiligte Gruppen auswirken können. Während die jüngeren in aller Regel besser ausgebildeten Gemeinschaftsmitglieder davon profitieren würden, wären viele Frauen dadurch von der Ämterausübung ausgeschlossen. Den Forderungen der Frauen ist es letztlich zu verdanken, dass der Zugang zu einem originären Amt künftig allen offensteht, während der meritokratische Vorschlag der Jüngeren zu einer stärkeren Professionalisierung der lokalen Politik beigetragen hätte. Zugleich bleibt Totora Marka weiter integraler Teil der politisch-territorialen Selbstorganisation der Jach’a Karangas und verknüpft die lokale Autonomieregierung fest mit den übergeordneten Entscheidungsinstanzen des suyus. Anders als die derzeit amtierende Kommunalregierung muss die originäre Selbstregierung künftig alle ihre Planungs-, und Investitionsentscheidungen sowohl innerhalb der Versammlungen der marka, als auch in der Versammlung auf der Ebene des suyu abstimmen sowie durch den Rat der höchsten Autoritäten der anderen elf markas bestätigen lassen. Traditionsverbundende Formen der Selbstorganisation und Entscheidungsfindung und direktdemokratische Elemente werden somit verstetigt und entscheidend gestärkt, ohne damit liberal-repräsentative Normen und Verfahren vollständig abzuschaffen. Die lokalen Diskussionen um die Vor- und Nachteile liberal-demokratischer und traditionsverbundener Normen und Verfahren haben überdies gezeigt, dass die Aushandlungsprozesse gegenstandsorientiert diskutiert und entschieden werden. Angesichts der lokal herrschenden Armut aber wird der Erfolg der Autonomien auch an künftigen Investitionen und den Umsetzungskapazitäten der Autonomieregierungen gemessen werden. 15 Für die Protagonist_innen der indi15 Die Schaffung von Erwerbs- und Einkunftsmöglichkeiten wird als essentiell für den dauerhaften Erhalt der Gemeinschaft betrachtet. In Totora wird dabei vor allem die Gründung kommunitärer Unternehmen angestrebt. Darüber hinaus soll ein erleichter-
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genen Selbstorganisation bedeutet das die Übernahme neuer Funktionen und Aufgabenbereiche. Zuvor waren die indigenen Autoritäten zwar für die die Organisation von Gemeinschaftsarbeiten zuständig, zeichneten sich aber nicht für die Investition, Planung und Realisierung, aber auch Rechnungslegung von größeren Summen und Projekten verantwortlich. Diese neue Herausforderung bietet mehr Gestaltungschancen als zuvor, zugleich aber drohen interne Verteilungskonflikte, Korruption und Ineffizienz. In jedem Fall werden die neuen Aufgaben die Rolle und das Selbstverständnis der originären Autoritäten mittel- bis langfristig verändern. Die zentrale Schwäche des Statuts besteht in den fehlenden Aussagen zur finanziellen und administrativ-technischen Unterstützung der Arbeit der künftigen Exekutive und Legislative. Immer wieder wurde diskutiert, wie die nicht entlohnten indigenen Autoritäten auf der Basis der zyklischen Rotation und neben ihren traditionellen und rituellen Aufgaben eine effiziente Planung, Investition und Verwaltungsarbeit gewährleisten können. Einer der Lösungsvorschläge lautete, den originären Autoritäten ein entlohntes, fachlich und juristisch geschultes Planungs- und Beratungsteam zur Seite zu stellen. Viele zweifelten allerdings daran, dass lokal ausreichend qualifiziertes Personal existiere. Des Weiteren wurde die Konzentration von Wissen und lokalpolitischer Macht in den Händen eines Planungs- und Beratungsteams von vielen kritisch betrachtet. Umso erstaunlicher ist es, das sich diese Diskussionen im endgültigen Statut nicht wiederfinden. 16
S TAGNATION DES P ROZESSES Bereits im Sommer 2012 reichte Totora Marka sein Autonomiestatut beim Plurinationalen Verfassungsgericht ein. Am 19. September wurde das Statut als erstes indigenes Autonomiestatut geprüft und zu 90 Prozent als verfassungskonform eingestuft. Totora arbeitete die Anmerkungen rasch ein, aber die volle Verfassungskonformität wurde formal erst am 6. Februar 2014 bestätigt. Seither wartete Totora auf die Durchführung des finalen Referendums, welches auf liberaldemokratischem Wege über die Annahme oder Ablehnung des Statuts entscheiter Zugang zu (Mikro)Krediten, ein verbesserter Marktzugang für lokale Produkte und nachhaltige Tourismusangebote sowie das traditionelle (Kunst)Handwerk gefördert werden. 16 Als Gründe für die Ausklammerung dieser elementaren Themen werden lokale Uneinigkeiten über die Details möglicher Lösungen und ungelöste Konflikte angenommen.
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det. Nachdem der Termin für das Referendum mehrfach verschoben wurde, fand das Referendum zur Annahme bzw. Ablehnung des Statuts schließlich am 20. September 2015 statt. 17 Während 2009 in Totora 74,5 Prozent für die Einführung indigener Autonomie gestimmt hatten, wurde das erarbeitete Statut nun von 70,04 Prozent der Wahlberechtigten abgelehnt. Auch wenn das Ergebnis aufgrund der Frustration des jahrelangen Wartens, des nach wie vor ausstehenden Fiskalpaktes 18, also der nicht geklärten und als zentral betracheten Ressourcenfrage, und der allgemeinen Unsicherheit, ob die Regierung die Autonomien überhaupt noch will, nicht völlig überraschend kommt, so ist das Ergebnis aus einer demokratischen und dekolonialen Perspektive sehr enttäuschend. Fakt ist, dass die 2009 aufgebrochenen Konflikte fortbestehen. Da die indigene Autonomie in Totora zu 100 Prozent von zentralstaatlichen Ressourcenzuweisungen abhängig wäre, fallen die Warnungen der Vertreter_innen der Parteien, dass der indigenen Autonomie fortan weniger lokale Ressourcen zur Verfügung stünden und die Autonomieregierung dieses über Steuern auf Land- und Tierbesitz kompensieren müsste, vor Ort auf fruchtbaren Boden (Colque 29.09. 2015). Zugleich bleibt festzuhalten, dass sich die politischen Rahmenbedingungen und die innergesellschaftlichen Kräfteverhältnisse seit der Machtkonsolidierung des MAS im Dezember 2009 verändert haben. Unter den heutigen Mehrheits17 Außer in Totora wurde am 20.09.2015 auch in der Pilotgemeinde Charagua über das indigene Autonomiestatut abgestimmt. Des Weiteren über die Autonomiestatute der Departements Cochabamba, Chuquisaca, La Paz, Oruro und Potosí sowie über die kommunalen Autonomiestatuten der Stadt- und Landkreise Huanuni, Tacopaya und Cocapata. Anders als bei den indigenen Statuten war der Prozess auf departamentaler Ebene wenig partizipativ, früh umstritten sowie die Inhalte der formulierten Statuten vielen nicht bekannt. Insofern verwundert es nicht, dass die Autonomiestatuten in allen Departements abgelehnt wurden. Insgesamt wurden nur das indigene Autonomiestatut Charaguas und das kommunale Statut Cocopatas mehrheitlich angenommen (vgl. hierzu die Resultate des Obersten Wahlgerichtshofes unter http://yoparticipo. oep.org.bo/, 30.09.2015). 18 Damit die Autonomien ihrer Verantwortung im Rahmen der neuen Kompetenzen gerecht werden können, ist eine Neu- und Umverteilung der staatlichen Ressourcenzuweisung notwendig. Dieser Sozial- und Fiskalpakt müsste politisch ausgehandelt werden. Ursprünglich sollte der Fiskalpakt spätestens sechs Monate nach der Bekanntgabe der finalen Resultate des Zensus 2012 feststehen. Doch nachdem sich die Zensusergebnisse stark verzögerten, vertagte die Regierung das Thema mit Blick auf die mögliche Instrumentalisierung und Politisierung der Debatten erst aufgrund der landesweiten Neuwahlen 2014 sowie den Departements- und Gemeinderatswahlen Anfang 2015 und letztlich bis heute.
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verhältnissen erscheint der Wegfall der lokalpolitischen Einflussnahme für die Hegemonie der amtierenden Regierungspartei und lokaler Amtsträger_innen wenig attraktiv. Hinzukommt, dass sowohl die sozialpolitische Verteilungspolitik, als auch die langfristigen Industrialisierungsziele der Regierung über Gewinne aus dem Rohstoffexport finanziert werden. Diese wirtschafts- und entwicklungspolitische Schwerpunktsetzung, die durch große Infrastrukturprojekte, eine wachsende Zahl an Megaprojekten sowie eine deutliche Ausweitung von Explorationsvorhaben in Schutzgebiete und indigene Territorien gekennzeichnet ist, führt zu zahlreichen sozial-ökologischen, territorialen und politischen Konflikten. Mehr noch, im Zuge der Eskalation der Auseinandersetzungen um den Bau einer mehrspurigen Fernstraße mitten durch ein indigenes Territorium und nationales Naturschutzgebiet (TIPNIS) entwickelten sich die Differenzen im heterogenen Regierungslager zu tiefen politischen Gräben. Die Forderung nach indigenen Autonomien, die von Seiten der Regierung im Zuge der Verfassungsgebenden Versammlung und den ersten Regierungsjahren als Alternative zur Segregationsdrohung der Tieflandeliten betrachtet wurde, scheint dabei vom Eckpfeiler zum Feigenblatt des plurinationalen Staatsversprechens geschrumpft zu sein.
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Die Analyse des betrachteten Autonomiestatuts und des laufenden bolivianischen Transformationsprozesses verweist an vielen Stellen implizit sowie explizit auf den Erkenntnisgewinn postkolonialer Theorie. So misst postkoloniale Theorie der historischen Kontextualisierung gesellschaftlicher Analysen große Bedeutung bei. Sie schärft den Blick für die Hybridität und Verwobenheit kolonial tradierter Ungleichheiten und Ausschlüsse im Inneren und nach Außen und offenbart den sozialen Konstruktionscharakter sowohl von Selbst-, als auch Fremdzuschreibungen. Zugleich lässt sich zeigen, dass die Identitätssuche und fixierung nicht losgelöst von sozioökonomischen Strukturen, symbolischen Ordnungen, gesellschaftlichen Institutionen, sozialen Praxen und historisch-spezifischen Momenten stattfindet. Nur so lässt sich die Komplexität, die sich aus der Gleichzeitigkeit und wechselseitigen Durchdringung prä- und postkolonialer Einflüsse ergibt, darstellen. Postkoloniale Theorie erlaubt so, die universelle Gültigkeit von Leitbildern der europäischen Moderne in Frage zu stellen und Demokratie im Plural zu denken. Das empirische Beispiel der indigenen Autonomie verdeutlicht, dass Kultur und Tradition niemandem in die Wiege gelegt werden und nicht statisch, sondern wandel- und verhandelbar sind. Dies geschieht im Inneren der Gemeinschaften, aber immer auch im Austausch mit der Gesamt-
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gesellschaft. Zugleich machen die Unterschiede zwischen indigenen Formen der Selbstorganisation und liberal-repräsentativen Logiken deutlich, was es heißt, ein demokratisches Modell und seine Verfahren und Institutionen zum alleinigen Maßstab für alle zu machen. Demokratische Pluralität und interkulturelle Demokratie sind dabei weder in Bolivien noch anderswo als fertige Modelle oder fest umrissene Ziele zu konzeptualisieren, sondern eher als normativer Orientierungsrahmen zu begreifen, um die demokratische Wirkung unterschiedlicher Logiken politischer Organisation und Herrschaft konzeptionell wahrzunehmen und kontextbezogen weiterzuentwickeln. Wer sich mit Demokratie beschäftigt, kommt ferner nicht umhin, sich neben prozeduralen und politisch-institutionellen Fragen auch mit der Ökonomie, dem Entwicklungsparadigma sowie dem historisch-kulturellen Kontext der Gesellschaften zu befassen.
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Jenseits funktionaler Äquivalente Die Kolonialität der Macht und indigene politische Autoritäten im politischen System Ghanas J OSHUA K WESI A IKINS
Ghana wird häufig dafür gelobt, dass es sich auf einem „stabilen demokratischen Weg“ (Eberlei/Pac 2014: 218) befände. Auch die Umsetzung von einschneidenden Strukturanpassungsprogrammen seit den 1980ern und rapides Wirtschaftswachstum im letzten Jahrzehnt werden häufig angeführt, um zu begründen, warum Ghana als „beacon of democracy“ (Hamidu 2015: 208) von anderen afrikanischen Ländern nachgeahmt werden sollte (ebd.). Der Maßstab, der diesen positiven Bewertungen zugrunde liegt, ist jedoch in den meisten Fällen ein externer: Die im Rahmen der ,Africa Rising‘ Narrative hervorgehobenen Erfolge Ghanas und anderer afrikanische Staaten scheinen nur durch die Implementierung westlicher Vorgaben erreicht worden zu sein – so entlarvt sich der angeblich neue Afrika-Optimismus als ebenso reduktionistisch wie der Afropessimismus, den er zu ersetzen vorgibt. Hier scheint nicht nur eine eurozentrische Teleologie durch, in der Erfolg als fortschreitende Annäherung an einen unmarkiert westlichen, universalisierten Standard definiert wird. Analysen des vorgeblichen westafrikanischen Musterlandes Ghana und anderer als Erfolgsgeschichten präsentierter Staaten wie Botswana oder Senegal fehlt darüber hinaus ein Einbezug von African agency. Denn seit Beginn des kolonialen Ausgreifens Europas gestalten Handlungsmacht, Eigensinn und die Kreativität vielfältiger afrikanischer Akteure auch unter Bedingungen von (neo-)kolonialer Unterdrückung und eingeschränkten Handlungsspielräumen Politik auf Basis eigener normativer Grundlagen mit. Dies erfordert eine Betrachtung der in einem komplexen Zusammenspiel interagierenden westlich und indigen inspirierten politischen Institutionen und Praktiken, sowie der historisch gewachsenen Konstellationen die diese hervorgebracht haben und in denen sie agieren. Stattdessen bestimmt das Konzept
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der funktionalen Äquivalente teils explizit, häufig implizit und konzeptionell die Analyse politischer Akteure und Systeme im Globalen Süden. Dabei wird davon ausgegangen, dass auch lokale, indigene Institutionen und ihre Amtsträger_innen Funktionen erfüllen, die als ,Äquivalente‘ zu den in westlicher Staatstheorie und -praxis definierten Akteuren, Institutionen und Mechanismen zur Erfüllung staatlicher Kernaufgaben verstanden werden können. Im Folgenden möchte ich am Fallbeispiel Ghana aufzeigen, wie eine postkoloniale Studien und dekoloniale Ansätze mobilisierende, kritische Betrachtung über die Begrenzungen der „funktionalen Äquivalente“ hinausweisen kann. Eine theoretisch und methodisch post- und dekolonial informierte Analyse kann nicht nur die in der Politikwissenschaft nach wie vor verbreitete, analytisch inadäquate Setzung Europas als „theoretisches Subjekt aller Geschichte“ (Chakrabarty 1992: 1) aufzeigen. Sie bietet darüber hinaus konzeptionelle Ressourcen, um Institutionen, Dynamiken und Funktionen zu beschreiben, die sich sowohl aus Trajektorien indigener politischer Systeme als auch der in ghanaischen Institutionen eingeschriebenen Kolonialität der Macht ergeben und nicht als bloße Variationen eines westlichen Idealbildes fassen lassen. Eine Analyse und Kontextualisierung von Einschätzungen der Rolle indigener Institutionen sowie der Aushandlungen zur Rolle weiblicher indigener Autoritäten im Rahmen der ghanaischen Verfassungsreform ermöglicht eine Erfassung von Rollen, Funktionen und Akteuren, ihrer kontextbedingten Notwendigkeit und Dynamik in einer von Kolonialität geprägten Staatlichkeit. Postkoloniale Politikwissenschaft, die nach dem Fortwirken kolonialer Imposition, aber auch nach der verwobenen Geschichte und Gegenwart von lokalem Widerstand und nicht-westlichen normativen Grundlagen fragt, kann den Blick für politische Innovationen des globalen Südens schärfen. Denn in der Praxis mussten die Ghanaer_innen, die Vorschläge für eine verbesserte Verfassung einreichten, wie viele Andere im Globalen Süden Antworten auf grundlegende Fragen finden, die Demokratie nach westlichem Vorbild nun, da sie dort implementiert und adaptiert wird, beantworten muss: Wie sollen in einem politischen Gemeinwesen, das von kolonialen Hierarchien geprägt und gezeichnet ist, die Beziehungen zwischen unterschiedlichen indigenen Gemeinwesen organisiert werden? Wie kann ein demokratischer Staat konstruktiv mit den oft vielfältigen indigenen Gemeinwesen auf seinem Territorium interagieren, ohne parteiisch zu wirken? Wie muss ein institutioneller Rahmen beschaffen sein, der den in diesen Gemeinwesen institutionalisierten Formen von Legitimität, den Praktiken der Entscheidungsfindung und der Repräsentation Gewicht gibt, ohne dabei demokratische Inklusion über Gebühr zu verkomplizieren oder gar zu limitieren?
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Dieser Beitrag wirft ein Schlaglicht auf „African inflections“ (Ahluwalia 2010: 17), auf kreative afrikanische Aneignungen und Lokalisierungen westlicher Designs in einem Kontext hierarchisierender kolonialer Kontinuitäten (ebd.). Diese stehen beispielhaft für die je lokal und regional unterschiedlich gefassten, aber auf vergleichbare Kolonialaggressionen reagierenden und über diese hinausweisenden politischen Gemeinwesen des globalen Südens – mit ihren vielfältigen Antworten weit jenseits westlicher funktionaler Äquivalente. Um dieser Vielfalt nachspüren zu können, bedarf es eines theoretischen Rahmens, der im Folgenden aufgespannt wird.
J ENSEITS DER ÄQUIVALENTE : K OLONIALITÄT , S PRACHE UND E IGENSINN Das Konzept der „funktionalen Äquivalente“ wird als Möglichkeit beschrieben, „,eigenartige‘, andere, nicht-westliche Formen des Regierens“ (Draude 2012: 141) beobachtbar zu machen. Durch Vermeidung eurozentrischer Vorannahmen bezüglich typischer Akteure könne „Forschung endlich über den oftmals resignierenden Hinweis auf „Hybride“ hinausgehen“ (ebd.): „Diejenigen Akteure und Institutionen, die mit der eurozentristischen Unterscheidung des öffentlichen, formell geregelten Staates und der privaten, informell geregelten Gesellschaft nicht fassbar sind, geraten auf diese Weise systematisch ins Sichtfeld des Beobachters. Weil der äquivalenzfunktionalistische Zugang zur Empirie nicht über die eurozentristisch verknüpften ex ante Dichotomien führt – anders als bspw. eine Akteursfokussierung – steht dann auch der Staat nicht mehr von Vornherein im Zentrum des Regierens. […] Seine Handlungsrationalitäten, die Regeln und Praktiken, die ihn als Institution ausmachen, sind nun offene Forschungsfragen. […] Die Karten werden neu gemischt. Empirische Befunde, nicht eurozentristische Annahmen, entscheiden darüber, wer zentraler oder weniger zentraler Akteur des Regierens ist; welche Art und Weise des Regierens die Regel und welche die Ausnahme ist, welche Räume regiert werden und welche nicht […]. Äquivalenzfunktionalismus in diesem Sinne organisiert also, alles in allem, den Blick ins Feld ohne bestimmte Vorannahmen bezüglich der relevanten Akteure, Institutionen und Räume des Regierens.“ (Draude 2012: 142)
Die Denkfigur der funktionalen Äquivalente ist – meist in impliziter und weniger differenzierter Form – eine wesentliche Grundlage zur Beschreibung nichtwestlicher politischer Gemeinwesen, deren Funktionsweise so durch einen impliziten Vergleich lesbar gemacht wird. Sie ist aber auch in der Form, wie sie von Draude mobilisiert wird, aus post- und dekolonial informierter Perspektive
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in zweifacher Hinsicht unzureichend. Durch den Fokus auf Äquivalente gelingt es nicht, die Idee der nachholenden Entwicklung des Restes der Welt gänzlich hinter sich zu lassen: Denn die implizite Referenz – äquivalent zu wem oder was? – ist zum einen nach wie vor ein westlicher Standard von Institutionen und Regierungsleistungen. 1 Zum anderen überwindet diese Perspektive die konzeptionelle Dichotomisierung zwischen westlichen Institutionen und Akteuren auf der einen und ihren lokalen Äquivalenten auf der anderen Seite nicht. Verflechtungsgeschichtlich und postkolonial informierte Perspektiven betonen jedoch die Wichtigkeit gerade von Dynamiken wechselseitiger Beeinflussung und Durchdringung (Bhambra 2009). Beide Punkte befördern trotz anderslautender Zielsetzung eine Defizitorientierung in der Analyse, die andere Kontexte auf ihr „nichtwestlich-sein“ reduziert. Zwar ist die Kritik an undifferenzierten Verweisen auf Hybridität wichtig. Doch für eine differenziertere Betrachtung ist gerade das historische Gewordensein gegenwärtiger Konstellationen – und damit in den meisten Kontexten auch eine spezifische Kolonialgeschichte und deren Fortwirken – zentral. So löst sich der Ansatz trotz Eurozentrismuskritik nicht erfolgreich von einer Tendenz in politikwissenschaftlicher Theorie und Analyse, die „Erscheinungsformen von Staatlichkeit und anderen politischen Phänomenen, die dem westlichen Modell nicht entsprechen, in erster Linie“ als defizitär betrachtet (Kerner 2016: 118). In dieser problematischen Reduktion werden der Kolonialismus und die andauernden Fortwirkungen der kolonialen Verflechtungsgeschichte nicht hinreichend beleuchtet. 2 Postkoloniale Ansätzen hinterfragen über diese dekonstruktivistische Methode die eurozentrische Binärkonstruktion von westlichen Standards und dem aus dieser Perspektive defizitären Rest der Welt. Um diese Binarität zu überwinden, ist eine Doppelbewegung notwendig: Die kolonialen Wurzeln der Binärkonstruktion und ihre gegenwärtige Wirkung in der Bewertung von Demokratie, ,Entwicklung‘ und indigenen Autoritäten muss aufgezeigt werden. Doch es ist ebenso wichtig, jenseits der Dekonstruktion einen Prozess des desilencing derjenigen Akteure zu betreiben, die seit Beginn des Kolonialismus im komplexen Feld der realpolitischen Interaktionen westlich inspirierter und indigener Institu1
Dies ist insbesondere der Fall, wenn die normativen Grundlagen des zu betrachtenden politischen Gemeinwesens nicht aus den zu untersuchenden Kontexten induziert werden. Wenn nicht untersucht wird, was die Daseinsberechtigung der Akteure ausmacht, was ihre Legitimitätsgrundlagen sind und welche Aufgaben sie nach lokalen Maßgaben erfüllen sollen, wird der Rückgriff auf westliche Konstruktionen notwendig.
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Eine weitere Kritik an Draudes Ansatz der „funktionalen Äquivalente“ betrifft dessen „normatives Downgrading […] das dabei nicht Europa bzw. den Westen selbst, sondern immer nur den Rest der Welt“ betrifft (Kerner 2016: 120).
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tionen agieren, das als Resultat kolonialer Verflechtungsgeschichte jenseits dieser Binärkonstruktion existiert. Gleichzeitig wird die Benennung innovativer Kapazitäten und spezifischer Probleme eines politischen Gemeinwesens, das aus verschränkten und überlappenden westlich und indigen inspirierten politischen Subsystemen besteht, durch die Wirkmächtigkeit der Binärkonstruktion erschwert. Die Dekonstruktion ist daher notwendig, um konzeptionellen Freiraum für das auf desilencing basierende Induzieren von Potentialen und Problemen der betrachteten Gemeinwesen zu ermöglichen. Dieser Zweischritt begegnet einer Kritik an postkolonialen Ansätzen, nach der poststrukturalistische Dekonstruktion allein nicht ausreicht, um koloniales Macht/Wissen zu analysieren (Franzki/Aikins 2010: 12-16). Insbesondere südamerikanische Theoretiker_innen der Gruppe Modernidad/Colonialidad haben diese Ansätze kritisiert: Sie würden zu stark von der spezifischen indischen Erfahrung mit britischem Kolonialismus generalisieren (Boatcă/Costa 2012: 16) und sich zu sehr auf westliche theoretische und epistemische Grundlagen stützen, wodurch sie den konzeptionellen Eurozentrismus, den sie kritisieren, selbst fortschreiben würden (Grosfoguel 2007: 212). Aus dieser Kritik ergibt sich die Forderung, Aspekte postkolonialer Studien müssten selbst konzeptionell dekolonisiert werden (ebd.). Diese Debatte zeigt auf, wie wichtig eine Kombination dekonstruktivistischer und desilencender Zugänge ist, um politische Gemeinwesen und Interaktionen im Kontext kolonialer Kontinuitäten auf der Basis vielfältiger normativer Grundlagen beschreiben zu können. Ungeachtet diverser Unterschiede teilen post- und dekoloniale Ansätze einen „common denominator […], the study of colonial relations of power and their present-day consequences“ (Boatcă/Costa 2012: 16). Mein Versuch, auf ein desilencing von Erfahrungen, Perspektiven und Normativitäten in und mit pluralen politischen Gemeinwesen hinzuwirken, verwendet daher Ato Quaysons Verständnis vom Postkolonialen als andauerndem Prozess der Postkolonisierung („process of postcolonising“) (Quayson 2000: 10). Dieser Versuch ist jedoch nicht außerhalb des kolonialen Rahmens, den er kritisieren möchte, angesiedelt, sondern selbst von den sozialen und politischen Transformationen, die die koloniale Begegnung ausgelöst hat, gezeichnet. Wie für viele historische Vorgänger_innen, macht auch meine Position als afrodiasporischer, ghanaischdeutscher outsider within Reflexion und Kritik „from the interstices of the hegemony“ (Kapoor 2008: 139) notwendig. Dieser reflexive, dekonstruktivistische und desilencende Zugang versucht, indigene Normativitäten, koloniale Impositionen und deren wechselseitig transformative Interaktionen nachzuzeichnen. So können in gegenwärtigen Institutions- und Akteurskonstellationen nicht nur die Sedimente kolonialer Herrschaft, sondern auch Interaktionen und Aushandlungen zwischen kolonialen und indigenen Strukturen erfasst werden. Dazu eignet
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sich das in dekolonialen Ansätzen formulierte Konzept der Kolonialität, das auf den peruanischen Soziologen Anibal Quijano (2000, 2007) zurückgeht. Seine Kolonialität der Macht bezieht sich ursprünglich auf die durch die Periode des Kolonialismus geprägte Strukturierung von Herrschaftsformen auch nach Ende dieser Periode, speziell in der auf rassifizierter Differenz basierenden Klasseneinteilung in den im 19. Jhd. unabhängig gewordenen Staaten Südamerikas. Das Konzept hat aber im Rahmen dekolonialer Theoriebildung durch Theoretiker_innen wie Walter Mignolo (2011 zur dekolonialen Option) María Lugones (2010 zur coloniality of gender) und Nelson Maldonaldo-Torres (2004 zur coloniality of being) weitere Ausdifferenzierungen erfahren. Für eine Untersuchung pluraler politischer Gemeinwesen möchte ich diesen Ausdifferenzierungen die Kolonialität der Sprache hinzufügen. Wissenschaftliche Analysen von und politische Debatten um indigene politische Konzepte werden durch die Verwendung von Kolonialsprachen erschwert. In diesem Beitrag versuche ich, der Kolonialität der deutschen Sprache zu begegnen, indem ich bestimmte simplifizierende, primordialisierende und monolithisierende Begriffe vermeide: So versuche ich, über die einengenden Zuschreibungen „modern“ und das im Zusammenhang mit indigenen politischen Autoritäten häufig verwendete, in problematischer Weise mit unwandelbarer, monolithischer Kultur im Singular assoziierte „traditionell“ hinauszuweisen. Die von mir verwendeten Begriffe „westlich inspiriert“ für nach europäischen Vorbild verfasste Aspekte des Staates sowie „indigene Institutionen und Autoritäten“ für vorkolonial inspirierte politische Strukturen und Ämter lösen das Begriffsproblem nicht, verweisen aber auf divergente ideengeschichtliche Ursprünge und normative Grundlagen, auf Verschiebungen und Uneigentlichkeiten, deren produktives Zusammenspiel ich im Folgenden aufzeigen möchte. Aufgrund der Unterschiedlichkeit der innerhalb Ghanas interagierenden indigenen Systeme untereinander spreche ich nicht von einem dualen, sondern von einem pluralen Gemeinwesen, dessen verschränkte politische Subsysteme sich auf unterschiedliche Legitimitäten stützen. Im ghanaischen Kontext äußert sich die Kolonialität der Sprache nicht zuletzt darin, dass die Kolonialsprache Englisch die einzige offizielle Sprache von Staat und Verfassung ist. Dies führt zu einer spezifischen Normalisierung kolonialer Kontinuitäten und Exklusion indigener Normativitäten. Die Kolonialität der Sprache limitiert den konzeptionellen Reichtum, gewährt oder begrenzt Legitimität je nach konzeptioneller Nähe zu Normen, die im Standardenglisch kodiert sind. Die Kolonialität der Sprache unterscheidet sich von der spezifischen Kolonialität der Macht im ghanaischen Kontext, stützt diese aber auch. Eine der eindeutigeren Äußerungsformern der Kolonialität der Sprache ist die undifferen-
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zierte Vereinfachung der vielen unterschiedlichen indigenen Systeme als „Chieftaincy“ sowie der Amtsinhaber als „Chiefs“. Dies sind keine neutralen Bezeichnungen, sondern koloniale Begriffe, deren Verwendung die Komplexität indigener politischer Gemeinwesen simplifiziert, primordialisiert und monolithisiert. Die Wichtigkeit dieser Praxis für koloniale Herrschaftsausübung und die versuchte Patriarchalisierung indigener politischer Systeme, die andere, eigensinnige Geschlechterhierarchien institutionalsier(t)en, kann am Beispiel der indigenen politischen Gemeinwesen der Akan aufgezeigt werden: Die Bevölkerung der unterschiedlichen indigenen Akan Staaten macht etwa 49 Prozent der ghanaischen Bevölkerung aus – ihr vergleichbares institutionelles Design hat mehrere umliegende indigene Staaten beeinflusst (Odotei 2006: 83). Die Einführung der Begriffe „chief“ für männliche und „queenmother“ für weibliche indigene Autoritäten war Teil kolonialer Versuche, institutionalisierte Konzepte von gegenderter Macht und Legitimität so zu verändern, dass weibliche indigene Autoritäten, die eine Kontrollfunktion bezüglich männlicher Autoritäten ausübten, geschwächt wurden (ebd.). Trotz oder gerade wegen dieser kolonialen Eingriffe und ihrer simplifizierenden Effekte wurden diese Begriffe im Rahmen ihrer Verwendung im gegenwärtigen ghanaischen Kontext teilweise wieder angeeignet und neu definiert. So haben sie beispielsweise durch ihre Verwendung im 22. Kapitel der ghanaischen Verfassung von 1992 eine Bedeutungsverschiebung erfahren, die sie wieder komplexer macht. Das Kapitel mit dem Titel „Chieftaincy“ legt in Art. 270 Absatz 1 fest: „The institution of chieftaincy, together with its traditional councils as established by customary law and usage, is hereby guaranteed.“ Hier wird chieftaincy nicht als individuelles Amt, sondern als Institution gefasst – in vielen indigenen Staaten Ghanas haben Chiefs keine individuelle Verfügungsgewalt, sondern entscheiden mit einem Rat. Das Amt des Chief wird verfassungsrechtlich wie folgt definiert: „Art. 277. In this Chapter […], ,chief‘ means a person, who, hailing from the appropriate family and lineage, has been validly nominated, elected or selected and enstooled, enskinned or installed as a chief or queenmother in accordance with the relevant customary law and usage.“
Die Bedeutungsverschiebung ist sowohl in der ausdrücklichen Inklusion von Amtsträger_innen als auch in den Ausführungen zu verschiedenen Modi und Stadien der Amtseinführung offensichtlich. Die Formulierung hebt hervor, dass die unterschiedlichen indigenen Autoritäten auf verschiedenen Formen der Legitimität und Normativität basieren. Die Konzepte „enstoolment“ und „enskinment“ beziehen sich auf Schlüsselsymbole und -insignien unterschiedlicher indi-
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gener Gemeinwesen: Der „stool“ ist ein Symbol des intergenerationellen Vertrages, der Akan-Staatlichkeit im Süden und Zentrum des Landes zugrunde liegt. „Skins“ symbolisieren im Norden des Landes vergleichbare, wenn auch nicht identische Konzeptionen der Verantwortung der Amtsträger_innen gegenüber den indigenen Institutionen und Gemeinschaften. Beide erinnern an die Verpflichtungen und Begrenzungen der Autorität, die sie symbolisieren. Amtsinhaber_innen haben meist bei der Amtseinführung öffentlich geschworen, ihrer Verantwortung für vergangene, gegenwärtige und zukünftige Generationen gerecht zu werden. Wer dieser Verantwortung nicht gerecht wird, kann „destooled“ oder „deskinned“, also abgesetzt werden. Die verfassungsrechtliche Definition mit ihren Verweisen auf mehrere Modi der Amtseinführung und ihrem Einbezug unterschiedlicher indigener Symbole verkompliziert die simplifizierende koloniale Konnotation des Begriffes „Chief“. Dennoch ist dieser Versuch der Re-Signifizierung kolonialer Terminologie durch eine Einbettung in die Diversität indigener Normen, die die jeweiligen Ämter legitimieren, nicht frei von der Kolonialität der Sprache: Der Begriff „queenmother“ ist ein Überbleibsel britischer Versuche, indigene Autoritäten feudal umzuformen. Die Bezeichnung ist nur ein Aspekt umfassenderer Bestrebungen, deren Rolle als checks and balances ihrer männlichen Gegenüber im Akan System mit seinen komplementären Ämtern für weibliche und männliche Autoritäten zu schwächen. So wurden nur die von männlichen indigenen Autoritäten geleiteten indigenen Gerichtshöfe ins koloniale Rechtssystem integriert, nicht aber die ihnen z.B. bei bestimmten Kapitalverbrechen als Berufungsgerichte übergeordneten Gerichtshöfe der weiblichen indigenen Autoritäten. Die Ahemaa (sing.: Ohemma) spielten eine wichtige Rolle in der Nominierung ihrer männlichen Gegenüber, der Ahene (sing.: Ohene), denen sie als ältere Familienmitglieder, ältere Schwestern oder Mütter, nie aber als deren Frauen verbunden waren (Odotei 2006: 86). Anders als in europäischen feudalen Systemen haben Ahemmaa ihre Position nie als Konsequenz ihrer Verwandtschaft zu oder Heirat mit einem Mann inne. Dies ist in der matrilinearen Akan-Familienstruktur begründet, in der Zugehörigkeit und Erbe durch weibliche Herkunftslinien bestimmt wird. Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass Organisationen weiblicher indigener Autoritäten den Begriff „queenmother“ kritisieren, stattdessen Begriffe wie „female leaders“ oder „female chiefs“ bevorzugen und eine Anerkennung und Beendigung ihrer vergleichsweise rezenten Marginalisierung einfordern. Die Tatsache, dass auch außerhalb der Akan Staaten weibliche Autoritäten nach deren Vorbild eine Stärkung ihrer Rolle einfordern, verweist auf die Fortführung von Mustern der Diffusion institutioneller Innovationen auch über die Grenzen politischer Gemeinwesen und Sprachgruppen hinweg. Der im Fol-
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genden beschriebene Verfassungsreformprozess in Ghana wurde zur wichtigen Arena für Aushandlungen zu diesen Fragen. Er weist damit weit über die Konzepte guter Regierungsführung hinaus, die im Kontext von westlicher Demokratieförderung maßgeblich sind.
R ESILIENZ : I NDIGENE I NSTITUTIONEN ZWISCHEN K OLONIALITÄT UND E IGENSINN Die Debatte um die „resilience“ oder gar eine „resurgence“ (Englebert 2002, Logan 2011), also die Beständigkeit oder ein Wiedererstarken indigener politischer Autoritäten und Institutionen in vielen afrikanischen Kontexten, verweist auf ein erstarkendes Interesse an Akteuren und Institutionen jenseits westlicher Minimalmodelle. Kritischere Perspektiven betonen dagegen die Abhängigkeit dieser Institutionen von Staaten nach westlichem Muster, die insbesondere in Kontexten indirekter Kolonialherrschaft durch indigene Autoritäten als direkte koloniale Kontinuität beschrieben wird (Mamdani 1996). In diesen Analysen erscheinen indigene Autoritäten als Profiteure von Staatsschwäche oder -versagen. Sie sind demnach entweder Teil autokratischer, neopatrimonialer Staatsstrukturen oder geschickt manövrierende Politikbroker, die gerade aufgrund der Schwäche westlich inspirierter staatlicher Strukturen fort existieren, indem sie funktionale Äquivalente zu mangelhaft erfüllten staatlichen Aufgaben anbieten (Ntsebetsa 2005, Ribot 2001, Logan 2011: 1-2 für einen Debattenüberblick). Doch sowohl den auf westliche Vorbilder und Impulse fokussierten Analysen als auch den an indigenen Strukturen interessierten Perspektiven fehlt eine Analyse der wechselseitigen Beeinflussung der interagierenden politischen Subsysteme. Ebenso fehlt eine Analyse der Frage, welche spezifischen Bedürfnisse der Repräsentation und/oder Institutionalisierung sich aus dieser Interaktion für die jeweiligen Amtsträger_innen und Bürger_innen ergeben. Anstelle empirischer Fragen finden sich dazu häufig theoriegeleitete Diagnosen, die eine Devianz von westlichen Normen konstatieren. Konzeptionelle koloniale Kontinuitäten verhindern hier eine differenzierte Analyse. Eben diese Interaktion, zu der die genannten Analyseperspektiven größtenteils schweigen, wird jedoch bezeichnenderweise in vielen afrikanischen Staaten diskutiert: Von Ghana bis Uganda, von Angola bis Südafrika ist die Diskussion über die gegenwärtige und zukünftige Rolle indigener politischer Autoritäten in den neuen demokratischen Systemen ein Kernpunkt der politischen Debatte (Buur und Kyed 2007; Koelble und Li Puma 2011; Logan 2008, 2011). Dies ist nicht zuletzt ein Ausdruck der Tatsache, dass politische Praxis in diesen Kontex-
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ten weit jenseits begrenzter Konzepte eines Gegensatzes von westlicher Moderne und afrikanischer Tradition oder der funktionalen europäischen Vorgabe und der defizitären afrikanischen Kopie stattfindet. Die komplexe Interaktion zwischen westlich inspirierten und indigenen politischen Institutionen hat beide verändert und plurale politische Gemeinwesen hervorgebracht. Deren Komponenten lassen sich jedoch weder als abweichendes Derivat eines idealisierten westlichen Selbstbildes noch als ungebrochene Fortführung präkolonialer Strukturen verstehen. Koloniale Hierarchien und „Traditionen“ wirken im Zusammenspiel der Subsysteme pluraler politischer Gemeinwesen ebenso fort wie die in Neuaushandlungen begriffenen indigenen Wertgrundlagen indigener Institutionen.
G HANA: V ERFASSUNGSREFORM UND DIE R OLLE I NDIGENER POLITISCHER AUTORITÄTEN Das politische System Ghanas veranschaulicht die Notwendigkeit einer postkolonialen Analyse, die in der Lage ist, die Gleichzeitigkeit und komplexe Wechselwirkung von kolonialen Kontinuitäten, antikolonialem Widerstand und dem Eigensinn indigener normativen Grundlagen in politischen Institutionen und Praktiken nachzuvollziehen. Indigene politische Autoritäten waren und sind in Ghana ein wichtiger Faktor lokaler wie nationaler Politik, seitdem die britische „Gold Coast Colony“ die unterschiedlichen indigenen Staaten des Territoriums in ein einzelnes politisches Gemeinwesen gezwungen hat. Das politische Gemeinwesen ist von einer Diversität indigener Institutionen und Autoritäten gekennzeichnet, von denen einige auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene Einfluss ausüben, während andere stark lokal oder auf Gerichtsbarkeit und Landrechte beschränkte Positionen innehaben. Wieder andere in kleineren Gemeinschaften im Norden und Osten des Landes verkörpern koloniale, erfundene Traditionen, die Gemeinschaften aber als verlässliches Medium zur Artikulation kollektiver Landrechte schätzen gelernt haben und bewusst beibehalten. Als verfassungsrechtlich vorgeschriebene Staatsinstitutionen fungieren zehn regionale und ein nationales House of Chiefs. Sie bieten wichtige Schnittstellen zwischen indigenen Autoritäten und westlichinspirierten Staatsinstitutionen. Dies ermöglicht strukturierte Interaktionen zwischen Amtsträgern der unterschiedlichen Systeme, die das Risiko wahrgenommener Parteilichkeit minimieren. Aus den Houses werden indigene Autoritäten für eine in der Verfassung benannte Vielzahl öffentlicher Institutionen wie die Land and Forestry Commission oder das Council of State, das den Präsidenten berät, rekrutiert. Die aktive Beteiligung an Parteipolitik ist indigenen Autoritäten
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aber verfassungsrechtlich untersagt – Amtsinhaber in jedem der Subsysteme müssen vor Amtsantritt im anderen Subsystem ihr bisheriges Amt niederlegen. Ungeachtet dessen wird vor Ereignissen wie Präsidentenbesuchen oder Wahlkampfveranstaltungen die symbolische Erlaubnis lokaler indigener Autoritäten eingeholt, die dann auch als Repräsentant_innen der Lokalbevölkerung zu den Anlässen geladen werden. Auf diese Weise setzt sich die historisch verwurzelte Verflechtung zwischen den Subsystemen in formellen wie in informellen Politikbereichen fort. Viele Ghanaer_innen positionieren sich jenseits einer Dichotomie, die entweder eine ,rein‘ demokratische Praxis oder die Rückkehr zu vorgeblich ,authentischen‘ politischen Systemen propagiert. Die komplexe soziale Realität, die sie täglich navigieren, beinhaltet kreative Kombinationen, situative Code- und Rollenwechsel, die eher von Überlappungen und Interaktionen als von Dichotomien geprägt sind. Sie sind jedoch auch von einer Elitenkonzentration in den oberen Rängen der Subsysteme geprägt. Wenn sie gefragt werden, sprechen sich Bevölkerungsmehrheiten für eine wohldefinierte Rolle indigener Autoritäten innerhalb des Staates aus. Die in diesen Vorschlägen implizite Vorstellung von Staatlichkeit, Good Governance und Demokratie transzendiert westliche Normen und bietet so ein deutliches, aber auch komplexes Korrektiv westlicher Konzepte und Praxen der Demokratieförderung. Eine der bisher umfangreichsten Konsultationen zum Thema hat von 2010 bis 2011 im Rahmen des Constitution Review Process der Republic of Ghana stattgefunden. Die gegenwärtige Interaktion der Subsysteme im pluralen politischen Gemeinwesen ist sowohl von Problemen, als auch von positiven Effekten gekennzeichnet, die nicht auf Konkurrenz, sondern auf Spielräume für Komplementarität verweisen. Alle genannten Facetten der Interaktion kamen im Reviewprozess zur Sprache – in der Folge werden ausgewählte Themen betrachtet. Der Verfassungsreformprozess Ungeachtet internationalen Lobes für die seit der Wiedereinführung unter der Verfassung von 1992 relativ stabile Demokratie sehen Ghanaer_innen die Notwendigkeit verfassungsrechtlicher Verbesserungen. Der nach den größtenteils friedlichen Wahlen im Dezember 2008 und dem Wahlsieg der damaligen Oppositionspartei NDC initiierte Verfassungsrevisionsprozess war eines der wenigen Kampagnenversprechen, das auch die vormalige Regierungspartei NPP umgesetzt hätte, wenn sie nicht mit weniger als einem Prozentpunkt die Macht verloren hätte. Der Verfassungsreformprozess war damit den parteipolitischen Konflikten enthoben, die Debatten im polarisierten de-facto Zweiparteiensystem Ghanas kennzeichnen.
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Die landesweiten Konsultationen der Constitution Review Comission (CRC) waren in ihrem Ausmaß und in ihrem Vorgehen im Vergleich mit vorigen ghanaischen wie auch vielen anderen afrikanischen und westlichen Verfassungsreformen ambitioniert: Bei Konsultationen in jedem der 170 ghanaischen Distrikte sowie in jeder der zehn Regionalhauptstädte sowie in den Hauptstädten der afrikanischen und europäischen Länder mit den größten ghanaischen Diasporas konnten Ghanaer_innen mündliche oder schriftliche Eingaben in Englisch oder ihrer ghanaischen Erstsprache einreichen. Darüber hinaus hat die Kommission Eingaben per Brief, per Email, per Facebook oder Twitter sowie per SMS ermöglicht. Berufsverbände, das Militär, Interessengruppen, Vertreter_innen der Justiz, Expert_innen zu einzelnen Politikfeldern sowie die beiden noch lebenden vorigen Präsidenten Ghanas wurden darüber hinaus zu Spezialkonsultationen nach Accra geladen. Die insgesamt 83.161 verwendbaren mündlichen und schriftlichen Eingaben reichten von der Länge einer SMS bis zu 300-seitigen Traktaten. Sie zeichneten sowohl in ihrer impliziten und expliziten Kritik am status quo als auch in ihren Verbesserungsvorschlägen ein ambitioniertes Bild afrikanischer Staatlichkeit, das ein wichtiges Korrektiv zu westlichen Konzepten und Praktiken der Demokratisierung in Afrika darstellt. Darüber hinaus widersprachen die Vorschläge auch afrikanischen Standpunkten, die den verbrauchten Gegensatz von (westlicher) Moderne und (indigener, afrikanischer) Tradition in einer simplen Argumentation gegen oder für den Einbezug indigener politischer Autoritäten und Institutionen in demokratische Regierungsführung mobilisieren. Denn im ghanaischen Alltag und den Eingaben vor der CRC wurde und wird seltener die Frage nach dem „ob“ der Integration indigener Institutionen und Autoritäten ins politische System diskutiert – die Frage nach dem „wie“ jedoch umso nachdrücklicher. Die Eingaben zu „Chieftaincy“ erlauben dabei einen seltenen Einblick in ghanaische Meinungen und Standpunkte nicht nur zu indigenen Institutionen, sondern auch zu deren Interaktion mit dem westlich inspirierten politischen System. Sie stellen eine besondere Form argumentativer Kommunikation dar, die es im Kontext zu verstehen gilt: Eine Eingabe in den Konsultationsprozess war eine seltene, für viele Teilnehmende einmalige Gelegenheit, ihre Forderungen an und Hoffnungen für ein zukünftiges politisches Gemeinwesen gegenüber einer unabhängigen Organisation zu äußern, von der sie erwarten konnten, dass sie ihre Eingaben beim Entwurf einer überarbeiteten Verfassung in Betracht zieht. Dies stellte auch eine einmalige Möglichkeit dar, die Aktivitäten indigener Autoritäten zu kommentieren und sogar Vorschläge für ihre zukünftige Rolle zu machen. Die in diesem Kontext vorgebrachten Eingaben zeichnen das Bild eines kompli-
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zierten Verhältnisses, das die Mehrheit der Eingebenden symbiotischer gestaltet sehen möchte: Ghanaer_innen brachten mehrheitlich ihren Wunsch nach der Koexistenz westlich inspirierter und indigener politischer Institutionen zum Ausdruck 3 und forderten die Fortführung und Vertiefung der Kooperation zwischen diesen: Indigene Institutionen sollten insbesondere in der dezentralisierten Lokalverwaltung in den Bereichen Entwicklungsplanung und Gemeinschaftsbeiträge zu Infrastrukturverbesserungen (durch „communal labour“ und „community contributions“) eine tragende Rolle übernehmen. Ghanaer_innen schätzten in den Eingaben die Rolle indigener Autoritäten als Gerichtsbarkeit, die auf indigenen Prinzipien restaurativer Gerechtigkeit basiert und in der Sprache des jeweiligen indigenen Staates operiert. Aus diesen Gründen werden die „Chief’s Courts“ nicht selten westlich inspirierten Gerichten vorgezogen. Darüber hinaus wurden indigene Institutionen als wichtiger positiver Faktor für lokalen Frieden und soziale Kohäsion dargestellt. Eine Eingabe fasst zusammen: „Without Chiefs, there is no unity“ (anonymisierte Eingabe). Die Eingaben sprechen jedoch auch deutlich die Grenzen an, die zwischen den miteinander verwobenen indigenen und westlich inspirierten Sphären eingefordert werden: „The overwhelming number of submissions at all levels of the consultations, including with chiefs, support the ban on chiefs’ participation in active partisan politics“ (Constitution Review Commission 2011: 532). Eine der meistgenannten Eingaben mit Bezug auf Chieftaincy ist die Forderung, das konstitutionelle Verbot für indigene Autoritäten, sich direkt an Parteipolitik zu beteiligen, beizubehalten. Dazu sprechen die Eingaben deutlich auch die Forderung aus, Parteipolitiker_innen die Einmischung in „Chieftaincy Affairs“ und Institutionen dezidiert zu verbieten. Aspekte der Verfassungsreformdiskussion sind von der Verwendung binären Denkens geprägt, wenn in Berichterstattung, aber auch in einigen Eingaben die Dichotomie zwischen Moderne und Tradition herangezogen wird, um das Zusammenspiel der politischen Sphären zu thematisieren. Die Mehrzahl der Eingaben zum Thema befasst sich jedoch mit einer komplexen Wechselwirkung, die jenseits der Binarität stattfindet. Die Eingaben differenzieren zwischen indigenen Institutionen, deren positive Funktionen sie benennen und den Amtsinhaber_innen, die ungeachtet dessen 3
Im Folgenden werden einige der mündlichen und schriftlichen Eingaben, die die Constitution Review Commission zum Thema indigene Autoritäten und Institutionen erreichten, als „anonymisierte Eingaben“ zitiert. Diese waren Grundlage der von mir mitgestalteten und mit durchgeführten Analyse, deren Ergebnisse sich mitsamt Empfehlungen im Abschlussbericht der Constitution Review Commission (2011) wiederfinden. Sie sind im Abschlussbericht jedoch nicht verbatim zitiert.
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z.B. für „dabbling into party politics and destroying the respect for their office“ (anonyme Eingabe) kritisiert werden. Dies zeigt die Fähigkeit der Eingebenden, ihre Idealvorstellung von der Funktionsweise indigener Institutionen gegen identifizierte Missstände zu mobilisieren. Die Differenzierungsmerkmale – und aus der Sicht einiger Eingaben Vorteile – indigener Institutionen kommen jedoch nicht nur in expliziten Debatten über deren Rolle zum Tragen. Ein Blick auf andere, auf den ersten Blick nicht verwandte Themenfelder der Verfassungsreformdebatte hilft, die Systemlogik der Rolle, die Ghanaer_innen im Rahmen des Zusammenspiels im pluralen politischen System für indigene Institutionen und Autoritäten sehen, besser zu verstehen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass im Zusammenspiel der Teilsysteme indigene Autoritäten Missstände im westlich inspirierten System in einer Weise ansprechen können, die dort verortete Akteure nicht mit gleicher Glaubwürdigkeit thematisieren können: Ein wichtiger in den Eingaben geäußerter Kritikpunkt betrifft die Wahrnehmung von Parteipolitik im Kontext des ghanaischen winnertakes-all Wahlsystems als so polarisiert, dass über den Wahlzyklus hinausreichende langfristige Entwicklungsplanung verunmöglicht wird. Indigene Autoritäten mit ihren Amtszeiten auf Lebenszeit, die nur durch Abdanken bzw. Absetzung aufgrund von Unfähigkeit oder Fehlverhalten beendet werden können, erscheinen so als Vertreter_innen langfristigerer Interessen und Mahner_innen im Politikbetrieb, die zu Bildungspolitik, Infrastrukturplanung, ökologischer Nachhaltigkeit und besonders zur Notwendigkeit friedlicher parteipolitischer Konkurrenz Stellung nehmen und die Parteien zur Besonnenheit mahnen. Eine weitere wichtige Funktion indigener Institutionen und Autoritäten im pluralen ghanaischen System kann aus der in allen Regionen häufig gemachten Eingabe ersehen werden, die neue Verfassung müsse umgehend in ghanaische Sprachen übersetzt werden. Einige der mündlichen Eingaben zogen direkte Vergleiche und stellten heraus, dass indigene Institutionen aufgrund der kulturellen Vorgabe, dass bei Vollzug politischer oder juridischer Funktionen die jeweilige indigene Sprache gesprochen werden muss, zugänglicher und besser verständlich sind. Diese Eingaben illustrierten die exklusive Wirkung der Kolonialität der Sprache sowie das Versagen des westlich inspirierten Systems, seine Bürger_innen jenseits von Wahlen zum Verständnis des und damit zum Eingreifen in das System zu ermächtigen. Es wird zudem deutlich, dass indigene Institutionen nicht im Rahmen der unvollendeten Dezentralisierung westlich inspirierter Verwaltungsorgane lokalisiert werden mussten, sondern seit ihrer Entstehung lokale Anbindung haben – in einem pluralen Gemeinwesen mit über 200 Sprachen und lokalen politischen Kulturen eine wichtige Eigenschaft.
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In den Eingaben wurde deutlich, dass zwischen den erwünschten indigenen Institutionen und den im Vergleich stärker kritisierten indigenen Amtsinhaber_innen unterschieden wurde. Die Autor_innen dieser Eingaben sahen sich nicht als passive subjects, sondern kritische citizens ihrer indigenen Staaten, die auch Kritik am Fehlverhalten indigener Autoritäten leisteten. Solche Kritik war jedoch nicht jedem Fall ohne weiteres möglich – wie die CRC sicherstellte, dass kritische Stimmen im Konsultationsprozess auch außerhalb des Zugriffs lokaler Autoritäten gehört werden konnten, wird im Folgenden beschrieben. Tradition gegen indigene Normen – der Verfassungsreformprozess als Arena Die Macht und Bedeutung indigener Autoritäten wurde auch im Konsultationsprozess deutlich: Die erste Runde der Konsultationen auf Distriktebene nutzten indigene Autoritäten – wie auch Regierungsdelegationen, Wahlkampfveranstaltungen und sonstige Veranstalter öffentlicher Versammlungen –, um Anwohner_innen für die Konsultationen zu versammeln. Diese Tatsache illustriert ihre Bedeutung als Mittler zwischen Staat(sapparat) und lokalen Gemeinschaften, brachte jedoch ganz eigene Herausforderungen mit sich. In Abweichung vom originalen Konsultationskonzept entschied sich die Kommission, alle 170 Distrikte erneut zu besuchen, um Anwohner_innen in kleineren selbstorganisierten Gruppen wie Berufsverbänden, Religionsgemeinschaften, Frauenorganisationen, Jugendgruppen zu treffen. Es galt in der zweiten Konsultationsrunde, den Versammlungsvorsitz von indigenen Autoritäten oder Beamten der Lokalverwaltung zu vermeiden. Die folgende Begebenheit zeigt die Wichtigkeit dieses Strategiewechsels auf: Auf einer öffentlichen Versammlung trat einer der anwesenden Nananom (pl., sing.: Nana ist der Titel und die Anrede männlicher und weiblicher indigener Akan-Autoritäten) ans Mikrofon, um die Anhebung des Rentenalters zu fordern – die Gesellschaft müsse von der Erfahrung der Älteren profitieren und diesen so ein Auskommen sichern. Ein Jugendlicher meldete sich danach zu Wort und erklärte seine „Enttäuschung“ über die Forderung des Nana: Angesichts extremer Jugendarbeitslosigkeit hätte er sich eine gegenteilige Forderung erhofft, schließlich sei es die Verantwortung der Älteren und der community leader, mit gutem Beispiel voranzugehen, der nächsten Generation und damit der Zukunft eine Chance zu geben. Der erzürnte Nana forderte den Sprecher daraufhin auf, inmitten der öffentlichen Versammlung niederzuknien, sich für die Respektlosigkeit zu entschuldigen und das Gesagte zurückzunehmen, was dieser umgehend tat. Hier wird das Spannungsfeld zwischen teils kolonial überformten „Traditionen“ und den indigenen Institutionen zugrundeliegenden Werten, in diesem Falle
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von Seniorität und intergenerationeller Reziprozität deutlich: Verantwortung für die künftigen Generationen ist ein in die Insignien jedes Nana eingeschriebene Norm. Doch die Kolonialverwaltung, die indigene Autoritäten in das System des indirect rule einbinden wollten, schwächten inklusive Elemente, checks und balances des institutionellen Gefüges zugunsten persönlicher Autorität als Stütze eines kolonialen Systems des „dezentralisierten Despotismus“ (Mamdani 1996). Diese Eingriffe provozierten Widerstand – sicherten jedoch auch Kollaboration von denjenigen, die davon profitierten. Die britische Kolonialverwaltung nahm massive Eingriffe in indigene Systeme vor – und behauptete gleichzeitig, lokale Traditionen zu schützen. Dieses Vorgehen zeigt bis heute Konsequenzen: So werden in Kontroversen um die Amtsausübung indigener Autoritäten koloniale Traditionen gegen die Berufung auf indigene Werte ins Feld geführt. In anderen Konsultationsanhörungen konnte jedoch auch beobachtet werden, wie Kritik an indigenen Autoritäten auf eine Weise geäußert wurde, die nicht zur sofortigen Zensur durch die Kritisierten führte: Das Zitieren indigener Normen 4 wie beispielsweise die Notwendigkeit, Entscheidungen im Konsens mit Ältesten zu treffen oder die Gemeinschaft zu konsultieren, ermöglichte es Teilnehmenden, bestimmte Formen der Kritik auch in der Anwesenheit indigener Autoritäten vorzutragen. In Bezug auf die Rolle weiblicher indigener Autoritäten im ghanaischen System ergab sich im Verfassungsreformprozess eine bedeutende Veränderung: Weibliche indigene Autoritäten hatten bereits in mehreren regionalen Konsultationen eine Veränderung der Zusammensetzung der 10 Regional Houses of Chiefs sowie des National House of Chiefs gefordert. Diese von der Verfassung mandatierten Institutionen bieten wichtige Schnittstellen zwischen indigenen Institutionen und dem westlich inspirierten Staatsapparat. Obwohl die Verfassung einen „chief“ als „chief or queenmother“ definiert und damit weibliche Autoritäten explizit einschließt, hatten männliche Autoritäten sich der Forderung nach der Öffnung der Houses für Frauen auf Basis vorgeblicher „Traditionen“ widersetzt. Weibliche indigene Autoritäten protestierten vehement und erklärten dieses Vorgehen als Chauvinismus im Widerspruch zu indigenen Normen, die ihren Ämtern zugrunde liegen. Diese Kontroverse wurde im Rahmen der einwöchigen National Constitution Review Conference im April 2011 von einem Panel hochrangiger indigener Autoritäten beigelegt. Im Rahmen der Konferenz, die den Abschluss aller Konsultationen bis auf die SMS-Kampagne markierte, erklärte das Panel unter dem Vorstitz von Naa Prof. Nabila, dem Präsidenten des National House of Chiefs die Ausschlusspraxis für beendet und erklärte, dass die 4
Dies konnte z.B. durch das Zitieren von Sprichworten wie „Wissen ist wie ein Baobab: Niemand kann es allein umfassen“ gerahmt werden.
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Aufnahme weiblicher indigener Autoritäten in die Houses zum Herbst 2011 beginnen sollte. Diese Entwicklung macht die Flexibilität indigener Institutionen deutlich und illustriert die Bedeutung des Verfassungsreformprozesses als Arena für Neuaushandlungen und Katalysator für Veränderungen von Institutionen, die älter sind als die Verfassung selbst. Sie verweist aber auch auf die komplexen Interaktionen zwischen den Subsystemen: Denn die neue Regelung gilt nicht nur für Akan-Gemeinschaften, sondern für alle indigenen Autoritäten. Diese Entwicklung stärkt die teils neu geschaffenen oder erweiterten Positionen weiblicher indigener Autoritäten, denn die neuen Sitze in den Houses of Chiefs müssen mit Frauen besetzt werden. Zwar repräsentieren weibliche indigene Autoritäten nicht automatisch die Interessen von Frauen – aber da der Claim, genau dies tun zu wollen, ein Argument für die Inklusion in die Houses war, macht der erfolgreiche, nun schrittweise erfolgende Einzug in die Houses es Frauen in den indigenen Staaten nun einfacher, genau das zu fordern. In Anbetracht der starken Ungleichheit der Repräsentation im ghanaischen Parlament (von 275 Sitzen waren nach der Wahl im Dezember 2012 30 von Frauen besetzt) wird deutlich, dass die Houses ein korrektiver Vektor für eine andere Form der Repräsentation darstellen könnten, zumal aus den Houses of Chiefs auch weitere Staatsorgane besetzt werden. Diese Veränderungen in den Schnittstellen-Institutionen der Houses of Chiefs machen deutlich, wie Ghanas plurales politisches Gemeinwesen Kapazitäten für Repräsentation, Entscheidungsfindung und die Zuteilung von Ressourcen schafft, die jedes der Subsysteme allein nicht bereitstellen könnte.
F AZIT : N EUE „T RADITIONEN “ LESEN LERNEN Das plurale politische Gemeinwesen Ghanas ist von Kolonialität gekennzeichnet: Die Kolonialität der Macht, der Sprache und des Geschlechtes finden sich in indigenen wie westlich-inspirierten Subsystemen und wirken sich nicht zuletzt auch auf deren Interaktion beispielsweise in den Houses of Chiefs aus – wie die Kontroverse um weibliche indigene Autoritäten in den Houses zeigt. Die dazu im Rahmen der Verfassungsreform geführte Debatte zeigt aber auch die Möglichkeit auf, indigene Normen, in diesem Fall zur Repräsentation weiblicher indigener Autoritäten, gegen koloniale ‚Traditionen‘ zu mobilisieren. Lokale Foren, die indigene Autoritäten zur indigenen Rechtsprechung, aber auch zur Planung lokaler Gemeinschaftsarbeit an Infrastruktur sowie zur Interaktion mit Vertretern von Politik und NGOs abhalten, bieten darüber hinaus ein zugänglicheres, wertgeschätztes Korrektiv zur Kolonialität der Sprache. Die Aushandlungen zu indigenen Autoritäten in der ghanaischen Verfassungsreformdebatte finden Entsprechungen in unterschiedlichen afrikanischen
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Kontexten. So machen im Rahmen des Afrobarometers erfragte Bevölkerungsmeinungen deutlich, dass indigene Autoritäten in afrikanischen Staaten nicht konflikt- und kritikfrei agieren – dass aber gerade ihre Komplementarität zu westlich inspirierten Staatsstrukturen wertgeschätzt wird. Eine von mehreren Quellen der Legitimität indigener Autoritäten scheint sich gerade aus der Notwendigkeit zu speisen, im kolonial gesetzten Rahmen westlicher Staatlichkeit die Interessen indigener Gemeinwesen zu vertreten. Das institutionelle und politische Sediment aus Kolonialität der Macht und indigener Handlungsmacht „in den Zwischenräumen der Hegemonie“ (Kapoor 2008: 139, ÜdA) ermöglicht dem gesamten pluralen Gemeinwesen eine spezifische Form der Legitimität, die die Kolonialität der gegenwärtigen Staatlichkeit adressiert und durch Akteure, die indigene Gemeinwesen und deren normative Grundlagen vertreten, vermindert. So wird das politische Gemeinwesen auf komplexe Weise pluralisiert: Quellen der Legitimität, die der westlich-demokratische Staat weder repräsentieren noch sicherstellen kann, werden durch indigene politische Institutionen bereitgestellt. Schnittstellen-Institutionen wie Ghanas Houses of Chiefs zeigen, wie ein plurales politisches Gemeinwesen Kapazitäten für Repräsentation, Entscheidungsfindung und die Zuteilung von Ressourcen schafft, die jedes der Subsysteme allein nicht bereitstellen könnte. Zum differenzierten Bild gehört jedoch auch eine Unterscheidung zwischen indigenen Institutionen und den häufiger kritisierten Inhaber_innen ihrer Ämter. Eine postkoloniale Analyseperspektive kann hierin nicht nur die Pragmatik der Kritiker_innen, sondern auch koloniale Kontinuitäten erkennen, die die Diskrepanz zwischen indigenen normativen Grundlagen und autokratisierenden ‚Traditionen‘ sichtbar macht, wie das Beispiel der Exklusion von weiblichen indigenen Autoritäten zeigt. Gerade vor dem Hintergrund der Neuaushandlung dieser Fragen erscheint die teilweise Integration indigener Institutionen und die dadurch ermöglichte Kombination unterschiedlicher Quellen von Legitimität in einem pluralen politischen System ist eine wichtige Innovation afrikanischer politischer Systeme. Kolonialismus war die Möglichkeitsbedingung für die Universalisierung und globale Verbreitung westlicher Modelle von Staatlichkeit und Politik. Konzeptionelle koloniale Kontinuitäten bewirken bis heute einen analytischen Tunnelblick, der die Vielfalt der institutionalisierten Antworten auf koloniale Impositionen ausblendet – und damit die vielen unterschiedlichen Versuche, praktische Antworten auf die Problematik des Fortwirkens kolonialer Muster in demokratischer Staatlichkeit zu finden und zu institutionalisieren. Eine von post- und dekolonialen Ansätzen informierte Analyse ermöglicht es, durch eine historisch informierte, kolonialkritische, indigene Handlungsmacht
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und Konzepte einbeziehende Perspektive den Blick zu weiten. So wird eine Analyse von in pluralen politischen Gemeinwesen gelebten Antworten (plurale Legitimitäten, multiple Repräsentationsformen, Abschwächung der Kolonialität der Macht und der Sprache) ermöglicht. Gleichzeitig ergeben sich dadurch neue Herausforderungen zum Beispiel zur Umsetzung der Trennung der Subsysteme. Dabei wird auch deutlich, dass die institutionellen Antworten, die beispielsweise das ghanaische plurale Gemeinwesen erarbeitet, nicht statisch sind, sondern einer ständigen Aushandlung unterliegen. Nicht nur Ghana blickt dabei auf eine lange Erfahrung zurück. So beklagte der kolonialkritische Gold Coast Aktivist J.W. de Graft Johnson 1928 die unzulässige Projektion afrikanischer Tradition als statisch und betonte: „It is a far greater pleasure helping to build up a tradition than being obliged to live on the memory of one“ (1928: 50) Dieser Prozess der Schaffung neuer Traditionen pluraler politischer Gemeinwesen hält bis heute an – es gilt, die Vorgänge in ihrer Kolonialität, aber auch ihrer Kreativität und Komplementarität lesen zu lernen.
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Dekoloniale Perspektiven auf Demokratieaufbau in Afghanistan Basispolitische Kämpfe für „real democracy“ statt „the old games of colonization“ M ECHTHILD E XO
N OTWENDIGKEIT UND M ÖGLICHKEIT DEKOLONIALER F ORSCHUNG Politikwissenschaftliche Forschung zu dekolonialisieren ist dringend notwendig. Das gilt im Besonderen auch für die Friedens- und Konfliktforschung. Ich zeige hier am Beispiel des Peacebuilding in Afghanistan eine Möglichkeit dafür. Dafür rücke ich die delegitimierte und verdrängte Perspektive einiger Organisationen nach vorne, die in Afghanistan für dekoloniale Veränderungen arbeiten. Ich gebe die Analysen dieser afghanischen Organisationen im Hinblick auf den Aufbau von Demokratie und das internationale Interventionsprojekt in Afghanistan wieder. Diese Analysen tragen dazu bei, den Friedensbegriff in Frage zu stellen, der zum Standard von internationalem Peacebuilding wurde. Die Dekolonialisierung der westlich-akademischen Wissensformen ist eine schwierige, da sehr umfassende und tiefgreifende, Aufgabe. Wie Ina Kerner feststellt, gibt es keinen Konsens darüber, welche Strategie die dafür am besten geeignete ist, doch es mangelt nicht an Möglichkeiten. Die Dekolonialisation der Wissenschaften und der Welt erfordere sowieso Maßnahmen ganz unterschiedlicher Art (vgl. Kerner 2012: 157). Meera Sabaratnam fordert als Möglichkeit der Dekolonialisierung des Wissens zum liberalen Peacebuilding dazu auf, die epistemische Autorität und Handlungsmacht derjenigen anzuerkennen, die in Gebieten liberaler Interventionspolitik leben und die normalerweise ausgeschlossen werden (Sabaratnam 2011). Die vielen behindernden Barrieren müssten überwunden und ein tiefergreifender Dialog geführt werden:
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Dieser Strategie der Dekolonialisierung folge ich mit meiner Forschung zum liberalen Peacebuilding in Afghanistan. Dieser Aufsatz ist ein Ausdruck davon und greift einige Aspekte aus dieser Forschung auf. Der Schwerpunkt liegt hier auf dem kontroversen Verständnis von Demokratie.
W ESTLICHES Ü BERLEGENHEITSDENKEN IM P EACEBUILDING UND AUSGEBLENDETE W IDERSPRÜCHE Peacebuilding-Missionen wurden in den 1990er Jahren zur „internationalen Wachstumsindustrie“ (Paris 2007: 33) mit 13 Missionen in Kriegs- und Krisengebieten zwischen 1989-1999. Gegenwärtige Friedenskonsolidierungen werden als Peacebuilding durch das dominante Paradigma des liberalen Friedens gelenkt (vgl. Richmond 2011: 326) – so auch in Afghanistan. Liberaler Frieden wurde zum Standardansatz für das Denken von Frieden in der internationalen Politik (Richmond 2009). Diese Theorie geht von einer Alternativlosigkeit der grundlegenden Entwicklungsrichtung aus: ausgerichtet auf den Aufbau von Demokratie – vielmehr von den äußeren, formalen Kriterien westlicher Demokratie – und neoliberaler Marktwirtschaft. Begründet wird das auf der Grundlage des statistischen Befunds, dass marktwirtschaftlich organisierte Demokratien seltener gegeneinander Krieg führen als anders organisierte Staaten. Die Begründung bekommt Geltung trotz des widersprechenden „Doppelbefunds“ (Geis 2001), dass Demokratien sehr wohl Kriege mit Nicht-Demokratien führen. Es wird abgeleitet, dass eine Umwandlung von Staaten in (neo-)liberale Demokratien zur Stabilisierung globaler Verhältnisse beitrage. „[E]twa zwei Drittel der Staatenwelt“ werden als „Räume begrenzter Staatlichkeit“ (Risse/Lehmkuhl 2006: 4), als failing oder failed states und damit als alarmierender Unsicherheitsfaktor für Weltpolitik verstanden. Westliche Staaten werden als das überlegene liberale Modell und als Akteure des Wandels betrachtet. Dabei wird das extern intervenierende Militär als inhärenter Bestandteil des notwendigen Transformationsprozesses verstanden. Die von den Vereinten Nationen als Konzept übernommene Schutzverantwortung/Responsibility-to-Protect sowie der „Krieg gegen den Terrorismus“ wurden zu zentralen Legitimationsgrundlagen für Interventionen.
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Das Programm des liberalen Peacebuilding in Afghanistan ließ wenig Raum für offene gesellschaftliche Debatten zur gewünschten Ausgestaltung der neuen Ordnung nach der militärischen Intervention der USA und ihrer Verbündeten, die die Taliban aus der Regierungsmacht vertrieb. Die Kernelemente des Peacebuilding standen fest in ihren normativen Vorgaben für die aufzubauende Ordnung. John Heaterhshaw (2008) kritisiert am Diskurs und der Praxis des Peacebuilding die bifiguralen Beziehungen zwischen „den anderen“ im Konfliktgebiet, die sich zum Ideal der Internationalen Community hin verändern müssen, und dem überlegenen „Ich“ der Peacebuilder. Mythologisierte internationale Standards werden zur Norm, Peacebuilding zur Technik der Problemlösung. Kritisches Nachdenken über bestehende internationale politische und ökonomische Ordnungsformen bleibt außen vor (vgl. ebd.). In einer kritischen Reaktion auf dieses Vorgehen des liberalen Peacebuilding vertritt Vivienne Jabri ein Recht auf Politik und politische Subjektivität, das in konkreten Streitpunkten und Kämpfen ausgeübt werden müsse. „The ‚right to politics‘ […] is insurrectionary in ethos and collective in articulation. This is hence a right that is not conferred from the outside, but is framed in struggle and contestation“ (Jabri 2010: 55). Wo erfahren wir hier in Europa von den wiederholten Demonstrationen in Afghanistan, die von kritischen, anti-islamistischen Analysen der Situation als Besatzungspolitik getragen sind (vgl. SPA 01.08.2010) und anlässlich von USLuftbombardierungen mit hohen Zahlen ziviler Toter oder jährlich am 7. Oktober, dem Jahrestag der Militärinvasion in Afghanistan stattfinden (vgl. SPA 07.10.2012)? Wir hören vom offenen Lynchmord an Farkhunda im März 2015 mitten in der afghanischen Hauptstadt Kabul, doch kaum von den vielen großen Demonstrationen und Gedenkaktivitäten, die aus Protest gegen diesen und viele andere Frauenmorde stattfinden (vgl. SPA 05.06.2015). In Afghanistan existieren anti-islamistische, basispolitische Subjektivitäten, die den Widerspruch und Widerstand zum liberalen Peacebuilding-Projekt praktisch in Anspruch nehmen, analytisch begründen und in kontinuierlichen Protest- und Bildungsaktivitäten weiter entwickeln. Doch diese Analysen und Aktivitäten werden politisch wie auch epistemisch ausgeschlossen. Die Analysen und die Praxis der gesellschaftlichen Basisakteur_innen, die solche Aktivitäten organisieren, haben eine nicht-einfügbare Verschiedenheit („unassimilable difference“, Halperin 2006: 44) zu den dominanten Konfliktbeschreibungen, Demokratie- und Friedensbegriffen, so dass sie regelmäßig delegitimiert und nicht beachtet werden. Das machtvollste Verfahren, mit dem globale soziale Erfahrungen diskreditiert und unsichtbar gemacht werden, ist die moderne Wissenschaft (Santos 2004). Die Alternativen, die in basispolitischen Bewe-
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gungen entwickelt werden, werden mit der Monokultur des Wissens und den Kriterien für die Gültigkeit von Wissen als nicht-existent produziert (vgl. ebd.; Santos 2007). Boaventura de Sousa Santos nennt das eine kognitive Ungerechtigkeit, die neben anderen globalen Ungerechtigkeiten besteht. Er fordert, jenes alternative Wissen und die Kriterien für Genauigkeit bei Erkenntnisprozessen, die in den sozialen Praktiken und Kontexten als glaubwürdig behandelt werden, als legitim für die Debatte mit anderen Wissensformen anzuerkennen (Santos 2004: 19). Wird das Wissen sozialer Basisorganisationen anerkannt, dann werden vorhandene politische Kontroversen sichtbar und damit auch die Spannungen, die zum weltpolitisch dominanten Wissen der Theorie des liberalen/demokratischen Friedens bestehen.
P OSITIONIERUNG
DER
F ORSCHUNGSTÄTIGKEIT
Das wertvolle Wissen (anti-kolonialer) sozialer Bewegungen darf jedoch nicht wie ein Potential behandelt werden, das die Lücken eurozentrischer Theorien und Praxiskonzepte füllt. Die seit vielen Jahren debattierte Kritik am liberalen Peacebuilding hat vor allem zu einer Vielzahl von Verbesserungsvorschlägen geführt. Darunter sind auch sogenannte bottom-up Ansätze des Peacebuilding, die mitunter auch als emanzipatorisch bezeichnet werden (u.a. Richmond 2008). Eine größere Kontextsensitivität, die Respektierung lokaler Unterschiede und Alltagshandlungen sowie entsprechend angepasste „hybride“ (liberale/lokale) Friedenskonzepte (vgl. Richmond 2010) werden vorgeschlagen. Entscheidend ist jedoch nicht, ob im Unterschied zum top-down nun bottom-up und kultursensibel geforscht und Gesellschaften auf dieser Grundlage dann extern umgestaltet werden. Die eigene politische und epistemische Positionierung ist stattdessen entscheidend. Ich gehe kurz auf zwei bottom-up Forschungen zum Peacebuilding in Afghanistan ein, um die aus dekolonialer Perspektive damit verbundenen Probleme zu verdeutlichen. Für einen bottom-up Ansatz des „social Peacebuilding“ (Lidén 2009: 620) steht Shahrbanou Tadjbakhsh, die in ihrer Afghanistan-Studie den Sichtweisen aus der afghanischen Bevölkerung zentrale Bedeutung gibt (Tadjbakhsh 2011). Sie möchte dem liberalen Peacebuilding eine neue Legitimität geben, die aus den Ansichten der Bevölkerung entsteht. Tadjbakhsh kritisiert die generalisierende Ausführung, doch sie hält an der Idee von Demokratisierungsinterventionen durch die machtvollen Staaten („liberal peace“) fest (ebd.: 219). Damit führt sie die Zweiteilung in liberale und lokale Akteur_innen fort. Die westlichen Staaten und Organisationen bleiben die – kultursensibel angepassten – Subjekte der Her-
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stellung von menschlicher Sicherheit in anderen Weltregionen. Lokale Akteur_innen äußern ihre Bedürfnisse und partizipieren – mehr nicht. Ein weiteres Beispiel des bottom-up Ansatzes von Peacebuilding in Afghanistan, das sich noch deutlicher in das strategische Konzept der zivil-militärischen Intervention stellt, ist das Projekt von Mary Kaldor und Marika Theros „Human Security and Bottom-up Engagement in Afghanistan“ (LSE in Partnerschaft mit dem Civil Society Development Center Afghanistan, CSDC). Erklärtermaßen greifen die Forscherinnen die vom Kommandeur der ISAF (International Security Assistance Forces) und zugleich der US Forces Afghanistan 2009-2010 USGeneral Stanley A. McChrystal formulierte militärische Strategie zum Einnehmen der „hearts and minds“ auf. Dieser forderte: „We must get the people involved as active participants in the success of their communities“ (McChrystal zit. nach Theros/Kaldor 2011: 8). Die Ergebnisse der Forschung – das Verständnis an der gesellschaftlichen Basis für das internationale „Stabilisierungsprojekt“ und lokale Ideen für Frieden und Sicherheit – sollen in bestehende westliche Konzepte eingehen. Zudem soll parallel ein Netzwerk zwischen internationalem Militär, internationalen Organisationen, afghanischer Regierung und den gesellschaftlichen Akteur_innen, zu denen während der Forschung Kontakte aufgebaut wurden, entstehen (vgl. Zwischenbericht, Theros/Kaldor 2011). Kaldor und Theros setzen einen Satz an das Ende ihres Zwischenberichts, der die mit diesem Projekt verbundene Wissensausbeutung der „native informants“, die den Theorie-Macher_innen an der europäischen Universität (hier LSE) zuarbeiten sollen, zeigt: „Their views can help us develop a strategy“ (Theros/Kaldor 2011: 51). Dekolonialisierende Forschung muss von solchen bottom-up Forschungsansätzen unterschieden werden, die die epistemische Position der eurozentrischen, universelle Gültigkeit beanspruchenden, westlich-institutionellen Wissenschaft weiterführt. Eine Positionierung gegen diese westliche epistemische Autorität und gegen eine Verteidigung des „white political field“ (Decoloniality Europe 2013: 1) – das globale System, einschließlich Denkweisen und Politikverständnis, die aus einer langen Folge rassistischer Privilegierungen hervorgegangen sind – ist notwendig.
AUTORITÄT
ÜBER
W ISSEN VERSCHIEBEN
Dekoloniale Forschung bedeutet eine Verschiebung der Autorität über Wissen: Die Entscheidung, die Perspektive der Kolonialisierten zu privilegieren, ist verbunden mit einer politisch-epistemischen Positionierung auf der Seite des Kampfes für eine umfassende Dekolonialisierung, auch der Wissensformen. Diese Positionierung bedeutet auch, sich nicht zur/m Fürsprecher_in der Bewegungen
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zu machen, die dargestellt werden. „Dekoloniale Forschung ist nicht in der Nähe von dekolonialen Kämpfen, die außerhalb des akademischen Rahmens stattfinden, und auch nicht in Solidarität mit diesen. Dekoloniale Forschung ist existenziell und politisch der Dekolonialisierung verpflichtet“ (Decoloniality Europe 2013: 3, Übersetzung durch die Autorin). Die konkrete Ausführung einer solchen Forschung erfordert viele ethischpolitische, methodologie- und methodenkritische Hinterfragungen bekannter Praktiken bis hinein in den Stil und das Reviewing im Schreibprozess. Wissen wird in vertrauensvollen Beziehungen ausgetauscht. Bescheidenheit, Fürsorge und Emotionalität sind weitere, dem herkömmlichen Forschungsverständnis widersprechende Aspekte, die wichtig werden. Eine solche Forschung unterliegt einer persönlichen Rechenschaftspflicht gegenüber den sozialen Strukturen, die zur Forschung beitragen bzw. mit den Folgen leben. Solche Überlegungen habe ich an anderer Stelle ausführlich diskutiert (Exo 2015a; Exo 2015b). Ich habe für meine Forschung vier afghanische, basispolitische Organisationen ausgewählt, auf die ich mich auch im weiteren Verlauf dieses Textes beziehe: die feministische Frauenorganisation RAWA (Revolutionary Association of the Women of Afghanistan), der Verband der Familienangehörigen von Opfern von Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen Social Association of Afghan Justice Seekers (SAAJS), die künstlerische Menschenrechtsorganisation AHRDO (Afghanistan Human Rights and Democracy Organization) und die basispolitisch aktive, die Wahlen boykottierende, demokratische Partei Hezbe Hambastagi/Solidaritätspartei Afghanistan (SPA). Der Aufbau von Beziehungen zu diesen vier Organisationen als Grundlage für die Forschung ist politisch gewählt und folgt der dekolonialisierenden Methodologie (und Ethik). Ich habe diese vier Organisationen ausgewählt, weil jede von diesen eine sehr grundlegende Kritik an der zivil-militärischen Intervention, dem Staatsaufbau und den offiziellen Bestrebungen, Stabilität bzw. Frieden herzustellen, formuliert und dazu Aktivitäten entwickelt. Zudem begreifen sich diese Organisationen alle in einer deutlichen Abgrenzung zu allen (illegalen und legalen) Fundamentalisten (Islamisten) und treten alle für Frauenrechte, Gerechtigkeit, wirkliche Demokratie, Selbstbestimmung von der Basis der Gesellschaft und gegen ethnische Spaltungen ein. Diese Organisationen bauen jede auf ihre Art selbstorganisierte Strukturen auf, die danach streben, basisdemokratisch, geschlechtergerecht, ethnisch-übergreifend und in vielfältiger Weise nicht-diskriminierend zu funktionieren, eine emanzipatorische politische Bildung zu fördern und für Rechte sowie grundlegende politische und gesellschaftliche Veränderungen zu kämpfen. Es geht mir mit dieser Auswahl um die Anerkennung politischer Subjektivitäten in Afghanistan, die sich nicht in den mit der Intervention aufgebauten, entpolitisierten Rah-
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men für vorgesehenes zivilgesellschaftliches Handeln einfügen. Das meint auch eine nicht-korrumpierte Haltung zum als kolonial begriffenen internationalen Militärpräsenz- und Staatsaufbauprojekt. Die Analysen dieser Organisationen stellen eine Kontrastierung zu vorherrschenden Konfliktanalysen und Konzepten für Friedensaufbau dar. Im Oktober 2012 in Kabul schrieb ich in mein Forschungstagebuch: „Die Kritik des demokratischen Friedens ist hier so banal, eine alte Weisheit, die langweilig wird zu wiederholen!“
„R EAL D EMOCRACY “
STATT
AUFBAU
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Die Solidaritätspartei erklärt in ihren Aufrufen zu Demonstrationen, dass „Demokratieaufbau“ ein scheinheiliges Label sei für eine Entwicklung, die demokratische Möglichkeiten verschließe und die Selbstbestimmung der Bevölkerung über die Zukunftsgestaltung verhindere. In einer ihrer ersten Erklärungen formuliert die Social Association of Afghan Justice Seekers, die sich damals noch „Group of Victims’ Families“ nannte, anlässlich des Tags der Menschenrechte: „[…] [P]eople of Afghanistan are fond of justice like rest of the world and without justice, they call any kind of ‚democracy‘ defective and false.“ (Group of Victims’ Families/ SAAJS 10.12.2007) Im Afghanistan nach der Militärintervention ist „real democracy“/„wirkliche Demokratie“ ein zentraler Begriff zur Kritik von basispolitischen Organisationen am liberalen Staatsaufbau geworden. „[E]xisting in fact; […] not made up or artificial“ (Hornby 1983: 699) erläutert das Oxford Dictionary den englischen Begriff „real“. Diese Definition erscheint im Zusammenhang mit Demokratie in Afghanistan sehr treffend. Demokratie wird von den basispolitischen Organisationen, auf die ich mich hier beziehe, als einer der euphemistischen Slogans begriffen, die einen Schein behaupten, der nichts mit der Realität gemeinsam hat. „It is not democracy. […] It is just a reflection of democracy, that reflects some points of democracy, but it’s not a real democracy. The real democracy is, when I say against the warlords or against the criminals, then nobody should come and shut my mouth and tell me to stop it. […] It is just a show of democracy that Hamid Karzai and Western countries want to do. It’s not a real democracy.“ (Pahiz, Sprecher SPA 13.07.2010)
Voraussetzung für eine wirkliche Demokratie in Afghanistan wäre die Entfernung der Kriegsverbrecher der vorangegangenen Herrschaftsphasen der letzten mehr als drei Jahrzehnte aus politischen Ämtern und die strafrechtliche Verfolgung der begangenen Verbrechen. „There can be no talk of democracy in our country until justice is meted out“ (SPA 28.04.2011). Diejenigen, die das Land
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zerstört haben und die für schwerste Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen Verantwortung tragen, sind jedoch an der Regierung beteiligt. „All the people from the time before Hamid Karzai, they are all involved in this government. So no one is left from his list who is not involved“ (Pahiz 13.07.2010). Die Verhinderung der Aufarbeitung der Verbrechen der Vergangenheit widerspricht dem Willen von über 80 Prozent der Bevölkerung (vgl. AIHRC 2005) ist auch das Hauptmotiv für die Arbeit von AHRDO und SAAJS. Beide Organisationen arbeiten im Bündnis Transitional Justice Coordination Group (TJCG) mit. Im Kontext Afghanistans bedeutet die Arbeit an der Seite der marginalisierten Opfer der Kriege eine gefährliche Konfrontation mit der Regierung und den wieder zu Macht und Einfluss gekommenen Warlords. „Der Minister für Energie, der Verteidigungsminister, der Kulturminister, der Justizminister, der Minister für Post und Information und auch der Vizepräsident – das sind alles Kriegsverbrecher. Der Parlamentsvorsitzende Kanuni ist für die Tötung von rund 65.000 Kabulern während der Machtkämpfe in den Neunzigerjahren mitverantwortlich. Außerdem sitzen im Parlament Mitglieder der Talibangruppen, die für die Hinrichtungen im Fußballstadion von Kabul verantwortlich waren.“ (Ahmad, Direktorin von SAAJS, taz 02.08.2008)
In einer video-dokumentierten, öffentlichen Rede in Den Haag spricht Hadi Marifat, Direktor von AHRDO, die Fehler des Friedensaufbaus an: Die Gewaltverbrecher der Kriegsjahrzehnte wurden zurück an die Macht gebracht. Während diejenigen mit Blut an den Händen national und international beschützt und gefördert würden, blieben die Menschen, die unter diesen gelitten haben, entrechtet und ohne Einfluss. „At the same time it is clear that those who have lost their loved ones will stand their grounds until their demands for truth telling, recognition and justice have been met“ (Marifat 09.09.2013). Nur der immer größer werdende Protest auf der Straße und die Vereinigung der unterschiedlichen Gruppen der Bevölkerung könne eine Veränderung bewirken, erklärt die Direktorin von SAAJS, Weeda Ahmad (vgl. Evans 31.12.2011). Mindestens einmal im Jahr am 10. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschenrechte, führt SAAJS eine Demonstration in Kabul durch. „Demokratie ohne Gerechtigkeit ist bedeutungslos“ ist einer der Slogans, die dort gerufen werden. „The demonstrators chanted slogans like ‚We want justice‘, ‚the criminals should be prosecuted‘, ‚the mass killers should be identified‘, ‚democracy without justice is meaningless‘, ‚Afghans demand justice‘. They condemned American forces and called for an immediate end to civilians’ harassment at their hands.“ (Pajhwok Afghan News 11.12.2013)
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In ihrer Erklärung zum 10. Dezember 2009 thematisiert SAAJS die Präsidentschaftswahlen desselben Jahres: „the most non-prestigious and ironic election in the world“ (SAAJS 10.12.2009). Niemand hätte auch nur versucht zu verhindern, dass diejenigen, die sich bereits als verbrecherisch und korrupt bewiesen hätten, kandidieren. Diese Wahl hätte den letzten Nagel in den Sarg der politischen Leiche der Demokratie geschlagen (vgl. ebd.). SAAJS wurde im Jahr 2007 gegründet, als unübersehbar war, dass die Regierung nicht tätig wird, wenn Massengräber gefunden werden. Stattdessen wurde das generelle Amnestiegesetz vorbereitet, das 2009 gültig wurde. Auch die Solidaritätspartei (2004) und AHRDO (2009) entstanden erst einige Jahre nach der internationalen Intervention und dem Beginn des neuen Staatsaufbau im Jahr 2001. Allein die feministische Frauenorganisation RAWA bestand durch alle Herrschaftsphasen seit ihrer Gründung im Jahr 1977 und war mit ihren politischen Stellungnahmen und vielen Aktivitäten 2001 sehr präsent. RAWA warnte bereits kurze Zeit nach Beginn der militärischen Intervention im Oktober 2001 davor, den sich selber stolz Jehadis nennenden Vertretern der Nordallianz Waffen, Geld oder politische Macht zu geben. Stattdessen müssten sie für die Vielzahl an Verbrechen, die sie vor allem in ihrer Regierungs- und gleichzeitig Bürgerkriegszeit 1992-1996 begangen haben, vor Gericht gestellt werden. Statt einer neuen, wieder islamistisch geprägten Regierung wünschte RAWA die Möglichkeit „der Etablierung einer auf breiter Basis stehenden Regierung mit demokratischen Grundwerten“ (RAWA 13.11.2001). Bereits bevor Ende November 2001 auf dem Petersberg bei Bonn der internationale Afghanistan-Gipfel zu Verhandlungen über die Ausgestaltung der Übergangsphase einberufen wurde, forderte RAWA den Ausschluss der für schwerste Verbrechen verantwortlichen islamistischen Organisationen (vgl. Faryal 31.10.2001). Kurz vor Beginn der Verhandlungen demonstrierten Frauen in Kabul und forderten die Repräsentation von Frauen und Frauenrechtsvertreterinnen, doch die Soldaten der Nordallianz schlugen die Versammlung der Frauen auseinander. Aufgerüstet durch die USA hatte die Nordallianz als deren Kriegsverbündeter faktisch die Macht in Kabul und in zwei Dritteln des Landes eingenommen. Die Nordallianz-Führer dominierten die Petersberger Gipfel-Verhandlungen und erhielten mehr als die Hälfte der Ministerien der Übergangsregierung. Sie setzten auch durch, dass keine Entwaffnung vereinbart und ein Verbot für eine allgemeine Amnestie aus den Vereinbarungen herausgestrichen wurde (vgl. Rubin 2003). Maßnahmen der Transitional Justice wurden nicht vereinbart. RAWA kommentierte die Zusammensetzung der neuen Regierung: „Das sind genau die Leute, die Demokratie und Wahlen als blasphemische, ketzerische Konzepte bezeichnet haben“ (RAWA 10.12.2001). Der international forcierte
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Machtwechsel von den Taliban hin zu einer von Nordallianz-Vertretern dominierten Regierung sei als würde die Bevölkerung aus der Bratpfanne in das Feuer geworfen (vgl. RAWA 11.09.2002). „[D]en Klauen der Taliban entronnen, nur um sich in der Sackgasse der Jehadi-Mörder wiederzufinden“ (RAWA 10.12.2001). Beide Gruppen würden eine gemeinsame Ideologie mit kleinen Glaubensdifferenzen teilen (vgl. RAWA 11.09.2002). „To hope for the attainment of freedom, democracy and equality within the framework of a corrupt, religion-based, ethno-chauvinistic system is either self-delusion or hypocrisy – or both“ (RAWA 11.09.2002). Demokratie und soziale Gerechtigkeit könnten erst aufgebaut werden nachdem die Dominanz der Fundamentalisten der Nordallianz aufgehoben wurde. Das müsse der unversöhnliche Kampf der organisierten Frauen sein (ebd.).
K AMPF
GEGEN
K OLONIALISIERUNG
Nach dem Verständnis der zitierten afghanischen Organisationen war jede der gewaltsamen, repressiven Herrschaftsphasen der letzten Jahrzehnte der Geschichte Afghanistans in ihrer je spezifischen Ausprägung grundlegend gegen die Bevölkerung gerichtet. In jeder dieser Machtphasen wurden dafür spezifische legitimierende Slogans eingesetzt. Das schließt die Phase seit der internationalen Militärintervention im Jahr 2001 mit ein, wie die Social Association of Afghan Justice Seekers zeigt: „One of them slaughtered the nation in the name of ‚food, clothes, shelter‘ while the next used ,Islam‘ as a napkin to clean up its crimes and filthiness. […] Now there is another [power] […] spreading its claws in the name of ‚security‘, ‚democracy‘ and ,women’s rights‘. Still the human rights violations and bullying is widely continuing, warlords and other terrorists continue to amass money and power, while NATO and Taliban forces contribute to continue insecurity and civilian casualties.“ (SAAJS 2013: 3)
Die internationale Intervention in Afghanistan wird von SAAJS, von RAWA und von SPA als Besatzung verstanden. AHRDO benutzt diesen Begriff eher nicht, teilt jedoch ähnlich grundlegende Kritikpunkte. Dazu gehören die Angriffe des internationalen Militärs, die jedes Jahr in zunehmender Zahl tausende Zivilisten das Leben kosten, der Vertrag über permanente US-Militärstützpunkte, die massive externe Einmischung und Steuerung der neuen staatlichen Institutionen, die Stärkung einer verhassten, zuvor schwachen politischen Elite der Jehadis, die Erhaltung der Straflosigkeit für Menschenrechtsverbrechen, die Spaltung der Bevölkerung durch Verstärkung des ethnischen Denkens und die Förderung
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eines „Aufbaus“ mit Millionenbeträgen, der das soziale Elend, vor allem der Frauen, nur weiter verschärft (vgl. bspw. SPA 07.10.2012; RAWA 08.03.2013; SAAJS 10.12.2014). „We have repeatedly stated to our oppressed people that the slogans of the occupiers and their local minions, such as ‚democracy‘, ,war against terrorism‘, ,human rights‘ and ,reconstruction‘ are hollow and nothing but blatant lies which have since years victimized our defenseless people.“ (SPA 16.04.2015)
Seit Beginn der internationalen Intervention mit dem militärischen Angriff im Herbst 2001 wurde weder Sicherheit (vgl. Marifat/AHRDO 09.09.2013) noch eine Grundversorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser, Gesundheitsdiensten, Nahrung, Wohnraum und Einkommensmöglichkeiten hergestellt (vgl. SPA 07.10.2012). „[D]uring this period, they didn’t have any other gift for our unfortunate people rather than massacre; destruction; corruption and poverty; nourishing Mafioso; assisting warlordism and terrorism; provoking hostilities amongst races, ethnicities and religions; incredible production of narcotics and so on.“ (SPA 01.08.2010)
Nirgends auf der Welt könne eine Regierung, die von außen gesteuert wird, eine wirkliche Repräsentation der Bevölkerung sein. Die Wunden der Menschen könnten damit nicht versorgt werden. Sogenannte demokratische Wahlen begreift die Solidaritätspartei als ein sinnloses Spektakel. Der afghanische Präsident – dieser nimmt ein äußerst machtvoll ausgestattetes Amt ein – würde von der US-Regierung ausgewählt: „[E]ven the most unaware and unenlightened of our masses have found through past experience that the next president has been already selected by the White House and [..] only has to go through a scandalous show of ‚democratic elections‘ in order to be proclaimed the winner and be crowned and installed in the presidential palace.“ (SPA 08.03.2014)
Die Aktivist_innen begreifen diese Regierung als gegen die Menschen gerichtet. „These mafias that pretend to be pro-democracy are actually wolves in sheep’s skin“ (SPA 07.05.2012). Die Solidaritätspartei argumentiert, dass die Leiden der Bevölkerung nicht den geringsten Wert für die US-Regierung und ihre Verbündeten hätten. Stattdessen würden die Menschen deren kolonialer Politik ausgesetzt (SPA 01.08.2010). Die schlimmsten Verbrecher an Menschenrechten und Frauenrechten seien durch die Interventionsstaaten an die politische Macht gebracht worden. „[W]hile the world embrace the astonishing progresses, we in
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Afghanistan choked on the old games of colonization“, erklärt die Social Association of Afghan Justice Seekers (SAAJS 19.08.2014). RAWA betont, dass in den Jahren der Besatzung und der Dominanz der Fundamentalisten, ganz im Gegensatz zu den Behauptungen der westlichen Medien, afghanische Frauen nicht in der Lage waren, auch nur die grundlegendsten Rechte zu erreichen (RAWA 08.03.2013). „Rather, their sufferings and hardships have been treacherously misused for promoting the colonial policies of the US and West“ (ebd.). Die mit Macht und Dollars gestärkten Jihadis vergewaltigen, bedrohen, üben Gewalt aus, belästigen und töten Frauen, ohne eine Strafverfolgung befürchten zu müssen – „according to the ‚law‘ set by B-52s“ (ebd.). In das koloniale System würden ein paar wenige „dolled-up showpiece women“ (ebd.) eingebunden, die mit Geld und Prestige eingekauft werden, um so zu tun, als gäbe es keine ernsthaften Probleme für Frauen. Für die USA sei es nicht wichtig, welche Art von Regierung in Afghanistan bestehe, solange diese willens ist, die Wünsche und Interessen der USA und ihrer Verbündeten zu erfüllen, ihren permanenten Militärbasen zustimmt sowie der Nutzung des Landes für die Bedrohung umliegender Staaten und die Unterdrückung revolutionärer Bewegungen in der Region (RAWA 08.03.2012). Es gehe um Neo-Kolonialismus und um ökonomische und strategisch-militärische Ziele in einem Land, von dem aus die aufsteigenden Rivalen in der Region – China, Russland, Iran und andere – kontrolliert werden können, formuliert auch die Solidaritätspartei (SPA 07.10.2012).
D IE K ÄMPFE
SELBER FÜHREN
„We don’t want their so-called liberation and democracy,“ äußerte Zoya vom Komitee für Auswärtige Angelegenheiten von RAWA (Zoya 22.05.2009). Das internationale Militär müsse so schnell wie möglich abgezogen werden. „If these troops do not withdraw, we are sure that the Afghan people will have no other option but to rise up against them. […] because occupation is not a solution“ (ebd.). Ihre grundlegenden Rechte könnten Frauen nicht erhalten, wenn das Land nicht unabhängig ist und die Bevölkerung in Kolonialismus und despotischer Herrschaft gefangen ist (RAWA 08.03.2013). Der Abzug der Truppen könne ein erster Schritt sein, um Freiheit und Demokratie zu erreichen. Denn die afghanischen Menschen müssten sich selbst von den internen Feinden befreien – von den Warlords der ehemaligen Nordallianz, den Taliban und anderen radikalen Islamisten. Doch in der gegenwärtigen Situation würden die internen Feinde von den externen Feinden – den USA und der NATO – gedeckt und unterstützt.
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Die Verbindung mit den gewöhnlichen Menschen und deren vereinter, selbst organisierter Protest werden von allen vier basispolitischen Organisationen, auf die ich mich beziehe, als der Weg für Veränderungen gesehen. Sie heben hervor, dass sie ihre Kämpfe selber führen werden und Demokratie nicht von außen in ein Land getragen werden könne. AHRDO und SAAJS tragen mit ihrer Arbeit dazu bei, dass sich zunehmend mehr Victims‘ Organizations bilden und landesweit vernetzen. Bislang wurden zwei große, landesweite Versammlungen, Victims‘ Jirgas, durchgeführt. Diese sammelten und dokumentierten die Zeugenaussagen zu Kriegsverbrechen, definierten ein gemeinsames Verständnis von Frieden und von Gerechtigkeit und veröffentlichten Forderungen an die Regierung und die internationale Gemeinschaft. In Eigeninitiative werden Gedenkorte und Räume für Erinnerungsarbeit geschaffen. Die Solidaritätspartei arbeitet in 24 der 32 Provinzen des Landes und hat über 30.000 Mitglieder. Sie machen politische Bildung und organisieren Demonstrationen in bis zu sieben Provinzen gleichzeitig. Sie wollen den vielen Unzufriedenen eine anti-islamistische Orientierung und Hoffnung auf Veränderungsmöglichkeiten geben. Während der Studierendenproteste anlässlich der Umbenennung der Universität Kabul nach einem islamistischen Führer und Kriegsverbrecher wandten sich Studierende an die Solidaritätspartei. Ähnliches geschah bei den weit größeren Massenprotesten am Präsidentenpalast in Kabul im November 2015, die aus Anlass der Enthauptung einer zuvor vom Daesch/Islamischen Staat in einer afghanischen Provinz entführten zivilen Reisegruppe stattfanden, die der ethnischen Gruppe der Hazara zugeordnet wurden. Die Demonstration richtete sich sowohl gegen Taliban und Daesch als auch gegen die Regierung, deren Rücktritt gefordert wurde. Ein halbes Jahr zuvor hatte die Solidaritätspartei die Wut über den öffentlichen Lynchmord an Farkhunda aufgegriffen und mehrere Demonstrationen sowie die Errichtung eines Denkmals am Ort des Mordes organisiert. Inspiriert durch die Aufstände und Umstürze des Arabischen Frühlings sehnen sich die Aktivist_innen der Solidaritätspartei nach einem „Afghanistan Spring“ (SPA 07.05.2012), um „real democracy, freedom and justice“ (ebd.) aufzubauen. In einer Erklärung formuliert Hezbe Hambastagi/Solidaritätspartei das Ziel eines breit getragenen Kampfes mit den Worten: „end despotism and injustice, and attain equal rights for men and women with a democratic and popular government“ (SPA 08.03.2013). Die Regierung, die sie sich wünschen, wird demnach nicht nur als demokratisch, sondern auch als „popular“ beschrieben, also als von der Breite der Bevölkerung getragen. Gleiche Rechte für Frauen und Männer und Gerechtigkeit sind weitere genannte zentrale Kriterien. „Only an anti-fundamentalist liberation movement can bring independence, freedom and
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democracy to our people“ (Pahiz, SPA 29.11.2011). Dieser Aufbau einer antiislamistischen, anti-kolonialen, demokratischen Bewegung wird seit 2014 auch durch die Selbstverwaltung in Rojava/Nord-Syrien und den Kampf der kurdischen Verteidigungseinheiten zur Zurückschlagung des Islamischen Staat inspiriert, die als Vorbild begriffen werden (vgl. SPA 01.11.2014). RAWA arbeitet daran, Frauen zu organisieren und politisch zu bilden. Damit schaffen sie nach ihrem Verständnis die Basis für wirkliche Demokratie, die von der Gesellschaft herbeigeführt und getragen wird. Dabei legt RAWA Wert darauf, die persönliche Kraft und eine klaren Entschiedenheit zu stärken, um für die eigenen Ziele einzutreten und sich nicht korrumpieren zu lassen. Das sei wichtig, denn dann können die Menschen, die diese Situation nicht ewig weiter mitmachen werden, auch den Kampf für einen radikalen Wandel mittragen (Friba 18.05.2009).
W ESSEN E RKENNTNISFORMEN PRIVILEGIEREN WIR ? Mit dieser Darstellung der Analysen und Verständnisse einiger afghanischer basispolitischer Organisationen, die einen Kontrast bilden zur Theorie und Praxis des Demokratisierungs- und Peacebuildingprojekts Afghanistan, wird auch jene (epistemische) Gewalt gezeigt, die durch die Delegitimierung und Verdrängung der Erkenntnismöglichkeiten kolonisierter Bevölkerungen und durch die tendenzielle versuchte Durchsetzung der europäischen kognitiven, kulturellen und epistemischen Perspektive (vgl. Garbe 2013: 5) ausgeübt wird. Mit den Analysen und der Praxis dieser afghanischen Basisakteur_innen besteht eine grundlegende Kritik an der Theorie und Praxis des liberalen Friedensaufbaus. Das überheblich-eurozentrische Denken von Weltpolitik, das die Menschen im globalen Süden als bedürftige, nicht eigenständig handlungsfähige bzw. Wissen schaffende Objekte behandelt, wird aufgerüttelt. Die wiedergegebenen Analysen der afghanischen Organisationen drücken eine Spannung aus zu den Begriffen von Demokratie und Frieden, wie diese in der Theorie und Praxis des zur Norm internationaler Politik gewordenen liberalen Peacebuilding verwendet werden. Die bestehenden, eurozentrischen Konzepte werden von diesen sozialen Bewegungen nicht akzeptiert. Externe Demokratisierung wie auch die externe Befreiung von Frauen aus Unterdrückungsverhältnissen durch militärische Intervention werden als unmöglich begriffen und zurück gewiesen: aufgrund ihrer destruktiven Wirkung, aber vor allem auch als kolonial, imperial, anti-demokratisch, frauenfeindlich, menschenverachtend und Verbrechen wie auch Verbrecher_innen einbeziehend und diese legitimierend. Ein anderes Verständnis von Demokratie, Frauenbefreiung und Frieden scheint
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hinter der Zurückweisung deutlich auf. Befreiung muss selbst erkämpft werden und Demokratie ist, wenn die Menschen selber ihre Organisierungsformen bestimmen und selber über ihre Gegenwart und Zukunft entscheiden. Durch die Positionierung auf der Seite anti-kolonialer Subjektivität, als Subjekte der Erkenntnis und des handelnden Eingreifens zur Gestaltung einer neuen Gesellschaft und des Friedens, werden epistemologische geopolitische Machtverhältnisse angetastet. Wenn solche dekolonialen Perspektiven nicht wieder gewaltsam verdrängt werden, wenn Kriterien für die Gültigkeit von Wissen, die in sozialen Basisbewegungen entwickelt werden, nicht delegitimiert werden, können die erkennbaren Widersprüche der Analysen dazu beitragen, dass auch über dieses Beispiel hinaus das Politische nicht allein auf eine westliche Handlung(sfähigkeit) und Erkenntnis(fähigkeit) in der Welt reduziert werden kann.
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Den Leviathan zähmen Indigener Widerstand und koloniale Wissensproduktion in den nördlichen Anden M ARÍA DO M AR C ASTRO V ARELA & C AROLINA T AMAYO R OJAS It is said that the history of peoples who have a history is the history of class struggle. It might be said with at least as much truthfulness, that the history of peoples without history is a history of their struggle against the state. PIERRE CLASTRES, LA SOCIETE CONTRE L’ETAT
E INLEITUNG James Scotts Buch The Art of Not Being Governed (2009) wurde breit rezipiert. Viele haben die Beschreibungen des US-amerikanischen Anthropologen von Gemeinschaften, die nicht nur ohne staatliche Strukturen leben, sondern auch aktiv vor jedweder staatlichen Vereinnahmung und/oder Kontrolle fliehen, mit Begeisterung aufgenommen. Allerdings sind nicht wenige den Thesen auch mit einer enormen Skepsis begegnet. Interessanter als die Debatte an und für sich erscheint uns allerdings die Vehemenz, mit der die einen darauf beharren, dass Gemeinschaften des Staates bedürfen, um die Verteilung von Gütern, die Etablierung von Gerechtigkeit und das Durchsetzen von Rechten zu garantieren, und die mithin glauben, jedwede Staatsferne sei bestenfalls risikoreich – während die anderen staatsfliehende Kollektive als anarchistisches Reich der Freiheit feiern und diese allzu schnell als herrschaftsfreie Räume romantisieren. Im vorliegenden Beitrag nähern wir uns Scotts Thesen von einer postkolonialen Perspektive und fragen uns: Angenommen, es kann historisch nachgewiesen werden, dass Gemeinschaften tatsächlich dem Zugriff von Regierungen für
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Jahrhunderte erfolgreich entfliehen konnten, was bedeutet dies dann für ein progressives Staatsverständnis bzw. für staatskritische Überlegungen? Und inwieweit geht diese Vorstellung mit postkolonialen Perspektiven d’accord, die als staatskritisch zu beschreiben wären? In welcher Beziehung stehen Dekolonisierung und Staatsflucht, wenn doch die antikolonialen Bewegungen Staatsgründungen zum Ziel hatten? Und schließlich, konnten präkoloniale Strukturen und Praxen innerhalb postkolonialer Staaten überleben? Und welche Bedeutung kommt ihnen heute zu? Letzteres werden wir an einem konkreten Beispiel studieren. Der Beitrag beginnt mit einer kurzen Zusammenfassung von Scotts zentralen Thesen und verbindet diese mit postkolonialen Überlegungen zur Kolonialität und Subalternität. Daran anschließend wird exemplarisch den Widerstandsstrategien der Inga in den nördlichen Andengebieten nachgegangen. Abschließend sollen kurz die Stärken postkolonialer Ansätze in Bezug auf Staatskritik skizziert werden und eventuelle Konsequenzen aus Scotts Thesen für die postkoloniale Politische Theorie gezogen werden.
S TAATSGEWALT
UND
S TAATSFLUCHT
Staatstheorie ist ein wichtiges Feld der politischen Theorie, ohne die eine empirische Politikwissenschaft keine wirkliche Basis hätte. Die Formulierung idealer Staatsformen geht dabei immer auch mit Staatskritik einher. Postkoloniale Kritik wirft nun zugleich einen Blick auf die idealistischen und normativen Entwürfe etwa von Plato, Machiavelli oder Rousseau und legt deren eurozentrische Verfasstheit frei, während parallel dazu dieselben dekonstruiert werden, indem die Aporien im Zentrum der theoretischen Skizzierungen freigelegt werden. Wo wird von der Freiheit aller gesprochen, wo doch eigentlich nur die Freiheit einiger weniger gemeint ist? Wo wird Staatslenkung gekoppelt an Herkunft und wem wird die Fähigkeit zur Regierung abgesprochen? Dies sind etwa Fragen die postkoloniale politische Theorie verfolgt (vgl. etwa Dhawan 2014). Gleichzeitig werden die Kontinuitäten und Diskontinuitäten imperialer und imperialistischer Herrschaften bestimmt. Ziel dabei ist, etwas vereinfachend gesagt, Dekolonisierungs- und Demokratisierungsprozesse in Gang zu halten. Beginnen wir mit einer einfachen Aussage: Staaten sind weder ahistorische, natürliche Gebilde noch ist ihre Existenz zeitlos und für immer stabil. Auch wenn es heute kaum noch möglich ist, die Existenz von Grenzen und Grenzziehung per se infrage zu stellen, so sind diese letztlich machtvolle materielle Herrschaftseffekte. Staaten sind, wie Scott bemerkt „by no means, a once-and-for-all creation […] For long periods people moved in and out of states, and ,stateness‘ was itself often cyclical and reversible.“ (Scott 2009: 7) Diese simple Einsicht
W IDERSTAND
UND
W ISSENSPRODUKTION
IN DEN
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ermöglicht eine radikale Form der Staatskritik und interveniert in die Imagination postkolonialer Räume (vgl. hierzu Castro Varela/Dhawan/Randeria 2008). Wie kann, so ließe sich etwa fragen, das Verhältnis zwischen subalternen Räumen und Gemeinschaften, die vor dem Staat fliehen, bestimmt werden? Gibt es hier Überschneidungen? Oder handelt es sich um distinkt differente Räume? Wo die Kolonialmächte prägnante Herrscherstrukturen vorfanden, ersetzten sie diese bekanntermaßen durch eigene oder gingen mit ihnen Kooperationen ein. Dort aber, wo sich die Menschen einer Unterwerfung widersetzten, kam es zu Genoziden und Versklavung. Dies geschah vor allem, um die Territorien für die Kultivierung kolonialer Produkte nutzbar zu machen: Tabak, Zuckerrohr, Gewürze etc. Die koloniale Beherrschung ging dabei immer einher mit Missionierung wie auch mit der Subjektivierung in normative Praktiken des Zusammenlebens und der Aufoktroyierung ökonomischer Strukturen. So wurden nicht nur polygame Lebensweisen als barbarisch erklärt, sondern auch gleichgeschlechtliche Sexualpraktiken unter Strafe gestellt und ökonomische Strategien, die nicht auf der Akkumulation von Mehrwert beruhten, vernichtet. Letztere galten als ineffizient und irrational. So wurde Gier zu einer quasi zivilisatorischen Errungenschaft. Nun gibt es Gemeinschaften, die der internen wie auch externen Unterwerfung entfliehen konnten. Exemplarisch hierfür beschreibt Scott ein konkretes Territorium, welches er, dem niederländischen Anthropologen Willem von Schendel folgend, als Zomia bezeichnet und das in der Geographie auch unter »südostasiatisches Festlandmassiv« bekannt ist. Es umfasst 2,5 Mio. Quadratkilometer Land, in dem rund 100 Millionen Menschen leben, die diverse Minderheiten verkörpern und eine bemerkenswert große Anzahl an ethnischer und sprachlicher Vielfalt repräsentieren. Zomia liegt an der Peripherie von insgesamt fünf Ländern (Vietnam, Kambodscha, Laos, Thailand und Burma) und vier chinesischen Provinzen (Yunnan, Guizhou, Guangxi und Teile von Sichuan) und hier finden sich, wie der Autor bemerkt, gewissermaßen transnationale Appalachen. Ein Territorium also, was sich über mehrere Grenzen hinweg erstreckt und unter anderem durch eine unglaubliche ökologische Arten- und Sprachenvielfalt gekennzeichnet ist. Zomia ist dabei, Scott folgend, die größte noch verbleibende Region der Erde, deren Bewohner_innen noch nicht gänzlich in einen Nationalstaat inkorporiert wurden (Scott 2009: 13). „Zomia is marginal in almost every respect. It lies at a great distance from the main centers of economic activity; it bestrides a contact zone between eight nation-states and several traditions and cosmologies.“ (Ebd.: 14). Es ist unter anderem diese Tatsache, die den Untersuchungsgegenstand auch für postkoloniale politikwissenschaftliche Studien so spannend macht. Auch wenn die Tage von Zomia gezählt sind, ist es Scott zufolge gar nicht so lange her, dass sich autonom regierende Gemeinschaften die
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große Mehrheit der Menschheit darstellten. Die Zeiten des Staates haben, gemessen an der gesamten Menschheitsgeschichte, gerade erst begonnen, wenn auch nicht wenige behaupten, diese seien nun wieder obsolet. Wie auch immer die Lage vis-à-vis der Nutzen und Beständigkeit von Staaten eingeschätzt wird, so ist das Bemerkenswerte an Scotts Studie, dass diese erlaubt, die Fragilität von Staatsgebilden zu beleuchten und auch prinzipiell und radikal über Alternativen zum Staat nachzudenken. Einer der Faktoren, der die Unabhängigkeit gegenüber Nationalstaaten gewährleistet, ist die geographische Lage: schwer erreichbare Gebirgszonen. „The hills, however, are not simply a space of political resistance but also a zone of cultural refusal.“ (Ebd.: 20). Die Unterschiede zum flachen Land, wo Städte entstehen und sich Regierungen etablieren, sind für Scott bemerkenswert. Sichtbar different sind etwa die Vielfalt der gesprochenen Sprachen, die Verwandtschaftsstrukturen wie auch Glaubensformen. In den Tälern ist eine Homogenisierung und Unterjochung der dort lebenden heterogenen Bevölkerungen einfacher möglich, während sich in den Bergen nomadisch lebende Menschen einer Assimilierung, Homogenisierung und Integration in Staatsformationen eher entziehen können. Auch ökonomisch scheinen sich andere Prinzipien zu etablieren, so wird in Zomia zwar ein Mehrwert erzeugt, dieser kommt aber nicht den Königen oder Mönchen zugute (ebd.: 21). „The absence of large, permanent, surplus-absorbing religious and political establishments makes for a sociological pyramid in the hills that is rather flat and local when compared with that of valley societies.“ (Ebd.) Es wäre nun unangemessen, Zomia und seine über 100 Millionen Bewohner_innen mitsamt ihrer sehr unterschiedlichen Lebensweisen über einen Kamm zu scheren und mithin zu essentialisieren, denn es überwiegt auch hier die Heterogenität gegenüber der Differenz vis-à-vis der staatsgebundenen Regionen. So finden sich staatsähnliche Formen und stärker anarchistische Teilregionen sowie sehr unterschiedliche Ökonomiemodelle. Doch das Fehlen beispielsweise von Armeen und einer Steuer zahlenden Bevölkerung haben in der gesamten Region stark dezentralisierte Strukturen hervorgebracht, die entsprechend auch andere Kollektivpraxen ermöglichten (ebd.: 22). Dies sollte nicht mit Unproduktiviät gleichgesetzt werden, denn zumeist sind Regionen, die staatlichen Strukturen entfliehen, besonders produktiv, doch die Gewinne werden eben weder vom Staat eingezogen, noch existieren in ihnen Verpflichtungen, die mit denen von Staatsbürger_innen vergleichbar wären. Besonders spannend ist, dass Scott die These der „zurückgebliebenen Barbar_innen“, die vom Fortschritt und der Moderne nicht erreicht wurden, gewissermaßen umdreht und stattdessen postuliert, dass über Jahrhunderte Menschen vor Staaten geflohen sind. Scott spricht in diesem Zusammenhang von einer
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„Selbstmarginalisierung durch Migration“ (ebd.: 23, Übersetzung MCV/CTR) oder auch von einer „Selbstbarbarisierung“ (ebd.: 174). „Shatter zones are found wherever the expansion of states, empires, slave-trading, and wars, as well as natural disasters, have driven large numbers of people to seek refuge in out-ofthe-way places“ (ebd.: 8). Doch was, so fragt sich, kann über Gemeinschaften berichtet werden, die vor der Kolonisierung bereits sesshaft an einem Ort gelebt haben und eben dadurch der kolonialen Beherrschung über Jahrhunderte mehr oder weniger erfolgreich widerstehen konnten? Können wir Widerstand gegen imperialistische Herrschaft als eine fragmentierte Staatsflucht bezeichnen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass diese Gemeinschaften fordern, in den Staat integriert zu werden, ohne die Partikularität der kollektiv gelebten Lebensweisen aufgeben zu müssen? Am Beispiel einiger Praxen, die in der Nordanden-Region vorzufinden sind, werden wir dies nachfolgend kurz diskutieren.
L ATEINAMERIKA DENKEN Beginnen wir mit einer kurzen Problematisierung von „Lateinamerika“ als (neo)koloniale Imagination. Der Kampf um Dekolonisierung bedient sich sehr differenter Taktiken und Strategien, dabei werden diese nicht immer nur supplementierend wahrgenommen und verhandelt, sondern durchaus in Wettstreit miteinander stehend betrachtet. Immer wieder wird beispielsweise die Frage nach der ,richtigen‘ Theorie gestellt (Castro Varela/Dhawan 2015: 318ff.). In den letzten Jahren hat sich eine Kritik an postkolonialen Theorien formiert, die dieser vorwerfen, die koloniale Beherrschung Lateinamerikas und die neokolonialen Verhältnisse außer Acht zu lassen und zudem insgesamt eurozentrisch zu sein bzw. ,weiß‘ zu argumentieren. Wichtiger Bezugspunkt dieser sogenannten dekolonialen Studien, ist das Konzept der „Kolonialität“, welches vom peruanischen Soziologen Aníbal Quijano geprägt wurde. Er versteht darunter Strukturen und Prozesse, die aus den kolonialen Verhältnissen hervorgegangen sind und aktuelle globale Macht- und Herrschaftsverhältnisse nach wie vor prägen. Der Fokus liegt dabei auf der Kontinuität kolonialer Machtverhältnisse, die mit Konzepten wie „koloniale Machtmatrix“ beschrieben werden (Quijano 2000). Die koloniale Matrix beschreibt Walter Mignolo (2012: 201) als eine spezifische Kontrollstruktur, auf der die moderne/koloniale Welt und mithin die westliche Weltvorstellung aufruht. Im Grunde steht sie für die koloniale Grenzziehung, die die epistemische Gewalt reifiziert. Eine Gewalt, die das Wissen der Kolonisierten disqualifiziert, so dass das Wissen der westlichen Welt als einziges wahres Wissen universalisiert werden kann. Bereits in den 1990er Jahren hat sich in den USA die Latin American Subaltern Studies Group gegründet, deren Ziel es unter anderem war, Lateinamerika-
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studien mittels postkolonialer Perspektiven einer Kritik zu unterziehen. Klar inspiriert durch die Arbeiten der South Asian Subaltern Studies Group, die sich bereits in den 1970er Jahren um den indischen Historiker Ranajit Guha gründete, wurde die Auseinandersetzung um „Subalternität“ auf die lateinamerikanische Situation zu übertragen gesucht (Rodríguez 2001). John Beverley (2004) etwa untersuchte in Anlehnung an Guha die Widerstandspraxen nicht-alphabetisierter Gemeinschaften in Lateinamerika. Mignolo, der lange als postkolonialer Theoretiker wahrgenommen wurde und sich heute dezidiert von postkolonialer Theorie abgrenzt, verweist auf die „lokalen Sensibilitäten“ und beschreibt einen lateinamerikanischen „Postokzidentalismus“, dessen Anfänge er auf eine Zeit datiert, als die meisten afrikanischen und asiatischen Ländern noch unter kolonialer Herrschaft waren. So verweist er auf die Interventionen des Peruaners José Carlos Mariátegui oder des Kubaners Roberto Fernández Retamar, die eurozentrische Epistemologien herausforderten, indem sie auf die Kontextgebundenheit auch linker Theorie hinwiesen. Einige der Mitstreiter_innen, der seit 2000 aufgelösten Latin America Subaltern Studies Group gehören heute zur Kerngruppe der dekolonialen Studien, die Dekolonisierungsprozesse von der Perspektive der Kolonialität der Macht aus untersuchen, zentral die postkoloniale Verfasstheit Lateinamerikas in den Blick nehmen und eine epistemische Dekolonisierung fordern – d.h., dass u.a. alternative Wissensproduktionen in den Blick genommen werden. Eine zentrale Kritik dekolonialer Theorierichtung an postkolonialen Studien ist, dass letztere die Spezifität der lateinamerikanischen Postkolonialität nicht erfasst, weil die Konturierung der Theorie vor allem anhand der Kolonisierung Asiens stattfand. Bei letzteren Kolonien handelt es sich nicht wie im Falle des British Empires um sogenannte Beherrschungskolonien, sondern um Siedlungskolonien (siehe Castro Varela/Dhawan 2015: 24f.), was vielerlei Konsequenzen hatte – unter anderem für die Art und Weise des Widerstands gegen die Kolonisierung. Auch die Jahrhunderte früher einsetzende Fremdherrschaft habe zu anderen Kolonialmustern geführt, die die postkoloniale Theorie ignoriere, so der Einwand. Es soll nun hier nicht darum gehen, die Kurzsichtigkeit dieser Kritik herauszuarbeiten, stattdessen plädieren wir für eine supplementierende Lesart. Schnell wird sich dabei herausstellen, dass viele der Kritiken, die von dekolonialer Seite erhoben werden, nicht wirklich gewinnbringend sind. So gibt es sicher Gründe, poststrukturalistische Ansätze nicht zu schätzen, aber der Grund dafür kann sicher nicht sein, dass diese eurozentrisch sind, wie dies Mignolo immer wieder wiederholt, denn die Dependenztheorie 1, die dagegen gefeiert wird, beruht eben1
Die Dependenztheorie wurde in den 1960er Jahren in Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko formuliert und richtete sich gegen die dominante US-amerikanische Mo-
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so auf marxistischen und neomarxistischen Theorien, die der eigenen dekolonialen Lesart folgend nicht weniger eurozentrisch sind. Bezogen auf die hier interessierende Fragestellung des Widerstands gegen Staatsgewalt ist die Bezugnahme auf oft vergessene Stimmen des antikolonialen Widerstands dagegen notwendig, wie es auch die von postkolonialer und dekolonialer Theorie geforderte Kontextualisierung und Historisierung ist. So können die Unterschiede in der Staatsgründung und die Möglichkeiten der Staatsflucht präziser und differenziert diskutiert werden, ohne erneut in die Falle der Homogenisierung zu tappen. Des Weiteren weisen beide Richtung auf die gewaltvolle Konstruktion von Regionen, Ländern und Kontinenten hin. Lateinamerika ist das Ergebnis diskursiver Gewalt, wie dies der Orient auch ist. 2 Folglich ist eine dekonstruktive Wachsamkeit beim Sprechen über Lateinamerika ratsam. Wir schauen uns entsprechend einen sehr konkreten Kontext innerhalb des Raumes an, der als Lateinamerika imaginiert wird und auf den Fantasien der Angst und der Hoffnung projiziert werden: die Anden – das Gebiet des alten Inkareichs.
S TAATSFLUCHT VS . I NDIGENER W IDERSTAND : D ER N ORDANDEN -R AUM „Virtually all hill societies exhibit a range of state evading behavior“ JAMES C. SCOTT (2009, 331)
Wenden wir uns also einem Territorium zu, welches Scott selber von seiner Beschreibung von Räumen, die staatsfliehende Kollektive beherbergen, ausnimmt: die Anden (ebd.: 8). Scott zufolge erfüllen die Anden zwar einige Kriterien, die mit Zomia vergleichbar sind, aber weil die Bevölkerung dort schon über Jahrtausende sesshaft ist und das Land in den Anden urbar machte, konnte diese Region, die bereits Teil des Inka-Reichs war und mithin schon präkoloniale Stadt-
dernisierungstheorie, die von einer »Unterentwicklung« der Länder in Lateinamerika sprach. Neben der Dependenztheorie ist ein wichtiger theoretischer Stichwortgeber die Weltsystemtheorie, die ökonomische Abhängigkeiten peripherer Länder gegenüber den Metropolen transparent macht (Mignolo 2012: 203). 2
Es war bekanntermaßen Edward Said, der bereits Ende der 1970er Jahre in seiner brillanten Studie zum Orientalismus, die Entstehung und Stabilisierung imaginativer Geographien beschrieben und analysiert hat (siehe auch Castro Varela/Dhawan/ Randeria 2008).
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und Beherrschungsstrukturen aufwies, der Einbindung in koloniale und postkoloniale Staaten nicht entfliehen. Präkoloniale Bedingungen: Das Inka-Reich Gemeinhin wird angenommen, dass der Inkastaat – auch Inkareich (Tawantinsuyu in Quechua) genannt – bereits im frühen 13. Jahrhundert aufgebaut wurde. „By the time of European contact in 1532 they had become the largest empire to develop in the Americas, controlling a region stretching from what is today northern Ecuador to central Chile and supporting a population of more than 8 million.“ (Chepstow-Lusty u.a. 2009: 375) Der Archäologe Alex ChepstowLusty geht davon aus, dass die Inkas keine Marktökonomie aufgebaut und stattdessen kulturelle Institutionen hervorgebracht und technischen Fortschritt ermöglicht haben, der die Versorgung der Bevölkerung in einem eher schwer bebaubaren Land ermöglichte. Autoren wie Louis Baudin (1961) sprechen gar von einem „sozialistischen Imperium“. Interessant ist für unsere nachfolgende Diskussion aktueller indigener Widerstandsformen in den Nordanden vor allem, dass bereits im Inka-Imperium zwar Steuern erhoben wurden, dies aber nicht monetär geschah, sondern stattdessen beispielsweise durch Arbeitsleistungen für das Reich erbracht werden mussten (McEwan 2006: 90). Dabei wurde darauf geachtet, dass die zu erbringende Arbeit nicht zur totalen Erschöpfung führte. Das sehr ausgeklügelte System ermöglichte es, Arbeit für die gesamte Gemeinschaft zu erbringen, ohne dass allzu gewaltvolle Ausbeutungsstrukturen implementiert wurden (ebd.: 92). Hierarchisch war das System dennoch, da nicht alle im Reich diese Leistungen erbringen mussten, sondern nur die eroberten Gemeinschaften. Die Inkas selber waren davon befreit, weswegen das Sprechen von einer sozialistischen Struktur wohl eher Ergebnis eines illusionären und romantisierenden Bildes ist. Insgesamt war die soziale Organisation sehr komplex und unterschied Gruppen, die über mehr oder weniger Macht und Privilegien verfügten. Historiker_innen beschreiben denn auch Staats- und Herrschaftsstrukturen, auf die die Kolonisatoren trafen (ebd.: 102), die Formen aufwiesen, die den Europäer_innen nicht intelligibel schienen. Bekanntermaßen begann der Zerfall des Inka-Imperiums mit der brutalen Kolonisierung der Region, die mit dem Einmarsch von Francisco Pizarros Truppen im 16. Jahrhundert begann (vgl. etwa Rostworowski de Diez Canseco 1999). Die Bevölkerung des Reichs wurde allerdings vor allem durch die von den spanischen Konquistadoren eingeführten Bakterien und Viren dezimiert (McEwan 2006: 93; siehe auch Galeano 2003: 63f.). Die Inkas wehrten sich vehement gegen die Unterjochung und waren militärisch versiert, so dass Cuzco erst nach zwei fehlgeschlagenen Versuchen von Pizarro eingenommen werden konnte.
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Wir haben es mit einer langen Geschichte von Eroberungen zu tun und mit Gemeinschaften, die über Jahrtausende etwa über ein ökonomisches Wissen verfügten, das selbst der brachialen Kolonisierung standhielt. Widerstand ist insoweit vor allem Kontinuität und gekoppelt nicht an Flucht vor den Staat, sondern Kampf mit, gegen und in diesem. „Indigener Widerstand“ Es scheint uns wichtig zu betonen, dass indigener Widerstand, so wie er heute in Erscheinung tritt, seine Wurzeln in der Kolonialzeit hat. Im Laufe der Geschichte hat er diverse Formen und Perioden durchlaufen, die hier nicht alle genannt werden, da es hier nicht um eine Genealogie des indigenen Widerstands gehen soll. Stattdessen werden die Selbstorganisierungsprozesse der letzten Jahre in den Blick genommen. Doch können diese freilich nicht als isolierte Phänomene betrachtet werden, da der indigene Widerstand als Kontinuität zu verstehen ist – wenn auch Brüche konstatiert werden müssen. Nur mit Blick auf die langjährigen und diversen Widerstandsformen werden die aktuellen Prozesse der Selbstorganisierung und die Bildung regionaler Räume, in denen sich politische Forderungen konkretisieren und alternative Wirtschaftsformen gestaltet werden, verstehbar. So bildet der Kampf zur Wiedererlangung des Ahnenterritoriums nicht zufällig den zentralen Punkt indigenen Widerstands. In Ländern wie Kolumbien und Ecuador sind Anfang der 1970er bzw. 1980er Jahre die ersten indigenen Basisorganisationen gegründet worden. In Kolumbien wurden der Consejo Regional Indígena del Cauca [CRIC] (Regionaler Indigenen-Rat des Cauca) und in Ecuador die Confederación de Nacionalidades Indígenas [CONAIE] (Konföderation der Indigenen Nationen Ecuadors) als erste Basisorganisationen gegründet, die sich zum Ziel setzten, die Forderungen der indigenen Gemeinschaften politisch zu repräsentieren. Beide Gruppen entwickelten eine eigene politische Kampfplattform. Eine ihrer zentralen Forderungen ist es, das Territorium und die ethnische Identität zu verteidigen. Das Recht auf Selbstbestimmung 3 wurde dafür eine Bedingung, sowie auch die indigene Erziehung in den Vernakularsprachen. Widerstand aus einer indigenen Perspektive umfasst unterschiedliche Ausdrucksformen und Bereiche des sozialen Lebens: Es geht unter anderem darum, Territorien wiederzugewinnen, Bildung zu erwerben, aber auch um die Erhaltung der traditionellen Medizin, Spra3
Dies wird als das Recht der Völker verstanden: freie Entscheidung der Teilnahme an sozialer Kollektivität/Gemeinschaft, die eigene soziale Institutionen und Normen hat und durch das Gewohnheitsrecht bestimmt ist. Alles mit dem Ziel, eine eigene vollständige soziale Entwicklung zu erreichen sowie von Seiten des Staates und anderer gesellschaftlicher Gruppen als eigene Kollektivität anerkannt zu werden.
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che, eigenen Wirtschaftsformen und der Autonomie, dem eigenen Rechtssystem und den eigenen Rechtsvorstellungen zu folgen. Die Nordanden-Region, die wir hier genauer betrachten, und die nur eine kleine Region innerhalb des früheren Inka-Imperiums repräsentiert, umfasst heute mehrere Staaten. In einigen Teilen sind schamanische Praktiken weit verbreitet und der über die Missionierung etablierte Katholizismus bildete hybride Formen heraus. Des Weiteren ist die Region geprägt von einer Vielfalt von Sprachen und Dialekten, die ebenso der Kolonisierung widerstanden haben. 4 Damit werden einige der Kriterien erfüllt, die Scott für staatsfliehende Gemeinschaften ausgemacht hat. Den Fokus der nun folgenden Skizze bilden die ökonomischen Strukturen, die dem neoliberalen Kapitalismus – zumindest in Teilen – widerstehen konnten und die regionalen Regierungsformen, die wesentlich flachere Hierarchien aufweisen, als dies üblicherweise in Europa vorzufinden sind. Seit der Konsolidierung des Neoliberalismus in Lateinamerika in den 1980er Jahren (Hoetmer 2009: 86) ist in Zentral- und Südamerika eine bedeutsame Stärkung der sozialen Bewegungen zu verzeichnen. Soziale Basisbewegungen und organisationen suchen nach Alternativen zum dominanten Konzept von „Entwicklung“ und experimentieren mit Autonomie und basisdemokratischen Modellen (Strohecker 2007: 62). Dabei lehnen sich die Organisationen an tradierte Praxen an, ohne diese festzuzurren. Wir können dies als Recht auf Geschichte lesen, das sich bei der Aufrechterhaltung tausendjähriger Praxen des gemeinschaftlichen Lebens manifestiert, wie z.B. des Tauschhandels, des gemeinschaftlichen kollektiven Arbeitens, der politischen Entscheidungsfindung auf Vollversammlungen und ähnlichem. Ein Recht, welches ein Vor-der-Kolonisierung, aber auch ein Danach ausmacht und in den hegemonialen Diskurs interveniert, der indigene Gemeinschaften als sich in Stillstand befindende Kollektive beschreibt. Hierbei spielt der entschiedene Widerstand gegen Freihandelsabkommen, die lediglich die Interessen transnationaler Korporationen und der politisch und ökonomisch dominierenden Klassen repräsentieren (Mittag/Ismar 2008: 10), eine bedeutsame Rolle. Die indigenen Gemeinschaften haben nun in den letzten Jahren ihren Widerstand gegen die neoliberale Politik intensiviert und suchen ihre Position als politische Subjekte und soziale Akteur_innen innerhalb der lateinamerikanischen sozialen Bewegungslandschaft (Kaltmeier/Thies 2008: 329). Sie werden dabei als Teil größerer sozialer Bewegungen verstanden und als regionale soziale Akteur_innen betrachtet, die politische, soziale und kulturelle Vorschläge auf lokaler und supralokaler Ebene artikulieren, die gleichzeitig Auswirkungen auf der regionalen Ebene haben, was wiederum die Bildung indi4
Allein in Kolumbien werden über 60 indigene Sprachen gesprochen (ohne Dialekte und Kreolsprachen mitzurechnen).
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gener Basisorganisationen ermöglichte. Die supralokale Ebene verweist auf die Netzwerkbildung mit den anderen indigenen Gemeinschaften und den kontinuierlichen ethnisch-kulturellen Austausch innerhalb dieser. Die regionale Ebene deutet dagegen auf eine größere territoriale Einheit: die Nordandenregion. Es war die South Asian Subaltern Studies Group, die in den 1980er Jahren untersuchte, warum die Kämpfe innerhalb subalterner Räume im südostasiatischen Raum kein politisches und in der Folge kein historisches Gehör fanden (vgl. etwa Guha/Spivak 1988). Die Unsichtbarkeit subalterner Kämpfe führte Spivak (2008/1988) zu der Frage, warum Subalterne »nicht sprechen können«. »Nicht sprechen können« ist dabei als Metapher zu verstehen, die die Unmöglichkeit, sich politisch Gehör zu verschaffen, verdeutlichen soll. Im Falle der indigenen Bewegungen in den Nordanden müssen wir insofern von einer Desubalternisierung sprechen, denn die jahrelangen Kämpfe gegen den anhaltenden Epistemizid und die kontinuierliche Marginalisierung konnten in der politischen Arena artikuliert werden. Was freilich nicht gleichbedeutend mit Gleichstellung oder gar Gerechtigkeit ist. Es klafft weiterhin eine gewaltige Lücke zwischen der Anerkennung als politischer Akteur und der Übernahme der Forderungen. Dennoch darf die politische Sichtbarkeit auch nicht unterschätzt werden. Mit dem Beginn der politischen Selbstorganisierungsprozesse indigener Gemeinschaften hat die Forderung nach politischer Repräsentation und der Sichtbarmachung ihrer Identität und Widerstandsgeschichte innerhalb der nationalen Geschichte eine wichtige Rolle im politischen Geschehen Lateinamerikas eingenommen. Seit Ende des 20. Jahrhunderts wurden die Rechte indigener Gemeinschaften in den Verfassungen verankert – ein politischer Prozess, der unter dem Begriff des »multikulturellen Konstitutionalismus« debattiert wird (Assies 2010: 46). Die staatliche Anerkennung wurde nur durch das Eintreten indigener Kämpfe in die politischen Arenen, das einherging mit konkreten politischen Forderungen und der konkreten Organisierung, aber auch einen Diskurs über das Recht auf eine gemeinschaftliche Identität und kulturelle Vielfalt hervorbrachte, möglich. Dieser Diskurs wurde in den 1980er Jahren durch unterschiedliche internationale Abkommen stabilisiert (Calizaya 2010: 255). Als besonders bedeutsam ist das Übereinkommen über indigene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern (ILO-Konvention Nr. 169) zu nennen, das bis zum heutigen Tage von 22 Ländern (die meisten aus Lateinamerika) ratifiziert wurde und die Rechte indigener Gemeinschaften betrifft. Die unterzeichnenden Staaten verpflichten sich nicht nur zur Einhaltung, sondern gewähren auch das Recht auf vorhergehende Konsultationen, wenn es um Angelegenheiten geht, die indigene Gemeinschaften betreffen. Insbesondere die Rechte derselben auf Nutzung ihres angestammten
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Territoriums und ihrer Ressourcen sowie auf ihre Kultur, Identität, Sprache, Medizin, Bildung und politische Organisierung werden im Dokument betont. Alternativen denken und leben Im gemeinschaftlichen Leben und den Prinzipien, durch die dieses Gestaltung findet, können wir beobachten, wie Selbstbestimmung und die eigene Identität indigener Gemeinschaften erlebt und dadurch alltäglicher Widerstand gegen neoliberale Lebensentwürfe und Wirtschaftsformen geleistet wird. Widerstand ist hier gewissermaßen eine alltagsstabilisierende Praxis. Zur exemplarischen Dokumentation widerständiger Lebens- und Denkweisen wollen wir eine spezifische Gemeinschaft, die Inga, in den Blick nehmen. Die Inga sind eine grenzübergreifende indigene Anden-Gemeinschaft, die sich durch ständige interkommunikative Praxen auszeichnet, die nicht nur auf kommerziellen Beziehungen mit anderen indigenen Bevölkerungsgruppen der Region basieren, sondern auch auf geteiltem Wissen über traditionelle Medizin, dem Tausch von Kräutern und schamanischem Wissen. Die traditionelle Medizin beruht dabei auf einem regelmäßigen Austausch mit anderen indigenen Bevölkerungsgruppen und Gemeinschaften über das Wissen der Nutzung von Pflanzen. Aus einer historischen Sicht kann der nordandine Raum, so wie wir ihn heute kennen, als Ergebnis der Bevölkerungsmobilität und des ethnisch-kulturellen Austausches betrachtet werden. Insbesondere die Kontinuität des Austausches zwischen den Nord-Quechua sprechenden Gemeinschaften in der Grenzzone zwischen Südwest-Kolumbien und Nordwest-Ecuador sind entscheidend, um die alternativen sozialen und politischen Vorschläge indigener Gemeinschaften und Organisationen im Feld von „Entwicklung“ zu skizzieren. Innerhalb indigener Basisorganisationen stechen auch die alternativen sozialen, ökonomischen und politischen Vorschläge zu „Entwicklung“ hervor. Beispielsweise werden die indigenen andinen Praxen des Tauschhandels oder der gemeinschaftlichen Arbeit bis zum heutigen Tage in Gang gehalten. Die Aufrechterhaltung einer Austausch-Praxis über Jahrhunderte hinweg ermöglichte die Bildung supralokaler und regionaler Räume, in denen sich politische und soziale Forderungen konkretisieren konnten. Ein bedeutsamer Untersuchungsgegenstand ist dabei, wie Widerstand aus der indigenen Kosmovision der Anden verstanden wird und welche Ausdrucksformen dieser annehmen kann. Indigener Widerstand ist tief in der Idee der Gemeinschaft, der gemeinschaftlichen Entwicklung und des gemeinschaftlichen Lebens verwurzelt. Motivation sind die als Notwendigkeit verstandene Aufrechterhaltung und Wiedererlangung des Ahnenterritoriums, der Riten, der Ausübung traditioneller Medizin, der politischen und kulturellen Selbstbestimmung, der eigenen Bildung, der Erhaltung
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der indigenen Sprache und mithin der Stärkung der ethnischen Identität. Zusammengefasst ist es von größter Bedeutung, den indigenen Widerstand, wie bereits angedeutet, als Verteidigung des Territoriums zu verstehen. Deutlich wird hier eine interessante Praxis, in der Widerstand gegen Kolonisierung der Identitätserhaltung und -findung dient bzw. in der Widerstand und Identität in einer produktiven Wechselwirkung stehen. Aus Sicht der indigenen Gemeinden der Nordanden und in diesem konkreten Fall aus der Sicht der Inga-Gemeinschaft kann nicht von einer „Gemeinschaftsentwicklung“ (desarrollo comunitario) gesprochen werden, wenn nicht die Erhaltung der eigenen Sprache mitberücksichtigt wird. Diese Idee strukturiert das Leben in den indigenen Gemeinschaften im andinen Raum und weist auf eine Verteidigung des Territoriums hin, wobei die Prinzipien der Selbstbestimmung und Autonomie zentral sind. Die Gemeinschaftsentwicklung muss als ein mehrdimensionales Konzept verstanden werden, in das alle Faktoren des Zusammenlebens einbezogen werden. Die eigene indigene Sprache wird als wichtiger Bestandteil des Widerstands betrachtet und von der Gemeinschaft als Bestandteil des Territoriums verstanden. Sie symbolisiert Gegenwehr, denn nur dadurch, so die Annahme, kann die indigene Weltanschauung weitervermittelt werden. Wenn die Indigenen der Region über die Aufrechterhaltung der Sprache reden, meinen sie damit konsequenterweise die Verteidigung des Territoriums. Indigener Widerstand wird so nicht nur als politischer Kampf verstanden, sondern auch als Möglichkeit, einen alternativen Lebensentwurf weiterzuführen und eine eigene Bildung entwickeln zu können, die die epistemische Gewalt zähmt und Dekolonisierungsprozesse in Gang hält. Die eigene Sprache wird folgerichtig mit Autonomie und Selbstbestimmung assoziiert. Wir können drei existenzielle Praxen der nordandinen indigenen Gemeinschaften ausmachen, die die „Gemeinschaftsentwicklung“ bestimmen. Beginnen wir mit dem Ayni-Gesetz, dass bereits das Inka-Imperium kannte und welches besagt, dass jedem und jeder die Möglichkeit zugestanden wird, etwas zu nehmen, wenn gleichzeitig etwas Gleichwertiges zurück gegeben wird. Das Einverständnis der anderen ist dabei grundsätzlich impliziert, da es Bestandteil der andinen Kosmovision ist und eine Art Grundgesetz des gemeinschaftlichen Lebens bildet. Nach diesem Prinzip werden alternative Ökonomien geregelt, wie z.B. der Tauschhandel (el trueque). Es wird proportional das zurückgegeben, was erhalten wurde. Monetäre Werte sind in der Regel ausgeschlossen, es werden stattdessen Pflanzen, Kräuter o.Ä. getauscht oder auch als Zeichen der Dankbarkeit weitergegeben. Ayni wird als oberstes Gesetz verstanden, das alles gemeinschaftliche Leben regelt. So können auch gemeinschaftliche Rituale als
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Bestandteil des Ayni-Gesetzes gelesen werden. Ziel ist es, der Erde das zurückzugeben, was diese den Menschen gibt. Es geht insoweit nicht nur um einen materiellen Austauschprozess, vielmehr wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, alles in Dankbarkeit proportional zurück zu geben. Ayni organisierte während des Inka-Imperiums die Arbeit der Gemeindemitglieder. Und noch heute helfen Kollektive einer Familie mit dem Wissen, dass die Hilfe zurückkommen wird, wenn sie denn benötigt wird. Es handelt sich somit nicht um Knechtschaft und auch nicht um die in den Kolonien weit verbreitete Lehnarbeit. Das zweite Prinzip ist die Minka, die auf der Ahnentradition der gemeinschaftlichen Arbeit beruht. Das Konzept wird in Verbindung mit der andinen Weltanschauung als Einheit verstanden und ist eine Art und Weise, die eigenen territorialen Verwaltungsformen zu verstehen (Familie, Organisation der kollektive Arbeit und der Gemeinde). Die kollektive Arbeit wird in erste Linie als Arbeit zugunsten der Gemeinschaft oder der gemeinschaftlichen Belange verstanden. Hier sind alle Mitglieder der Gemeinschaft involviert. Alle müssen diese Arbeit nach ihren Möglichkeiten leisten, damit das Kollektiv überleben kann. Die unterschiedlichen Akteur_innen oder sozialen Gruppen der Gemeinschaften können immer zur Minka aufrufen und erwarten, dass alle Gemeinschaftsmitglieder teilnehmen. Jene, die nicht teilnehmen, werden z.B. während der Saatzeit bei der Verteilung der Ernte bestraft, indem sie etwa weniger von der Ernte erhalten als Familien, die bei der Minka präsent waren. Die Teilnahme ist jedoch keineswegs freiwillig, hängt doch das Überleben der Gemeinschaft von der gemeinsamen kollektiven Arbeit ab. Die Suma Qamaña oder die Idee vom guten Leben ist eine ethische Vorstellung, baut auf einer holistischen Sicht auf den Menschen als Teil der Erde auf. So werden auch die Elemente, Berge, Bäume und Tiere als Teil der Gemeinschaft adressiert. Der Gedanke des guten Lebens ist inkommensurabel mit einer Vorstellung kapitalistischen Wirtschaftens. Die Natur und die Gemeinschaft stellen nach dieser Vorstellung das zur Verfügung, was die Einzelnen zum Überleben brauchen. Dieses Subsistenzprinzip lässt nicht zu, dass der Erde mehr entrissen wird als das, was zum Überleben gebraucht wird. So wird beispielsweise das Sammeln von Gütern und Ressourcen bestraft. Aber auch die Beschränkung einer vollen Teilhabe von Gemeinschaftsmitgliedern an deren Nutzung wird kontrolliert. Dieses ethische Prinzip verhindert, dass einige wenige sich bereichern, während andere in Armut leben oder gar hungern. Bereits die spanischen Konquistadoren haben sich erstaunt gefragt, wie es den Menschen in den schwerbebaubaren Anden möglich war, in so großer Anzahl nicht nur zu überleben, sondern auch gut zu leben. Die Lösung liegt in der Zähmung der Gier und
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der Durchsetzung von Prinzipien, die auf Mäßigung beruhen und die Mensch, Tier und Natur nicht als getrennte Einheiten wahrnehmen. Die Frage nach den Machtdynamiken ist an diesem Punkt von großer Bedeutung. Innerhalb indigener Bewegung ist nicht die Rede davon, „Macht zu übernehmen“, sondern davon „Macht zu transformieren“, d.h. Macht wird horizontal betrachtet – die Entscheidungsfindung ist nicht auf eine Personengruppe konzentriert. So wird versucht, die Idee der Macht gewissermaßen von unten partizipativ zu gestalten, indem mit inklusiveren politischen Formen experimentiert wird. Es ist deswegen verständlich, dass eine vehemente Kritik an der traditionellen Linken geübt wird, die in vielen lateinamerikanischen Staaten traditioneller Weise auch die Entsubalternisierung indigener Gemeinschaften als ihr politisches Ziel ansehen und dabei nicht selten die Frage der Selbstrepräsentation missachten. Das Prinzip der Suma Qamaña entwirft ein genaueres Verständnis der Komplexität der Machtverhältnisse (Hoetmer 2009: 95). Macht ist hier nicht dualistisch zu verstehen, sondern verflochten, komplex und dynamisch. Die indigene Bewegung ist an den Rändern der Gesellschaft und der traditionellen Linken entstanden und hat ihren Ausgangspunkt in der Bejahung der Unterschiedlichkeit und der Unterdrückungsgeschichte als Referenzpunkt ihres emanzipatorischen Kampfes. So leben die Inga bis zum heutigen Tage zwar auf der Grundlage ihres Ahnenwissens, doch sind subalterne politische und ökonomische Praxen wie z.B. der Tauschhandel, die gemeinschaftliche kollektive Arbeit, die politische Entscheidungsfindung, die nur auf Vollversammlungen möglich ist, ebenso bedeutsam (Zibechi 2007). Mithilfe postkolonialer Theorien gelingt es, die Bewegungen im Zusammenhang kolonialer und neokolonialer Machtentfaltung zu betrachten, so dass sie dem romantisierenden europäischen Blick entzogen werden. Was wir beobachten können, ist ein Kampf um Dekolonisierung, der hier als ein Kampf um Wissen, aber eben auch als Kampf um Wissensproduktion auftritt, d.h. zuvorderst wird indigenes Ahnenwissen und die Kenntnis ursprünglicher Sprachen positiv bewertet werden, sowie auch die indigene andine Kosmovision als Quelle möglicher alternativer Lebensformen verstanden wird. Der grenzüberschreitende Austausch (etwa im Bereich der Heilkunde) hinterfragt nationalstaatliche Grenzen, indem gemeinschaftliche Praxen auch über postkoloniale nationale Grenzen hinweg erhalten bleiben. Gleichzeitig wird auch die Hegemonie der Nationalsprache – die immer Kolonialsprache ist – sabotiert. Die Erhaltung dieser hier kurz eingeführten Prinzipien, werden als notwendig für das Überleben der Gemeinschaft erachtet. Sie werden gegenüber dem neoliberalen Staat vehement verteidigt. Für die Inga geht es um die Erhaltung ihres Ahnenterritoriums und mithin auch ihrer Sprache, ihrer Praxen und Identität. Diese macht eine Verhandlungen mit dem Staat vonnöten, der immer
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wieder aufs Neue versucht, die Gemeinschaften in Gänze in das kapitalistische System zu ziehen. Die Verhandlungen mit dem Staat können, wollen wir hier auf Scott zurückgreifen, gelesen werden als eine limitierte und fragmentierte Staatsflucht.
F AZIT „In the contemporary world, the future of our freedom lies in the daunting task of taming Leviathan, not evading it.“ JAMES SCOTT, THE ART OF NOT BEING GOVERNED (2009, 324)
Die Positionierung gegenüber dem Staat ist in dem vorgestellten Beispiel notwendigerweise eine ambivalente. Einerseits wird die Erinnerung an die gewaltsame koloniale Unterwerfung und Enteignung aufrechterhalten und die Kolonialität sichtbar gemacht. Anderseits werden Verhandlungen gerade mit dem Staat geführt, der die kontinuierliche Subalternisierung mitgestaltet und eine Dekolonisierung verhindert. Doch wie Nikita Dhawan (2015: 62ff.) pointiert formuliert, kann es nicht darum gehen, immer wieder in eine simple und risikoreiche Staatsphobie zu verfallen. Wenn, wie Scott dies postuliert, die Zeiten der Staatsflucht vorbei sind, kann es nur darum gehen, dass marginalisierte und entrechtete Gruppen den Staat in die Pflicht nehmen und ihm in der politischen Arena begegnen. Die Inga tun dies, indem sie historische ethische Prinzipien reformulieren und damit revitalisieren. Sie zählen weder zu den staatsfliehenden Gemeinschaften, wie sie Scott beschreibt, noch zu den subalternen Klassen, aber eben auch nicht zu denen »who have the leisure and class position to be morally outraged for the sake of the world at large rather than self-interested because of the need for freedom from oppression.« (Spivak 2012: 227). Postkoloniale Theorie ermöglicht uns, die Produktion marginalisierter Gruppen auf der anderen Seite der kolonialen Grenzziehung nachzuvollziehen und ihre Subalternisierung zu lesen. Ein Blick in die dichten postkolonialen Verflechtungen versetzt die Politikwissenschaft auch in die Lage, die eigene Disziplin einer notwendigen Kritik zu unterziehen (Castro Varela/Dhawan i.E.). Zu lange hat die europäische Politikwissenschaft indigene Räume der Anthropologie und Ethnologie überlassen und damit die Vorstellung reifiziert, dass die ehemalig Kolonisierten – mit Ausnahme der Eliten – weder zur Regierung fähig seien, noch politisch-ethische Prinzipien formulieren können, die beispielsweise eine generelle Staatskritik ermöglichen. Postkoloniales Reflektieren ermöglicht es, diese Räume politologisch in den Blick zu nehmen und von diesen zu lernen, ohne in eine „Edle-
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Wilde-Romantik“ oder die Zelebrierung des heldenhaften Widerstands der Indigenen zu verfallen. Immer wieder stabilisiert der Mainstream im Feld internationaler Beziehungen die Annahme, westliche Normen seien alternativlos und zementiert damit die Vorstellung der Überlegenheit des Westens (ebd.). Wenn aber die Zukunft darin liegt, den Leviathan zu zähmen, dann macht es Sinn, sich mit Ideen und Konzepten zu beschäftigen, die zwar der Deformierung durch koloniale Beherrschung nicht unbeschadet entkommen konnten, die aber dennoch in der Lage sind, der Idee, es gebe keine Alternativen zum neoliberalen Kapitalismus, etwas entgegenzusetzen.
L ITERATUR Assies, William (2010): Autonomía y jurisdicción indígena originario en América Latina, in: Memoria del Foro internacional: Autonomías indígena originarias, procesos políticos del movimiento indígena en América Latina y Bolivia. Centro de estudios para el desarrollo laboral y agrario. Bolivia: CEDLA, 41-68. Baudin, Louis (1961): A Socialist Empire: The Incas of Peru. Princeton: D. Van Nostrand Company. Beverley, John (2004): Subalternity and Representation. Arguments in Cultural Theory. Durham/London: Duke University Press. Calizaya, Oscar (2010): Autonomías originarias con base en la reconstrucción territorial, in: Memoria del Foro internacional: Autonomías indígena originarias, procesos políticos del movimiento indígena en América Latina y Bolivia. Centro de estudios para el desarrollo laboral y agrario. CEDLA: Bolivia, 247-266. Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita (i.E.): Postkoloniale Studien und Internationale Beziehungen: Die IB dekolonisieren, in: Carlo Masala/Frank Sauer (Hrsg.): Handbuch Internationale Beziehungen. Wiesbaden: Springer VS. Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita (2015): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. 2. ergänzte und komplett überarbeitete Auflage. Bielefeld: transcript Verlag. Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita/Randeria, Shalini (2008): Postkoloniale Theorie, in: Stephan Günzel (Hg.): Raumwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 308-323. Chepstow-Lusty, Alex J. u.a. (2009): Putting the rise of the Inca Empire within a climatic and land management context, in: Climate of the Past 5, 375-388. DeAngelis, Gina (2000): Francisco Pizarro and the Conquest of the Inca, Chelsea House Publications.
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Dhawan, Nikita (2015): Homonationalismus und Staatsphobie: Queering Dekolonisierungspolitiken, Queer-Politiken dekolonisieren, in: Femina Politica 1, 38-51. Dhawan, Nikita (Hg.) (2014): Decolonizing Enlightenment: Transnational Justice, Human Rights and Democracy in a Postcolonial World. Opladen: Barbara Budrich Verlag. Galeano, Eduardo (2003/1971): Die offenen Adern Lateinamerikas. Die Geschichte eines Kontinents von der Entdeckung bis zur Gegenwart. Wuppertal: Peter Hammer. Guha, Ranajit/Spivak, Gayatri C. (Hg.) (1988): Selected Subaltern Studies, New York/Oxford: Oxford University Press. Hoetmer, Raphael (2009): Después del fin de la historia: reflexiones sobre los movimientos sociales latinoamericanos de hoy, in: ders. (Hg.): Repensar la política desde América Latina. Programa democracia y transformación global, Universidad Nacional Mayor de San Marcos: Perú, 85-109. Kaltmeier, Olaf/Sebastian Thies (2008): Atrévete a mirar! Régimes postcolonial de representación y políticas culturales en la cooperación para el desarrollo Bolivia, in: Christian Büschges/Olaf Kaltmeier/Sebastian Thies (Hg.): Culturas políticas en la región andina. Vervuert Verlag: Madrid, 339-370. McEwan, Gordon Francis (2006): The Incas. New Perspectives. Santa Barbara/ Denver/London: ABC-CLIO. Mignolo, Walter D. (2012): Mariátegui and Gramsci in „latin“ America: Between Revolution and Decoloniality, in: Neelam Srivastava/Baidik Bhattacharya (Hg.): The Postcolonial Gramsci. New York/London: Routledge, 191-217. Mittag, Jürgen/Ismar, Georg (2008): Vom Protest zur Partizipation? Soziale Bewegungen in Lateinamerika seit Beginn des 20. Jahrhunderts, in: dies. (Hg.): „El pueblo unido?“ Soziale Bewegungen und politischer Protest in der Geschichte Lateinamerikas. Münster: Westfälisches Dampfboot. Quijano, Anibal (2000): Coloniality of Power, Eurocentrism, and Latin America, in: Nepantla: Views from the South 1 (3), 533-580. Rodríguez, Ileana (Hg.) (2001): The Latin American Subaltern Studies Reader. Durham: Duke University Press. Rostworowski de Diez Canseco, María (1999): Historia del Tahuantinsuyu. Lima: Instituto de Estudios Peruanos. Scott, James C. (2009): The Art of Not Being Governed. An Anarchist History of Upland Southeast Asia. New Haven/London: Yale University Press. Spivak, Gayatri C. (2012): Interview with Baidik Bhattacharya, in: Neelam Srivastava/Baidik Bhattacharya (Hg.): The Postcolonial Gramsci. New York/ London: Routledge, 221-232.
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Spivak, Gayatri C. (2008/1988): Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation hrsg. v. Boris Buden/Jens Kastner. Wien/Berlin: Turia + Kant. Srivastava, Neelam/Bhattacharya, Baidik (Hg.) (2012): The Postcolonial Gramsci. New York/London: Routledge. Strohecker, Johanna Katharina (2007): Entwicklungspolitik als westliche Hegemonie: Das Post-Development und Stimmen aus Südamerika. Saarbrücken: VDM. Zibechi, Raúl (2007): Gobiernos y movimientos: entre la autonomía y las nuevas formas de dominación, in: Raphael Hoetmer (Hg.): Repensar la política desde América Latina. Programa democracia y transformación global, Perú: Universidad Nacional Mayor de San Marcos, 185-194.
Autorinnen und Autoren
Aikins, Joshua Kwesi ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Entwicklungspolitik und postkoloniale Studien der Universität Kassel und Doktorand der Bielefeld Graduate School in History and Sociology. Er studierte Politikwissenschaft an der FU Berlin und der University of Ghana. Seine Forschungsschwerpunkte sind das Zusammenwirken westlicher und indigener politischer Systeme in Ghana, Entwicklungspolitik aus dekolonialer Perspektive, kulturelle und politische Repräsentation der afrikanischen Diaspora, Kolonialität und Erinnerungspolitik in Deutschland sowie menschenrechtsbasierte Antirassismuspolitik. Er verbindet sowohl im deutschen als auch im ghanaischen Kontext wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Beschäftigung mit Fragen von Empowerment und Teilhabe. Ayata, Bilgin ist Assistenzprofessorin für Politische Soziologie an der Universität Basel. Sie hat einen MA von der York University (Toronto) und einen PhD in Politikwissenschaft von der Johns Hopkins University (Baltimore). Ihre Forschungsschwerpunkte sind fluchtbedingte Transformationen, Konflikt, Protestbewegungen, Erinnerungspolitik und postkoloniale Interventionen. Bendix, Daniel ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien der Universität Kassel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Entwicklungspolitik, Kolonialismus, Bevölkerungs- und reproduktive Gesundheitspolitik, entwicklungspolitische Bildung und Postkoloniale Studien. Er hat in Berlin und Lausanne studiert (Dipl. Politikwissenschaft) und in Manchester in Development Policy and Management promoviert. Daniel ist Mitarbeiter von glokal, einem Berliner Verein für machtkritische, postkoloniale Bildungsarbeit.
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Biskamp, Floris hat nach seinem Studium der Physik und Politikwissenschaft in Gießen und Boston am in der Exzellenzinitiative des Bundes geförderten International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) in Gießen eine soziologische Dissertation über neuere kritische Theorie, Postkoloniale Kritik und antimuslimischen Rassismus verfasst. Im Rahmen seiner Promotion verbrachte er ein Semester als Visiting Assistant in Research an der Yale University. Heute arbeitet er als Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität Kassel. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen politische Theorie und Gesellschaftstheorie, politische Bildung, Religionspolitik, Postcolonial Studies, Rassismus, Antisemitismus, Islamismus und internationale Politik. Brunner, Claudia (Dr. phil.) ist Assistenzprofessorin am Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik der Alpen-Adria Universität Klagenfurt, derzeit Inhaberin einer FWF-Elise-Richter Stelle ebendort. Christiane Rajewsky Preis 2011, Caroline von Humboldt Preis 2012. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Politische und epistemische Gewalt, Kritische Friedens- und Konfliktforschung, Feministische sowie Post- und Dekoloniale Perspektiven in den Internationalen Beziehungen, Wissenssoziologische Diskursforschung. Zentrale Publikationen: Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht, Bielefeld 2009 (Hg. mit Gabriele Dietze und Edith Wenzel); Wissensobjekt Selbstmordattentat. Epistemische Gewalt und okzidentalistische Selbstvergewisserung in der Terrorismusforschung, Wiesbaden 2011, „Situiert und seinsverbunden in der Geopolitik des Wissens‘“. In: Zeitschrift für Diskursforschung 1 (3), 2012. Castro Varela, María do Mar ist Diplom-Psychologin, Diplom-Pädagogin und promovierte Politikwissenschaftlerin. Sie ist Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule in Berlin und zurzeit Senior Fellow am Instiut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), Wien. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen Postkoloniale Theorie, Critical Education und Kritische Migratioonsforschung. Danielzik, Chandra-Milena ist Politiwissenschaftlerin, hat in Deutschland und Südafrika studiert und ihre Forschung zu Machtverhältnissen in Internationalen Beziehungen in Indien durchgeführt. In ihrem Dissertationsprojekt befasst sie sich mit der Frage, wie in der internationalen Entwicklungspolitik Körper und Gesellschaften durch Ernährungspolitiken regiert werden. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Entwicklungspolitik, Ernährungs- und Gesundheitspolitik, kritische Tourismusforschung sowie entwicklungspolitische Bildung. Sie ist
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Mitarbeiterin von glokal, einem Berliner Verein für machtkritische, postkoloniale Bildungsarbeit. Engels, Bettina (Dr.in phil.) ist Juniorprofessorin für Empirische Konfliktforschung mit Schwerpunkt Subsahara-Afrika am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Ernst, Tanja (Dr. rer. pol.) hat an der Universität Kassel am Fachgebiet Internationale und intergesellschaftliche Beziehungen zu „Demokratie und Dekolonisierung in Bolivien“ promoviert. Aktuell arbeitet sie am Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung in Dortmund und ist dort für die Bereiche Presse und Öffentlichkeitsarbeit/Wissenstransfer verantwortlich sowie in der Forschungskoordination tätig. Exo, Mechthild politikwissenschaftliche Promotion abgeschlossen, Doktorarbeit „Das ausgeschlossene Friedens- und Konfliktwissen basispolitischer Organisationen in Afghanistan. Eine dekolonialisierende Forschung zur Kritik des liberalen Peacebuilding“ (FU Berlin), MA Friedens- und Konfliktforschung (Studium in Bombay und Magdeburg). Schwerpunkte: feministisch-postkoloniale und dekoloniale Ansätze in der Friedens- und Konfliktforschung, Dekolonialisierung der Methodologien, Wissen und Handeln von basisdemokratischen und feministischen (Frauen-)Organisationen in Konflikten und für Frieden und Gerechtigkeit. Abgeschlossene Forschungsprojekte zu basispolitischen Interventionen in Konflikte in Bombay/Indien, in Nagaland/Nordost-Indien und in Afghanistan. Grovogui, Siba N’Zatioula leitet das Africana Studies and Research Center an der Cornell University; von 1995 bis 2013 lehrte er an der John Hopkins University. Er forscht im Bereich Internationaler Beziehungen und Internationaler Politischer Theorie, insbesondere zu nicht-westlichen Menschenrechtsnormen und afrikanischer Staatlichkeit. Ha, Kien Nghi ist promovierter Kultur- und Politikwissenschaftler hat an Universitäten in Bremen, Heidelberg, Tübingen und New York zu postkolonialer Kritik, Migration und Asian Diasporic Studies geforscht und gelehrt. Als Kurator hat er u.a. im Haus der Kulturen der Welt (Berlin) und im Hebbel am UferTheater (Berlin) verschiedene Projekte über asiatische Diaspora realisiert. Seine Monografie „Unrein und vermischt. Postkoloniale Grenzgänge durch die Kulturgeschichte der Hybridität und der kolonialen ,Rassenbastarde‘“ (transcript 2010) wurde mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien
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2011 ausgezeichnet. Frühjahr 2014 gab er das Online-Dossier „ Asian Germany – Asiatische Diaspora in Deutschland “ für die Heinrich Böll Stiftung heraus. Weitere Bücher: „ Ethnizität und Migration Reloaded “ (Westfälisches Dampfboot 1999/WVB 2004); „Vietnam Revisited (WVB 2005)“ , „ re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland “ (Unrast 2007, Co-Hg.) und „ Asiatische Deutsche. Vietnamesische Diaspora and Beyond “ (Assoziation A 2012, Hg.). Kerner, Ina ist Juniorprofessorin für Diversity Politics am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Lehr- und Forschungsaufenthalte führten sie in den vergangenen Jahren außerdem nach New York (New School for Social Research), Kapstadt (Center for Humanities Research, University of the Western Cape), die Freie Universität Berlin (desiguALdades. net – Research Network on Interdependent Inequalities in Latin America), London (Center for Postcolonial Studies, Goldsmiths), Brasilia (Universidade de Brasília) und Islamabad (Quaid-i-Azam University). Zu ihren Buchpublikationen gehören: Postkoloniale Theorien zur Einführung. Hamburg 2012: Junius und Feminismus, Entwicklungszusammenarbeit und Postkoloniale Kritik. Eine Analyse von Grundkonzepten des Gender-and-Development Ansatzes. Hamburg 1999: LIT. Klapeer, Christine M. ist promovierte Politikwissenschaftlerin, arbeitet derzeit am Institut für Entwicklungssoziologie der Universität Bayreuth zu LGBTIQinklusiven Entwicklungspolitiken und -strategien aus einer postkolonial-queeren Perspektive. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen außerdem im Bereich queerfeministischer politischer Theorie(n) sowie transnationaler sexueller (Rechts-) Politiken und Bewegungen. Löw, Christine (Dr.) ist Vertretungsprofessorin für Soziologie an der Fakultät Gesellschaft und Ökonomie/Hochschule Rhein-Waal.. Ihr aktuelles Forschungsprojekt beschäftigt sich mit dem Widerstand subalterner Frauen in Indien gegen die Kommerzialisierung von Land, Wäldern und Ernährung. Forschungsschwerpunkte: Feministische Theorien und postkoloniale Ansätze, Entwicklungspolitik, Internationale politische Ökonomie, Kritische Gesellschaftstheorien. Aktuelle Publikationen: 2016: Feministische Kritiken und Menschenrechte. Reflexionen auf ein produktives Spannungsverhältnis. Opladen, Berlin, Toronto: Barbara Budrich (zusammen mit Imke Leicht, Nadja Meisterhans, Katharina Volk) (im Erscheinen). 2015: From postcolonial studies to post-growth and back – which
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ways for a feminist materialist critique of capitalism? Essay der DFG-KollegforscherInnengruppe Postwachstumsgesellschaften. Mageza-Barthel, Rirhandu (Dr. phil) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u.a. transnationale Geschlechterpolitiken, feministische Friedens- und Konfliktforschung sowie afrikanisch-asiatische Beziehungen. Sie ist Autorin von „Mobilizing Transnational Gender Politics in PostGenocide Rwanda“ (2015, Ashgate) und Mitherausgeberin von „Negotiating Normativity: Postcolonial Appropriations, Contestations and Transformations“ (2016, Springer gemeinsam mit Nikita Dhawan, Elisabeth Fink und Johanna Leinius). Müller, Franziska (Dr.) ist Politikwissenschaftlerin an der Universität Kassel. Sie hat u.a. zur Gouvernementalität der Beziehungen zwischen der EU und ihren ehemaligen Kolonien (Nomos, 2015) publiziert, zur Energiegovernance zwischen EU und BICS-Staaten (Ashgate, 2015), sowie über entwicklungspolitische Mythen der Internationalen Beziehungen (Palgrave, 2016). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Theorien der Internationalen Beziehungen, Globale Umweltund Energiegovernance, Entwicklungsforschung, Postkoloniale Studien. Randeria, Shalini ist Rektorin am Institut für die Wissenschaften von Menschen (IWM), Wien sowie Professorin am Graduate Institute of International and Development Studies, Genf. Tamayo Rojas, Carolina ist Anthropologin, Doktorandin und Dozentin an der Alice Salomon Hochschule in Berlin. Ziai, Aram ist Soziologe und Politikwissenschaftler, Heisenberg-Professor und Leiter des Fachgebiets Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien an der Universität Kassel, hat vorher u.a. an den Unis von Wien (IE), Bonn (ZEF), Amsterdam (UvA) und Hamburg geforscht und gelehrt.
Edition Politik Andreas Pettenkofer (Hg.) Menschenrechte und Protest Zur lokalen Politisierung einer globalen Idee Dezember 2016, ca. 250 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2112-9
Wolfgang Fach Regieren: Die Geschichte einer Zumutung September 2016, ca. 184 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3606-2
Kolja Möller Formwandel der Verfassung Die postdemokratische Verfasstheit des Transnationalen 2015, 244 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3093-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Politik Timmo Krüger Das Hegemonieprojekt der ökologischen Modernisierung Die Konflikte um Carbon Capture and Storage (CCS) in der internationalen Klimapolitik 2015, 428 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3233-0
Lars Distelhorst Leistung Das Endstadium der Ideologie 2014, 192 Seiten, kart., 22,99 €, ISBN 978-3-8376-2597-4
Ulrike Davy, Manuela Lenzen (Hg.) Demokratie morgen Überlegungen aus Wissenschaft und Politik 2013, 120 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN 978-3-8376-2387-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Politik Tim Griebel Liebe und Macht in der deutsch-amerikanischen Sicherheitsbeziehung 2001-2003 Eine kritisch-realistische Diskursanalyse Oktober 2016, ca. 380 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3587-4
Lineo Umberto Devecchi Zwischenstadtland Schweiz Zur politischen Steuerung der suburbanen Entwicklung in Schweizer Gemeinden Oktober 2016, ca. 450 Seiten, kart., ca. 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3594-2
Magdalena Scherl Ersehnte Einheit, unheilbare Spaltung Geschlechterordnung und Republik bei Rousseau Juni 2016, 290 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3516-4
Dirk-Claas Ulrich Die Chimäre einer Globalen Öffentlichkeit Internationale Medienberichterstattung und die Legitimationskrise der Vereinten Nationen Februar 2016, 590 Seiten, kart., zahlr. Abb., 54,99 €, ISBN 978-3-8376-3262-0
Karin Bischof Global Player EU? Eine ideologiekritische Metaphernanalyse 2015, 242 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3115-9
Thorsten Hasche Quo vadis, politischer Islam? AKP, al-Qaida und Muslimbruderschaft in systemtheoretischer Perspektive 2015, 390 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3120-3
Ahmet Cavuldak Gemeinwohl und Seelenheil Die Legitimität der Trennung von Religion und Politik in der Demokratie 2015, 632 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2965-1
Marcus Koch Das utopische Europa Die Verträge der politischen Integration Europas und ihre utopischen Elemente 2015, 162 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2958-3
Stefan Luft, Peter Schimany (Hg.) 20 Jahre Asylkompromiss Bilanz und Perspektiven 2014, 332 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2487-8
Bärbel Heide Uhl Die Sicherheit der Menschenrechte Bekämpfung des Menschenhandels zwischen Sicherheitspolitik und Menschenrechtsschutz 2014, 238 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2640-7
Zentrum für Ethik und Nachhaltigkeit (ZEN-FHS) (Hg.) Herausforderungen für die Politik und die Ethik Moral – Terror – Globalisierung – Demokratie 2014, 94 Seiten, kart., 16,99 €, ISBN 978-3-8376-2612-4
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